Der Kulturbetrieb: Bildende Kunst - Musik - Literatur - Theater - Film [1. Aufl.] 9783839405321

Kunst und Kultur finden im Kulturbetrieb statt. In diesem institutionellen Rahmen sind Künstler, Interpreten und Kulturm

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Der Kulturbetrieb: Bildende Kunst - Musik - Literatur - Theater - Film [1. Aufl.]
 9783839405321

Table of contents :
Inhalt
... wovon die Rede sein soll!
1. Der Kulturbetrieb im Überblick
1.1 Künstlerische Sparten
1.2 Kulturbetrieb im Wandel
1.3 Formale Ordnungskriterien
1.3.1 Das Ordnungskriterium der Rechtsträgerschaft
1.3.2 Das Ordnungskriterium der Zielsetzung
1.3.3 Flexibilisierung der Ordnungskriterien
1.4 Akteure des Kulturbetriebs
1.5 Volkswirtschaftliche Größenordnung
2. Allgemeine Rahmenbedingungen des Kulturbetriebs
2.1 Kulturpolitische Rahmenbedingungen
2.2 Rechtliche Rahmenbedingungen
2.3 Steuerrechtliche Rahmenbedingungen
2.4 Soziale Rahmenbedingungen
2.5 Finanzielle Rahmenbedingungen
2.6 Internetadressen und Standardwerke
3. Kunstbetrieb
3.1 Rückblende
3.2 Akteure des Kunstbetriebs
3.2.1 Künstler
3.2.2 Nonprofit-Vermittler
3.2.3 Kunsthandel, Auktionshandel und Kunstmessen
3.3 Nutzer und Kunden
3.3.1 Sammler und Art Consulting
3.3.2 Kunstmuseen und Kunsthallen
3.4 Rahmenbedingungen des Kunstbetriebs
3.4.1 Öffentliche Kunstförderung
3.4.2 Urheberrecht und Folgerecht
3.4.3 Ausbildung und Studium
3.5 Standortbestimmung und Perspektiven
3.6 Internetadressen und Standardwerke
4. Musikbetrieb
4.1 Rückblende
4.2 Autor – Interpret – Rezipient
4.3 Musikvermarktung und Musikwirtschaft
4.3.1 Künstlervermittlung
4.3.2 Tonträgermarkt und Internetpräsenz
4.3.3 Verwertungsgesellschaften
4.3.4 Musikwirtschaft
4.4 Laienmusik
4.5 Rahmenbedingungen des Musikbetriebs
4.5.1 Strukturen
4.5.2 Öffentliche Musikförderung
4.5.3 Urheber- und Vertragsrecht
4.5.4 Ausbildung und Studium
4.6 Standortbestimmung und Perspektiven
4.7 Internetadressen und Standardwerke
5. Literaturbetrieb
5.1 Rückblende
5.2 Zur sozialen Situation der Schriftsteller
5.3 Literaturförderung der öffentlichen Hand
5.4 Literaturrezeption
5.5 Verlagswesen und Buchhandel
5.6 Literatur im digitalen Zeitalter
5.7 Rahmenbedingungen des Literaturbetriebs
5.8 Standortbestimmung und Perspektiven
5.9 Internetadressen und Standardwerke
6. Theaterbetrieb
6.1 Rückblende
6.2 Unterscheidungskriterien
6.3 Rechtsträger und Rechtsformen
6.4 Theaterfinanzierung und Theaterbesucher
6.5 Theatermanagement
6.6 Theaterkunst und Theaterberufe
6.7 Standortbestimmung und Perspektiven
6.8 Internetadressen und Standardwerke
7. Filmbetrieb
7.1 Rückblende
7.2 Der Film und seine Gattungen
7.3 Filmproduktion
7.4 Filmverleih
7.5 Filmtheater
7.6 Rahmenbedingungen des Filmbetriebs
7.7 Standortbestimmung und Perspektiven
7.8 Internetadressen und Standardwerke
8. Kultur wird zur Privatsache
Autor – Interpret – Rezipient: Die Herrschaft der »mittleren« Position
Künstler suchen Wege außerhalb des traditionellen Kulturbetriebs
Nutzer werden zu Konsumenten
Verlagerung von Innovationspotenzialen
Die Großen fressen die Kleinen oder Wie kann Vielfalt gesichert werden?
Kultur wieder zu einem Gegenstand von Bildung machen
Die Rolle der öffentlichen Hand neu definieren
9. Literaturverzeichnis
10. Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen
10.1 Verzeichnis der Tabellen
10.2 Verzeichnis der Abbildungen

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Werner Heinrichs Der Kulturbetrieb Bildende Kunst – Musik – Literatur – Theater – Film

2006-08-16 17-28-56 --- Projekt: T532.kum.heinrichs.kulturbetrieb / Dokument: FAX ID 0081123726260138|(S.

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) T00_01 schmutztitel.p 123726260146

Werner Heinrichs (Dr. phil.) war von 1990-2001 Professor für Kulturmanagement und Kulturwissenschaft an der PH Ludwigsburg; seit 2002 ist er Rektor der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart.

2006-08-23 14-43-45 --- Projekt: T532.kum.heinrichs.kulturbetrieb / Dokument: FAX ID 0260124321143666|(S.

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) T00_02 vakat.p 124321143698

Werner Heinrichs

Der Kulturbetrieb Bildende Kunst – Musik – Literatur – Theater – Film

2006-08-16 17-28-56 --- Projekt: T532.kum.heinrichs.kulturbetrieb / Dokument: FAX ID 0081123726260138|(S.

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) T00_03 innentitel.p 123726260226

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2006 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © PhotoCase.com Korrektorat: Sara Strüßmann, Hannover Herstellung: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-532-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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) T00_04 impressum.p 123726260266

Inhalt ... wovon die Rede sein soll! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Der 1.1 1.2 1.3

Kulturbetrieb im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Künstlerische Sparten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturbetrieb im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formale Ordnungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Das Ordnungskriterium der Rechtsträgerschaft . . . . . . 1.3.2 Das Ordnungskriterium der Zielsetzung . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Flexibilisierung der Ordnungskriterien . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Akteure des Kulturbetriebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Volkswirtschaftliche Größenordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 13 18 20 20 22 24 25 27

2. Allgemeine Rahmenbedingungen des Kulturbetriebs . . . . 2.1 Kulturpolitische Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Rechtliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Steuerrechtliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Soziale Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Finanzielle Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Internetadressen und Standardwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35 35 41 46 50 54 57

3. Kunstbetrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Rückblende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Akteure des Kunstbetriebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Künstler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Nonprofit-Vermittler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Kunsthandel, Auktionshandel und Kunstmessen . . . . 3.3 Nutzer und Kunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Sammler und Art Consulting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Kunstmuseen und Kunsthallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Rahmenbedingungen des Kunstbetriebs . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Öffentliche Kunstförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Urheberrecht und Folgerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Ausbildung und Studium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Standortbestimmung und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Internetadressen und Standardwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59 59 68 68 72 75 80 81 84 87 87 89 94 95 97

2006-08-17 18-25-27 --- Projekt: T532.kum.heinrichs.kulturbetrieb / Dokument: FAX ID 00fb123816051250|(S.

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7) T00_05 inhalt.p - Seite 5 123816051282

4. Musikbetrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Rückblende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Autor – Interpret – Rezipient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Musikvermarktung und Musikwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Künstlervermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Tonträgermarkt und Internetpräsenz . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Verwertungsgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Musikwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Laienmusik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Rahmenbedingungen des Musikbetriebs . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2 Öffentliche Musikförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.3 Urheber- und Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.4 Ausbildung und Studium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Standortbestimmung und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7 Internetadressen und Standardwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99 99 112 115 115 120 127 128 132 135 135 137 140 143 147 151

5. Literaturbetrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 5.1 Rückblende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 5.2 Zur sozialen Situation der Schriftsteller . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 5.3 Literaturförderung der öffentlichen Hand . . . . . . . . . . . . . . . . 170 5.4 Literaturrezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 5.5 Verlagswesen und Buchhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 5.6 Literatur im digitalen Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 5.7 Rahmenbedingungen des Literaturbetriebs . . . . . . . . . . . . . . 188 5.8 Standortbestimmung und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 5.9 Internetadressen und Standardwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 6. Theaterbetrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 6.1 Rückblende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 6.2 Unterscheidungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 6.3 Rechtsträger und Rechtsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 6.4 Theaterfinanzierung und Theaterbesucher . . . . . . . . . . . . . . . 218 6.5 Theatermanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 6.6 Theaterkunst und Theaterberufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 6.7 Standortbestimmung und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 6.8 Internetadressen und Standardwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

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7. Filmbetrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 7.1 Rückblende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 7.2 Der Film und seine Gattungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 7.3 Filmproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 7.4 Filmverleih . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 7.5 Filmtheater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 7.6 Rahmenbedingungen des Filmbetriebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 7.7 Standortbestimmung und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 7.8 Internetadressen und Standardwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 8. Kultur wird zur Privatsache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Autor – Interpret – Rezipient: Die Herrschaft der »mittleren« Position . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Künstler suchen Wege außerhalb des traditionellen Kulturbetriebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Nutzer werden zu Konsumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Verlagerung von Innovationspotenzialen . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Die Großen fressen die Kleinen oder Wie kann Vielfalt gesichert werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Kultur wieder zu einem Gegenstand von Bildung machen . . . 282 Die Rolle der öffentlichen Hand neu definieren . . . . . . . . . . . . 283 9. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 10. Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen . . . . . . . . . . . 293 10.1 Verzeichnis der Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 10.2 Verzeichnis der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

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... wovon die Rede sein soll!

Die institutionalisierte Form kulturellen Lebens bezeichnet man als Kulturbetrieb. Verallgemeinert versteht man darunter eine Einheit von zusammenwirkenden Personen und Produktionsmitteln, die Güter und Dienstleistungen in verschiedenster künstlerischer Form hervorbringen und einem Publikum zur Verfügung stellen. In aller Regel ist der Kulturbetrieb professionell ausgerichtet, und zwar nicht nur bei den Künstlern selbst, sondern vor allem auch dort, wo es um die rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen sowie um das betriebliche Management geht. Der Kulturbetrieb ist mithin ein hoch komplexes System, in dem unterschiedliche Kompetenzen und Zielsetzungen zusammentreffen, die weit über die künstlerischen Intentionen eines Werks oder selbst einer Kunstsparte hinausgehen. Der Begriff der Kultur ist sehr weit gefasst; in einem kulturanthropologischen und kultursoziologischen Verständnis geht er weit über die Künste hinaus. Als Kulturbetrieb aber umfasst Kultur nahezu ausschließlich die Künste, weshalb jede Betrachtung sinnvollerweise von dort ihren Ausgangspunkt nimmt. Dennoch ist die Perspektive des Kulturbetriebs eine andere als die einer kunstspartenspezifischen Wissenschaft, was schnell erkennbar wird, wenn man sich drei Paradigmenwechsel aus der jüngsten Vergangenheit vergegenwärtigt: • Der Blick auf das Kulturleben aus der Perspektive einer spartenspezifischen Wissenschaft, wie beispielsweise der der Kunstwissenschaft auf die aktuelle Szene der bildenden Kunst, nimmt nur noch einen Teil des Kulturlebens wahr. Zweifellos hat eine Untersuchung etwa über Tendenzen der bildenden Kunst in Folge der Deutschen Einheit nach wie vor ihren unverzichtbaren Stellenwert. Aber während ein vergleichbares Werk noch in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts nahezu alle für das Kulturleben wesentlichen Aspekte erfasste, würde man heute das Fehlen des inzwischen so wichtigen nicht-künstlerischen, aber die Kunst unmittelbar beeinflussenden politischen und ökonomischen Umfeldes bemängeln. • Ähnlich steht es mit der kulturpolitischen Perspektive, wie sie in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts bevorzugt wurde. Die Protagonisten der so genannten Neuen Kulturpolitik der 70er Jahre befassten sich zwar noch mit Kunstsparten wie Schauspiel, Musiktheater oder Film, doch stand für sie immer die kulturpolitische, und das hieß damals die emanzipatorische und demokratische Perspektive im Mittelpunkt. Kulturpolitik aber im Sinne einer Umsetzung politischer Ziele mit Hilfe von Kultur ist heute obsolet geworden. Kulturpolitik ist heute nur noch die politische Steuerung der Rahmenbedingungen des Kulturbetriebs.

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Werner Heinrichs Der Kulturbetrieb

• Drittens zeichnet sich ab, dass die Lehre des Kulturmanagements die bloße Handlungsperspektive überschreitet und stärker das Zusammenwirken nicht institutionalisierter Systeme in den Vordergrund stellt. Bisher versteht man unter Kulturmanagement fast ausschließlich das Handeln der die Kunst ermöglichenden, steuernden und führenden Personen. Dagegen wird die Perspektive des Betriebs, in dem dieses Handeln stattfindet und auf den dieses Handeln wirkt, kaum beachtet. Wie alle sozialen Systeme hat aber auch der Kulturbetrieb eine Tendenz zur Selbststeuerung, die in aller Regel nur durch eine Gesamtsicht mit möglichst großer Außenperspektive wahrgenommen wird. Vor dem Hintergrund dieser Paradigmenwechsel ist die Beschreibung des Kulturbetriebs in seiner Gesamtheit eine dringende Notwendigkeit. Dabei steht die deskriptive Methode im Vordergrund, so dass sich allein methodisch das Buch deutlich von anderen Publikationen zum Kulturmanagement unterscheidet, die auch methodisch immer eine handlungsorientierte Perspektive einnehmen. Es ist das Ziel dieses Buches, dem Leser einen Überblick über den gesamten Kulturbetrieb zu geben. Dieser Überblick soll zeigen, wie der Kulturbetrieb funktioniert und wie beispielsweise urheberrechtliche Aspekte oder bestimmte Traditionen in den Kulturbetrieb hineinwirken. Gleichzeitig bietet diese Gesamtschau aber auch eine Information für all jene, die sich für mehr als eine spezifische Sparte interessieren und dabei das Ineinanderwirken der Künste aus kulturbetrieblicher Sicht betrachten wollen. Zwar wird allein aus Gründen der Lesbarkeit die spartenspezifische Sicht beibehalten, doch wird auf spartenübergreifende Zusammenhänge vielfach hingewiesen. Nicht zuletzt bietet das Buch eine Ergänzung zum kulturhistorischen Ansatz, weil beispielsweise die Geschichte des Theaters nun auch um die Entwicklung des Theaterbetriebs vervollständigt werden kann. Das Buch gliedert sich in einen allgemeinen Teil (Kapitel 1 und 2) sowie in fünf Kapitel, in denen der Kulturbetrieb jeweils aus einer spartenspezifischen Perspektive gesehen wird. Ohne Vollständigkeit zu beanspruchen, werden die wichtigsten Erscheinungsformen der Künste als Teile des Kulturbetriebs vorgestellt: bildende Kunst, Musik, Literatur, Theater und Film. Um den aktuellen Stand des Kulturbetriebs auch historisch verorten zu können, enthält jedes Kapitel eine kulturbetriebliche »Rückblende«. Diese historische Verortung ist deshalb von besonderem Interesse, weil zahlreiche Merkmale des Kulturbetriebs nur aus der Tradition heraus zu verstehen sind. Da aus kulturbetrieblicher Sicht die Kultur der DDR ein Staatsbetrieb ohne historische Verankerung war, konzentriert sich die Darstellung vorwiegend auf die in Ost wie West gemeinsame Entwicklung des Kulturbetriebs. Des

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Weiteren werden die Akteure des jeweiligen Spartenbetriebs vorgestellt, die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen erörtert, kulturpolitische und wirtschaftliche Effekte diskutiert sowie unter der Überschrift »Standortbestimmung und Perspektiven« eine zurückhaltende Bewertung angeboten. Um das Buch auch als Handbuch verwenden zu können, werden zu jedem Kapitel wichtige Internetadressen und Standardwerke aufgelistet. Kultur in ihrer institutionalisierten Form findet im Kulturbetrieb statt, und d.h. in einer hoch komplexen kulturspezifischen Umwelt, zu deren Steuerung wiederum andere Kompetenzen und Instrumente erforderlich sind als die Produktion der Kunst selbst. Wegen der Knappheit von Ressourcen sowie mit Blick auf den Wettbewerb um den Nutzer und Kunden kann sich der einzelne Künstler1 mit seiner Kunst nicht mehr allein behaupten; er braucht das ihn absichernde, ihn fördernde und ihn vermittelnde Umfeld. Angesichts der erkennbaren Dominanz, die der Kulturbetrieb vor allem unter dem Kommerzialisierungsdruck des letzten Jahrzehnts angenommen hat, ist es dringend erforderlich, das Kunst- und Kulturleben in Deutschland auch einmal aus dem Blickwinkel dieses Kulturbetriebs zu betrachten. Genau davon soll in diesem Buch die Rede sein!

1 Um die Lesbarkeit des Textes zu erleichtern, wird bei personenbezogenen Begriffen stets nur die männliche Sprachform verwendet; sie schließt die entsprechende weibliche Sprachform selbstverständlich mit ein.

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9- 11) T01_00 einleitung.p 123726260370

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Werner Heinrichs ➔ 1. Der Kulturbetrieb im Überblick



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1. Der Kulturbetrieb im Überblick

Alltagssprachlich tritt der Kulturbetrieb in zwei Verständnisformen auf: Zunächst einmal gibt es den Kulturbetrieb als einzelne Institution wie beispielsweise ein bestimmtes Theater, ein konkretes Museum oder ein Orchester. Es ist dies eher ein betriebswirtschaftliches Verständnis, weil hier als (Kultur-)Betrieb die organisatorische Einheit gesehen wird, in der etwas produziert oder zur Schau gestellt wird. In der Kombination mit dem Begriff Kulturmanagement wird dies deutlich, denn Kulturmanagement befasst sich nahezu ausschließlich mit dem konkreten Kulturbetrieb. Für das Kulturmanagement ist ein so verstandener Kulturbetrieb der Ort und die Gelegenheit, wo Kultur zum Gegenstand von Kulturmanagement wird. Zweitens bezeichnet man als Kulturbetrieb aber auch die Gesamtheit aller solcher Einzelbetriebe oder – um es noch allgemeiner zu fassen – die Summe aller institutionellen Erscheinungsformen von Kultur. Damit gehören zum Kulturbetrieb beispielsweise auch Kulturverbände oder Kulturvereine, auch wenn deren Verortung im Sinne einer baulichen Einrichtung kaum oder nur schwach gegeben ist. Kulturbetrieb als Oberbegriff wird vor allem in volkswirtschaftlichen Kontexten verwendet, wenn man beispielsweise davon spricht, dass der Kulturbetrieb in einem Staat eine bestimmte Bruttowertschöpfung erreicht, oder dass der Kulturbetrieb eine bestimmte Anzahl von Arbeitsplätzen bietet. Auch in politischen Kontexten spricht man gern vom Kulturbetrieb, etwa wenn es heißt, ein neues Steuergesetz könnte den Kulturbetrieb überdurchschnittlich belasten. Man sollte also zwischen einem Gattungsbegriff »Kulturbetrieb« (die Summe aller institutionellen Erscheinungsformen von Kultur) und einem Einzelbegriff Kulturbetrieb (das konkrete Theater oder Museum oder Orchester) unterscheiden. In dieser Publikation wird der Gattungsbegriff Kulturbetrieb im Vordergrund stehen, selbst dort, wo nur von einer bestimmten Sparte die Rede ist (es ist dann eben der Kulturbetrieb Theater, nicht aber das einzelne Theater gemeint). 1.1 Künstlerische Sparten Nach wie vor ist es sinnvoll, aus künstlerisch-inhaltlicher Sicht den Kulturbetrieb nach Kunstsparten zu gliedern. Man unterscheidet dann beispielsweise zwischen dem Theaterbetrieb, dem Musikbetrieb, dem Kunstbetrieb, dem Literaturbetrieb und dem Filmbetrieb. Eigentlich wäre es demnach gerechtfertigt, statt vom Kulturbetrieb nur vom Kunstbetrieb zu sprechen, denn zweifellos handelt es sich bei allen hier aufgezählten Sparten um eine Form von Kunst. Doch aus zwei Gründen ist der Begriff Kunstbetrieb als Sammelbegriff

2006-08-16 17-28-57 --- Projekt: T532.kum.heinrichs.kulturbetrieb / Dokument: FAX ID 0081123726260138|(S.

13- 34) T01_01 kapitel 01.p 123726260402

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wenig geeignet. Zum einen wird alltagssprachlich unter Kunst sehr häufig nur die bildende Kunst verstanden. Zum anderen würde der Oberbegriff Kunstbetrieb jenen Bereich der Kultur aussparen, der nicht als Kunst im engeren Sinne verstanden wird, wie Architektur, Denkmalpflege, Design, Kunsthandwerk, Brauchtum und Feste sowie der weite Bereich der kulturellen Bildung. Schon ein stadtgeschichtliches Museum würde nicht mehr unter die Kunstsparten fallen, obwohl es zweifellos dem Kulturbetrieb zuzurechnen ist. Es empfiehlt sich also, den Oberbegriff Kulturbetrieb beizubehalten, aber es ist sehr wohl möglich, sich innerhalb des Kulturbetriebs nur auf die Kunstsparten zu konzentrieren. Dieser Weg wird hier gegangen, weil nicht Vollständigkeit das Ziel dieser Publikation ist, sondern allein der Perspektivenwechsel von der Fachdisziplin zur übergeordneten und übergreifenden Gattung Kulturbetrieb. Das aber lässt sich am besten an den traditionellen Kunstsparten verdeutlichen. Daraus folgt, dass Erscheinungsformen des Kulturbetriebs, wie beispielsweise Architektur, Denkmalpflege, Design, Kunsthandwerk, Brauchtum und Feste, die zweifellos in einer auf Vollständigkeit ausgerichteten Darstellung ihren berechtigten Platz hätten, außen vor bleiben. Es bleibt bei der Konzentration auf jenen Teil des Kulturbetriebs, der allgemein als der Bereich der Künste angesehen wird. Der Architekt versteht sich aber in erster Linie als Architekt und erst in zweiter Linie als Künstler. Für Designer, Kunsthandwerker, Denkmalpfleger, Restauratoren und Brauchtumspfleger dürfte dies ähnlich gelten. Weitgehend ausgespart bleibt auch der Bereich der kulturellen Bildung, also jene Bildungseinrichtungen, die sich die Vermittlung von Kunst und Kultur zur Aufgabe gemacht haben. Es sind dies die Bibliotheken, die Literaturhäuser, die Musik- und Kunstschulen, die Einrichtungen der Erwachsenenbildung, die Museen, die Archive, die soziokulturellen Zentren sowie die Rundfunkanstalten. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie nicht nur Kunst vermitteln, sondern auch Informationen anderer Art bereithalten oder auch der politischen und beruflichen Weiterbildung dienen. Wo es zweckmäßig erscheint, werden sie im Kontext der Kunstsparten erwähnt (z.B. Musikschulen im Zusammenhang mit dem Musikbetrieb), aber auf eine eigene, ausführliche Darstellung wird – nicht zuletzt aus Platzgründen – verzichtet. Die Ordnung der Kunstsparten geht aus von den drei wichtigsten menschlichen Kommunikationsformen, dem Sehen (Bild), Hören (Ton) und Sprechen (Wort). Dem Sehen entspricht die bildende Kunst, dem Hören die Musik und dem Sprechen die Literatur. Alle anderen Kunstsparten, wie der Film oder das Theater, sind letztlich Mischformen dieser drei Grundformen. Das Schauspiel beispielsweise verwendet das Wort in Form des gesprochenen dramatischen Textes und das Bild in Form des Bühnenbildes und der Kostüme. Die Oper geht noch einen Schritt weiter, indem sie den Ton in Form der Musik hinzu-

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fügt. Ähnlich ist es beim Film, wo ebenfalls Bild, Wort und Ton zusammentreffen. Schon damit wird zweierlei deutlich. Zum einen wird erkennbar, dass Literatur, Musik und bildende Kunst in der Tat die tragenden Säulen des Kulturlebens sind. Dass diese Sparten im Kulturleben so fest verankert sind, hat durchaus seinen Sinn und verdient es auch, weiterhin bestätigt zu werden. Zum anderen ist damit auch erkennbar, weshalb dem Theater im Kulturleben eine so große Bedeutung zukommt, denn es ist die älteste Form, in der die drei Hauptsparten der Künste zusammengebracht werden. Wenn man diesen Gedanken fortsetzt, wird auch verständlich, weshalb der Film, der im Prinzip dem Theater ähnlich ist, aber ein anderes technisches Medium benutzt, seit seiner Erfindung so überaus erfolgreich sein konnte. Dass aber nicht allein die Kombination der drei Grundformen menschlicher Kommunikation dafür ausschlaggebend sein kann, zeigt die Medienkunst, die ebenfalls Sehen, Hören und Sprechen miteinander verbindet. Demnach müsste die Medienkunst ähnlich erfolgreich sein wie Theater und Film, was aber – zumindest zur Zeit – noch nicht der Fall ist. Es lohnt sich deshalb auch kaum, den hier gewählten kulturanthropologischen Ansatz weiter fortzusetzen; um das Funktionieren des Kulturbetriebs zu erklären, ist dieser Ansatz offensichtlich nur bedingt geeignet. In der Tat bedarf es keiner allzu großen Anstrengung, um zu erkennen, dass den kulturanthropologischen Grundformen ein künstlerisches Element hinzugefügt werden muss, um sie als Kunstsparten einordnen zu können. Nicht Bild, Ton und Wort allein machen schon die Kunstsparten aus, sondern erst die künstlerische Verwendung der kommunikativen Grundformen. Doch was ist das Künstlerische darin? Wann wird eine Wortfolge zur Literatur und ab wann ist Literatur Kunst-Literatur und nicht mehr Gebrauchsliteratur, wenn nicht überhaupt Gebrauchsliteratur wie z.B. ein Zeitungsartikel auch bereits Kunst ist. Mit solchen Fragen lässt sich leicht ein ganzes Buch füllen, was nicht wenigen Autoren auch bereits gelungen ist. Wer sich je mit diesem Thema befasst, wird schnell erkennen, dass es ein einheitliches und für alle Zeiten gültiges Verständnis von dem, was Kunst ist, nicht gibt und auch nicht geben kann. Der Begriff von Kunst ist immer auch abhängig vom geistes- und sozialgeschichtlichen Kontext der jeweiligen Epoche. Deshalb sollte man aber nicht behaupten, Kunst ließe sich als abstrakter Begriff nicht definieren. Das gelingt sehr wohl, aber es gelingt immer nur für eine bestimmte Zeit und für einen bestimmten Kontext. Nutzt man diese Erkenntnis für den heutigen Kulturbetrieb, so wird ein besonderes Dilemma erkennbar. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird Kunst losgelöst von ihren jeweiligen zeitlichen Kontexten dargeboten. Im Konzertbetrieb beispielsweise dominiert die Musik des 18. und 19. Jahrhun-

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derts; die Musik der Gegenwart dagegen führt ein geradezu marginales Dasein. Ähnlich ist die Situation auch in anderen Kunstsparten. Damit ist dem heutigen Rezipienten von Kunst das Gespür für die zeitliche Spezifität des Kunstbegriffs abhanden gekommen. Das kann zur Folge haben, dass der Konzertbesucher der Gegenwart ein Werk von Helmut Lachenmann (geb. 1935) mit jenem Kunstbegriff misst, der für die Musik Mozarts (1756-1791) galt. Die einzigartige Vielfalt unterschiedlicher künstlerischer Epochen, wie sie heute in Museen, Theatern, Konzerten oder auch Bibliotheken geboten wird, erweist sich so vor dem Hintergrund der Zeitgebundenheit des Kunstbegriffs als höchst problematisch. Nicht selten verkennt der Rezipient die großartige Chance, die sich ihm im Vergleich zum Menschen des 18. Jahrhunderts heute bietet. Stattdessen beschränkt er seine Wahrnehmung historisch auf wenige Ausprägungen des Kunstbegriffs und lehnt darüber hinausgehende Erscheinungsformen weitgehend ab. Für den weniger abstrakten Kulturbetrieb dagegen kann die Frage des Kunstbegriffs wesentlich pragmatischer beantworten werden. Hier ist Kunst all das, was der Kulturbetrieb als Kunst präsentiert. Wenn beispielsweise ein Theater, das zweifellos alle Merkmale eines Kunst vermittelnden Kulturbetriebs hat, etwas aufführt, das es als Kunst bezeichnet, so besteht aus der Sicht des Kulturbetriebs kein Zweifel daran, dass es sich um Kunst handelt. Man hat es hier also mit einem rein funktionalen Kunstbegriff zu tun, der in seiner Funktionalität einer Formulierung der 70er Jahre nicht unähnlich ist: Kunst ist das, was Künstler machen! Der Kulturbetrieb kommt mit dieser funktionalen Definition bestens zurecht und hat folglich keine Schwierigkeiten, Volksmusik, Rockkonzerte oder eine Internet-Kunstauktion zu einem Teil des Kulturbetriebs zu erklären. Alle Grenzen zwischen der so genannten Ernsten Kultur und der Unterhaltungskultur sind hier (endlich) aufgehoben, was älteren Definitionsversuchen von Kunst und Kultur dagegen nicht immer so leicht fiel. Abgrenzungsprobleme gibt es höchstens dort, wo sich Veranstalter nicht zwangsläufig als Kulturbetrieb verstehen, beispielsweise bei den Freizeitparks. Damit dürfte deutlich geworden sein, dass die Definition von Kunst aus der Sicht des Kulturbetriebs keine inhaltliche, sondern eine funktionale ist. Selbstverständlich kann und muss auch im Zusammenhang mit dem Kulturbetrieb von Kunst geredet werden, denn nichts anderes als die Produktion und Vermittlung von Kunst ist der Zweck des Kulturbetriebs, aber es entfällt die inhaltlich-materielle Abgrenzung des Kunstbegriffs. Nun war allerdings auch in der Vergangenheit der inhaltlich-materielle Kunstbegriff durchaus nicht immer das bestimmende Element für ein Verständnis und Selbstverständnis des Kulturbetriebs. In den 70er Jahren in den

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Zeiten der so genannten »Neuen Kulturpolitik« (Schwencke u.a. 1974) diente der Kulturbetrieb in erster Linie der Umsetzung gesellschaftspolitischer Ziele. Die Kunst und die den Kunstsparten dienenden Kultureinrichtungen sollten auf ihre Weise helfen, zu einer Demokratisierung und Emanzipation der Gesellschaft beizutragen. Hilmar Hoffmanns wichtiges Buch Kultur für alle kannte Kapitelüberschriften wie »Theater und Emanzipation« oder »Das demokratische Museum« (Hoffmann 1979). Kurt Hakenberg sprach von »Kunst als pädagogische[r] Aufgabe der Stadt« (Hakenberg 1974) und Hermann Glaser begriff »Kunst als Kommunikationsmedium« (Glaser 1974). Das zeigt ganz deutlich, dass die Kunst und die Kunstsparten nicht inhaltlich gesehen wurden, sondern der Instrumentalisierung für gesellschaftspolitische Ziele dienten (vgl. hierzu ausführlich Heinrichs 1997, Kapitel 1). Das war damals – in der Folge der Umwälzungen des Jahres 1968 – zweifellos ein wichtiger und wohl auch richtiger Weg, der sich allerdings spätestens mit der Ökonomisierung des Kulturbetriebs in den 90er Jahren als überholt erwiesen hat. Im Gegensatz zum Ansatz der 70er Jahre ist der heutige Blick auf den Kulturbetrieb weitaus nüchterner und funktionaler. Die Betonung der ökonomischen Sekundäreffekte von Kultur in den späten 80er Jahren, als man Kultur vor allem als »Standortfaktor« (Wüstenrot Stiftung 1999) oder als »Wirtschaftsfaktor« (Hummel/Berger 1988: 4ff.) erfasste, und die seit Mitte der 90er Jahre anhaltende Finanzierungskrise in der Kultur haben dazu geführt, dass weder gesellschaftspolitische Ziele noch die Aura von Theater und Museum das Bild vom Kulturbetrieb bestimmen, sondern allein die Nüchternheit eines von einer komplexen Umwelt abhängigen und mit Risiken behafteten Unternehmens. Dass heute Kulturmanager Kulturbetriebe leiten und in deren Umfeld zahlreiche neue, rein funktionale Berufsprofile entstanden sind, bestätigt indirekt den hier konstatierten Wandel. Dennoch ist es weiterhin gerechtfertigt, den Kulturbetrieb nach Kunstsparten zu gliedern, weil sich in der Tat das, was dort geschieht, nach wie vor an der jeweiligen Kunstsparte ausrichtet. Aber die Sparte wird nicht mehr – wie in den 70er Jahren – nach ihrer Eignung für Emanzipation und Demokratisierung befragt und auch nicht mehr – wie noch in den 50er Jahren und in den Zeiten davor – allein über das Produkt Kunst definiert. Stattdessen ist der spartenspezifische Kulturbetrieb heute ein komplexes Gebilde, das von nur schwer steuerbaren Rahmenbedingungen abhängt, das sich gegen starke Mitbewerber am Markt positionieren und das fast tagtäglich neu um ein Zielpublikum kämpfen muss. Die Kunst selbst ist dabei keineswegs zur Nebensache geworden, aber der Aufwand, sie zu ermöglichen, ist erstaunlich gewachsen. Wer nicht weiß, wie der spartenspezifische Kulturbetrieb funktioniert, wird kaum eine Chance haben, innerhalb dieses Betriebs Kunst zu produzie-

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ren und zu vermitteln. Und umgekehrt gesehen: Wer weiß, wie der Kulturbetrieb funktioniert, kann – ohne selbst Kunst zu produzieren – die Produktion und Vermittlung von Kunst erheblich beeinflussen. Nicht zuletzt, um hierbei einen Missbrauch zu verhindern, ist die Kenntnis und damit auch Transparenz des Kulturbetriebs dringend geboten. Es lohnt sich also offensichtlich, einen genaueren Blick auf die Dimensionen und die Funktionsweise des heutigen Kulturbetriebs zu werfen und dabei gleichzeitig den Wandel, der sich im Kulturbetrieb in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat, noch einmal aus anderer Sicht festzuhalten. 1.2 Kulturbetrieb im Wandel Wer einen Blick auf den heutigen Kulturbetrieb wirft und dabei einen Vergleich mit dem von vor dreißig Jahren zieht, wird nicht umhinkönnen, eine Reihe von Veränderungen zu registrieren. Weder kannte man vor dreißig Jahren eigenständige Musicaltheater, noch hätte irgend jemand etwas mit dem Wort Event-Kultur anzufangen gewusst. Wer vor drei Jahrzehnten einen Freizeitpark besuchte, dachte an Freizeitvergnügen, nicht aber an Kultur, und wenn von klassischen Opernarien die Rede war, assoziierte man damit die kultische Aura des Opernhauses, nicht aber das Münchner Olympiastadion. In der Tat, die Zeiten haben sich verändert: Kultur ist heute für viele Menschen und in vielen Situationen ein Freizeitvergnügen wie jedes andere, bei dem nicht selten das Erlebnis des Außergewöhnlichen und Einmaligen von deutlich höherem Stellenwert ist als die ästhetische Rezeption oder gar die kontemplative Verinnerlichung. Künstler erscheinen häufig als die Megastars einer Unterhaltungsindustrie, ganz gleich ob sie nun Luciano Pavarotti, Anna Netrebko, Jeff Koons, Henning Mankell oder Joanne K. Rowling heißen. Und um diese Künstler und um die vielfache Vermarktung von Kunst herum ist ein gigantischer Kulturbetrieb entstanden, der in seiner wirtschaftlichen Leistung allein in Deutschland mit der des Ernährungssektors gleichzieht. Während in den Ausdrucksformen der Kunstsparten kaum neue und bahnbrechende Entwicklungen zu beobachten waren, hat sich aber der Kulturbetrieb innerhalb weniger Jahre dramatisch verändert. Diese Veränderungen schlagen sich auf vielfache Weise nieder. Da ist zunächst einmal die Beobachtung zu machen, dass heute neben den bisher dominierenden öffentlichen Kulturanbietern verstärkt auch die privatwirtschaftlichen Kulturveranstalter als Mitbewerber auftreten. Zwar gab es solche privatwirtschaftlichen Kulturbetriebe schon immer – man denke nur an die Verlage oder an den Kunsthandel –, doch treten sie seit den 90er Jahren erstmals als Musicaltheater, als Konzertveranstalter, als private Rundfunkan-

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stalten, als Freizeitparks und Science-Center oder als Event-Vermarkter selbstbewusst und in der Resonanz durchaus gleichwertig mit dem öffentlichen Kulturbetrieb in Erscheinung. Diese neue Konkurrenz zeigt sich vor allem im Wettbewerb um das gleiche Publikum. Schließlich hat sich mit der Zunahme der Kulturanbieter das Publikum nicht vergrößert, weshalb der Wettbewerb von beiden Seiten inzwischen heftig geführt wird. Die Zeiten, als das alteingesessene Theater es sich noch leisten konnte, den privaten Musicalveranstalter in der Region durch arrogante Nichtbeachtung zu demütigen, dürften endgültig vorüber sein. Inzwischen setzt sich auch im öffentlichen Bereich die Erkenntnis durch, die in der Privatwirtschaft seit eh und je gilt, dass man nämlich Konkurrenten am besten dadurch das Wasser abgräbt, indem man selbst besser wird. Konkurrenz erwächst dem traditionellen Kulturbetrieb aber nicht nur mit Blick auf das Publikum, sondern auch bezüglich der Finanzierungsquellen. Waren die Rollen früher klar verteilt – hier die Finanzierung aus Steuergeldern, dort aus Erlösen –, stellt sich beispielsweise im Kultursponsoring die Situation heute anders dar. Für den Sponsor ist es völlig gleichgültig, ob er einen öffentlichen oder privatwirtschaftlichen Betrieb fördert, entscheidend ist für ihn allein der zu erwartende Imagetransfer und dass dieses transferierbare Image ein positives ist. Ein solcher Imagetransfer aber ist bei einem kommerziellen Kultur-Event nach dem Muster der »Drei Tenöre« mindestens so wahrscheinlich wie bei einem öffentlich finanzierten Festival. Und da die privaten Sponsoren sich oft mit den privaten Veranstaltern leichter tun als mit den öffentlichen – der Kaufmann redet immer noch lieber mit dem Kaufmann als mit dem Beamten –, trifft diese Konkurrenz die mit Finanzsorgen belasteten öffentlichen Kulturanbieter an einer besonders empfindlichen Stelle. Konkurrenz besteht aber auch auf der Ebene der Legitimation. Die privatwirtschaftlichen Kulturbetriebe haben mit dieser Legitimation keine Probleme. Sie wollen und müssen als Kulturbetriebe Gewinne erwirtschaften, um den Lebensunterhalt ihrer Mitarbeiter zu sichern und um eine Rendite für das eingebrachte Kapital zu erzielen. Für die öffentlichen und gemeinnützigen Kulturbetriebe aber, die alle Nonprofit-Betriebe sind, entfällt diese Legitimation. Noch in den 70er Jahren waren sie legitimiert durch das übergeordnete gesellschaftspolitische Ziel. Seit aber dieses gesellschaftspolitische Ziel obsolet geworden ist, klafft hier eine empfindliche Legitimationslücke, mit der vor allem die vom Staat finanzierten Kultureinrichtungen beträchtlich zu kämpfen haben. Die bundesweite Kampagne des deutschen Bühnenvereins, auf diese Legitimationskrise mit dem Spruch »Theater muss sein« zu antworten, ist vor diesem Hintergrund eine Argumentation von jämmerlicher Dürftigkeit.

