Theater mit Musik: 400 Jahre Schauspielmusik im europäischen Theater. Bedingungen - Strategien - Wahrnehmungen [1. Aufl.] 9783839424322

Wiewohl konstitutiv für das europäische Theater seit der Antike, findet die Musik im Schauspiel erst in jüngerer Zeit üb

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Theater mit Musik: 400 Jahre Schauspielmusik im europäischen Theater. Bedingungen - Strategien - Wahrnehmungen [1. Aufl.]
 9783839424322

Table of contents :
Einleitung
SCHAUSPIELMUSIK VON DER FRÜHEN NEUZEIT BIS ZUM KLASSISCH-ROMANTISCHEN ZEITALTER
Schauspielmusik im deutschen Sprachraum (1500 bis 1700). Ergebnisse eines DFG-Forschungsprojekts
Barocke Wandertruppen – Opern- und Schauspielmusik. Zwei Beispiele
Schauspielmusik in der „klassischen“ Provinz. Zum Weimarer Theater unter Goethe (1791–1817)
Das K.K. Hofburgtheater, die Vorstadtbühnen und die unendliche Vielfalt der Gestaltung von Schauspielmusik in Wien
Schauspielmusik in den historischen Beständen des Coburger Theaters
„Zur Veredelung und Verschönerung des Theaters“ – Thesen zur Schauspielmusikpraxis im deutschsprachigen Kulturraum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
SCHAUSPIELMUSIK IN EUROPA JENSEITS DER GRENZEN DES DEUTSCHSPRACHIGEN THEATERS
Schauspielmusik in Spanien vor Lope de Vega
Schauspielmusik in Italien um 1800. Eine Spurensuche
Musik til Skuespil – Two Methodological Challenges and a Few Observations Occasioned by an Early Nineteenth-Century Danish Manuscript of Incidental Music
Musik des Stockholmer Unterhaltungstheaters um 1850 – Strategien des Einfachen
Schauspielmusik als Möglichkeitsraum. Zur Schauspielmusikpraxis in Norwegen um 1900
Schauspielmusik im England des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Arthur Sullivan.Forschungsstand und Desiderata
Französische Schauspielmusik währendder Epoche Jules Massenets
SCHAUSPIELMUSIK UND MUSIKALISIERUNG VON THEATER IM 20. JAHRHUNDERT
Musik im Sprechtheater des frühen 20. Jahrhunderts – Grundsätzliches zur Spurensuche
Der Regisseur, das Drama und die Musik: Max Reinhardts musikalische Faust-Visionen
Die Musik Hanns Eislers zu Stücken von Bertolt Brecht
Pierre Boulez und seine Arbeiten für die Compagnie Renaud-Barrault. Zur Bühnenmusik der Orestie (1955)
Musik in den Bühnenwerken von Peter Hacks
Musikalische Rauminszenierungen. Zum Verhältnis von Musik und Szene bei Max Reinhardt, Klaus Michael Grüber und Heiner Goebbels
Schauspiel- und Hörspielmusik: Überlegungen zu ihrem Verhältnis am Beispiel von Johan Simons’ „bimedialer“ Inszenierung Die Perser (2011)
Musik als Matrix für Spiel und Schau – LOSE COMBO
Autorinnen und Autoren

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Ursula Kramer (Hg.) Theater mit Musik

Mainzer Historische Kulturwissenschaften | Band 16

Editorial In der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften werden Forschungserträge veröffentlicht, welche Methoden und Theorien der Kulturwissenschaften in Verbindung mit empirischer Forschung entwickeln. Zentraler Ansatz ist eine historische Perspektive der Kulturwissenschaften, wobei sowohl Epochen als auch Regionen weit differieren und mitunter übergreifend behandelt werden können. Die Reihe führt unter anderem altertumskundliche, kunst- und bildwissenschaftliche, philosophische, literaturwissenschaftliche und historische Forschungsansätze zusammen und ist für Beiträge zur Geschichte des Wissens, der politischen Kultur, der Geschichte von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lebenswelten sowie anderen historisch-kulturwissenschaftlich orientierten Forschungsfeldern offen. Ziel der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften ist es, sich zu einer Plattform für wegweisende Arbeiten und aktuelle Diskussionen auf dem Gebiet der Historischen Kulturwissenschaften zu entwickeln. Die Reihe wird herausgegeben vom Koordinationsausschuss des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften (HKW) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Ursula Kramer (Hg.)

Theater mit Musik 400 Jahre Schauspielmusik im europäischen Theater. Bedingungen – Strategien – Wahrnehmungen

Die Drucklegung dieses Bandes wurde mit Mitteln des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften (HKW) der Johannes Gutenberg-Universität sowie der Strecker-Stiftung Mainz gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Frederic von Vlahovits/Tanja Labs Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2432-8 PDF-ISBN 978-3-8394-2432-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

I NHALT

Einleitung ..............................................................................................9

SCHAUSPIELMUSIK VON DER FRÜHEN NEUZEIT BIS ZUM KLASSISCH-ROMANTISCHEN ZEITALTER Schauspielmusik im deutschen Sprachraum (1500 bis 1700). Ergebnisse eines DFG-Forschungsprojekts ..........................19 IRMGARD SCHEITLER

Barocke Wandertruppen – Opern- und Schauspielmusik. Zwei Beispiele .....................................................................................49 RASHID-S. PEGAH

Schauspielmusik in der „klassischen“ Provinz. Zum Weimarer Theater unter Goethe (1791-1817)...........................69 BEATE AGNES SCHMIDT

Das K.K. Hofburgtheater, die Vorstadtbühnen und die unendliche Vielfalt der Gestaltung von Schauspielmusik in Wien ...........................................................93 TILL GERRIT WAIDELICH

Schauspielmusik in den historischen Beständen des Coburger Theaters ....................................................................119 ANGELIKA TASLER

„Zur Veredelung und Verschönerung des Theaters“ – Thesen zur Schauspielmusikpraxis im deutschsprachigen Kulturraum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ...............129 ANTJE TUMAT

SCHAUSPIELMUSIK IN EUROPA JENSEITS DER GRENZEN DES DEUTSCHSPRACHIGEN THEATERS Schauspielmusik in Spanien vor Lope de Vega ............................151 STEPHANIE KLAUK

Schauspielmusik in Italien um 1800. Eine Spurensuche ............................................................................171 MARTINA GREMPLER

Musik til Skuespil – Two Methodological Challenges and a Few Observations Occasioned by an Early NineteenthCentury Danish Manuscript of Incidental Music ...........................183 JENS HESSELAGER

Musik des Stockholmer Unterhaltungstheaters um 1850 – Strategien des Einfachen.................................................................203 SABINE STÖLTING

Schauspielmusik als Möglichkeitsraum. Zur Schauspielmusikpraxis in Norwegen um 1900 .......................217 LILLI MITTNER

Schauspielmusik im England des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Arthur Sullivan. Forschungsstand und Desiderata ..................................................247 MEINHARD SAREMBA

Französische Schauspielmusik während der Epoche Jules Massenets ..........................................................263 HERBERT SCHNEIDER

SCHAUSPIELMUSIK UND MUSIKALISIERUNG VON THEATER IM 20. JAHRHUNDERT Musik im Sprechtheater des frühen 20. Jahrhunderts – Grundsätzliches zur Spurensuche .................................................301 BENJAMIN SCHOLTEN

Der Regisseur, das Drama und die Musik: Max Reinhardts musikalische Faust-Visionen ..............................315 URSULA KRAMER

Die Musik Hanns Eislers zu Stücken von Bertolt Brecht..............341 INGEBORG ALLIHN

Pierre Boulez und seine Arbeiten für die Compagnie Renaud-Barrault. Zur Bühnenmusik der Orestie (1955)..............................................355 MARTIN ZENCK

Musik in den Bühnenwerken von Peter Hacks ..............................395 GUNTHER NICKEL

Musikalische Rauminszenierungen. Zum Verhältnis von Musik und Szene bei Max Reinhardt, Klaus Michael Grüber und Heiner Goebbels .................................409 CONSTANZE SCHULER

Schauspiel- und Hörspielmusik: Überlegungen zu ihrem Verhältnis am Beispiel von Johan Simons’ „bimedialer“ Inszenierung Die Perser (2011) .................................433 MICHAEL BACHMANN

Musik als Matrix für Spiel und Schau – LOSE COMBO ...................................................................................453 FRIEDEMANN KREUDER

Autorinnen und Autoren ..................................................................457

Einleitung „Eine Oper hört man überall beynahe als eben dasselbe Kunstwerk; die Schauspiele dagegen klingen auf jedem Theater anders, so dass man sie oft nicht wiedererkennt.“

Ihrer rhetorischen Zuspitzung zum Trotz hat Goethes Erkenntnis über die VSH]LÀVFKHSeinsweise von Schauspielen, formuliert als Antagonismus zur Gattung Oper, bis in die Gegenwart hinein ihre grundsätzliche Gültigkeit bewahrt. Gleichwohl die Essenz der Theaterrealität der eigenen Epoche beschreibend, enthielten Goethes Worte darüber hinaus auch ein prophetisches Potential: Ihnen wuchs insbesondere im Verlauf des 20. Jahrhunderts auch weit über das eigene dramatische Œuvre des Autors hinaus verstärkt Bedeutung zu, und dies nicht zuletzt im Zusammenhang mit den neuen technischen Möglichkeiten zur Erzeugung der klanglichen Dimension von Theateraufführungen. Die bereits 1817 in Weimar konstatierte Nicht-Identität eines Schauspiels durch seine diversen musikalischen Aneignungen an den verschiedenen Bühnen erscheint heutzutage nochmals gesteigert. So unterscheiden sich nicht nur die Bühnenproduktionen des Faust in den verschiedenen szenisch-musikalischen Lesarten eines Dieter Dorn (1991), Peter Stein (2000) oder Nicolas Stemann (2011) – mit Musiken von Roger Jannotta, Arturo Annecchino bzw. Thomas Küstner und Sebastian Vogel – erheblich, auch Michael Thalheimers jüngste Frankfurter Medea-Produktion mit der Musik von Bert Wrede (2012) macht aus dem Euripides-Drama etwas völlig Anderes als das Wiener Medea-Projekt von Grzegorz Jarzyna (Musik: Jacek Grudzien, 2006) oder die Chortheater-Fassung von Volker Lösch in Stuttgart (2007). Dabei birgt die zunehmende Entkopplung der klanglich-akustischen Dimension vom (re)produzierenden Schauspielmusiker jenseits der ästhetischen Ebene in der Theaterpraxis auch eine pragmatische (weil kostensenkende) Komponente, was nicht zuletzt auch an kleineren Theatern den Einsatz elektronischer Musik im Sinn einer „Klangkonserve“ begünstigt haben dürfte. Und an Häusern, 9

Ursula Kramer

die nach wie vor „reale“ Musiker für die Schauspielmusik beschäftigen, spielt mehr denn je auch das Phänomen der Improvisation eine wesentliche Rolle. Die bereits von Goethe konstatierte Flüchtigkeit, die die klangliche Realisation des Schauspiels schon im frühen 19. Jahrhundert kennzeichnete, differenziert sich demnach heutzutage dank der technischen Medien noch weiter aus und führt zu einer unüberschaubaren Vielfalt an individuellen klanglichen Realisierungen des ursprünglichen Dramas: Mit eben dieser Flüchtigkeit des Mediums Schauspielmusik korrespondiert ihr Status eines „Aufführungstextes“ – im Gegensatz zum „Werktext“, wie ihn Goethe für die Oper realisiert sah. Genau hier scheint denn auch der wesentliche Grund dafür zu liegen, dass die Schauspielmusik von der musikwissenschaftlichen Forschung allzu lange ausgeblendet wurde und nun eines der letzten großen Desiderate im Bereich der Theatermusik bildet. Einerseits ließ der Mangel an Werkhaftigkeit die Gattung scheinbar allzu sehr im Usuellen aufgehen, als dass ihre nähere Inaugenscheinnahme von Interesse gewesen wäre. Zum anderen bedingt die transitorische Seinsweise des Genres eine außerordentliche Fülle an (scheinbar minorem, dazu äußerst peripher überliefertem) Aufführungsmaterial, das zu sichten und einer kritischen Aufarbeitung zu unterziehen man bislang weitestgehend unterlassen hat. Anders liegt der Fall für das klassisch-romantische Zeitalter; hier haben die universitären Forschungsinitiativen von Weimar-Jena sowie HeidelbergStuttgart einige grundlegende Einzelstudien hervorgebracht, die als faktisch belastbare Referenzen dazu einladen, vergleichbare Untersuchungen für andere Theater mit abweichenden Protagonisten durchzuführen. Darüber hinaus waren Studien zur Schauspielmusik bislang stets singulären Initiativen und Interessen PLWLQGLYLGXHOOHQXQGVSH]LÀVFKHQ)UDJHVWHOOXQJHQ]XYHUGDQNHQ Vor diesem Hintergrund fand am 15./16. Juni 2012 am Musikwissenschaftlichen Institut der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz ein zweitägiger Workshop statt, der genau jene Kolleginnen und Kollegen miteinander in fachlichen Austausch bringen wollte, die sich in unterschiedlichen Konstellationen bereits mit dem Thema befassen bzw. befasst haben. Neben Fallstudien mit methodisch wie inhaltlich innovativem und für weitere Forschungen anregendem Potential trat die Präsentation langfristiger Forschungsprojekte, letztere sowohl retrospektiv, wesentliche, generelle Erkenntnisse zusammenfassend, als auch prospektiv, auf weitere, bislang unbeachtete Sammlungen hinweisend. Der vorliegende Band folgt in seiner Disposition dem Ablauf des Workshops, der ebenfalls in drei verschiedene historisch-thematische Sektionen gegliedert war:

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Einleitung

Schauspielmusik • von der frühen Neuzeit bis zum klassisch-romantischen Zeitalter • in Europa jenseits der Grenzen des deutschsprachigen Theaters • und Musikalisierung von Theater im 20. Jahrhundert. Während die jüngeren musikwissenschaftlichen Arbeiten zu den Dramen des klassisch-romantischen Zeitalters, insbesondere zu Goethe und Schiller, inzwischen auch die Wahrnehmung seitens der Literaturwissenschaft zu verändern beginnt, stellte die Epoche des deutschen Barockdramas diesbezüglich bislang eine riesige terra incognita dar. Wie die umfänglichen Forschungen von Irmgard Scheitler zeigen, hat man für mindestens 90% der Dramenproduktion zwischen 1500 und 1700 von einer Beteiligung durch Musik auszugehen; diese ist i.d.R. nur indirekt zu erschließen. Der Bandbreite theatraler Aufführungskonstellationen (Schule, Höfe, Bürger, Wandertruppen) entspricht eine Fülle unterschiedlicher musikalischer Realisierungen. Darüber hinaus lassen sich auch aus soziologischer Perspektive wichtige Erkenntnisse, bspw. die Mitwirkung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen betreffend, gewinnen. In seinem quellenkundlich verorteten Beitrag thematisiert Rashid-S. Pegah zwei Fallbeispiele wandernder Truppen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und fügt in der Kombination wichtiger älterer Forschungsliteratur und neu aufgefundener archivalischer Dokumente Mosaiksteine für die mühsame Rekonstruktion dieser seinerzeit bedeutenden Theaterpraxis zusammen. Die Theaterwerkstatt Goethes umfassend in den Blick nehmend, arbeitet Beate Agnes Schmidt das VSH]LÀVFKH3URÀO:HLPDUHU6FKDXVSLHOPXVLNSURGXNWLRQKHUDXVXQGELHWHWHLQH Zusammenschau aller unter seiner Ägide von den ortsansässigen Konzertmeistern bzw. Kapellmeistern komponierten und arrangierten Weimarer Kompositionen. Am Beispiel des Wallenstein wird schließlich einmal mehr die Praxis der divergierenden „Aufführungstexte“ (Austausch von musikalischen Übernahmen bei verschiedenen Inszenierungen) erörtert, die die Autorin nicht nur produktions-, sondern ebenso rezeptionsästhetisch deutet. Der außerordentlichen Vielfalt, die die Wiener Theaterpraxis im frühen 19. Jahrhundert nicht zuletzt in Hinblick auf die Optionen der Musik im Schauspiel bereithielt, begegnet Till *HUULW:DLGHOLFKLQ]ZHL$QVlW]HQ=XQlFKVWWKHPDWLVLHUWHUVSH]LÀVFKH$VSHNWH wie die räumliche Beschaffenheit der Theater, die Möglichkeiten und Grenzen damaliger Bühnentechnik, spricht Fragen der Editionsproblematik von Schauspielmusik an, bevor er im Folgenden bislang unberücksichtigte zeitgenössische Quellen ins Zentrum der Analyse rückt: Neben autobiographischen Äußerungen einer Darstellerin und einem Schreiben der Theateradministration ist vor allem HLQHJHQDXH$XÁLVWXQJüber Wahl und Adaption von Kompositionen zu spezi11

Ursula Kramer

ÀVFKHQ7KHDWHUDXIIKUXQJHQDXIVFKOXVVUHLFKÀQGHQVLFKKLHUGRFKGLHVRQVWVR selten dokumentierten Zuordnungen von präexistenter Musik zu individuellen Schauspielaufführungen. Als intakte, von ihrem Aufbau im Jahr 1827 an von späteren äußeren Eingriffen wie Kriegsverlusten verschont gebliebene Theaterbibliothek präsentiert Angelika Tasler den Musikalienbestand des Hoftheaters Coburg am Beispiel der Werkgruppe „Einlagen“, die – bislang wissenschaftlich ungenutzt – speziell für die Schauspielmusik von einigem Interesse sein dürfte. Antje Tumat widmet sich dem auch von der jüngeren Forschung zur Schauspielmusik bislang nur punktuell beachteten Zeitraum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und es gelingt ihr, das gängige (ältere) Bild des Verfalls zu widerlegen und anhand einiger Fallbeispiele durch eine deutlich differenzierte Sicht damaliger Theaterrealitäten zu ersetzen: Demnach kam es weniger zu einem globalem Niedergang bestehender Traditionen als vielmehr zur Umorientierung, indem die einzelnen Theater durchaus unterschiedliche Praktiken im Umgang PLWGHU0XVLNLP6FKDXVSLHOSÁHJWHQ Die Bandbreite der in der zweiten Sektion diskutierten Beispiele schauspielmusikalischer Aktivitäten jenseits des deutschsprachigen Theaters reicht vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert und macht deutlich, dass dem Thema auch als gesamteuropäisches Phänomen eine bislang noch nicht einmal in Ansätzen realisierte Bedeutung zukommt. Für Spanien rekonstruiert Stephanie Klauk die Anfänge der Theatermusik im 16. Jahrhundert und stellt die herausragende Bedeutung präexistenter (Vokal)musik heraus. Dabei ergeben sich methodische Parallelen zu den Forschungen zum zeitgleichen deutschsprachigen Drama (Scheitler): Auch für das spanische Drama erweist sich die indirekte Erschließung der Musikbeteiligung durch Rekonstruktion über Versmaße und Abgleich mit zeitgenössischen musikalischen Quellen als adäquate Methode. Speziell im religiösen Drama wächst der Kontrafaktur zusätzlich ein konfessionelles wie nationales Moment von Identitätsstiftung zu. Möglicherweise stellt sich für Italien als Land der Oper die Bedeutung von Schauspielmusik anders dar als für das restliche Europa: Martina Grempler zeigt das Land gleichsam als weißen Fleck auf der europäischen Landkarte des Theaters mit Musik, das es vor allem durch Rezeptionsdokumente zu erforschen gilt. Ausgehend von theoretischen Äußerungen aus dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert erörtert die Autorin auch die Möglichkeit einer bewussten Abgrenzung zur Oper und zur Musik für die Zeit vor dem 20. Jahrhundert. Der Beitrag zum dänischen Theater von Jens Hesselager verknüpft Aspekte der methodischen Diskussion mit der exakten Lektüre einer zentralen Sammlung von Schauspielmusik aus der Bibliothek des Königlichen Theaters in Kopenhagen 12

Einleitung

aus dem 19. Jahrhundert. Eine typologische Differenzierung zwischen Oper und Schauspiel und die daraus resultierende Positionsbestimmung von Musik im Drama gerät zusehends in produktive Auseinandersetzung mit dem Befund der in der Sammlung notierten Kompositionen (Kanonbildung, Kulturtransfer). Auch im schwedischen Unterhaltungstheater des 19. Jahrhunderts spielte Musik eine wichtige Rolle; Sabine Stölting weist anhand der Arbeitsbiographien zweier in Stockholm wirkender Komponisten auf die Bedeutung der Produktionsbedingungen von Inszenierungen hin: Strategien des Einfachen waren demnach zumindest in dem von der Autorin untersuchten Dramensegment eine FRQGLWLRVLQHTXDQRQDOOWlJOLFKHU7KHDWHUSUD[LV'LHVSH]LÀVFKHQ&KDQFHQHLQHU „späten“ Nation arbeitet Lilli Mittner in ihrem dem Christiania-Theater in Oslo gewidmeten Beitrag für Norwegen heraus. Zu einer Zeit, als das Musikleben andernorts in Europa längst von einer Expertenkultur vereinnahmt war, boten sich an einem geographisch weniger standardisierten Ort eigene Möglichkeiten zur Erprobung künstlerischer Praktiken: Exemplarisch widmet sich die Verfasserin den Kompositionen zweier Komponistinnen im Spannungsfeld des Gender-Diskurses. Rückgewinnung einer zwischenzeitlich verlorenen Deutungshoheit als eigenständige Musiknation lautete unter anderem die Aufgabe auch für den Engländer Arthur Sullivan, die dieser nicht zuletzt in mehreren großformatigen Schauspielmusikprojekten realisierte. Meinhard Saremba gibt einen Überblick über die sieben Theatermusiken Sullivans, unter denen insbesondere den Kompositionen zu Shakespeare-Dramen eine herausragende Stellung zukommt. Ausgehend von der geradezu eklatant zu nennenden Diskrepanz zwischen der massenhaften Verwendung von Musik bei Schauspielaufführungen einerseits XQG GHP JHJHQZlUWLJHQ GHÀ]LWlUHQ )RUVFKXQJVVWDQG LQ )UDQNUHLFK DQGHUHUseits verfolgt Herbert Schneider eine zweifache Intention: Zunächst greift er die grundlegende Studie von Peter Lamothe aus dem Jahr 2008 (Theatre Music in France 1864-1964) auf, der es vor allem um die historischen Rahmenbedingungen von Theaterproduktionen ging, und ergänzt und berichtigt Lamothes umfangreichen Katalog. Im Anschluss diskutiert er 15 exemplarische Kompositionen französischer Schauspielmusik aus der Zeit zwischen 1872 und 1925. Was im Grunde auf alle Beiträge gleichermaßen zutrifft, wird hier am exemplarischen historischen Ausschnitt in besonderem Maße augenfällig: Die Liste der Desiderate für zukünftige Forschungen ist mehr als üppig. Das 20. Jahrhundert nimmt im historischen Längsschnitt gleich aus mehreren Gründen eine Sonderstellung ein. An seinem Beginn stehen nicht nur die optischszenischen Innovationen, die der realistisch-naturalistischen Ausrichtung der zurückliegenden Jahrzehnte eine neue Ästhetik entgegensetzten, sondern vor 13

Ursula Kramer

allem auch das Aufkommen des Regisseurs im modernen Wortsinn, dem als intellektuellem Zentrum der Inszenierung ein bis dato ungekanntes MachtpoWHQWLDO ]XZlFKVW ]X GHVVHQ (LQÁXVVEHUHLFK JUXQGVlW]OLFK DXFK GLH NOLQJHQGH Dimension einer Produktion gehörte. Hatten die Komponisten in den zurückliegenden Jahrhunderten gleichsam selbstverständlich ihren Anteil am plurimedialen Gefüge einer Schauspielproduktion im Sinn des weit über Wagner hinausreichenden Gesamtkunstwerks als Teil eines synthetisierenden Gesamtereignisses verstanden, so zeigten die episierenden Theaterformen erstmals alternative Optionen für die musikalische Dimension auf: Eine homologe Gesamtstruktur war nun keinesfalls mehr selbstverständlich oder gar zwingend. Dies tangierte auch die angestammten Hierarchien der beteiligten Medien; nicht länger gingen Musik und Klang in einer Art „Hilfsfunktion“ für das logoszentrierte Drama auf; dieses wiederum wurde seinerseits hinterfragt und punktuell gar preisgeJHEHQZRGXUFKVLFKDXFKGLH5ROOHGHUÁDQNLHUHQGHQPXVLNDOLVFKHQ'LPHQVLon änderte. Das Verhältnis der Einzelkünste zueinander wurde neu verhandelt. Experimentelle Theaterformen suchten sich ihre eigenen Räume jenseits der Mauern institutionalisierter Staats- oder Stadttheater, und dafür standen ihnen längst auch innovative Möglichkeiten einer elektronischen Klangerzeugung zur Verfügung: Theater mit Musik ist inzwischen zu einem Sammelbegriff für eine pluralistische Landschaft unterschiedlichster Formen künstlerischen Miteinanders der verschiedenen Medien und Elemente geworden. Die dem dritten Themenschwerpunkt (20. Jahrhundert) des vorliegenden Bandes gewidmeten Beiträge spiegeln derartige Heterogenität unmittelbar wider. Benjamin Scholten zeigt zum einen die aus einem gewandelten Kräfteverhältnis resultierende Forschungsproblematik auf und konfrontiert sie zum anderen mit der Pragmatik des Theateralltags, dessen eigene Gesetzmäßigkeiten oftmals mit den Deutungsansätzen des Wissenschaftlers kollidieren. Neuartige Quellensorten und ein gegenüber früheren Jahrhunderten gesteigertes historisches Bewusstsein, das nun auch scheinbar ephemere Theaterarbeiten als Teilbereiche von Nachlässen bewahrt, erlauben zudem eine facettenreichere Sichtung schauspielmusikalischer Phänomene. Ursula Kramer greift dies exemplarisch auf, indem sie anhand dreier Regiebücher von Max Reinhardt zu seinen verschiedenen Faust-Inszenierungen nach Funktion und Rolle dieser VSH]LÀVFKHQ7H[WVRUWHIUDJW$QWZRUWHQHUJHEHQVLFKDXVGHU*HJHQOHNWUHGHU Analyse exemplarischer Passagen der musikalischen Realisierungen für die unterschiedlichen Produktionen: Anspruch des Regisseurs und konkrete Umsetzung durch die Musik liegen bisweilen weit auseinander, und manche nicht verwirklichte Idee Reinhardts lässt ihn als einen auch in musikalischer Hinsicht bislang ungenügend gewürdigten Theatermann erscheinen, der, wie die weite14

Einleitung

re Entwicklung der Schauspielmusik im 20. Jahrhundert zeigen sollte, seinen komponierenden Mitarbeitern bisweilen um Jahrzehnte voraus war. Noch am Ende des Jahrhunderts sollten Theaterschaffende von seinen (auch: klingenden) 9LVLRQHQSURÀWLHUHQ 'LH VSH]LÀVFKH7ULHEIHGHU IU GHQ7KHDWHUPDQQ %UHFKW ZDU GLH SROLWLVFKH Idee gesellschaftlicher Veränderungen durch die Kunst; Ingeborg Allihn durchmisst in ihrem Beitrag den Weg, den Brecht und Hanns Eisler in 27 Jahren und acht gemeinsamen Schauspielproduktionen gegangen sind. Exemplarisch wird eine dieser acht ganz unterschiedlichen kompositorischen Lösungen diskutiert: eine Musik, die als Teil in einem Kollektiv selbstständiger Künste als „Schmutzaufwirblerin“ zu wirken hatte. Dass die Bühnenwerke von Peter Hacks zahlreiche musikalische Einlagen aufweisen, wurde bislang von der Forschung nicht thematisiert. Gunther Nickel nimmt dies zum Anlass, um in größerem Kontext DXIGLHJHQHUHOOH$IÀQLWlWYRQ+DFNV]XU0XVLNKLQ]XZHLVHQXQGVR]XZHLWHUHU Forschung anzuregen. Der Beitrag von Constanze Schuler zeigt exemplarisch, wie wichtig und erhellend interdisziplinäre Perspektiven für die Erforschung von Schauspielmusik insbesondere des 20. Jahrhunderts sind. Anhand von drei höchst unterschiedlich situierten Produktionen der Jahre 1922, 1974 und 2012, denen jedoch allen experimentelle Raumlösungen eigen sind, wird bei unterschiedlichem methodischem Ansatz der Erkenntnisgewinn deutlich, der durch die Analyse des Zusammenspiels von Musik und jeweiligem Raum entsteht. Im Zentrum der Ausführungen von Martin Zenck steht das (re)produzierende Wirken von Pierre Boulez als musikalischem Leiter der Pariser Theatertruppe Compagnie Renaud-Barrault, dem nach Jahren der Einstudierung fremder Werke schließlich selbst der Kompositionsauftrag zur Orestie erteilt wurde. Zu den wichtigsten Erkenntnissen aus der Diskussion des umfangreichen Notentextes gehört die der hierarchielosen Gattungsinterferenz: Für Boulez ist Schauspielmusik als DQJHZDQGWH .XQVW NHLQHVIDOOV HLQ QDFKUDQJLJHV *HQUH VRQGHUQ SURÀWLHUW YRQ Kompositionsprozessen der autonomen Musik gleichermaßen wie sie ihrerseits ideenstiftend in jene hinüber wirkt. Vor dem Hintergrund der jüngeren Hörspielgeschichte und ihrem speziellen Verhältnis zur Musik thematisiert Michael Bachmann Johan Simons‘ Produktion von Aischylos‘ Perser (2011), die im Anschluss an ihre Präsentation im Theater auch eine Rundfunk-Ausstrahlung erlebte. Mit dem Verlust der optischen Dimension der Bühne geht nach Bachmann ein Entgrenzungsprozess des Mediums Musik einher, der dieses nun stärker an die Sprache annähert. Gleichsam symptomatisch für die innovativen Optionen von Musik im Theater des 20./21. Jahrhunderts beschließt Friedemann Kreuders suggestive Beschreibung eines Berliner Theaterabends von Jörg Laue und der 15

Ursula Kramer

LOSE COMBO die Reihe der Beiträge: Eine Performance, bei der die Musik diametral zu ihrer angestammten, unterstützenden und steigernden Funktion eines Dramas steht, indem sie ihrerseits als Matrix des Abends fungiert, kehrt einstige Kräfteverhältnisse vollends um. Damit scheint der denkbar weiteste Weg ausgeschritten, der einst mit GeVDQJVHLQODJHQ EHJRQQHQ KDWWH XQG EHU GLH DIÀUPDWLYH 0HGLHQNRPELQDWLRQ einer auch die selbständige Instrumentalmusik einbeziehenden Theaterepoche LOOXVLRQLVWLVFKHU3UlJXQJZHLWHUJHIKUWZXUGHELVVFKOLH‰OLFKGLH'LYHUVLÀ]LHrung des 20. Jahrhunderts neben der Fortschreibung bewährter Funktionen auch solche Alternativmodelle entwickelte, die sich den angestammten Hierarchisierungen vollends entziehen. Dazwischen liegt ein schier unüberschaubares Potential individueller Theaterabende mit unterschiedlichster Verwendung musikalischer Anteile; im Rahmen der hier dokumentierten Tagungsbeiträge von 2012 konnten bestenfalls exemplarische Schlaglichter gesetzt werden. Nicht zuletzt die auch in den einzelnen Beiträgen aufgewiesenen Forschungsoptionen mögen dazu einladen, sich diesem gleichermaßen spannenden wie schillernden Gegenstand im jeweils individuell und immer wieder neu zu verhandelnden interdisziplinären Diskurs zu nähern. Dass der Workshop und der nun vorliegende Sammelband zustande kamen, ist zuallererst den Autorinnen und Autoren zu verdanken. Der Dank gilt aber auch dem (damaligen) Musikwissenschaftlichen Institut (heute: Institut für Kunstgeschichte und Musikwissenschaft) – stellvertretend seien sein Leiter, Prof. Dr. Klaus Pietschmann, und Gabriele Maurer genannt – für ideelle und praktische Unterstützung insbesondere im Zusammenhang mit der Durchführung der Veranstaltung 2012. Benjamin Scholten und Frederic von Vlahovits haben wertvolle Hilfe bei der Organisation des Workshops bzw. bei der Einrichtung des Bandes für den Druck geleistet. Finanziell gefördert wurde sowohl der Workshop als auch die Publikation der Beiträge durch die großzügige Unterstützung des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Die Strecker-Stiftung Mainz ermöglichte schließlich die Wiedergabe der Abbildungen in optimierter Farbqualität. Allen Personen und Institutionen gilt mein herzlicher Dank.

Las Palmas, im Februar 2014 16

Ursula Kramer

Schauspielmusik von der frühen Neuzeit bis zum klassisch-romantischen Zeitalter

Schauspielmusik im deutschen Sprachraum (1500 bis 1700) Ergebnisse eines DFG-Forschungsprojekts IRMGARD SCHEITLER

In Christoph Wolffs Monographie zur Hamburger Oper aus dem Jahr 1957 liest man in einer Fußnote: „Es wäre eine notwendige Aufgabe, den großen Anteil der Musik im Barockdrama einmal zu untersuchen“.1 Dieses Forschungsdesiderat blieb bislang weitgehend unerfüllt, obgleich inzwischen mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen ist. Deutschland steht damit weit hinter anderen Ländern zurück. Fast hat man den Eindruck, dass zwar die Zusammenarbeit von Lully und Molière oder die Bedeutung der Musik bei Shakespeare zum selbstverständlichen Wissenskanon gehören, die Frage nach Musik in der deutschsprachigen Frühen Neuzeit sich – jedenfalls für die Literaturwissenschaft – aber nicht einmal stellt.2 Dramen erschienen auch in jüngerer Zeit als Neuausgaben unter stillschweigender Fortlassung der Noten. Der Usus setzt sich fort, wenn etwa Digitalisate ohne die Noten ins Netz gestellt werden. Das Weglassen kann nur so zu verstehen sein, dass Musik nicht als essentiell für das Verständnis des Stückes gilt. Aus diesem Grund wird sie auch, sofern Noten dankenswerterweise in kritische Neuausgaben einbezogen werden, nicht kommentiert. Die Theaterwissenschaft scheint sich, anders als in der Zeit von Heinz Kindermanns Theatergeschichte Europas, in den letzten Jahren mit historischen Fragestellungen nur mehr wenig zu beschäftigen.3 Was den Kenntnisstand in der 1 2 3

WOLFF, 1957, Bd. I S. 37, Anm. 64. EILERT, 2000 streift Andreas Gryphius unter Hinweis auf Vondel mit einem Satz (S. 167), weiß aber viel über Italien und Frankreich zu berichten (S. 166f). KINDERMANN 1969. 1967. 19

Irmgard Scheitler

Musikwissenschaft anbetrifft, so sei pars pro toto auf die Artikel in MGG und MGG2 hingewiesen: Beide wissen über die Epoche zwischen 1500 und 1750 für den deutschsprachigen Raum so gut wie nichts zu sagen, die Neuausgabe erstaunlicherweise noch weniger als die alte.4 Dabei kamen gerade von musikologischer Seite im 19. Jahrhundert Beiträge von bleibender Gültigkeit. Die damaligen Anstöße wurden nicht oder doch nur sehr vereinzelt weitergeführt. Mit seinen wichtigsten und wegweisenden Forschungen stand der 2012 verstorbene Werner Braun ziemlich allein. Gesicherte Aussagen über die Rolle der Musik im deutschsprachigen Sprechtheater lassen sich nur machen, wenn nach Möglichkeit die Fülle der Produktion in den Blick genommen wird. Sie zu heben ist nicht einfach; die Germanistik nimmt in der Regel nur einen sehr kleinen Teil wahr und wendet sich dieser schmalen Textbasis mit immer neuen Untersuchungen zu, während die meisten Titel unbekannt oder jedenfalls kaum rezipiert sind. Dank eines DFG-gestützten Forschungsprojektes konnte ich in den letzten Jahren die Dramen-Produktion zwischen 1500 und 1700 sichten.5 Nur ca. 10% der Texte enthalten keine Musikhinweise. Sieht man von reinen Lesedramen ab, so bedeutet das Fehlen von Musikhinweisen noch nicht das Fehlen von Musik im Schauspiel. Teils wurde der Einsatz von Musik stillschweigend vorausgesetzt, teils sind Musiktexte und selbstverständlich auch Noten durch vom Dramentext abgesonderte Überlieferung verloren oder liegen möglicherweise irgendwo unerkannt. Selbst der Befund, dass jedenfalls in 90% der Spiele nachweislich musiziert wurde, ist überraschend und überzeugend. Eine Differenz zwischen dem 16. und dem 17. Jahrhundert hinsichtlich der Intensität des Musikeinsatzes lässt sich nicht feststellen. Bei den Texten fanden sich ca. 550 Musikstücke in Noten, von kleinen einstimmigen Melodien bis zu großen mehrchörigen und mit reichem Instrumentenapparat versehenen Werken. Das klingt nach viel, ist aber nur ein winziger Bruchteil all jener Kompositionen, die ehemals vorhanden waren. Dazu kommt, dass anders als in Frankreich, England oder Spanien im deutschsprachigen Raum von den ganz großen Komponisten Schauspielmusiken nur in geringer Zahl überliefert sind. Dies hat einen praktischen Grund. In den genannten Ländern bestan4

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WIRTH, 1952 Sp. 434f einige Bemerkungen zum 16. Jahrhundert, das 17. Jahrhundert wird übersprungen. Altenburg/Jensen, 1998: das 16. und 17. Jahrhundert wird für Deutschland ausgelassen. SCHEITLER, 2013. Untersucht wurden vornehmlich Drucke. Fastnachtspiele wurden nicht berücksichtigt.

Schauspielmusik im deutschen Sprachraum (1500 bis 1700)

den in den Hauptstädten wenige feste Theater mit professionellen Ensembles. Diese Truppen waren zudem am Königshof engagiert und wurden bisweilen sehr reich dotiert. Im dezentral organisierten deutschsprachigen Raum kam es jedoch nicht zu solch einer Zusammenballung von Kompetenz. In Deutschland wurde vornehmlich an Schulen gespielt, ferner durch Bürgergruppen und auf Initiative von Adelshöfen. Professionelle Schauspieler zogen in Wandertruppen von Ort zu Ort und baten um Spielerlaubnis. Kantoren und Organisten, Kammermusiker und städtische Directores musices übernahmen die Komposition. Auch unter diesen gab es freilich sehr tüchtige Musiker. Für die meisten aber war Musik für ein Schauspiel nur eine Angelegenheit der Nebenstunden. Ihre anlassgebundenen Arbeiten gingen rasch verloren. In Noten überlieferte Musikstücke müssen auf ihre Originalität und auf ihren Komponisten hin geprüft werden. In vielen Fällen wurde bekannte Musik gedruckt oder abgeschrieben. Originale Musik ist mit zeitgenössischer Produktion zu vergleichen, um ihre Qualität festzustellen. Von besonderem Interesse ist es, den Schwierigkeitsgrad des Stückes einzuschätzen, führten doch in den allermeisten Fällen Laien diese Musik auf. $Q6WHOOHGHU1RWHQEHLODJHÀQGHQVLFKVHKURIW9HUZHLVHDXI0XVLNVWFNHGLH LP6FKDXVSLHOHLQJHVHW]WZHUGHQVROOHQ*HOLQJWHVGDV*HPHLQWH]XLGHQWLÀ]LHren, so lassen sich daraus Rückschlüsse auf die Repertoire-Kenntnis des jeweiligen Dichters oder seines musikalischen Mitarbeiters ziehen. Die interessante Frage nach der Herkunft des Notenmaterials kann wegen unserer mangelhaften Kenntnis lokaler Musiksammlungen nur in seltenen Fällen beantwortet werden. Einfach aufzulösen ist die folgende Angabe in einem Schauspiel von Georg Neumark: „Hernach wird ein trauriges Stük musiciret/ etwan das letzte aus Hammerschmids erstem Theile.“6 Gemeint ist Andreas Hammerschmidts 1636 erschienener Erster Fleiß. Hammerschmidts Sarabande steht in a und ist für fünf Stimmen komponiert, die mit Streichern und Generalbass oder auch Bläsern besetzt werden konnten. Überblickt man die anderen Musikstücke des Neumarkschen Dramas, so erweist sich die Besetzung mit fünf Instrumentalisten als realisierbar. Die Erwähnung von Hammerschmidts Sammlung von Tanzmusikstücken zeugt von deren Beliebtheit und Bekanntheit und verweist zudem auf HLQH P|JOLFKH ZLFKWLJH 5HVVRXUFH IU GLH LQ 6FKDXVSLHOHQ KlXÀJ YHUODQJWHQ DEHUQLFKWVSH]LÀ]LHUWHQ,QVWUXPHQWDOPXVLNVWFNH0XVLNKLVWRULVFKLQWHUHVVDQW ist darüber hinaus die affektive Beschreibung. Hammerschmidts Sarabanden waren noch rasche Stücke. Allerdings entwickelte sich die Sarabande im Laufe 6

NEUMARK, 1649, Ende von Akt III. 21

Irmgard Scheitler

des 17. Jahrhunderts zu einem langsamen Tanz, eine Wandlung, die sich in Neumarks Verständnis der Sarabande als „traurig“ schon ankündigt. Vor größere Schwierigkeiten stellt den Forscher ein Spiel Hanns Wagners von 1581, in dem nach Akt I „Praeparate corda vestra deo. Quattuor. Claudin“, nach Akt II „Qui seminant in lachrymis, Secunda pars Qui parce seminant“ gefordert werden.7 Es handelt sich einmal um eine vierstimmige Motette von Claudin de Sermisy, sodann um eine vierstimmige Komposition von Nicolas Gombert. Eine eindeutige Zuordnung ist möglich. Die Darbietung anspruchsvoller Motetten spricht für die traditions- und qualitätsbewusste Repertoirekenntnis der Verantwortlichen sowie für ein erhebliches Niveau der Ausführenden. Claudin de Sermisy und Gombert sind in deutschsprachigen Spielen kaum anzutreffen. Die ungewöhnliche Auswahl ist wohl durch die Aufführung in der katholischen Stadt Solothurn in der Schweiz zu erklären. Nicht immer lässt sich aber das intendierte Musikstück genau benennen, etwa wenn die Angaben nur so spärlich sind wie hier: „Canatur Moteta de Poenitentia seu Conversione emendemus in melius, etc.“8 Hier muss es genügen, die grundsätzliche Realisierbarkeit der Angabe zu erweisen, denn für das Responsorium lassen sich mehrere Vertonungen benennen. Eigentlich müsste das Notenarchiv des ursprünglichen Aufführungsortes in solch einem Fall nähere Auskunft erteilen. Es ist jedoch ein seltener Glücksfall, wenn an einem Aufführungsort ein Tonsatz nachweisbar ist, der genau dem im Schauspiel Geforderten entspricht. In einem Rudolstädter Stück heißt es: „Indem das Theatrum wieder aufgehet/ wird in der Capelle abermahls starck musicirt der Text Gal. 3,12: Ihr syd nun alle Gottes Kinder etc.“9 Zu diesem Text ist eine Vertonung für vier Stimmen und fünf Instrumente von dem Rudolstädter Musiker Georg Bleyer im ehemaligen Notenbestand der Hofmusik belegt.10 1HXH/LHGWH[WHSÁHJWHPDQLQGHU)UKHQ1HX]HLWPLW0HORGLHDQJDEHQ]XYHUsehen („Im Thon“). Das damals vorhandene ausgeprägte Bewusstsein für Strophenmuster sowie für den affekt- und sinntragenden Charakter einer Tonfolge können wir heute nur mehr mit Staunen registrieren. Melodieangaben lassen Aussagen zur Beliebtheit und Verbreitung bestimmter Weisen zu. Nicht selten beschenken uns Schauspiele mit Erstbelegen für Lieder oder Melodien. Die Thonangabe ist zudem ein untrüglicher Beweis dafür, dass ein Textabschnitt 7 8 9 10 22

WAGNER, 1982, S. 204/256. LYTTICH, 1586, nach Prolog und Argumentum. HÖRNLEIN, 1680, III,1. ERLEBACH, 1959, S. XXIV Nr. 17 (Buchstabe I).

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zum Gesang vorgesehen ist. Fehlt sie, so wird man trotzdem an Stellen, in denen der Dramenvers oder die Dramenprosa zu lyrischen Formen mit Strophen oder madrigalischen Zeilenfolgen übergeht, Gesang annehmen dürfen. Über die musikalische Realisierung madrigalischer Texte lassen sich wenig konkrete Aussagen machen. Es drängt sich auf, sie als Rezitative zu denken, der Schluss ist aber nicht zwingend. Es gibt Beispiele für ariose und auch liedhafte Vertonung, ggf. auch einzelner Abschnitte. Überraschende Wirkungen lassen sich erzielen, wenn ein Text mit einem semantisch besetzten Thon verbunden wird. An diesen Fällen zeigt sich, wie elegant sich über die Musik Informationen vermitteln lassen. Bestimmte Melodien sind durch ihre allgemein bekannte Verbindung mit ihrem Ursprungstext gleichsam von diesem tingiert. Die Verwendung der Pange lingua-Weise durch die Baalspriester brandmarkt die Katholiken als Heiden.11 Zwei Patres, die ein Lied über die Vanitas mundiVLQJHQGLHVHVDEHUPLWHLQHU6DXÁLHGPHORGLHYHUELQGHQ sodass sie im Refrain statt „schenk ein, sauff aus“ jeweils „Laß die Welt=Lust“ singen, werden durch diese Melodieverwendung als scheinheilig entlarvt.12 Allerdings fehlt in der überwiegenden Anzahl der Fälle eine Melodieangabe. Anhand des Strophenmusters lassen sich Vorschläge für eine Singweise machen. Es versteht sich, dass bei diesem Verfahren theoretisch eine Vielfalt von Melodien in Frage kommt. In manchen Fällen kann aber die Zuordnung einer bestimmten Melodie sehr wahrscheinlich gemacht werden. Dies gilt, • wenn ein Text, meist durch seinen Anfang, auf die intendierte Melodie hindeutet (Initialkontrafaktur), • wenn Kontrafaktur und Original in der Aussage oder im Affekt sehr ähnlich sind, • wenn ein Text strukturelle Besonderheiten wie Zeilenwiederholungen oder Refrain aufweist, • wenn eine Strophenform sehr ungewöhnlich ist. Kein Zweifel wird etwa über die Singweise des folgenden Liedtextes bestehen: O Sterbliche wie unbedacht/ Wie schlechter Sorg/ doch voll deß Pracht Ist euer Thun und Wesen? Ihr klaget an die Irre=Stern/ Und wollet d’Götter nicht anhörn: Wie könnt ihr dann genesen? 11 12

BIRCK, 1535, Bl. A3v. Der viesierliche Exorcist, 1675, S. 5. 23

Irmgard Scheitler Man traut Und schaut Nur mit schwäncken ohn bedencken Was man liebet/ Wiewohl ’s offt das Gmüth betrübet.13

Das Beispiel ist einem von einem Benediktiner verfassten Theaterstück entnommen. Hier die Melodie von „Wie schön leuchtet der Morgenstern“YRU]XÀQGHQ mag zunächst verwundern. Jedoch war das Lied nicht nur im evangelischen, sondern auch im katholischen Gesang verbreitet.14 Auch in all jenen Fällen, in denen mehrere Singweisen möglich sind, ist es sinnvoll, dies festzuhalten, gibt es doch auch Strophenformen, die ohne Vorbild sind. Für sie lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit (es ist nicht auszuschließen, dass dem Forscher eine Melodie entgangen ist) voraussetzen, dass der Text neu komponiert werden sollte, eine Feststellung, die für die Beurteilung der Funktion von Musik im Drama wichtig ist. Der Weg von der Strophenform zur Melodie ist für das 17. Jahrhundert theoretisch gut gangbar. Die Prosodie erlaubt es, Strophenschemata nach Takten, d. h. Hebungen zu bestimmen, während sich für die frühere Zeit das AuszähOHQGHU6LOEHQHPSÀHKOW,P-DKUKXQGHUWNRPPWHVKLQJHJHQLPPHUZLHGHU vor, dass Texte mit unterschiedlichem Aufbau auf gleiche Melodien gesungen wurden. Man legte zusätzliche Silben auf Melismen (Umspielungen) oder überbrückte fehlenden Text mit Ligaturen (Tonverbindungen). Die natürliche Wortbetonung spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Angesichts einer solchen Freiheit der Melodieverwendung versagt die Methode der Tonzuweisung. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass, bei aller Bevorzugung des Liedhaften, Komponisten gerade der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts strophische Texte in ganz freier Weise behandelten, sei es, dass sie die einzelnen Strophen zu Rezitativen und Arien machten, sei es, dass sie das textlich liedhafte Gedicht durchkomponierten oder zu einem mehrsätzigen Konzert umformten.15 Mit dieser Möglichkeit ist stets zu rechnen, sie ist dem Text aber nicht anzusehen und führt daher nicht den Versuch ad absurdum, bei einem Strophentext nach möglichen Singweisen zu suchen. Viele Textdichter legten besonderen Wert auf hohe 13 14 15

24

RETTENPACHER, 1682, III/5. BÄUMKER, 1883, Bd. II, Nr. 296. Dies zeigte Wolfgang Briegels Vertonung des anonymen Textes Die siegende Liebe, Darmstadt 1673; hs Beschreibung der Vertonung im Hess. Staatsarchiv Darmstadt: Abt. D8 Konv. 15 Fasc. 2 (Handschrift) Nr. 4 (ohne Titel).

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Originalität und kunstvolle Kombination in ihren Strophenformen. Sie bieten damit dem Komponisten eine Textvorlage, die ihn zu abwechslungsreichen Vertonungen anregt. Bei einigen Dichtern lässt sich ihre Vertrautheit mit Melodien ausmachen, die dann sehr gezielt eingesetzt werden. Bei Lohenstein hingegen fällt eine ungewöhnliche Gleichförmigkeit der Reyen auf, und dies bei gleichzeitig sehr großem Umfang. So liegt es nahe anzunehmen, dass der Dichter auf die Fähigkeit seines Tonsetzers vertraute, alle diese demselben Schema folgenden Texte musikalisch jeweils verschieden zu gestalten. Der Musikeinsatz in einem frühneuhochdeutschen Stück folgt einem gewissen Regulativ. Es gibt zum einen feste Stellen der Musik, sozusagen das Ordinarium: die Fanfare zu Beginn; die Instrumentalmusik im Zusammenhang mit dem Prolog bzw. seit dem späteren 17. Jahrhundert den ganz gesungenen Prolog; die instrumentale Zwischenaktmusik bzw. die Chöre (Reyen), die Abzugsmusik, ggf. eine Licenza. Daneben ist ein ungeschriebener Kanon von beliebten Stellen des Musikeinsatzes auszumachen: Auftrittslied, Ständchen, Tanzmusik und -lied, Einschlafmusik und Traumoffenbarung, heidnisches Opfer, Zauberei und Geistererscheinung, Himmelsszene und Göttererscheinung. Diese Topoi verändern sich zwischen 1500 und 1700 nicht wesentlich. War für das 16. Jahrhundert die Scena coeli mit den singenden Engeln typisch, so gibt es sie in der Barockzeit immer noch, daneben aber treten Götter in den Wolken oder Meereswesen in den Wogen auf. Allegorien und Geister singen zumeist statt zu sprechen, ganz JOHLFKREDXIGHU:DQGHUEKQHLP6FKXOVSLHORGHULPK|ÀVFKHQ7KHDWHU&K|UH VLQG LP  HWZDV KlXÀJHU DQ]XWUHIIHQ DOV LP  -DKUKXQGHUW LQ GHP sie oft durch Generalbasslieder oder szenisch erweiterte Intermedien ersetzt werden. Eine Besonderheit des 17. Jahrhunderts ist der zu einer selbstständigen Einheit erweiterte Prolog und die Licenza am Ende. Musiziert wird in der ganzen Epoche sowohl auf der Bühne als auch abseits (hinter, neben, unter oder vor dem Schauplatz), entweder von den Schauspielern selbst oder von versteckten 0XVLNHUQ(LQHQ+LQZHLVDXIGLHYRQJU|‰HUHQLQVEHVRQGHUHK|ÀVFKHQ7KHDWHUQ EHNDQQWH 2UFKHVWHU]RQH YRU GHU %KQH ÀQGHW PDQ LQ HLQHU 5XGROVWlGWHU Komödie: die Lustige Figur spricht ein paar Orchestermusiker an, die offenbar dort saßen.16 Der Tanz spielte zu allen Zeiten eine sehr große Rolle, auch im 16. Jahrhundert. Zu vielen Chören wurde getanzt, was bisweilen am Metrumwechsel abzulesen ist (Proportio). Auf der Szene führten Handwerker-Gruppen die für sie W\SLVFKHQ6FKZHUWWlQ]HRGHU.HWWHQWlQ]HDXI+|ÀVFKH7lQ]HJHK|UHQLQGHQ 16

STIELER, 1666, III,4. 25

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Zusammenhang eines festlichen Mahles. Es tanzen die Kinder, die Engel und die Teufel, die Bauern und die Bergleute. Endet ein Spiel mit einer Hochzeit, so ist der Tanz obligatorisch. Bei Martin Rinckart tanzt sogar Martin Luther. Das Einfügen von Balletten in den Zwischenakten oder am Ende ist eine Erscheinung der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und keineswegs auf den Fürstenhof beschränkt. Ein durchschnittlicher Schauspielchor war mit fünf bis sieben Sängern besetzt. Da im deutschsprachigen Raum die Schulen ein Hauptträger der dramatischen Aufführungen waren, kommt dem Chor eine wesentlich höhere BedeuWXQJ]XDOVLQ(QJODQGRGHU)UDQNUHLFK$QEHVRQGHUVJUR‰HQ6FKXOHQÀQGHQZLU freilich eine Fülle von Sängern, die in mehreren Chören auftreten, wie etwa in Magdeburg zur Zeit Georg Rollenhagens. Im 17. Jahrhundert hatten bedeutendere Schulen ein eigenes Collegium Musicum, waren also nicht unbedingt auf die Mitwirkung der Stadtpfeifer angewiesen. Soziologisch interessant ist das Zusammenwirken von gesellschaftlich getrennten Musikergruppen. Erzherzog Ferdinand II. holte sich Schwazer Knappen zur Verstärkung seiner Hofmusik, die Luzerner Osterspiele zogen Spielleute aus einem Umkreis von 100 km an, der Steinmetz Thomas Schmid gewann zwei Hoftrompeter für eine Heidelberger Aufführung 1578, Hans Sachs ließ sich von einem Schulgelehrten eine Humanistenode als Zwischenaktchor für ein Meistersingerdrama aufschreiben, der protestantische Schüler Telemann wurde wahrscheinlich von den Hildesheimer Jesuiten für ihre Theateraufführungen angeworben. Zu den soziologisch überraschenden Ergebnissen der Erforschung deutscher Schauspielmusik gehört auch, dass Frauen und Mädchen offenbar öfter und früher als Sängerinnen auftraten als bisher angenommen. Bisher bekannt war, dass Wandertruppen Frauen mitführten und dass weibliche Personen bei privaten Aufführungen beteiligt waren. Neu scheint mir jedoch, dass auch bei Schulaufführungen Mädchen mitspielten und vor allem mitsangen. Die Gymnasien bzw. deutschen Knabenschulen schlossen sich in solchen Fällen mit den Mädchenschulen zusammen. Gelegentlich ausgesprochene Verbote bezeugen, dass die Obrigkeit hier einer Praxis Einhalt gebieten wollte. Nachweislich traten in einigen Fällen, in denen „puellae“ in Chören erwähnt werden, tatsächlich Mädchen auf. Besonders gern stellte man Mädchen- und Knabenchöre einander gegenüber. In Nürnberg trat 1659 ein siebenjähriges Mädchen sogar als Gesangssolistin in zwei Rollen auf.17 Keine eigentliche Schulaufführung, sondern ein Schauspiel im Pfarrsprengel mit Schuljugend und Erwachsenen war Johann Bernhard Zehes Tugent und Laster Spiegel. Hier setzte der Autor seine Magd als 17 26

SPIESS, 1659, I,5; II,5.

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Sängerin ein.18 Eine Besonderheit sind die Schauspiele der adeligen Hofdamen der Kaiserin Eleonore Magdalena. Der Kaiser schrieb die Musik zu diesen Aufführungen im Kreis des engeren Hofes. Sämtliche Rollen wurden von Frauen gespielt, gesungen und getanzt. Unter den in Noten überlieferten Musikstücken treffen wir auf eine Fülle von epochentypischen Gattungen: gregorianischer Choral, Humanistenode, Tenorliedsatz, Kirchenlied in Kantionalsatz, motettische Komposition, Kanon, Villanelle, Canzonette. Es gibt Battaglia und Echolied, Bergreihen und Tanz. Kunstvolle Madrigale fehlen. Ein von Georg Neumark angekündigtes neunstimmiges „Madrigal“ als Eingangsmusik zu einem Festspiel hat Adam Drese vermutlich nicht nachgereicht.19 Einen breiten Raum beansprucht das Generalbasslied mit und ohne obligate Instrumente. Seine Ritornelle bzw. Sinfonien sind, obwohl verlangt, oft nicht ausgeschrieben und wurden wohl von den Instrumentalisten aus dem melodischen Material gebildet. Auch die Dacapo-Arie zieht ins SprechVWFNHLQGHVJOHLFKHQGDV5H]LWDWLY%HLGHVÀQGHWVLFKDEHUQXUYHUHLQ]HOWLQGHQ überlieferten Neukompositionen. Es fällt auf, dass fast keine neu komponierte Instrumentalmusik überliefert ist, obgleich solche in ausreichendem Maße vorhanden gewesen sein muss. Oft genug nämlich lesen wir genaue Angaben über HLQKDQGOXQJVEH]RJHQHV,QVWUXPHQWDOVWFNÀQGHQHVDEHUQLFKWEHLGHQ1RWHQ Möglicherweise hat dies mit den getrennten Überlieferungswegen zu tun. Instrumentalmusik wurde bei den Musikern gebraucht und vielleicht aufbewahrt, nicht aber beim Autor des Textes. Leider gibt es in Deutschland, anders als in England und Frankreich, auch kaum Sammlungen von instrumentaler Schauspielmusik;20 vielleicht hat man bislang aber auch noch zu selten BühnenmusiNHQLQ6DPPHOZHUNHQLGHQWLÀ]LHUHQN|QQHQ Die folgenden Beispiele wollen einen Einblick in typische Einsatzweisen von Musik geben. Sie sind bewusst aus verschiedenen Dramen und verschiedenen Zeiten gewählt und unterscheiden sich in Stil und Anspruch, um ein möglichst breites Spektrum erkennen zu lassen.

18 19 20

ZEHE, 1652, S. 169. NEUMARK%ODYI'LH$XIIKUXQJÀHOZHJHQGHV7RGHVGHV+HU]RJVDXV Die Sammlungen von David Cramer und William Brade weisen Instrumentalstücke auf, die mit ziemlicher Sicherheit zu Schauspielen verwendet wurden. Vgl. BRAUN, 1977, S. 100-107. 27

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Abbildung 1: Christian Weise, Der Tochter=Mord. Welchen Jephtha unter dem Vorwande eines Opfers begangen hat, Dresden, Zittau 1680, Prolog Für die Umschrift der Notenbeispiele danke ich Herrn Christoph Beck

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Ein Bühnenstück mit Musik beginnen zu lassen, war schon in der Antike üblich. Die Dramen des 16. Jahrhunderts setzten vor den Beginn des Haupttextes ein ausgedehntes Anfangsritual mit Aufzug der Schauspieler, Prolog und Argumentum, wobei immer wieder Musik erklang. Im Laufe des 17. Jahrhunderts kam es mehr und mehr aus der Mode, die Handlung zu Beginn schon zu berichten und zu erläutern. Der Prolog brauchte somit nur noch eine Begrüßung und Einführung zu sein. War er früher von Musik eingerahmt, so wurde er nun selbst oft gesungen. Dieser Tendenz folgt auch Christian Weise, als er nach seiner Wahl zum Rektor des Zittauer Gymnasiums das erste Theaterstück auf die Bühne brachte. Weise arbeitete mit dem Organisten der Zittauer Hauptkirche, Moritz Edelmann (gest. 1680), als Komponisten zusammen. Warum er die Vertonung nicht dem Schulkantor anvertraute, hat seinen Grund wohl in der überlegenen Fähigkeit Edelmanns. An Stelle des Vorredners treten zwei Tenoristen auf dem äußeren Bühnenabschnitt auf. Ihr Lied begrüßt die Zuschauer. Während der zweiten Strophe öffnet sich effektvoll der Vorhang zum mittleren Bühnenabschnitt und gibt den Blick in die Szene frei. Die Komposition in D-Dur für zwei Tenöre und bezifferte Cembalostimme hat ein kurzes Ritornell ohne eigenständige Motivik für zwei Violinen und Streichbass. Letzterer spielt wohl mit dem Continuo mit. Die Melodieführung ist z.T. koloriert. Überwiegend laufen GLHEHLGHQ6WLPPHQNRQVRQDQWLVFKHVÀQGHQVLFKDEHUDXFKHWOLFKH,PLWDWLRQHQ Der Dichter wechselt, in damals moderner Weise, für die letzten beiden Zeilen vom jambischen zum anapästischen Metrum. Die Komposition steht insgesamt in einem geschmeidigen Dreihalbetakt, gestaltet den Schluss aber durch Punktierungen beschwingter. Die Vertonung ist auf den Vortrag durch Gymnasiasten abgestimmt. Weise und seine musikalischen Mitarbeiter Moritz Edelmann, dann Johann Krieger fanden im Lauf der Jahre immer wieder gute Sänger unter den Schülern. Gleichwohl konnte man von ihnen keine professionellen Fähigkeiten verlangen und sie auch selten über Jahre hinweg heranbilden. „Aber wo sich ein armer director nach der Compagnie richten muß/ da bleibt es wohl bey dem principio Salus juventutis praecipua lex esto“,21 schreibt Weise selbst über seine Lage, der er sich „in Musicalischen Dingen“ anpassen musste. Edelmanns gut gelungene Generalbassarie wird in ihrer freundlichen Grundstimmung der Funktion einer Begrüßung voll gerecht. Sie fordert die Sänger, ohne sie zu überfordern.

21

WEISE, 1708, Vorrede, S. 322. 31

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Abbildung 2: Georg Rollenhagen, Tobias/ Eine schöne/ tröstliche Comoedia oder Spiel vom heiligen Ehestand, Magdeburg 1576, Chor nach Akt III

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Der Zwischenaktchor ist ein Merkmal des deutschsprachigen wie auch des QHXODWHLQLVFKHQ'UDPDV'LHVKDWVHLQHQ*UXQGLQGHU'UDPHQSÁHJHGHU6FKXlen. Professionelle Schauspieltruppen können schon wegen ihrer personellen Beschränkung keine Chöre auf die Bühne bringen, während eine Schule möglichst vielen Schülern die Chance geben will, durch ihren Auftritt die Eltern und Gönner im Publikum zu erfreuen. Das Magdeburger Gymnasium konnte eine große musikalische Tradition vorweisen. Martin Agricola hatte als Kantor schon eine vorzügliche Musikausbildung grundgelegt. Darauf bauten Gallus Dreßler und Leonhard Schröter auf. Georg Rollenhagen, seit 1567 Prorektor, seit 1575 Rektor, arbeitete mit beiden zusammen. Für seinen Tobias (1576), ein Bibelstück über eine Erzählung aus dem Alten Testament, schrieb Leonhart Schröter (ca.1532-ca.1600) fünf vierstimmige Aktschlusschöre und ein dreistimmiges Lied. Das gewählte Beispiel ist der Chor nach Akt III. Seine vier Strophen thematisieren, dass Gott den Bedrängten beisteht, insbesondere den Eheleuten. Der Text kommentiert damit die Handlung, die anstehende Verehelichung des Tobias, die böse Mächte verhindern wollen. Die Komposition ist wie alle Zwischenaktchöre des Stückes für vier hohe Stimmen geschrieben und nimmt damit auf den Vortrag durch Knaben Rücksicht. Der Tonsatz im g-Modus legt die Melodie in den zweiten Diskant. Die vierte Stimme ist eigentlich ein Alt. Typisch für ihre Funktion als Basis ist der Sprung in die Tonika am Ende. Die Zeilen beginnen meist akkordisch, gehen dann aber in rhythmisch komplexere Melismen und Kadenzklauseln über. Die Kanzonenform des Textes wird melodisch aufgenommen; die Wiederholung der letzten Zeile greift auf die Weise der zweiten Zeile des Stollens zurück. Die Strophen I und III sind im geraden, die anderen als Proportio tripla bei gleichem melodischem Verlauf im Dreiertakt gesetzt (hier nicht abgedruckt). Mag die Melodieführung auch kirchenliedartig sein, so zeigt doch die Proportio, dass die Chöre getanzt wurden. „Chorus tertius, zwölff knaben mit langen haren/ grünen krentzlein/ schwartzen hartzkappen/ singen/ auch den reyen tantzent“ lautet die Anweisung.22 Georg Neumark war Dichter und Musiker. Die Gambe war sein Instrument, mit ihr ließ er sich abbilden. In seinen Tonsätzen beschränkte er sich aber auf Lieder und Tänze und bezeichnete größere Aufgaben als eine „Kunst/ welche meiner Profession nicht ist“.23 Als Schöpfer von Generalbassliedern hat er sich einen bleibenden Namen erworben; „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ lebt noch heute. Sein in Thorn aufgeführtes Schauspiel Keuscher Liebesspiegel ließ er 1649 mit den selbstkomponierten „Musikalischen Stükken“ drucken. Im Mit22 23

ROLLENHAGEN, 1576, Beschreibung der Chöre Bl. A6v-A7v. NEUMARK, 1662, Bl. a4v. 35

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Abbildung 3: Georg Neumark, Keuscher Liebesspiegel, Thorn 1649, III,3

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telpunkt steht das Schicksal Kalistes. Das liebende Herz der Dame offenbart sich, als sie um ihren Mann, der in den Krieg zieht, klagt. Sie hat allen Grund zur Trauer, denn sie wird ihn nicht wieder sehen. Nun bittet sie ihre Freundin und „adelige Kammerjungfrau“ Klarinde, ein Lied zu singen, das sie selbst „gestern Abend auf den Abschied meines hertzliebsten Eh=Herrens auff gesetzet“. „Hier fänget Klarinde an zusingen/ mit gebührenden Gebärden/ worzu hinter der Verkleidung mit einer Viola/ Viol=Digamb/ und einer Baß=Geige sanffte gespielet wird. Kaliste geht unter dessen betrübt/ und nach geendigtem Liede weinende weg.“ Die Komposition in f-Moll notiert nur die Singstimme, die durch ihren weichen Ton sehr gut geeignete Viola und den Bass; die Gambe war möglicherweise als harmonische Stütze gemeint. Nur der Continuo hat durchgehend zu spielen, die Singstimme und großteils auch die obligate Viola gehen stockend. Deutlich abgesetzt durch Fermate und Pause ist der Anfangsseufzer „Ach weh!“. Der Klagecharakter kommt auch in den folgenden Zeilen durch Pausen in der Singstimme vor jeder Zeile und Pause vor der Schlusszeile in allen Stimmen ]XP$XVGUXFN5KHWRULVFKH6HXI]HUÀJXUHQVLQGDXFKGLHIDOOHQGHQ$FKWHOLP zweiten Takt und die Vorhalte in den Schlusswendungen. Einzig bei „Kleander meine Sonne/ Mein’ einge Freud’ und Wonne“ hellt sich die Stimmung etwas auf, der Tonsatz schließt aber ganz in Trauer gekehrt mit einem resignierenden Seufzer. Neumark hat den Text musikalisch treffend ausgelegt. Dass dies nur in der Anfangsstrophe so gut glücken konnte, ist bei einem fünfstrophigen Lied hinzunehmen. In Schauspielen gibt es immer wieder delegierte Gefühlsäußerungen. Zum einen entsprach dies der Praxis der Zeit, in der Briefe und Gedichte im Namen eines Anderen Usus waren; insbesondere hochgestellte Personen ließen sich vertreten. Ferner müssen wir bedenken, dass nicht die besten Sänger, sondern die gesellschaftlich bevorzugten Schüler oder Bürger die Hauptrollen erhielten. *HVDQJVDXIWULWWH ÀQGHQ ZLU GDKHU KlXÀJ LQ GHQ PLW JXWHQ 6lQJHUQ EHVHW]WHQ Nebenrollen. Auch dieser Umstand rührt von den Spielverhältnissen in Deutschland her; in Ländern mit professionellen Schauspielern sind die Bedingungen ganz anders. In Neumarks Liebesspiegel erfährt das Publikum erst durch das Klagelied von der Seelennot Kalistes. Auftrittslieder stellen uns Figuren erstmals vor und fangen ihren Charakter ein. Gesang eignet sich insgesamt besser als das gesprochene Wort zu konzentrierter Gefühlsaussage. Lässt sich schon in diesen Fällen Musik kaum ersetzen und trägt sie wesentlich zur Informationsvergabe bei, so trifft das noch mehr zu, wenn Musik das akustisch verdeutlicht, was auf der Bühne nicht gezeigt werden kann oder soll: Das Posthorn verrät der Betrogenen die Abreise ihres Geliebten. Trompetensignale zeigen eine Hinrichtung an. Hör37

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nerklänge ersetzen die Darstellung einer Jagd. Auf- und abschwellende Töne suggerieren Nähe oder Ferne einer Aktion, die außerhalb des BühnengescheKHQVVWDWWÀQGHW,QVEHVRQGHUHPLOLWlULVFKH$XIPlUVFKHEHUHLWHQHLQHU,QV]HQLHrung Schwierigkeiten. Eine Battagliakomposition steht daher für eine wirkliche Schlacht. Eine ähnliche Lösung bringt das Festspiel Aktinoporthmus, mit dem die Stralsunder den Jahrestag der Befreiung ihrer Stadt von Wallenstein feierten. Statt Soldaten abmarschieren zu lassen, wird ein Lied gesungen, das den =XVFKDXHUQP|JOLFKHUZHLVHJHOlXÀJZDUÅ(VZLUGYRQZHLWHPGHU6FKDOOYLHOHU Trummeln/ Trompeten und Pfeiffen/ nach Art eines starken Marches/ gehöret: […] Inwendig wird gesungen: Prusille/ weine nicht“.24 Die Liedforschung kennt die Variante „Dorindgen weine nicht“, jedoch nur als Liedtext25 oder als Thonangabe.26 Eine Melodie fehlt. Der Notenanhang zu Aktinoporthmus weist die Komposition, wie etliche andere, dem Stralsunder Nikolai-Organisten Gottfried

Abbildung 4: Jakob Wolf, Feuer= Und Schwerdt=Bühne/ Der Durchleuchtigsten Pomeris Ältesten Tochter Aktinoporthmus. Stralsund 1692, Akt II, S. 206 24 25

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WOLF, 1692, S. 206. Vgl. BLÜMML, 1910, Tl. II: „Die Liederhandschrift dreier unbekannter Leipziger Studenten“, Nr. 14, S. 77-79. Der dortige Text, ein Türkenkriegslied von 10 Strophen, stimmt nur in der 1. Strophe mit „Prusille weine nicht“ überein. Ausführlicher und vollkommener Bericht, 1703; von DITFURTH, 1965, S. 234, Nr. 88.

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Rehberg (1662-1703) zu. Ob dem Tonsatz die Melodie des historischen Volkslieds zugrunde liegt, ist vollkommen unsicher. Die Verwendung von volkstümlichen Liedern in Schauspielen ist keine Seltenheit; mitunter bekannten sich die Dichter ausdrücklich zu ihrem Interesse an Brauchtum. Hier freilich hat das Lied eine bühnenpraktische Funktion: Es ersetzt das Soldatenheer. Dem Text entspricht eine teils fanfarenmäßige Melodik und die entschlossene Tonart C-Dur. Die beiden Diskantstimmen sind überwiegend in Terzen parallel geführt, was den volkstümlich schlichten Eindruck unterstreicht. Nur die dritte Zeile bringt eine kleine Imitation. Für die Liederkunde ergeben sich aus der Erforschung der deutschsprachigen Schauspielmusik ganz neue Aspekte und Aufschlüsse: Erstbelege verschieben sich, Beliebtheitsskalen lassen sich aufstellen, geographische Verbreitung und Melodiewanderungen können nachgezeichnet werden. Musik indiziert den Einbruch des Überweltlichen. Götter und Allegorien singen, Offenbarungen ereignen sich in Tönen, Engelschöre gehören zum Himmel, Teufel tanzen auf gräuliche Misstöne. Zauberei und schaurige Situationen werden durch musikalische Untermalung noch schauerlicher. In dem allegorischen Spiel Prinz Tugendhold des Königsberger Dichters Michael Kongehl durchlebt der Protagonist die Höhen und Tiefen einer Entwicklung vom Jugendlichen zum Erwachsenen. Auf dem moralischen Tiefpunkt angekommen, verfällt Tugendhold in Schlaf. „Die Hölle eröffnet sich/ in welcher das Chor der Verdammten hören lässet folgendes Warnungs=Lied. Hör Sterblicher/ der du noch lebst auf Erden“.27 Das fünfstrophige Lied warnt vor Lastern und vor trügerischem Vertrauen in irdische Güter. Die Verdammten singen in tiefer Lage; die beiden Bratschen im Ritornell und die düstere Tonart c-Moll unterstreichen die gespenstische Stimmung. Der homophone Satz mit syllabischer Text-Ton-Verteilung ist trotz seiner Schlichtheit deklamatorisch eindringlich, etwa durch die ausdrucksvolle Punktierung bei „Ach! bessre dich“ und bei „Ach! schau und scheu“. Wirkungsvoll ist die Gliederung durch Pausen. Der absteigende Mollakkord mit Nachschlag im Continuo zu Beginn entspricht dem rhetorischen Gestus der Katabasis. Prinz Tugendhold, der im Anschluss an den Gesang von Megära als seinem bösen Gewissen ausgepeitscht wird, kann nach einer solchen Warnung direkt aus der Hölle nichts anderes tun als sich zu bekehren.

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KONGEHL, 1691, III,5. 39

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Schauspielmusik im deutschen Sprachraum (1500 bis 1700)

Abb. 5: Michael Kongehl, Der Verkehrte und Wiederbekehrte Prinz Tugendhold, Königsberg 1691, III,5

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Das festliche Theater am Hof schließt seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit einer Licenza. Diese Feier des Herrschers kann zu einer selbstständigen Handlung mit eigenem Personal und Bühnenbild ausgebaut sein und ist ganz gesungen. Quasi eine Opernszene stellt das ausgedehnte Herrscherlob am Ende von Die Vermeinthe Brueder und Schwester Lieb dar, einem Schauspiel der adeligen Hofdamen der Kaiserin mit Musik von Kaiser Leopold I. Die Göttinnen Juno, Venus und Diana treten auf, um dem Herrscher zum Namenstag zu gratulieren. Der Licenzatext ist geschickt an die Handlung des Hauptspiels angeknüpft, verlässt diese Anbindung aber sehr schnell, geht eigene Wege und bereitet gegen Schluss das Ballett vor, das die ganze Aufführung beenden soll. Diesen Teil zeigt das Notenbeispiel. Die Singstimmen des Duetts laufen in Eintracht parallel, der Bass bietet nicht mehr als eine harmonische Stütze. Doch dann kommt Bewegung in den Tonsatz: Der Takt wechselt vom gemütlichen 3/2 ]XPHUK|KWH'\QDPLNLQVLVWLHUHQGH:LHGHUKROXQJXQG$PSOLÀFDWLREHZLUken eine eindringliche Steigerung zum Schluss hin. Zum Terzett erweitert und von G-Dur nach C-Dur gewandt, erheben sich die Töne tatsächlich ätherisch bis in die Wolken. Es ist bemerkenswert, dass längst nicht der ganze Text der Licenza im Libretto steht. Diesem zufolge hätten sich die Göttinnen schon viel früher in den Himmel zurückgezogen, das Ballett hätte begonnen. Offensichtlich ergänzte der kaiserliche Komponist den Text um ein gutes Stück, um seine musikalische Idee zu Ende führen zu können. Die Beispiele zeigen, dass sich Schauspielmusik in den deutschsprachigen Ländern der Frühen Neuzeit nicht zu verstecken braucht. Für die Forschung ist nun ein Anfang gemacht. Hoffentlich öffnet er die Türen für mehr wissenschaftliches Interesse und auch für musikalische Wiederbelebung.

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Abb. 6: Kaiser Leopold I./Schlegel, Die Vermeinthe Brueder und Schwester Lieb. Vorgestelt in Einem Freüden Spüll. [1680], Ende der Licenza

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Literatur [ANONYMUS] Ausführlicher und vollkommener Bericht [...]. Wird ferner […] der

geneigte Leser in nachfolgenden Lied zu vernehmen haben, Nach der Melodei: Dorindgen weine nicht, weil nun der Aufbruch in das Feld geschicht, Köln 1703. [ANONYMUS@'HUYLHVLHUOLFKH([RUFLVW5DSSHUVZHLO>ÀQJLHUW@ ALTENBURG, DETLEF/JENSEN, LORENZ, Art. Schauspielmusik, in: Die Musik in GeVFKLFKWHXQG*HJHQZDUW]ZHLWH$XÁDJHKJY/XGZLJ)LQVFKHU6DFKWHLO%G Kassel u.a. 1998, Sp. 1035-1049. BÄUMKER, WILHELM, Das katholische deutsche Kirchenlied in seinen Singweisen, 4 Bde., Freiburg i. Br. 1883-1911. BIRCK, SIXT, Ein herliche Tragedi wider die Abgötterey, Basel 1535. BLÜMML, EMIL KARL, Zwei Leipziger Liederhandschriften des 17. Jahrhunderts als Beitrag zur Kenntnis des deutschen Volks- und Studentenliedes (Teutonia 10), Leipzig 1910. BRAUN, WERNER, Britannia abundans. Deutsch-englische Musikbeziehungen zur Shakespearezeit, Tutzing 1977. DITFURTH, FRANZ WILHELM FREIHERR VON, Die historischen Volkslieder vom Ende des dreißigjährigen Krieges, 1648, bis zum Beginn des siebenjährigen Krieges, 1756. Heilbronn 1877, Hildesheim 1965. EILERT, HEIDE, Intermezzo, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von HARALD FRICKE, Bd. II, Berlin, New York 2000, S. 165-168. HANNS WAGNER alias „IOANNES CARPENTARIUS“, Sämtliche Werke, hg. von ROLF MAX KULLY. Bd. I, Bern 1982. HÖRNLEIN, MICHAEL, Die steigende und fallende Athenais Oder Eudoxia, Rudolstadt 1680. KINDERMANN, HEINZ, Theatergeschichte Europas, Bd. II: Das Theater der RenaissanFH%G,,,'DV7KHDWHUGHU%DURFN]HLWYHUEXHUJ$XÁ6DO]EXUJ KINKELDEY, OTTO, Philipp Heinrich Erlebach nebst einigen Notizen zur Rudolstädter Hofmusik. Einleitung zu Erlebach, Philipp Heinrich, Harmonische Freude musikalischer Freunde, I. und II. Teil, hg. von OTTO KINKELDEY1HXDXÁKJXQG kritisch rev. von HANS JOACHIM MOSER (DDT I/46/47), Wiesbaden 1959. KONGEHL, MICHAEL, Der Verkehrte und Wiederbekehrte Prinz Tugendhold, Königsberg 1691. LEOPOLD I./SCHLEGEL (Vorname unbekannt), Die Vermeinthe Brueder und Schwester Lieb. Vorgestelt in Einem Freüden Spüll, [1680] (Text und Partitur handschriftlich). LYTTICH, GEORG, Miles christianus, Altdorf 1586. 46

Schauspielmusik im deutschen Sprachraum (1500 bis 1700)

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Barocke Wandertruppen – Opern- und Schauspielmusik. Zwei Beispiele * RASHID-S. PEGAH

Vorbemerkung Dieser Beitrag ist – dem Mainzer Workshop gemäß, zu dem das zugrundeliegende Referat entstand – als eine Bestandsaufnahme aufzufassen, die zu weiterführenden Forschungen anregt. Um künftigen Veröffentlichungen zu den hier behandelten Forschungsgegenständen möglichst wenig vorweg zu nehmen, sind die Ausführungen auch überwiegend skizzenhaft gehalten.

Einleitung Mit dem Beginn des Barock treten in Europa, insbesondere im deutschsprachigen, im skandinavischen, im französischen Raum vermehrt wandernde 6FKDXVSLHOWUXSSHQ LQ (UVFKHLQXQJ ,Q GHUHQ 5HSHUWRLUH VSLHOW KlXÀJ DXFK GLH

*

Frau Dr. Jutta Wagner und Herr Dietrich Wagner (Berlin), Frau Sabine Müller und Herr Karsten Weiss (Berlin) ermöglichten dankenswerterweise meine Forschungen im Geheimen Staatsarchiv SPK Berlin und in der Staatsbibliothek zu Berlin SPK; Familie Johanson ermöglichte mit außerordentlicher Großzügigkeit meine Forschungen in Stockholm, wofür ich vielmals danke. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der in den Anmerkungen genannten Institutionen, der Staatsbibliothek zu Berlin SPK sowie der Zentralbibliothek und der Teilbibliothek Musik (insbesondere Frau Gudrun Hörner) der Julius-Maximilians-Universität Würzburg danke ich für die freundliche Unterstützung meiner Forschungen. 49

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Musik eine größere Rolle. Während des letzten Drittels des 17. Jahrhunderts wird in den Städten und an den Höfen Mittel- und Nordeuropas die Gattung des comédie-ballet immer bekannter. Geschaffen hatte diese Gattung Jean Baptiste Pocquelin genannt Molière, Klassiker der französischen Komödie. Erstmals bot dessen dreiaktiges Stück Les Fascheux (Die Lästigen) im Jahre 1661 Ballett-Entrées als Zwischenakte, die enger an die Haupthandlung anknüpften. Molières Zusammenarbeit mit Jean Baptiste Lully, Oberintendant für die Musik am französischen Königshof, brachte zudem die Einfügung von Gesangsstücken mit sich und wies letztlich – mit dem tragédie-ballet Psiché (EA: Paris, 17. Januar 1671) – konsequent auf die tragédie lyrique voraus. Vor allem wandernde französische Komödianten und Operisten machten sowohl Molières Komödien und comédie-ballets als auch die tragédies en musique und opéra-ballets von Lully, Campra und anderen Komponisten in anderen Ländern bekannt. Dies soll beispielhaft anhand einer zwischen 1699 und 1707/08 in Stockholm sowie im nördlichen deutschsprachigen Raum aktiven Wandertruppe skizziert werden. Offenbar fügten die Mitglieder dieser Truppe sogar einzelne Stücke aus Lullys Opern in ihre gesprochenen Dramendarbietungen ein. Das Nebeneinander von gesprochenem Schauspiel und gesungenen intermezzi illustriert ein zweites Beispiel: eine italienische Komödie, die ursprünglich zum Repertoire einer commedia dell’arte-Truppe gehört haben dürfte.

I. Die schwedischen Hofkomödianten (1699-1707) Im Jahre 1699 trat eine Truppe französischer Komödianten in die Dienste Königs Carl XII. von Schweden (1682-1718; reg. seit 1697). Die Initiative zu diesem Engagement ging auf den königlich-schwedischen Hofarchitekten Nicodemus Tessin d. J. (1654-1728) zurück. Als Leiter der Truppe fungierte Claude-Ferdinand Guillemay du Chesnay gen. Rosidor (ca. 1660-nach 1718). Rosidor ist seit 1686 als Mitglied verschiedener französischer Schauspieltruppen sowie als Autor zweier Komödien nachgewiesen.1 Bevor er selbst Leiter einer Operistenund Komödiantentruppe in Metz wurde, gehörte Rosidor für ein Jahrfünft zum Ensemble der Comédie-Française, wo er bestenfalls mäßigen Eindruck machte. Größer war der Erfolg indessen in Metz, wo die Darbietungen regen Zuspruch erhielten. Ausdrücklich für den schwedischen Hof engagierte Rosidor in Metz bzw. von Metz aus Tanzmeister, Sängerinnen und Sänger sowie Tänzerinnen 1

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Zum Voranstehenden und zu Rosidor siehe ROSIDOR /DJELASSI, 1988, Bd. II, S. 5-7 und 14-26.

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und Tänzer und Instrumentalisten.2 Der noch in Metz mit dem schwedischen Hof geschlossene Vertrag sah vor, dass Rosidor und dessen Truppe in Stockholm wöchentlich viermal in der Stadt und zweimal bei Hofe auftraten. Dieser Passus des Vertrages ist vor dem Hintergrund der Erforschung des Kulturtransfers – ausgehend von Frankreich ins übrige Europa – von Bedeutung. Denn die Auftritte vor dem breiter gefächerten städtischen Publikum erlaubten diesem die Teilhabe an einer eher elitären Kultur, für die das klassische französische Drama stand. Freilich setzte die Teilhabe die Überwindung der sprachlichen Barriere YRUDXV$XIHLQHJHJHQVHLWLJHVSUDFKOLFKH%HHLQÁXVVXQJYHUZHLVWHLQHGHU)Lguren in einer Komödie, die Claude-Ferdinand Guillemay du Chesnay gen. Rosidor in Stockholm verfasste, und die Mohamed Samy Djelassi vor anderthalb Jahrzehnten veröffentlichte.3 Der Titel dieses fünfaktigen Lustspiels lautet Les Valets de Chambre nouvellistes (Die Kammerdiener als Zeitungsschreiber). Die Rolle eines „kleinen Kammermädchens“ namens Annica sollte hauptsächlich in schwedischer Sprache gesprochen werden, punktuell wies Rosidor dieser Figur auch knappe französischsprachige Wendungen zu. Weshalb diese Komödie allerdings Aufmerksamkeit bei der Erforschung von Schauspielmusik verdient, verdeutlichen die Bezeichnung und ein Blick auf die Akte III, IV und V. Rosidor bezeichnete Les Valets de Chambre nouvellistes als „Comedie de Cinq Actes mêlé de Musique et de danse, composée pour le divertissement de la Cour“. Damit griff er – bewusst? – eine bereits von Molière für Le malade imaginaire (Der eingebildete Kranke) gebrauchte Bezeichnung auf: „Komödie in fünf Akten, gemischt mit Musik und mit Tanz, verfasst zur Unterhaltung des Hofes“.4 In III/5 treten vier Moskowiter oder Russen auf, die zur Unterhaltung einer Gesellschaft eine Courante und zwei (oder drei) Menuets tanzen.5 In der den Akt beschlie‰HQGHQ6]HQH,9ÀQGHWHLQ.RQ]HUWVWDWWGDUJHERWHQYRQ]ZHL6lQJHULQQHQ und einem Sänger.6 Der Sänger – sinnigerweise Monsieur La Mélodie genannt – kündigt an: „Ich habe zwei oder drei gute Stücke aus den Opern von Monsieur 2 3

4 5 6

LA GORCE, 2007, hier S. 222-224. Les Valets de Chambre | nouvellistes, Comedie de Cinq | Actes mêlé de Musique et | de danse, composée pour le | divertissement de la Cour, par | le S[ieu]r: de Rosidor Comedien | de Sa Majesté. (Kungliga biblioteket – Sveriges nationalbibliotek Stockholm, Handskriftsavdelningen, Cod. Holm. Vu 55); ROSIDOR /DJELASSI, 1988, besonders Bd. I. Texte. (Hervorhebung RSP). Im Unterschied zu Rosidors fünfaktiger Komödie gliedert Molière Le malade imaginaire in einen Prolog und drei Akte. ROSIDOR /DJELASSI, 1988, Bd. I. Texte, S. 60-61. Siehe zum Folgenden ebd., S. 85-87. DE

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Lully und einigen anderen ausgewählten Autoren genommen, mit Instrumentalbegleitung.“ Nach dem ausgiebig dargebrachten Lob der Zuhörer folgt noch eine gesungene „seconde scène“. Anschließend kündigt Monsieur La Mélodie, der Sänger, an: „Gegenwärtig werden Sie einige italienische Arien hören, und damit werden wir enden.“ Später folgt auf den V. Akt ein Divertissement der bereits genannten Moscowiter oder Russen, in welchem die sechs Tänzer und Tänzerinnen erst eine „entré de balet“ tanzen, nach der eine Sängerin und ein Sänger in einem gesungenen Dialog („Avançons[,] prenons part à la feste nouvelle“) das Lob des ruhm- und siegreichen Helden, König Carls XII. von Schweden, verkünden. Als Abschluss dienen „des Danses“.7 Rosidor benutzt also einen äußeren, historischen Anlass (militärischer Sieg), um sein Schauspiel um Musik und Tanz zu ergänzen. Innerhalb seines Schauspiels erschafft er einen Anlass für eine musikalische Darbietung, indem er die Dramaturgie auf ein Privatkonzert lenkt. Folglich sind die eingefügten Musiken kein selbstverständlicher Bestandteil innerhalb des gesprochenen Dramas. Auch darin folgt Rosidor seinem Vorbild Molière, der in Le bourgeois gentilhomme (EA: 1670) und in Le malade imaginaire (EA: 1673) zu ebensolchen dramaturgischen Mitteln greift, um innerhalb der gesprochenen Szenen musikalische Darbietungen zu ermöglichen. Für das Konzert des Monsieur La Mélodie am Ende von IV fehlen im Manuskript genauere Angaben zu den gesungenen Stücken aus Opern von Lully und Anderen. Eine Abrechnung eines schwedischen Musikers, die Jérôme de La Gorce vor einem Jahrfünft in der Festschrift für Herbert Schneider veröffentlichte,8 könnte mit der Aufführung von Les Valets de Chambre nouvellistes in Zusammenhang stehen. Aufgelistet sind Stücke, die der Musiker auf Geheiß des Hofkapellmeisters für die französischen Komödianten kopierte. Neben unspe]LÀ]LHUWHQ$XV]JHQVRZLHHLQ]HOQHQ6]HQHQDXV/XOO\V2SHUQThésée LWV 51 (EA: 1675), Phaëton LWV 61 (EA: 1683), Amadis LWV 63 (EA: 1684), Roland LWV 65 (EA: 1685), Armide LWV 71 (EA: 1686) wird eine Szene aus Amadis de Grèce (EA: 1699) von André Cardinal Destouches (1672-1749) genannt. Diese Abrechnung ist ein wichtiges Zeugnis für den schon erwähnten Kulturtransfer und für das musikalische Repertoire einer französischen Komödiantentruppe in 7 8

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Ebd., S. 107-110, speziell S. 109-110. Carl Hintz, Musicus: 6SHFLÀFDWLRQ öfwer alla Opera, som Jagh efter | Kongl[iga]: Maÿ[estä]t. Capell Mestarens begiärande hafwer skrifwit | för Kong[liga]: Maÿ[estä] t : Comoedianter, Stockholm d[en] 17 Febr: Anno 1702 (Riksarkivet Stockholm, Ericsbergsarkivet, Nikodemus Tessin d y: samling, Vol. 2, nr 7 [nicht foliiert]); DE LA GORCE, 2007, S. 226; siehe auch Djelassis Auswertung bei ROSIDOR /DJELASSI, 1988, Bd. II. Introduction et notes, S. 152-159.

Barocke Wandertruppen – Opern- und Schauspielmusik. Zwei Beispiele

Nordeuropa. Sie verweist auf die Mitwirkung der schwedischen Hofmusiker bei den Aufführungen dieser Truppe, und sie belegt beispielhaft, anhand welchen Repertoires sich Musiker im übrigen Europa mit dem französischen Stil auseinandersetzen konnten. Doch welche italienischen Arien standen dem Interpreten des Monsieur La Mélodie und den beiden Sängerinnen zur Verfügung? ,QGHU.|QLJOLFKHQ%LEOLRWKHNLQ6WRFNKROPEHÀQGHWVLFKHLQ&ODYLHUEXFKGDV neben Instrumentalstücken – darunter eine „La Folie d’Hispagn[e].“ – und zwei deutschsprachigen geistlichen Liedern auch drei Airs mit französischem und eine Arie mit italienischem Text enthält: „Vous ne devez plus attendre“, „Dans nos bois Silvandre s’ecrie“, „En vain dans ces beaux lieu [lies: lieux]“.9 Ersteres ist ein Terzett mit Chor aus Lullys bereits erwähnter tragédie en musique „Amadis“ (II/7), das – gemessen an der Anzahl erhaltener Abschriften und Bearbeitungen – ausgesprochen beliebt gewesen ist. „Dans nos bois Silvandre s’ecrie“ könnte auf eine Melodie von Jean Baptiste Lully zurückgehen und wurde von Jean Henry d’Anglebert (1629-1691), Kammercembalist des „Sonnenkönigs“, in einer Bearbeitung für Cembalo popularisiert. Die dritte französische Air bietet einen wesentlichen Anhaltspunkt für die Datierung und Kontextualisierung des Clavierbuchs: Sie ist einem Ballet (Ballet bemängd med Sång / Narvabaletten) entnommen, das am 6. Februar 1701 von der französischen Komödiantentruppe im Stockholmer Königsschloss aufgeführt wurde. Komponiert hatte die Musik Anders (von) Düben d. J. (1673-1738), königlicher Hofkapellmeister oder Musikmeister, später Kammerherr und Hofmarschall. Anlass für die Aufführung bot der Sieg der schwedischen Armee, angeführt von König Carl XII., vor der Festungsstadt Narva (heute zur Republik Estland gehörig) gegen das russische Heer, am 30. November 1700. Auf die Ouverture zum Ballet, das zwei Monate später zur Feier des Sieges in Stockholm zu sehen war, folgt eine „Plainte de &DUQDYDO´HLQH.ODJHGHU3HUVRQLÀNDWLRQGHV.DUQHYDOV10 Sie ist identisch mit jener dritten französischen Air in dem Stockholmer Clavierbuch. Auch für die Komödie Les Valets de Chambre nouvellistes von Rosidor bot der schwedische Sieg bei Narva den Entstehungsanlass, wie darauf Bezug nehmende Anspielun-

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Kungliga biblioteket – Sveriges nationalbibliotek Stockholm, Handskriftsavdelningen, Cod. Holm. S. 175 (La Folie d’Hispagn[e]. pag. 36-37 (Tabulatur), Vous ne devez plus attendre pag. 8-9 (Tabulatur) und pag. 10-11 (S, bc.), Dans nos bois Silvandre s’ecrie pag. 12-13 (S, bc.) und pag. 40-41 (Tabulatur), Carneval: En vain dans ces beaux lieu[x] pag. 48-51 (S, bc.). DE LA GORCE, 2004 [2006], speziell S. 118. 53

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gen in den Dialogen eindeutig zeigen.11 Ebenso verweist die im Clavierbuch aufgezeichnete Marche pour Les Svedois. d’Andr[ées]: Düben auf die Schlacht bei Narva,12 denn sie wurde alsbald unter dem Namen „Narvamarschen“ mit jenem schwedischen Sieg in Verbindung gebracht. Zusammen mit den genannten IUDQ]|VLVFKVSUDFKLJHQ$LUVXQGGHQGHXWVFKHQJHLVWOLFKHQ/LHGHUQEHÀQGHWVLFK in dem Clavierbuch noch die Gesangsstimme einer italienischen Aria: „Fuor de Le Ceneri“.13 Diese Aria ist einer Version des drama „,WULRQÀGHOIDWR“ (EA: Hannover, Karneval 1695) von Agostino Steffani (1654-1728), damals Hofkapellmeister und Diplomat in hannoverschen Diensten, entnommen. Es war die erste Strophe einer zweiteiligen Arie der Darstellerin der Liebesgöttin Venere (II/8).14 Zählten jene Aria oder andere beliebte Gesangsnummern aus Steffanis Opern zu den „quelques Airs italiens“, welche die beiden Sängerinnen und Monsieur La Mélodie ihren Zuhörern auf der Bühne und im Saal darboten? Weitere Forschungen zu den erhaltenen Musikalien des schwedischen Königshofes dürften zu einer Beantwortung dieser Frage beitragen. Dass ergänzende Untersuchungen überraschende Erkenntnisgewinne zur Rezeption französischer Opern im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation vermitteln können, zeigen Aufzeichnungen, die ein Theaterbesucher machte, als im September 1707 „des Königs in Schweden Truppe“ am herzoglichen Hof in Wolfenbüttel und Saltzthal gastierte.15 Laut diesen Notizen boten die französischen Komödianten neben gesprochenen Komödien Akte aus Phaëton von Jean Baptiste Lully und aus L’Europe galante (EA: 1697), jenem opéra-ballet von André Campra dar. Etwa zehn Monate zuvor hatte König Friederich I. in Preußen (1657-1713; reg. seit 1701) einen Vertrag mit einem Komödianten namens George Durocher (auch: du Rocher; nachweisbar 1706-1726) abgeschlossen. Durocher sollte in Brüssel und Tournay eine Komödiantentruppe für den Berliner Hof zusammenstellen und diese in der brandenburg-preußischen Residenz leiten. Neben einem jährlichen Salär erhielt er ehrenhalber den Titel eines Intendant des plaisirs de

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Zum historischen Hintergrund vgl. ROSIDOR /DJELASSI, 1988, Bd. II. Introduction et notes, S. 31-33. Wie Anm. 9, pag. 24-25 (Tabulatur). Ebenda, pag. 33. [Bartolomeo Hortensio Mauro] I TRIONFI | DEL FATO | Drama | Per il | THEATRO EL[ettorale]: | D’Hannover. | – | M DC XCV, S. 41. PEGAH 1998, hier S. 184, 186-187.

Barocke Wandertruppen – Opern- und Schauspielmusik. Zwei Beispiele

Sa Majesté.16 Ausdrücklich sollten der Truppe vier Tänzer, jeweils eine Tänzerin, eine Sängerin und ein Tanzmeister sowie drei Instrumentalisten angehören.17 Die ersten Aufführungen wünschte der König möglicherweise bereits zur Hochzeitsfeier seines Sohnes des Kronprinzen. Jedoch scheint die erste Aufführung erst am 18. Januar 1707 stattgefunden zu haben, anlässlich des sechsten Jahrestages von Friederichs I. Königskrönung. Anlässlich des ersten Geburtstages, den die Braut des Kronprinzen als preußische Kronprinzessin erlebte (27. März 1707), führten die französischen Hofkomödianten einen gesungenen und getanzten Prolog sowie eine Komödie auf. Verfasser des Prologs war François de la Traverse de Sevigny, der sich im Jahr zuvor entschlossen hatte, aus den Diensten Carls XII. auszutreten und sich der neuzusammengestellten Truppe für den Berliner Königshof unter der Leitung von Durocher anzuschließen. Sevigny notierte in einer Vorbemerkung zu seinem Text, der Prolog sei bereits für eine Darbietung während der Feierlichkeiten bei der Heimführung der neuen Kronprinzessin vorgesehen gewesen. Indessen holten die Komödianten diese Darbietung nunmehr nach. Mit einem Ballett mit Gesang wollte sich die Truppe an den Festlichkeiten zur Heimführung der dritten Ehefrau des preußischen Königs, im November 1708, beteiligen. Ebenso anlassgebunden war der aus Gesang und Tanz bestehende Prolog, den Mitglieder der königlichen Hofkapelle und der Komödiantentruppe gemeinsam in Potsdam während des sogenannten „Dreikönigstreffens“, im Juli 1709, aufführten.18 Sowohl der Prolog für den Geburtstag der Kronprinzessin als auch der Potsdamer Prolog bildeten zusammen mit den anschließenden Komödien eine Verbindung von Musik und 16

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Geheimes Staatsarchiv SPK Berlin, I. Hauptabteilung Geheimer Rat, Rep. 9 Allgemeine Verwaltung, Nr. LL 7c Fasz. 3, fol. 4r-6v (Donné à Cologne sur la Sprée ce 2me Novemb[re]. 1706.); Geheimes Staatsarchiv SPK Berlin, VIII. Hauptabteilung Siegel, Wappen, Genealogie, Sammlungen, Slg. Anton Balthasar König, Nr. 295, fol. 109r-113r (Abschrift). Der vollständige Vertragstext ist abgedruckt bei OLIVIER, 1902, S. 8-10. [George] Durocher, Copie du memoire que Sa Majesté m’ordonn[Textverlust: a(?)] de luy presenter L’Esté dernier pour l[’]entretien de Sa troupe de Commedien françois que j’ay rassemblée par ordre du Roy. [undatiert (vermutlich Oktober/November 1706); nur Unterschrift eigenhändig] (ebenda, fol. 9r-9v, hier fol. 9r). OLIVIER, 1902, S. 187-212 (Ballett 1708), 213-222 (Prolog 1709). Angesichts des aktuellen Kenntnisstandes der einschlägigen Quellen zu den Berliner Festlichkeiten im November 1708, anlässlich der dritten Hochzeit Friederichs I., ist es fraglich, ob eine Aufführung des Balletts der französischen Komödianten tatsächlich realisiert wurde. 55

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Schauspiel – bei der allerdings die Zuordnung zur Gattung „Schauspielmusik“ weiterer Überlegungen und Studien bedarf. Denn diese musikalischen Vorspiele waren der jeweiligen Komödienaufführung vorangestellt, allerdings nicht in die gesprochenen Stücke integriert. Doch deutet eine Mitteilung der preußischen Kronprinzessin darauf hin, dass Musiker der Hofkapelle bei den Aufführungen der französischen Komödiantentruppe in Berlin für gewöhnlich Zwischenaktmusiken spielten.19 Wie diese hier knapp dargestellten, bislang bekannten Informationen zeigen, sind von ergänzenden Forschungen der übrigen Stationen von Rosidor und Mitgliedern seiner Truppe vergleichbare Erkenntnisse zur Verwendung von Musik bei den Wandertruppen zu erwarten.

II. Sebastiano di Scio und Li quattro Arlichinj (Mannheim 1726) oder Eine Opernarie von Antonio Vivaldi als Schauspielmusik? Ein weiteres Beispiel für die Verbindung von Schauspiel mit Opernmusik führt ins dritte Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, in die kurpfälzische Residenzstadt Mannheim. Zuvor ist allerdings die Betrachtung der Darbietungen eines namhaften italienischen Komödianten- und Operistenprinzipals notwendig. Denn das gesprochene Schauspiel ist offensichtlich seinem Repertoire zuzuordnen, und ein Nachkomme von ihm dürfte für die Mannheimer Produktion zuständig gewesen sein. Angeblich stammte Sebastiano di Scio aus Venedig.20 Er könnte zu einer Gruppe italienischer Seiltänzer gehört haben, die 1679 in Hamburg und Kopenhagen auftraten.21 Seine früheste namentliche Nennung datiert aus Hamburg, Mitte April 1687.22 Nach Gastspielen in den königlichen Residenzen Stockholm und Kopenhagen (1688) konzentrierte di Scio seine Aktivitäten vorwiegend auf 19

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Kronprinzessin Sophie Dorothée in Preußen, geb. Prinzessin zu Braunschweig-Lüneburg-Hannover, an ihren Ehemann Kronprinz Friederich Wilhelm (I.) in Preußen, Charllottembourg Le 3 Septembre 1709 (Geheimes Staatsarchiv SPK Berlin, BPH Brandenburg-Preußisches Hausarchiv, Rep. 46 König Friedrich Wilhelm I., T Nr. 25, Vol. 2, Fasz. I, fol. 69r). FROLOWITZ, 2002, S. 100. Ebd., S. 102. Ebd., S. 101 und 125. Zum Folgenden siehe überblicksartig ebd., S. 125-127 („Chronologie der Auftritte, Konzessionserteilungen, familiären Daten etc.“).