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Will der vom behütenden Etatismus der 70er Jahre verwöhnte öffentliche Kulturbetrieb nicht in weitere Bedrängnis kommen, muss er sich auf die Veränderungen im Kulturbetrieb stärker einstellen, und d.h. nicht zuletzt, er muss auch eine größere Professionalisierung seines Managements und Marketings anstreben. 1.3 Formale Ordnungskriterien Der erste Einstieg in das komplexe Thema brachte bereits eine Fülle von Begriffen, deren Gebrauch leicht zu Missverständnissen führen kann, wenn man sie nicht sehr sorgfältig voneinander abgrenzt. Gleichzeitig wurde aber auch bereits erkennbar, dass der Kulturbetrieb offenbar eine Binnendifferenzierung nach verschiedenen Kriterien kennt, die für die weitere Betrachtung möglicherweise von erheblicher Bedeutung ist. 1.3.1 Das Ordnungskriterium der Rechtsträgerschaft Zu unterscheiden ist zunächst einmal zwischen dem öffentlich-rechtlichen und dem privatrechtlichen Kulturbetrieb. Der öffentlich-rechtliche Kulturbetrieb besteht aufgrund eines Gesetzes oder einer anderen Willensbildung der öffentlichen Hand, also z.B. durch den Beschluss eines Parlaments. So stützt sich beispielsweise eine Kommune auf Artikel 28 Abs. 2 des Grundgesetzes (Selbstverwaltungsrecht der Kommunen, vermutete Allzuständigkeit), wenn sie ein Theater unterhält oder ein Konzert veranstaltet. Grundlage ist hier also das so genannte öffentliche Recht, weil die Errichtung des Theaters nicht aufgrund eines Vertrags erfolgt, sondern als hoheitlicher Akt einer staatlichen Ebene. Dies hat gewisse Folgen für die Betriebsführung, die dann in der Regel nach den Vorschriften der Kameralistik erfolgt, sowie für das Personalmanagement, wenn die Beschäftigung von Mitarbeitern nach dem öffentlichen Dienstrecht oder dem Bundesangestelltentarif erfolgt. Allerdings kann man sich an dieser Stelle mit gutem Grund fragen, ob dies wirklich so sein muss. Denn mit der Veranstaltung eines Konzerts oder der Aufführung einer Oper oder der Ausleihe eines Buches in der Stadtbibliothek findet kein hoheitlicher Akt statt, sondern es wird eindeutig ein privatrechtlicher Vertrag zwischen Veranstalter und Nutzer geschlossen. Damit aber ist bereits ein wichtiger Streitpunkt in der aktuellen Kulturdebatte angesprochen, nämlich die öffentlich-rechtliche Verankerung und Betriebsführung der Kulturbetriebe der öffentlichen Hand, obwohl diese Einrichtungen ausschließlich privatrechtlich tätig werden. Die Konsequenz aus dieser paradoxen Situation zeigt sich darin, dass gerade im öffentlich-rechtlich Kulturbetrieb mit großem Engagement versucht wird, betriebswirtschaftli-

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ches Denken und Handeln einzuführen, also das, was sich mit den Stichworten »Neue Steuerungsmodelle« oder »Dezentrale Ressourcenverantwortung« verbindet. Der privatrechtliche Kulturbetrieb dagegen stützt sich grundsätzlich nicht auf öffentliches, sondern auf privates Recht. Um es noch einmal zu betonen: Das private Recht geht aus vom Grundsatz der Vertragsfreiheit zwischen gleichberechtigten Vertragspartnern, während das öffentliche Recht durch hoheitlichen Verwaltungsakt den Bürger zu einer bestimmten Handlung zwingen kann. Folglich behandelt der privatrechtliche Kulturbetrieb sein Publikum weit mehr als Kunden, mit denen er in einen freiwilligen Vertrag einzutreten gedenkt, während der öffentlich-rechtliche Kulturbetrieb immer noch ein wenig in den Kategorien von Staat und Bürger denkt. Das kann dann zur Folge haben, dass der Theaterbesucher für seine Karten anstehen muss wie der Sozialhilfeempfänger auf dem Sozialamt oder dass Informationen über den Erwerb eines Abonnements den sprachlichen Stil von Gebührenbescheiden haben. Doch ist deutlich erkennbar, dass sich auch hier ein Wandel vollzieht, denn auch die öffentlich-rechtlichen Kulturbetriebe unternehmen große Anstrengungen, um ihre Besucher als Kunden zu behandeln. Damit wird auch deutlich, dass bestimmte Verhaltensweisen etwa eines Stadttheaters, eines Museums oder einer Bibliothek im Umgang mit den Bürgern (die eigentlich deren Kunden sind) nicht aus Böswilligkeit oder Unvermögen herrühren, sondern sich ganz wesentlich aus dem System ergeben. Wenn das Verhalten nach innen (Vorgesetzte, Personalverwaltung, Hauptverwaltung, politische Vertretung) von Regeln geprägt ist, die in gänzlich anderen Kontexten entstanden sind (z.B. im Kontext einer formaljuristisch einwandfreien und nachvollziehbaren Bürokratie), dann fällt es schwer, das Verhalten nach außen (zum Kunden) gänzlich anderen Regeln anzupassen. Dennoch spricht dies nicht notwendigerweise für eine Privatisierung öffentlicher Kulturangebote, da dies den Zielen staatlicher und kommunaler Kulturanbieter nicht gerecht werden würde. Bisher war recht pauschal von den privatrechtlichen Kulturbetrieben die Rede, die ihre Konsumenten als Kunden sehen und damit einem Kaufmann vergleichbar sind, der aus seiner Tätigkeit Gewinne erwirtschaften will. Allerdings zeigt sich bei genauerer Betrachtung sehr bald, dass es auch privatrechtliche Kulturbetriebe gibt, die ganz offensichtlich nicht auf die Erwirtschaftung von Gewinnen ausgerichtet sind. Zu erinnern ist beispielsweise an einen Kunstverein, der als eingetragener Verein (e.V.) geführt wird, oder an eine privatrechtliche Kulturstiftung. Beide dürften den Status der Gemeinnützigkeit haben, den sie aber nur dann erhalten, wenn sie nicht gewinnorientiert arbeiten. Man kann also folgende Arten von Kulturbetrieben unterscheiden:

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Abbildung 1: Der Kulturbetrieb aus rechtlich-systematischer Sicht Öffentlich-rechtlicher Bereich

Öffentlich-rechtlicher Kulturbetrieb

Privatrechtlicher Bereich

Privatrechtlichgemeinnütziger Kulturbetrieb

Nonprofit -Bereich

Privatrechtlichkommerzieller Kulturbetrieb

Profit-Bereich

Abbildung 1 macht anschaulich, wie die sich aus der Rechtsträgerschaft ergebenden drei Erscheinungsformen des Kulturbetriebs miteinander verknüpft sind. Im Zentrum steht die mittlere Zeile mit den drei Rechtsformen öffentlich-rechtlicher, privatrechtlich-gemeinnütziger und privatrechtlich-kommerzieller Kulturbetrieb. Davon bilden die beiden privatrechtlichen Segmente eine gemeinsame Gruppe (obere Zeile), während nach dem Kriterium des Profits der öffentlich-rechtliche und der privatrechtlich-gemeinnützige Kulturbetrieb eine gemeinsame Gruppe bilden (untere Zeile). Schon diese Darstellung lässt vermuten, dass der mittlere Teilbereich, also der privatrechtlich-gemeinnützige Kulturbetrieb, der interessantere ist, weil von hier aus sowohl zum privatrechtlich-kommerziellen als auch zum öffentlich-rechtlichen Kulturbetrieb eine Verbindung besteht. Und in der Tat sehen viele Kulturmanager und Kulturpolitiker in diesem Bereich, der neben dem Staat und der Privatwirtschaft auch gern als der Dritte Sektor bezeichnet wird, die besten Chancen für ein an nicht-kommerziellen Aufgaben orientiertes, aber dennoch nach wirtschaftlichen Kriterien geführtes Kulturangebot. 1.3.2 Das Ordnungskriterium der Zielsetzung Jedes Managementhandeln ist immer zielorientiert. Demnach handelt auch ein Kulturbetrieb, in dem Kultur durch Management ermöglicht wird, immer in der Ausrichtung auf Ziele. Von den Zielen sollte man allerdings die Zwecke unterscheiden, die wesentlich allgemeinerer Art sein können als die Ziele. So ist auch der Zweck eines Kulturbetriebs ein sehr allgemeiner, nämlich Kultur zu ermöglichen. Ein Theater will Theaterkunst zur Aufführung bringen, ein Belletristik-Verlag will gute Literatur veröffentlichen, ein Kunstverein will

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Kunstausstellungen zeigen usw. Sie alle wollen – in welcher Form auch immer – Kultur ermöglichen. Ganz anders sieht es dagegen auf der Ebene der Ziele aus. Für den privatrechtlich-kommerziellen Kulturbetrieb steht ganz eindeutig das Ziel im Vordergrund, Gewinne zu erwirtschaften. Unternehmensgewinne sind keineswegs moralisch verwerflich, sondern aus der Systematik eines Wirtschaftsbetriebs dringend notwendig. Erstens dienen Gewinne der Finanzierung von Investitionen, beispielsweise in das Anlagekapitel. Wer stets ohne Gewinne arbeitet, wird veraltete Maschinen nicht ersetzen können und gefährdet damit die Basis seines unternehmerischen Handelns. Zweitens sind Gewinne erforderlich, weil Wirtschaften immer mit Risiken verbunden ist. Risiken aber muss man abfangen können durch Rücklagen, die aus Gewinnen gespeist werden. Der öffentliche Kulturbetrieb aber hat nicht das Ziel, Gewinne zu erwirtschaften; er darf es häufig sogar nicht einmal. Ziel der öffentlichen Hand im Allgemeinen und damit auch der öffentlichen Kulturbetriebe ist es, Aufgaben zu erledigen. Und diese Aufgaben werden per Gesetz oder durch eine politische Willensbildung vorgegeben. Konkretisiert für den öffentlich-rechtlichen Kulturbetrieb heißt dies: Der öffentlich-rechtliche Kulturbetrieb hat die Aufgabe, kulturpolitische Ziele umzusetzen. Nur so ist verständlich, weshalb eine Stadt ein höchst defizitäres Theater oder Museum unterhält, weshalb die Kursgebühren in einer Volkshochschule oder Musikschule nicht kostendeckend sind und weshalb Kunstausstellungen kostenlos besucht werden können. Der Staat bzw. die Kommune stellt all diese Dinge bereit, weil sie aus politischer Sicht für notwendig oder sinnvoll erachtet werden. Ähnlich, wenn auch nicht in Form einer politischen Zielsetzung, handeln privatrechtlich-gemeinnützige Kulturbetriebe. Da sie den Status der Gemeinnützigkeit haben, dürfen sie ebenfalls keine Gewinne erwirtschaften. Doch da sie keine staatlichen Einrichtungen sind, müssen sie dennoch keine politischen Ziele umsetzen. Pauschal und vereinfacht gesagt kann man es so formulieren: privatrechtlich-gemeinnützige Kulturbetriebe haben die Aufgabe, die in den Statuten der Einrichtung festgeschriebenen Ziele zu verfolgen. Solche Statuten sind beispielsweise bei eingetragenen Vereinen die Vereinssatzung, bei Stiftungen die Stiftungsurkunde oder bei gemeinnützigen GmbHs der Gesellschaftervertrag. Zusammenfassend unterscheiden sich die oben beschriebenen Segmente des Kulturbetriebs nach ihren Zielen also wie folgt:

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Abbildung 2: Der Kulturbetrieb unterschieden nach Zweck und Zielen Öffentlichrechtlicher Kulturbetrieb Allgemeiner Zweck:

Betriebsspezifische Ziele:

Privatrechtlichgemeinnütziger Kulturbetrieb

Privatrechtlichkommerzieller Kulturbetrieb

Kultur ermöglichen

Kulturpolitische Ziele umsetzen

Stifterwille bzw. Vereinsziele umsetzen

Gewinne erzielen

Für die kulturpolitische Diskussion ist diese Darstellung deshalb von Bedeutung, weil sie erkennbar macht, dass die Unterschiede zwischen dem öffentlichen und dem kommerziellen Bereich nur gradueller Art sind. Dass auch ein kommerziell ausgerichtetes Kulturunternehmen genauso wie eine staatliche Kultureinrichtung Kultur ermöglichen will, sollte endlich ohne Dünkel von Seiten der öffentlichen Hand akzeptiert werden. 1.3.3 Flexibilisierung der Ordnungskriterien Was hier so statisch und scheinbar für alle Zeiten verbindlich festgeschrieben wirkt, ist in jüngster Zeit allerdings erheblichem Wandel unterworfen. Es verwischen sich sowohl die scharfen Grenzen zwischen dem öffentlichen und privatrechtlichen Kulturbereich als auch zwischen einer gemeinnützigen und kommerziellen Zielsetzung. Der öffentlich-rechtliche Kulturbereich bedient sich zunehmend privater Rechtsformen, um dadurch die dem öffentlichen Haushaltsrecht fehlende Flexibilität beim Mitteleinsatz zu erreichen oder aber um Personal unabhängig vom starren Beamtenrecht effizienter einsetzen zu können. Folglich gründen Städte Gesellschaften mit beschränkter Haftung, in denen die jeweilige Stadt alleiniger Gesellschafter ist, um beispielsweise ein Theater zu betreiben. Während diese Konstruktion allein die Rechtsform betrifft – kein Kommunaltheater wirft Gewinne ab –, werden aber im öffentlichen Bereich inzwischen auch Gesellschaften mit der klaren Absicht der Gewinnerzielung gegründet, beispielsweise in Form einer Kulturund Tourismus GmbH (vgl. dazu ausführlich Heinrichs 1999: 69-72). Zudem fällt auf, dass zunehmend private Anbieter auch in jenen Sektoren des Kulturbetriebs aktiv werden, die über Jahrzehnte allein dem öffentlichrechtlichen Bereich vorbehalten waren. Am überzeugendsten wird dies am Beispiel der Musicaltheater deutlich. Bis zu Beginn der 80er Jahre wurden auch Musicals ausschließlich in öffentlichen Theatern gezeigt. Seit Mitte der 80er Jahre aber machen kommerzielle Musicaltheater in privater Trägerschaft

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den öffentlichen Theatern Konkurrenz. Ähnliches ist auch im Museumsbereich zu beobachten, wo kommerzialisierte Museumsformen wie das Verkehrsmuseum Sinsheim oder – seit Ende der 90er Jahre – die so genannten Science-Center sich sehr gut als neuartige kommerzielle Museen neben den öffentlichen Anbietern positionieren konnten. Bemerkenswert ist auch, dass zunehmend private Anbieter wie Banken und große Wirtschaftsunternehmen als Kulturveranstalter auftreten. Das kann durchaus als weiteres kommerzielles Standbein erfolgen, kann aber auch von einer unmittelbaren Gewinnorientierung völlig losgelöst sein. Die Kulturveranstaltung ist dann eine Marketingaktion, die der Kundengewinnung bzw. -bindung, der Motivation der Mitarbeiter oder der Imagepflege dient. Dieses Konzept, das man von den Kunstausstellungen in den Schalterhallen der Banken und Sparkassen schon lange kennt, wird nun auch von vielen Unternehmen in anderen Branchen kopiert. Entscheidend ist – und das ist wirklich neu –, dass der privatrechtlich-kommerzielle Veranstaltungsträger hier ohne unmittelbare Gewinnabsicht auftritt und damit die Rolle eines öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlich-gemeinnützigen Veranstalters übernimmt. Ganz ähnlich stellt sich die Situation auch in der Kulturförderung dar. Konnte man früher davon ausgehen, dass ein Mäzen oder ein sponserndes Wirtschaftsunternehmen seine Fördergelder an eine öffentlich-rechtliche oder privatrechtlich-gemeinnützige Kultureinrichtung gab, um auf diese Weise jede direkte Einflussnahme auf die Kunst von vornherein unmöglich zu machen, vergeben private Banken und Wirtschaftsunternehmen ihre Preise und Stipendien heute selbst bzw. fördern einen Künstler, der seine Werke auch direkt im Firmenbereich wieder ausstellt oder vorführt. Ohne auf die Gründe, die dieser Entwicklung zugrunde liegen, näher einzugehen, muss doch der erstaunliche Wandel konstatiert werden. Die Grenzen zwischen dem öffentlich-rechtlichen bzw. dem gemeinnützigen Bereich und dem privatrechtlich-kommerziellen Kulturbereich sind zunehmend fließend geworden, und Gewinnorientierung bzw. Gemeinnützigkeit können nur noch eingeschränkt einer bestimmten Rechtsträgerschaft zugeordnet werden. 1.4 Akteure des Kulturbetriebs 1 So sehr der Kulturbetrieb auch durch rechtliche und organisatorische Strukturen geprägt ist, gewinnt er die Befähigung zum Handeln doch allein aus den im Kulturbetrieb tätigen Personen. Mehr als in jedem Industrie- oder Dienstleistungsbetrieb hängt die Leistung eines Theaters, Konzertbetriebs 1 Siehe auch Abschnitt 1.5.

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oder Verlags von denen ab, die für die künstlerische Qualität des Produkts die Verantwortung tragen. Dies sind in erster Linie natürlich die Künstler, aber auch die leitenden Kulturmanager tragen ganz wesentlich zum Ergebnis bei. Wenn man über den Kulturbetrieb im Allgemeinen spricht, muss man folglich seine personale Komponente in besonderer Weise berücksichtigen. Auch wenn von Kunstsparte zu Kunstsparte gewisse Unterschiede auszumachen sind, kann man generell vier Gruppen von Akteuren ausmachen. Es sind dies a) b) c) d)

die Autoren die (künstlerischen und/oder vermittelnden) Interpreten die Kulturmanager die Mitarbeiter

Der Autor steht hier für jeden Künstler, der das ursprüngliche Werk schafft, also für den Verfasser eines Romans oder eines Theaterstücks wie auch für den Komponisten eines musikalischen Werks oder den Maler eines Bildes. Der Interpret ist derjenige, der das Werk des Autors unabhängig vom Zeitpunkt der Entstehung des Werks an ein Publikum vermittelt. Dazu gehören beispielsweise Musiker, die ein Orchesterwerk aufführen, oder Schauspieler, die in einem Theaterstück mitspielen. Interpreten erbringen im Allgemeinen ebenfalls eine künstlerische Leistung; niemand würde zögern, einen renommierten Pianisten als Künstler zu bezeichnen, obwohl er vielleicht niemals eigene Werke vorträgt. Es gibt aber auch Interpreten, die interpretierend in ein Werk eingreifen, ohne dass man sie deshalb bereits als Künstler bezeichnen würde. Dazu gehört beispielsweise der Kustos einer Kunstausstellung, dessen Einfluss auf die Rezeption eines künstlerischen Werks sehr groß ist, oder auch der Dramaturg an einem Theater. Für sie steht die Vermittlung des Werks im Vordergrund; die Interpretation dient in erster Linie der Vermittlung. Es empfiehlt sich deshalb, zwischen dem künstlerischen und dem vermittelnden Interpreten zu unterscheiden. Der vermittelnde Interpret steht bereits dem Kulturmanager nahe; nicht selten handelt es sich sogar um ein und dieselbe Person. Das gilt beispielsweise für den Galeristen einer kleinen Kunstgalerie, der als Kustos die Ausstellung hängt, gleichzeitig aber auch die Galerie leitet. Aber auch bei einem Theaterintendanten kann es solche Überschneidungen geben. Als Theaterleiter ist er zweifellos ein Kulturmanager; gleichzeitig hat er aber auch das Recht der Spielplangestaltung und der Auswahl der Regisseure, Bühnenbildner und Schauspieler, zwei Arbeitsbereiche mithin, die von erheblicher künstlerischer Bedeutung sein können. Ein weiteres typisches Beispiel einer sol-

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chen Doppelfunktion eines vermittelnden Interpreten und Kulturmanagers ist auch der Lektor in einem belletristischen Verlag. Er wählt die zu veröffentlichenden Werke aus, bestimmt deren Titel und greift nicht selten auch in den Text ein, er steuert aber gleichzeitig auch die Abläufe in der technischen Herstellung und bereitet die Vermarktung eines Buches vor. Daneben gibt es aber auch den Kulturmanager, der nicht als vermittelnder Interpret tätig wird. Dies gilt beispielsweise für den Verwaltungsdirektor eines Theaters, für den Kulturamtsleiter einer Großstadt, für den Kanzler einer Kunsthochschule oder für den Finanzchef eines Verlags. Auch wenn sie keinen unmittelbaren Einfluss auf ein künstlerisches Produkt haben, gestalten sie doch entscheidend die Rahmenbedingungen, innerhalb derer ein Kunstwerk entstehen und dem Publikum präsentiert werden kann. Das wiederum leitet über zur vierten Gruppe der Akteure, den Mitarbeitern, die als Bühnenarbeiter, als Veranstaltungsmitarbeiter, als Verwaltungsangestellte oder als Aufseher unverzichtbar sind, von der Entstehung des künstlerischen Produkts aber am weitesten entfernt sind. Wie sich in Abschnitt 1.5 zeigen wird, sind in Deutschland im Kulturbetrieb etwa 700.000 Beschäftigte tätig. Doch dürfen die Akteure im Kulturbetrieb nicht nur unter quantitativen Aspekten gesehen werden. Festzuhalten ist auch, dass die Beschäftigten im Kulturbetrieb in aller Regel über eine hochwertige Ausbildung verfügen. Vor allem unter den Autoren und den künstlerischen und vermittelnden Interpreten – im oben skizzierten Sinne – ist der Anteil der Akademiker ungewöhnlich hoch, da es sich bei Musikern, Schauspielern, Tänzern, Malern und Bildhauern in der Regel um Absolventen der Musik- und Kunsthochschulen handelt und auch Lektoren, Journalisten, Dramaturgen und Kustoden überwiegend ein abgeschlossenes Universitätsstudium benötigen. Damit verfügt der Kulturbetrieb in der Relation zu allen Beschäftigten im Kulturbereich über ein ungewöhnlich großes Potenzial an fachlicher und intellektueller Kompetenz. Es ist deshalb sicherlich gerechtfertigt, wenn der Kulturbetrieb zuallererst über seine Akteure Wirkung zu erzielen versucht. Wer ein Auto kauft, interessiert sich nicht dafür, welche Personen dieses Auto konstruiert und gebaut haben. Aber wer ein Bild kauft, will wissen, wer dieses Bild gemalt hat. Darin zeigt sich ein wesentlicher Unterschied des Kulturbetriebs zu allen anderen Branchen. Diese Besonderheit immer wieder deutlich zu machen und damit die Akteure in den Vordergrund zu stellen, muss ein dauerhaftes Ziel des Kulturbetriebs sein. 1.5 Volkswirtschaftliche Grössenordnung Ende der 80er Jahre entdeckte man auch in Deutschland die volkswirtschaftliche Bedeutung des Kulturbetriebs. Eine Untersuchung des Münchner Ifo-

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Instituts für Wirtschaftsforschung zeigte 1988, dass der öffentliche und privatwirtschaftliche Kulturbetrieb in West-Deutschland eine Bruttowertschöpfung von mehr als 40 Mrd. DM erreichte und im Kulturbetrieb nahezu 700.000 Personen beschäftigt wurden (vgl. Hummel/Berger 1988: 5). Diese Untersuchung zeigte erhebliche Folgen: Kultur wurde als Wirtschaftsfaktor entdeckt und erlangte zudem in der politischen Diskussion als Standortfaktor eine erhebliche Bedeutung. Doch während Kultur heute unbestritten als Wirtschaftsfaktor gewertet wird und man auch ganz selbstverständlich von der Kulturwirtschaft spricht, findet die These von der Kultur als Standortfaktor nur noch wenige Verfechter, zumindest wenn man den Optimismus der 80er Jahre als Maßstab heranzieht. Als Standortfaktoren bezeichnet man die Determinanten für die Standortwahl eines Unternehmens. Mit Blick auf den Kulturbetrieb ist vor allem die Unterscheidung zwischen harten (z.B. Bodenschätze, Verkehrsanschluss, räumliche Nähe zum Absatzmarkt) und weichen (z.B. das Image der Stadt, die Attraktivität der Kultur- und Freizeitangebote usw.) Standortfaktoren von Interesse (vgl. Grabow u.a. 1995). Die angesprochene Diskussion in den 80er Jahren ging davon aus, dass Kultur als Standortfaktor von großer Bedeutung sei. Der damalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Lothar Späth, stellte sogar die These auf, dass das Kulturangebot einer Stadt für die Standortpolitik eines Unternehmens wichtiger sei als ein Gleisanschluss, Kultur mithin den Stellenwert eines harten Standortfaktors habe. Doch hat sich diese These empirisch nicht bestätigt. Eine im Auftrag der Wüstenrot-Stiftung durchgeführte Untersuchung des Ludwigsburger Instituts für Kulturmanagement und der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik hat vielmehr gezeigt, dass dem Kulturangebot lediglich im Personalmanagement (z.B. bei der Anwerbung leitender Mitarbeiter, die ein gewisses Kultur- und Bildungsniveau am neuen Arbeitsplatz erwarten) und im Unternehmensmarketing eine gewisse Bedeutung zukommt (vgl. Wüstenrot-Stiftung 1999). Aber auch dies gilt nur, sofern das Kulturangebot besonders auffällig und im Fremdimage verankert ist. Auch ist zu berücksichtigen, dass Kulturangebote als Standortfaktor immer nur gemeinsam mit weiteren Bildungs- und Freizeitangeboten Wirkung erzielen können. Alle diese Bedingungen haben allerdings dann eine potenzierende Bedeutung, wenn das überdurchschnittliche kulturelle Angebot noch durch besondere kulturelle Sehenswürdigkeiten oder durch ein kulturell geprägtes Stadtbild unterstützt wird. Heute spricht man nur noch sehr zurückhaltend vom Standortfaktor Kultur. Dieser Terminus wird vor allem dort verwendet, wo man mit Hilfe von Kulturangeboten das Fremdbild einer Stadt oder Region beeinflussen will, was natürlich indirekt wiederum wirtschaftliche Auswirkungen haben kann. Doch von der einst sehr optimistischen Vorstellung, dass ein Kulturangebot die

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Ansiedlung von Wirtschaftsunternehmen aktiv unterstützen könne, hat man sich längst verabschiedet. Ganz anders steht es dagegen um die Bewertung der Kulturwirtschaft und des Wirtschaftsfaktors Kultur. Mit der erwähnten Untersuchung des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung von 1988 wurden zahlreiche Folgeuntersuchungen initiiert. Das Ifo-Institut selbst ließ 1991 (Hummel/Brodbeck 1991) und 1992 (Hummel/Waldkircher 1992) zwei weitere Untersuchungen folgen. Von besonderem Stellenwert waren in dieser Diskussion die Untersuchungen von Pommerehne und Frey (Pommerehne/Frey 1993 und Frey 2000), weil sie erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zeigten, in welchem Maße dieses Thema in anderen Staaten – vor allem in den USA – bereits zu einem selbstständigen Forschungsgebiet, nämlich der Kulturökonomie, geworden war. In der Folge wurden auch von deutschen Wirtschaftsforschungsinstituten große Anstrengungen unternommen, um den in der Forschung offensichtlich bestehenden Nachholbedarf wettzumachen. Allerdings zeigte sich sehr bald das Problem einer völlig unzureichenden Datenlage. Deshalb kommt den vier Kulturwirtschaftsberichten für Nordrhein-Westfalen aus den Jahren 1993, 1995, 1998 und 2002 große Bedeutung zu, weil hier erstmals für ein ganzes Bundesland verlässliche Daten erhoben wurden (vgl. Ministerium für Wirtschaft NRW 1993-2002). Alle Untersuchungen bestätigen, dass der Kulturbetrieb in seiner Gesamtheit von nennenswerter volkswirtschaftlicher Bedeutung ist und als Wirtschafts- und Arbeitsmarktfaktor erhebliche Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben und den Arbeitsmarkt hat. Die Dimensionen der Kulturwirtschaft werden in der Regel nach der Bruttowertschöpfung und nach der Zahl der Arbeitsplätze bemessen. Als Bruttowertschöpfung bezeichnet man den Produktionswert einer Volkswirtschaft, abzüglich der Vorleistungen (auch als Nettoproduktionswert bezeichnet). Sie ist für eine volkswirtschaftliche Betrachtung die entscheidende Größenordnung, weil sie noch am ehesten eine Einbeziehung sowohl des kommerziellen als auch öffentlichen bzw. gemeinnützigen Kultursektors möglich macht. Auf der Grundlage der Erhebungen des Statistischen Bundesamtes und der Kerndefinition des Kultursektors nach den Vorgaben der EU-Kommission2 hat der Arbeitskreis Kulturstatistik beim Zentrum für Kulturforschung im Jahr 2003 für den öffentlichen, gemeinnützigen und privatwirtschaftlichen Kultursektor in Deutschland zusammen eine Bruttowertschöpfung von insgesamt 35 Mrd. €3 ermittelt, was einem Anteil von 1,6 % am deutschen Bruttoinlandsprodukt in 2003 entspricht. Vergleicht man die Summe mit anderen Wirtschaftsbereichen, so liegt die Kulturwirt2 Einschl. Tonträger und Verlagsgewerbe. 3 Daten der 2. Jahrestagung Kulturwirtschaft am 1.12.2005 in Berlin.

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schaft etwa zwischen der Chemischen Industrie (44 Mrd. €) und der Energiewirtschaft (30 Mrd. €). Interessant ist zudem, dass die Kulturwirtschaft eindeutig ein Wachstumsmarkt ist. »Von 1995 bis 2001 stieg die Bruttowertschöpfung des Kultursektors pro Jahr um 1,4 Prozent« (Söndermann 2004a: 191). Da aber die Kulturausgaben der öffentlichen Hand seit Jahren stagnieren, ist dieses Wachstum allein auf den privatwirtschaftlichen Kultursektor zurückzuführen. Man kann es auch umgekehrt formulieren: Weil sich die Kulturwirtschaft seit Jahren als Wachstumsmarkt erweist – wenn auch von Branche zu Branche keineswegs einheitlich –, zeigt sich die Privatwirtschaft zunehmend bereit, sich im Kultursektor zu engagieren. Betrachtet man den Kultursektor nach den Umsätzen, was volkswirtschaftlich betrachtet etwas problematisch ist, so ist der öffentliche Bereich durch direkte Kulturausgaben und indirekte steuerliche Förderungen am Kulturbetrieb mit etwa 17,6 Mrd. € beteiligt (einschl. der öffentlichen Rundfunkanstalten), während der privatwirtschaftliche Bereich Umsätze von etwa 72 Mrd. € erreicht (einschl. Verlagsgewerbe) (vgl. ebd.: 193). Ohne Rundfunkanstalten und ohne die indirekte Förderung durch Steuerbefreiungen und -ermäßigungen ist das Verhältnis sogar noch auffälliger; dann stehen den privatwirtschaftlichen Umsätzen von 72 Mrd. € gerade einmal 8,5 Mrd. € an öffentlichen Kulturausgaben gegenüber. Abbildung 3 macht noch einmal deutlich, dass aus volkswirtschaftlicher und wirtschaftspolitischer Sicht eine Förderung des privatwirtschaftlichen Kulturbetriebs weitaus gebotener ist als eine Förderung des aus Steuermitteln und Abgaben finanzierten öffentlichen Bereichs. Das ist aus kulturpolitischer Sicht zweifellos anders zu bewerten, aber das sich daraus ergebende Argumentationsdefizit des öffentlichen Kultursektors sollte nicht unterschätzt werden. Beide Seiten tun deshalb gut daran, die Zusammenarbeit zu suchen, denn dass sich Kultur und Wirtschaft weit näher stehen, als dies die eher wirtschaftskritische Neue Kulturpolitik in den 70er Jahren sehen wollte, dürfte inzwischen unbestritten sein. Gerade aus dem Blickwinkel des Kulturbetriebs bietet sich eine Partnerschaft zwischen Kultur und Wirtschaft, die über ein bloßes Sponsoring hinausgeht, geradezu an.4

4 Vgl. dazu ausführlich die Dokumentationsbände zum Symposium »Kultur und Wirtschaft«, das 2002 in Graz und Innsbruck stattfand: Busek, Abfalter 2003 und Jochum 2005.

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Abbildung 3: Private u. öffentliche Kulturfinanzierung in Deutschland 2000/01; Umsätze/Ausgaben/Aufwendungen in Mrd. € 45 40 40 35 30 30 25 20 15 8,5 10

7,7

2,9 5

1,4

0,35 0

A

B

C

D

E

F

G

A: Steuerbare Umsätze insgesamt in der Kulturwirtschaft im engeren Sinne (Musik, Literatur/Buch, Kunst, Film, darstellende Kunst) B: Steuerbare Umsätze Verlagsgewerbe (Pressemarkt) C: Geschätzte Etats des Kultursponsorings D: Steuerbare Umsätze der selbstständigen Künstler/Publizisten Zwischensumme: 73,25 Mrd. € E: Kulturausgaben der öffentlichen Haushalte F: Aufwendungen des öffentl.-rechtl. Rundfunks (ARD, ZDF, DLRadio, DW) G: Geschätzte Steuermindereinnahmen des Staates durch ermäßigte bzw. befreite Umsatzsteuer bei kulturellen Leistungen Zwischensumme: 17,6 Mrd. € Quelle: In Anlehnung an Söndermann 2004a, 193

In der Gesamtbetrachtung des Kulturbetriebs interessiert an dieser Stelle des Weiteren, welche Berufsgruppen dem Kulturbetrieb zuzurechnen sind und in welchem Umfang Menschen im Kulturbetrieb beschäftigt sind. Dabei zeigt sich, dass der Kulturbetrieb ein nicht unwesentlicher Arbeitsmarktfaktor ist. In einem Gutachten im Auftrag des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien über Kulturberufe vom Juni 2004 kam Michael Söndermann zu der folgenden Übersicht (Söndermann 2004b: 13):

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Tabelle 1: Zusammenfassung der Erwerbstätigen in Kulturberufen in Deutschland nach beruflichen Sparten/Feldern 2003 (Mikrozensus-Konzept) Berufliche Sparte/ Berufsfeld

Zusammengefasste Berufsgruppen

Anzahl in 1.000

Anteil in %

I.

Design und bildende Kunst

Designer u. bildende Künstler (angewandte Kunst), bildende Künstler (freie Kunst), Fotografen, Kameraleute, Raum-, Schauwerbegestalter

205

26

II.

Musik und darstellende Kunst

Musiker, Lehrer f. musische Fächer (Musiklehrer u.a.), darstellende Künstler, Sänger, Artisten, künstl. Hilfsberufe, künstl. zugeordnete Berufe der Bühnen-, Bild- und Tontechnik

198

25

III. Literatur, Publizistik

Autoren, Journalisten, Publizisten, Dolmetscher, Übersetzer

166

21

IV. Architektur

Architekten, Raumplaner, Denkmalpfleger

117

15

V.

Bibliothekare, Archivare, Museumsfachleute

66

8

VI. Sonstige Kulturberufe

Geisteswissenschaftler (Theater-, Film-, Musikwissenschaftler u.a.), Schilderhersteller u. sonstige Kulturberufe

28

4

Insgesamt

Alle Berufsgruppen zusammen

Bibliothek, Museum

7805

100

Quelle: Berechnungen des Arbeitskreises Kulturstatistik auf der Grundlage von Daten des Statistischen Bundesamtes (Abweichungen in der Summe der prozentualen Anteile sind rundungsbedingt)

Allerdings ist eine statistische Abgrenzung der Kulturberufe nicht immer leicht. Es empfiehlt sich deshalb, eine zweite Statistik mit anderen Auswahlkriterien heranzuziehen. Dazu eignet sich beispielsweise die vom Statistischen Bundesamt nach einheitlichen EU-Kriterien errechnete Statistik der Kulturberufe in Deutschland. Sie berücksichtigt folgende Berufsgruppen, die vom Statistischen Bundesamt nach Wirtschaftszweigen (WZ) zusammengefasst werden (WZ 2003): WZ 22.1 WZ 92.1

Verlagsgewerbe (einschl. Tonträger) Film- und Videoherstellung, -verleih und -vertrieb, Kinos

5 57 % aller Beschäftigten sind Frauen.

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WZ 92.2 WZ 92.3 WZ 92.31

WZ 92.32

WZ 92.33 WZ 92.34 WZ 92.4 WZ 92.5

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Rundfunkveranstalter Erbringung von sonstigen kulturellen und unterhaltenden Leistungen Künstlerische und schriftstellerische Tätigkeiten und Darbietungen (u.a. Theaterensemble, Ballett, Orchester, Chöre, bildende Künstler, Restauratoren, Komponisten, Musikbearbeiter, Schriftsteller, selbstständige Bühnen-, Film-, Hörfunk- und Fernsehkünstler, Artisten) Betrieb von Kultur- und Unterhaltungseinrichtungen und Hilfsdienste dafür (u.a. Theater- und Konzertveranstalter, Opern- und Schauspielhäuser, Konzerthallen, Varietés und Kleinkunstbühnen) Schaustellergewerbe und Vergnügungsparks Sonstige kulturelle und unterhaltende Leistungen (u.a. Tanzschulen) Korrespondenz- und Nachrichtenbüros, selbstständige Journalisten Bibliotheken, Archive, Museen, Denkmalschutzeinrichtungen, botanische und zoologische Gärten

In dieser Aufstellung fehlen die Architekten und Raumplaner. Weil der Kulturbetrieb hier etwas enger gefasst ist, scheint das Ergebnis realistischer zu sein (zumal es für einen internationalen Vergleich geeignet ist). 2003 zählte man nach dieser Statistik im Kulturbetrieb 682.000 Beschäftigte, davon 158.000 Selbstständige (Söndermann 2004a: 206). Da die Zahl der Selbstständigen sich der der Versicherten in der Künstlersozialkasse nähert (145.000), spricht vieles für eine realistische Datenerhebung. In beiden Statistiken sind zwar die Daten des Verlagsgewerbes und anderer Medienbetriebe enthalten, nicht aber die Beschäftigten des Buchhandels. Gleichwohl sind die Summen in beiden Statistiken mit 780.000 bzw. 682.000 beachtlich. Das wird vor allem deutlich, wenn man sie mit denen anderer Branchen vergleicht. So zählt der wirtschaftspolitisch weit mehr beachtete Maschinen- und Anlagenbau mit 868.000 Beschäftigen (in 2004) kaum mehr und die gleichermaßen wirtschaftspolitisch bedeutende Chemieindustrie mit 445.700 Beschäftigten (in 2004) sogar erheblich weniger Beschäftigte als der Kulturbereich. So erfreulich diese Zahlen sind, so muss doch einschränkend festgestellt werden, dass der Kulturbetrieb aus arbeitsmarktpolitischer Sicht kein Wachstumsmarkt ist. Zwar steigt die Zahl der selbstständigen Künstler und Kulturvermittler, doch sinken seit 2001 die Beschäftigtenzahlen in Kulturberufen mit sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen (ebd.: 49), weil in

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vielen Theatern, Orchestern, Museen, Rundfunkanstalten, Verlagen usw. Stellen abgebaut werden. Es ist mithin kein Wachstum, sondern nur eine Verlagerung der Beschäftigten festzustellen.

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Werner Heinrichs ➔ 2. Allgemeine Rahmenbedingungen des Kulturbetriebs



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2. Allgemeine Rahmenbedingungen des Kulturbetriebs

Der Kulturbetrieb als »die Summe aller institutionellen Erscheinungsformen von Kultur«, wie er in der Einleitung definiert wurde, bedarf schon von seinem Grundverständnis her der Rahmenbedingungen. Kultur in Institutionen bedeutet immer, dass sich Kultur in einem Rahmen bewegt, der mit der Institution vorgegeben ist. Entscheidend ist dabei lediglich, dass diese Rahmenvorgabe nicht künstlerischer Art ist, denn dann wäre es eine Rahmensetzung in Form von Zensur. Erlaubt und teilweise auch notwendig sind dagegen Rahmenbedingungen rechtlicher Art, um beispielsweise Urheberrechte an einem Kunstwerk zu sichern. Andere Rahmenbedingungen, die sich zum Teil aus dem Urheberrecht ergeben, dienen der sozialen Absicherung der Künstler. Diesem Ziel dienen auch steuerrechtliche Regelungen, die häufig gleichzeitig auch eine indirekte Förderung von Kunst und Kultur sein können. Zuletzt gibt es auch politische und ökonomische Rahmenbedingungen, die sich häufig aus einer Prioritätenkonkurrenz ergeben. Doch werden hier die Rahmenbedingungen nicht im Detail vorgestellt; dafür stehen Handbücher zur Verfügung, auf die im Literaturverzeichnis hingewiesen wird.1 Hier ist es nur das Ziel, die wichtigsten Rahmenbedingungen aufzuzeigen und die Instrumente zu benennen, mit deren Hilfe diese Rahmenbedingungen wirksam werden. Vor allem aber soll erkennbar werden, wie sich bestimmte Rahmenbedingungen auf den Kulturbetrieb auswirken. Soweit es sich um Rahmenbedingungen handelt, die nur für eine bestimmte Sparte des Kulturbetriebs gelten, werden sie dort gesondert vorgestellt. 2.1 Kulturpolitische Rahmenbedingungen Als Kulturpolitik bezeichnet man die Steuerung des Kulturbetriebs durch demokratisch-parlamentarische Gremien bzw. staatliche und kommunale Behörden. Diese Steuerung erfolgt in einer inhaltlichen Dimension, wo möglichst nicht normativ, sondern in einem diskursiven Prozess nach dem Begriff, den Zielen und dem Stellenwert von Kultur gefragt wird, sowie in einer ord1 Es ist der Hinweis erforderlich, dass vor allem für die hier dargelegten rechtlichen und steuerrechtlichen Rahmenbedingungen keine Gewähr übernommen werden kann. Das hier nur grob vorgestellte Urheberrecht und Steuerrecht kennt zu viele Ausnahmen und Sonderregelungen als dass hier eine abschließende und verbindliche Darstellung möglich wäre.

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nenden Dimension, wo Entscheidungs- und Handlungsspielräume definiert und strukturelle, rechtliche und administrative Rahmenbedingungen gesetzt werden (vgl. dazu ausführlich Heinrichs 1997). Da von der ordnenden Dimension der Kulturpolitik in den folgenden Abschnitten die Rede sein wird, sei in diesem Abschnitt zunächst die inhaltliche Dimension in den Vordergrund gestellt. Die inhaltliche Dimension der Kulturpolitik prägt wesentlich die Rolle, die der Kultur in einer Gesellschaft zugestanden wird. Daraus ergeben sich unmittelbar die Ziele der Kulturpolitik. Wenn beispielsweise die Kultur zur Modernisierung der Gesellschaft beitragen soll, wie in Frankreich in den 80er Jahren, hat dies andere kulturpolitische Ziele zur Folge, als wenn die Kultur zur Abrundung des Wohlfahrtsstaates eingesetzt wird, wie dies in den 70er Jahren in Schweden der Fall war. Das zeigt schon, dass Kulturpolitik immer auch orts- und zeitgebunden ist, d.h. es gibt nicht die für alle Zeiten und an allen Orten gültigen Ziele der Kulturpolitik, sondern sie gelten immer nur im Kontext einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Ortes. Um dies zu verdeutlichen, lohnt ein Blick in die Geschichte der Kulturpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Für die DDR ergäbe sich ein ähnliches, durch zeitliche Phasen differenziertes Bild, doch da die DDR nicht mehr besteht und deren vom Marxismus-Leninismus geprägtes Kulturverständnis nach 1990 von der Bundesrepublik nicht übernommen wurde, ist ein solcher Rückblick für die heutige Situation des Kulturbetriebs in Deutschland nur von geringem Wert. Dagegen ist es für das Verständnis des heutigen Kulturbetriebs in der Bundesrepublik sehr hilfreich, wenn man kurz einen Blick auf die Kultur der Adenauerzeit, die Kultur der Jahre nach 1968, die ökonomisch legitimierte Kultur der 80er Jahre sowie die Event-Kultur in der Erlebnisgesellschaft der 90er Jahre wirft. Das Kulturleben der 50er Jahre war in Deutschland gekennzeichnet von dem Verlangen, die Künste wieder in all ihren Möglichkeiten erleben und ausleben zu können. Nach der Strangulierung der Kultur während der Hitler-Diktatur blühten die Künste wieder auf und stießen auf ein begieriges Publikum. Theater, Konzerthallen, Museen und Bibliotheken gehörten zu den ersten öffentlichen Gebäuden, die nach dem Krieg wieder errichtet wurden. In Massen strömten die Menschen in die Theater von Gustaf Gründgens, Fritz Kortner oder Wolfgang Liebeneiner, hörten Konzerte mit Wilhelm Furtwängler und Karl Böhm oder sahen in den Galerien die Werke von Paul Klee, Piet Mondrian und Jackson Pollock. Wie die Namen schon zeigen, waren die Künstler und ihre Kunst nicht unbedingt neu; bei weitem den meisten Künstlern war man auch schon in den 30er Jahren begegnet. Aber sie boten eine Kunst auf höchstem Niveau und befriedigten damit das Bedürfnis des Publikums nach Ästhetik und Kontem-

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Werner Heinrichs ➔ 2. Allgemeine Rahmenbedingungen des Kulturbetriebs

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plation, also durchaus im klassischen Sinne des Erhabenen und Schönen. Im Vordergrund standen die Künste und die Künstler; sie dominierten das bürgerliche Kulturleben in Westdeutschland. Ende der 60er Jahre aber zeichnete sich eine tiefgreifende Veränderung ab, die in den 70er Jahren in vollem Umfang zum Durchbruch kam. Die junge Generation der nach dem Krieg Geborenen sah in der Kunst-Kultur der 50er Jahre vorrangig ein Instrument zur Sicherung bürgerlicher Herrschaftsverhältnisse. Mit Vorliebe wurde ein älterer Aufsatz von Herbert Marcuse (18981979) zitiert, in dem er davon sprach, dass die Kultur einen affirmativen Charakter habe (vgl. Marcuse 1937), d.h. sie stützt bestehende Verhältnisse. Die neue Kultur aber – so das Ziel einer neuen Generation von Kulturpolitikern – müsse die bürgerliche Gesellschaft in Frage stellen und eine andere, demokratischere Gesellschaft erschaffen. In der Folge setzten engagierte Kulturpolitiker wie Hilmar Hoffmann in Frankfurt am Main oder Hermann Glaser in Nürnberg ein kulturpolitisches Konzept durch, dass allen Bürgerinnen und Bürgern gleichermaßen den Zugang zu Kunst und Kultur sichern sollte. Hermann Glaser sprach von einem »Bürgerrecht Kultur« (Glaser/Stahl 1983) und meinte damit, dass die Bürgerinnen und Bürger auf Kultur in gleichem Maße einen Anspruch hätten wie auf sauberes Wasser, auf eine funktionierende Müllabfuhr oder auf befestigte Straßen. Hilmar Hoffmann gar forderte »Kultur für alle« (Hoffmann 1979), d.h. niemandem im Lande sollte der Zugang zu Kunst und Kultur aus wirtschaftlichen, geographischen oder sonstigen Gründen unmöglich sein. Alle Kulturangebote sollten deshalb flächendeckend zur Verfügung gestellt werden, also nicht nur in den Großstadtzentren, sondern auch in den Stadtteilen sowie in den Kleinstädten und Dörfern im ländlichen Raum. Und damit finanzielle Hindernisse erst gar nicht auftreten konnten, wurden bei weitem die meisten Angebote kostenlos oder zu sehr günstigen Preisen bereitgestellt. Die Folge war eine einzigartige Aufbruchstimmung, die – wenn auch in anderer Form und mit anderen Zielen – der Kulturbegeisterung der Nachkriegszeit nicht unähnlich war. Kurzum: Kultur und Kulturpolitik hatten Konjunktur! Hintergrund dieser Entwicklung war eine gesellschaftspolitische Zielsetzung. Die damalige sozialliberale Koalition wollte demokratische Elemente stärker gesellschaftspolitisch verankern. Willy Brandt (1913-1992) stellte deshalb über seine erste Regierungserklärung das Motto: »Mehr Demokratie wagen!« Demokratie aber verlangt Information sowie den Austausch von Informationen und Meinungen. Dies sollte in erster Linie durch Bildung und Kultur erreicht werden, d.h. durch kulturelle Bildungsangebote wie das der Volkshochschulen, Bibliotheken, Musik- und Kunstschulen sollten die Menschen zu mündigen Bürgern gemacht werden. Gleichzeitig entdeckte man den kommunikativen Wert von Kultur, weil die Rezeption von Kunst und Kul-

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tur selten ohne eine Kommunikation, ohne einen Austausch von Meinungen und Empfindungen möglich ist. So entstanden die Kommunikationszentren und soziokulturellen Zentren, in denen Kultur nicht nur konsumiert, sondern in einem kommunikativen Austausch aktiv miterlebt und mitgestaltet werden konnte. Gerade diese gesellschaftspolitische Verankerung zeigt, dass der Kulturbetrieb der 70er Jahre vor allem politisch dominiert war: Die 70er Jahre waren die große Zeit der Kulturpolitiker und Kulturbeamten. Beflügelt von dem Ziel, die Lebensverhältnisse gleicher und gerechter zu machen, entstand eine »Kultur für alle«, die am Angebot der Kulturpolitiker, nicht aber an der Nachfrage der Bürgerinnen und Bürger orientiert war. Der Staat nahm die Kultur in »seine Obhut« (Hoffmann 1979: 28), wie Hilmar Hoffmann es ausdrückte, und finanzierte und förderte sie in großzügigster Weise aus Steuermitteln. War die Kultur der 50er Jahre von den Künstlern dominiert, so dominierten nun die Kulturpolitiker; diente die Kultur der Zeit Adenauers vorrangig ästhetischen und kontemplativen Zielen, so war die Kultur zu Zeiten Willy Brandts auf gesellschaftspolitische Ziele ausgerichtet. Diese Instrumentalisierung von Kultur für – zumindest auf den ersten Blick – kulturfremde Ziele sollte sich in den 80er Jahren in anderer Form fortsetzen. Der damalige französische Kulturminister Jack Lang entdeckte 1984 »Kultur als Modernisierungsfaktor« (Hadesbeck 1991) und setzte damit erstmals die Zusammenhänge zwischen Kultur und Wirtschaft kulturpolitisch ein. In Deutschland folgte ihm in dieser Argumentation vor allem der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth, der Kultur als Wirtschafts- und Standortfaktor verstand. Gestützt auf Gutachten des Münchner Ifo-Instituts (z.B. Hummel/Berger 1988) erkannte man, dass der Kulturbetrieb nicht nur staatliche Zuschüsse benötigt, sondern auch selbst Umsätze erwirtschaftet und Arbeitsplätze vorhält, die volkswirtschaftlich durchaus von nennenswerter Bedeutung sind. Da der öffentlich geförderte Kulturbereich ganz wesentlich auch zum Überleben rein privatwirtschaftlicher Kulturbetriebe beiträgt, sah man eine gewisse Rechtfertigung darin, die privatwirtschaftlichen und öffentlichen Umsätze zusammenzurechnen. Dann aber entstand ein Volumen, dessen Steuer- und Abgabenaufkommen höher war als die Zuschüsse, die die öffentliche Hand in den gesamten Kulturbetrieb zahlte. Demnach rentierten sich staatliche Zuschüsse letztlich wieder; sie hatten bezogen auf den gesamten Kulturbetrieb tatsächlich den Wert volkswirtschaftlicher Subventionen. Das Wort von der Umweg-Rentabilität machte damals die Runde, diese wurde aber schon bald als volkswirtschaftliche Milchmädchenrechnung entzaubert (vgl. Heinrichs 1999: 110f.). Zusätzlich legitimiert durch eine gesellschaftspolitische (in den 70er Jahren) und eine wirtschaftspolitische (in den 80er Jahren) Komponente erreich-

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te der Kulturbetrieb in Westdeutschland Ende der 80er Jahre einen einzigartigen Höhepunkt. Durch die Deutsche Einheit kam gleichsam über Nacht ein zwar etwas anders strukturierter, aber doch ebenfalls sehr umfänglicher Kulturbetrieb in den neuen Bundesländern hinzu. Nicht nur aus der damaligen Wahrnehmung heraus, sondern auch rückblickend darf man sicher festhalten, dass sich der Kulturbetrieb im größeren Deutschland zu Beginn der 90er Jahre durch eine wohl kaum je wieder erreichbare Quantität und eine kaum noch überbietbare Differenzierung auszeichnete. Allerdings hatte der Kulturboom der 70er und 80er Jahre in den alten Bundesländern zu einer Art Säkularisierung der Kultur geführt, der sich auch die Kultureinrichtungen in den neuen Bundesländern erstaunlich schnell anschlossen. Kunst und Kultur waren zu einem Teil des gesellschaftspolitischen und wirtschaftspolitischen Instrumentariums geworden; die ästhetischen und immateriellen Aspekte von Kunst und Kultur verloren mehr und mehr an Stellenwert. Diese Entwicklung setzte sich mit nicht mehr zu übersehender Deutlichkeit in den 90er Jahren fort. Dieses Jahrzehnt war bestimmt durch die Postmoderne, die zwar als Architekturstil ihren Höhepunkt längst hinter sich gelassen hat, die aber bis heute vor allem in der Alltagskultur ihre Nachwirkungen zeigt. Die Postmoderne ist gekennzeichnet durch eine radikale Pluralität, d.h. es können bewusst und gewollt die verschiedensten Stilelemente und kulturhistorischen Bezugspunkte nebeneinander gestellt werden (eine so genannte Doppelkodierung [vgl. Welsch 1987: 20]). Pluralität der Postmoderne heißt für die Kultur: Man greift sich – fast beliebig – aus einem riesigen Mosaik, das Kultur heißt, die Steine heraus, die man für das Bild der eigenen, individuellen Kultur braucht. Am Ende ist es dann kein Widerspruch mehr, wenn Pavarotti, Carreras und Domingo im Fußballstadion auftreten und dort Opernarien zusammen mit Volksliedern singen. Oder wenn der amerikanische Rapper Coolio zu einem Rap-Stück den bekannten Kanon für drei Violinen und Generalbass von Johann Pachelbel (1653-1706) als musikalischen Hintergrund verwendet. Die Kultur der Postmoderne ist weder ästhetisch-kontemplativ noch gesellschaftspolitisch, sondern in erster Linie auf ihren Erlebnischarakter ausgerichtet. Kunst und Kultur sind nicht mehr Zugänge zur Reflexion, sondern sie sind ausgerichtet auf ein Ausschöpfen von Möglichkeiten, die allein durch ihren Erlebniswert bestimmt sind. Der Kultursoziologe Gerhard Schulze, der diese Entwicklung mit seinem Buch Die Erlebnisgesellschaft am treffendsten beschrieben hat, spricht von der »Erlebnisorientierung als der unmittelbarsten Form der Suche nach Glück« (Schulze 1992: 14). Und direkt auf das Kulturerlebnis bezogen schreibt er: »Am Entscheidungshorizont eines Großstadtbewohners, der gerade dabei ist, sein

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Alle Möglichkeiten sind zunächst einmal von ihrer Wertigkeit her gleichberechtigt; eine wie auch immer geartete klassen- oder schichtenspezifische Präferenz für eine bestimmte Kategorie von Kultur gibt es nicht mehr. Die Bindung an bestimmte Formen und Kategorien von Kultur wird abgelegt; stattdessen sucht und findet man fortwährend den Reiz des Auswählens im Sinne einer so lange wie möglich bestehenden Optionalität. Wofür sich der besagte Großstadtbewohner am Ende entscheidet, hängt allein von der »Rationalität der Erlebnisnachfrage« (ebd.: 507) ab. Und diese Erlebnisnachfrage befriedigt am ehesten das Kultur-Event, in dem ein Komplex unterschiedlicher Eindrücke, Empfindungen und Glückserfahrungen zu einem vielfältigen Ereignis gebündelt wird. Das Kultur-Event, in dem Kultur in einem inszenierten Umfeld präsentiert wird, ist die der Pluralität der Postmoderne und den Bedürfnissen der Erlebnisgesellschaft am stärksten angemessene Form des Kulturkonsums. Nur wird damit Kultur zu einem – weitgehend austauschbaren – Konsumgut, das für die individuelle wie für die gesellschaftliche Entwicklung ohne Belang ist. Kulturpolitik, als ein staatlich gesteuertes und demokratisch legitimiertes Element der Kulturgestaltung, ist in einem solchen Kontext von Erlebnisgesellschaft und Event-Kultur kaum noch gefragt. Die neuen kommerziellen Kulturanbieter wie Freizeitparks, Science-Center, Musicaltheater oder Schickimicki-Stadtfeste, die den Ansprüchen der Erlebnisgesellschaft und der Event-Kultur weit mehr entsprechen als die traditionellen Stadttheater, Museen und Konzertsäle, kommen sehr gut ohne Kulturpolitik aus. Und in der Tat spielt die Kulturpolitik in ihrer inhaltlichen Dimension heute keine Rolle mehr. Man könnte auch sagen: Kulturpolitik findet nicht mehr statt! Dass Kulturpolitik gerade zur Zeit einer von Sozialdemokraten und Grünen geführten Bundesregierung scheinbar verzichtbar wurde, ist schon recht irritierend. Schließlich war es die SPD, die maßgeblich die Neue Kulturpolitik der 70er Jahre und damit die hohe Zeit der Kulturpolitik in Deutschland geprägt hat. Und es sind die Grünen, die in der Soziokultur der 70er Jahre aufgewachsen sind und damit die von der SPD propagierte Kultur als erste Generation gelebt haben. Eigentlich hätte man gerade von diesen beiden Parteien eine engagierte Fortsetzung des kulturpolitischen Diskurses erwarten müssen. Zweifellos haben beide damaligen Regierungsparteien in Berlin dieses

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Defizit auch selbst erkannt, weshalb auf deren Initiative hin der Deutsche Bundestag mit den Stimmen aller Parteien am 3. Juli 2003 eine EnqueteKommission »Kultur in Deutschland« einsetzte. Der Kommission gehören elf parlamentarische Mitglieder sowie elf Sachverständige an. Sie soll – wie es in einer Pressemitteilung der Bundesregierung hieß – »innerhalb von zwei Jahren eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation von Kunst und Kultur in Deutschland leisten und politische Handlungsempfehlungen zur Verbesserung der ordnungs- und förderpolitischen Rahmenbedingungen erarbeiten«. Bedingt durch die vorgezogene Bundestagswahl endete die Arbeit der Enquete-Kommission mit Ablauf der Wahlperiode. Der neue Bundestag hat allerdings bereits am 15. Dezember 2005 einstimmig beschlossen, die Kommission wieder einzusetzen, damit sie ihre Arbeit zu Ende bringen kann. Es bleibt deshalb abzuwarten, ob es der Enquete-Kommission gelingt, zu einer Erneuerung des Stellenwerts von Kultur in der Gesellschaft zu kommen und damit die vordergründige Verwendung von Kultur im Rahmen des Event-Konsums zu überwinden. Dies wäre dringend notwendig, um die Kulturausgaben der öffentlichen Hand wieder neu zu legitimieren. Ohne eine ständig erneuerte Legitimation auch des von der öffentlichen Hand getragenen Teils des Kulturbetriebs würden nämlich Theater, Museen, Bibliotheken, Konzerte, Musikschulen, soziokulturelle Zentren und vieles mehr auf mittlere Sicht wegbrechen. Und am Ende würde der Kulturbetrieb so stark verarmen, dass auch der kommerzielle Kulturbetrieb davon in Mitleidenschaft gezogen würde. Um dies zu vermeiden, ist es dringend erforderlich, die Kulturpolitik wieder zu einer wichtigen Rahmenbedingung für den Kulturbetrieb zu beleben. 2.2 Rechtliche Rahmenbedingungen In einem Staatswesen mit einer freiheitlich demokratischen Grundordnung sind die rechtlichen Rahmenbedingungen das wichtigste Instrument zur Förderung von Kunst und Kultur. Ihre Bedeutung geht bei weitem über den Stellenwert irgendwelcher finanziellen Förderprogramme hinaus. Doch wirken sie – ähnlich wie auch andere Rahmenbedingungen – nur mittelbar, weshalb man auch von mittelbaren Instrumenten der Kulturförderung sprechen kann. Diese mittelbaren Instrumente zeichnen sich dadurch aus, dass sie (a) zum Teil nicht nur kulturspezifische Wirkungen zeigen (z.B. Berufsfreiheit für alle Berufe, Urheberrecht für technische Patente wie für geistiges Eigentum), (b) immer personenunspezifisch sind (für alle Angehörigen einer bestimmten Personengruppe und nicht nur für benennbare Individuen) und

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(c) nur in Ausnahmefällen und dann auch nur indirekt finanzielle Leistungen des Staates zur Folge haben (z.B. der ermäßigte Umsatzsteuersatz).2 Man unterscheidet rechtliche Rahmenbedingungen erstens zur Sicherung einer freien Entfaltung von Kunst und Kultur, wie z.B. die Kunstfreiheitsgarantie des Grundgesetzes, zweitens zur Sicherung der Einkommen von Künstlern, wie z.B. die Künstlersozialversicherung, drittens zur Förderung von Kulturinstitutionen und Kulturveranstaltern, wie etwa deren Befreiung von Körperschaftssteuer und Umsatzsteuer, und viertens zur Belebung der Kunstund Kultur-Nachfrage, etwa durch den ermäßigten Umsatzsteuersatz. Wichtigste rechtliche Rahmenbedingung im gesamten Kulturbetrieb ist Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG), wo es heißt: »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.« Dieser Artikel enthält nach allgemeinem verfassungsrechtlichem Verständnis »eine objektive, das Verhältnis des Bereiches Kunst zum Staat regelnde wertentscheidende Grundsatznorm. Zugleich gewährleistet die Bestimmung jedem, der in diesem Bereich tätig ist, ein individuelles Freiheitsrecht« (Hesselberger 1995: 95). Das Bundesverfassungsgericht schließt aus der »Garantie der Kunstfreiheit« (als Teil des Grundrechte-Katalogs) auf eine »objektive Wertentscheidung für die Freiheit der Kunst«, d.h. die Freiheit der Kunst ist nicht nur zu dulden, sondern auch aktiv zu fördern: »Dem modernen Staat, der sich im Sinne einer Staatszielbestimmung als Kulturstaat versteht, fällt zugleich die Aufgabe zu, ein freiheitliches Kulturleben zu erhalten und zu fördern« (BVerfGE 36: 321ff.). Da es sich um eine objektive, wertentscheidende Grundsatznorm handelt, hat dies zur Folge, dass der Staat erstens zur Förderung von Kunst und Kultur verpflichtet ist. Allerdings wird damit noch nicht ausgesagt, in welchem Umfang diese Förderung zu erfolgen hat. Zweitens ist damit zum Ausdruck gebracht, dass es für eine künstlerische Tätigkeit keine rechtlichen Einschränkungen gibt, es sei denn, dass allgemeine Persönlichkeitsrechte verletzt würden. Drittens ist aber auch zu beachten, dass hiermit nur das Verhältnis zwischen Staat und Kunst bzw. Künstler geregelt ist, nicht aber ein allgemeines individuelles Freiheitsrecht. Das bedeutet, dass in einem privatrechtlichen Vertrag zwischen Auftraggeber und Künstler sehr wohl Dinge geregelt werden können (z.B. die Wiedererkennbarkeit eines Porträtierten), die die künstlerische Entfaltungsfreiheit des Künstlers einengen. Doch trotz dieser Einschränkungen ist das Prinzip der Kunstfreiheit ein hohes Rechtsgut; allein durch dieses Prinzip ist gewährleistet, dass es fort2 Unmittelbare Instrumente der Kulturpolitik sind dagegen immer personen- und sachspezifisch (z.B. erhält der Künstler X ein Stipendium für eine künstlerische Leistung Y).

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während zu einer freien künstlerischen Entwicklung in allen Kunstsparten kommen kann. Dies wiederum ist eine unabdingbare Voraussetzung, um als Künstler im internationalen Kulturbetrieb bestehen zu können. Immer dort, wo dieses Prinzip der Kunstfreiheit nicht besteht, können die Künstler mit ihren Werken nicht oder nur sehr eingeschränkt am internationalen Kulturbetrieb teilnehmen. Noch drei weitere Grundrechte der Verfassung sind für den Kulturbetrieb von größter Bedeutung. Es sind dies das Recht der freien Berufswahl (Art. 12 GG) und damit einhergehend die Gewerbefreiheit (Art. 12 GG in Verbindung mit § 1 Gewerbeordnung) sowie der Schutz des Eigentums (Art. 14 GG). Dank des Grundrechts der Berufsfreiheit darf jeder als Künstler tätig sein, der sich dazu berufen fühlt. (Allerdings ist die Gemeinschaft nicht verpflichtet, jedem, der sich zum Künstler berufen fühlt, auch ein Einkommen zu sichern.) Im Rahmen dieses Grundrechts ist zu unterscheiden zwischen der Berufswahl und der Berufsausübung. Während die Berufswahl kaum eingeschränkt werden kann, unterliegt die Berufsausübung bisweilen gewissen Beschränkungen, die sich in der Regel aus der Gewerbeordnung und berufsspezifischen Vorschriften ergeben. So kann jemand den Beruf des Bühnenmeisters wählen und dafür eine Berufsausbildung anstreben, aber er kann diesen Beruf nur ausüben, wenn er dafür eine entsprechende Qualifikation nachgewiesen hat. Mit dem Schutz des Eigentums schließlich ist gewährleistet, dass Künstler auch einen Anspruch auf den Schutz ihrer Werke haben, wie dies im Urheberrecht geregelt ist. Der Eigentumsbegriff in Art. 14 GG betrifft nicht nur das Sacheigentum, sondern auch »alle subjektiven privaten Vermögensrechte, zu denen auch die urheberrechtlichen Befugnisse vermögensrechtlichen Charakters gehören« (Samson 1973: 65). Folglich ist das Urheberrechtsgesetz (UrhG)3 für den Kulturbetrieb von größter Bedeutung.4 »Die Urheber von Werken der Literatur, Wissenschaft und Kunst genießen für ihre Werke Schutz nach Maßgabe dieses Gesetzes« (§ 1 UrhG). »Werke im Sinne dieses Gesetzes sind nur persönliche geistige Schöpfungen« (§ 2 Abs. 2 UrhG). Aus dem Recht des Urhebers folgt, dass nur der Urheber, also der Künstler, darüber entscheiden darf, »ob und wie ein Werk zu veröffentlichen ist« (§ 12 Abs. 1 UrhG). Das ist deshalb entscheidend, weil mit der Veröffentlichung eine Verwertung des Werks einhergeht und diese Verwertung in aller Regel wirtschaftliche Auswirkungen hat. § 15 Abs. 1 UrhG sagt denn auch: »Der Urheber hat das ausschließliche Recht, sein Werk in körperlicher Form zu verwerten; das Recht umfasst ins3 UrhG vom 9.9.1965, zuletzt geändert durch Gesetz vom 10.9.2003. 4 Zum neuen Urheberrecht vgl. Dreier/Schulze 2004 und Rehbinder 2004 sowie – eher anwendungsorientiert – Falkenberg 2004.

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besondere das Vervielfältigungsrecht, das Verbreitungsrecht, das Ausstellungsrecht.« Das bedeutet, dass beispielsweise der Konzertmitschnitt eines Musikers nicht ohne seine Zustimmung als CD vervielfältigt werden darf (Vervielfältigungsrecht, § 16 UrhG), dass Bücher eines Schriftstellers nicht ohne sein Wissen in den Handel gebracht werden dürfen (Verbreitungsrecht, § 17 UrhG) und dass mit den Werken eines Malers keine Ausstellungen veranstaltet werden dürfen, ohne dass der Künstler dem zugestimmt hat (Ausstellungsrecht, § 18 UrhG). Aber auch eine Wiedergabe »in unkörperlicher Form« (§ 15 Abs. 2 UrhG), also die Zweitverwertung eines Werks, steht allein dem Urheber zu. Das Gesetz führt beispielhaft (nicht erschöpfend) folgende Formen auf: das Vortrags-, Aufführungs- und Vorführungsrecht (§ 19 UrhG), durch das die Aufführung eines Theaterstücks oder einer Komposition geschützt sind; das Senderecht (§ 20 UrhG), das die Wiedergabe im Rundfunk regelt; das Recht der Wiedergabe durch Bild- und Tonträger (§ 21 UrhG), also die Wiedergabe über CD, Video, DVD usw. Besonders der Bereich des Senderechts und der Wiedergabe durch Bild- und Tonträger wurde durch Gesetzesnovellen in den letzten Jahren deutlich erweitert, um das Urheberrecht den veränderten technischen Möglichkeiten anzupassen. »Das Urheberrecht erlischt 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers« (§ 64 UrhG); der Urheber kann seine Urheberrechte wie ein Vermögen vererben (§ 28 UrhG), weshalb auch Ansprüche aus dem Folgerecht5 automatisch auf die Erben übergehen. »Der Urheber kann einem anderen das Recht einräumen, das Werk auf einzelne oder alle Nutzungsarten zu nutzen (Nutzungsrecht)« (§ 31 Abs. 1 UrhG). »Der Urheber hat für die Einräumung von Nutzungsrechten und die Erlaubnis zur Werknutzung Anspruch auf die vertraglich vereinbarte Vergütung« (§ 32 Abs. 1 UrhG). Um nicht in jedem Einzelfall die Vergütung für ein Nutzungsrecht aushandeln zu müssen, sieht das Gesetz so genannte »gemeinsame Vergütungsregeln« (§ 36 UrhG) vor. Solche gemeinsamen Vergütungsregeln bestehen beispielsweise für die Veröffentlichung von Büchern; für gebundene Werke erhält der Autor üblicherweise 10 % des Verkaufspreises, für Taschenbücher sind es nur 5 %. Ähnliche Übereinkünfte bestehen auch für die so genannten »großen« Rechte an Bühnenwerken. Das Urheberrecht kennt den Begriff der »großen« und »kleinen« Rechte nicht, doch ist diese Unterscheidung in der Praxis gebräuchlich. Als »große« Rechte bezeichnet man im Bühnenbereich Rechte an abendfüllenden Werke, wie beispielsweise an einem Schauspiel. Für die Wahrnehmung von »kleinen« Rechten treten die Verwertungsgesellschaften (VG) als Vereinigungen von Urhebern auf. Dabei handelt es sich 5 Vgl. Abschnitt 3.4.2.

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um Ansprüche, die der einzelne Urheber oft gar nicht übersehen kann, wie die Nutzung von Büchern eines Autors in einer öffentlichen Bibliothek oder die Verwendung einer Tonaufnahme in einer Diskothek. Die Verwertungsgesellschaften finden ihre Rechtsgrundlage in § 54h UrhG sowie im Gesetz über die Wahrnehmung von Urheberrechten und verwandten Schutzrechten. Sie sind wirtschaftliche Vereine im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches, die der Aufsicht des Patentamtes unterstehen. Im Einzelnen bestehen folgende Verwertungsgesellschaften: • GEMA (Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte) für urheberrechtliche Nutzungsrechte an Musikwerken für Komponisten, Textdichter und Musikverleger; • VG Wort für Nutzungsrechte an Sprachwerken von Autoren, Journalisten, Buch- und Bühnenverlegern, Übersetzern; • VG BILD-KUNST zur Wahrnehmung von Reproduktionsrechten bei Werken der bildenden Kunst; • GVL (Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten), die Vergütungsansprüche aus der Sendung und öffentlichen Wiedergabe von Tonträgern (z.B. CD, MC, Schallplatten) für ausübende Künstler und Tonträgerhersteller sichert; • IMHV (Interessengemeinschaft musikwissenschaftlicher Herausgeber und Verleger) für die Wahrnehmung der Leistungsschutzrechte an wissenschaftlichen Ausgaben und nachgelassenen Werken; • GÜFA (Gesellschaft zur Übernahme und Wahrnehmung von Filmaufführungsrechten); • VFF (Verwertungsgesellschaft für Film- und Fernsehproduzenten); • VGF (Verwertungsgesellschaft für Nutzungsrechte an Filmwerken); • GWFF (Gesellschaft zur Wahrnehmung von Film- und Fernsehrechten); • ZPÜ (Zentralstelle für private Überspielungsrechte), ein Zusammenschluss der Verwertungsgesellschaften zur Wahrnehmung von Ansprüchen aus der Vervielfältigung zum persönlichen Gebrauch. Innerhalb des Urheberrechts gibt es eine Reihe von Sonderregelungen für einzelne Kunstsparten, wie beispielsweise das Folgerecht im Kunstbetrieb, die Verwertung von Tonträgern oder das Aufführungsrecht für Bühnen. Darauf wird im Zusammenhang mit dem jeweiligen spartenspezifischen Kulturbetrieb einzugehen sein.

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2.3 Steuerrechtliche Rahmenbedingungen Das Steuerrecht dient sowohl der Sicherung der Einnahmen des Staates als auch der mittelbaren Umsetzung politischer Ziele. So kann durch eine gezielte Steuerermäßigung ein bestimmtes Handeln oder Verhalten bewusst gefördert werden (z.B. sollen Steuerermäßigungen beim Bau von Eigenheimen die Bauwirtschaft beleben), wie umgekehrt durch steuerliche Belastungen der Bürger von einem bestimmten Handeln oder Verhalten abgehalten werden soll (z.B. soll die Ökosteuer auf Benzin den PKW-Verkehr einschränken). Diese mittelbare Steuerung durch steuerrechtliche Regelungen spielt gerade im Kulturbereich eine große Rolle. Drei unterschiedliche Ziele werden damit verfolgt: • Steuerbefreiungen und Steuerermäßigungen sollen die Kunst- und Kulturnachfrage beleben; • durch Steuerermäßigungen werden Kulturinstitutionen und Kulturveranstalter gefördert; • mit Steuerermäßigungen und Steuerbefreiungen trägt der Staat zur Sicherung des Einkommens von Künstlern bei. Die indirekte Förderung ist vor allem bei der Umsatzsteuer spürbar. Generell beläuft sich der Steuersatz auf 16 %6 des Verkaufspreises (die so genannte Mehrwertsteuer), d.h. der Händler erhöht den Kaufpreis einer Ware um 16 % und führt diesen Aufschlag an das Finanzamt ab. Die Steuer wird also letztlich vom Käufer gezahlt, aber steuerpflichtig gegenüber dem Finanzamt ist der Händler. Die indirekte Förderung des Staates kann nach dem Umsatzsteuergesetz (UstG) vom 9. Juni 1999 auf zwei Arten erfolgen, nämlich durch Steuerbefreiung oder durch Steuerermäßigung. § 4 UstG nennt unter Ziffer 20 einige Befreiungstatbestände, die unmittelbar den Kulturbetrieb berühren: a) die Umsätze folgender Einrichtungen des Bundes, der Länder, der Gemeinden oder der Gemeindeverbände: Theater, Orchester, Kammermusikensembles, Chöre, Museen, botanische Gärten, zoologische Gärten, Tierparks, Archive, Büchereien sowie Denkmäler der Bau- und Gartenbaukunst. Das gleiche gilt für die Umsätze gleichartiger Einrichtungen anderer Unternehmer, wenn die zuständige Landesbehörde bescheinigt, dass sie die gleichen kulturellen Aufgaben wie die in Satz 1 bezeichneten Ein-

6 Ab dem 1.1.2007 beträgt der Regelsteuersatz 19 %.

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richtungen erfüllen. Museen im Sinne dieser Vorschrift sind wissenschaftliche Sammlungen und Kunstsammlungen. b) die Veranstaltung von Theatervorführungen und Konzerten durch andere Unternehmer, wenn die Darbietungen von den unter Buchstabe (a) bezeichneten Theatern, Orchestern, Kammermusikensembles oder Chören erbracht werden. Zu beachten ist hier die Regelung unter Buchstabe (a), dass die Steuerbefreiung auch »für die Umsätze gleichartiger Einrichtungen anderer Unternehmer« gilt, wenn sie über eine entsprechende Bescheinigung der zuständigen Landesbehörde (vielfach die Regierungspräsidien) verfügen. Das bedeutet, dass beispielsweise auch Privattheater und private Konzertveranstalter in den Genuss der Steuerbefreiung kommen, sofern sie eine den öffentlichen Theatern und Konzertbetrieben vergleichbare Leistung erbringen. Man kann davon ausgehen, dass diese Bedingung immer dann erfüllt ist, wenn die entsprechende private Kultureinrichtung öffentliche Zuschüsse erhält. Damit ist der Kreis der bevorzugten Kultureinrichtungen weit größer, als dies auf den ersten Blick zu erwarten wäre. Weitere Befreiungstatbestände, die den Kulturbetrieb am Rande berühren, sind Vorträge, Kurse und andere Veranstaltungen in Volkshochschulen (§ 4 Ziffer 22a UstG), andere kulturelle Veranstaltungen, bei denen das Entgelt aus Teilnehmergebühren besteht (z.B. Musikwettbewerbe, § 4 Ziffer 22b UstG), oder Konzertveranstaltungen im Rahmen der Jugendhilfe (§ 4 Ziffer 25c UstG). Ein weiteres wichtiges Instrument zur Belebung der Kunst- und Kulturnachfrage ist der ermäßigte Umsatzsteuersatz. Für bestimmte Waren und Dienstleistungen des Kulturbetriebs hat der Gesetzgeber den Umsatzsteuersatz auf 7 % ermäßigt (§ 12 Umsatzsteuergesetz)7, d.h. bestimmte Waren aus den Bereichen Kunst und Kultur sind durch diese steuerrechtliche Regelung um 7,76 %8 billiger, als wenn sie nicht indirekt gefördert würden. Diese indirekte Förderung durch den ermäßigten Umsatzsteuersatz gilt laut § 12 Abs. 2 Ziffer 7 UstG für folgende Leistungen im Kulturbereich: a) die Leistungen der Theater, Orchester, Kammermusikensembles, Chöre und Museen sowie die Veranstaltung von Theatervorführungen und Konzerten durch andere Unternehmer,

7 Der ermäßigte Steuersatz von 7 % bleibt auch nach der Erhöhung der Umsatzsteuer auf 19 % unverändert. 8 Der Steuersatz ist um 9 % ermäßigt; 9 von 116 (100 + 16) ergibt 7,76 %.

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b) die Überlassung von Filmen zur Auswertung und Vorführung sowie die Filmvorführungen, soweit die Filme nach § 6 Abs. 3 Nr. 1 bis 5 des Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit oder nach § 14 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 des Jugendschutzgesetzes vom 23. Juli 2002 (BGBl. I S. 2730, 2003 I S. 476) in der jeweils geltenden Fassung gekennzeichnet sind oder vor dem 1. Januar 1970 erstaufgeführt wurden, c) die Einräumung, Übertragung und Wahrnehmung von Rechten, die sich aus dem Urheberrechtsgesetz ergeben, d) die Zirkusvorführungen, die Leistungen aus der Tätigkeit als Schausteller sowie die unmittelbar mit dem Betrieb der zoologischen Gärten verbundenen Umsätze. Während die Umsätze, die sich beispielsweise aus dem Betrieb eines Theaters ergeben, von der Umsatzsteuer befreit sind (siehe oben), unterliegen die zur Theaterveranstaltung verkauften Eintrittskarten der ermäßigten Umsatzsteuer. Es ist mithin deutlich zu unterscheiden zwischen den Umsätzen aus dem Betrieb einer Kultureinrichtung und den Umsätzen aus der Durchführung von Veranstaltungen. Hinzuweisen ist auf Buchstabe (b), wo nur von der »Überlassung von Filmen zur Auswertung und Vorführung« sowie von »Filmvorführungen« die Rede ist. Das bedeutet, dass die Filmproduktion dem vollen Umsatzsteuersatz unterliegt, Filmverleih und Filmtheater aber – unter den genannten Voraussetzungen – nur mit 7 % belastet werden. Von besonderer Bedeutung ist Buchstabe (c); hierunter fallen der Handel mit Büchern und Kunstgegenständen, also der vom Umsatz her sicherlich größte Bereich. Steuerbefreiung und Steuerermäßigung fördern aber nicht nur die Nachfrage nach Produkten und Leistungen des Kulturbetriebs, indem beispielsweise Bücher oder Kinokarten etwas billiger angeboten werden können, sondern fördern unmittelbar auch die Kulturinstitutionen und Kulturveranstalter, weil auf diese Weise deren Kosten gesenkt werden. Dieser kulturfördernde Charakter des Umsatzsteuergesetzes wird häufig übersehen, doch handelt es sich um nicht unerhebliche Summen. Der Arbeitskreis Kulturstatistik (ARKStat) im Zentrum für Kulturforschung (ZfKf) schätzt die Steuermindereinnahmen des Staates durch ermäßigte bzw. befreite Umsatzsteuer bei kulturellen Leistungen auf jährlich mindestens 1,4 Mrd. €. Diese indirekte Kulturförderung ist mithin keinesfalls zu unterschätzen, doch taucht sie in keiner Bilanz der öffentlichen Kulturförderung auf. Die steuerrechtliche Förderung von Kulturinstitutionen umfasst auch eine weitgehende Befreiung von der Körperschaftssteuer und der Gewerbesteuer für Kulturanbieter der öffentlichen Hand. Diese Befreiung gilt für alle öffentlich-rechtlichen und privatrechtlich-gemeinnützigen Körperschaften (also z.B.

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für Kunstvereine oder Musikvereine) innerhalb ihres unmittelbaren Zweckbetriebs; außerhalb ihres Zweckbetriebs (z.B. bei Vereinsfesten) gilt diese Befreiung bis zu einem Jahresumsatz von 30.678 € (früher 60.000 DM) (§ 64 Abs. Abgabenordnung in der Fassung vom 22.9.2005). Zur Förderung von Kulturinstitutionen und Kulturveranstaltern tragen auch die steuerrechtlichen Anreizsysteme für Spender, Stifter und Sponsoren bei. Als Spende bezeichnet man private Zuwendungen, die in der Regel zwar an eine klare Zweckbindung, nicht aber an eine Gegenleistung gebunden sind. Es sind Geld-, Sach- und Aufwandsspenden zu unterscheiden (vgl. Heinrichs/Klein 2001: 349ff.). Soweit Spenden der Förderung gemeinnütziger Zwecke (z.B. gemeinnützigen kulturellen Vereinen) dienen, können sie von der Einkommens- und Körperschaftssteuer steuermindernd abgesetzt werden. Voraussetzung für eine steuerbegünstigte Spende ist allerdings, dass die Spende tatsächlich dem steuerbegünstigten Zweck der Körperschaft zugeführt wird und nicht etwa einem steuerpflichtigen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb (z.B. einem Vereinsfest). Der Spender kann solche Spenden bis zur Höhe von 5 % des Gesamtbetrags der Einkünfte bei der Einkommenssteuer als Sonderausgabe geltend machen. Bei Ausgaben für besonders förderungswürdige kulturelle Zwecke – solche Zwecke sind in der Anlage 1 zu § 48 Abs. 2 Einkommensteuerdurchführungsverordnung (EstDV) aufgeführt – erhöht sich der Höchstbetrag auf 10 %. An die Stelle des nach dem Gesamtbetrag der Einkünfte berechneten Höchstsatzes kann der Steuerpflichtige, wenn es für ihn günstiger ist, 0,2 % der Summe seiner gesamten Umsätze und der im Kalenderjahr aufgewendeten Löhne und Gehälter als Höchstbetrag wählen. Für Stiftungen gilt die Höchstgrenze von 5 bis 10 % des Gesamtbetrags der Einkünfte nicht; hier kann der Stifter jährlich einen Betrag bis 20.000 € steuermindernd absetzen. Auch sind Zuwendungen an Stiftungen von der Erbschaftssteuer befreit. Bei der erstmaligen Vermögensausstattung einer Stiftung kann eine Summe von bis zu 300.000 € steuerlich über zehn Jahre verteilt werden. Im Gegensatz zu Spende und Stiftung dient ein Sponsoring immer auch den Marketing- und Kommunikationszielen des sponsernden Unternehmens. Konsequenterweise kann deshalb der Sponsor den gesponserten Betrag in vollem Umfang als Betriebsausgabe absetzen. Die begünstigte gemeinnützige Kultureinrichtung dagegen muss für die Sponsoringeinnahme möglicherweise Körperschaftssteuer zahlen, wenn sie sich durch erhebliche Gegenleistungen an der Umsetzung der Marketingziele des Sponsors beteiligt. Zwar sind die steuerrechtlichen Rahmenbedingungen für Spende, Stiftung und Sponsoring in den letzten Jahren erkennbar verbessert worden, doch sind sowohl die – relativ niedrige – steuerrelevante Höchstgrenze für Stifter als

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auch die eigenartige Körperschaftssteuerpflicht der Begünstigten beim Sponsoring zwei nach wie vor nicht nachvollziehbare und für den Kulturbetrieb hinderliche Hürden. Zuletzt gibt es noch zwei steuerrechtliche Vorschriften, die die Einkommenssituation der Künstler verbessern helfen. Wie alle freien Berufe sind auch die Künstler von der Gewerbesteuer befreit (§ 2 Abs. 1 Gewerbesteuergesetz). Soweit Künstler nebenberuflich tätig sind, können sie in der Einkommenssteuererklärung eine erhöhte Werbekosten-Pauschale geltend machen (§ 3 Ziffer 26 Einkommensteuergesetz). Allerdings ist dieser finanzielle Vorteil eher bescheiden; statt einer Werbekostenpauschale von 1.044 €, wie sie für jeden anderen Steuerpflichtigen gilt, können die nebenberuflichen Künstler 1.848 € jährlich geltend machen.9 2.4 Soziale Rahmenbedingungen Obwohl der Kulturbetrieb in Deutschland floriert und fast 700.000 Erwerbstätige10 in diesem Kulturbetrieb ihr Auskommen finden, ist vor allem die wirtschaftliche Situation der freiberuflichen Künstler höchst unterschiedlich.11 Neben ausgesprochen wohlhabenden Künstlern gibt es eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Mitgliedern dieser Berufsgruppe, die über ein Einkommen verfügen, das kaum das Niveau der Sozialhilfe erreicht. Zweifellos kann es nicht Aufgabe des Staates sein, allen, die als Künstler tätig sind, aus Steuermitteln ein Einkommen zu sichern, doch hat der Staat Anfang der 80er Jahre eingesehen, dass zumindest die soziale Absicherung der freiberuflichen Künstler auch eine Aufgabe der Gemeinschaft ist. Anders nämlich als in den unselbstständigen Arbeitsverhältnissen, wo für jeden Arbeitnehmer eine Kranken- und Rentenversicherungspflicht besteht, wurden die freiberuflichen Künstler immer den anderen Freiberuflern zugerechnet, und d.h. sie hatten

9 Insgesamt enthalten die steuerrechtlichen Rahmenbedingungen noch manche den Kulturbetrieb eher behindernde denn fördernde Vorschrift. Der Deutsche Kulturrat hat deshalb bereits 2002 ein umfangreiches Artikelgesetz »Steuerliche Behandlung von Kunst und Kultur« gefordert, das aber nach wie vor auf seine Umsetzung wartet; vgl. politik und kultur, Ausgabe März/Mai 2002, S. 9f. 10 Vgl. Abschnitt 1.5. 11 Der Deutsche Bundestag hat sich im Rahmen einer Großen Anfrage im Jahr 2003 ausführlich mit der »Wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der künstlerischen Berufe und des Kunstbetriebs in Deutschland« befasst; vgl. Drucksache 15/2275 des Deutschen Bundestags vom 19.12.2003. Die hier zu diesem Thema angeführten Daten und Angaben stützen sich zum Teil auf diese Drucksache.