Barocke Wandertruppen – Opern- und Schauspielmusik. Zwei Beispiele

den nord- und mitteldeutschen Raum – mit Abstechern nach Böhmen. Seine einzige nachweisbare Festanstellung dauerte von Anfang August 1690 bis Ende September 1699. Herzog Georg Wilhelm zu Braunschweig-Lüneburg (Celle) (1624-1705; reg. seit 1648/65) unterhielt während des letzten Jahrzehnts des 17. Jahrhunderts eine italienische Komödiantentruppe. Die Mitglieder, unter ihnen Sebastiano di Scio, führten vorwiegend commedie dell’arte auf. Einige von ihnen beherrschten das Spiel mit Marionetten und erweiterten somit das Repertoire um Marionettenopern.23 Doch di Scio änderte sein Anstellungsverhältnis bereits nach anderthalb Jahren. Rückwirkend zum Februar 1692 reduzierte Herzog Georg Wilhelm am 24. März die jährliche Besoldung di Scios von 375 Reichsthalern auf 100 Reichsthaler, „da Er seiner dienste auf gewiße maaße Erlaßen“.24 Bei den letzten Zahlungen ist Sebastiano di Scio als „Außwertiger Comoediant“ bezeichnet. Anscheinend war di Scio bereits nach der Änderung seines Anstellungsverhältnisses, aufgrund derer er als ein Diener „von Hause aus“ fungierte, in Dresden aufgetreten.25 Neben Dresden und – vielmehr – Leipzig war von 1690 bis 1706 die kurfürstliche (seit 1701: königliche) Residenzstadt Berlin ein wichtiger Standort für den Prinzipal und seine Truppe. Für deren zweites Gastspiel an der Spree gewährte die auf den 20. April 1693 datierte Konzession: „Comoedie[n] spiele[n,] Ballette tantze[n], auch andere exercitia treibe[n]“.26 Sehr wahrscheinlich ging der Prinzipal mit der Auslegung dieser Konzession etwas großzügiger um. Denn ein vermutlich auf di Scios damals aktuelle Darbietungen Bezug nehmender Brief eines Vertrauten und entfernten Verwandten des Kurfürsten von Brandenburg enthält Angaben zu einer in der Spielerlaubnis ungenannten Gattung.27 Laut diesem Brief führte eine Bande von Marionettenspielern damals Opern auf, zu denen offenbar gedruckte Textbücher 23 24

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WALLBRECHT, 1974, S. 166-173. Celler Kammerrechnung 1691/92, pag. 437 (Niedersächsisches Landesarchiv – Hauptstaatsarchiv Hannover, Hann. 76c A Nr. 217); das Folgende laut Celler Kammerrechnungen 1698/99, pag. 452, und 1699/1700, pag. 448 (ebd., Nr. 223 und 224); WALLBRECHT, 1974, S. 170 [mit vom Original abweichenden Lesarten]. FROLOWITZ, 2002, S. 125. Ebd., S. 125-128 das Folgende. Geheimes Staatsarchiv SPK Berlin-Dahlem, I. Hauptabteilung Geheimer Rat, Rep. 9 Allgemeine Verwaltung, Nr. LL 7c Fasz. 2, fol. 3r-3v [Konzept; eigenhändig gegengezeichnet von Eberhard von Danckelmann]; BRACHVOGEL, 1877, S. 49 [mit vom Original abweichenden Lesarten]. [Fürst Johann Georg II. von Anhalt-Dessau] an seine Tochter Prinzessin Johanna Charlotte (Landesarchiv Baden-Württemberg – Hauptstaatsarchiv Stuttgart, G 237 Bü 99, Faszikel ad. VIII. Lit. H. Schreiben des Fürsten Johann Georg II. von 57

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erhältlich waren. Insbesondere der Policinello der Truppe galt als „wunderbar“. Hatten Mitglieder der Celler Truppe di Scio nach Berlin begleitet? Ein Besucher der herzoglichen Residenzstadt Celle bemerkte, dass die Herzogin, Georg Wilhelms Ehefrau Eleonore Desmier d’Olbreuse (1639-1722; Herzogin seit 1676), die Oper so sehr liebe, dass sie eigens eine italienische Truppe mit jährlichem Sold halte und deren Mitglieder immer dann Opern aufzuführen hätten, wann es der Herzogin beliebe.28 Sollte Herzogin Eleonore ursprünglich ihren Ehemann dazu veranlasst haben, die italienische Truppe zu engagieren? Schränkte der Reisende seine Angaben zum Repertoire der Italiener auf Opern ein, weil auch die dargebotenen Schauspiele einen erheblichen Musikanteil hatten? Mitte März 1695 führten „die Italienische Commedianten in bourlesque“, in Gestalt einer veralbernden Parodie also, eine der hannoverischen Karnevalsopern in Celle auf.29 Als ihm am 23. März 1701 einmal mehr in Berlin die Spielerlaubnis erteilt wurde, bezog sich ein Passus darin vermutlich auf di Scios eigene Darbietungen mit Marionetten.30 Ob darunter auch Opern inbegriffen waren? Dass Sebastiano di Scio tatsächlich Opern in seinem Repertoire hatte, lässt sich erst in dem genannten Jahr nachweisen. Als er am 1. April 1701 aus Berlin einen Brief an Markgraf Georg Friedrich d. J. von Brandenburg-Ansbach (1678-1703; reg. seit 1694) richtete, bot Sebastiano di Scio ihm die Aufführung von „altre mie nuoue Comedie, et Opere fatte“ (meinen anderen neuen Komödien und gemachten

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Anhalt-Dessau […] [nicht foliiert; undatiert (vermutlich Berlin/Cölln an der Spree, April-Juni 1693); ohne Unterschrift]). I[n]: N[omine]: I[esu]: | Rese=Book: eller Diarium | som Jag hölt på Min Resa, då Jag | A[nn]°: 1694: d[en]: 17 Febr[uarii]: begaf Mig | från Stockholm att igienom wan= | dra Främ[m]ande Land. | E[ric]: Lovisin, pag. 134 (Celle, 9. April 1694) (Kungliga biblioteket – Sveriges nationalbibliotek Stockholm, Handskriftsavdelningen, Cod. Holm. M. 252:1). Kurfürstin Sophie zu Braunschweig-Lüneburg-Hannover, geb. Prinzessin von der 3IDO]DQLKUH1LFKWH5DXJUlÀQ/RXLVH]X3IDO]Hanover den 4/14. Mertz 1695 (SOPHIE/BODEMANN, 1888, S. 127 (Nr. 131) [gegenwärtiger Aufbewahrungsort des Originals unbekannt]). FISCHER, 1903, S. 25, verwechselt die Jahreszahl: „Im März 1693 waren Opern, in denen die Italiener ‚in bourlesque agirten‘.“ Geheimes Staatsarchiv SPK Berlin-Dahlem, I. Hauptabteilung Geheimer Rat, Rep. 9 Allgemeine Verwaltung, Nr. LL 7c Fasz. 2, fol. 4r [eigenhändiges Konzept von Heinrich Rüdiger von Ilgen].

Barocke Wandertruppen – Opern- und Schauspielmusik. Zwei Beispiele

Opern) an.31 Noch in der Folgezeit fällt die Nachbarschaft von di Scios Komödien zu Opern auf. Di Scio ist verheiratet mit der Mutter eines Tanzmeisters und Tänzers, der (zusammen mit seiner späteren Ehefrau) zu den bedeutenden Protagonisten der Leipziger, Zeitzer, Naumburger und Bayreuther Opern zählt.32 Bei Gastspielen in Prag arbeitete di Scio offenbar mit Johann Friedrich (Giovanni Federico) Sartorio (1675/79?-nach 1717) zusammen, der sich sowohl in Leipzig als auch in der böhmischen Hauptstadt als Opernimpresario versuchte – mit geringem Erfolg.33 Als Mitte August 1704 Kurfürst Johann Wilhelm von der Pfalz (1657-1716; reg. seit 1690) auf der Durchreise einen mehrtätigen Aufenthalt auf Schloss Neu-Augustusburg zu Weißenfels einlegte, führte der berühmte Hamburger Opernkapellmeister Reinhard Keiser (1674-1739) eine Oper auf – und Sebastiano di Scio eine italienische Komödie. Diese – offenbar singuläre – Weißenfelser commedia dell’arte-Darbietung ist allein dank eines erhaltenen Briefes belegbar.34 Zugleich beweist dieser Brief einen Aufenthalt di Scios in Berlin, im März 1706, sicherlich einmal mehr in Verbindung mit einem Gastspiel in der königlichen preußischen Residenzstadt. Der Brief ist an den erwähnten Kurfürsten Johann Wilhelm von der Pfalz gerichtet. Und vor allem bietet di Scio dem vielseitig interessierten Kurfürsten an, von seinen alchemistischen Erfahrungen ]XSURÀWLHUHQ2EGHU.XUIUVWGDV$QJHERWGHVLWDOLHQLVFKHQ.RP|GLDQWHQDQnahm, muss offen bleiben. Di Scio ließ sich schließlich in Wien nieder, wo er als Compagnon eines Impresarios das Kärtnertor-Theater mitinitiierte.35 Spätestens seit dem dritten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts kamen an dem Haus vermehrt 31

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Sebastiano de’Scio d[ett]o: L’Arlichino, Berlino li p[ri]mo Aprile 1701 (Bayerisches Staatsarchiv Nürnberg, Fürstentum Brandenburg-Ansbach, Geheimregistratur, Bamberger Zugang 1949, Rep. 103 a III, Nr. 111b [nicht foliiert], Prod. 70 [fraglich, ob eigenhändig]). Frolowitz, 2002, S. 114-115, 115, Anm. 83 und S. 128. Romagnoli, 2006, S. 82 und 88; zu Sartorio ergänzend S. 82-87. Sebastiano di Scio d[et]to: Arlichino an Kurfürst Johann Wilhelm von der Pfalz, Berlino li 5 Marzo 1706 (Bayerisches Hauptstaatsarchiv – Abt. Geheimes Staatsarchiv, Kasten blau 57/8, fol. 321r [vermutlich nicht eigenhändig]). Bei Frolowitz, 2002, S. 128 besteht eine Lücke für den Zeitraum zwischen dem 27. Januar und dem 9. Mai 1706. Zum Aufenthalt von Kurfürst Johann Wilhelm von der Pfalz in Weißenfels siehe Koch, 1994, S. 82-95; Pegah, 2004, S. 34-35 (das Zitat in Anm. 7 (S. 34), die daselbst genannte Tätigkeit als Tanzmeister und die Angaben zum nachweisbaren Lebenszeitraum sowie die Schreibweise des Namens sind zu berichtigen); Pegah, 2013 [2012], S. 72-77; Koch, 2013, S. 67 und 73. Frolowitz, 2002, S. 122. 59

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Opern und Schauspiele mit hohem Musikanteil zur Aufführung.36 Sebastiano di Scios Todesdatum bleibt noch zu ermitteln. Vom zweiten bis ins sechste Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts ist wiederum ein Sebastiano Scio (vor 1719-nach 1764?) fassbar.37 Er wird stets als Tänzer oder Tanzmeister in kurpfälzischen Diensten bezeichnet. Hatte sich der genannte Brief, den (der ältere) Sebastiano di Scio 1706 aus Berlin nach Düsseldorf schickte, wo Kurfürst Johann Wilhelm residierte, doch bezahlt gemacht? Zumindest insofern, als seine Nachkommen in kurpfälzische Dienste übernommen wurden? Ab 1714 oder früher war eine Eleonora de Scio († 1746?) Mitglied der Hofkapelle von Johann Wilhelms in Innsbruck residierendem jüngeren Bruder und späteren Nachfolger.38 Nach dem Regierungsantritt von Kurfürst Carl III. Philipp von der Pfalz (1661-1742; reg. seit 1716/17) wurde die Residenz der Kurpfalz schließlich nach Mannheim verlegt.39 Bereits in Innsbruck, wo Carl Philipp als kaiserlicher Statthalter von Tirol residierte, wurden Musik und TheDWHULQWHQVLYJHSÁHJWLQVEHVRQGHUH2SHUXQG2UDWRULXPDEHUDXFKGDV6FKDXspiel.40 Nach seinem Einzug in Mannheim ließ Kurfürst Carl III. Philipp auch hier umfangreiche italienische Kantaten sowie Opern und Oratorien aufführen.41 In Mannheim brachten einige Herren des Hofes während des Karnevals 1726 vor dem Kurfürsten zwei commedie dell’arte zur Aufführung. Beide Stücke sind insofern ungewöhnlich, als ihnen Versatzstücke aus Opern beigegeben wurden. Ein gesungener Prolog und Epilog umrahmten Le pazzie di Pantalone colla 36 37

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HAAS, 1925, S. 9-19. Anders als bei WALTER, 1898, S. 159, und danach FROLOWITZ, 2002, S. 121, Anm. 100 (die Seitenangabe ist entsprechend zu berichtigen), angegeben ist der jüngere Sebastiano Scio bereits seit 1719 nachweisbar; SARTORI, 1990-1994 [1995], I A-B (1-4298) (1990), S. 347 (3271); IV L-Q (14078-19415) (1991), S. 42 (14501); I A-B, S. 257 (2452); III E-K (8619-14077) (1991), S. 114 (9732); V R-Z (19416-25437) – Aggiunte (1992), S. 151 (21257); ebd., S. 179 (21532); III E-K, S. 41 (9019); V R-Z, S. 415 (24130); IV L-Q, S. 134-135 (15483). [Stölzel, Gottfried Heinrich], Stöltzel. † * (ex autogr.), in: [Johann] MATTHESON: Grundlage einer Ehren=Pforte […], Hamburg 1740, S. 342-348, hier S. 345; Denkmal dreyer verstorbenen Mitglieder der Societät der musikalischen Wissenschafften, B., in: Musikalische Bibliothek, oder Gründliche Nachricht […] [hrsg. v. Lorenz Christoph Mizler] IV/1 (1754), S. 143-157, hier S. 149. SCHMIDT, 1963, S. 135. SENN, 1954, S. 312-324. WALTER, 1899, Bd. II: Die Theater=Bibliothek, S. 203-204; BROCKPÄHLER, 1964, S. 263 und 376; P ELKER, 2011, S. 161-162.

Barocke Wandertruppen – Opern- und Schauspielmusik. Zwei Beispiele

costanza di Diana in amore e Arlichino giudice sciocco, ma giusto (Pantalons Thorheiten, Dianae Beständigkeit im Lieben und Arlequin der lächerliche, doch gerechte Richter). Zwei allegorische Figuren fochten in Prolog und Epilog stellvertretend den Kampf zwischen Tugend und Laster aus.42 Die andere, hier interessierende Komödie Li quattro Arlichini (Die vier Harlekine) enthielt zwischen den Akten und am Ende drei intermezzi.43 In der Haupthandlung geht es um zwei junge Frauen, die beide in Arlichino verliebt sind. Allerdings erwidert Arlichino ihre Liebe nicht. Die beiden jungen Frauen ihrerseits erwidern die Liebe zweier junger Edelmänner nicht. Um die beiden Frauen zu täuschen, zaubert der Dottore, der in li quattro Arlichini als Hexenmeister auftritt, einen Geist herbei, dem er die Gestalt Arlichinos verleiht. Mithilfe des Geistes verwandelt der Dottore die beiden jungen Edelmänner jeweils in einen Arlichino. Von den Zauberkünsten des Dottore getäuscht, wissen die beiden Frauen nicht mehr, welcher der tatsächliche Arlichino ist. Schließlich löst der Hexenmeister die Verwirrungen zu einem guten Ende, indem er die beiden Liebhaber wieder ihre ursprüngliche Gestalt annehmen lässt. Reumütig, dass sie sich mit dem ihrer unwürdigen Arlichino einlassen wollten, stimmen die beiden jungen Frauen einer Verbindung mit den beiden jungen Edelmännern zu. Jene nach den Akten dargebotenen intermezzi – oder wie es im Textdruck heißt: intermedj III44 – hatten insbesondere just während der Jahre 1723-1730 einigen Erfolg, wie die nachweisbaren Wiederaufführungen innerhalb und außerhalb Italiens zeigen.45 Das Figurenpaar ist sehr frei nach Argan (der Hauptperson) und Béline (dessen zweiter Ehefrau) aus Molières Le malade imaginaire (Paris 1673) gestaltet. Der Titel der intermezzi verweist eindeutig auf Molière: L’ammalato immaginario.46 Aus dem Zeitraum von 1707 bis 1749 sind – zusammen mit der Mannheimer Darbietung – mindestens fünfzehn Produktionen

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Exemplarnachweis: Reiss-Engelhorn-Museum Mannheim, Bibliothek, Mh 1795 (it.), Mh 1796 (dt.). Exemplarnachweis: Reiss-Engelhorn-Museum Mannheim, Bibliothek, Mh 1797. LI QUATTRO ARLICHINI. | C O M M E D I A | Da rappresentarsi dinanzi | Al | S E R E N I S S I M O | E L E T T O R | P A L A T I N O , | Da | ALCUNI CAVALIERI | DELLA SUA CORTE, | I L C A R N O V A L E | DELL’ ANNO M DCC XXVI. | __ | Mannheim, dalla Stamperia Elettorale., S. 14. Der Text der intermedj ist abgedruckt auf den S. 14-20 (Primo), S. 26-35 (Secondo), S. 43-48. SARTORI, 1990-1994 [1995], I A-B, S. 135 (1279); TROY, 1979, S. 143. Vergleiche auch den Hinweis in der Vorbemerkung zu den intermedj III (Li quattro Arlichini […], S. 13). 61

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der intermezzi „L’ammalato immaginario“ belegt.47 Für drei der Produktionen lässt sich der Name des jeweiligen Komponisten angeben: Bei der Première in Venedig, im Herbst 1707, kamen die intermezzi vermutlich in einer Vertonung von Francesco Gasparini (1661-1727) zur Aufführung.48 Unter dem Titel Don Chilone waren die intermezzi innerhalb der Oper La Griselda von Francesco Bartolomeo Conti (1681-1732), während des Karnevals 1725, am Wiener Kaiserhof zu sehen und zu hören.49 Auch die intermezzi hatte Conti neu vertont. Im folgenden Jahr fand Mitte Mai, in Neapel, eine weitere Aufführung statt. Leonardo Vinci (1696?-1730) hatte die intermezzi komponiert, um sie zusammen mit seiner opera seria „Ernelinda“ darzubieten.50 Kam indessen vor dem Kurfürsten von der Pfalz, ein Vierteljahr zuvor, vielleicht Contis Vertonung zur Aufführung? Im Rahmen des vorliegenden Beitrags war leider kein Vergleich mit den Wiener oder anderen Quellen vorangegangener Produktionen der intermezzi möglich – ausgenommen das Libretto für eine Aufführung in Genua, im Frühling 1723.51 Von geringfügigen Abweichungen abgesehen, entsprechen die ersten beiden intermezzi des Genueser Textdrucks dem Wortlaut der Mannheimer Version. Im dritten intermezzo ist der Arientext Å&HUWH %HOOH VPRUÀRVH´ (ULJKHWWD  RIIHQVLFKWOLFK GLH HLQ]LJH *HPHLQVDPNHLW der beiden Libretti. In der 1726 in Mannheim präsentierten Version des intermedio terzo begegnen Erighetta und Don Chilone – inzwischen im Ehebund vereint – einander, als Erighetta verkleidet von einer Maskerade oder einer Opernaufführung zurückkehrt, in männlicher Begleitung.52 Bei ihrem Auftritt zitierte die Darstellerin (oder der Darsteller) der Erighetta eine Opernarie:

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TROY, 1979, S. 143. Ebd.. Die intermezzi wurden im Rahmen von Gasparinis Oper $QÀWULRQH aufgeführt. Das Libretto zu $QÀWULRQH hatte Pietro Pariati (1665-1733) nach Molières Amphitrion (EA: Paris, 1668) verfasst. Insofern liegt Pariatis Verfasserschaft auch für L’ammalato immaginario nahe. TROY, 1979, S. 143 und 216. Ebd.; MARKSTROM, 2007, S. 173-184 (zu L’Ernelinda), S. 184-187 (zu L’ammalato immaginario). SARTORI, 1990-1994 [1995], I A-B (1-4298), S. 135 (1279). TROY, 1979, S. 143, weist eine Aufführung in Genua 1727 nach, bezugnehmend auf GIAZOTTO, 1951, S. 332 [dort ohne Quellennachweis]. Li quattro Arlichini […], S. 44 lautet die Szenenanweisung: „ritirandosi il suo [scil. Erighetta] Compagno.“ (indem sich ihr [Erighettas] Begleiter zurückzieht.).

Barocke Wandertruppen – Opern- und Schauspielmusik. Zwei Beispiele „La Cervetta Timidetta Corre al fonte, Corre al monte, E trovando il suo diletto, L’accarezza, lo consola . . . . . “53

Das Zitat verweist offenbar auf die Beliebtheit einer Arie von Antonio Vivaldi (1678-1741). Denn nach gegenwärtigem Kenntnisstand liegt der fragliche Arientext einzig in einer Vertonung Vivaldis vor. Und der Komponist schätzte seine Arie derartig wert, dass er sie gleich in drei seiner Opern verwendete: Il Giustino (Dramma per musica), Rom Karneval 1724 RV 717 III/7 (Arianna)54 Semiramide (Dramma per musica), Mantua Karneval 1732 RV 733 III/4 (Semiramide)55 Bajazet / Tamerlano, (Tragedia per musica, Verona Karneval 1735 RV 703 II/6 (Asteria)56 Darüber hinaus deutet die separate abschriftliche Überlieferung der Arie außerhalb Italiens – ohne Hinweis auf ihre Herkunft aus einer bestimmten Oper – mindestens auf eine gewisse Popularität hin.57 Diese Popularität wird die Arie bereits bei ihrer ersten Darbietung in Rom, am Teatro Capranica, erlangt haben. 53

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Ebd., S. 43. Das Zitat einer Opernarie lässt eher darauf schließen, dass die geschilderte Ausgangssituation als Rückkehr Erighettas aus der Oper aufzufassen ist. Vorausgesetzt, das Publikum war mit der zitierten Arie ausreichend vertraut. Ob das Zitat nur der Mannheimer Produktion des ammalato immaginario eigen ist, bleibt noch zu prüfen. RYOM, 2007, S. 430. Ebd., S. 487. Ebd., S. 377. Ebd., S. 525 (RV 749.10). 63

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Und es gibt einen biographischen Bezug zwischen der römischen Première von Vivaldis Il Giustino und dem Mannheimer Hof. Vermutlich ist es dem jüngeren Sebastiano Scio zuzuschreiben, dass aus dem A-Teil von Vivaldis Opernarie eine Nummer wurde, die ein Schauspiel begleitete. Denn ein gewisser Sebastiano Scio, „Tanzmeister des pfälzischen Kurfürsten“,58 verbrachte einen überwiegenden Teil des Jahres 1724 in Italien. Am Teatro Alibert in Rom war er just während des Karnevals 1724 für die Tänze in zwei Opern zuständig.59 So ist die Annahme berechtigt, Sebastiano Scio könnte nach dem großen Erfolg von Vivaldis zweiter römischer Oper eine Abschrift davon oder von den erfolgreichsten Arien daraus erworben und in seinem Reisegepäck an den kurpfälzischen Hof nach Mannheim gebracht haben.60 Dass dies Alles einigermaßen relevant für die Rezeptionsgeschichte des Repertoires des älteren Sebastiano di Scio ist, macht ein Blick auf eine bislang übersehene Station des ehemaligen Celler Hofkomödianten deutlich. Gelegentlich der Laurentius- oder Sommermesse, im August 1701, gastierten Sebastiano di Scio und seine Truppe in Braunschweig. Laut Aufzeichnungen eines Zuschauers führten sie am 23. August 1701 eine italienische Komödie auf, mit dem Titel „I quattro Harlequinj“.61 Zwar fehlen Angaben darüber, ob di Scio während seines Braunschweiger Gastspiels in seine Aufführungen Musik einfügte, jedoch kann zumindest von einer Identität von I quattro Harlequinj (Braunschweig 1701) mit Li quattro Arlichini (Mannheim 1726) ausgegangen werden. Es bleibt zu hoffen, dass zukünftige Forschungen dazu beitragen, Beweise für das Verwandtschaftsverhältnis zwischen Sebastiano di Scio detto L’Arlichino und dem Tanzmeister Sebastiano Scio zu liefern sowie weitere Erkenntnisse zu Repertoire und Lebenswegen wandernder Komödianten-, Operisten- und Marionettenprinzipale.

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SARTORI 1990-1994 [1995], V R-Z – Aggiunte (1992), S. 151 (21257). Ebd., II E-K (1990), S. 114 (9732); V R-Z – Aggiunte (1992), S. 151 (21257). Freilich besteht die Möglichkeit, dass der noch ausstehende Vergleich mit vorangegangenen Textdrucken von L’ammalato immaginario einen anderen Erklärungsansatz für das Arienzitat nahelegt. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Bibliotheca Augusta, Cod. Guelf. 28 Blank., pag. 81. Bei FROLOWITZ, 2002, S. 127 ist eine Lücke für den Zeitraum zwischen 23. März 1701 und 24. Januar 1702.

Barocke Wandertruppen – Opern- und Schauspielmusik. Zwei Beispiele

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Barocke Wandertruppen – Opern- und Schauspielmusik. Zwei Beispiele

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Schauspielmusik in der „klassischen“ Provinz Zum Weimarer Theater unter Goethe (1791-1817) BEATE AGNES SCHMIDT

„Darum glaube ich auch nicht, daß weder Sie noch irgendein anderer das Publikum jemals höher hinaufziehen wird, als es jetzt steht. Glauben Sie denn, daß selbst unter den Griechen Äschylus und Sophokles jemals ein großes Publikum gehabt haben? Was hat nicht Goethe versucht! Und wie klein ist in Weimar dasjenige Publikum, welches sich in solchen Vorstellungen nicht gelangweilt hat!“1

August von Kotzebues maliziöser Hieb gegen die Weimarer Theaterreformer wurde in der Literatur- und Theaterwissenschaft immer dann gern als Ausdruck für das Unterhaltungsbedürfnis des Publikums angeführt, wenn Eskapismus aufklärerischem Bildungsanspruch oder der Vergnügungsaspekt Schillers Idee von der Bühne als „moralischer Anstalt“2 gegenüber standen. Doch Kotzebue wollte nicht mit seinen populären Theaterstücken allein das Publikum unterhalten – auch wenn er mit seinen pessimistischen Bemerkungen genau diesen Eindruck verstärkte.3 Genauso wenig konnte Goethe als Theaterintendant die klassizistischen Reformprojekte ohne einen viele Publikumsgeschmäcker befriedigenden Spielplan durchsetzen. Wie an anderen Bühnen waren Kotzebues Rührstücke am Weimarer Theater große Publikumsmagneten. Werke mit hohem Unterhaltungswert stellten neben Lustspielen auch Opern und Singspiele dar. 1 2

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August von Kotzebue an Carl Graf von Brühl am 15. Oktober 1815, in: MÜLLER, 1910, S. 246f. Schillers Mannheimer Rede von 1784 war ursprünglich mit „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken“ überschrieben und erschien 1802 unter „Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet“. NA 20, S. 87-100. Dazu etwa KINDT, 2011, S. 211-214. 69

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Nur etwa zwei Fünftel des Weimarer Repertoires unter Goethes Theaterleitung HQWÀHOHQOHW]WOLFKDXI6FKDXVSLHOHXQG7UDJ|GLHQ9RQGLHVHQ]lKOWHQZLHGHUXP nur herausragende zu den von Kotzebue beschriebenen Experimenten Goethes. Für das Weimarer Theater stellt sich die Frage, wie Goethe als Theaterleiter mit der Spannung zwischen Bildungsanspruch und Unterhaltungskultur umging und welche Rolle die Musik zwischen diesen Polaritäten einnahm. Gerade dem Musiktheater kam als Unterhaltungsfaktor immer schon und besonders für den entstehenden „Massenvergnügungsmarkt“4 zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine wachsende Bedeutung zu. Neben pragmatischen Aspekten war das Musiktheater um 1800 auch für Goethes und Schillers Theaterästhetik elementar: Die Oper, speziell die Opera seria, wurde zum „Modell ihrer Theaterreformideen“5. Sie spiegelte sich nicht nur in ihren klassizistischen Experimenten mit dem antiken Chor, sondern auch in ihren Dramenkonzepten mit Schauspielmusik wiGHU 8QJHDFKWHW GLHVHV (LQÁXVVHV VSLHOWH GLH 0XVLN LP 6FKDXVSLHO ODQJH =HLW in der germanistischen sowie musik- und theaterwissenschaftlichen Forschung eine untergeordnete Rolle. Mit der Rezeption der klassischen Dramen als reines Sprechtheater im 20. Jahrhundert blieb der Blick auf das Schauspiel als multimediales Theaterevent verzerrt. Diese Sichtweise war der Ausgangspunkt für das Teilprojekt „Musik und Theater“ im Sonderforschungsbereich 482 „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“ (unter der Leitung von Detlef Altenburg, Laufzeit 2001-2010). Im Folgenden soll ein Abriss einiger Ergebnisse des Projektes dargestellt werden, die anhand ausgewählter Werke und Komponisten die Praxis und Rezeption von Schauspielmusik am Weimarer Theater verdeutlichen.

1. Theaterreform und Musiktheater Mit ihrer klassizistischen Theaterästhetik wollten Goethe und Schiller während LKUHU=XVDPPHQDUEHLWYRQELVGLH%KQH]XP.XQVWWHPSHOVWLOLVLHren, der für beide – unabhängig von Empathie, Natürlichkeit und der Erfahrung GHU=XVFKDXHU²HLQDXWRQRPHU%HUHLFKGHU.XQVWXQG5DXPlVWKHWLVFKHU(Ufahrung war. Auf den Spielplan kamen neben ihren eigenen Werken französische Tragödien und Experimente mit dem antiken Trauerspiel als Kontrast zum bürgerlichen Rührspiel. Inspiriert war ihre Theaterästhetik von der Oper: Sie HUKHEHVLFKEHUGHQDQGHQ]HLWJHQ|VVLVFKHQ%KQHQJHSÁHJWHQÅ1DWXUDOLVP´ zum Idealen und unterlasse jede „servile Naturnachahmung“, wie Goethe in sei4 5 70

DANIEL, 1998, S. 132. BORCHMEYER, 1998, S. 377.

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nem berühmten Opernbrief an Schiller formulierte.6 Goethes Faust und Schillers späte Bühnenwerke, besonders sein Wilhelm Tell, Die Jungfrau von Orleans und WallensteinVLQGRKQHGLHVHQ(LQÁXVVXQGHQNEDU'HP0XVLNWKHDWHUVWHhen in ihren Weimarer Dramen die gesanglichen, melodramatischen und pantomimischen Einlagen sowie die mehrschichtigen Massenszenen nahe, die mit akustischen Effekten und der Raumtiefe der Bühne spielen. Gerade für Goethes FaustLQGHQVlPWOLFKH]HLWJHQ|VVLVFKH7KHDWHUJDWWXQJHQHLQÁRVVHQZXUGHRIW GLVNXWLHUWZHOFKHGLHVHU0XVLNV]HQHQÄQXU¶LPDJLQlULQGHU3KDQWDVLHGHU=Xschauer oder tatsächlich zur Realisierung gedacht waren.7 Die Mittel der Weimarer Bühne waren beschränkt, die Künstler, Musiker und Schauspieler meist unbekannt, wenn sie eingestellt wurden. Diese Spannung zwischen einerseits multimedial angelegten Weimarer Dramenkonzepten, die der Musik funktionale und semantische Bedeutung beimaßen, und andererseits provinzieller Sparsamkeit in der theatralen Umsetzung beschäftigte das Forschungsprojekt „Musik XQG7KHDWHU´LP6RQGHUIRUVFKXQJVEHUHLFKEHVRQGHUV=XQlFKVWEHJOHLWHWHQ Detailstudien zur Antikenrezeption, zur Musik in Goethes, Schillers, Shakespeares und Kotzebues Werken die Erfassung sämtlicher Schauspielmusiken im =HLWUDXPYRQELV$XVJHKHQGYRP:HLPDUHU7KHDWHUVWDQGHQGDEHL die Praxis der Schauspielmusik im gesamtdeutschen Raum und die musikalischen Realisierungen der Regieanmerkungen im Schauspiel an kleineren und größeren Bühnen im Vordergrund. Aufgrund der vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen Schauspiel und Oper wurde der Blick auf das Weimarer Theater schließlich erweitert und als Ganzes inklusive die Praxis der Instrumentalmusik und aufkeimenden Konzertkultur untersucht.8 Von den unter Goethes Theaterleitung entstandenen Schauspielmusiken erlangte tatsächlich keine überregionale oder irgendeine künstlerische Bedeutung, weder heute noch im 19. Jahrhundert. Überblickt man das Corpus an Weimarer Schauspielmusiken Ende des 18. Jahrhunderts bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, kristallisiert sich vielmehr die Tendenz zum Arrangement statt eigens komponierter Musiken, zu klein besetzten Gesangs- und Choreinlagen statt breit angelegten Musikszenen mit Balletteinlagen und großem Orchester heraus. Ganz offenkundig war das Weimarer Theater nur „aufgrund der strukturellen Produktionsbedingungen die Experimentierbühne“, das Berliner – mit GHPPDQEHU$XJXVW:LOKHOP,IÁDQGXQGVSlWHU&DUO*UDIYRQ%UKOLQUHJHP 6 7 8

Goethe an Schiller am 27.12.1797, in: NA 29, S. 179. Vgl. die Diskussion in SCHMIDT, 2006, S. 110-113. Vgl. den Forschungsüberblick in: ALTENBURG/SCHMIDT, 2012, Vorwort, S. 1, Anm. 2, sowie ALTENBURG, 2012, S. 3-15. 71

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Austausch stand – dagegen die „Bühne, wo in der Regel all das realisiert wurde, was die Weimarer Regieanmerkungen nur andeuten.“9 Während am Berliner Schauspielhaus qualitativ wie quantitativ herausragende Theatermusiken entstanden, wurden in Weimar neben sparsam komponierten Schauspielmusiken vielfach vorhandene Noten aus dem Theaterarchiv oder Goethes Notensammlung arrangiert und neu bearbeitet, zitiert und plagiiert. Doch dass Goethe Musik in seinen Inszenierungen willkürlich arrangierte und diesen Teil seiner Regiearbeit ignorierte, kann man ihm nicht zum Vorwurf machen.10=ZLVFKHQaktmusiken wurden nach System arrangiert und sollten sich auf vorangehende und nachfolgende Akte beziehen. Dies haben beispielhaft ein erhaltenes Theaterformular zum Schutzgeist und ein Instrumentalmusikverzeichnis über die Verwendung der Sinfonien, Konzerte und Kammermusik von 1775 bis Mitte des 19. Jahrhunderts gezeigt.11 Die Konzert- und Kapellmeister vertonten hin und wieder einzelne Stücke, selten mehrere Nummern umfassende Schauspielmusiken. Eine Übersicht der komponierten und arrangierten Weimarer Musiken unter Goethes Theaterleitung soll diese Theaterpraxis veranschaulichen:12

Eigens komponierte Musik Johann Friedrich Kranz: „Märsche und Chöre“ zu Der Groß-Cophta (J. W. v. Goethe – UA 17.12.1791 – Nachweis: Journal des Luxus und der Moden 7 [1792], S. 37; ThHStAW GI des DNT 1272/4, fol. 33r-34r: Fischers Regietagebuch vom 9.15.7.1792 zur Choreographie und Aufführung der Musik in Lauchstädt)

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ALTENBURG, 2012, S. 15. Siehe auch SCHMIDT, 2012b. So unterstellt EMDE, 2004, dem Regisseur Goethe, nur an szenisch-technischen Details, nicht jedoch an einer psychologischen und musikdramaturgischen Differenzierung der Schauspiele und Opern gearbeitet zu haben (dazu besonders Bd. 2, S. 568-570). Dazu SCHMIDT, 2006, S. 52-62, und vor allem BROCKMANN, 2009 und BROCKMANN, 2010. 'LHhEHUVLFKWHUKHEWNHLQHQ$QVSUXFKDXI9ROOVWlQGLJNHLW=ZLVFKHQDNWPXVLNHQ bleiben unerwähnt und können wie auch die Schauspielmusiken in dem online zugänglichen Spielplan des Weimarer Theaters, der über die Erfassung der Theaterzettel hinausgeht, gesucht werden: http://www.urmel-dl.de/Projekt/TheaterzettelWeimar (Stand: 5.3.2013). Die RISM-Sigl verweisen auf historisches Aufführungsmaterial der Musikalien.

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Christian Benda:13 7 Lieder mit Accompagnement zu Wie es Euch gefällt (Shakespeare – keine Aufführung belegt; Nachweis: Rechnung laut PASQUÉ, 1863, S. 83) C. Benda: Minnesängerlied zu Otto der Schütz (Friedrich Gustav Hagemann – EA 17.11.1792; Nachweis: Rechnung laut PASQUÉ, 1863, S. 83) C. Benda: Priester-Chor zu Die Sonnenjungfrau (Kotzebue – EA 12.6.1793; Nachweis: Rechnung laut PASQUÉ, 1863, S. 83) C. Benda: Chöre zu Lanassa (Kotzebue – EA 28.5.1794; Nachweis: Rechnung laut PASQUÉ, 1863, S. 83) Anonym: Solistische Darbietung eines Hofkapellmitglieds zur Darstellung des Jean in Der Spieler ,IÁDQG²($YDULLHUWHYRQ$XIIKUXQJ]X$XIIKUXQJELV Mitte des 19. Jahrhunderts – Nachweis: ThHStAW 1272/13, fol. 64r und fol. 67r: Beschwerden der Musiker, Juli 1801) Franz Dunkel: „Musik und Chöre“ zu Kein Faustrecht mehr (Friedrich Christian Schlenkert – UA 18.4.1797 – Nachweis: SCHILLING, 1840, S. 512; erhalten als „Sinfonia“, „Marcia“ und ein Lied der Mariane: „Sei gegrüßet“ in: D Hs ND VII 106) .UDQ]0DUVFKXQG5HNUXWHQOLHGVRZLH&KULVWLDQ-DFRE=DKQ5HLWHUOLHG]XWallensteins Lager (Schiller – EA 12.10.1798 – Musik: Abschrift unter Destouches’ Namen in: D Mbs St. th. 643-1 und D LEm Becker III.15)14 Reichardt: Lied der Thekla „Der Eichwald brauset“ zu Piccolomini (Schiller – UA 30.1.1799 – Musik: D WRgs 32/224b)15 Franz Seraph von Destouches: Musik zu Gustav Wasa (Kotzebue – EA 4.1.1800 – Musik: D WRl HMA 3885) Destouches: Pförtnerlied „Verschwunden ist die Nacht“ zu Macbeth (Shakespeare/Schiller – UA 14.5.1800 – Nachweis: Schiller an Goethe am 10.04.1800, NA 38 I, S. 243) Destouches: „Rundgesang“ zu Otto der Schütz (Friedrich Gustav Hagemann – frühestens für die Aufführung vom 31.10.1801 – Nachweis: ThHStAW GI des DNT 1272/16, fol. 11r: Lauchstädter Theatermusik, 28.6.1804) [Johann Friedrich Reichardt]: Lied zu Ion (August Wilhelm Schlegel – UA 2.1.1802 – Musik: vermutlich identisch mit D WRl HMA 3936) Destouches: Musik zu Turandot (Carlo Gozzi/Schiller – UA 30.1.1802 – Musik: D WRha DNT 139b)

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Christian Benda (1759-1805) war seit 1791 in Weimar als Tenor am Theater YHUSÁLFKWHW Dazu SCHMIDT, 2013. EBD., S. 767-770. 73

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Destouches [nicht sicher belegt]: Musik zu Die Braut von Messina (Schiller – UA 19.3.1803 – Nachweis: DESTOUCHES, 1866, S. 7) &DUO)ULHGULFK=HOWHU5HLWHUOLHG]XWallensteins Lager (Schiller – Aufführungen ab 1803 – Musik: ? D WRgs 32/45)16 Destouches: Musik zu Die Jungfrau von Orleans (Schiller – EA 23.4.1803 – D WRha DNT I 54) Destouches: Musik zu Die Hussiten vor Naumburg (Kotzebue – EA 15.2.1804 – Musik: D WRha DNT 141b) Destouches: Musik zu Wilhelm Tell (Schiller – UA 17.3.1804 – Musik: D WRha DNT 633)17 =HOWHU'UHL/LHGHU]XOthello (Shakespeare/Johann Heinrich Voß – UA 8.6.1805 – Musik: SHAKESPEARE, 1806, S. 196)18 Destouches: Musik zu Wanda )ULHGULFK/XGZLJ=DFKDULDV²8$²0XVLN D WRha DNT 142b)19 Destouches: Gesang zu Die Gartenmauer (Joseph Sonnleithner – EA 5.12.1808 – Musik: D WRha DNT BM 90) Destouches: Lied zu Der Talisman (Carl Wilhelm Contessa – EA 23.1.1809 – Musik: D WRha DNT BM 91) August Eberhard Müller: Der standhafte Prinz (Calderón de la Barca/August Wilhelm Schlegel – UA 30.1.1811 – Musik: D WRha DNT BM 626)20 Franz Stanislaus Spindler: Musik zu Die Proberollen .DUO )UDQ] *XROÀQJHU YRQ Steinsberg – EA 25.3.1811 – Musik: D WRha DNT 43) A. E. Müller: Musik zu Die Tochter Jephtas (Ludwig Robert – EA 21.9.1811 – Musik: D WRha DNT BM 628) A. E. Müller: Musik zu Romeo und Julia (Shakespeare/A. W. Schlegel/Goethe – UA 1.2.1812 – Musik: D WRha DNT BM 627 und Journal des Luxus und der Moden 27 [1812], Musikbeilage) Anonym: Fanfare zu Die Sühne oder Der vierundzwanzigste Mai (Theodor Körner – EA 4.5.1812 – Musik: D WRha DNT BM 106) Ludwig van Beethoven: Musik zu Egmont (Goethe – EA 29.1.1814 – Musik: D WRha DNT BM 237a) Bernhard Anselm Weber: Musik zu Des Epimenides Erwachen (Goethe – EA 7.2.1816 – Musik: D WRha DNT 125a) 16 17 18 19 20 74

EBD., S. 748 und S. 762f. Dazu ALTENBURG, 2000. Siehe auch BÖTTIGER, 1838, S. 252. Dazu SCHMIDT, 2012b. EBD.

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Musikalische Arrangements Anonym: „Siciliano“ zu Graf Benjowsky (Kotzebue – EA 29.7.1792 – Nachweis: ThHStAW GI des DNT 1272/16, fol. 11r: Lauchstädter Theatermusik, 28.6.1804) Räuberlied „Ein freies Leben führen wir“ und Studentenlied „Gaudeamus igitur“ in der Fassung Christian Wilhelm Kindlebens (1781), wohl auch beide mit der Melodie von „Gaudeamus igitur“21 zu Die Räuber (Schiller – Nachweis für das Räuberlied am 13.7.1795 in Lauchstädt, ThHStAW GI des DNT 1272/7, fol. 82r) :ROIJDQJ$PDGHXV0R]DUWÅ7KHLOHHLQHUYRUWUHIÁLFKHQ0HVVH´ %HDUEHLWHU.UDQ]  zu Die Jesuiten (Johann Gottfried Lukas Hagemeister – EA 14.1.1797 – Nachweis: Journal des Luxus und der Moden 12 (1797), S. 88; siehe auch ThHStA GI des DNT 1272/38, fol. 33v: Karl Schall an Kirms, 26.8.1797) Anonym: Musik zu Otto mit dem Pfeile, Markgraf von Brandenburg (Friedrich Rambach – EA 7.11.1797 – Nachweis: ThHStAW GI des DNT 1272/16, fol. 11r: Lauchstädter Theatermusik, 28.6.1804) Anonym: Musik zu Der edle Verbrecher (Gaspar Melchor de Jovellanos/Joseph Leonini – EA 26.5.1798 – Nachweis: ThHStAW GI des DNT 1272/16, fol. 11r: Lauchstädter Theatermusik, 28.6.1804) Reichardt: Räuberlied aus Claudine von Villa Bella als Soldatenlied mit neuem Text zu Wallensteins Lager (Schiller – UA 12.10.1798), als Parodie von Christian August Leißring „Heute die Johanna, und morgen die Susanna“ ebenfall in der UA von Wallensteins Lager22 Anonym: Musik zu Leichter Sinn ,IÁDQG²($²1DFKZHLV7K+6W$:*, des DNT 1272/16, fol. 11r: Lauchstädter Theatermusik, 28.6.1804) Anonym: „March“ zu Das Schreibe-Pult (Kotzebue – EA 22.9.1799 – Nachweis: ThHStAW GI des DNT 1272/16, fol. 11r: Lauchstädter Theatermusik, 28.6.1804) Reichardt: Hexenscenen zu Bürgers Macbeth als Chöre und Schlachtmusik in Macbeth (Schiller – UA 14.5.1800 – Musik: D WRha DNT 733)23 Anonym: „March“ zu Offene Fehde (Dumaniant/Ludwig Ferdinand Huber – EA 3.11.1800 – Nachweis: ThHStAW GI des DNT 1272/16, fol. 11r: Lauchstädter Theatermusik, 28.6.1804)

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=X GHQ OHJHQGlUHQ Å5lXEHUIDKUWHQ´ GHU 6WXGHQWHQ VLHKH LÖNNECKER, 2004, S. 105f., Anm. 51; die Kontrafaktur wurde abgedruckt in: ERK /BÖHME, 1894, S. 492. Dazu SCHMIDT, 2013. Dazu SCHMIDT, 2011, S. 67–89. 75

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Georg Anton Benda: Hochzeitsmarsch aus Medea als Krönungsmarsch zu Die Jungfrau von Orleans (Schiller – EA 23.4.1803 – Nachweis: EBERWEIN, 1912, S. 89f.)24 Anonym: „March“ zu Mithridat (Racine/Johann Joachim Christoph Bode – EA 20.1.1804 – Nachweis: ThHStAW GI des DNT 1272/16, fol. 11r: Lauchstädter Theatermusik, 28.6.1804) Anonym: „March“ zu Don Ranudo de Colibrados (Ludvig Holberg/Kotzebue – EA 14.12.1803 – Nachweis: ThHStAW GI des DNT 1272/16, fol. 11r: Lauchstädter Theatermusik, 28.6.1804) Anonym: Musik zu Der Schutzgeist (Kotzebue – EA 1.2.1817 – Nachweis: ThHStAW GI des DNT 1/10, fol. 35v-36r) Reichardt: Chor aus Protesilao mit neuem Text als „Gesang der Christensklaven“ in Der standhafte Prinz (Calderón de la Barca/August Wilhelm Schlegel – UA 30.1.1811 – Musik: D WRgs 32/267, 32/369 und 32/370)25 Karl Steinacker: Dreher zu unbekanntem Schauspiel (1817 – Musik: D WRha DNT BM 356)

2. Musik fürs Schauspiel: Kranz, Destouches, Müller Unter Goethes Theaterleitung waren mit Johann Friedrich Kranz (1754-1807) und Franz Seraph von Destouches (1772-1844) zwei Haydn-Schüler26 und mit August Eberhard Müller (1767-1817) der Nachfolger Johann Adam Hillers als Thomaskantor mit der Leitung der Hofkapelle betraut. Alle drei Komponisten waren für Schiller und Goethe nie ernst zu nehmende Komponisten, mit denen sie gemeinsam an einer Oper zusammengearbeitet hätten. Mit Johann Friedrich Reichardt gab es nach dem „Xenien-Streit“ 1797 keinen Kontakt mehr. Seine Kompositionen erwiesen sich allerdings, wie die Kontrafakturen zeigen, als lX‰HUVW WKHDWHUZLUNVDP -RKDQQ )ULHGULFK =HOWHU KLQJHJHQ XUWHLOWH OLHEHU EHU 0XVLNXQGYHUVSUDFKPHKU.RPSRVLWLRQHQDOVHUZLUNOLFKOLHIHUWH=XGHP%HUliner Kapellmeister Bernhard Anselm Weber, der auf künstlerisch hohem Niveau Schillers Werke noch zu dessen Lebzeiten für die Berliner Bühne vertonte 24 25 26

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Dazu SCHMIDT, 2012a. Dazu SCHMIDT, 2012b, S. 203-209. In dem Actum vom 5. Oktober 1799 zur Amtseinführung Destouches’ erhoffte man sich ein gutes „Einverständnis“ zwischen Kranz und Destouches. Dieses sollte sich auf die „Fortsetzung ihrer vormahligen Schulfreundschaft“ gründen, „inGHPEH\GH]XJOHLFKHU=HLW6FKOHU+H\GHQVJHZHVHQZlUHQXQGYRQGHPVHOEHQ LQ(LQHU6WXQGHSURÀWLUWKlWWHQ´7K+6W$:$IROU

Schauspielmusik in der „klassischen“ Provinz

Abbildung: Liste über die nach Lauchstädt mitgenommene Theatermusik im Sommer 1804, ThHStAW GI des DNT 1272/16, fol. 11r 77

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XQGGLHVHDXFKQDFK:HLPDUVDQGWHEDXWHQXU*RHWKHIUNXU]H=HLWHLQ engeres Verhältnis auf. 27 Der aus Weimar gebürtige Kranz hatte nach seiner Tätigkeit als Violinist und Kammermusikus von 1778 bis 1780 in der Weimarer Hofkapelle ein herzogliches Stipendium erhalten, mit dem er bis 1789 nach Mannheim, München, Eszterháza (als Schüler Joseph Haydns) und Italien (als Schüler Paisiellos und Cimarosas) zu Studienzwecken reiste.28 Als er 1787 in Rom auf Goethe traf, bot ihm dieser ein Libretto zu einer komischen Oper an. Kranz jedoch lehnte ab und reiste lieber weiter nach Neapel.29 Nach seiner Rückkehr wurde er 1789 von Carl August zum zweiten Konzertmeister befördert und dirigierte nach dem Tod Ernst Wilhelm Wolfs ab 1792 die Opern am Hoftheater. Erst 1799 wurde er Hofkapellmeister, als auch der erste Konzertmeister Carl Gottlieb Göpfert (1734-1798)30 verstorben war. Kranz hat für die Weimarer Bühne nur Märsche und Chöre zu den Uraufführungen von Goethes Der Groß-Cophta (1791) und von Schillers Wallensteins Lager geschrieben. Letztere – ein Marsch und das Rekrutenlied – sind in den Destouches zugeschriebenen Abschriften der Wallenstein-Musik enthalten.31 1799 wurde schließlich der aus München stammende Konzertpianist Destouches Konzertmeister. Er leitete von 1803 bis 1809 in der Nachfolge Kranz’ die Hofkapelle. Für Destouches ist im Anstellungsvertrag überliefert, dass er für die „Composition von Gelegenheits-Arien und sonstigen Piecen“, auch zur 27

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Von Schiller ist überliefert, dass er von Weber keine Komposition erwartete, die auf seinem Niveau hätte sein können. (NA 32, 124) Goethe hingegen reagierte zwar 1810 nicht auf Webers Idee, den Faust als Opernlibretto zu bearbeiten (siehe SCHMIDT, 2006a, S. 91f.), arbeitete aber mit ihm immerhin 1814 zusammen für das Festspiel Des Epimenides Erwachen=X*RHWKHV$XVVSUXFKÅ0R]DUWKlWWHGHQ ‚Faust’ componiren müssen. Meyerbeer wäre vielleicht dazu fähig“ (Gespräch vom 12. Februar 1829, in: ECKERMANN, 1836, S. 64), siehe EBD., S. 184 ff. SATORI-NEUMANN, 1922, S. 14. Goethe an P. Seidel am 3. Februar 1787, in: WA IV 8, S. 167f. Göpfert dirigierte und komponierte nicht. Im „Vorgeigen“ war er jedoch nach eigener Aussage noch im Alter „statt 4 Mann bey seiner Stimme“ überragend. GERBER, 1812, Sp. 349. Dazu SCHMIDT, 2013. Für die Leipziger Bühne lieferte Kranz 1802 einen Marsch und den Chor „Lustig Kinder, fasset Muth“ zu Kotzebues Hussiten vor Naumburg YJO$P=>@6S XQGEHZLHVGDVVHUŲDQGHUVDOVLQ:HLPDU²JUR‰dimensional denken gelernt hat.“ SCHRÖTER, 2006, S. 159 und S. 300-316 (Noten).

Schauspielmusik in der „klassischen“ Provinz

Å&RPSRQLUXQJLUJHQGHLQHU2SHU´YHUSÁLFKWHWZDU32 Von ihm sind denn auch GLH PHLVWHQ .RPSRVLWLRQHQ ]X 6FKDXVSLHOHQ DXV GLHVHU =HLW EHUOLHIHUW YRUnehmlich zu Uraufführungen. Schon zu seinen Lebzeiten mehrte sich die Kritik an Destouches’ Schauspielmusiken: Sie seien „lauter Werke, die in der Instrumentation überladen sind und wo die Gedanken im Lärm begraben werden.“33 Eine größere Besetzung weisen allerdings nur die Musiken zu Die Hussiten vor Naumburg und Turandot auf. In letzterer kann dies dem Umstand geschuldet sein, nach Art der Janitscharenmusik entfernt an chinesische oder einfach nur fremdländische Musik zu erinnern. Die zeitgenössische Kritik jedoch diskutierte an dieser sowie an der Musik zum Wilhelm Tell die Frage, wie kunstlos und einfach eine Musik – auch eine funktionale – zugunsten von Authentizität überhaupt sein darf. Letztlich seien die Musiken Ausdruck von Überheblichkeit und Kulturarroganz gegenüber den Chinesen und Schweizern: „barbarische, gegen Ohr, wie gegen alles, was Regel heisst, gleichmässig anlaufende“ Kompositionen.34 Im Vergleich zu den konventionellen Weimarer Musiken, die wie die zu Gustav Wasa oder Die Jungfrau von Orleans KlXÀJQXU]ZHLELVGUHL1XPPHUQ enthielten, gehören die zu den Hussiten, Wanda und Wilhelm Tell zu den umfangreicheren Kompositionen. Sie sind jedoch konventionelle Gebrauchsmusik und fallen nicht durch kompositorische Finessen auf. Am ehesten beeindruckten die Chöre zu Wanda in ihrer Schlichtheit als monotone Geistergesänge und gelangten auch an auswärtige Theater.35 Seine Musik zu Wallensteins Lager hätte Destouches sicher gern in Weimar aufgeführt. Das Arrangement der Uraufführung aus Nummern von Kranz, 5HLFKDUGW XQG =DKQ VSlWHU =HOWHU  EOLHE MHGRFK GLH JHVSLHOWH 6FKDXVSLHOPXsik während seiner Konzertmeistertätigkeit. Destouches’ eigene Musik ist nur in Dresden frühestens 1819 verwendet worden. Warum die beiden erhaltenen Abschriften der Weimarer Wallenstein-Partitur mit Destouches’ Namen betitelt

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ThHStAW A 9837, fol. 2r-6r, hier fol. 2r (Contract, von Goethe unterschrieben am 2.4.1799). HERLOSSSOHN, 1839, S. 319. $P=  6S=LWDW6SI=X'HVWRXFKHV·0XVLNLQ6FKLOOHUV:HUken siehe SCHMIDT, 2006b. Das Hoftheater Gotha (D GOl Mus.4|o 45 c/1) und das Darmstädter Hoftheater (KRAMER, 2008, S. 177, S. 274) etwa besaßen die Partitur; auch die Herzogin Anna Amalia führte einen Klavierauszug in ihrer Bibliothek (D WRz Mus II b: 63, verbrannt), 79

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sind, bleibt Spekulation.36 Der Mythos von seiner Urheberschaft einer Weimarer Wallenstein-Musik hat sich indes bis in die Gegenwart gehalten. Als Konzertmeister hatte sich Destouches zwar 1801-03 aus der Jagemann-Kranz-Affäre herausgehalten und galt als „gefügig“, wie der Weimarer Musiker Karl Eberwein über ihn urteilte.37 Die Mitglieder der Hofkapelle jedoch waren mit seinen Leistungen als Konzertmeister höchst unzufrieden.38 1810 wurde Destouches schließlich zum Hofkapellmeister ernannt und damit „quasi ‚weggelobt‘“:39 Denn zuvor hatte man ihm bereits gekündigt. Destouches’ Nachfolger wurde im Mai 1810 der von der Weimarer Erbprinzessin Maria Pavlovna protegierte Organist, Klavier- und Flötenvirtuose August Eberhard Müller.40 Er tat sich in Weimar eher durch Umstrukturierungen der Hofkapelle als durch eigene Werke hervor. Gichtbeschwerden schon bald nach seinem Dienstantritt beeinträchtigten sein Engagement für das Theater. Die drei Schauspielmusiken zu Calderóns Der standhafte Prinz, Roberts Die Tochter Jephtas und Shakespeares Romeo und Julia sind auffallend pragmatisch und zweckmäßig ohne künstlerischen Anspruch. Gleichwohl entsprachen Müllers wenige, einzelne Nummern dem weimartypischen Minimalismus.

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=XU8UKHEHUVFKDIWGHU$EVFKULIWHQ '0EV6WWKVRZLH'/(P%HNker III.15.5) und Destouches’ Musik (D Dl Mus. 4271-F-1) siehe SCHMIDT, 2013. Welche Partitur Destouches an das Darmstädter Theater sandte, lässt sich nicht feststellen. Siehe den Nachweis des Ankaufs in: KRAMER, 2008, S. 177, S. 274. Laut Aussage des späteren Musikdirektors Karl Eberwein sei Destouches „kein lumen mundi, weder als Virtuos, noch als Komponist, aber gefügig“ gewesen. EBERWEIN, 1856, Sp. 484. (UVWH.RQÁLNWHXPGDV'LULJDWJDEHVEHUHLWV 7K+6W$:$IROU 29v, Actum vom 10. und 11.12.1800). Der ehemals Mannheimer Violinist Johann Michael Müller beklagte besonders Destouches’ mangelnde Sorgfalt in der Einstudierung korrekter Noten (ThHStAW GI des DNT 1272/16, fol. 76r-77v, Müller DQ.LUPVDP-XOL 'HQ8PJDQJPLW'HVWRXFKHVEHHLQÁXVVWHVLFKHUDXFK *RHWKHV8QVLFKHUKHLWZDVEHUKDXSW]XGHQ3ÁLFKWHQHLQHV.RQ]HUWPHLVWHUVJHK|UWH YJO*RHWKHDQ=HOWHUDP-XOLLQ:$,96  HUSCHKE, 2002, S. 63. =X 'HVWRXFKHV· (QWODVVXQJ XQG 0OOHUV (LQVWHOOXQJ 7K+6W$: $ D XQG A 9848.

Schauspielmusik in der „klassischen“ Provinz

3. Zitat und Hit-Recycling? Weimarer Arrangements in der Soldatenwelt des Wallenstein Neben dem Repertoire eigens komponierter Schauspielmusik existieren für das Weimarer Theater bemerkenswert viele Verweise auf arrangierte Lieder und Bühnenmusiken. Wie in der Oper wurden diese im Schauspiel nicht selten als =LWDW JH]LHOW HLQJHVHW]W$X‰HU PXVLNDOLVFKHQ =LWDWHQ DXV GHU /HEHQVZHOW GHU =XVFKDXHUVLQGDEHUDXFK.RQWUDIDNWXUHQlOWHUHU7KHDWHUVWFNHEHUOLHIHUWGLH DOV=LWDWLQWHUWH[WXHOOLPQHXHQ$XIIKUXQJVNRQWH[WIXQJLHUHQ41 Beide Formen spiegeln sich exemplarisch in der diskontinuierlichen und wechselhaften Musik zur Wallenstein-Trilogie wider. Mit Wallensteins Lager eröffneten Goethe und Schiller 1798 mit großem Medienecho das neue Hoftheater. Doch eine passende Musik wurde nicht – wie allgemein bei Uraufführungen üblich – in Auftrag gegeben.42 Nur für das ‚Liedercasting‘ des Reiterliedes wandte sich Schiller an die namhaftesten LieGHUNRPSRQLVWHQVHLQHU=HLW²DX‰HUKDOE:HLPDUV7DWVlFKOLFKLVWIUNDXPHLQ anderes Weimarer Schauspiel die Überlieferungslage der Uraufführungsmusik ODQJH=HLWGHUDUWXQGXUFKVLFKWLJJHZHVHQ$QWHLOGDUDQKDWWHDXFKGHU7KHDWHUleiter, der vor der Uraufführung programmatisch forderte, dass „immer etwas neues und veränderliches darinn vorkommt, damit bey folgenden Repräsentationen sich niemand orientiren könne“.43 Diese Variabilität in den Aufführungen spiegelte sich besonders in den Chor-, Lieder- und Tanzeinlagen im Soldatenlager wider. Für die „Kriegsmusik“ in der Schlacht verlangte Schiller jedoch 1799 in Wallensteins Tod HLQHQ NRQNUHWHQ 0DUVFK GHU DOV KLVWRULVFKHV =LWDW IXQJLHUW In der Regel wurden in Weimar Schlachtmusiken wie in Schillers Räubern aus dem Theaterfundus arrangiert. Sie waren in historischen Schauspielen für die glaubwürdige Darstellung von Fecht- und Militärszenen unverzichtbar. Doch als das Ende des Protagonisten Max in Wallensteins Tod naht, erklingen mit Come-da-lontano-Techniken der Oper erst „muthige Passagen“, dann nach gefallenem Vorhang der vollständige „Pappenheimer Marsch“ als „Kriegsmusik“.44 Als 'HU %HJULII Å=LWDW´ ZLUG KLHU DOV 2EHUEHJULII IU GLH 9LHOIDOW DQ PXVLNDOLVFKHQ Ausprägungen (wie Kontrafaktur, Parodie etc.) verwendet. Siehe zur näheren Begriffsbestimmung GRUBER, 1998, Sp. 2401-2412. 42 =XU 0XVLNGUDPDWXUJLH LP Wallenstein siehe ausführlicher: SCHMIDT, 2013, S. 746-780. 43 Goethe an Schiller am 5. Oktober 1798, in: NA 8 N III, Dok. 291. 44 NA 8 N I, S. 293 (in h3(T), siehe auch h4(T), beide 1799).

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Beate Agnes Schmidt

Autor der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges (1792) lag ihm besonders an der historischen Einordnung der Handlung; wie die Dekorationen sollten auch die Kostüme authentisch sein. Während die Verwendung historischer Kostüme XPPLWGHQ7KHDWHUOHLWHUQ*RHWKHXQG,IÁDQGLQ%HUOLQQLFKWV8QJHZ|KQliches mehr war und sich zunehmend durchsetzte,45LVWGDVGLUHNWH=LWDWHLQHV historischen, authentischen Marsches aus dem Dreißigjährigen Krieg erstaunlich. Kannten die Musiker der Hofkapelle den Pappenheimer Marsch durch die Hoboistencorps, denen Ende des 18. Jahrhunderts noch einige angehörten? Die Mitwirkung von Militärcorps selbst an der Bühnenmusik, wie es im 18. und 19. Jahrhundert wegen der lärmenden Blas- und Schlaginstrumente für exotische und soldatische Opernszenen vielerorts üblich war,46 ist für Weimar allerdings nicht belegt. 0LWGHU,GHHHLQHVDXWKHQWLVFKHQ0DUVFKHVLQQHUKDOEGHUÀNWLRQDOHQ+DQGlung konnte man nicht nur auf historische Ereignisse verweisen, sondern diese auch politisch interpretieren. Goethe plante etwa einen solchen militärpolitischen Fingerzeig im Dezember 1800 mit der Marseillaise in Voltaires Tancred.47 In der preußischen Haupt- und Garnisonsstadt Berlin ersetzte der Kapellmeister Bernhard Anselm Weber den Pappenheimer Marsch durch den Hohenfriedberger Marsch und aktualisierte Schillers Regieanmerkung. Mit ihm beschwor er JH]LHOWQHEHQGHU=HLW:DOOHQVWHLQVDXFKGLH6LHJH)ULHGULFKV,,YRQ3UHX‰HQ herauf. Webers Veränderung gehört in einen sich im späten 18. Jahrhundert formierenden preußischen Patriotismus der gesellschaftlichen Eliten, der sich vor allem auch auf den doppelten Ruhm Friedrichs des Großen als Heerführer und aufgeklärter Herrscher bezog.48'LHVH=XVFKUHLEXQJZXUGHHUQHXWLP=XJH der preußischen Mobilmachung gegen Napoleon Ende 1805 aktuell, als man

45

46

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=XP+LVWRULVPXVLQGHU:DOOHQVWHLQ5H]HSWLRQDXIGHP7KHDWHUIUGHQ=HLWUDXP von 1799 bis 1914 verfasst derzeit Claudia Sandig (Jena) eine Dissertationsstudie, der ich für Hinweise danke. =X GHQ YLHOIlOWLJHQ %H]LHKXQJHQ ]ZLVFKHQ %KQH XQG 0LOLWlUPXVLN+RERLVWHQcorps im 18. und 19. Jahrhundert noch immer sehr informativ: SCHREIBER, 1938; siehe auch MAEHDER, 1987. *RHWKHIRUGHUWHGLH0DUVHLOODLVHDOV6FKODFKWPXVLNXQGOHW]WHQ=ZLVFKHQDNWGLH seit 1795 französische Nationalhymne war. Nur kurz nach Napoleons triumphalem 6LHJEHL0DUHQJRKlWWHVLH]XGLHVHU=HLWGLHQRUPDQQLVFKHQ(UREHUHU6L]LOLHQVGHU Handlung mit den ganz realen Italienfeldzügen Bonapartes assoziiert. Der Marsch kam aber in Weimar nicht zur Aufführung. Siehe SCHMIDT, 2006b, S. 187. HELLMUTH, 1999.

Schauspielmusik in der „klassischen“ Provinz

gemeinschaftlich Kriegslieder und die preußische Hymne „Heil dir im Siegerkranz“ während der Wallenstein-Aufführungen sang.49 Größere Bedeutung erhielt in diesen patriotischen Feiern auch das ReiterOLHGÅ:RKODXI.DPHUDGHQ´GHV7ELQJHU-XULVWHQ&KULVWLDQ-DFRE=DKQ'DV später vielleicht berühmteste deutsche Soldatenlied war zwar für die Weimarer 8UDXIIKUXQJ HQWVWDQGHQ FKDQJLHUWH MHGRFK YRQ GD DQ ZLH HLQ =LWDW UHJLRQDO wie überregional zwischen realer Lebenswelt und Bühne. Schon während der Proben zog das Reiterlied Schauspieler, Architekten und Theatermaler in seinen %DQQXQGZXUGHHLQUHJHOUHFKWHU6FKODJHUÅ,Q=LPPHUQXQGDQ|IIHQWOLFKHQ2Uten erklang sie überall; Postillone und die Trompeter der Kavallerie bliesen sie XPGLH:HWWHMDVRJDUDXI'UHKRUJHOQZDUVLHKlXÀJ]XK|UHQ´50 Es wurde von den Soldaten während der Mobilmachungen 1806, 1813 und noch 1914 vor Beginn des Ersten Weltkrieges gesungen. Für eine Berliner Aufführung von 1806 ist belegt, dass die Grenzen zwischen irrealer Handlung und Realität schließlich gänzlich verschwammen, als die Soldaten gemeinsam mit den Schauspielern das Reiterlied anstimmten. Für Goethe war die Genese des Reiterliedes zu HLQHPÅDOWHQ*DVVHQKDXHU´VFKRQXQHUWUlJOLFK,QGLHVHU=HLWHUVHW]WHHU =DKQVGXUFK=HOWHUV5HLWHUOLHG'HQQVRZRKO*RHWKHDOVDXFK6FKLOOHUOHKQWHQ zu viel realistische Nähe für die Bühne immer ab und erklärten dem „Naturalism“ den Krieg: „Schein soll nie die Wirklichkeit erreichen. Und siegt Natur, so muß die Kunst entweichen.“51 ,QWHUWH[WXHOOH =LWDWH DXV GHP 7KHDWHUUHSHUWRLUH ZDUHQ LQ HLQHP =HLWDOWHU ohne akustische Dauerbeschallung ungleich subtiler – appellierten diese doch EHZXVVWDQGLH5H]HSWLRQVOHLVWXQJGHU=XVFKDXHUGLHDXVLKUHPRULJLQlUHQ=Xsammenhang gerissenen Musikstücke mit dem neuen Kontext zu assoziieren und zu deuten. Goethe traute dies dem Publikum auch zu, wenn es das zitierte Werk bis dahin nur einmal gehört haben konnte. Dies bestätigen die Erinnerungen der Weimarer Hofdame und Schriftstellerin Amalie von Voigt an die Uraufführung von Wallensteins Lager. Das Soldatenlied verriet ihr sofort, ÅGD‰KLHUHWZDVJDU/XVWLJHVHWZDVGDVPDQGHPHUQVWHQ5HÁH[LRQV'LFKter nie zugetraut hätte, erscheinen werde. Es war gut, daß das Lied mehrere Strophen hat, so konnte das Verwundern sich äußern, das Betrachten sich

49 50 51

SCHMIDT, 2013. VOIGT, 1822, S. 891. SCHILLER, An Goethe, als er den Mahomet auf die Bühne brachte, in: NA 2 I, 6=X*RHWKHVXQG6FKLOOHUV7KHDWHUlVWKHWLNVLHKHBORCHMEYER, 1984. 83

Beate Agnes Schmidt legen, ehe die ersten Verse gesprochen wurden, die sonst gewißlich in den lauten Bemerkungen, die ein Nachbar dem andern mittheilte, verloren gegangen wären.“52

Mit dem Soldatenlied „Es leben die Soldaten“ ‚recycelte‘ Goethe ein Chorlied aus seinem Singspiel Claudine von Villa Bella in der Vertonung Johann Friedrich Reichardts. Das Singspiel war 1795 nach nur einer Aufführung abgesetzt worden.53 Als Goethe Schiller am 5. Oktober 1798 schrieb, für die Eingangsszene in Wallensteins Lager habe er „etwas schickliches [...] zu substituiren“, dachte er bereits an eine Kontrafaktur des Räuberliedes „Mit Mädeln sich vertragen, mit Männern rumgeschlagen“ aus Claudine von Villa Bella. Welche Verse Schiller und Goethe jeweils dichteten, ist jedoch nicht sicher.54 Sowohl das Räuberlied in Claudine von Villa Bella als auch das Soldatenlied besingen das freie, aber zugleich zügellose Leben sozialer Außenseiter, der Wilden und Libertins. Genau diesen Charakter wies Schiller dem Ersten Jäger zu, der die meisten Strophen des neuen Liedes übernahm.55 Wie der Räuberhauptmann Rugantino inmitten seiner Vagabundenbande genießen die Soldaten die Freiheit, jenseits der bürgerlichen Existenz zu leben und sich hemmungslos zu nehmen, was sie bekommen können:

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Aus: Claudine von Villa Bella

Aus: Wallensteins Lager

Mit Mädchen sich vertragen, mit Männern rumgeschlagen, und mehr Kredit als Geld, so kommt Mann durch die Welt.

Es leben die Soldaten Der Bauer giebt den Braten, Der Gärtner giebt den Most, Das ist Soldatenkost.

Mit vielem lässt sich schmausen; mit wenig lässt sich hausen; dass wenig vieles sei, schafft nur die Lust herbei.

Der Bürger muß uns backen, Den Adel muß man zwacken Dein Knecht ist unser Knecht Das ist Soldatenrecht.

VOIGT, 1822, S. 891. Goethe an Reichardt am 21. Dezember 1795, in: WA IV 10, S. 351. *RHWKH DQ 6FKLOOHU DP  2NWREHU  LQ 1$  , 6 I =LWDW  VLHKH GHQ Kommentar in NA 8, S. 417 sowie GENAST, 1862, S. 99-104. 6FKLOOHUDQ=HOWHUDP-XOLLQ1$6'HU(UVWH-lJHU &KULVWLDQ$Xgust Joachim Leißring) sang in der Trinkszene der Uraufführung noch einmal abgewandelt das Lied als Variation der 4. Strophe (NA 8 N 3, S. 759f.) und verschärft damit das Bild der Soldaten als sinnenfreudige Außenseiter der Gesellschaft.

Schauspielmusik in der „klassischen“ Provinz Will sie sich nicht bequemen, so müsst ihr’s eben nehmen. Will einer nicht vom Ort, so jagt ihn grade fort. Tra-la-lal-la-la-la-la.

In Wäldern gehn wir bürschen Nach allen alten Hirschen, Und bringen frank und frey Den Männern das Geweih.

Lasst alle nur missgönnen, was sie nicht nehmen können, und seid von Herzen froh; das ist das A und O. Tra-la-lal-la-la-la-la.

Heut schwören wir der Hanne Und morgen der Susanne Die Lieb ist immer neu, das ist Soldatentreu.

So fahret fort zu dichten, euch nach der Welt zu richten. Bedenkt in Wohl und Weh dies goldne A B C. Tra-la-lal-la-la-la-la.

Wir schmausen wir Dynasten, Und morgen heißt es: fasten Früh reich, am Abend bloß, Das ist Soldatenloos. Wer hat, der muß uns geben, Wer nichts hat, der soll leben, Der Ehmann hat das Weib 8QGZLUGHQ=HLWYHUWUHLE Es heißt bei unsern Festen Gestohlnes schmeckt am besten. Unrechtes Gut macht fett, Das ist Soldatengebet.

Die Kontrafaktur von Reichardts Räuberlied war keine Weimarer Notlösung, sondern bewusst doppeldeutig angelegt: Sie präsentiert mit der parodierten Musik das einfache Soldatenleben als ausschweifendes Räuberabenteuer. Als Eröffnungsszene zeigt es die Soldaten schon vor dem ersten gesprochenen Vers als sittlich verwahrlosten Haufen und verstärkt dramaturgisch deren negatives ,PDJH)U,IÁDQGZDUGLHVHPLOLWlUSROLWLVFKH%ULVDQ]*UXQGJHQXJWallensteins Lager erst einmal in Berlin nicht aufzuführen. Die Erstaufführung vier Jahre später wurde – mit Reichardts Räuberlied nach Weimarer Vorbild – tatsächlich von dem preußischen Militär ausgepocht. 'DV9HUVWlQGQLVGHUlVWKHWLVFKPHKUVFKLFKWLJHQ%KQHQPXVLNGLHLP=LWDW5Hales neben Irreales stellt,56 ist immer abhängig von dem Welt- und Kulturwissen GHV=XK|UHUV'LHVHVKDWWH*RHWKHGXUFKDXVLP%OLFN(UHQWZDUILP.RQtext der Aufführung von Shakespeares Julius CäsarHLQHGUHLWHLOLJH=XVFKDXHU56

=XU %KQHQPXVLN DOV SUDJPDWLVFKH lVWKHWLVFKH XQG GUDPDWXUJLVFKH .DWHJRULH und ihrer Funktion als Realitäts-, Theater- oder Traditionszitat siehe DAHLHAUS, 1992. 85

Beate Agnes Schmidt

typologie: die „rohere Masse“, die „halbgebildeten“ und die „gebildeten“. Während Goethe mit dem an antiken Bildern, Blasmusik und Schauspielern reichen Leichenzug die „rohere Masse“ sinnlich beeindrucken wollte, sollte der Marsch EHLGHQÅKDOEJHELOGHWHQ´LQKDOWOLFK=XJDQJ]XP6WFNYHUVFKDIIHQXQGGHQÅJHbildeten ein geneigtes Lächeln“ abgewinnen.57 Wie unterhaltsam und spektakulär gerade für das breitere Publikum Massenszenen waren, hatte die Berliner Bühne bereits in Nauberts Hermann von Unna (1800), Schillers Die Jungfrau von Orleans (1801) und Kotzebues Die Hussiten vor Naumburg (1802) erlebt. Interessanterweise wünschte sich Goethe am Ende seiner Theaterleitung 1815 zu solch einem herannahenden Kriegsmarsch in seinem Festspiel Des Epimenides Erwachen „das Thema einer Melodie [...], die in Berlin beliebt ist, und den Enthusiasmus der Masse erregt hat.“58 Gerade mit der Forderung nach einem musikalischen Realitätsfragment, das aktuelle ‚Popmusik‘ zitiert, erhoffte sich Goethe sicher, auch die „rohere Masse“ zu erreichen, auch wenn dies seinem knapp 15 Jahre zuvor postuliertem antinaturalistischen Theaterkonzept widersprach. Vielleicht ahnte er bereits, dass er breitere Publikumsgeschmäcker nicht mit diesem Stück begeistern konnte. Denn für Goethes Des Epimenides Erwachen trifft Kotzebues eingangs zitierte Polemik vom großen gelangweilten Publikum durchaus zu: Noch heute gehört es zu den am seltensten gespielten Stücken Goethes.

4. Fazit Das Weimarer Theater unterschied sich als Ort der Unterhaltung, Bildung und *HVHOOLJNHLWNDXPYRQDQGHUHQ+RIWKHDWHUQVHLQHU=HLW*OHLFKZRKOVWDQGPLW Goethe ein national anerkannter Dichter dem Theater vor, der mit seiner Theaterästhetik und seinem Schauspielstil über Jahrzehnte hinaus Schauspieler heUDXVIRUGHUWH DQ GHP VLFK JUR‰H 7KHDWHUOHXWH ZLH ,IÁDQG RULHQWLHUWHQ XQG GLH 6SLHOSOlQH ELV LQV  -DKUKXQGHUW EHHLQÁXVVWH 'RFK ZlKUHQG DQ JU|‰HUHQ Bühnen wie dem Berliner Schauspielhaus aufwendig inszeniert werden konnte, beschränkte sich in Weimar jede Aufführung auf eine kleine Bühne mit wenigen Schauspielern und Statisten. In dem erwähnten Brief an August Wilhelm Schlegel beschrieb Goethe die Weimarer Inszenierung des Julius Cäsar als Aufführung, die die Nebensachen nur symbolisch andeute: Das Weimarer Theater sei, 57 58

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Goethe an A. W. Schlegel am 6. Oktober 1803, in: WA IV 16, S. 319. *RHWKH$FWHQVWFNH]XU(QWVWHKXQJGHV(SLPHQLGHV DQ,IÁDQGJHVDQGW LQ WA I 16, S. 502.

Schauspielmusik in der „klassischen“ Provinz

„wie ein Basrelief, oder ein gedrängtes historisches Gemählde, eigentlich nur YRQGHQ+DXSWÀJXUHQDXVJHIOOW´59 Goethes dramaturgisches Prinzip der „symbolischen Andeutung der Nebensachen“ erklärt auch den Umgang mit Bühnenmusiken. Wo „die Wirklichkeit mehr gefordert wird, wenn das Wahrscheinliche geleistet werden soll“,60 auf der großen Bühne Berlin, kamen „Opernpomp, Balletartige Pantomimen ec“61 im Schauspiel aufs Theater. In Weimar hingegen wurde sparsam komponiert, arrangiert, instrumentiert und auf das Notwendigste reduziert. Orchesterbegleitete Bühnenmusiken waren im Schauspiel selten, Solo- oder Ballettdarbietungen noch sporadischer zu hören. Doch gerade die Weimarer Theaterpraxis zeigt, dass die Beschäftigung mit musikalischen Bearbeitungen nicht weniger lohnend als mit eigens zu einem Schauspiel komponierten Musiken ist. Da Schauspielmusik funktional an die Inszenierung eines dramatischen Textes gebunden ist, hängt sie von der Dramaturgie des Regisseurs und des Dramatikers ab. Auf welche Traditionen und musikalischen Vorbilder diese zurückgriffen, ist im Weimarer Forschungsprojekt an ausgewählten Werken der Weltliteratur im frühen 19. Jahrhundert untersucht worden. Allenfalls in Ansätzen erforscht ist jedoch die übergreifende Frage nach charakteristischen Szenentypen im Sprech- und Musiktheater, die grundsätzlich und gattungsunabhängig Musik verlangten. Ein Überblick über typische Situationen, in denen sowohl im 6FKDXVSLHODOVDXFKLQGHU2SHUGHVXQG-DKUKXQGHUWVKlXÀJJHVXQJHQ wird, steht nach wie vor aus. Wie unterscheiden sich die dramaturgischen FunkWLRQHQ GHU %KQHQPXVLN DOV 5HDOLWlWVIUDJPHQW XQG =LWDW YRQ 6]HQHQW\SHQ LQ Oper und Schauspiel? Wird im Schauspiel tatsächlich früher als in der Oper mit bestimmten Klangfarben und musikalischen Wirkungseffekten experimentiert, weil Normbrüche eher möglich waren? Ein Schauspielabend unterlag durch seiQHQ NRQWLQJHQWHQ (LQKHLWVFKDUDNWHU ]XPLQGHVW HKHU lX‰HUHQ =XIDOOVEHGLQJXQgen als eine Oper. Denn – so Goethe: „Eine Oper hört man überall beynahe als eben dasselbe Kunstwerk; die Schauspiele dagegen klingen auf jedem Theater anders, so daß man sie oft nicht wiedererkennt.“62

59 60 61

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Goethe an August Wilhelm Schlegel am 27.10.1803, in: WA IV 16, S. 335. EBD. Dies erhoffte sich Werner von der Berliner Bühnendramaturgie nach der Weimarer Uraufführung seines Stückes Wanda :HUQHU DQ ,IÁDQG DP  0lU]  LQ FLOECK, 1914, S. 117. Dazu SCHMIDT, 2012b, S. 191f. Goethe an die Hoftheater-Intendanz in Weimar am 24. Februar 1817, in: WA IV 27, S. 357. 87

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Als Theaterleiter nahm Goethe sowohl im Schauspiel als auch in der Oper durchaus Rücksicht auf das breitere Publikum. Aber er behielt sich immer auch vor, trotz vorhersehbarer Misserfolge auf seiner Bühne mit Stücken, ErwarWXQJVKDOWXQJHQXQG'DUVWHOOXQJVIRUPHQ]XH[SHULPHQWLHUHQ=XPLQGHVWLQGLHser Hinsicht könnte sich das Gegenwartstheater mit seinem Autonomieanspruch auf Goethe berufen, wenn es auch sonst mit seinen Schauspielregeln und klassizistischen Reformideen wenig anzufangen weiß.

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Das K.K. Hofburgtheater, die Vorstadtbühnen und die unendliche Vielfalt der Gestaltung von Schauspielmusik in Wien TILL GERRIT WAIDELICH

Die Erscheinungsformen von Wiener Schauspielmusik im 18. und 19. Jahrhundert auch nur annähernd beleuchten zu wollen, wäre ein kühnes Unterfangen: :HLWPHKUQRFKDOVLQYLHOHQDQGHUHQ6WlGWHQLQGHQHQHVK|ÀVFKHXQGEUJHUOLche Theatertraditionen gab, war durch die zahllosen Bühnen eine Mannigfaltigkeit gewährleistet, die in ihrer Gesamtheit schlechterdings nicht darstellbar ist. Es können in diesem Rahmen daher also nur auszugsweise ein paar Phänomene zur Sprache kommen sowie allgemeinere Bemerkungen und einige Gedanken zu den erwähnten Werken geäußert werden.1 Schließlich ist es dann jedoch möglich, anhand zweier mehr oder minder zufällig überlieferter Konvolute, die beide in engem Zusammenhang mit dem Burgtheater und einer in der Wiener +RIWKHDWHUJHVFKLFKWHVHKUHLQÁXVVUHLFKHQ3HUV|QOLFKNHLWVWHKHQQRFKDXIHLQzelne durchaus wissenswerte Vorfälle zu verweisen, die sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zutrugen, jener Zeit, in der nicht nur wichtige österreichische Dramatiker aktiv waren – darunter Ferdinand Raimund, Franz Grillparzer und Johann Nestroy –, sondern auch ein Beethoven und Schubert Schauspielmusik schrieben, um die es hier im Grunde weder gehen kann noch soll. Vielmehr wird angedeutet, wie es um den musikalischen Alltag in den verschiedenen Theatern und namentlich im Burgtheater bestellt war, als es der Musik zu Dramen bedurfte, die noch heute einem „klassischen“ Kanon zugerechnet werden. Es liegt aber

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Auf folgende wichtige ältere und neuere Literatur sei hier verwiesen: BRANSCOMBE, 1976; HÖSLINGER (Hg.), 1976. 93

Till Gerrit Waidelich

auf der Hand, dass man zugleich in weit größerem Maße Musik für das Tagesrepertoire benötigte, das dem Publikum primär zur Erbauung und Unterhaltung diente und den Schauspielern zur Präsentation ihrer Kunstfertigkeit. Hier wäre an Stücke zu denken, die es kurzzeitig zu Popularität brachten, aber schließlich DXFK]X3URGXNWHQGLHPDQPHKURGHUPLQGHUUHLFKGXUFK0XVLNDXVVWDIÀHUWH die es aber gleichwohl nicht über wenige Vorstellungen hinausbrachten. Wo wird man fündig, wenn man nach den Quellen zur Schauspielmusik in Wien sucht? Überall dort, wo Materialien aus Theater- und Musikarchiven, die inzwischen nicht mehr auf der Bühne erscheinen, ver- und bewahrt werden. Einerseits sind das Manuskripte unterschiedlichster Art, die ursprünglich als Aufführungsmaterial herangezogen wurden. Andererseits sind es Beschreibungen, Theaterzettel, Almanache und Rezensionen in diversen Periodika. Und schließlich gibt es auch „Vorgänge“ in den Akten der Hoftheaterverwaltung, die ZLHVRQVWLJH%HVWlQGHZHOFKH%HODQJHGHUK|ÀVFKHQ9HUZDOWXQJEHWUHIIHQLQ-

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Schauspielmusik in Wien

zwischen im Österreichischen Staatsarchiv, insbesondere dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv verwahrt werden.2 Aber die Unterschiede zwischen jenen Materialien, die überliefert sind, sind sehr markant, denn es klafft sehr weit auseinander, was in der Theaterpraxis erforderlich oder eben (nur) wünschenswert war. In den Theatern früherer Jahrhunderte gab es oft genug keine Räumlichkeiten (Foyers), in denen man in einer Pause hätte wandeln können. Es bedurfte daher anlässlich der Unterbrechung der Handlung zur Entspannung durchaus unterhaltender Musik, die „beiOlXÀJ´ÅIHVVHOQG´RGHUÅPLWUHL‰HQG´VHLQNRQQWH6RJLEWHVUHLQSUDJPDWLVFK motivierte, völlig beliebig verwendbare und gestaltete Musik jeglicher Faktur, die einfach benutzt wurde, um während der gegebenenfalls nötigen Erholung der Darsteller oder Besucher etwas „erklingen“ zu lassen, in jenen Zeiten, in denen die „Retiraden“ (sanitären Anlagen) aufgesucht werden konnten. Dem Bedürfnis nach solcher Musik trugen aber auch manche Komponisten explizit Rechnung, die einfach Musik zum Gebrauch für Zwischenakte schlechthin ver|IIHQWOLFKWHQRKQHGDVVGLHVHVSH]LÀVFKHLQHP:HUNRGHU²GXUFK%H]HLFKQXQJ² einem Affekt zugeordnet worden wäre. Für den Zweck des Pausenfüllens eignete es sich aber auch, dass einzelne Sänger oder Instrumentalmusiker sich – nach vorherigem Ansuchen bei der Theaterverwaltung und nach der gegebenenfalls erfolgten Bewilligung – mit Arien, Ensembles oder (teils virtuosen, teils trivialen) Konzertstücken vorstellten, sich „produzierten“, wie man es damals nannte, teilweise auch als (minderjährige) Debütanten. Andererseits aber gab es in reicher Fülle und gleichermaßen unterschiedlichster Faktur das, was sich die Autoren und Dramentheoretiker als ideelle Überleitung zwischen den verschiedenen Handlungen der Akte vorstellten. Man sollte bei der Erwägung, welche Musik für welchen Anlass passend war, berücksichtigen, dass die Strukturierung einer Dramaturgie zum Teil wesentlich davon abhing, welche technischen Voraussetzungen den Bühnen des 18. und 19. Jahrhunderts zu Gebote standen, was man noch etwa in Aufführungen des Schlosstheaters zu Drottningholm nachvollziehen kann. Konkret heißt das: der meist kontinuierliche Wechsel zwischen Massenszene und Individualszene, auch zwischen heroischen Tableaux und – z.T. komischen – Intermezzi der sozial niedriger stehenden Figuren etwa war nicht selten der Tatsache geschuldet, dass man wegen der Kulissen- und Gassenbühne einen steten Wechsel zwischen „lang“ und „kurz“, Vordergrund und voller Bühnentiefe unternahm: Während 

=DKOUHLFKHUHOHYDQWH6FKULIWVWFNHÀQGHWPDQLP:LHQHU+DXV+RIXQG6WDDWVDUchiv in den Akten der Hoftheater, Generalintendanz, hier auch in der sogenannten Sonderreihe, anderes in jenen des Obersthofmeisteramtes. 95

Till Gerrit Waidelich

man vor der ersten Kulisse meist im Blickkontakt zum erleuchteten Auditorium spielte, war es möglich, dahinter sogar praktikable Aufbauten herzurichten, die dann in Sekundenschnelle sichtbar werden oder auch verschwinden konnten. Dreidimensionale Aufbauten wurden nach Möglichkeit vermieden, und wenn sie vorkamen, dann in der Regel zu Beginn eines Aktes: In Schikaneders =DXEHUÁ|WHQ-Libretto sind nur ganz wenige „praktikable“ Kulissen vorgeschrieben: einmal die „gangbaren Berge“ im ersten Bild, dann im zweiten Akt an zwei Stellen zwei große Türen, durch die man schreiten konnte – normalerweise kam man aus einer der Gassen. Ansonsten funktionierte alles nach dem Prinzip der Kulissenbühne „wie am Schnürchen“. Zu beachten ist jedoch, dass es der heute in vielfacher Gestalt überlieferten ausführlichen Zwischenakte keineswegs bedurft hätte, um etwa aufwändigere Umbauten zu bewerkstelligen. Wie viele Beispiele aus den Partituren dieser Zeit lehren, waren für die Verwandlungen von kleinen Kämmerchen in große Festsäle, Gärten, Wälder oder Friedhöfe oft nur wenige Takte Musik vorgesehen, teilweise genügten dafür sogar schon die oft nur wenige Takte langen Einleitungsritornelle sonstiger Musiknummern. Beliebig verlängerbare Musikstücke für Wandeldekorationen, wie sie Richard Wagner 1882 für Parsifal forderte, waren also keineswegs nötig. Von Zeit zu Zeit, wenn es irgendwo hakte, dürften die Orchester auf den Hinweis ihrer Konzertmeister manche Nummer spontan wiederholt haben. Vielleicht machen wir uns falsche Vorstellungen von der Musikalität und den Singleistungen der Schauspieler um 1800. Der Gesangsstil von Schauspielern und Sängern klaffte im frühen 19. und bis ins 20. Jahrhundert hinein wohl nicht so weit auseinander wie heute: Die Darstellerin des Klärchen der Wiener Erstaufführung von Goethes Trauerspiel (JPRQW mit Beethovens Musik am 15. Juni 1810 war ja Antonie Adamberger. Sie war nicht nur die Braut Theodor Körners, sondern auch Tochter Valentin Adambergers, des ersten Belmonte in Mozarts (QWIKUXQJ DXV GHP 6HUDLO. Man kann davon ausgehen, dass die Adamberger als Sängerin Beethovens Anforderungen gerecht wurde. Und angesehene Sopranistinnen wie Anna Milder-Hauptmann und Catinka Buchwieser traten in Wien gelegentlich auch in einer Schauspielrolle auf, und im Gegenzug vermochte die Schauspielerin Sophie Müller – zumindest im privaten Rahmen – Lieder von Schubert zu singen. Im Ausnahmefall kann Schauspielmusik auch virtuose Interpreten erforGHUOLFK PDFKHQ HWZD KRFKTXDOLÀ]LHUWH .RORUDWXU6lQJHULQQHQ 'DV :LHQHU Gelegenheitsstück 'HU6FKDXVSLHOGLUHNWRUvon Gottlieb Stephanie dem Jüngeren (1786) ist ja kein Mozart-Singspiel, sondern ein veritables Schauspiel über Künstler-Eitelkeiten, in dem wegen zweier konkurrierender Sängerinnen zwei 96

Schauspielmusik in Wien

$ULHQYRUNRPPHQPLWGHQHQVLHVLFKSURÀOLHUHQZROOHQVFKOLH‰OLFKQRFKHLQ ähnlich orientiertes Terzett und eine Finalnummer. Musik zu Texten aus Dramen ist allerdings nicht per se Schauspielmusik: Zu Schuberts Kompositionen auf Texte aus Goethes )DXVW, darf man wohl sagen, dass Schubert zwar das ganze Drama gelesen haben dürfte und die Zusammenhänge gleichsam mitdachte.3 Aber bei den meisten der Kompositionen macht schon die im Theater minder taugliche Klavierbegleitung deutlich, dass diese Nummern nicht für eine szenische Gesamtaufführung konzipiert waren, sondern lyrische Exzerpte aus dem Drama darstellen. Das gilt wohl insbesondere für Gretchens Gesänge .|QLJ LQ 7KXOH, 0HLQH 5XK· LVW KLQ sowie $FK QHLJH 'X 6FKPHU]HQVUHLFKH. Ein Sonderfall sind da noch die Szene zwischen Mephisto und Gretchen unter Einbeziehung des Chors sowie der von Schubert unabhängig davon in Musik gesetzte „Chor der Engel“. Ähnlich verhält es sich mit Conradin Kreutzers )DXVW-Vertonungen, die nicht annähernd theatergemäß konzipiert sind.4 Kreutzer war das selbst bewusst, zumal er einerseits Theatermann war und zum anderen auch die Theatermusik des Fürsten Radziwill zu )DXVW kannte. In Musiker-Gesamtausgaben hat es sich durchgesetzt, vollständige Stücktexte innerhalb der Partiturausgaben von Schauspielmusiken vorzulegen. Es sei hier auf die Entscheidung von Harald Heckmann verwiesen, im Rahmen der 1HXHQ 0R]DUW$XVJDEH den kompletten Text von Tobias Philipp von Geblers kaum zugänglichen „heroischen Drama“ 7KDPRV .|QLJ LQ (J\SWHQ (Uraufführung 1774) abzudrucken, dies integriert in die Partitur und nicht als Appendix der Ausgabe.5 Eine solche Editionsentscheidung führt dann zwar (fast) nie zu vollständigen Darbietungen des Gesamtwerkes in all seinen Dimensionen, aber es führt zu einer etwas angemesseneren Wahrnehmung der Funktion dessen, was die Partitur der Musik mitteilt. Für die Probleme von literaturwissenschaftlichen Editionsvorhaben mit der Schauspielmusik gibt es aus der Wiener Germanistik aufschlussreiche Beispiele: Die Ausgabe der Werke von Raimund kann für die musikalischen Einlagen in den Stücken oft auf einen gesicherten Notentext zurückgreifen, der fraglos zum Werk gehört, man denke an Drechslers Lied „So leb’ denn wohl, du liebes 3

4 5

Lieder für Singstimme und Klavier: Gretchen am Spinnrade („Meine Ruh’ ist hin“), D 118 (1814); Szene aus Goethes Faust („Wie anders, Gretchen“), D 126 (1814); Gretchens Bitte („Ach neige“), D 564 (1817); Singstimmen mit Klavier: Chor der Engel („Christ ist erstanden!“), D 440 (1816). Vgl. SEEDORF, 2014. HECKMANN, (Hg.), 1956. 97

Till Gerrit Waidelich

Haus“ im $OSHQN|QLJXQG0HQVFKHQIHLQG (1828) oder gar Conradin Kreutzers Musik zum 9HUVFKZHQGHU (1834).6 Die Nestroy-Ausgabe steht dagegen oft vor viel größeren Problemen:7 Viele Couplets waren fast ausschließlich tagesaktuellen Anspielungen gewidmet; das Herzstück der Partituren zu den Possen von ihm und anderen ist ja oft das sogenannte Quodlibet, welches sich natürlich aus Zitaten und Anspielungen aus dem zeitgenössisch populären Musik- und primär Opern-Repertoire zusammensetzt. Selbst wenn dort teils sogar Werke zitiert werden, die noch heute bekannt sind – Opernnummern von Mozart, Beethoven, Wagner und Verdi –, dann spielen die Quodlibets oft auf inzwischen nicht mehr gebräuchliche Floskeln aus alten Übersetzungen und zeitgenössische Inszenierungsmethoden an. Und für das Theaterpublikum haben die Quodlibets ja nur dann einen Sinn, wenn gewährleistet ist, dass das Publikum mit den Anspielungen etwas anzufangen weiß und Konkretes assoziiert, das, was ursprünglich gemeint war und das, auf was es sich nunmehr bezieht, in gegenseitige Relation setzt. Wer im 20. und 21. Jahrhundert derartige Werke einstudiert, macht(e) sich dieses Grundprinzip der Anspielung nach wie vor zu eigen: Eine Aufführung von Carl Meisls „travestierter“ =DXEHUÁ|WH in Laxenburg griff in den letzten Jahren auch auf Nummern aus Andrew Lloyd Webbers 3KDQWRPRIWKH2SHUD oder das Musical (OLVDEHWK zurück. Eine germanistisch-philologisch akzeptable Nestroy-Ausgabe hingegen muss die historisch verbürgten und überlieferten Anspielungen dokumentieren. Dabei stellt sich die Frage, ob wir Szenisches – wie die Inszenierung, das Arrangement einer Aufführung – und auch Szenographisches – wie Bühnenbildentwürfe für eine Uraufführung – für so werkhaft halten können und müssen, dass sie in Editionen mit einbezogen werden sollten: Es bedürfte dann natürlich aufwendigster Farbreproduktionen dieser Entwürfe – von denen ja oft sogar nur der gemalte Hintergrundprospekt berücksichtigt werden kann –, und es bedürfte eines fundierten kunsthistorischen sowie theaterwissenschaftlichen Apparates. Zu fragen bleibt, ob solches zu leisten ist und ob Verlage das realisieren wollen oder auch nur könnten, zumal oft auch weder die authentische Überlieferung gewährleistet ist noch die Qualität dieser aufführungsgeschichtlichen Quellen eine Dokumentation erlaubt, wie sie bei Künstlern vom Range eines Schinkel, Quaglio und zahlreichen bedeutenden italienischen und französischen Szenographen sehr wohl einleuchtet.

6 7 98

Eine kritische Ausgabe der Dichtung ist in Vorbereitung; eine Edition der Musik soll in den Denkmälern der Tonkunst Österreichs erscheinen. HEIN/ZUMBUSCH-BEISTEINER, 1998.

Schauspielmusik in Wien

Auf den Punkt gebracht: Wie bei der Schauspielmusik selbst stellt sich die Frage, was an diesen Dingen substantiell und was akzidentiell ist. Vom Standpunkt des musikwissenschaftlichen Editors ist substantiell, was aus literaturwissenschaftlicher Sicht akzidentiell sein kann, da es oft nur für eine Inszenierung konzipiert wurde. Und doch kann sich das Verhältnis auch umkehren: Germanisten würden zweifellos bei Chézys 5RVDPXQGH urteilen, dass sie inzwischen nach fünfzig, hundert oder gar zweihundert Jahren fast nur noch wegen der Musik Schuberts interessiert. Betrachtet man dann auf Theaterzetteln und in AlmaQDFKHQ]XZHVVHQ%HQHÀ]GLH$XIIKUXQJHQVWDWWIDQGHQGDQQVLQGGDRIWPDOV nicht nur Darsteller, sondern auch Ausstatter und Maschinisten genannt, oder diejenigen, die für die Illuminierung zuständig waren. Theaterwissenschaftler und Kunsthistoriker würden also die Frage der Werkhaftigkeit überhaupt und von Werkhaftigkeit und Akzidentiellem von einem anderen Standpunkt aus zu betrachten haben. Aus dem Theater an der Wien sind Theaterzettel der 1820er Jahre überliefert, die auch damit werben, dass als Entreakts vier bis fünf große „neue“ Ouvertüren gespielt würden. Da konnte man an einem Abend etwa die Instrumentalvorspiele von Carl Maria von Webers Opern (XU\DQWKH und 2EHURQ, weiter eine Ouvertüre von Daniel-François-Esprit Auber sowie zwei Ouvertüren von 99

Till Gerrit Waidelich

Ignaz von Seyfried und anderen hören. Aber möglicherweise wurde bereits bei der nächsten Vorstellung desselben Werks ein paar Tage später eine der Ouvertüren, aus welchem Grund auch immer, ausgetauscht oder auch nur weggelassen. Bei anderen Werken, deren künstlerischer Rang sich auch nicht unbedingt vor den vorgenannten auszeichnete, vergab dieselbe Institution Aufträge zu einheitlichen, von einem Komponisten speziell konzipierten und komponierten Schauspielmusik, das bekannteste Beispiel für diesen Zeitraum ist Franz Schuberts Musik zu Helmina von Chézys 5RVDPXQGH 1823, die einschließlich der Ouvertüre aus elf Nummern besteht, die zu gleichen Teilen während und „zwischen“ der Handlung erklingt. Und möglicherweise erfolgte die Uraufführung von Schuberts sogenannter „kleiner“ C-Dur-Sinfonie D 589 Mitte der 1820er Jahre durch das Orchester des K.K. Hofburg-Theaters. Joseph Hüttenbrenner glaubt, dies bezeugen zu können, und zwar in seinem Entwurf zu einem Nachruf auf Schubert von Ende 1828.8 Es heißt hier, dass die Sinfonie „vor einigen Jahren“ dort aufgeführt worden sei, also bereits einige Zeit vor der bislang als Uraufführung geltenden Darbietung vom 14. Dezember 1828, kurz nach Schuberts Tod. Es ist, angesichts der Praxis, zahlreiche Werke – ohne Nennung der Komponisten – anonym als Zwischenakte oder Ouvertüren zu verwenden, durchaus erwägenswert, dass man das Werk auf diese Weise darbot, vielleicht bei einem fünfaktigen Schauspiel, bei dem alle vier Sinfonie-Sätze einen geeigneten Platz gefunden hätten. Bislang gelang es aber nicht, geeignete Belege für diese BeKDXSWXQJ+WWHQEUHQQHUV]XÀQGHQ

Pragmatisch-idealistische Partituren und Konzepte – Ignaz Franz von Mosels Kampf um rechtliche und organisatorische Rahmenbedingungen der Schauspielmusik im Burgtheater Als der Wiener Kaiserhof 1821 den Entschluß fasste, sein Opernhaus, das K.K. Hoftheater am Kärntnertor, an den Impresario Domenico Barbaja aus Neapel zu verpachten, standen viele Maßnahmen an, die Verwaltungsstrukturen zu verändern. Zahlreiche Entscheidungen betrafen gerade auch das musikalische Personal des Burgtheaters. Abgesehen von Seiner Exzellenz, dem Herrn Rudolph Grafen von Wrbna und Freudenthal in seiner Eigenschaft als k.k. Oberstkämmerer, stand gemeinsam mit Moritz Graf Dietrichstein der Hofbeamte und Komponist Mosel (1772–1844) an der Spitze der Administration 8 100

WAIDELICH, 2001.

Schauspielmusik in Wien

der beiden Theater und versuchte seine gegebenenfalls vorhandene Entscheidungsbefugnis zur Durchsetzung ästhetischer Maximen im Spielplan und zur Förderung „vaterländischer” Talente einzusetzen.9 Einzelne private Notizen sind überliefert, die Mosels Aktivitäten widerspiegeln. Zu erwähnen ist etwa, dass der bekannte Schauspieler Carl Ludwig Costenoble am 18. Februar 1825 anlässlich der Hauptprobe von Grillparzers 2WWRNDU bemerkte: „Hofrath Mosel hat eine schöne 2XYHUWXUH zum Ottokar komponirt u das Volkslied: Gott erhalte Franz den Kaiser, mit hineinverwebt. Das wird rasend gefallen!“10 Genannt sei hier auch die aus Franz Schuberts Umfeld bekannte Sophie Müller (1803–1830), die seit 1822 als Schauspielerin im Burgtheater wirkte. Sie war eine jener sehr musikalischen jungen Schauspielerinnen, über die es eine JDQ]H5HLKHYRQ6FKULIWVWFNHQJLEWGLHLKUH4XDOLÀNDWLRQLQGLHVHU+LQVLFKW dokumentieren. Ihr Tagebuch wurde nach ihrem sehr frühen Tod von Johann Graf Mailáth in Auszügen ediert.11 Die Müller vermerkte in ihren Notizen, dass sie einerseits privat Lieder gesungen, andererseits jedoch auch für die Darbietung im Theater einstudiert hatte. Schon auf der Innenseite des Umschlags eines Jahrgangs ihres Tagebuchs, das handschriftlich überliefert wurde,12ÀQGHW sich der Hinweis, dass sie als Neujahrspräsent „Moßels Lieder“ an einen Freund verschenkt oder diese von ihm bekommen hatte. Und die Müller besuchte in diesem Winter mehrfach den Hofrat Mosel, dessen Liedeinlage in Schillers 'RQ&DUORV sie am 22. Februar zur Gitarre einstudierte und zwei Tage später im Burgtheater auch sang, um anschließend jedoch selbstkritisch zu vermerken, dass sie schlecht gespielt, Mosels Lied hingegen gefallen habe. Am 17. März hat sie offenbar in Adam Öhlenschlägers Trauerspiel &RUUHJLR und am 18. in Kleists .lWKFKHQYRQ+HLOEURQQ wieder Lieder dargeboten. Die Aktenbestände des Österreichischen Haus-, Hof- und Staatsarchivs, auch jene für die 1820er Jahre, die das Burgtheater betreffen, sind umfangreich und enthalten zahllose Eingaben, Befürwortungen, Bewilligungen, Abrechnun9

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Vgl. ANTONICEK, 1962. Eine Darstellung von Mosels Tätigkeit im Burgtheater unternimmt Antonicek in seiner Arbeit auf S. 170-196, ein Verzeichnis der relevanten Kompositionen erfolgt auf S. 607-616; Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Handschriftensammlung, Jc 59759, Blatt 315r. Ein Teil ihrer Notizen ist in einem 1832 editierten Gedenkbuch: MAILÁTH (Hg.), 1832. Die Müller notierte ihre Aufzeichnungen später in diesem gedruckten Kalender, hieraus sind die Informationen bezogen (Österreichische Nationalbibliothek, Wien, Handschriftensammlung, Cod. S. n. 105). „Neuester Schreibkalender auf das gemeine Jahr 1826“. 101

Till Gerrit Waidelich

gen. Vieles davon ist von Ignaz von Mosel und Moritz Graf Dietrichstein verfaßt oder zumindest eigenhändig unterschrieben.13 Es gibt sogar die Rubriken „Composition“, „Copiatur“, „Musikererforderniß“ etc. auf den vielfach überlieferten monatlichen Formularen der „K.K. Hofburgtheater-Cassa-Rapporte“, doch dieVHV$NWHQNRQYROXWHQWKlOWNHLQH(LQWUlJHGLHDXIHLQHÀQDQ]LHOOH9HUJWXQJGHU Komponisten und Arrangeure eingehen. Angaben darüber, welcher Musikstücke man sich bediente, sind dort gleichfalls nicht überliefert. Wie so oft klaffen jedoch bei der Frage, wie Schauspielmusik beschaffen sein möge, selbst bei Mosel, der sich einer normativen Ästhetik verschrieben hatte, Theorie und Praxis auseinander: Derselbe Mosel, der 1812 in seinem Ver VXFKHLQHU$HVWKHWLNGHVGUDPDWLVFKHQ7RQVDW]HV (in dem es allerdings primär um die „Gattung“ Oper geht) seinen Komponistenkollegen ins Gewissen redete, in ihrer Musik stets einen eigenen, an der Dramaturgie, dem Sujet und GHU'HNODPDWLRQRULHQWLHUWHQ7RQ]XÀQGHQ14 – derselbe Mosel scheute sich in den 1820er Jahren keineswegs, bei seinen Schauspielmusik-Arrangements für das Burgtheater auf Klavier-, Kammer-, Opern- oder Oratorienmusik anderer Meister zurückzugreifen. Dabei bediente er sich etwa für das Stück =ZH\1lFK WH LQ 9DODGROLG der orchestrierten Beethovenschen Klaviersonate 3DWKHWLTXH, für Pedro Calderóns 7RFKWHUGHU/XIW oder Michael Beers Paria Schubertscher Klavier-Märsche und für 'LHEHLGHQ)LJDUR von Friedrich Wilhelm Jünger der Mozartschen )LJDUROuvertüre. Während die Herkunft und Quellen seiner Musik auf den Theaterzetteln, wo sogar sein Name als Arrangeur der Musik unterdrückt war, natürlich nicht angegeben wurden, vergisst Mosel keineswegs, alle ursprünglichen Autoren seiner Zitate gewissenhaft und akribisch nachzuweisen, und zwar in einem in der Wiener Nationalbibliothek überlieferten Band mit eigenhändigen Niederschriften seiner Schauspielmusik-Arrangements, bei den Beethoven- und Schubert-Verwertungen sogar unter Angabe der authentischen Opusnummern (s.u.). Sicher kalkulierte Mosel aus ideellen Gründen genau, welchen Charakter und welche Funktion seine verschiedenen Musikarrangements haben sollten, und er war sich bei einer Reihe von Zitaten bewusst, dass diese nicht nur von GDUDXIVSH]LDOLVLHUWHQ3ODJLDWVMlJHUQLGHQWLÀ]LHUWZHUGHQNRQQWHQVRQGHUQHEHQ auch vom einfachen Besucher: Mosel rechnete nicht nur damit, dass die Anspielungen verstanden wurden, er durfte es erwarten und setzte die Anleihen sogar 13 14

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Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Akten, Hoftheater, Generalintendanz 1822, 408. Mosel hat seine Maximen auch mit einer exemplarischen Oper aus eigener Feder unterstrichen – seiner „lyrischen Tragödie“ Salem (1813). Die Druckausgabe trägt die Jahresangabe 1813.

Schauspielmusik in Wien

pointiert ein. Andererseits aber hatte er sich durch den Paragraphenwust der Hoftheaterverwaltung gearbeitet, der exakt festlegte, was überhaupt wann und wo erklingen durfte. Und diesen Aspekt gilt es durchaus mit zu beachten, wenn man die gegenständlich überlieferte Musik betrachtet. Als man sich 1821/1822 anschickte, das zuvor oft wechselweise in beiden Hoftheatern wirkende Musikerensemble kategorisch dem einen oder anderen Haus zuzuweisen, hatte das nicht nur für einzelne Personen gravierende Folgen, die nun nicht mehr berechtigt waren, sowohl hie als auch da mitzuwirken. ImPHUKLQZXUGHQXQPLQGHUTXDOLÀ]LHUWHQRGHUDXFKlOWHUHQ0XVLNHUQLP6FKDXspielorchester noch Unterschlupf gewährt, die Entscheidung über ihr Wohl und Wehe trafen unter anderem Joseph Weigl und seine Kapellmeisterkollegen. So war es dann aber auch nicht möglich, wie das in den Theatern an der Wien und in der Josephstadt üblich war, Opern- und Schauspielmusik auf weitgehend gleichem Niveau zu präsentieren. Überraschend dürfte für viele, die die Akustik des alten Burgtheaters immer in verklärter Erinnerung hatten, die drastische Stellungnahme eines Kenners gewesen sein, die allerdings nur in einer privaten Mitteilung überliefert ist: Als Conradin Kreutzer 1849 in einem Brief an Leopoldine Tuczek die in seinen Augen katastrophalen Bedingungen des Theaters zu Riga erläutern wollte – bekanntlich jenes Hauses, das Richard Wagner 1837 IUVHLQHVSH]LÀVFKHQ,GHHQDOVVRLQWHUHVVDQWZDKUJHQRPPHQKDWWHGDVVHUVLFK für das Bayreuther Festspielhaus darauf berief –, die akustischen Gegebenheiten des Rigaer Hauses also empfand Kreutzer explizit als noch schlimmer als die seiner Auffassung nach bereits grenzwertigen des Wiener Burgtheaters.15 Die hier thematisierte problematische Akustik des Burgtheaters für MusikGDUELHWXQJHQXQGGLHZHQLJHUTXDOLÀ]LHUWHQ0XVLNHUZlUHQEHUHLWV*UXQGJHQXJ gewesen, an Partituren, die für das Haus geschrieben wurden, erheblich geringere Ansprüche zu stellen. Aber auch in rechtlicher Hinsicht gab es beträchtliche Einschränkungen: Der Abstand zur Oper sollte stets deutlich wahrgenommen werden und nicht nur allenfalls und mittelbar erkennbar sein. So war eine Begleitung der Gesänge, die immerhin zum Teil einen unabdingbaren Bestandteil der Stücke bildeten, durch das vollständige Orchester entweder nicht 15

Kreutzer schreibt: „das traurigste“ sei für seine Tochter, die Sopranistin Marie „das schlechte Theater Gebäude – das in Hinsicht der Akustick – des Klanges, das allerschlechteste ist, was ich jemals gefunden habe – es übertrifft noch das BurgTheater in Wien – das ist nun für die Sänger sehr unangenehm und ermüdend – glücklich sind noch diejenigen, derer Stimme leicht anspricht, und für sich schon helle klingt, wie es nun bei Marien der Fall ist.“ Brief vom 8. April 1849, Autograph, D B Mus. ep. Konradin Kreutzer 42. 103

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erwünscht oder vielmehr geradewegs verboten, und auch eine Mitwirkung von Opern-Choristen in den oft anspruchsvollen Chören war nicht mehr gestattet. Zwar mag die Forderung, diese Beteiligung von Kräften der Oper zu unterbinden, primär daher rühren, dass ein Barbaja und Duport über die Gebräuche im deutschsprachigen Schauspielwesen nicht genügend informiert waren, aber sie nutzten nun tatsächlich aus, dass einige Paragraphen im Pachtvertrag diese Gegebenheiten nicht wirklich regelte. Datiert mit dem 12. Jänner 1822 gibt der Vermerk Auskunft über den Vorgang, in dem sich ein interner Machtkampf zwischen den nunmehr getrennten Theaterverwaltungen auf das Anschaulichste widerspiegelt: „Die k.k. Hoftheater Direction bittet um hohe Weisung wegen der von der Pachtungs Adm[inistr]a[ti]on des kk. Kärntnerthortheaters angefochtenen Aufführung der Schauspiele mit Chören.“16 Noch am gleichen Tag fühlte sich Mosel zu einer detaillierten Eingabe an seinen Chef, den Grafen Wrbna, bemüßigt: +RFKJHERUQHU*UDI *QlGLJHU+HUU Unter den von Sr. ([FHOOHQ], dem Herrn Hoftheater-Director, zu künftiger Aufführung bestimmten Werken sind die Schauspiele: 'LH +X‰LWHQ YRU Naumburg, das noch im Laufe dieses Monats, und 3UHFLRVD, das späterhin erscheinen soll; beide mit Chören, wovon erstere schon früher auf dem Hofburgtheater gegeben, von dem Hofkapellmeister 6DOLHUL, letztere von Hrn. YRQ Weber, dem Tonsetzer des )UH\VFKW]HQ, componirt sind. Beide diese Schauspiele lassen bei der vorhabenden Rollenbesetzung die größte Theilnahme und folglich bedeutenden Vortheil für die Hoftheaterkasse hoffen. Nun aber soll, dem Vernehmen nach, die Pachtungs-Administration des Kärntnerthor-Theaters gegen die Aufführung dieser zwey Schauspiele, aus dem unstatthaften Grunde, weil Chöre dabei sind, Schritte machen. Der 7te. § des Pacht-Contractes, welcher dem Pächter die Befugniß ertheilt, italienische Opern und Ballete auch auf einem Vorstadttheater zu geben, sagt zwar: „Dagegen soll weder im k.k. Burgtheater noch in einem anderen öffentlichen oder etwa nun entstehenden Theater in der Stadt etwas anderes als recitirendes Schauspiel gegeben werden;“ allein wenn auch zur vollkommenen Darstellung obgenanter zwey Spektakel gesungene Chöre nöthig sind, gehören sie doch nichts destoweniger um so gewisser streng zur Gattung der 16 104

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Schauspielmusik in Wien recitirenden Schauspiele, da die Hauptrollen für Schauspieler, und zwar für solche vom ersten Range geschrieben sind. Die +X‰LWHQ wurden bereits früher auf dem Hofburgtheater gegeben, und noch ist das meisterhafte Spiel der 5RRVH und des %URFNPDQQ im Andenken aller Theaterfreunde. In den Schauspielen 'RQD 'LDQD, 'RQ *XWLHUH, 'DV1DFKWODJHULQ*UDQDGD, sämmtlich seit lange auf dem 5pSHUWRLUH des Hofburgtheaters, kommen Chöre und einzelne Lieder vor, ohne dass man darum jemals gezweifelt hätte, daß sie auf das Schauspiel-Theater gehören. Mehrere Theaterliebhaber haben, und mit Recht, gewünscht, daß die Chöre in Schillers %UDXWYRQ0H‰LQD in Musik gesetzt seyn möchten; wodurch es niemals aufhören würde, ein recitirtes Trauerspiel zu seyn; die Tragödie 0DFEHWK wird auf mehreren Schauspieltheatern mit den gesungenen Chören von 5HLFKDUG oder *DOOXV aufgeführt; und selbst in Paris, wo die Spektakel so scharf geschieden sind, wie nirgends, wird 5DFLQH·V$WKDOLH, mit den Chören von 6FKXO], auf dem, einzig dem recitirten Schauspiele gewidmeten 7KpDWUH IUDQoDLV gegeben. Sollten derley Werke von dem Hofburgtheater ausgeschlossen werden; so würde es gerade die höchste, erhabenste Gattung dramatischer Dichtungen, und eine der günstigsten Gelegenheiten entbehren müssen, die ausgezeichneten Talente, welche es besitzt, in ihrem vollen Glanze erscheinen zu machen. Es kann daher kein Zweifel obwalten, daß Spektakel, worinn die Schauspielkunst, und die Declamation die Hauptsache, Musik aber nur die verschönernde Nebensache ist, worunter auch die Melodramen, |:wie schon in früherer Zeit: 0HGHD, $ULDGQHDXI1D[RV u. a. waren:| dem Hofburgtheater zustehen; ja wollte man sie von dort verbannen, so würden diese interessanten Schauspielgattungen in den Stadt-Theatern gar nicht gegeben werden können, da das Privilegium des Kärntnerthor-Theaters blos auf Opern und Ballete lautet. Die k.k. Hoftheaterdirection hat bei den, zur Abfassung des &RQWUDFWHV abgehaltenen Hofkommissions-Sitzungen ausdrücklich gewünscht, daß Schauspiele mit Chören, und Melodrame besonders als zum Burgtheater gehörig, angeführt werden möchten; allein man hat es als eine Sache, die sich von selbst verstünde, weil keines von beiden Opern sind, nicht nöthig gefunden; auch hat man es für kaum möglich gehalten, ausser dem Opern-Chor einen zweyten Chor zusammen zu stellen, was der Hoftheaterdirection auch wirkOLFKQXUGXUFKLKUHQ(LQÁX‰LQGHUPXVLNDOLVFKHQ:HOWXQGGXUFKLKUHQUDVWlosen Eifer für das Beste des allerhöchsten Dienstes gelungen ist. Es ist zwar nicht zu vermuthen, daß die ohnehin so begünstigte Pachtung des Kärntnerthor-Theaters die Ehrfurcht gegen den allerhöchsten Hof so sehr aus den Augen setzen werde, Allerhöchstdessen Unterhaltung in dem, Höchst105

Till Gerrit Waidelich demselben unmittelbar angehörigen Theater noch mehr, als gegen die, bei der Hofkommission von der Hoftheaterdirection gemachten Einwendungen, ohnehin geschehen ist, zu beschränken; für den Fall aber, daß dieses doch geschehen solte, hat die gehorsamste Direction, welcher für die Rechte und den 9RUWKHLOGHVLKUDQYHUWUDXWHQ7KHDWHUV]XPDFKHQREOLHJWHVIULKUH3ÁLFKW erachtet, (XUHU ([]HOOHQ] gnädigen Schutz im voraus sich unterthänigst zu erbitten[.] Wien, am 12.ten Jänner 1822. v. Moseleighg17

Die Erwiderung aus der Hofoperndirektion seitens des Pächters oder seines Vertrauten Louis Duport ließ nicht lange auf sich warten: +RFKO|EOLFKHV..2EHUVW. PPHUHU$PW Die gefertigte $GPLQLVWUDWLRQ sieht sich gezwungen, die ergebenste Anzeige zu machen, daß in dem k:k: Hoftheater nächst der Burg das 0HORGUDP mit Chören die Hußitten vor Naumburg bereits auf der Austheilung stehe, ein anderes aber, 3U WLRVD daselbst nächstens in die Scene gesetzt werden soll. Der 7te hier in Abschrift beiliegende §. des &RQWUDFWes des Hrrn Barbaja mit der hohen Staatsverwaltung widerspricht ausdrücklich diesem die Gerechtsame des Pächters verletzenden Verfahren; daher (LQ KRFKO|EOLFKHV .. 2EHUVW. PPHUHU$PW gehorsammst um die Abstellung solchen der $GPL QLVWUDWLRQ zum offenen Nachtheile gereichenden Eingriffe gebeten wird. Wien am 17ten Jänner 1822. 'LH$GPLQLVWUDWLRQ GHV..+RIWKHDWHUVQ FKVW GHP. UQWKQHUWKRUH18

Der Graf von Wrbna und Freudenthal (oder vielmehr wohl der von ihm beauftragte Graf Dietrichstein, dessen Gutachten Wrbna dann zeichnete) erlaubte VLFKDQVFKOLH‰HQGDP-lQQHUIROJHQGHVSLW]ÀQGLJH6WHOOXQJQDKPH KLHUQDFK dem überarbeiteten Entwurf wiedergegeben), die Louis Duport und Barbaja in französischer Übersetzung zugestellt wurde: 17 18 106

Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Akten, Hoftheater, Generalintendanz 1822, 408. Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Akten, Hoftheater, Generalintendanz 1822, 408.

Schauspielmusik in Wien „Bey 0HORGUDPV wird auf der Bühne nie gesungen, und solche fodern hauptsächlich eine sehr richtige rezitirende 'HFODPDWLRQ, und es wurden aus diesem Grunde hierlandes die 0HORGUDPV immer von rezitirenden Schauspielern und nie von Opernsängern gegeben – Es können daher nach meiner Ansicht die 0HORGUDPV zu den blos rezitirenden Schauspielen gerechnet, und als solche ohne dem 7 § des Kontrakts mit Barbaja zu Nahe zu tretten im Theater nächst der Burg aufgeführt werden, eben so kann eine &RPHGLH in der von einer Schauspielerin oder einem Schauspieler eine einzelne Arie ohne $FFRPSDJQHPHQW des Orchesters blos mit jener eines Klaviers, einer *XLWDU oder der Harfe, oder ein Chor ohne $FFRPSDJQHPHQW gesungen wird, wohl nicht anders als ein blos rezitirendes Schauspiel betrachtet werden, da die Musik in diesen Fällen als ein unbedeutendes zufälliges $FFH‰RULXP angesehen wird, Schauspiele hingegen, die mit ordentlich auf der Bühne abgesungenen und vom Orchester DFFRPSDJQLUWH>Q@ Chören aufgeführt werden, können wohl nicht als blos rezitirendes Schauspiel betrachtet und auf dem K: Theater nächst der Burg aufgeführt werden, indem bey solchen Schauspielen, der rezitirende Theil derselben oft weniger Werth als die mit demselben verbundenen schöner FRPSRQLUWH und gut exequirte Chöre haben dürfte, auch der Pachtung des k Hof Theaters nächst dem Kärntnerthore zur Klage Anlas gegeben würde daß man derselben ordentliche Chorsänger entziehe oder demselben die Gelegenheit verschaffe größe[re] Forderungen von ihr zu machen.“19

Am Rand links, gleichfalls von Graf Wrbnas (oder vielmehr Dietrichsteins?) Hand: „Da aber Hr. 'XSRUW mir eine schriftliche Vorstellung zusandte, und darinnen ansuchte daß keine 0HORGUDPH im K Hof Theater nächst der Burg aufgeführt werden, und er über meine Entscheidung an Seine Majestät recuriren dürfte, so ist es nothwendig, daß in so lang kein 0HORGUDP aufgeführt werde, als man nicht versichert ist, daß Hr 'XSRUW als Barbajas Bevollmächtigter keinen Rekurs an S: M: ergreifen wolle.“20

Immerhin gelang es dem Musikgrafen Dietrichstein und Mosel letztlich doch, die Darbietung der Schauspiele mit anspruchsvoller Musik gegen den Willen

19 20

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des Opernpächters durchzusetzen; im Falle eines Verbotes hätte man im Hofburgtheater qualitativ weit weniger ausgefeilte Musik darbieten können als in den drei Vorstadttheatern, in denen ja zahllose Opernparodien und Possen einen sehr reichen Anteil an Musik aufwiesen und sich im Grunde fast als Singspiele präsentierten.

Beliebige Hinweise zur Autorschaft der Schauspielmusik für das Publikum Dass die meisten Theaterzettel keinerlei Angaben zur verwendeten Musik sowie deren Verfassern und Arrangeuren aufweisen, ist offenkundig und macht die Suche nach den Komponisten schwierig; trotzdem darf davon ausgegangen werden, dass im Grunde kaum eine Aufführung ohne Orchester oder zumindest einer Art Kammermusikensemble stattfand. Es sei kurz geschildert, welchen Angaben man auf diesen Informations- oder „Werbe“-Plakaten begegnete: Bei der Neueinstudierung von August von Kotzebues +XVVLWHQYRU1DXP burg am 11. März 1822 gibt der Zettel nur indifferente Auskunft: „Die Ouverture und die Zwischenmusik sind neu componirt.“ Auf die möglichen Hintergründe dieser anonymen Präsentation sei später noch eingegangen.21 Bei Stücken, bei denen es eine eigens komponierte Schauspielmusik gab, lautete die Angabe oft konkreter – etwa bei der Uraufführung von Grillparzers .|QLJ2WWRNDUV*OFNXQG(QGH, dass die Musik „mit Ausnahme der Ouverture“ von Ignaz Ritter von Seyfried“ komponiert worden sei; in diesem speziellen Fall kann man allerdings aus anderen Zetteln und Carl Ludwig Costenobles Tagebuch auch deren auf dem Zettel ungenannten Verfasser entnehmen. Am 18. Februar 1825 bemerkt Costenoble anlässlich der Hauptprobe von Grillparzers 2WWRNDU: „Hofrath Mosel hat eine schöne 2XYHUWXUH zum Ottokar komponirt u das Volkslied: Gott erhalte Franz den Kaiser, mit hineinverwebt. Das wird rasend gefallen!“22 Bei Ernst Raupachs 1LEHOXQJHQ+RUW heißt es am 29. Dezember 1828: „Die Musik ist von Herrn C.W. Henning, königl. Preußischem Concertmeister.“ Am 20. Februar 1829 informiert der Zettel bei Kotzebues +XV VLWHQYRU1DXPEXUJ „Die Musik zu den Chören ist von weiland Herrn 6DOLHUL, k.k. Hofkapellmeister“ und am 2. Juni 1829, bei Shakespeares 0DFEHWK wird 21 =HWWHOVDPPOXQJHQPLWGHQUHOHYDQWHQ=HWWHOQEHÀQGHQVLFKLPgVWHUUHLFKLVFKHQ 7KHDWHUPXVHXP:LHQVRZLHGHU:LHQELEOLRWKHNLP5DWKDXV1DFKXQGQDFKÀQGHQ sie Eingang im Internet-Portal ANNO der Österreichischen Nationalbibliothek. 22 Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Handschriftensammlung, Jc 59759, Blatt 315r. 108

Schauspielmusik in Wien

angegeben, die Musik der Ouverture und der Zwischenakte sei von Johann Gallus komponiert. Seltener sind die Angaben bei Arrangements, manchmal wird immerhin kundgetan, dass die „Musik von verschiedenen Meistern“ stamme. Am 3. Juni 1824 heißt es über die Uraufführung von Rudolph vom Berges Stück 'DV+DXV %DUFHOORQD, „Die Musik ist eingerichtet von Herrn Ignaz Ritter von Seyfried“, am 22. Oktober 1825 bei 'HU (UEYHUWUDJ, gegliedert in 'DV 9HUEUHFKHQ und 'DV *HZLVVHQ nach „C.F.A. Hoffmanns Erzählung“: „Zu der Ouverture und den Zwischen-Akten ist ein dramatisches Werk von W.A. Mozart verwendet worden.“ Dass es sich um den von E.T.A. Hoffmann geliebten 'RQ*LRYDQQL handelt, lässt sich nur aus Mosels Notenband entnehmen, vielleicht sollte das Publikum gerade mit dieser undeutlichen Angabe neugierig gemacht werden. Welche Beweggründe dazu führten, von Zeit zu Zeit zwar die verwendete Musik zu erwähnen, deren Arrangeur in der Regel jedoch nicht, bleibt dunkel; zudem gibt es immer wieder Ausnahmen. Ohne jegliche Angabe sind in diesen Jahren auch Zettel von Calderóns 7RFKWHUGHU/XIW und Beers Paria, vielleicht gerade deshalb, weil das Arrangement der Musik – erarbeitet von Mosel – fremde Kompositionen von Franz Schubert zitiert. Bei der Uraufführung von Ludwig 109

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Ferdinand von Deinhardsteins fünfaktigem dramatischem Gedicht 0D[LPLOLDQ·V %UDXW]XJ am 3. November 1829 lautet die Angabe: „Die Ouverture ist neu componirt von Herrn St. Franz, Mitglied der k.k. Hofkapelle und Orchester-Director des k.k. Hofburgtheaters.“23 Auf eine Einstudierung von Friedrich Schillers :LOKHOP7HOO hatte man 1810, als sie erstmals in Wien im dortigen Theater an der Wien herauskam, bereits seit fünf Jahren gewartet. Schon 1795 hatte der Wiener Hoftheater-Zensor Haegelin darauf verwiesen, dass das Sujet sich aus politischen Gründen nicht für eine Darstellung auf den kaiserlichen Bühnen eigne, so dass eine Einstudierung von Grétrys gleichnamiger Oper gar nicht in Erwägung zu ziehen war. Für die Wiener Erstaufführungen des 7HOO im Theater an der Wien (1810) und am Burgtheater (1827) wurde zwar auf die für die Berliner Uraufführung verwendete Musik von Bernhard Anselm Weber verzichtet, doch wiesen beide Aufführungen gleichermaßen Einlagen wichtiger Musiker auf, zunächst von Adalbert Gyrowetz, später von Mosel. Zunächst blieb das Stück dem genannten Vorstadttheater vorbehalten, denn das Hoftheater war nicht berechtigt, ein vermeintliches Pamphlet gegen das Haus Habsburg darzubieten. Aber auch DQGHU:LHQ blieb kaum etwas von dem übrig, was Schillers eigentliche Intentionen mit dem Stück gewesen sein mochten, schildert doch die Wiener Zeitschrift 'HU6DPPOHU: „Endlich wurde am 30. May Schiller’s lang erwarteter dramatischer Schwanengesang: Wilhelm Tell, für das k.k. priv. Theater an der Wien von Hrn. Grüner bearbeitet, gegeben. Die Direction sparte nichts, um diese Vorstellung so anziehend als möglich zu machen. Die Musik von Herrn Gyrowetz, ungemein schöne Decorationen von den Herren Sacchetti und Gail, worunter vorzüglich die Ansicht des Vierwaldstädter-Sees täuschend die Natur nachahmt, und ganz neue, von Herrn v. Stubenrauch angegebene Costüme übertrafen alles, was man in dieser Hinsicht wünschen konnte. Was die Bearbeitung betrifft, hat Hr. Grüner alles, was auf Österreich in den ersten vier Acten unmittelbar anspielt, wie billig, weggelassen, und das Stück mit Geßler’s Tode geschlossen, so daß der ganze fünfte Act wegfällt.“24

23

24 110

Denselben Zusatz, allerdings zusätzlich mit Verweis auf Zwischenakte, enthielt schon der Zettel von Bretislaw und Jutta, einem fünfaktigen historischen Schauspiel von Karl Egon Ebert (3. Oktober 1829). 'HU6DPPOHU, 2 (1810), 5. Juni, Nr. 67, S. 278.

Schauspielmusik in Wien

Die Musiknummern von Gyrowetz im Klavierauszug konnte man in folgender $XVJDEHUDVFKNlXÁLFKHUZHUEHQ25 Ouverture und Lieder zu dem Schauspiele: Wilhelm Tell, bei dessen Aufführung auf dem k.k. Hofburgtheater in Wien. Clavier-Auszug. Wien, bei Tobias Haslinger, Musikverleger, am Graben, im Hause der ersten oesterr. Sparkasse, No. 572. Die zu Beginn des Schauspiels vom Fischerknaben gesungene Melodie „Es lächelt der See“ erklingt zuvor bereits im Rahmen des Vorspiels, deklariert als Å.XKUHLJHQ´ 6*'XU¼ $OVÅ.XKUHLJHQ]XU$EIDKUWYRQGHU$OSH´ be]HLFKQHWLVWGDQQDXFKGDV/LHGÅ,KU0DWWHQOHEW·ZRKO´ 6JPROO¼ $Eschließend vereinen sich die Stimmen zum Zwiegesang in G (S. 10). Am 30. Dezember 1827 lautet bei der Burgtheater-Aufführung von Schillers Tell die knappe Erläuterung: „Die Melodien der Eingangs-Musik und der Lieder sind aus Original-Schweitzer-Kuhreigen genommen.“

Mosels Dokumentation seiner eigenen Schauspielmusik-Arrangements Die aus der Sicht Ignaz von Mosels gelungensten Schauspielmusiken, die er fürs Burgtheater schrieb, dürfte der von ihm in eigenhändiger Reinschrift geschriebene Dokumentations-Band „Einige meiner musikal: Arbeiten für das Hofburgtheater“26 enthalten. Um seine Vorgehensweise bei der Erarbeitung dieser Arrangements zu zeigen, sei in knapper Form – ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder gleichartig detaillierte Beschreibung – dokumentiert, was dieser Band u.a. enthält: Michael Beer: 'HU3DULD, Premiere: 18. Dezember 1827. • Bemerkung zu dem musikalischen Arrangement: Hier erklang neben einem Mozart-Werk (KV 594) auch ein Marsch von Franz Schubert (D 819,3).

Pedro Calderón de la Barca: 'LH7RFKWHUGHU/XIW, Premiere: 21. August 1826. • Bemerkung zu dem musikalischen Arrangement: Für 'LH 7RFKWHU GHU /XIW bearbeitete und instrumentierte Mosel im Sommer 1826 Franz Schuberts Vierhändige Märsche D 602, 1 und D 602, 3, D 819, 1 und D 968B, 1. Datiert ist Mosels Partitur mit „Baden 8. July 1826”. Der Schubert-Teil ÀQGHWVLFKLQGHP.RQYROXWDXI%ODWWYU=XP(LQJDQJHUNODQJ²JOHLFK25 26

(Plattennummer: 5091) Vgl. MOSEL (um 1830). 111

Till Gerrit Waidelich falls ohne Nennung des Verfassers – Charles Simon Catels Ouverture zu /D  %DMDGqUH, nach der Notiz Mosels in seinem Autograph „jedoch ohne den TromERQLXQGGHQ7ULDQJHOGHUJDQ]EHUÁVVLJLVWZRKODEHUPLWGHUJURVVHQ7URPmel.“ (Bl. 162r). An die ihr auch privat bekannte Schauspielerin Sophie Müller, die als Semiramis auftrat, richtete anlässlich der ersten beiden Aufführungen die enthusiasmierte Helmina von Chézy einen Brief mit der Anrede „Süßeste Tochter der Luft!”, abgedruckt in Mailáths Buch über die Müller, aber auch Chézy erwähnt Schuberts Autorschaft der Musik nicht.27

Heinrich Clauren: 'DV+RWHOYRQ:LEXUJ, Premiere: 24. November 1823. • Bemerkung zu dem musikalischen Arrangement: 7. Auftritt: Marsch von Steibelt (Arrangement von Mosel, datiert mit dem 15. November 1823) Im 8. Auftritt spielen die Orchestermitglieder auf der Bühne, mit genauen Anweisungen: „fern postiert“, „näher postiert“, „Im Orchester“, es bleiben dann nur sieben Spieler übrig, für die es heißt: „Diese 7. Personen rücken an die Cortine“, „dicht an der Cortine“.

Alexandre Duval (nach Walter Scott, Übersetzer: Ludwig Robert): &DUO,, gemeinsam mit $OEUHFKW 'UHU), Premiere: 4. Oktober 1828. • Bemerkung zu dem musikalischen Arrangement: I. Akt, 8. Szene: Marsch von 20 Takten an der Stelle: „Ein vornehmer Verbannter? Welche Gefahr!“

Franz Grillparzer: .|QLJ2WWRNDU·V*OFNXQG(QGH, Premiere: 19. Februar 1825. • Bemerkung zu dem musikalischen Arrangement: Auch in der ansonsten Anfang 1825 von ihm selbst verfassten „Ouverture zu dem Trauerspiele: König Ottokar’s Glück und Ende“ genehmigt sich Mosel ein Zitat: Joseph Haydns Kaiserhymne wird hier im Bläsersatz (ohne Flöten, forte) begonnen, anschließend stimmen nach sieben Takten auch die anderen Instrumentengruppen ein, teils unter Verwendung der authentischen Figuren von Haydns eigenen Variationssätzen.

Franz Grillparzer: (LQWUHXHU'LHQHUVHLQHV+HUUQ, Premiere: 28. Februar 1828. • Bemerkung zu dem musikalischen Arrangement: Es sind zwei Nummern vorgesehen, beide im I. Akt, Szene 1.

E. T. A. Hoffmann (Vorlage): 'HU(UEYHUWUDJ, Premiere: 22. Oktober 1825. • Bemerkung zu dem musikalischen Arrangement: Die Musik ist ein Arrangement mit Musik aus Mozarts 'RQ*LRYDQQL. 27

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MAILÁTH, 1832, S. 136. Die Müller notierte ihre Aufzeichnungen später in diesem gedruckten Kalender, hieraus sind die Informationen bezogen (Österreichische Nationalbibliothek, Wien, Handschriftensammlung, Cod. S. n. 105).

Schauspielmusik in Wien Erster Entreakt: Ouvertüre Zweiter Entreakt: Arie der Donna Anna („Non mi dir“) Dritter Entreakt: Musik aus dem Sextett „Mille torbidi pensieri“ Vierter Entreakt: Schluss Akt III Komturszene bzw. Anfang der Ouvertüre Einleitung vierter Akt: Finale zweiter Akt („Già la mensa è preparata.“) (LQOHLWXQJIQIWHU$NW6FKOXVVJHVDQJ]ZHLWHU$NW Å4XHVWRqLOÀQGLFKLIDPDO´

Ernst von Houwald: 5LFKDUGYRQ)UDQNHQ, Premiere: 11. März 1824. • Bemerkung zu dem musikalischen Arrangement: Gesänge für Vokalensemble (undatiert), mehrmals dasselbe Thema durch verschiedene Stimmen durchgeführt.

August von Kotzebue: 'LH+XVVLWHQYRU1DXPEXUJ, Premiere: 11. März 1822. • Bemerkung zu dem musikalischen Arrangement: Die sehr umfangreiche Musik mag hier durchwegs von Mosel herrühren, sie ist bei ihm datiert auf den 27. Februar 1822. Es gibt u. a. eine „Ouverture und Zwischenmusik“. Im Zwischenakt zum V. Akt gibt es zwischendurch rhythmisch festgelegte Deklamation.

Franz August von Kurländer: 'DV:LHGHUVHKHQ, undatiert. • Bemerkung zu dem musikalischen Arrangement: Zu dem Lustspiele 'DV :LHGHUVHKHQ schrieb Mosel (undatiert) einen „Marcia militare“, offenbar war dieser eigener Provenienz, also wohl ohne fremde Anleihen.

Matthew Gregory Lewis, deutsch von Wilhelm Vogel: $GHOPD, Premiere: 1. April 1826. • Bemerkung zu dem musikalischen Arrangement: Zu dem Schauspiele Adelma (Mosels Datierung: 1. März 1826). Im V. Akt, dreistimmige Romanze für geteilten Männerchor (jeweils Alt, Tenor Baß), mit Harfenritornell.

Benoît-Joseph Marsollier, Übersetzung: Johann Franz Hieronymus Brockmann: 'DV6FKOR‰/LPEXUJ, Premiere: Oktober 1828. • Bemerkung zu dem musikalischen Arrangement: Auf dem Spielplan war das Stück vom 17. Mai 1802 bis zum 24. Oktober 1828, es wurde aus Anlass des Gastspiels der Schauspielerin Caroline Müller 1828 nach längerem Abstand wieder gespielt. Die Musik (bei Mosel undatiert) kommt vor im I. Akt, Szene 10. Die Komposition stammt von Dalayrac. Die Protagonistin spielt auf der Harfe „mein Lieblings-Andante“ (in G-Dur, 3/4). In Takt 20 spricht sie: „Wer hat mich denn unterbrochen? Ich bitte, lassen Sie mich spielen“

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Adam Öhlenschläger: $[HOXQG:DOEXUJ, Premiere: 6. September 1827. • Bemerkung zu dem musikalischen Arrangement: Erstaufführung am 25. Juli 1814. Mosel datiert sein Arrangement mit dem 2. August 1827, und in dem Zeitraum nach Mosels Datum gab es nur mehr eine Aufführung am 6. September 1827, danach wurde das Stück wohl abgesetzt. Es muss also für Mosels neue Musik noch nicht einmal eine Neueinstudierung vorgenommen worden sein. Im V. Akt, 6. Szene gibt es Musik zu folgendem Stichwort: „Schweige still, mein guter Wilhelm, O störe meine Einsamkeit nicht.“ Dann Quartett für Flöte, zwei Klarinetten und Fagott (Andante sostenuto, c-moll). Anschließend erklingt: „Und spiel’ des Liedes Weise während Walburg bei seiner Leiche deinen Tönen horcht.“ Im Anschluss (Wilhelm: „O möchten Trost sie deinem Herzen bringen!“) wieder das Ensemble, zu dem dann noch eine Harfe (Solostimme) hinzutritt.

Honoré-Antoine Richaud-Martelly, Übersetzung: Friedrich Wilhelm Jünger: 'LHEH\GHQ)LJDUR, Premiere: 1. Dezember 1824. • Bemerkung zu dem musikalischen Arrangement: Mosel paraphrasiert das Eingangsthema von Mozarts Figaro-Ouvertüre, teils sequenziert er das thematische Material. Premiere dieses Schauspiels war 1799, gespielt wurde bis 1842, konkret lässt sich das Erstaufführungsdatum von Mosels Arrangement anhand seines angegebenen Datums kurz vor einer Neueinstudierung eingrenzen: 26. November 1824.

Eduard von Schenk: $OEUHFKW 'UHU (gemeinsam mit &DUO ,,), Premiere: 4. Oktober 1828. • Bemerkung zu dem musikalischen Arrangement: Von Mosel (undatiert). In der ersten Szene des I. Aktes singt Giorgione zur „Ghitara“ (6/8)

Friedrich Schiller: :LOKHOP7HOO, Premiere: 29. November 1827. • Bemerkung zu dem musikalischen Arrangement: Hier gelang es Mosel, seine genaue Bekanntschaft mit gleichsam verschollenen Relikten der Musikgeschichte unter Beweis zu stellen. Haydns 2USKHXV-Oper (/¶DQLPD GHO ÀORVRIR RVVLD 2UIHR HG (XULGLFH) fand in seine (mit 22. Oktober 1827 datiertes) Musikarrangement zu Schillers Schauspiel :LOKHOP 7HOO genauso Eingang wie „Des Kühers Frühlingslied“ (No. 10) oder ein „Schweitzer Tanz (No. 71).“, deren Quelle er nicht nennt. Bei den neun abschließend erklingenden Marschtakten erläutert Mosels Fußnote, dass jene Luigi Cherubinis Oper /RGRLVND entlehnt sind (dieses Blatt ist allerdings mit Blei ausgestrichen, doch bedeutet das wohl nicht, dass diese Musik im Theater nicht erklungen war). Gegen Ende seiner Niederschrift sind schließlich drei verschiedene Kuhreihen notiert, das erwähnte Lied und nochmals der Tanz. Abschließend erscheint seine 114

Schauspielmusik in Wien Version der bekannten Pastorale von Händel als dritter Zwischenakt, im reinen Holzbläser-Arrangement: mit Piccolo-Flöten, Flöten, Oboen, Clarinetten, Fagotten, Hörnern.

William Shakespeare: 2WKHOOR, Premiere: 7. April 1823. • Bemerkung zu dem musikalischen Arrangement: Die vier Entreakte stammen von vier verschiedenen Komponisten: Cherubini, Beethoven, Johann Christoph Vogel und Joseph Haydn.

William Shakespeare, Übersetzung: A.W. Schlegel: +DPOHW, Premiere: 7. Dezember 1825. • Bemerkung zu dem musikalischen Arrangement: Als ersten Entreakt wählt Mosel (1824) Musik von Louis-Luc Loiseau de Persuis, unmittelbar darüber notiert Mosel noch das Inzipit: „Die Zeit ist aus den Fugen“ („Schmach und Gram, daß ich zur Welt, sie einzurichte kam.“) Vor dem zweiten Entreakt notiert Mosel: „Das Schauspiel sey die Schlinge, In die den König sein Gewissen bringe.“ Vor dem dritten Entreakt: „Gute Nacht, Mutter!“ Die sind alles sehr markante Zitate aus der Tragödie. Für die folgenden beiden musikalischen Einlagen sind indessen minder bekannte Zitate gewählt. Für den vierten Entreakt kommt es zu „O, von Stund an trachtet, Nach Blut, Gedanken, oder seyd verachtet!“, und auch die folgenden beiden Zitate sind nicht zu Sprichworten geworden: „Und athm’ in dieser Herben Welt mit Müh’ Um mein Geschick zu melden.“ sowie „Und Engelschaaren singen dich zur Ruh’“ Für den letzten Auftritt lautet das Incipit: „Hinweg! Ein solcher Anblick ziemt dem Feld, Doch hier entsetzt vor sich auch der Held.“ Zur A-capella-Wiedergabe sind Ophelias Gesänge vorgesehen.

William Shakespeare: (QGH JXW DOOHV JXW /LVW XQG /LHEH), Premiere: 21. Februar 1828. • Bemerkung zu dem musikalischen Arrangement: Mosels Datierung lautet 21. Jänner 1828. Seine Musik kommt vor im V. Aufzug, 9. Auftritt: „Da sind sie schon. Musik!“ Vierstimmiger Chor zu je zwei Oboen, Klarinetten, Hörnern und Fagotten.

William Shakespeare: .|QLJ+HLQULFK,9, Premiere: 14. Mai 1828. • Bemerkung zu dem musikalischen Arrangement: Hier handelt es sich bei den Zitaten durchwegs um Musik von Beethoven.

William Shakespeare: 'HU.DXIPDQQYRQ9HQHGLJ, Première: 3. April 1827 • Bemerkung zu dem musikalischen Arrangement: „Zu dem Lustspiele: Der Kaufmann von Venedig“ (undatiert) Lied zur Gitarrenbegleitung für Akt V, 1. Szene: „Sagt, woher stammt Liebes-Lust?“ sowie Trio für zwei Flöten und eine Klarinette mit Verfasserangabe „Mozart“.

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Joseph Christian von Zedlitz: =ZH\1lFKWHLQ9DODGROLG, Premiere: 14. Jänner 1823. • Bemerkung zu dem musikalischen Arrangement: Gewiss als eine explizite Hommage an Beethoven handelt es sich bei Mosels Arrangement von Anfang 1823. Als Ouvertüre erklingt seine unter dem Titel Å3DWKHWLTXH´EHNDQQWH.ODYLHUVRQDWHLQFPROO'DVÅÁHKHQGH´7KHPDLPVFKQHOlen Teil lässt Mosel von der Oboe spielen.

Schließlich gibt in diesem Mosel-Band u.a. auch (datiert mit September 1823) „Zwey Märsche für ganzes Orchester eingerichtet“, deren erster von Ferdinand Ries, der zweite von Beethoven herrührt.

Literatur ANTONICEK, THEOPHIL, Ignaz von Mosel (1772–1844). Biographie und Beziehungen zu den Zeitgenossen, Maschinenschriftl. Dissertation, Universität Wien 1962. BRANSCOMBE, PETER, The connexions between drama and music in the Viennese popular theatre from the opening of the Leopoldstädter Theater (1781) to Nestroy’s opera parodies (ca 1855), with special reference to the forms of parody. Diss. (maschinenschr.) 1976 (Wienbibliothek im Rathaus). DERS., Musikalische Traditionen im Bereich des Wiener Burgtheaters, in: Musik im Burgtheater. Eine Ausstellung zum 200jährigen Jubiläum des Burgtheaters, hg. von Clemens Höslinger u.a., S. 7-16 sowie auf den Seiten 62-63 einen Abschnitt über Schauspielmusik im Burgtheater. HADAMOWSKY, FRANZ, Die Wiener Hoftheater (Staatstheater): ein Verzeichnis der aufgeführten und eingereichten Stücke mit Bestandsnachweisen und Aufführungsdaten. Teil 1. Die Wiener Hoftheater (Staatstheater) Teil 2. Die Wiener Hofoper (Staatsoper): 1811-1974. Wien 1975; ders., Wien. Theatergeschichte. Von den Anfängen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Wien 1988. HAVAS, STEFANIE MARIA, Die Schauspielmusiken des Johann Mederitsch. Diplomarbeit, Universität Wien 2012 (Betreuer: Herbert Seifert). HECKMANN, HARALD (Hg.), W. A. Mozart, Chöre und Zwischenaktmusiken zu Thamos, König in Ägypten, KV 345 (336a), Neue Mozart Ausgabe (NMA) II/6, Bd. 1, Kassel u.a. 1956, 2/1973; dazu Kritischen Bericht, ebd. 1958. HEIN, JÜRGEN/ZUMBUSCH-BEISTEINER, DAGMAR, Probleme der Edition „Musikalischer Texte“ im Wiener Dialekt, dargestellt am Beispiel Johann Nestroys, in: Der Text im musikalischen Werk: Editionsprobleme aus musikwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Sicht, hg. von WALTHER DÜRR u.a., Berlin 1998, S. 212234 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 8). 116

Schauspielmusik in Wien

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Schauspielmusik in den historischen Beständen des Coburger Theaters ANGELIKA TASLER

Das Besondere an der Sammlung der Theaterbibliothek, die einst zum Hoftheater des Herzogs von Sachsen-Coburg und Gotha gehörte, ist ihr intakter Bestand seit dem Beginn eines systematischen Aufbaus im Jahre 1827. Im Unterschied zu anderen Hoftheatern wurde die Coburger Bühne im Jahr 1918 nahtlos in die öffentliche Hand überführt und konnte so ihre Tradition bis heute ungebrochen fortsetzen. Auch die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs konnten den stetig anwachsenden Beständen aus Noten und Aufführungsmaterialien nichts anhaben, so dass 1971 (und in der Folgezeit) eine lediglich durch den ständigen Gebrauch in Mitleidenschaft gezogene, vollständige Theaterbibliothek in die Obhut der Landesbibliothek Coburg übergeben werden konnte. Da die Coburger Bühne stets ein breitgefächertes Repertoire im Sprech- und 0XVLNWKHDWHUSÁHJWHVDPPHOWHVLFKDXFKHLQHJU|‰HUH$Q]DKODQ0XVLNVWFNHQ an, die als Schauspielmusiken, Einlagen oder Zwischenaktsmusiken verwendet wurden. Sie werden heute in einer Sammlung mit eigener Signatur verwaltet, die den Titel Einlagen trägt (TB Einl). Dieser Bestand enthält überwiegend Handschriften von Kompositionen, die entweder als Einlagen zu Schauspielen, als Entreactes in Opern oder auch als Tanz- und Balletteinlagen in Stücken aller Art verwendet wurden. Die Einlagen der Coburger Theaterbibliothek sind noch nie Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung gewesen und können somit als ein musikhistorischer Schatz angesehen werden, den es noch zu heben gilt. 2EZRKOGLH*U|‰HXQG/DJHGHV+HU]RJWXPV6DFKVHQ&REXUJXQG*RWKD (im nördlichen Franken und in Thüringen) eher auf eine untergeordnete BedeuWXQJLP'HXWVFKODQGGHV-DKUKXQGHUWVKLQGHXWHQZDUHQGRUWDX‰HUJHZ|KQliche Bedingungen gegeben, die es dem Kleinstaat ermöglichten, politisch wie 119

Angelika Tasler

auch kulturell über sich hinauszuwachsen. Denn einerseits hoben die engen verwandtschaftlichen Beziehungen, die das Haus Coburg mit vielen europäischen Königshäusern verbanden (England, Belgien, Portugal, Russland usw.), die herzogliche Familie in die Kreise höchster politischer Autoritäten. Andererseits verbanden die kunstbegeisterten Herzöge Ernst I. (1784-1844) und insbesondere sein Sohn und Nachfolger Ernst II. (1818-1893) ihre politisch-gesellschaftOLFKHQ(LQÁXVVP|JOLFKNHLWHQDXFKPLWLKUHQ$NWLYLWlWHQLPNXOWXUHOOHQ%HUHLFK Kunst und vor allem Musik wurden am Coburger Hof intensiv gefördert, viel *HOG LQ QHXH UHSUlVHQWDWLYH 7KHDWHUEDXWHQ XQG JUR‰H SUlFKWLJ DXVJHVWDWWHWH Opernaufführungen gesteckt sowie Kontakte zu den prominentesten Musikern XQGZLFKWLJVWHQ%KQHQLQDOOHU:HOWJHSÁHJW1 Die Herzöge legten besonderen Wert auf die Qualität ihrer Hofkapelle und versuchten stets, die bestmöglichen Sängerinnen und Sänger für ihr Ensemble zu gewinnen. Herzog Ernst II. betrieb QLFKW QXU PLW JU|‰WHP (LIHU XQG XQVWLOOEDUHU 1HXJLHU VHLQH 7KHDWHUSROLWLN HU YHUIDVVWH DXFK VHOEVW IQI JUR‰H 2SHUQ VRZLH PHKUHUH NOHLQH:HUNH GLH HU ² EHI|UGHUWGXUFKVHLQH]DKOUHLFKHQQW]OLFKHQ.RQWDNWH²EHUGLH%KQHQXQG durch die Konzertsäle Deutschlands, ja ganz Europas schickte. 'LHDXVGLHVHUDX‰HUJHZ|KQOLFKHQ)|UGHUXQJGHV&REXUJHU0XVLNWKHDWHUV entstehende überdurchschnittliche Qualität spiegelt sich natürlich auch im überlieferten Repertoire wider. Nicht weniger als 260 Brettmeter mit mehr als 500 verschiedenen Opernmaterialien lagern heute im Magazin der Landesbibliothek Coburg. Bei näherer Betrachtung wird ersichtlich, dass viele Partituren, wie beispielsweise die Werke Richard Wagners oder Richard Strauss‘, unmittelbar nach ihrem Erscheinen angeschafft wurden. Man versuchte also stets mit den neuesten Entwicklungen in der Musikwelt mitzuhalten. Manchmal machte der XPIDQJUHLFKH2UFKHVWHUDSSDUDWGHUJUR‰HQURPDQWLVFKHQ2SHUQHLQH$QSDVVXQJ an die doch deutlich kleineren Verhältnisse am Coburger Theater notwendig. So wurde z.B. die Bläserbesetzung in einigen Opern von Wagner und Strauss durch die örtlichen Kapellmeister reduziert. Doch das Interesse in Coburg an GHQJU|‰WHQXQGZLFKWLJVWHQ1HXKHLWHQYRQ den führenden europäischen Bühnen (z.B. Paris) konnte dadurch nicht geschmälert werden. So kann es nicht verwundern, wenn sich in der Sammlung von Schauspielmusik und anderen Einlagen neben den Namen der ansässigen Kapellmeister auch die von renommierten Komponisten verschiedener Epochen und StilarWHQZLHGHUÀQGHQYRQ-RKDQQ6HEDVWLDQ%DFKXQG*HRUJ)ULHGULFK+lQGHO-Rseph Haydn, Ludwig van Beethoven über Peter Joseph von Lindpaintner, Franz 1

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Mit diesem Thema beschäftigt sich momentan das DFG-Projekt der Autorin zur „Geschichte des Coburger Musiktheaters zwischen 1827 und 1918“.

Schauspielmusik in den historischen Beständen des Coburger Theaters

Abbildung 1: Der Zustand vieler Noten vor der Restaurierung zeugte vom starken Gebrauch. Schubert und Ignaz Lachner bis hin zu Paul Lincke, Paul Dessau und Helmut +HQ]H$XFK -RKDQQ 6WUDX‰ GHU LP SURWHVWDQWLVFKHQ &REXUJ VHLQH GULWWH (KH schloss, ist mit fünf Werken vertreten. Der über 700 Nummern fassende Einlagen-Bestand enthält Kompositionen von über 200 Autoren, bei knapp einem Viertel der Stücke ist der Komponist jedoch nicht vermerkt. Das früheste angegebene Erscheinungsjahr einer Einlage ist das Jahr 1812, das den Entr’actes à grand orchestre von Beethoven (SignaWXU7%(LQO 6 ]X]XRUGQHQLVW'DVVSlWHVWHGDWLHUWH:HUNLVWHLQH6FKDXspielmusik zu Der Widerspenstigen Zähmung aus dem Jahr 1980 (TB Einl 733), deren Komponist noch nicht ermittelt werden konnte. ,QHLQLJHQ)lOOHQÀQGHWVLFKLP7LWHORGHULQGHQ1RWHQHLQKDQGVFKULIWOLFKHU Verweis auf die Art der Verwendung der vorliegenden Musik. Beispielsweise KHL‰WHVEHLPÅ+RKHQIULHGEHUJHU0DUVFK´YRQ)ULHGULFK,,.|QLJYRQ3UHX‰HQ 7%(LQO Å7KHDWHUPXVLN]X,QGHU0DUN´ 6FKDXVSLHOLQ$NWHQYRQ Hans Hopfen). Oder auf der Mappe eines Marsches in Es-Dur von Karl Jacobi 7%(LQO LVWYHUPHUNWÅ'HU.DXIPDQQYRQ9HQHGLJ´ZRGXUFKGLH9HUwendung der Musik in dem genannten Schauspiel von Shakespeare nahegelegt ZLUG$XFK(LQODJHQ]XPXVLNDOLVFKHQ:HUNHQÀQGHQVLFKZLH]%7KHRGRU .LUFKQHUV Å'X ZXQGHUV‰HV .LQG´ 7% (LQO   GDV ODXW %HVFKULIWXQJ DOV 121

Angelika Tasler

Einlage in die Oper „Der Postillon von Lonjumeau“ (TB Op 167) von Adolphe Adam fungierte. Umgekehrt wurden offenbar (bearbeitete) Ausschnitte aus Opern zweckentfremdet, indem sie als Einlagen in Sprechtheaterstücke verwenGHWZXUGHQ8QWHU7%(LQOÀUPLHUHQFD7DNWHDXVGHP$NWYRQ$OEHUW /RUW]LQJVÅ=DUXQG=LPPHUPDQQ´DOVÅ%KQHQ0XVLN]X,P([LO´ 6FKZDQN in 3 Akten von Hermann von Andersen und B. Wolff). Doch nicht bei allen Notenhandschriften und Stimmdrucken aus dem Einlagen-Bestand ist die Bestimmung von Herkunft und Gebrauch so einfach. Manchmal ist kein Titel genannt, sondern nur eine Aufschrift wie „Lied“ (TB Einl 139) oder „Präludium“ (TB Einl 600a) vorhanden. Im einen Fall ist nur der KomSRQLVW]XHUPLWWHOQ 7%(LQO0LFKDHO:LOOLDP%DOIH LPDQGHUHQQXUHLQ +LQZHLV DXI GLH9HUZHQGXQJ 7% (LQO D Å3UlOXGLXP ]X %HOLQGH $XI]XJ´ $XFKLQGHQ6DPPHOPDSSHQPLWÅ%KQHQPXVLN´ 7%(LQO ÀQGHQVLFK]XZHLOHQVHKUDOOJHPHLQH+LQZHLVH]XP(LQVDW]GHU0XVLNÅ]XHLQHP Ritterstück“, (TB Einl 130), „Diese Nummer ist gut zu gebrauchen wenn Bilder gestellt werden.“ (TB Einl 294). Eine genauere Aussage lässt sich über die Funktion dieser Musik aus den Noten selbst nicht treffen. Wie zu erwarten liefern die in Coburg angestellten Hofkapellmeister die meisten %HLWUlJH]XGLHVHP%HVWDQG$OVZLFKWLJVWHVHLHQJHQDQQW • -RVHSK7|SOHU YRU ZRKOVHLWLQ&REXUJWlWLJ0XVLNGLUHNtor 1869, Dirigent der kleinen Oper (Singspiel, Operette) 1870, Komponist mit den meisten Werken (ca. 40) im Bestand Einlagen. • 7UDXJRWW.UlPHU  .RQ]HUWPHLVWHUDE'LULJHQWGHUJUR‰HQ Oper ab 1870, • $XJXVW -DFREL   0XVLNGLUHNWRU DE  'LULJHQW GHU NOHLQHQ Oper • $XJXVW/DQJHUW  ]ZHLWHU.DSHOOPHLVWHUYRQELVQDFK Auslandsaufenthalten Hofkapellmeister von 1893 bis 1897, • (PDQXHO)DOWLV  +RINDSHOOPHLVWHUYRQELV • 7KHRGRU*HUODFK  .DSHOOPHLVWHUXQG&KRUGLUHNWRUYRQELV 1895, • -RKDQQHV'RHEEHU  .DSHOOPHLVWHUYRQELV • -RVHI 5śçHN "  .DSHOOPHLVWHU XQG &KRUGLUHNWRU YRQ  ELV 1920.

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Schauspielmusik in den historischen Beständen des Coburger Theaters

Abbildung 2: Beispiel für ein Stimmenmanuskript aus dem Bestand „Einlagen“

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1HEHQ.RPSRVLWLRQHQGLHLQ6WFNHGHV6SUHFKWKHDWHUVHLQJHIJWZXUGHQÀQden sich • Einlagen zu Opern und Operetten ]% 7% (LQO  3 6  Å6FHQD XQG Arie als Einlage zur Oper Marie“ von Conradin Kreutzer, TB Einl 644 (P) Å,9$XI]XJ&KRUEHLJHVFKORVVHQHP9RUKDQJ´YRQ*RWWIULHG+XSSHUW]RGHU 7%(LQOÅ,QWHUPH]]RDXV1DFKW´YRQ-RKDQQ6WUDX‰ • aus Opern und Operetten herausgelöste Nummern, die dann offenbar auch in DQGHUHP.RQWH[WYHUZHQGHWZXUGHQ]%7%(LQODÅ7HU]HWWRDXV'HU Barbier von Sevilla“ von Giovanni Paisiello, TB Einl 562 „Lied der Eboli“ oder TB Einl 476 „Lied aus Nanon“ von Richard Genée, • Ballettmusiken und Tänze]%7%(LQOQXUEH]HLFKQHWPLWÅ%DOOHW(LQlage in 3ter Act“ [sic], TB Einl 480 nicht näher bezeichnete „Tänze“ oder TB Einl 552 „Waffentanz und Ballet“ von August Langert, • Märsche]%7%(LQOÅ9LHUKLVWRULVFKH0lUVFKH´YRQ/XGZLJ*lUWQHU 7%(LQOÅ+RKHQIULHGEHUJHU0DUVFK´YRPSUHX‰LVFKHQ.|QLJ)ULHGULFK II. oder TB Einl 488 „Trauermarsch“ von F.A. Ernst, • Lieder (auch in kleinen Sammlungen), Volkslieder]%7%(LQOÅ9HVWH Coburg-Lied“ von Wilhelm Henzen aus dem Jahr 1900, TB Einl 442 „Stille Nacht! Heilige Nacht!“ von Franz Xaver Gruber in einer Fassung von 1887 oder TB Einl 626 „Drei Lieder für Sopran mit Pianoforte, op. 294/3“ von Franz Abt, • Instrumentalstücke ]%  7% (LQO  Å0HQXHWW´ YRQ /XLJL %RFFKHULQL TB Einl 599b „Andante für Streichquartett“ von Romberg oder TB Einl 473b „Fanfare“ von Theodor Gerlach, • Hymnen und Nationalgesänge]%7%(LQOÅ1DWLRQDOK\PQH´YRQ (ohne Angabe des Autors), TB Einl 378 (und 466) „Rule Britannia“ von Thomas Augustine Arne, TB Einl 513b „Dänisches Nationallied“ von Eberhard Engelhardt oder TB Einl 508 die französische Nationalhymne „Marseillaise“, • einige wenige Werke mit geistlichem Text ]% 7% (LQO E Å7H 'HXP´ ohne Angabe des Komponisten, TB Einl 30c „Ego sum resurrectio“ von Joseph Töpler aus dem Jahre 1837 oder TB Einl 469 „Salve regina“ von Theodor Gerlach.

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Schauspielmusik in den historischen Beständen des Coburger Theaters

Abbildung 3: Beispiel für eine gedruckte Ausgabe aus dem Bestand „Einlagen“

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Einige Kompositionen werden in ihrer Betitelung auf den Mappen oder den Noten selbst als „Bühnenmusik“ bezeichnet. Dieser Begriff ist hier jedoch offenbar nicht im engeren Sinne zu verstehen, d.h. als Musik, die wirklich auf der Bühne XQGQLFKWHWZDLP2UFKHVWHUJUDEHQ VWDWWÀQGHWVRQGHUQHLQIDFKDOV%HJOHLWPXVLN]XHLQHPQLFKWQlKHUEH]HLFKQHWHQ*HVFKHKHQDXIGHU%KQH([HPSODULVFKH Beispiele für die konkrete Nennung des jeweiligen Schauspiels, in dem die MuVLN$QZHQGXQJIDQGVLQG • TB Einl 217 (P) Ouverture et entr’actes d’Egmont von Ludwig van Beethoven, • TB Einl 117a Einlage zu Müller & sein Kind von Carl Jacobi, • TB Einl 45 Musik zu Die Jungfrau von Orleans von August Kohl, • TB Einl 367a Einlage zum Schauspiel Wilhelm Tell von Carl Jacobi, • TB Einl 145 Marsch zu dem Lustspiel Vater der Debütantin (ohne Angabe des Komponisten), • TB Einl 120 Theatermusik zur Marquise von Villette von Traugott Krämer, • TB Einl 364 Theatermusik zur Braut von Messina von Joseph Töpler, • TB Einl 336 (S) Theatergesang zu Die Journalisten von Heinrich Marschner, • TB Einl 151 Musik-Einlage zu Ein gebildeter Hausknecht von Wilhelm Popp, • TB Einl 157 Schluss-Musik zu dem Schauspiel Prinz Eugen (ohne Angabe des Komponisten), • TB Einl 444 Musik zu Shakespeare’s Was ihr wollt von Julius Tausch, • TB Einl 247 Einlage zu Berlin wie’s weint und lacht von August Conradi, • TB Einl 301 Bühnenmusik zu dem Schauspiel Die Hexe von August Jacobi, • TB Einl 482(P) Musik zu Grillparzers dram. Mährchen [!] Der Traum ein Leben von Carl Kleemann. Die Musiker der Hofkapelle schätzten den Dienst für die Schauspielmusiken nicht besonders, was angesichts der hohen Zahl an Musiktheatervorstellungen in Coburg allerdings auch leicht nachvollziehbar ist. So beschwert sich der Klarinettist, Komponist und spätere Hofkapellmeister Andreas Späth (1790-1876) in einem Brief an die Theaterintendanz vom 12.05.18552 über den Klarinettisten und Musikdirektor Müller, der mittlerweile so schwerhörig sei, dass er auf keinen Fall mehr die „Harmoniemusik“ leiten könne und höchstens noch für die „Entreactes“ im Orchester zu gebrauchen sei… Dass dieser vielfältige und im Repertoire breit gestreute Bestand der Einlagen am Coburger Theater bisher nicht genauer erforscht wurde, lag sicher 2

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Aufbewahrt in der Autographensammlung der Kunstsammlungen der Veste Coburg (ohne Signatur, unter „Musiker“ und „Späth“).

Schauspielmusik in den historischen Beständen des Coburger Theaters

auch am prekären Erhaltungszustand der überlieferten Noten. Wie bereits erwähnt, handelt es sich überwiegend um Orchesterstimmen. Da die Stücke meist nicht sehr lang sind, besteht das Material in der Regel aus losen Einzelblättern, GLH GXUFK KlXÀJHQ *HEUDXFK XQG SUREOHPDWLVFKH /DJHUXQJ VWDUN DQJHJULIIHQ waren. Dank einer Förderung durch die nationale Koordinierungsstelle für die Erhaltung schriftlichen Kulturguts mit Mitteln des Bundesbeauftragten für Kultur und Medien und der Kulturstiftung der Länder konnte der Bestand im Jahr 2012 jedoch grundlegend saniert werden. Dabei wurden vielfältige Schädigungen, wie sie typischerweise durch die langjährige Lagerung und immer wiederkehUHQGH%HQXW]XQJHQWVWHKHQEHVHLWLJW]%DXIJHJDQJHQHRGHUEUFKLJH%LQGXQgen, brüchige Papierränder, Papiereinrisse, Klebestreifen, rostige MetallklamPHUQ :DVVHUÁHFNHQ 6FKPXW] XQG 9HUIRUPXQJHQ 'LH 0DVVHQHQWVlXHUXQJ des gesamten Materials, das nun auch in säurefreie Mappen umgelagert wurde, erfolgte vor einer gründlichen Reinigung. Die am schlimmsten vom Zerfall bedrohten Handschriften wurden eingehender restauriert, beispielsweise durch Erneuerung von Bindungen, Rückenverstärkungen, Stabilisierung von Ecken, VRZLH0D‰QDKPHQ]XU(UKDOWXQJGHV3DSLHUV 6FKOLH‰HQYRQ5LVVHQ(UJlQ]XQJ von Fehlstellen usw.). Dazu leistete auch die Landesbibliothek Coburg, für die die historische Coburger Theaterbibliothek einen prägenden Bestand bildet, einen wesentlichen Beitrag. Nun wartet dieser wertvolle und vielversprechende Teil des Musikalienbestandes in Coburg auf einen neugierigen und ausdauernden Forscher, der sich mit den Einlagen beschäftigt und hoffentlich manche davon ins musikalische Leben zurückruft.

Literatur Der Bestand „TB Einl“ ist vollständig im Online-Katalog der Landesbibliothek Coburg recherchierbar (www.landesbibliothek-coburg.de). POTYRA, RUDOLF, Die Theatermusikalien der Landesbibliothek Coburg, KBM Band ,,,0QFKHQ 7%(LQOVLHKH%DQG,6  HIRSCHBERG, HERBERT, Geschichte der Herzoglichen Hoftheater zu Coburg und Gotha, Berlin 1910. HEINZ, ANDREA, Quantitative Spielplanforschung. Neue Möglichkeiten der Theatergeschichtsschreibung am Beispiel des Hoftheaters zu Coburg und Gotha, Heidelberg 1999. 127

„Zur Veredelung und Verschönerung des Theaters“1 – Thesen zur Schauspielmusikpraxis im deutschsprachigen Kulturraum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ANTJE TUMAT

Die Schauspielmusik-Forschung zur Theaterlandschaft im deutschsprachigen Kulturraum hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten vor allem dem sogenannten klassisch-romantischen Zeitalter gewidmet,2 also der Zeitspanne von etwa 1780 bis 1850. Ein Grund dafür mag bereits in den frühen Veröffentlichungen von Fritz Mirow und Adolf Aber zur Schauspielmusik liegen: Mirow legte seinen Untersuchungsschwerpunkt aufgrund der Materiallage in die „Blüteperiode deutscher Kunst um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts“,3 Abers Studie beschreibt mithilfe einer teleologischen Geschichtskonstruktion eine Degenerationsgeschichte von der „Blütezeit“4 der Schauspielmusik im klassisch-romantischen Zeitalter bis zu ihrem „Verfall [...] im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts“,5 die sich letztlich ebenfalls aus seiner Quellenlage begründet. Diese Wahrnehmung der Schauspielmusikgeschichte hat die Forschung bis heute geprägt. 1 2

3 4 5

Zitat siehe Anm. 49. Exemplarisch seien hier die relevanten Bände der in Weimar entstandenen Reihe Musik und Theater [SCHMIDT, 2006; SCHRÖTER, 2006; RADECKE, 2007; ALTENBURG/SCHMIDT (Hgs.), 2012] oder die entsprechenden Bände der Weber-Studien [HUCK, 1999, BECK /ZIEGLER (Hgs.), 2003] genannt. MIROW, 1927, S. XI. ABER, 1926, S. 132. EBD., S. 148. 129

Antje Tumat

Die Praxis der Musik im „Sprechtheater“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist im deutschen Sprachraum hingegen bisher nur in Ausschnitten bekannt,6 sodass es an der Zeit scheint, einige punktuelle Beobachtungen über den 7KHDWHUDOOWDJ GLHVHU =HLW ]X IRUPXOLHUHQ GLH GXUFK JUR‰ÁlFKLJHUH 6WXGLHQ ]X bestätigen wären. Zunächst ist dabei vor allem einer These zu begegnen: Die zweite Jahrhunderthälfte hat sich spätestens seit Abers Studie den Ruf als Zeit des (quantitativen und qualitativen) „Niedergangs“7 der Schauspielmusikpraxis auf dem Weg zur Spartentrennung des 20. Jahrhunderts eingetragen. Der Beginn dieses vermeintlichen Niedergangs wird gemeinhin Mitte des 19. Jahrhunderts verortet. Letzteres hängt mit der schon seit der europäischen Aufklärung immer ZLHGHUDXIÁDFNHUQGHQ.RQWURYHUVH8 um die Abschaffung der Zwischenaktmusik zusammen, die 1855 in öffentlichen Stellungnahmen von berühmten Tonkünstlern wie Ferdinand Hiller, Franz Liszt9 oder Richard Wagner gegen die zeitgenössische Theaterpraxis im Musikfeuilleton kulminierte. Die Positionen dieser Auseinandersetzung wurden bereits andernorts zusammenfassend beschrieben.10 Der Auslöser für das erneute Entfachen dieser Kontroversen, das Gastspiel Bogumil Dawisons im Berliner Königlichen Schauspielhaus, führte bekanntlich zur vorübergehenden Abschaffung der Zwischenaktmusik an einigen Häusern – vor allem im norddeutschen Raum. Diese Tatsache fand in der Musikwissenschaft der 1990er Jahre ihren Niederschlag in Form einer verallge6

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Für die Theater des deutschen Kulturraums erschienen Studien zu Musiken berühmter Komponisten oder kanonisierter Autoren (so etwa zu Faust-Inszenierungen: MEIER, 1999; DIES., 2003; TUMAT, 2013; oder zu Shakespeare-Inszenierungen: TUMAT, 2005); es gibt wenige übergreifende Studien, so etwa GOLTZ, 2009 oder KRAMER, 2008. MÜNZMAY (2010) erwähnt auch die zweite Jahrhunderthälfte, der Schwerpunkt seiner interkulturellen Studie liegt aber früher. Zur französischen Theatermusik in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts vgl. SCHWARTZ, 2002, LAMOTHE, 2008 sowie die relevanten Beiträge in LANGER /OSCHMANN (Hgs.), 1999. LARSEN, 1999, S. 80. Eduard Hanslick hat die Kontroverse um die Schauspielmusik ein Jahrhundert nach Lessings Tod 1881 ausgehend von Lessings Diskussionen in der Hamburgischen Dramaturgie noch einmal zusammengefasst und schildert die kritischen Positionen der Tonkünstler Ferdinand Hiller (1855) und Franz Liszt im Gegensatz ]XU DIÀUPDWLYHQ 6LFKW DXI GLH 6FKDXVSLHOPXVLN VHLWHQV GHU /LWHUDWHQ .DUO *XW]kow (1855) und Heinrich Laube (1871). Vgl. HANSLICK, in: STRAUSS (Hg.) 1995, S. 147-158. LISZT (1855), in: RAMANN (Hg.), 1881, S. 136-150. Vgl. etwa SCHMIDT, 2006, S. 66-74.

„Zur Veredelung und Verschönerung des Theaters“

meinernden Schlussfolgerung, die nun einer Differenzierung bedarf: So heißt es 1995 in der Edition von Eduard Hanslicks Schriften, die Streichung der Zwischenaktmusiken sei „ab dem Jahr 1855 gang und gäbe“11 geworden. Auch Peter Larsen beschreibt 1999, dass „die Einführung des Spartentheaters […] und die damit verbundene Verringerung gemischter Spielpläne Mitte des 19. Jahrhunderts auch den Niedergang der Entreaktmusik im Schauspiel ein[leitete.] Das Verständnis für Zwischenaktmusik im Schauspiel ging verloren.“12 Mirow und Aber skizzierten 1926 ein Bild des Theateralltags der zweiten Jahrhunderthälfte, in dem mit der vermeintlichen Abschaffung der Zwischenaktmusiken, im Zuge von Entwicklungen hin zu einer stärkeren Spartentrennung, die Schauspielmusik eine untergeordnete bis gar keine Rolle mehr spielte.13 Ästhetisch untermauert schien diese Entwicklung durch die Übermacht von

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Siehe etwa den Kommentar zu Hanslick, in: STRAUSS (Hg.), 1995, S. 384: „Er [Hanslick] befasst sich kritisch mit der ästhetischen Streitfrage, ob die Streichung der Zwischenaktmusiken, wie sie ab dem Jahr 1855 gang und gäbe wurde, sinnvoll sei.“ LARSEN, 1999, S. 80. Noch 2003 folgert Arne Langer in einem Aufsatz über den Zwischenakt in der Schauspielmusik der 1820er Jahre über die „Entwicklung nach der Mitte des 19. Jahrhunderts“: „Wie in der einschlägigen Literatur seit langem beschrieben, wurde immer mehr auf obligate Zwischenaktmusik in den Theatern verzichtet, das Genre der Schauspielmusik erlebte eine grundsätzliche Umorientierung. Symptomatisch ist dafür die Forderung Christian Gottfried Lobes 1855 nach einem Verzicht auf Zwischenaktmusik, weil das Publikum gar keine Notiz davon nimmt, und Liszts Aufsatz Keine Zwischenakts-Musik! aus demselben Jahr.“ (LANGER, 2003, S. 248. Hervorhebungen im Original, das genannte Zitat ÀQGHWVLFKEHLLOBE, 1855, S. 302). Bereits wesentlich differenzierter als die oben genannten Beispiele aus den 1990er Jahren spricht Langer aber dennoch ganz selbstverständlich von der Gestaltung der Zwischenaktmusiken als (auf seinen Untersuchungszeitraum bezogen) zeitlich „begrenzte[...] Experimente[...], die die schleichende[...] Abkehr von orchestergestützter Schauspielmusik nicht aufhalten konnten.“ (S. 254). MIROW, 1926, S. 132-134. Aber argumentiert vor allem mit qualitativen (aber nicht hinterfragten oder begründeten) Kriterien, denn rein quantitativ zählt er gerade in seinem letzten Kapitel „Die Musik im modernen Drama – neue Wege der Schauspielmusik“ (S. 150-170) auch in der von ihm beschriebenen Zeit des „Verfalls“ viele Musiken zu Dramen etwa der Naturalisten auf. Die gesamte Quellenbasis ist in diesem frühen Werk nicht valide. 131

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Richard Wagners Musikdramen14 und seinen in den Züricher Reformschriften geäußerten Ideen einerseits sowie dem aufkommenden naturalistischen Theater andererseits. Erst mit Beginn des Regietheaters im 20. Jahrhundert wird eine neue Blüte der Gattung Schauspielmusik registriert.15 Tatsächlich gab es im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Umorientierung auf dem Gebiet der Schauspielmusik, die zweifelsohne auch mit den eben genannten ästhetischen Entwicklungen in Verbindung stand. Diese Entwicklungen verliefen allerdings heterogener als bislang vermutet, überdies parallel und damit keinesfalls in einer linearen Fortschrittsgeschichte, wie sie noch Aber skizziert:16 Musikdramen, große Schauspielmusiken und Konzertouvertüren konnten das Musikleben gleichermaßen nebeneinander bestimmen. Die bestehenden Theatertraditionen hinsichtlich gewöhnlicher Zwischenaktmusik scheinen sich an einigen Institutionen während des gesamten Jahrhunderts durchgängig gehalten zu haben, die Abschaffung der Zwischenaktmusik hat sich insofern weniger durchgesetzt als angenommen. Zudem zeigt sich, dass die Entwicklungen nicht problemlos mit der Vorstellung einer stetig fortschreitenden Spartentrennung in Einklang zu bringen sind, denn es entstanden gerade in der zweiten Jahrhunderthälfte viele extra zum Stück komponierte Musiken, die ein großes Orchester an den Theaterabenden erforderten – wie diese Theaterpraxis im Alltag vertraglich geregelt war, bliebe dabei noch zu hinterfragen.

14 15

16

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ABER, 1926, S. 150, auch bei ISTEL, 1907, Sp. 1291. So etwa LUCCHESI, 1986, S. 60: „Dennoch wurde Mitte des [19.] Jahrhunderts mit dieser Konvention [der Zwischenaktmusik] an den Theatern gebrochen.“ Lucchesis Überblick setzte im Folgenden aus den eben genannten Gründen eine Wiedereinführung der Schauspielmusik erst mit dem Beginn des 20. Jahrhundert und dem Regietheater an. So lobt er etwa die Steigerung der Ausdrucksfähigkeit des modernen Orchesters mit dem Entstehen der Programmmusik und folgert über diese Entwicklungen: „Es erscheint wie ein Verhängnis, daß gerade in diesem Zeitpunkt der Verfall der Schauspielmusik einsetzte und die Musik aus den Schauspieltheatern verdrängt wurde. Diese Verbannung hatte eine merkwürdige Folge: Es entstanden eine ganze Reihe von Konzertouvertüren, die von ihren Komponisten aus zu dramatischen Werken gehörig gedacht waren.“ Aber, 1926, S. 160 (Hervorhebung im Original). Die von Aber genannten Entwicklungen stehen sicherlich in Teilen in ursächlichem Zusammenhang, sie lösten sich aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht wie vom Autor beschrieben in Folge ab, sondern prägten das Konzertund Theaterleben gleichzeitig nebeneinander.

„Zur Veredelung und Verschönerung des Theaters“

Auch nach 1850 war die Theaterpraxis der regionalen Theaterkultur entsprechend vor allem eines: unterschiedlich. Je nach lokalen Traditionen und künstlerischem Personal setzten sich andere Konventionen durch, sodass (sich scheinbar widersprechende) unterschiedliche Entwicklungen gleichzeitig nebeneinander zu beobachten sind. Hier bedarf es zunächst einer Differenzierung, die durch einen Blick auf die Theaterpraxis und die ästhetische Diskussion gleichermaßen erfolgen kann und langfristig durch Studien der lokalen Gegebenheiten untermauert werden muss.

Theaterpraxis I: Keine Abschaffung der gewöhnlichen Zwischenaktmusiken am „Theater für alles“ 17 Retrospektiven wie Zwischenaktsmusik als Kulturträger von Richard Batka (1908 in München erschienen) erwecken den Eindruck, dass „die meisten Theater“ im Laufe des 19. Jahrhunderts die Zwischenaktmusiken nicht abschafften. Batkas Text beginnt mit dem Hinweis, dass aufgrund einer schlechten Zwischenaktmusik „man in allem Ernst wieder einmal öffentlich fragte, ob es nicht die allerhöchste Zeit sei, sie gänzlich abzuschaffen“: „Zu dem Standpunkt einiger besonders vornehmen (oder sparsamen) Schauspielinstitute, welche die Musik im Zwischenakte ganz abgeschafft haben, werden sich die meisten Theater, zumal die ‚Theater für alles‘, die über ein ständiges Orchester verfügen, kaum aufschwingen können“.18 Der aus dieser Quelle zu schließende Befund über eine noch 1908 anhaltende Praxis der Zwischenaktmusik für Theater, die nicht „besonders vornehm“ (oder „sparsam“) agierten, lässt sich etwa für das Stuttgarter Hoftheater bestätigen, einem „Theater für alles“, wie Batka es nennt: In dieser einzigen Theaterinstitution der Stadt wurden auch im 19. Jahrhundert nebeneinander Große Opern, Komische Opern, Vaudevilles, Possen mit Musik, Lust-, Schau- und Trauerspiele gegeben. An einem Abend wurden zudem oft mehrere Stücke unterschiedlicher Genres aus den Bereichen Oper, Schauspiel oder auch Ballett kombiniert, so dass ein mehr oder weniger voll besetztes Orchester ohnehin vor Ort war und spielte19 – im Gegensatz zu einer gänzlich anderen Situation in Metropolen wie Wien und Berlin (oder im nicht deutschsprachigen Kulturraum Paris und 17 18 19

Zitatnachweis siehe Anm. 18. BATKA, 1908, S. 86f. Dies war hier noch um 1900 der Fall, siehe Theaterzettelsammlung des Stuttgarter Hoftheaters (D-Sl) sowie GÜNTHER, 2000, S. 264. 133

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London), wo verschiedene Gattungsbereiche in ihrer spezialisierten Theaterlandschaft von verschiedenen Häusern gegeben wurden. Der Stuttgarter Befund legt nahe, dass es in diesem süddeutschen Hoftheater und Mehrspartenhaus bis ins 20. Jahrhundert hinein Tradition war, zwischen den Akten vom Orchester des Hoftheaters Musik spielen zu lassen. Das seit 1834 geführte Inventarium20 des Hoftheaters zeigt, welche Partituren für die Hofkapelle eingekauft wurden. Die dort aufgezählten Abteilungen wie „Singspiele“, „Musik zu Schau- und Trauerspielen, besonders dazu componirt“ oder „Sinfonien und Entre Acts“ zeiJHQGDVVELV]XP(QGHGHU$XÁLVWXQJ²GHQQELVGDKLQUHLFKWDXFKGDV Stuttgarter Material, das nach dem Theaterbrand 1902 neu geordnet wurde – in regelmäßigen Abständen neue Materialien für Schauspielmusik eingekauft wurden.211RFKÀQGHWVLFKLQGHQ3HUVRQDODNWHQHLQ6FKUHLEHQÅGD‰HVGHU nachdrückliche Befehl seiner Majestät des Königs sei, daß der Entr’acte-Musik mehr Sorgfalt als bisher zugewendet werde“,22 und eine Hochphase an Schauspielmusikkompositionen ist dort in den Jahren nach 1870 zu verzeichnen. Auch im Wiener Burgtheater scheint die Zwischenaktmusik Eduard Hanslick zufolge zumindest bis zum Tode Franz von Dingelstedts 1881 fortgeführt worden zu sein.23 Schließlich stimmt auch Edgar Istel noch 1907 in die Klage über die offensichtlich weiterhin gängigen, aber inzwischen schon als „berüchtigt“ und „verpönt“ geltenden gewöhnlichen Zwischenaktmusiken ein.24

20 21

22 23 24 134

D-Sl, Cod. mus., HB XVII 940, zur Quellenbeschreibung siehe GOTTWALD, 2004, S. 528. (LQH$EELOGXQJYRQKLHU]XDXVVDJHNUlIWLJHQ$XVVFKQLWWHQGHV,QYHQWDULXPVÀQGHW sich bei TUMATD6GRUWÀQGHQVLFKDXFK+LQZHLVH]XU3UD[LVGHU gewöhnlichen Zwischenaktmusik am Stuttgarter Hoftheater. Die Hofkapellmeister Carl Eckert und Karl Doppler an die Intendanz, 05.05.1867, D-StAL E 18 II Bü 878 Personalakte Wenzel Steinhart. HANSLICK [orig. 1881], 1995, S. 156. ISTEL, 1907, Sp. 1292.

„Zur Veredelung und Verschönerung des Theaters“

Ästhetische Positionen I: Abschaffung der Zwischenaktmusik, „so lange nicht charakteristische Musik geschaffen wird“ 25 Neben den Quellen aus den Theaterinstitutionen enthalten auch die zeitgenössischen Äußerungen zur Ästhetik der Schauspielmusik im Musikfeuilleton Hinweise über die Schauspielmusikpraxis in der zweiten Jahrhunderthälfte. Um diese zu diskutieren, ist es zunächst sinnvoll, die gängigen Spielarten der Schauspielmusik im 19. Jahrhundert noch einmal in Erinnerung zu rufen und terminologisch zu differenzieren,26 denn dieses geschieht im Musikfeuilleton nicht durchgängig (dort kann der allgemeine Terminus „Zwischenaktmusik“ für alle drei der im folgenden genannten Spielarten der Schauspielmusik stehen; erst der Kontext oder weitere Attribute klären zumeist die genauere Bedeutung des Wortes, wie anhand der unten besprochenen Zitate erkennbar wird). 1. In vielen Fällen wurde aus den vorhandenen Zwischenaktbänden zu verschiedenen Stücken spontan und zuweilen auch wahllos Musik gespielt, Richard Wagner etwa nennt diese von ihm kritisierte Praxis die „gewöhnliche Schauspielmusik“.27 2. Diese Praxis bleibt zu unterscheiden von jenen Musiken, in denen bereits komponierte Stücke extra arrangiert wurden, Franz Liszt spricht hierbei von „kombinierter“28 Musik. 3. Als ein dritter Fall darf die „speciell für ein Drama komponierte“29 Musik wie etwa Ludwig van Beethovens Komposition zu Goethes Egmont gelten. Diese letzte Spielart ist nicht erst seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts (auch im Zuge der Rezeption von Beethovens Musik zu Egmont) mit einem besonderen künstlerischen Anspruch versehen: Gottfried Weber spricht 1817 von dem „hohen Kunstzweck“, der in der Schauspielmusik nur dadurch erreicht werden könne,

25 26

27 28 29

Zitatnachweise siehe Anm. 32. Bisher hat sich für diese verschiedenen Spielarten der Schauspielmusik in der Musikwissenschaft keine einheitliche Terminologie durchgesetzt, vgl. hierzu KRAMER, 2002, S. 130; dazu BECK /ZIEGLER, 2003, S. 12; MEIER, 1999, S. 98f.; SCHMIDT, 2006, S. 72; KRAMER, 2008, S. 18. Im Folgenden wird wie bei Schmidt mit der zeitgenössischen oben benannten Terminologie aus der Mitte des 19. Jahrhunderts gearbeitet. WAGNER [orig. 1849], 1871, S. 344. LISZT [orig. 1855], in: RAMANN (Hg.), 1881, S. 149. EBD. 135

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dass „die Musikstücke [Ouvertüre und Entreacte] von einem sinnigen Tonsetzer eigens für das Stück geschrieben werden.“30 Betrachten wir die ästhetischen Diskussionen Mitte des Jahrhunderts erneut aus einer Perspektive, die zwischen den unterschiedlichen Spielarten der Schauspielmusikpraxis unterscheidet. Der oben bereits erwähnte Auslöser der Kontroverse um Liszt und Hiller war Bogumil Dawisons Gastspiel im Berliner Königlichen Schauspielhaus 1855, bei dem, um Platz für die Zuschauer zu schaffen, der Orchestergraben geräumt wurde. Infolgedessen wurde schließlich die nicht extra zu einem Stück komponierte Zwischenaktmusik im Schauspielhaus zu Berlin zunächst gestrichen. Franz Liszts Position aus seinem Essay Keine Zwischenakts-Musik!LVWKlXÀJ]LWLHUWZRUGHQZHQLJHUEHNDQQWLVWDOOHUGLQJVHLQH Fußnote des Essays: „Da das Publikum mit dieser Neuerung zufrieden war und die Intendanz den Einnahme-Etat bedeutend vermehrt sah, wurde beschlossen, diese Einrichtung mit Ausnahme der Fälle beizubehalten, in denen eine zum Schauspiel komponierte Musik vorhanden ist.“31 Liszt zufolge wurde in Berlin zwar keine „gewöhnliche“ Zwischenaktmusik, aber durchaus weiter Schauspielmusik gegeben, eben nur solche, die eigens „zum Schauspiel komponiert“ wurde. 1859 schaffte das Hamburger Stadttheater „nach dem Beispiele im Berliner Schauspielhause“ die Zwischenaktmusiken ab, „so lange nicht charakteristische Musik geschaffen wird“32 – auch in Hamburg blieben offensichtlich die extra zu einem Stück komponierte Musiken weiterhin Tradition. Das Leipziger Stadttheater folgte 1864 laut der Notiz in der NZfM mit der Abschaffung der „gewöhnlichen“ Zwischenaktmusik.33 Abgesehen davon, dass Heinrich Laube 30 31 32

33

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WEBER, 1817, S. 59. LISZT [orig. 1855], in: RAMANN (Hg.), 1881, S. 138, hier: Fußnote 1. In der NZfM 26 (1859), Bd. 51 Nr. 14 vom 30.09.1859, heißt es unter „Vermischtes“ (S. 120, Hervorhebungen im Original): „Im Hamburger Stadttheater ist die Zwischenactsmusik in Wegfall gekommen, nach dem Beispiele im Berliner Schauspielhause, aber ohne den dort gültigen Grund einer nothwendigen Raumgewinnung. Es heißt eben, so lange nicht charakteristische Musik geschaffen wird, unter zwei Uebeln das kleinere wählen, wenn man wenigstens die unpassende Musik wegläßt.“ Wiederum unter „Vermischtes“ heißt es in der NZfM 31 (1864), Bd. 60 Nr. 37 vom 09.09.1864, S. 326: „Seit der Wiedereröffnung des Leipziger Stadttheaters fällt die Zwischenactsmusik weg, um die Kräfte des Orchesters und die für die Theatermusik überhaupt disponiblen Mittel im Interesse der Sache ausschließlich der Oper und den sonst musikalisch auszustattenden Stücken zuwenden zu können.“ Auch

„Zur Veredelung und Verschönerung des Theaters“

diese offensichtlich bereits im Februar 1869 in Leipzig wieder einführte,34 zeigt ein Bericht über die Aufführung von Hebbels Nibelungen mit einer Komposition von Otto Bach im Leipziger Theater von 1867, dass auch nach der zwischenzeitlichen Abschaffung der „gewöhnlichen“ Entr’acts hier weiter extra zum Stück komponierte Musik aufgeführt wurde, die die allgemeine Diskussion um die Zwischenaktmusiken lebendig hielt. Diese wird vom Rezensenten der NZfM mit aller Beschreibungsmacht der romantischen Musikanschauung als „unbedingtes ästhetisches Erforderniß“ gelobt. „Zwischenactsmusik“ bezieht sich in diesem Zitat eindeutig auf eine extra zum Stück geschaffene Komposition, nicht, wie in allen oben genannten Belegen, auf „gewöhnliche“ Zwischenaktmusik: „Bei dieser Gelegenheit erhalten wir die Veranlassung, die Nothwendigkeit der Zwischenactsmusik auf das Entschiedenste zu betonen. Ganz besonders bei der Tragödie wirkt der plötzliche Uebergang aus der idealen Sphäre in die Wirklichkeit kahl und nüchtern. Deshalb ist die Musik an diesem Orte eben so unbedingtes ästhetisches Erforderniß, wie für das Gemälde der Rahmen. Ja, wir möchten diese Auffassung noch weiter ausdehnen und das Eintreten der Musik als die letzte nothwendige Spitze der Wirkung des Dramas bezeichnen. Nach dem Fallen des Vorhangs fühlt man das lebhafte Bedürfnis, die Schwingungen der Seele ausklingen zu lassen, die Musik giebt dem erhöhten Gefühlsleben, welches ja doch die Wirkung aller Kunst ist, einzig und allein – vorausgesetzt, dass ihr ein entsprechender Stimmungsgehalt innewohnt – den vollen Ausdruck, nach dem die Seele sehnlichst ringt.“35

Das Lob des Rezensenten schließt mit dem bemerkenswerten Satz: „Selbstverständlich wollen wir nicht einem Übermaß das Wort reden in dem Sinne, dass die Zwischenpausen ununterbrochen mit Musik ausgefüllt werden. Eine Ver-

34

35

die AmZ (N.F., 2 (1864), Nr. 36 vom 07.09.1864, S. 614) vermerkt unter „Nachrichten“: „Leipzig. Seit der Wiedereröffnung unseres Stadttheaters am 1. Sept. sind die Zwischenact-Musiken beseitigt, eine Maassregel, die wir im Interesse der Musik und der Musiker nur willkommen heißen können, da letztere nun für eigentlich musikalische Zwecke disponibel werden.“ LAUBE, 1872, S. 151: „Zwei Einrichtungen fand ich vor im Leipziger Theater, welche speziell norddeutsch sind: den sogenannten Zwischenvorhang, welcher bei Verwandlungen niedergelassen wird, und die Abschaffung der Zwischenactsmusik. Ich halte beide Einrichtungen für Verschlechterungen, und ich habe sie wieder abgeschafft.“ NZfM 34 (1867), Bd. 63 Nr. 42 vom 11.10.1867, S. 368. 137

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wendung der Musik wie in Beethoven’s Egmont ist vollkommen ausreichend.“36 Offenbar sah sich der Rezensent auch mit Schauspielmusiken konfrontiert, die einen Musikanteil, wie Beethoven ihn zu Goethes Egmont komponierte, noch überstieg. Im Darmstädter Hoftheater wurde das Spiel der „gewöhnlichen“ Schauspielmusiken 1877 abgeschafft.37 Doch auch hier verfügte Ludwig IV. per Dekret bei seinem Amtsantritt, „dass von jetzt an die Hofmusik an Schauspielmusikabenden von der Mitwirkung in meinem Hoftheater dispensiert ist, die Fälle ausgenommen, in welchen für ein Stück, Musik speciell componirt oder durch die Handlung bedingt ist. [...] 9.10.1877.“38 Ursula Kramer hat gezeigt, dass es anschließend nur noch vergleichsweise wenige Fälle dieser extra zum Stück komponierten Musiken in Darmstadt gab, dennoch ist es bezeichnend, dass das Abschaffen der „gewöhnlichen“ Zwischenaktmusiken im letzten Jahrhundertviertel auch hier diese zu einem bestimmten Schauspiel komponierten Werke selbstverständlich ausschloss. Hans von Bülows Brief vom 7.12.1877 aus Glasgow, in dem er von seiner anstehenden Arbeit als Hofkapellmeister am Hannoveraner Theater spricht, zielt in dieselbe Richtung – er schreibt von einer „Reform“ im Bezug auf die Zwischenaktmusik, die er „in den nächsten Monaten“ anzugehen gedenke: „Ich meine nicht Abschaffung, sondern Kanalisierung“. Eine Anmerkung der Herausgeberin Marie von Bülow zu den Briefen besagt: „Wie seiner Zeit in München, wurde im Laufe der Saison 1877-78 auch in Hannover die Zwischenaktmusik im Schauspiel fallen gelassen, dem klassiVFKHQ 'UDPD KLQJHJHQ HLQH 2XYHUWUH YRUDQJHVWHOOW GLH %ORZ KlXÀJ VHOEVW dirigierte.“39

36 37 38 39

138

EBD. KRAMER, 2008, S. 18. EBD., S. 185. VON BÜLOW, 1904, S. 475f. Von Bülows Wunsch von 1877, die „gewöhnlichen“ Zwischenaktmusiken in Hannover zu streichen, zeigt, dass auch in Hannover die Abschaffung der gewöhnlichen Zwischenaktmusiken ab 1857, zwanzig Jahre zuvor, kein Dauerzustand war. Unter „Vermischtes“ hieß es 1857 in der Neuen Zeitschrift für Musik: „Mehrere Intendanten der größeren Bühnen Deutschlands scheinen einen verabredeten Angriff auf die Zwischenactmusik zu machen. So meldet man zu gleicher Zeit, daß in den Hoftheatern zu Hannover und Mannheim die Zwischenactmusik abgeschafft worden ist.“ (NZfM 24 (1857), Bd. 47 Nr. 19 vom 06.11.1857, S. 205).

„Zur Veredelung und Verschönerung des Theaters“

Ästhetische Positionen II: „Das Recht einer besonderen Gattung“40 In der oft zitierten Kontroverse um die Abschaffung der Zwischenaktmusik Mitte des Jahrhunderts hatte sich keiner der Beteiligten41 aus ästhetischen Gründen gegen die Praxis einer extra zum Stück komponierten Musik ausgesprochen, denn in dieser Diskussion stand von Seiten der Musiker stets der Kunstanspruch im Zentrum der Debatten, der in den „gewöhnlichen“ Zwischenaktmusiken nicht eingelöst werden konnte. Gegen die Musik zwischen den Akten sprach nicht das Konzept eines Schauspiels mit eigens zum Stück komponierter Musik an sich, sondern allenfalls die problematische Rezeptionssituation,42 die mangelnde Konzentration der Zuschauer, so etwa für Ferdinand Hiller und Johann Christian Lobe: Sie unterstreichen die Idee der speziell zum Stück komponierten Musik als das Ideale,43 halten sie aber für leider nicht realisierbar. Lobe spricht sich aufgrund der Rezeptionssituation generell gegen Musik zwischen den Akten aus, Hiller für den Kompromiss einer Ouvertüre vor bedeutenden Theaterabenden. Richard Wagner, der selbst in seiner Jugend- und Lehrzeit als Komponist und Dirigent bis 1837 Schauspielmusiken komponiert hatte, bemüht sich in seinem 1848 verfassten, also noch vor den Kontroversen nach 1855 stehenden Entwurf zur Organisation eines deutschen National-Theaters für das Königreich Sachsen ausschließlich um die Abschaffung der beliebig eingesetzten Zwischenaktmusiken44 mit dem Argument, dass das Publikum durch zu viel „gewöhnliche“ Zwischenaktmusik der extra zum Stück verfassten gegenüber 40 41

42 43 44

Zitatnachweis siehe Anm. 47. Einzig die Wirkungsmächtigkeit der Musik im Drama irritierte Literaten wie Heinrich Laube soweit, dass sie die Musik wieder in ihre Rolle als „Hilfskunst“ zurück verwiesen wissen wollten und daher auch Werke wie Beethovens Musik zu Egmont kritisierten, vgl. LAUBE, 1872, S. 151; vgl. auch GUTZKOW, 1856, S. 47f. Vgl. hierzu SCHMIDT, 2006, S. 68. LOBE, 1855, S. 302; HILLER [orig. 1855], 1868, S. 194, zu den Ouvertüren S. 208. WAGNER [orig. 1849], 1871, S. 344: „Die Nothwendigkeit, nach dem Falle des Vorhang am Schlusse eines Schauspiel=Aktes Musik spielen zu lassen, ist nach keinem künstlerischen Ermessen zu rechtfertigen: es ist dies mehr eine durch zufälliJHVDOWHV+HUNRPPHQHQWVWDQGHQH*HZRKQKHLWGHUHQ%HLEHKDOWXQJGHU3ÁHJHGHU Kunst in jeder Beziehung nachteilig ist. Dem beabsichtigten Eindrucke des soeben beendeten Aktes eines Schauspieles könnte eine Musik höchstens nur dann entsprechen, wenn sie zur Festhaltung dieses Eindrucks eigens verfaßt worden wäre. [...] Die gewöhnliche Schauspielmusik wird daher künftig hinwegfallen.“ 139

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gleichgültig werde: „Wie viel höher wird nun solch’ eine Musik [die zur Erhöhung der Wirkung eines besonderen Schauspiels verfasst worden ist] in diesen besonderen Fällen wirken, wenn durch beständige Musikmacherei im Schauspiel das Publikum nicht dagegen gleichgültig gemacht worden.“45 (Wagners Empfehlungen für den Theateralltag orientierten sich hier noch nicht an seinen in den kommenden Jahren nieder geschriebenen radikalen ästhetischen Neuerungsbestrebungen der Züricher Kunstschriften). Für Franz Liszt entsprach, so Detlef Altenburg, „die Verbindung von Drama und Musik in Fällen wie Goethes und Beethovens Egmont sowie Shakespeares und Mendelssohns Sommernachtstraum seinem Ideal einer Synthese von Weltliteratur und Musik.“46 Liszt gesteht einer speziell zu einem Stück komponierten Schauspielmusik schließlich „das Recht einer besonderen Gattung“ zu: „Und noch weniger prätendiren wir […] der Mitwirkung der Musik beim Drama, sei es in der Art, in welcher Beethoven und Mendelssohn so hervorragende Beispiele gegeben, […] entschieden entgegen zu treten. Wir leugnen sogar nicht einmal, dass man auf der Bühne und anderen Ortes literarische und musikalische Werke, welche ursprünglich unabhängig voneinander waren, verbinden und zu einem mehr oder weniger harmonischen, jedoch hinlänglich berechtigten Ganzen verschmelzen kann. Aber gerade dadurch, dass wir solchem Verfahren das Recht einer besonderen Gattung zugestehen, bestätigen wir zugleich, dass sie mit der Frage der eigentlichen Entre-Akte gar nicht in Berührung steht: Denn diese nähren sich von allen Gattungen Musik, ohne selbst eine Gattung zu sein.“47

Liszts Votum, der extra zum Stück komponierten Schauspielmusik „das Recht einer besonderen Gattung“ zuzugestehen und seine Betonung, die Belange stünden darum mit der Frage der eigentlichen Entre-Akte gar nicht in Berührung, zeigen einmal mehr, dass zwischen den verschiedenen Formen der Schauspielmusik deutlich unterschieden wurde: nicht nur, wie oben gezeigt, in der Theaterrealität auf dem Weg zur Spartentrennung, sondern vor allem in ästhetischen Kategorien von Seiten der Tonkünstler.

45 46 47 140

EBD., S. 345. ALTENBURG, 2002, S. 202. LISZT [orig. 1855], in: RAMANN (Hg.), 1881, S. 139.