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sich um ihre soziale Absicherung selbst zu kümmern. Doch ist ein freiberuflicher Künstler nur in den seltensten Fällen mit einem freiberuflichen Arzt oder Rechtsanwalt vergleichbar. Auf Empfehlung einer in den 70er Jahren eingesetzten Enquete-Kommission zur sozialen Absicherung der Künstler wurde 1983 die Künstlersozialversicherung eingerichtet. Die Künstlersozialversicherung soll die soziale Absicherung der Künstler in der Bundesrepublik Deutschland erleichtern. Nach § 1 Künstlersozialversicherungsgesetz (KSV) ist ein Künstler pflichtversichert, wenn er eine künstlerische Tätigkeit selbstständig, erwerbsmäßig und nicht im Wesentlichen nur vorübergehend im Inland ausgeübt. Künstler haben damit in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung zumindest grundsätzlich den gleichen Versicherungsschutz wie Arbeitnehmer. Versicherungspflichtig ist aber nur derjenige, der im Kalenderjahr voraussichtlich ein Arbeitseinkommen von mehr als 3.900 € erzielt. Arbeitseinkommen ist der Gewinn aus der selbstständigen künstlerischen Tätigkeit, also die Differenz zwischen Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben. Die Mittel für die Künstlersozialversicherung werden zu 50 % durch Beitragsanteile der Versicherten, zu 30 % durch die Künstlersozialabgabe der Vermarkter und Verwerter und zu 20 % durch einen Zuschuss des Bundes aufgebracht. Als Vermarkter und Verwerter gelten alle Unternehmen, die regelmäßig Werke und Leistungen selbstständiger Künstler gegen Entgelt in Anspruch nehmen bzw. durch Veräußerung an Dritte verwerten. Diese Zahlungen erfolgen zur Vereinfachung des Verfahrens zum Teil über die Verwertungsgesellschaften. Der Bundeszuschuss begründet sich daraus, dass Künstler auch unmittelbar, d.h. ohne Einschaltung eines Vermarkters bzw. Verwerters Geschäfte auf dem Kunstmarkt abschließen können (sog. Selbstvermarktungsanteil). Damit auch für diesen Selbstvermarktungsanteil ein Sozialversicherungsanspruch gesichert werden kann, tritt der Bundeszuschuss in diesen Fällen an die Stelle der Künstlersozialabgabe. Allerdings erweist sich die Künstlersozialkasse keineswegs als unproblematisch; was einst als eine gute Idee erschien, wird vor allem durch seinen Erfolg zunehmend zum Problem. Die Künstlersozialkasse startete 1983 mit etwa 12.569 Versicherten; zum 1. Januar 2006, also nur 23 Jahre später, sind es 158.306. Vor allem viele Medienunternehmen entledigten sich mit Blick auf die soziale Absicherung der Künstlersozialkasse ihrer festen Mitarbeiter und beschäftigen sie als freie Mitarbeiter weiter; die sozialen Verpflichtungen geben sie damit an die Künstlersozialkasse ab. Zudem wird die Liste der über die Künstlersozialkasse versicherten Berufsgruppen ständig erweitert; sie umfasst aktuell 110 Berufe. Dazu gehören nicht wenige Berufe, die man im Allgemeinen nicht als Künstler bezeichnen würde wie beispielsweise Dompteure, Büttenredner, Quizmaster und sogar eine Teezeremonienmeis-

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terin. Besonders amüsant ist die Aufnahme einer Eiskunstläuferin; da wurde wohl Eiskunst mit Kunsteis verwechselt! Mit der steigenden Zahl der Versicherten steigt aber auch der Finanzbedarf. Da sich gleichzeitig der hoch verschuldete Bund ein Stück weit aus seiner Verantwortung zurückzog – im Jahr 2000 wurde der Bundeszuschuss von 25 % auf 20 % gesenkt, was einen Einnahmeausfall von 25 Mio. € ausmacht –, erhöhte sich entsprechend die Künstlersozialabgabe der Vermarkter. Sie war zunächst spartenspezifisch in einer Größenordnung zwischen 3 und 4 % des Umsatzes festgelegt und betrug nach einem Beschluss des Bundestags ab 2000 einheitlich 4 %. Doch auch diese Erhöhung hatte nur kurz Bestand. Durch die Künstlersozialabgabe-Verordnung vom 26. August 2005 ist der Vomhundertsatz der Künstlersozialabgabe im Jahr 2006 auf 5,5 % festgelegt worden. Für einen kleinen Konzertveranstalter mit einem Jahresumsatz von vielleicht 500.000 € entspricht dies einer jährlichen Abgabe von immerhin 27.500 €. Das ist für die Vermarkter vor allem deshalb ärgerlich, weil einerseits bei weitem nicht alle Abgabenpflichtigen ihrer Verpflichtung nachkommen und weil die Künstlersozialabgabe auch für die Künstler gezahlt werden muss, die überhaupt nicht bei der Künstlersozialkasse versichert sind. Was sich für die Künstler als ein erfreulicher sozialer Fortschritt erweist, führt folglich an anderer Stelle zu erheblichen Belastungen.12 Ohnehin ist mit der Künstlersozialversicherung in der bisher bestehenden Form für die soziale Absicherung der Künstler nur ein Anfang gemacht. In ihrer Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion zur »Wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der künstlerischen Berufe und des Kunstbetriebs in Deutschland« vom 17. Dezember 2003 (Bundesregierung 2003) bestätigt die Bundesregierung, dass das durchschnittliche Einkommen der freiberuflichen Künstler mit jährlich 11.000 € weit unter dem Durchschnitt der Arbeitnehmer liegt. Das aber bedeutet, dass bei einem solch geringen Einkommen später keine Rente erwartet werden kann, die den Lebensunterhalt sichern könnte. Viele Künstler werden deshalb im Alter zusätzlich auf Sozialhilfe angewiesen sein. Auch werden viele Künstler den vollen Versicherungszeitraum von 40 Jahren nicht erreichen, da die Künstlersozialversicherung erst 1983 eingerichtet wurde. Die vom Deutschen Bundestag im Jahr 2002 eingerichtete Enquete-Kommission »Kultur in Deutsch-

12 Beispielsweise zahlte die Musikhochschule Stuttgart 1996 für ihre nicht fest angestellten Lehrbeauftragten eine Künstlersozialabgabe in Höhe von 5.600 DM; bedingt durch die ständige Erhöhung der Abgabe und die kaum noch nachvollziehbare Liste der versicherungsberechtigten Künstlerberufe belief sich die Abgabe im Jahr 2006 bereits auf 84.000 €.

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land« wird deshalb neue und zusätzliche Modelle zur sozialen Absicherung der Künstler entwickeln müssen. Der Arbeitskreis Kulturstatistik hat für das Jahr 2002 insgesamt 682.000 Erwerbstätige im Kultursektor (einschl. Verlagsgewerbe) ermittelt (vgl. Söndermann 2004a: 206). Davon standen 524.000 in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis, während 158.000 als Selbstständige tätig waren. Vor allem die Gruppe der Selbstständigen, zu der die freiberuflichen Künstler zählen, zeichnet sich durch ein insgesamt niedriges Einkommen aus, das zudem von Sparte zu Sparte noch sehr stark differiert. Dies macht die folgende Statistik der Künstlersozialkasse deutlich, die zum 1. Januar 2005 etwa 145.000 selbstständige Künstler erfasste: Tabelle 2: Durchschnittseinkommen der aktiv in der Künstlersozialklasse Versicherten auf Bundesebene nach Berufsgruppen und Alter (1.1.2005) Sparten

Jahreseinkommen in Euro nach Altersgruppen unter 30

30-40

41-50

51-60

über 60

Durchschnitt

Wort/Literatur

10.018

11.298

13.445

16.184

17.331

13.570

Bildende Kunst

7.843

9.203

10.930

11.651

11.540

10.509

Musik

7.753

8.751

9.976

11.016

12.071

9.696

Darstellende Kunst

7.008

8.844

11.708

13.049

16.127

10.544

Alle Sparten (männlich)

8.159

10.497

12.833

14.139

15.331

12.489

Alle Sparten (weiblich)

7.833

8.526

9.690

10.705

10.201

9.359

Alle Sparten (insgesamt)

7.956

9.519

11.403

12.896

13.733

11.091

Quelle: In Anlehnung an Statistik der Künstlersozialkasse

Wie auch in anderen Berufen weicht in den künstlerischen Berufen das Einkommen der Berufsanfänger deutlich von dem der älteren Kollegen ab. Das ist besonders auffällig im Bereich der darstellenden Kunst und der Literatur; in der Sparte Wort/Literatur erzielen die unter 30-Jährigen nur 58 % des Einkommens der über 60-Jährigen, und in der Sparte darstellende Kunst sind es sogar nur 43 %. Das zeigt, dass es in den künstlerischen Berufen oft sehr lange dauert, bis der Durchbruch erzielt ist. Andere Statistiken der Künstlersozialkasse belegen eine weitere Auffälligkeit, nämlich deutliche Einkommensunterschiede zwischen männlichen und weiblichen Künstlern. Während die Ausgangssituation in jungen Jahren noch annähernd gleich ist, verdienen

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Künstlerinnen im Alter von über 60 nur noch zwei Drittel des Einkommens ihrer männlichen Kollegen. Drittens zeigt sich auch hier wieder das überraschend niedrige Durchschnittseinkommen aller Künstler, das mit 11.091 € jährlich kaum zum Leben reichen dürfte. In der Tat benötigen viele selbstständige Künstler eine zweite oder gar dritte Tätigkeit (z.B. als Musiklehrer, Kunsterzieher, Dozent an Volkshochschulen), um überhaupt über die Runden kommen zu können. Diese Tätigkeiten werden aber häufig nicht von der Künstlersozialkasse erfasst und erscheinen deshalb auch nicht in deren Statistik. Auch darf nicht vergessen werden, dass nicht wenige Künstler ihren Lebensunterhalt nur dank der Unterstützung durch Ehepartner bzw. Lebenspartner oder Eltern sichern können. Trotz dieser erschreckenden Bilanz wird eine andere Lösung aber kaum möglich sein. Der Staat kann die freiberuflichen Künstler nicht alimentieren und sie damit gleichsam zu heimlichen Staatsbeamten machen. Das schwedische Modell der Ehrengehälter für Künstler, das gern als Vorbild genannt wird, ist für deutsche Verhältnisse kaum anwendbar. Der schwedische Markt ist sehr klein, weshalb beispielsweise schwedische Autoren, deren Werke nicht übersetzt werden, kaum vom Verkauf ihrer Bücher leben könnten. In Deutschland dagegen ist der Markt für alle Kunstsparten relativ groß, weshalb grundsätzlich eine Chance besteht, sich auf diesem Markt durchzusetzen und von der Nachfrage auf diesem Markt auch zu leben. Allerdings ist es Aufgabe der Kulturpolitik, für alle Künstler auf diesem Markt die Chancengleichheit zu sichern und d.h. Rahmenbedingungen zu schaffen, innerhalb derer sich ein Künstler am Markt positionieren kann. Dazu gehört ein Urheberrecht, dass sich nicht in erster Linie an den Bedürfnissen der Verwerter, sondern an denen der Künstler ausrichtet, sowie ein Steuerrecht, das den Künstler nicht mit einem frei praktizierenden Arzt gleichsetzt. 2.5 Finanzielle Rahmenbedingungen Die Kulturausgaben der öffentlichen Haushalte haben sich nach den Erhebungen des Statistischen Bundesamtes in den letzten Jahren wie folgt entwickelt:

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Tabelle 3: Ausgaben (Grundmittel13) der öffentlichen Haushalte für Kunst und Kulturpflege nach Ausgabenbereichen in Mio. € 2000

2001

2002

2003

Theater und Musik

2.966

3.080

3.224

2.985

Bibliotheken

1.306

1.372

1.315

1.272

Museen, Sammlungen und Ausstellungen

1.283

1.376

1.242

1.296

Denkmalschutz und -pflege

318

404

537

450

Kulturelle Angelegenheiten im Ausland

314

315

326

304

Kunsthochschulen

417

436

423

429

Sonstige Kulturpflege

1.110

899

736

811

Verwaltung kultureller Angelegenheiten

492

519

499

525

8.206

8.400

8.301

8.072

1.463

1.646

1.533

1.515

Kulturausgaben insgesamt Nachrichtlich: Kulturnahe Bereiche (Volkshochschulen und Weiterbildung, kirchliche Angelegenheiten, Hörfunk und Fernsehen)

Quelle: Statistisches Bundesamt; Stand 24.2.2006

Die Statistik der öffentlichen Kulturausgaben zeigt, dass die Ausgaben seit 2001 rückläufig sind. Angesichts der allgemeinen Haushaltslage und der hohen Verschuldung der öffentlichen Hand muss mit einem weiteren Rückgang der Kulturausgaben gerechnet werden. Dazu muss man berücksichtigen, dass der größte Teil der Kulturausgaben auf die Länder und Kommunen entfällt, die aber auf die Staatsverschuldung den geringsten Einfluss haben. Auch muss beachtet werden, dass gerade die neuen Bundesländer überdurchschnittlich hohe Kulturausgaben tätigen, obwohl sie es sich eigentlich am allerwenigsten leisten könnten. All dies lässt für die nächste Zukunft keine Wende erwarten. Die Europäische Union, auf die bei knappen Haushaltsmitteln gern verwiesen wird, kann hier nicht aushelfend tätig werden. Der EU-Haushalt sieht für das Jahr 2006 insgesamt 33 Mio. € für Kulturförderung vor. Dieser Betrag, 13 Grundmittel in der Abgrenzung der Kulturausgaben entsprechend dem Funktionenplan der staatlichen und dem Gliederungsplan der kommunalen Haushalte.

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der weniger als die Hälfte des Kulturetats der Stadt Stuttgart ausmacht, wird auf 700 Organisationen und 200 Kulturprojekte in 30 europäischen Mitgliedsstaaten verteilt. Vor diesem Hintergrund muss noch einmal festgehalten werden, welchen Stellenwert die öffentliche Kulturförderung hat. Kulturausgaben der öffentlichen Hand dienen nicht in erster Linie dazu, das zu »fördern was es schwer hat«, wie der Slogan des nordrhein-westfälischen Kultursekretariats einmal lautete. Dann wäre Kulturförderung nur noch die Subventionierung eines maroden Wirtschaftszweigs. Stattdessen dient öffentliche Kulturförderung der Stabilisierung des Kulturbetriebs. Große Teile der privaten Kulturwirtschaft würden nämlich nicht funktionieren, wenn es nicht dazu die flankierende Förderung in jenen Bereichen gäbe, die sich für eine gewinnorientierte Kulturwirtschaft nicht rechnen. Zwar gibt es beispielsweise einen privatwirtschaftlichen Konzertbetrieb und eine gewinnorientierte Musikwirtschaft, doch wäre beides nicht möglich, wenn nicht die öffentliche Hand in Musikschulen und Musikhochschulen für die Ausbildung von Musikern sorgen würde und nicht in gemeinnützigen Einrichtungen Auftrittsmöglichkeiten für junge Musiker schaffen würde, damit sie sich später auf dem Musikmarkt behaupten können. Zwar gibt es eine funktionierende Filmwirtschaft, doch benötigt sie nicht nur eine großzügige Filmförderung, sondern auch die staatlichen Schauspielschulen und die vielen Theater, in denen die Filmschauspieler ausgebildet werden bzw. ihr Können erproben. Zwar gibt es die privatwirtschaftlichen Kunstgalerien und einen gut florierenden Kunsthandel, aber die Ausbildung und die Markterprobung der Künstler besorgen die staatlichen Kunstakademien und kommunalen Kunstausstellungen. Andere Beispiele ließen sich in fast beliebiger Zahl anführen. Sie alle sollen nicht den Eindruck erwecken, als diene öffentliche Kulturförderung ausschließlich der Ermöglichung einer privaten gewinnorientierten Kulturwirtschaft. Es gibt durchaus auch Bereiche, wie etwa das Theater, die ihre Fortsetzung im kommerziellen Bereich nur in sehr eingeschränktem Umfang finden. Umgekehrt gibt es aber auch Leistungen der privaten Kulturwirtschaft, von denen die öffentliche Hand profitiert, ohne wesentlich zum Entstehen dieses Kultursektors beizutragen. Beispielsweise stünden die Bibliotheken leer, wenn es nicht Verlage und Buchhändler gäbe, wo allein nach wirtschaftlichen Kriterien Bücher produziert werden und Literatur gefördert wird. Aus welchem Blickwinkel man die Dinge auch betrachtet, es wird deutlich, dass der Kulturbetrieb in seiner Gesamtheit weit enger zusammengehört als dies vielfach – gerade aus der Sicht der öffentlichen Hand – wahrgenommen wird. Öffentliche Kulturförderung und private Kulturwirtschaft bilden eine Einheit und sind in starkem Maße voneinander abhängig. Wenn von beiden Seiten

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diese Einheit – eben der Kulturbetrieb – realistischer gesehen und diese Einheit auch kooperativ genutzt wird, kann dies dem Kulturleben in Deutschland nur zum Nutzen geraten. 2.6 Internetadressen und Standardwerke http://www.kulturrat.de/ Deutscher Kulturrat http://nmz.de/kiz/ Kulturinformationszentrum des Deutschen Kulturrats http://www.kultusministerkonferenz.de/ Kultusministerkonferenz http://www.kupoge.de/ Kulturpolitische Gesellschaft e.V. http://www.kuenstlersozialkasse.de/ Künstlersozialversicherung http://portal.unesco.org/ UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization) http://www.kulturforschung.de/ Zentrum für Kulturforschung

Bammer, Armin u.a. (2004): Kulturrecht, Wien Bundesregierung (2003): Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage (Drucksache 15/1402) »Wirtschaftliche und soziale Entwicklung der künstlerischen Berufe und des Kunstbetriebs in Deutschland«, Drucksache 15/2275, Berlin Dreier, Thomas/Schulze, Gernot (2004): Urheberrechtsgesetz. Urheberrechtswahrnehmungsgesetz, Kunsturhebergesetz, Kommentar, München Fohrbeck, Karla/Wiesand, Andreas Johannes (1989): Von der Industriegesellschaft zur Kulturgesellschaft? Kulturpolitische Entwicklungen in der Deutschen Bundesrepublik. Perspektiven und Orientierungen, Schriftenreihe des Bundeskanzleramtes, Band 9, München Frey, Bruno S. (2000): Arts & Economics. Analysis & Cultural Policy, Berlin, Heidelberg Heinrichs, Werner (1997): Kulturpolitik und Kulturfinanzierung. Strategien und Modelle für eine politische Neuorientierung der Kulturfinanzierung, München Hummel, Marlies/Berger, Manfred (1988): Die volkswirtschaftliche Bedeutung von Kunst und Kultur, Gutachten im Auftrag des Bundesministers des Innern, Schriftenreihe des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Nr. 122, Berlin, München Lammert, Norbert (Hrsg.) (2004): Alles nur Theater? Beiträge zur Debatte über Kulturstaat und Bürgergesellschaft, Köln Litzel, Susanne u.a. (2003): Handbuch Wirtschaft und Kultur. Formen und Fakten unternehmerischer Kulturförderung, Berlin Lucassen, Ariane (2003): Der Künstler im internationalen Steuerrecht, Wiesbaden

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Werner Heinrichs ➔ 3. Kunstbetrieb



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3. Kunstbetrieb

Als Kunstbetrieb bezeichnet man jenen Bereich des öffentlichen, gemeinnützigen und kommerziellen Kulturbetriebs, der sich mit der Produktion und Vermittlung bzw. Vermarktung der so genannten bildenden Kunst beschäftigt. Die bildende Kunst im Sinne des Kunstbetriebs umfasst nicht nur Gemälde, Grafiken und Skulpturen aus allen Kunstepochen, sondern auch Antiquitäten, Antiken und Exotica und Produkte des Kunstgewerbes sowie – seit jüngster Zeit – auch Werke der Medienkunst und der Aktionskunst im weiteren Sinne. Doch während damit der Gegenstand des Kunstbetriebs, nämlich die Kunst, noch relativ klar abgegrenzt wirkt, ist der Kunstbetrieb in seinen verschiedenen Erscheinungsformen doch äußerst heterogen. Allein schon der Blick in eine der großen Tageszeitungen zeigt, in welchem Kontext Kunst heute gesehen wird. Da findet man die Besprechung einer Kunstausstellung im Feuilleton, den Bericht über ein erfolgreiches Art Consulting im Wirtschaftsteil und zur neuesten Preisentwicklung auf dem Kunstmarkt gibt es nicht selten Sonderbeilagen mit langen Preislisten. Fachzeitschriften wie Weltkunst enthalten wissenschaftliche Aufsätze über neueste Ergebnisse der Kunstforschung und quellen gleichzeitig über von Ankündigungen und Berichten über Kunstauktionen. Hochwertig aufgemacht wie ein Pharma-Magazin für Ärzte bieten sie Zahlenkolonnen, die denen der Totalisatoren auf der Pferderennbahn nicht unähnlich sind. Angesichts dieser Vielschichtigkeit und Vielgesichtigkeit stellt sich die Frage, wie es trotz eines relativ tradierten Verständnisses vom Produkt Kunst – die Definitionsmerkmale beispielsweise eines Gemäldes haben sich über Jahrhunderte hinweg nicht geändert – zu dieser Heterogenität des Kunstbetriebs kommen konnte. 3.1 Rückblende In der Tradition des Mittelalters war der Künstler immer eine Art Handwerker, der im Auftrag eines Bauherrn – Adel, Kirche, später auch Patrizierfamilien und Städte – ein Kunstwerk erstellte. Nach diesem Verständnis trat der Künstler nicht als Schöpfer auf, sondern als jemand, der eine Idee handwerklich umsetzte. Dem entsprach auch die interne Arbeitsorganisation: der Künstler arbeitete nicht allein, sondern als Mitglied einer Körperschaft in Form einer Zunft oder Bauhütte, die durch das Meister-Gesellenverhältnis geprägt war. Diese Einbindung in eine Arbeitsgemeinschaft war nur möglich, weil sich der Künstler ganz in der Verpflichtung gegenüber seinem Auftraggeber sah. Auch noch zu Dürers (1471-1528) Zeiten schloss der Künstler mit seinem Auftraggeber einen Vertrag ab, der sich von den Verträgen der Handwerker nicht unterschied.

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Der Status des Künstlers änderte sich erst in der Zeit der Renaissance. Ausgehend von Italien, wo die Maler zunehmend auch für die visuelle Repräsentation des Staates und seiner Herrscher benötigt wurden, kam es zu einer Aufwertung der bildenden Künstler. Der Status des Künstlers wandelte sich vom Handwerker zum Genie, das aus sich selbst heraus etwas schafft und nicht nur die Natur nachahmt. Da zudem die besten Maler bei den reichen Auftraggebern sehr begehrt waren, konnten sie auch ihre soziale Position deutlich verbessern. »Die Entwicklung des Individualismus in der italienischen Renaissance und der heftige Wettbewerb unter den Mäzenen befreite sie von der Anonymität sowie von ihrem Status als Handwerker in der Tradition der Zünfte. Michelangelo war vermutlich der erste, dem zu Lebzeiten eine Biographie gewidmet wurde, während Tizian von jenem Aristokraten, der ihn einem Kardinal empfahl, als der ›erste Mann der Christenheit‹ beschrieben wurde. Rubens reiste als Diplomat wie als Künstler durch Europa und wurde von Karl I. von England zum Ritter geschlagen, ebenso wie Antonius van Dyck, der von der bekanntlich snobistischen englischen Aristokratie als erster Maler wie ein Gleichrangiger behandelt wurde« (Blanning 2006: 83).

In Deutschland aber setzte sich das neue Bild vom Künstler nur schwer durch, weil sich der europaweite Aufbruch der Renaissance in Deutschland etwa 50 Jahre später auswirkte und deshalb im 16. Jahrhundert mit der Reformation zusammenfiel. »Viele Protestanten wollten keine Bilder oder Statuen von Heiligen in ihren Kirchen dulden; denn für sie war das römischer Götzendienst. Damit verloren die Maler in protestantischen Gegenden ihre Haupteinnahmequelle, das Malen von Altarbildern. Die strengsten Calvinisten verwarfen sogar alle Art Luxus wie die Ausschmückung von Wohnungen [...]. So blieb den Künstlern als einzige regelmäßige Einnahmequelle das Illustrieren von Büchern und Malen von Porträts; und damit allein ließ sich gewiß nicht leicht ein Auskommen finden« (Gombrich 1996: 374).

Welche Konsequenzen dies auch für einen sehr namhaften Maler haben konnte, zeigt das Beispiel des Hans Holbein des Jüngeren (1497-1543). Nach glänzendem Karrierestart als Maler von Altarbildern in Basel siedelte er 1526 um nach England, wo er Hofmaler König Heinrichs VIII. wurde. Als ihn auch dort die Reformation einholte, konzentrierte er sich auf Auftragsarbeiten als Porträtmaler des englischen Hofs. In der Zeit des Barock sahen sich die bildenden Künstler erstmals einer überdurchschnittlich steigenden Nachfrage gegenüber. Nicht mehr nur Hochadel und Kirche traten als Auftraggeber auf, sondern auch zahlreiche Vertre-

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ter des mittleren und niederen Adels ließen sich prachtvolle Schlösser und Paläste bauen, die nach einer entsprechenden Ausstattung mit Fresken, Bildern und Skulpturen verlangten. Es kam zu einer wirtschaftlichen Blüte der Kunst, die sich auch in Werkstätten mit zahlreichen Beschäftigten niederschlug. Diese Produktionsform und dieses Marktverhalten des Künstlers änderten sich erst mit dem Niedergang der Feudalgesellschaft als Folge der Französischen Revolution. Da gleichzeitig das aufkommende Bürgertum in der Kunstförderung eine Chance sah, mit einem wichtigen äußeren Symbol die gesellschaftliche Rolle des Adels zu übernehmen, entstand in kurzer Zeit eine neue Gruppe von Auftraggebern. Das Bürgertum entdeckte die Kunst und die Künstler fanden im Bürgertum einen gleichberechtigten Partner, dem sie anders begegnen konnten als den Fürsten. Gleichzeitig fand auch die Idee vom Genie eine bemerkenswerte Wiedergeburt im so genannten »Sturm und Drang« und während der Romantik. Der geniale Künstler wird tätig aufgrund einer spontanen Eingebung, die losgelöst von materiellen Bedingungen und Erwartungen auftritt. Das Genie verwirklicht sich selbst und schafft deshalb ein Kunstwerk zunächst einmal ausschließlich für sich selbst. Diesem entscheidenden Wechsel im Produktionsverhalten verdankt der Kunstbetrieb bis heute die Tatsache, dass Künstler eher in Ausnahmefällen nach Auftrag tätig werden, sondern in der Regel ohne einen konkreten Auftraggeber und auch ohne eine erkennbare Verkaufschance gleichsam »auf Vorrat« produzieren. Es bedarf keiner großen Phantasie, um feststellen zu können, dass eine solch gravierende Veränderung im Produktionsverhalten auch einen veränderten Kunstbetrieb zur Folge haben musste. Während es im Mittelalter und in der Renaissance für Kunstwerke eigentlich keinen Markt gab – denn es gab ja keine Kunstwerke, die frei auf dem Markt angeboten werden konnten –, musste sich nun zwangsläufig ein Markt herausbilden, auf dem die Produkte im Spiel von Angebot und Nachfrage ausgetauscht werden konnten. Da die Künstler nicht selbst als Anbieter auftreten konnten (das widersprach natürlich dem Geniegedanken), benötigten sie Vermittler bzw. Vermarkter. Gleichzeitig musste auch die Nachfrage organisiert werden, sollten die Kunstvermarkter nicht wie Handelsvertreter von Haustüre zu Haustüre reisen. Als idealer Ort hierfür erwies sich bald die öffentliche Ausstellung; als Träger und Veranstalter solcher Ausstellungen entstanden Anfang des 19. Jahrhunderts die Kunstvereine. Die Entstehung der Kunstvereine lässt sich sehr gut an der Geschichte des Badischen Kunstvereins Karlsruhe ablesen, »wo sich 1818 [...] vor allem auf Initiative einiger prominenter Stadtbürger [...] ein

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Werner Heinrichs Der Kulturbetrieb ›Verein für bildende Künste in dem Museum zu Carlsruhe‹ [...] bildete. Aus ihm ging über die Zwischenstation eines seit 1821 rechtlich unabhängigen ›Kunst- und Industrievereins‹ elf Jahre später der ›Kunst-Verein für das Großherzogtum Baden‹ hervor, der wie die zahlreichen Parallelgründungen in anderen Städten regelmäßig Ausstellungen zeitgenössischer Kunst veranstaltete, ausgewählte Werke ankaufte und unter den Mitgliedern verloste, für jedes Mitglied einen Kupferstich oder Steindruck als Jahresgabe ausgab und bald auch begann, eine eigene Kunstsammlung aufzubauen« (Hein 1996: 106f).

Der Kunstverein übernahm mithin die Funktionen, die der Markt forderte, nämlich die Präsentation von Produkten, damit es zu einer Produktwahl kommen kann, sowie einen Begegnungsort für Anbieter und Nachfrager zur Verfügung zu stellen.1 Parallel zu den Kunstvereinen entstanden auch die ersten Museen. Wie die Öffnung des Louvre im Jahr 1793 deutlich zeigt, entstanden die Kunstmuseen aus dem bürgerlichen Selbstbewusstsein, nun die Kunst, die bis dahin allein dem Adel zugänglich war, auch für breitere, aber zunächst nur bürgerliche Bevölkerungsschichten zur Schau zu stellen. Neben dieser kultur- und gesellschaftspolitischen Funktion übernahm das Museum auf dem veränderten Kunstmarkt aber von Anfang an auch eine wichtige Orientierungsfunktion, die es bis heute innehat. Die uneigennützige Aufnahme eines Kunstwerks ins Museum wertet das Werk und dessen Künstler erheblich auf, weshalb dem Künstler wie seinem Vermarkter sehr daran gelegen ist, möglichst schon zu Lebzeiten mit seinen Werken in einem Museum oder in einer angesehenen Sammlung vertreten zu sein. Damit waren neben dem autonomen und nicht mehr nur per Auftrag tätigen Künstler drei weitere wichtige Elemente des Kunstbetriebs etabliert, nämlich zum einen die Möglichkeit der Präsentation von Kunst im Kunstverein, zweitens das Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage auf einem von den Kunstvereinen gesteuerten Markt und drittens die Bewertung von Kunstwerken über Mechanismen, die sich außerhalb des Marktes institutionalisiert hatten, nämlich die Aufwertung von Kunstwerken durch Museen. Bis heute sind diese Elemente für den Kunstbetrieb von konstitutiver Bedeutung. Aber es fehlte noch eine letzte Komponente im Kunstbetrieb, nämlich der Sammler; auch ihm begegnete man in Deutschland erstmals zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Der Sammler kauft aus Leidenschaft, nicht aus Kalkül; und er kauft zum privaten Nutzen, nicht in einem öffentlichen Auftrag. Der Sammler ist deshalb für den Kunstbetrieb so wichtig, weil ohne ihn der Kunstbe1 Die Institution des Kunstvereins übernahm damit in Deutschland etwa jene Funktion, die die Salons seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in Frankreich hatten.

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trieb mit einem hoffnungslosen Überangebot zu kämpfen hätte; ohne die zahllosen Sammler würde der heutige Kunstmarkt zusammenbrechen. Zudem ist der Sammler immer auch mäzenatischer Förderer, ohne aber Auftraggeber im mittelalterlichen Sinne zu sein. Der bürgerliche und private Kunstsammler trat erstmals als Folge der Säkularisierung auf. Durch die Säkularisierung des Jahres 1806 wurden die Kunstschätze der Klöster und Kirchen aufgelöst. Dort, wo die Landesherren an den Kunstschätzen kein Interesse hatten, erfolgten öffentliche Versteigerungen, die vor allem von den nun aufkommenden Privatsammlern genutzt wurden. Waren diese Privatsammlungen, bedingt durch die Herkunft der versteigerten Exponate, zunächst noch allein vergangenheitsorientiert, förderten ab etwa 1830 die Kunstvereine auch die Sammlung aktueller Kunst. Damit war endlich ein vollständiger und funktionsfähiger Kunstmarkt gegeben, weil mit den Sammlern auch eine stabile Nachfrage gesichert war. Man kann also festhalten: In der kurzen Zeit zwischen etwa 1780 und 1830 hatten sich jene Teile des Kunstbetriebs herausgebildet, die bis heute – wenn auch modifiziert – für seinen Bestand existenziell sind: (1) der autonome Künstler, der losgelöst von einem konkreten Auftrag tätig wird; (2) der Ausstellungsort zur Präsentation von Kunst, ohne damit schon Verkaufsort sein zu müssen (zunächst in den Ausstellungsräumen der Kunstvereine, heute auch an zahlreichen anderen Orten); (3) der Kunstmarkt als Ort des Tausches von Angebot und Nachfrage (während der ersten Jahrzehnte waren auch dies zunächst die Kunstvereine; heute sind dies die kommerziellen Galerien, die Kunstmessen und Kunstauktionen); (4) die Bewertung von Kunst durch eine unabhängige Institution, die nur sekundär am Marktgeschehen beteiligt ist (eine Funktion, die bis heute die Museen übernehmen, aber inzwischen auch wesentlich ergänzt durch die Kunstkritik der Medien); (5) der Sammler als derjenige, der – rein marktwirtschaftlich betrachtet – die Überproduktionen des Kunstmarktes abschöpft und damit einen Zusammenbruch des Marktes verhindert. Allerdings war das Verhältnis zwischen dem Künstler und seinem nunmehr bürgerlichen Publikum nicht so einfach, wie dies hier den Anschein erwecken könnte. »Für den erfolgreichen Geschäftsmann war ein Künstler eine Art Hochstapler, der phantastische Summen für etwas verlangte, das man kaum als redliche Arbeit be-

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Werner Heinrichs Der Kulturbetrieb zeichnen konnte. Andererseits wurde es zum Lieblingssport der Künstler, die Philister vor den Kopf zu stoßen und sie aus ihrer wirklichen oder angeblichen Selbstzufriedenheit aufzustören. Die Künstler begannen sich für eine besondere Menschengattung zu halten, sie trugen langes Haar, wüste Bärte, breitkrempige Hüte und flatternde Krawatten, kleideten sich in Samt und gaben sich so unkonventionell wie möglich. Dieser Zustand war kaum sehr gesund, aber er war vielleicht unvermeidlich« (Gombrich 1996: 502).

Unvermeidlich war dieser Zustand vor allem deshalb, weil sich der Künstler auf diese Weise auch äußerlich als eigene und unabhängige Persönlichkeit etablieren konnte. Letzteres aber war dringend erforderlich; ohne die sich im 19. Jahrhundert herausbildende Künstlerpersönlichkeit wäre eine mit allen Traditionen brechende und auf die Zukunft ausgerichtete Kunst der Moderne im 20. Jahrhundert kaum möglich gewesen (vgl. auch Wittkower 1965). Allerdings zeigte sich schon im 19. Jahrhundert, dass die neue Unabhängigkeit nicht immer leicht zu verteidigen war. Um den permanenten Versuchen, gleichsam bürgerlich vereinnahmt zu werden, entgehen zu können, entwickelten die Künstler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwei Strategien. Erstens suchten sie die »Auseinandersetzung mit den (akademischen) Institutionen bzw. deren ›Eroberung‹, notfalls [durch] Gründung von Gegenorganisationen [...], gegen Ende des Jahrhunderts in Form von Secessionen, denen wiederum Neue Secessionen folgen konnten« (Belser Stilgeschichte 1999; Band VI: 13). Zweite Strategie war »die Bildung von Arbeitsgemeinschaften [...] und Ausstellungsgemeinschaften. So wurde der Impressionismus wesentlich durch die ›Schule von Barbizon‹ vorbereitet. [...] Gegen Ende des Jahrhunderts sammelten sich in Worpswede bei Bremen Künstler [...] zu einer Kolonie« (ebd.). Der Kunstbetrieb nahm dadurch bisweilen fast schon skurrile Formen an, die aber dem Erfolg eher förderlich als hinderlich waren. Ohne die Grundelemente des Kunstbetriebs zu berühren, gab es im Laufe des 20. Jahrhunderts weitere wichtige Veränderungen innerhalb der oben aufgezählten Segmente. Erstmals gegen Ende des 19. Jahrhunderts und dann erneut während der Weimarer Republik wurde die Rolle dessen, der uneigennützig durch die Schaffung von Ausstellungsmöglichkeiten zwischen Künstler und Käufer vermittelte, in starkem Maße von den Kunstvereinen auf die öffentliche Hand übertragen. Im Rahmen der so genannten Kommunalisierungen wurden die vom wohlhabenden Bürgertum und von deren Kunstvereinen errichteten Kunstmuseen und Kunstgalerien in eine kommunale Trägerschaft übernommen. Während der Gründerjahre und noch bis in die Mitte der Weimarer Republik waren vor allem die jungen Großstädte an Rhein und Ruhr, aber auch die der Industriezentren in anderen Regionen Deutschlands so

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reich, dass sie es sich leisten konnten, private Kultureinrichtungen in öffentliche Trägerschaft zu übernehmen. Damit trat die öffentliche Hand, die früher als Fürstenhaus oder Kleinstaat den Kunstbetrieb ganz wesentlich beeinflusst hatte, nach einer Phase des privaten Engagements im 19. Jahrhundert wieder in verstärktem Maße als Akteur des Kunstbetriebs in Erscheinung. Zumindest für die Weimarer Republik lässt sich die doch erstaunliche Feststellung machen, dass die ehemals (feudale) öffentliche Kunstförderung wieder zur (republikanischen) öffentlichen Kunstförderung zurückkehrte. Das zeigt noch einmal, wie politisch die Kunstförderung des Bürgertums im 19. Jahrhundert war. Das Bürgertum jener Zeit drängte sich mit seiner Kunstförderung in die angestammte Rolle des Adels und der Kirche. Als es während der Weimarer Republik endlich die führende gesellschaftliche und politische Rolle erobert hatte, verlor die Kunstförderung für das Bürgertum ihren Zweck. Das Bürgertum konnte diese einst mit Leidenschaft erfochtene Position nun leichten Herzens aufgeben. Während die Kunstvereine die von ihnen gegründeten Kunstgalerien gern in öffentliche Trägerschaft übergaben, dürfte ihnen der damit einhergehende Verlust der Vermarkterfunktion weniger gut gefallen haben. Zwar versuchen die Kunstvereine bis heute, an der Vermarktung von Kunst beteiligt zu werden, doch beschränkt sich dies fast nur noch auf die so genannten Jahresgaben, die inzwischen aber eher den Charakter eines Treuebonus für langjährige Mitglieder haben, als dass sie ein nennenswerter Anteil am Kunstmarkt wären. Vor allem die in den 50er Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg sowie in den 70er Jahren neu gegründeten Kunstvereine haben nie einen wesentlichen Anteil am Kunstmarkt erreichen können. Dagegen spricht allein schon das Steuerrecht, das eine Gemeinnützigkeit und damit Steuerbefreiung für Kunstvereine nur dann gewährt, wenn der Verein nicht überwiegend kommerziell tätig ist. Kunstvereine sind heute im Allgemeinen Ausstellungsorte für Künstler der Avantgarde oder für etablierte ausländische Künstler, die aber in deutschen Kreisen noch wenig bekannt sind. Stattdessen entstand ein eigenständiger kommerzieller Kunstmarkt in Form von Galerien, Auktionshäusern und Kunstmessen. Darüber wird im Einzelnen für die Gegenwart noch zu reden sein,2 doch im historischen Rückblick ist vor allem festzuhalten, dass bereits zum Ende des Kaiserreichs und während der Weimarer Zeit eine erste Blüte des Kunsthandels vor allem in Form von Kunstgalerien zu verzeichnen war. Vor allem Paul Cassirer (18711926) und Herwarth Walden (1878-1941) wirkten an der Etablierung des noch junge Galeriehandels maßgeblich mit. Unterstützt wurden sie dabei von einflussreichen Kunstsammlern und Kunstkritikern wie Julius Meier-Graefe 2 Vgl. auch Abschnitt 3.2.3.