„Zur Veredelung und Verschönerung des Theaters“

Theaterpraxis II: Kultivierung vollständiger Schauspielmusiken mit „desto größerer Pietät“ in „großen Theatern“48 In der Diskussion um die Abschaffung der gewöhnlichen Entr’acts in der Jahrhundertmitte wurde eine alte Forderung im Musikfeuilleton wieder benannt, die schon Johann Adolph Scheibe 1739 formuliert hatte: die Forderung nach wenigen, aber dafür extra zu einem Stück komponierten Schauspielmusiken anstelle der vielen, beliebig ausgewählten Zwischenaktmusiken. Albert Schäfers berühmte Sammlung von Schauspielmusiken zu den Dramen Schillers, Goethes, Shakespeares, Kleists und Körners von 1886 – eine Hommage an die extra zum Stück komponierten Musiken und damit auch ein Zeugnis seiner Zeit – ist eine synoptische Zusammenfassung der Gattung und bedeutet gleichermaßen ihre ästhetische Aufwertung. Wenn Schäfer (nach Klagen über die mangelnde Würdigung der Gattung) schließlich die Praxis seiner Gegenwart wie folgt beschreibt, scheint das oben benannte ästhetische Postulat nun im späten 19. Jahrhunderts eingelöst zu sein: „Mehrere große Theater, in erster Linie die Hoftheater in Berlin und München, denen sich später das Stadttheater in Leipzig anschloss, heben denn auch die Zwischenaktmusik ganz auf, während sie mit desto größerer Pietät die vollständigen Schauspielmusiken kultivierten, welche wir zu den verschiedenen Dramen unserer Dichter besitzen, – ein lobenswertes Beispiel, welches nicht genug der Nachahmung empfohlen werden kann und das bei möglichst allgemeiner Befolgung wesentlich zur Veredelung und Verschönerung des Theaters beitragen würde.“49

Betrachten wir die Entwicklung der Schauspielmusik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf diese vollständigen, ihrem frühen Vorbild BeeWKRYHQ YHUSÁLFKWHWHQ 0XVLNHQ VWR‰HQ ZLU DXI PLW KRKHP NRPSRVLWRULVFKHP Anspruch entstandene Werke von symphonischem Ausmaß (diese Traditionslinie hielt sich bis ins 20. Jahrhundert etwa in Musiken wie Jean Sibelius’ Komposition zu Shakespeares Tempest von 1925). Wie Franz Liszt es 1855 gefordert hatte, wurden die Komponisten dieser Musiken, um sie angemessen zu würdigen, auf den Theaterzetteln in der Regel aufgeführt. Die Schauspielmusiken stehen in Bezug auf musikalisches Material und Formenreichtum gleichfalls in 48 49

Zitatnachweise siehe Anm. 49. SCHAEFER, 1886, S. 8. 141

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ästhetischer Interdependenz mit dem „durchkomponierten“ Musiktheater der Zeit, Zusammenhänge werden auch hier durch musikalische Mittel wie Tonarten und Leitmotivik gestiftet. Die musikalische kann als semantisch eigenständige Bedeutungsebene der Inszenierungen interpretiert werden. Diese Schauspielmusiken sind – wie ihre Vorläufer in der ersten Jahrhunderthälfte – auf ein Zusammenwirken von Musik und Sprache auf der Bühne hin geschrieben. Durch einen großen, symphonisch angelegten Orchesterapparat einerseits und die Fortschritte in der Bühnentechnik andererseits gewinnt auch die Diskussion um die Gewichtung von Musik und Sprache im Schauspiel im Kontext dieser Werke eine neue Brisanz. Die Kontroverse um die „Macht der Töne“50 wird nun ähnlich intensiv ausgetragen wie jene um die „Veroperung des Schauspiels“ (Goethe) um 1800. Eine Schauspielmusik hatte in der Gattungshierarchie inzwischen auch ohne projektierte Inszenierung symphonischen Status erreicht, so komponierte etwa Arthur Sullivan als Examensstück am Leipziger Konservatorium 1861 anstelle der zuerst begonnenen Symphonie schließlich seine Schauspielmusik zum Tempest. Mit den üblichen Aufführungen vieler Musiken mit Zwischentexten im Konzertsaal sowie der verstärkten Komposition von Konzertouvertüren verschwammen die Grenzen zwischen Bühnen- und konzertantem Kontext Schauspielmusiken betreffend zusehends.51 Gab es an einzelnen Theatern Persönlichkeiten, die sich besonders um die Kompositionen von Schauspielmusik auch im Theateralltag verdient machten wie am Stuttgarter Hoftheater etwa Max Seifriz,52 so wurden die meisten der großen Musiken weiterhin zu besonderen Repräsentationsanlässen in Auftrag gegeben: Zunächst zu königlichen Geburtstagen, wie etwa in München 1855 die erste große Sprechtheater-Aufführung von Shakespeares Sturm im 19. Jahrhundert in Deutschland53 zum Geburtstag des bayerischen Königs Maximilian II. Der opernbegeisterte Intendant Franz Dingelstedt inszenierte Shakespeares Sturm mit aufwändiger Musik. Wilhelm Tauberts bald sehr populäre Komposition dazu wurde wenig später gedruckt und in diversen Städten nachgespielt. 50 51 52 53

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GUMPRECHT, 1861, S. 414 und allg. ISTEL, 1907, Sp. 1292. Vgl. Anm. 16. Vgl. hierzu TUMAT, 2005, S. 134. Gemeint ist die erste Sprechtheater-Aufführung des 19. Jahrhunderts nach Aufführungen der Laientruppe von Christian Martin Wieland in Biberach 1761, den 1780 und 1792 folgenden Wiener Bearbeitungen, der eigenen Bearbeitung Tiecks 1796 sowie der anschließenden Welle von Singspielen um 1800. Vgl. auch LIEBSCHER, 1909, S. 125.

„Zur Veredelung und Verschönerung des Theaters“

Sie diente Engelbert Humperdinck noch 1906 als Vorlage für seine Sturm-Musik im Neuen Schauspielhaus Berlin; er kannte und zitierte Taubert. Im Zuge des sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfestigenden Nationalbewusstseins,54 an dem auch kulturelle Diskurse beteiligt waren, wurden vermehrt Gedenktage zum Anlass genommen, große Schauspielmusiken in Auftrag zu geben, galt doch die Rezeption Goethes und Schillers als Beitrag zur QDWLRQDOHQ6HOEVWÀQGXQJ'HXWVFKODQGVVHLWHQVGHU.XOWXU6FKLOOHUYHUHLQHXQG IHLHUQIXQJLHUWHQDOVÅ5HOLJLRQVHUVDW]´DOVÅ3URMHNWLRQVÁlFKHQDWLRQDOHU,GHQtität, und damit als Kompensation für die politische Schwäche des deutschen Bürgertums“.55 Zu Schillers 100. Geburtstag 1859 entstand auf eine Ausschreibung von der Deutschen Tonhalle hin die ca. 200 Seiten starke, preisgekrönte Partitur zur Jungfrau von Orleans von Louis Hetsch.56 Nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 187157 verstärkte sich diese Tendenz: So wurde etwa die erste Gesamtaufführung von „Goethe’s Faust / für die / Aufführung als Mysterium / in zwei Tagewerken / eingerichtet [...]“58 1876 (im gleichen Jahr der Uraufführung von Richard Wagners Ring) ein wichtiges nationales Repräsentationsereignis, das an zwei Abenden jeweils sechs Stunden dauerte. Über 40 Schauspieler und Sänger waren neben Chor, Kinderchor und großem Sinfonieorchester an den Aufführungen beteiligt. Unter den mehr als 60 Nummern 0XVLNÀQGHQVLFKYLHOH]XVlW]OLFKH0HORGUDPHQXQGZHLWÁlFKLJHV]HQHQEHUgreifend durchkomponierte Teile (etwa die Walpurgisnacht), in denen sich Melodramen und Gesangsnummern abwechseln. Der Anlass dieser Inszenierung war die Säkularfeier zu Goethes Ankunft in Weimar 1775; die 1829 zum ersten Mal gespielte Faust-Musik von Carl Eberwein wurde nun durch die Musik von Eduard Lassen im Rahmen dieser ersten gemeinsamen Aufführung des Faust I und II abgelöst.59 54 55 56 57

58 59

Vgl. WEHLER, 2001, S. 13ff. Gerhard, 1998, S. 760. Vgl. hierzu TUMAT, 2012b, S. 690-701. Eine große Anzahl der extra zum Stück komponierten Schauspielmusiken lässt sich auch in Frankreich nach dem Entstehen der dritten Republik ausmachen. Der neue intellektuelle Aufbruch nach 1871 blieb auch hier vermutlich nicht ohne Auswirkung auf die Theater, vgl. KOLB, 2013 sowie den Beitrag von Herbert Schneider in diesem Band, S. 259ff. So der Titel des von Otto Devrient eingerichteten, mit einer Einleitung versehenen und herausgegebenen Textes, Karlsruhe 21881. Zu der Inszenierung vgl. aus theaterwissenschaftlicher Perspektive MEIER, 1999; DIES., 2003; TUMAT, 2014. 143

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In eine gänzlich andere Richtung weist der naturalistische Schauspielstil im Inszenierungskonzept des Meininger Hoftheaters.60 Die hier integrierte Musik sollte vor allem den Anschein von historisch stimmiger Originalität erwecken.61 Das so entstandene Konzept von Bühnenmusik ließe sich als „Historismus“ im Bereich der Schauspielmusik umschreiben.62 Dabei handelte es sich gleichfalls um extra zum Stück komponierte, oft kurze funktionale Musiken, in denen das Gewicht von Musik als Teil der Aufführung wieder auf ein Maß gekürzt wurde, wie es um 1800 bereits an kleineren Theatern üblich gewesen war. Kompositionen des Meininger Musikdirektors Wilhelm Reif kaufte wiederum auch das Stuttgarter Hoftheater 1895 ein und spielte diese neben den großen, extra zum Stück komponierten Musiken. Zusammenfassend ergibt sich aus den hier untersuchten Quellen folgendes Bild: Im deutschen Kulturraum schafften nach 1850 wenige große Theater mit hohem künstlerischen Anspruch die „gewöhnlichen“ Zwischenaktmusiken ab, förderten aber dafür extra zu Schauspielen komponierte Musiken besonders. „Theater für alles“, wie das Stuttgarter Hoftheater, behielten alle Spielarten der Schauspielmusikpraxis bei, so auch die „gewöhnliche“ Zwischenaktmusik. Daneben gab es viele Zwischenformen: die vorübergehende oder aber endgültige, dafür allerdings spätere Abschaffung der „gewöhnlichen“ Zwischenaktmusiken. Der Frage, inwiefern die Lage der „süddeutschen“ oder „norddeutschen“ Theater hierbei eine zentrale Rolle spielt, wie es Heinrich Laube suggeriert, wäre in einer gesonderten Analyse nachzugehen. Für den Beginn des 20. Jahrhundert beschreibt Istel 1907 die Situation wie folgt: „[...] gegenwärtig scheint sie [die Schauspielmusik] geradezu Mode geworden zu sein, um so mehr, als bedeuWHQGHPRGHUQH.RPSRQLVWHQVLFKEHLYHUVFKLHGHQHQ$QOlVVHQEHUHLWÀQGHQOLHßen, zu besonderen Gelegenheiten klassischen und romantischen Schauspielen ihre Unterstützung angedeihen zu lassen.“63 Sein Urteil resümiert: „Schließlich kommt es immer auf die Art des Dichters, auf die ‚Musikalität‘ der Dichtung 60

61 62 63 144

Dieser ist wiederum von den Inszenierungen so genannter „naturalistischer“ Autoren, wie sie Aber aufzählt, zu differenzieren, denn deren Werke wurden zuweilen mit größerem symphonischem Apparat und in anderer Ästhetik inszeniert als etwa „klassische“ Stücke bei den Meiningern. Ein nach literaturgeschichtlichem Verständnis „naturalistischer“ Autor musste nicht auch notwendigerweise „naturalistisch“ inszeniert sein. Vgl. ABER, 1926, S. 153. GOLTZ, 2009, S. 73-93. Vgl. die Ausführungen zu Schillers Wallenstein im Beitrag von Beate Schmidt in diesem Band. ISTEL, 1907, Sp. 1921.

„Zur Veredelung und Verschönerung des Theaters“

und auf die Persönlichkeit des Komponisten an, und wenn unter diesen verschiedenartigen Faktoren eine Harmonie zu erzielen ist, so kann zweifellos die Poesie, deren Eindruck um ein erhebliches verstärkt wird, nur gewinnen.“64 Von einem allgemeinen „Niedergang“ oder „Verfall“ der Schauspielmusikpraxis in der zweiten Jahrhunderthälfte kann nach jetzigem Kenntnisstand also keineswegs ausgegangen werden. Erst die genaue Untersuchung der an einzelQHQ,QVWLWXWLRQHQJHSÁHJWHQ)RUPWUDGLWLRQHQRGHUDEHUGHUEHZXVVWYROO]RJHQHQ Neuorientierungen in ausgewählten Inszenierungen bis hin zum Regietheater des 20. Jahrhunderts wird die hier angerissenen Thesen in ein Gesamtbild des Theateralltags im deutschen Kulturraum des 19. Jahrhunderts einfügen können.

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64

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Schauspielmusik in Europa jenseits der Grenzen des deutschsprachigen Theaters

Schauspielmusik in Spanien vor Lope de Vega STEPHANIE KLAUK

Mit Lope de Vega und Calderón de la Barca erlebte das spanische Theater eine Blütezeit, in der in Literatur und Malerei Werke von Weltrang entstanden. Die Grundlagen dieses Siglo de Oro reichen weit ins 16. Jahrhundert zurück. Auch die Anfänge einer genuin spanischen Theatermusik sowie des spanischen Musiktheaters lassen sich dahin zurückverfolgen. Die Musik im gesprochenen 7KHDWHUGHV-DKUKXQGHUWVELOGHWZHQLJHUDXIJUXQGLKUHVKlXÀJHQ(LQVDW]HV sondern vielmehr hinsichtlich ihrer Formen und ihrer Verwendung das musikGUDPDWLVFKH(UEHDXIGDVGLH*DWWXQJHQ&RPHGLD=DU]XHODXQG$XWR6DFUDmental aufbauen. Die Comedia mit weltlicher und das Auto Sacramental mit geistlicher Thematik gehören zu den wichtigsten Gattungen des Sprechtheaters im 17. Jahrhundert, werden aber mit unterschiedlich langen Anteilen an musikalischen PassaJHQDXVJHVWDWWHWZlKUHQGGLH]XQlFKVWDP+RIDXIJHIKUWH=DU]XHODPLWGHP Singspiel zu vergleichen ist, also ebenfalls nicht durchgehend gesungen wird. Trotz oder gerade wegen der politischen und kulturellen Nähe zu Italien spielt die Oper in Spanien erst ab dem 18. Jahrhundert eine Rolle,1 sodass der spanischen Schauspielmusik eine besondere Bedeutung zukommt. 1

'LH (QWVWHKXQJ GHV 0XVLNWKHDWHUV LQ 6SDQLHQ ZXUGH JHZ|KQOLFK PLW GHU HUVWHQ Oper La selva sin amor (1627) des Dichters Lope de Vega, deren Musik von Filippo Piccinini nicht überliefert ist, angesetzt. Dabei handelt es sich jedoch um eine einmalige Aufführung, die ohne Auswirkungen, auch auf die beiden nächsten und einzigen spanischen Opern des 17. Jahrhunderts, La púrpura de la rosa und Celos aún del aire matan (beide zu Texten von Pedro Calderón de la Barca und im Jahre 1660 uraufgeführt) geblieben ist. Insofern kann nicht von einer kontinuierlichen (QWZLFNOXQJ KLQ ]X HLQHU HLJHQVWlQGLJHQ VSDQLVFKHQ 2SHU JHVSURFKHQ ZHUGHQ sondern die drei erwähnten Produktionen nehmen vielmehr eine Sonderstellung 151

Stephanie Klauk

Grundsätzlich – und das gilt auch noch für das Theaterrepertoire des 17. Jahrhunderts – wurde Musik nicht zusammen mit den Dramentexten notiert bzw. überliefert. Die Verwendung von Musik zu Schauspielen ist jedoch schon mit dem Beginn des neuzeitlichen Theaters in Spanien belegt.2 Als Begründer GHVPRGHUQHQ7KHDWHUVJLOWGHU'LFKWHUXQG.RPSRQLVW-XDQGHO(QFLQD  FD GHUDP+RIGHV+HU]RJVYRQ$OEDLQ6DODPDQFDZLUNWH(QFLQDV'UDmen enden gewöhnlich mit Tanz und Gesang, wobei der Gesangstext die Thematik der szenischen Darstellung aufgreift und dabei gleichzeitig im Kontext weiterer festlicher Umrahmungen steht. So bildet beispielsweise der Villancico3 „Gran gasajo siento yo“, in dem die Geburt Jesu freudig besungen wird, den $EVFKOXVVHLQHU(NORJHGLHDP:HLKQDFKWVDEHQGLQV]HQLHUWZXUGH Die ersten bekannten Schauspiele des modernen Theaters fanden also in eiQHPK|ÀVFKHQRGHUDGOLJHQ8PIHOGVWDWW:HLWHUHSURPLQHQWH'UDPHQDXWRUHQ DXVGHPHUVWHQ-DKUKXQGHUWGULWWHOVLQGLQGLHVHP=XVDPPHQKDQJEHLVSLHOVZHLVH Juan Fernández de Heredia am vizeköniglichen Hof in Valencia und Gil Vicente als zweisprachiger Autor des portugiesischen Königshofes. (LQHZHLWHUHJHVHOOVFKDIWOLFKH0LQGHUKHLWNDPDQ6FKXOHQXQG8QLYHUVLWlten mit lateinischen, spanischen oder auch gemischtsprachigen Inszenierungen LQ .RQWDNW9RQ QDFKKDOWLJHP (LQÁXVV DXI QDFKIROJHQGH 'LFKWHUJHQHUDWLRQHQ sowie hinsichtlich der Verwendung von Musik von Bedeutung war jedoch erst das im Umfeld der Jesuitenschulen produzierte humanistische Repertoire. Die übrigen Gesellschaftsschichten konnten durch liturgische und paraliturgische Dramen oder im Kontext profaner Feierlichkeiten mit dem zeitgenössischen Theater bekannt werden. Beide Formen waren allerdings in erster Linie an bestimmte Anlässe wie z.B. Kirchenfeste oder Jahrmärkte geknüpft. (UVWLQGHQHU-DKUHQEHJDQQGLH+HUDXVELOGXQJHLQHV|IIHQWOLFKHQ7KHaters, das lediglich der Unterhaltung der breiten Masse dienen und aus welchem

2 3

 152

im dramatischen Repertoire ein. Vgl. hierzu: STEIN, 1993, S. 205, und KLEINERTZ, 2003, Bd. 1, S. 2f. Vgl. zur Musik in den liturgischen Spielen des Mittelalters beispielsweise: DONOVAN, 1958; GÓMEZ MUNTANÉ, 2001. Der Villancico ist eine volkssprachige poetisch-musikalische Gattung, die sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Spanien ausbildet. In enger Verwandtschaft mit der italienischen Ballata stehend, umfasst sie üblicherweise einen Refrain und mehrere Strophen. Im 15. und 16. Jahrhundert behandeln die Texte sowohl weltliche als auch geistliche Themen, während der Villancico danach auf religiöse Sujets beschränkt ist und bis heute spanische Weihnachtslieder bezeichnet. SHERGOLD, 1967.

Schauspielmusik in Spanien vor Lope de Vega

nach und nach ein erheblicher kommerzieller Nutzen gezogen werden sollte. Kennzeichnend für das frühe kommerzielle Theaterwesen in Madrid war die ÀQDQ]LHOOH%HWHLOLJXQJYHUVFKLHGHQHUYRQ/DLHQEUXGHUVFKDIWHQ FRIUDGtDV JHführter Hospitäler, die im Gegenzug eine Freiluftbühne zur Verfügung stellten, nämlich die sich durch benachbarte Häuser ergebenden Innenhöfe (corrales). (LJHQVDOV|IIHQWOLFKH7KHDWHUYRQFRIUDGtDVHUZRUEHQXQGNRQ]LSLHUWZDUHQGHU 1579 eröffnete Corral de la Cruz und der 1583 in Betrieb genommene Corral GHO3UtQFLSHLQ0DGULG=XUJOHLFKHQ=HLWIDQGHQDXFKLQDQGHUHQ6WlGWHQZLH Sevilla oder Valencia erste organisierte Aufführungen für das öffentliche Publikum statt.5 'LH 8QWHUVFKHLGXQJ GLHVHU GUHL $XIIKUXQJVUDKPHQ ² K|ÀVFKDGOLJ JHlehrt-humanistisch und öffentlich – anhand differenzierter szenischer Praktiken wurde aus literatur- und sprachwissenschaftlichen Perspektiven vorgenommen,6 ließ sich jüngst jedoch ebenfalls in Bezug auf die Schauspielmusik plausibel machen.7 Unabhängig vom Aufführungskontext ist die Quellenlage zu den Inszenierungen und den jeweils herrschenden Rahmenbedingungen insgesamt VHKUGUIWLJ+LVWRULVFKH=HXJQLVVHLQ)RUPYRQ]HLWJHQ|VVLVFKHQ%HVFKUHLEXQgen der Musik oder bildliche Darstellungen mit Musikern sind kaum vorhanden. Methodologisch sind zur Untersuchung der spanischen Schauspielmusik also in erster Linie die überlieferten Dramentexte heranzuziehen. Die zunächst heterogen anmutende, größere Anzahl verschiedener Gattungsbezeichnungen8 reduziert sich erst zum 17. Jahrhundert auf die bereits erwähnten Hauptformen &RPHGLD$XWR VDFUDPHQWDO XQG =DU]XHOD ,Q HLQHU JU|‰HU DQJHOHJWHQ 6WXGLH wurden knapp 500 in Manuskripten und Drucken überlieferte Dramen auf die mögliche Beteiligung von Musik hin untersucht.9 Während sich allgemeine Hinweise auf Instrumentalmusik sehr selten und auf konkrete Werke überhaupt QLFKWÀQGHQOLH‰HQHUZLHVVLFKGHU$QWHLODQ9RNDOPXVLNDOVUHODWLYKRFK'DPLW sind Gesangseinlagen gemeint, deren Texte in den eigentlichen Dramentext einJHIJWVLQG8PVROFKH*HVDQJVHLQODJHQLGHQWLÀ]LHUHQ]XN|QQHQPVVHQ²GD 5 6 7 8

9

DAVIS /VAREY, 1997, S. 15ff. Vgl. zum Begriff der „prácticas escénicas“ („práctica populista“, „cortesana“ und „erudita“) OLEZA SIMÓ Vgl. KLAUK, 2012, zusammenfassend besonders S. 233-235. Auto und Auto sacramental, Coloquio, Comedia und Comedia pastoril, Consueta, Diálogo, Égloga, (QWUHPpV, Farsa und Farsa sacramental, Paso, Representación, Tragedia, Tragicomedia. In einigen Fällen werden sie sogar doppelt vergeben: Auto o Farsa, Farsa a manera de Tragedia, Farsa o Tragedia, Farsa o cuasi Comedia. KLAUK, 2012. 153

Stephanie Klauk

die Notentexte bekanntlich nicht mit notiert oder abgedruckt wurden – andere Kriterien herangezogen werden: • Der zu singende Text ist mit charakteristischen Termini überschrieben wie beispielsweise „Villancico“, die eindeutig auf den gesanglichen Vortrag verweisen.10 • Die Hinweise auf einen Liedtext stammen von den dramatischen Personen selbst, sind also gewissermaßen als (dramen-)interne Didaskalien zu verstehen. • ([WHUQH'LGDVNDOLHQLGHQWLÀ]LHUHQHLQHQQDFKIROJHQGHQ7H[WDOV*HVDQJVWH[W ]%Å(QWUDOD9HUGDGFRQXQHVSHMRHQODPDQRFDQWDQGR´11 „Die Wahrheit tritt mit einem Spiegel in der Hand singend ein [auf die Bühne].“ • Liedtexte sind anhand einer typischen Versstruktur erkennbar, die sich außerdem von der übrigen Metrik des Dramentextes abhebt. Villancicos zeichnen sich beispielsweise durch ihren wiederkehrenden Refrain aus. Auf diese Art und Weise konnten aus den untersuchten Dramentexten über 1000, mehrheitlich spanische Liedtexte erschlossen werden, deren äußere Form auf Vertonungen innerhalb der musikalischen Gattungen Villancico, Romance und 0DGULJDO KLQGHXWHW (UVW LQ HLQHP QlFKVWHQ 6FKULWW ZXUGH YHUVXFKW PLW +LOIH von Textvergleichen konkrete Vertonungen zu den jeweiligen Gesangseinlagen zu ermitteln. Als mögliche Quellen dieser Vertonungen kommen unter anderem die überwiegend handschriftlich überlieferte Vokalpolyphonie, Vihuelalehrbücher und Traktate in Frage. Insgesamt konnten fast 10% der vulgärsprachlichen /LHGWH[WHHQWVSUHFKHQGH0XVLN]XJHRUGQHWZHUGHQ'LHVH=XRUGQXQJHQODVVHQ sich aus den verschiedensten Gründen jedoch nicht ohne weiteres vornehmen. Viele der Dramentexte und auch der überlieferten Kompositionen wurden anonym verfasst und sind nicht genau datierbar, sodass sich Verbindungen zwischen Dramen- und Musiktexten nicht immer zwingend ergeben. In jedem einzelnen Fall muss daher geprüft werden, ob eine konkrete Vertonung als Schauspielmusik überhaupt in Frage kommt oder mit welcher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist. =XU3UREOHPVNL]]LHUXQJZHUGHQLP)ROJHQGHQYHUVFKLHGHQH0|JOLFKNHLWHQ erläutert, wie sich die ermittelte(n) Vertonung(en) und der vorhandene Liedtext zueinander verhalten können. Am einfachsten und in dieser Form einmalig stellt sich die Quellenlage IU GLH *HVDQJVHLQODJHQ GHV EHUHLWV HUZlKQWHQ -XDQ GHO (QFLQD DP (QGH GHV 10 11 154

Vgl. hierzu: KLAUK6 Aucto de la Verdad y la Mentira, in: ROUANET%G6

Schauspielmusik in Spanien vor Lope de Vega

15. und zu Anfang des 16. Jahrhunderts dar. Seine für den Herzog von Alba entVWDQGHQHQ'UDPHQWH[WHOLHJHQLQJHGUXFNWHU)RUPYRU'D(QFLQDLQ6DODPDQFD außerdem als Sänger und Komponist tätig war, fanden einige seiner musikaliVFKHQ:HUNHDXFK(LQJDQJLQGLHKDQGVFKULIWOLFKH/LHGHUVDPPOXQJCancionero Musical de Palacio (ca. 1505 bis 1520),12 die vermutlich im Kontext des MadULGHU.|QLJVKRIHV]XVDPPHQJHVWHOOWZXUGH'RUWVLQGXQWHU1HQQXQJ(QFLQDV als Komponisten drei Villancicos13 (zwei weitere sind zwar im Inhaltsverzeichnis aufgeführt, aber nicht als Notentexte erhalten) überliefert, die sich höchstZDKUVFKHLQOLFKGHQHQWVSUHFKHQGHQ*HVDQJVHLQODJHQ LQVJHVDPWDXV]Z|OI verschiedenen Dramen) zuordnen lassen oder sogar ausdrücklich für die dramatische Inszenierung komponiert wurden. Darauf lassen sowohl die vollständige Konkordanz der Texte als auch die Übereinstimmung von Stimmenanzahl und Stimmlagen der mehrstimmigen Villancicos mit den an den Gesangseinlagen beteiligten dramatischen Personen schließen (vgl. Notenbeispiel 1: „Oy comaPRV\EHYDPRV´GHVVHQ7H[WPLWGHP9LOODQFLFRDXV(QFLQDVEgloga representada la mesma noche de Antruejo o Carnestollendas identisch ist). Selbstverständlich müssen auch musikalische Anlage und Charakteristika GHU 9HUWRQXQJHQ PLW GHU FKURQRORJLVFKHQ (LQRUGQXQJ GHU 7KHDWHUWH[WH E]Z DXIIKUXQJHQ NRUUHOLHUHQ:lKUHQG GLHV EHL GHQ XQWHU (QFLQDV 1DPHQ EHUlieferten Villancicos im Cancionero Musical de Palacio eindeutig der Fall ist, lassen sich hierfür auch Gegenbeispiele anführen. So ist eine gleichnamige, im Refrain identische Vertonung des Villancico „Ojos garços ha la niña“, der als /LHGWH[WLQ(QFLQDVEgloga trobada por Juan del Encina en la qual representa el Amor de cómo andava a tirar en una selva erscheint, im Cancionero de Uppsala (Venedig 1556) überliefert sowie eine im Refrain schon abweichende in der Recopilación de sonetos y villancicos a quatro y a cinco (Sevilla 1560) von Juan Vásquez. Beide Kompositionen können als Vertonungen der szenischen Gesangseinlage jedoch ausgeschlossen werden, weniger aufgrund textueller und metrischer 12 13



ANGLÉS, XQG „Gasagémonos de huzia“ (Egloga representada por las mesmas personas que en la de arriba van introducidasDXIJHIKUW Å2\FRPDPRV\EHYDPRV´ Egloga representada la mesma noche de Antruejo o CarnestollendasDXIJHIKUW  „Ninguno cierre las puertas“ (Egloga representada por las mesmas personas que en la de arriba van introducidasDXIJHIKUW  „Circundederunt me/dolores de amor y fe“ (Egloga de Plácida y Vitoriano, 1513 aufgeführt); „Repastemos el ganado“ (Egloga representada en reqüesta de unos amoresDXIJHIKUW  155

Stephanie Klauk

Abweichungen in der Strophe,15 als aufgrund der kompositorischen Anlage der Villancicos und der musikalischen Sprache insgesamt, die bis zur Mitte des -DKUKXQGHUWVHLQHPWLHIJUHLIHQGHQ:DQGHOXQWHUODJ'LH9LOODQFLFRVYRQ(Qcina und seiner Generation sind homophon gesetzt, mit syllabischer Textdeklamation und aus kleingliedrigen Phrasen (üblicherweise vier Takte) bestehend, die mit jeweils einer Textzeile zusammenfallen. Der musikalische Aufbau ist, abhängig von der Textlänge, mindestens zweiteilig: Der musikalische A-Teil setzt grundsätzlich die Refrainverse in Musik, während im B-Teil die ersten Strophenverse vertont werden, bevor die letzten Strophenverse (abhängig von der Anzahl der Refrainverse) wieder auf den A-Teil fallen. Gewöhnlich weisen A- und B-Teil gemeinsame musikalische Phrasen auf (vgl. dazu auch Notenbeispiel 1). In dem ohne Komponistennamen überlieferten Villancico „Ojos garços ha la niña“ aus dem Cancionero de Uppsala bleibt die Textdeklamation zwar überwiegend syllabisch, allerdings wird ein Großteil des Textes aufgrund der imitatorischen Setzweise mehr als einmal vorgetragen, während die gleichnamige Komposition von Juan Vásquez trotz identischer poetischer Anlage musikalisch mit dem für die erste Jahrhunderthälfte typischen Villancico-Schema lediglich noch die dreiteilige Großform gemein hat.16 bKQOLFKSUREOHPDWLVFKHUZHLVWVLFKGLH=XRUGQXQJGHV9LOODQFLFRÅ1RPH los amuestres más“17 zu dem Liedtext „No me las enseñes mas“ aus der Farsa del juego de cañas YRQ 'LHJR 6iQFKH] GH %DGDMR] ‚  +LHU OLHIHUW GLH (UZlKQXQJHLQHVGXUFKEHLGH)LJXUHQXQGSDUDOOHO]XP*HVDQJDXV]XIKUHQden Tanzes einen wichtigen Hinweis zur inneren Struktur der Schauspielmusik: „Aqui cantan el pastor y la serrana juntamente este villancico baylando mano por mano.“18 Da der Villancico der Liedersammlung imitatorisch und mit zum 7HLOPHOLVPDWLVFKHU7H[WGHNODPDWLRQGHU(LQ]HOVWLPPHQDQJHOHJWLVWZlUHHLQ beiden Sängern gemeinsamer Tanzrhythmus im Falle eines zweistimmigen VorWUDJVVFKOLFKWZHJXQP|JOLFKXQGDXFKLQ(LQVWLPPLJNHLWZHQLJZDKUVFKHLQOLFK Auch in diesem Fall ist also eher an eine homophone Vertonung aus dem Can15

16 17 18 156

:lKUHQGGLH6WURSKHGHV/LHGWH[WVYRQ(QFLQDYLHU9HUVHXPIDVVW Å6RQWDQEHOORV y tan bivos/que a todos tienen captivos/mas muestran los tan esquivos/que roban el alegria“), sind es im Cancionero de Uppsala sieben: „Son tan lindos y tan vivos/ que a todos tienen cativos,/y sólo la vista d’ellos/me ha robado los sentidos,/y los KD]HWDQHVTXLYRVTXHUREDQHODOHJUtDTXLHQVHORVHQDPRUDUtD´ Vgl. KLAUK, 2012, S. 47-49. Cancionero de Uppsala (Venedig 1556), Nr. 5. SÁNCHEZ DE BADAJOZIU

Schauspielmusik in Spanien vor Lope de Vega

Notenbeispiel 1 cionero Musical de Palacio zu denken, die durch ein mit der Liedeinlage übereinstimmendes Textincipit aus dem Inhaltsverzeichnis dieser Sammlung (der entsprechende Notentext ist nicht überliefert) plausibel erscheint.19 (UZHLVWVLFKGLH,QNRPSDWLELOLWlWPXVLNDOLVFKHU6WUXNWXUHQPLWGHQ(UIRUGHUQLVVHQGHV'UDPDVRGHUVHLQHUFKURQRORJLVFKHQ(LQRUGQXQJDOV$XVVFKOXVVNULterium für die jeweilige Vertonung als Schauspielmusik, ist bis zu einem gewissen Grad dennoch von einer Bearbeitungs- bzw. Improvisationspraxis in Bezug auf präexistente Texte und Musik auszugehen. So lässt sich beispielsweise eine unterschiedliche Anzahl von Strophenversen durch Wiederholungen des musikalischen B-Teils ausgleichen, wie es der Aufbau vier- und fünfstrophiger Villancicos aus dem Cancionero Musical de Palacio zeigt. Mehrstrophige Texte wie die Gesangseinlagen „Apartar-me-ham 19

Vgl. KLAUK, 2012, S. 53f. 157

Stephanie Klauk

de vos“, „Minbrera amigo“ und „Quién passa“ können daher in der Anzahl ihrer Verse variieren,20 ohne dass dies notwendigerweise auf Schreib- oder Druckfehler zurückzuführen wäre. Aufgrund einer solchen Flexibilität könnte man DXFKDQQHKPHQGDVVGHU9LOODQFLFRÅ1RÀHQDGLHHQDPRU´YRQ)UDQFLVFRGHOD Torre21 als musikalische Vorlage zur gleichnamigen Liedeinlage aus Micael de Carvajals 7UDJHGLDOODPDGD-RVHÀQD diente (vgl. Notenbeispiel 2). Die Gegenüberstellung der Texte zeigt, dass nicht nur wie beim Verfahren des Glossierens üblich die Strophe neu textiert ist, sondern auch im Refrain Abweichungen vorhanden sind, die aber durch die identische Silbenzahl nicht weiter ins Gewicht fallen.22 F. de la Torre:

M. de Carvajal:

1RÀHQDGLHHQDPRU   qu’es mudable y burlador.

$  A

Ơ 

1RÀHQDGLHHQHODPRU   que es muy falso y muy traidor.

$ A

7RGDVGDPDVTXHJXHUUHDQ por bien amadas que sean,

E  b

ơ 

HQXQ·RUDTXHQR·VYHDQ  toman nuevo amador.

E  A

Ơ 

(QWUDDPRUPX\PDQVR\EODQGR con deleites halagando; mas si aquestos van faltando, UREDODYLGD\KRQRU    que es muy falso y muy traidor.

E b b $ A

Für die Verwendung nicht nur dieses älteren, homophonen Villancico-Typs, sondern möglicherweise sogar für diese konkrete dreistimmige Vertonung spricht zudem, dass die Tragedia der Liedersammlung zeitlich benachbart ist23 und der

20 21 22

23

158

Als entsprechendes Beispiel aus dem Cancionero Musical de Palacio kann die Nr. 21 genannt werden. Cancionero Musical de Palacio, Nr. 262. Die Reime des Refrains sind mit Großbuchstaben und die der Strophe mit Kleinbuchstaben bezeichnet, musikalisch-melodische Abschnitte mit griechischen Buchstaben. Der erste überlieferte Druck der Tragödie datiert von 1535, es wird jedoch angenommen, dass sie schon vor 1523 erstmals publiziert wurde, während von der =XVDPPHQVWHOOXQJ GHV Cancionero Musical de Palacio im ersten Jahrhundertviertel ausgegangen werden kann. Die Verbindung zum königlichen Hof ist zudem dadurch hergestellt, dass der Widmungsträger des Dramas, Don Álvaro, „tercer marqués de Astorga y cuarto conde de Trastamara“, in Valladolid, wo der Königshof im Januar 1523 residierte, verstarb. Vgl. CARVAJAL, 1870, S. XIIIf.

Schauspielmusik in Spanien vor Lope de Vega

Notenbeispiel 2 den zweiten Akt abschließende Gesang von einem Chor vorgetragen werden soll, der aus drei Jungfrauen besteht. Der Übergang von einer derartigen Bearbeitungs- zur Improvisationspra[LV NDQQ PLWXQWHU ÁLH‰HQG VHLQ ZLH HV VLFK IU GLH *HVDQJVHLQODJH LQ SRUWXgiesischer Sprache „Pois dizeis que me quereys beyn“ aus Juan Fernández de Heredias Coloquio ]ZLVFKHQ  XQG  DP YDOHQ]LDQLVFKHQ +RI DXIJHIKUW SODXVLEHOPDFKHQOlVVW(LQHQ]XPLQGHVWLP5HIUDLQEHUHLQVWLPPHQGHQ Text weist der gleichnamige Villancico von Luis Milán auf, der einige Jahre 

„Parte segunda acaba, y entra el coro de las tres doncellas“ (ebd., S. 98). (LQGUHLN|SÀJHU&KRUEHOHJW]ZDUQLFKWQRWZHQGLJHUZHLVHGLH'UHLVWLPPLJNHLWGLHhEHUnahme sogar der originalen Besetzung des Villancico von Francisco de la Torre ist aber in Anbetracht der Tatsache, dass in jenen Jahren Frauenrollen zumeist von Männern gespielt wurden, durchaus denkbar. 159

Stephanie Klauk

nach Aufführung des Dramas in der Vihuela-Schule Libro de música de vihuela (1536) publiziert wurde, die Milán König Johann III. von Portugal widmete.25 L. Milán:

J. Fernández de Heredia:

3R\VGH]H\VTXHPHTXHUH\VEHQ porque days falla a ningen. 9RVGH]H\VTXHPHDPD\V   yo vos veggo que burlays.         

$ Ơ  A E ơ  b  ơ  

       6LYRVDQLQJHQIDOOD\V   yo non vos queire mas ben.

 Ƣ   E Ơ  a

 

3RLVGL]HLVTXHPHTXHUH\VEH\Q porque days falla a ningueyn. 1DRQIDOOH\VGDPDIHUPRVD  a ningueyn ome os suprico, SRLVTXHVDEH\VTXHPHSLFR  mays dissu que d’otra cosa. *DODQWHTXHIDOODURVRVD   PX\WDIDQWDVLDWH\Q    mas vos nan falleys a ningueyn.

$ A E c F b E D A

Da Milán und der Dichter Fernández de Heredia nachweislich über mehrere Jahre in den Diensten der Herzöge von Kalabrien zusammengearbeitet haben,26 liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei der Vertonung tatsächlich um die Musik zur Drameneinlage handeln könnte. Die obige Gegenüberstellung der betreffenden Texte macht zunächst allerdings ihre Andersartigkeit deutlich. Auf den wörtlich übereinstimmenden Refrain folgt eine jeweils verschieden lautende Strophe. Der vor allem in Bezug auf die musikalische Umsetzung entscheidende Unterschied besteht jedoch in der abweichenden Anzahl der Strophenverse, woUDXVVLFKGLH6FKHPDWD 5HIUDLQ6WURSKH IU0LOiQVXQGIU)HUQiQGH] de Heredias Villancico ergeben. Daher stellt sich die Frage, auf welche Musik die drei zusätzlichen Verse des Dramenautors zu singen sind. Die Villancicos dieser Struktur aus dem Cancionero Musical de Palacio weisen wie diejenigen der Form 2-6 einen zweigliedrigen B-Teil auf, an den sich zudem ein kurzer C-Teil anschließt. In diesem werden gewöhnlich melodiVFKH(OHPHQWHGHUEHLGHQDQGHUHQ$EVFKQLWWHHQWOHKQWZDVPLWXQWHUDXFKGHU

25

26

160

Diese Widmung deutet auf einen möglichen, aber nicht nachweisbaren Aufenthalt Miláns am Hof von König Johann III. (1502-1557) hin, dessen Regierungszeit in die Jahre von 1521 bis zu seinem Tod fällt. Vgl. GRIFFITHS, 2006, S. 101. Vgl. ROMEU FIGUERAS, 1958; GÓMEZ MUNTANÉ, 2003, S. 19. $OV0LWJOLHGGHUK|Àschen Gesellschaft erwähnt Milán Heredia auch mehrmals in seinem Libro intitulado El Cortesano. Libro de motes de damas y caballeros]%6Å6DOLy Joan Fernandez de Heredia y la senora dona Hierónima, su mujer, con unas ropas de terciopelo azul.“

Schauspielmusik in Spanien vor Lope de Vega

wörtlichen Wiederholung einer musikalischen Phrase gleichkommt,27 und so die KLQ]XNRPPHQGHIQIWH=HLOHGHU6WURSKHYHUWRQW6HW]WPDQGLHVH)RUPDXFK für die Musikeinlage des Coloquio voraus, fehlt dem Villancico Miláns nicht nur der C-Teil, sondern der B-Teil würde sich zudem als zu kurz erweisen, da HU QXU HLQHQ E]Z PLW GHU :LHGHUKROXQJ ]ZHL 9HUVH YHUWRQW (V LVW QDWUOLFK durchaus denkbar, dass es sich auch um eine völlig andere Komposition handeln kann oder um eine Fassung mit zwar gleichbleibendem ersten Teil, aber anderer Fortführung. Andererseits lässt die zum Teil auf Improvisation beruhende Aufführungspraxis des Sologesangs mit Begleitung der Vihuela (die Gesangseinlage soll jedenfalls nur von einer dramatischen Figur – dem Portugiesen – vorgetragen werden) auch eine Möglichkeit zu, die für die mehrstimmigen Villancicos nicht in Frage kommt. =HKQGHU]Z|OI9LOODQFLFRVDXV0LOiQVLibro de música de vihuela liegen in zwei verschiedenen Fassungen vor, so auch „Poys dezeys que me quereys EHQ´ YJO 1RWHQEHLVSLHOH  XQG   'LH HUVWH LVW GXUFKJHKHQG KRPRSKRQ GD die Vihuela die Singstimme mit den gleichen langen Notenwerten akkordisch begleitet, während die zweite eine starke Auszierung der Instrumentalstimme zeigt, deren ursprünglich akkordischer Satz sich vor allem zwischen den SePLEUHYHQGHU6LQJVWLPPHLQ7RQOHLWHUVNDOHQDXÁ|VW%HDFKWHWPDQGLH$XVIKrungsanweisung Miláns, wird deutlich, dass auf ähnliche Art und Weise auch in der ersten Fassung der Monotonie entgegengewirkt werden kann, nämlich durch den improvisatorischen Vortrag des Sängers über die notierte Basismelodie: „el cantor puede hazer garganta“. Insofern ist die homophone Notation des Villancico lediglich als Ausgangsmodell zu betrachten, das entweder durch die Sing- oder die Instrumentalstimme – denn auch die notierte zweite Fassung stellt lediglich eine Möglichkeit der instrumentalen Improvisation dar – beliebig variiert werden kann. Die Vertonung Miláns könnte daher sehr wohl dem längeren Liedtext aus dem Coloquio unterlegt worden sein und zwar mit einer vier- statt nur einmaligen Wiederholung des musikalischen B-Teils, ohne dass GLHV]ZDQJVOlXÀJ]XU(LQW|QLJNHLWKlWWHIKUHQPVVHQ (EHQIDOOVDXIHLQH,PSURYLVDWLRQVSUD[LVLP5DKPHQGHUVSDQLVFKHQ6FKDXspielmusik lassen Liedtexte schließen, die weniger mit einer konkreten Vertonung, als mit bekannten Weisen in Verbindung zu bringen sind. Darunter fällt beispielsweise die Gesangseinlage „Guarda mis mandamientos“ („Hüte/beachte meine Gebote“) aus der Egloga intitulada viaje del cielo, die sowohl durch metrische als auch durch textliche Übereinstimmungen mit 27

'LHVLVWDOOHUGLQJVDXFKEHLJOHLFKEOHLEHQGHP7H[WEHLVSLHOVZHLVHEHLGHU1U der Fall. 161

Stephanie Klauk Poys dezeys que me quereys ben – 1. Fassung

Notenbeispiel 3

Poys dezeys que me quereys ben – 2. Fassung

Notenbeispiel 4

162

Schauspielmusik in Spanien vor Lope de Vega

der Weise „Guárdame las vacas“ („Hüte mir die Kühe“) als deren Kontrafaktur in Frage kommt: Egloga intitulada viaje del cielo (1550-1600)

Juan Fernández de Heredia (FD) Sebastián de Horozco (1510-1580) &ULVWyEDOGH&DVWLOOHMR 

Guarda mis mandamientos peccador, y salvarte [h]e; guarda mis mandamientos y verás qué te daré.

Guárdame las vacas, carillo, y besart[e] é. %pVDPHW~DPt  que yo te las guardaré.



Ama a solo Dios, buen hombre, con santo y ardiente amor, no iures mi sancto nombre vanamente y con furor; VDQFWLÀFDSHFFDGRU ODVÀHVWDVFRQELEDIH guar[da mis mandamientos y verás qué te daré.]28

Die Popularität der Weise, die in erster Linie mit dem Refrain des Dramen-Villancico in Verbindung zu bringen ist, wird durch die Überlieferung in zahlreichen literarischen Quellen bezeugt, von denen hier nur drei genannt seien.29 Auf eine zugehörige, ebenfalls bekannte Melodie nimmt Francisco de Ocaña explizit Bezug. Seine literarische Liedersammlung Cancionero para cantar la noche GH 1DYLGDG \ ODV ÀHVWDV GH 3DVFXD (Alcalá 1603)30 enthält Texte geistlichen Inhalts, die – gemäß ihrem Titel – für den gesanglichen Vortrag an Weihnachten und Ostern geeignet sind. Der Hinweis auf die zu singende Melodie erfolgt bei 28

29 30

(VIROJHQ]ZHLZHLWHUH6WURSKHQÅ+RQUDDWXVSDGUHVYDUyQQRPDWHV\QRIRUQLTXHVQRKXUWHVQLFRQÀFLyQGHOSUy[LPRWHVWLÀTXHVJDQDUiVXQEXHQSRUTXp guar[da mis mandamientos/y verás qué te daré.]/No desees la muger/del próximo, que es peccado;/y no desees tener/lo ageno, que es escusado./Si velas con gran cuydado/ganarás lo que yo sé,/guar[da mis mandamientos/y verás qué te daré.]“ Vgl. zu weiteren Quellen: FRENK ALATORRE, 2003, Nr. 1683A. Faksimile-Ausgabe, Valencia 1957 (Duque y marques – opúsculos literarios UDUtVLPRV  163

Stephanie Klauk

jedem seiner neugedichteten Texte durch den Vermerk „al tono de“ („auf die Weise von“), auf den jeweils ein Textincipit (eine Textmarke) folgt.31 So soll VHLQ7H[WÅ'DGPHYXHVWUDKXPDQLGDG´ Å*HEWPLU(XUH0HQVFKOLFKNHLW´ GHU mit der Vorlage Gemeinsamkeiten im Reimschema aufweist, auf die offenbar als bekannt vorausgesetzte Melodie von „Guárdame las vacas“ gesungen werden.32 Im spanischen Raum lassen sich zwar keine Bestrebungen zur schriftlichen Fixierung beliebter Melodien nachweisen, im Fall von „Guárdame las vacas“ ist es jedoch möglich, eine Grundmelodie zu rekonstruieren, die mit dem mündlich tradierten tono weitgehend übereinstimmen dürfte.33 Vergleicht man den HQWVSUHFKHQGWH[WLHUWHQYLHUVWLPPLJHQ$XVVFKQLWWDXV0DWHR)OHFKDV(QVDODGD „La viuda“ mit den nach der Weise betitelten Instrumentalsätzen der Vihuelisten /XtVGH1DUYiH]$ORQVR0XGDUUD(QUtTXH]GH9DOGHUUiEDQR'LHJR3LVDGRU )UDQFLVFR3iH]/XtV9HQHJDVGH+HQHVWURVDXQGGHQ9DULDWLRQHQYRQ$QWRQLR de Cabezón, so könnte der Beginn der Weise und damit auch derjenige der Vertonung der Gesangseinlage „Guarda mis mandamientos“ in etwa so ausgesehen haben wie in Francisco Salinas’ musiktheoretischem Traktat De musica libri septem (Salamanca 1577) notiert (vgl. Notenbeispiel 5). 31

32

33

 164

Die Praxis, weltliche Texte populärer Weisen durch geistliche zu ersetzen, war im 16. Jahrhundert gängig, auch wenn sie ohne solche expliziten Vermerke schwieriJHUQDFK]XZHLVHQLVW6RÀQGHWVLFKEHLVSLHOVZHLVHGLH$QZHLVXQJÅDOWRQRGH´]X den Gesangseinlagen der untersuchten Dramentexte lediglich fünfmal. Aufgrund der Quellenlage und aufgrund ermittelter textlicher Parallelen ist jedoch davon auszugehen, dass mindestens 20 weitere Liedtexte religiösen Inhalts auf bekannte Melodien ursprünglich weltlicher Texte gesungen wurden. Refrain und Strophe des Liedtextes von Francisco de Ocaña lauten folgendermaßen: „Dadme vuestra humanidad/señora por vuestra fe,/y con mi divinidad/de grado la juntare./Ya veys la necesidad/señora del pueblo humano,/y como es en vuestra mano/remediar su enfermedad,/pues que sobrays de humildad/a todas las que han nacido,/sea por vos concedido/aquesto que os demande.“ Vgl. zur gleichen Methode: JEPPESEN, 1970, S. 13: „Glücklicherweise haben sich jedoch die Musiker vom Fach mitunter damit amüsiert, die Weisen des Volkes, die als solche aus verschiedenen Merkmalen – nicht nur textlichen – klar erkennbar VLQG LQ LKUH .RPSRVLWLRQHQ HQWZHGHU DOV FDQWXV ÀUPXV RGHU GXUFK HLQ DQGHUHV VWLOLVWLVFKHV9HUIDKUHQKLQHLQ]XÁHFKWHQ(VLVWVRPLWP|JOLFKDXVGHQPHKUVWLPPLJHQNRQWUDSXQNWLVFKHQ.RPSRVLWLRQHQGLHVHU=HLWVR]XVDJHQGLH9RONVPHORGLHQ hinauszuschälen.“ Vgl. auch den aktuellen Beitrag zu Polyphonie und Liedforschung von REINHARD STROHM, 2012. Der Liedtext des Dramas ist im Notenbeispiel kursiv gesetzt.

Schauspielmusik in Spanien vor Lope de Vega

F. Salinas

Notenbeispiel 5 Demgegenüber liegen auch zahlreiche Liedtexte geistlichen Inhalts im spanischen Theater des 16. Jahrhunderts vor, die tatsächlich nur mit einer überlieIHUWHQ 9HUWRQXQJ LQ =XVDPPHQKDQJ JHEUDFKW XQG VRPLW UHODWLY HLQGHXWLJ DOV .RQWUDIDNWXUHQLGHQWLÀ]LHUWZHUGHQN|QQHQ$XFKKLHUGDUI]ZDUGLH%HNDQQWheit der Musik beim Publikum angenommen werden, ist aber nicht so zwingend ZLHEHLDOWEHNDQQWHQ:HLVHQ(VNDQQVLFKGDEHLQlPOLFKDXFKXPDNWXHOOH UH  bzw. zeitgenössische Kompositionen handeln. Dieser letzten Möglichkeit des Verhältnisses von ermittelten Vertonungen zu den Gesangseinlagen ist der Villancico „Si viniesse y me llevasse“ aus dem spanischsprachigen Auto segundo des gebürtigen Portugiesen und Hofdichters -RUJHGH0RQWHPD\RU]X]XZHLVHQ'DV'UDPDZXUGHLQ$QWZHUSHQSXEOLziert und dem zukünftigen König Philipp II. gewidmet. J. de Montemayor:

A. Mudarra:

Auto segundo $QWZHUSHQ 



Si viniesse y me llevasse, SRUYLGDPtDTXHPHVDOYDVVH



Si agora el rey divinal a subirme se baxasse, y’os prometo que sanasse el hombre de todo el mal, y el summo bien alcançasse. Si viniesse [y me llevasse, SRUYLGDPtDTXHPHVDOYDVVH@

Tres libros de música en cifras para vihuela 6HYLOOD Si viesse e me levasse, SRUPLxDYLGDTXHQRJULGDVH Meo amigo atán garrido, si viesse o domingo, por mina vida, que no gridasse.

Soy Naturaleza humana, y si Dios me hora tomasse, 165

Stephanie Klauk y en la virgen encarnasse, a fe que de la mançana la culpa se remediasse. Si viniesse [y me llevasse, SRUYLGDPtDTXHPHVDOYDVVH@

Die Vertonung, die zu dieser Gesangseinlage ermittelt werden konnte, stammt aus Alonso Mudarras Vihuelalehrbuch Tres libros de música en cifra para vihuela 6HYLOOD   'HU9HUJOHLFK GHU EHLGHQ9LOODQFLFR7H[WH ]HLJW GDVV ² abgesehen vom Unterschied der spanischen und portugiesischen Sprache – die Refrains der Villancicos fast identisch sind. Lediglich das letzte Verb „gridaVH´ ZXUGH RIIHQVLFKWOLFK YRQ 0RQWHPD\RU JHJHQ ÅVDOYDVVH´ DXVJHWDXVFKW (V handelt sich also um eine Kontrafaktur, auch wenn der inhaltliche Bezug zum Drama mit Hilfe der Praxis des Glossierens tatsächlich erst in den Strophen hergestellt wird. Der anhand der unregelmäßigen Verslängen und der umgangssprachlichen Bekräftigung „por miña vida“ erkennbare volkstümliche Villancico erscheint bei Alonso Mudarra einige Jahre vor dem gedruckten Drama. Mudarras Vertonung ist aber nicht nur aufgrund der zeitlichen Nähe sehr gut als unterlegte Theatermusik vorstellbar, sondern auch in der konkret vorliegenden Fassung für Singstimme und Instrumentalbegleitung. Davon abgesehen, dass Montemayor und Mudarra im Gefolge von Philipp II. wahrscheinlich auch persönlich miteinander bekannt wurden, wird der im Auto segundo als Selbstbeschreibung eingesetzte Gesang ebenfalls solistisch vorgetragen, nämlich von der allegorischen Figur „Naturaleza humana“ („Menschliche Natur“).35 Statt des Geliebten, der das weibliche lyrische Ich ohne Gegenwehr mit sich führen könnte („no gridase“), deutet die Protagonistin des Bühnenwerkes die für die Menschheit rettende $QNXQIW*RWWHVDXI(UGHQYRUDXV ÅPHVDOYDVVH´ ,QGHU]ZHLWHQ6WURSKHZLUG GLH %HIUHLXQJ YRQ GHU (UEVQGH DQJHVSURFKHQ ² ÅGH OD PDQoDQD OD FXOSD VH remediasse“. Die textliche Anpassung der Strophe hat zu einer Verlängerung geführt, die, da die gleiche Silbenanzahl zugrunde liegt, musikalisch durch eine zweimalige Wiederholung des musikalischen B-Teils problemlos ausgeglichen werden kann (vgl. Notenbeispiel 636). Durch Verzierungen bzw. Diminutionen der Sing- oder der Instrumentalstimme könnten die Wiederholungen auch hier entsprechend abwechslungsreich gestaltet worden sein. 35 36 166

MONTEMAYOR, 1996, S. 310: „(QWUDOD1DWXUDOH]DKXPDQDFDQWDQGR.“ Der Liedtext des Dramas ist im Notenbeispiel kursiv gesetzt.

Schauspielmusik in Spanien vor Lope de Vega

Notenbeispiel 6 6RZHLWGLHWH[WOLFKHQXQGPXVLNDOLVFKHQ4XHOOHQHLQHFKURQRORJLVFKH(LQRUGnung zulassen, ist davon auszugehen, dass es sich bei der Schauspielmusik vor /RSHGH9HJDZRKODXVVFKOLH‰OLFKXPSUlH[LVWHQWH0XVLNJHKDQGHOWKDW(LQH diesbezügliche Ausnahme könnte die Musik gewesen sein, die möglicherweise DXVGUFNOLFKIUGLHK|ÀVFKHQ,QV]HQLHUXQJHQXPE]ZLPHUVWHQ-DKUKXQdertdrittel entstand. Ausgehend von der Präexistenz der Vokalmusik ergeben sich verschiedene Konsequenzen für deren Verwendung als Schauspielmusik. Wie aus den gezeigten Beispielen hervorging, konnten die bereits vorliegenden Kompositionen durch eine wohl gängige Bearbeitungs- und Improvisationspraxis von Sängern XQG ,QVWUXPHQWDOLVWHQ DQ HLQHQ GUDPDWLVFKHQ /LHGWH[W DQJHSDVVW ZHUGHQ (V wurden jedoch auch Texte bereits bekannter Vertonungen kontrafaziert, ohne dass größere musikalische Veränderungen erforderlich waren. Gerade den Kontrafakturen kommt vornehmlich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine besondere Bedeutung zu. Sie sind nicht nur wesentlicher Bestandteil der zahlreichen geistlichen Liedersammlungen, wie beispielsweise derjenigen von Francisco de Ocaña, sondern spielen auch eine zentrale Rolle 167

Stephanie Klauk

in den in allen Gesellschaftsschichten präsenten Schauspielen religiöser Thematik,37GLHDX‰HUGHPHLQHQIHVWHQ3ODW]LPKXPDQLVWLVFKHQ(U]LHKXQJVV\VWHP innehatten. (V LVW DOVR GXUFKDXV DQ]XQHKPHQ GDVV EHL .RQWUDIDNWXUHQ LQQHUKDOE GHV geistlichen Theaters die didaktische Motivation im Vordergrund stand.38 BePHUNHQVZHUWVLQGLQGLHVHP=XVDPPHQKDQJYRUDOOHPVROFKH'UDPHQXQG*HVDQJVHLQODJHQGLHGLHLP.RQ]LOYRQ7ULHQW  IRUPXOLHUWHQ'RJPHQ WKHPDWLVLHUHQZLHEHLVSLHOVZHLVHGDVGHU(UEVQGHLP*HVDQJVWH[WDXV-RUJHGH Montemayors Auto. Mitunter komplexe und neue theologische Inhalte sollten dem Publikum mit Hilfe des Bekannten – nämlich der Musik – in unterhaltsamer Art und Weise vermittelt werden. Man könnte in diesem Kontext wohl tatsächlich von einer Massenwiederbekehrung sprechen, als solche Henry Kamen auch die spanische Inquisition unter 3KLOLSS,,  DQVLHKWÅ$WDWLPHZKHQLQWKHUHVWRI(XURSH&DWKROLFV and Protestants were warring against each other, in Spain the clergy and the Inquisition were devoting their energies to the reconversion of their own people to the faith.“39 Vor dem Hintergrund, dass diese in Verbindung mit der Gegenreformation stehenden Bestrebungen sowohl vom Klerus als auch von der Monarchie getragen wurden, scheint die Vorstellung von einer Nationalisierung des spanischen Katholizismus einleuchtend. Damit sollte zum einen gegen Häresien von außen, das heißt vor allem gegen den Protestantismus, geschützt und zum anderen die nach der Reconquista zwar geographisch und politisch erreichte, DEHU GLH QLFKW GDPLW HLQKHUJHKHQGH VR]LDOH E]Z NXOWXUHOOH (LQKHLW .DVWLOLHQV gefestigt werden. In diesem Sinne darf die Schauspielmusik im Spanien des -DKUKXQGHUWVVLFKHUOLFKDXFKDOV(OHPHQWHLQHUNXOWXUHOOHQ6HOEVWYHUJHZLVVHUXQJYHUVWDQGHQZHUGHQGLHIUGHQ=XVDPPHQKDOWGHVQRFKMXQJHQVSDQLVFKHQ Königreiches von maßgeblicher Bedeutung war.

37

38 39  168

Ihre Dominanz in der Überlieferungslage erklärt sich sicherlich auch dadurch, dass vor allem die öffentlichen profanen Dramen vermutlich überwiegend auf Improvisation basierten und daher keiner Aufzeichnung bedurften. Vgl. dazu beispielsweise FLECNIAKOSKA, 1961, S. 167; WARDROPPER, 1967, S. 117-119. KAMEN, 1983, S. 185f. EBD., S. 179; HROCH /SKÝBOVÁ6

Schauspielmusik in Spanien vor Lope de Vega

Literatur ANGLÉS, HIGINIO (Hg.), La música en la Corte de los Reyes Católicos. Cancionero 0XVLFDOGH3DODFLR VLJORV;9;9,  0RQXPHQWRVGHOD0~VLFD(VSDxRODXQG  %GH%DUFHORQDXQG CARVAJAL, MICAEL DE 7UDJHGLD OODPDGD -RVHÀQD KJ YRQ 0DQXHO &DxHWH 0DGULG 1870. DAVIS, CHARLES/VAREY, JOHN E., Los corrales de comedias y los hospitales de Madrid: (VWXGLR\GRFXPHQWRV )XHQWHVSDUDODKLVWRULDGHOWHDWURHQ(VSDxD 20), Madrid 1997. DONOVAN, RICHARD B., The Liturgical Drama in Medieval Spain, Toronto 1958. FLECNIAKOSKA, JEAN LOUIS/D)RUPDWLRQGHO·DXWRUHOLJLHX[HQ(VSDJQHDYDQW&DOderón (1550-1635), Diss. Paris 1961. FRENK ALATORRE, MARGIT1XHYRFRUSXVGHODDQWLJXDOtULFDSRSXODUKLVSiQLFD VLJORV XV a XVII), 2 Bde., Mexiko 2003. GÓMEZ MUNTANÉ, MARICARMEN/DP~VLFDPHGLHYDOHQ(VSDxD 'H0XVLFD .DVsel 2001. DIES. (Hg.), Cancionero de Uppsala, Valencia 2003. GRIFFITHS, JOHN, Art. „Milán“, in: Diccionario de la música valenciana, Bd. 2, hg. von EMILIO CASARES RODICIO, Madrid 2006, S. 100-103. HROCH, MIROSLAV/SKÝBOVÁ $QQD 'LH ,QTXLVLWLRQ LP =HLWDOWHU GHU *HJHQUHIRU mation, Leipzig 1985. JEPPESEN, KNUD,/D)URWWROD%G)URWWRODXQG9RONVOLHG=XUPXVLNDOLVFKHQhEHUlieferung des folkloristischen Guts in der Frottola, Aarhus 1970. KAMEN, HENRY6SDLQ$6RFLHW\RI&RQÁLFW1HZhs. Chœur]

Nr. 8 Mélodrame Andantino

D-Dur, 6/8, 9 T.

,,6(QWUpHGH%$/7HWGHO·,1NOCENT

Nr. 9 Mélodrame, Allegretto

EsÝG, 6/8, 14 T.

II,3, S. 41, Rose fait quelques pas pour sortir

Nr. 10 Mélodrame, Andante

modul., C, 10 T.

,,6%$/74X·HVWFHTXHWXIDLV là?

Nr. 11 Chœur, Adagio

g-Moll, G-Dur, C, 10 T.

,,6/DOD

Nr. 12 Mélodrame, Andante

modul., C, 6 T.

II,5, S. 49, FRÉDÉRI: Je me suis donné à toi

Nr. 13 Mélodrame, Andante assai

F-Dur, 2/4, 18 T.

,,6/·,112&(17(WDX matin

282

Französische Schauspielmusik während der Epoche Jules Massenets

Nr. 14 Mélodrame, Allegro

F-Dur, ¾, 9 T.

II,7, S. 56, ROSE: Je ne veux pas vivre comme ça

2. Tableau, Nr. 15, Es-Dur, C, 53 T. Entr’acte, Maestoso, Allegro moderato



Nr. 16 Final, Quasi andante

Es-Dur, C, 14. T.

,,,6%$/7$KFKHUHQIDQW'LHX te bénisse

Nr. 17 Intermezzo (Minuetto), Allegro giocoso

c-Moll, ¾, 161 T.



III. Akt, Nr. 18, 1. Tableau, Entr’acte, Carillon, Allegretto moderato, Andantino, Tempo I

E-Dur, ¾-6/8, ¾, 60+45+43 T.



Nr. 19 Mélodrame, Andantino, Adagio, Tempo I

Es-Dur, 6/8-C-¾6/8, 99 T.

,96(QWUpHGHODPqUH5HQDXG /HYRLOjGRQFHQFRUHFHYLHX[&DVWHOHW (musique de scène)

Nr. 20 Mélodrame, Andantino espressivo

H-Dur, C, 11 T.

,96Sortie de Vivette et de Frédéri

Nr. 21 Farandole, Allegro vivo e deciso

D-Dur, 2/4, 68 T.

96 Farandoliers) Réplique: Il y aura des femmes en larmes

Nr. 22 2. Tableau, Entr’acte, Adagio

F-Dur, ¾, 34 T.

96 FLQTXLqPHWDEOHDX

Nr. 23 Chœur, Allegro giocoso, Tempo di Marcia molto moderato, Tempo I

F-Dur, 2/4, 24+33+21 T

96 On chante la marche des rois, Text fehlt) De bon matin/J’ai rencontré le train/De trois grands Rois qui allaient en voyage

1U&K±XU/DUJH a-Moll, C, 8 T.

966XUXQFKDUGRUpGHWRXWHV parts

Nr. 25 Mélodrame, Andante assai

F-Dur, C, 31 T.

96/·,112&(173RXUTXRL vous me regardez

Nr. 26 Mélodrame, Adagio

modul., C, 24 T.

96526(,OVGRUPHQWWRXVOHV deux

1U)LQDO/DUJH

G-Dur, C, 7 T.

965pSOLTXH%$/79DUHJDUGHU à la fenêtre

283

Herbert Schneider

/·$UOpVLHQQH 1. Suite 1. Prélude c-Moll, endet in G-Dur T. 32 Animez T. 489 Andante molto 2. Menuetto c-Moll 3. Adagietto F-Dur 4. Carillon E-Dur 2. Suite (Arr. Ernest Guiraud) 1. Pastorale A-Dur mit Chor Andantino, 68 T. Reprise T. 29-44 2. Intermezzo Es-Dur Andante moderato ma con moto 3. Menuet 4. Farandole Allegro deciso d-Moll (Farandole) D-Dur, 230 T.

Schauspielmusik* 1. Ouverture Animez un peu Andante 17. Intermezzo (Menuetto) 22. Adagio 18 Carillon Schauspielmusik* 7. Pastorale Chor Andantino quasi allegretto 64 T. fehlt Entr’acte Maestoso aus /D-ROLHÀOOHGH3HUWK fehlt (Nr. 1, T. 1-16, transponiert, neu instrumentiert) 21. Farandole 68 T.

* die Nummern dieser Spalte beziehen sich auf die komplette Schauspielmusik

Anhang 3 /HFRQWHGH/LVOHLes Érinnyes, tragédie antique (1873), in: Poésies complètes (1928), Reprint Genf, Slatkine 1977, Bd. III, S. 177-251 Massenet, Jules: Les Érinnyes, tragédie antique, Paris, Au Ménestrel/Heugel, G.H. et Cie 649 (Neuausgabe der bei Hartmann 1876 erschienenen Ausgabe); IHKOW )HKOHQGHVEHL/HFRQWHGH/LVOH Massenet

Tonart, Metrum

/HVeULQQ\HV

I. Akt, Nr. 1 Prélude, Andante, tempo di marcia, quasi all funebre, Allegro con fuoco

g – d – g; C, 6/8, C 131 T.



284

Französische Schauspielmusik während der Epoche Jules Massenets

Nr. 2 Mélodrame, même mouvement que le prélude

c – g; C 50 T.

Didaskalie I, 1; dazu: La scène reste déserte

Nr. 3 Chœur, Allegro moderato

a-Moll; C 19+151 T.

,9HUVHIHKOW-XVWLFLHUPRGpUDWHXUGX monde/Et vers l’ancien foyer/Et le premier autel/Ramène à la lueur de ta foudre/ Ramène les héros descendus de ton sang immortel! und Didaskalie I, 2

Nr. 4 [mélodrame] A. Chœur (dans les coulisses)

GÜgis Dv; C A; C

,9HUVH fehlt: Gloire au Héros, chargés des dépouilles barbares,/Dompteur du parjure odieux! Le peuple envahit le palais/D Hellas te salue, ô chef, enfant des Dieux! [...] Entrée des captifs et des captives. Et vous, captifs, domptés par l’épée et la lance! [...] Je vous salue au nom des Dieux! – –

B. Divertissement, Nr. 1 danse grecque, Allegro moderato 1U/D7UR\HQQH regrettant la patrie perdue, Andante Nr. 3 Final, Allegro très décidé C. Reprise du chœur Nr. 5, A. Mélodrame, Andante sostenuto B. Mélodrame, Allegro agitato C. Mélodrame Andante sostenuto

d/D/d; 6/8 278 T. B; C 39 T. g; alla breve; 230 T. A; C; 46 T.

d; C 27 T. g; C; 19 T. G; C; 5 T.

– – fehlt Agamemnon entre dans le Palais... le chœur... et les femmes restent en scène.

,9HUVH ,(QGH²,9HUVH I,8 Ende; fehlt: Chœur, Souviens-toi!

II. Akt, Nr. 6, Entr’ac- d; C te, Andante sostenuto, 39 T. très calme



D/d/D; ¾ Nr. 7, Scène reli137 T. gieuse et chœur, Andantino avec calme et simplicité

,,'LGDVNDOLHLP9RUVSLHOQRWLHUW&KRU 9HUVHGHV6]HQHQEHJLQQV9HUVDXVgelassen

Nr. 8 , Invocation, Mélodrame, Très lent et avec un grand sentiment

e; C 44 T.

,,9HUVH (Im Klavierauszug ist nach 9HUVQRWLHUWÅ(QGHKRUVGHO·H[pFXWLRQ DX7KpkWUHFHPRUFHDXVHWHUPLQHLFL/H reste est supprimé.“)

Nr. 8bis, Mélodrame, Andante sostenuto

g; C 15 T.

,,IHKOW9HQJHWRQSqUH4X·LPSRUWHOD clémence, la justice auguste?/Ami, venge ton père, cela seul est juste!

285

Herbert Schneider

Nr. 9, Mélodrame et chœur, Andante (mouvement du chœur précédent), viele Tempowechsel Chœur, Allegro vivo

D/modulierend/d 45 T. d/F/f/FC/F; ¾ 163 T.

1U/HVDSSDULWLRQV d; C >0pORGUDPH@/HQWHW 109 T. soutenu, Allegro vivo

II,4 Anfang wie Nr. 7: Sur ce tombeau cher DXSHXSOHV9HUVHDXVJHODVVHQ 9HUVHDXVJHODVVHQ9HUVHDXVJHlassen, Didaskalie fehlt: Un Dieu furtif et vigilant [...] De sa lumière vengeresse!; Didaskalie II, 7 und neue Didaskalien ,,9HUVH XQJHNU]WHU6FKOXVVGHU Tragödie

Anhang 4 6DUGRX9LFWRULHQ Le Crocodile, comédie en 5 actes et 8 tabeaux, 21.12.1886 théâtre de la Porte-Saint-Martin Massenet, Jules: Musique de scène composée pour une Pièce de Victorien Sardou Le Crocodile Par J. Massenet, 3DUWLWLRQWUDQVFULWHSDU;DYLHU/HURX[3DULV Hartmann 1887 (hier KA) Massenet

Tonart, Metrum, KA

Partitur: F-Pn Ac.e10. 953

6DUGRX/H&URcodile

I. Akt Nr. 1 Introduction, Andante maestoso, Allegro mouvement de valse

F –> C; C, 3/4 , C, 128 T.

Introduction et Mélodrame: Fl, Picc, je 2 Ob, Klar, Fg Hr, Pistons, 3 Pos, Pkn, grTr, Bck, Hf, Str; Andante maestoso, Allegro Mouvement de valse, Maestoso, 1er mouvement, gleiche Taktzahl



Nr. 2 Moderato lento, Maestoso

C –> A; C, 79+42 T.

/H)HXJOHLFKH%HVHWzung, dann Maestoso sans lenteur, 122 T.

I, 11 (S. 72) Überleitung und Tableau 2=Ende I

II. Akt Nr. 3 Entr’acte, Andantino

D; 6/8, 64 T.

/H5pYHLOGDQVO·,VOH Besetzung ohne GrTr und ohne Bck, T. 3-6 Fl-Solo, 64 T.

II, 1, Ende Mélodrame

Nr. 4 Allegretto

G; 2/4, 19 T

fehlt in Orchesterpartitur –

II, 3 Aktende

286

Französische Schauspielmusik während der Epoche Jules Massenets

III. Akt Nr. 5 Entr’acte, Allegro moderato. Tempo di marcia

D; C, 33 T.

Petite marche nuptiale, Allegro moderato, Tempo di Marcia; 2 Klar, Fg, 2 Hr, 3 Pos, Pkn Str, 33 T.

vor III

,9$NW1U Entr’acte, Allegro (sans trop presser)

g/C, 18 T.



YRU,9

Nr. 7 Andante con moto, scène de Richard, lent et dramatique, Allegro moderato, Allegro con fuoco

a, g, C, c; C, 129 T.



,9 6 ,9 8, Mélodrame

2. Tableau Nr. 8 (QWU·DFWH/HQWHW mystérieux

Es; 12/8, 30 T.

1RFWXUQH/HQWMH)O Klar, Hr, 3 Pos, Pkn, +I6ROR9OJHWHLOWH 9O9LROHQ6ROR9F JHWHLOWH9F.E7

,97DEOHDX

1U/HQW

Es; 12/8, 19 T.



2. Tableau, 1

Nr. 10 Andantino

E; ¾, 15 T.



2. Tableau, 1 (S. 229, Mélodrame)

Nr. 11 Allegro agitato

E –> C; ¾, 20 T.



2. Tableau, 2 (S. 231)

1U/HQWHWP\Vtérieux

Es; 12/8, 17 T.



2. Tableau, 2 (S. 234, Mélodrame)

9$NW7DEOHDX Nr. 13, Allegro brillante

E; 2/4, 39 T.



97DEOHDX

1U/HQWHWP\Vtérieux

g; C, 7 T.



1. Tableau, 6 (S. 254, Mélodrame)

1UELV/DUJH

es; 12/8, 5 T.



1. Tableau, 12 Ende (S. 268)

2. Tableau, Nr. 15 Entr’acte Allegro, mouvement de valse

F; ¾, 203 T.

9DOVH$OOHJURPRXvement de valse: Fl, Picc, je 2 Ob, Klar, Fg Hr, Pistons, 3 Pos, Pkn, GrTr, Bck, Hf, Str; 240 T.

2. Tableau (S. /DYDOVH cesse)

Nr. 16 Allegro vivo

D; 3/8, 28 T.

2. Tableau, 1 (S. 275)

287

Herbert Schneider

1U/HQWHWP\Vtérieux

g; C, 11 T.

Nr. 18 Allegro, mouvement de valse

F; ¾, 38 T.



2. Tableau, 2 (S. 281, Mélodrame)* siehe oben Nr. 15, 240 T. 2. Tableau, 2 (S. 282, 283, Mélodrame)

9LFWRULHQ 6DUGoux, Théâtre complet, Paris 1947 %G  /H &URFRGLOH 6  „Richard prend la lettre qui est dans und grande enveloppe à cinq cachets noirs et l’ouvre. Musique, la même qu’au tableau précédent quand il regarde la lumière de ODPDLVRQGH9DQ'HU,VOHQ´

Anhang 5 Maurice Bouchor, La Légende de Sainte Cécile, drame en trois actes À Bonheur, Raymond: La Légende de Sainte Cécile, drame en trois actes, en vers de Maurice Bouchor op. 22, représenté pour la première fois le 25 janvier 1892, Paris, Macquet 1892; am Ende datiert Civray, septembre 1891 Chausson

Tonart, Metrum

Bouchor

I. Akt Nr. 1 Mélodrame, entrée de Cécile, Modéré

E-Dur, 4/4, 30 T.

J’ai beau prêter l’oreille... J’entends jamais rien.

Nr. 2 Mélodram et chœur, Pas trop lent

As-Dur, 2/2, 34 T, dann chœur, 21+47 T

... Je m’en vais écouter à la porte; Chor, 2 S, &RQWUDOWR6XUWRLYHLOOHQWOHVÀOVGXFLHO1H redoute pas que ton cœur faiblisse

Nr. 3 Hymne liturgique de St. Michel, Animé, solennel

d-Moll, ¾, 21 T.

... Pur comme le soleil calme et terrible. Les rideaux s’écartent lentement, et St. Michel apparaît...

Nr. 4 Mélodrame, Modéré

d-Moll, ¾, 60 T.

&e&,/(DOOH]MHYRXVDWWHQGVCécile baisse la tête... (kein Text)

Nr. 5 Mélodrame Modéré/Très lent

d-Moll/D-Dur, ¾ (wie Nr. 4), 83 T.

*$ C-Dur, 2/2, 91 T.

Ton dieu, je lui crache à la face; Ch: Silence, maudit, O blasphémateur infâme et cruel

Nr. 14 Musique de D –> C, 4/4, VFqQH/HQW 16 T. Nr. 15 Scène ÀQDOH$SSDULWLRQ de Sainte Cécile, Modéré/Animé etc.

E-Dur, 4/4, 144 T.

9$/e5,(19DGRQF1HPHUHJDUGHSOXV 9$/e5,(1-HW·HQWUHYLVjSHLQHPRXULU plein d’espérance. Musique aérienne dans le lointain. Elle ne fait que passer... On entend les accords célestes plus distinctement... Ste. &pFLOH8QVRXIÁHP·HPSRUWH,OYDWHUDYLU aussi vers les cieux... O mon jeune époux,/ 0HXUVSOHLQG·DOOpJUHVVH9RL[FpOHVWH8QH éternité de pure tendresse... (endet:) De son sang toutes sont écloses/Un chant nultial, un hymne de feu/Flotte dans l’espace,/Et le vent qui passe/Avec nos parfums l’emporte vers Dieu.

289

Herbert Schneider

Anhang 6 Mendes, Catulle: Médée, tragédie en trois actes, représentée pour la première fois sur la scène de la Renaissance le 28 octobre 1898, Paris, Charpentier et Fasquelle 1898 (keine Szeneneinteilung) '·,QG\9LQFHQW Médée, Musique pour la tragédie de Catulle Mendès, Paris, Durand 1898 /) /DMHXQHÀOOH/6 /DVHUYDQWH/DYLHLOOH /9-) -HXQHVIHPPHV d’Indy

Tonart, Metrum

Catulle Mendès, Médée

Nr. 1, Prélude, 7UpVOHQW9LI 1er mouvement, /HQWHWFDOPH

f-Moll/ F-Dur, 3–6/8–3 296 T.

... dans un bruit de fête [...] entrent par groupes, lentement et gracieusement dansantes, les femmes de Corinthe; I. Akt schließt an

Nr. 2 Pantomime et entrée de Créon, Assez lent danse, un peu plus vif

C-Dur, 3 Créon entre, en désordre, suivi d’hommes armés qui 40 T. resteront sur le seuil; Melodram, danse, entrée du Roi 41-89 KA T. 11 Entrée du cortège de Créon et de Creuse T. 20 JF: Mêlez sur le chemin la rose... 40 JF: À la torche d’Hymen... 7/9$X[DXWHOVG·$UWpPLV TX·XQHkSUH7(QWUpHGXURL7/D6HUYDQWH Maintenant, au palais des rois

Nr. 3 Entrée du cortège dans le palais, Très modéré

a-Moll, 4 25 T.

Nr. 4 Assez lent

C-Dur, 3 Fin du 1er acte, JF: Amour! hélas! Amour! jeune dieu! 16 T. VRQYDLQTXHXU7/60DLQWHQDQWDXSDODLVGHVURLV (Melodram), T. 7 Rideau, lentement – Et du palais, pendant que la lumière se reforme [...]

Acte II, Nr. 5 Prélude Médée et Jason, Modérément animé, Animé, Beaucoup plus modéré etc.

E-Dur/ DesDur/EDur, 4–6/8–4 102 T.

YRU,, ]XHUVW/HVMHXQHV)LOOHV-DVRQHUVW6 KA ohne Szenenhinweise

Nr. 6 Arrivée des Athéniens, Modérément animé

A/ Cis/A, endet in E, 4–7/4–4 70 T.

0pGpH+pFDWHDUpSRQGXÄ9HXLOOH·-·DFFRPSOLUDL7 5 Médée: D’ailleurs, femmes, voici que, des collines. [...], Melodram, Entrée des Athéniens et du roi Égée, S. 66

290

Créuse: Je broderai le sang avec la laine rose 0HORGUDP7/60DLQWHQDQWDXSDODLVGHVURLV

Französische Schauspielmusik während der Epoche Jules Massenets

Nr. 7 Sortie des Athéniens, Modérément animé

A-Dur, 4 16 T.

Médée: Et ma Mère. sera contente... en attendant, S. 76, Melodram

Nr. 8 Berceuse des enfants, Extrêmement lent

DesDur, 4 9 T.

0pGpH(QSOHXUVGHPLHODXVRXIÁHDLPpGHPHVHQIDQWV7/97RXMRXUVHQO·kPHPDWHUQHOOH>@ S. 95, Melodram

Acte III, Nr. 9 3UpOXGH/·DWtente de Médée, Très lent/Très animé/Très lent

B-Dur, D-Dur, B-Dur 6/4–4– 6/4, 95 T.

KA ohne Texteintragungen Dans la lumière tournent rythmiquement les jeunes ÀOOHVHWOHVMHXQHVIHPPHVFRULQWKLHQQHV/HVYLHLOOHVQH se mêlent pas à la danse sacrée [...] des Corinthiennes qui disent en dansant l’hymne à la Lune. vor III, 1; KA enchaînez au no. 10 sans interrompre

Nr. 10 schließt an, Phœbé, Très lent

G-Dur, endet in g-Moll, 6/8–4– 6/8 61 T.

Melodram

Nr. 11, Hécate, Animé

d-Moll, 4 53 T.

... tu verras ce que tu crains, Melodram

1U/HOHYHU du jour rouge, Très lent

f-Moll, 4 27 T.

JF: Ou vers la terre/Demeure comme un œil fermé S. 169, Mélodie (nicht in KA)

1U/HWULomphe auroral, 7UpVOHQW²/HQte et solennel

F-Dur, 4–2 22 T.

Médée: Temple! renferme-toi devant l’indigne époux, S. 176 Melodram

291

Herbert Schneider

Anhang 7 Racine: Phèdre Massenet, Jules: 1. Phèdre, partition d’orchestre, Paris, Heugel 1901; 2. Phèdre, Tragédie de Racine. Ouverture, Entr’actes et Musique de Scéne par J. Massenet, Paris, au Ménestrel 1900 (Klavierauszug) A=Aricie; H=Hippolyte; Ph=Phèdre; Œ=Œnone; Th=Thésée; ISM=Ismène Massenet

Stichwort

Besetzung

2XYHUWXUH/DUJH g/G/g, /Très animé avec C/2/C passion/Très lent 328 T.



2 Fl, Picc, je 2 Ob, Klar, Fg, 4 Hr, 2 Pistons, 2 Trp, 3 Pos, Tuba, Pkn, grTr, Str

M. de scène No. /HQW

G-Dur, C, 6 T., Melodram

H: le dessein en est pris... de mon oisiveté

doppelte Fl, Ob, Klar, Fg, 4 Hr, Pkn, Str

I, 1, S. 749*

,1U/HQW

g-Moll, C, 13 T.

Œ: Elle vient. +,OVXIÀWMH la laisse en ces lieux...

idem

I, 2, S. 753

,1U/HQW C

c-Moll, C, 3/4 10 T., Melodram

Ph: J’aime... A ce nom fatal

Ob, Klar, Bklar, 2 Fg, Str

I, 3, S. 758

,1U/HQW C, Entrée de Panope

a-Moll, C, 20 T., Melodram

Ob EH, Klar, Ph: Un reste de chaleur tout prê- Bklar, 2 Fg, 4 Hr, Str te à s’exhaler; Je voudrais vous cacher une triste nouvelle

I, 3-4, S. 759

I, 5, Nr. 5 Assez large, C, t. 2 rideau

a-Moll, C, 5 T.

... peut ranimer le reste.

3 Fl, 2 Ob, 2 Klar, 2 Fg, 4 Hr, 2 Pist, 3 Pos, Tuba, Pkn, Str

I, 5, S. 761

II, Nr. 1, Entr’acte, Thésée aux HQIHUV/HQWHW sombre

a-Moll, C, 52 T.

vorletzter Takt, A: Hippolyte demande à me voir en ce lieu

2 Fl, Ob, EH,Bklar, 2 Fg, 4 Hr, 2 Trp, 3 Pos, Tuba, Pkn, Str

II, 1, S. 761

292

Tonart, Metrum

Racine

Französische Schauspielmusik während der Epoche Jules Massenets

,,1U/HQW et sombre

a-Moll, C, 8 T., Melodram

,60/HVÁRWV 2 Fl, Ob, EH, ont englouti cet Klar, Bklar, 2 pSRX[LQÀGqOH Fg, 4 Hr, 2 Trp, 3 Pos, Tuba, Pkn, Str

II, 3=5-6, Nr. 3, Modéré (sans lenteur)... Très large

g-MollG-Dur, C, 26 T., Melodram 4/2

... fuyez une honte certaine, Théramène: Est-ce Phèdre qui fuit

2 Fl, Picc, 2 Ob, II, 5-6, 2 Klar, 2 Fg, 4 S. 772 Hr, 2 Pist, 2 Trp, 3 Pos, Tuba, Pkn, grTr, Str

III, Entr’acte. 6DFULÀFH$VVH] lent

F-Dur/A/F, 3/2, 90 T.



2IIUDQGH/HQW

d-Moll, C, 29 T.



2 Fl, Picc, je 2 Ob, Klar, Fg, 4 Hr, 2 Pist, 2 Trp, 3 Post, Tuba, Pkn, Beck, Str

Marche athénienne, Modéré – noble – avec ampleur

– F-Dur, C, 113 T

II, 1, S. 762

2 Fl, Hb, Trgl, 2 Hf, Str 2 F, Picc, Ob, Klar, 2 Fg, 4 Hr, Pist, Trp, 3 Pos, Tuba, Pkn, grTr, Beck, 2 Hf, Str

III, 1 Modéré, noble

F-Dur, C, 8 T. Melodram

Ph: Ah! qu’on porte ailleurs les honneurs qu’on m’envoie!

2 Fl, Picc, 2 Ob, 2 Klar, 2 Fg, 4 Hr, Pkn, grTr, Beck, 2 Hf, Str

III, 1, S. 773

,97UqVOHQW avec ampleur, Entrée de Thésée

B-Dur, 3/2, 10 T. Melodram

Ph: Dans le trouble où je suis, je ne puis rien pour moi

je 2 Ob, Klar, Fg, 4 Hr, 2 Pist, 2 Trp, 3 Pos, Tuba, Pkn, Str

III, 3, S. 779

,9/HQWDYHF ampleur, T. 3 sortie de Thésée

B-Dur, 3/2, 26. T. Melodram

Th: Que Phèdre idem H[SOLTXHHQÀQ le trouble; H: Où tendait ce discours qui m’a glacé

,9(QWU·DFWH Imploration à Neptune, Très large, T. 3 Très agité, violent,

ÀV0ROOG ÀV 198 T.



III, 6, S. 782

Klar, Bklar, 2 Fg, 4 Hr, 2 Pist, 2 Trp, 3 Pos, Tuba, Pkn, grTr, Str

293

Herbert Schneider

,96

,97UqVDJLWp ÀV0ROO Th: N’attends 22 T. pas qu’un père violent, T. 6 Melodram furieux/Te fasse Supplication avec opprobre d’Hippolyte arracher de ces T. 21 Malédiction lieux de Th.

idem

,97UqVDJLWp avec fougue, T. 4 sortie de Phèdre

G-Dur, 2, 45 T. Melodram

Ph: Détestable ÁDWWHXUVSUpVHQW le plus funeste/ Que puisse faire aux Rois

2 Fl, Picc, je 2 ,96 Ob, Klar, Fg, 4 Hr, 2 Pist, 2 Trp, 3 Pos, Tuba, Pkn, grTr, Str

9(QWU·DFWH Hippolyte et Aricie, Très modéré (avec charme, douceur et tendresse)

B-Dur, C, 47 T.



EH, Klar, Pkn, 2 Hf, Str

90DUFKH lente

a-Moll, C, 73 T., Melodram

Th: Quel coup me l’a ravi! Quelle foudre soudaine... Th: Et que méconnaîtrait l’œil même de son père.

3 Fl, 2 Ob, 1 Klar, 2 Fg, 4 Hr, 2 Pist, 2 Trp, 3 Pos, Tuba, Pkn, grTr, Str

96 800

97UqVOHQW (extrêmement)

g-Moll, C, 27 T., Melodram

3K/HV moments me sont chers, écoutez-moi, Thésée... Th: Que ne peut avec elle expirer la mémoire.

2 Fl, Picc, Ob, Klar, Fg, 4 Hr, Pist, 2 Trp, 3 Post, Tuba, Pkn grTr, Str

96 803

$OV2UFKHVWHUVXLWHHUVFKLHQEHL+HXJHO VG XQGDOV5HSULQW0QFKHQ+|ÁLFK 2008, eine Auswahl von Stücken, die nicht der Abfolge im Schauspiel entsprechen: 1U2XYHUWUH1U(QWU·DFWHÅ+LSSRO\WHHW$ULFLH´ .$(QWU·DFWH91U (QWU·DFWHÅ,PSORUDWLRQVj1HSWXQH´ .$,9 LQGHU6XLWHPLW]ZHLHLQOHLWHQGHQ 7DNWHQ Å7UqV ODUJH´  1U  (QWU·DFWH Å6DFULÀFH 2IIUDQGH 0DUFKH Athénienne“ = KA III. *

Die Seitenangaben beziehen sich auf Racine, Œuvres complètes, présentation, notes et commentaires par Raymond Picard, Paris 1950.

294

Französische Schauspielmusik während der Epoche Jules Massenets

Anhang 8 Racine: Esther Hahn, Reynaldo: Esther, Tragédie de Racine, Chœurs, Soli et Musique de Scène, Paris, Au Ménestrel, Heugel 1904, H. & C. 21.872; ges.=gesungen; gespr.=gesprochen; Rép.=réplique Hahn

Tonart, Metrum

Racine

Prélude, Assez lent

gis-Moll, C 93 T.

No. 2 Entrée des MHXQHVÀOOHVLVUDpOLtes, Modéré, avec grâce et majesté

a-Moll. ¾–5/4–3/4 34 T.

5pS9HQH]YHQH]PHVÀOOHV&RPSDJQHV autrefois de ma captivité, De l’antique Jacob jeune postérité I,1 Ende

No. 3 Récit et Chœur, Modéré, /HQW

modulierend–F-Dur, C–2/4; 93 T.

5pS'HODWULVWH/LRQFpOqEUHQWOHVPDOheurs. I,2

No. 3bis Le chœur se retire au fond du théâtre, même mouvement

d-Moll, schließt in A-Dur; ¾, 11 T.

Qu’on s’éloigne un moment I,3

No. 4 Mélodrame et chœurs, Plutôt lent

g-Moll, schließt mit Akkord daecf 39 T.

5pS7RXUQHHQÀQVDIXUHXUFRQWUHQRV ennemis; Pleurons et gémissons, mes ÀGqOHVFRPSDJQHV>@Quel carnage de toutes parts (etc.), 9HUVH

No. 5 Chœur, Très animé

G-Dur, ¾ 176 T.

Rép: Dont Israël nous vantait la puissance?, Chœur: Ce Dieu jaloux [...] Que le vent chasse devant lui ,RKQHGLHOHW]WHQ9HUVH

Acte II No. 6 Prélude, Andante moderato

f-Moll, ¾ 26 T.

T. 22 Entrée d’AMAN et d’HYDASPE II,1

No. 7 Entrée d’Assuérus, Majestueux (Mélodrame)

Des-Dur, C 21. T.

Rép. Élever de sa mort le honteux instrument, Melodram T. 1 J’entends du bruit; je sors. Toi, si le Roi m’appelle, T. 2 Hydaspe ,OVXIÀW,,(QGH

No. 8 Mélodrame, ohne Angabe

ÀV0ROOHQGHW in f des a es 10 T.

Rép. Qu’il entre. Ses avis m’éclaireront peut-être II,4

295

Herbert Schneider

No. 9 Mélodrame, Evanouissement d’Esther.- Dialogue, Andante

modulierend, G-Dur, endet in E-Dur, C 50 T.

Rép. Je n’en perdrai pas moins ce peuple DERPLQDEOH7/HXUVFULPHV7(VWKHU Quelle voix salutaire ordonne que je YLYH7(VWKHU/·DXJXVWHPDMHVWpVXU votre front empreinte (etc.) II, 6-7

No. 10 Allegretto (für Solo, Chor und Mélodrame)

cis-Moll, DesDur, 6/8 270 T.

Rép. A l’abri de ce trône attendez mon retour, T. 2 Elise Que vous semble, mes sœurs de l’état où nous sommes? T. 76 Un PRPHQWDFKDQJpFHFRXUDJHLQÁH[LEOH T. 93 gespr. Elise Ah! que je crains, mes sœurs, les funestes nuages, T. 114 Chœur: 'LHXG·,VUDsOGLVVLSHHQÀQFHWWHRPEUH T. 138 gespr. Parlons plus bas, mes sœurs, T. 160 gespr. Que ma bouche et mon cœur, et tout ce que je suis, T. 200 Chœur: +HXUHX[GLWRQOHSHXSOHÁRULVVDQW7 O douce paix! O lumière éternelle, II,7-8, FD9HUVH

Acte III no. 11, Introduction, Allegro

g-Moll, C 27 T.



No. 12 Mélodrame, Andantino

ÀV0ROOö 16 T

Rép. Entrez et recevez l’honneur qu’on vous apprête, T. 1 C’est Aman, c’est lui-même, et j’en frémis, ma sœur, III,2-3

No. 13 Chœur, Animé

a-Moll 2/4 95 T.

Rép. Ta sagesse conduit ses desseins éternels T. 4 Dieux fait triompher l’innocence, 7,,,JHVSU'·XQVRXIÁHO·DTXLORQ écarte les nuages [...] Un autre J’admire un roi victorieux (etc.) III,3

No. 14 Mélodrame Entrées d’Assuérus, d’Esther, d’Aman, Andante maestoso espressivo

C-Dur, endet in G, 3/2 15 T.

Rép. Qu’il en sorte par plus de mille* III,4

No. 15 Mélodrame, Modéré, calme et grave

Fis-Dur, C 16 T.

Ré. De mes peuples vengés il repaisse les yeux, T. 2 Assuérus Mortel chéri du ciel, mon salut et ma joie..., III,7

*

Anm. Ce morceau est destiné à accompagner seulement les dix vers d’Assuérus qui s’adressent à Esther.

296

Französische Schauspielmusik während der Epoche Jules Massenets

No. 16 Finale, ohne Angabe

D-Dur, C 190 T.

Rép. Ta sagesse conduit ses desseins éternels, T. 4 Dieux fait triompher l’innocence, T. 75 gespr. Quelle main salutaire a chassé le nuage, T. 96 ges. Ton Dieu n’est plus irrité, T. 117 gespr. Que le Seigneur est bon, que son joug est aimable, T. 147 Il s’apaise, il pardonne/Du cœur ingrat..., III,9

Anhang 9 Georges Rivollet, Jérusalem! Pièce en cinq actes, en prose (Petite Illustration, No 50, 14 Février 1914, Série-Théâtre, No 30, S. 1-27) Massenet, Jules: Jérusalem, drame de Georges Rivollet, musique de scène, Paris, Au Ménestrel 1912 Massenet

Tonart, Metrum

Rivollet, Jérusalem

Prélude, Ample et religieux

endet in C-Dur, 3/2 C-Dur

vor I, T. 22 Scène 1 rideau; T. 2628 Melodram, S. 3 linke Sp., Est-ce que vous savez l’heure.../Quatre KHXUHVMXVWHPRQVLHXU/pRQDUG Fin de l’acte, Melodram J’ai peur pour toi... peur pour nous! S. 9 rechte Sp.

(QWU·DFWH/D&DVD1RYD a-Moll, 9/8, 23 T. Assez lent, religieux II, 1, lent F-Dur, C, 9 T. II, 2, Assez lent

9/8, a/A, 9. T.

T. 23 rideau 6/DFRXYHUWXUHGH*LQHWWH est faite, mademoiselle/ C’est bien... Je la coucherai moi-même Personne!, Melodram

II, 4 En suivant la scène a-Moll/A-Dur, ¾, et la déclamation jusqu’à E-Dur, 9/8/ ¾ ODÀQGHFHPRUFHDX8Q A-dur, 8 T. SHXOHQW/HQW7

II,4, Melodram, Elle a fermé sa SRUWH ELV9 2XLF·HVWPRL

,,/HQW

3/2, 8 T. F-Dur, C

II,5 DOMITIA Je ne vous comprends plus,/Ce soir, oui, ce soir même, S. 13 rechte Sp., Melodram II,5... avant d’aller dormir, Melodram S. 14, rechte Sp.

A-Dur, ¾, 10 T.

Fin de l’act... Quand le miracle sera accompli, mit Didaskalie, S. 14, rechte Sp.

Assez lent en berceuse

/HQW)LQGHO·DFWH

297

Herbert Schneider

(QWU·DFWH/D)RQWDLQH GH6LORp/HQW Modéré, clair et joyeux

F-Dur, 12/8, 25 T.

vor III,1 S. 15 Textdruck

F-Dur, 2, 7, 34 T.

III,1-2, gesungen Alleluia, Melodram S. 15, Anfang

idem

idem, 29 T.

III,2, Qu’on apperçoit à travers les arbres, gesungen Alleluia, 0HORGUDP9DPRQHQIDQWYDDYHF Annie, Didaskalien S. 15

Modéré

a-Moll/d-Moll, 4/2, 17 T.

III,3, Ah! malheureux! je savais bien! nicht gefunden im Textdruck; Enfants et Femmes einstimmig geVXQJHQÅ/DXGDWHSXHUL'RPLQXP´

Entracte, Animé, agité

a-Moll, C, 21+7 T.

YRU,97DEOHDX,90HORGUDP S. 19 linke Sp.

HWDEOHDX/HQWUHOLgieux

endet in C-Dur, 3/2, 58 T.

2. Tableau, rideau ouvert, Place de l’église du Saint-Sépulcre

Assez lent, triste, douloureux

modulierend, 36 T.

,9EDU\WRQVDXORLQÅ+D´DOV Melisma, Melodram, S. 21 Ende 2., Anfang 3. Sz. exakt bis 4. Sz.: attendre à demain

/DYLVLRQ/HQW

modul., 3/2, 3/2, 24 T.

)LQGHO·DFWH/HQW

c-Moll, 3/2

,90HORGUDPUHFWH6]6 linke Sp. A ce moment la lune... bis rechte Sp: Ce n’était qu’un simulacre de lui. im 1. Takt Rideau

(QWU·DFWH/DEHUFHXVH GHO·HQIDQWPRUW/HQW

F-Dur, C, 22 T.

YRU9

/HQW

F-Dur, C, 11 T.

9JDQ]6UHFKWH6S,OHPbrasse sa sœur au front, Melodram

Modéré ample

A-Dur, ¾, 10 T.

9OHW]WH6]HQHQDFKGRQWLOOHVIDLW S. 26 rechte Sp.

298

Schauspielmusik und Musikalisierung von Theater im 20. Jahrhundert

Musik im Sprechtheater des frühen 20. Jahrhunderts – Grundsätzliches zur Spurensuche BENJAMIN SCHOLTEN

Der Begriff Spurensuche kann in Verbindung mit der Schauspielmusik des frühen 20. Jahrhunderts auf verschiedene Art und Weise gedeutet werden. Er bietet sich unter anderem dafür an, das Themengebiet in Relationen zu anderen Musiktheatergattungen zu betrachten, indem entweder in der Schauspielmusik nach Spuren dieser etablierten Gattungen gesucht wird oder aber umgekehrt, die Spuren der Schauspielmusik darin überprüft werden. Diese Untersuchung kann auf das Gebiet der Filmmusik ausgeweitet werden, weil gerade in jener Zeit zahlreiche Komponisten parallel für Bühne und Film tätig waren.1 In einer solchen Analyse wären sowohl größere Überschneidungen als auch Unterschiede im Detail zu erwarten, wobei die gegenseitigen Wechselbeziehungen und EinÁVVHQHXH$VSHNWHLQGHUWUDGLWLRQHOOHQ0XVLNJHVFKLFKWVVFKUHLEXQJDXIGHFNHQ könnten, insbesondere da die Entwicklung der Filmmusik erst wenige Jahre zuvor einsetzte. Es besteht zudem die Möglichkeit, dass der rasante Fortschritt dieses neuen Genres aus den langjährigen Erfahrungen und Erkenntnissen der Musik im Sprechtheater resultierte, wobei der systematische Nachweis dieser These noch aussteht. Weitere Optionen sind, die Schauspielmusik auf außermusikalische Aussagen und Wirkungen hin zu untersuchen, die in jener brisanten Zeit in der Regel politischen Ursprungs waren. Dabei wäre zu überlegen, ob diese Inhalte im Sprechtheater selbstständig über die Musik, sei es direkt oder indirekt, transportiert werden können oder erst aus dem multimedialen Zusammenspiel entstehen, die Musik somit nur einen Teilbeitrag dazu leistet. In diesem Zusammenhang sind die integrierten Liedtexte nicht zu unterschätzen, die 1

Vgl. Mücke, 2011, S. 8. 301

Benjamin Scholten

EHUGLH6SUDFKHGHQ(LQÁXVVXQG6WHOOHQZHUWGHU0XVLN]XVlW]OLFKYHUlQGHUQ können. Die hier angerissenen Relationen und möglichen Interdependenzen werden in diesem Beitrag jedoch nicht weiter verfolgt, da der Schwerpunkt im konkreteren Wortsinn auf der Spurensuche nach Schauspielmusik des frühen 20. Jahrhunderts und den dabei auftretenden Schwierigkeiten liegt. Vier zentrale Kategorien – Inszenierungen, Regisseure und Regiebücher, Komponisten und deren Nachlässe, Geräuschmusik – verdeutlichen grundlegende Probleme, Thesen und Fragestellungen, die mit einzelnen Beispielen belegt werden.

Die Wahl der Inszenierungen – Vorarbeiten zur Untersuchung Die ersten Schwierigkeiten begegnen bereits am Beginn der Spurensuche, da eine Festlegung und Auswahl der analysierbaren und interessanten Inszenierungen getroffen werden muss, in denen der Einsatz einer Musik heute noch nachgewiesen werden kann. Dabei sind mehrere Faktoren zu beachten: Einerseits gilt es, zu frühe Einschränkungen zu vermeiden, die eine weitere Beschäftigung mit GHP $QDO\VHJHJHQVWDQG P|JOLFKHUZHLVH EHUÁVVLJ ZHUGHQ OLH‰HQ GD NHLQH weiterführenden und aktualisierenden Ergebnisse zu erwarten sind, andererseits darf das Spektrum nicht zu weit geöffnet bleiben, da zu große Datenmengen und Informationen nicht auf Anhieb bewältigt werden können. Hinzu kommt, dass der Einsatz einer Musik im Sprechtheater auch im frühen 20. Jahrhundert nicht immer lückenlos dokumentiert ist und somit zu Beginn der Forschungen kein Überblick über die zu erwartende Materialfülle vorhanden ist. Damit ergibt VLFKGLH)UDJHLQZLHIHUQGHUDXI]XÀQGHQGH$QWHLODQHUKDOWHQHQ0XVLNPDWHULalien vom tatsächlich in der praktischen Umsetzung eingebundenen prozentual abweicht. Der wahre Wert kann nur über Schätzungen ermittelt werden, indem unter anderem Aussagen aus Rezensionen mit Bemerkungen von Beteiligten verglichen werden, wobei immer der subjektive Kontext zu beachten ist, der Differenzen entstehen lässt. Was sich abzeichnet, ist die Tatsache, dass der Musikanteil innerhalb der Inszenierungen des 20. Jahrhunderts deutlich vom Stil des Regisseurs abhängig war und grob geschätzt vom Einsatz in jeder zweiten Inszenierung bis hin zum völligen Verzicht reichen kann. Als erste Informationsquelle bieten sich Theaterzettel und Programmhefte an, die normalerweise den Namen des Hauptkomponisten nennen, während die Eingliederung einzelner (präexistenter) Nummern oft unbeachtet bzw. ungenannt blieb, obwohl dies nicht unerheblich ist. Bei Wiederaufnahmen oder Gastspielauftritten eines Ensembles im In- und Ausland konnte selbst beim erneuten Einsatz der Musik, sei 302

Musik im Sprechtheater des frühen 20. Jahrhunderts

es in Wiederholung oder mit Veränderungen, die Nennung komplett entfallen.2 An dieser Stelle drängen sich weitere Fragestellungen auf: Spiegelt der Verzicht einer Erwähnung des Komponisten den Stellenwert der Musik im Schauspiel wider? Wollte möglicherweise der Komponist seine Mitarbeit und Tätigkeit in dieser Gattung nicht publik machen? Wurde die Musik bei einer Wiederaufnahme tatsächlich gestrichen? Welche Gründe existieren dafür? Vermittelt dieser etZDLJH9HU]LFKWHLQHVSH]LÀVFKH,QWHQWLRQGHV5HJLVVHXUV".DQQGLH$EOHKQXQJ eine Aussage zur Schauspielmusik sein? Jede dieser Fragen muss am konkreten Beispiel untersucht werden. Eine pauschale Beantwortung ist nicht möglich, weil mehrere Personen (Regisseur, Komponist, andere Mitarbeiter) dafür verantwortlich sein konnten. Die Integration einer neuen Musik in eine neue oder bestehende Inszenierung wurde dagegen regelmäßig angekündigt, wodurch die Zusammenarbeit bekannter Persönlichkeiten dokumentiert ist; möglicherweise spielten bei derartigen Annoncen auch marktstrategische Gesichtspunkte eine Rolle: Ein bekannter Komponistenname konnte den Wert einer Inszenierung steigern und diese für das Publikum noch attraktiver machen. Einer der Gründe für die nachträgliche Streichung von Musik hängt mit den verschiedenen Rollenbesetzungen bzw. der individuellen Musikalität einzelner Darsteller zusammen. Schließlich kann eine eigens komponierte Musik für HLQHVSH]LÀVFKH,QV]HQLHUXQJQXUIUGLHGDEHLPLWZLUNHQGHQ6FKDXVSLHOHUXQG deren musikalische Fähigkeiten konzipiert werden.3 Problematisch ist dies für nachfolgende Besetzungen dann, wenn der Stil der Musik deutlich über dem normalen Niveau einer Schauspielmusik liegt und z.B. professionelle oder gut ausgebildete Sänger bzw. Instrumentalisten oder fortgeschrittene musikalische Kenntnisse fordern. Es gehört folglich zum praktischen Theateralltag, die Nummern für einzelne Schauspieler zu verändern, um sie an die jeweiligen Fähigkeiten anzupassen. Im Ausnahmefall führt dies sogar zur vollkommenen Streichung, so dass die Musik im Sprechtheater innerhalb weniger Tage aufgrund von Zweit- und Drittbesetzungen in diversen Varianten erklingen kann. Beim 2

3

6HOEVW LQ GHQ DXVIKUOLFKVWHQ $XÁLVWXQJHQ GHU 6SLHOSOlQH EHUKPWHU 5HJLVVHXUH des frühen 20. Jahrhunderts wurde der Einsatz von Musik nicht vermerkt, wenn dieser nicht konkret auf den Theaterzetteln erwähnt wurde. Huesmann, Leisler/ Prossnitz und Boeser/Vatková übersehen, trotz aller sonstiger Genauigkeit, z.B. vermutlich 76 Musikeinsätze in der Theaterarbeit Max Reinhardts, wobei zu beachten ist, dass die hohe Anzahl an Inszenierungen (ca. 2500 in allen Häusern und mit sämtlichen Mitarbeitern) nicht dem Durchschnitt und Normalfall entspricht. Vgl. Huesmann, 1983; auch: Leisler/Prossnitz, 1973; auch: Boeser/Vatková, 1984. Vgl. Rudin, 1978, S. 113-124. 303

Benjamin Scholten

Austausch mehrerer Schauspieler verändert sich dadurch der musikalische Anteil beträchtlich. ,QGHU5HJHOZXUGHNHLQHGHU9DULDQWHQVFKULIWOLFKGRNXPHQWLHUWRGHUÀ[LHUW weswegen kaum Hinweise darüber vorhanden sind, in welchem Maße die MuVLNEHUHLWVDEGHU]ZHLWHQ$XIIKUXQJPRGLÀ]LHUWJHNU]WRGHUYHUHLQIDFKWZXUde. Auch über eine Ausweitung oder Ergänzung der Originalkomposition – das gegensätzliche Verfahren – ist nichts bekannt. Die mehr oder minder massiven Eingriffe in die musikalische Struktur führen zu Veränderungen des multimedialen Gesamtkonzeptes, wobei diese nicht nur auf die akustische Ebene beschränkt bleiben müssen, sondern je nach Stil der Inszenierung und des zugrundeliegenden Konzeptes auch Auswirkungen auf die übrigen Dimensionen der Inszenierung haben. Wie wohldurchdacht die Regisseure und Komponisten mit diesen Problemen umgingen, belegt u.a. Engelbert Humperdincks Musik zu Was ihr wollt für die Inszenierung Max Reinhardts von 1907, für die er zwei verschiedene Versionen des Abschlussgesanges komponierte, von denen die erste sehr komplex angelegt ist – durch ungewöhnliche Phrasierung, Harmonisierung sowie Tempowechsel gleicht sie einem durchkomponierten Kunstlied –, die zweite jedoch mit ihrer Strophenform im Volksliedton einfacheren Strukturen folgt.4 Die Quellen geben keine Auskunft darüber, ob dies der Pragmatik der Aufführungssituation geschuldet war – der Hauptdarsteller Alexander Moissi HUNUDQNWHDP7DJGHU3UHPLHUHXQGÀHODXV²RGHUVFKRQPLWZHLVHU9RUDXVsicht an spätere Schauspieler gedacht worden war.5 Trotzdem vermittelt dieses Beispiel den praktischen Umgang mit der Schauspielmusik, die zu keinem Zeitpunkt als endgültiges Produkt existierte, was jede Untersuchung erschwert. Selbst die wenigen existierenden Editionen von Arbeiten bekannter Komponisten müssen vor diesem Hintergrund beachtet werden. Dank der Aufarbeitung seitens der älteren Theaterwissenschaft, die für die bekanntesten Regisseure und großen Theater des frühen 20. Jahrhunderts komplette Inszenierungslisten mit sämtlichen Informationen zusammengestellt 4

5

304

Vgl. Engelbert Humperdinck: Musik zu Shakespeares Was ihr wollt. Partitur, Max Brockhaus Verlag, Leipzig 1908 (Nr. 10a und Nr. 10b „Als ich ein winziges Bübchen war“), S. 18-24. Für das Instrumental-Problem (die selbstständige Begleitung mit einer Gitarre auf der offenen Bühne) stellt dies jedoch keine Lösung dar, da sie in beiden Versionen verlangt wird. Die doppelte Übernahme in den Druck entspricht einer Ausnahme innerhalb der Schauspielmusik, die bislang in keinem anderen Beispiel nachgewiesen werden konnte. Es ist zudem nicht bekannt, welche Version schließlich bei der Uraufführung der Musik erklang. Vgl. W. Humperdinck, 1965, S. 272.

Musik im Sprechtheater des frühen 20. Jahrhunderts

hat, wurden erste Hinweise zum Musikeinsatz im Sprechtheater jener Jahre erschlossen. Sie erwähnen bereits die Komponisten und deren Werke, in einigen Fällen sogar die beteiligten Dirigenten, und nennen stellenweise selbst diverse eingefügte, präexistente Kompositionen. Details zu Kompositionen – etwa die Anzahl der Nummern, die Besetzung oder ein möglicher Fundort des Notenmaterials oder Informationen zu sonstigen erhaltenen Quellen – müssen jedoch aus anderen Materialen rekonstruiert werden. Auf ergänzende Informationen aus Primär- und Sekundärquellen kann deshalb nicht verzichtet werden, da insbesondere in den Erinnerungen von Beteiligten und Außenstehenden unterschiedOLFKH (LQ]HOKHLWHQ XQG (LQGUFNH IHVWJHKDOWHQ VLQG GLH RIW LQ GHQ RIÀ]LHOOHQ Dokumenten des Abends nicht auftauchen. So können über diesen Weg Striche, Kürzungen, Ergänzungen und Einfügungen im musikalischen Bereich nachvollzogen werden, die eine Rekonstruktion der akustischen Gestaltung der Inszenierung vereinfachen, stellenweise sogar überhaupt erst ermöglichen. Mit Hilfe dieser Schilderungen wird auch die Dimension des Geräuschhaften und ihre Integration verständlicher, die zum Beispiel auf den Theaterzetteln oder in ProJUDPPKHIWHQLQGHU5HJHONHLQH(UZlKQXQJÀQGHWXQGGHUHQ3URGX]HQWKlXÀJ in den Hintergrund gerät. Nicht immer sind die Komponisten oder Regisseure alleine für diese Form der Einbindung verantwortlich, da mit der technischen Entwicklung zunehmend auch Tontechniker sowie Aufnahmestudios in das akustische Geschehen eingebunden werden.6 Bei den oben erwähnten Aussagen und Äußerungen ist durchgängig der zeitliche Abstand zu berücksichtigen, indem möglicherweise aufgrund von falscher oder ungenauer Erinnerung ein verfälschtes Bild nicht zuletzt über die musikalische Dimension vermittelt wird, 6

So ist bekannt, dass u.a. Heinz Hilpert für mehrere Inszenierungen die Musik und Geräusche aufnehmen ließ und sie mit Instrumenten des Electrola-Konzerns an den entsprechenden Stellen abgespielt wurden (für Ferdinand Bruckners Die Verbrecher (aufgeführt am 23.10.1928 im Deutschen Theater in Berlin) und Edgar Wallace‘ Der Mann, der seinen Namen änderte (aufgeführt am 03.05.1929 in der Komödie in Berlin). Eine Nachfrage im Archiv der heutigen Muttergesellschaft EMI führte zu keinem befriedigenden Ergebnis. Es konnte weder nachgewiesen werden, ob hier ein Sonderfall vorliegt, um welche Aufnahmen es sich handelt noch ob diese Aufnahmen gegebenenfalls vorhanden sind. Auch Erwin Piscator ließ nachweislich in seiner Inszenierung von Leo Lanias Konjunktur am 10.04.1928 Schallplatten – hier allerdings mit einem Polifar-Apparat – zusätzlich zur Live-Musik einspielen, wobei genaue Angaben dazu fehlen. In jener Zeit waren somit auch die großen Schallplatten-Konzerne am Theaterbetrieb und den damit YHUEXQGHQHQÀQDQ]LHOOHQ*HVFKlIWHQEHWHLOLJW 305

Benjamin Scholten

das kaum mehr korrigiert werden kann. Daraus ergeben sich weitere Fragen für die Untersuchung: Kann die Mythenbildung verhindert oder im Zweifelsfall rückgängig gemacht werden? Reicht für ein derartiges Vorhaben die Analyse der Musik aus? Ist mit Hilfe der erhaltenen Materialien überhaupt ein eindeutiges Ergebnis feststellbar? Die Analyse unterschiedlicher Inszenierungen führt KlXÀJ ]X HLQHP HUQFKWHUQGHQ (UJHEQLV GD GLH YHUPHLQWOLFKHQ 1HXHUXQJHQ der tatsächlichen Realisierung auf der Bühne oftmals nicht entsprechen und eher unbewusst verklärenden Erinnerungen entspringen. Die gut dokumentierte Entwicklung und Entstehung einzelner Inszenierungen Max Reinhardts – vom Beginn der Planung in den Regiebüchern über Gespräche und Briefe mit Mitarbeitern zur Probephase bis hin zur tatsächlichen Realisierung auf der Bühne am Tag der Premiere und den folgenden Wiederaufnahmen – verdeutlicht, dass nicht jeder seiner spontanen visionären Einfälle – an dieser Stelle auf die rein musikalische Gestaltung beschränkt – in der Praxis umgesetzt werden konnten. Die Zusammenarbeit zwischen ihm und Engelbert Humperdinck belegt die Schwierigkeiten, wobei die Entstehung der Finalmusik zu Aristophanes Lysistrata 1908 nur die Spitze eines gewaltigen Versuches darstellt. Nach mehreren Absprachen zwischen den Beteiligten stand fest, dass die Aufführung mit einem akustischen Höhepunkt beendet werden sollte, den sich Reinhardt gar als mögliche Konkurrenz zu Beethovens 9. Sinfonie vorstellte. Da es sich nach wie vor um die Musik einer Sprechtheateraufführung handelte, war sie schon aus GLYHUVHQ SUDNWLVFKHQ ZLH ÀQDQ]LHOOHQ *UQGHQ HLQHP VROFKHQ$QVSUXFK QLFKW gewachsen. Insbesondere der akute Zeitmangel gefährdete die Pläne bereits von Beginn an und führte zum Scheitern des geplanten musikalischen Großprojektes.7 Inwiefern sich eine derartig dominierende Musiknummer auf die allgemeine Entwicklung der Musik im Schauspiel ausgewirkt hätte, bleibt dahin gestellt. Da in der Regel zudem nur ein kleiner Personenkreis vor der Premiere über diese Details informiert war, muss davon ausgegangen werden, dass später keine Nachahmer seine Pläne verfolgten. Die Vorstellungen anderer Regisseure, wie zum Beispiel Erwin Piscators, scheitern dagegen an den Kosten, die für Spezi7

306

Die erste Anfrage an Humperdinck wurde sieben Wochen vor der Uraufführung verfasst, die Idee zum großen Finale stand jedoch erst fünf Wochen später fest, sodass für eine Komposition nur mehr 14 Tage verblieben, in denen Reinhardt seine Meinung noch mehrfach änderte. Vgl. die Materialien aus dem Engelbert Humperdinck-Nachlass in der Musik- und Theaterabteilung der Johann Christian Senckenberg Universitätsbibliothek Frankfurt/M., Sig.: A I c 6, Nr. 462, Bl. 619; A I c 6, Nr. 463, Bl. 620f.; A I c 6, Nr. 464, Bl. 622f.; A I c 6, Nr. 465, Bl. 624f.; A I c 6, Nr. 466, Bl. 626; A I c 6, Nr. 467, Bl. 627.

Musik im Sprechtheater des frühen 20. Jahrhunderts

aleffekte benötigt werden (wobei jedoch die Ausgaben für die Musik nur einen geringen Teil des Gesamtbudgets ausmachten). Trotzdem war auch sie von den nötigen Kürzungen betroffen.8 Demnach verhinderten verschiedene Faktoren, wie Zeit, persönliche Zusammenarbeit, technische Möglichkeiten und Kostenbilanzen, die Umsetzung von idealistischen und visionären Ideen in die Praxis.

Regisseure und ihre Bücher – Die bestimmende Größe Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts und Max Reinhardts Auftreten als Regisseur wurde die Inszenierung zur eigenständigen Größe im Theatersektor, die im Dienst des angestrebten Miteinanders aller an der Aufführung beteiligter KräfWH 0XOWLPHGLDOLWlW HLQHQHUKHEOLFKHQ(LQÁXVVDXIGLH0XVLNLP6SUHFKWKHDWHU ausüben konnte. Bis dato war es durchaus üblich, den Kapellmeister mit der Zusatzaufgabe zu betrauen, eine scheinbar passende Musik für den jeweiligen Abend auszuwählen, zusammenzustellen oder in aller Eile anzufertigen.9 Daher war es möglich, präexistente Musik in verschiedenste Schauspiele einzufügen, ganz gleich, ob sie in Stil und Form zur jeweiligen Szene passte. Nicht immer stand die künstlerische Auseinandersetzung bei der Verbindung von Musik und Text und der daraus resultierenden Wirkung im Mittelpunkt der Überlegungen, es wurde vielmehr nach praktikablen Lösungen gesucht. Nur selten wurden Kompositionen für Theateraufführungen eigens geschrieben. Dieses teils willkürlich anmutende Verfahren führte zur grundlegenden Diskussion über die Erhaltung oder Abschaffung von Musik im Schauspiel und die parallel dazu VWDWWÀQGHQGH WKHRUHWLVFKH $XVHLQDQGHUVHW]XQJ EHU HLQH P|JOLFKVW DGlTXDWH kompositorische Umsetzung.10 Mit dem Eingreifen des Regisseurs konnten sich GLHELVKHULJHQ*HSÁRJHQKHLWHQlQGHUQGDQXQYHUVWlUNWH[WHUQH.RPSRQLVWHQ 8

9

10

Piscator war sich der enormen Ausgaben bewusst, begründete sie mit ExperimenWHQXQGGHU*OHLFKEHUHFKWLJXQJVHLQHU.ROOHJHQGHQHQHUÀQDQ]LHOOQLFKWVYHUZHLgerte. Vgl. Piscator, 1979, S. 206-212. Vgl. zur Entwicklung und Gestaltung der Schauspielmusik des 18. und 19. Jahrhunderts (Auswahl): Altenburg, 2002, S. 183-208; Altenburg, 2011, S. 175-191; Beck/Ziegler (Hgs.), 2002, S. 129-144; Kramer, 2002, S. 201-216; Kramer, 2008, S. 155-184; Meier, 1999; Paley, 1998; Radecke, 2007; Schmidt, 2006. Siehe Anm. 9. Vgl. zur Diskussion im frühen 20. Jahrhundert. Eeden, 1906, 23-38; Golther, 1906/07, S. 273-284; Istel, 1906/07, Sp. 1283-1292; Elster, 1908, S. 112113; Tannhorst, 1914, S. 199-203. 307

Benjamin Scholten

mit der Vertonung der benötigten Musik beauftragt wurden. Hierbei standen die Beteiligten der verschiedenen medialen Ausdrucksformen untereinander in Kontakt, wodurch sich eine engere Verknüpfung ergab. Zu fragen ist angesichts derartiger Veränderungen, ob für die Zeit ab ca. 1900 die Beschäftigung mit der Musik (die zudem mitunter nur in Bruchstücken, Einzelstimmen, losen Nummern oder unvollständigen Handschriften vorliegt) überhaupt hinreichend Sinn ergibt. Verlagert sich der Schwerpunkt nicht vielmehr auf das Theaterereignis als multimediales Gesamt(kunst)werk, mit einer gesonderten Betrachtung und $QDO\VHGHU0XVLN":HOFKHQ(LQÁVVHQXQG:HFKVHOZLUNXQJHQZDUGDVDNXstische Medium von innen und außen ausgesetzt? Konnte es sich frei entfalten oder wurde eine neuartige Indienstnahme spürbar? Letzteres gilt umso mehr, als sich innovative Formen avantgardistischen und politischen Theaters herausbildeten: Wurde die Musik im Schauspiel für politische Zwecke ausgenutzt? Konnten mit ihrer Hilfe Botschaften übermittelt werden, die sonst in politisch EULVDQWHQ =HLWHQ QLFKW JHlX‰HUW ZHUGHQ NRQQWHQ" :HOFKHQ (LQÁXVV QDKP LQ diesem Zusammenhang die noch immer vorhandene Zensur? Hatte die Musik Möglichkeiten zur freien Gestaltung oder gab es auch hier deutliche Grenzen? Da die (deutsche) Theaterlandschaft nicht nur aus den ganz großen TheDWHUQEHVWHKWE]ZEHVWDQGKDWWHQQLFKWDOOH%KQHQGLHÀQDQ]LHOOHQXQGUlXPlichen Möglichkeiten für den Einsatz einer neu komponierten Musik. Auch im 20. Jahrhundert blieb es somit üblich, präexistente Musikstücke aus dem vorhandenen Fundus in Inszenierungen einzugliedern – eine Praxis, die freilich kaum mehr rekonstruierbar ist und eine weitere Schwierigkeit für jede Form der Beschäftigung beinhaltet. Damit werden grundlegende Fragen der (Musik)Wissenschaft berührt: Ist es überhaupt möglich, jede Form der Schauspielmusik zu untersuchen? Ist dies zudem nötig? Sollte man nicht zunächst bewusst auf einige Aspekte verzichten, dafür grobe und offensichtliche Strukturen vorrangig analysieren? Wie lässt sich der Gegenstand, die diversen indiYLGXHOOHQ .RPSRVLWLRQHQ VLQQYROO NODVVLÀ]LHUHQ" ,P *UXQGH PXVV MHGH Musik gesichtet werden, um darüber entscheiden zu können, denn die quantitative Anzahl von Nummern enthält per se keine Aussage zur Qualität. Es ist möglich, dass eine kurze Komposition aufgrund ihrer Einbindung in den multimedialen Kontext eine Bedeutung und Wichtigkeit erhält, die bei manch ausgedehnten Stücken fehlt. Die intensive Recherche der eigens komponierten Schauspielmusiken im frühen 20. Jahrhundert ergibt, dass es sich bei der Mehrzahl der Kompositionen um kleine und kurze Einlagen oder simple akustische Effekte handelt, die sich nicht durch musikalische Besonderheiten abzeichnen. Der Umfang von Schau308

Musik im Sprechtheater des frühen 20. Jahrhunderts

spielmusik variiert jedoch von Regisseur zu Regisseur und Komponist zu Komponist erheblich. Armin Knab schuf für Richard Billingers Rauhnacht z.B. über zwanzig Stücke, die meisten davon sind nur wenige Takte lang. Edmund Meisel brachte es bei Bertolt Brechts Mann ist Mann sogar auf 32 Einzelnummern, von denen aber 26 in die Kategorie Signale oder kurze Einwürfen fallen (sie wurden überraschenderweise alle notiert). Auch in Anton Beer-Walbrunns Musik zu William Shakespeares Hamlet sind sechs der 13 Nummern Fanfaren und damit kurze Signalmusiken. In anderen Fällen korrespondiert die Gewichtung der Musik mit den komponierten Nummern: Wolfgang Zellers Musik zu Alfred Brusts Südseespiel besteht nur aus zwei Stücken, die zu Eugen O’Neills Unterm karibischen Mond sogar nur aus einem Stück; Engelbert Humperdincks Musik zu Lysistrata aus vier, ebenso wie Max Marschalks zu Hanneles Himmelfahrt.11 Ein Glücksfall für jede Form der Erforschung von Schauspielmusik des frühen 20. Jahrhunderts sind die erhaltenen Regiebücher, die je nach Stil des Regisseurs detaillierte Angaben zu den gewünschten Musikstücken der Inszenierung enthalten. In ihnen sind die grundsätzlichen Ideen der Schauspielmusik dokumentiert, wobei sich bei einem Vergleich mit der realisierten Musik deutlich zeigt, dass Plan und Ausführung nicht immer übereinstimmen müssen. Fraglich ist folglich, ob beide Perspektiven bei einer Untersuchung strikt getrennt werden können, oder ob erst ein Vergleich die interessanten Ergebnisse liefert. Es 11

Vgl. Armin Knab: In dulci jubilo. Autograph, 1931, Exemplar der Musikbibliothek der Abtei Münsterschwarzach, Sig.: 19d/2086; Armin Knab: Hirtenmusik. Abschrift, o.J., Exemplar der Musikabteilung der Bayrischen Staatsbibliothek, Sig.: Mus.ms.17988; Edmund Meisel: Mann ist Mann. Abschrift (?), o.J., nach dem handschriftlichen Notenmaterial aus den Notenbeständen des Stuttgarter Staatstheaters, Exemplar der Handschriftenabteilung der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart; Anton Beer-Walbrunn: Hamlet Musik. Original-Partitur. Op.42 (43), o.J., Exemplar der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek am Gasteig, Nachlass Anton Beer-Walbrunn, Sig.: M2310; Wolfgang Zeller: Südseespiel. Autograph der Originalpartitur, 1924, Exemplar des Archivs des Deutschen Filminstituts in Frankfurt/M.; Wolfgang Zeller: Unterm karibischen Mond. Autograph der Originalpartitur, 1924, Exemplar des Archivs des Deutschen Filminstituts in Frankfurt/M.; Engelbert Humperdinck: Lysistrata. Autograph der Originalpartitur, 1909, Exemplar des Engelbert Humperdinck-Nachlasses der Musik- und Theaterabteilung der Johann Christian Senckenberg Universitätsbibliothek Frankfurt/M., Sig.: Mus Hs 2098a; Max Marschalk: Hannele Matterns Himmelfahrt. Drama in zwei Akten von Gerhard Hauptmann. Partitur, Exemplar der Landesbibliothek Schwerin, ca. 1893, Sig.: 14457. 309

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ist außerdem zu klären, ob die angestrebten Visionen und erhofften Möglichkeiten die wahre Bedeutung der Schauspielmusik der Zeit wider-spiegeln oder vielmehr die, davon abweichend, tatsächlich aufgeführte Musik. Im Hinblick auf die Geräuschmusik, die im frühen 20. Jahrhundert deutlich zunahm, sind erhebliche Differenzen spürbar. Dabei bleibt die Frage zunächst offen, ob die technischen Möglichkeiten den diversen Anforderungen nicht gewachsen waren, ob die Regisseure am Ende selbst nicht wagten, den eingeschlagenen Weg zu gehen, ob die Komponisten sich gegen dieses Verfahren aussprachen, ob der Zeitmangel längere Probenphasen verhinderte oder der Gesamteindruck Änderungen vorgab.

Die Kompositionen – Suche nach verschollen geglaubten Werken Bisher wurde bei Untersuchungen zur Schauspielmusik der Schwerpunkt auf die etablierten Komponisten gelegt (für das frühe 20. Jahrhundert z.B. Engelbert +XPSHUGLQFN +DQV 3ÀW]QHU .XUW:HLOO XQG +DQQV (LVOHU  GLH MHGRFK NHLQH festen Anstellungen am Theater innehatten. Bei dieser Art der Betrachtung wird KlXÀJEHUVHKHQGDVVGLHZHLWDXVJU|‰HUH=DKODQ6FKDXVSLHOPXVLNHQMHGRFK von Hauskomponisten verfasst wurden, die heute größtenteils nicht einmal mehr namentlich bekannt sind. Friedrich Bermann schrieb mehrere Musiken für Reinhardt, ebenso wie Anton Beer-Walbrunn und Klaus Pringsheim, Jens Fiebrich für Leopold Jessner, Jaap Kool diverse für Erich Engel, wie auch Edwin Geist, der zudem mit Heinz Hilpert arbeitete. Oder, um die exemplarische Auswahl abzuschließen, Wolfgang Zeller, der für Reinhardt, Hilpert und Jürgen Fehling tätig war und über 80 Schauspielkompositionen schuf. 'RFKVLQGDOOHGLHVH.RPSRVLWLRQHQHUKDOWHQ":REHÀQGHWVLFKGLHVHV0Dterial? Liegt es zumeist handschriftlich vor oder existieren auch Drucke? Können die Kompositionen eingesehen werden? Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Auftragsarbeiten für ein einzelnes Haus hergestellt wurden und keine größere Verbreitung geplant war. Zahlreiche Theaterarchive erklären ihre heutigen Lücken und Bestandsverluste mit den Auswirkungen der Weltkriege. Die Entstehung einer Musik ist kaum mehr nachvollziehbar, da vielfältige Details und Verhandlungen im persönlichen Kontakt in direkter mündlicher Absprache vorgenommen worden waren. Weitere Lücken im Notenmaterial ergeben VLFKGDYLHOH.QVWOHULQGHQ-DKUHQSROLWLVFKHUXQGUHOLJL|VHU9HUIROJXQJÁLHhen mussten und dabei den Großteil der Habseligkeiten zurückließen, sodass der jeweilige musikalische Nachlass oft nur unvollständig erhalten ist. Bei der 310

Musik im Sprechtheater des frühen 20. Jahrhunderts

Recherche war festzustellen, dass Nachfahren, selbst wenn sie heute an einer Verbreitung der Kompositionen interessiert sind, speziell über den Bereich der Schauspielmusik keine Aussagen tätigen können und diese Werke selbst nicht kennen bzw. nicht einmal von deren Existenz wissen. Auch in eigenhändigen Werkverzeichnissen fehlen mitunter Einträge zur Schauspielmusik, von späterer Hand wurden diese falsch zugeordnet. Zu fragen bleibt ferner: Wurde die geplante Musik wirklich realisiert? Sind möglicherweise falsche Namen oder Daten überliefert? In welchem Verhältnis standen die Komponisten zur Musik im Schauspiel? Allen Schwierigkeiten zu Trotz kann einiges an Notenmaterial (von handschriftlichen Einzelstimmen, Klavierauszügen über unvollständige Abschriften, komplette Autographen bis hin zu Drucken) zusammengetragen werden. Dabei sind die Nachlässe und deren Fundorte weit verstreut, wie die folgenden, hier nur höchst exemplarisch wiedergegebenen Beispiele zeigen: Oskar Fried: Moskau, Klaus Pringsheim: Hamilton/Kanada, Karl Hudez: Wien, Pantcho VladiJXHURYV6RÀD%XOJDULHQ-DDS.RRO$PVWHUGDPRGHU(GPXQG*HLVW/LWDXHQ Es ist zu überlegen, in welcher Relation der Aufwand der Materialbeschaffung zum möglichen Erkenntnisgewinn für eine Überblickstudie, einen Vortrag oder Artikel stehen. In jedem Fall erscheint die Herstellung eines Netzwerkes zwischen den verschiedenen Forschungsstätten zur Schauspielmusik als sinnvoller erster Schritt, nicht zuletzt, um zunächst relevante Materialien zusammenzutragen. In einem solchen Portal, das allen Interessierten zugänglich sein müsste, könnten Fundorte von Notenmaterialien, Nachlässe, Adressen, sowie Drucke, Editionen und Bibliographien in einer Datenbank gesammelt werden. Eine weiterer Aspekt wäre die Stärkung der Zusammenarbeit mit sogenannten Experten, Vereinen und Gesellschaften, die sich auf einzelne Komponisten, deren Leben und Schaffen beschränken, daher aber auch Detailinformationen besitzen, die in der herkömmlichen Literatur nicht bekannt sind.

Geräusche – eine spezielle Form der Musik Die Geräusche werden in vielen Untersuchungen zur Schauspielmusik nicht beachtet, obwohl sie im weitesten Sinn zur Musik einer Inszenierung hinzugehören, selbst wenn man sie nicht immer in dieser Form wahrnimmt. Dabei könnte eine einfache Unterscheidung diese Frage von Beginn an eindeutig klären. Die Geräusche, die absichtlich, gewollt und geplant von einem oder mehrerer Musiker, Darsteller oder Maschinen in der Inszenierung erzeugt werden, gehören zur Musik, da sie im multimedialen Gesamtkonzept einen festen Platz einnehmen 311

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und somit als akustische Aktion eine eindeutige Funktion erfüllen und besondere Wirkungen auslösen. Alle anderen Geräusche sind demnach auszuschließen, die z.B. spontan erklingen und einen nicht vorhersehbaren Effekt erzeugen, der sich jedoch in der Regel nicht auf das theatrale Gesamtereignis als solches auswirkt, sondern nur kurzzeitig irritiert. Aufgrund der technischen Möglichkeiten im 20. Jahrhundert werden die Geräusche zu einem wichtigen Element der Aufführung, wobei diese bedauerlicherweise im frühen Stadium in den meisten Aufzeichnungen fehlen. Dies hängt auch damit zusammen, dass jede Form der Einspielungen direkt vom Regisseur oder aber einem seiner technischen Assistenten ausgewählt werden konnte, ohne dass es der Mitwirkung seitens des Komponisten bedurft hätte. Dementsprechend gering sind diesbezügliche SpuUHQ XQG 4XHOOHQ QXU JHOHJHQWOLFK ÀQGHQ VLFK +LQZHLVH LQ HLQHU 3DUWLWXU ZLH etwa eine Überblendung einer eingespielten Aufnahme zur Live-Musik. Diese $UWGHV(LQVDW]HVÀQGHWPDQLPIUKHQ-DKUKXQGHUWKDXSWVlFKOLFKLQDYDQWgardistischen Theaterformen, die mit den unterschiedlichsten Medien experimentierten. In den Inszenierungen Piscators und Engels – hier in Bezug auf seine Brecht-Inszenierungen – werden viele Alltagsgeräusche genannt: StadtJHUlXVFKH=XJJHUlXVFKHVRZLHQLFKWZHLWHUGHÀQLHUWHU/lUP12 Während derartige Erwähnungen Glücksfällen entsprechen, können die durch Instrumente LPLWLHUWHQ*HUlXVFKHHLQIDFKHUQDFKJHZLHVHQZHUGHQ6LHÀHOHQLQGHQ=XVWlQdigkeitsbereich der Komponisten; es ging dabei zumeist um die Nachahmung von Naturgeräuschen.13 Interessant ist insbesondere in Hinblick auf die Dimension des Geräuschhaften, dass die Schauspielmusik trotz ihres funktionellen Charakters dem aktuellen musikalischen Zeitgeist folgte. Sie stand in einem regen Austausch mit den anderen Gattungen des Musiktheaters und des Films. Gerade hier liegt Forschungspotential dieses bislang kaum zur Kenntnis genommenen Genres. Es 12

13

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In den autographen Partituren Wolfgang Zellers wird in diversen Nummern die Eingliederung von eingespielten Geräuschen festgehalten. Vgl. u.a. aus dem Archiv des Deutschen Filminstituts in Frankfurt/M.: Wolfgang Zeller: Das trunkene Schiff, Autograph der Originalpartitur, 1926. Ausnahmen sind durchaus möglich. So schrieb Edmund Meisel z.B. für Brechts Mann ist Mann in der Inszenierung von Engel 1928 rhythmisch geprägte Musik, die hauptsächlich vom Schlagwerk ausgeführt wurde, so dass es sich auch um eine Form von Geräuschmusik handelt. Vgl. Edmund Meisel: Mann ist Mann. Abschrift (?), o.J., nach dem handschriftlichen Notenmaterial aus den Notenbeständen des Stuttgarter Staatstheaters. Exemplar der Handschriftenabteilung der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart.

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ist sogar wahrscheinlich, dass die Schauspielmusik als Experimentierfeld und Ausgangsbasis für zahlreiche Komponisten galt, die erst danach in anderen Bereichen tätig waren.14 Die Überschneidungen zwischen den Gattungen werden deutlich, wenn z.B. ein Film ins Sprechtheater eingefügt wurde, der mit Musik unterlegt war. Hierbei ergibt sich eine doppelte Unterordnung, da sich die Musik auf den Film bezieht (und zur Filmmusik im Schauspiel wird), der in das multiPHGLDOH*HÁHFKWHLQJHEXQGHQZXUGH15

Literatur ALTENBURG, DETLEF, Das Phantom des Theaters. Zur Schauspielmusik im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Stimmen – Klänge – Töne. Synergien im szenischen Spiel (Forum modernes Theater. Schriftenreihe 30), hg. von HANS-PETER BAYERDÖRFER, Tübingen 2002, S. 183-208. DERS., Zwischen Theaterroutine und Experiment. Zur Praxis der Schauspielmusik im 18. und 19. Jahrhundert, in: Mitten im Leben. Musiktheater von der Oper zur Everyday Performance, hg. von ANNO MUNGEN, Würzburg 2011 (Thurnauer Schriften zum Musiktheater 23), S. 175-191. BECK, DAGMAR/ZIEGLER, FRANK (Hgs.), Carl Maria von Weber und die Schauspielmusik seiner Zeit. Bericht über die Tagung der Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe in der Staatsbibliothek zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz am 26. und 27. November 1998 (Weber Studien 7), Mainz 2003. BOESER, KNUT/VATKOVÁ, RENATA (Hgs.), Max Reinhardt in Berlin (Stätten der Geschichte Berlins 6), Berlin 1984. EEDEN, FREDERICK VAN, Drama und Musik, in: Die Schaubühne 2 (1906), Nr. 2, S. 2338. ELSTER, ALEXANDER, Zur Frage der Schauspielmusik, in: Deutsche Theater-Zeitschrift 10 (1908), S. 112-113. 14 15

Siehe Anm. 1. Beispiele dieses Verfahrens sind die Musik für Piscators Inszenierung Gewitter über Gotland (Ehm Welk), für die Zeller mehrere Musiknummern – auch zur Begleitung von eingegliederten Filmen – schrieb, oder seine Inszenierung Konjunktur (Leo Lania) in der Zusammenarbeit mit Kurt Weill. Vgl. Wolfgang Zeller: Gewitter über Gotland. Autograph der Originalpartitur, 1927, Exemplar des Archivs des Deutschen Filminstituts in Frankfurt/M.; Kurt Weill: Konjunktur, Autograph der Originalpartitur, o.J., Exemplar der Irving S. Gilmore Music Library der Yale University Library, Weill-Lenya Papers, Box 33, folder 464. 313

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Der Regisseur, das Drama und die Musik: Max Reinhardts musikalische Faust-Visionen1 URSULA KRAMER

Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts gingen in der Theaterhistorie bzw. der Inszenierungsgeschichte Veränderungen einher, die gern als „Reformen“ beVFKULHEHQ ZHUGHQ GLH DEHU GH IDFWR XQG XQWHU VSH]LÀVFKHQ %OLFNZLQNHOQ EHWUDFKWHWQLFKWVZHQLJHUDOVHLQHÅ5HYROXWLRQ´DXVO|VWHQ'LH]XQHKPHQGH6NHSVLVJHJHQEHUHLQHU$XVVWDWWXQJVlVWKHWLNGLHHLQHUDOO]XVWDUNHQ$XVULFKWXQJDXI NRQNUHWH *HJHQVWlQGOLFKNHLW YHUSÁLFKWHW ZDU IKUWH ]XQlFKVW ]X HLQHU LPPHU VWlUNHUHQ,QIUDJHVWHOOXQJLQVEHVRQGHUHJHJHQEHUGHQ0D[LPHQKHUN|PPOLFKHU %KQHQELOGJHVWDOWXQJXQGLQGHU)ROJHVFKOLH‰OLFK]XSURGXNWLYHQ1HXDQVlW]HQ Diese waren längst nicht nur auf einige wenige Theatermetropolen bzw. herausragende „Köpfe“ der Theatergeschichtsschreibung wie Adolphe Appia oder (GZDUG*RUGRQ&UDLJEHVFKUlQNWVHOEVW%HLVSLHOHDXVGHUYHUPHLQWOLFKNRQVHUYDWLYHQ3URYLQ]ZLHGHP*UR‰KHU]RJWXP'DUPVWDGWYHUP|JHQ]X]HLJHQGDVV DXFK GRUW GLH .RQYHQWLRQ GHV QDWXUDOLVWLVFKHQ %KQHQELOGHV LQV :DQNHQ JHULHWDOVMXQJHH[SHULPHQWLHUIUHXGLJH7KHDWHUVFKDIIHQGHDXIGHQ3ODQWUDWHQXQG QDFKQHXHQ)RUPHQELOGNQVWOHULVFKHQ$XVGUXFNVIUGLH$XVVWDWWXQJDNWXHOOHQ wie älteren Repertoires suchten.2$EVWUDNWLRQXQG5HGXNWLRQZDUHQEHLDOOHU8Q



,Q GHQ YRQ *XVWL $GOHU YHU|IIHQWOLFKWHQ 1RWL]HQ IU VHLQH 6HOEVWELRJUDSKLH KDW 0D[5HLQKDUGWGHQ(QWVWHKXQJVSUR]HVVHLQHU,QV]HQLHUXQJDXVIKUOLFKJHVFKLOGHUW und dabei selbst mehrfach den Begriff der ‚Vision‘ verwendet, um die Arbeit des Regisseurs zu beschreiben. Vgl. Anm. 10. $OVLQQRYDWLYHU.QVWOHUZLUNWHKLHU.XUW.HPSLQGHUDQGDV*UR‰KHU]RJ OLFKH 7KHDWHU NDP XQG GRUW ELV  DOV 7KHDWHUPDOHU ZLUNWH 9HUJOHLFKVZHLVH UDVFKEHPKWHHUVLFKXPÅ5HIRUPHQ´GHULQ'DUPVWDGWHWDEOLHUWHQ%LOGlVWKHWLN wurde allerdings in den ersten Jahren durch den amtierenden Intendanten in seinen (QWIDOWXQJVP|JOLFKNHLWHQPDVVLYEHKLQGHUW9JOKLHU]XDXFKKRAMER, 2014a. 315

Ursula Kramer

WHUVFKLHGOLFKNHLWGHULQGLYLGXHOOHQ+DQGVFKULIWHQMHGRFKGLHJHPHLQVDPHQ=LHle, die als optische Leitidee auf jüngeres wie älteres Spielplanrepertoire angeZHQGHWZXUGHQ%HVRQGHUH6SUHQJNUDIWHUJDEVLFK]ZDQJVOlXÀJEHLOHW]WHUHP 6RODQJH GDV 3XEOLNXP PLW WDJHVDNWXHOOHU 6FKDXVSLHO 'UDPDWLN NRQIURQWLHUW ZXUGHIUGLHHVQRFKNHLQHÅNODVVLVFKHQ´5HIHUHQ]LQV]HQLHUXQJHQJDEPRFKWH man dem Theaterabend zwar ablehnend gegenüberstehen, vermochte aber weQLJHU ]ZLVFKHQ GHQ YHUVFKLHGHQHQ GLH $XIIKUXQJ NRQVWLWXLHUHQGHQ 0HGLHQ zu differenzieren und so den vermeintlich „Schuldigen“ auszumachen. Anders KLQJHJHQEHL3URGXNWLRQHQlOWHUHU:HUNH:HUNWH[W 6SUDFKH JJIVSH]LÀVFKH HLQVWIUGDV'UDPDJHVFKULHEHQH0XVLNDXIGHUHLQHQXQG%KQHQELOGDXIGHU anderen Seite standen sich zunehmend unversöhnlich gegenüber. Anstelle des vom Autor einst intendierten ganzheitlichen Theaterereignisses, bei dem alle beWHLOLJWHQ.UlIWHLP'LHQVWGHU,OOXVLRQVI|UGHUXQJZLUNHQVROOWHQPDQLIHVWLHUWHQ VLFK]ZLVFKHQGLHVHQ%UFKHHVWDWHQVLFK*UlEHQDXIGLHVHOEVWYRP3XEOLNXP DOVVROFKHZDKUJHQRPPHQZXUGHQ$OVV\PSWRPDWLVFKNDQQKLHUIUGHU5DWGHU 0XVLNNULWLNJHOWHQGLHLP$QVFKOXVVDQHLQH$XIIKUXQJYRQ*RHWKHVFaust am 'DUPVWlGWHU+RIWKHDWHULQGHUDNWXDOLVLHUWHQ$XVVWDWWXQJYRQ.XUW.HPpin der Theaterleitung empfahl, auf die den Abend begleitende, großangelegte VLQIRQLVFKH0XVLNYRQ(GXDUG/DVVHQ]XNQIWLJOLHEHU]XYHU]LFKWHQ0DQHP SIDQGVLHDOVÅ*HVFKPDFNVYHULUUXQJ´²ZDVQLFKWVDQGHUHVKHL‰WDOVGDVVVLHZLH HLQ)UHPGN|USHUZLUNWH3 Dass sich in eben derartigen Aufbruchszeiten die Instanz des Regisseurs im modernen Wortsinn herausbildete, als gleichermaßen eigenständiges wie zentrales geistiges Medium die Aufführung mit einer individuellen „Lesart“ steuHUQGHUVFKHLQWDOOHVDQGHUHDOV]XIlOOLJVRQGHUQQDFKJHUDGHDOV1RWZHQGLJNHLW ,QGHP0RPHQWGDKHUN|PPOLFKH9HUELQGOLFKNHLWHQLQQHUKDOEGHVWKHDWUDOHQ *HVDPWJHIJHV DXIJHNQGLJW ZXUGHQ HQWVWDQG JHZLVVHQPD‰HQ HLQ 9DNXXP GDVQHXJHIOOWZHUGHQPXVVWH$XVGHP6SLHOOHLWHUDOWHQ=XVFKQLWWVJLQJGHU Regisseur des 20. Jahrhunderts hervor. Einer dieser Pioniere der ersten Stunden LVW ]ZHLIHOORV 0D[ 5HLQKDUGW GHU ELV KHXWH ]X GHQ ZLFKWLJVWHQ 7KHDWHUUHJLVVHXUHQGHUHUVWHQ+lOIWHGHV-DKUKXQGHUWVJH]lKOWZLUG²QLFKWQXULQTXDOLWDWLYHUVRQGHUQDXFKLQTXDQWLWDWLYHU+LQVLFKWGHUYRQLKPYHUDQWZRUWHWHQ$UEHLWHQ:RP|JOLFKZDU5HLQKDUGWDXFKEHUKDXSWGHUHUVWH*OREDO3OD\HUHLQHV zunehmend internationalisierten Theaterbetriebes, vergleichbar mit modernen Manager-Intendanten. Er leitete Theater, besaß Theater, und verantwortete an 

316

'DUPVWlGWHU7DJEODWW$XIIKUXQJYRP'LHVH(LQVFKlW]XQJJLOWXPVR mehr, als die Ablehnung gegenüber der Komposition Lassens im Laufe der Jahre LPPHUVWlUNHUZXUGH

Max Reinhardts musikalische Faust-Visionen

GHQGLYHUVHQ%KQHQHLQHVFKLHUXQJODXEOLFKH)OOHDQ5HJLHDUEHLWHQ*OHLFKHUPD‰HQ XQEH]ZHLIHOW JDOW XQG JLOW 5HLQKDUGW ]XJOHLFK DOV PXVLNDOLVFKVWHU 5HJLVVHXUVHLQHU=HLWHLQ7KHDWHUPDQQLQGHVVHQ,QV]HQLHUXQJHQDXFKGLH0XVLN immer wieder eine wichtige Rolle spielte.4 *HUQH ZHUGHQ LQ GLHVHP =XVDPPHQKDQJ(QJHOEHUW+XPSHUGLQFNRGHU+DQV3ÀW]QHUJHQDQQWGLH.RPSRVLWLRQHQ IU 5HLQKDUGWVFKH 3URGXNWLRQHQ VFKULHEHQ5 So selbstverständlich ReinKDUGWGHPQDFKHLQHUVHLWVGHU3ODW]LQGHU*HVFKLFKWHGHU6FKDXVSLHOPXVLNGHV -DKUKXQGHUWVJHEKUWVRZHQLJVWDQGELVODQJGHU$VSHNWGHU0XVLNLQVHLQHQ ,QV]HQLHUXQJHQ LP )RNXV GHV ZLVVHQVFKDIWOLFKHQ ,QWHUHVVHV6 Damit erschöpft VLFKGDVZDVPDQDNWXHOOEHUGLH0XVLNEHL5HLQKDUGW]XZLVVHQPHLQWUDVFK LP 3DXVFKDOHQ 0XVLN DOV 7HLO HLQHV XPIDVVHQGHQ 7KHDWHUNRQ]HSWV PLW HLQHU )XQNWLRQGLHVFKHLQEDUVHOEVWYHUVWlQGOLFKLQDIÀUPDWLYHU5HODWLRQ]XUGUDPDWLschen Aussage des Regisseurs aufgeht und von diesem als Teil eines opulenten *HVDPWNXQVWZHUNVYHUVWDQGHQXQGGHPHQWVSUHFKHQGHLQJHVHW]WZLUG Doch was bedeutet Reinhardts Rolle als spiritus rector einer Inszenierung NRQNUHWIUGLH'LPHQVLRQGHU0XVLN":LHNDPGLH1HXNRPSRVLWLRQEHJOHLWHQGHU0XVLN]XVHLQHQ3URGXNWLRQHQ]XVWDQGH"$XIZHOFKHP:HJZXUGHHUDXI SRWHQWLHOOH .RPSRQLVWHQ DXIPHUNVDP" :LH XQDEKlQJLJ DUEHLWHWHQ GLHVH E]Z ZHOFKHQ$QWHLOZHOFKHQ(LQÁXVVQDKP5HLQKDUGWDXIGHQ(QWVWHKXQJVSUR]HVV XQGGLHNRQNUHWH*HVWDOWXQJGHU0XVLN" Fragen wie insbesondere die letztere ODVVHQVLFKQXUGDQNVSH]LÀVFKHU4XHOOHQVWHOOHQGLHHVDXFKPLWHLQHP$EVWDQG YRQEHU-DKUHQXQGRKQHGLHVSlWHUHQ$XI]HLFKQXQJVP|JOLFKNHLWHQYRQ









([HPSODULVFK VHL DXI HLQHQ MQJHUHQ $XIVDW] YRQ (ULND )LVFKHU/LFKWH YHUZLHVHQ6LQQHXQG6HQVDWLRQHQ:LH0D[5HLQKDUGW7KHDWHUQHXHUIDQG,QKOBERG/ STEGEMANN/THOMSEN +J 6 (LQHEHUHLWVDXVGHP-DKUVWDPPHQGH$UEHLWYRQ.XUW:ROIJDQJ3OOHQ]X GHQ 6FKDXVSLHOPXVLNHQ (QJHOEHUW +XPSHUGLQFNV ZLGPHW VLFK GHP 7KHPD GHQQ DXFKHKHUYRPÅ(QGSURGXNW´GHU.RPSRVLWLRQKHU PÜLLEN  *HJHQZlUWLJ  HQWVWHKWDP,QVWLWXWIU.XQVWJHVFKLFKWHXQG0XVLNZLVVHQVFKDIWGHU-RKDQQHV*XWHQEHUJ8QLYHUVLWlWHLQH'LVVHUWDWLRQ 9HUIDVVHU%HQMDPLQ 6FKROWHQ GLHVLFKGLHVHPJUXQGOHJHQGHQ'HVLGHUDWZLGPHW 'DPLW ZLUG GHU %OLFN DXI GHQ (QWVWHKXQJVSUR]HVV JHOHQNW GHU DOV ,QWHUDJLHUHQ ]ZLVFKHQ5HJLVVHXUXQG.RPSRQLVW VRZLH²EHLHLQHP]HLWJHQ|VVLVFKHQ'UDPD JHJHEHQHQIDOOVDXFK7H[WDXWRU ]XYHUVWHKHQLVW'DVVVLFKGLHVHU'LVNXUVIUHLOLFK nicht im „luftleeren“ Raum ereignet, sondern durch gegebene Realitäten des TheaWHUDOOWDJVPLWXQWHUDXFKSUDJPDWLVFKGXUFKNUHX]WZHUGHQNRQQWHVHLKLHU]XQlFKVW QXUDP5DQGHYHUPHUNW 317

Ursula Kramer

,QV]HQLHUXQJHQ JHVWDWWHQ (LQEOLFNH LQ GHQ 3URGXNWLRQVSUR]HVV VHOEVW ]X QHKPHQXQGGDEHLSULPlUDXIGLHPXVLNDOLVFKH'LPHQVLRQ]XDFKWHQ =HQWUDOH 0DWHULDOEDVLV ELOGHQ KLHUIU GLH 5HJLHEFKHU GLH DOV JHGDQNOLFKH9RUDUEHLWIUGLHNRQNUHWH5HJLHGLHQWHQ Wilfried Passow hat sie gar als „Manifestation des Stilwillens“ von Reinhardt bezeichnet.10 Es handelt sich um 7H[WDXVJDEHQGHUMHZHLOLJHQ'UDPHQLQGHQHQVLFKYHUVFKLHGHQH$UWHQKDQG



10

318

(VVLQG]DKOUHLFKH.RPSRVLWLRQHQ]X5HLQKDUGWVFKHQ,QV]HQLHUXQJHQQDFKZHLVEDU QDFK IUHXQGOLFKHU $XVNXQIW YRQ %HQMDPLQ 6FKROWHQ LVW GDYRQ DXV]XJHKHQ GDVV EHLGHU+lOIWHGHU3URGXNWLRQHQYRQ5HLQKDUGWDXFK0XVLN]XP(LQVDW]NDPXQG (WOLFKHV GDYRQ LVW ² ZHQQJOHLFK YHUVWUHXW LQ GLYHUVHQ .RPSRQLVWHQQDFKOlVVHQ ² erhalten, doch erweisen sich diese unterschiedlich umfangreichen Partituren als ZHLWZHQLJHUDXVVDJHNUlIWLJZHQQPDQSULPlUEHLGHU%HWUDFKWXQJGHV1RWHQWH[WHV DQVHW]W (LQH ZHLWHUH P|JOLFKH IU ]XVlW]OLFKH $XVNQIWH YLHOYHUVSUHFKHQGH 4XHOOH²GHU:HUNVWDWWEULHIZHFKVHO²VFKHLGHWLQGLHVHP)DOODOOHUGLQJVDXVZHQQ Regisseur und Komponist an einem Ort versammelt waren, ersetzten mündliche $EVSUDFKHQGDVJHVFKULHEHQH:RUWXQGHQW]RJHQLKUÅZRUNLQSURJUHVV´GHPVSlWHUHQ1DFKYROO]XJ &DRULJLQDOH5HJLHEFKHUEHIDQGHQVLFKIUKHULP3ULYDWEHVLW]GHU)DPLOLHYRQ 0D[5HLQKDUGWZXUGHQMHGRFKLQ]ZLVFKHQLQZHLWHQ7HLOHQDQ7KH0D[5HLQKDUGW $UFKLYHV /LEUDU\GHU%LQJKDPWRQ8QLYHUVLW\/LEUDULHV1HZ)DXVW ,@ 0DVFKLQHQVFKULIWOLFKHV 'RNXPHQW LP %HVWDQG GHV $UFKLYV GHU 6DO]EXUJHU )HVWVSLHOH 0D[ 5HLQKDUGW $UFKLY 6DO]EXUJR6  EBD.  PASSOW >EHWU 5HLQKDUGWV  3URGXNWLRQ  'DWLHUXQJ GHU (LQWUlJH YRQ 5HLQKDUGW@%G6  EBD., S. 130 und 132. 325

Ursula Kramer

VFKLHQ 5HLQKDUGW GLH XUVSUQJOLFKH ,GHH VHOEVW ]X UDGLNDO  KLH‰ HV DQ HEHQGLHVHU6WHOOHÅ/HLVHUVLQQOLFKEHWK|UHQGHU*HVDQJGHU*HLVWHU>«@GHU QLFKWZLHGDVVRQVWLPPHUGHU)DOOLVWZLHHLQ&KRUGHU(QJHONOLQJHQGDUI´30 ,P5HJLHEXFKYRQVLQGNHLQH+LQZHLVH]XUPXVLNDOLVFKHQ8PVHW]XQJ HQWKDOWHQVLHZDUHQYHUPXWOLFK7HLOGHUDXVJHODJHUWHQ%HPHUNXQJHQDQ3DXPJDUWQHUN|QQHQDEHU]XPLQGHVWLQGLUHNWGXUFKGLHNRQNUHWHNRPSRVLWRULVFKH/|VXQJUHNRQVWUXLHUWZHUGHQ VX  3. :DOSXUJLVQDFKW%HUHLWVGDVHUVWH5HJLHEXFK]XUFaust3URGXNWLRQYRQ HQWKlOWHLQH5HLKHYRQ+LQZHLVHQZRQDFKGHU5HJLVVHXUHLQHUDOO]XDXVJHSUlJWHQ 0XVLNDOLVLHUXQJ GLHVHU 6]HQH HQWJHJHQZLUNHQ ZROOWH ,PPHU ZLHGHUIRUGHUWHHU6SUHFKFK|UHÅQLFKWJHVXQJHQDEHUVWDUNLP5K\WKPXVVLFK ZLHJHQG´GHPOHGLJOLFKLQHLQ]HOQHQ$EVFKQLWWHQHLQÅNUHLVFKHQGHU*HVDQJ schreiend, gellend“ gegenüberzustellen sei.31 In eine ähnliche Richtung geht 5HLQKDUGWV ,QWHQWLRQ DXFK QRFK EHL GHU ]ZHLWHQ 3URGXNWLRQ ZHQQ HU YHUPHUNWÅ9HUVHN|QQHQNDXPJHVXQJHQZHUGHQDEHUGXUFKHLQHPXVLNDOLVFKH %HJOHLWXQJ VFKDUI UK\WKPLVFK JHEDQQW XQG IHVWJHOHJW VHLQ >«@ K|FKVWHQV GUIWHQGLH:RUWHGHV,UUOLFKWVVLFKGHP*HVDQJVHKUQlKHUQ´32 Erneut sind GLH+H[HQFK|UHYRQ5HVWGXUFKHLQHÅ$UW*HVDQJVFKRQVWDUN«ZLOGXQG geil, mit den Winden um die Wette heulend“ abzusetzen.33 Dass sich Reinhardt auch für die Salzburger Inszenierung erneut intensiv mit dieser Szene XQG LKUHU NOLQJHQGHQ 8PVHW]XQJ EHIDVVWH JHKW QLFKW QXU DXV GHP LP 5HJLHEXFK HQWKDOWHQHQ +LQZHLV DXI ZHLWHUH HLJHQH %HPHUNXQJHQ ]XU 0XVLN KHUYRUVRQGHUQJOHLFKHUPD‰HQLQGLUHNWDXV3DXPJDUWQHUV "VR YHUPXWOLFK als Antwort gedachten, umfangreichen Ausführungen.34 'HQGUHL5HJLHEFKHUQ5HLQKDUGWVVWHKHQ²ZLHHUZlKQW²]ZHL,QV]HQLHUXQJHQ des Faust,JHJHQEHULP'HXWVFKHQ7KHDWHULQ%HUOLQXQGEHLGHQ 6DO]EXUJHU)HVWVSLHOHQGLHIUJHSODQWH3URGXNWLRQZXUGHRIIHQEDUGXUFK den Urfaust HUVHW]W %HL GHU %HUOLQHU 3URGXNWLRQ ZXUGH GLH 0XVLN YRQ )HOL[

REINHARDT  6  :HLWHU XQWHQ DXI GHU 6HLWH YHUPHUNWH 5HLQKDUGW ]XGHP Å.U]XQJ´RIIHQEDUXPGHU*HIDKUGHV2SHUQKDIWHQDXFKDXIGLHVH:HLVH]XVlW]lich zu begegnen. 31 PASSOW6 32 REINHARDT6 33 EBD., S. 166. 34 9JO$QPHUNXQJ 30

326

Max Reinhardts musikalische Faust-Visionen

Weingartner verwendet,35 in Salzburg zeichnete Bernhard Paumgartner für die Komposition verantwortlich.36 Stellt man nun Reinhardts Ausführungen im ersten Regiebuch der bei der $XIIKUXQJYHUZHQGHWHQ0XVLNJHJHQEHUVRLVWPDQDXIVK|FKVWHLUULWLHUW'LH zuvor formulierten innovativen Bestrebungen, wie sie sich bereits für den Prolog ÅXQEHVWLPPWHV.OLQJHQ´6SUHFKJHVDQJ´ PDQLIHVWLHUWHQXQGLQHEHQGLHVHP Sinn auch Reinhardts leitendes Kriterium für die Studierzimmerszene darstellWHQVWHKHQLQNUDVVHP.RQWUDVW]XUPXVLNDOLVFKHQ3K\VLRJQRPLHYRQ:HLQJDUWQHUV 3DUWLWXU 'HQ %HJLQQ PDUNLHUW DUSHJJLHQJHVlWWLJWHU 'HV'XU :RKONODQJ HLQHV NRPSOHWWHQ 6LQIRQLHRUFKHVWHUV 6WUHLFKHU MH ]ZHL )O|WHQ 2ERHQ .ODULQHWWHQ )DJRWWHQ YLHU +|UQHU ]ZHL 7URPSHWHQ 3DXNH +DUIH ZHQQ P|JOLFK 35 )HOL[ :HLQJDUWQHU   LQWHUQDWLRQDO UHQRPPLHUWHU 'LULJHQW XQG .RPSRQLVWKDWWHDXI$QIUDJHDXV:HLPDUIUGLHGRUWJHSODQWH1HXLQV]HQLHUXQJGHV FaustHLQHXPIDQJUHLFKH0XVLNNRPSRQLHUWXQGLQGLHVHP=XVDPPHQKDQJ DXFK HLQH HLJHQH 7H[WHLQULFKWXQJ YRUJHQRPPHQ :HLQJDUWQHU VROOWH GLHVH 3URGXNWLRQJHPHLQVDPPLWGHP:HLPDUHU5HJLVVHXU&DUO:HLVHUEHVRUJHQ,P/DXI GHU $UEHLW NDP HV ]X 0LVVVWLPPLJNHLWHQ 9JO GDV 9RUZRUW ]XU 7H[WHLQULFKWXQJ YRQ)HOL[:HLQJDUWQHU *RHWKHV)DXVW%KQHQHLQULFKWXQJXQG0XVLN(UVWHUXQG =ZHLWHU7HLO/HLS]LJ6I ²:HLQJDUWQHUEHZHUWHWHGLH:HLPDUHU$XIIKUXQJ  DOV ÅYHUJHEHQH &KDQFH´ XQG PDFKWH VLFK HLQLJH -DKUH VSlWHU DQ HLQH 1HXEHDUEHLWXQJGHV7H[WHVGLHPLWGHU0XVLNIULKQXQPLWWHOEDU+DQGLQ+DQG JLQJ$XFKGLH0XVLNHUIXKUGDEHLHLQH5HLKHYRQNOHLQHUHQSXQNWXHOODEHUDXFK XPIDQJUHLFKHUHQ9HUlQGHUXQJHQ GKYRUDOOHP(UZHLWHUXQJHQXQG(UJlQ]XQJHQ  ²(VNDP]XP1HXGUXFNEHLGHU7HLOHGHV.ODYLHUDXV]XJHVXQG:HLQJDUWQHUEHPKWHVLFKGDUXPDOOHLP8PODXIEHÀQGOLFKHQ([HPSODUHGHUHUVWHQ9HUVLRQDXV GHP 9HUNHKU ]X ]LHKHQ *OHLFK]HLWLJ EHZDUE GHU 9HUODJ %UHLWNRSI  +lUWHO GLH Komposition im Einvernehmen mit Weingartner intensiv. Auch er selbst war ofIHQVLFKWOLFKQRFKLQGHQHU-DKUHQLQHLJHQHU6DFKHDNWLYZLHH[HPSODULVFKHV %ULHIPDWHULDOLP1DFKODVVLQGHU8%%DVHOYHUGHXWOLFKW²:LHGDV%HLVSLHOGHU %HUOLQHU3URGXNWLRQYRQMHGRFK]HLJWZXUGHDXFKGLH)UKIDVVXQJDX‰HUKDOE von Weimar verwendet. 36 'HUgVWHUUHLFKHU%HUQKDUG3DXPJDUWQHU  'LULJHQW.RPSRQLVW/HLWHU GHV6DO]EXUJHU0R]DUWHXPVXQG*UQGXQJVPLWJOLHGGHU6DO]EXUJHU)HVWVSLHOHKDW QHEHQ DQGHUHQ *DWWXQJHQ DXFK HLQH 5HLKH YRQ 0XVLNWKHDWHUZHUNHQ JHVFKDIIHQ QHEHQHLJHQVWlQGLJHQ2SHUQYRUDOOHP6FKDXVSLHOPXVLNHQ(LQLJHYRQLKQHQVLQG EHL8(:LHQYHUOHJW GDUXQWHUGLH0XVLNHQ]X*ROGRQLVDiener zweier Herren ]XNestroys Haus der Temperamente]X6KDNHVSHDUHVKing Lear 9JO DXFK$QPHUNXQJ 327

Ursula Kramer

Abbildungen 2 u. 3: Felix Weingartner, Musik zu Goethes Faust I, Schluss der Nr. 2: Erstfassung von 1908 sowie überarbeitete Version der identischen Stelle von 1915. Ob die Transformation der ursprünglichen Gesangspartie des Geistes LQ HLQH 3DVVDJH UK\WKPLVFK JHQDX À[LHUWHQ 6SUHFKHQV HLQHQ 5HÁH[ DXI 5HLQ-

328

Max Reinhardts musikalische Faust-Visionen

hardts Intentionen darstellt oder unabhängig davon schlicht der Tatsache geschuldet war, dass Weingartner im Dienste leichterer Ausführbarkeit Rücksicht auf zukünftige Interpreten nehmen wollte, muss dahingestellt bleiben.

329

Ursula Kramer

GRSSHOW  VRZLH 2UJHO  DXV GHP KHUDXV VLFK XQPLWWHOEDU GHU *HVDQJ GHU GUHL (U]HQJHO HQWZLFNHOW *HVDQJ VWDWW 6SUHFKJHVDQJ GHU VFKOLH‰OLFK VRJDU LQ HLQ veritables Terzett mit simultaner Führung der Singstimmen mündet. Auch mit seinen Ausführungen zur Studierzimmerszene war Reinhardt VHOEVWLQVHLQHU]XUFNJHQRPPHQ)RUGHUXQJQRFKLPPHUGHXWOLFKYRQMHQHU9HUVLRQHQWIHUQWGLH)HOL[:HLQJDUWQHUV3DUWLWXUIUGLHVH6]HQHYRUVDK'DULQJULII GHU.RPSRQLVWDXIGDVDQJHVWDPPWHXQGVHLWGHP-DKUKXQGHUWKLQOlQJOLFK HUSUREWH$UVHQDO DQ LQVWUXPHQWDWLRQV ZLH VDW]WHFKQLVFKHQ 0|JOLFKNHLWHQ ]XU *HVWDOWXQJYRQhEHUQDWUOLFKHP]XUFN&KURPDWLNEHU2UJHOSXQNWHQVFKOHLFKHQGHNUHLVHQGHUROOHQGH%HZHJXQJ9HUZHQGXQJYRQVFKDUIHQ3LFFRORÁ|WHQ etc.1DFKPHORGUDPDWLVFKHP6]HQHQEHJLQQIROJWHLQHNXU]H,QVWUXPHQWDOEHUOHLWXQJ]XPYHULWDEOHQÅ&KRU´GHU*HLVWHU 6RSUDQH$OWL GHUVFKOLH‰OLFK ZLHGHU LQ PHORGUDPDWLVFKH *UXQGLHUXQJ IU GHQ 'LDORJ ]ZLVFKHQ )DXVW XQG 0HSKLVWR ]XUFNJHIKUW ZLUG *RHWKHV *HVDQJ GHU *HLVWHU Å6FKZLQGHW LKU GXQNHOQ:|OEXQJHQGUREHQ´IlFKHUW:HLQJDUWQHULQHLQ$OW6RORPLWEHJOHLWHQden Frauen- sowie Männerchor auf und schafft auch hier eine vergleichsweise XPIDQJUHLFKHPXVLNDOLVFKH6]HQH 'LH:DOSXUJLVQDFKWLVWYRQ:HLQJDUWQHUJOHLFKHUPD‰HQYRUDOOHPTXDQWLWDWLYDEHUDXFKTXDOLWDWLY ,QVWUXPHQWDWLRQ SSLJJHVWDOWHW²VLHLVWGLHEHLZHLWHP OlQJVWH 1XPPHU GHU JHVDPWHQ 3DUWLWXU $WPRVSKlULVFKH *UXQGLHUXQJ LVW GDV EHKHUUVFKHQGH NRPSRVLWLRQVWHFKQLVFKH 7KHPD YHUPLQGHUWH$NNRUGH 7UHPROLFKURPDWLVFKH6NDOHQXQGNOHLQVFKULWWLJNUHLVHQGHUDVFKH%HZHJXQJHQVLQG GLHLQVWUXPHQWDOHQ,QJUHGLHQ]LHQSXQNWXHOODQJHUHLFKHUWGXUFKGHQ*HVDQJYRQ +H[HQXQG+H[HQPHLVWHUQGLH]ZLVFKHQ]HLWOLFKMHGRFKLPPHUZLHGHUDXIEOR‰H  )HOL[ :HLQJDUWQHU Musik zu Goethes Faust op. 43. %UHLWNRSI  +lUWHO /HLS]LJ  .ODYLHUDXV]XJ XQG 3DUWLWXU 1DFKODVV :HLQJDUWQHU LQ GHU 8QLYHUVLWlWVELEOLRWKHN %DVHO MHZHLOV ]ZHL ([HPSODUH 0LW KDQGVFKULIWOLFKHU $XIVFKULIW DXI GHU 7LWHOVHLWH Å$OWH )DVVXQJ 1LFKW ]X EHQXW]HQ :´ (LQHV GHU EHLGHQ ([HPSODUH GRNXPHQWLHUW MHZHLOV GLH UHLQH )UKIDVVXQJ GDV ]ZHLWH GLHQWH DOV :HLQJDUWQHUV $UEHLWVH[HPSODU hEHUNOHEXQJHQKDQGVFKULIWOLFKH$XVIKUXQJ offenbar als VorODJHIUGLH.RUUHNWXUHQGLHGHU9HUODJDXV]XIKUHQKDWWH'LH(U|IIQXQJVQXPPHU 3URORJ LP +LPPHO  EOLHE YRQ :HLQJDUWQHUV QDFKWUlJOLFKHQ bQGHUXQJHQ XQEHUKUW ² 6RZRKO LQ GHQ VROLVWLVFKHQ 3DVVDJHQ GHU GUHL 3DUWLHQ 5DSKDHOV *DEULHOVXQG0LFKDHOVDOVDXFKLPDQVFKOLH‰HQGHQ6LPXOWDQDEVFKQLWWGHV3URORJV1U YHUODQJW:HLQJDUWQHUGHQ,QWHUSUHWHQHLQLJHVDE²HLQH6WLPPEHKDQGOXQJGLHPLW GLDVWHPDWLVFKHQ6SUQJHQXQGJHKDOWHQHQ1RWHQLQH[SRQLHUWHQ/DJHQNHLQHVZHJV EHZXVVWVFKOLFKWGDKHUNRPPW  EBD. 330

Max Reinhardts musikalische Faust-Visionen

DXVJHKDOWHQH$NNRUGHUHGX]LHUWZHUGHQ=XP6WUHLFKRUFKHVWHUWUHWHQGUHLIDFKH +RO]EODVLQVWUXPHQWH LQNO 1HEHQLQVWUXPHQWHQ   +|UQHU MH GUHL 7URPSHWHQ XQG 3RVDXQHQ 7XED 3DXNHQ XQG GLYHUVHV ZHLWHUH 6FKODJZHUN KLQ]X 'DUEHUKLQDXVIRUGHUW:HLQJDUWQHUHLQHJUR‰EHVHW]WH%KQHQPXVLNHEHQIDOOVDXV 6WUHLFKHUQ XQG %OlVHUQ EHVWHKHQG GDUXQWHU DOOHLQH ]HKQ 1DWXUWURPSHWHQ XQG HLQH+DUIH0LWGHPYRQ5HLQKDUGWYRUDEJHIRUGHUWHQ0D‰KDOWHQLP(LQVDW]GHU 0LWWHOGHUHKHUSXQNWXHOOHQ9HUZHQGXQJYRQÅNUHLVFKHQGHP´+H[HQJHVDQJKDW :HLQJDUWQHUV0XVLNZHQLJJHPHLQVDP 9RUGHP+LQWHUJUXQGGHUDUWLJHU]XQlFKVWXQHUNOlUOLFKVFKHLQHQGHU'LVNUHSDQ] ]ZLVFKHQGHQ,QWHQWLRQHQGHV5HJLVVHXUVDXIGHUHLQHQXQGGHUPXVLNDOLVFKHQ 5HDOLVLHUXQJ DXI GHU DQGHUHQ 6HLWH HUKDOWHQ 5HLQKDUGWV VSlWHUH$QPHUNXQJHQ YRQ  ]XVlW]OLFKHV *HZLFKW :HQQ VSH]LHOO GLH GRUW QLHGHUJHVFKULHEHQHQ 9RUVWHOOXQJHQ JOHLFKVDP H[ QHJDWLYR  IRUPXOLHUW VLQG ÅNHLQH 2XYHUWUH´ ÅQLFKWZLHGDVVRQVWLPPHUGHU)DOOLVW´ VRGUlQJWVLFKHLQH'HXWXQJDXIZRnach diese Forderungen Reinhardts möglicherweise auf seine frühere Berliner ,QV]HQLHUXQJ]XUFN]XSURML]LHUHQVLQGPDQN|QQWHGLHVHDOVVSlWH²QHJDWLYH ²$QWZRUWDXIGLHIUKHUHPXVLNDOLVFKH8PVHW]XQJLQWHUSUHWLHUHQ8QGGDVXP so mehr, als just jene beiden erwähnten Passagen in Weingartners Partitur zum einen sehr wohl ouvertürenartig, zum anderen dezidiert im Sinne eines veritaEOHQ&KRUVJHVWDOWHWVLQG=LHKWPDQQXQDXFKLQ%HWUDFKWGDVV:HLQJDUWQHUV .RPSRVLWLRQHEHQQLFKWVSH]LHOOIU5HLQKDUGWV,QV]HQLHUXQJYRQJHVFKDIIHQZRUGHQVRQGHUQEHUHLWVLP-DKU]XYRULP=XVDPPHQKDQJPLWGHU:HLPDUHU 1HXSURGXNWLRQHQWVWDQGHQZDUZLUGVFKODJDUWLJGHXWOLFKZLHVWDUNQRFKDQGHUH.UlIWHGDV:HFKVHOVSLHO]ZLVFKHQNQVWOHULVFKHQ9LVLRQHQDXIGHUHLQHQXQG GHUNRQNUHWHQNOLQJHQGHQ8PVHW]XQJDXIGHUDQGHUHQ6HLWHEHHLQÁXVVHQNRQQWHQ(VLVWDQ]XQHKPHQGDVV5HLQKDUGWEHLGHU6NL]]LHUXQJVHLQHUDXFKGLH0XVLNEHWUHIIHQGHQ9RUVWHOOXQJHQLP5HJLHEXFKQRFKYRQHLQHU1HXNRPSRVLWLRQ DXVJLQJZRP|JOLFKDXFKEHUHLWVHLQHQ DQGHUHQ .RPSRQLVWHQLP$XJHKDWWH GHUGDQQHUIROJWH5FNJULIIDXIHLQHEHUHLWVH[LVWLHUHQGH0XVLNGUIWHGHU3UDJPDWLNGHV7KHDWHUDOOWDJVJHVFKXOGHWJHZHVHQVHLQ=HLWXQJVQRWL]HQLP.RQWH[W GLHVHU3URGXNWLRQEHULFKWHQYRQ7UHIIHQ]ZLVFKHQ5HLQKDUGWXQG:HLQJDUWQHU zudem ist davon die Rede, dass nicht die gesamte Komposition zur Aufführung JHODQJWH'HU5FNJULIIN|QQWHVRHWZDVZLHHLQH9HUOHJHQKHLWVO|VXQJGDUJHVWHOOW KDEHQ LPPHUKLQ ZDU GDV 1RWHQPDWHULDO DXIJUXQG GHU 'UXFNOHJXQJ EHL



Vgl. Anm. 35. 331

Ursula Kramer

%UHLWNRSI +lUWHOVRZLHGHPlX‰HUVWJHVFKlIWVWFKWLJHQ.RPSRQLVWHQ:HLQgartner leicht verfügbar.40 'DVLP5DKPHQGHU3UHPLqUHQEHVSUHFKXQJYRQ$OIUHG.HUUHUKDOWHQH=HXJQLVGDVDXFKEHUGLH:LUNXQJYRQ:HLQJDUWQHUV0XVLN$XVNXQIWJDEPDFKWH GHXWOLFKZDVZRKODXFK0D[5HLQKDUGWVXUHLJHQHV3UREOHPPLWGLHVHUNODQJOLFKHQ5HDOLVLHUXQJJHZHVHQVHLQPRFKWH Å(QGOLFK:HLQJDUWQHUV0XVLN«(ULVWVFKRQHLQ.QVWOHU$EHUVHLQH=XWDW ELOGHWHLQ.RQ]HUW1LFKW.OlQJH1LFKW.OlQJHGXUFKGHQ5DXP/RVJHO|VWH (VEHJLQQWMHGHVPDOHLQH$XIIKUXQJ LP«1HXURPDQWLVFKHQ7KHDWHU ´41

.HUUHPSIDQGGLH0XVLNDOV)UHPGN|USHUGHUHLQH$UW(LJHQOHEHQHQWZLFNHOWH VLFK LQ ZLH GLH 3DUWLWXU OHKUW VSlWURPDQWLVFKHU $WWLWGH YHUVHOEVWlQGLJWH Å.RQ]HUW´ DQVWHOOHLQZHQLJHUKHUPHWLVFKHU$UWGDIUÁH[LEOHUDQSDVVXQJVIlKLJHUGHP]XJUXQGHOLHJHQGHQ5HJLHNRQ]HSW]X]XDUEHLWHQ :RKOJHQDXDXVGLHVHP*UXQGVDKVLFK5HLQKDUGW]HKQ-DKUHVSlWHUHUQHXW GD]XYHUDQODVVWVLFKEHZXVVWJHJHQVROFKHKHUN|PPOLFKHQPXVLNDOLVFKHQ/|VXQJHQDXV]XVSUHFKHQ²ZHQLJVWHQVGLHQHXH,QV]HQLHUXQJVROOWHDXFKLQLKUHU NOLQJHQGHQ'LPHQVLRQHLQHUDXVVHLQHU6LFKW]HLWJHPl‰HUHQbVWKHWLNYHUSÁLFKWHWVHLQ,Q%HUQKDUG3DXPJDUWQHUGHP.RPSRQLVWHQGHU6DO]EXUJHU3URGXNWLRQ schließlich, hatte der Regisseur dann wohl endlich den passenden Mitstreiter geIXQGHQ3DXPJDUWQHUDQWZRUWHWHQLFKWQXUDXIGLHVFKULIWOLFKHQ+LQZHLVH5HLQKDUGWVPLWHLQHPDXVIKUOLFKHQ3ODQLQGHPGHVVHQ:QVFKHEHUHLWVEHUFNVLFKWLJWZDUHQVRQGHUQHUVFKXIDXFKWDWVlFKOLFKHLQHNODQJOLFKH6SKlUHMHQVHLWV GHVWUDGLWLRQHOOHQURPDQWLVFKHQ*HVWXV'DVLQ7HLOHQHUKDOWHQHKDQGVFKULIWOLFKH 1RWHQPDWHULDO ]HLJW EVSZ IU GLH *HLVWHUHUVFKHLQXQJ LQ GHU 6WXGLHU]LPPHU szene den Einsatz eines Sprechchors, bei dem sich rhythmisierte Stellen mit Partien freier Sprechgestaltung abwechseln.42 Auch in der Walpurgisnacht überZLHJWLQZHLWHQ7HLOHQGDV*HUlXVFKKDIWHLPPHUZLHGHULVWLQGLHVHU6]HQHYRQ 6SUHFKFK|UHQPLWUK\WKPLVFKHU6NDQGLHUXQJGXUFKGDV2UFKHVWHUGLH5HGH%HVRQGHUHNODQJOLFKH(IIHNWHZHUGHQGXUFKGHQDNNRUGLVFKHQ(LQVDW]GHV&KRUHV LQ WLHIHU /DJH PLW JHVFKORVVHQHP 0XQG HU]LHOW darüber hinaus wurden allein 40 ,P 9HUODJVDUFKLY YRQ %UHLWNRSI  +lUWHO 'HSRVLWXP LP 6WDDWVDUFKLY /HLS]LJ  ÀQGHWVLFKHLQXPIDQJUHLFKHU%ULHIZHFKVHO]ZLVFKHQ:HLQJDUWQHUXQGGHP9HUODJ 41 KERR$EVFKQLWW,,,R6 42 0DSSH PLW KDQGVFKULIWOLFKHP 1RWHQ XQG 6NL]]HQPDWHULDO ]XU .RPSRVLWLRQ GHV FaustLP%HVWDQGGHV$UFKLYVGHU6DO]EXUJHU)HVWVSLHOH 0D[5HLQKDUGW$UFKLY  Salzburg. 332

Max Reinhardts musikalische Faust-Visionen

EHUYHUVFKLHGHQH*RQJVVRZLH7URPPHOQXQG*ORFNHQHLQJHVHW]WXPVSH]LHOOH:LUNXQJHQKHUYRU]XUXIHQ43 Diese erfuhren noch dadurch besondere InWHQVLYLHUXQJGDVVVLHHOHNWURQLVFKYHUVWlUNWXQGGDPLWEHOLHELJPDQLSXOLHUEDU gemacht wurden.447HPSRUlUJLQJ3DXPJDUWQHUPLWVHLQHU0XVLNVRJDUEHZXVVW EHUGLH*UHQ]HQGHVÄJXWHQ*HVFKPDFNV¶KLQDXVGHQ$XIWULWWGHUYHUVFKLHGHQHQ+H[HQJUXSSHQNRPPHQWLHUWHHUZLHIROJW „Sprechchor im Marschrhythmus, dazu der unsichtbare Singchor im Orchester. Wilde Rhythmen, ordinäre Melodiefetzen, Peitschen, Rasseln, KastagQHWWHQJHOOHQGHV*HOlFKWHU>«@=ZHLWH*UXSSHGHU+H[HQÅ>«@0XVLNQRFK ordinärer als früher.“45

=XUNODQJOLFKHQ5HDOLVLHUXQJGLHVHU9RUVWHOOXQJGLHQWHLKPHLQJUR‰HUVLQIRQLVFKHU 2UFKHVWHUDSSDUDW GD]X NOHLQH )O|WH (V.ODULQHWWH GUHL 6D[RSKRQH HLQ %DQMR MHGH 0HQJH 6FKODJZHUN XQG QHXHUOLFK HLQ HLJHQHV *HUlXVFKRUFKHVWHU 3XQNWXHOO ZXUGH 3DXPJDUWQHU LQ GHU :DOSXUJLVQDFKW ]XP Å=HLWPXVLNHU´ GLH Å,PSHUWLQHQ]HQ´GHU-D]]PXVLN46GLHQWHQLKPDOVPXVLNDOLVFKH$XVVWDWWXQJGHU EHUVLQQOLFKHQ+H[HQVSKlUH'DVYRP5HJLVVHXUDQJHPDKQWHÅ.UHLVFKHQ´KDW 3DXPJDUWQHUVRLQVHLQHU]HLWK|FKVWDNWXHOOH.OlQJHEHUVHW]W'HPQDFKKDWWHQ Reinhardts Visionen nun, 25 Jahre, nach der rudimentären Andeutung im RegieEXFKYRQHQGOLFKLKUHNRQNUHWH8PVHW]XQJJHIXQGHQ

Fazit und Ausblick $XVGHPVNL]]HQKDIWHQ$XIULVVYRQ5HLQKDUGWVEHUUDVFKHQGPRGHUQXQG LQQRYDWLYIRUPXOLHUWHQ9RUVWHOOXQJHQ]XU0XVLNDOV7HLOVHLQHU,QV]HQLHUXQJHQ von Faust,XQGLKUHU*HJHQEHUVWHOOXQJPLWGHQLQGLYLGXHOOHQ/|VXQJHQGHU YHUVFKLHGHQHQ 0XVLNHQ ODVVHQ VLFK HLQLJH (UNHQQWQLVVH DEHU QRFK ZHLW PHKU JUXQGVlW]OLFKH )UDJHQ E]Z 3UREOHPVWHOOXQJHQ ]XP 8PJDQJ PLW 6FKDXVSLHOPXVLN XQGGLHVVRZRKOEH]RJHQDXIKLVWRULVFKH$XIIKUXQJVUHDOLWlWHQDOVDXFK PAUMGARTNERR6 EBDÅ(LQHHLJHQHYRQ,QJHQLHXU.DUDMDQ>GHU%UXGHU+HUEHUWYRQ.DUDMDQV@HUEDXWHHOHNWULVFKH$QODJHGLHQWGD]X0XVLNXQG6WLPPHQEHOLHELJ]XYHUVWlUNHQ RGHUDXFKXQN|USHUOLFKP\VWLVFKLQGHU)HUQHYHUNOLQJHQ]XODVVHQ´ 45 1HXH)UHLH3UHVVHYRPR6 .RSLHLP0D[5HLQKDUGW$UFKLYGHU6DO]EXUJHU)HVWVSLHOH  46 EBD. 43 44

333

Ursula Kramer

auf die heutige Verantwortung seitens der wissenschaftlichen Beschäftigung mit GHP3KlQRPHQ DEOHLWHQ Speziell die drei Regiebücher zu Faust I belegen einmal mehr den hohen 6WHOOHQZHUW GLH GHU 0XVLN LP7KHDWHUNRQ]HSW 5HLQKDUGWV ]XNDP LP =XVDPPHQZLUNHQPLWGHURSWLVFKHQ'LPHQVLRQYRQ5DXPXQG%KQHQELOGZDUVLHIU 5HLQKDUGWHLQZHVHQWOLFKHU%HVWDQGWHLOHLQHVÅ*HVDPWNXQVWZHUNV´6FKDXVSLHO 6HLQH GLH 0XVLN EHWUHIIHQGHQ 9RUVWHOOXQJHQ JLQJHQ GDEHL GXUFKDXV EHU GDV KLQDXVZDVYRPGUDPDWLVFKHQ7H[WE]ZGHQ5HJLHDQZHLVXQJHQSULPlUYRUJHgeben war. %H]JOLFKGHUKLVWRULVFKHQ9HURUWXQJYRQ5HLQKDUGWV7lWLJNHLWDOV5HJLVVHXU LVW]XQlFKVWQDFKHYHQWXHOOHQ(LQÁVVHQ]XIUDJHQ:HOFKHNRQNUHWHQ9RUELOGHU JDEHVIU5HLQKDUGWGLHHUP|JOLFKHUZHLVHLQVHLQHU7lWLJNHLWDOV6FKDXVSLHOHU NHQQHQJHOHUQW KDWWH XQG GLH LKP DOV$QUHJXQJ JHGLHQW KDEHQ PRFKWHQ" (LQH JHQDXHUH$XIDUEHLWXQJGHV8PE]Z9RUIHOGHVYRQ5HLQKDUGWV %HUOLQHU 7KHaterschaffen scheint insofern von besonderer Relevanz, als das naturalistische Theater von Otto Brahm, mit dem Reinhardt seine Bühnenlaufbahn begann, bisODQJQLFKWDOVNOLQJHQGHU6FKDXSODW]YRQ6FKDXVSLHONRPSRVLWLRQHQJDOW %HVFKUlQNWPDQVLFK]XQlFKVWDXIGLHHUVWHFaust3URGXNWLRQYRQVR ]HLJWGLH*HJHQEHUVWHOOXQJYRQ5HLQKDUGWVHLJHQHQ,GHHQXQGGHU]XU$XIIKUXQJJHODQJWHQ0XVLNYRQ:HLQJDUWQHUZLHSUREOHPDWLVFKHVVHLQNDQQEHLHLQHU$QDO\VHEHLPDXIJHIKUWHQÅ(QGSURGXNW´DQ]XVHW]HQ=ZLVFKHQÅ,PDJLQDWLRQ´XQGÅ5HDOLVDWLRQ´OLHJHQ:HOWHQGLHPDQDXVGHU3HUVSHNWLYH5HLQKDUGWV ZRKOHLQGHXWLJDOVÅ5FNVFKULWW´EH]HLFKQHQPXVV$OVHLQHUGHUJDQ]:HQLJHQ KDWGHU7KHDWHUNULWLNHU$OIUHG.HUU:HLQJDUWQHUV0XVLNHLQHUNQDSSHQ:UGLJXQJXQWHU]RJHQXQGGDEHLDXILKUHÅ.RQ]HUWKDIWLJNHLW´UHNXUULHUW²DQVWHOOHDOV Klang im Raum als Teil eines synthetisierenden Theaterabends zu fungieren. Die spätromantische Tonsprache Weingartners mit entsprechend üppig besetzWHP 2UFKHVWHUDSSDUDW ZDU HLQHU DQGHUHQ bVWKHWLN YHUSÁLFKWHW DOV 5HLQKDUGWV $PELWLRQHQGLHLQ5LFKWXQJ6SUHFKFK|UHXQG*HUlXVFKPXVLNJLQJHQXQGGDPLWHLQPDOPHKUDYDQWJDUGLVWLVFKH,GHHQGHU0XVLNVSUDFKHGHU=HLWDXIJULIIHQ $XFKIUGLH-DKUHXPHUVFKHLQWGHPQDFKHLQHUVHLWVGLH)UDJHQDFKGHP .UlIWHYHUKlOWQLV ]ZLVFKHQ 5HJLVVHXU XQG .RPSRQLVW VR HV VLFK GHQQ XP HLQHQ)DOOHLQHU1HXNRPSRVLWLRQIUHLQH,QV]HQLHUXQJKDQGHOW DQGHUHUVHLWVDEHU DXFKGLHQDFKGHU3RVLWLRQLHUXQJYRQ6FKDXVSLHOPXVLNLQLKUHU5HODWLRQ]XDQGHUHQPXVLNDOLVFKHQ*DWWXQJHQUHOHYDQW  'HU%HJULIIÅ*HUlXVFKPXVLN´WDXFKWHUVWPDOVLP]ZHLWHQ5HJLHEXFKYRQDXI Auch mit dieser Vorgabe scheint er sich nochmals ganz bewusst von der bei seiner 3URGXNWLRQYHUZHQGHWHQ0XVLN:HLQJDUWQHUVDE]XNHKUHQ 334

Max Reinhardts musikalische Faust-Visionen

,QGHPIHUQHUIUGDVNRQNUHWYRUOLHJHQGH%HLVSLHOGHUFaust-Inszenierung von QDFKGHQ*UQGHQIUGLHHUIROJWH:DKOGHUEHUHLWVIUHLQHDQGHUH3URGXNWLRQHQWVWDQGHQHQ0XVLN]XIUDJHQLVWZLUGGDPLW]XJOHLFKGDV7KHPDGHU3UDJPDWLNGHV7KHDWHUDOOWDJVDOVP|JOLFKHUZHLVHDXFKLQDQGHUHQ)lOOHQJUDYLHUHQG ZLUNVDPHP )DNWRU EHL GHU 5HDOLVLHUXQJ YRQ 6FKDXVSLHOPXVLN DQJHVSURFKHQ $OOHLQGLHVFKLHUH=DKODQ$XIIKUXQJHQGLH5HLQKDUGWVHLQHU]HLWYHUDQWZRUWHWH OlVVW=ZHLIHOGDUEHUDXINRPPHQREZLUNOLFKIUMHGH3URGXNWLRQKLQUHLFKHQG =HLW ]XU 9RUEHUHLWXQJ EHVWDQG QLFKW JJI .RPSURPLVVH HWZD EHL GHU 0XVLN JHVFKORVVHQ ZHUGHQ PXVVWHQ 8QG ZHQQ 5HLQKDUGW ZHQLJH :RFKHQ QDFK GHU %HUOLQHU3UHPLqUHHLQFaust*DVWVSLHOLQ0QFKHQZDKUQDKPGDEHLDEHU GLH0XVLNYRQ0D[YRQ6FKLOOLQJVYHUZHQGHWZXUGHGLHGRUWIUGLH3URGXN WLRQDP.QVWOHUWKHDWHUHQWVWDQGHQXQGGDEHL7HLOHLQHUVHKUVSH]LÀVFKHQ H[SHULPHQWHOOHQ/HVDUWGHVFaust war, so scheint dies die geäußerte Vermutung unmittelbar zu bestätigen.'RFKVHOEVWGDPLWQLFKWJHQXJ(LQHUKDOWHQHU %HVFKZHUGHEULHI YRQ 0D[ YRQ 6FKLOOLQJV DQ 5HLQKDUGW EHOHJW GHQ DXV 6LFKW GHV .RPSRQLVWHQ UGHQ 8PJDQJ PLW VHLQHU 0XVLN50 Vorausgegangen waren  Vgl. dazu ausführlich K RAMER, 2014b.  1DFKHORNGHUVLFKDXIGLHGDPDOLJH7DJHVSUHVVHEH]LHKWZDUGLHVHV*DVWspiel allerdings ein großer Misserfolg. EBD., S. 110f. 50 %ULHI0D[YRQ6FKLOOLQJVDQ0D[5HLQKDUGWYRP+HUUQ'LUHFWRU0D[ Reinhardt München. Å6HKU JHHKUWHU +HUU 'LUHFWRU :LH LFK GHQ 0QFKQHU 1HXHVWHQ 1DFKrichten entnehme, haben Sie bei der Aufführung des Faust I im KünVWOHUWKHDWHU 0QFKHQ PHLQH 0XVLN WHLOZHLVH EHQXW]W 'LHVH 7DWVDFKH EHUUDVFKW PLFK LQVRIHUQ DOV MD HLQH $EPDFKXQJ EHU hEHUODVVXQJ GLHVHU 0XVLN DQ 6LH ]X GHQ 6RPPHUJDVWVSLHOHQ LQ 0QFKHQ QLFKW ]XP $EVFKOX‰ JHNRPPHQ LVW 6LH ZDQGWHQ VLFK XQWHU GHP  0lU]  ZHJHQ hEHUODVVXQJ PHLQHU 0XVLN DQ PLFK LFK WHLOWH ,KQHQ GUDXI PHLQH %HGHQNHQ Bedingungen mit, blieb aber ohne Bestätigung dieser BedingXQJHQ XQG EHUKDXSW RKQH MHGH $QWZRUW 'DUDXV VFKOR‰ LFK GD‰ 6LH NHLQHUOHL $EVLFKWHQ PHKU DXI PHLQH 0XVLN KHJWHQ XQG DXI GLH (UZHUEXQJ YHU]LFKWHWHQ 8PVRPHKU EHUUDVFKW PLFK MHW]W GLH 1DFKULFKW GD‰ PHLQH 0XVLN EHL GHU HUVWHQ $XIIKUXQJ ZHQQ DXFK VWDUN ]XVDPPHQJHVWULFKHQ EHQXW]W ZRUGHQ LVW *HJHQ GLHVH %HQXW]XQJ RKQH PHLQH (LQZLOligung resp. ohne eine Abmachung zwischen uns muß ich Einspruch HUKHEHQ XPVRPHKU DOV QDFK GHP %HULFKW LQ GHQ Å1HXHVWHQ 1DFKULFKWHQ´ GLH 0XVLN JOHLFKIDOOV RKQH 9HUVWlQGLJXQJ PLW PLU DXI GLH LFK XQEHGLQJWDOV.QVWOHU$QVSUXFKKDEH VWDUNYHUNU]WXQGGDGXUFKXPGLH 335

Ursula Kramer

9HUKDQGOXQJHQEHUGLH1XW]XQJYRQ6FKLOOLQJV.RPSRVLWLRQGLHVFKOLH‰OLFK DEHUQLFKW]XP$EVFKOXVV JHODQJWHQ1XQ MHGRFKEHGLHQWHVLFKGHU5HJLVVHXU HEHQMHQHU0XVLNXQGGLHVDXFKQXUEUXFKVWFNKDIW bKQOLFKHVSUDNWL]LHUWHHU RIIHQVLFKWOLFK DXFK LQ %HUOLQ ZR:HLQJDUWQHUV 0XVLN HEHQIDOOV QXU LQ7HLOHQ eingesetzt wurde51  6RZRKO ,QWHJULWlW DOV DXFK JUXQGOHJHQGH :HUNKDIWLJNHLW YRQ6FKDXVSLHOPXVLNZHUGHQGXUFKHLQHVROFKH3UD[LVJUXQGVlW]OLFKLQ)UDJH JHVWHOOW8QGVFKOLH‰OLFKRIIHQEDUWGHUDUWLJHU8PJDQJPLWGHU6DFKHDXFKHLQH +DOWXQJVHLWHQVGHV5HJLVVHXUVHLQHUVHLWVJHZQVFKWHU)DNWRUGHVLQWHJUDWLYHQ 7KHDWHUNRQ]HSWVZXUGHGHULQGLYLGXHOOHQ0XVLN²LQGLHVHP)DOOH6FKLOOLQJV² KLQJHJHQNHLQHEHVRQGHUH:HUWLJNHLW]XJHVWDQGHQVLHZXUGHYLHOPHKUDOVHLQH Art Steinbruch benutzt. $EVFKOLH‰HQGVHLQRFKPDOVGHU%OLFNDXIGDVLQQRYDWLYH3RWHQWLDOJHOHQNWGDV 5HLQKDUGWV GLH 0XVLN EHWUHIIHQGHQ 9LVLRQHQ DXV]HLFKQHWH ² DXFK ZHQQ GLHVH ]XQlFKVW QLFKW E]Z HUVW YHUVSlWHW LQ GHU 6DO]EXUJHU ,QV]HQLHUXQJ YRQ   UHDOLVLHUWZHUGHQNRQQWHQ'LHVHEHWUDIHQ]ZHL(EHQHQGLH0RGHUQLVLHUXQJGHU HLQ]XVHW]HQGHQPXVLNDOLVFKHQ0LWWHO²&K|UHDOV6SUHFKFK|UHVRZLH*HUlXVFK PXVLN²XQGGLH5K\WKPLVLHUXQJGHUJHVSURFKHQHQ6SUDFKHVHOEVW Ließen sich erstere durchaus noch in Reinhardts vergleichsweise traditionelOHV7KHDWHUNRQ]HSWLQWHJULHUHQLQGHPVLHLKUH)XQNWLRQDOVÅNOLQJHQGH.XOLVVH´HUIOOWHQVRVWHKWOHW]WHUHDP%HJLQQHLQHUIXQGDPHQWDOHQ(QWZLFNOXQJLP 7KHDWHUGHV-DKUKXQGHUWVGLHVLFK²MHQVHLWVGHUÅ=XWDW´HLQHU6FKDXVSLHO0|JOLFKNHLWHLQHUHQWVSUHFKHQGHQZRKOHUZRJHQHQXQGLPYHUJDQJHQHQ-DKU HUSUREWHQ:LUNXQJJHEUDFKWZLHGHUJHJHEHQZRUGHQLVW Bevor nicht eine Einigung zwischen uns herbeigeführt ist, untersage ich hierPLWGLHZHLWUH%HQXW]XQJPHLQHU0XVLNXQGEHKDOWHPLUGLH*HOWHQGPDFKXQJ meiner Ansprüche vor. ,QYRU]JOLFKHU+RFKDFKWXQJ Prof. M. Schillings Durch Eilboten Einschreiben.“  'DV2ULJLQDOGLHVHV%ULHIHVEHÀQGHWVLFKLP6WDGWDUFKLY'UHQ,FKGDQNH%HQMDPLQ6FKROWHQKHU]OLFKIUGHQ+LQZHLVDXIGLHVH4XHOOH 51 9JO GD]X GHQ HQWVSUHFKHQGHQ +LQZHLV LQ GHU 3UHVVH 9RVVLVFKH =HLWXQJ YRP 'HXWVFKHV7KHDWHUR6$OOHUGLQJVZDUGLH3UD[LVHLQHUQXUWHLOZHLVHQ9HUZHQGXQJYRQ.RPSRVLWLRQHQGXUFKDXVEOLFKZLHH[HPSODULVFKGDV9RUwort von August Bungert zu seiner Faust0XVLNEHOHJW $XJXVW%XQJHUWFaust. 2S9RUZRUW]XP.ODYLHUDXV]XJ/HLS]LJ>@6 336

Max Reinhardts musikalische Faust-Visionen

PXVLN²DOV0XVLNDOLVLHUXQJGHV'UDPDVXQGGDPLWGHV7KHDWHUVVHOEVWEH]HLFKnen lässt.52'LHVWUHQJH5K\WKPLVLHUXQJGHU6SUDFKHPDUNLHUWGHQ%HJLQQGHU 0XVLNDOLVLHUXQJGHUHLQ]HOQHQWKHDWUDOHQ3DUDPHWHU(VLVWGLHVHV0RPHQWYRQ 5HLQKDUGWV7KHDWHULGHHGDVELVODQJQRFKQLFKWDXVUHLFKHQGJHZUGLJWVFKHLQW 'HUYHUPHLQWOLFKHKHUNRQVHUYDWLYH5HJLVVHXU5HLQKDUGWVWHKWDP%HJLQQMHQHU Ausdifferenzierung von Theater im 20. Jahrhundert, das im Laufe der nachfolgenden Jahrzehnte dem logoszentrierten Drama sein alleiniges Daseinsrecht DXINQGLJHQXQGLKP$OWHUQDWLYHQDQGLH6HLWHVWHOOHQVROOWH'D]XJHK|UHQUDGLNDOH.RQ]HSWHZLHGLHYROOVWlQGLJH/RVO|VXQJYRP:RUWGUDPDLQGHQV]HQLVFKHQ$NWLRQHQYRQ-RKQ&DJHELV]XPLQVWUXPHQWDOHQ7KHDWHU0DXULFLR.DJHOV ebenso wie die „bloße“ Rhythmisierung von Inszenierungen durch Robert WilVRQRGHU0LFKDHO7KDOKHLPHU'LH-DKUHPDUNLHUHQGHPQDFKQLFKWQXU GLHJUR‰H:HQGHLQGHU0XVLNJHVFKLFKWH²PLWGHU/RVO|VXQJYRQGHQ*UHQ]HQ der Tonalität und der anschließenden Aufspaltung in verschiedene gleichzeitige NRPSRVLWLRQVJHVFKLFKWOLFKH5HDOLWlWHQ²VRQGHUQGHXWHQDXFKWKHDWHUJHVFKLFKWOLFK GLH 'LYHUVLÀ]LHUXQJ GLH ]XP JUXQGOHJHQGHQ &KDUDNWHULVWLNXP GHV  -DKUKXQGHUWVZHUGHQVROOWHDQ0D[5HLQKDUGWVWHKWGHPQDFKDP%HJLQQHLQHU neuen Pluralität von Theater, die es in den vergangenen Jahrhunderten in dieser *UXQGVlW]OLFKNHLWQLHJHJHEHQKDWWH%H]RJHQDXIGLHKLHUYHUKDQGHOWH7KHPDWLNOlVVWHVVLFKYLHOOHLFKWVR]XVSLW]HQ$XV6FKDXVSLHOPXVLNZLUG6FKDXVSLHO DOV0XVLN53²QLFKWDXVVFKOLH‰OLFKDEHUDOVQHXH]XNXQIWVWUlFKWLJH$XVIRUPXQJ HLQHUSOXUDOLVWLVFKHQ7KHDWHUODQGVFKDIW%LVLQV-DKUKXQGHUWLVWGLH5K\WKmisierung der gesprochenen Sprache ein zentrales Moment der SchauspieläsWKHWLNJHEOLHEHQ

52

53

Diesem sehr grundsätzlichen Phänomen von Theater des 20. Jahrhunderts hat sich HUVWPDOV 'DYLG 5RHVQHU LQ HLQHU HLJHQVWlQGLJHQ 6WXGLH DQJHQRPPHQ ROESNER,  $XI7HLODVSHNWHZDU]XYRUOHGLJOLFKSXQNWXHOOLQNU]HUHQ$UEHLWHQKLQJHZLHVHQZRUGHQ:LHZRKO5RHVQHUVHLJHQWOLFKHU8QWHUVXFKXQJVJHJHQVWDQGLPDXVgehenden 20. Jahrhundert liegt, lassen sich jedoch eine Reihe von Verbindungen zu dessen Beginn herstellen. Vgl. auch die identische Formulierung bei ROESNER, 2003, S. 35. 337

Ursula Kramer

Literatur ADLER, GUSTI +J 0D[5HLQKDUGW6DO]EXUJ ANON >B. PAUMGARTNER@$XVIKUXQJHQ ]XU Faust0XVLN 0DVFKLQHQVFKULIWOLFKHV 'RNXPHQWLP%HVWDQGGHV$UFKLYVGHU6DO]EXUJHU)HVWVSLHOH 0D[5HLQKDUGW$UFKLY R- ANON>MAX REINHARDT"@1RWL]HQ]XU0XVLN>)DXVW,@0DVFKLQHQVFKULIWOLFKHV'RNXPHQW LP %HVWDQG GHV$UFKLYV GHU 6DO]EXUJHU )HVWVSLHOH 0D[ 5HLQKDUGW$UFKLY 6DO]EXUJR- BUNGERT, AUGUST)DXVW2S9RUZRUW]XP.ODYLHUDXV]XJ/HLS]LJ>@ FETTING, HUGO +J  0D[ 5HLQKDUGW ,FK ELQ QLFKWV DOV HLQ 7KHDWHUPDQQ %ULHIH 5HGHQ$XIVlW]H,QWHUYLHZV*HVSUlFKH$XV]JHDXV5HJLHEFKHUQ%HUOLQ HORN, HANNS 'LH *HVFKLFKWH GHU 0QFKHQHU )DXVWDXIIKUXQJHQ 'XLVEXUJ  'LVVHUWDWLRQ0QFKHQ  KERR, ALFRED*UHWFKHQLP'HXWVFKHQ7KHDWHULQ'HU7DJYRP KOBERG, ROLAND/STEGEMANN, BERND/THOMSEN, HENRIKE +JV 0D[5HLQKDUGWXQG GDV'HXWVFKH7KHDWHU7H[WHXQG%LOGHUDXV$QODVVGHVMlKULJHQ-XELOlXPVVHLQHU'LUHNWLRQLQ%OlWWHUGHV'HXWVFKHQ7KHDWHUV1U%HUOLQ KRAMER, URSULA:HQQGHU5DXP]XP3UREOHPZLUG7KHDWHUPLW0XVLNLQ'DUPVWDGW XPLQ7DJXQJVEHULFKW0XVLNDP0LWWHOUKHLQDXV$QODVVGHVMlKULJHQ%HVWHKHQVGHU$UEHLWVJHPHLQVFKDIWIUPLWWHOUKHLQLVFKH0XVLNJHVFKLFKWHDP2Ntober 2011, hg. von JONATHAN GAMMERT/GUDULA SCHÜTZ, Mainz 2014a. KRAMER, URSULA=ZLVFKHQ)HVWVSLHOLGHHXQG5HSHUWRLUHWDXJOLFKNHLW'LH)DXVW.RPSRVLWLRQHQ YRQ$XJXVW %XQJHUW )HOL[:HLQJDUWQHU XQG 0D[ YRQ 6FKLOOLQJV LQ PANJA MÜCKE/CHRISTIANE WIESENFELDT +JV  )DXVW LP :DQGHO )DXVW9HUWRQXQJHQYRPELV-DKUKXQGHUW0DUEXUJE 'UXFNLQ9RUEHUHLWXQJ  LEISLER, EDDA/PROSSNITZ, GISELA0D[5HLQKDUGWVÄ)DXVW¶,QV]HQLHUXQJLQ6DO]EXUJ LQ0DVNHXQG.RWKXUQ  6 NÖTHER, MATTHIAS, $OV%UJHUOHEHQDOV+DOEJRWWVSUHFKHQ0HORGUDP'HNODPDWLRQ XQG6SUHFKJHVDQJLPZLOKHOPLQLVFKHQ5HLFK.|OQXD PASSOW, WILFRIED0D[5HLQKDUGWV5HJLHEXFK]X)DXVW,8QWHUVXFKXQJHQ]XP,QV]HQLHUXQJVVWLODXIGHU*UXQGODJHHLQHUNULWLVFKHQ(GLWLRQ0QFKHQ PAUMGARTNER, BERNHARD,:LHGLH0XVLN]XP6DO]EXUJHU)DXVWHQWVWDQGLQ1HXHV :LHQHU-RXUQDOR6 PÜLLEN, KURT WOLFGANG'LH6FKDXVSLHOPXVLNHQ(QJHOEHUW+XPSHUGLQFNV'LVVHUWDWLRQ.|OQ REINHARDT, MAX5HJLHEXFK]X)DXVW,([HPSODULP$UFKLYGHU6DO]EXUJHU )HVWVSLHOH 0D[5HLQKDUGW$UFKLY

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Max Reinhardts musikalische Faust-Visionen

ROESNER, DAVID, 7KHDWHU DOV 0XVLN 9HUIDKUHQ GHU 0XVLNDOLVLHUXQJ LQ FKRULVFKHQ 7KHDWHUIRUPHQ EHL &KULVWRSK 0DUWKDOHU (LQDU 6FKOHHI XQG 5REHUW :LOVRQ 7bingen 2003. RUSSO, WILHELM,*RHWKHV)DXVWDXIGHQ%HUOLQHU%KQHQ%HUOLQ WEINGARTNER, FELIX, *RHWKHV )DXVW %KQHQHLQULFKWXQJ XQG 0XVLN (UVWHU XQG =ZHLWHU7HLO9RUZRUW]XP7H[W/HLS]LJ

Noten PAUMGARTNER, BERNHARD:0XVLN]X*RHWKHV)DXVW0DQXVNULSWLP%HVWDQGGHV$UFKLYVGHU6DO]EXUJHU)HVWVSLHOH0D[5HLQKDUGW$UFKLY WEINGARTNER, FELIX0XVLN]X*RHWKHV)DXVWRS.ODYLHUDXV]XJ/HLS]LJ %UHLWNRSI +lUWHO  DERS.0XVLN]X*RHWKHV)DXVWRS.ODYLHUDXV]XJ([HPSODUPLWKDQGVFKULIWOLFKHQ(LQWUDJXQJHQGHV.RPSRQLVWHQXQWHU9HUZHQGXQJGHV(UVWGUXFNV1DFKODVV )HOL[:HLQJDUWQHU8%%DVHO DERS.,0XVLN]X*RHWKHV)DXVWRS.ODYLHUDXV]XJ/HLS]LJ %UHLWNRSI +lUWHO   DERS.0XVLN]X*RHWKHV)DXVWRS3DUWLWXU/HLS]LJ %UHLWNRSI +lUWHO  DERS.0XVLN]X*RHWKHV)DXVWRS3DUWLWXU([HPSODUPLWKDQGVFKULIWOLFKHQ(LQWUDJXQJHQ GHV .RPSRQLVWHQ XQWHU 9HUZHQGXQJ GHV (UVWGUXFNV 1DFKODVV )HOL[ :HLQJDUWQHU8%%DVHO DERS.0XVLN]X*RHWKHV)DXVWRS3DUWLWXU/HLS]LJ %UHLWNRSI +lUWHO  

Abbildungsnachweise 5HJLHEXFK0D[5HLQKDUGW$UFKLYGHU6DO]EXUJHU)HVWVSLHOH0D[5HLQKDUGW$UFKLY 3DUWLWXUVHLWHQ)HOL[:HLQJDUWQHU:HLQJDUWQHU1DFKODVV8%%DVHO PLWIUHXQGOLFKHU*HQHKPLJXQJ

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Die Musik Hanns Eislers zu Stücken von Bertolt Brecht INGEBORG ALLIHN

Die Zusammenarbeit zwischen Hanns Eisler (1898-1962) und Bertolt Brecht (1898-1956), beide gleich alt, begann Ende der 1920er Jahre in Berlin. Zu einem Zeitpunkt, als politische und gesellschaftliche Veränderungen zu Veränderungen in Kunsttheorie und -praxis führten, stießen sie in ihren gemeinsamen Arbeiten – einer den anderen anregend – in künstlerisches Neuland vor. Sie versuchten, die Funktion von Kunst neu zu bestimmen und ihre Möglichkeiten auszuloten. Mit künstlerischen Mitteln, insbesondere mit den Mitteln der Theaterkunst, wollten sie gesellschaftliche Veränderungen durchschaubar machen und aktiv in sie eingreifen. Die gemeinsame Theaterarbeit dokumentiert in acht Stücken von Bertolt Brecht mit Bühnenmusik von Hanns Eisler diese Auseinandersetzung. Eisler hat 24 weitere Bühnenmusiken zu dramatischen Werken unterschiedlichster Gattungen und unterschiedlichster Autoren komponiert, von Lion Feuchtwangers Kalkutta, 4. Mai (1928) über Johann Nestroys Posse Höllenangst (1948) bis zu Friedrich Schillers Wilhelm Tell (1962). Eislers Zusammenarbeit (EZ = Entstehungszeit der Musik) mit Brecht betrifft folgende Stücke: • Die Maßnahme op. 20 (EZ: 07.07.-02.08.1930), UA 13.12.1930 in Berlin • Die Mutter op. 25 (EZ: Sept./Okt. 1931), UA 17.01.1932 in Berlin • Die Rundköpfe und die Spitzköpfe oder Reich und Reich gesellt sich gern. Ein Greuelmärchen op. 45 (EZ: 04.04.-19.08.1934), UA 04.11.1936 in Kopenhagen in dänischer Sprache; Musik in einer Bearbeitung für 2 Klaviere von Børge Roger-Hinrichsen • Furcht und Elend des Dritten Reiches (EZ: Ende Mai/Anfang Juni 1945), UA 12.06.1945 in New York in deutscher Sprache

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Ingeborg Allihn

• Leben des Galilei (EZ: 1938; Mai/Juni 1947), UA der ersten deutschen Fassung 09.09.1943 am Zürcher Schauspielhaus; UA der amerikanischen Fassung 30.07.1947 in Los Angeles; UA der endgültigen deutschen Fassung 16.04.1955 in Köln • Die Gesichte der Simone Machard (EZ: Mai 1943 Amerika bis 1955 Wien), UA 08.03.1957 in Frankfurt am Main • Schweyk im Zweiten Weltkrieg (EZ: 1943 Hollywood bis 1955/56 Berlin), UA 17.01.1957 in Warschau • Die Tage der Commune (=8$LQGHUYRUOlXÀJHQ)RUP in Karl-Marx-Stadt, heute: Chemnitz) Die Theaterarbeit zwischen Brecht und Eisler begann mit dem am 13. Dezember 1929 in der Berliner Philharmonie uraufgeführten Lehrstück Die Maßnahme und endete mit Brechts Tod 1956. Die historischen Ereignisse in diesen 27 Jahren haben die Theoriebildung und die praktischen Arbeiten beider Künstler weVHQWOLFKEHHLQÁXVVW'LH]XQHKPHQGH5DGLNDOLVLHUXQJGHULQQHQSROLWLVFKHQ$XVeinandersetzungen nach dem Ersten Weltkrieg in der Weimarer Republik, die letztendlich zu ihrem Zerfall führten; die Weltwirtschaftskrise 1929; die Machtübergabe an die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933; der Zweite Weltkrieg mit all’ seinen Folgen und das geteilte Deutschland nach 1945. Brecht und Eisler, 1933 akut bedroht, gingen ins Exil. Eisler hielt sich zunächst abwechselnd in Österreich, Frankreich, Dänemark, England, Spanien, in der Tschechoslowakei und in der Sowjetunion auf, ehe er nach etlichen, zeitlich begrenzten Reisen in die USA 1938 endgültig nach Amerika übersiedelte. Brecht lebte erst in der Schweiz, dann in Dänemark, ehe er über Schweden, Finnland und die SowjetXQLRQVFKOLH‰OLFKHEHQIDOOVLQGHQ86$=XÁXFKWIDQG%UHFKWNHKUWH Eisler endgültig 1949, nach Deutschland zurück. Beide lebten in Berlin (Ost). Ihre gemeinsamen Arbeiten müssen im Zusammenhang mit diesem historischen Hintergrund analysiert und beurteilt werden. In den 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre waren beide davon überzeugt, dass das sozialistische bzw. kommunistische Gesellschaftssystem, dass die angestrebte Diktatur des Proletariats das Gesellschaftsmodell der Zukunft sei. Doch angesichts der Ereignisse in der DDR und im sogenannten sozialistischen Lager (Aufstand am 17. Juni 1953, Aufstand in Ungarn 1956, XX. Parteitag der KPdSU 1956 mit der Verurteilung des Stalinkultes usw.) wurde bei beiden diese Hoffnung brüchig. Ihre Haltung zu den jeweiligen Ereignissen – von den 1920er Jahren bis zu Brechts 7RG²ÀQGHWLQGHQJHPHLQVDPHQ$UEHLWHQLKUHQPHKURGHUZHQLJHUGHXWlichen Niederschlag.