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(1867-1935) oder Harry Graf Keßler (1868-1937) sowie vor allem durch eine beachtliche Zahl von Kunst- und Kulturzeitschriften, die größtenteils Ende des 19. Jahrhunderts auf Initiative reicher Industrieellensöhne entstanden waren. Neben Literatur, Theater und bildender Kunst widmeten sich einige Zeitschriften auch explizit dem Kunstmarkt. Dazu zählten in Deutschland die Beilage zur Zeitschrift für bildende Kunst mit dem Titel Kunstmarkt. Im Untertitel der Beilage wurde eine Wochenschrift für Kenner und Sammler angekündigt, die regelmäßig über den Kunsthandel und über Auktionsergebnisse berichtete. Auch in Österreich gab es eine Internationale Sammlerzeitung, die sich im Untertitel als Zentralblatt für Sammler, Liebhaber und Kunstfreunde vorstellte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele der zerstörten Kunstmuseen relativ schnell wieder aufgebaut. Auch die traditionellen Kunstvereine nahmen sehr bald wieder ihre Arbeit auf; es kam sogar zu zahlreichen Neugründungen. Etliche Künstler, die vor dem Nazi-Terror ins Ausland hatten fliehen müssen, kehrten nun wieder zurück oder stellten zumindest wieder ihre Werke für Ausstellungen in Deutschland zur Verfügung. Andere hatten die NaziZeit in der inneren Emigration verbracht, allerdings ohne die Möglichkeit, ihre Arbeit fortzusetzen; sie beteiligten sich größtenteils aktiv am Wiederaufbau des Kunstbetriebs. Eine besondere Belebung erfuhr der Kunstbetrieb aber vor allem durch die Öffnung für Künstler und deren Werke aus den Ländern der ehemaligen Kriegsgegner. So fand die Kunstszene in Deutschland endlich wieder Anschluss an Entwicklungen in Frankreich, Großbritannien und in den USA. Eine Folge dieser Öffnung war das Wiedererblühen des Kunsthandels, der nun internationaler wurde, als er es je zuvor war; in kurzer Zeit etablierten sich vor allem in Hamburg, Köln, Düsseldorf und München namhafte Kunstgalerien. Mit den Kunstmessen in Basel, Köln und Düsseldorf kamen bald wichtige Distributionsformen hinzu, wo – bis heute – viele Kunstgalerien den größten Teil ihrer Jahresumsätze tätigen. Seit den 90er Jahren sind auch die Auktionshäuser verstärkt im Kunsthandel vertreten. Zwar gibt es solche Auktionshäuser schon seit langem, doch waren sie bisher in erster Linie Anbieter für Galeristen, für Museen und wenige Sammler. Erst seit etwa einem Jahrzehnt drängen auch die Auktionshäuser verstärkt in den Einzelhandel, was den Kunstmarkt nachhaltig zu verändern scheint. Mit dem gestiegenen Stellenwert der Kunstmessen und der Hinwendung der Auktionshäuser zum Einzelkunden zeigen sich zwar wichtige graduelle Veränderungen im traditionellen Kunstbetrieb, doch hat man es nicht mit radikalen Brüchen zu tun. Letztere gehen aber möglicherweise von der Kunst aus, weil Innovationen auf den Markt drängen, die sich dem traditionellen

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Kunstbetrieb teilweise entziehen. Die Rede ist einerseits von der Medienkunst und andererseits von der ephemeren Kunst. Die Medienkunst verwendet Technologien wie Computergrafik und vor allem Video. In der Video-Installation zeigt sie ihre Möglichkeiten: In der Regel formen sich auf mehreren Bildschirmen gleichzeitig immer wieder neue und andersartige Bild- und Tongeschichten. »Der Rezipient ist aufgefordert, seine Aufmerksamkeit zu teilen und den Blick von einem Monitor zum anderen, zu einem dritten und vierten springen zu lassen, so dass eine Unruhe entsteht, die anschauende Selbstvergessenheit eher verhindert. Der Betrachter wird aktiviert und kann gerade das nicht erfahren, wozu Kunst gemacht schien: die Ruhe der reinen Anschauung« (Klotz 1994: 180).

Als ephemere Kunst bezeichnet man jene Erscheinungsformen von Kunst, die ausschließlich auf das vergängliche Ereignis statt auf das erhaltenswerte und aufbewahrbare Werk setzen. Ausgehend von der Aktionskunst (vgl. hierzu Jappe 1993) mit Happening und Fluxus in den 60er Jahren entwickelte sich die Konzeptkunst (z.B. von Sol Le Witt, geb. 1928 und Joseph Kosuth, geb. 1945), die wiederum Spielarten wie die Kunstorgien eines Herman Nitsch (geb. 1938), Body-Art oder Kunstessen kennt. Allen Erscheinungsformen der Aktionskunst und Konzeptkunst ist gemeinsam, dass sie nur im Augenblick ihres Entstehens existent sind. Die Kunst als Gegenstand verschwindet; statt dessen reduziert sich Kunst auf ein Ereignis, das nicht selten Teil der Lebenswelt ist. So wie die traditionelle Kunst einen Ausschnitt aus der dinglichen Wirklichkeit abbildet, versucht die ephemere Kunst einen Ausschnitt aus dem zeitlichen Kontinuum der Wirklichkeit abzubilden. Physikalisch gesehen ist der Unterschied mithin nicht sonderlich groß, aber für den Kunstbetrieb ist er doch von erheblicher Bedeutung. Der Kunstbetrieb benötigt nicht nur den Künstler, er braucht auch den Handel mit der Ware Kunst, die Aufbewahrung der Kunst im Museum und vor allem auch den Sammler, der sich an der von ihm gesammelten Kunst immer wieder erfreuen kann. Sowohl die Medienkunst als auch die ephemere Kunst entziehen sich aber (mehr oder weniger) radikal den traditionellen Möglichkeiten des Kunstbetriebs. Vor allem die ephemere Kunst hat keinen Bestand; es gibt sie nur als Ereignis. Natürlich gibt es auch Möglichkeiten, dieses Ereignis zu vermarkten; das Eventmanagement der Künstleragenturen und Kunstvereine leistet genau dies. Aber innerhalb der traditionellen Formen des Kunstbetriebs ist dies nur bedingt möglich. Würden sich also Medienkunst, Aktionskunst und Konzeptkunst zunehmend im Kunstleben behaupten können, so hätte dies für den Kunsthandel, die Kunstauktionen, die Museen und

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die Kunstsammler schwerwiegende Folgen (vgl. Wall 2006). Doch steht andererseits der Kunstbetrieb nicht unter Artenschutz; sollte das Kunstleben die neueren Formen von Kunst irgendwann bevorzugen, was freilich kaum zu erwarten ist, so müsste (und würde) sich der Kunstbetrieb eben darauf einstellen. 3.2 Akteure des Kunstbetriebs Der Blick in die noch verhältnismäßig junge Geschichte des Kunstbetriebs zeigt, dass es zum Funktionieren des Kunstbetriebs verschiedener Akteure bedarf, die alle eine nicht austauschbare Funktion wahrnehmen, deren Funktionen aber dennoch sehr eng miteinander verknüpft sind. Was sich im Laufe der Zeit immer mal wieder geändert hat und wohl auch künftig gelegentlich ändern wird, ist der jeweilige funktionale Stellenwert des einen oder anderen Akteurs. Das aber lässt noch nicht erwarten, dass irgendwann einmal ein Element des Kunstbetriebs gänzlich verschwinden könnte. Im bisherigen Text wurden die Künstler nur indirekt angesprochen. Das entspricht einerseits der inneren Logik des Kunstbetriebs, der in letzter Konsequenz die Künstler nur als eine Ressource betrachtet, ist aber andererseits nicht gerechtfertigt, denn ohne die Arbeit der Künstler kann der Kunstbetrieb nicht funktionieren. Deshalb muss der Künstler unter den Akteuren des Kunstbetriebs am Anfang stehen; der Kunsthandel und die anderen Formen der Profit-Vermarktung folgen erst anschließend. 3.2.1 Künstler »Künstler sind alle in den bildenden und darstellenden Künsten, in Musik und Literatur kreativ Tätigen sowie alle Interpreten in Theater, Film und Musik« (Schnell 2000: 290). Allerdings wird alltagssprachlich gern nur der als Künstler bezeichnet, der als Maler oder Bildhauer in der bildenden Kunst tätig ist, während die Künstler in anderen Sparten eben Musiker, Schauspieler oder Schriftsteller sind. Selbstverständlich sind im Kontext der bildenden Kunst nur bildende Künstler gemeint. In der unreflektierten öffentlichen Wahrnehmung gilt der Künstler als eine Person, die in hohem Maße für das Gemeinwohl tätig wird, indem sie Dinge von öffentlichem Interesse schafft, die demnach auch aus öffentlichen Mitteln und durch Spenden gefördert werden sollte. Dem ist im Prinzip nicht zu widersprechen, doch stellt sich die Situation anders dar, wenn man den Künstler einmal nach der Systematik des Kulturbetriebs bewertet. Dann nämlich zeigt sich, dass der Künstler nur Teil des privatrechtlich-kommerziellen Kulturbetriebs sein kann, zumindest wenn er nicht in öffentlicher Anstellung

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(z.B. als Hochschullehrer) tätig wird. Privatrechtlich ist er tätig, weil er als Privatperson Verträge schließt, und kommerziell ist seine Arbeit deshalb zu bewerten, weil er den verständlichen Wunsch hat, mit seiner Kunst Geld zu verdienen, um davon leben zu können. Folglich sollte ein Künstler, der gegen die Kommerzialisierung der Kunst zu Felde zieht, nicht außer Acht lassen, dass er selbst Teil des kommerziellen Kulturbetriebs ist. Wie sehr Künstler Teil des kommerziellen Kulturbetriebs sind, wird spätestens dann deutlich, wenn man sich die wirtschaftlichen Risiken, mit denen gerade Künstler der bildenden Kunst zu kämpfen haben, vor Augen hält. Für Maler oder Bildhauer fallen folgende Kosten an: • • • •

Mietzins oder Kaufpreis für ein Atelier Betriebs- und Unterhaltungskosten für ein Atelier Lagerräume für fertig gestellte, aber nicht verkaufte Werke Leinwände und Farben bzw. bei Bildhauern Materialien und Werkzeug für Skulpturen • ein Transportfahrzeug (vor allem für Bildhauer) Sofern der Künstler von keiner Galerie vertreten wird, fallen zudem an: • Dokumentationskosten (z.B. für Fotos, Videoaufnahmen) • Präsentationskosten (z.B. Produktions- und Druckkosten für Kataloge) • Repräsentationskosten (z.B. Atelierausstellungen samt Einladungen, Vernissagen usw.) • Reisekosten (z.B. zu potenziellen Käufern, zu Messen und Ausstellungen) • Kommunikationskosten (z.B. Porto, Telefon, Internetanschluss mit Pflege der Homepage) Selbst wenn ein Künstler von einer Galerie vertreten wird, muss er damit rechnen, dass er einen Teil dieser Kosten selbst tragen muss, sofern er nicht ein Künstler der Spitzengruppe ist. Es ist mithin leicht erkennbar, dass die Investitionen und laufenden Betriebsausgaben des Ein-Mann-Unternehmens Künstler ganz erheblich sind. Wenn man nun bedenkt, wie groß die Konkurrenz auf dem Markt der freischaffenden Künstler ist und wie selten es ein Künstler schafft, sich auf dem Kunstmarkt erfolgreich durchzusetzen, dann wird deutlich, wie enorm die Risiken sind, denen sich der freischaffende Maler oder Bildhauer aussetzt. Kein anderer Künstler muss allein so große wirtschaftliche Risiken tragen wie der der bildende Künstler. Für den Schriftsteller sind die Kosten höchst überschaubar, der freischaffende Musiker hat nur die Kosten seines in der Regel sehr langlebigen Instruments, und selbst der Filmemacher ist besser abgesichert, denn seine sehr hohen Investitionen

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werden in der Regel von einer Produktionsgesellschaft getragen. Nicht wenige Bildhauer leben deshalb förmlich von der Hand in den Mund, weil sie jeden Erlös aus dem Verkauf eines Werks fast vollständig in den Kauf neuer Materialien bzw. in den Guss von Skulpturen investieren müssen. Nüchtern betrachtet muss man sagen, dass wahrscheinlich kein vernünftiger Kaufmann sich auf ein wirtschaftliches Risiko einlassen würde, wie man es vom bildenden Künstler ganz selbstverständlich erwartet. Wie bereits im vorausgehenden Abschnitt dargelegt, bestehen in der Aktionskunst besondere Bedingungen, die die Situation der Künstler zunehmend erschweren. In der Aktionskunst entsteht das Kunstwerk nicht mehr im Atelier des Künstlers, sondern als Arbeitsvorgang vor dem Publikum. Damit sind allerdings nicht die zeitweise so beliebten Bildhauersymposien gemeint. Beim Bildhauersymposium oder im so genannten offenen Atelier schaut das Publikum dem Künstler nur bei der Arbeit zu, während das Publikum beispielsweise bei einer Performance Teil des künstlerischen Prozesses ist; ohne Publikum wäre dieser Prozess nicht möglich. Gleich welcher Art die Aktionskunst ist, sie ist weder in völlig gleicher Form wiederholbar, noch ist sie konservierbar. Aus der Sicht des Kulturbetriebs bedeutet dies für den Künstler, dass er wieder zur mittelalterlichen Auftragskunst zurückkehren muss. Er kann nicht mehr ein Kunstwerk auf Vorrat schaffen und es in seinem Atelier oder bei einem Galeristen deponieren, bis sich ein Käufer findet, sondern er kann seine Kunst erst dann realisieren, wenn er jemanden gefunden hat, der diese Aktion finanziert. Der bildende Künstler kommt damit dem Theaterkünstler oder dem Musiker sehr nahe, die beide zur Realisierung ihres Kunstwerks die gleichzeitige Anwesenheit von Publikum benötigen. Für das Theater und für das Konzert ist dies längst akzeptiert, doch der Aktionskünstler bewegt sich hier auf einem völlig neuen und risikoreichen Terrain. Hinzu kommt noch, dass der Aktionskünstler seine Aktion nur einmal aufführen kann, denn das ergibt sich aus dem Selbstverständnis der Aktionskunst als etwas Einmaliges, während das Theater eine Aufführung viele Male wiederholen kann. Nicht unbeachtet bleiben sollte auch, dass der Aktionskünstler zum Projektmanager wird, weil er sich nicht nur auf die künstlerische Idee beschränken kann, sondern auch erhebliche organisatorische Anstrengungen unternehmen muss, um seine eigene Idee als Kunstwerk realisieren zu können. Folglich ist er nicht nur Künstler, sondern auch zum Teil der Vermittler und Vermarkter seiner eigenen Kunst. Nicht wenige Künstler haben deshalb im Laufe eines solchen Kunstprojekts feststellen müssen, dass sie für diese Aufgabe entweder nicht ausreichend kompetent oder nur mäßig motiviert sind. Alles in allem betrachtet, ist für den Künstler wie für den Kulturbetrieb die Aktionskunst folglich außerordentlich risikoreich, weshalb sie vermutlich immer

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nur ein Nischenangebot im Kunstbetrieb bleiben wird. Selbstverständlich ist damit aber keinerlei Aussage über den künstlerischen Wert der Aktionskunst gemacht. Es gibt zahlreiche Künstler mit einer professionellen Ausbildung, die zwar hauptberuflich als Lehrer oder Grafiker tätig sind, aber dennoch nebenher als Künstler arbeiten und als solche auf dem Kunstmarkt auftreten. Zudem bietet der Kunstbetrieb zahlreiche weitere Berufe wie beispielsweise Restauratoren, Kunstpädagogen und Museumspädagogen, Ausstellungsmacher, Kunstwissenschaftler und Kustoden sowie Kunstmanager und Kunsthändler. Aus der Sicht des Kunstbetriebs am interessantesten sind allerdings die Künstler, die diesen Beruf als Hauptberuf ausüben und damit freischaffende bzw. freiberufliche Künstler in der engeren Bedeutung des Wortes sind. Die Zahl dieser freiberuflichen Künstler ist in Deutschland nur schwer festzustellen, da die Berufsbezeichnung Künstler nicht geschützt ist und demnach auch nirgendwo festgehalten wird, wer sich Künstler nennt. Allerdings sind seit der Einführung der Künstlersozialversicherung im Jahr 1983 alle freiberuflichen Künstler Pflichtmitglieder der Künstlersozialkasse. Diese Pflichtmitgliedschaft gilt nach § 3 Künstlersozialversicherungsgesetz (KSVG) allerdings nur dann, wenn das Einkommen 3.900 € jährlich (entspricht 325 € monatlich) übersteigt. Nach anfänglichen Weigerungen, dieser Pflichtversicherung beizutreten, kann man heute davon ausgehen, dass bei weitem die meisten freiberuflichen Künstler dort gemeldet sind. Laut Statistik der Künstlersozialkasse waren Ende 2005 allein in der Sparte bildende Kunst insgesamt 53.996 freiberufliche Künstler registriert. Nicht darin erfasst sind beispielsweise Hochschulprofessoren und Kunstlehrer an allgemeinbildenden Schulen, die nebenberuflich als Künstler tätig sind, weil ihre Sozialversicherung über den Hauptberuf abgedeckt ist (§ 4 Abs. 2 KSVG). Dennoch ist vor allem die freie künstlerische Tätigkeit der Kunstprofessoren für den Kunstbetrieb von erheblicher Bedeutung. Nicht erfasst sind auch solche freiberuflichen Künstler, die mehr als nur einen Mitarbeiter beschäftigen, weil sie dann als Gewerbebetrieb gelten und wie jeder andere Freiberufler ihre Sozialversicherung selbst regeln müssen (§ 1 Abs. 2 KSVG). Einschließlich dieser Berufsgruppen weist der statistische Mikrozensus 2001 für Deutschland 129.000 bildende Künstler aus (vgl. Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2004: 103). Höchst unsicher ist auch die Datenlage über die wirtschaftliche und soziale Situation der freiberuflichen bildenden Künstler. Die Umsatzsteuerstatistik ist hier höchst ungeeignet, da erst ab einem Umsatz von mehr als 17.500 € jährlich Umsatzsteuer zu zahlen ist (§ 19 Abs. 1 Umsatzsteuergesetz). Dagegen müssen freiberufliche Künstler, die Pflichtmitglieder der Künstlersozialversicherung sind, dort ihre Einkünfte melden, weil sie Grund-

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lage der Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge sind. Demnach verfügten die bildenden Künstler im Jahr 2004 über ein Jahreseinkommen von 10.509 €. Allerdings muss auch hier wieder vor falschen Schlüssen gewarnt werden. Da weder die Künstler, die gleichzeitig eine feste Anstellung haben, noch die, die Mitarbeiter beschäftigen, in dieser Statistik erfasst sind, kann diese Zahl kaum als wirklich aussagekräftig gelten. Die in Deutschland tätigen bildenden Künstler haben sich in verschiedenen Berufsverbänden zusammengeschlossen. Größter Verband dieser Art ist der Bundesverband Bildender Künstler e.V. (BBK), der 1971 gegründet wurde und sich nach der Deutschen Wiedervereinigung mit dem Verband bildender Künstler der DDR zusammenschloss. Der BBK ist heute in 14 Landesverbände gegliedert und zählt insgesamt etwa 10.000 Mitglieder. Er vertritt die Interessen der freiberuflichen Künstler gegenüber der Bundesregierung und den Landesregierungen und setzt sich vor allem für verbesserte Rahmenbedingungen ein. Der BBK gibt die Vierteljahresschrift kultur politik heraus, die sich mit aktuellen Themen zur beruflichen und sozialen Lage der bildenden Künstler befasst. Nur die wenigsten Künstler sind in der Lage, ihr Einkommen ausschließlich über Direktverkäufe aus dem Atelier oder dank der unentgeltlichen Mitarbeit eines Familienmitglieds zu sichern. Um halbwegs erfolgreich sein zu können, benötigt der freischaffende Künstler den Kunstbetrieb, also den Galeristen, der seine Werke verkauft, aber auch das Museum, das ihn fördert, und den Kunstkritiker, der seinen Namen publik macht und seine Werke öffentlich würdigt. 3.2.2 Nonprofit-Vermittler Nonprofit-Vermittler sind alle Institutionen, die in öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlich-gemeinnütziger Trägerschaft Kunstwerke vorübergehend zeigen, ohne sie selbst erwerben oder an Dritte zum Verkauf vermitteln zu wollen. Neben den bereits erwähnten Kunstvereinen, deren Stellenwert im Kunstbetrieb deutlich abgenommen hat, sind dies vor allem die städtischen Galerien, die Ausstellungen der Kulturämter, Kirchen, Kulturfördervereine, öffentlichen Kultureinrichtungen, Krankenhäuser usw. sowie – wenn auch rechtlich nicht ganz vergleichbar – die Ausstellungen in Banken und Sparkassen. Jeder weiß es aus eigener Anschauung: Die Zahl der Aussteller ist schier unüberschaubar, und sie scheint weiterhin von Tag zu Tag zu wachsen. Noch bis vor wenigen Jahren erfolgte dieser Ausstellungsbetrieb direkt zwischen Künstler und Aussteller, d.h. entweder bewarb sich ein Künstler beim Ausstellungsbetrieb oder ein Beauftragter des Ausstellungsbetriebs fragte beim Künstler um Werke für eine Ausstellung nach. Dies hatte zur Fol-

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ge, dass sehr individuelle Ausstellungen entstanden, die nicht selten lokale und regionale Künstler in den Mittelpunkt stellten. Allerdings waren die Ausstellungen vor allem dort, wo die Aussteller nicht über das notwendige Know-how verfügten, häufig von geringer Qualität. Inzwischen hat sich dies sehr stark verändert. Am Beispiel von Kunstausstellungen in einer Mittelstadt von vielleicht 40.000 Einwohnern stellt sich dies wie folgt dar: Die ausstellende Kommune akquiriert nicht mehr selbst über ihr Kulturamt Ausstellungen, sondern überträgt diese Aufgabe per Werkvertrag an eine Ausstellungsagentur. Diese Agentur liefert ein Komplettangebot, das von der Auswahl der Künstler und Exponate über die Einrichtung der Ausstellung, die Öffentlichkeitsarbeit einschließlich Plakat, den Katalog, die Durchführung der Ausstellungseröffnung (einschließlich Vernissagenrede) bis zum Ausstellungsabbau reicht. Für den kommunalen Aussteller bietet dies vor allem den Vorteil, dass nur noch Sachkosten anfallen. Diese Sachkosten aber wiederum sind überschaubar, denn es wird ein Komplettpreis fest vereinbart; alle weiteren finanziellen Risiken, einschließlich des Katalogverkaufs, trägt allein die Ausstellungsagentur. Da die Agentur eine Ausstellung nicht nur einmal, sondern oft fünfzehn- bis zu mehr als fünfundzwanzigmal zeigt, sind die Kosten pro Ausstellungsort nicht selten geringer, als es die Sachkosten im früheren Verfahren waren. In jedem Fall spart die Kommune aber die Personalkosten ein, ohne – zumindest auf den ersten Blick – das Kulturangebot einzuschränken. In der Bewertung dieser Praxis ist festzuhalten, dass es zwar weiterhin eine gleich große Zahl von Ausstellungsereignissen gibt, doch wird durch die Wiederholungen an mehreren Orten letztlich deutlich weniger Kunst ausgestellt. Weiter ist festzuhalten, dass die Lokal- und Regionalverbundenheit solcher Ausstellungen weitgehend verloren geht, da für den Ausstellungsagenten eine nur regional orientierte Kunstausstellung auf einen viel zu kleinen Markt treffen würde. Auch ist zu bemerken, dass die Spezifität kommunaler Kulturangebote verloren geht, weil sich die Ausstellungsangebote immer ähnlicher werden. Für die Künstler bedeutet dies, dass sie ihre Ansprechpartner in den Kommunen verloren haben; sie müssen sich nun an die Agenten wenden, die aber einen wesentlich geringeren Bedarf an Künstlern haben (eine mittlere Agentur, die pro Jahr zehn Ausstellungen »laufen« hat, braucht eben nur zehn Künstler, obwohl sie damit vielleicht 50 und mehr Ausstellungen zeigt). Und abschließend für die Berufschancen von Ausstellungsmanagern bedeutet dies, dass nicht mehr die Kommunen einen Arbeitsplatz bieten können, sondern nur noch die Agenturen. Was aber letzten Endes bleibt, ist die historisch gewachsene Praxis, dass die Kommune und andere Nonprofit-Aussteller den Künstlern Ausstellungsflächen kostenlos zur Verfügung stellen (denn auch bei den Agenturen muss

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der Künstler nichts für die Ausstellung zahlen, sondern nur bei Verkäufen eine Provision abtreten). Insofern stellt der Nonprofit-Aussteller dem Künstler also das zur Verfügung, was man in anderen Branchen als Verkaufs- oder Präsentationsräume bezeichnen würde (z.B. die Ausstellungshalle eines Autohändlers).3 Doch reicht dies allein auf Dauer sicher nicht aus. Der Nonprofit-Vermittler ist für den Markteintritt eines jeden Künstlers ein wichtiger und nahezu unverzichtbarer Helfer. Deshalb sollten die individuell gestalteten Kunstausstellungen der Kommunen, Kirchen, Kultureinrichtungen und Sparkassen möglichst nicht der Vergangenheit angehören, sondern vielmehr kraftvoll wiederbelebt werden. Mit vielen individuell konzipierten Ausstellungen erreichen wieder mehr Künstler die Öffentlichkeit und damit ihre potenziellen Käufer, und genau dies ist die Aufgabe einer Kunstförderung, soweit sie nicht unmittelbar auf die materielle Förderung des Künstlers ausgerichtet ist. Neben der nicht auf den Verkauf ausgerichteten Ausstellung sind auch der Katalog sowie Kunsthistoriker und Kunstkritiker wichtige Nonprofit-Vermittler. Um beispielsweise einen jungen Künstler bekannt zu machen, bedarf es eines Katalogs, weil nur der Katalog zu einer Ausstellung Informationen halbwegs objektiv dokumentieren und transportieren kann. Der persönliche Bericht des Ausstellungsbesuchers gegenüber Dritten gilt immer als subjektiv; man möchte sich schließlich selbst »ein Bild machen« können. Folglich ist jeder ausstellende Künstler, vor allem wenn er noch recht unbekannt ist, sehr daran interessiert, dass zur Ausstellung ein Katalog erstellt wird. Da solche Kataloge – anders als beispielsweise die Ausstellung selbst oder ein Plakat zur Ausstellung – auf Dauer angelegte und wiederverwendbare Medien sind, finden sich zu deren Finanzierung meist auch Sponsoren, zumal, wenn deren Sponsoring im Katalog angemessen dokumentiert wird. Zum Katalog benötigt man einen einleitenden Text, in dem die Vita vorgestellt und das Lebenswerk des Künstlers gewürdigt wird. Diese Aufgabe überträgt man gern einem namhaften Kunsthistoriker, der sich auch zu weitaus bedeutenderen Künstlern bereits sehr kompetent geäußert hat und dessen Ansehen somit auch auf die Person und das Werk des jungen Künstlers übertragen werden kann. Meistens sehen die Autoren darin eine Chance, einen Künstler bekannt zu machen, an dessen Bekanntheit ihnen auch wirklich et3 Dass dieses Zur-Verfügung-Stellen von Ausstellungsräumen vom Aussteller nicht völlig selbstlos erfolgt, sei keinesfalls verschwiegen. Zumindest bei Banken und Sparkassen sind solche Ausstellungen wichtige Marketinginstrumente zur Kundenbindung. Dann aber gibt der Aussteller diesen Vorteil in der Regel durch die Finanzierung von Vernissage, Plakat und Katalog sowie nicht selten durch den Ankauf eines Werks an den Künstler weiter.

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was liegt. Allerdings gibt es in der Branche auch nicht wenige »schwarze Schafe«, die für ein gutes Honorar zu jeder Lobpreisung bereit sind. Ähnlich gilt dies auch für den Redner, der die Ausstellung in der so genannten Vernissage4 vorstellt. Leider machen manche Künstler immer noch den Fehler, die Vernissagenrede selbst zu halten oder den Katalogtext selbst zu schreiben. Diese Künstler dürfen sich nicht wundern, wenn sie im Kunstbetrieb erfolglos bleiben. Jeder noch so mäßige Beitrag aus dem Munde eines Dritten ist mehr wert als jedes, meist peinliche Eigenlob. Nach erfolgreicher Vernissage, kompetenter Rede und attraktivem Katalog schlägt die Stunde des Kunstkritikers. Obwohl jede Kritik immer nur die Meinung einer einzelnen Person und in diesem Falle eines einzelnen Ausstellungsbesuchers ist, hat die Aussage des Kritikers doch eine nachhaltige Wirkung. Dies gilt vor allem für Interessenten, die die Ausstellung noch nicht besucht haben und die sich nicht selten durch eine schlechte Kritik von einem bereits geplanten Besuch abhalten lassen. Während im Nonprofit-Bereich eher selten versucht wird, auf die Kritik Einfluss zu nehmen, bereiten ProfitVermarkter die Konstellation von Vernissagenredner, Katalogautor und Kunstkritiker sehr sorgfältig vor und versuchen sie auch nach Möglichkeit zu steuern. Doch dazu später mehr. 3.2.3 Kunsthandel, Auktionshandel und Kunstmessen So wichtig die Tätigkeit des Nonprofit-Vermittlers für den Bekanntheitsgrad und letztlich auch für den Markteintritt eines Künstlers und seiner Werke ist, so ist aus Sicht des Kunstbetriebs der Profit-Vermarkter doch von größerem Interesse. Als Profit-Vermarkter bezeichnet man alle Betriebe und Organisationen, die Handelsbeziehungen zwischen Künstlern und Käufern von Kunst organisieren und die ihre Tätigkeit auf Provisionsbasis anbieten. Es sind dies im Wesentlichen der Kunsthandel in Form kommerzieller Galerien, die Kunstauktionshäuser und die Kunstmessen. Die kommerzielle Galerie bietet nur noch am Rande Öffentlichkeit im Sinne einer Stadtöffentlichkeit, wie sie etwa für eine städtische Galerie oder eine Ausstellung des kommunalen Kulturamts typisch ist. Die Öffentlichkeit, an die sich die kommerzielle Galerie wendet, ist in erster Linie eine Käufer-Öffentlichkeit. Der kommerzielle Galerist sucht für die von ihm ausgestellten Werke Käufer, und er tut dies im Interesse des Künstlers wie in seinem eige4 Der Ausdruck Vernissage ist abgeleitet von franz. vernis, ›Firnis‹. Früher wurde die Schutzschicht auf Gemälden, also die Firnis, von den Künstlern immer erst unmittelbar vor einer Ausstellung im Ausstellungsraum aufgebracht. Damit sahen die ersten Ausstellungsbesucher die ›frisch gefirnissten‹ Bilder.

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nen Interesse. Anders aber als die städtische Galerie oder überhaupt jeder Nonprofit-Aussteller zeichnet sich die kommerzielle Galerie nicht durch eine möglichst große Vielfalt von Künstlern und Ausstellungen aus, sondern hat in der Regel eine kleine oder doch zumindest überschaubare Zahl von Künstlern fest unter Vertrag. Um diese Künstler, mit denen der Galerist zum Teil sogar Ausschließungsverträge hat (d.h. die Künstler dürfen nicht gleichzeitig von einem anderen Galeristen vertreten werden), kümmert er sich besonders, baut sie auf, betreut sie über viele Jahre und versucht nach Möglichkeit, irgendwann gemeinsam mit dem Künstler die Früchte der Arbeit zu ernten. Viele Galerien haben sich zum Bundesverband Deutscher Galerien e.V. zusammengeschlossen. Dieser größte europäische Galerienverband vertritt etwa 320 Galerien und berät sie in wirtschaftlicher, rechtlicher, fachlicher und kulturpolitischer Hinsicht. Insgesamt werden von den angeschlossenen Galerien etwa 7.000 Künstler vertreten. Im Jahr 2000 erzielten die 320 Galerien einen Jahresumsatz von etwa 700 Mio. DM (357 Mio. €), davon entfiel etwa ein Drittel auf Verkäufe von Werken ausländischer Künstler.5 Ähnlich wie der Konzertagent finanziert sich auch der Galerist aus Provisionen. Während aber im Konzertbereich der Agent die Provision vom Veranstalter und nicht vom Endverbraucher (dem Konzertbesucher) bezieht, erhält der Galerist seine Provision direkt vom Käufer (auch dann, wenn eine Galerie beispielsweise für eine Bank oder für eine Kommune eine Ausstellung in deren Räumen durchführt). Diese Provisionen sind recht hoch, sie liegen in der Regel bei 50 % des Verkaufspreises eines Bildes (Abweichungen nach oben oder unten sind möglich)6. Bei Plastiken (z.B. teure Güsse oder wertvolle Materialien) wird meistens vereinbart, dass die Materialkosten vom Verkaufspreis abgerechnet werden und dann der Rest zwischen Künstler und Galerist im Verhältnis 50:50 geteilt wird. Für die Verkaufsprovision verpflichtet sich der Galerist, alles zu unternehmen, um für die ihm überlassenen Kunstwerke einen Käufer zu finden, d.h. er veranstaltet Ausstellungen, macht Empfänge für ausgewählte Interessenten, produziert Kataloge, versendet Einladungen, informiert fortlaufend die Presse, positioniert die Kunstwerke auf Kunstmessen, führt Verkaufsgespräche usw. Ganz offensichtlich erhält der Galerist seine Provision nicht gerade geschenkt, zumal ihm auch noch Betriebskosten entstehen, die bei einer Galerie in guter Verkaufslage nicht gerade niedrig sind.7 Erstaunlich ist in diesem 5 Die kommerziellen Kunstgalerien haben sich bereits 1935 zu einem Weltverband zusammengeschlossen: s. http://www.cinoa.org/. 6 Vgl. dazu die »Empfehlungen für die Zusammenarbeit zwischen Galerien und Künstlern« des Bundesverbandes Deutscher Galerien e.V. 7 Vgl. dazu auch das fiktive Beispiel zur Kostenkalkulation einer Galerie für zeitge-

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Zusammenhang, dass etwa 60 % aller verkauften Werke in einem Preissegment von unter 5.000 € liegen; lediglich 10 % aller verkauften Werke erzielen Preise von mehr als 50.000 €. Wenn man zudem noch bedenkt, dass etwa die Hälfte aller Galerien 25 bis 50 % ihres Umsatzes auf Kunstmessen machen, und darüber hinaus in den Galerieräumen nur wenige Gelegenheiten zum Verkauf bestehen, weil 50 % aller Galeriebesucher nur zur Vernissage in die Galerie kommen, dann sieht man, dass die wirtschaftlichen Spielräume für eine durchschnittliche Galerie nicht sehr groß sind. Galerien unternehmen deshalb auch erhebliche Anstrengungen, um durch eine konzertierte Strategie zu einer Minderung des geschäftlichen Risikos zu gelangen. Während im Zusammenhang mit den Nonprofit-Vermittlern die Konstellation von Ausstellung, Katalog, Vernissagenredner und Kritiker eher nüchtern beschrieben werden kann, spielt sie für den Galeristen eine möglicherweise geschäftsentscheidende Rolle. Der Galerist wird deshalb alles daransetzen, einen hervorragenden Autor für den Katalog und einen eloquenten Redner für die Vernissage zu finden. Mindestens einer von beiden sollte einen guten Kontakt zu einem der wichtigsten Kunstkritiker haben. Wenn es ihnen dann noch gemeinsam gelingt, ein namhaftes Museum für einen Ankauf aus der Ausstellung zu bewegen, steht dem wirtschaftlichen Erfolg meist nichts mehr im Wege. Diese Verquickung von wirtschaftlichen Interessen, kunstwissenschaftlicher und kunstpolitischer Meinungsführerschaft sowie konsequenter Karriereplanung ist bereits vielfach diskutiert und kritisch beschrieben worden.8 Sie ist aber nichtsdestotrotz gängige Praxis, übrigens auch in anderen Kunstsparten. Sie verhindern oder gar abschaffen zu wollen, wäre naiv. Umso mehr ist es erforderlich, sie transparent zu machen, um auf diese Weise ein Abdriften in Randbereiche der Legalität zu vermeiden. Ein weiterer wichtiger Bestandteil der kommerziellen Vermarktung von bildender Kunst ist der Auktionshandel (vgl. Drinkuth 2003). Als Kunstauktion bezeichnet man die Veräußerung von Kunstwerken und Antiquitäten in einem öffentlichen Bieteverfahren an den Meistbietenden. Rechtsgrundlagen sind § 34 der Gewerbeordnung sowie die Verordnung über gewerbsmäßige Versteigerungen (sog. Versteigerungsverordnung). Im Auktionsgeschäft tritt der Auktionator in der Regel als Kommissär (§ 383 HGB) auf, d.h. er übernimmt es gewerbsmäßig, Waren für Rechnung eines anderen in eigenem Namen zu kaufen oder zu verkaufen. nössische Kunst in Bonus/Ronte 1997: 145, das gerade vor dem Hintergrund der oben genannten Daten durchaus realistisch zu sein scheint. 8 Zum Beispiel schon vor Jahren in Weber 1981: 149-165 sowie jüngst auch wieder in Bonus/Ronte 1997: 38-41.

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Für den Ablauf einer Kunstauktion macht die Versteigerungsverordnung klare Vorgaben. Dazu gehören beispielsweise Regeln über die Zuschlagserteilung, über das Käuferaufgeld (die Provision des Auktionators), über die Kennzeichnung des Versteigerungsguts (bei Kunstauktionen reicht eine klare Zuordnung nach Ziffern aus) sowie die besondere Kennzeichnung der so genannten Eigenware, also solcher Waren, die der Auktionator aus seinem eigenen Besitz zur Versteigerung freigibt. Diese Versteigerungsbedingungen müssen bekannt gemacht werden; sie sind im Einzelfall Teil des Vertrags zwischen dem Auktionator und dem Käufer. Nicht zuletzt schreibt die Versteigerungsverordnung eine behördliche Anzeige- und Bekanntmachungspflicht vor. Will jemand einem Auktionshaus eine Ware zur Versteigerung anbieten, wird der Wert der Ware zunächst von Experten des Auktionshauses taxiert. Ausgehend von dieser Bewertung und von dem zu erwartenden Marktwert der Ware setzt der Auktionator einen Schätzwert ein; er kann dann im Einzelfall entscheiden, ob er auch unterhalb des Schätzwertes einen Zuschlag erteilt. Der Kunde kann allerdings auch ein Limit vorgeben, also einen Preis, der mindestens ersteigert werden muss, damit es zu einem Zuschlag kommen kann. Glaubt der Auktionator, dass sich einzelne Objekte allein nicht werden verkaufen lassen, so kann er mehrere Werke (z.B. minderwertige Grafiken oder antiquarische Bücher) zu einem so genannten Los zusammenfassen. Zur Kunstauktion erscheint ein Katalog, der sämtliche zur Versteigerung vorgesehenen Waren mit ihren wichtigsten Merkmalen und ihrer Kennzeichnung (Nummer) aufführt sowie den Schätzpreis oder das Limit benennt. Zudem gibt der Auktionator rechtzeitig bekannt, zu welchem Termin die Ware vorher besichtigt werden kann. Das macht es erforderlich und entspricht so auch den Vorgaben der Versteigerungsverordnung, dass die Ware sich am Ort der Versteigerung oder in dessen unmittelbarer Nachbarschaft befindet. Damit ist auch verständlich, warum große und schwere Skulpturen selten über Auktionen angeboten werden. (Von dieser Vorgabe sind allerdings Internet-Auktionen freigestellt.) Während der eigentlichen Auktion werden die einzelnen Nummern oder Lose aufgerufen und nochmals vom Auktionator präsentiert. Die anwesenden Bieter geben nach Aufforderung durch den Auktionator ihr Gebot durch Handzeichen oder unter Verwendung eines Paddles (ein paddelähnliches Schild mit einer Nummer) ab. Daneben ist auch ein Gebot per Telefon möglich; dazu muss der telefonische Bieter zuvor dem Aktionshaus einen schriftlichen Auftrag erteilt haben. Der Zuschlag wird erteilt, wenn nach dreimaligem Aufruf eines Gebotes kein höheres Angebot abgegeben wird. Anschließend ist der Auktionator unerbittlich: der Zuschlag verpflichtet zur Abnahme! Mit der Erteilung des Zuschlages gehen Besitz und Gefahr an

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der ersteigerten Sache unmittelbar auf den Ersteher über, das Eigentum allerdings erst bei vollständigem Zahlungseingang. Auf den Zuschlagspreis (den sog. Hammerpreis) wird eine Auktionsgebühr von 15 bis 35 % erhoben (das bereits erwähnte Käuferaufgeld); hinzu kommt noch die gesetzliche Mehrwertsteuer. Persönlich anwesende Bieter sind in der Regel verpflichtet, Zuschlagspreis, Käuferaufgeld und Mehrwertsteuer direkt an den Auktionator zu bezahlen und die erworbene Ware direkt in Empfang zu nehmen. Der Kunstauktionshandel hat in den letzten Jahren sehr an Bedeutung gewonnen, zumal er mehr und mehr auch den Part des traditionellen Kunsthandels übernimmt. Dazu haben nicht zuletzt spektakuläre Kunstauktionen der letzten Jahre beigetragen (z.B. die Versteigerung der Inneneinrichtung im Neuen Schloss in Baden-Baden durch das Auktionshaus Sotheby’s) sowie die seit Ende der 90er Jahre mit großem Elan sich etablierenden Internet-Versteigerungen, an denen sich – nach anfänglichem Zögern – inzwischen auch international renommierte Auktionshäuser beteiligen. International wird der Kunstauktionsmarkt nach wie vor von den (ursprünglich rein britischen) Kunstauktionshäusern Christie’s und Sotheby’s beherrscht. Sotheby’s ist sehr stark auf dem US-Markt vertreten, während Christie’s zuletzt vor allem Zuwächse in Europa verzeichnen konnte. Dagegen hatten beide Auktionshäuser im asiatischen Markt wegen der dortigen Wirtschaftskrise starke Verluste zu verzeichnen. Die wichtigsten Auktionshäuser in Deutschland sind Lempertz in Köln, Villa Grisebach in Berlin, Ketterer in München, Nagel in Stuttgart sowie Hauswedell & Nolte in Hamburg. Zunehmend werden die traditionellen Kunstauktionen ergänzt durch Internetauktionen. Allerdings zeichnet sich deutlich ab, dass Internetauktionen allein für solche Waren einen Markt bilden, die man im Auktionshandel als »Collectibles« bezeichnet, also für Sammelsurien von Gemälden, Grafiken, Antiquitäten, Poster, Münzen usw., die als Einzelstücke eher von geringerem Wert sind. Neben reinen E-Commerce-Anbietern wie eBay (vgl. http://art.lis tings.ebay.com/) versteigert auch Amazon (vgl. http://s1.amazon.com/) Kunst per Internet. Allerdings bewegen sich alle Internetauktionen für Kunst und Antiquitäten nur im so genannten Basismarktbereich. Darunter versteht man Waren, deren Preis im Einzelfall selten über 1.000 € hinausgeht. Es hat sich nämlich gezeigt, dass der Kunde Waren zum Preis von mehr als 1.000 € immer noch selbst sehen und prüfen will, bevor er dazu ein Gebot abgibt. Dieser so genannte Mittelmarkt (ab 1.000 €/Stck.) bleibt denn auch die Domäne der Live-Auktionen, der Hochpreismarkt mit ausschließlich sieben- und achtstelligen Ergebnissen ohnehin. Um die aktuelle Marktlage zu erspüren, sind Kunstmessen nach wie vor die am besten geeignete Form. Wie andere Messen auch sind dies Veranstaltungen mit Marktcharakter, d.h. es werden Kunstwerke wie Waren präsen-

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tiert und zum Verkauf angeboten. Messen finden nicht ständig, sondern stets nur zeitlich begrenzt, aber regelmäßig (z.B. jährlich) statt. Messen werden veranstaltet von Messegesellschaften, die selten nur auf eine Branche spezialisiert sind. Der Vorteil einer Messe etwa gegenüber dem Kunsthandel besteht vor allem in den Agglomerationsvorteilen, d.h. es ergeben sich verbesserte Verkaufschancen dadurch, dass viele Anbieter und Käufer gleichzeitig anwesend sind. Auch kann während der Messe leichter im unmittelbaren Vergleich eine Marktpositionierung erfolgen. Nicht zuletzt ist zu erwähnen, dass die Messe häufig mit Begleitveranstaltungen (Symposien, Kongresse, Tagungen) einhergeht, die sich möglicherweise verkaufsfördernd auswirken. Die Agglomerationsvorteile der Messen sind gleichzeitig auch deren Risiko. Erlebt die Branche schwierige Zeiten, wie dies für den Kunsthandel zwischen 1990 und 1997 der Fall war, schlägt sich dies auf die Kunstmessen in besonderer Weise nieder. Kann der Galerist im Laufe des Jahres nicht immer wieder erneut an Kunden herantreten, so ist die Chance einer großen Messe nach wenigen Tagen für ein ganzes Jahr vertan. Da viele Galeristen dort den größten Teil ihres Jahresumsatzes machen, schlägt sich eine schlechte Messe auf deren Wirtschaftsergebnis verheerend nieder. Wichtigste Kunstmessen von internationaler Bedeutung sind im deutschsprachigen Raum die Art Basel sowie die ART COLOGNE in Köln. Gegen diese beiden marktdominierenden Kunstmessen konnte sich in den 90er Jahren nur noch die Art Frankfurt als dritte durchsetzen. Daneben gibt es einige Spezialmessen, die in ihrem Segment eine unangefochtene Spitzenposition haben, wie beispielsweise die Tefaf in Maastricht, auf der sich etwa drei Viertel des Welthandels für Altmeistergemälde abspielt, oder die Baseler Cultura, das Zentrum des Handels mit Antiken. 3.3 Nutzer und Kunden Der Kunstbetrieb ist ausgerichtet auf den Nutzer und Kunden, wobei als Nutzer eher der Besucher des Nonprofit-Bereichs verstanden wird, während man im kommerziellen Bereich sinnvollerweise von Kunden sprechen sollte. Der Nutzer tritt vor allem als Museums- und Kunstausstellungsbesucher auf, also dort, wo üblicherweise Kunstwerke nicht zum Verkauf angeboten werden. Dagegen ist Kunde jeder, der in einer Galerie, auf einer Kunstmesse oder auf einer Kunstauktion Kunstwerke erwirbt. Hier interessiert weniger der Gelegenheitskäufer, der vielleicht nur alle paar Jahre einmal ein Kunstwerk kauft, als vielmehr jene Personengruppen und Institutionen, die regelmäßig Kunst kaufen. Es sind dies die Sammler, das Art Consulting und die Kunstmuseen. Von diesen professionellen Kunstkäufern soll zuerst die Rede sein.

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3.3.1 Sammler und Art Consulting Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Sammler für einen funktionierenden Kunstbetrieb von größter Bedeutung ist. Nur über den Sammler, der als Liebhaber und nicht als kalkulierender Käufer auftritt, ist es möglich, den Kunstbetrieb in seiner heutigen Form aufrechtzuerhalten. Würde ein Kunstbetrieb nur nach Marktgesetzen funktionieren, so würden nur die Werke verkauft werden, für die es einen objektiven Bedarf gibt. Da aber weit mehr Kunstwerke angeboten werden als – salopp gesagt – Wohnzimmerwände zur Verfügung stehen, müsste der Markt eigentlich zusammenbrechen. Er funktioniert nur deshalb noch, weil es eine beachtlich große Zahl von Sammlern gibt, die Kunstwerke aus Liebhaberei kaufen, ohne dass dafür ein nachvollziehbarer Bedarf vorhanden wäre. So gibt es Sammler, die die angekauften Werke umgehend in ihr Depot stellen oder die die erworbenen Werke sogar beim Künstler in seinem Magazin belassen. Sie nehmen sie also nicht einmal in Besitz, sondern erwerben nur das Eigentum daran. Sammler sammeln entweder Werke bestimmter Künstler oder Werke ausgewählter Themen bzw. Epochen. Soweit es sich um lebende Künstler handelt, ist der Direkteinkauf beim Künstler, der so genannte Atelierkauf, weitgehend die Regel. Da es sich beim Sammler um eine höchst attraktive Kundengruppe handelt, sind alle Galeristen naturgemäß sehr daran interessiert, solche Atelierverkäufe zu vermeiden. Folglich wird von Künstlern, die exklusiv von einer Galerie vertreten werden, ein Verzicht auf Atelierverkäufe erwartet. Diesen Anspruch wird eine Galerie aber nur dann geltend machen können, wenn sie mit vollem Einsatz im Interesse der von ihr vertretenen Künstler arbeitet. Weit häufiger als auf einen oder wenige Künstler konzentrieren sich Sammler auf Werke einer bestimmten Epoche, einer Region oder eines Themas. Hier sind Atelierkäufe nur in den seltensten Fällen möglich, stattdessen bedient sich der Sammler der ganzen Bandbreite des Kunsthandels vom Galeriekauf über Kunstmessen bis zu Kunstauktionen. Kunsthändler und Auktionshäuser kennen denn auch die Vorlieben der Sammler und sind bemüht, sie mit sehr zielgenauen Angeboten zu bedienen. Eine Ausnahme unter den Sammlern sind diejenigen, die Kunstwerke unter Gesichtspunkten der Rendite sammeln. Eine Renditeerwartung scheint gerechtfertigt zu sein, wenn man sich beispielsweise die Rekordpreise der klassischen Moderne bei Kunstauktionen der 80er Jahre vor Augen hält. So wurde Picassos Selbstbildnis Ich, Picasso 1981 für 5,83 Mio. US-$ ersteigert und 1989 für 47,8 Mio. US-$ wieder verkauft, was eine reale Nettorendite von 19,6 % pro Jahr bedeutet (vgl. Pommerehne/Frey 1993: 111). Doch sind dies Einzelfälle, die häufig nur dann auftreten, wenn eine bestimmte Kunstrich-

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tung kurzfristig auf übermäßiges Interesse stößt, wie beispielsweise die Kunst der so genannten »Neuen Wilden« in den 80er Jahren, die aber unberücksichtigt lassen, dass solche Moden sehr schnell vorübergehen können. In einer langfristigen Betrachtung, wie sie Pommerehne und Frey 1993 für den Kunstmarkt publiziert haben (ebd.: 116-128)9, zeigt sich überzeugend, dass Kunst als Geldanlage wenig zu empfehlen ist. »Die reale Rendite einer Geldanlage in Gemälde entspricht allenfalls der Hälfte der Realverzinsung von erstklassigen Staatsanleihen« (ebd.: 119). Ein besonderes wirtschaftliches Risiko ergibt sich für Sammlungen im Erbfall. Sind die Erben an der weiteren Pflege der Sammlung nicht interessiert, werden sie versuchen, die Sammlung über den Kunstmarkt zu veräußern. In aller Regel macht man dabei die Erfahrung, dass nur die besten Stücke der Sammlung für den Kunstmarkt von Interesse sind, während die meisten Stücke kaum zu veräußern sind. Der Markt wird dann mit mittelmäßiger unverkäuflicher Ware überschwemmt, was natürlich entsprechende Enttäuschungen bei den Erben zur Folge hat. Viele Sammler neigen deshalb dazu, schon zu Lebzeiten für die Sammlung eine Bleibe zu finden. Soweit die entsprechende wirtschaftliche Potenz vorhanden ist, werden von Sammlern eigene Museen errichtet, wie beispielsweise das Museum Burda in Baden-Baden oder das Museum Würth in Schwäbisch Hall. Als Alternative bietet sich die Dauerleihgabe oder Schenkung an den Staat an. Der Staat kann dann – wenn er Glück hat – die besten Stücke aus der Sammlung in die Ausstellung des städtischen oder staatlichen Kunstmuseum einfügen. Hat er weniger Glück, wird der Sammler von ihm verlangen, dass die Sammlung im Museum als Ganzes und zusammenhängend gezeigt wird, wie dies in den USA üblich ist. Um das sich daraus ergebende Dilemma für das Museum zu vermeiden, wurden in den 90er Jahren so genannte Sammlermuseen errichtet, die ausschließlich dem Zweck dienen, komplette Sammlungen zu zeigen. Aber keine der hier aufgezählten Varianten ist ohne Probleme. Das Hauptproblem besteht darin, dass solche Sammlungen eben die Sammlungen von Liebhabern sind, in die nicht selten Werke eingehen, die für den Sammler einen besonderen Bezug hatten, die aber einer objektiven und zeitlosen Bewertung nicht standhalten. So wurde beispielsweise die von NichtKennern hoch gelobte Sammlung des früheren Musical-Unternehmers Rolf Deyhle verschiedentlich der öffentlichen Hand angeboten; die Stadt Böblingen überlegte vorübergehend sogar, für seine Sammlung ein eigenes Sammlermuseum einzurichten. Doch als Ende der 90er Jahre Deyhle in finanzielle

9 Dazu wurden in einem Zeitraum von 352 Jahren 1.198 Transaktionen in die Untersuchung einbezogen.

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Bedrängnis kam und seine aus 249 Werken bestehende Sammlung verkaufen musste, brachte diese gerade mal 7,7 Mio. £, wobei fast die Hälfte dieser Summe allein auf ein Bild von Otto Dix entfiel (vgl. Herchenröder 2000: 40). Dies und wenig erquickliche Streitereien mit Sammlern bzw. deren Erben – man denke nur an das endlose Drama um die Sammlung Buchheim oder das eigenartige Spiel, das Bonn und andere Städte im Rheinland mit der Sammlung Grothe erleben mussten – haben bewirkt, dass Kommunen und Staat die Übernahme von privaten Kunstsammlungen nur noch sehr zurückhaltend angehen. Leider verstehen es Sammler sehr gut, ihr Anliegen an Politiker heranzutragen, die von der Sache naturgemäß wenig verstehen, sich aber durch die Idee eines spektakulären Sammlermuseums leicht vor den Karren des Sammlers spannen lassen. Gerade hier aber wäre es notwendig, dass sich die Politiker mehr zurücknehmen und das Feld den Experten überlassen. Doch selbst wenn die Qualität einer Sammlung außer Frage steht, bietet die Zusammenarbeit selten ausschließlich Anlass zur Freude. Peter Ludwig beispielsweise war zweifelsfrei ein exzellenter Kenner der Kunst und des Kunstmarktes. Doch war er nicht ohne Eitelkeit, so dass er die Stadt Köln zwang, das Wallraff-Richartz-Museum als das renommierte Kölner Kunstmuseum auszugliedern und das um Teile der Sammlung Ludwig vergrößerte Museum in Museum Ludwig umzubenennen. Das Wallraff-Richartz-Museum beschränkt sich jetzt nur noch auf Alte Kunst. Dagegen steht die Foundation Beyeler in Riehen bei Basel als positives Beispiel. Ernst Beyeler ist ein international anerkannter und erfolgreicher Kunsthändler und Galerist, der sein Sammlermuseum als eigenständige Stiftung und mit eigenen Mitteln eingerichtet hat. Etwas anders zu beurteilen sind Sammlungen, die von professionellen Beratern für Firmen zu Marketingzwecken erstellt werden. Die Rede ist vom Art Consulting, also von der Beratung von Wirtschaftsunternehmen in kulturellen Fragen durch Experten oder professionelle und spezialisierte Agenturen. Die Beratung bezieht sich im Bereich der bildenden Kunst in der Regel auf Kunstankäufe des Unternehmens, auch zum Zweck der Vermögensanlage, auf den Aufbau und die Pflege unternehmenseigener Kunstsammlungen, beispielsweise auch in der Form von Ausstellungen, sowie auf die Entwicklung und Umsetzung eines Kultursponsoring-Konzepts. Zweck einer solchen Sammler- und Ausstellertätigkeit ist die positive Positionierung eines Unternehmens außerhalb des reinen Gewinnstrebens. Das Unternehmen will das positive Image von Kunst nutzen, um einerseits gegenüber Kunden und Geschäftspartnern sympathischer und weniger kommerziell zu erscheinen und um andererseits die eigenen Mitarbeiter etwa durch eine wertvolle Büroausstattung und Kunstereignisse in der eigenen Firma zu motivieren. Große Unternehmen wie z.B. die Deutsche Bank beschäftigen eigene Art Consul-

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tants, während mittelständische Unternehmen sich in der Regel einer ArtConsulting-Agentur bedienen. Soweit Kunstwerke angekauft werden, ist der Kunsthandel verständlicherweise sehr daran interessiert, dass es zu Käufen über eine Galerie kommt und Atelierkäufe vermieden werden. Der Bundesverband deutscher Galeristen e.V. empfiehlt deshalb seinen Mitgliedern, bei Ankäufen im Rahmen des Art Consultings dem Käufer einen Nachlass von 10 bis 25 % einzuräumen. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass der Art Consultant aufgrund seiner Kenntnisse des Kunstbetriebs alle Möglichkeiten des Erwerbs von Kunstwerken nutzen wird. Denn letztlich sind es allein die erfolgreich verwerteten Marktkenntnisse, die den Art Consultant als neue Institution im kommerziellen Kunstbetrieb rechtfertigen. Art Consulting bildet eine wichtige Vermittlerposition zwischen Kultur und Wirtschaft. Wer im Art Consulting tätig ist, benötigt deshalb einerseits fundierte Kenntnisse in allen Belangen von Kunst und Kultur, sollte andererseits aber auch etwas von Marketing verstehen und in der Lage sein, sich mit den Unternehmenszielen seiner Kunden zu identifizieren. 3.3.2 Kunstmuseen und Kunsthallen Eine Doppelfunktion als Nonprofit-Vermittler von Kunst und als Kunde auf dem Profit-Markt nehmen die Kunstmuseen und Kunsthallen ein. Als Kunstmuseen bezeichnet man Einrichtungen der bildenden Kunst, die über eine eigene Kunstsammlung verfügen und die das Sammeln von Kunst ins Zentrum ihrer Aktivitäten rücken. Die Kunsthallen unterscheiden sich von Kunstmuseum dadurch, dass sie ursprünglich nur Ausstellungen zeigten, ohne über eigene Sammlungen zu verfügen. Doch verwischt sich dieser Unterschied mehr und mehr, weil inzwischen auch viele Kunsthallen eigene Sammlungen unterhalten. Das gilt auch für solche Häuser, die weder Kunstmuseum noch Kunsthalle heißen, die aber aufgrund ihrer Merkmale eindeutig den Kunstmuseen zuzuschreiben sind, wie beispielsweise die Staatsgalerie Stuttgart. Nach den Erhebungen des Instituts für Museumskunde beim Deutschen Museumsbund zählte man 2003 in Deutschland 611 Kunstmuseen; das sind 10 % aller Museen. Diese Museen verzeichneten im gleichen Jahr 17.040.504 Besuche10 und damit 17,3 % aller Museumsbesuche. Das bedeutet, dass die

10 Hier wie auch an anderer Stelle ist deutlich zu unterscheiden zwischen Besuchen und Besuchern; logischerweise werden in aller Regel die Besuche erfasst, nicht aber die Besucher.

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Kunstmuseen eine überproportional hohe Besuchszahl verzeichnen können, was nicht zuletzt auf die große Anzahl der Sonderausstellungen zurückzuführen sein dürfte. In der gleichen Statistik wurden 2003 auch insgesamt 363 Ausstellungshäuser erfasst, die 1.874 Ausstellungen zeigten. Davon waren wiederum 82,1 % dem Ausstellungsschwerpunkt Kunst zuzuordnen, weshalb man solche Häuser als Kunsthallen bezeichnet. Unter Kunsthallen versteht man mithin Einrichtungen, die zwar keine eigenen Sammlungen besitzen, aber wechselnde Ausstellungen musealen Charakters zeigen, wie z.B. die Deichtorhallen in Hamburg oder die speziell für Ausstellungszwecke errichtete Bundeskunsthalle in Bonn. Die Kunsthallen zählten 2003 nochmals etwa 5 Mio. Besuche, so dass in Kunstmuseen und Kunsthallen 2003 insgesamt etwa 22 Mio. Besuche verzeichnet werden konnten. Die Kunstmuseen haben in den letzten Jahren zunehmend auch Aufgaben der Kunsthallen übernommen, weil sich gezeigt hat, dass vor allem durch Wechselausstellungen die Besuchszahlen deutlich erhöht werden können. Dies wiederum hat die Kunsthallen veranlasst, auch ihrerseits die Ausstellungspolitik zu verändern; eindeutig geht die Tendenz in Richtung spektakuläre Großausstellung (führend sind diesbezüglich die Kunsthalle Tübingen, der Gropius-Bau Berlin, die Deichtorhallen Hamburg, die Schirn in Frankfurt am Main sowie die Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn). Mit hohen Anfangsinvestitionen (Leihgebühren für meist außerordentliche Kunstwerke, deren besonders teure Transporte und Versicherungen sowie aufwendige Katalogproduktionen) erarbeiten sie eigenständig bzw. in Kooperation mit großen Ausstellungsunternehmungen spektakuläre Kunstausstellungen, die sich nur durch eine internationale Zusammenarbeit und Vermarktung rentieren. Als Touristenattraktion sind Kunsthallen dadurch zunehmend zu einem kommunalen Wirtschaftsfaktor geworden. Die hohe Zahl der Besuche macht deutlich, in welchem Maße Kunstmuseen und Kunsthallen als Vermittler von Kunst auftreten. Wie andere Museen auch sind die Kunstmuseen und Kunsthallen Orte zur Pflege des kulturellen Erbes und Bildungseinrichtungen, die dieses Erbe auch der Öffentlichkeit zeigen und vermitteln. Nicht zufällig gehört Vermitteln zu den vier klassischen Aufgaben eines Museums: Sammeln, Bewahren, Forschen und Vermitteln. Gerade auch dort, wo zeitgenössische Kunst gezeigt wird, wirken Museen und Kunsthallen stil- und meinungsbildend. Doch neben der vermittelnden Rolle kommt allen Häusern, die eine eigene Sammlung unterhalten, auch noch eine wichtige Funktion als Käufer von Kunst zu. Noch vor zehn oder zwanzig Jahren waren Museumsleiter wichtige Kunden für Galeristen, auf Kunstmessen und in Kunstauktionen. Die Finanznöte der öffentlichen Hand haben leider zu der unsinnigen Sitte geführt, in

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allen Museen zunächst die Ankaufsetats zu reduzieren. Das mag zwar kurzfristig und mit Blick auf die nächste Wahl geschickt sein, weil dadurch das Museum keine Einschränkung der unmittelbar erkennbaren Leistungsfähigkeit erfährt, aber langfristig erweisen sich solche Sparmaßnahmen als Katastrophe. Wenn die massive Reduzierung des Ankaufsetats mehr als zehn Jahre anhält, wie dies inzwischen in vielen Museen der Fall ist, entstehen Lücken im chronologischen Aufbau der Sammlung, die sich nie wieder oder nur noch mit weit höherem Finanzaufwand schließen lassen. Zudem ist die fehlende Ankaufstätigkeit der öffentlichen Museen auch für den Kunstmarkt eine bittere Umsatzeinbuße. Man darf nicht übersehen, dass große Museen früher Ankaufsetats von mehreren Mio. DM hatten und dass selbst für kleine Museen ein Ankaufsetat von 100.000 DM keine Seltenheit war. Wenn von fehlenden Mitteln für die Kunstmuseen und Ausstellungshallen die Rede ist, wird gern auf Kunstsponsoring verwiesen und auf Kunstausstellungen, die von Unternehmen, Banken und Sparkassen veranstaltet werden. Doch Kunstausstellungen in Wirtschaftsbetrieben dienen der Kundenpflege und der Motivation der Mitarbeiter. Kritische und die bürgerliche Selbstzufriedenheit hinterfragende Kunst ist dafür aber nur wenig geeignet. Zudem sind die steuerrechtlichen Rahmenbedingungen für Kunstsponsoring sehr stark auf die Bedürfnisse der Unternehmen ausgerichtet. Demnach gilt auch eine firmeninterne Kunstausstellung als Kunstsponsoring. Das hat zur Folge, dass Wirtschaftsunternehmen bevorzugt Sponsoring im eigenen Haus betreiben und sich wenig für eine Partnerschaft mit Kunstmuseen oder anderen Ausstellern interessieren. Der großen Tradition der Kunstmuseen und damit der auf Kontinuität ausgerichteten Pflege einer in langer Zeit mit Sorgfalt entstandenen Kunstsammlung dient das Kunstsponsoring der Wirtschaftsunternehmen nur sehr selten. Das zeigt wieder einmal, dass sich die öffentliche Hand nicht mit dem Hinweis auf andere Akteure aus ihrer Verantwortung stehlen kann. Kunstmuseen und Kunsthallen sind aber auch noch aus einem nicht-monetären Grund für den Kunstbetrieb von Bedeutung. Wie bereits im Zusammenhang mit der Galeriearbeit erwähnt, sind Kunstmuseen und Kunsthallen die wichtigsten Meinungsbildner für zeitgenössische Kunst. Wenn ein Museum von einem zeitgenössischen Künstler ein Bild ankauft oder eine Kunsthalle seinem Werk eine Ausstellung widmet, erhöht dies den Wert des Künstlers bzw. seiner Werke ungemein.11 Das gilt selbst dann schon, wenn sich ein 11 Dieser Mechanismus des Kunstbetriebs treibt bisweilen bizarre Blüten: Ein Kustos eines Museums von internationalem Rang erzählte mir, dass er sich über Monate hinweg der Aufdringlichkeit eines Künstlers zu erwehren hatte, der ihn unbedingt zum Ankauf eines Werks von ihm animieren wollte. Als sich der Kustos

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Mitglied der Leitung solcher Einrichtungen auf einer Vernissage oder in einem Katalogbeitrag positiv äußert. Leiter und Kustoden angesehener Museen und Kunsthallen gelten als kompetent und durch ihr nicht-monetäres Interesse an der Sache auch als objektiv und vertrauenswürdig. Dass Galeristen und Künstler diesen Bonus für ihre kommerziellen Zwecke nutzen wollen, wurde bereits erwähnt. Es ist ein zweifellos verständliches, aber vor allem für die Mitarbeiter der Museen und Kunsthallen nicht ganz risikofreies Unterfangen. 3.4 Rahmenbedingungen des Kunstbetriebs Neben den im 2. Kapitel aufgeführten allgemeinen Rahmenbedingungen gelten für den Kunstbetrieb noch einige Rahmenbedingungen, mit denen auf die besondere Situation der bildenden Kunst eingegangen wird. Sie betreffen vor allem die öffentliche Kunstförderung im engeren Sinne, das Urheberrecht, das Folgerecht sowie den Komplex Ausbildung und Studium. 3.4.1 Öffentliche Kunstförderung Die Finanzstatistik von Bund, Ländern und Kommunen lässt leider nicht erkennen, welche Fördersummen ausschließlich der bildenden Kunst zugute kommen. Das Statistische Bundesamt und die Statistischen Landesämter kennen lediglich die Rubrik »Museen, Sammlungen und Ausstellungen«, unter der allerdings auch alle Museen und Sammlungen erfasst werden, die nicht der bildenden Kunst dienen. 2003 flossen in diesen Bereich insgesamt 1,296 Mrd. €. Da nur 10 % aller Museen Kunstmuseen sind, aber 80 % aller Ausstellungshallen Kunstausstellungen zeigen, ist der Anteil für die bildende Kunst nur schwer zu schätzen. Im Einzelnen fördert die öffentliche Hand die bildende Kunst auf höchst unterschiedliche Weise: a) Direkte und indirekte Künstlerförderung • Ausbildung von Künstlern an Kunstakademien • Förderung von Künstlern durch staatliche Stipendien und Preise

standhaft weigerte, schlug der Künstler vor, sich das doch noch einmal zu überlegen; er lasse ein Bild einstweilen dort. Wenig später las der Kustos in einem Ausstellungskatalog des besagten Künstlers: »Werke befinden sich u.a. in ...« und in dieser Liste wurde auch der Name seines eigenen Museums genannt (was ja auch nicht so ganz falsch war!).

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• Ankauf von Kunstwerken in staatlichen und kommunalen Sammlungen (auch außerhalb der Museen, beispielsweise zur Ausschmückung öffentlicher Räume) • Soziale Absicherung der bildenden Künstler durch die Künstlersozialkasse b) Bewahrung des kulturellen Erbes und Förderung der Präsentation von Kunst • Unterhalt und Förderung von Kunstmuseen, Kunstsammlungen und Kunstausstellungen • Durchführung von Kunstausstellungen in Rathäusern und anderen öffentlichen Gebäuden c) Allgemeine Kunstausbildung und Ausbildung von Fertigkeiten im Laienbereich (damit indirekt Förderung der Nachfrage nach Produkten des Kunstbetriebs) • Förderung des Kunstverständnisses und künstlerischer Fertigkeiten im Laienbereich durch Angebote in Volkshochschulen und kommunalen Kunstschulen • Kunstunterricht in den allgemeinbildenden Schulen d) Indirekte Förderung des Kunstbetriebs • Indirekte Förderung des Kunstbetriebs durch den verminderten Umsatzsteuersatz für den Handel mit Kunstwerken • Sicherung der Einkünfte bildender Künstler durch das Urheberrecht Wie die (nicht vollständige) Auflistung zeigt, ist die Förderung allein in ihrer Vielfalt beachtlich. Da fast alle Punkte bereits in anderen Kontexten angesprochen werden, ist eine gesonderte systematische Betrachtung hier nicht mehr erforderlich. Eine besondere Anmerkung verdient allerdings der ermäßigte Umsatzsteuersatz (Mehrwertsteuersatz), von dem auch bereits in Kapitel 2 die Rede war. Demnach wird auch in der bildenden Kunst für Originalwerke nur eine Umsatzsteuer in Höhe von 7 % der getätigten Umsätze fällig. Völlig unverständlich ist es aber in diesem Zusammenhang, dass Werke der Fotokunst nicht dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegen; hier gilt der volle Steuersatz von 16 %. Unverständlich ist diese Regelung nicht zuletzt deshalb, weil das Urheberrechtsgesetz künstlerische Fotografien ausdrücklich als Kunst bezeichnet und ihnen damit alle Rechte aus dem Urheberrechtsgesetz zugesteht. Auch im Ausland werden künstlerische Fotografien steuerrechtlich wie andere Kunstwerke behandelt, weshalb die in Deutschland praktizierte Unterscheidung nicht nachvollziehbar ist. Das eigentliche Problem aber sind die zurückgehenden Finanzmittel in

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der öffentlichen Kunstförderung. Die Finanzausstattung der Kunstmuseen lässt zum Teil sehr zu wünschen übrig, vor allem was die Ankaufsetats betrifft. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass auf diese Weise Lücken in der Sammlung entstehen, die sich später kaum noch schließen lassen. Besonders prekär ist die Finanzsituation auch in der freien Kunst- und Künstlerförderung. Die Zahl der Kunstausstellungen in den Kommunen, die wichtige Markteinstiegshilfen besonders für junge Künstler sind, geht erkennbar zurück. Freie Ankäufe außerhalb von Museen werden kaum noch getätigt. Stipendien, mit deren Hilfe auch einmal ein Kulturamt im Einzelfall einem Künstler helfen konnte, gibt es kaum noch. Hier bricht eine Kunstförderungskultur zusammen, die einmal zu den besonderen kulturellen Errungenschaften Deutschlands zählte. 3.4.2 Urheberrecht und Folgerecht Das Urheberrecht betont unter der Kapitelüberschrift »Verwertungsrechte« das Ausstellungsrecht (§ 15 UrhG). »Das Ausstellungsrecht ist das Recht, das Original oder Vervielfältigungsstücke eines unveröffentlichten Werks der bildenden Künste oder eines unveröffentlichten Lichtbildwerkes öffentlich zur Schau zu stellen« (§ 18 UrhG). Nach dem Urheberrechtsgesetz könnte der Künstler für eine Ausstellung seiner Werke durchaus eine angemessene Vergütung verlangen, doch gelingt es in der Regel nur sehr namhaften Künstlern, diesen Anspruch durchzusetzen. Hier gilt wiederum die Vertragsfreiheit, d.h. Künstler und Aussteller müssen sich auf eine Regelung verständigen. Diese wird im Allgemeinen so aussehen, dass sich der Aussteller verpflichtet, die Kosten der Ausstellung einschließlich einer professionellen Öffentlichkeitsarbeit zu übernehmen und gegebenenfalls auch den Ankauf eines Werks aus der Ausstellung zu garantieren. Wie für alle anderen Urherber ist auch für die Künstler der bildenden Kunst die neue Rechtslage zur Vervielfältigung von besonderem Interesse. Ursprünglich ging das Urheberrecht auch bei einer Vervielfältigung vom Wert des vervielfältigten Werks aus, d.h. es gab einen festen Vergütungssatz beispielsweise pro angefertigter Fotokopie. Nach dem neuen Urheberrecht ist der Vergütungsanspruch an den Wert des Gerätes gekoppelt, das die Vervielfältigung herstellt (§ 54 UrhG). Das hat aus der Sicht der Praktikabilität zweifellos Vorteile, weil sich die Zahl der verkauften Geräte leichter erfassen lässt als beispielsweise die Anzahl erstellter Fotokopien oder gar digitaler Kopien auf CD-ROM. Allerdings widerspricht die Verwertungsgesellschaft BILDKUNST (VG BILD-KUNST), die die Urheber- und Verwertungsrechte der Künstler vertritt, dieser neuen Regelung vehement.

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So berechtigt dieser Einwand zu sein scheint, so stößt eine andere Lösung wahrscheinlich schnell an ihre Grenzen. Im Endeffekt würde dies bedeuten, dass die Abgabe für Vervielfältigungen an der Speicherkapazität eines Geräts ausgerichtet werden müsste, was einen kaum vertretbaren Aufwand von Einzelerfassungen und Abrechnungen zur Folge hätte. Für den Bereich der bildenden Kunst von besonderem Interesse ist das so genannte Folgerecht (§ 26 UrhG), das international unter der Bezeichnung droit de suite13 bekannt ist. Darunter versteht man Ansprüche eines Künstlers der bildenden Kunst, wenn sein bereits verkauftes Werk an einen Dritten weiterveräußert wird. Damit will man die Künstler vor allem am Zugewinn von Jugendwerken beteiligen, die ehemals zu sehr niedrigen Preisen verkauft wurden, jetzt aber vielleicht zu wesentlich höheren Preisen gehandelt werden. Dieses Folgerecht gilt allerdings nur für Verkäufe von Kunsthändlern und Versteigerern, nicht aber für private Verkäufe. Da sich die Wertsteigerungen im Einzelfall häufig nur schwer festmachen lassen, schreibt das Gesetz vor, dass ein Pauschalbetrag von 5 % des Veräußerungserlöses an den Urheber zu entrichten ist. Weiter bestimmt das Gesetz zur Vereinfachung des Verfahrens, dass Ansprüche aus dem Folgerecht allein von einer Verwertungsgesellschaft – in diesem Fall die VG BILD-KUNST – geltend gemacht werden können. Das Folgerecht kann bemerkenswerte finanzielle Auswirkungen haben, beispielsweise auch für die Erben. Nach § 28 UrhG ist das Urheberrecht vererblich; nach § 64 UrhG erlischt es erst 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers. Was dies bedeuten kann, zeigt das Beispiel Picassos, der 1973 starb, also vor weniger als 70 Jahren. Herchenröder führt allein für die Zeit von 1989 bis 1999 Verkäufe von Picasso-Werken über den Kunsthandel bzw. über Kunstaktionen in einem Wert von mehr als 500 Mio. US-$ auf (vgl. Herchenröder 2000). Hätten alle diese Verkäufe in Deutschland oder einem anderen Land mit Fol12 Stellungnahme der VG BILD-KUNST zum Regierungsentwurf vom 22.3.2006 für ein »Zweites Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft«. 13 Das Folgerecht wurde erstmals in Frankreich eingeführt und hat deshalb im internationalen Kunsthandel traditionell eine französische Bezeichnung.

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gerecht stattgefunden, so stünde den Erben allein daraus eine Summe von 25 Mio. US-$ zu. Oder anders formuliert: dann wären diese Verkäufe um 25 Mio. US-$ teurer gewesen. Doch galt das Folgerecht ursprünglich nur in wenigen europäischen Staaten, weshalb in Staaten ohne Folgerecht (z.B. in Großbritannien und in den USA) die Veräußerung von Kunstwerken an Dritte für den Verkäufer wesentlich attraktiver war als beispielsweise in Deutschland. Dies war sicherlich eine der Ursachen dafür, weshalb vor allem der Kunstauktionshandel (z.B. mit den Auktionshäusern Christie’s und Sotheby’s) besonders in Großbritannien so florieren konnte. Nach langwierigen Verhandlungen einigten sich die EU-Staaten im März 2000 auf eine Neuregelung und Harmonisierung des Folgerechts, allerdings mit äußerst großzügigen Übergangsfristen. In den Ländern, die noch kein Folgerecht kennen, wird das Folgerecht erstmals 2006 eingeführt, allerdings zunächst nur für den Weiterverkauf von Werken noch lebender Künstler. Erst ab 2016 gilt dann das Folgerecht auch für Werke bereits verstorbener Künstler. In den USA aber gibt es weiterhin kein Folgerecht, weshalb die großen Auktionshäuser ihre Aktivitäten zunehmend nach New York verlagern. Picassos Erben – um auf das Beispiel zurückzukommen – gingen denn auch weitgehend leer aus, denn fast alle seine Werke wurden in London oder New York verkauft. Für den Kunsthandel und für Auktionshäuser bringt die Abrechnung der Veräußerungserlöse aus dem Folgerecht einen hohen Verwaltungsaufwand mit sich. Hinzu kommt, dass neben den Ansprüchen aus dem Folgerecht auch die Künstlersozialabgabe nach der Künstlersozialversicherung (vgl. Abschnitt 2.4) abzurechnen ist. Um das komplizierte Abrechnungsverfahren für beide Abgaben zu erleichtern, haben sich die Kunstvermarkter und -verwerter mit der Verwertungsgesellschaft BILD-KUNST darauf verständigt, einen Betrag von ca. 1 % des Umsatzes anstelle von Künstlersozialabgabe und Folgerechtsabgabe pauschal zu zahlen. Dieser relativ niedrige Prozentsatz ergibt sich dadurch, dass in den Gesamtumsätzen auch solche Umsätze enthalten sind, aus denen sich keine Abgabepflichten aus dem Folgerecht oder aus der Künstlersozialversicherung ergeben. Der Pauschbetrag wird immer wieder neu für einige Jahre errechnet; im Jahr 2004 betrug er 1,2 % des Gesamtumsatzes. Allerdings hat man sich innerhalb der EU auf eine Harmonisierung des Folgerechts verständigt. Die Bundesregierung beabsichtigt, diese Harmonisierungsregelung im Rahmen eines Zweiten Urheberrechtsänderungsgesetzes (dem so genannten »Korb 2«) zu übernehmen. Dann gilt folgende Staffelung der Folgerechtsvergütung nach Verkaufserlösen:

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Tabelle 4: Folgerechtsabgabe nach dem Entwurf zum Zweiten Urheberrechtsänderungsgesetz (Korb 2) vom Januar 2006 Verkaufserlös bis 1.000 €

Folgerechtsvergütung abgabefrei

über 1.000 € bis 50.000 €

4%

über 50.000 € bis 200.000 €

3%

über 200.000 € bis 350.000 €

1%

über 350.000 € bis 500.000 € über 500.000 €

0,5 % 0,25 %

Insgesamt darf die Folgerechtsvergütung je veräußertem Werk nicht mehr als 12.500 € betragen. Zwar ist die Neuregelung ein Fortschritt gegenüber der relativ hohen einheitlichen Abgabe von 5 %, auch ist die Erhöhung der Bagatellgrenze von 50 € auf 1.000 € sicherlich sinnvoll, doch ist ein erheblicher Abrechnungsaufwand absehbar. Gleichwohl stimmt der Kunsthandel der neuen Regelung überwiegend zu, da damit vor allem eine Harmonisierung des Folgerechts innerhalb der EU einhergeht. Das reduziert die Wettbewerbsnachteile für den deutschen Kunsthandel und sichert den Künstlern gleichzeitig auch Folgerechtsvergütungen für Verkäufe in Ländern zu, für die ein Folgerecht bisher nicht galt (vor allem Großbritannien, Niederlande und Österreich). Zweifellos ist das Folgerecht ein Gewinn für Künstler, die erst relativ spät auf dem Kunstmarkt erfolgreich wurden. Insofern ist es – gerade auch im Sinne einer sozialen Gerechtigkeit – unbedingt zu begrüßen. Allerdings ist das Folgerecht so lange unbefriedigend, wie es nicht in allen Staaten gilt. Glückt die angestrebte Harmonisierung innerhalb der EU, so gibt es zumindest ab 2016 einen einheitlichen Rechtsraum, ohne Vor- und Nachteile für einzelne Länder. Der alte britische Slogan, deutsche Kunst kaufe man am besten in England (weil deutsche Kunst dort wegen des fehlenden Folgerechts billiger ist), gilt dann nicht mehr. Andererseits spielt sich der Kunsthandel nicht nur in der EU ab. Erwähnt wurde bereits, dass in den USA weiterhin kein Folgerecht gilt und deshalb große Teile des europäischen Kunsthandels zunehmend in Übersee stattfinden. Beachtet werden muss zudem, dass auch die Schweiz, die bekanntlich nicht zur EU gehört, kein Folgerecht kennt. Dies hat zur Folge, dass sich seit der (angekündigten) Einführung des Folgerechts in Großbritannien und der (tatsächlichen) Einführung in den Niederlanden und in Österreich der europäische Kunsthandel zunehmend in die Schweiz verlagert. Das Auktionshaus Christie’s tätigt inzwischen rund 40 % seines europäischen Umsatzes allein in Zürich. Zudem haben einige führende Kunstgalerien Deutschland als Standort aufgegeben und haben sich in Zü-

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rich, Zug, Basel oder St. Moritz angesiedelt.14 Es könnte mithin der Fall eintreten, dass nicht die Künstler vom Folgerecht profitieren, sondern die Global Players des Kunsthandels, die ihre Aktivitäten in die letzten folgerechtsfreien Staaten verlagern. Für die Umsetzung aller Ansprüche der Urheber aus dem Urhebergesetz ist im Bereich der bildenden Kunst die Verwertungsgesellschaft BILD-KUNST zuständig. Sie ist – ähnlich wie auch die anderen Verwertungsgesellschaften (vgl. Abschnitt 2.2) – ein von den Urhebern gegründeter Verein, der für die Urheber deren individuelle Rechte durchsetzt (Folgerecht, Vervielfältigungsrechte usw.) sowie die Abgaben aus dem Urheberecht einzieht und sie an die Berechtigten verteilt. Die VG BILD-KUNST unterscheidet drei Berufsgruppen: Berufsgruppe I Berufsgruppe II

Bildende Künstler, Verleger Fotografen, Bildjournalisten, Designer, Karikaturisten, Pressezeichner, Bildagenturen, Verleger Berufsgruppe III Regisseure, Kameraleute, Cutter, Szenen- und Kostümbildner, Filmproduzenten Die VG BILD-KUNST hat im Jahr 2004 Erlöse aus Urheberrechtsabgaben in Höhe von 34,4 Mio. € erzielt. Davon entfiel etwa die Hälfte auf die bildende Kunst (einschließlich Fotografie) (siehe Tab. 5). Tabelle 5: Aufkommen der VG BILD-KUNST in 2004 für den Bereich bildende Kunst (einschließlich Fotografie) Aufkommensgebiet

Aufkommen in 1.000 €

Folgerecht der bildenden Künstler

2.717

Reproduktionsrechte (Kunst und Fotografie)

3.310

Fotokopier-Geräteabgabe

8.241

Fotokopier-Betreiberabgabe

725

Fotokopier-Betreiberabgabe an Schulen

306

Pressespiegel

189

Lesezirkel

152

Kabeleinspeisung Kunst/Foto

458

Summe

16.098

14 Beispielsweise gab 2005 die renommierte Galerie Gmurzynska ihren traditionellen Standort Köln auf und verlegte ihren Hauptsitz nach Zürich.