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Die Musik Hanns Eislers zu Stücken von Bertolt Brecht

Nach dem Ersten Weltkrieg, der Oktoberrevolution in Russland und den revolutionären Ereignissen in Deutschland 1919/20 entwarfen in ganz Europa und in der Sowjetunion Maler und Bildende Künstler, Dichter, Dramatiker und vor allem Theaterpraktiker, aber ebenso etliche Komponisten wie besonders Ferruccio Busoni und sein Schüler Kurt Weill, doch auch Arnold Schönberg und Igor Strawinsky ästhetische Konzepte, die mehr oder weniger politisch akzentuiert waren. Dokumentiert werden sie in den Manifesten und Proklamationen von Futurismus und Dada, von Konstruktivismus, Surrealismus und Neuer Sachlichkeit, um nur einige zu nennen,1 aber auch durch Arbeiten für die Bühne, wie z. B. durch Strawinskys Kompositionen zu u. a. den Balletten Petruschka (1910/11), Le Sacre du Printemps (1910-1913) oder L’Histoire du Soldat (1917/18). Bei aller Unterschiedlichkeit waren sich die Autoren in einem Punkt einig: Sie lehnten die tradierte bürgerliche Kunstauffassung und -theorie ab. Formen künstlerischer Praxis, die bis dahin in den traditionellen Institutionen wie Konzertsaal und Theater irrelevant gewesen waren und als profan und alltäglich missbilligt wurden, fanden nun als Gestaltungselemente und Ausdrucksmittel Verwendung. Gesucht wurde nach offenen Formen. So setzten sich z. B. die russischen Filmemacher Sergej Eisenstein, Wsewolod Pudowkin und Grigorij V. Alexandrow in ihrem 1928 veröffentlichten 0DQLIHVW ]XP 7RQÀOP dafür ein, den Ton „als ein[en] vom visuellen Bild getrennte(n) Faktor“ zu begreifen. Gesprochen wird von der „Schaffung eines orchestralen Kontrapunktes visueller und akustischer Bilder“. Der Ton soll „als neues Montageelement verstanden“ werden.2 Eisler wiederum trat später für einen „dramaturgischen Kontrapunkt“ ein, bei dem sich GLH0XVLNÅLQ*HJHQVDW]]XP2EHUÁlFKHQJHVFKHKHQVWHOOW´XPVRGHQÅ6LQQ der Szene hervortreten (zu lassen).“3 Sowohl Montageverfahren als auch Verfremdungstechniken fanden seit den 1920er Jahren in den unterschiedlichsten Kunstformen vielseitige Anwendung. Unter Einbeziehung sogenannter niederer Künste, wie z.B. der Revue, des Kabaretts, der russischen Schaubudenkunst, der Agitpropkunst, des Arbeitertheaters, der Kampfmusik u.ä. wurden zahlreiche Syntheseformen entwickelt. Brecht und Eisler erhielten in dieser Hinsicht wesentliche Anregungen besonders durch Erwin Piscator (1893-1966): durch dessen 1920/21 in Berlin gegründetes Proletarisches Theater und seine avantgardistischen Arbeiten an der Berliner Volksbühne (1924-1927), an der Ersten Piscator-Bühne (1927/28) und 1 2 3

Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938): ASHOLT/FÄHNDERS, 1995; BUSONI, 1916; WEILL 1975; FIEBACH 1975; EISENSTEIN, in ASHOLT/FÄHNDERS, siehe Anm. 1, S. 389. ADORNO/EISLER, 1977, S. 62. 343

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der Zweiten Piscator-Bühne (1929). Brecht entwickelte Piscators theaterpraktische Methode der kollektiven Erarbeitung und Inszenierung der Stücke weiter zum – wie er es nannte – „Kollektiv selbständiger Künste“.4 Hierbei sah er in der Musik ein wichtiges dramaturgisches Mittel, das eigenverantwortlich die im Stück vorgegebene Haltung präzisieren sollte. Brecht, seit 1927 Mitarbeiter an der Ersten Piscator-Bühne, formulierte damals wesentliche Grundzüge seiner Theorie des epischen Theaters. Mit ihr wollte er sich vom Aristotelischen Theater und dessen Einfühlungsdramaturgie abgrenzen, von der psychischen )HVVHOXQJ GHV =XVFKDXHUV XQG VHLQHU ,GHQWLÀNDWLRQ PLW GHQ %KQHQKHOGHQ Den Terminus ‚Episches Theater‘ benutzten Brecht und Piscator seit Mitte der 1920er Jahre. Damit zielten sie auf einen die Gegensätze betonenden Handlungsablauf, auf Lockerung des Dialogs und auf eine Distanz zu den Aussagen und Absichten der handelnden Figuren. Hierfür entwickelte Brecht einen ganzen Katalog von technischen und vor allem darstellerischen Verfremdungsmitteln. „Zentrale Motive der Brechtschen Theaterkonzeption: Helligkeit, Genauigkeit, Heiterkeit und Veränderung.“5 Denn „Theater, das Brecht meint, vermeidet die Dunkelheit. Theater hat nichts zu verbergen.“6 Eisler war als freier Mitarbeiter seit 1927 ebenfalls an der Piscator-Bühne tätig. Seine erste Bühnenmusik überhaupt, die Musik zu Walter Mehrings Der Kaufmann von Berlin (Uraufführung 03.09.1929), hat er für die Zweite Piscator-Bühne geschrieben. In ihr sind bereits charakteristische Merkmale des Eislerschen Stils ausgeprägt: der ironische Unterton und die scharfsinnige Satire, überraschende Wendungen und witzige Pointen, eine Harmonik, die nicht mehr auf dem Boden der traditionellen funktionalen Tonalität steht, vagierende Klänge und überraschende Melodiezitate. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die Musik im Sprechtheater die Aufgabe, entsprechend der Einfühlungsdramaturgie die Illusion zu fördern, VLFKDEVROXWPLWGHU6]HQHGHUMHZHLOLJHQ)LJXUGHU+DQGOXQJ]XLGHQWLÀ]LHren. Doch genau innerhalb eben dieses Theaters wurden neue theoretisch-ästhetische Konzepte entworfen. Die Musik als soziale Äußerungsweise sollte nun desillusionierend wirken. Besonders im Sprechtheater wurde zudem ihr Eigenwert als selbstständige Kunstgattung betont. Sowohl Eisler als auch Brecht sind durch ihre kritische Auseinandersetzung mit der Einfühlungsdramaturgie auf neue Lösungsmöglichkeiten bei der Verbindung von Wort, Musik und Szene gestoßen. Beide fordern die aktive Mitwirkung der Kunstgattung Musik bei der dramaturgischen Anlage und theatralischen Realisierung der Fabel auf der 4 5 6 344

BRECHT, 1967, Bd. 16, S. 696f. WISZISLA, 1998, S. 170. EBD.

Die Musik Hanns Eislers zu Stücken von Bertolt Brecht

Bühne. In Brechts Theorie des epischen Theaters, die sich in einem nicht widerspruchsfreien Prozess herausgebildet hatte, wird der Musik als „wichtigstem Beitrag zum Thema“ (Brecht)7 und ihrer Funktion im Sprechtheater besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Sie soll zur „Schmutzaufwirblerin, Provokatorin und Denunziantin“ werden, heißt es in den Anmerkungen zum Lustspiel Mann ist Mann.8 Hierbei ging es Brecht um eine „radikale Trennung der Elemente“,9 statt – wie bisher – einer Verschmelzung der Künste zum sogenannten Gesamtkunstwerk. 1935, die Arbeit an den Rundköpfen und Spitzköpfen war beendet, fasste Brecht seine Erfahrungen erneut theoretisch zusammen (Über die Verwendung von Musik für ein episches Theater).10 Er fordert „Songmusik […], sozusagen gestische Musik […], die es dem Schauspieler ermöglicht, gewisse Grundgesten vorzuführen.“11 Wünschenswert sei es, wenn Musik komponiert würde, deren Wirkung auf den Zuschauer „einigermaßen exakt bestimmbar wäre“ und gegen die dann der Schauspieler spielen könne.12 1925 war der Schönberg-Schüler Hanns Eisler von Wien nach Berlin übergesiedelt. Seine Auseinandersetzung mit der Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen seines Lehrers war nicht nur mit einem künstlerisch-ästhetischen, sondern besonders auch mit einem politischen Umdenkungsprozess verbunden. Jetzt wollte er Musik schreiben, die gebraucht ZLUG0DVVHQOLHGHU.DPSÁLHGHU$UEHLWHUFK|UH0XVLN]X7H[WHQXQG6XMHWV “die möglichst viele angehen.“13 Hierfür setzte er neue kompositionstechnische und künstlerische Mittel ein, zitierte verbrauchtes Material, entwickelte die Montagetechnik, fand einen neuen Bezug zur Tonalität. In der ersten gemeinsamen Arbeit mit Brecht, dem Lehrstück Die Maßnahme, äußerte sich Eisler zum ersten Mal zur Bühnenmusik und sprach in diesem Zusammenhang von ‚angewandter Musik‘: Getrieben vom Unbehagen gegenüber dem bürgerlichen Konzertbetrieb und voller Misstrauen hinsichtlich der sozialen Funktion der reinen Instrumentalmusik, sah er in der Verbindung von Musik mit anderen Künsten,

7 8 9 10 11 12 13

BRECHT, 1967, Bd. 17, S. 1011. BRECHT, 1967, Bd. 15, S. 474. BRECHT, 1967, Bd. 17, S. 1010. BRECHT, 1967, Bd. 15, S. 472-482. BRECHT, 1967, Bd. 15, S. 478. BRECHT, 1967, Bd. 15, S. 481. EISLER, 1973, S. 92. 345

Ingeborg Allihn

eben in der angewandten Musik, zu der er auch die Bühnenmusik zählte, einen Ausweg.14 Sowohl Eisler als auch Brecht haben sich in zahlreichen Aufsätzen, Anmerkungen zu den Stücken und theoretisch-ästhetischen Erörterungen über die Funktion der Musik im Schauspiel geäußert. Brecht verdankt Kurt Weill, aber auch dem Bühnenausstatter Caspar Neher, den Regisseuren Erwin Piscator und Erich Engel (er inszenierte 1928 die Dreigroschenoper und nach Brechts Tod 1957 das Leben des Galilei) sowie seiner Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann wesentliche Anregungen bei der Herausbildung seiner Theorie des epischen Theaters. Die beiden zentralen Kategorien der Brechtschen Theatertheorie sind Gestus und Verfremdung. Der Gestus gibt über die gesellschaftlich-sozialen, politischen, sittengeschichtlichen und psychologischen Hintergründe des theatralischen Vorgangs Auskunft. Und durch den sogenannten Verfremdungseffekt ZHUGHQ GLH XQWHU VHLQHU 2EHUÁlFKH YHUERUJHQHQ *HVHW]Pl‰LJNHLWHQ XQG :Ldersprüche aufgedeckt. Genau hier setzt die Aufgabe von Musik ein. Ihr kommt es zu, ebenfalls durch Gestus15 und Verfremdung die „Vorgänge eher fremd als vertraut, eher seltsam als gewöhnlich erscheinen zu lassen“,16 durch „das direkte (LQJUHLIHQLQGLH+DQGOXQJ>«@GLHVH>«@]XPRGLÀ]LHUHQ´17 In zahlreichen theoretisch-ästhetischen Schriften, in den Gesprächen, Vortragskonzepten und in dem 1943/44 zusammen mit Theodor W. Adorno geschriebenen Buch Komposition für den Film18ÀQGHWPDQ]DKOUHLFKH+LQZHLVHGDUDXIZHOFKH)XQNWLRQ die Musik im Bühnenstück haben soll. So heißt es z.B. in den Materialien zu einer Dialektik der Musik, die Musik soll die Vorgänge auf dem Theater nicht „mitmachen und wiederholen“,19 denn „in einer Theatermusik kann der Komponist noch weniger als im Konzertsaal seinen privaten Neigungen nachgehen, er hat vom gegebenen Inhalt auszugehen, und seine künstlerische Subjektivität tritt dort erst ein, wo Inhalt und Form ineinander aufgehen.“20 Eislers Bemerkung bezieht sich auf einen wesentlichen theoretischen Grundsatz für das Werturteil über Bühnenmusik: Niemals dürfen hierbei Material und Kompositionstechnik im Vordergrund stehen, sondern beide ‚Elemente’ müssen zum vorgegebenen 14 15 16 17 18 19 20 346

STERN, 1977, S. 10-58. MAINKA, 1973, S. 61-80. Siehe Anm. 13, S. 196. EBD., S. 298. Siehe Anm. 3. Siehe Anm. 13, S. 195. EBD., S. 197.

Die Musik Hanns Eislers zu Stücken von Bertolt Brecht

Stück genauso wie zur Stückinterpretation, zur Idee und ihrer Gestaltung auf dem Theater, in Beziehung gesetzt werden. Stets wendet sich Eisler gegen eine „überhitzte Auskomposition eines Textes, (sie) bietet dem Theater nichts. Im Gegenteil, sie transportiert es ganz woanders hin. Es fehlt dann auch die ‚Zeigefunktion’, wie Brecht das nannte.“21 In acht Stücken von Brecht erprobt Eisler acht unterschiedliche Möglichkeiten, Musik und Bühnenstück miteinander zu verbinden. Indem Eisler die besonderen gestischen Eigenschaften der Musik zur sozialen Typisierung des theatralischen Vorgangs nutzt und sie auf das Brecht-Theater anwendet, gelingt es ihm, sowohl innermusikalische, materialimmanente Probleme zu lösen, als auch die Funktion der Musik im Bühnenstück neu zu bestimmen. Hierbei zeigt sich, dass der Begriff des Gestischen in der Musik alle Parameter der Komposition betrifft. Besondere Bedeutung erhalten in diesem Zusammenhang Intonationstypen und melodische Wendungen, die einem bestimmten Ausdrucks- und Gefühlsgehalt zuzuordnen sind. So hat „ein 4/4-Takt mit Betonung auf den guten Taktteilen […] immer etwas Militärisches oder ‚Triumphales’; die Verbindung der ersten etwa mit der dritten Stufe im ruhigen Tempo, piano, suggeriert durch ihren modalen Charakter etwas Religiöses; der markierte ¾-Takt den Walzer und eine durch nichts gerechtfertigte Lebensfreude.“22 Oder der absteigende Tetrachord bzw. chromatische Linien im Umfang einer Quart werden spätestens seit Claudio Monteverdis Lamento della Ninfa aus seinem VIII. Madrigalbuch (1638) mit Trauer oder Klage assoziiert. Eisler nutzt solche standardisierten Effekte, solche – wie er sie nennt – „automatisierten Assoziationen“.23 Er spürt den sozialen Gehalt dieser Intonationstypen, aber auch bestimmter musikalischer Gattungen und Formen auf und präzisiert sie, indem er sie mit dem theatralischen Vorgang verknüpft. Am Beispiel des Schauspiels Leben des Galilei, einem Stück, das Brecht im dänischen Exil 1938 begonnen und erst 1947 in Amerika vollendet hat, soll Eislers Bühnenmusik-Konzept erläutert werden. Die Uraufführung der amerikanischen Fassung des Schauspiels in der Inszenierung von Joseph Losey fand am 31. Juli 1947 im Coronet Theatre in Los Angeles statt. Die Fabel erzählt die Geschichte des Mathematikers, Physikers und Philosophen Galileo Galilei (1564-1642). Galilei bestätigt die These des Nikolaus Kopernikus, dass sich die Erde um die Sonne und nicht – wie bisher geglaubt – die Sonne um die Erde dreht. Für seine Forschungen hatte ihm die Republik Venedig alle Freiheiten 21 22 23

EISLER, 1975, S. 82. Siehe Anm. 3, S. 73. Siehe Anm. 3, S. 71. 347

Ingeborg Allihn

JDUDQWLHUWGRFKGLHKLHUIUEHQ|WLJWHQÀQDQ]LHOOHQ0LWWHONRQQWHVLHQLFKW]XU Verfügung stellen. Also geht Galilei an den Hof des Großherzogs von Florenz, obwohl ihm hier für eben diese Forschungen die Inquisition droht. Zwar stimmt das päpstliche Collegium Romanum Galileis Erkenntnissen zu, setzt aber zur gleichen Zeit die Lehre des Kopernikus auf den Index. Galilei, auf diese Weise LQHLQHQ.RQÁLNW]XGHQNOHULNDOHQXQGZHOWOLFKHQ0DFKWKDEHUQJHEUDFKWGLVtanziert sich von seiner erforschten Wahrheit und ihren weitreichenden Schlussfolgerungen. Schlimmer noch, er „überlieferte“ sein „Wissen den Machthabern, es zu gebrauchen, es nicht zu gebrauchen, es zu missbrauchen […].“ Sein Verrat an der Wissenschaft ist zugleich ein Verrat an den sozialen Möglichkeiten, die in seiner Entdeckung stecken. Am Schluss spricht Galilei sein eigenes Urteil: „Ich habe meinen Beruf verfehlt. Ein Mensch, der das tut, was ich getan habe, kann in den Reihen der Wissenschaft nicht geduldet werden.“ Doch in der letzten und 6]HQHGHV6FKDXVSLHOVÅÁFKWHW GDV:LVVHQ EHUGLH*UHQ]·´$QGUHDGHU Sohn von Galileis Haushälterin, trägt Galileis Buch Discorsi im Gepäck versteckt und mit Wissen des Autors in die Welt. Natürlich zeichnet Brecht in dem Schauspiel kein historisches Sittengemälde von Galileo Galilei und seiner Zeit. In der 1946 niedergeschriebenen Vorrede zur amerikanischen Fassung des Stücks, unter dem Titel Ungeschminktes Bild einer neuen Zeit, heißt es: „Als ich in den ersten Jahren des Exils in Dänemark das Stück ‚Leben des Galilei’ schrieb, halfen mir bei der Rekonstruktion des ptolomäischen Weltbilds Assistenten Niels Bohrs [Physiker, Wegbereiter der Atom- und Kernphysik, 1943 in die USA emigriert], arbeitend an dem Problem der Zertrümmerung des Atoms. Meine Absicht war unter anderem, das ungeschminkte Bild einer neuen Zeit zu geben – ein anstrengendes Unternehmen, da jedermann ringsum überzeugt war, dass unserer eigenen alles zu einer neuen Zeit fehlte. Nichts an diesem Aspekt hatte sich geändert, als ich, Jahre danach, daran ging, zusammen mit Charles Laughton [Interpret der Rolle des Galileo Galilei in der UA] eine amerikanische Fassung des Stücks herzustellen. Das ‚atomarische Zeitalter’ machte sein Debüt in Hiroshima in der Mitte unserer Arbeit. Von heute auf morgen las sich die Biographie des Begründers der neuen Physik anders. Der infernalische Effekt der Großen Bombe stellte den .RQÁLNW GHV *DOLOHL PLW GHU 2EULJNHLW VHLQHU =HLW LQ HLQ QHXHV VFKlUIHUHV Licht. Wir hatten nur wenige Änderungen zu machen, keine einzige in der Struktur.“24 24 348

BRECHT, 1974, S. 10.

Die Musik Hanns Eislers zu Stücken von Bertolt Brecht

Am 6. August 1945 hatten die USA die Atombombe auf Hiroshima und am 9. August 1945 eine weitere auf Nagasaki abgeworfen. Zur von Brecht erwähnten Struktur des Leben des Galilei gehören die Epigramme. Sie sind den fünfzehn Szenen jeweils vorangestellt. Gedanklich und formal konzentriert wird in den ersten Zeilen der Inhalt der jeweiligen Szene knapp, prägnant und zugespitzt vorgetragen, während die Schlusszeilen den Sinn des zuvor dargelegten Sachverhaltes erläutern. So wird in den ersten Zeilen des der 1. Szene vorangestellten Epigramms kurz der Sachverhalt dargelegt, während die zwei Schlusszeilen bereits das Ergebnis von Galileo Galileis ‚Rechnung’ verkünden: „Die Sonn steht still, die Erd kommt von der Stell.“ „In dem Jahr sechzehnhundertundneun Schien das Licht des Wissens hell Zu Padua in einem kleinen Haus. Galileo Galilei rechnete aus: Die Sonn steht still, die Erd kommt von der Stell.“

Der Gestus der Epigramme „ist der eines naiven Kommentars zu so komplizierten Vorgängen wie der Entdeckung neuer Welten und der Erschütterung der überkommenen Gesellschaftsordnung. Die Epigramme sind bewusst einfach in der Diktion, das Neue wird in ihnen gleichsam simpel wiedergegeben.“25 Sie vor allem bilden die textliche Grundlage für Eislers Musik. Lediglich die 10. Szene beginnt mit dem Auftritt eines Schaustellerpaares, das das „neueste Florentiner Lied“ vorträgt: Die erschröckliche Lehre und Meinung des Herrn Hofphysikers Galileo Galilei oder Ein Vorgeschmack der Zukunft. Von diesem „Florentiner Lied“ existiert eine Tonbandaufnahme aus dem Jahr 1947. Auf ihr singt Eisler die Ballade in englischer Sprache, und zwar in dem Gestus, den er sich für eine Aufführung wünschte. Die Aufnahme entstand unmittelbar vor der Uraufführung in Los Angeles und ist in den Tondokumenten zu Hanns Eisler veröffentlicht.26 In seinen Gesprächen über den Galilei mit Hans Bunge, dem Dramaturgen, Regisseur und ersten Leiter des Bertolt-Brecht-Archivs, fasst Eisler kurz den Inhalt des Schauspiels zusammen:

25 26

SCHUMACHER, 1965, S. 155. EISLER, 1995, 4. CD, Track 14, Ballade Nr. 9. 349

Ingeborg Allihn „Brechts Stück […] zeigt nämlich einfach nur, wie schwer es ist, die Wahrheit durchzusetzen. Wie lang kann man kämpfen, ohne vernichtet zu werden? Wie lang kann man durchstehen bis zum Ende – und die Wahrheit noch weiter geben und sich selbst erkennen als schwacher Mann? […] Sie sehen etwas ganz Heroisches – und zwar zweimal umgedrehtes Heroisches. Und das ist selbstverständlich eine grandiose Leistung Brechts. Nämlich, den neuen Menschen in einer alten Gesellschaft. […] Wichtig ist nicht das Verhalten von Galilei gegenüber der Inquisition, […] wichtig ist nur, dass er doch immer nach der Wahrheit gestrebt hat. Die Gier nach dem Neuen, die Begierde nach dem Neuen, das Unwiderstehliche des Forschens, das ist die große Tragödie Galileis und nicht die Umstände. Das muss man verstehen.“27

Der „neue Mensch in einer alten Gesellschaft“ – das ist der Mensch auf der Schwelle von der Renaissance zum Barock. Galileis kämpferisch-aktives Denken und Handeln, sein unablässiges Streben nach Wissen und Bildung macht ihn zu einem Prototypen dieser Zeit. Damals erlebten Kunst und Wissenschaft eine ungeahnte Blütezeit. Neue Gattungen wie die Oper entstehen, in alten, tradierten wie dem Madrigal wurden durch Gesualdo, Luca Marenzio und Claudio Monteverdi Ausdruckskunst und Virtuosität ins Extreme gesteigert. Vor allem auf das Madrigal greift Eisler bei seiner Musik für das Leben des Galilei zurück. Doch nicht etwa in einer neoklassizistischen Haltung! Vielmehr benutzt er die historisch gewachsene Gattung, um in ihr – wie in einem Brennspiegel – die Musikentwicklung von Palestrina bis zu seinem Lehrer Arnold Schönberg zusammenzufassen. Dabei wird sie verfremdet, denn Eisler verbindet die Palestrina-Harmonik mit harmonischen Wendungen der Neuen Musik des 20. Jahrhunderts, montiert instrumentale Effekte aus dem Bereich der Kampfmusik und des Jazz in die Madrigalismen im Stil eines Palestrina und in die expressive Textdeutung im Stil eines Gesualdo. Für die Szene mit dem Schaustellerpaar greift er wiederum auf den Bänkelsängerstil zurück. Diesen montiert er jedoch in eine Kantaten-Form mit Secco-Rezitativen, Accompagnati, mit ‚Arien’, nämlich den Strophen des Bänkelsängers, die stets einen Refrain haben. Ein Schlusschoral beschließt die Szene. Die Musik zum Galilei entstand im Mai/Juni 1947. Eisler erwähnt in den Gesprächen mit Hans Bunge, er hätte sie „in zwei Wochen geschrieben.“28 Bei seiner sehr schnellen Arbeitsweise wäre das durchaus möglich. Für die vierzehn Nummern der Bühnenmusik (von zwei Nummern hat Eisler jeweils eine 27 28 350

Siehe Anm. 21, S. 167f. EBD. S. 74.

Die Musik Hanns Eislers zu Stücken von Bertolt Brecht

Variante für die später entstandene zweite deutschsprachige Fassung des Schauspiels komponiert) sieht Eisler drei Knabenstimmen (Sopran, Mezzo-Sopran, Alt), den Balladensänger und seine Frau (beide mit Schauspielern besetzt) vor. An Instrumenten verlangt er eine Flöte respektive Piccolo, eine B-Klarinette, Cembalo und für den Bänkelgesang eine Trommel. Durch die Besetzung mit Knabenstimmen und die Verwendung von Flöte, Klarinette und Cembalo in den Epigrammen bekommt die Musik einen frischen, hellen Klang. „Die Lieder der Sängerknaben“, bemerkt Brecht in Bezug auf den Text, „heben das Chronikartige hervor und geben Hinweise auf die Beurteilung Galileis.“29 Der charakteristische helle Klang, den Eisler seiner Vertonung zugrunde legt, steht für das Zeitalter der Aufklärung mit ihrem Licht der Vernunft, einem Licht, das von der Wissenschaft ausgehen kann – wenn sie in die richtigen Hände gelangt. Für zwei Nummern gibt es ein kurzes instrumentales Vorspiel, das extra nummeriert ist.30 Die Nr. 1 „In dem Jahr sechzehnhundertundneun….“, die die erste Szene einleitet, ist charakteristisch für Eislers Vertonung der Brechtschen Epigramme. Das Lied wird von einem instrumentalen Vorspiel und einem ebenfalls instrumentalen Nachspiel eingerahmt. Die ersten fünf Takte enthalten das gesamte Tonmaterial, mit dem im Nachfolgenden in dieser Nummer gearbeitet wird: cis– G²D²I²ÀV²H%HUHLWVLPHUVWHQ7DNWZLUGHLQHPDUNDQWH0RWLYÀJXUPLWHQWVSUHchenden Begleitakkorden angelegt, die in der Folge die Funktion eines ‚Themas’ bekommt und an charakteristischen Stellen einmontiert ist. Flöte und Klarinette werden polyphon geführt, das Cembalo begleitet vorrangig akkordisch, es stützt die Harmonie. Die Gesangspartie, zuerst unisono vorgetragen, teilt sich bald zur Zweistimmigkeit und zum Wechselgesang. Ganz wie im klassischen Vorbild endet das ‚Madrigal’ dreistimmig. Entscheidende Textstellen werden melismatisch verziert, während der fortlaufende Text syllabisch vertont ist. Das in den ersten Takten exponierte Tonmaterial verändert Eisler bedeutsam an jener Stelle, wo von Galileis revolutionärer Entdeckung berichtet wird: „Die Sonn’ steht still, die Erd’ kommt von der Stell’“ (Takt 20ff.). Hier setzt auch der Wechselgesang zwischen Sopran und Mezzo-Sopran ein. Das ÀV des Grundmaterials wird jetzt zum f, aus h wird b, das gis zum g. Dieser Effekt wird rhythmisch und harmonisch unterstützt. Harmonisch tritt das Unerwartete ein: Der Sextakkord mit nachfolgendem Terz-Quartakkord auf A-Dur (Takt 20) wird nach B-Dur geführt. Rhythmisch betont Eisler diesen Vorgang durch Synkopen und eine Auf29 30

SCHUMACHER, 1974, S. 160f. Partitur der Musik zu Leben des Galilei in: HANNS EISLER, Lieder und Kantaten Bd. 4, Leipzig 1958. 351

Ingeborg Allihn

einanderfolge von Duolen und Triolen. Im Nachspiel wird die Konsequenz aus dieser Veränderung, aus der revolutionären Entdeckung des Galilei, gezogen. Der Tonvorrat entspricht nun den neuen Bedingungen: c–d–b–a–g–f–e. Kein Geringerer als Igor Strawinsky beglückwünschte Eisler, nachdem er im Coronet Theatre das Leben des Galilei zwei Mal gesehen hatte, am 9. Oktober 1947 spontan: Dear Mr. Eisler, As I do not know I will see you, I would like to tell you how much I enjoyed your music for Galilei wich heard twice at the Coronet Theatre. I sincerely regret (I) not having yet the opportunity to meet you and to express personality my Appreciation of your craftmanship and the high quality of your music. With Best Regards, Igor Strawinsky31 Lieber Herr Eisler, Da ich nicht weiß, wann ich Sie sehen werde, möchte ich Ihnen gerne sagen, wie sehr mich Ihre Musik zu Galileo erfreute, die ich zweimal im Coronet Theatre hörte. Ich bedaure aufrichtig, dass ich noch nicht die Möglichkeit hatte, Sie zu treffen und Ihnen persönlich meine Wertschätzung von der Meisterschaft und der hohen Qualität Ihrer Musik auszudrücken. Mit besten Grüßen Igor Strawinsky

Anhand der Musik zu Stücken von Bertolt Brecht hat Hanns Eislers seine Kompositionsprinzipien und seine künstlerisch-ästhetische Haltung entwickelt. Vor allem aber hat er in Zusammenarbeit mit Brecht auf dem Gebiet der BühnenmuVLN]XU+HUDXVELOGXQJJHQUHVSH]LÀVFKHU0HUNPDOHEHLJHWUDJHQ

31 (LQH$EVFKULIWGLHVHV%ULHIHVEHÀQGHWVLFKLP+DQQV(LVOHU$UFKLYGHU$NDGHPLH der Künste, Berlin. 352

Die Musik Hanns Eislers zu Stücken von Bertolt Brecht

Literatur ADORNO, THEODOR W./EISLER, HANNS, Komposition für den Film, hg. von EBERHARD KLEMM, Leipzig 1977. ASHOLT, WOLFGANG/FÄHNDERS, WERNER (Hg.), Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938), Stuttgart u. a. 1995. BRECHT, BERTOLT, Gesammelte Werke in 20 Bänden (BGW), Frankfurt am Main 1967. DERS., Ungeschminktes Bild einer neuen Zeit. Vorrede zur amerikanischen Fassung, in: Materialien zu Brechts ‚Leben des Galilei‘, hg. von GÜNTHER BUSCH, Frankfurt am Main 1974, S. 10-11. BUSONI, FERRUCCIO(QWZXUIHLQHUQHXHQbVWKHWLNGHU7RQNXQVWHUZHLWHUWH$XÁ Leipzig 1916. EISENSTEIN, SERGEJ XD 0DQLIHVW ]XP 7RQÀOP LQ 0DQLIHVWH XQG 3URNODPDWLRQHQ der europäischen Avantgarde (1909-1938), hg. von WOLFGANG ASHOLT/WERNER FÄHNDERS, Stuttgart u.a. 1995, S. 388-389. EISLER, HANNS, Materialien zu einer Dialektik der Musik, hg. v. MANFRED GRABS, Leipzig 1973. DERS., Gespräche mit Hans Bunge. Fragen Sie mehr über Brecht, hg. v. HANS BUNGE, Leipzig 1975. FIEBACH, JOACHIM, Von Craig bis Brecht. Studien zu Künstlertheorien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1975. MAINKA, JÜRGEN, Musikalische Betroffenheit – Zum Begriff des Gestischen, in: Beiträge zur Musikwissenschaft, 15, 1/2 (1973), S. 61-80. SCHUMACHER, ERNST, Drama und Geschichte, Berlin 1965. DERS., Form und Einfühlung, in: Materialien zu Brechts ‚Leben des Galilei‘, hg. von GÜNTHER BUSCH, Frankfurt am Main 1974, S. 155-172. STERN, DIETRICH, Komponisten gehen zum Film. Zum Problem angewandter Musik in den 20er Jahren, in: Angewandte Musik - 20er Jahre, hg. von DIETRICH STERN, Berlin 1977, S. 10-58. WEILL, KURT, Über den gestischen Charakter der Musik, in: WEILL, KURT, Ausgewählte Schriften, Frankfurt am Main 1975, S. 40-45. WIZISLA, ERDMUT (Hg.), 1898 | Berthold Brecht | 1998. „…und mein Werk ist der Abgesang des Jahrtausends“. 22 Versuche, eine Arbeit zu beschreiben, Berlin 1998.

353

Pierre Boulez und seine Arbeiten für die Compagnie Renaud-Barrault Zur Bühnenmusik der Orestie (1955) MARTIN ZENCK Für Robert Piencikowski, den langjährigen Freund und Kurator der SammlungPierre-Boulez in der Paul Sacher Stiftung zu Basel

Einführung: methodische Voraussetzungen zur vermischten Gattung der Schauspielmusik und zum Verhältnis von autonomer und angewandter Musik Schauspielmusik als Gattung ist nicht gerade einfach zu bestimmen. Als etwas später Hinzutretendes ist sie zunächst nur funktional, ist gerichtet auf einen Schauspieltext, auf die jeweilige Szene oder auf die Zwischenakte, weiter vor allem auf die Aufführung, die sie zu illustrieren, zu vertiefen, deren Ausschnitte und Bildhaftigkeit sie emotional aufzuladen hat. Darin ist sie durchaus mit der Funktion der Musik im Film vergleichbar, deren mehr oder weniger kontinuierliche Diegese sie darzustellen hat. Aber wie im Film kann die Musik im Schauspiel, im Drama, der Tragödie oder der Komödie auch andere als nur geradlinig narrative Funktionen einnehmen: So kann sie den tragischen Transport anhalten, unterbrechen und ihn wie im metaphysischen Tableau emporheben und auf Dauer stellen wie ein stehendes Bild. Darin verfährt sie dann dysfunktional1

1

Vgl. zu diesem auch funktionalen Aspekt in der Filmmusik, die hier zum Vergleich mit der angewandten Bühnenmusik betrachtet wird, ZENCK, 2012b. 355

Martin Zenck

oder verstärkt einen bestimmten Aspekt der Emphase dergestalt, dass sie den Schauspieltext vertieft und dadurch gegenüber der Funktionalität und Dysfunktionalität eine autonome Struktur erhält, die nur von der Musik wahrgenommen werden kann und von keinem anderen Medium. In der kompositorischen Praxis eines einzelnen Komponisten werden diese Zuschreibungen der Musik zum Schauspieltext und der betreffenden Szenen unterschiedlich wirksam. Sie stehen zwischen der Selbstbegründbarkeit einer musikalischen Struktur unter dem Aspekt der Autonomie und angewandter Musik, wobei es wichtig ist, die angewandte Musik nicht ausschließlich am Maßstab der Autonomisierung zu orientieren. Da fast jede Musik, auch die in der und durch die Notation niedergelegte zugleich Zwecken der Aufführung dient, kann da bereits gesagt werden, dass sie dort zur Anwendung gelangt. Genauer: dass mit und durch die Aufführung etwas an Sinn der entsprechenden Musik ausgehandelt wird, das durch die Partitur zwar notiert, aber nicht eindeutig festgeschrieben ist. Wenn die Aufführungsgeschichte eines Werkes als Subtext zu einem Haupttext der Partitur aufgefasst wird, ist dieser oral-mimetische Intra- und Subtext2 ein fester Bestandteil der Musik und eröffnet auch der niedergeschriebenen Musik einen Bedeutungsbereich, den sie möglicherweise als Musik-Text gar nicht innehat. Insofern ist der Terminus angewandte Musik, wie er vor allem als ephemere Gebrauchsmusik ohne Ewigkeitswert in den roaring twenties entwickelt und idealisiert wurde, widersprüchlicher Natur, weil eben jede schriftlich notierte Musik auf ihre Anwendung in der musikalischen Aufführung angewiesen ist (es sei denn die Musik ist wie bei Dieter Schnebel eine „Musik zum Lesen“,3 auch zu nur stummer Lektüre, die auf die Musik als einem klingenden Phänomen gar nicht angewiesen ist). Die Kritik an einer notierten Musik, die unabhängig von ihrer zur Anwendung gelangten Klanggestalt konzipiert sein soll, macht für unsere Diskussion HLQHQ ZLFKWLJHQ$VSHNW GHXWOLFK GHQ GHU ÁLH‰HQGHQ *UHQ]HQ ]ZLVFKHQ DXWRnomer und angewandter Musik, vor allem in der kompositorischen Praxis etwa von Beethoven und Pierre Boulez. So ist es äußerst einseitig und fragwürdig, in Beethoven nur den Komponisten autonomer, d. h. sich selbst durch die logische Struktur der Verfahrensweise begründenden Musik zu sehen, wie sie sich in seiner Sinfonik, Kammer- und Klaviermusik niederschlägt, und diese Art von Musik von der Musik zu trennen, in der sie nur zur Anwendung gelangt: in den beiden Opern der Leonore, des Fidelio, in denen sich möglicherweise die sinfonische Konzeption niederschlägt, weiter in den zahlreichen Schauspielmusiken 2 3 356

Vgl. dazu grundsätzlich ZENCK, 2006. SCHNEBEL, 1969.

Pierre Boulez und seine Arbeiten für die Compagnie Renaud-Barrault

(beim Egmont fordert Goethe bei den Sterbeszenen von Klärchen und Egmont DXVGUFNOLFK0XVLNZHLOQXULKU0HGLXPLQGHU/DJHVHLGLH7UDQVÀJXUDWLRQ atmosphärisch zu verwirklichen) und schließlich in den Zwölf deutschen Tänzen (1795) der Nr. 7 und 12, deren Themen in der Nr. 16 der Ballett-Pantomime der Geschöpfe des Prometheus (1800/01) wieder aufgenommen wurden und dann bekanntlich einmal zu den 15 Klaviervariationen mit Fuge in Es-Dur op. 35 und zum Finale der Eroica führten. Es gab also ungeachtet der Gattungsschranken einen durchgängigen Zusammenhang zwischen stilisiertem Tanz, pantomimischen Stil und den Gattungen der Instrumentalmusik wie der scheinbar autonomen Sinfonik. Gerade wenn diese angewandten Genres auch einen Bereich des Experimentierens darstellen, weil die Gesetze strengen Komponierens nicht unbedingt gelten und ein freieres Konzipieren von Musik möglich wird, das eben heteronom, dramaturgisch von den jeweiligen Schauspieltexten/Textvorlagen und Libretti motiviert sein kann und nicht strikt von der musikalischen Strukturierung des Zusammenhangs bestimmt sein muss. So gesehen, wäre es eine eigene Untersuchung wert, nicht nur darauf zu achten, inwiefern Organisationsstrukturen autonom begründbarer Musik respektiert werden, wenn sie auf die Gattungen der angewandten Musik der Oper und der Bühnenmusik übertragen werden, sondern umgekehrt, ob nicht die kompositorische Erfahrungen im Bereich angewandten Komponierens ihrerseits den ästhetischen Status autonomen Komponierens erweitern, verändern oder sogar grundsätzlich neu perspektivieren. Wie wir sehen werden, hat diese Frage- und Problemstellung weitreichende Konsequenzen in der kompositorischen Praxis von Pierre Boulez,4 weil dort etwa in der Bühnenmusik zur Orestie (1955) einzelne Aspekte angewandter Musik dann im fünften Formanten der dritten Klaviersonate5 ihren Niederschlag im Bereich autonomen Komponierens gefunden haben (auch im Bezug zwischen den Reihentabellen zum zweiten Teil Les Choéphores No. 4, Mélodrame, der Orestie und denjenigen des reinen Ensemble-Stücks Strophes,6 die später in Pli selon pli übergingen) wie umgekehrt aus der Befassung mit 4

5

6

Vgl. STEINEGGER, 2012: eine neuere und einschlägige Arbeit, die auf essentielle Studien zu diesem Thema von Peter O’Hagan, Robert Piencikowski, Luisa Bassetto und mir zurückgreifen konnte. Vgl. die Skizzen und Entwürfe zum fünften Formanten der Troisième sonate pour piano (dritten Klaviersonate) von Pierre Boulez: Paul Sacher Stiftung Basel, Sammlung-Pierre-Boulez, Mappe H, Dossier 2f,1. Dies zeigen die Skizzen und Reihentabellen zu den Choéphores 4, Mélodrame und den Strophes (PSS, Sammlung-Pierre-Boulez, Mappe G, Dossier 1b,1 [=Film 581-0042]. 357

Martin Zenck

dramaturgischen Implikationen von Schauspielen – der Szene des doppelten Schattens in Paul Claudel’s Le soulier de satin – der ganze live-elektronische Werk-Komplex des späteren Dialogue de l’ombre double für Soloklarinette und Zuspielband hervorgegangen ist. Kompositorische Maßnahmen absoluter Musik in den Szenen der Orestie haben also demnach wieder zu starken Konsequenzen im Bereich der autonomen Musik geführt (wobei diese Vorgänge, wie die Skizzen zeigen, ineinander verschränkt sind, also Teil eines unteilbaren Prozesses sind), wie umgekehrt das Schauspiel [und die Musik Arthur Honeggers] zum Claudel’schen Theaterstück kreative Spuren in Boulez Dialogue de l’ombre double hinterlassen haben. Zu diskutieren ist dabei später die Frage, ob die Verzweigungen wirklich zwischen beiden Werkgattungen hin- und herwandern und in einem offenen Wechselverhältnis stehen, oder nur in eine Richtung, oder ob schließlich insgesamt eine musikalische Super-Struktur, die hinter und über den beiden Genres und Kompositionsakten steht, dann jeweils aufgerufen und in eine konkrete Klangtextur übertragen wird. Dies ist im Gegensatz zu der möglichen Annahme und Praxis zu sehen, konkrete musikalische Satzzonen und Motivkomplexe jeweils unmittelbar vom einen Genre in das andere zu übernehmen, wie das mit einer Ausnahme in der Bühnenmusik von Darius Milhaud zu Paul Claudels Christophe Colomb der Fall ist (s. u.).

Rückblick vom heutigen, von Pierre Boulez dirigierten Opernrepertoire zurück auf die frühen 1950er Jahre Von heute aus gesehen, von den großen Erfolgen, die Pierre Boulez mit seinen Dirigaten der legendären Ring-Inszenierung von Patrice Chéreau in Bayreuth hatte, weiter mit seiner ebenso einzigartigen Zusammenarbeit mit Wieland Wagner,7 die auch in der musikalischen Interpretation durch Boulez zu einen vollkommen veränderten, weil leichtfüßigen/leichthändigen und doch präzisen Dirigier-Stil im Neu-Bayreuth führte und schließlich von seiner letzte Kooperation aus in Bayreuth mit Schlingensiefs Parsifal-Inszenierung (um einige seiner Theaterarbeiten zu nennen), scheint es allzu selbstverständlich zu sein, dass dies nur vor dem Hintergrund einer bereits langjährigen Theaterarbeit und Erfahrung mit dem Theater wie mit dem Musiktheater geschehen konnte. Zwar sind diese Voraussetzungen, die in Boulez’ Position als musikalischer Leiter der Theatertruppe der Compagnie Madeleine Renaud-Jean-Louis Barrault von 1946-1955 7

358

ZENCK, 2010b (vgl. insbesondere zu Wieland Wagner und Pierre Boulez und dessen neuen Bayreuther Dirigier-Stil die Seiten 81-98).

Pierre Boulez und seine Arbeiten für die Compagnie Renaud-Barrault

begründet liegen, heute als schlagwortartige Sachverhalte bekannt, nicht aber in ihrer Intensität und anhaltenden Beständigkeit, mit der sich Boulez in diesem Zeitraum die so umfassenden Theaterkenntnisse und Dirigierfähigkeiten erwarb. Gerade die so frühzeitige Erfahrung mit Bühnenmusiken der verschiedensten Art – von eigenen wie von anderen Komponisten – erbrachte die für die spätere Theaterarbeit in Bayreuth und in vielen anderen Opernhäusern der Welt so wichtige Einsicht in die Abstimmung von zeitlichen Ereignissen zwischen Theater und Musik, zwischen Szene und jeweiligen Bühnenmusik. Denn hier ZDUJHUDGHGDVEHVRQGHUH7LPLQJGLHVSH]LÀVFKH.RRUGLQDWLRQYRQ]HLWOLFKHQ Vorgängen auf der Bühne, den Gängen der Sänger und der Bewegungschoreographie der Ensembles, und dem Ablauf der Musik herzustellen. Ein Einblick in die von Boulez selbst komponierten wie in die von ihm eingerichteten und dirigierten Bühnenmusiken zeigt vom Partiturmaterial aus, wann und wie rasch etwa Vorhänge gezogen und fallen gelassen wurden, um darauf hin die Dauer der Musik präzise abzustimmen und je nach den Umbaupausen und anderen Funktionen die Intermedien und Verwandlungsmusiken zur musikalischen Aufführung zu bringen. Noch komplexer als diese zeitliche Übereinstimmung von szenischen Einheiten mit denjenigen der Musik war und ist die direkt herzustellende Koordination zwischen der Deklamation der Stimme eines Sängers oder eines Ensembles mit den Bewegungsvorgängen auf der Bühne, mit dem gestischen und szenographischen Bereich im umfassenden Sinn und vor allem eben die Abstimmung dieser Vorgänge mit der jeweils äußerst rhythmisch und präzise im Zeitverlauf vorangehenden Musik. Diese vollkommene Übereinstimmung zwischen Bühne und Orchestergraben, zwischen theatraler und musikalischer Szene war die wichtigste Voraussetzung einer erfolgreichen Aufführung. Bevor später auf einzelne und exemplarisch zu nennende Bühnenmusiken von Darius Milhaud, Arthur Honegger und von Pierre Boulez näher anhand von teilweise unveröffentlichten oder nur schwer zugängigen Materialien eingegangen wird, ist zunächst eine tabellarische Übersicht über die Produktion von Bühnenmusiken während Boulez’ Zeit in der Compagnie Renaud-Barrault zu geben. Sie wird ergänzt durch die Arbeiten, die Boulez später als externer Komponist der Compagnie schrieb, wie etwa die Bühnenmusik zur szenischen Adaption von Nietzsches Also sprach Zarathustra durch Jean-Louis Barrault für die Bühne im Jahre 1974.

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Martin Zenck

Das Repertoire der von Boulez eingerichteten, dirigierten und von ihm selbst komponierten Bühnenmusiken in der Compagnie Renaud-Barrault: Chronologie zwischen 1946-1955 und 1974 1) Saison 1946-1947 17.10.1946: Paris, Théâtre Marigny: représentation William Shakespeare: Hamlet Traduction d’André Gide Mis en scène de Jean-Louis Barrault. Décor de Balthus. Musique d’Arthur Honegger. Pierre Boulez (Ondes Martenot), Maurice Jarre (percussion) [„Musik. Eine Mischung von Live-Instrumenten und Bandaufnahmen. Lebendig wie der Schauspieler auf der Bühne: Boulez und Jarre begleiteten mit Ondes Martenot und Schlagzeug unser Spiel“8]

2) Saison 1947-1948 05.12.1947: Paris, Théâtre Marigny: représentation Molière: Amphitryon Scénographie et costumes: Christian Bérard Musique de scène : Francis Poulenc Mise en scène: Jean-Louis Barrault Boris Kochno: La Fontaine de Jouvenance, pantomime Musique de scène: Georges Auric Ensemble instrumental, Pierre Boulez 11.10.1947: Théâtre de Marigny Franz Kafka: Le Procès Szenische Adaption von André Gide und Jean-Louis Barrault Kostüme Felix Labisse [Musik im Hintergrund von und mit den Ondes Martenots mit Joseph Kosma und Pierre Boulez als Interpreten9]

8 9

360

BARRAULT, 1975, S. 207. BARRAULT, Erinnerungen, S. 213; vgl. auch den anderen Hinweis, den Jean-Louis Barrault gibt: „Le Procès [Kafka], traduction d’Alexandre Vialatte. Adaption à la scène d’André Gide et Jean-Louis Barrault. Decors et costumes de Félix Labisse. Fonds sonores de Joseph Kosma et Pierre Boulez. Mis en scène de Jean-Louis Barrault. Première représentation, le 11 octobre 1961 (reprise)“, in: BARRAULT/

Pierre Boulez und seine Arbeiten für die Compagnie Renaud-Barrault

3) Saison 1948-1949 28.10.1948: Paris, Théâtre Marigny: représentation (première) Albert Camus: L’état de siège Musique de scène: Arthur Honegger Décors et costumes: Balthus Mise en scène: Jean-Louis Barrault Ensemble instrumental, Pierre Boulez 17.12.1948: Paris, Théâtre Marigny: représentation Paul Claudel: Partage de midi Décors: Félix Labisse Costumes: Christian Bérard Musique de scène: Arthur Honegger Mise en scène: Jean-Louis Barrault Ensemble instrumental: Pierre Boulez 18.02.1949: Paris, Théâtre Marigny: représentation Marivaux: La seconde surprise de l’amour Scénographie et costumes: Maurice Brianchon Mise en scène: Jean-Louis Barrault Molière: Les fourberies de Scapin Scénographie et Costumes: Christian Bérard Musique de scène : Henri Sauget Mise en scène: Louise Jouvet Ensemble instrumental, Pierre Boulez

4) Saison 1949-1950 10.11.1949: Paris, Théâtre Marigny: représentation Ferdinand Brückner: Elisabeth d’Angleterre Traduction Renée Cave Scénographie et costumes: Lucien Coutaud Musique de scène: Elsa Barraine Mise en scène: Jean-Louis Barrault Ensemble instrumental, Pierre Boulez

BENMUSSA, 1965. Dort unter Kafka neben der Produktion von L’Amérique, d’après Max Brod. 361

Martin Zenck

Abbildung 1: Boulez im Orchestergraben im Théâtre Marigny im Jahr 1950 bei den Proben zur Bühnenmusik von Georges Auric zu Marcel Achards Marlborough s‘en va-t-en-guerre. 16.12.1949: Paris, Théâtre Marigny: représentation Paul Féval, Anicet Bourgeois: Le Bossu Musique de scène: Georges Auric Mise en scène: Jean-Louis Barrault Ensemble instrumental, Pierre Boulez 03.03.1950: Paris, Théâtre Marigny: représentation Marcel Achard: Marlborough s’en va-t-en-guerre Scénographie et costumes: Jean-Denis Maclés Musique de scène: Georges Auric10 Georges Feydeau: On purge bébé Mise en scène: Jean-Louis Barrault Ensemble instrumental, Pierre Boulez 10

362

Für die Produktion dieses Stückes in der Compagnie liegt in der PSS Sammlung-Pierre-Boulez, Mappe A, Dossier 2e,2 etwas Notenmaterial auf.

Pierre Boulez und seine Arbeiten für die Compagnie Renaud-Barrault 1950 Paris: Paul Claudel : Tête d’or. 2ième version. Mis en scène de Jean-Louis Barrault. André Masson: Décors et costumes Musique: Arthur Honegger. Adaption scènique de Pierre Boulez [1953, Barrault11; vgl. dazu ausführlich weiter unten im Text]

5) Saison 1950-1951 [keine Angaben]

6) Saison 1951-1952 14.12.1951: Paris, Théâtre Marigny: représentation (1/) Alfred de Musset: On ne badine pas avec l’amour Décors et costumes: Jean-Denis Malclés Musique de scène: Arthur Honegger Mise en scène: Jean-Louis Barrault Paul Claudel: L’Echange Décors et costumes: Georges Whakévitch Mise en scène: Jean-Louis Barrault Ensemble instrumental, Pierre Boulez

7) Saison 1952-1953 29.10.1952: Montréal, Théâtre Her Majesty’s: représentation Jean-Louis Barrault: Connaissance de Paul Claudel (Fragments, Extraits de L’échange, Partage de midi, Le soulier de satin) Compagnie Renaud-Barrault Pierre Boulez (piano) 02.11.1952: Ottawa: représentation Jules Superville: Les Suites d’une course, pantomime Musique: Henri Sauget Compagnie Renaud-Barrault Ensemble Instrumental, Pierre Boulez

11

BARRAULT, 1975, S. 234f. 363

Martin Zenck 07.11.1952: New York, Ziegfeld Theatre: représentation Franz Kafka: Le Procès Adaption: André Gide Décors et costumes: Felix Labisse Mise en scène: Jean-Louis Barrault 21.05.1953: Bordeaux, Festival de Bordeaux [ou le 22.5.53] Paul Claudel: Christophe Colomb (création) Musique de scène: Darius Milhaud Mise en scène: Jean-Louis Barrault Décors et costumes: Max Ingrand, Marie-Hélène Dasté Compagnie Renaud-Barrault Chœur et Orchestre, Pierre Boulez

8) Saison 1953-54 03.10.1953: Paris, Théâtre Marigny Paul Claudel: Christophe Colomb Mise en scène de Jean-Louis Barrault Décors et costumes de Max Ingrand Costumes: avec la collaboration de Marie-Hélène Dasté Musique: Darius Milhaud Chœur et Orchestre: Pierre Boulez12 30.01.1954: Paris, Théâtre Marigny, Petite Salle: représentation (première) Georges Schéhadé: La soirée des proverbes Musique de scène: Maurice Ohana Compagnie Renaud-Barrault Ensemble instrumental, Pierre Boulez 19.05.1954: Rio de Janeiro Anton Tchékov: La Cerisiaie Adaption de Georges Neveux Mis en scène de Jean-Louis Barrault Décors et costumes de Georges Wakhévitch 12 Vgl. Erinnerungen für morgen von BARRAULT, S. 238: Hinweis auf das Dirigat von Boulez] weiterer Hinweis bei BARRAULT, S. 275 am 14. Juli 1954 in Buenos Aires Claudels Christophe Colomb, Boulez schlägt den Takt; vgl. dazu ausführlich weiter unten im Text. 364

Pierre Boulez und seine Arbeiten für die Compagnie Renaud-Barrault Musique de scène Tschaikovsky (aus Schwanensee) Adaption scènique: Pierre Boulez Ensemble instrumental, Pierre Boulez [auch Rio de Janeiro, 20. Mai 1954 et Reprise à Paris, Théâtre Marigny, 8 Octobre 1954 [Dirigat und Einrichtung der szenischen Musik von Pierre Boulez13] 1953/54: Süd-Amerika-Reise mit Claudels Le soulier de Satin. Bühnenbild: Felix Labisse Musik: Arthur Honegger14 Dirigent: Pierre Boulez Wiederaufnahme am 21. Oktober 1963

9) Saison 1954-55 26.02.1955: Paris, Théâtre Marigny: matinée Ben Johnson: Volpone Traduction et adaption: Jules Romains, en colloboration avec Stefan Zweig Musique de scène: Georges Auric [le programme ne mentionne pas ni orchestre ni chef] Décors et costumes: André Barsacq Compagnie Renaud-Barrault 02.04.1955: Paris,Théâtre Marigny: matinée Jean Giraudoux: Intermezzo Musique de scène: Francis Poulenc [le programme ne mentionne ni orchestre ni chef] Décors et costumes: Maurice Brianchon Compagnie Renaud-Barrault 26.05.1955: Bordeaux, Festival de Bordeaux: représentation Eschyle: L’Orestie [premières sans Les Eumenides] Traduction et adaptation: André Obey 13

14

Vgl. dazu die ausführlichen Hinweise bei STEINEGGER, 2012, S.373; bei dem Arrangement von Boulez entstand eine Partitur mit 26 Seiten für ein kleines Kammermusik-Ensemble. Die Partitur liegt in der BNF im Fonds Renaud-Barrault. Von dieser szenischen Musik gibt es eine Aufnahme, die Steinegger auf S. 373 nachweist. BARRAULT, S. 268. 365

Martin Zenck Mise en scène: Jean-Louis Barrault Décors et costumes: Felix Labisse Musique de scène: Pierre Boulez Compagnie Renaud-Barrault Chœur et Orchestre, Pierre Boulez

10) Saison 1955-1956 06.10.1955: Paris, Théâtre Marigny: représentation Eschyle’s Trilogy: L’Orestie (Agamemnon, Les Choéphores, Les Euménides) Adaption d’André Obey [nach der Übersetzung und den Kommentaren des Gräzisten Paul Mazon] Mis en scène de Jean-Louis Barrault Décors des Felix Labisse. Costumes de Marie-Hélène Dasté Masques d’Amleto Sartori et Petrus Bride Musique: Pierre Boulez Wiederaufnahme der Produktion am 04.01.1962 07.12.1955: Paris, Théâtre Marigny: dernière répétition (couturière) Lope de Vega: Le chien du jardinier Traduction: Georges Neveux Musique de scène: Thèmes espagnols adaptés par Pierre Boulez Décors et costumes: Jean-Denis Malclès Jules Supervielle: Les suites d’une course Musique de scène: Henri Sauget [le programme ne mentionne pas ni orchestre ni chef] Compagnie Renaud-Barrault Ensemble instrumental, Pierre Boulez [Mit der 10. Saison endete die Tätigkeit von Pierre Boulez als musikalischer Leiter der Compagnie Madeleine Renaud-Jean-Louis Barrault. Es gab jedoch danach Wiederaufnahmen sowohl der von ihm adaptierten szenischen Musiken, als auch der von ihm komponierten Musiken sowie eine neu komponierte Bühnenmusik im Jahre 1974.] 19.12.1958: Paris, Théâtre du Palais Royal : représentation (première) Paul Claudel: Le soulier de satin Musique de scène: Arthur Honegger Décors et costumes: André Masson 366

Pierre Boulez und seine Arbeiten für die Compagnie Renaud-Barrault Mise en scène: Jean-Louis Barrault Compagnie Renaud-Barrault

11) Saison 1959-1960 21.10.1959: Paris, Théâtre de l’Odéon: inauguration Paul Claudel: Tête d’Or Musique: Arthur Honegger, arrangée par Pierre Boulez Décors et costumes: André Masson Mise en scène Jean-Louis Barrault Compagnie Renaud-Barrault Ensemble instrumental, Pierre Boulez [Boulez bearbeitete die unvollendete Partitur von Honeggers Bühnenmusik zu Tête d’or (Goldhaupt) und führte sie zu Ende. UA und Premiere am 21. Oktober 1959 unter der Schirmherrschaft von Charles de Gaulles); vgl. dazu ausführlich weiter unten im Text]. Der andere Hinweis: „Musique d’Arthur Honegger, partition scènique de Pierre Boulez“, erste Aufführung am 21. Oktober1959.15] 22.11.1961: Paris, Théâtre de l’Odéon: représentation Eschyle: L’Orestie (reprise) Traduction et adaption: Andrey Obey Décors et costumes: Félix Labisse Musique de scène: Pierre Boulez Mise en scène: Jean-Louis Barrault Compagnie Renaud-Barault Ensemble Instrumental, André Girard 29.11.1963: Paris, Théâtre National de l’Opéra: représentation (1/10) Alban Berg, Wozzeck. Mis en scène de Jean-Louis Barrault. Direction d’orchestre: Pierre Boulez. Décors d’André Masson. Paris Théâtre de l’Opéra. 1967: Oper Frankfurt: Alban Berg, Wozzeck Inszenierung Wieland Wagner

15

Siehe Anm. 9. 367

Martin Zenck Dirigent Pierre Boulez16 05.11.1974: Paris, Théâtre d’Orsay Nietzsche: Ainsi parlait Zarathoustra Adaption et mis en scène de Jean-Louis Barrault Traduction de Georges-Arthur Goldschmidt Musique de Pierre Boulez17 Décor et costumes de Matias, Paris, Théâtre d’Orsay, 5 novembre 197418

Exemplarische Analyse von drei Bühnenmusiken zu Paul Claudels Christophe Colomb von Darius Milhaud, zu Claudels Tête d’Or und Le soulier de satin von Arthur Honegger unter der Beteiligung von Pierre Boulez Von besonderer Bedeutung bei diesem thematischen Aspekt ist der triftige, für die Theaterarbeit so wesentliche Hinweis auf die Unterscheidung zwischen Bühnenmusik und Oper. Ganz unmissverständlich hat dies Darius Milhaud vermerkt, für den es im Falle seiner Bühnenmusik zu Paul Claudel’s Theaterstück Christophe Colomb ein leichtes gewesen wäre, wenigstens in Ausschnitten auf seine frühere Oper zum gleichnamigen Bühnenwerk von Claudel zurück zu greifen. Milhaud betont den Sachverhalt, dass es sich bei der einstündigen Bühnenmusik ausschließlich um neu komponierte Musik handelt, ohne jeglichen Rückgriff auf die Musik seiner Oper Christophe Colomb, von einer Ausnahme abgesehen. Ausführlich heißt es im originalen Zitat Milhauds: „Cette Partition [der Bühnenmusik zum Christophe Colomb] que comprend près d’une heure de musique n’utilise aucun élément de CHRISTOPHE COLOMB Opéra, car je m’étais fait un règle d’écrire une musique absoluement nouvelle, de manière à éviter qu’elle parut être une reduction, un amoindrissement de l’oeuvre lyrique. Néamoins, je dois signaler une toute petite exception: Claudel se souvient d’un mouvement de tierces dans la phrase musicale

16

17 18

368

Wiederaufnahme nach dem Tod Wieland Wagners 1968; dazu wegen der nicht zugestandenen Proben zur Wiederaufnahme: das Spiegel-Interview Sprengt die Opernhäuser in die Luft, in: Der Spiegel, Nr. 40, 1967, S. 166-171. Skizzen und Partitur in der Paul Sacher Stiftung Basel Audiovisuel : Extrait de Ainsi parlait Zarathosutra. « Entracte ». INA (1ière chaîne), 1974. Vgl. dazu auch Martin Zenck, Angabe unter Fußnote 35]

Pierre Boulez und seine Arbeiten für die Compagnie Renaud-Barrault TXLHDFFRPSDJQHÄODFRORPEHDXGHVVXVGHODPHU·,OPHÀWGHPDQGHUSDU Jean-Louis BARRAULT de l’utiliser. Ma nouvelle partition était déjà presque terminée, mais je pus surajouter en contrepoint en divers endroits (donc sur un fond de musique complétement différent) la citation souhaitée, par mon illustre collaborateur. L’immense lyrisme, le côté profondément humain et religieux du drame ouvraient au musicien un champ d’expression illimité auquel je me consacrai de tout on Coeur. C’est à ma longue collaboration avec CLAUDEL que je dois certaines de plus belles executions de mes œuvres auxquelles j’ai eu la possibilité d’assister, la perfection.“19

Damit hat der Komponist zwischen den Gattungen der Bühnenmusik und der Oper unterschieden, auch indirekt auf die im 20. Jahrhundert weit verbreitete Praxis hingewiesen, etwa aus den jeweiligen Opernwerken die eher symphonisch konzipierten Sätze heraus zu ziehen und sie wie im Falle der Wozzeck-Fragmente und der Lulu-Suite als autonome Musik aufzuführen. Diese wiederum wären dazu geeignet, im Gegensinn des oben zitierten Standpunkts von Milhaud die veränderte Grundlage für eine Bühnenmusik zu diesen Stücken abzugeben (man stelle sich demnach sinnvoller Weise eine Aufführung der Schauspiele Büchners und Wedekinds vor, in denen dann an den entsprechenden Schnittstellen die jeweiligen Partien aus den Wozzeck-Fragmenten und aus der Lulu-Suite gespielt würden). Für Milhaud dagegen gilt die strikte Differenz sowohl zwischen Bühnenmusik und Oper, als auch zwischen Oper und Symphonik. Von der Bühnenmusik Milhauds zum Theaterstück des Christophe ColombYRQ3DXO&ODXGHOH[LVWLHUWHLQHlX‰HUVWVHOWHQDXI]XÀQGHQGHDOWH6FKDOOplatte,20 in dem ausdrücklich das Dirigat von Pierre Boulez der Bühnenmusik Milhauds erwähnt wird. Nie konnte ich mir früher vorstellen, dass zwischen dem intransigenten Avantgarde-Komponisten Pierre Boulez und der älteren Generation seiner komponierenden, französischen, doch eher legeren Kollegen ein so enger, freundschaftlicher und enthusiastischer Kontakt bestand wie zwischen ihm und Milhaud und, wie wir später sehen werden, auch und vor allem mit Arthur Honegger. Dass diese so enge Beziehung wesentlich auf der wechselsei-

19 20

Vgl. den Text auf der Schallplatte mit der Angabe unter Fußnote 13. Diese Schallplatte liegt in der Paul Sacher Stiftung in der Sammlung „Darius Milhaud“ unter der Signatur PSS 80 – 1067 auf. Es handelt sich um zwei Schallplatten, die in den 1950er Jahren bei Decca in Mono unter dem Titel Darius Milhaud, Christophe Colomb erschienen sind – Présentation de L’oeuvre: Paul Claudel et Jean-Louis Barrault, […]Pierre Boulez (Dir.). 369

Martin Zenck

tigen Begeisterung für den Dichter Paul Claudel beruhte, versteht sich dabei am Rande von selbst.21 Über die Produktion des Christophe Colombe berichtet Jean-Louis Barrault in einem Paul Claudel gewidmeten Sonderheft in seinem Beitrag Un Claudel vivant folgendes: „Ma mise en scène fut couchée sur le papier. Milhaud, sa musique terminée, OD FRQÀD j %RXOH] /H MRXU RIÀFLDO GH OD OHFWXUH DUULYD (OOH HVW OLHX FKH] Simone Volterra à Neuilly. Boulez était au piano, entouré de deux chanteurs. Claudel était sous notre nez. La famille Claudel était là, ainsi que la troupe et notre hôtesse. Je leur jouai le spectacle, aide par Boulez et ses acolyte.“22

Eine besondere Beachtung mag hier die Zusammenarbeit zwischen Arthur Honegger und Pierre Boulez hinsichtlich der Produktion der Bühnenmusik zu Paul Claudels Theaterstück Le Tête d’Or und abschließend in diesem Textteil der künstlerische Zusammenhang mit Claudes Theaterstück Le soulier de satin ÀQGHQ,QGHU6DPPOXQJ3LHUUH%RXOH]OLHJWXQWHUGHU5XEULN2. Manuskripte anderer Komponisten folgender Titel auf: „Honegger, Arthur/Boulez, Pierre – Tête d’Or (Bearb.). Partitur von Honeggers Bühnenmusik zu Claudels „Tête d’or in den Editions Salabert“. In diese handgeschriebene Partitur von Honegger hat sich Boulez als Dirigent der Aufführung Einzeichnungen und Korrekturen gemacht, welche die Instrumentierung und Striche (teilweise umfangreiche) markieren, auch mit dem Hinweis auf direkte Anschlüsse zwischen Szene und Musik bei den Interludes. Auch sind zur besseren und leichteren Orientierung für seine Dirigate Textstichworte eingetragen, je nach Szene mit den Anfangsworten im Französischen. Die Szenen oder Teilszenen sind durchnum21

22

370

Auf der fraglichen Schallplatte wird Folgendes vermerkt : [Bühnenmusik von Darius Milhaud, dirigiert von Pierre Boulez, zu Paul Claudels Christophe Colomb] avec la Compagnie Madeleine Renaud – Jean-Louis Barrault. Présentation de l’œuvre: Paul Claudel et Jean-Louis Barrault [mit den Rollen des Christophe Colombe mit Jean-Louis Barrault (Titelrolle) und Isabelle la Catholique mit Madeleine Renaud und u. a. der Rolle des „L’explicateur“ mit Pierre Bertin. Unten auf der Rückseite der Doppel-Schallplatte]: „Orchestre sous la Direction de Pierre BOULEZ. Réalisation Artistique: MAX de RIEUX auf Decca. FMT 133501/02 Made in France.“ Barrault, Jean-Louis, Un Claudel vivant, in: „De Tête d’Or“ au „Soulier de Satin“. Claudel, Aujourd’hui. Cahiers Renaud - Barrault, Décembre 1958 – Octobre 1963, 25bis, S. 15.

Pierre Boulez und seine Arbeiten für die Compagnie Renaud-Barrault

meriert von 1-27 (diese sind per Seitenzahl direkt auf die jeweilige Situation des Schauspiels, d. h. auf die Seite der Textfassung Claudels bezogen, auch auf die Vorhänge, wenn sie aufgezogen werden oder auch fallen, um mit der Musik eine Übereinstimmung zu erreichen: etwa Ende oder Beginn mit fallendem oder gezogenem Vorhang). Die Partitur hat einen Gesamtumfang von 60 Seiten. Sie umfasst Solopartien (etwa für die Solo-Flöte), kammermusikalisch sehr transparente Partien bis hin zum vollen Orchestersatz, der vor allem in raschen 6lW]HQ KlXÀJ PRQRUK\WKPLVFKRVWLQDWRKDIW EHVWLPPWH 9HUOlXIH YHU]HLFKQHW (Sechzehntelbewegungen im Streichersatz in Parallelbewegung) mit pointierWHQ%OHFKEOlVHUHLQZUIHQPLWNXU]HQVLJQLÀNDQWHQ0RWLYHQ'DJHJHQVLQGGLH langsamen Sätze wie die Nr. 19 zu „Cet enfant mort! ma gloire future!“ T. 309ff von durchgezogenen Horizontal-Linien bestimmt, in die Pedalklänge eingezogen sind, so dass eine Equilibristik zwischen den verschiedenen Stimmgattungen erreicht wird. Insgesamt entsteht eine fein ausgehörte, ausgesparte Musik, die sowohl für sich stehen und bestehen kann als auch durchaus zugeordnet erscheint zu einer Szene, ohne diese nur zu illustrieren. Wie im Falle der von Boulez dirigierten Bühnenmusik zum Schauspiel Christophe Colomb existiert auch hier eine alte Schallplatte23 in der Paul Sacher Stiftung. Neben der unten zu besprechenden Schallplatte und Partitur zum Tête d’Or ist es wichtig, ein bedeutendes Dokument für die Verehrung Honeggers durch Boulez zu nennen. Mehr als bewegend ist der Nachruf von Boulez auf Honegger, den er zunächst handschriftlich verfasste24 und der dann in den Cahiers de la Compagnie Madeleine Renaud-Jean-Louis Barrault erschien: „Honegger disparaît; avec lui s’efface l’initiation de notre jeunesse à la musique contemporaine. Sous ces auspices, en 1943, nous découvrions l’honnêteté, la sûreté du métier, la volonté de grandeur. Inquiet devant les questions que formule une nouvelle génération, il s’ingéniait à recouper cette angoisse avec sa propre expérience. Sa bienveillance, d’autre part ne lui permettait pas de se laisser rebuter par les découvertes nouvelles./Antigone, Horace Victorieux, La Symphonie pour Cordes, c’est par là que nous avons commencé un 23

24

Paul Claudel, Tête d’Or: Extraits/Paul Claudel; musique d’Arthur Honegger; adaption scénique de Pierre Boulez; Paris: Vega [1960?] 1 Schallplatte: mono. (Série spéciale). Aufnahme: Paris, Théâtre de France, 1959. Dieser Nachruf in französischer Sprache ist in der handschriftlichen Fassung in GHU3DXO6DFKHU6WLIWXQJ%DVHOXQWHUGHU6LJQDWXU²YHUÀOPWHUHUVFKLHQ dann in den Cahiers de la Compagnie Madeleine-Renaud – Jean-Louis Barrault, 15 (1956) unter IV ohne Seitenzählung. 371

Martin Zenck périple fertile en surprises./Que Honegger soit remercié de nous avoir donné/ le gôut de l’aventure.”25

(LQ]LJDUWLJLVWGLHEHUHLWVHUZlKQWHLQGHU3DXO6DFKHU6WLIWXQJ]X%DVHODXÁLHgende Schallplatte26 mit der Bühnenmusik Honeggers zum Tête d’Or von Paul Claudel, nicht zuletzt wegen der szenischen Adaption, die Boulez für die entsprechende Aufführung besorgte.27 ,P%RRNOHW]XGLHVHU6FKDOOSODWWHÀQGHWVLFKHLQ9RUWUDJYRP0DL abgedruckt, den Paul Claudel im Théâtre de Gymnase hielt. Dieser Text sei hier wiedergegeben, unterrichtet er uns doch in sehr konziser Form über die dramatische Intention des von ihm verfassten Theaterstücks „Tête d’or“, zu dem dann Arthur Honegger viel später seine Bühnenmusik komponierte. „TÊTE D’OR est le drame de la possession de la Terre. Dans un pays dont il m’a paru inutile de préciser le nom, un aventurier s’empare du pouvoir suprême que les faibles mains d’un monarque caduc laissent échapper. Il le WXHFKDVVHVDÀOOHOD3ULQFHVVHTXLV·HQYDHUUDQWHWPHQGLFDQWVXUOHVURXWHV de l’exil. Domptant l’émeute, il s’est saisi de toute l’Europe divisée et affaible avec autant de facilité qu’Alexandre jadis, de l’Empire de Perse à son décline, et voilà qu’il s’enfonce vers l’antique Asie dans son armée, en proie à une panique se débande. Tête d’Or tombe, couvert de blessures. Sa mort a du moins rallié les fuyards qui, lerus adversaries disperses, reprennent la route de l’occident. A sa demande, on abandonne Tête d’Or sue une espèce de trône dispose en face du soleil couchant; c’est là qu’il va mourir et déjà la nuit descend sur ses yeux quand il entend une plainte. C’est la princesse errante qu’un VROGDW GpVHUWHXU D FUXFLÀpH DX[ EUDQFKHV G·XQ JUDQG VDSLQ (W 7rWH G·2U D repris la force de se reveller. Il la cherche, il la trouve, il arrache avec ses dents les clous qui la tiennent attachée, il tombe et c’est elle à son tour qui de ses mains blesses le reporte sur son lit funèbre. C’est là qu’entre ces deux débris de l’effort humain brisé et de la monarchie déchue, s’engage le suprême dialogue…” [Text von Claudel auf der Rückseite der Schallplatte. Dort auch die 25 26 27

372

Siehe Anm. 16. Vgl. Anm. 17. Die genauen Angaben lauten wie folgt: Odéon. Théâtre de France. Claudel. Tête d’Or. Extraits. Musique de Arthur Honegger. Adaption scénique de Pierre Boulez. Direction: André Girard. ,Tête d’Or‘ a été présentée au Théâtre de France le 21 Octobre 1959 dans la mise en scène de Jean Louis-Barrault. Décors et costumes de André Masson auf Vega T 31 Sp 8001.

Pierre Boulez und seine Arbeiten für die Compagnie Renaud-Barrault Rollen der Besetzung: Simon Agnel – Tête d’Or: Alain Cuny; Cébès: Laurent Terzieff; Le Roi: Jean-Louis Barrault; La Princesse: Catherine Sellers].

Zum Schluss dieses Kapitels sei auf ein anderes Bühnenwerk von Claudel mit der Bühnenmusik von Arthur Honegger eingegangen. Wie wir sehen und hören werden, reicht es in seiner Bedeutung weit über den Bereich angewandter Musik hinaus, um dann viel später bei Pierre Boulez zu einer autonom komponierten Musik zu führen, die ihrerseits wiederum auf einer anderen Ebene als eine Art von Bühnenmusik zu einer Szene aus Paul Claudels Le soulier de satin verstanden werden kann. Zunächst hat Honegger nicht nur die Bühnenmusik zum ganzen Theaterstück des Soulier de satin (Der seidene Schuh) geschrieben, sondern vor allem, wohl folgenreich für Boulez, zur 13. Szene mit dem Titel L’ombre double. Vielleicht ist nicht nur aus dieser so ambivalenten Todes-Szene zunächst nur Honeggers Bühnenmusik entstanden, sondern auch, wenn auch viel später, Boulez’ live-elektronisches Stück für Solo-Klarinette und Zuspielband einer zweiten Klarinette mit dem Titel Dialogue de l’ombre double. Es ist also ein Zwiegespräch mit dieser Szene Claudels und eine mit der musikalischen Szene Honeggers. Zu den wichtigen Bühnenmusiken von Arthur Honegger gibt es zwei bedeutende Studien, auf die hier kurz eingegangen wird, weil sie folgenreich für das Verständnis von Honeggers Auffassung von Bühnenmusik und für Boulez’ Bearbeitung der szenischen Musik Honeggers zum Soulier de satin sind. Über Honeggers Konzeption einer incidental music thematisiert Huguette Clamed auch den Soulier de satinÅ'HU.RPSRQLVW>+RQHJJHU@QDKPKlXÀJ%H]XJDXIGLH Anweisungen, welcher der Dichter ihm gegeben hatte. Hinsichtlich des Werkes Der seidene Schuh schrieb Claudel: ‚Es ist ein eindeutiges Rezept, bei dem der Komponist nur noch sein Süppchen kochen muß, also die Partitur schreiben.‘“28 Und über die enge Zusammenarbeit zwischen dem Dichter Claudel und dem Komponisten Honegger, auch über die Musik, vor allem zum Le soulier de satin, berichtet Clamed anhand eines Textes mit dem Titel Paul Claudel, créateur musical, XXième Siècle, 1 Avril 1946: „A l’encontre de beaucoup de littératures, Paul Claudel manifeste un grand intérêt pour ce qui touché le domaine de la musique. On aurait tort de la juger sur certaines indications un peu désinvoltes comme celles qui on trait à la musique du „Soulier de satin.“29 Eine erste genauere Beschreibung zu Honeggers Bühnenmusik zum Les soulier de satin ÀQGHW VLFK LQ HLQHU +RQHJJHU JHZLGPHWHQ 6WXGLH YRQ +DUU\ 28 29

CLAMED, 2007, S. 85 CLAUDEL-ZITAT NACH CLAMED, 1992, S. 245. 373

Martin Zenck

Halbreich. Dort sind die Bühnenmusiken dieses Komponisten ausführlich charakterisiert. Im kommentierten Werkverzeichnis heißt es unter der Nr. 165: „Incidental Music for Paul Claudel’s play. March 1943, conducted by André Jolivet, Comédie-Française, Paris. Performing forces: soprano, baritone, chorus – clarinet, trumpet-percussion….ondes Martinot, piano-strings. Duration of music: very hard to estimate, because the pieces are very short and not musically autonomous, with only two of them (Nos. 15 and 16) lasting more than two minutes. In all, twenty three pieces, of which the longest are: Ouverture, 5. Rumba of Chorus), 15. The Double Shadow (with Soprano and baritone); The Moon; Salabert. ,The Double Shadow‘ (3 Minutes) – which suggested to Pierre Boulez the title of one of his recent works – are almost the only pieces that might be played outside their original context.“30

Hier ist einmal Honeggers Bühnenmusik, vor allem zur 13. Szene des doppelten Schatten (L’ombre double), ausgezeichnet in ihrer kompositorischen Qualität, wodurch sie auch für sich unabhängig von der Aufführung des Claudel’schen Bühnenstücks gespielt werden könne, zum anderen der nicht genauer angegebene Hinweis auf ein neueres Werk von Pierre Boulez, das, wie wir bereits sahen, unter dem Titel Dialogue de l’ombre double (1985) einen Dialog sowohl mit Claudels Szene darstellt, als auch wahrscheinlich mit der entsprechenden Musik Honeggers, die Boulez gut von seinen Dirigaten her kannte (vgl. Süd-Amerika-Reise von 1953/54 auch mit diesem Stück Claudels mit der Bühnenmusik von Honegger). Diese 13. Szene im zweiten Akt hat eine besondere Bedeutung. Dort wird ein Zustandsbild einer Frau und eines Mannes als Schatten auf eine Leinwand projiziert. Zu diesem Bild spricht vor der Leinwand eine Stimme, welche die des Mondes ist. Wenn die Szene vorüber ist, bleibt nur noch eine vollkommen bedeutungslose Palme von der nächtlichen Szene übrig. Doch was sich in ihr vollzieht, kann als geheimnisvoll bezeichnet werden. Auf der Leinwand erscheinen Frau und Mann, genauer deren Schatten, die so ineiQDQGHUYHUÁLH‰HQGDVVVLHVLFKJHJHQVHLWLJO|VFKHQGKVLFKLKUHUMHZHLOLJHQ Identität berauben. Deswegen die Anklage der Privation, weil einer des anderen Schatten geraubt hat und – was viel schlimmer ist – auch die Figur, die hinter dem Schatten steht, womit im Gegensatz zum Totenreich, wo die Schatten auch immer auf eine Person des Lebens verweisen (zumindest in der Oper, etwa des Orfeo von Monteverdi), hier in keinerlei Weise das Abbild auf das Urbild zurückgeführt werden kann. Wie wir sehen werden, hat die schmerzliche Schnitt30 374

HALBREICH 1999, S. 509.

Pierre Boulez und seine Arbeiten für die Compagnie Renaud-Barrault

stelle, wo über Identität und Differenz oder deren Mangel entschieden wird, bei Pierre Boulez eine besondere Bedeutung. Es ist nun für unseren thematischen Kontext, der auch vor allem den Transfer zwischen angewandter und autonomer Musik und umgekehrt betrifft, äußerst aufschlussreich, auf den Dialogue de l’ombre double von Pierre Boulez wenigstens kurz einzugehen. An anderer Stelle31 habe ich darüber ausführlich gehandelt, ohne damals explizit zu wissen, dass Boulez sich nicht nur auf die 13. Szene aus Claudels Bühnenstück bezogen hat, sondern auch vermutlich auf die so einmalige Bühnenmusik von Honegger, die er selbst mehrmals dirigiert hatte. Es gibt damit zwischen der angewandten, auf die 13. Szene bezogene Bühnenmusik Honeggers und der zunächst autonom erscheinenden Musik von Boulez zu dieser Szene Claudels nicht nur das angesprochene doppelte Dialogverhältnis (also auch hier ein Double) mit Claudel und Honegger, sondern darüber hinaus eine eigenständige Auseinandersetzung von Boulez mit dieser so außerordentlichen Szene des doppelten Schatten bei Claudel. Dies führt den Komponisten zum einen dazu, sich mit diesem doppelten Kontext auseinanderzusetzen, zum anderen in der auch eigenständigen musikalischen Konzeptualisierung dieser Szene zugleich zu einer Musik zu gelangen, die nicht nur eigenen musikalischen Gesetzen folgt, sondern ihrerseits zu einer szenischen Musik wird. Boulez folgt zunächst schon von der Besetzung mit einer live spielenden Klarinette und einer auf Band aufgenommenen Klarinettenstimme dem Prinzip eines Doubles, bei dem die eine Stimme auf die andere und umgekehrt abfärbt und dies nicht zuOHW]WGXUFKGDV9HUIDKUHQHLQHUVSH]LÀVFKHQOLYHHOHNWURQLVFKHQ9HUUlXPOLFKXQJ (Spatialisation durch das von Andrew Gerzo erfundene Verfahren im Ircam am Centre Pompidou in Paris). Dabei treffen nicht nur der Klang der Live-Klarinette und des Zuspielbandes aufeinander, sondern letzteres wird verlebendigt eben durch die Projektion des Zuspielbandes in den musikalischen Raum mit unterschiedlichem Accelerando und Delay, mit verschiedenen Intensitätsgraden der Dynamik: Die Klarinettenstimme des Zuspielbandes wandert also durch den musikalischen Raum, tastet ihn ab. Damit nähern sich die beiden Stimmen, die live gespielte und die zugespielte, aneinander an, bis sie an einer Schnittstelle zusammenprallen, wodurch die Technik des Doubles eben nicht mehr Original XQG$EELOGWUHQQWVRQGHUQGLH)LJXUHQLQHLQDQGHUYHUÁLH‰HQDOVRPLWGHP'RXble Differenz und Identität setzen. Kein Zufall dürfte es deswegen sein, dass dieses Stück von Boulez mehrfach choreographiert wurde: von Maurice Béjart und der Gruppe Bartabas: „Tryptik“, um das Verhältnis von Original und Double auf der Tanzszene darzustellen. 31

Vgl. ZENCK, 2009, S. 135-156. 375

Martin Zenck

Die Bühnenmusik von Pierre Boulez zur Orestie Es ist nun für die Kooperation zwischen Pierre Boulez als musikalischem Leiter der Compagnie Renaud-Barrault nur zwingend, dass sich mit zunehmender Erfahrung in der szenischen Adaption und dem Dirigat von Bühnenmusiken anderer Komponisten der Plan einstellte, dass Boulez nun selbst im Jahr 1954/55 von Jean-Louis Barrault damit beauftragt wurde, eigene Bühnenmusiken, wie vor allem zunächst zur Trilogie der Orestie zu schreiben. Wie im Falle der Zusammenarbeit zwischen Claudel und Honegger, welche die musikalischen Vorstellungen des Dichters zu einer bestimmten Szene betrafen, so gab auch der Regisseur Barrault vor dem Hintergrund seiner intensiven Antiken-Studien (zur Maske, Metrik und dem Schauspiel des Aischylos) dem Komponisten Boulez unmittelbar musikalische Anweisungen zur betreffenden Szene, wie er sich eine entsprechende Musik vorstellte. Von Barrault gibt es handschriftliche Eintragungen in die Übersetzungen von Paul Mazon und Andrey Obey mit der direkt von ihm gewünschten szenischen Musik, so dass der Komponist nur noch das umzusetzen hatte, was sich der Regisseur ausdrücklich an szenischer Musik vorstellte. Diese betraf nicht nur die Intermedien und Verwandlungen, sondern neben atmosphärisch gehaltenen Introduktionen zur einzelnen Szene auch und vor allem die rhythmisierte Rezitation der Sprechpartien, den Sprechgesang eingeschlossen sowie schließlich und in der Hauptsache ganze durchkomponierte Szenen mit den Partien der Singstimmen, vor allem der Cassandre und des Chores. Wie die Abbildung der von der BNF hergestellten Synopsis unten zur Musik von Pierre Boulez zur Trilogie des Aischylos zeigt, sind die Szenen im einzelnen genau je nach der Seite im 174-seitigen Manuskript der Schauspielmusik angegeben.32 Es handelt sich insgesamt um eine einstündige Bühnenmusik, die im Umfang und in der Proportion mit der Aufführung des gesamten Theaterstücks vergleichbar ist mit Darius Milhauds Musik zum Christophe Colomb, welche auch eine Stunde dauert und damit in etwa ein Viertel der Gesamtzeit der Theateraufführung für sich beansprucht. 32

376

Es ist bereits hier darauf hinzuweisen, dass das Aufführungsmaterial, die Aufführungspartitur sowie die Skizzen zu diesem Werk in der PSS, Sammlung-Pierre-Boulez, (Mappe G, Dossier 1d, 1) um vieles vollständiger sind als in der BNF, deswegen auch die unterschiedlichen Paginierungen. Die geringere Seitenanzahl von 158 Seiten in der PSS gegenüber der Fassung der BNF erklärt sich damit, dass bei einzelnen Szenen, um die einheitliche Geschlossenheit zu demonstrieren, die jeweilige Seite nochmals in eine alphabetische Abfolge wie 127a, b, c, d, etc. untergliedert wurde.

Pierre Boulez und seine Arbeiten für die Compagnie Renaud-Barrault

Pierre Boulez L’Orestie Ms Fonds Renaud-Barrault. BNF de l’Arsenal und Copie in der PSS , Mappe G, Dossier 1d,1 I. Agamemnon Ouverture/scène du veilleur Choeur A Choeur B Choeur suivants Choeur C Entrée d’Agamemnon Entrée Clytemnestre à l’arrivée d’Agamemnon Choeur D Scène Cassandre. Première partie &DVVDQGUH´-HWHGLVTXHWXYDVYRLUODÀQG·$JDPHPQRQ Mélodrame Coryphée. Après scène de Cassandre Scène L´Clytemnestre Fin

p. 1 p. 3 p. 17 p. 30 p. 32 p. 39 p. 44 p. 46 p. 53 S p. 73 p. 74

II. Choéphores Entrée du choeur Parades Choeur B Choeur C Scène Electre et Orest Choeur D No. 8 et 9 Choeur F Mélodrame scène Oreste Apparition des Erinyes

p. 92 p. 94 p. 103 p. 107 p. 119 p. 120 p. 125 p. 126 p. 132 p. 133

III. Les Eumenides Entracte entre les Choéphores et Erinyes Erinyes et Oreste Charme des Erinyes Apparition d’Athéna Entrée d’Athéna et des juges Final

p. 137 p. 140 p. 142b p. 145 p. 146 p. 147 377

Martin Zenck

Partition Flûte (piccolo) – Hautbois (cor anglais) – Clarinette (sib – la –mib) – Trompette (ut –ré) – Harpe. 1ière Percussion: Vibraphone …;/ 2. Percussion: Xylophone – batterie – cloche-tue-/ 3. Percussion: 2 Timbales – Batterie – Glockenspiel [dann noch ausführliche Aufschlüsselung des ganzen Schlagzeugapparats]

Orestie 33 Bevor auf einige Partien, vor allem im dritten Teil der Orestie der Eumenides eingegangen wird, ist es wichtig, hier an dieser Stelle die ganz praktische Zusammenarbeit zwischen dem Übersetzer (Mazon und Obey), dem Regisseur (Jean-Louis Barrault) und dem Komponisten (Pierre Boulez) darzustellen. Diese betrifft zunächst die ganz handwerkliche Seite der einzurichtenden Bühnenmusik. Es sind dabei folgende Vorgänge zu berücksichtigen: Erstens erfolgt die Einrichtung der Szene nach den Kriterien der theatral-metrischen Gattungen der attischen Tragödie wie dem Parodos, der Strophe und Anti-Strophe, die ihrerseits für eine Verteilung auf die Ensembles, auf die einzelnen Figuren und deren Konstellation sorgen. Ganz direkt kann hier an Da Pontes nicht ganz unstrittigen Hinweis gedacht werden, dass mit seinem Libretto, der Verteilung des Textes von den Monologen, Dialogen etc. auf entsprechende Arien, Duette, Ensembles eigentlich schon die wichtigste Arbeit getan sei und der Komponist Mozart diese Konstellationen, nur noch diese bereits getane Arbeit zu vollenden habe. Zweitens haben Barrault und Boulez die einzelnen Partien bereits mit einem bestimmten szenischen Charakter und einer ausgezeichneten Deklamationsart YHUVHKHQ6RÀQGHQZLUDQGHQ5DQGGHVDOV7\SRVNULSWEHUOLHIHUWHQ7H[WEX33

378

Partitur liegt in Basel in der PSS, Sammlung-Pierre-Boulez,in Mappe G, Dossier 1d,1 unter dem Titel Orestie (Singstimmen, Chor, Instr.Ensemble; unveröffentlicht) Text von André Obey nach Aeschylus [stimmt nur teilweise, siehe meine Studien zur anderen Übersetzung Paul Mazon (auch seinen Studien zum griechischem Theater) und zu den entsprechenden Studien auch von Barrault]: Partitur (Reinschrift mit Dirigiereintragungen: Fotokopie (177 S.) Original liegt in der BDF, Département Arts du spectacle, Fonds Renaud-Barrault; auch fehlen die Seiten 14-31; weiter fehlen 4 verworfene Seiten; Material der PSS also vollständiger, vor allem in der Ergänzung dieser Seiten und der Skizzen, die mit anderen Werken von Boulez aus dieser Zeit verbunden sind (vor allem der Schluss des dritten Teils der „Erinyen“, rein orchestral, wie aus einem anderen Stück);vgl. auch Robert Piencikowskis Abschrift der Partitur (PSS, Mappe G, Dossier 1d,2).