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Die Tabelle zeigt, dass vor allem die Reproduktionsrechte wirtschaftlich interessant sind, womit auch verständlich ist, weshalb die VG BILD-KUNST auf eine angemessene Abgabe aus dem Verkauf von Vervielfältigungsgeräten drängt. 3.4.3 Ausbildung und Studium Bildende Künstler benötigen in aller Regel eine relativ lange Ausbildungsund Entwicklungsphase. Von einigen Autodidakten abgesehen, findet die Ausbildung künftiger bildender Künstler entweder in einer staatlichen Kunstakademie oder in einer privaten Kunstakademie bzw. Kunstschule statt. Die Hochschulrektorenkonferenz zählt in Deutschland insgesamt 21 staatliche oder staatlich anerkannte Kunstakademien. Fünf der 21 Akademien haben sich auf Medien oder auf Design spezialisiert, während die übrigen 16 zumindest überwiegend in der Tradition der Freien Kunst stehen. In Berlin und Bremen wurden die Kunstakademien mit den Musikhochschulen zu so genannten Universitäten der Künste zusammengefasst. Im Wintersemester 2002/03 studierten insgesamt ca. 13.500 Studenten an staatlichen bzw. staatlich anerkannten Kunstakademien. Neben den Standardfächern Freie Kunst/Freie Malerei, Grafik und Bildhauerei/Plastik können an einzelnen Akademien auch Fächer wie Architektur, Design, Glasgestaltung, Goldschmiedekunst, Freie Keramik, Buchkunst, Medienkunst und Restauration studiert werden. Das Studium schließt zur Zeit noch in der Regel mit einem Diplom ab; die Umstellung auf Bachelor- bzw. Master-Abschlüsse steht aber in den nächsten Jahren an. Neben diesen Ausbildungsinstituten mit staatlichem oder staatlich anerkanntem Abschluss gibt es noch eine große Zahl so genannter Freier Kunstschulen, die sich in Qualität und Quantität häufig sehr unterscheiden. Nicht selten dient das dortige »Studium« lediglich der Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Akademie. Die Auswahl der Fächer und die Zahl der dort eingeschriebenen Studenten ist nur schwer ermittelbar. Von den Absolventen der staatlichen bzw. staatlich anerkannten Ausbildungsstätten wählt ein nicht unerheblicher Teil den Beruf des Kunstpädagogen, sei es als Lehrer an einer allgemeinbildenden Schule oder als Lehrer an einer kommunalen oder privaten Kunstschule. Dieser Teil der Absolventen ist häufig weiterhin frei künstlerisch tätig, allerdings durch das Haupteinkommen als Lehrer wirtschaftlich abgesichert. Dies gilt auch für die Absolventen, die in einem anderen Beruf unterkommen (z.B. als Grafiker), die aber weiterhin nebenberuflich als Künstler tätig sind und eigene Ausstellungen veranstalten sowie Kunstwerke auf dem Markt anbieten.

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Insgesamt leistet der Staat durch die professionelle Ausbildung einen erheblichen Beitrag zur Qualität des künstlerischen Schaffens und zur Sicherstellung des Kunstbetriebs. Umso mehr muss es verwundern, dass das Engagement zur Förderung der Ausbildung junger Künstler keine adäquate Entsprechung in der Förderung der Berufschancen der Absolventen findet. Ähnlich wie auch im Musikbereich nimmt die Zahl der Ausbildungsplätze eher zu, während gleichzeitig die Zahl der Arbeitsplätze und der beruflichen Chancen deutlich rückläufig ist. 3.5 Standortbestimmung und Perspektiven Vergleicht man die Situation der Nonprofit-Vermittler mit der der Profit-Vermarkter, so zeigt sich ganz deutlich, dass die Expansion im Sinne eines Wachstumsmarktes allein bei den Profit-Vermarktern stattfindet. Im Nonprofit-Bereich ist dagegen allgemein Verunsicherung angesagt. Die Kunstvereine stehen – wieder einmal – vor einer Legitimationskrise, die in Wirklichkeit eine Marktpositionierungskrise ist, und kämpfen vor allem gegen schwindende Zuschüsse. Vielen professionell geführten städtischen Galerien werden ebenfalls die Mittel gekürzt, wenn sie nicht sogar gänzlich geschlossen werden. Hunderte von Ausstellungen in Rathausfoyers, Zehntscheuern und Kulturzentren werden nur noch von Wanderausstellungen der Agenturen bespielt. Lediglich die Ausstellungen der Banken und Sparkassen feiern unbekümmert Erfolge, weil sie längst Teil des firmeninternen Sponsorings geworden sind und sich mithin hervorragend im Marketing einsetzen und sogar noch als Betriebsausgaben absetzen lassen. Dagegen zeigen die Umsatzzahlen im Kunsthandel und in Kunstauktionen wieder steigende Tendenz. Nach Einbrüchen in den 90er Jahren wegen einer kurzen Überhitzung Ende der 80er Jahre hat sich der Markt heute wieder konsolidiert und gilt allgemein als gut gesicherte Branche im Kulturbetrieb, die zumal mit dem Art Consulting – durchaus eine strategische Innovation im Kunstbetrieb – noch einen zusätzlichen Schub erhalten hat. Doch dieses vereinfachte Bild – dort der um die Finanzierbarkeit kämpfende Nonprofit-Bereich und hier der boomende kommerzielle Kunstbetrieb – täuscht über die wahrscheinlich gravierendste Veränderung im Kunstbetrieb hinweg, weil sie sich innerhalb des Profit-Bereichs abspielt. Wie bereits gesagt, wurden zwischen 1987 und 1990 im Auktionshandel Rekordpreise gezahlt, die aber auf Dauer nicht haltbar waren.15 So wurde beispielsweise van Goghs Porträt des Docteur Gachet 1990 für 82,5 Mio. US-$ ersteigert, brachte 15 1989, auf dem Höhepunkt des Booms, dürften weltweit 15 Mrd. US-$ umgesetzt worden sein (vgl. Herchenröder 2000: 9).

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aber bei seinem Wiederverkauf 1997 nur weniger als 50 Mio. US-$ (vgl. Herchenröder 2000: 28). Das Auktionshaus Sotheby’s, das noch 1989/90 einen Umsatz von 3,2 Mrd. US-$ verzeichnete, fiel schon zwei Jahre später auf 1,14 Mrd. US-$ zurück (vgl. ebd.: 336). Der Aktionshandel stand vor einer bedrohlichen Situation, die nur durch eine strategische Neuorientierung gemeistert werden konnte. Diese strategische Neuorientierung erfolgte in der Weise, dass sich auch die Auktionshäuser seit Ende der 90er Jahre dem so genannten »Endkunden« zuwendeten. Waren die Auktionshäuser früher in erster Linie Beschaffungsmärkte für Händler und wenige Sammler, also eher eine Art Großhändler, so zielen die Auktionshäuser heute verstärkt auch auf den Privatkunden, treten also als Einzelhändler auf. Hintergrund für das offensive Auftreten der Auktionshäuser ist das weitgehend stagnierende Angebot auf dem Kunstmarkt, vor allem was die Kunst verstorbener Künstler betrifft. Dies aber hat zur Folge, dass ein Wachstum nur über eine Erhöhung der Nachfrage bzw. durch das Finden neuer Kundengruppen möglich ist (vgl. dazu ausführlich und kompetent Boll 2005). Die Folgen dieser Expansionspolitik der Auktionshäuser zeigen sich vor allem im traditionellen Kunsthandel. Der Kunsthändler, der seinen festen Kundenstamm betreut und sich im Auftrag von Sammlern auf die Suche nach den richtigen Werken macht, erlebt immer häufiger, dass die Auktionshäuser mit einem Netz von Außenstellen ähnliche Dienstleistungen anbieten, indem sie beispielsweise auch Verkäufe außerhalb der Auktion ermöglichen. Zudem wächst – wie man spätestens seit dem Buch von André Mailfert16 weiß – für jeden Käufer das Risiko, gefälschte oder gestohlene Ware angeboten zu bekommen. Hier aber haben die kleinen Galerien allein schon wegen fehlender Kenntnisse und erkennungstechnischer Ausstattung kaum die Möglichkeit, diese Risiken auszuschalten. Stattdessen nutzen die großen professionell geführten Auktionshäuser mit ihren zahlreichen Experten offensiv auch diesen Wettbewerbsvorteil. Herchenröder stellt denn auch fest: »Die umfassende Expensionspolitik der Auktionsriesen Sotheby’s und Christie’s nimmt seit Beginn der 90er Jahre immer mehr den Charakter einer tödlichen Umarmung des Handels an« (Herchenröder 2000: 22). Nun mag man eine solche Veränderung noch als typische Entwicklung des Marktes abtun, zumal sie für den Kunden von Vorteil ist. Dennoch zeich16 Mailfert, André 1935/1967. Mailfert kam schon Anfang des 20. Jahrhunderts auf die geniale Idee, Antiquitäten zu fälschen und sie als Fälschungen den Kunst- und Antiquitätenhändlern anzubieten, die sie dann wiederum als vermeintlich echte Ware weiterverkauften. Damit trat er gegenüber dem Endkunden nicht als Fälscher auf und blieb selbst ein unbescholtener Mann, der seine Lebensgeschichte sogar gefahrlos in einem Buch veröffentlichen konnte.

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nen sich für den Kunstbetrieb auch Nachteile ab, die nicht zu unterschätzen sind. So tragen viele kommerzielle Galerien mit ihren Ausstellungen vor Ort auch zum Kulturleben einer Stadt bei; fallen diese Galerien weg, wird auch das Kulturleben ärmer. Vor allem aber treten viele auch als Förderer von Künstlern auf, indem sie diese Künstler schon in jungen Jahren aufbauen, sie auch in schwierigen Zeiten stützen und auch in den Zeiten des Erfolgs mit professioneller Kompetenz betreuen. »Kein Versteigerungsunternehmen wird sich in Krisenzeiten den Luxus leisten, junge Künstler, die noch keine solide Marktposition haben, mit durchzuziehen« (ebd.: 189). Dieses für den Kunstbetrieb höchst wichtige Element könnte wegfallen, wenn sich die großen Auktionshäuser als dominierende Faktoren im Kunstbetrieb durchsetzen sollten. Abschließend sollte noch einmal ein Blick auf den Kunstbegriff geworfen werden. Es wurde schon im Vorwort gesagt, dass Kunst im Kulturbetrieb stattfindet. Es wurde auch schon im Rahmen der Einleitung definiert, dass Kunst alles das sei, was der Kunstbetrieb als Kunst präsentiere (Abschnitt 1.1). Nach der Vorstellung der Sparte bildende Kunst des Kulturbetriebs scheint diese Aussage berechtigter zu sein denn je. Der Kunstbetrieb ist nicht nur im kommerziellen, sondern auch im Nonprofit-Bereich so dominierend geworden, dass alles, was sich außerhalb dieses Kunstbetriebs abspielt, nicht mehr wahrgenommen wird. Ein Künstler, dessen Name und dessen Werke weder in Ausstellungen der Kommunen noch im Kunsthandel oder auf Kunstauktionen vorkommen, gilt nicht als Künstler. Das hat zur Folge, dass künstlerisch-formale oder ästhetische Aspekte nicht mehr zur Bewertung und Kategorisierung herangezogen werden, sondern nur noch die Präsenz im Kunstbetrieb. 3.6 Internetadressen und Standardwerke http://www.arbeitskreis-kunsthandel.de/ Arbeitskreis Deutscher Kunsthandelsverbände (ADK) http://www.bildkunst.de/ Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst http://www.bbk-bundesverband.de/ Bundesverband Bildender Künstlerinnen und Künstler http://www.bvdg.de/ Bundesverband Deutscher Galerien e.V. http://www.igbk.de/ Internationale Gesellschaft der Bildenden Künste http://www.kunstfonds.de/ Stiftung Kunstfonds e.V. http://www.kunstvereine.de/ Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kunstvereine e.V. (ADKV)

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Blomberg, Katja (2005): Wie Kunstwerte entstehen, Hamburg Bonus, Holger/Ronte, Dieter (1997): Die Wa(h)re Kunst. Markt, Kultur und Illusion, 2. Aufl., Stuttgart Drinkuth, Friederike Sophie (2003): Der moderne Auktionshandel. Die Kunstwissenschaft und das Geschäft mit der Kunst, Köln, Weimar Herchenröder, Christian (2000): Kunstmärkte im Wandel. Vom Jahrzehnt des Umbruchs in die Gegenwart, Düsseldorf Herstatt, Claudia (2002): Fit für den Kunstmarkt. Das umfassende Nachschlagewerk zum Kunstmarkt. Mit 200 Einträgen, ausführlichen Adressenangaben, Öffnungszeiten und zahlreichen Tipps für Einsteiger und Fortgeschrittene, Ostfildern KunstAdressbuch Deutschland, Österreich, Schweiz 2006/2007, 17. Aufl., München Meyer, Jörn-Axel/Even, Ralf (Hrsg.) (2002): Die Zukunft des Kunstmarktes. Zu Sinn und Wegen des Managements für die Kunst, Lohmar Ressler, Otto Hans (2001): Der Markt der Kunst, Wien Weinhold, Kathrein (2005): Selbstmanagement im Kunstbetrieb. Handbuch für Kunstschaffende, Bielefeld

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Dank elektronischer Wiedergabemöglichkeiten ist Musik heute allgegenwärtig. Nicht nur im Konzertsaal oder vor der heimischen Hi-Fi-Anlage, sondern auch im Kaufhaus, im Auto, am Strand, in der Fußgängerzone: Stets ist Musik zu hören, und dies nicht selten eher unfreiwillig. Wer der erzwungenen Musikbeschallung entgehen möchte, tut dies nicht selten ebenfalls mit Hilfe der Musik, indem er sich über Kopfhörer seine individuell ausgesuchte Musik anhört. So lässt sich mit Hilfe von Musik joggen, die morgendliche Straßenbahnfahrt überstehen oder auf dem Fahrrad der Verkehrslärm unterdrücken. Galt das Tauchen unter Wasser lange Zeit als letztes Refugium vor dem permanenten Umgebungslärm, so haben findige Wellness-Manager inzwischen erkannt, dass sich Musik unter Wasser besonders gut genießen lässt. Immer handelt es sich um Musik, die irgendwann komponiert und von Musikern produziert wurde, die also aus dem Musikbetrieb hervorgegangen ist bzw. – richtiger gesagt – immer noch Teil des Musikbetriebs ist. Die Allgegenwärtigkeit von Musik hat den Musikbetrieb zum am häufigsten konsumierten Segment des Kulturbetriebs werden lassen. Dank moderner Technik kann die über Tonträger und andere Medien aufgezeichnete Musik beliebig gespeichert und nahezu ohne Verlust von klanglicher Qualität reproduziert werden. Dieser Vorteil macht die Musik zu etwas Alltäglichem. Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass Musik nur in ihrer Form der technischen Reproduktion alltäglich ist. Dieser Reproduktion aber geht die Produktion, also die Komposition und interpretierende Aufführung von Musik, voraus. Ohne Komposition und Interpretation ist keine Reproduktion möglich. Folglich gehört zum Musikbetrieb weit mehr als nur der Absatz von Tonträgern, auch wenn manchmal die Berichte im Wirtschaftsteil der Zeitungen etwas anderes glauben lassen. Zwar wird auch in diesem Buch vom Musikbetrieb im Sinne der phonografischen Wirtschaft zu sprechen sein, doch dürfen dabei Musiker, Ensembles, Musikausbildung und Musikvermittlung nicht ausgeblendet werden. 4.1 Rückblende Allein die schlichte Feststellung, dass man heute über das Radio, über einen CD-Spieler oder einen MP3-Player jederzeit Musik hören kann, während früher dazu – wenn man nicht selbst musizierte – der Besuch eines Konzerts erforderlich war, zeigt deutlich, dass der Musikbetrieb vor allem seit dem 19. Jahrhundert erhebliche Veränderungen durchlebt hat. Doch nicht nur technische Entwicklungen wirkten auf die Wandlungen des Musikbetriebs ein, sondern auch politische, gesellschaftliche und vor allem wirtschaftliche

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Umwälzungen. Sie führten dazu, dass der Musikbetrieb seit dem Mittelalter immer wieder neuen Herausforderungen ausgesetzt war, die nicht selten auch auf die künstlerische Entwicklung Einfluss nahmen. Gleichzeitig gab es aber auch bemerkenswerte künstlerisch-ästhetische Entwicklungen, die eine Veränderung des Musikbetriebs erforderlich machten. Mithin wird sich im Folgenden zeigen, dass der Musikbetrieb sowohl von innen heraus, also künstlerisch-ästhetisch, als auch durch äußere Rahmenbedingungen beeinflusst und weiterentwickelt wurde. Von einem Musikbetrieb nach heutigem Verständnis konnte man im Mittelalter noch kaum sprechen. Ansätze hierzu findet man aber in den Kirchen und Klöstern, wo spätestens seit dem 9. Jahrhundert der Gregorianische Choral gepflegt wurde, für dessen Ausführung man sogar eigene Sängerschulen, beispielsweise in St. Gallen, unterhielt. Als Angehörige der Klöster waren diese Sänger und Musiker entsprechend sozial abgesichert. Im 12. und 13. Jahrhundert traten zunächst an den Höfen Frankreichs die Troubadours auf, denen im deutschsprachigen Raum die Minnesänger folgten. Sie waren in erster Linie Dichter, die ihre Texte zu selbst komponierten Melodien sangen. Deshalb sind zwar viele ihrer Texte, aber nur wenige Melodien überliefert. Minnesänger waren vorwiegend Adelige und Ritter, die also den Minnesang keinesfalls zum Broterwerb betrieben. Ganz anders dagegen die Spielleute, die von ihrer Musik leben mussten. Hier gab es schon früh sowohl den am Hof angestellten als auch den freischaffenden Musiker, der sich als so genannter fahrender Spielmann mit den Gegebenheiten der Nachfrage auseinander setzen musste. Die am Hof angestellten Spielleute standen nicht selten im Dienst der adeligen Minnesänger bzw. Troubadours. »Die angeseheneren Troubadours trugen nämlich ihre Dichtungen nicht selber vor, sondern ließen sie von gedungenen Spielleuten vortragen« (Hauser 1953: 236). Den fahrenden Spielleuten gelang es schon recht früh, sich zu so genannten Musikantenzünften zusammenzuschließen, die erkennbar den Handwerkszünften nachempfunden waren. Die älteste Korporation dieser Art war die 1288 gegründete Nikolaibruderschaft in Wien, die erst 1782 aufgelöst wurde. Nach den Statuten dieser Zünfte durfte niemand im Bezirk einer Zunft spielen oder singen, der dieser Zunft nicht angehörte. Im 15. Jahrhundert entstanden aus den Musikantenzünften die Gilden der Stadt- und Kunstpfeifer (Stadtzinkenisten), die unter der Leitung eines Stadtmusikus (Stadtzinkenmeisters) standen und das obrigkeitliche Privilegium hatten, bei allen öffentlichen Gelegenheiten wie beispielsweise Hochzeiten und Begräbnissen zu musizieren sowie den Wachdienst und das Abblasen auf dem Rathaus- oder Kirchturm zu versehen. Bemerkenswert ist hieran, dass sich die Musiker als Handwerker verstanden und sich deshalb auch wie Handwerker verhielten.

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So konnte ein Musiker nur Mitglied der Zunft bzw. Gilde werden, der zunächst beim Stadtmusikus als Lehrling tätig war und nach überstandener Lehrzeit wie ein Handwerksgeselle losgesprochen worden war. Das entsprach durchaus der Denkweise der Renaissance, in der sich jeder Künstler vorrangig als Handwerker verstand. Zudem ist bemerkenswert, dass es – weit vor der Einführung des Urheberrechts – bereits erste Bemühungen gab, die musikalisch-künstlerische Leistung rechtlich und damit auch wirtschaftlich abzusichern. Eine besondere Erscheinungsform des Musiklebens der Renaissance waren die Meistersinger. Sie traten bereits im Spätmittelalter als singende Handwerker auf, die ihre Gesangskunst in geschlossenen Gesellschaften pflegten. Im 15. und 16. Jahrhundert gab es in zahlreichen Städten so genannte Singschulen, in denen der Meistersang nach strengen Regeln gepflegt wurde und im so genannten Hauptsingen in der Kirche sowie im Zechsingen im Gasthaus seinen öffentlichen Auftritt fand. Diese Singschulen traten zudem regelmäßig im öffentlichen Wettstreit gegeneinander an. Bekanntester Meistersinger war Hans Sachs (1494-1575), von dem etwa 4.000 Lieder und zahlreiche Singspiele überliefert sind. Insgesamt gab es etwa 16.000 Lieder, die von den Meistersingern gepflegt und mündlich tradiert wurden. Der Meistersang wurde in Ulm noch bis 1839 und in Memmingen sogar bis 1875 gepflegt. Für eine historische Betrachtung des Musikbetriebs sind die Meistersinger deshalb von besonderem Interesse, weil hier erstmals aus einem Umfeld heraus, das man im Rückblick als bürgerlich bezeichnen könnte, ein Musikleben aufgebaut wurde. Damit zeichneten sich bereits nach Mittelalter und Renaissance die gesellschaftlichen Gruppen ab, die bis heute ganz wesentlich den Musikbetrieb absichern, nämlich die Kirchen, die Fürstenhöfe bzw. der den Höfen nachfolgende Staat sowie das Bürgertum. Doch trotz erkennbarer Wurzeln sind im 15. Jahrhundert nur in Einzelfällen Elemente erkennbar, die dem heutigen Musikbetrieb vergleichbar wären. »Wegweisende Impulse gingen von der berühmten Hofkapelle Kaiser Maximilians I. aus [...]. Sie begleitete den Kaiser auf seinen Reisen und war u.a. in Augsburg, Innsbruck und Wien zu hören. Auch die Münchner Hofkapelle Albrechts I., deren Leiter Orlando di Lasso bis zu seinem Lebensende war, besaß überregionalen Ruf [...]« (Werner-Jensen u.a. 2001: 71).

Das lässt bereits an heutige Staatsorchester denken, die auf Konzertreisen nicht selten als »Botschafter« ihres Landes eingesetzt werden. Das Barock war die Zeit des Absolutismus, in der die Fürsten ihre sich selbst legitimierende Herrschaft auslebten und die Kirche in der Gegenrefor-

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mation ihre Stärke demonstrierte. Beide – Staat wie Kirche – zeigten ihren Macht- und Herrschaftsanspruch vor allem mit den Mitteln der Künste, vorrangig mit Hilfe von Architektur, Plastik und Malerei, aber auch über die Musik. In dieser Zeit entstanden die ersten Oratorien und Orchesterkonzerte, die ersten großen Solokonzerte sowie – als typische Erscheinungsform des Barock – die Oper (vgl. Herrmann 2006). Die Oper, die dem Bedürfnis der Zeit nach prunkvoller Selbstdarstellung und lustvoller Schwelgerei am ehesten entsprach, wurde vorübergehend zur unbestrittenen Krone des Musiklebens. In Venedig gab es zeitweilig acht Opernhäuser gleichzeitig; andere Zentren im Italien des 17. Jahrhunderts waren Rom, Florenz und Neapel. Etwas zeitversetzt fasste die Oper auch in Frankreich, in England und im deutschsprachigen Raum Fuß, wo Wien und Dresden die ersten Zentren des Opernlebens waren. Doch trotz ihrer europaweiten Ausdehnung blieb sie zunächst eine italienische Gattung, weshalb nicht selten italienische Komponisten und Musiker auch an deutschen Opernhäusern tätig waren. So verpflichtete beispielsweise der württembergische Hof den italienischen Komponisten Niccolò Jommelli (1714-1774), der dort von 1753 bis 1769 wirkte und dem in der damaligen Residenzstadt Ludwigsburg ab 1765 das zu jener Zeit größte Opernhaus Deutschlands zur Verfügung stand. Goethe, der das Opernhaus 1779 und 1797 besuchte, berichtete von einem »merkwürdigen Gebäude«, das »ungeheuer hoch« war und im Innern »vier Logen enthält« (zit.n. Belschner 1969: 168). Hier wie anderswo wurde vorrangig an höfischen Theatern gespielt, wo die Opernaufführungen den Repräsentationsbedürfnissen des Fürsten dienten. In Deutschland und Österreich erlebte die Oper ihren großen Durchbruch erst im 18. Jahrhundert. Durch die von Christoph Willibald Gluck (1714-1787) eingeleitete Opernreform (Orpheus und Eurydike, 1762) konnte sich die Oper im deutschsprachigen Raum erstmals von der italienischen Tradition absetzen. Zu einer eigenständigen Gattung entwickelte sich die Oper im deutschsprachigen Raum aber erst mit Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791). Mit seiner Oper Die Zauberflöte gelang es sogar, erstmals »eine Teutsche Oper« zu schaffen, wie Mozart sie selbst bezeichnete. Die Aufführungen fanden nun nicht mehr nur in Hoftheatern statt, sondern auch in kommerziellen Häusern, die von einem Impressario geleitet wurden. Bekanntestes Beispiel ist »Das Theater an der Wien«, das 1801 von Emanuel Schikaneder (1751-1812), dem Librettisten der Zauberflöte, gegründet und betrieben wurde. Die Loslösung vom Hoftheater galt vor allem für die Oper des 19. Jahrhunderts. Mit Carl Maria von Webers (1786-1826) Freischütz entstand 1821 die erste romantische deutsche Nationaloper, die nun ganz auf ein bürgerliches Publikum ausgerichtet war. In der deutschen komischen Oper, wie sie von Komponisten wie Otto Nicolai (1810-1849), Albert Lortzing (1801-1851) und

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Friedrich von Flotow (1812-1883) vertreten wurde, verlor die Oper ihre höfisch-repräsentative Form gänzlich und wurde zu einer Form bürgerlicher Unterhaltung. Opern wurden nun in Nationaltheatern und Staatsopern (z.B. München 1818, Hamburg 1827, Dresden 1841, Berlin 1844, Wien 1869) oder in kommunalen Opernhäusern (z.B. Leipzig 1867) aufgeführt. Ihren Höhepunkt fand die deutsche romantische Nationaloper in den Werken Richard Wagners (1813-1883), die als theatralisches Gesamtkunstwerk konzipiert waren und sich damit radikal von ihren italienischen Wurzeln entfernten und ab 1876 in einem eigens erbauten Festspielhaus in Bayreuth aufgeführt wurden. Doch nicht nur die Oper erlebte im Barock ihre entscheidende Weichenstellung, sondern auch das Konzert, so dass am Ende des Barock die bis heute wichtigsten Grundformen des Musikbetriebs ihre Ausprägung fanden. Trotz zeitlich gemeinsamer Wurzeln unterscheidet die Musikwissenschaft aber doch sehr deutlich zwischen diesen beiden Grundformen. Die Oper ist eine musikalische Gattung, die sich als theatralische musikalische Darbietung klar künstlerisch definiert, während demgegenüber das Konzert nur eine Organisationsform ist. Musikalische Gattungen des Konzerts wären beispielsweise die Kammermusik oder das Sinfoniekonzert. Für die Entwicklung des Musikbetriebs ist aber wiederum zunächst die konzertante Gattung von Interesse; die Organisationsform Konzert gewinnt erst später an Bedeutung. Die Kammermusik leitet sich vom Aufführungsort ab, nämlich den Wohnund Repräsentationsräumen der Fürsten. Analog zum Kammerherrn oder Kammerdiener gab es eben auch den Kammermusiker, der in der Kammer des Fürsten musizierte. Dass dies zunächst nur in einem fürstlichen Umfeld geschah, zeigt beispielsweise der bis heute verwendete Titel Kammersänger, der ein Ehrentitel ist, den früher der Fürst verdienten Sängern verlieh. Dagegen war die Verwendung des Begriffs Kammermusik als Gattungsbegriff zunächst nur sehr unscharf. Heute spricht man von Kammermusik, wenn alle Stimmen solistisch besetzt sind, doch wurden im Barock durchaus auch Stücke als Kammermusik aufgeführt, die man heute der Orchestermusik zurechnen würde. Die Orchestermusik, bei der zumindest die Streicherstimmen chorisch besetzt sind, also mehrere Streicher die gleiche Stimme spielen, hat ihre Ursprünge ebenfalls im Barock. Allerdings war die Besetzung des Barockorchesters noch wesentlich freier und variantenreicher als im Orchester der späteren Klassik. Vor allem in der frühen Barockzeit stand die Orchestermusik in engem Zusammenhang mit der Vokalmusik und kam als Oratorium im kirchlichen Umfeld zur Aufführung. Daneben gab es aber auch eine nicht kirchliche Orchestermusik, wie beispielsweise die Brandenburgischen Konzerte (1721) von Johann Sebastian Bach (1685-1750), die dem Markgrafen von Brandenburg gewidmet und damit eindeutig dem höfischen Umfeld zuzuord-

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nen waren. So kann festgehalten werden, dass im Barock – mehr als je zuvor – die Höfe und die beiden großen Kirchen Auftraggeber und Arbeitgeber der Musiker waren. Angesichts der Dominanz der absolutistisch geführten Höfe und der damit konkurrierenden Bischofssitze, Klöster und großen Stadtpfarreien hatte ein davon unabhängiges bürgerliches Musikleben kaum eine Chance. Dennoch vollzog sich aus der Sichtweise des Musikbetriebs während des Barock eine bemerkenswerte Veränderung. Wurden die Musiker des späten Mittelalters noch wie Leibeigene des Hofes bzw. wie besonders schlecht bezahlte Mitarbeiter der Kirche behandelt, erreichten die Musiker des 18. Jahrhunderts einen rechtlich selbstständigen Status, der auch entsprechend besoldet wurde. So verdiente der bereits erwähnte Niccolò Jommelli als Hofkapellmeister in Stuttgart und Ludwigsburg das stattliche Jahresgehalt von 4.000 Gulden. Damit begann sich der Beruf des Musikers als wirtschaftlich selbstständiger und freischaffender Künstler herauszubilden. Wenig später, in der Zeit der Klassik, war es mit Mozart und Beethoven (1770-1827) sogar den ersten Komponisten möglich, als freischaffende Musiker zu leben, wenn auch bisweilen mehr schlecht als recht und durchaus nicht immer ganz freiwillig. »Gesellschaftliche Umstrukturierungen während des 18. Jahrhunderts wirkten sich auch auf die Dienstleistungen der Hofkapellen aus. Deren Darbietungen wurden nunmehr als halböffentliche oder öffentliche Aufführungen auch dem bürgerlichen, seltener dem ländlichen Publikum zugänglich gemacht. Aus den nach außen hin abgeriegelten Kammermusiken für die exklusive Hofgesellschaft wurden Musikalische Akademien oder Hofkonzerte, zu denen auch zahlende Hörer Zutritt fanden« (Salmen 1997: 47).

Vom Hof völlig losgelöste öffentliche Konzerte fanden zuerst in England statt. Schon 1672 veranstaltete der Komponist und Geiger John Banister der Ältere (ca. 1630-1679) zu Hause oder in Gaststätten öffentliche Konzerte, zu denen jeder gegen ein Eintrittsgeld von einem Schilling Zutritt hatte und auch mitbestimmen durfte, was gespielt wurde. Eine ähnlich wegweisende Entwicklung boten in Deutschland die »Collegia musica«, die von bürgerlichen Musikfreunden und Studenten veranstaltet wurden. Zunächst nur als Treffen von Musikliebhabern konzipiert, wurden ab dem 17. Jahrhundert zu diesen Treffen auch Zuhörer zugelassen. Sie können als Vorläufer des heutigen Konzertwesens gesehen werden, was sich am Beispiel Leipzig leicht belegen lässt: Das von Georg Philipp Telemann (1681-1767) gegründete und später von Johann Sebastian Bach geleitete Leipziger Collegium musicum gilt als Vorläufer der heutigen Leipziger Gewandhauskonzerte.

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Doch erst Anfang des 19. Jahrhunderts veränderte sich das Musikleben so radikal, dass von einem Musikbetrieb im heutigen Sinne gesprochen werden kann. Dazu trugen im Wesentlichen zwei Entwicklungen bei, nämlich die Entstehung des bürgerlichen Konzertwesens und die herausragende Rolle des Solisten. Letztere Entwicklung ist also musikalischer Art, während das bürgerliche Konzertwesen Folge einer gesellschaftspolitischen Veränderung ist. Dennoch müssen beide Entwicklungen gemeinsam gesehen werden. Mit Aufklärung und Französischer Revolution wurde Ende des 18. Jahrhunderts die seit Jahrhunderten geltende Vorherrschaft des Adels erstmals in Frage gestellt. Zunehmend meldete sich ein liberales Bürgertum zu Wort, das sich dank einer guten Ausbildung durch die bis dahin geltende intellektuelle Vorherrschaft der Höfe und der Kirchen nicht mehr einschüchtern ließ und das sich wegen erster wirtschaftlicher Erfolge auch finanziell behaupten konnte. Dennoch blieb dem aufstrebenden Bürgertum die politische und gesellschaftliche Gleichrangigkeit mit dem Adel vorerst versagt. In dieser Situation besann sich das Bürgertum auf die Künste, deren Förderung bis dahin das Privileg von Adel und Kirche gewesen war. Das aufkommende Bürgertum wurde als Kunstmäzen tätig und trat damit – auf einem scheinbar unpolitischen Feld – in Konkurrenz zu Adel und Kirchen. Um diese Konkurrenz zunächst nicht allzu offensichtlich werden zu lassen, entstanden Anfang des 19. Jahrhunderts überall in Deutschland die ersten Musik- und Gesangvereine,1 in denen einerseits musiziert bzw. gesungen, in denen andererseits aber auch das gesellschaftliche Leben gepflegt wurde. »Neben den familiären und beruflichen Beziehungsgeflechten, und mit diesen oft auf das Engste verwoben, bildete der Verein einen Mittelpunkt bürgerlichen Lebens, bürgerlicher Kultur« (Sobania 1996: 170). Die Musik- und Gesangvereine der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dürfen deshalb auch nicht mit den heutigen Vereinen gleichen Namens verglichen werden; die damaligen Musik- und Gesangvereine waren »reine Oberschichtenvereine« (ebd.: 177). Mit den Aktivitäten im Verein ging ein zunehmend bürgerlicher Konzertbetrieb einher. Zudem entstanden auch Musikfördervereine, die sich die Organisation von Konzerten zum Ziel gesetzt hatten, ohne selbst als Musiker auftreten zu wollen. Vorläufer und wohl auch Vorbild dieser Entwicklung war das Leipziger Gewandhausorchester. Wie bereits erwähnt, ging es hervor aus dem Leipziger Collegium musicum, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts maßgeblich von Leipziger Kaufleuten und ab 1775 vom Verein der Musikübenden Gesellschaft unterstützt wurde. 1781 wurde das damalige Gewandhaus (Lagerhaus) der Tuchhändler als Konzerthaus umgewidmet, so 1 1809 machte Carl Friedrich Zelter mit der Gründung der Berliner Liedertafel den Anfang.