Pierre Boulez und seine Arbeiten für die Compagnie Renaud-Barrault

ches34 geschrieben: „Solo“, „chanté seul ou pour plusieurs jusqu’à six personnes“, „psalmodié“ und „Mélodrame“. Drittens werden sowohl die Tempi je nach Situation und Charakter der Szene festgelegt wie etwa: „lent, grave, rapide, modéré soutenu et appelative. aussi „excitante“ etc. Viertens wird genau das antike Metrum und dessen musikalische Übertragungsmöglichkeit in entsprechende Längen, d.h. in etwa 6 brèves oder einer longa in der musikalischen Deklamation angeben. Schon von dieser Seite, der des Textes und seiner szenisch-deklamatorischen Einrichtung aus, ist das musikalisch-dramatische Geschehen ZHLWJHKHQGSUlIRUPLHUWXQGSUlÀJXULHUW$EHUGLHVH$VSHNWHLQWHUHVVLHUHQXQV hier, wo es um die Durchlässigkeit angewandter und autonomer Musik geht, nur am Rande. Deswegen sei hier schon, bevor auf einzelne einschlägige Szenen vor allem des dritten Teils der Euménides eingegangen wird, auf folgende zwingenden Zusammenhänge zwischen der Bühnenmusik zur Orestie und anderen Werken von Boulez aus dieser Zeit hingewiesen, um die auch konzeptionelle Einheit der beiden heterogen erscheinenden Gattungen zu belegen. Vereinfacht gesprochen und dabei entscheidende Forschungen der letzen Jahre vor allem von Robert Piencikowski35 und Peter O’Hagan36 berücksichtigend, handelt es sich um folgende Querverbindungen, die eher ein relativ abstraktes gemeinsames Tonmaterial und dessen Organisation betreffen als konkrete motivische und thematische Zusammenhänge zwischen den so verschiedenen Werken unterschiedlichster Besetzung. Es sind im Wesentlichen vier Schnittstellen, in denen die Bühnenmusik zur Orestie mit denen anderer Werke von Boulez aus dieser Zeit und der nachfolgenden in engstem konzeptionellen Zusammenhang stehen. 'DEHLIROJWGLH$XÁLVWXQJMHZHLOVQDFKGHQGUHL7HLOHQGHUOrestie: • Die Musik des Agamemnon (Teil I der Orestie) verwendet als Ausgangspunkt eine zwölftönige Reihe (HIKÀVJLVJEFDGFLVF37), die Boulez in etwa gleichzeitig in der Troisième sonate pour piano (1955-57/1963) exponiert hat. • Der Musik zum zweiten Teil der Choéphores, dem Chor 4, liegt eine Reihe (EHVHVIJÀVGFLVDFÀVK) zugrunde, die Boulez nur wenig später als 34 35 36 37

Paul Sacher Stiftung, Sammlung-Pierre-Boulez, Mappe G, Dossier I, 1a1-1a,3 mit den drei Textteilen der Trilogie. Vgl. PIENCIKOWSKI, 1993, S.97-116. O’HAGAN, 2007, S. 52. Vgl. diese Grundreihe in den Skizzen zur dritten Klaviersonate, Formant I, Antiphonie in der PSS, Sammlung-Pierre-Boulez, Mappe h, Dossier 2b,1. 379

Martin Zenck

Vorstufe in Strophes (1957) aufgenommen und weitergeführt hat, wobei die KRFKYLUWXRVH XQG DUDEHVNHQKDIWH %HKDQGOXQJ GHU 6ROR4XHUÁ|WH GLH HQWscheidende Verbindung darstellt (auch ganz direkt für die Wahrnehmung XQGGHQ6SLHOHU %HLGLHVHUVROLVWLVFKHQ%HVHW]XQJGHU4XHUÁ|WHNDQQDXFK zugleich an die zeitgleich entstandene Partie des L’artisanat furieux aus dem Marteau sans maître verwiesen werden, deren Vorbild wiederum auf die Nr. 7 Der kranke Mond aus dem Cabaret noir38 und Schönbergs Pierrot Lunaire zurückgeht, also auf zwei Werken semi-szenischen Charakters. • Dem dritten Teil der Euménides wiederum, der 6FqQH ÀQDOH, die wir noch eindringlicher besprechen werden, liegen harmonische Tabellen aus der dritten Klaviersonate (Troisième sonate pour piano) zugrunde, wobei deren vertikale Systematik in der Orestie auch horizontal gelesen werden. Es ist dort die unter 1. angegebene Grundreihe, die im Formant V, Séquence der dritten Klaviersonate als solche und in der Umkehrung aufgenommen und von der horizontalen Linie auf Akkorde projiziert wird. Dabei bedeuten die jeweiligen Zahlen über den Akkorden die Anzahl der aus der Reihe entnommenen Töne, die sich dann in der Abfolge von 1-3-3-2-1-2 wieder zu 12 Tönen der Reihe addieren.39 • Die unter 2. angegebene Verknüpfung zwischen der Orestie, den Choéphores erstreckt sich nicht nur auf die Strophes, sondern darüber hinaus über Eclat bis hin zu Don aus Pli selon pli (worauf Robert Piencikowski eindrücklich hingewiesen hat),40 womit ein Verfahren bezeichnet wird, das im Sinne einer exzentrischen Bahn verstanden werden kann, aus dessen Mittelpunkt Materialien auf eine äußere und rotierende Bahn geschleudert werden. In poetologischer Hinsicht hat Boulez dieses Verhältnis als eines zwischen Centre et absence bezeichnet. Es gibt also ein abwesendes und doch zugleich wirksames Zentrum, das in spiralförmiger oder zirkulärer Rotationsbewegung auf andere Werke ausstrahlt.

38 39 40 380

Vgl. zu dieser Übertragung des schwarzen Cabarets, von dem Boulez in Verbindung mit André Schaeffner spricht: ZENCK, 2010a, S. 62. Vgl. Mappe H, Dossier 2f in der Sammlung-Pierre-Boulez. Vgl. PIENCIKOWSKI, 1993, insbesondere S. 112-115.

Pierre Boulez und seine Arbeiten für die Compagnie Renaud-Barrault

Abbildung 2: Boulez, Pierre, Orestie, Partiturseite 147, Reinschrift.

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Exemplarisch sei an dieser Stelle vor allem das Finale zum dritten Teil der Orestie, den Eumenides besprochen.41 Auf den Partiturseiten 147ff wird das Finale der Euménides mit Athène ausgebreitet, die ihr Orakel spricht: „Athène. Ecoutez mon oracle“. Das, was sie dann sagt, kann nicht die Sprache, sondern nur die reine Musik ausdrücken, deswegen auch die äußerst differenzierte Setzart der Instrumentalstimmen: Vibraphon mit Pedalklängen, welche die der Harfen ablösen. Dagegen nochmals die Holzbläser mit eigener anklingender, intonierender Phrasierung mit kurzen Motivgesten, so als ob auch rein musikalisch nicht mehr gesagt werden könne, indem es gerade nicht gesagt wird. Erst nach länger klingender Musik geht der musikalische Orakelspruch in den Dialog zwischen der Coryphée und der Athène weiter: Cor: „Et ce jugement vent …/Ath.: „Suivre trop à permettre…“ Es ist nur eine Partiturseite, die dann das eigentliche Finale vorbereitet, wobei hervorzuheben ist, dass bei Aischylos der Orakelspruch bereits zu Beginn des dritten Teils der Eumenides erscheint und dort auch ausdrücklich von der Prophétes/Prophétesse gesprochen wird. Der Orakelspruch wird also in der Dramaturgie von Obey/Barrault ganz nach hinten in die Eröffnung des Finales der Eumenides verlegt, obwohl er dem Textbuch zufolge noch ursprünglich zu Beginn des dritten Teils der Trilogie am richtigen Ort stand. Es folgen vor der rein orchestralen Schlussseite 158 im Boulezschen Konvolut die von ihm selbst gestrichenen Seiten 148 bis zur Mitte von 149. Dort eröffnet ein ganzes Melodram die szenische Situation: Während die Stimme des Choeur/der Coryphée und der Athène sprechen, läuft die Musik weiter; es herrscht also der Parlando-Stil zur musikalischen Szene vor. Von der komplexen und differenzierten musikalischen Faktur aus betrachtet, scheinen schließlich die letzten acht Partiturseiten von 150-158 von außerordentlicher Bedeutung zu sein. Sie, wie vor allem die exterritoriale letzte Partiturseite 158, verdienen hier nähere Beachtung, bis mit dem Pour terminer, attendre le 2e Rideau sowohl die Bühnenmusik von Boulez als auch die Trilogie endet. Nach der heftigen, partiell homorhythmisch geführten Deklamation der drei Singstimmen in hochvirtuosen Sechzehntel-Passagen in fein differenzierter Phrasierung auf S. 156-157 YJO$EE IROJWGDQQYRUDOOHPGLH$XÁ|VXQJGHU%HZHJXQJHLQ,QQHKDOWHQ ein einander Ablösen in den Stimmen, um den gänzlich statischen Schluss auf S. 158 vorzubereiten. Er klingt wie ein gesteigertes Echo auf die heftig ausbre41

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In zwei früheren Publikationen zu dieser Bühnenmusik von Pierre Boulez habe ich ganz andere Szenen, vor allem die Szene I, 5 O Zeus, o nuit amie? sowie die der Cassandre in I, 11 im ersten Teil der Orestie im Agamemnon diskutiert: ZENCK, 2003, S. 303-332; vgl. weiter ZENCK, 2004, S. 50-73.

Pierre Boulez und seine Arbeiten für die Compagnie Renaud-Barrault

chenden Akkorde auf S. 153, die den Beginn des eigentlichen Finales eröffnet KDWWHQ ,Q GLHVH H[SORVLYHQ ZLH KRFK HUUHJW YHUNOLQJHQGHQ .ODQJÁlFKHQ YRQ S. 153 und 158 ist eine äußerst differenziert gestaltete Entwicklung zwischen den solistisch geführten Holzbläsern (vor allem der Flöte, hier kann unmittelbar an die Flötenpartie des L’artinasat furieux aus dem Marteau sans maître gedacht werden und an die Konsequenzen, die aus der Orestie auf die Strophes,42 zunächst in der ersten Fassung für Solo-Flöte übergingen) und den hochvirtuos gestalteten, aber homorhythmisch artikulierenden Singstimmen eingehängt. Der Höhepunkt dieser Bewegung liegt in der Abfärbung der wilden und arabeskenhaften Klanggestik der Flöte auf die Singstimmen, die förmlich und ausdrücklich von der mitreißenden Figuration der Solo-Flöte und ihrem Ausdruck angetrieben werden, bis ihre homorhythmische Skandierung auf zwei Tönen, auf Nuit de la mort et de la vie stehen bleibt. Aber genau über dieser eindringlichen Deklamation (S. 156 u. 157) steigert sich der Flötenpart nochmals nicht nur in die atemberaubenden Figurationen hinein, sondern vor allem hinauf in das höchste Register, um dann gleichsam inne zu halten, während die Singstimmen wieder ihre frühere, auch sich imitierende Bewegung wieder aufnehmen (S. 157).Wie bereits angedeutet, bildet die Schluss-Seite mit ihren eingefrorenen und statischen Klangfeldern einen Bogen, der in den eigentlichen Beginn des Finale auf S. 153, untere Akkolade, zurückreicht (Akkolade). Die Ausbruchsfelder der Gesangszene erscheinen dabei auf der SchlussSeite 158 (vgl. Abb. 4), mit dem reinen Orchestersatz nicht gebändigt oder gar zurückgenommen, sondern in ihrer Bewegungsenergie gestaut, um einer implosiven Erstarrung das Feld zu überlassen. In seinem einmaligen, intensiven wie gleichwohl umfassenden Gesamteindruck verweist er zurück auf die Eingangsszene mit der Athène auf S. 147, auf der sie „Ecoutez mon oracle“ verkündet. Hier sind es nicht nur die impulshaften wie in sich stehenden und einander im Orchestersatz ablösenden Klangzustände, die beiden Szenen und damit die mittlere des Tableaux rahmen und miteinander verbinden, sondern die beide ganz konkret verwandtes, wenn nicht identisches Tonmaterial in den jeweiligen Akkordstrukturen aufweisen. Boulez hat sich in den Skizzen zum Auftritt der Athène diese Partie in Form von reinen Akkorden in einem Particell zusammengefasst, das er nachher in der Aufführungspartitur ausinstrumentiert und ausgeschrieben hat. Wie die aus der Grundreihe der dritten Klaviersonate abgeleiteten Akkorde zum Formant V, Séquence zeigen, hat er Teile (Zweierund Dreiergruppen und umfangreichere) dieser Reihe, auch permutierend auf 42

Vgl. dazu ausführlich PIENCIKOWSKI, 1993, S.109. 383

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Abbildung 3: Boulez, P. Orestie, S. 156.

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Abbildung 4: Boulez, P. Orestie, S. 158.

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einzelne Akkorde projiziert und diese mit Buchstaben versehen (aus der Reihe mit den geklammerten Tönen [e] [IKÀV] [gis-g-b] [c-a] [d-cis] [es] werden zu Beginn folgende Zusammenklänge erstellt: ÀVIK – JFLVJLVFÀV²KDDVEHV d43XVZ 'LHVH$NNRUGHXQG$NNRUGYHUELQGXQJHQÀQGHQVLFKLQGHQ6NL]]HQ zur Orestie, zur Scène de Cassandre (No. 11) und vor allem zur 6FqQHÀQDOH, die mit dem Auftritt der Athene mit ihren Worten „Ecoute mon oracle“44 eröffnet wird. In der dann ausgeschriebenen Szene können diese aus der dritten Klaviersonate stammenden Materialien leicht anhand der genannten Vorgaben rekonstruiert werden. Die Orestie, Pierre Boulez’ singulär gebliebenes Bühnenwerk (1955) neben der Bühnenmusik Ainsi parlait Zarathoustra45 (1974) und der Projekt gebliebenen Oper eines geplanten Werkes zusammen mit Jean Genet und einer anderen Orestie (1995) zusammen mit Heiner Müller,46 ist damit als ein wahrer Steinbruch einer zukünftigen Oper zu verstehen, aus dem nach Michel Butor47 der Komponist das an Materialien in andere Werke hinüber gerettet hat, was keine Oper werden konnte und sollte. Aber selbst die Bühnenmusik zur Orestie ist nie vollständig aufgeführt worden, weder in der ersten und geteilten Produktion zwischen Marseille und Paris 1955, noch in der Wiederaufnahme im Jahr 1962, die dann nicht Pierre Boulez dirigiert hat, sondern André Girard. Unvollständig ist die Aufführung aus zwei Gründen geblieben (darauf hat auch die Studie von Peter O’Hagan48 an ihrem Schluss eindringlich hingewiesen): Einmal sind die zahlreichen und auch sehr ausgedehnten Striche nicht für die Aufführung geöffnet worden (alleine von den 31 Seiten der Euménides wurden 19 Seiten nicht gespielt), zum anderen müsste eine neuerliche Produktion vor allem auf &'GLHLQGHU366DXÁLHJHQGHQ6NL]]HQEHUFNVLFKWLJHQ'LHVHEHWUHIIHQZHniger die Partien des Instrumental-Ensembles oder des kleinen Orchesters als vielmehr die Ausführung der Singstimmen, die für die jeweiligen Aufführungen doch stark vereinfacht wurden, weil die Sänger und Sängerinnen ihre stimm43

Vgl. die Skizzen zu diesem Material in der Sammlung-Pierre-Boulez, 3e Sonate, Formant V, Séquence. Mappe H, Dossier 2f,1 (Film 584-0333). 44 9JO6DPPOXQJ3LHUUH%RXOH]0DSSH*'RVVLHUFF(XPpQLGHV6FqQHÀQDOH (Film 0581-0190) 45 Vgl. dazu ausführlich: ZENCK, 2004a, S. 234-248. 46 Vgl. dazu ZENCK: 2004b, S. 50-74. 47 Vgl. Michel Butor, der mit Bezug auf die Orestie meinte, dass „Boulez zunächst eine Schauspielmusik zu retten hatte“; dazu den Hinweis von PIENCIKOWSKI, 1993, S. 116, Anm. 20. 48 O’HAGAN, 2007, S. 52. 386

Pierre Boulez und seine Arbeiten für die Compagnie Renaud-Barrault

technischen Grenzen hatten. Gerade die Schlussszene im Chor zeigt in den Skizzen (Mappe G, Dossier 1c,3b, 2. Seite, Film: 591-0195 (vgl. die Übertragung dieser Skizze unter Abb. 5)) eine viel radikalere Lösung als die vereinfachte der Aufführungspartitur. Während diese die beiden Stimmen in ausgeglichener Mittellage einander imitierend und homorhythmisch deklamierend singen und ihre Bewegung im gemeinsamen Ton h auslaufen lässt, geht die Skizzenversion hier in die Extreme, womit die Bühnenmusik, von der Behandlung der Stimme aus gesehen, die Stimme wirklich in sehr hoher Lage auf die entscheidenden Stichworte „le long cri rituel“ auf dem d2 schreien lässt. Deswegen sind dann auch die oben diskutierten erstarrten und doch explosiven Klänge im Orchester eine Weiterführung auf einer anderen Ebene, während die Aufführungspartitur im Verhältnis zum moderaten Gesang und der abschließenden Ausbruchszone keine überzeugende dramaturgische Lösung darstellt. Aber diese war eben den beschränkten Möglichkeiten vor allem der Sängerinnen geschuldet. Schließlich gehen wesentliche Aspekte über relativ einfach ausgerichtete Bühnenmusiken hinaus. Dies betrifft die äußerst differenzierte Ausarbeitung des Orchestersatzes, der deutlich über die gängige Unterteilung in einen thematisch führenden Hauptsatz und in nur begleitende Nebenstimmen hinausweist, vielmehr einen fein aufgefächerten Satz darstellt, der reich an Farben durch Sostenuto-Klänge des Vibraphons und der Harfe ist, der weiter impulshaft kurz eingeworfene Motive in den Holzbläsern aufweist und zuweilen rhythmisch treibende Ostinati ins Spiel bringt, um die Sprech- und Sing-Handlung auf der Szene in Bewegung zu bringen und darin auch zu halten. Nie ist dabei der Orchestersatz einfach in Haupt- und Nebenstimmen untergliedert, die schematisch auf die führenden Streicher und die obligaten Bläserstimmen verteilt wären, sondern er ist von einem Gleichgewicht aller Stimmen ausgezeichnet, von der von Hermann Scherchen wie von Stefan Wolpe so gerühmten Equilibristik, von Stimmen also des Orchestersatzes, die jederzeit auch andere Funktionen übernehmen können, so dass eine schwebende und nicht grundierend bass-lastige Bewegung vorherrscht. Besondere Bedeutung erlangen schließlich thematische Rahmungen, wie die des Schlussbildes, das von den miteinander verwandten Klangfeldern des Auftritts der Athène (Z. 19, S. 147, vgl. Abb. 2) und der Coda (S. 158, vgl. Abb. 4) eingefasst erscheint. Hier sind formale Gestaltungsvorgänge jenseits aller nur reihender Anordnung der Szenen und Nummern im Spiel, die an dramatisch vereinheitlichende wie an sinfonische Konzeptionen erinnern, die auf das Schauspiel angewandt werden. Eine entsprechende satztechnische Verdichtung dieser musikalischen Szenen wird durch übergreifend serielle Konstruktionen erreicht, die nicht nur das Tonmaterial entsprechend organisieren, sondern zu einem musikalischen Ausdruck von unerhörter satztechnischer Differenzierung 387

Martin Zenck

Abbildung 5: Schlussszene - Chor bis Cri rituel. und einer Notwendigkeit des Daseins eines jeden einzelnen Tons und Klangs führen. (Es gibt also gerade hier an keiner Stelle bloß hinzugefügte, zusätzliche XQG RUQDPHQWLHUHQGH7|QH GLH EHUÁVVLJ ZlUHQ  'LHVH PXVLNDOLVFKHQ 6]Hnen stehen diesseits von bloßer Illustration und Untermalung, und vielleicht ist es ein besonderes Kennzeichen einer solchen Bühnenmusik von Pierre Boulez, GDVVDXWRQRPNRQ]LSLHUWHZLHSODVWLVFKÀJUOLFKJHVWDOWHWH6]HQHQXQPLWWHOEDU neben einander stehen und auch ineinander greifen, sodass der ohnehin schiefe Gegensatz von selbstgesetzlich entworfener und nur angewandter Musik aufgehoben erscheint.

Schluss und zusammenfassende Thesen 1. Es gehört zu den wesentlichen Signaturen des 19. und dann vor allem des 20. Jahrhunderts, dass genaue Abgrenzungen der Gattungen voneinander – von einer einigermaßen differenzierten Gattungstheorie und Gattungspoetik aus gesehen – nicht mehr so klar gezogen werden können wie noch im 18. Jahrhundert, wo das einzelne Exemplar noch deutlich die übergreifenden Gattungsmerkmale repräsentiert und respektiert. Zu erinnern ist aber auch an die Tatsache, dass die drei wesentlichen Stile, der Kirchen- Kammer- und Theater-/pantomimische Stil, wie sie in Schubarts Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst im späteren 18. Jahrhundert unterschieden wurden, eben Gattungsstile als Funktionsstile nach ihrem jeweiligen Aufführungsort der Kirche, der Kammer und des Theaters waren und keine damit verbundenen Gattungsdifferenzen markierten. Die Grenzen zwischen den Gattungen werden dann im  XQG  -DKUKXQGHUW ]XQHKPHQG ÁLH‰HQG XQG YHUVFKUlQNHQ VLFK LQHLQander. Von der kompositorischen Praxis des einzelnen Komponisten aus betrachtet, ist eine normative Gattungspoetik ohnehin mehr als problematisch, 388

Pierre Boulez und seine Arbeiten für die Compagnie Renaud-Barrault

weil die Gattungen einem übergreifenden Werkprozess weichen und eher, wie etwa bei Beethoven im Skizzenbuch zu den Diabelli-Variationen und zur Missa solemnis, ineinander übergehende und ineinander fassende Entstehungsvorgänge maßgeblich werden (vgl. die jeweiligen kompositorischen Konzeptionen der Credo-Fuge und der Doppelfuge in der 32. Veränderung des op. 120). 2. Diese Gattungsinterferenz gilt um noch vieles deutlicher für einen Komponisten wie Pierre Boulez, bei dem unter der Kategorie der Wucherung (der prolifération) ganz unterschiedliche Werk-Komplexe mit verschiedener Besetzung in einem einzigen, wenn auch immer wieder unterbrochenen genetischen Zusammenhang stehen. Unter diesen Bedingungen ist es dann naheliegend, dass einzelne Werke, Stücke unterschiedlichster Besetzung, Provenienz und Auftragssituation nicht als deutlich voneinander getrennte opera zu verstehen sind, sondern als ein weit ausgreifendes und übergreifendes Rhizom im Sinne von Deleuze und Guattari. Dies zeigt sich besonders bei der Superstruktur der Reihen und Reihentabellen, die wie im porphyrischen Baum aus einer gemeinsamen Wurzel heraus ganz verschiedene Verzweigungen generieren. Sie fungieren wie das Modell einer Matrix, aus der dann die differenzierten musikalischen Vorgänge abgeleitet werden, wie dies Boulez mit Blick auf die Zwölftontechnik Schönbergs unter Berufung auf Paul Klees Vorstellung einer alles generierenden Matrix in einer der unveröffentlichten Vorlesungen über Création et Recherche49 am Collège de France Anfang des Jahres 1982 entwickelt hat. Die Reihe des Serialismus ist dann über das Komponieren mit einer zwölftönigen Grundgestalt hinaus zunächst ein relativ abstraktes Modell, das alle vier Parameter – auch teilweise den fünften eines musikalischen Raums im Sinne Karlheinz Stockhausens – umfasst. Dies Ordnungsmodell wird nicht nur für ein Werk konstituierend, sondern eben für ganze, teilweise zeitlich weit voneinander entfernte Werk-Komplexe.

49

Unter dem Titel Recherche et Création hielt Pierre Boulez eine bisher noch unpublizierte Vorlesung und ein Seminar am 5. février 1982 am Collège de France DEZRHVKHL‰W´'pGXFWLRQJpQpUDOHWRXWHVOHVÀJXUHVVHURQWGpGXLWHVG·XQHPDWrice de douze sons.“ (page 2, unter diesem Datum des Jahres 1981/82 liegen diese Vorlesungstexte vom Collège de France in der PSS auf). An anderer Stelle habe ich gezeigt, dass dieses Konzept einer alles generierenden Matrix auf ein „modèle d’une matrice“ zurückgeht, das Boulez im Projekt gebliebenen dritten Buch (Troisième Livre) der Structures auf das Klee-Zitat „Modell einer Matrix“ zurückführt (vgl. ZENCK 2013) 389

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3. Unabhängig aber auch von einer solchen übergreifenden, den weiteren Kompositionsprozess subordinierenden Superstruktur des Systems der Reihe, das partiell zumindest weite Teile des früheren Œuvres von Boulez determiniert, gehen auch bei diesem dirigierenden, komponierenden wie theoretisch expli]LWUHÁHNWLHUHQGHQ.RPSRQLVWHQGLHHLQ]HOQHQ:HUNJHQHVHQLQHLQDQGHUEHU vor allem, von seiner kompositorischen wie dirigierenden Praxis aus gesehen. Denn warum sollten nicht, wie gezeigt, Dirigate von Bühnenmusiken Honeggers, wie diejenige des Tête d’Or, auf die Komposition eigener Bühnenmusiken, wie im Falle der Orestie, übergreifen? Warum sollten einzelne musikalische Tableaux zu einzelnen Szenen eines Schauspiels nicht zu neuen autonomen musikalischen Werken führen, die, wie am Modell des L’ombre double gezeigt, wiederum zu einer angewandten Musik werden: zu einer Bühnenmusik ganz eigener Art, wie im Dialogue de l’ombre double? Schließlich, warum sollte nicht, um den Vergleich des Beginns vom vorliegenden Beitrag zwischen der angewandten Bühnenmusik und der Filmmusik wieder aufzunehmen, warum sollte nicht auch die serielle Struktur aus der dritten Klaviersonate von Boulez in seine Musik zum Film Symphonie mécanique aus dem Jahre 1955 von Jean-Mitry einwandern?50 4. (LQDQGHUHUJUDYLHUHQGHU$VSHNWPDJDEHUKLQ]XNRPPHQZHQQGDVKlXÀge Dirigieren von Bühnenmusiken in der Verbindung mit den Dirigaten von Werken der damaligen Avantgarde in der von Boulez mit Jean-Louis Barrault begründeten Konzert-Reihe der Domaines musicales in den 1950er Jahren in Paris berücksichtigt wird. Aus dieser Arbeit heraus ergeben sich zwingende wie spielerische Zusammenhänge zwischen einer umfassenden Dirigierpraxis und einem Komponieren, in welches die Geste des Dirigierens einwandert, sich dort einschreibt und verkörpert, ohne dabei im schlechten Sinn wie bei Wagner zu einer bloßen gestikulierenden „Kapellmeistermusik“ zu werden, worauf Adorno hingewiesen hat. Pierre Boulez, der Dirigent und Komponist, hat auf diesen auch diskursiven Zusammenhang in dem Band L’écriture du geste51 und in seinen Vorlesungen am Collège de France zwischen 1975-1995, die seit 2005 unter dem Titel Leçons de Musique52 zumin50

51 52

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Vgl. dazu mein Beitrag Klangkomposition im 20. Jahrhundert, als Vortrag gehalten auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung am 21.09.2013, Druck in Vorbereitung. BOULEZ, 2002 (dort vor allem das Kapitel Les incidences réciproques du geste et de la partition, S. 109-136). BOULEZ, 2005 (vgl. dort insbesondere das Kap. II Le Geste du compositeur, S. 139-173)

Pierre Boulez und seine Arbeiten für die Compagnie Renaud-Barrault

GHVWWHLOZHLVHYRUOLHJHQQLFKWQXUKLQJHZLHVHQVRQGHUQGDVVSH]LÀVFKHYRU allem von Roland Barthes entwickelte französische Konzept einer corporalen écriture53 systematisch entwickelt, auch in der Absetzung von der Schrift, die in der deutschen Kultur mehr vom denkenden Kopfe und weniger von körpereigenen Impulsen und Bewegungsabläufen bestimmt erscheint. 5. Schließlich gab und gibt es für Boulez nicht den geringsten Grund, andere Gattungen als die der von der Durchkomposition und seriell-autonom begründeten Komposition höher zu stellen als die Genres der angewandten 0XVLN'HVZHJHQEHVWHKWEHLLKPLPYRUOlXÀJHQJHVDPWHQ°XYUHEHLVSLHOVweise neben den scheinbar reinen Structures Ia pour deux pianos (1951) fast gleichzeitig eine umfängliche Hörspielfassung von Le soleils des eaux nach Gedichten von René Char für Singstimme und Orchester mit 149 Manuskript-Seiten,54 weiter neben dem Marteau sans maître von 1954 eben die Bühnenmusik zur Orestie (1954/55), wobei daran zu erinnern ist, dass selbst der als so rein seriell geltende Marteau sans maître zumindest ein semi-szenisch angewandtes Werk darstellt, das der Komponist Boulez als Dirigent 1961 an einem Abend in einem Konzert in Basel im unmittelbaren Zusammenhang mit den 3x7 Melodramen des Pierrot Lunaire nach Gedichten von Giraud in einer entsprechenden szenischen Aufstellung des Ensembles wie der Sängerin aufgeführt hat. Und schließlich ist darauf hinzuweisen, dass das so rein und live-elektronisch im Ircam konzipierte Orchesterwerk der Répons (1985) fast gleichzeitig mit dem nur wenig später komponierten, ebenfalls live-elektronisch verfassten Stück des Dialogue de l’ombre double entstanden ist, das einerseits eine musikalische Szene darstellt, andererseits auf Grund seiner impliziten Theatralität Choreographien, also die Anwendung der Boulezschen Musik auf die Körperbewegung auf der Szene, geradezu herausgefordert hat. 6. Die von Boulez dirigierten wie komponierten Bühnenmusiken stehen also in einem lebendigen Entstehungs- und Wirkungszusammenhang mit seinen anderen Werken und es darf kein Zweifel daran gelassen werden, um auf die eingangs formulierte These zurück zu kommen, dass gerade auch das Komponieren anJHZDQGWHU0XVLNGDV.RPSRQLHUHQDXWRQRPEHJUQGHWHU0XVLNEHHLQÁXVVW 53 54

Vgl. BOULEZ, 2012, S. 13f. Pierre Boulez, Le soleil des eaux für Singstimme und Orchester (1948): erste Fassung=Hörspielfassung mit 149 Seiten. Dies umfängliche Manuskript liegt in der PSS in der Sammlung-Pierre-Boulez, Mappe A, Dossier 4f,1.; genaueres über EntVWHKXQJXQG+|UVSLHOIDVVXQJLVW]XÀQGHQLQGHPEHUHLWV]LWLHUWHQ%XFKYRQ&DWKHrine Steinegger: Pierre Boulez et le théâtre, S.131-143. 391

Martin Zenck

erweitert, genauer bestimmt und ausgerichtet hat, im Sinne von Lebendigkeit, Leichtigkeit und Befreiung vom Zwangs- und auch Wahnsystem von scheinbar präexistenten oder auch prädeterminierenden Ordnungsvorstellungen. Dies hat – und dies wäre ein anderes Thema, das ich anderer Stelle55 ausführlich behandelt habe – wesentlich mit Boulez lebenslanger Befassung mit dem Bildnerischen Denken von Paul Klee zu tun, der mit dem Monument an der Grenze des Fruchtlandes vor allzu einseitigen Ordnungsstrategien in der Herstellung von Kunst warnte, weil diese, wenn sie verabsolutiert werden, Gefahr laufen, eine fruchtbare Kreativität schon im Keim zu ersticken. Die Gattungsnormen gerade nicht zu respektieren, ist also eine logische Konsequenz aus der Befassung mit Paul Klee: die verschiedenen Gattungen durch das Aufzeigen ihres Bedingungsverhältnisses kreativ aufeinander zu zubewegen, statt die auch äußerlichen entweder nur Sujet- oder besetzungsmäßig gebundenen Gattungsgrenzen von der Tradition aus einfach zu übernehmen.

Literatur BARRAULT, JEAN-LOUIS/BENMUSSA, SIMONE, Odéon. Théâtre de France, Paris 1965. DERS., Erinnerungen für morgen, Frankfurt am Main 1975. BOULEZ, PIERRE, L’écriture du geste. Entretiens avec Cécile Gilly sur la direction d’orchestre, Paris 2002. DERS., Leçons de Musique (Points de repère, III). Deux décennies d’enseignement au Collège de France (1976-1995), Paris 2005. CLAMED, HUGUETTE Paul Claudel und Arthur Honegger. Begegnung und Zusammenarbeit, in: Arthur Honegger, hg. v. PETER REVERS (=Musik-Konzepte Neue Folge 135), München 2007, S.79-96. HALBREICH, HARRY, Arthur Honegger, übers. von Roger Nichlas, Oregon 1999. HONEGGER, ARTHUR, Écrits, hg. von HUGUETTE CLAMED, Paris 1992. O’HAGAN, PETER, Pierre Boulez and the project of „L’Orestie“, in: Tempo. New series, 61, 241 (2007), S. 52, S. 34-52. PIENCIKOWSKI, ROBERT, Assez lent, suspendu, comme imprévisible. Einige Bemerkungen zu Pierre Boulez’ Vorarbeiten zu Eclat, in: Quellenstudien II. Zwölf Komponisten des 20. Jahrhunderts, hg. von FELIX MEYER (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung 3), Winterthur 1993, S.97-116.

55

392

Vgl. ZENCK: Im Monument des Fruchtlandes - An der Grenze des Fruchtlandes – Blick ins Fruchtland, a.a.O.

Pierre Boulez und seine Arbeiten für die Compagnie Renaud-Barrault

SCHNEBEL, DIETER, Mo-No. Musik zum Lesen, Köln 1969. STEINEGGER, CATHERINE, Pierre Boulez et le théâtre. De la Compagnie Renaud-Barrault à Patrice Chéreau, Wavre 2012.

ZENCK, MARTIN, Pierre Boulez’ Orestie (1955-1995). Das unveröffentlichte Manuskript der szenischen Musik zu Jean-Louis Barraults Inszenierung der Trilogie im Théâtre Marigny, in: Archiv für Musikwissenschaft, 60, 4 (2003), S. 303-332. DERS., Die unveröffentlichte Bühnenmusik von Pierre Boulez zu Nietzsches/Barraults philosophischer Prosa-Dichtung Ainsi parlait Zarathoustra (1974), in: Die Musikforschung 57 (2004a), S. 234-248. DERS., Pierre Boulez’ Oper Orestie. Die Bühnenmusik von Pierre Boulez zu einer Orestie (1955) und das Opernprojekt einer Orestie (1995) von Heiner Müller und Pierre Boulez, in: Musik & Ästhetik, hg. von LUDWIG HOLTMEIER u.a., 8, 29 (2004b), S. 50-73. DERS., Luigi Nono – Marina Abramovic. Eingeschriebene, bewegte und befreite Körper zwischen Aufführungspartitur, Live-Elektronik und freier Improvisation/Performance, in: Performance im medialen Wandel, hg. von PETRA MARIA MEYER, München 2006, S. 119-147. DERS. 'HU *HJHQ5DXPGLH +HWHURWRSLH XQG GHU YLUWXHOOPRELOHV]HQRJUDÀVFKH Raum. Überlegungen zu Michel Foucault und den Répons und dem Dialogue de l’ombre double von Pierre Boulez, in: Inszenierung und Ereignis. Beiträge zur 7KHRULHXQG3UD[LVGHU6]HQRJUDÀH 6]HQRJUDÀH 6]HQRORJLH KJYRQ RALF BOHN/HEINER WILHARM, Bielefeld 2009, S. 135-156. DERS., Das unsichtbare und das sichtbare Theater. Zu „Pli selon pli“ und zur unveröffentlichten Bühnenmusik der „Orestie“ von Pierre Boulez, in: Das Gedächtnis der Struktur. Der Komponist Pierre Boulez, hg. von HANS-KLAUS JUNGHEINRICH (Edition Neue Zeitschrift für Musik), Mainz 2010a, S. 61-92. DERS., Wagner in perspective: Luigi Nonos Prometeo, Pierre Boulez und Wieland Wagner in Osaka/Bayreuth, in: Schwerpunkt. Wagner und die Neue Musik. Wagnerspectrum, hg. von UDO BERMBACH u.a., 10, 2 (2010b), S. 69-99. DERS., L’écriture du geste théâtral, cinématographique et musical dans la pensée de Roland Barthes, Jean-Luc Godard et Pierre Boulez, in: Expression, geste, hg. von JEAN-PAUL OLIVE/SUSANNE KOGLER, Paris 2012a, S. 77-92. DERS., Zur Funktionalität/Dysfunktionalität und Autonomie von Musik im Film, in: Wechselwirkungen. Neue Musik und Film, hg. von JÖRN PETER HIEKEL, Hofheim 2012b, S. 65-79. DERS., Im Monument des Fruchtlandes – An der Grenze des Fruchtlandes –Blick ins Fruchtland, erscheint in: Intermedialität von Bild und Musik, hg. v. KLAUS PIETSCHMANN/ELISABETH OY-MARRA/GREGOR WEDEKIND/MARTIN ZENCK, München, 2014. 393

Martin Zenck

DERS., Klangkomposition im 20. Jahrhundert, erscheint im Kongressbericht der Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung 2013, hg. von JÖRN PETER HIEKEL/ WOLFGANG MENDE, Druck in Vorbereitung.

Abbildungsnachweise S. 359: BNF, Paris, Département des Arts du spectacle mit freundlicher Genehmigung. S. 378: Paul Sacher Stiftung, Basel, Sammlung „Pierre Boulez“ und BNF, Paris, Département des Arts du spectacle, Collection „Jean-Louis Barrault“ mit freundlicher Genehmigung. S. 381: Paul Sacher Stiftung, Basel, Sammlung „Pierre Boulez“ mit freundlicher Genehmigung. S. 382: Paul Sacher Stiftung, Basel, Sammlung „Pierre Boulez“ mit freundlicher Genehmigung.

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Musik in den Bühnenwerken von Peter Hacks GUNTHER NICKEL

I. Einleitung HUVFKLHQGLHHUVWH$XÁDJHHLQHU'UXFNVHLWHQXPIDVVHQGHQ6DPPOXQJ PLWLiedern zu StückenYRQ3HWHU+DFNV1 Lieder zu StückenKHL‰WDXFKGLHHUVWH YRQGUHL$EWHLOXQJHQLQHLQHP%DQGPLW*HGLFKWHQGLH+DFNV·IQI]HKQElQGLJH :HUNDXVJDEHHU|IIQHW2'LHHUVWHQGHUGRUWYHUVDPPHOWHQ7H[WHVLQGGHP HQWVWDQGHQ6WFNDie Schlacht bei LobositzHQWQRPPHQGLHOHW]WHQGHUJHschriebenen Oper Orpheus in der UnterweltYRQGHUHVDXFKHLQH2SHUHWWHQIDVVXQJJLEW'LHLieder zu Stücken]HLJHQGDVVPXVLNDOLVFKH(LQODJHQQLFKWQXU JHOHJHQWOLFKH=XWDWVRQGHUQHLQ%HVWDQGWHLO]ZDUQLFKWDOOHUDEHUYLHOHU%KQHQZHUNH YRQ +DFNV VLQG 0LW$XVQDKPH HLQHU %LEOLRJUDSKLH GHU +DFNV*HGLFKWYHUWRQXQJHQ3XQGHLQHVhEHUEOLFNVLP5DKPHQHLQHV/H[LNRQDUWLNHOV4ZXUGHGLHVHP8PVWDQGPXVLNWKHDWHURGHUOLWHUDWXUZLVVHQVFKDIWOLFKQRFKNHLQH $XIPHUNVDPNHLWJHVFKHQNW'LH*HQHVHXQGGLH%HGHXWXQJGLHVHU/LDLVRQYRQ 7H[WXQG0XVLNLQ+DFNV·ŒuvreVROOGDKHULP)ROJHQGHQVNL]]HQKDIWPLWGHP =LHOFKDUDNWHULVLHUWZHUGHQHLQJHKHQGHUH8QWHUVXFKXQJHQDQ]XUHJHQ

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HACKS DERS%G6 LOSE BARTELS/LOSE/THIELE 395

Gunther Nickel

II. Die Anfänge ,Q+DFNV·(U]lKOXQJGeschichte meiner OperGLHDXV$QODVVYRQ XQGDOV$QWZRUWDXI *|W])ULHGULFKV,QV]HQLHUXQJVHLQHU2SHUNoch einen Löffel Gift, LieblingHQWVWDQGÀQGHWVLFKGLHYHUPHLQWOLFKH6HOEVWDXVNXQIWÅhEHUGLH0XVLNYRQ >6LHJIULHG@0DWWKXVZLOOLFKQLFKWVVDJHQZHLOLFKYRQ0XVLNQLFKWVYHUVWHKH´ 0DQLVWWURW]GHUDXWRELRJUDSKLVFKHQ*UXQGLHUXQJGLHVHV7H[WHVJXWEHUDWHQGHU JHJHEHQHQ(UNOlUXQJQLFKW]XJUR‰HV*HZLFKWEHL]XPHVVHQ6RJLEWHV)RWRV YRQ+DFNVDXVVHLQHU%UHVODXHU6FKXO]HLWGLHLKQ*LWDUUHXQG$OWVD[RSKRQVSLHOHQG]HLJHQ,QVWUXPHQWDOVSLHONHQQWQLVVHEHVD‰HUDOVRLPPHUKLQ6HLQ-XJHQGIUHXQG+DQVJHRUJ0LFKDHOLVHULQQHUWHVLFKLPEULJHQQLFKWQXUDQÅ%XGHQ]DXEHU´EHLGHQHQ+DFNVPLWGHU6FKOHUEDQGDXIVSLHOWHVRQGHUQDXFKGDUDQGDVV HUJHJHQ.ULHJVHQGHJHPHLQVDPPLWGHPVSlWHUHQ6SUDFKZLVVHQVFKDIWOHU%UXQR Å%LEL´ %LHEHUOHGLH2SHUDes Guten Untergang und EndeVFKULHEGLH]X%HJLQQGHV-DKUHVQRFKJHSUREWDEHUQLFKWPHKUDXIJHIKUWZHUGHQNRQQWH6 *UR‰HQ6LQQIUGLH$QIRUGHUXQJHQDQ7H[WHLP+LQEOLFNDXILKUH9HUWRQEDUNHLW YHUUlW +DFNV· lX‰HUVW SURGXNWLYH =XVDPPHQDUEHLW PLW .RPSRQLVWHQ LQ VHLQHU 0QFKQHU6WXGLHQ]HLWLQGHUHUXDIU/DOH$QGHUVHQGDVYRQ+HLQ]*UHXO vertonte Schäferlied 7 VRZLH:HUEHVFKODJHUPLW*HRUJ%XVFKRUVFKULHE+DFNV WXPPHOWHVLFKLQGLHVHU=HLWDXFKHUIROJUHLFKLQGHU6FKZDELQJHU.DEDUHWWV]HQHYHUIDVVWHHWZDPLW*UHXOHLQHBräu-KantateGLHDP'H]HPEHU]X (KUHQGHU²Å0XWWL%UlX´JHQDQQWHQ²:LUWLQGHV*DVWKRIVÅ3IlO]HU+RI´XUDXIJHIKUWZXUGH'DVVHUGDQHEHQlX‰HUVWSURIXQGH.HQQWQLVVHEHU(QWVWHKXQJ XQG*HVFKLFKWHGHV.DEDUHWWVEHVD‰EHZHLVWVHLQ+|UVSLHO75 Jahre Kabarett DXVGHP-DKUIUGDVHU]DKOUHLFKH0XVLNEHLVSLHOHYRUVDKGDVDEHUDOOHP $QVFKHLQQDFKQLHSURGX]LHUWZXUGH9

III. Der Weg zum Rundfunk RUJDQLVLHUWHQ3HWHU+DFNVXQG+HLQ]*UHXOGLHHUVWH)DVFKLQJVIHLHUQDFK GHU:lKUXQJVUHIRUPLP0QFKQHU+DXVGHU.XQVW6LHNUHLHUWHQGD]XHLQH,Q  7  9 396

HACKS%G6 *HVSUlFKGHV9HUIPLW+DQVJHRUJ0LFKDHOLVLQ:LOGHVKDXVHQDP-DQXDU HACKS%G6 6RHWZDHLQ5HNODPH)LOP&KDQVRQIUGLHDXI%UREHGDUIVSH]LDOLVLHUWH0QFKQHU)LUPD.DXW%XOOLQJHU HACKS%G6  HACKS

Musik in den Bühnenwerken von Peter Hacks

VHO GHU VLH GHQ 1DPHQ Thuniak JDEHQ GHU 1DPH LVW JHELOGHW DXV Å7+´ IU Å7HFKQLVFKH+RFKVFKXOH´Å8QL´XQGGHQEHLGHQ$QIDQJVEXFKVWDEHQYRQÅ$NDGHPLH´ JHVWDOWHWHQHLQHQ:HUEHSURVSHNWGHUEHUGLH(LQULFKWXQJHLQHVThuniak-6WDQGHVDPWVLQIRUPLHUWHLQGHPPDQZlKUHQGGHU)DVFKLQJVIHLHU.XU]XQG 6FKQHOOHKHQHLQJHKHQXQGZLHGHUVFKHLGHQODVVHQNRQQWHXQGVFKULHEHQHLQHQ Thuniak-SongGHQGLH.DSHOOH(UQVW-lJHULQWRQLHUWH11%HLGHU)DVFKLQJVIHLHU YHUJQJWHPDQVLFKSUlFKWLJVRSUlFKWLJGDVVGHUGDPDOLJH/HLWHUGHU.XOWXUDEWHLOXQJGHV%D\HULVFKHQ5XQGIXQNVGHUVSlWHUH3ROLWLNHUXQG9HUWULHEHQHQIXQNWLRQlU+HUEHUW+XSND+DFNVXQG*UHXOGD]XHLQOXGHLQH)ROJHGHU5HLKHColloquiumPLWHLQHP.DEDUHWWSURJUDPP]XEHVWUHLWHQ%HLGHQDKPHQGDV$QJHERW DQ GDV 3URJUDPP ZXUGH DP  )HEUXDU  DXVJHVWUDKOW12 ,P -DKU GDUDXI SURGX]LHUWHGHU6HQGHULKUHÅDNDGHPLVFKH.DQWDWH´Collegium satyricum cantabileXQGQDFKGHP$EVFKOXVVVHLQHV6WXGLXPVPLWGHU3URPRWLRQ]XP'USKLO LP6RPPHUQXW]WH+DFNVVHLQHQ.RQWDNW]XP5XQGIXQNXPVLFKUDVFKDOV $XWRUYRQ.LQGHUIXQNVWFNHQ]XHWDEOLHUHQ

IV. Hörspiele 6HLQH HUVWHQ .LQGHUIXQNVWFNH EHVWDQGHQ DXV ORVHQ 9HUNQSIXQJHQ PHKUHUHU /LHGHU]XHLQHU/LHGHUJHVFKLFKWH,KUHQ$XVJDQJQDKPHQVLHDOVRQLFKWYRQHLQHUGUDPDWLVFKHQ6LWXDWLRQVRQGHUQVLHZDUHQYRQYRUQKHUHLQIUGHQ)XQNNRQ]LSLHUW6FKRQEDOGZXUGHGLH)RUPGLDORJLVFKXQG+DFNVVHW]WHQXQDXFKHLQHQ 6SUHFKHUHLQGHUGLH+DQGOXQJ]JLJ]XHQWIDOWHQJHVWDWWHWH/LHGHUGLH.RPSRQLVWHQZLH.XUW%UJJHPDQQ131RUEHUW3DZOLFNL14)UHG6FKQDXEHOWRGHU+DQV 6WHLQPHW]16LQ0XVLNVHW]WHQEOLHEHQLQGHVZHLWHUKLQNRQVWLWXWLYHU%HVWDQGWHLO GLHVHU$UEHLWHQ'DVJLOWDXFKIUHLQLJHVHLQHU+|UVSLHOHIU(UZDFKVHQHGLHHU HACKS%G6 EBD6 HACKS%G6 (UYHUWRQWHXDGLH/LHGHU]X+DFNV· .UDEEHOEUHWWOIU.LQGHU'LH3ÀQJVWZLHVH HACKS%G6  14 (UVFKULHEGLH0XVLN]X+DFNV¶.LQGHUIXQNVWFNAnton ist fürs neue Jahr HACKS %G6   (U VFKULHE GLH 0XVLN ]X +DFNV·  +|UVSLHO Sie träumen wohl? Oder: Es ist nicht alles Poesie, was dunkel ist HACKS%G6  16 (U VFKULHE GLH 0XVLN ]X +DFNV· .LQGHUIXQNVWFN Weihnachtslieder für Ulrike HACKS%G6 

 11 12 13

397

Gunther Nickel

YRQDQVFKULHEGDUXQWHUWunder des Orients17HLQH)ROJHYRQ)DEHOQXQG &KDQVRQVGLHGXUFKGHQ'LDORJ]ZLVFKHQHLQHP)ODVFKHQJHLVWPLWHLQHU'DPH YHUNQSIWVLQGXQWHULKQHQDXFKDer gestohlene TonHLQ)XQNVWFNGDVXD HLQHQ.RPSRQLVWHQXQGHLQHQ7HQRU]XVHLQHQ3URWDJRQLVWHQKDWZDV]ZDQJORV GLH0|JOLFKNHLWYHUVFKDIIWH/LHGHUZLHGLHVHVLQGLH+DQGOXQJ]XLQWHJULHUHQ 'HU/LHEHNDQQPDQQLFKWEHIHKOHQ 'LH/LHEHWUlJWLKU5HFKWLQVLFKDOOHLQ 'HPJDODQWHQ'UDQJGHU6HHOHQ 'DUILFKQLFKWHQWJHJHQVHLQ )ROJWGHPV‰HQ=XJGHU+HU]HQ )UDJWQLFKWDFKQDFKPHLQHQ6FKPHU]HQ :R(PSÀQGXQJ]lUWOLFKVSULFKW ,VWGHU(LJHQQXW]]XQLFKW 'LH/LHEHNDQQPDQQLFKWEHUDWHQ 'LH/LHEHLVWYRQHLJHQHP9HUVWDQG /HEWLQGHQEHVFKHLGQHQ.DWHQ 0HLGHW3UXQNXQGlX‰HUQ7DQG 8QWHUIRUWJHVHW]WHQ.VVHQ :HUGHWLKUNHLQ%URWYHUPLVVHQ $XIGHPXQHUZlUPWHQ6WHLQ .|QQWLKUQLFKWVDOVIU|KOLFKVHLQ19

V. Das Singspiel Pandora ,Q VHLQHU 'LVVHUWDWLRQ EHU Das Theaterstück des Biedermeier JUHQ]W +DFNV GDV 6LQJVSLHO DXV HQWVWHKXQJVJHVFKLFKWOLFKHQ XQG VR]LRORJLVFKHQ *UQGHQ YRP/LHGHUVSLHODE'DVGHXWVFKH6LQJVSLHOHLQ*DWWXQJV]ZLWWHUDXV2SHUXQG 6FKDXVSLHOVHLHLQ3URGXNWGHV-DKUKXQGHUWVGDV/LHGHUVSLHOKLQJHJHQLP %LHGHUPHLHUYRQ$XWRUHQZLH.DUOYRQ+ROWHLÅDXVGHQ]ZHL6WlGWHQGLHHLQH 9RONVEHUOLHIHUXQJKDEHQEHUQRPPHQDXV:LHQXQG3DULV´%HLP6WXGLXP GHU$OW:LHQHU3RVVHQXQG3DULVHU9DXGHYLOOHVOHUQWH+DFNVDXIZHOFKH:HLVH 17  19  398

HACKS%G6 EBD%G6 EBD%G6I HACKS6I

Musik in den Bühnenwerken von Peter Hacks

VLFKO\ULVFKH)RUPHQLQGUDPDWLVFKHHLQELQGHQODVVHQ1XUHLQPDOKDWHUVLFK LQGHV VHOEVW DQ HLQHU 3RVVH YHUVXFKW  PLW GHP 'UDPROHWW Das FischessenGDVGHQ8QWHUWLWHORomantische Zauberposse mit Musik in zwei AktenWUlJW XQG HLQH 0lUFKHQSDURGLH GDUVWHOOW21$XFK EHLP 6LQJVSLHO EOLHE HV EHL HLQHP HLQPDOLJHQ$XVÁXJGHQHUXQWHUQDKPDOVHU:LHODQGVPandoraEHDUEHLWHWHXQG]DKOUHLFKHQ5XQGIXQNDQVWDOWHQ]XU3URGXNWLRQDQERW,QHLQHP%ULHI VSULFKW HU VHOEVW GDYRQ GDVV ÅGDV 'LQJ HWZDV YRQ HLQHP ([SHULPHQW DQ VLFK KDW´22XQGGLHVHV([SHULPHQWEHVWDQGGDULQHLQHEHUNRPPHQHDEHUDXVGHU 0RGHJHUDWHQH)RUP]XUHYLWDOLVLHUHQXQGHEHQJHUDGHGDGXUFKLP.RQWH[WGHV .RQIHNWLRQVHLQHUOHLV(IIHNW]XPDFKHQ6REHVWHKWGLH%HDUEHLWXQJGHQQDXFK LP:HVHQWOLFKHQQLFKWLQ(LQJULIIHQLQGLH6WUXNWXUGHV7H[WHVVRQGHUQLQHLQHUGHXWOLFKVWlUNHUHQ$N]HQWXLHUXQJJHVFKLFKWVSKLORVRSKLVFKHU0RWLYHGLHLQ GHU9RUODJHDOOHQIDOOVDQJHGHXWHWMHGRFKQLFKWDXVJHIKUWVLQG1LFKW0HUNXU ZLHEHL:LHODQGNRQWUROOLHUWLQ+DFNV·1HXIDVVXQJREGLHYRQ=HXVHQWVDQGWH 3DQGRUDLKUHQ$XIWUDJHUIOOWVRQGHUQ=HXVVHOEVW1XUEHL+DFNVLVWHV=HXV DXFKZLFKWLJGDVVGDVZDV3DQGRUDWXQRGHULQLWLLHUHQVROOVRDXVVLHKWDOVVHL HVDXVIUHLHP:LOOHQJHVFKHKHQ %HVRQGHUVGHXWOLFKWULWWGLH%HDUEHLWXQJVWHQGHQ]EHLGHQ/LHGHUQ]XWDJHGLH +DFNVDXVQDKPVORVQHXJHVFKULHEHQKDW%HL:LHODQGGLHQHQVLHHWZDLPHUVWHQ 7HLOGHV6WFNVOHGLJOLFKGD]XGDV$UNDGLVFKHGHUGUDPDWLVFKHQ$XVJDQJVVLWXDWLRQDXV]XPDOHQ 9HUOLHEWHRKQH(LIHUVXFKW 8QG0lGFKHQRKQH1HLG 9HUZDQGWHRKQH+DGHU 1LFKWHLQHE|VH$GHU ,PJDQ]HQ9|ONFKHQZHLWXQGEUHLW 8QGODXWHUJXWH(KHQ 'DVQHQQ·LFKHLQHJROGQH=HLW 'DVZLUGQXUKLHUJHVHKHQ 'LH/LHEHRKQH(LIHUVXFKW 1LFKWHLQHE|VH$GHU ,PJDQ]HQ9RONHRKQH1HLG 'LH0lGFKHQRKQH+DGHU 9HUZDQGWHQLFKWVDOV)UHXQGOLFKNHLW 8QGJXWHU:LOOHZHLWXQGEUHLW 21 22

DERS%G6 DERS%G6 399

Gunther Nickel 8QGODXWHUJXWH(KHQ 1HLQQLHPDOVZLUGGLH)ROJH]HLW 'LHV:XQGHUZLHGHUVHKHQ23

+DFNV XQWHUVWUHLFKW LQ VHLQHQ /LHGHUQ GDJHJHQ GDVV $UNDGLHQ ]ZDU OLHEOLFK DEHUDXFKXQJHPHLQODQJZHLOLJVHLZHVKDOEGLH%FKVHGHU3DQGRUDGULQJHQG JH|IIQHWZHUGHQPVVHXPGLH/HLGHQVFKDIWHQLQGLH:HOW]XEULQJHQ6LHZHUGH GDPLW UHLFKHU DQ .RQÁLNWHQ DEHU DXFK UHLFKHU DQ 0|JOLFKNHLWHQ:DV EHL :LHODQGQRFKHLQE|VHU6WUHLFKLVWPLWGHP=HXVUHVS -XSLWHUVHLQHQ*UROOJHJHQGHQ0HQVFKHQHUVFKDIIHU3URPHWKHXVEHIULHGLJHQZLOOZLUGEHL+DFNV]XP %HJLQQYRQ*HVFKLFKWH .HLQ:LUWVKDXVNHLQ*HULFKW .HLQ*RWWVFKHGXQGNHLQ1HZWRQ .HLQ)RUWVFKULWWXQGNHLQ/LFKW ,QLKUHQ,QVWLWXWHQ 2ElXULVFKZHLW]XUFN 2K|FKVWHUElUPOLFKGHQQ (LQXQJHPWOLFK*OFN ,VWGLHV$UNDGLHQ %OR‰6FKlIHUPHORGLH %OR‰(LQHKHXQG.lVH 9HUIUKWH+DUPRQLH 8QGNHLQH$QWLWKHVH 'HU0HQVFKXP0HQVFK]XVHLQ %UDXFKWGRFK%HTXHPOLFKNHLW 'LH6WHLQ]HLWQHQQLFKNDXP 'LHJROGQH=HLW24

'LHEHVFKULHEHQH%HDUEHLWXQJVWHQGHQ]]HLJWVLFKGXUFKJlQJLJXQGZHLVWVFKRQ YRUDXV DXI +DFNV 'UDPD Adam und Eva   LQ GHP HU HLQH lKQOLFKH JHVFKLFKWVSKLORVRSKLVFKH$XVOHJXQJDQHLQHP6WRIIDXVGHUMGLVFKFKULVWOLFKHQ 0\WKRORJLHYRUQDKP

23 24 400

WIELAND6 HACKS%G6I

Musik in den Bühnenwerken von Peter Hacks

'DV%HVWUHEHQGDV$NWXDOLVLHUXQJVSRWHQWLDODEJHOHJHQHU)RUPHQ]XXQWHUVXFKHQGDVIUGHQMXQJHQ+DFNVEHVRQGHUVFKDUDNWHULVWLVFKLVWPDFKWVLFKEHL LKPDXFKLQVSlWHUHQ-DKUHQLPPHUZLHGHUEHPHUNEDUXQGZDUVWHWVYRQLQWHQVLYHQ 6WXGLHQ ]XU *HVFKLFKWH GHV EHWUHIIHQGHQ *HQUHV EHJOHLWHW 'DV EHZHLVW H[HPSODULVFKGLH(QWVWHKXQJVJHVFKLFKWHVHLQHV0RQRGUDPDVEin Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe  GDVHLQ:HOWHUIROJ ZXUGH'LHELVLQGLH$QWLNH]XUFNUHLFKHQGH7UDGLWLRQGLHVHUWKHDWUDOHQ)RUP GLVNXWLHUWHHU]XQlFKVWLP5DKPHQHLQHVVHLQHUYRQLKPLQLWLLHUWHQ*HVSUlFKH DQGHU%HUOLQHU$NDGHPLHGHU.QVWH]ZHL-DKUHVSlWHUYHU|IIHQWOLFKWHHUVHLQ 6WFNGDVGDV0RQRGUDPDPLWGHP)RUPVFKHPDGHUIQIDNWLJHQ7UDJ|GLHYHUVFKUlQNW (V NDQQ DOV DXVJHPDFKW JHOWHQ GDVV LKQ GDEHL GLH IRUPDOHQ )UDJHQ PLQGHVWHQVVRVHKULQWHUHVVLHUWHQZLHGHU6WRIIGHULQGHU5H]HSWLRQGDQQGDV DOOHLQLJH,QWHUHVVHDXIVLFK]RJ

VI. Lieder zu Stücken, Bühnenmusiken /LHGHUÀQGHQVLFKVFKRQLQ+DFNV·7KHDWHUVWFNHQEHYRUHUIUGHQ+|UIXQN]X DUEHLWHQEHJDQQ6HLQH)XQNHUIDKUXQJHQVLQGDOVRIUGLHVHV3KlQRPHQQLFKWXUVlFKOLFK:lKUHQGVHLQHIUDJPHQWDULVFKH7UDJ|GLHKönig AugiasDXVGHP-DKU XQGGLHHUVWH)DVVXQJVHLQHV]ZHLWHQ6WFNVBelsazar  QRFKRKQH PXVLNDOLVFKH%HLJDEHQDXVNRPPHQPXVVWHQEHJLQQWGHUHUVWH$NWLQGHU]ZHLWHQ)DVVXQJGHVBelsazar  VFKRQPLWHLQHPÅ/LHGOHLQ´



0(1,3326          

   

7DXVHQGQHXH0lGFKHQULHI ;HU[HVXPVLH]XSURELHUHQ +LQNWHVFKRQDXIDOOHQ9LHUHQ $OVLKP(VWKHUXQWHUOLHI

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KECK, MEHRLE (HG.)%G6 401

Gunther Nickel 0(1,3326             

    

(VWKHUZXUGH.|QLJLQ %UDXFKWHQXUGHQ5RFN]XOIWHQ 'HQQVLHKDWWHUXQGH+IWHQ 8QGHVZDU9HUVWDQGGDULQ >8QGHVZDU9HUVWDQGGDULQ@26

=X6LQQXQG=ZHFNVROFKHU/LHGHLQODJHQJDE+DFNVLQGHPYHU|IIHQWOLFKWHQ (VVD\ Über Lieder zu Stücken$XVNXQIW Å/LHGHU ]X 6WFNHQ IRUPXOLHUHQ NHLQH +DOWXQJHQ GHV 9HUIDVVHUV VRQGHUQ DXVVFKOLH‰OLFK +DOWXQJHQ GHV 6lQJHUV´27%HLGHQ=XVFKDXHUQYHUKLQGHUQVLHGLH,OOXVLRQGLHJH]HLJWHQ9RUJlQJH VHLHQQDWUOLFKHXQGZLHLQ+DFNV)XQNVWFNHQKDEHQVLHHLQHGLHQHQGH)XQNWLRQ6LHVROOHQ²ZLHEHL1HVWUR\XQG5DLPXQG²UHWDUGLHUHQXQWHUVWUHLFKHQUHÁHNWLHUHQXQWHUKDOWHQSRHWLVLHUHQHPRWLRQDOLVLHUHQXQGVFKPFNHQ'DV/LHG LP6WFNVR+DFNVÅVWHLJHUWGHQ$XVGUXFNKHEW+DOWXQJHQXQG*HIKOHLQV %HZX‰WVHLQYHUDOOJHPHLQHUWGHQ6DFKYHUKDOW´(VNDQQDXFK²ZLHEHL%UHFKW ²HLQHYHUIUHPGHQGHRGHUUHÁHNWLHUHQGH)XQNWLRQKDEHQKDWVLHVLHMHGRFKQLFKW QRWZHQGLJ (VJLEW6W|UXQJHQGHU,OOXVLRQRKQHYHUIUHPGHQGH$EVLFKW²PLWGHU$EVLFKW GHV 8ONV GHU 9HUZLUUXQJ HWF 9HUIUHPGXQJ LVW HLQ %HJULII GHU DXI ,QKDOWH JHKW QLFKW DXI )RUPHQ (LQH 6DFKH YHUIUHPGHQ KHL‰W VLH DOV JHZRUGHQ ]HLJHQPLWKLQDOVXUVlFKOLFKEHGLQJWXQGQLFKWPHKUXQGQLFKWZHQLJHUQRWZHQGLJDOVLKUH8UVDFKHQ>«@'DV/LHGDXIGHP7KHDWHUVWHKW]XP9(IIHNW LQJOHLFKHUORJLVFKHU9HUNQSIXQJZLHGLH1HJHUXQGGLH%RWDQLNHU0DQFKH 1HJHUVLQG%RWDQLNHU0DQFKH/LHGHUYHUIUHPGHQ29

(QWVSUHFKHQGHVJLOWIUGLH%KQHQPXVLNHQGLH]X6WFNHQYRQ+DFNVJHVFKULHEHQZXUGHQGLHYRQ5ROI.XKOIUDie Schlacht bei Lobositz  YRQ+DQQV (LVOHUIUGLHYRQ+DFNVXQGVHLQHU(KHIUDX$QQD(OLVDEHWK:LHGHYRUJHQRPPHQHhEHUVHW]XQJYRQ-RKQ06\QJHVDer Held der westlichen Welt   YRQ+HLQ]*QWHU6FKQHLGHUIUGLH%HDUEHLWXQJYRQ+HLQULFK/HRSROG:DJners Die Kindermörderin   YRQ$QGUp$VULHO IU GLH 8UDXIIKUXQJ GHU +DFNV%HDUEHLWXQJYRQ$ULVWRSKDQHV¶Der Frieden  XQGGLH%HDUEHLWXQJ YRQ-RKQ*D\VPolly oder Die Bataille am Bluewater Creek  YRQ5XGROI 26 27  29 402

HACKS%G6 DERS6 EBD EBD

Musik in den Bühnenwerken von Peter Hacks

:DJQHU5pJHQ\ IU Moritz Tassow   YRQ +DQV'LHWHU +RVDOOD IU Der 6FKXKXXQGGLHÁLHJHQGH3ULQ]HVVLQ  YRQ:LOKHOP.LOOPD\HUIUMoritz Tassow  YRQ'LHWHU6FK|QEDFKIUMargarete von Aix  YRQ8ZH +LOSUHFKWIUDas Jahrmarktsfest zu Plundersweilern  XQGYRQ7KRPDV +HUWHOIUGLH%HDUEHLWXQJYRQ$ULVWRSKDQHV·Die Vögel   ,P 8QWHUVFKLHG ]X 1HVWUR\ XQG 5DLPXQG YHU]LFKWHWH +DFNV JUXQGVlW]OLFK GDUDXILQVHLQHQ&RXSOHWVDNWXHOOH=HLWHUHLJQLVVH]XNRPPHQWLHUHQ6HLQH6WFNHPLW/LHGHUQYHUVWDQGHUZLHDOOHVHLQH6WFNHDOV3DUWLWXUHQXQGQLFKWDOV EHOLHELJDEZDQGHOEDUH6SLHOYRUODJHQ%HLGHU$OW:LHQHU3RVVHZlUHGDJHJHQ HLQ $QVSUXFK DXI GHUDUWLJH :HUNWUHXH EHL GHU %KQHQUHDOLVDWLRQ IUDJZUGLJ GHQQ]XPLQGHVWIUGHQKLVWRULVFKXQNXQGLJHQDOVRIUGLHPHLVWHQ=XVFKDXHU LVWGHUWUDQVLWLYH%H]XJDXIOlQJVW]XU*HVFKLFKWHJHZRUGHQHXQGRIWQXUORNDOH =HLWHUHLJQLVVH QLFKW PHKU YHUVWlQGOLFK XQG GDV XQWHUVFKHLGHW VLH YRQ +DFNV· /LHGHUQLQ6WFNHQ

VII. Opern $QGHUVDOVLP6FKDXVSLHOKDWQDFK+DFNV·9HUVWlQGQLVGHUGDULQ0R]DUWIROJWH LQGHU2SHUGHU7H[WGHQGLHQHQGHQ3DUW 'DV/LEUHWWRGLHQWGHU2SHUDOV8QWHUEDXIUGDV'DUVWHOOXQJVPHGLXP0XVLN GHP'UDPDGLHQWHVLQLKPYHUVWHFNWDOV8QWHUEDXIUGDV'DUVWHOOXQJVPHGLXP/LWHUDWXU+LHUDXVIROJHQDOOH8QWHUVFKLHGH]ZLVFKHQ2SHUXQG'UDPD $QGHUVDOVGHU7H[WGHV'UDPDVKDWGHUGHV/LEUHWWRVNHLQHQ=ZHFNLQVLFK 6HLQ=ZHFNLVWDX‰HULKPLQGHU0XVLN:HQQGLH2SHUGLH.XQVWLVWGLH HLQH +DQGOXQJ LQ PXVLNDOLVFKHQ )RUPHQ HU]lKOW KDW GDV 2SHUQEXFK NHLQH ZHLWHUH$XIJDEHDOVGLHMHQHPXVLNDOLVFKHQ)RUPHQ]XHUP|JOLFKHQ31

$XVGLHVHQ%HVWLPPXQJHQIROJWHEHQIDOOVGDVVGLHEHVRQGHUHQ$QIRUGHUXQJHQ DQ HLQ /LEUHWWR YRQ VHLQHP9HUIDVVHU HLQH YRUVlW]OLFKH 6HQNXQJ GLFKWHULVFKHU $QVSUFKHYHUODQJHQ(QWVSUHFKHQGlX‰HUWHVLFK+DFNVLQHLQHP%ULHIDQVHLQH 0XWWHUYRP'H]HPEHU

 31

HACKS%G6 EBD6 403

Gunther Nickel /LHEH0DPDPDLFKGLFKWHPLFKKDOENDSXWWDQGHU2SHU(VLVWQLFKWZHLOHV VRPKVDPZlUHHVLVWZHLOHVVRJXWJHKW.RPLVFKH2SHUQVLQGRKQHKLQ ZDV$OEHUQHVXQG2SHUQDULHQGUIHQJDUNHLQHJUR‰H/\ULNVHLQVRVFKUHLEH LFKGDVPLW/DXQHXQGRKQHGLH9HUDQWZRUWXQJGLHGDV*HVFKlIWGHV'LFKWHQVVRQVWVRTXlOHQGPDFKW32

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6LHKWPDQYRQGHUJHPHLQVDPPLW%UXQR%LHEHUOHLQ%UHVODXYHUIDVVWHQ Oper Des Guten Untergang und EndeDEZDUGLHQXUIUDJPHQWDULVFKEHUOLHIHUWH6FKZDELQJHU5KURSHUHarun al-RaschidDXVGHP-DKUIUGLH+HLQ] *UHXOGLH0XVLNVFKULHE+DFNV·HUVWH$UEHLWLQGLHVHP*HQUH(VIROJWHQAnnabel und der Mond 0XVLN:LOKHOP.LOOPD\HU GHUQLFKWUHDOLVLHUWH3ODQ ]X Der Geldgott  ]XQlFKVW ]XVDPPHQ PLW +HLQHU 0OOHU 0XVLN 3DXO 'HVVDX Noch einen Löffel Gift, Liebling 0XVLN6LHJIULHG0DWWKXV Die Vögel 0XVLN7KRPDV+HUWHO Omphale 0XVLN6LHJIULHG0DWWKXVGDV/LEUHWWRKDWWH+DFNVEHUHLWV+DQV:HUQHU+HQ]HDQJHERWHQGHU DEHUDEZLQNWH34 GLH.LQGHURSHUDas musikalische Nashorn 0XVLN5DOI +R\HU 'HU6FKXKXXQGGLHÁLHJHQGH3ULQ]HVVLQ 0XVLN8GR=LPPHUPDQQ Da Capo 0XVLN:ROIJDQJ$PDGHXV0R]DUW Das Jahrmarktfest zu Plundersweilern 0XVLN-XOLDQ.OHLQ7DWMDQD.RPDURYD0DUNXV 6FKPLWW6WHIDQ 6WROO6DELQH :VWKRII  XQG Orpheus in der Unterwelt  0XVLN-DFTXHV2IIHQEDFK 

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Musik in den Bühnenwerken von Peter Hacks

VIII. Operetten ]ZHL-DKUHQDFKVHLQHUhEHUVLHGOXQJYRQ'DFKDXQDFK2VWEHUOLQHUNOlUWH +DFNVLQHLQHP%HLWUDJIUGLH=HLWVFKULIWTheater der ZeitODSLGDUÅ,FKKDOWH QLFKWVDXI2SHUHWWHQ´'LHVHVDEIlOOLJH8UWHLOLVW)ROJHVHLQHUGDPDOVQHXJHZRQQHQHQlVWKHWLVFKHQ3RVLWLRQVEHVWLPPXQJ+DFNVKDWWHDOV.DEDUHWWLVWXQG 6FKODJHUWH[WHUEHJRQQHQZDUPLWGHPDQGHQ0QFKQHU.DPPHUVSLHOHQ XUDXIJHIKUWHQ6WFNEröffnung des indischen ZeitaltersVFKODJDUWLJ]XP+RIIQXQJVWUlJHUIUGLHGHXWVFKHQ%KQHQDYDQFLHUWVFKULHELQGHU''5]ZDUDQIDQJVDXFKVR]LDOLVWLVFKH$JLWSURSO\ULN PLWGHUHUXQWHUVHLQHP1LYHDXEOLHE  EHPKWH VLFK DOVEDOG DEHU GDUXP VHLQH GLFKWHULVFKH 3UD[LV LQ (LQNODQJ PLW VHLQHQ DPELWLRQLHUWHQ OLWHUDWXUWKHRUHWLVFKHQ hEHUOHJXQJHQ ]X EULQJHQ %OR‰H 8QWHUKDOWXQJVZDUHGHUHQ:HVHQHULQHLQHUXQLYHUVLWlUHQ+DXVDUEHLWPLWGHP 7LWHO Massenkunst GDKLQJHKHQG EHVWLPPW KDWWH GDVV VLH ÅUHLQHV :LUNHQZROOHQ´XQGGDPLWNHLQH DXWRQRPH .XQVWVHLZROOWHHUQXQQLFKWPHKUOLHIHUQ XQGGLH2SHUHWWHHUVFKLHQLKPRIIHQEDUDOVHEHQHLQHVROFKH$QVWDOWUHLQHU 8QWHUKDOWXQJ 'LHVH 3RVLWLRQ ZXUGH YRQ LKP ZLHGHU UHYLGLHUW  HLQ -DKU QDFKGHPHUPLWDie schöne HelenaVHOEVWHLQH2SHUHWWHYHUIDVVWKDWWH 0XVLN -DFTXHV2IIHQEDFK XQWHUVFKLHGHUVLHYRP0XVLFDODOV]XPLQGHVWUHODWLYJHKREHQH .XQVWIRUP DOV HU DXI HLQH 8PIUDJH DQWZRUWHWH Å:LU KDEHQ MHW]W JHQJHQG(UIDKUXQJHQXPVDJHQ]XN|QQHQGDVVGDV0XVLFDOQLFKWVLVWDOVHLQH YHUZDKUORVWH 2SHUHWWH´36  HUNOlUWH HU LQ HLQHP ,QWHUYLHZ Å1DWUOLFK JHK|UHQHLQDQVWlQGLJHU%RXOHYDUGXQGHLQHDQVWlQGLJH*HEUDXFKVGUDPDWLN]XP *HVDPWSKlQRPHQ´37 XQG HU HUNOlUWH DXFK VHLQH ÅJDQ] HKUOLFKH +RFKDFKWXQJ YRU/HXWHQGLHNOHLQH*HQUHVJXWEHGLHQHQ´XQWHUQDKPHUHVGDQQPLW Orpheus in der UnterweltQRFKHLQPDOLQGHUÅNOHLQHQ*DWWXQJ´GHU2SHUHWWH NQVWOHULVFKGDV+|FKVWPD‰GHVVHQ]XHU]LHOHQZDVLQLKUP|JOLFKLVW ZLHGHUXP]XU0XVLNYRQ-DFTXHV2IIHQEDFK 

IX. Schluss /LHGHUVLQGLQ7KHDWHUVWFNHQQLFKWGLH5HJHOVRQGHUQGLH$XVQDKPH,QVHLQHP Versuch über das Libretto EHVWLPPWH +DFNV VRJDU ÅGDV O\ULVFKPXVLNDOLVFKH  36 37 

DERS.%G6 HACKS6 FISCHBORN/HACKS6 DIES6 405

Gunther Nickel

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Literatur BARTELS, FELIX/LOSE, ANNETTE/THIELE, ANDRÉ$UW 3HWHU +DFNV LQ 'LH 0XVLN LQ *HVFKLFKWH XQG *HJHQZDUW$OOJHPHLQH (Q]\NORSlGLH GHU 0XVLN 6XSSOHPHQW .DVVHOXD6 FISCHBORN, GOTTFRIED/HACKS, PETER)U|KOLFKH5HVLJQDWLRQ,QWHUYLHZ%ULHIH$XIVlW]H7H[WH%HUOLQ HACKS, PETER/LEHUDOLVPXVDXIGHP7KHDWHULQ7KHDWHUGHU=HLW  6I DERS.hEHU/LHGHU]X6WFNHQLQ6LQQXQG)RUP  6I DERS.9HUVXFKH(UIROJH)UDJHQLQ1HXH%HUOLQHU,OOXVWULHUWH1U 6 DERS./LHGHU]X6WFNHQ%HUOLQ DERS.-DKUH.DEDUHWWLQ$UJRV0LWWHLOXQJHQ]X/HEHQ:HUNXQG1DFKZHOWGHV 'LFKWHUV3HWHU+DFNV+6 DERS.:HUNH%GH%HUOLQ DERS. 'DV 7KHDWHU>VWFN@ GHV %LHGHUPHLHU   KJ YRQ PETER SCHÜTZE %HUOLQ LOSE, ANNETTE 3HWHU+DFNV9HUWRQXQJHQ 9HU]HLFKQLV GHU 9HUWRQXQJHQ O\ULVFKHU :HUNHYRQ3HWHU+DFNVELV0DLQ] KECK, THOMAS/MEHRLE, JENS (HJV)%HUOLQLVFKH'UDPDWXUJLH*HVSUlFKVSURWRNROOH GHUYRQ3HWHU+DFNVJHOHLWHWHQ$NDGHPLHDUEHLWVJUXSSHQ%GH%HUOLQ 39 406

HACKS%G6

Musik in den Bühnenwerken von Peter Hacks

NICKEL, GUNTHER/BOHN, MEIKE (HJV : DER JUNGE HACKS%GH%HUOLQ NICKEL, GUNTHER (+J.), 3HWHU+DFNVVFKUHLEWDQÅ0DPDPD´'HU)DPLOLHQEULHIZHFKVHO 1945-1999%HUOLQ WIELAND, CHRISTOPH MARTIN6lPWOLFKH:HUNH6XSSOHPHQWH%G/HLS]LJ

407

Musikalische Rauminszenierungen Zum Verhältnis von Musik und Szene bei Max Reinhardt, Klaus Michael Grüber und Heiner Goebbels CONSTANZE SCHULER

Hinführung Unter dem Titel Fülle des Wohllauts unternahm Diedrich Diederichsen 2003 in der Zeitschrift Theater heute den Versuch, die Rolle und Funktion von Musik in zeitgenössischen Inszenierungsarbeiten von Michael Thalheimer über Frank Castorf bis hin zu Alain Platel zu beschreiben und neu zu bestimmen. Sein kenntnisreicher, wenn auch zuweilen recht polemischer Beitrag mündet in eine ebenso bild- wie rätselhafte (Zukunfts-)Vision zur Neubestimmung der Funktionen von Musik im Theater: „Der vom Theater längst geahnte Umstand, dass Musik nicht einfach eine weitere, eventuell korrespondierende Kunst ist, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Musik ist ein Stück Welt, genauso wie Architektur, das man aber, im Gegensatz zur Architektur, über Zitat und Nachbildung hinaus noch wesentlich weiter ausbauen kann. Musik beginnt als Welt, als Zitat, als akustische Fotographie und verwandelt sich dann in etwas anderes, ein Gemälde. Die meiste Musik der Gegenwart, zumal die Pop-Musik, ist beides, Welt, Tapete, unbelebtes Objekt, und dennoch hervorgebracht, rückführbar zu kaputten Intentionen und seltsamen Leidenschaften und Fetischismen. Von da aus könnte man sie hereinführen ins Theater und dann ganz woanders hin. Mit

409

Constanze Schuler einer vertrauten Funktion beginnen und dann dieser rein funktionalen Musik Autonomie verleihen.“1

In diesem, bei aller essayistischen Freiheit doch recht diffusen Plädoyer für eine Schauspielmusik, die zwar Zitat und „Gefühlsgenerator“ sein dürfe, deren eigentliche Bestimmung aber in der Entfaltung eines Eigenlebens jenseits der funktional-atmosphärischen Untermalung einer Inszenierung liege, spiegelt sich das Dilemma des so überaus komplexen Untersuchungsgegenstands: Wie lässt sich das Phänomen Schauspiel- bzw. Bühnenmusik2 in Theorie und Praxis beschreiben, wie lassen sich die Funktionen von Musik im (Sprech-)Theater jenseits veralteter Dualismen oder Hierarchisierungen bestimmen? Gleichzeitig kann das Zitat auch ein Licht auf die bisherige Zurückhaltung theaterwissenschaftlicher Forschung im Bereich Schauspielmusik werfen. Will man über Musik im Theater sprechen, so bedarf es zunächst eines differenzierten %HZXVVWVHLQVIUGLHÅ(UHLJQLVGLFKWHGHVVLPXOWDQVWDWWÀQGHQGHQ*HVFKHKHQV´3 im Theater, für die sich überschneidenden Felder der Aufführungs-, Inszenierungs- und Musikanalyse. Verfallen Theaterwissenschaftler angesichts „der scheinbaren Verbindlichkeit und der dem Werkbegriff geschuldeten Autorität musikalischer Notation“4 und musikanalytischer Terminologie gemeinhin in eine Schockstarre,5 tut sich umgekehrt die Musikwissenschaft mit der radikalen Flüchtigkeit eines Forschungsgegenstands schwer, der sich einer umfassenden Transkription zu versagen scheint und sich nur aus dem Kontext einer „gewachsenen Aufführungspraxis“6 mit ihrer komplexen szenischen Verknüpfung verschiedener theatraler Zeichensysteme begreifen lässt. Schauspiel- oder Bühnenmusik realisiert sich immer an der Schnittstelle „[v]isuelle[r] und auditorische[r] 1 2

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6 410

DIEDERICHSEN, 2003, S. 25. ,P5FNJULIIDXIGHQ'HÀQLWLRQVYRUVFKODJYRQ'DYLG5RHVQHUZLUGXQWHU6FKDXspielmusik jede Form von Musik verstanden, die im Kontext einer Schauspielaufführung zum Einsatz kommt. Der Begriff Bühnenmusik bezeichnet „jede Art von Schauspielmusik, die auf der Bühne produziert wird und erklingt (Gesang, Instrumente)“. ROESNER, 2003, S. 27. BRÜSTLE, 2007, S. 163. ROESNER, 2003, S. 71. Die wenigen Ausnahmen, die sich dezidiert mit dem Aspekt der Schauspielmusik im 20. und 21. Jahrhundert beschäftigen (erwähnenswert hier vor allem ROESNER 2003 – mit besonderem Fokus auf das Phänomen der Musikalisierung von Theater – und BRAUNMÜLLER 2002) bestätigen die Regel. ROESNER, 2003, S. 70.

Musikalische Rauminszenierungen

Ereignisse“, die „gemeinsam und einander ergänzend und verschränkend den audiovisuellen Raum und Rhythmus einer Inszenierung“7 konstituieren. In dieser Verschränkung, die notwendigerweise auch eine inter- oder transdisziplinäre Perspektive erfordert, ist der Mehrwert eines Forschungsprojektes „Theater mit Musik“ zu verorten, das sich – trotz und vielleicht auch wegen der „Kurzlebigkeit“ und der sich stets erneuernden Aktualität seines Untersuchungsgegenstands – als aussagekräftige Schnittstelle kultureller, musikalisch-theatral vermittelter Praktiken entpuppen kann. Anknüpfend an das einleitende Zitat von Diedrich Diederichsen und mit einer deutlichen Akzentverschiebung weg von der hier nicht zur Debatte stehenden „Autonomiefrage“8 der verschiedenen Künste ließe sich also folgende (zunächst recht allgemeine) Ausgangsüberlegung formulieren: Musik und Theater konnotieren durch ihre enge Verknüpfung visueller und auditiver Parameter verschiedene Facetten von „Welt“, machen soziale Ordnungsmodelle im Rezeptionsprozess konkret sinnlich, kognitiv und/oder atmosphärisch erfahrbar und schaffen den „Phantasieraum Theater“.9 Insofern „Bühnenkunst“ stets auch „Raumkunst“10 ist, kann und soll diese Überlegung im Rahmen dieses Beitrags

7 8

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10

ROESNER, 2003, S. 39. Auch im Hinblick auf die zeitgenössische Theaterpraxis, die das Verhältnis von Musik und Theater nicht selten von Produktion zu Produktion neu aushandelt und die Schwerpunktsetzungen kontinuierlich verschiebt, scheint diese Frage wenig zielführend. Bert Wrede, als Bühnenmusiker und Komponist insbesondere durch seine Zusammenarbeit mit dem Regisseur Michael Thalheimer bekannt geworden, umschreibt den besonderen Reiz der Verbindung von Musik und Theater wie folgt: „Theatermusik [...] schafft mit Bühne und Inszenierung den Phantasieraum Theater. Und wenn die Musik zu konform mit dem Bühnenraum oder der Inszenierung geht, dann fällt dieser Phantasieraum in sich zusammen, verliert eine Dimension.“ Zit. nach: BENDER, 2004, S. 54. Max Herrmann, einer der Gründerväter der deutschsprachigen Theaterwissenschaft, skizzierte 1931 in seinem Text Das theatralische Raumerlebnis sein Verständnis eines „theatralischen Raumbegriffs“: „Der Raum, den das Theater meint, ist vielmehr ein Kunstraum, der erst durch eine mehr oder weniger große innerliche Verwandlung des tatsächlichen Raumes zustande kommt, ist ein Erlebnis, bei dem der Bühnenraum in einen andersgearteten Raum verwandelt wird.“ HERRMANN [orig. 1931], 2006, S. 502. 411

Constanze Schuler

um den Faktor „Raum“11 ergänzt werden: Wie nehmen architektonische Räume, Musik und Schauspiel aufeinander Bezug? Welchen Anteil hat die Verknüpfung von räumlichen und musikalischen Parametern an der Etablierung und dem Erleben künstlerisch-theatraler Welten? Inwiefern kann Musik im Schauspiel auch raumbildende Funktionen übernehmen und im Hinblick auf die Rezeption neue Bedeutungsräume und Wahrnehmungsqualitäten ansprechen? Der zeitliche Rahmen der ausgewählten Fallbeispiele reicht von den 1920er Jahren bis in die Gegenwart: Max Reinhardts Inszenierung des Salzburger Großen Welttheaters in der Salzburger Kollegienkirche (1922), Klaus-Michael Grübers Inszenierung der Bakchen im Philips Pavillon auf dem Messegelände Berlin (1974) und Heiner Goebbels Klang- und Videoinstallation Genko-An 64287 im Wasserreservoir der Mathildenhöhe Darmstadt (2012) stehen im Mittelpunkt der folgenden Analysen. Dabei sollen verschiedene Spielarten der Verschränkung zwischen Musik, Raum und Inszenierungspraxis aus theaterwissenschaftlicher Perspektive schlaglichtartig herausgearbeitet werden. Aufgrund der unterschiedlichen Material- und Quellenbasis wird auch die methodische Herangehensweise (historisch-quellenkritisch, semiotisch, phänomenologisch) variieren müssen, um Relationen zwischen Musik und Szene adäquat beschreiben und benennen zu können.

Max Reinhardt – Das Salzburger Große Welttheater (1922) 1922 wurde die Salzburger Kollegienkirche – auch in Ermangelung eines adäquaten Festspielhauses, dessen Bau für die neugegründeten Festspiele zu diesem Zeitpunkt noch ausstand – zum Schauplatz und Aufführungsort für die Uraufführung von Hugo von Hofmannsthals Das Salzburger Große Welttheater. Regie führte Max Reinhardt, für die Musik zeichnete Einar Nilson verantwortlich. Damit wurde für die noch jungen Salzburger Festspiele schon zum wiederholten Mal, nach der erfolgreichen Aufführung des Hofmannsthal’schen Jedermann auf dem Domplatz im Jahr 1920, ein Sakralbau zum Bedeutungsträger und architektonischen Rahmen für eine Festspielinszenierung. Im Hinblick auf 11

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Mit Petra Maria Meyer verstehe ich Raum in diesem Zusammenhang „weder als eigenständige, unabhängige Entität noch als Behälter für Objekte“. „Vielmehr wird von sozio-kulturell geprägten, künstlerisch-gestalteten, wahrnehmbaren Raumorganisationen ausgegangen, die erst in einer Wechselwirkung mit dem wahrnehmenden Menschen hervorgebracht werden.“ MEYER, 2009, S. 105.

Musikalische Rauminszenierungen

Abbildung 1: Max Reinhardt/Hugo von Hofmannsthal, Das Salzburger Große Welttheater (1922), Salzburger Kollegienkirche. Foto Salzburger Festspiele/ Karl Ellinger

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Constanze Schuler

die Festspielkonzeption erfüllte der Aufführungsort dabei eine wichtige Funktion: Der barocke Kirchenbau des Architekten Johann Fischer von Erlach mit seinen ungewöhnlichen architektonischen und akustischen Voraussetzungen sowie seiner angestammt religiös-liturgischen Nutzung markiert einen Gegenpol zum Alltäglichen, ist sakraler wie auratischer und damit festlicher Ort gleichermaßen.12 Im Rahmen der Vorbereitungen zur Uraufführung des Salzburger Großen Welttheaters maßen Hugo von Hofmannsthal und Max Reinhardt sowohl der Wahl des Aufführungsortes als auch der musikalischen Gestaltung eine zentrale Bedeutung bei und drängten auf eine enge Verbindung zwischen Dichtung, Inszenierung, Aufführungsort und Musik. In einem Brief an Emil Ronsperger, den damaligen Finanzreferenten der Salzburger Festspiele, bezeichnete Hofmannsthal die Musik, „und zwar kostbare alte Kirchenmusik in qualitativ höchster Ausführung“13 als wesentlichen und unabdingbaren Bestandteil der Aufführung. Und an Erzbischof Rieder, dessen Genehmigung für die Spielerlaubnis in der Kollegienkirche lange Zeit ausstand, schrieb Hofmannsthal: „[...] das Welttheater braucht schöne alte würdige Musik, Chöre, Bläser, und vor allem die Orgel; fast wie ein Oratorium muss die Musik darin sein – wo könnte das so schön klingen, ja wo soll man überhaupt, außer in der Kirche und am Domplatz dies ermöglichen?“14 Auch Helene Thimig, die Frau Max Reinhardts, wandte sich im Mai 1922 im Auftrag Reinhardts an Hofmannsthal. Sie übermittelte ihm, und indirekt dem Komponisten Einar Nilson, Wünsche Reinhardts bezüglich der musikalischen Gestaltung. Nilson solle sich „möglichst bald mit dem hiesigen Domkapitular Angelberger verbinden u. sich von ihm über die notwendigen Einzelheiten unterrichten lassen [...]. Reinhardt meint, dass in diesem Fall nicht mehr viel zu componieren wäre.“15 Es ist offensichtlich, dass sowohl Reinhardt als auch Hofmannsthal ein gewisses Maß an „Authentizität“ für die musikalische Gestaltung fordern und dabei, in Übereinstimmung mit dem Aufführungsort, zunächst eine Orientierung an traditionellen Formen von Kirchenmusik ins Auge fassen. Die Musik könne so zum verbindenden Element zwischen Kirche und Theater werden und überdies die Wirkung des letztlich „profanen“ Schauspiels ins beinahe Sakrale steigern. Dabei handelte es sich durchaus auch um eine strategische Argumentationsführung: Die Umnutzung der Kollegienkirche im Rahmen der 12 13 14 15 414

Vgl. hierzu ausführlicher STEINBERG, 2000 und SCHULER, 2007. Zit. nach: HOFMANNSTHAL, 1977, S. 198. EBD., S. 204. EBD., S. 207.

Musikalische Rauminszenierungen

Festspiele durch den jüdischen Regisseur Max Reinhardt stieß sowohl von Seiten der katholischen Kirche als auch seitens bestimmter Bevölkerungsschichten durchaus auf (sowohl religiöse als auch unmissverständlich antisemitisch motivierte) Vorbehalte.16 Die offensichtliche Anlehnung an ein etabliertes, im weitesten Sinne als „katholisch-geistlich“ ]X LGHQWLÀ]LHUHQGHV PXVLNDOLVFKHV Ausdrucks- und Formenrepertoire ist auch dem Wunsch Reinhardts und Hofmannsthals geschuldet, solche Spannungen zu vermeiden und die Kollegienkirche als Uraufführungsort für das Welttheater zu sichern. Während der im Vorfeld geführte Briefwechsel zwischen den Beteiligten Einblicke in programmatische Vorüberlegungen und die generelle Konzeption der Inszenierung geben kann, macht eine differenziertere Betrachtung des Zusammenspiels von Musik, Raum und szenischer Gestaltung in Reinhardts Inszenierung des Salzburger Großen Welttheaters eine vergleichende, quellenkritische Lektüre der verschiedenen Produktionszeugnisse erforderlich:17 Neben der Partitur18 Einar Nilsons stellt vor allem das Regiebuch19 Max Reinhardts hierfür 16 17 18

19

Vgl. hierzu FUHRICH/PROSSNITZ 1990, S. 32. Die Möglichkeiten einer solchen Vorgehensweise können im Rahmen dieses Beitrags selbstredend nur angedeutet und nicht analytisch ausgeführt werden. Das Manuskript Das Große Welttheater, von Hugo von Hofmannsthal. Musik mit Benutzung einiger Themen von Händel von Einar Nilson. PartiturEHÀQGHWVLFKLQ der Newberry Library/Chicago, Illinois und umfasst 59 Seiten mit 14 Nummern für Orgel, Chor und Kammerorchester. Vgl. hierzu auch WALK, 1980, S. 165-167. Eine unvollständige Partitur und einzelne Stimmen lassen sich auch in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek nachweisen. Eine eingehende Analyse des Notentextes bzw. der Partitur Nilsons und ein Abgleich mit dem Regiebuch Reinhardts steht in der Forschung noch aus (wichtige Ansätze hierfür ÀQGHQVLFKMHGRFKEHLWALK 1980). Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive setze ich meinen Fokus hier jedoch auf das Regiebuch als „szenische Partitur“ und Inszenierungsdokument. 'DV2ULJLQDO5HJLHEXFKEHÀQGHWVLFKLP0D[5HLQKDUGW$UFKLYHGHU6WDWH8QLversity of New York/Binghampton; Arbeitsgrundlage für diesen Beitrag war eine Kopie des Regiebuchs aus dem Archiv der Salzburger Festspiele/Max ReinhardtArchiv Salzburg. Allerdings sind hier verschiedene Bearbeitungsphasen – im Original lassen sich diese anhand verschiedenfarbiger Tinte im Ansatz unterscheiden und können mit den nachfolgenden Inszenierungen des Salzburger Großen Welttheaters 1925 und 1933 in Verbindung gebracht werden – nicht erkennbar. Seitenverweise auf das Regiebuch werden im Folgenden direkt in den Fließtext integriert. 415

Constanze Schuler

eine wichtige Quelle dar. Dabei handelt es sich aber durchaus um eine Quelle mit Tücken: Viele Notate sind bereits im Vorfeld der jeweiligen Inszenierungen entstanden und können daher nicht als Beschreibungen der tatsächlichen szenischen Vorgänge gewertet werden. Begreift man jedoch das Regiebuch als eine Art „szenische Partitur“, die als besondere Textsorte zwischen Schriftlichkeit und Performativität angesiedelt ist, kann man dieser „Partitur“ wichtige Hinweise auf die generelle Lesart, auf inszenatorische Intentionen und eine – für die Arbeit Max Reinhardts charakteristische – dramaturgisch-szenische Rhythmisierung20 entnehmen. Immer wieder verwendet Reinhardt musikalisch konnotierte Zeichen (insbesondere den Notenschlüssel und das Zeichen der Fermate), um den Dialogtext auf der rechten Seite des Regiebuchs zu gliedern und zu markieren, wo Musik vorgesehen ist und wo Pausen die gesprochene Sprache VWUXNWXULHUHQVROOHQ$XIGHUOLQNHQ 'XUFKVFKXVV 6HLWHGHV5HJLHEXFKVÀQGHQ sich weitere, z.T. korrespondierende, ausführlichere Angaben, in denen Reinhardt seine Regieideen präzisiert. Bereits einer der ersten handschriftlichen Einträge Max Reinhardts macht deutlich, dass die differenzierte musikalisch-räumliche Organisation einen wichtigen Beitrag zur intendierten Grundstimmung des Vorspiels leistet: „In der Höhe (Turm) Glocken, gedämpft klingend, langs.[ame] Schläge. Der Raum verwandelt sich, das Podium erhellt sich allmählich. Zu den Glocken gesellt sich eine feierliche Musik [...].“ (Regiebuch, S. 9) Glockenklang, Musik und Lichtwirkung bilden eine Art Ouvertüre für das Vorspiel, in dem die Spielsituation etabliert und der Aufführungsort KollegiHQNLUFKH PLW VHLQHQ VSH]LÀVFKHQ DUFKLWHNWRQLVFKHQ V\PEROLVFKHQ XQG DNXVWLschen Dimensionen ins Bewusstsein der Zuschauer gerückt wird. Reinhardts Formulierung („Der Raum verwandelt sich“) ist insofern aussagekräftig, als „Raum“ für Reinhardt offenbar keine starre Größe ist. Die gezielte Kombination verschiedener theatraler Zeichensysteme kann die Raumwahrnehmung beeinÁXVVHQGHQ5DXPTXDVLWUDQVIRUPLHUHQ1HEHQGHP(LQVDW]GHV/LFKWVVFKHLQW an dieser Stelle vor allem die Bühnenmusik bzw. die akustische Dimension einen großen Anteil an dieser Verwandlung des Raums zu haben. Verschiedenen 20

416

Hugo von Hofmannsthal bestimmt das „Rhythmische“ als ein grundlegendes Kennzeichen der Arbeit Reinhardts und bringt es mit Reinhardts besonderem Gespür für räumliche Aspekte von Theater in Verbindung: „Ein starkes rhythmisches Vermögen ist die wesentliche Auswirkung des Kreativen in diesem großen Regisseur; sein ungewöhnliches Raumgefühl ist nur das natürliche Korrelat dazu: denn das Rhythmische ist der Versuch, die Zeit so zu erfassen und zu gliedern wie den Raum.“ HOFMANNSTHAL, 1979, S. 290.

Musikalische Rauminszenierungen

Rezensionen und Berichten ist in diesem Zusammenhang übereinstimmend zu entnehmen, dass Reinhardt auch immer wieder die räumlichen Gegebenheiten der Kollegienkirche, die Orgelempore und die sogenannten Oratorien über den Seitenkapellen für Chöre, Wechselgesänge und einzelne Stimmen genutzt und damit die konkreten architektonischen Gegebenheiten zugunsten einer überirdisch-metaphysischen Wirkung einzusetzen gewusst hat.21 Das Vorspiel macht reichlich Gebrauch von solchen Möglichkeiten und etabliert gleichzeitig die „Spiel im Spiel“-Situation des Stückes: Beim Erscheinen der Figur des Meisters, der gleichzeitig als Schöpfergott und Regisseur eingeführt wird, stimmt der Chor der Engel ein „Gloria aus himmlischer Höhe“ (Regiebuch, S. 10) an. Einar Nilson komponiert dazu ein „Gloria“ nach Motiven Händels, das an das kulturelle Wissen um traditionelle Kirchenmusik appelliert haben dürfte und den szenischen Raum in Analogie zum barocken Kirchengebäude als festlich-liturgisch ausweist. In der Handlung folgt die Spielabmachung des Meisters mit der Welt: „Der Menschen Tun und Treiben ist mir zum Schauspiel würdig. [...] Jetzt bau uns die Bühne her und lass das Spiel anheben“ (Regiebuch, S. 12). Zwei Engel verkünden den Namen des Schauspiels „Tuet Recht: Gott über Euch!“ und Reinhardt notiert dazu im Regiebuch: „Aus der Höhe, von den Emporen, vom Chor überirdische Stimmen, die, den Namen des Schauspiels wiederholend, rufen und sich schließlich [...] vereinen und den Satz im Chor singen.“ (Regiebuch, S. 16) Indem die singenden und rufenden Stimmen an verschiedenen, z.T. uneinsehbaren Standorten im Raum verteilt werden, füllt die Musik den ganzen Raum, bindet die Zuschauer und -hörer akustisch unmittelbar in das Geschehen ein und scheint Raumgrenzen – sowohl im Hinblick auf die Trennung zwischen Zuschauerraum und szenischem Raum als auch hinsichtlich materiell-architektonischer Grenzen – aufzulösen. Ein Gegengewicht hierzu stellt die reduzierte Bühnengestaltung Alfred Rollers dar, die mit einfachen Mitteln auf den modellhaften Charakter dieser szenischen „Versuchsanordnung“ verweist und nicht QXU$WPRVSKlUHHYR]LHUHQVRQGHUQDXFK5HÁH[LRQEHUGLH9HUJlQJOLFKNHLWGHV menschlichen Lebens bewirken soll. Den meisten Rezensionen und Berichten zufolge gelang dies am nachhaltigsten in der sog. „Totentanzszene“. Nachdem sich in der vorhergehenden Szene die Wandlung der Figur des Bettlers im Sinne einer Einsicht in den Spielcharakter den menschlichen Lebens vollzogen hat, greift die allegorische Figur des Todes in das Spiel ein, erinnert die weltlichen Figuren (König, Reicher, Weisheit, Schönheit, Bauer und Bettler) an das Verrinnen ihrer irdischen Zeit und gibt den Rhythmus für einen geisterhaften 21

Vgl. hierzu WALK, 1980, S. 85. 417

Constanze Schuler

Totentanz vor: „Ein dumpfer Paukenschlag. [...] Der Tod steht plötzlich in der Mitte mit einer Trommel, er schlägt mit Knochen einen dumpfen Wirbel. [...] Dann setzen Paukenklappern in einem zwingenden Rhythmus ein.“ (Regiebuch, S. 59) Hugo von Hofmannsthal berichtet mit Blick auf die Probenarbeit, dass das Trommeln vom Darsteller des Todes lediglich pantomimisch angedeutet wurde, während „dieser furchtbare Rhythmus tatsächlich von Pauken und Gongs auf der Orgelgalerie“22 ausgeführt wurde. Erneut boten hier also die architektonischen Voraussetzungen der Kollegienkirche die Möglichkeit, die Zuschauer in einen akustisch belebten Raum einzubinden und eine starre Trennung zwischen Bühnen- und Zuschauerbereich aufzulösen. Im Abgleich mit der Partitur Einar Nilsons arbeitet Cynthia Walk heraus, dass es sich bei der Totentanz-Musik für diese Szene um eine Tonfolge in F-Moll handelt, die vornehmlich von Klarinette und Fagott gespielt und von diversen Schlaginstrumenten begleitet wird: „Pauke, Trommel, Kastagnetten und Tamburin bringen Geräusche hervor, die an Pulsschlag und Windesrauschen erinnern und dadurch eine Vergänglichkeitsstimmung schaffen.“23 Das klare metrische Grundmuster im 9/8 Takt „stört“ den natürlichen Sprechrhythmus der vierhebigen Verszeile und bringt auch das – an das mechanische Spielwerk (mittelalterlicher) Turmuhren erinnernde – Bewegungsmuster der verschiedenen Figuren durcheinander: „Der Tanz wird wider Willen getanzt unter einem geheimnisvollen Zwang“ (Regiebuch S. 59). Zum abschließenden Trauerzug, bei dem der Tod die Figuren bzw. ihre Darstellerinnen und Darsteller einzeln von der Bühne führt, klingen die musikalischen Leitmotive der Figuren noch einmal an – nun in die Molltonart versetzt und als Trauermarschmusik arrangiert.24 Max Reinhardt „instrumentiert“ in dieser Szene die verschiedenen theatralen Zeichensysteme sorgfältig im Hinblick auf den besonderen Aufführungsort und eine organische Gesamtwirkung. Die Dominanz des Wortes, des gesprochenen Textes wird durch die visuell-akustischen Mittel des Theaters aufgehoben. Auch wenn die Musik von Einar Nilson in den meisten Rezensionen allenfalls am Rande erwähnt wird, dürfte sie doch einen wesentlichen Anteil an der Inszenierung gehabt haben und durchaus über reine „Stimmungswerte“25 hinausgegangen sein. Die differenzierte Abstimmung zwischen Architektur, 22 23 24 25

418

HOFMANNSTHAL, 1979, S. 307. WALK,  6  %HL :DON ÀQGHW VLFK DXFK HLQ GRSSHOVHLWLJHU $EGUXFN GHU Partiturseiten zur „Totentanzsszene“, ebd., S. 166f. Vgl. WALK, 1980, S. 109. So heißt es in der Rezension der Salzburger Wacht vom 14.08.1922 recht lapidar: „Die Musik Einar Nilsens [sic!] gibt Stimmungswerte.“

Musikalische Rauminszenierungen

Licht, Musik und Schauspiel generiert im Vollzug der Aufführung verschiedene Räume: Den „Phantasieraum Theater“ ebenso wie den Bedeutungs- und ReÁH[LRQVUDXPGHV+RIPDQQVWKDO·VFKHQÅ7KHDWUXPPXQGL´.ODQJUlXPHHEHQVR wie atmosphärische, aus den Wechselwirkungen zwischen Produktion und Rezeption entstehende Räume. „Was sonst noch in Erinnerung bleiben wird?“ Mit dieser Frage schließt Alfred Möller seine Rezension der Uraufführung und antwortet: „Klangwunder und Lichtwunder, feinste Abtönungen von Glockentönen und Farben. [...] wie hier überhaupt mit Licht und Farbe gedichtet wird, das müssen auch die Feinde Reinhardts (die sich übrigens auffallend mehren) bewundern.“26 Möller verweist hier nicht nur auf den fatalen Fortgang der Geschichte,27 sondern würdigt auch das sensible Zusammenspiel von Musik, Klängen, Farbe und Licht, das in Ergänzung mit dem Dramentext und unter Vermeidung althergebrachter Hierarchien neue Spielorte und Räume für das Theater erschließen kann.

Klaus Michael Grüber – Die Bakchen (1974) Auch die Regiearbeiten Klaus Michael Grübers sind von dieser Suche nach neuen, anderen Räumen für das Theater bestimmt: „Grüber hat in seiner 40-jährigen Regielaufbahn immer wieder das Theater verlassen und nach anderen Orten gesucht, an denen er seine Recherchen unternehmen konnte. Die Wahl dieser Orte war meistens verbunden mit der Geschichte, die diesen Orten eingeschrieben ist.“28 So ist es vielleicht auch mehr als ein Zufall, dass Klaus Michael Grübers letzte Inszenierung von Salvatore Sciarrinos Lucie mie traditrici 2011 in der Salzburger Kollegienkirche stattfand. Da Grüber während der Probenarbeiten verstarb, übernahm die ursprünglich nur für das Bühnenbild verantwortlich zeichnende Künstlerin Rebecca Horn die Probenarbeiten und führte die Inszenierung zur Premiere. Die Nachrufe zum Tod Grübers beschworen nahezu einhellig die visionäre Kraft seiner Inszenierungen, die verstörende Vieldeutigkeit seiner szenischen 26 27

28

Grazer Tagespost vom 16.8.1922. Die Kollegienkirche stand in den Folgejahren nicht mehr für szenische Aufführungen zur Verfügung. Es widerspreche – so ist es in der Zeitschrift Der eiserne Besen YRP]XOHVHQ²ÅGHPVLWWOLFKHQ(PSÀQGHQGHU0HKUKHLWXQVHUHV9RONHV [...], wenn man Gotteshäuser in Komödienstätten umwandelt, in denen rassenfremde und religionsfeindliche Elemente uns ihre undeutschen Künste anbieten“. DERMUTZ, 2008, S. 9. 419

Constanze Schuler

Bildersprache und die (sanfte) Radikalität seiner Raumerkundungen: „Immer schienen da Wände zu fallen, Schranken aufzugehen, Räume sich zu weiten, Gedanken sich zu heben, Gewohnheiten zu zerfallen. Unendlich behutsame, leise Unternehmungen, die sich dem schnellen szenischen Verbrauch widersetzten.“29 Neben seiner auf Fragmenten Hölderlins basierenden Inszenierung der Winterreise im Berliner Olympiastadion (1977) und seiner Faust-Deutung in der Chapelle Saint Louis de la Salpêtrière in Paris (1975), wurde immer wieder auch die Inszenierung der Bakchen von Euripides erwähnt. Die Rezeption dieser mittlerweile berühmt gewordenen und als Aufzeichnung dokumentierten Inszenierung Klaus Michael Grübers aus dem Jahr 1974 steht vor allem unter dem Eindruck der Bildhaftigkeit und Vieldeutigkeit der Inszenierung. Im theaterwissenschaftlichen Diskurs wurde sie unter verschiedenen Blickwinkeln z.B. unter dem Aspekt der Erinnerungskultur,30 der Raum- und Körperkonzepte31 und auch im Hinblick auf den Aspekt der Antikenrezeption diskutiert und analysiert. Vielleicht weil die Inszenierung ohnehin eine (produktive) Überforderung der Rezipienten darstellt, den Zuschauer nötigt, eigene Assoziationen einzubringen und sich dem bildhaften Bewusstseinsstrom der Inszenierung auszusetzen, blieb die von Peter Fischer konzipierte Schauspielmusik bislang weitgehend unbeachtet.32 Gerade unter dem Blickwinkel des Wechselspiels zwischen theatralem (Erinnerungs-)Raum und der Musik offenbart die Inszenierung jedoch eine weitere Facette ihres komplexen Raum-Zeit-Gefüges und ihrer besonderen Faszination. Die Quellenlage lässt hier eine andere Form der Annäherung zu: Zwar ist das Aufführungsereignis unwiederbringlich verloren, doch erlaubt die Aufzeichnung aus dem Jahr 1974 eine analytische Auseinandersetzung mit der Inszenierung, mit den gewählten Zeichen des Raumes, der Musik, der Schauspieler und ihren jeweiligen Kombinationen. Im Kontext dieses Kapitels scheint 29 30 31 32

420

STADELMAIER, 2008. KREUDER, 2002. STENZEL, 2010. Im Abspann der Fernsehaufzeichnung (DIE BAKCHEN, 1974) wird Fischer nicht explizit unter „Musik“ aufgeführt, sondern es heißt dort lediglich: „Es wurde Musik von Peter Fischer und Igor Strawinski verwendet.“ Diese Formulierung lässt evtl. Rückschlüsse auf eine gemeinschaftlich-kollektiv verstandene Konzeption aller szenischer Parameter zu, wie sie für die Arbeit der Schaubühne in diesen Jahren kennzeichnend waren. Gleichzeitig hat diese offensichtliche Zurücknahme des Musikers Fischer aber auch eine differenzierte Beschäftigung mit der musikalischen Ebene der Inszenierung (und der Schauspielmusik im Kontext der frühen Schaubühneninszenierungen generell) bislang verhindert.

Musikalische Rauminszenierungen

also eine semiotische Herangehensweise geeignet, um die szenischen Strategien der Bedeutungserzeugung im Spannungsfeld von Musik und Raum herauszuarbeiten.33 Die Inszenierung Grübers war Teil eines großangelegten Antikenprojekts, das die Schaubühne am Halleschen Ufer in den Jahren 1973/74 initiiert hatte und mit dem man sich bewusst auf die Suche nach den Ursprüngen des europäischen Theaters machen wollte, auch um sich – von diesen (vermeintlichen) Ursprüngen aus gedacht – mit der Frage nach einer Neupositionierung der eigenen Arbeit zu beschäftigen. Schauplatz für beide Teile (Teil I: Übungen für Schauspieler; Teil II: Die Bakchen von Euripides) war der sog. Philips-Pavillon auf dem Berliner Messegelände, der 1957 nach den Plänen der Architekten Arndt und Giebeler errichtet wurde. Vertraut man den Erinnerungen Ivan Nagels, dann begann die Aufführung schon vor dem Betreten der Messehalle: „Vor der Ankunft sah man draußen, in einer Art Hügellandschaft der Winternacht, brennende Feuer, ahnte Menschen, Schauspieler, die sie umlagerten. 8PVRPHKUIKOWHPDQVLFKDOVPDQGLH+DOOHEHWUDWLQHLQHPKDUWGHÀQLHUten Spiel-Raum: gerade, weiß gestrichene Wände bar aller Hänger und KulisVHQHLQHQLHGHUHÁDFKH'HFNHDXVEODXZHL‰HP/LFKWGLH%KQHHLQH(EHQH aus weißen Bohlen. Das Gehäuse war überklar begrenzt, der Zuschauer umschlossen wie im Innern eines leuchtenden Ziegelsteins.“34

Wirkt der von Gilles Aillaud und Eduardo Arroyo konzipierte Bühnenraum in der Aufzeichnung zunächst durch die monochrome Farbgestaltung eher weitOlXÀJ VR ZLUG LQ HLQHU VSlWHUHQ (LQVWHOOXQJ GHXWOLFK GDVV GLH =XVFKDXHU DQ einer Längs- und einer Schmalseite in gestaffelten Sitzreihen recht gedrängt gesessen haben müssen. In den halbdunklen Bühnenraum hinein, der mit Beginn der Inszenierung nur durch einige Neonleuchten an der Decke und durch drei Türöffnungen an der Rückwand beleuchtet wird, erfolgt der Auftritt Dionysos’ (Michael König): Auf einer fahrbaren Krankenbahre liegend wird er von einer Gestalt in einem Ganzkörperanzug und Fechtmaske in die rechte Bühnenmitte 33

34

Diese Vorgehensweise impliziert selbstredend nicht, dass hier der Anspruch erhoEHQZLUGSUlVHQWLVFKHDWPRVSKlULVFKHXQGVLJQLÀNDQWH$VSHNWHGHU,QV]HQLHUXQJ gleichermaßen erfassen oder gar gegeneinander „ausspielen“ zu wollen. Vielmehr wird es hier darum gehen, einen weiteren methodischen Ansatz vorzustellen und im Hinblick auf seine Eignung im Forschungsfeld „Theater mit Musik“ zu diskutieren. Zu einer „Semiotik des Theaters“ vgl. FISCHER-LICHTE, 1983. NAGEL, 2002, S. 151. 421

Constanze Schuler

JHVFKREHQ :lKUHQGGHVVHQ HUKHOOW VLFK GLH 6SLHOÁlFKH JOHLFKPl‰LJ :HLWHUH Teile der Deckenbeleuchtung werden stufenweise hinzugeschaltet, eine Lampe senkt sich langsam über den liegenden Dionysos herab. Dieser Eingangsszene und dem Beginn des Prologs, in dem Dionysos seine Herkunft aus der Verbindung des Gottes Zeus und der Sterblichen Semele erläutert und seinen Anspruch auf die Anerkennung seiner Göttlichkeit formuliert, ist die Apothéose aus Igor Strawinskys Ballettmusik Apollon Musagète unterlegt. Der Prolog beginnt mit den identitätsstiftenden Worten „Ich bin Dionysos“, die der Darsteller Michael König – in die Musik Strawinskys hinein- und über sie hinwegsprechend – nur langsam stammelnd hervorstößt, immer wieder von Neuem Anlauf nehmend und von leisem Lachen unterbrochen. Schließlich gelingt es ihm, seine Identität zusammenhängend zu offenbaren: „Ich bin Dionysos, der Sohn des Zeus, hier vor Theben. Verehrt als Bakchos und als Bromios, der Rauschgott.“35 Die ebenso einfachen wie ungeheuerlichen Worte überbrücken räumliche wie zeitliche Distanzen durch die absolute Gegenwärtigkeit des Theaters und befragen gleichzeitig die etablierten Repräsentationstechniken von Theater auf ihre Gültigkeit und Relevanz. Die eingespielte Musik Strawinskys setzt einen zusätzlichen Akzent, der sich nicht nur im Hinblick auf die besondere Atmosphäre der Eingangsszene interpretieren lässt, sondern auch von semantischer Relevanz ist: Neben den verwandtschaftlichen Verbindungen (entsprechend der griechischen Mythologie sind Apollo und Dionysos beide „außereheliche“ Söhne des Zeus), klingt auch die Dialektik des Apollinischen und des Dionysischen sofort an, wie sie von Friedrich Nietzsche in seiner Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) hinsichtlich einer )XQNWLRQVEHVWLPPXQJGHU7UDJ|GLHSURÀOLHUWZXUGH0LW%OLFNDXIGLHEHLGHQ zentralen Figuren der Tragödie wird dieses antagonistische Prinzip auf den thematischen Horizont der Bakchen übertragen: Hier Pentheus als der vordergründig vernunftgeleitete Herrscher Thebens und dort Dionysos, Gott des Rausches, des Weines, der Ekstase und des Theaters. Die Satzbezeichnung Apothéose verZHLVWDEHUDXFKDXIHLQHVLJQLÀNDQWH$EZHLFKXQJ:lKUHQG$SROORLP+DQGlungsballett als Lenker des Sonnenwagens dargestellt und von den Musen zum Parnass geleitet wird, wird Dionysos in der Inszenierung Grübers – psychisch wie physisch offenbar „derangiert“ – auf einer Krankenliege hereingefahren. Die Erhebung eines Menschen zu einem Gott, wie es der griechische Begriff der

35

422

Die Dialogfassung ist eine Bearbeitung der Schaubühne am Halleschen Ufer Berlin auf Basis der Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt. Die Zitation erfolgt hier direkt auf Basis der Aufzeichnung DIE BAKCHEN, 1974.

Musikalische Rauminszenierungen

Apotheose impliziert, wird Dionysos von den Thebanern und allen voran von ihrem das Prinzip der Rationalität verkörpernden Herrscher Pentheus versagt. Auch hinsichtlich der musikalischen Form- und Stilprinzipien der Komposition Strawinskys lassen sich interessante Querbezüge zur Inszenierung herstellen. Thematisch verweist die Ballettmusik Strawinskys auf die mythische Zeit der antiken Göttersagen, stilistisch wird seine Komposition – ebenso wie die Choreographie George Balanchines, die 1928 in Paris uraufgeführt wurde – der sog. „neoklassischen“ Periode zugerechnet, in der Strawinsky mit einer klaren Formensprache, aber auch parodistischen Verfahrensweisen und einer komplexen Zitiertechnik arbeitete. Insbesondere in seiner Ballettmusik Apollon musagète überlagern sich verschiedene Bedeutungs- und Zeitschichten „auf hintergründige Weise, denn drei Formen von Klassik sind gleichzeitig gegenwärtig: Erstens die Klassik des [...] homerischen Hymnos, zweitens die Klassik Ludwigs des XIV. und drittens das ‚klassische‘ weiße Ballett, das eigentlich das Ballett des 19. Jahrhunderts, der Romantik ist“.36 Bekannte musikalische Vokabeln werden hier zu einer neuen musikalischen Ausdrucksform synthetisiert und beleuchten den Begriff des „Klassischen“ somit neu und anders.37 Trotz Strawinskys in dieser Schaffensphase deutlich ausgeprägter Vorliebe für das „Apollinische“ im Sinne einer geordneten, klar strukturierten Formensprache weist Arnold Whittall unter Rekurs auf jenen letzten Teil, die Apothéose, ein nicht unerhebliches musikalisches Spannungsgefälle nach, das sich durchaus mit den Prinzipien des Apollinischen und Dionysischen in Verbindung bringen lässt:

36 37

HIRSBRUNNER, 1988, S. 31. Dies korrespondiert sowohl mit einer wissenschaftlich geführten Debatte um die „Klassizität“ der Tragödie Euripides’ generell (vgl. hierzu STENZEL, 2010, S. 192208) als auch mit den z.T. anachronistischen Verfahrensweisen und Inszenierungsstrategien Grübers. Insbesondere hinsichtlich der Raumkonzeption in der Eingangsszene vermischen sich verschiedene zeitliche Bezüge und Ebenen, die das Verhältnis des Klassischen, des Archaischen und Modernen mit Blick auf eine szenische Auseinandersetzung mit den Ursprungsmythen des Theaters auszuloten versucht: Elemente von Industriearchitektur (Rohre, Ventilatoren, Lichtschalter) und Technisierung (Straßenkehrmaschine im Hintergrund) sind hier ebenso vertreten wie „archaisierende“ Bezüge in Bühnenbild, Kostüm und Maske (ein eingegipstes Buch mit Schriftfragmenten, zwei lebendige Pferde im Hintergrund, das an antike griechische Statuen erinnernde Erscheinungsbild Dionysos’). 423

Constanze Schuler „Polarity in the ‚Apothéose‘ [...] is represented most basically by the tonal centres of D and B which are both implied by the two-sharp key signature [...]. Another, no less important aspect of the dialogue between convergence and divergence here is the interaction, and also the preserved separation, between the various textural strata.“38

(VLVWGLHVHVLPSOL]LWH6SDQQXQJVSRWHQ]LDOGDVGHU(LQJDQJVV]HQHLKUHVSH]LÀsche Atmosphäre verleiht und leitmotivisch die Auftritte bzw. Begegnungen des Dionysos mit seinem Kontrahenten und alter ego Pentheus kommentiert. Auch im weiteren Verlauf der Inszenierung funktionalisieren Grüber und Fischer Musik als gleichermaßen irritierendes, kommentierendes wie stimmungserzeugendes Moment und greifen das Prinzip anachronistischer Querverweise auf: Der Auftritt des maskenhaft geschminkten Chors der lydischen Bakchen wird durch eine sirrende, das Zirpen von Zikaden und den Klang heller Glöckchen assoziierende Tonspur begleitet, während sich ein Teil der linken Seitenwand nach außen schiebt und für einen kurzen Moment den Blick auf eine „andere Zeit und Welt“39 freizugeben scheint. Archaische, synkopenlastige Trommel- und Tamburinrhythmen bereiten das von der Chorführerin (Katharina Tüschen) gesprochene erste Chorlied vor und leiten eine Umgestaltung des Bühnenraumes ein, unter dessen Bodendielen die Bakchen Erde, Weintrauben, Wolle freilegen und zuletzt auch den blinden Seher Teiresias und Kadmos, den Gründervater Thebens, bergen. Elemente zeitgenössischer Musikästhetik werden prägnant im fünften Chorlied aufgegriffen: Während sich die Frauen des Chores im Raum verteilen und sich mitten unter die Zuschauerränge mischen,40 wird vorproduziertes akustisches Material eingespielt. Elektronisch verfremdete instrumentale Klänge wechseln mit gesprochenen Passagen, Textfragmenten und eingestreuten griechischen Wortfetzen des Chorliedes. Die Tonspur wird dabei sparsam durch live gesprochene Zwischenrufe des Chores der Bakchen ergänzt.41 Der Einsatz dieser mit technischen Mitteln produzierten Soundcollage 38 39 40

41

424

WHITTALL, 2003, S. 50f. NAGEL, 2002, S. 151. Die Kameraführung der Aufzeichnung vermittelt von dieser Raumsituation einen ungefähren Eindruck, indem sich die Kamera einmal um die eigene Achse zu drehen scheint und somit auch den Zuschauerbereich zeigt. Allerdings ist die Aufzeichnung ohne Publikum entstanden und lässt daher nur ansatzweise Rückschlüsse auf die konkrete Aufführungssituation zu. Im Hintergrund besteigt Pentheus (Bruno Ganz) für die Zuschauer sichtbar ein Pferd, das von Dionysos geführt wird, um ihn zum Kithairon zu bringen. Dort

Musikalische Rauminszenierungen

entbehrt nicht einer gewissen inszenierungsimmanenten Logik: Das Schicksal ist an dieser Stelle nicht mehr aufzuhalten, ein veränderndes Eingreifen ist – anders als es die Live-Situation des Theaters prinzipiell immer nahelegt – nicht mehr möglich. Sowohl die Zuschauer als auch die zwischen ihnen sitzenden Darstellerinnen sind handlungs- und bewegungsunfähig, doch das Ohr kann sich dem tragischen Fortgang der Geschichte, das im fünften Chorlied bereits vorweggenommen wird, nicht verschließen. Der nachfolgende Botenbericht ist mit ostinaten Orgelklängen im Stil eines Madrigals unterlegt und setzt so der Ungeheuerlichkeit des Berichts – geschildert wird das tragische Ende Pentheus’ – ein klares Formprinzip gegenüber, das einen Kontrapunkt zur affektbewegten, fast schon gesanglich modulierten Artikulation des Botenberichts durch den Schauspieler Rüdiger Hacker bietet. Der formelhafte, ostinate basso pro organo scheint nicht nur die Emotionen des Chores in Schach zu halten, sondern bewirkt in Kombination mit den visuellen Zeichen eine Veränderung der raumzeitlichen Wahrnehmung: „Der Körper des Schauspielers ist mit einer schlammartigen Masse bedeckt, die langsam von ihm abgleitet. Sichtbar wird durch das Bewußtsein des Zuschauers von Monotonie, also von Statik, und zugleich von Veränderung, also von Bewegung: ein zeitlicher Verlauf.“42 Die akustisch-musikalische Ebene hat an der Generierung von Bedeutung und am sinnlichen Erspüren dieser Szene, die sich in ihrer Gegenüberstellung von Statik und Veränderung scheinbar endlos dehnt, einen wesentlichen Anteil. Die beispielhaft herausgegriffenen Sequenzen machen deutlich, dass sich die Inszenierung Grübers keineswegs nur in ihrer vieldeutigen Bildsprache erschöpft. Die bislang wenig beachtete Schauspielmusik erweitert den assoziativen Horizont der Inszenierung auf akustischer Ebene, wirkt atmosphärisch und bedeutungserzeugend zugleich. Die musikalische Ebene stiftet in enger Verbindung mit dem besonderen Aufführungsort, einem Messepavillon im Zeichen technologischen Fortschritts, vielfältige zeitliche Bezüge zwischen Ursprungsmythos und Aufbruchsgeist, Klassizität und Innovation.

42

will Pentheus, durch Frauenkleider „getarnt“, das Treiben der Bakchantinnen von einem Baumwipfel aus beobachten. Diese ihm von Dionysos planvoll nahegelegte „Strategie“ erweist sich als schicksalhaft: Seine eigene Mutter Agaue hält ihn in dionysisch-rauschhafter Verwirrung für einen Berglöwen und tötet ihn. CANARIS, 1974, S. 34. Vgl. hierzu auch STENZEL, 2010, S. 261-263. 425

Constanze Schuler

Heiner Goebbels – Genko-An 64287 Ein abschließender Blick auf Heiner Goebbels Klang- und Videoinstallation Genko-An 64287 mag an dieser Stelle genügen, um Potenziale für Grenzerweiterungen an der Schnittstelle von Theater, Performance, Architektur, Musiktheater und Installation anzudeuten. Im konventionellen Sinne hat der Terminus „Schauspielmusik“ hier sicherlich seine Grenzen erreicht. Es wäre weiterführend zu diskutieren, wo die Grenzen des Forschungsfeldes „Theater mit Musik“ angesichts der kontinuierlichen Erweiterung des Theaterverständnisses in der zeitgenössischen künstlerischen Praxis zu ziehen sind. Für die Ausstellung A house full of Music, die von Mai bis September 2012 auf der Darmstädter Mathildenhöhe zu sehen und zu hören war und die sich anlässlich des 100. Geburtstags von John Cage den verschiedenen Techniken und Spielarten einer Verbindung von Kunst und Musik im 20. und 21. Jahrhundert widmete, hat Heiner Goebbels im historischen Wasserreservoir unterhalb des Ausstellungsgebäudes eine Klang- und Videoinstallation geschaffen, die vor allem eines sein will: eine Erfahrung. Entsprechend lässt sich die Installation auch nicht allein analytisch-systematisch erschließen, sondern das persönliche, LGHDOHUZHLVHQLFKWWKHRUHWLVFKSUlÀJXULHUWH(UOHEHQZLUG]XU%HGLQJXQJIUMHJliche Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Ereignis. Eine phänomenologisch orientierte Herangehensweise könnte hier eine sinnvolle methodische Basis bereitstellen, über die sich die Bezugssysteme Raum, Musik und Darstellung zueinander in Relation setzen lassen.43 Ausgangspunkt hierfür wäre eine Beschreibung der individuellen Eindrücke vom Betreten der steil ansteigenden, schmalen Stufen über das Wahrnehmen einer auffallenden Temperaturdifferenz, die zunächst undurchdringliche Dunkelheit beim Hinabsteigen in das Wasserreservoir und das unsichere, schrittweise Vortasten auf den schmalen Steg an der Längsseite des Raumes. Während sich die Augen nur langsam an die Dunkelheit gewöhnen, nimmt man schon zarte Klänge wahr, die durch die Nachhallzeit in der Speicherkammer magisch wirken. An der Stirnseite des (meiner Erinnerung nach: mittleren)44 Gewölbes ist eine Projektion zu sehen, die sich zunächst nur XQGHXWOLFKDOVPHQVFKOLFKH*HVWDOWLGHQWLÀ]LHUHQOlVVWHLQHRUJDQLVFKZLUNHQGH hinterleuchtete Form, die sich wie ein Blüte öffnet und schließt oder auch Ähn43 44

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Zu einer Phänomenologie des Theaters vgl. ROSELT, 2004 und 2009. „Im Moment der Erfahrung wird man dieser nie ganz Herr, sie entgleitet einem im Augenblick des Erlebens. [...] Für die Analyse bedeutet dies, dass die Thematisierung der eigenen Erinnerung konstitutiver Teil der Untersuchung sein muss.“ ROSELT, 2004, S. 49.

Musikalische Rauminszenierungen

Abbildung 2: Heiner Goebbels, Genko-An 64287 (2012), Installationsansicht Wasserreservoir, Mathildenhöhe Darmstadt. Ausstellung „A House full of Music. Strategien in Musik und Kunst“. Foto Mathildenhöhe Darmstadt/Wolfgang Günzel lichkeit mit dem Kokon einer Raupe hat. Erst auf den zweiten Blick verdichten sich die Hinweise darauf, dass eine Tänzerin oder Performerin Urheberin dieser Bewegungschoreographie ist, die durch das voluminöse, jedoch aufgrund der VSH]LÀVFKHQ/LFKWZLUNXQJOHLFKWXQGÀOLJUDQZLUNHQGH.RVWPNDXPHUNHQQEDU LVW,QGHU:DVVHUREHUÁlFKHGHV5HVHUYRLUVVSLHJHOWVLFKGDVEHZHJWH%LOGGHU Tänzerin, und durch die Projektion hindurch ist zum Teil das Backsteingemäuer der Zisterne zu sehen. Flankiert wird dieses Bild in den beiden daneben liegenden Speicherkammern durch Projektionen eines grünlich schimmernden Quadrats und eines Kreises. Klang, bewegtes Bild, Licht und Raum verschmelzen zu einem atmosphärisch dichten Gesamteindruck, der den architektonischen Raum um eigene Assoziationsräume erweitert. Diese, nur mehr angedeutete Beschreibung der erinnerten Eindrücke der ersten von zwei verschiedenen Installationen Goebbels’ für das Speicherreservoir

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Constanze Schuler

der Mathildenhöhe45 macht deutlich, dass Hierarchien zwischen den Künsten hier keine Rolle (mehr) spielen; sie werden in der Installation zugunsten eines ausbalancierten Kräfteverhältnisses zwischen Musik, Bild, Bewegung, Sprache, Licht und Raum aufgelöst. Der Fokus liegt auf der Erfahrung der Besucher, dem Wechselspiel zwischen Hören/Nicht-Hören, Sehen/Nicht-Sehen und dem Synthetisieren verschiedener räumlicher – akustischer wie visueller – Informationen zu individuellen Imaginationsräumen. Mit Blick auf eine zunehmend VHOEVWYHUVWlQGOLFKH9HUÁVVLJXQJGHU6SDUWHQXQG*DWWXQJVJUHQ]HQLQGHQYHUschiedenen Formen des Gegenwartstheaters oder der Performance-Kunst wäre weiterführend zu untersuchen, welchen Anteil musikalisch-szenische Verknüpfungen an den raumbildenden und identitätsstiftenden Funktionen von Kunst und Theater haben.

Fazit Unterschiedliche theatral-musikalische Ereignisse, unterschiedliche zeitliche Kontexte, verschiedene Regisseure oder Regisseurinnen und ihre individuellen szenischen Ausdrucksformen: Jede Inszenierung erfordert, entsprechend dem besonderen Erkenntnisinteresse und der jeweiligen Materialbasis, einen eigenen, methodisch basierten Zugriff, der mit Blick auf das Verhältnis von räumliFKHQXQGV]HQLVFKPXVLNDOLVFKHQ3DUDPHWHUQVWHWVQHXUHÁHNWLHUWZHUGHQPXVV Die schlaglichtartigen Analysen konnten deutlich machen, dass das Zusammenspiel von Raum, Musik und szenischer Darstellung ein bislang unterschätztes, aber auch recht komplexes Forschungsfeld für Musik- wie Theaterwissenschaft darstellt. Die Komplexität resultiert aus den vielfältigen methodischen Möglichkeiten ebenso wie aus einer sinnvollen Verschränkung musik- und aufführungsanalytischer Aspekte. Schauspielmusikalische Praxis, wie sie in den besprochenen Beispielen Untersuchungsgegenstand war, nimmt auf architektonische wie symbolische Räume Bezug und erweitert deren Bedeutungsspektrum in Kombination mit anderen theatralen Zeichensystemen. Gleichzeitig kann die Aufmerk45

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Beschrieben wurde von mir Genko-An 64287-1 mit dem Titel Hashigiraki/Lights (3 Videoprojektionen mit Charlotte Engelkes – Performerin, Florence von Gerkan – Kostüm, Klaus Grünberg – Licht). Im zweiten, architektonisch nahezu identischen Wasserreservoir war mit Genko-An 64287-2 eine auf Heiner Goebbels Orchesterstück Walden basierende und mit Stimmen anderer Künstler (u. a. John &DJH+HLQHU0OOHU0DULQD$EUDPRYLþXQG$QGUp0DOUDX[ VRZLHKLVWRULVFKHU Stimmaufnahmen montierte 6-Kanal Soundinstallation zu hören.

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samkeit aber auch auf die raum-zeitlichen Dimensionen und den präsentischen Aspekt des Aufführungserlebnisses gelenkt werden – im Sinne atmosphärischer und/oder imaginärer Räume, die den „Phantasieraum Theater“ be- und entgrenzen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Schauspielmusik im (Sprech-)Theater schon seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert weit mehr als nur dienende Funktionen übernommen hat: Sie kommentiert und illustriert, sie kann ebenso strukturbildend wie Atmosphäre stiftend sein, sie „erzählt das Unformulierbare“46 und hat somit entscheidenden Anteil an der Entstehung und Rezeption theatraler Welten und ihrer raum-zeitlichen Dimensionen.

Literatur B ENDER , R UTH , Wo den Menschen die Sprache ausgeht. Der Musiker Bert Wrede und der Regisseur Michael Thalheimer: von der kreativen Kraft der Herausforderung, in: Die deutsche Bühne, 9 (2004), S. 52-55. BRAUNMÜLLER, ROBERT, Die Emanzipation der Bühnenmusik. Frank Castorf als Opernkomponist, in: Stimmen – Klänge – Töne. Synergien im szenischen Spiel, hg. von HANS-PETER BAYERDÖRFER, Tübingen 2002, S. 325-336. BRÜSTLE, CHRISTA, Tönende Zeit-Räume. Aspekte der Inszenierung und Wahrnehmung von Klang, in: Möglichkeitsräume. Zur Performativität von sensorischer Wahrnehmung, hg. von CHRISTINA LECHTERMANN u. a., Berlin 2007, S. 163-171. C ANARIS , VOLKER, Zeit für Klassiker? Überlegungen aus Anlaß der beiden wichtigsten Theaterereignisse der Spielzeit 73/74, ‚Antikenprojekt‘ bei der Schaubühne, ‚König Lear‘ in: Theater heute, Jahresheft 1974, S. 30-35. DERMUTZ, KLAUS, Klaus Michael Grüber. Passagen und Transformationen (Resonanzen. Theater Kunst Performance), Berlin 2008. D IEDERICHSEN , DIEDRICH, Fülle des Wohllauts. Ein guter Popsong bleibt auch im Theater immer er selbst – von der Rolle der Musik bei Michael Thalheimer, Christoph Marthaler, Alain Platel, Frank Castorf, Meg Stuart und manch anderen, in: Theater heute, 10 (2003), S. 18-25. FISCHER-LICHTE, ERIKA, Semiotik des Theaters. Eine Einführung, 3 Bde., Tübingen 1983. F UHRICH , EDDA/P ROSSNITZ , GISELA, Die Salzburger Festspiele. Ihre Geschichte in Daten, Zeitzeugnissen und Bildern. 1920-1945, Bd. 1, Salzburg/Wien 1990.

46

BENDER, 2004, S. 55. 429

Constanze Schuler

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431

Schauspiel- und Hörspielmusik: Überlegungen zu ihrem Verhältnis am Beispiel von Johan Simons’ „bimedialer“ Inszenierung Die Perser (2011) MICHAEL BACHMANN Schauspiel- und Hörspielmusik haben gemeinsam, dass ihnen im Rahmen der deutschen Musik-, Theater- und Mediengeschichte über lange Zeit eine eher ‚dienende’ Funktion zugesprochen wurde, wobei dies für die auf ihre klangliche Dimension konzentrierte Kunstform Hörspiel paradoxerweise noch stärker zutrifft als für Musik im Theater. Die für den deutschen Rundfunk bis in die 1960er -DKUHKLQHLQHLQÁXVVUHLFKVWHQ+|UVSLHOGUDPDWXUJLHQ²YRQ5LFKDUG.ROE+HLQ] 6FKZLW]NHXQG(XJHQ.XUW)LVFKHU²IRUPXOLHUHQGHQDXVLKUHU6LFKWXQWHUJHordneten Stellenwert der Hörspielmusik jeweils mit größtmöglicher DeutlichNHLW6REHQHQQW]ZDU.ROELQVHLQHULQ%XFKIRUPYHU|IIHQWOLFKWHQ$UWLNHOserie Horoskop des Hörspiels „Wort, Musik und Geräusch“ als die funkischen $XVGUXFNVPLWWHO GRFK NRPPH LP +|UVSLHO ÅGHP:RUW GLH DXVVFKODJJHEHQGH Bedeutung“ zu.1 Bei Fischer heißt es, ebenfalls bereits 1932, dass das „reine Hörspiel [...] Wortkunstwerk“ sei: „Es bedarf der Geräuschkulisse so wenig wie der Musik“.2 Neben dem „reinen“, für ihn an höchster Stelle stehenden WorthörVSLHODN]HSWLHUW)LVFKHU]ZDUDXFK+|UVSLHOHPLW0XVLNGRFKÅNDQQGLH$XIJDEH 1

2

KOLB, 19326$OOHGUHL$XWRUHQ².ROE6FKZLW]NHXQG)LVFKHU²VLQGQDWLRQDOVR]LDOLVWLVFK EHODVWHW .ROE ZDU EHUHLWV VHLW  16'$30LWJOLHG XQG QDKP VLFKGDV/HEHQ6FKZLW]NH 3DUWHLPLWJOLHGVHLW ZDU5HGDNWHXUEHLGHU /LWHUDULVFKHQ $EWHLOXQJ GHV 'HXWVFKODQGVHQGHUV ELV HU VLFK  ]XU /XIWZDIIH PHOGHWH )LVFKHU ZXUGH  ]XP NRPPLVVDULVFKHQ 3URJUDPPGLUHNWRU LQ .|OQ ernannt. Vgl. WESSELS u. DÖHL, 1992. FISCHER, 1932, S. 3; zit. nach TIMPER, 1990, S. 25. 433

Michael Bachmann

der Musik im Hörspiel stets nur eine dienende sein“, so Fischer noch 1964.3 Ein -DKU]XYRUVWDQGLQ6FKZLW]NHVELVKHXWHHLQÁXVVUHLFKHP6WDQGDUGZHUNEHUGLH *HVFKLFKWHXQG'UDPDWXUJLHGHV+|UVSLHOV]XOHVHQÅGHUEHVWH*HEUDXFKYRQ Musik und Geräusch im Hörspiel“ sei derjenige, bei dem „die Hörer am Ende PHLQHQ ZHGHU *HUlXVFK QRFK 0XVLN JHK|UW ]X KDEHQ ² RGHU DEHU ZHQQ VLH 0XVLNXQG*HUlXVFKJHK|UW]XKDEHQJODXEHQREZRKOQLFKWVGHUJOHLFKHQYHUwendet wurde.“49RQ GLHVHU$UW GHV TXDVLYLUWXDOLVLHUWHQ0XVLNHLQVDW]HVVHW]W Schwitzke die „naturalistische Musik-‚Matratze’“ ab, die er als „‚Bühnenmusik’ RKQH%KQH´YHUVWHKW6LHZUGHÅYRQGHQKDQGHOQGHQ3HUVRQHQRGHUIUVLH gemacht, z.B. damit sie im Spiel tanzen können“ und gehöre zu genau denselben sinn- und funktionslosen Scheußlichkeiten wie GeUlXVFKÄ0DWUDW]HQ· GLH OlUPYROOH 6FKDXSOlW]H DQGHXWHQ PVVHQ ZHLO LKUH Verfasser meinen, ein Hörspiel sei desto besser, je größer die Quantität an Hörbarem ist, die es mit sich bringt. 5

'LH QRUPDWLYHQ 3RVLWLRQHQ .ROEV )LVFKHUV XQG 6FKZLW]NHV VLQG QLFKW RKQH weiteres mit der realen Hörspielpraxis und ihrem historisch differenzierten *HEUDXFK GHU $XVGUXFNVPLWWHO Å:RUW 0XVLN XQG *HUlXVFK´ JOHLFK]XVHW]HQ 6HOEVWGLHHU-DKUH²GKGLH+RFK]HLWGHVVRJHQDQQWHQÄOLWHUDULVFKHQ·+|UVSLHOVPLWVHLQHU$EOHKQXQJGHUÄVLQQOLFKHQ·(LJHQVWlQGLJNHLWGHV$NXVWLVFKHQ ² NHQQHQ YRQ$UEHLWHQ ZLH 3LHUUH 6FKDHIIHUV XQG 3LHUUH +HQU\V Symphonie pour un homme seul  RGHUGHUNXU]OHELJHQ*DWWXQJGHU)XQNRSHUJDQ] zu schweigen,6 auch im Bereich des deutschsprachigen Worthörspiels z.B. die *RHWKHXQG6FKQLW]OHU%HDUEHLWXQJHQYRQ0D[2SKOV0LWGHQ.RPSRQLVWHQ Karl Sczuka (Goethes Novelle XQG3HWHU=ZHWNRII 6FKQLW]OHUVBerta Garlan  VFKDIIWGHUYDDOV)LOPUHJLVVHXUEHNDQQWH2SKOVHLQGLFKWHV*HZHEHYRQ(Uzählerrede, Dialogpartikeln, innerem Monolog, Geräuschen und Musik, wobei 3 4 5 6

434

FISCHER, 19646 SCHWITZKE, 1963 6  =X 6FKZLW]NHV DQKDOWHQGHP (LQÁXVV YJO HWZD +DQV Jürgen Krugs Kleine Geschichte des Hörspiels (KRUG, 2003  SCHWITZKE, 1963, S. 221f. =XU:LFKWLJNHLWGHU)XQNRSHULP1DFKNULHJVGHXWVFKODQGYJOOSTER, 2010. Nach $QIlQJHQLQGHU:HLPDUHU5HSXEOLNZXUGHQLQGHU%XQGHVUHSXEOLN]ZLVFKHQ XQG]ZDQ]LJ VSH]LÀVFKIUGDV5DGLRJHVFKULHEHQH )XQNRSHUQSURGX]LHUW darunter z.B. Hans Werner Henzes Ein Landarzt   VHLW  JLEW HV ² DEJHVHKHQ YRQ ZHQLJHQ $XVQDKPHQ ZLH (UQVW .UHQHNV Zauberspiegel   ² NDXPQHXH$UEHLWHQGLHVLFKGHP*HQUH]XUHFKQHQODVVHQ

Schauspiel- und Hörspielmusik

OHW]WHUH²RKQHGDVVLQQKDIWH:RUWMHPDOV]XUFN]XGUlQJHQ²HLQHGXUFKDXVGRPLQDQWH 5ROOH LQ GLHVHP .ODQJÁXVV HLQQHKPHQ7 6FKDHIIHU YHUVWHKW GLH YRP französischen Radiosender RTF produzierte Symphonie pour un homme seul als „SURORQJHPHQWGHFHWDUWGUDPDWLTXHSRXUDYHXJOHV>gemeint ist das Hörspiel], né lui aussi de la radiodiffusion“XQGYHUZHLVWVRDXIGLHHQJH9HUELQGXQJGHU YRQLKPEHJUQGHWHQmusique concrète zu Formen des nicht-literarischen Hörspiels, wie sie im deutschsprachigen Raum in der Weimarer Republik und seit GHQVSlWHQHU-DKUHQYHUVXFKWZXUGHQ,KUHHKHUXQWHUJHRUGQHWH6WHOOXQJ in der Hörspielszene der 1950er Jahre hängt auch damit zusammen, dass DraPDWXUJHQZLHGHU6'50LWDUEHLWHU)LVFKHUYDDEHU6FKZLW]NHDOV/HLWHUGHU +|UVSLHODEWHLOXQJGHV1RUGZHVWGHXWVFKHQE]Z1RUGGHXWVFKHQ5XQGIXQNV YRQ ELV GLH.XQVWIRUPNHLQHVZHJVEOR‰WKHRUHWLVFKÅEHVFKUHLEHQVRQGHUQ>VLH@SURJUDPPDWLVFKTXDVLYRQLQQHQKHUDXVGHÀQLHUHQ´XQGSUDNWLVFK mit bestimmen.9 Dabei spielt Musik in Schwitzkes und Fischers Überlegungen sowie bei .ROEDXIGHQVLFKGLHEHLGHQEHUXIHQQLFKWQXUDOV1HJDWLYXPHLQH5ROOH=XP Beispiel akzeptieren sie diese dort, wo „das Wort allein nicht mehr genügt, seinen JDQ]HQ,QKDOWHUIDVVHQ]XODVVHQ´ZRLKUHGUDPDWXUJLVFKH5HOHYDQ]GDULQEHsteht, jenes zu unterstützen und die „Schwingung der Sprache“ weiterzutragen.10 ,QGLHVHP6LQQHYHUVXFKW)LVFKHUVHLJHQHV+|UVSLHOTrommel, Trommel, Gong  HLQHQUK\WKPLVLHUWHQ0XVLNHLQVDW]YRQ6FKODJ]HXJXQG3HUFXVVLRQXP GDV LQ PHKUHUHQ 'LDORJHQ YHUKDQGHOWH9HUKlOWQLV YRQ 0DVVH XQG ,QGLYLGXXP ²6SUHFKFKRUXQG(LQ]HOVWLPPH²]XGUDPDWLVLHUHQ11 Schwitzke formuliert als *UXQGVDW] IU GHQ ÄULFKWLJHQ· *HEUDXFK YRQ 0XVLN XQG *HUlXVFK GLHLQ WKHRUHWLVFKHQ$XVHLQDQGHUVHW]XQJHQ PLW GHP +|UVSLHO LPPHU ]XVDPPHQJHGDFKW werden, es dürfe „im Hörspiel keine Musik ohne eine Handlungsfunktion und kein Geräusch ohne eine Sinnfunktion für den thematischen Zusammenhang“ geben.12'LH)RUGHUXQJQDFKGUDPDWXUJLVFKHU5HOHYDQ]GLHLQGHU*HVFKLFKWH der Schauspielmusik ihre Vorläufer kennt,13 führt dabei, wie Schwitzkes oben zitierte Haltung zum ‚besten’ *HEUDXFKYRQ0XVLNXQG*HUlXVFKDQGHXWHW]XU 7  9 10 11 12 13

%HLGH3URGXNWLRQHQHQWVWDQGHQIUGHQ6GZHVWIXQNLQGHQ-DKUHQ Novelle  und 1956 (Berta Garlan =X2SKOVDOV+|UVSLHOUHJLVVHXUYJONABER, 1993. SCHAEFFER, 1967, S. 22. ZEYN, 1999, S. 47. KOLB, 1932, S. 96-97. Vgl. TIMPER, 1990, S. 25f. u. 43f. SCHWITZKE, 19636 Vgl. STOLLBERG, 20126X 435

Michael Bachmann

$XÁ|VXQJYRQ0XVLNXQG*HUlXVFK6FKZLW]NHHQWZLFNHOWHLQ*HVFKLFKWVPRGHOOLKUHUGLDOHNWLVFKHQ$XIKHEXQJLP:RUWGDGLHVHVGDVÅ6XEOLPH´GHU0XVLN PLWGHPÅ.RQNUHWHQ´GHV*HUlXVFKVYHUVFKPHO]H14 )UGHQYRUOLHJHQGHQ%HLWUDJLVWHLQHVROFKH%HKDXSWXQJQLFKWUHOHYDQWZHLO VLHÄULFKWLJ·ZlUH²VLHLVWKLVWRULVFKZLGHUOHJWGXUFKGLHELVKHXWHDQKDOWHQGH $XIZHUWXQJYRQ0XVLNXQG*HUlXVFKLP+|UVSLHOXP²VRQGHUQZHLOLKUH DEVROXWH$EZHUWXQJYRQ+|UVSLHOPXVLNPLWHLQHU$UWÄ(QWJUHQ]XQJ·GHV0XVLkalischen einhergeht. Wenn nach Schwitzke Musik auch dann zu hören ist, wenn VLHJDUQLFKWYHUZHQGHWZXUGHVWHKWGDV9HUKlOWQLVYRQ0XVLNLPHQJHUHQ6LQQH zu musikalischen Strukturen im weiteren oder gar metaphorischen Sinn zur DeEDWWH:LHLFKLPIROJHQGHQDUJXPHQWLHUHQZHUGH]LHKWVLFKGLHVH)UDJH²WURW] DOOHU8PZHUWXQJHQLKUH$QWZRUWEHWUHIIHQG²DOVXQWHUVFKZHOOLJH.RQWLQXLWlW durch die Geschichte des Hörspiels. So spielt sie auch eine Rolle für die ‚EntJUHQ]XQJHQ·GHV0XVLNDOLVFKHQGLHLFKDP%HLVSLHOYRQ-RKDQ6LPRQVÅELPHGLaler“ Perser,QV]HQLHUXQJ %50QFKQHU.DPPHUVSLHOH XQWHUVXFKH6LH EHWUHIIHQGDV9HUKlOWQLVYRQ6FKDXVSLHOXQG+|UVSLHOPXVLNXQWHUGHQ9RU]HLFKHQGHUPHGLDOHQÄ(QWJUHQ]XQJ·VRZLHGDV9HUKlOWQLVYRQ0XVLNXQG6SUDFKH

Intermediale Öffnungen: Hörspiel und Theater Zu den wichtigsten Entwicklungen der neueren deutschen Hörspielgeschichte gehört die intermediale Öffnung der Kunstform, insbesondere in Richtung TheDWHU XQG /LYH3HUIRUPDQFH VHLW GHQ IUKHQ HU-DKUHQ15 Diese hat histoULVFKH9RUOlXIHU DP EHNDQQWHVWHQ YLHOOHLFKW LQ %HUWROW %UHFKWV Å0HGLHQ XQG Theaterexperiment“/LQGEHUJKÁXJPLWGHU0XVLNYRQ3DXO+LQGHPLWKXQG.XUW Weill, das 1929 bei den Baden-Badener Kammermusiktagen szenisch aufgeführt und wenig später im Rundfunk ausgestrahlt wurde.16 Die gegenwärtige 6LWXDWLRQ XQWHUVFKHLGHW VLFK MHGRFK PLWXQWHU GDGXUFK GDVV GLH 3RVLWLRQLHUXQJ YRQ +|UVSLHO DOV RIIHQHU XQG PHGLDO YHUQHW]WHU .XQVWIRUP XELTXLWlU VFKHLQW 6LHÀQGHWVLFKQLFKWPHKUQXULQGH]LGLHUWH[SHULPHQWHOOHQ$QRUGQXQJHQ²LP 5DKPHQ YRQ %UHFKWV Ä5DGLRWKHRULH· IXQJLHUWH GHU /LQGEHUJKÁXJ als „Modell

14 15 16

436

Vgl. SCHWITZKE, 19636 Vgl. SCHMEDES, 2002, S. 43-51; KRUG, 2003, S. 111-145; SCHÄTZLEIN, 2006; SEIBERT u. BACHMANN, 2013. $OVÅ0HGLHQXQG7KHDWHUH[SHULPHQW´XQWHUVXFKWPRIMAVESI den LindberghÁXJYJODXFKKLOTZ, 2002.

Schauspiel- und Hörspielmusik

für eine neue9HUZHQGXQJ>GHU@$SSDUDWH´17²VRQGHUQHEHQVRDXILQVWLWXWLRQHOOHU(EHQHXQGEHL0DVVHQYHUDQVWDOWXQJHQZLHGHQDXVYHUNDXIWHQ7RXUQHHQGHU Drei Fragezeichen6SUHFKHU6SLHOHQGLHVHYRUELV]X0HQVFKHQ)ROJHQ GHUHUIROJUHLFKHQ.LQGHUK|UVSLHOVHULHOLYHQDFK ist hinsichtlich des institutionellen Wandels die 1996 erfolgte Umbenennung der BR-Hörspielredaktion in „Hörspiel und Medienkunst“ kennzeichnend. Für Redaktionsleiter Herbert Kapfer wächst dem „alten Medium Rundfunk [...] eine neue Vermittlungsfunktion ]XGLHGDULQEHVWHKWGLHYRQ$XWRUHQ0XVLNHUQ3URGX]HQWHQ0HGLHQNQVWOHUQ XQGWKHRUHWLNHUQLQWHQGLHUWHQ9HUNQSIXQJHQGHU.QVWH´YRUDQ]XWUHLEHQ19 Neben Theatern werden zunehmend auch Museen zu Kooperationspartnern solcher Dramaturgien der intermedialen ‚Verknüpfung’, z.B. das Zentrum für .XQVWXQG0HGLHQWHFKQRORJLH =.0 .DUOVUXKH²VHLW$XVWUDJXQJVRUWGHU $5'+|UVSLHOWDJH²RGHUGDV.|OQHU0XVHXP/XGZLJLQGHPGHU7KHDWHUXQG +|UVSLHOUHJLVVHXU3DXO3ODPSHUVHLQHÅUlXPOLFKH+|UVSLHOV]HQH´20 Ruhe I .RSURGXNWLRQ:'5  HLQJHULFKWHWKDW$XI 7LVFKHQ VLQG  /DXWVSUHFKHU YHUWHLOW DXV GHQHQ GLH 6WLPPHQ YHUVFKLHGHQHU &DIp RGHU 5HVWDXUDQWJlVWH ]X hören sind; dabei steht je ein Lautsprecher für eine Stimme. Durch ein FenVWHUGDVGLH,QVWDOODWLRQDOVDEVWUDNWH/LFKWZDQGDQGHXWHW 5DXPJHVWDOWXQJ(YL :LHGHPDQQ EHREDFKWHQGLHQXUVWLPPOLFKDQZHVHQGHQ*lVWHHLQH*HZDOWWDW und reden darüber. Wer die „begehbar[e] Hörspielskulptur“21 besucht, kann sich DQGLH7LVFKHVHW]HQXQGGLHNRQWLQXLHUOLFKDEODXIHQGHQ*HVSUlFKH²HVKDQGHOW VLFKXPFDIQIPLQWLJH/RRSV²LQEHOLHELJHU5HLKHQIROJHK|UHQ22 17 

19 20 21 22

BRECHT, 19926PHLQH+HUYRUKHEXQJ Seit 2002 gehen die Drei Fragezeichen6SUHFKHUPLW/LYH/HVXQJHQGHU+|UVSLHOH XQG QHX JHVFKULHEHQHU )ROJHQ  DXI 7RXUQHH  WUDWHQ VLH YRU RIÀ]LHOO  Zuschauern in Berlin auf. Für das Format der bisherigen Tourneen gilt, dass „der Theateraspekt am ehesten beim Licht-Design und in einigen ausgewählten Momenten zur Geltung“ kommt, die „explizit mit der Bühnensituation spielen“, so Regisseur Kai Schwind: „Die Sprecher sind Sprecher und sollen nicht plötzlich mit .RVWPHQRGHU5HTXLVLWHQKDQWLHUHQ´ SCHWIND, 2009R6  KAPFER, 2001, S. 317. PLAMPER, 2009, o.S. Ebd. 'DVYRP:'5SURGX]LHUWH+|UVSLHOHUKLHOWGHQUHQRPPLHUWHQ+|UVSLHOSUHLV GHU.ULHJVEOLQGHQ'LHLP5XQGIXQNDXVJHVWUDKOWHXQGDXI&'YHUWULHEHQH)DVVXQJ PXVV]ZDUHLQHQEHVWLPPWHQ3DUFRXUVGXUFKGLH*HVSUlFKHDXVZlKOHQYHUVXFKW DEHU GLH UlXPOLFKH 'LPHQVLRQ GHU ,QVWDOODWLRQ EHL]XEHKDOWHQ LQGHP VLH QHEHQ GHPMHZHLOVIRNXVVLHUWHQ*HVSUlFKDQGHUH'LDORJH²GKDOVRGLHÄ1HEHQWLVFKH· 437

Michael Bachmann

%H]RJHQ DXI GDV 9HUKlOWQLV YRQ 6FKDXVSLHO XQG +|UVSLHOPXVLN LVW GLHVH (QWZLFNOXQJKLQ]XUVWlUNHUHQLQWHUPHGLDOHQ9HUNQSIXQJXDGHVKDOEYRQ,QWHUHVVH ZHLO YLHOH 3URGXNWLRQHQ GLH VLFK JHJHQZlUWLJ Ä]ZLVFKHQ· %KQH XQG 5XQGIXQN YHURUWHQ ÅLP .RQWH[W HLQHU DQ 0XVLN RULHQWLHUWHQ 'UDPDWXUJLH´ stehen,23XQGGHUPXVLNDOLVFKHQ(EHQHHLQHQKRKHQ6WHOOHQZHUW]XZHLVHQ$XI Ruhe I WULIIWGDVZHQLJHU]XHVVWLPPWMHGRFKLQVEHVRQGHUHIUYLHOH+|UVWFNH GHV%D\HULVFKHQ5XQGIXQNVVHLWGHQHU-DKUHQ'HVKDOELVWHVNHLQ=XIDOO ZHQQ*|W]6FKPHGHVJHUDGHDXFK$UEHLWHQGLHVHU5XQGIXQNDQVWDOWDOV%HLVSLHOHIUMHQH7HQGHQ]QHQQWXD$QGUHDV$PPHUVApocalypse Live  ²EHL GHPDXIPXVLNDOLVFKHU(EHQHGDV3ULQ]LS+LWSDUDGH GKGLH.U]HGHU6RQJV XQGGLH'LVSDUDWKHLWGHU6WLOH YRP5XQGIXQNLQV7KHDWHUXQGZLHGHU]XUFN ins Hörspiel übertragen wird24²VRZLH3KLOLS-HFNVVinyl Coda I-III  0LW HLQHPÅ0LQL2UFKHVWHU´25DXV.RIIHUSODWWHQVSLHOHUQXQG]HUNUDW]WHQ/3VPLVFKW -HFN0XVLN6SUDFKIHW]HQ]%YRQ6HOEVWKLOIHSODWWHQXQG*HUlXVFKH]XDWPRsphärischen Soundschleifen. Für die ersten beiden Teile der Coda geschah das OLYHLP5XQGIXQNVWXGLRGHUGULWWH7HLOIDQGLQGHU%HUOLQHU$NDGHPLHGHU.QVWH VWDWW ² HUJlQ]W GXUFK HLQH9LGHRSURMHNWLRQ GHUHQ DEVWUDNWH )DUEVSLHOH ÅDP (QGH GHU 3HUIRUPDQFH HLQH VFKZDU]H URWLHUHQGH 6FKHLEH HUJDE>HQ@ 9LQ\O´26 Stellte der Hörspieldramaturg Werner Klippert schon für die 1970er Jahre fest, dass „[m]anche Stücke moderner Komponisten [...] ebenso in einem Konzert des 20. Jahrhunderts wie auch im Hörspielprogramm aufführbar“ sind,27 wird GLHVH*DWWXQJVYHUXQVLFKHUXQJGXUFKGLHgIIQXQJGHV+|UVSLHOSURJUDPPV]XU

23 24 25 26

27

438

² LP +LQWHUJUXQG SUlVHQW KlOW XQG ]ZDU QLFKW DOV 6WLPPHQJHZLUU LP 6LQQH HLQHU DWPRVSKlULVFK HLQJHVHW]WHQ Ä*HUlXVFKNXOLVVH· VRQGHUQ PLW YHUVWlQGOLFKHQ 6lW]HQ/DXW3ODPSHUVROOWHQÅUlXPOLFKH)UDJHVWHOOXQJHQLQGLH7RQHEHQHXQGGLH 'UDPDWXUJLH KLQHLQ´ JHGDFKW ZHUGHQ ZLH XPJHNHKUW GLH ,QVWDOODWLRQ ÅGHQ 7RQ als Ereignis im Raum, als Raum selbst sichtbar und erfahrbar“ machen wollte (PLAMPER, 2009R6  SCHMEDES, 2002, S. 45. Vgl. BACHMANN, 2013. KAPFER u.a., 2006, S. 50. (EG 6  ,P -DKU  HUJlQ]WH -HFN GLH Vinyl Coda XP HLQHQ YLHUWHQ 7HLO GHUOLYHLQHLQHP0QFKQHU&OXEDXIJHQRPPHQXQGYRP%D\HULVFKHQ5XQGIXQN DXVJHVWUDKOW ZXUGH $OOH YLHU 7HLOH VLQG EHL LQWHUPHGLXP UHFRUGV ² HLQHP 3ODWWHQODEHOGDVHQJPLWGHP%5]XVDPPHQDUEHLWHW²DXI&'HUKlOWOLFK KLIPPERT, 1977, S. 49. Klippert denkt dabei z.B. an Mauricio Kagel, Dieter Schnebel XQG-RKQ&DJH

Schauspiel- und Hörspielmusik

/LYH3HUIRUPDQFH²-HFNPLVFKWVHLQH3ODWWHQWDWVlFKOLFKÄNRQ]HUWDQW·YRU3XEOLNXP²QRFKHLQPDOJHVWHLJHUW Schmedes zufolge liegt ein Grund für die Wichtigkeit musikdramaturgischer Überlegungen im Hörspiel der Gegenwart darin, dass seit den späten 1960er -DKUHQ²LQ1DFKIROJHGHVVRJHQDQQWHQ1HXHQ+|UVSLHOV²ÅGLHJHJHQVHLWLJ>H@ 'XUFKGULQJXQJGHUlVWKHWLVFKHQ3DUDPHWHUYRQ+|UVSLHOXQG0XVLN´ an bzw. LQ$UEHLWHQYRQ*HUKDUG5KP0DXULFLR.DJHO+HLQHU*RHEEHOVXQGDQGHUHQ VRZRKOWKHRUHWLVFKGLVNXWLHUWDOVDXFKSUDNWLVFKYROO]RJHQZXUGH,P*HJHQVDW] zu der in den 1950er Jahren in Westdeutschland dominanten HörspieldramaWXUJLHGHUHQ*HULQJVFKlW]XQJYRQ0XVLNXQG*HUlXVFKLFKHLQJDQJVVNL]]LHUW KDEHVRUJHQGLHYHUVFKLHGHQHQ$QVlW]HGLHXQWHUGHU%H]HLFKQXQJ1HXHV+|UVSLHO ]XVDPPHQJHIDVVW ZHUGHQ IU HLQH$XIZHUWXQJ YRQ 0XVLN *HUlXVFKHQ XQGGHP.ODQJ²HKHUDOVGHP6LQQ²YRQ:|UWHUQ=HQWUDOLVWGDEHLIUYLHOH +|UVSLHOWKHRUHWLNHUXQGSUDNWLNHUGHU=HLWZDV+HOPXW+HL‰HQEWWHOPLW dem Begriff „Hörsensation“ bezeichnet. Sie stehe zwischen der „pure[n] Nachricht auf der einen und [der] musikalische[n] Sublimation auf der anderen Seite“.29 Spielt diese Gegenüberstellung auf einen Musikbegriff an, der Musik als referenzlos begreift,30XQWHUJUlEW+HL‰HQEWWHOGLH'LFKRWRPLHYRQÄ.ODQJ·XQG Ä,QKDOW·LQGHPHUGHUÅ+|UVHQVDWLRQ´HLQH=ZLVFKHQVWHOOXQJ]XVFKUHLEWIUGLH der „reine Klang einer Stimme“ und die „Metrik eines Geräuschs“ ebenso wichWLJVHLZLHGHUÅSXUH,QKDOWHLQHU>@,QIRUPDWLRQ´31 Bei dem Komponisten und Hörspielmacher Mauricio Kagel wird diese Dialektik im Sinne der GattungsYHUXQVLFKHUXQJJHZHQGHWZHQQHUXPEHJLQQWÅ0XVLNDOV+|UVSLHO´]X konzipieren: Das Hörspiel sei „weder eine literarische noch eine musikalische, VRQGHUQOHGLJOLFKHLQHDNXVWLVFKH*DWWXQJXQEHVWLPPWHQ,QKDOWV´32 Laut Kagel LVW HV YRQ GHU ÅPHKU RGHU ZHQLJHU DEVWUDNW>HQ@´ 0XVLN GXUFK GLH Å.RQNUHWKHLW´²GDPLWPHLQWHUGLH%HGHXWXQJVGLPHQVLRQ²YRQ6SUDFKHXQG*HUlXVFK

 29 30 31

32

SCHMEDES, 2002, S. 44. HEISSENBÜTTEL, 1972, S. 222. =XU.ULWLNDQGLHVHU$XIIDVVXQJYJOMEINECKEGURK, 2012. Vgl. HEISSENBÜTTEL, 1972'DVVGLH$XIZHUWXQJGHUNODQJOLFKHQ(LJHQZLUNOLFKNHLW YRQ0XVLN*HUlXVFKXQG6SUDFKHNHLQH$XVVFKDOWXQJGHUVHPDQWLVFKHQ'LPHQVLRQ EHGHXWHW OlVVW VLFK DQ ]DKOUHLFKHQ $UEHLWHQ GHV 1HXHQ +|UVSLHOV ² HWZD YRQ /XGZLJ+DULJ)UDQ]0RQXQG:ROI:RQGUDWVFKHN²]HLJHQ'LHVHRSHULHUHQPLW HLQHU5HLEXQJ]ZLVFKHQÄ.ODQJ·XQGÄ,QKDOW·LQQHUKDOEGHUHUVLFKGLH$XIZHUWXQJ GHV.ODQJOLFKHQDOV,GHRORJLHNULWLNHQWIDOWHW9JOBACHMANN, 2009. KAGELSCHÖNING, 19706 439

Michael Bachmann

unterschieden;33]XJOHLFKDEHUODVVHHVVLFK²DOVÅDNXVWLVFKH*DWWXQJ´²SULPlU musikalisch begreifen, da „alles, das sich akustisch darstellt, an dem Grad seiner Musikalität“ zu messen sei.34 $XIGLHVH:HLVHQlKHUQVLFK+|UVSLHOHLQVJHVDPWGHU0XVLNDQHLQ9RUJDQJ der auch daran festzumachen ist, dass der nach dem Komponisten Karl SczuNDEHQDQQWHXQG]XPHUVWHQ0DOYHUOLHKHQH3UHLVIU+|UVSLHOPXVLNVHLW QLFKWPHKU+|UVSLHOPXVLNLPHQJHUHQ6LQQHVRQGHUQÅGLHEHVWH3URGXNWLon eines Hörwerks“ auszeichnet, „das in akustischen Spielformen musikalische Materialien und Strukturen benutzt“.35,QGHU]ZHLWHQ$XVJDEHGHUMusik in Geschichte und Gegenwart 0** drückt sich diese Entwicklung dadurch aus, GDVV+|UVSLHOPXVLNQLFKWPHKU²ZLHLQGHU(UVWDXÁDJH²DOV0XVLNLPHQJHUHQ 6LQQHYHUVWDQGHQZLUGEHLGHUÅ>LP@'LHQVWHGHVGUDPDWLVFKHQ$XVGUXFNV>@ YRUDOOHP.QDSSKHLWJHERWHQ´VHL36 Stattdessen wird „Musik als abgrenzbare[r] Bestandteil eines Hörspiels“ nur am Rande und unter dem Signum des Traditionalismus behandelt;37LP=HQWUXPVWHKWQXQHLQHDOVDPELYDOHQWEH]HLFKQHWH Funktion der Musik im Kontext der Radiokunst [...]: einerseits als Musik im HQJHUHQ6LQQHJOHLFKUDQJLJPLW6WLPPODXWHQ ]%6SUHFKVWLPPHQ XQG ]% VLWXDWLRQVEH]RJHQHQ *HUlXVFKHQDQGHUHUVHLWVDOV0XVLNLPZHLWHUHQ6LQQH in die auch Geräusche und Stimmlaute integriert sein können.

Wie bei Schwitzke kommt es, wenngleich unter gewandelten Vorzeichen, zu einer ‚Entgrenzung’ des Musikalischen in seiner theoretischen Beschreibung, die Musik in Richtung Sprache und Sprache in Richtung Musik öffnet. 33 34 35

36 37  440

KAGEL, 19916 KAGELSCHÖNING, 19706=X.DJHOV+|UVSLHODUEHLWXQGGHP9HUKlOWQLVYRQ +|UVSLHOXQG0XVLNYJOKLÜPPELHOLZ, 1977 sowie FRISIUS. NABER u.a., 20056KLHU]LWLHUWQDFKGHU6DW]XQJYRQ%HLHLQHUHUVWHQ Satzungsänderung aus dem Jahr 1970, die ihrerseits auf einen Vorschlag der -XU\ YRQ  ]XUFNJLQJ NRQQWH DOWHUQDWLY QRFK ÅGLH EHVWH .RPSRVLWLRQ HLQHU +|UVSLHOPXVLN´ HEG6 DXVJH]HLFKQHWZHUGHQ'LHVH²QLFKWPHKUDXVJHQXW]WH ²0|JOLFKNHLWZXUGHPLWGHU6DW]XQJVlQGHUXQJHQGJOWLJEHKREHQ'DVHUVWH +|UVSLHO GHP GHU ÄHUZHLWHUWH· .DUO6F]XND3UHLV YHUOLHKHQ ZXUGH ZDU .DJHOV (Hörspiel) Ein Aufnahmezustand :'5   =XU *HVFKLFKWH GHV 3UHLVHV YJO NABER u.a., 2005. GOSLICHGERICKE, 1963, Sp. 1103. FRISIUSXD6S (EG6S

Schauspiel- und Hörspielmusik

Sprache und Musik: Die Stimmen der Perser Bei Jecks Vinyl CodaVFKHLQWGHU%H]XJ]XP*HQUH+|UVSLHOYRUDOOHPLQVWLWXWLRQHOOGXUFK3URGX]HQWXQG3URJUDPPSODW]EHVWLPPW6WDWWXQWHUGHU5XEULN „Hörspiel und Medienkunst“ ließe sie sich aber ebenso gut z.B. als „experimentelle Musik“ fassen.39'HPJHJHQEHUIROJWGLH3URGXNWLRQGLHLP=HQWUXPGHV YRUOLHJHQGHQ%HLWUDJVVWHKW²-RKDQ6LPRQV·5XQGIXQNXQG7KHDWHULQV]HQLHUXQJYRQ$LVFK\ORV·Persern DXVGHP-DKU .R5HJLH.DWMD/DQJHQEDFK  ²HLQHUÄHQJHUHQ·+|UVSLHOGHÀQLWLRQGDVLHELV]XHLQHPJHZLVVHQ*UDGQRFK PLWGHQSUREOHPDWLVFKYHUHQJWHQ*DWWXQJVEHVWLPPXQJHQGHVVRJHQDQQWHQÄOLWHUDULVFKHQ·+|UVSLHOVGHUHU-DKUH]XJUHLIHQLVW2EZRKOLKU8PJDQJPLW *HUlXVFKXQG0XVLNYRQGHVVHQ3UD[LVDEZHLFKWZLUGDXFKEHLLKUGDV:RUW VWlUNHUJHZLFKWHWDOVMHQHXQG6SUDFKHKDWSULPlUGLH$XIJDEHHLQH+DQGOXQJ ]XEHGHXWHQGLHEHUGDV=XVDPPHQVSLHOYRQSHUVRQDOJHPHLQWHQ6WLPPHQHUzählt wird. Trotzdem wäre es nicht nur aus historischen Gründen falsch, Simons’ Perser dem ‚literarischen’ Hörspiel zuzuordnen. Der Grund hierfür liegt nicht darin, dass die PerserPLWLKUHU5HGXNWLRQDOOHUlX‰HUHQ+DQGOXQJDXIGLH)RUPYRQ Bericht und Klage, keinem dramatischen Theatermodell entsprechen.40,P*HJHQWHLOJHKWGHUYRQGHQÄNODVVLVFKHQ·+|UVSLHOGUDPDWXUJLHQ .ROE6FKZLW]NH )LVFKHU JHIRUGHUWH)RNXVDXIGLHLQQHUH+DQGOXQJ²+|UVSLHOVROOHÅPHKUGLH Bewegung im Menschen, als die Menschen in Bewegung“ zeigen41²PLWHLQHU Tendenz zum Monologischen einher; für diese stellt es keinen Bruch dar, dass die Perser ZHQLJHUGDYRQKDQGHOQZDV]%GLH.|QLJVPXWWHU$WRVVDGHU%RWH RGHUGHU&KRUWXQDOVGDUEHUZDVVLHLQODQJHQ%HULFKWHQHU]lKOHQZDVLKQHQ erzählt wird, und wie sie sich bei der Erzählung fühlen.42 Wohl aber lässt sich ein Widerspruch zwischen dem Stücktext und der Dramaturgie des ‚literarischen’ Hörspiels dann sehen, wenn man die „Diskursform“ der griechischen Tragödie ²PLW+DQV7KLHV/HKPDQQ²DOVHLQHGHUÅ.RSUlVHQ]YRQ6WLPPHQ´EHJUHLIW43 Für die Theoretiker des ‚literarischen’ Hörspiels liegt der Mehrwert der gespro39

40 41 42 43

9JO GLH HQWVSUHFKHQGH (LQRUGQXQJ 3KLOLS -HFNV DOV ÅH[SHULPHQWDO WXUQWDEOLVP >@WKDWRZH>V@DVPXFKWRWKHFRQWLQXRXVO\GURQLQJHQHUJ\RI/D0RQWH&KULVWLDQ@ 0DUFOD\´ LQ 7KRP +ROPHV· Geschichte der elektronischen und experimentellen Musik (HOLMES6  Vgl. LEHMANN, 1991. KOLB, 1932, S. 41. Vgl. LEHMANN, 1991, S. 45, mit Bezug auf LATTIMORE, S. 31. Ebd. 441

Michael Bachmann

chenen gegenüber der geschriebenen Sprache in ihrer Lösung aus jeder Materialität, die zugleich den Vorrang des Hörspiels gegenüber anderen ‚Sprechkünsten’ ²LQVEHVRQGHUHGHP6FKDXVSLHO²GDULQ]XEHJUQGHQVXFKWGDVVGDV+|UVSLHO GXUFKGHQ:HJIDOOYLVXHOOHU=HLFKHQHLQHYRP.|USHUÄEHIUHLWH·6WLPPH $UQKHLP ELHWH'LHVHGRSSHOWHÄ(QWN|USHUOLFKXQJ· GKGHU:HJIDOOYRQ6FKULIW]HLFKHQ XQG SKlQRPHQDOHU /HLEOLFKNHLW  ELOGHW MHQHU $XIIDVVXQJ ]XIROJH GLH Voraussetzung dafür, dass das Hörspiel seinen ‚Sinn’ auf einer ‚inneren Bühne’ HQWIDOWHQNDQQGLH6SUHFKHUXQG+|UHUDQJHEOLFKYHUVFKPLO]W44 Demgegenüber zielen Lehmanns Überlegungen zur Stimmlichkeit der griechischen Tragödie JHUDGHQLFKWDXIGLHYHUPHLQWOLFKH(QWPDWHULDOLVLHUXQJGHV.ODQJOLFKHQ]XJXQVten ihrer referentiellen Sinn-Dimension, sondern auf die physische 3UlVHQ]GHU 6WLPPHGLH5RODQG%DUWKHVDOVÅJUDLQGHODYRL[´EH]HLFKQHW45 Das Subjekt der griechischen Tragödie konstituiert sich demnach weniger im Gesprochenen als LP3UR]HVVGHV6SUHFKHQVLQHLQHPDOVÅDXVJHGHKQWH>V@)UDJHXQG$QWZRUWVSLHO´LQV]HQLHUWHQ6WLPP:HFKVHOGHU²VR/HKPDQQ²HKHUÅmusikalische[n] als sachliche[n] Bestrebung[en]“ folgt.46 Bezogen auf Heiner Müllers Perser-Bearbeitung aus dem Jahr 1991 (nach GHUhEHUVHW]XQJYRQ3HWHU:LW]PDQQ HUNOlUWGLH7KHDWHUZLVVHQVFKDIWOHULQ8OULke Haß diese ‚Musikalität’ als Festhalten an der ‚Buchstäblichkeit’ und potentiHOOHQ)UHPGKHLWYRQ6SUDFKHLP3UR]HVVGHV6SUHFKHQV+D‰]XIROJH|IIQHQGLH YRQ0OOHU:LW]PDQQDXVGHP*ULHFKLVFKHQEHUQRPPHQHQ:HKNODJHQ 2D 2D,R,R2LRLRLHWF ÅGLH.HKOHQGHQ5DFKHQ6WLPPOLSSHQ/XIWU|KUH´IU eine „Stimme zwischen Laut und Bedeutung“, die „keine Rede“, sondern „der 2UWGHU.ODJH´VHL47 Bereits im Griechischen würde das „reiche Repertoire der attischen Tragödie an Exklamationen“, so Lehmann, die „Stimme [...] ganz zu VLFK´NRPPHQODVVHQÅLQGHU/XVWDP$XVVSUHFKHQGHV4XDOYROOHQ´ Für die deutsche Übertragung macht Haß dieses Zur-Sich-Kommen der Stimme an der ‚Sperrigkeit’ der Müllerschen Textfassung fest, die sie gegen die ‚VerständlichNHLW· GHU hEHUVHW]XQJ YRQ 'XUV *UQEHLQ   VWHOOW49 2EZRKO 6LPRQV IU 44

45 46 47  49 442

=X GLHVHU $XIIDVVXQJ XQG ]XU .ULWLN GDUDQ YJO BACHMANN, 2009. Den Begriff GHU ÅLQQHUHQ %KQH´ YHUZHQGHW LQVEHVRQGHUH GHU +|UVSLHODXWRU (UZLQ :LFNHUW (WICKERT, 1954 ]XUÄHQWN|USHUOLFKWHQ6WLPPH·YJOARNHEIM, 20016 Vgl. BARTHES, 2002. LEHMANN, 19916+HUYRUKHEXQJLP2ULJLQDO HASS, 2009, S. 231. LEHMANN, 19916+HUYRUKHEXQJLP2ULJLQDO/HKPDQQEH]LHKWVLFKKLHUDXI SCHADEWALDT, 1970, S. 25f. Vgl. HASS, 2009, S. 230f.

Schauspiel- und Hörspielmusik

seine Theater- und Hörspielinszenierung letztere Fassung wählt, erklärt auch er, ]XQlFKVWQLFKWYRP6LQQJHKDOWVRQGHUQYRQGHUÅ0XVLNDOLWlWGLHVHU6SUDFKH´ DXV]XJHKHQXQGGLHLQLKUDXVJHGUFNWH(PRWLRQDOLWlWEHUGHQ,QKDOWGHV%HULFKWV²YRP8QWHUJDQJGHUSHUVLVFKHQ)ORWWHLQGHU6FKODFKWEHL6DODPLV²]X stellen.50

Musik und Musikalisierung: Die ‚Grenzen’ der Schauspielmusik Mit Schauspiel- und Hörspielmusik im engeren Sinne haben die eben zitierten $XVIKUXQJHQEHUGLHÄSK\VLVFKH3UlVHQ]·GHU6WLPPHXQGGLHÄ0XVLNDOLWlW· der Sprache oder des Sprechens auf den ersten Blick wenig zu tun. Sie werden für deren Betrachtung und die Betrachtung ihres Verhältnisses jedoch aus zwei Gründen wichtig: (UVWHQV OlVVW VLFK ZLH 'DYLG 5RHVQHU DUJXPHQWLHUW LP HXURSlLVFKHQ XQG nordamerikanischen Theater seit den 1990er Jahren ein stärkeres Bewusstsein für „Verfahren der Musikalisierung“ beobachten, die Roesner an TheaterarbeiWHQ&KULVWRSK0DUWKDOHUV(LQDU6FKOHHIVXQG5REHUW:LOVRQVXQWHUVXFKW51 Dabei bringt er sein Forschungsinteresse auf die bündige Formel, er strebe keine Å$QDO\VHYRQ6FKDXVSLHOPXVLNVRQGHUQYRQ6FKDXVSLHOals Musik“ an.52 Um VLQQYROOYRQHLQHUÅ0XVLNDOLVLHUXQJGHV7KHDWHUV´VSUHFKHQ]XN|QQHQVR5RHVQHUPVVHVLFKÅGLH(LQZLUNXQJPXVLNDOLVFKHU3ULQ]LSLHQDXIPLQGHVWHQVHLQH WKHDWUDOH$XVGUXFNVHEHQH´QDFKZHLVHQODVVHQGHU$QWHLOYRQ6FKDXVSLHOPXVLN im engeren und ‚traditionellen’ Sinne sei dabei aber „weder notwendige noch hinreichende Bedingung“.53 Trotzdem ergibt sich aus dieser Feststellung, dass HVXPJHNHKUWIUGLH$QDO\VHYRQ6FKDXVSLHOPXVLNLP]HLWJHQ|VVLVFKHQ7KHDWHU wichtig ist, ihre Beziehung zur „Materialität theatraler Kommunikation in ihrer >P|JOLFKHQ@0XVLNDOLWlW>@XQG>GHP@PXVLNDOLVFKH>Q@3RWHQWLDOYRQ6SUDFKH Geräusch, Bewegung, etc.“ mit zu untersuchen.54 Selbst wenn man sich nur auf GLH7KHDWHUIDVVXQJYRQ6LPRQV·Perser,QV]HQLHUXQJ EHVFKUlQNHQZUGH²XQG außer acht ließe, dass sie zugleich für eine Rundfunkausstrahlung intendiert 50 51 52 53 54

9JOGHQRIÀ]LHOOHQ:HEWUDLOHU]XUPerser,QV]HQLHUXQJXQWHUZZZ\RXWXEHFRP ZDWFK"Y :8&MLK;JTIV OHW]WHU=XJULII  Vgl. ROESNER, 2003. Ebd., S. 35. Ebd., S. 36. Ebd., S. 34. 443

Michael Bachmann

ZDU²ZUGHDXJHQIlOOLJGDVVVLHHLQH8QWHUVXFKXQJMHQHU%H]LHKXQJLQEHVRQGHUHU:HLVH]XOlVVW'LH3URGXNWLRQVHW]WPLWHLJHQVIUVLHJHVFKULHEHQHQ .RPSRVLWLRQHQYRQ&DUO2HVWHUKHOW6FKDXVSLHOPXVLNLPHQJHUHQ6LQQHHLQXD DOV HLJHQVWlQGLJH ,QVWUXPHQWDOVWFNH ]XU 8QWHUPDOXQJ YRQ 6SUHFKSDVVDJHQ RGHU DOV 9HUWRQXQJ HLQHV &KRUOLHGV 'LH 0XVLNHU ² QHEHQ 2HVWHUKHOW 3DXNH 0DULPED QRFK6DOHZVNL 0DULPED XQG0DWKLV0D\U &HOOR ²VLQGLPV]HQLVFKHQ 5DXP GLH JDQ]H =HLW SUlVHQW 'HU &KRU VHOEVW ZLUG YRQ HLQHU HLQ]LJHQ6FKDXVSLHOHULQ +LOGHJDUG6FKPDKO JHVSURFKHQDEHUHUJlQ]WGXUFKHLQHQ ZHLWJHKHQGÄVSUDFKORVHQ·&KRUDXV.ULHJVÁFKWOLQJHQGLHLQ'HXWVFKODQG$V\O beantragt haben, und Menschen, die als Kinder den zweiten Weltkrieg erlebt KDEHQ6FKDXVSLHOPXVLNLQGLHVHU,QV]HQLHUXQJPXVVLP9HUKlOWQLV]XUYRQ6Lmons betonten „Musikalität [der] Sprache“ und den präzise choreographierten %HZHJXQJHQGHVÄVWXPPHQ·&KRUVE]ZLQGLYLGXHOOHU&KRUPLWJOLHGHUGXUFKGHQ V]HQLVFKHQ5DXPJHVHKHQZHUGHQHLQHZHLWOlXÀJHQ+DOOHDXIGHP*HOlQGHGHU HKHPDOLJHQ%D\HUQ.DVHUQHLQ0QFKHQ)UHLPDQQ 'LH VR DXIJHZRUIHQH )UDJH QDFK GHP9HUKlOWQLV YRQ 6FKDXVSLHOPXVLN LP HQJHUHQ 6LQQH XQG GHQ PXVLNDOLVFKHQ 6WUXNWXUHQ HLQHU ,QV]HQLHUXQJ JHZLQQW ²]ZHLWHQV²GDGXUFKDQ5HOHYDQ]GDVVHVVLFKEHL6LPRQV·Persern um keine ‚reine’ Theaterinszenierung handelt. Ungefähr sechs Wochen nach der TheaterSUHPLHUHZXUGHGLHYRQ6LPRQVJHPHLQVDPPLWGHU+|UVSLHOUHJLVVHXULQ.DWMD Langenbach erstellte, Rundfunkfassung der Perser DXI%D\HUQHUVWJHVHQGHW Ein am Vorabend ausgestrahlter „Werkstattbericht“ des BR-Hörspielredakteurs Norbert Lang kennzeichnete die anstehende Sendung als Bestandteil einer „biPHGLDOH>Q@,QV]HQLHUXQJ´XQGYHUZLHV]%GDUDXIGDVVGLHGDV+|UVSLHOVXEWLO EHUODJHUQGHQ Ä1HEHQJHUlXVFKH· ZLH $WPHQ 6HXI]HQ HWF  GLH 3UlVHQ] GHV VSUDFKORVHQ )OFKWOLQJV XQG =HLW]HXJHQFKRUV YRP V]HQLVFKHQ LQ GHQ IXQNLschen ‚Raum’ übertragen sollten.55 Mit diesem Medienwechsel stellt sich die Frage nach den ‚Grenzen’ der Schauspielmusik bzw. ihrem Verhältnis zu musiNDOLVFKHQ,QV]HQLHUXQJVZHLVHQLPDOOJHPHLQHQQRFKHLQPDODQGHUV=XPHLQHQ ZHLO GLH YRQ 5RHVQHU XQWHUVXFKWH Ä0XVLNDOLVLHUXQJ· YRQ 7KHDWHU ² ZLH REHQ VNL]]LHUW²HLQH3DUDOOHOHLP+|UVSLHOQDFKKDWGLH]%YRQ:HUQHU.OSpelholz und Rudolf Frisius schon früh mit dem Begriff der Musikalisierung be55

444

Die Perser KDWWHQDP0DL3UHPLHUHGLH+|UVSLHOIDVVXQJZXUGHUXQGVHFKV :RFKHQVSlWHUDP-XQLXUJHVHQGHWGHUÅ:HUNVWDWWEHULFKW´YRQ1RUEHUW/DQJ bereits am Vorabend im Rahmen der Sendung hör!spiel!art.mix. Beide Sendungen stehen seit der Erstausstrahlung im BR-Hörspielpool zum Download zur Verfügung. 9JO ZZZEUGHUDGLRED\HUQVHQGXQJHQKRHUVSLHOXQGPHGLHQNXQVWSRGFDVWV KRHUVSLHOSRROLQGH[KWPO OHW]WHU=XJULII 

Schauspiel- und Hörspielmusik

schrieben wurde.56=XPDQGHUHQZHLOGLHYHUPHLQWOLFKVLFKHUHPHGLDOHÄ*UHQ]H· YRQ6FKDXVSLHOPXVLNDOV%H]HLFKQXQJIUÅ0XVLNLPVRJSprechtheater“,57 zuPLQGHVWLQV6FKZDQNHQJHUlWZHQQHLQH,QV]HQLHUXQJÅELPHGLDO´NRQ]LSLHUWLVW GKGLH+|UVSLHOIDVVXQJ²WURW]GHU1DFKWUlJOLFKNHLWLKUHU$XVVWUDKOXQJ²QLFKW DOV SRWHQWLHOOPLQGHUZHUWLJHV 1HEHQSURGXNWRGHU'RNXPHQWGHU7KHDWHUDXIführung abgetan werden kann; und die Schauspielmusik dadurch mit gleicher Berechtigung als Hörspielmusik zu hören ist. 'LH0XVLNVWFNHYRQ2HVWHUKHOWEOLHEHQEHLGHUPHGLDOHQhEHUWUDJXQJVWUXNWXUHOOHUKDOWHQDXFKGLH+|UVSLHOIDVVXQJHU|IIQHWGHPQDFK²DEJHVHKHQYRQGHU 7LWHODQVDJH²HEHQVRZLHGLH7KHDWHULQV]HQLHUXQJPLWHLQHPJHWUDJHQHQ7UDXHUmarsch, der im Vergleich zu anderen Hörspielen der Gegenwart ungewöhnlich ODQJHFDYLHU0LQXWHQÄIUHLVWHKW·GKGDVVHUYRQNHLQHQVSUDFKOLFKHQbX‰HUXQJHQEHUODJHUWRGHUEHJOHLWHWZLUG(UVWGDQDFKWULWW6FKPDKODOV&KRUIKUHULQVWLPPOLFK LP+|UVSLHO E]ZVWLPPOLFKXQGN|USHUOLFK LQGHU.DVHUQHQKDOOH DXI'HQQRFKlQGHUWVLFKDXFKGLH0XVLNEHLGHUPHGLDOHQ7UDQVIRUPDWLRQ ZHQQJOHLFK QLFKW VR UDGLNDO ZLH GHU ÄVWXPPH· &KRU 1HEHQ GHU JHZDQGHOWHQ $NXVWLNYRP5DXPNODQJGHVJHUlXPLJHQ$XIIKUXQJVRUWV]XGHQ%R[HQGHU heimischen Stereoanlage, besteht der größte Unterschied darin, dass die Musiker selbst nicht in Erscheinung treten. Dem Theater- und MedienwissenschaftOHU3KLOLS$XVODQGHU]XIROJHEHJLQQHQ.RQ]HUWHQRFKEHYRUGHUHUVWH7RQ]X K|UHQLVWGDGLH$XIIKUXQJYRQ0XVLNVLFKQLFKWDXIGLHVHVHOEVWEHVFKUlQNHQ OlVVWVRQGHUQLPPHUDXFKPXVLNDOLVFKHÄ3HUVRQDH·SHUIRUPLHUWÅ7KHDQDO\VLV ,SURSRVHHQWDLOVWKLQNLQJRIPXVLFLDQVDVVRFLDOEHLQJV³QRWMXVWLQWKHVHQVH that musical performances are interactions among musicians [...], but also in the ODUJHUVHQVHWKDWWREHDPXVLFLDQLVWRSHUIRUPDQLGHQWLW\LQDVRFLDOUHDOPµ :DV $XVODQGHU IU 0XVLNHU,QQHQ LP *HJHQVDW] HWZD ]X 2SHUQVlQJHU,QQHQ XQG6FKDXVSLHOHU,QQHQIHVWVWHOOW²GDVVVLHDXIGHU%KQHZHQLJHUlVWKHWLVFKH DOVVR]LDOH5ROOHQDXIXQGDXVIKUHQ²JLOWDXFKIU2HVWHUKHOW6DOHZVNLXQG 0D\U'LH7KHDWHULQV]HQLHUXQJEHJLQQWPLWLKUHPGHXWOLFKVLFKWEDUHQ*DQJ]X GHQ,QVWUXPHQWHQGLH]ZDUDPUHFKWHQ5DQGDEHUQRFKLQQHUKDOEGHVV]HQLVFK EHVSLHOWHQ5DXPVSRVLWLRQLHUWVLQG'DGLH+DOOHDEJHVHKHQYRQHLQLJHQ+RO]paletten und Sandsäcken weitgehend leer geräumt und hell erleuchtet ist, kann VLFKGHU%OLFNJDQ]DXIGLH0XVLNHUNRQ]HQWULHUHQ'LH,QV]HQLHUXQJOHJWMHGRFK QLFKWQDKHGDVVVLH%HVWDQGWHLOHLQHUÄÀNWLYHQ:HOW·VLQG6LHJHKHQVR]XVDJHQ LQ LKUHU )XQNWLRQ DOV 0XVLNHU DXI ZHQQ VLH GLH ,QVWUXPHQWH VSLHOHQ DEHU VLH 56 57 

Vgl. KLÜPPELHOLZ, 1977 u. FRISIUS. ALTENBURGJENSEN6S+HUYRUKHEXQJLP2ULJLQDO AUSLANDER, 2006, S. 101. 445

Michael Bachmann

YHUVFKZLQGHQQLFKWLQGHU0XVLNDQGHUVEHLGHU+|UVSLHOIDVVXQJZRQLFKWQXU GHU²LQGHU.DVHUQHQKDOOHRIWZLHGHUKROWH²*DQJ]XGHQ,QVWUXPHQWHQIHKOW VRQGHUQDXFKGLH6LFKWEDUNHLWGHUPXVLNDOLVFKHQ$XVIKUXQJ'DHVVLFKQLFKW um elektronisch erzeugte Musik handelt, geht die Referenz auf die ausführenden 0XVLNHU²LP6LQQHGHULQGH[LNDOLVFKHQ%H]LHKXQJYRQ.ODQJHU]HXJXQJXQG .ODQJVRZLHKLQVLFKWOLFKLKUHUVSH]LÀVFKHQ6SLHOZHLVH²QLFKWYHUORUHQ'HQnoch ist sie ungleich abstrakter als in der Theaterfassung, weil keine greifbare PXVLNDOLVFKH3HUVRQDLP6LQQH$XVODQGHUVSHUIRUPLHUWZLUG59 'DUDXVHUJLEWVLFKYHUJOHLFKWPDQ7KHDWHUXQG+|UVSLHOIDVVXQJDOVJOHLFKberechtigte Bestandteile der ‚bimedialen’ Perser,QV]HQLHUXQJHLQEHUGLHYHUPHLQWOLFKHQ 0HGLHQJUHQ]HQ KLQZHJ SDUDGR[ VSLHJHOELOGOLFKHV 9HUKlOWQLV YRQ Schauspiel- bzw. Hörspielmusik im engeren und musikalischen Strukturen im weiteren Sinne: ,QGHU.DVHUQHQKDOOHVWHKWGLH6LFKWEDUNHLWGHU0XVLNHUVLQQELOGOLFKIUGLH $EJUHQ]XQJGHU6FKDXVSLHOPXVLNYRQGHQ6WLPPHQGHU6FKDXVSLHOHUXQGGHQ %HZHJXQJHQGHVÄVWXPPHQ·&KRUV2EZRKOGLH0XVLNHUELVZHLOHQGLUHNWYRQ GHU &KRUIKUHULQ DGUHVVLHUW ZHUGHQ LQGHP VLFK GLH 6FKDXVSLHOHULQ +LOGHJDUG Schmahl ihnen aus nächster Nähe zuwendet und in ihre Richtung spricht, bleiEHQVLH)UHPGN|USHULPV]HQLVFKHQ5DXP6LHVLQGVWXPPZLHGHU&KRUGRFK DEJHVHKHQYRPNXU]HQ:HJ]XGHQ,QVWUXPHQWHQUHJORV6LHUHDJLHUHQQLFKWDXI das Gehörte, außer mit einer Musik, deren formale Strukturen erkennen lassen, GDVVGLHVHQLFKWLPSURYLVLHUWLVWXQGGHUHQSUl]LVHJHWDNWHWHU(LQVDW]VLHDOV%Hstandteil eines kompositorischen Gesamtplans ausweist. Hier deutet sich bereits DQGDVVQLFKWQXUGLH0XVLNHUVRQGHUQGLH0XVLNVHOEVW²EHUGLH)UDJHGHU 6LFKWEDUNHLWKLQDXVJHKHQG²HLQHQ$EVWDQG]XU6SUDFKHGHU7UDJ|GLHPDUNLHUW :RKOJHPHUNWLVWGLHVHU$EVWDQGQLFKWLQIRUPDOHU+LQVLFKWJHJHEHQ(VKDQGHOW sich in beiden Fällen um die Suche nach einer Form für Klage und Trauer. VielPHKUHQWVWHKWGHU$EVWDQGDXVGHP.ODQJGDGLH6FKDXVSLHOHU0LNURSRUWVYHUwenden und ihre aus Lautsprechern dringenden Stimmen deshalb grundsätzlich DXIHLQHUDQGHUHQ(EHQHOLHJHQDOVGLHXQYHUVWlUNWH0XVLN%HVRQGHUVGHXWOLFK wird diese Kluft, die auch ein Bruch zwischen Stimme und Körper ist, wenn 59

446

8QJHDFKWHW GHU UHODWLYHQ %HNDQQWKHLW YRQ 2HVWHUKHOW DOV 6FKODJ]HXJHU GHU %DQG )UHLZLOOLJH6HOEVWNRQWUROOH )6. XQGGHPJUR‰HQ6WHOOHQZHUWGHQ0XVLNLQGHU Hörspielfassung der Perser HLQQLPPWYHUZHLVWGLH3URGXNWLRQVHKUYLHOZHQLJHU DXIVHLQHPXVLNDOLVFKH3HUVRQDDOVGDVHWZDEHLGHQ.RRSHUDWLRQHQYRQ$QGUHDV $PPHUPLWGHQ0XVLNHUQ)0(LQKHLW&RQVROHRGHU8OULNH+DDJHGHU)DOOLVWGLH LQGHVVHQ+|UVSLHOHQSURPLQHQWDOV0LWUHJLVVHXU,QQHQVRZLHDXIGHQ3ODWWHQFRYHUQ GHUYHU|IIHQWOLFKWHQ&')DVVXQJHQHUZlKQWZHUGHQ

Schauspiel- und Hörspielmusik

]%GHU%RWH 6WHIDQ+XQVWHLQ GHQODQJHQ:HJYRQGHU5FNZDQGGHU+DOOHELVXQPLWWHOEDUYRUV3XEOLNXPVFKQHOOHQ6FKULWWHVGXUFKVFKUHLWHWGRFKGDEHL VHLQH6WLPPHLKUH%H]LHKXQJ]XP5DXP²DXIJUXQGLKUHU$EQDKPHGXUFKGDV 0LNURSKRQ XQG GHU hEHUWUDJXQJ GXUFK /DXWVSUHFKHU ² NDXP lQGHUW 2EZRKO VLHDQDQGHUHQ6WHOOHQGLH:RUWHGHU&KRUIKUHULQXQWHUPDOWNRPPHQ0XVLN und Sprache in dieser Hinsicht nur einmal zusammen: Gegen Ende wird der bis GDKLQVWXPPH&KRUXPGLH0XVLNHUKHUXPJUXSSLHUW6HLQH0LWJOLHGHUVLQJHQ HEHQVRXQYHUVWlUNWXQGDXVGHUDNXVWLVFKJOHLFKHQ5DXPSRVLWLRQZLHGLHVHHLQH LQVWUXPHQWDOEHJOHLWHWH5HSOLNGHV&KRUVDOV.ODJHOLHG 2MDEHUOD‰PLUGDV.ODJHQ =HXJHQZLOOLFKYRQDOOXQVHUHQ/HLGHQ 8QGYRP8QWHUJDQJXQVHUHU6FKLIIH Hinabgerissen zum Meeresgrund. Mir bleibt der Jammer um unsre Söhne. Verlaß dich drauf: ich will klagen Laut und mit all meinen Tränen. Laut und mit all meinen Tränen.60

:HQQ DEHU ;HU[HV 1LFR +RORQLFV  GHU GLH 3HUVHU LQ GHQ 8QWHUJDQJ JHIKUW hat, in seinen letzten Repliken nicht mehr bloß zur Trauer auffordert („Weint nur, beweint diesen Untergang“61 VRQGHUQDXFK]XGHUHQ%HZlOWLJXQJ Å8QG dann geht nach Haus“62  ZLGHUVSULFKW LQ 6LPRQV· ,QV]HQLHUXQJ ² LP +|UVSLHO ZLH LP 7KHDWHU ² HLQH MXQJH )UDX DXV GHP &KRU Å1RZKHUH WR JR´ )U GLH Kritikerin Sabine Leucht „kommt dieser Realitäts-Einbruch so plötzlich, dass man fast erschrickt“.63:DVEHLLKUQHJDWLYJHPHLQWLVWOlVVWVLFKSRVLWLYZHQden als Festhalten am Moment und an der Begründung der Klage: Gewinnt die künstlerische Form ihre Berechtigung darin, dass sie erinnert, liegt ihre Gefahr im Vergessen durch eine falsche Bewältigung der Trauer, wo sich die Umstände GHV7UDXHUQV ÅQRZKHUHWR JR´ QLFKWJHlQGHUWKDEHQ$XFK GLH EHVFKULHEHQH $EJUHQ]XQJGHU0XVLNGLHPLWGHU6SUDFKHGHU7UDJ|GLHNRUUHVSRQGLHUWGRFK YRQLKUJHWUHQQWEOHLEWNDQQVRHUNOlUWZHUGHQ

60 61 62 63

AISCHYLOS, 20016'LHOHW]WH=HLOHZLUGQXULQGHU/LHGIDVVXQJYRQ6LPRQV· ,QV]HQLHUXQJQLFKWLQGHU7H[WYRUODJHZLHGHUKROW (EG6 Ebd. LEUCHT, 2011, o.S. 447

Michael Bachmann

Die Hörspielfassung dreht dieses Verhältnis, wie oben angedeutet, um: Hier VWHKWGLH8QVLFKWEDUNHLWGHU0XVLNHUVLQQELOGOLFKIUGLH$QQlKHUXQJGHU0XVLN an die übrigen klanglichen Komponenten, d.h. die fragenden und berichtenden 6WLPPHQ VRZLH GLH YRP ÄVWXPPHQ· &KRU HU]HXJWHQ *HUlXVFKH GLH WHLOZHLVH VHOEVW²LQ)RUPHLQHV6XPPHQV²5LFKWXQJ0XVLNZHLVHQ=XGHPNRUUHVSRQdieren Musik und Sprache hier nicht nur formal, sondern sind enger miteinander YHU]DKQW'LHGXUFKGHQ(LQVDW]YRQ0LNURSRUWVYHUXUVDFKWH6SDOWXQJLVWQLFKW JHJHEHQXQGGLH+|UVSLHOIDVVXQJYHUVXFKWQLFKWVLH]XUHSOL]LHUHQLQGHPVLH beispielsweise Musik und Sprache im Stereospektrum trennt. Diese Vorgehensweise entspricht der oben beschriebenen ‚Entgrenzung’ des Musikalischen im Sinne Schwitzkes, der Geräusche und Musik akzeptiert, wenn sie die ‚sublime’ 'LPHQVLRQ GHV :RUWHV VWW]HQ RKQH VLFK YRQ GLHVHP ]X O|VHQ GK LQ LKUHU (LJHQVWlQGLJNHLWK|UEDU]XZHUGHQ 8PJHNHKUWMHGRFKJHZLQQWGLH0XVLNGHU Perser ELVZHLOHQ*HUlXVFKTXDOLWlWZHQQ]%DQHLQHU6WHOOHGHV+|UVSLHOVQLFKW mehr genau zu differenzieren ist, ob ein Schlagen instrumental erzeugt ist, und GLHVHV DXIJUXQG VHLQHU UHSHWLWLYHQ 6WUXNWXU DQ +XEVFKUDXEHUURWRUHQ JHPDKQW (LQHVROFKHÄ.RQNUHWKHLW·YRQ*HUlXVFKXQG0XVLNZlUHIU6FKZLW]NHDXV]ZHL Gründen problematisch: Erstens ist sie, wie die in Geräusche übersetzten BeweJXQJHQGHVVWXPPHQ&KRUVQLFKWNODUVHPDQWLVLHUEDU%HLGLHVHUSRWHQWLHOOHQ Ä8QYHUVWlQGOLFKNHLW· KDQGHOW HV VLFK DXV 6LFKW GHU ÄNODVVLVFKHQ· 5DGLRWKHRULH XPHLQ3UREOHPGDVMHQHLQWHUHVVDQWHUZHLVHRIWPLW%H]XJDXIhEHUWUDJXQJHQ DXVGHP7KHDWHUIRUPXOLHUW9RULKQHQZUGHQVLFKGLH+|UHUVR]%$UQKHLP „als Krüppel“ fühlen, weil sie die Geräusche nicht einordnen könnten.64 ZweiWHQVZLGHUVSULFKWGLHÄ.RQNUHWKHLW·GHU0XVLNGHPYRQ6FKZLW]NHJHIRUGHUWHQ sublimen Moment des Kunstwerks, „weil damit materielle Wirklichkeit den KDXFK]DUWHQ6FKOHLHUGHU3KDQWDVLHZLUNOLFKNHLWVFKPHU]KDIWGXUFKVW|‰WXQG]HUreißt“.65 'DV .ODJHOLHG GDV LQ GHU7KHDWHUIDVVXQJ HLQHQ 0RPHQW YRQ (LQKHLW PDUNLHUWEHUHLWHWLP+|UVSLHOGHQYRQ/HXFKWNULWLVLHUWHQÅ5HDOLWlWV(LQEUXFK´ YRU 'DV ÄJOHLFKH· /LHG LVW VR DEJHPLVFKW GDVV QDFK HLQLJHU =HLW HLQH MXQJH 64

65 448

ARNHEIM, 2001 6  ,Q lKQOLFKHU :HLVH SROHPLVLHUW 6FKZLW]NH JHJHQ GLH YHUPHLQWOLFKHQ 'HÀ]LWH GHU 6WHUHRSKRQLH Å'LH *HJHQVSLHOHU GLDORJLVLHUHQ DXV liturgischer Distanz und stehen sich nun plötzlich im Raum vor uns gegenüber [...], genau zu lokalisieren: da links der eine, der andere dort rechts, aber beide unsichtbar wie unter einer Tarnkappe. Und nun wird die Sache wirklich JHVSHQVWLVFKZLUVLW]HQGDYRUZLHYRUHLQHU*XFNNDVWHQEKQHGLHZLUQLFKWVHKHQ VXFKHQ YHU]ZHLIHOW PLW GHQ $XJHQ GD OLQNV XQG GRUW UHFKWV GLH EHJUHQ]HQGHQ Bühnenpfosten [...]“ (SCHWITZKE, 19636  SCHWITZKE, 1961, S. 19.

Schauspiel- und Hörspielmusik

0lGFKHQVWLPPH LQ GHQ 9RUGHUJUXQG WULWW GLH ÄIDOVFK· VLQJW$XI GLHVH :HLVH erscheint eine im Theater nicht hörbare Dissonanz als singulärer Bruch im KolOHNWLYGHU7UDXHU0HKUDOVGXUFKGLH+|UVSLHOPXVLNLPHQJHUHQ6LQQHZLUGGLHVHU%UXFK²XQGPLWLKPGDV$XIUHFKWHUKDOWHQYRQ7UDXHU²DOOHUGLQJVGXUFKGLH %HZHJXQJHQ GHV VWXPPHQ &KRUV WUDQVSRUWLHUW 9HUZDQGHOW LQ *HUlXVFKH XQG 0XVLN²LQ6XPPHQ$WPHQ6HXI]HQ²OlVVWVLFKRKQH:LVVHQXPGLH7KHDWHULQV]HQLHUXQJ QLFKW EHJUHLIHQ ZHU KLHU ZLHGHUXP QLFKW  ]XU 6SUDFKH NRPPW die Flüchtlinge und Zeugen des Kriegs. Formuliert sich dieser Bruch mit Bezug auf die ‚Schauspielmusik’ der Perser DOVSRWHQWLHOOH7UHQQXQJYRQ6SUDFKHXQG Musik in ihrer klanglichen Dimension, hat er mit Bezug auf die ‚Hörspielmusik’ der Perser auf der medialen Ebene statt: in der nicht mehr einholbaren Trennung YRQ7KHDWHUXQG+|UVSLHOGLHGDULQEHVWHKWGDVVOHW]WHUHVDXIHWZDVYHUZHLVW ZDV²LQPHKUHUHU+LQVLFKW²QLFKWPHKU]XVHKHQLVW

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449

Michael Bachmann

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