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dass seitdem Ort und Funktion unter dem Namen Gewandhausorchester zusammengefasst sind (auch wenn das Gewandhaus inzwischen zwei Nachfolgebauten erlebte). Ähnlich exemplarisch verlief die Entwicklung in Wien. 1812 wurde hier die Gesellschaft der Musikfreunde des österreichischen Kaiserstaates gegründet. Dem folgte 1821 die Gründung eines Konservatoriums sowie in den darauffolgenden Jahren die Gründung von Orchester, Singverein, Archiv, Bibliothek und Museum. 1870 wurde der Große Saal der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien eröffnet, der als einer der besten Konzertsäle weltweit für das Konzertleben und als Heimstatt der Wiener Philharmoniker von überragender Bedeutung war und ist. So sehr auch die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwälzungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Musikbetrieb veränderten, darf doch nicht übersehen werden, dass sich auch musikalisch-ästhetische Neuerungen mindestens in gleichem Maße auf den Musikbetrieb auswirkten. Hier ist vor allem an Mozart zu erinnern, der dem Solokonzert zum Durchbruch verhalt. Mozart »entwickelte und vollendete das klassische Modell des konzertanten Sonatensatzes mit zwei individuellen Expositionen für das Orchester und für den Solisten und entfaltete es von Konzert zu Konzert weiter; er erdachte für das Soloinstrument ein charakteristisches Repertoire an effektvollen Spielfiguren und instrumententypischen Wendungen« (WernerJensen 2001: 175). Solokonzerte wiederum waren nur deshalb möglich, weil sich vor allem beim Klavier, aber auch bei der Violine (schon Ende des 18. Jahrhunderts) und einigen Holzblasinstrumenten eine technische Weiterentwicklung ergeben hatte, die den Einsatz als Soloinstrument vor dem Hintergrund eines großen Orchesters überhaupt erst ermöglichte. Die Solokonzerte Mozarts fanden bald zahlreiche Nachahmer, vor allem wenn die Komponisten selbst hervorragende Meister ihres Instruments waren. Beim Solokonzert aber stand der Solist im Mittelpunkt, der bald über den normalen Musikbetrieb emporgehoben wurde und in einer Weise verehrt wurde, dass man durchaus von Starkult sprechen kann. Zwei Namen mögen hier stellvertretend für viele stehen, nämlich der Pianist Franz Liszt (1811-1886) und der Geiger Niccolò Paganini (1782-1840). »Die beiden legendären Virtuosen des 19. Jahrhunderts waren nicht nur ein musikalisches, sondern auch ein gesellschaftliches Ereignis. Das Aufkommen großer Konzertsäle und öffentlicher Konzerte begünstigte ihren Aufstieg und ermöglichte auch einer breiten Öffentlichkeit, an diesem Phänomen teilzuhaben« (ebd.: 277). Das Gewandhaus Leipzig (als Neues Gewandhaus seit 1884) und der Musikvereinssaal Wien (seit 1870) wurden bereits als Beispiele großer Konzertsäle jener Zeit genannt; zu erwähnen sind noch der Kölner Gürzenich (1884),

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das Concertgebouw in Amsterdam (1888), die Royal Albert Hall in London (1871) und die Tonhalle Zürich (1895). Damit aber hatte die Geburtsstunde des modernen Konzertbetriebs geschlagen: Das Publikum wollte die berühmten Virtuosen und die großen sinfonischen Orchester hören und sehen, was wiederum nicht ohne große Konzertsäle möglich war. Solche Konzerte zu veranstalten aber war nicht mehr im Interesse des Adels, sondern erfolgte allein durch bürgerliche Veranstalter. Um die gefeierten Solisten, die passenden Orchester und die großen Konzertsäle zusammenzubringen, bedurfte es endlich auch des Konzertagenten. Bis dahin organisierten die Musiker ihre Konzerte im Wesentlichen selbst, wie das frühe Beispiel des bereits erwähnten Komponisten und Geigers John Banister in England zeigt. Oder es waren Personen mit der Organisation von Konzerten beschäftigt, die zwar etwas von Organisation verstanden, mit Musik im engeren Sinne aber nichts zu tun hatten. So wurde die viel gerühmte Konzertreise, die die aus Stockholm gebürtige Sängerin Jenny Lind (18201887) zwischen 1845 und 1847 durch die USA unternahm und wo sie in fast 150 Konzerten zu hören war, von dem Zirkusunternehmer Barnum organisiert (vgl. Tewinkel 2004: 241). Eine typische Erscheinung des bürgerlichen 19. Jahrhunderts war auch die Musikerziehung, die zunächst ausschließlich im Privatunterricht, ab Mitte des Jahrhunderts aber auch in Konservatorien und Singschulen erfolgte. Dort diente die Ausbildung sowohl der Heranbildung von Berufsmusikern als auch der Unterrichtung begabter Laien. In der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart beispielsweise, die 1857 zunächst als Württembergisches Konservatorium gegründet wurde, gab es bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine so genannte Dilettantenklasse, aus der sich später die kommunale Stuttgarter Musikschule entwickelte. Die Konservatorien und Singschulen wurden zunächst privat betrieben, teils in der Form von Vereinen, teils auch als Aktiengesellschaften. Um noch einmal die Stuttgarter Musikhochschule bzw. das damalige Württembergische Konservatorium zu erwähnen: Es wurde als Aktiengesellschaft gegründet, d.h. die am Konservatorium lehrenden Professoren waren gleichzeitig auch Aktionäre des Konservatoriums und damit auch am wirtschaftlichen Erfolg der Lehranstalt höchst interessiert. Nur die Professoren, die gleichzeitig auch Aktionäre waren, konnten Mitglied des Konvents (heute Senat) sein. Erst später erhielt das Konservatorium auch öffentliche Zuschüsse und wurde erst im 20. Jahrhundert verstaatlicht. Dieses Beispiel gilt für viele ähnliche Gründungen des 19. Jahrhunderts. Die privaten Konservatorien und Singschulen wurden Ende des 19. Jahrhunderts oder sogar erst während der Weimarer Republik kommunalisiert oder verstaatlicht. Die eigentlichen Vorläufer der heutigen kommunalen Musik-

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schulen aber entstanden in der Regel erst in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, wozu neben der Musikerziehung in der Tradition des 19. Jahrhunderts die Jugendmusikbewegung (»Wandervogel«) der Jahrhundertwende einen maßgeblichen Anstoß gab. Eine durchaus nicht nur im positiven Sinne prägende Veränderung des Musikbetriebs im 20. Jahrhundert ist die Trennung von E-Musik und U-Musik. E-Musik steht hier für die »ernste« oder »klassische« Musik und U-Musik für Unterhaltungsmusik. Unterhaltungsmusik dient der Entspannung und Erholung. »Ihr Wert definiert sich dadurch, dass sie diese Funktion erfüllt« (Der Brockhaus Musik 2001: 822). Im Gegensatz zum Begriff Trivialmusik wird der Begriff Unterhaltungsmusik nicht abwertend verwendet. Dies zeigt schon der Blick in die Geschichte der Unterhaltungsmusik, denn dazu rechnet man auch die Tafelmusik der Renaissance, die Feuerwerksmusik des Barock sowie die Serenaden der Klassik. Heute zählt man zur U-Musik Tanzmusik, Schlager, Musicals, Volksmusik, Rock- und Popmusik sowie – was immer besonders überrascht – Jazz. Auch wenn schon spätestens im 19. Jahrhundert von Unterhaltungsmusik gesprochen wurde, erfolgte die scharfe und im Musikbetrieb bis heute geltende Trennung zwischen E- und U-Musik doch erst 1903 mit der Gründung der GEMA, der Gesellschaft für musikalische Aufführungsund mechanische Vervielfältigungsrechte. Zwar ist diese Unterscheidung zweifelsfrei keine Erfindung der GEMA, wie der Blick in die Kulturgeschichte zeigt (vgl. Hügel 2003: 164ff.), aber durch die GEMA wurde diese Differenzierung zu einem handfesten Kriterium mit wirtschaftlichen Auswirkungen. Es bestand das Bedürfnis, die in Tanz- und Gartenlokalen und überhaupt in kommerziellen Kontexten gespielte Musik von der Kunstmusik der Konzertsäle zu unterscheiden. Das hat leider dazu geführt, dass daraus auch eine Bewertung entstand. Die E-Musik hat als der im Prinzip nicht kommerziell ausgerichtete Teil des Musikbetriebs einen höheren (ethischen) Stellenwert, als die dem Kommerz dienende U-Musik, woraus sich erstaunlicherweise eine ähnliche ästhetische Bewertung abgeleitet hat. Doch ist diese Differenzierung nicht nur sehr verhängnisvoll, sondern schon vom Ansatz her falsch. Die Gründung der GEMA geschah nicht zuletzt aus dem Bedürfnis, urheberrechtliche Ansprüche auch dann geltend machen zu können, wenn die unmittelbare konzertante Aufführung durch eine mediale Verwertung ersetzt wird. Damit ist die technische Entwicklung angesprochen, die – mehr als in allen Jahrhunderten zuvor – den Musikbetrieb verändert hat und bis heute prägt. 1900 entstand die erste Musikschallplatte und damit erstmals die Möglichkeit, Musik unabhängig vom Ort und Zeitpunkt des Entstehens zu hören. Das neue Medium stieß bald auf größtes Interesse, vor allem bei den Musikern selbst. Enrico Caruso (1873-1921) beispielsweise, der 1900 die erste

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Schallplatte besang, produzierte bis zu seinem Tod immerhin 265 Aufnahmen. Dieses Interesse an einer medialen Verwertung wurde bald noch verstärkt durch den Rundfunk. Am 22. Oktober 1920 wurde in Deutschland die erste Rundfunksendung ausgestrahlt: Die Hauptfunkstelle Königs Wursterhausen in Brandenburg übertrug ein Konzert. Die schwierige Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die politische Instabilität während der Weimarer Republik sowie die in immer kürzeren Abständen folgenden Wirtschaftskrisen förderten in der Bevölkerung das Verlangen nach Unterhaltung und Zerstreuung. Während die Hochkultur die Umwälzungen im Expressionismus zu verarbeiten suchte, stürzte sich das breite Publikum auf opulente Revuen, entdeckte die Operette neu und vergnügte sich am musikalischen Kabarett. Radio und Schallplatte beflügelten diese Entwicklung und machten die erfolgreichsten Schlager und Operettenarien zu Gassenhauern. Die Unterhaltungsmusik wurde zur Befreiung von der Last der Alltagssorgen, weshalb diese politisch und wirtschaftlich so schwierige Zeit seltsamerweise als die »Goldenen Zwanziger« bezeichnet wurde. Jedenfalls erlebte das Musikleben einen erstaunlichen Aufschwung, der mit der Erfindung des Tonfilms 1927 als dem neben Schallplatte und Radio dritten Musikmedium internationale Dimensionen annahm. Während der Nazi-Herrschaft wurde das Musikleben in starkem Maße nach den Vorstellungen der Nationalsozialisten reglementiert und für Zwecke der Partei instrumentalisiert. Jüdische Komponisten, Dirigenten, Sänger und Musiker konnten ihren Beruf nicht länger ausüben. Sie wurden in Konzentrationslagern hingerichtet, sofern es ihnen nicht gelang, vorher das Land zu verlassen. Die Ausstellung »Entartete Musik« brandmarkte 1938 jegliche Musik, die nicht in das weltanschauliche Konzept der Nationalsozialisten passte. Dazu gehörten vor allem die so genannte Neue Musik in der Nachfolge von Arnold Schönberg (1874-1951), alle Werke zeitgenössischer jüdischer Komponisten sowie der in den 20er Jahren aus Nordamerika übernommene Jazz. Andererseits förderten die Nationalsozialisten vor allem während der Kriegsjahre mit Nachdruck die Unterhaltungsmusik, nicht zuletzt in Form zahlreicher Musikfilme, um die Bevölkerung auf diese Weise von den Schrecken des Krieges abzulenken. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte das klassische Konzert erstaunlich schnell eine Wiedergeburt. Das Bedürfnis, wieder klassische Musik ohne rassistische Vorauswahl hören zu dürfen und endlich wieder an internationalen Entwicklungen teilhaben zu können, war außerordentlich groß. Schon bald wurden Konzertsäle wieder aufgebaut oder neu errichtet (Herkulessaal München 1955, Liederhalle Stuttgart 1957, Philharmonie Berlin 1963), um das gesamte musikalische Erbe einem begierigen Publikum zu Gehör

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bringen zu können. Mit den Darmstädter Ferienkursen (ab 1946) und den Donaueschinger Musiktagen (erneuert 1950) wurden auch zwei Zentren der Neuen Musik gegründet. Vor allem in der amerikanischen Besatzungszone wurden Jazz und Swing schnell populär. Internationale Stars wie Elvis Presley (1935-1977), Bill Haley (1925-1981), Chuck Berry (geb. 1931) oder Buddy Holly (1936-1959) machten die Rockmusik in den 50er Jahren in den USA und in Europa zur vorherrschenden Musik der Jugend. Ihr folgten ein Jahrzehnt später aus Großbritannien Gruppen wie The Beatles und The Rolling Stones, die für die Beatmusik bzw. eine neue Form der Rockmusik standen. Aus der Sicht des Musikbetriebs hat sich seit den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts die U-Musik, die sich selbst vorrangig als Popularmusik bezeichnet, endgültig gegenüber der E-Musik etabliert. Sie ist nicht mehr nur eine leichtere Form der so genannten klassischen Musik, wie man dies noch der Operette im Vergleich zur Oper unterstellen konnte, sondern sie ist eine eigenständige musikalische Gattung mit vergleichbarem künstlerischem Anspruch. Dass es innerhalb dieser Eigenständigkeit weiterhin gute und schlechte Popularmusik gibt, ändert an dieser Feststellung nichts. Von besonderer Bedeutung für den Musikbetrieb im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ist auch das Konzept der Festspiele. Zwar kennt man Musikfestspiele oder Festivals bereits seit längerem – erinnert sei an die Bayreuther Festspiele (gegründet 1870), die Salzburger Festpiele (1920), die Ludwigsburger Schlossfestspiele (1933) oder international an das Glyndebourne Festival (1934), die Bregenzer Festspiele (1946) oder die Wiener Festwochen (1951) –, doch erlebten sie in den 80er und 90er Jahren gerade auch in Deutschland einen einzigartigen Boom. Neugründungen wie das SchleswigHolstein Musik Festival (1986) oder das Rheingau Musikfestival (1988) sind bis heute höchst erfolgreich. Daneben gibt es zahlreiche kleinere Festspiele, die sich zum Teil nur vorübergehend etablieren konnten. Neben dem zweifelsfrei vorhandenen Bedürfnis, Musik in einer besonderen Umgebung und in einer – häufig thematischen – Konzentration zu erleben, spielt auch das Konzept der Erlebnisgesellschaft (Schulze 1993) dabei eine Rolle. Nach Schulze wird in der Erlebnisgesellschaft der Erlebnischarakter eines Ereignisses betont, weshalb Elemente wie eine andere Umgebung, ein anderes Publikum, Erholung, gute Hotels und Restaurants und möglichst auch touristische Attraktionen sehr geeignet sind, den Erlebniswert eines Festivals zu steigern. Das Festival wird damit zum Kultur-Event, das nicht mehr als singuläres künstlerisches Ereignis bewertet wird, sondern in ein inszeniertes Umfeld von Event-Komponenten gestellt wird. Dass Musikfestspiele in alten Burgen, Schlössern und Kirchen oder umgeben von hohen Bergen oder vor der Kulisse eines Sees ganz hervorragend in dieses Event-Konzept passen, hat den

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Festspielen in den 80er und 90er Jahren eine so gewaltige Nachfrage beschert. Zu erwähnen ist in diesem Kontext auch das Musical als eine neue musikalisch-theatralische Gattung. Zwar gab es erste Musicals bereits vor dem Zweiten Weltkrieg, beispielsweise von George Gershwin (1898-1937) und Kurt Weill (1900-1950), doch wurde diese Form des musikalischen Unterhaltungstheaters in Deutschland zunächst in den 60er Jahren (z.B. West Side Story von Leonard Bernstein, 1957) und dann in den 80er und 90er Jahren außerordentlich populär (vor allem durch die Musicals von Andrew Lloyd Webber, geb. 1948). Waren Musicals anfangs noch Teil des Repertoires von Theatern und Opernhäusern, so wurde Cats ab 1986 im Hamburger Operettenhaus ausschließlich und losgelöst vom Theaterbetrieb als En-Suite-Produktion aufgeführt. 1988 wurden in Bochum für Starlight Express und 1990 in Hamburg für Das Phantom der Oper – allesamt Werke von A. Lloyd Webber – sogar erstmals Theaterhäuser allein für eine Produktion erbaut (vgl. Irmler 1997: 129). Weitere Häuser in anderen Städten und weitere Produktionen folgten zum Teil in kurzen Zeitabständen, bis sich der Boom nach der Jahrtausendwende wieder legte. Mit einem gewaltigen Werbeaufwand gelang es aber vorübergehend, für ein bundesweites Publikum Abend für Abend das gleiche Musical im gleichen Haus zu zeigen, und das – zumindest bei den erfolgreicheren Stücken – fast zehn Jahre lang. Es ist leicht vorstellbar, welche Auswirkungen das auf den Musikbetrieb hatte: auf das Ensemble, das über Jahre hinweg tagtäglich das gleiche Stück spielen musste, auf das Publikum, dem nur eine kleine Auswahl von Werken zur Verfügung stand, für das aber der Musicalbesuch mit Anreise, Übernachtung und Verpflegung häufig mit weit höheren Kosten verbunden war als der Erwerb der Eintrittskarte selbst, sowie nicht zuletzt für die Musikkultur, die zunehmend nach dem Erlebnischarakter bewertet wurde und in der der künstlerisch-ästhetische Wert verloren zu gehen drohte (vgl. auch Kapitel 6). Parallel zu diesen künstlerischen Entwicklungen gab es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch eine bemerkenswerte technische Entwicklung. Die Rundfunksendungen wurden technisch ständig verbessert. So genannte »Konzerttruhen« mit bis zu sechs Lautsprechern für Höhen und Tiefen boten in den 60er Jahren eine deutlich verfeinerte Klangwiedergabe. Mit dem Transistorradio wurde der Empfänger sogar unabhängig von einer festen Stromquelle. Mit dem Stereo-Empfang wurde Ende der 60er Jahre eine Qualität erreicht, die der des Konzertsaals fast vergleichbar ist. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch das Fernsehen, das in Deutschland seit 1952 regelmäßig ausgestrahlt wird und das – nicht zuletzt dank der Kulturkanäle arte und 3Sat – inzwischen auch Konzerte und andere Musiksendungen optisch erlebbar macht.

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Musikvideo, CD und DVD brachten weitere entscheidende technische Verbesserungen, und mit MP3 wurde sogar die Abhängigkeit von einem Produzenten und Programmmanager überwunden. Heute kann sich jeder Musikliebhaber »sein« Konzert zusammenstellen und kann dabei auf einen Fundus von Aufnahmen zurückgreifen, der schier unbegrenzt erscheint und kaum Wünsche offen lässt. Fast ist man geneigt zu konstatieren, dass der Musikbetrieb zu einem Betrieb der Nutzer geworden ist, an dem Komponisten und Musiker nur noch als abrufbare Internetdatei beteiligt sind. 4.2 Autor – Interpret – Rezipient Für das Verständnis der Zusammenhänge im Kulturbetrieb ist neben der im ersten Kapitel eingeführten formalrechtlichen Gliederung auch noch eine andere Unterscheidung wesentlich, die stärker auf künstlerische Aspekte eingeht. Es soll nun die Rede sein von der Unterscheidung zwischen dem Autor im weitesten Sinne als dem Schöpfer des ursprünglichen Kunstwerks (also im Musikbereich in der Regel dem Komponisten), dem Interpreten und dem Rezipienten. In künstlerischen Ausdrucksformen, die auf Öffentlichkeit ausgerichtet sind, hat man es durchgängig mit diesen drei Stationen des Werdens von Kunst zu tun: Das Werk des Komponisten (also des Autors oder Werkschöpfers) wird wiedergegeben vom Interpreten, also dem Musiker, Sänger oder Musikensemble, und wird in einem nachschöpferischen Prozess aufgenommen vom Rezipienten, also dem Publikum oder Zuhörer (vgl. dazu ausführlich Heinrichs 1999: 21ff.). Dieses Nebeneinander von Autor, Interpret und Rezipient findet sich – in unterschiedlicher Ausprägung – in allen Kunstsparten. Der Ausstellungsmacher oder Kustos im Museum interpretiert durch seine Hängung sowie durch seine Begleittexte Werke der bildenden Kunst, Regisseure und Schauspieler interpretieren Theaterstücke und selbst ein belletristischer Text wird noch durch den Rezitator während einer Lesung interpretiert, auch wenn hier in der Regel die Positionen von Interpret und Rezipient in der Form des Lesers zusammenfallen. Für den Musik- bzw. Konzertbetrieb fällt auf, dass dort der Rolle des Interpreten eine ähnlich große Bedeutung zukommt wie im Theaterbereich, denn auch Regisseur, Bühnenbildner, Schauspieler usw. sind natürlich interpretierende Künstler und werden auch als solche öffentlich wahrgenommen und bewertet. Und dennoch besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Sparten. Theaterstücke kann man auch als Literaturtexte lesen, ohne sie auf der Bühne zu sehen – der gesamte Literaturunterricht in der Schule ist vorrangig auf die lesende Rezeption ausgerichtet. Im Musikbereich aber bedarf es fast immer des Interpreten (wenn auch häufig vermittelt über ein elek-

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troakustisches Medium), um ein Werk überhaupt erleben zu können. Der Anteil der Menschen, die auch komplizierte solistische Werke oder Klavierauszüge von Orchesterwerken selbst spielen können, ist prozentual außerordentlich klein. Und der Prozentsatz derer, die schon aus dem bloßen Lesen einer Partitur auf den Klang eines Werks schließen können, ist wohl kaum größer. Doch trotz aller systembedingten Erklärungsversuche muss es schon verwundern, dass die Rolle des Interpreten im Musikbetrieb eine geradezu übermächtige Position einnehmen konnte. Und ganz bewusst heißt es hier »einnehmen konnte«, denn in der musikhistorischen Betrachtung ist die Vorrangstellung des Interpreten keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Noch bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es gänzlich unüblich, Musikstücke zur Aufführung zu bringen, die nicht neu und aktuell waren. Dies hatte denn auch zur Folge, dass in der Regel die Komponisten unmittelbar ihre Stücke aufführten, es mithin die Position eines eigenständigen Interpreten überhaupt nicht gab. Selbst die berühmtesten Virtuosen des 19. Jahrhunderts, also Niccolò Paganini (1782-1840) und Franz Liszt (1811-1886), spielten vorwiegend ihre eigenen Kompositionen. Erst mit der Wiederaufführung der Bach’schen Matthäus-Passion im Jahr 1829 durch den jungen Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) kann man überhaupt von einem Wirken des musikalischen Interpreten sprechen. Mit diesem in der Tat revolutionären Ereignis veränderte sich nicht nur die Rezeption von Musik, sondern auch der Musikbetrieb. Zwei Ergebnisse sind als Folge dieser revolutionären Veränderung festzuhalten. Das erste Ergebnis ist musikalisch-ästhetischer Art: Die heutige Musikkultur ist zu einem reinen Musik-Museum geworden. Wenn man einmal von Pop, Rock und Jazz absieht und die so genannte E-Musik betrachtet, muss man feststellen, dass sicherlich mehr als 95 % aller Werke, die in öffentlichen Konzerten, auf Festivals oder in den Musikprogrammen der Rundfunkanstalten zu Gehör gebracht werden, nicht aktuell komponierte Werke sind, sondern allesamt dem musikalischen Museum entstammen; nur in den Kultursendern des Hörfunks dürfte der Anteil zeitgenössischer Werke höher liegen. Diese Beschränkung des Klassik-Bereichs auf ein überwiegend bereits bekanntes und bewährtes Repertoire ist nicht ohne Risiken: »Eine Branche, die sich freiwillig und mit einem gewissen Hochmut unter Artenschutz stellt, wird in einer gefräßigen Zeit wie der unseren schier zwangsläufig ausgerottet werden« (Goertz 2004: 73). Das zweite Ergebnis dieser Entwicklung betrifft das Musikmanagement und die Musikwirtschaft: In der öffentlichen und medialen Wahrnehmung ist der Stellenwert des Interpreten inzwischen größer als der des Komponisten. Folglich stehen auf einer CD in großen Buchstaben die Namen der Interpreten; die Namen der musikalischen Autoren, also der Komponisten, folgen in

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wesentlich kleineren Buchstaben. Leider führt dies letzten Endes sogar dazu, dass der Name des Komponisten völlig hinter dem des Interpreten verschwindet. Viele Zuhörer – vor allem im Bereich der populären Klassik – wissen nur noch selten (und wollen es auch nicht wissen), wer ein bestimmtes Werk komponiert hat. Wer es nicht glaubt, sollte in seinem Bekanntenkreis einmal nachfragen, wer der Komponist der von Luciano Pavarotti zum Klassik-Hit beförderten Arie Nessum Dorma ist.2 Stellt man sich nun noch einmal die Frage, ob dem Musikbetrieb ein Prinzip zugrunde liegt, das die Diversifikation des Musikbetriebs nicht nur möglich, sondern sogar notwendig macht, so ist dieses Prinzip zweifellos in der besonderen Rolle des Interpreten gegeben. Um dies zu verdeutlichen, sei noch einmal ein vergleichender Blick auf den Theaterbetrieb geworfen und hier insbesondere auf das Sprechtheater. Die Besonderheit des Sprechtheaters im Kulturbetrieb besteht darin, dass es immer live ist. Zwar gibt es Übertragungen von Schauspielaufführungen im Fernsehen, doch schon im Hörfunk ist die Schauspielaufführung eher die Ausnahme, weil die optische Dramatik des Bühnengeschehens im Hörfunk nicht vermittelt werden kann. Der Hörfunk hat deshalb eine eigene Kunstform entwickelt, nämlich das Hörspiel, das zwar auch in Szene gesetzte Literatur ist, aber mit völlig anderen dramaturgischen Mitteln arbeitet. Um ein Schauspiel zur Aufführung zu bringen, bedarf es deshalb des erheblichen Aufwandes eines Theaterbetriebs. Ganz anders dagegen in der Musik. Fast jedes Musikstück kommt ohne eine Live-Präsentation aus; entscheidend ist allein die akustische Wiedergabe, die dank elektroakustischer Medien jederzeit und unbegrenzt oft möglich ist. Demnach würde es eigentlich ausreichen, wenn ein Werk einmal aufgeführt und auf einem Tonträger festgehalten würde. Da aber die Zahl der im Musik-Museum akzeptierten Klassik-Werke sehr begrenzt ist, würde sich der Musikbetrieb nur noch auf relativ wenige Konzerte beschränken. Erst durch den Kategorienwechsel vom Komponisten zum Interpreten sind auch im Bereich der klassischen Musik weiterhin Konzerte in großer Zahl möglich, weil nun ein besonderer Reiz darin besteht, die Interpretation A mit der Interpretation B vergleichen zu können bzw. mit der neuen Interpretation B überhaupt noch einmal etwas Neues zu hören. Oder um es noch pointierter zu formulieren: Nur weil der Interpret so sehr an Stellenwert gewonnen hat, ist es überhaupt von Interesse, nach dem Interpreten A auch noch den Interpreten B zu hören.3 Diese Zusammenhänge werden spätestens dann deutlich,

2 Es ist Giacomo Puccini (1858-1924), und die Arie stammt aus seiner Oper »Turandot«. 3 Im Bereich der U-Musik liegen die Dinge allerdings anders, weil dort die Positio-

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wenn man die künstlerische Produktion von Musik um den Aspekt der Musikvermarktung erweitert. 4.3 Musikvermarktung und Musikwirtschaft Die Musikvermarktung erfolgt in zwei großen Schritten, nämlich die Vermittlung der Künstler über die Konzertdirektionen und Künstleragenturen sowie die Vermarktung von Tonträgern, bei der die Künstler nicht mehr unmittelbar in Erscheinung treten. Freilich sind beide Bereiche nicht streng getrennt zu sehen, denn selbstverständlich ist auch der Konzertagent an einer erfolgreichen Vermarktung »seines« Künstlers über Medien wie CD oder DVD interessiert. Entscheidend ist aber, dass in der Regel jeweils andere Personen und Unternehmen tätig werden. Ein weiteres wichtiges Element im ökonomischen Kontext von Musik ist die Tätigkeit der Verwertungsgesellschaften. Nur mit Hilfe der Verwertungsgesellschaften ist es seit etwa 100 Jahren möglich, die urheberrechtlichen Ansprüche von Komponisten und Interpreten tatsächlich auch geltend zu machen. Vor allem die Komponisten erzielen ihr Einkommen nicht unwesentlich über die aus dem Urheberrecht hervorgegangenen Verwertungsgesellschaften. Die Künstlervermittlung mit ihren unmittelbaren Auswirkungen auf die Veranstaltungswirtschaft sowie die Verwertung über Tonträger und Medien bilden die wichtigsten Säulen der Musikwirtschaft. Sie werden ergänzt durch die Umsätze aus den so genannten vorgelagerten und nachgelagerten Bereichen. 4.3.1 Künstlervermittlung Im Bereich der E-Musik hat der eben angesprochene Kategorienwechsel vom Komponisten zum Interpreten nicht nur grundsätzliche Folgen – im Sinne einer gewissen »Musealisierung« des Musikbetriebs –, sondern auch erhebliche Konsequenzen für die Musikvermarktung und damit auch für die Musikwirtschaft. In keiner anderen künstlerischen Sparte haben Aspekte der Vermarktung und damit letzten Endes des Kulturbetriebs so sehr eingewirkt auf den Stellenwert der einzelnen Elemente im künstlerischen Prozess und die Rolle derer beeinflusst, die an diesem Prozess beteiligt sind. Vermarkten lässt sich nämlich immer nur ein Neuigkeitswert. Da die Goldberg-Variationen von Bach aber keinen Neuigkeitswert mehr haben, muss dieser Neuigkeitsnen des Komponisten und des Interpreten häufig weiterhin zusammenfallen; vgl. dazu Abschnitt 4.3.2.

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wert über den Namen eines neuen Interpreten geschaffen werden. Dass es diese Goldberg-Variationen gibt, ist nicht mehr sonderlich interessant; dass aber jetzt auch – sagen wir – Hänschen Müller diese Goldberg-Variationen spielt und er sie ein wenig schneller spielt als vor ihm Fritzchen Meyer, das hat einen gewissen Neuigkeitswert und bietet demnach zumindest die Chance, vermarktet zu werden. Dieser Aspekt der Ver{marktung funktioniert schon deshalb so hervorragend, weil der Musikvermarkter dem Musikinterpreten am nächsten steht. Der Interpret ist der künstlerische Vermittler eines musikalischen Werks; fast zwangsläufig ergeben sich daraus Schnittmengen mit dem managerialen Vermittler, also dem Vermarkter. Darüber hinaus kann der Musikvermarkter nur Einfluss auf den Interpreten ausüben. Die beiden anderen Elemente des musikalisch-künstlerischen Prozesses, der Komponist und das Publikum, sind dagegen wesentlich schwerer steuerbar. Der zeitgenössische Komponist scheidet hier fast gänzlich aus, denn aus der Sicht des Musikvermarkters sind Auftragskompositionen im E-Musik-Bereich immer eine heikle Sache und nur schwer vermarktbar. Das Publikum wiederum ist zwar im Geschmack beeinflussbar, aber doch nur nach erheblichen Anstrengungen, die sich mit Blick auf einen neuen Komponisten kaum rentieren würden. Wenn also Einfluss auf das Musikprodukt ausgeübt werden soll, dann gelingt dies in der Tat am leichtesten über den Interpreten. Es spricht deshalb aus der Sicht des Vermarkters alles dafür, sich mit dem Interpreten zu verbünden, und das geschieht auch in geradezu genialer Weise. Inzwischen muss man sogar zugestehen, dass die alte Dreierbeziehung zwischen Komponist, Interpret und Rezipient längst zu einer Viererbeziehung geworden ist, in der der Musikvermarkter oder Musikmanager eine immer größere Rolle spielt. »Allerdings ist er«, wie Klaus-Peter Richter schreibt, »kein musizierender ›Künstler‹, sondern ein rechnender« (1997: 178). Ursprünglich hatte man es im Konzertbetrieb mit einem fürsorglichen Konzertagenten zu tun, der mit Geduld die Entwicklung eines Talents beobachtete und – wenn nötig – förderte, und der mit seinen Künstlern litt und frohlockte, der ihnen in guten und schlechten Tagen zur Seite stand und überhaupt so etwas wie ein fürsorglicher Vater war. Dieses Bild des Konzertagenten ist sicherlich auch heute noch nicht überholt, aber dominiert wird der Musikbetrieb von international operierenden Management-Agenturen, die primär darauf ausgerichtet sind, Vermarktungschancen zu nutzen. Und Letzteres tun sie mit riesigem Erfolg. Nur um einmal einige Größenordnungen zu nennen: Während noch Ende der 80er Jahre Luciano Pavarotti, José Carreras oder Plácido Domingo für Abendgagen zwischen 50.000 und 150.000 DM zu haben waren, hat sich deren Marktwert mit dem Konzept der »Drei Tenöre« sprunghaft erhöht. Zuletzt

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erhielten die drei Gesangstars bei ihren gemeinsamen Auftritten Abendgagen von 1 Mio. DM – pro Person versteht sich. Allein Pavarotti erzielte in der Saison 1995/96 – auf dem Höhepunkt seiner Karriere – immerhin Jahreseinnahmen in Höhe von 24 bis 27 Mio. DM und galt damit als der bestverdienende Musiker der E-Kultur der 90er Jahre. Dass dies nicht in erster Linie eine künstlerische, sondern eine manageriale Innovation war, zeigt die Tatsache, dass dieses Konzept der »Drei Tenöre« nicht von einem Künstler, sondern von dem Konzertmanager Matthias Hoffmann erfunden wurde. Das unterstreicht noch einmal die Bedeutung, die der Künstlervermittler heute hat. Künstlervermittler sind im Verband der Deutschen Konzertdirektionen e.V. (VDKD) zusammengeschlossen. Dies war bis 1994 noch ein recht exklusiver Club jener Konzertdirektionen, die an Stelle der Bundesanstalt für Arbeit tätig wurden und in dieser Funktion weiter gehende Rechte besaßen als die Konzertagenturen. Doch seit der Liberalisierung des Arbeitsvermittlungsrechts sind alle Konzertdirektionen und Konzertagenturen im VDKD als dem Berufsverband für Vermittler, Veranstalter, Tourneeunternehmer und Arrangeure zusammengefasst. Derzeit gehören dem VDKD rund 240 Mitglieder aus allen Sparten der Musik an, von der Klassik bis zur so genannten Unterhaltungsmusik; sie erreichen gemeinsam einen Jahresumsatz von rund 1,6 Mrd. € (vgl. www.vdkd.de). Während sich die meisten traditionellen Konzertdirektionen und Konzertagenturen weiterhin auf die reine Künstlervermittlung und – in begrenztem Umfang – eine eigene Konzerttätigkeit beschränken, sind parallel auch einige wenige, international operierende Agenturen entstanden, in deren Geschäftsfeldern die Vermittlungstätigkeit nur eine unter mehreren Aufgaben ist. Erfolgreichstes Beispiel in dieser relativ neuen Branche ist die Deutsche Entertainment AG (DEAG). Sie wurde 1978 von Peter Schwenkow gegründet und konzentrierte sich zunächst auf Open-Air-Konzerte auf der Berliner Waldbühne. Daraus entstand ein beachtlicher Entertainment-Konzern, der seit 1998 an der Börse notiert ist und der 2003 mit rund 2.300 Konzerten und Shows einen Jahresumsatz von 127,3 Mio. € erreichte. Zur DEAG gehören heute der Geschäftsbereich »Artists & Tours«, über den nationale und internationale Tourneen gemanagt werden, das »Urban Entertainment« als örtlicher Konzertveranstalter in zahlreichen Städten, die Sparte »Theatres«, der mehrere Varietétheater zugeordnet sind, sowie der Geschäftsbereich »Classics« für den Bereich der klassischen Musik. Anders als bei einer Künstlervermittlung stehen bei der DEAG Konzertveranstaltungen und Tourneemanagement im Vordergrund. So betreut die DEAG beispielsweise die Tourneen von Joe Cocker, Toto, Robert Plant, Billy Idol, Chris Norman oder der Gruppe Oasis, aber auch die der Kastelruther Spatzen und von Dieter Thomas Kuhn. Im Bereich der klassischen Musik veranstaltet die DEAG Konzerte und Tourneen für bei-

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spielsweise Anna Netrebko, Rolando Villazón, Montserrat Caballé, Ramón Vargas oder das World Orchestra for Peace unter der Leitung von Valery Gergiev. Als weitere Geschäftsbereiche sind in jüngster Zeit der Ticket-Service »print@home« sowie »DEAG Music« hinzugekommen. Damit knüpft DEAG erstmals an die Tradition der Künstlervermittler und Konzertdirektionen an, denn hier bietet man den Künstlern eine Betreuung »aus einer Hand«, nur klingen die Leistungen jetzt etwas anders: »Management, Recording, Publishing, Touring, Merchandising, Ring Tones, Sponsoring und Online-Vermarktung« (http://www.deag.de/de/music.htm vom 8.8.2005). Auffallend und wahrscheinlich auch symptomatisch für die neue Generation von Konzertdirektionen ist die starke Betonung der Börsenpräsenz. So bietet die Homepage der DEAG nicht nur Informationen über die vertretenen Künstler und die nächsten Tourneetermine, sondern auch umfangreiche »Investor Relations«. Dahinter verbergen sich Informationen über den aktuellen Börsenwert des Unternehmens und Anreize zum Kauf von Aktien. Wer über eine Internet-Suchmaschine DEAG eingibt, findet denn auch mehr Hinweise auf Börsenanalysten als auf Musik und Theater. Letzteres ist nicht ganz ohne Risiko. Als die DEAG 2004 einen Umsatzeinbruch erlebte, stand sie plötzlich mit vielen negativen Schlagzeilen in den Zeitungen, wenn auch »nur« in den Wirtschaftsteilen. Wichtigste und mächtigste Agentur der Welt ist die bereits 1930 gegründete Columbia Artists Management Inc., die seit 1970 von Ronald A. Wilford geführt wird und besser unter dem Kürzel CAMI bekannt ist (http://www.cami. com/). Das in New York und Berlin beheimatete, aber auf allen Kontinenten operierende Unternehmen bezeichnet sich selbst als weltweit größte »classical music management firm«, die als Künstlervermittler für mehrere hundert Künstler tätig wird, darunter so klangvolle Namen wie Valery Gergiev, Marta Argerich, Christian Zimmermann, Maurizio Pollini, Anne-Sophie Mutter, Nigel Kennedy und Mstislav Rostropovich. Daneben managt CAMI internationale Tourneen für Ensembles, Orchester und Tanzkompanien, wie beispielsweise das Beaux Arts Trio, sowie Orchester wie das Boston Symphony Orchestra, The New York Philharmonic, die Berliner Philharmoniker und die Wiener Symphoniker oder das Gewandhausorchester Leipzig. Noch eindrucksvoller aber ist die Liste der Großen des Musiklebens, die CAMI in ihrer 75-jährigen Geschichte betreut hat: die Sängerinnen und Sänger Leontyne Price, Elisabeth Schwarzkopf, Renata Tebaldi, Mario Lanza, Jussi Bjoerling, John McCormack, Richard Tucker, Lauritz Melchior und George London; die Pianisten Van Cliburn, Vladimir Horowitz und Serge Prokofieff; die Geiger Jascha Heifetz und Yehudi Menuhin sowie die Dirigenten Leonard Bernstein, Aaron Copland, Herbert von Karajan, Otto Klemperer und Igor Strawinsky.

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Solche weltweit agierenden Musikmanagement-Agenturen operieren längst nicht mehr nur über die klassischen Kanäle der Künstlerbetreuung und des Live-Konzerts, sondern bedienen sich der unterschiedlichsten Ebenen. Wichtigste Elemente weltweit operierender Musikmanagement-Agenturen sind denn auch die professionelle Karriereplanung der Künstler sowie die Medienvermarktung von Künstler und Werk. Die Agentur CAMI beispielsweise hat sich auf die Dirigenten konzentriert, weil sie einerseits wesentlich flexibler einsetzbar sind als ganze Orchester oder Ensembles und weil andererseits Dirigenten immer noch den größten Einfluss auf die Auswahl und Förderung von Solisten haben. Dadurch entstand ein Netz von Verbindungen und Abhängigkeiten, in dem bald nichts mehr ohne die Leute von CAMI lief. Vor allem aber ist durch dieses Netz sichergestellt, dass die Agentur automatisch gewarnt wird, wenn irgendwo auf der Welt sich ein musikalischer Erfolg abzeichnet, an dem CAMI (noch) nicht beteiligt ist (vgl. Richter 1997: 194). Eine stärker medienorientierte Karriereplanung ist am Beispiel der Sängerin Anna Netrebko zu beobachten, die von der in London ansässigen, aufstrebenden Agentur IMG Artists vertreten wird. Zwar war ihr Met-Debüt 2002 durchaus beachtlich, doch stand es in keiner nachvollziehbaren Relation zu dem, was sich anschließend in den Medien abspielte. Innerhalb weniger Monate war Netrebko in allen Medien präsent: Netrebko in teurer Abendgarderobe (mit Informationen zu Hersteller und Preis), privat in ihrer Wohnung, mit Freunden in teuren Restaurants, auf der Bühne usw. Dabei spielt ihr Aussehen und die Art ihrer Präsentation, die jeden Hollywood-Star vor Neid erblassen lässt, gewiss eine größere Rolle als ihre Leistung als Sängerin. Ohne dass je jemand behauptet hätte, sie verfüge über eine Jahrhundert-Stimme wie einst Jenny Lind, Maria Callas oder Renata Tebaldi, wurde sie fast über Nacht zur unbestrittenen Diva. Folglich wurde sie in den Medien auch als Diva vermarktet und nur in zweiter Linie als Sängerin. Ihre sechs Auftritte als Violetta in Verdis La Traviata während der Salzburger Festspiele 2005, bei dem das Publikum bezeichnenderweise nach Karten für die »Netrobko-Show« fragte, waren sechsfach überbucht. Allein über die Propaganda der »Kenner« und ohne eine gezielte Medienkampagne wäre dieser Erfolg nicht möglich gewesen. Wer auf diese Weise die wichtigsten Schalthebel in Händen hält, bestimmt damit auch die mediale Nutzung, wie sie sich vor allem im Handel mit den medialen Verwertungsrechten niederschlägt. Dank dieses Zugriffs auf die Medien und auf den Tonträgermarkt kann der Agent nun erstmals auch eine Karriere gezielt planen und seine Planungen umsetzen. Klaus Peter Richter zeigt dies am Beispiel der »Wiedererweckung« des Pianisten Vladimir Horowitz: 1985 produzierte CAMI ein Video über den nur noch legendären, aber

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im breiten Publikum fast vergessenen Pianisten Horowitz. Dieses Video mit dem Titel Horowitz – The Last Romantic war die Basis einer breit angelegten, letzten Comeback-Strategie für Horowitz. Das scheinbar allein musikwissenschaftlich ausgerichtete Video, das wie ein intimer Einblick in das Privatleben einer Legende wirkte, wurde in Dutzenden von TV-Kanälen weltweit gesendet und weckte damit wieder das Interesse an dieser Pianisten-Legende. Gleichzeitig wurde der Soundtrack des Videos als CD vermarktet und innerhalb von nur vier Jahren weltweit 400.000-mal verkauft. Danach war Horowitz wieder ein aktueller Begriff; sein letztes Comeback wurde zu einem geradezu spektakulären Erfolg (vgl. Richter 1997: 193f.). Von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die Musikkritiker. Entsprechend der ursprünglichen Tradition des Musikbetriebs, vorwiegend aktuelle Werke aufzuführen, konzentrierte sich auch die Musikkritik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts auf die so genannte Werkkritik, d.h. es wurden ausschließlich neu komponierte Werke besprochen. Als es Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt auch zur Wiederaufführung bereits älterer Werke kam, verlegte sich die Musikkritik auf die Aufführungskritik, d.h. nun standen die Interpreten im Mittelpunkt der kritischen Würdigung. Folglich schreibt auch heute noch kaum ein Musikkritiker über den kompositorischen Wert beispielsweise einer Beethoven-Sinfonie, sondern er befasst sich nahezu ausschließlich mit der Leistung der Interpreten. Allerdings zeichnet sich bereits eine weitere Umorientierung der Musikkritik ab. »In der Form, wie man die Musikkritik in den großen überregionalen Feuilletons in Deutschland jetzt noch findet«, vermutet Eleonore Büning, die Musikkritikerin der FAZ, »wird es sie in Zukunft vermutlich nicht mehr geben. Die Entwicklung geht hin zu Vorberichtserstattungen, Interviews und Reportagen« (zit.n. Tewinkel 2004: 38). Vorberichterstattungen, Interviews mit den Stars und Reportagen über deren Arbeit (und möglichst auch über deren Privatleben) aber fördern in besonderem Maße deren Popularität, was sich letztlich wiederum als Erfolg in der Künstlervermarktung niederschlägt; der »Fall« Anna Netrebko ist geradezu ein Musterbeispiel dafür. Solchermaßen durch Karriereplanung, Positionierung am Konzertmarkt und wohlwollende so genannte Hintergrundberichte vorbereitet, wird der Künstler nun zum Tonträgermarkt weitergereicht. 4.3.2 Tonträgermarkt und Internetpräsenz Um auf dem Tonträgermarkt – vor allem im U-Musik-Bereich – bestimmte Zusammenhänge besser zu durchschauen, muss noch einmal über das Verhältnis von Autor, Interpret und Rezipient gesprochen werden. Im Klassik-Bereich ist zu beobachten, dass der Stellenwert des Komponisten abnimmt; nicht

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einmal der Musikkritiker interessiert sich noch für ihn. Ganz anders ist die Situation im U-Bereich, wo der Komponist einen hohen Stellenwert hat. Die FAZ stellte dazu fest (22.4.98): »Nicht Stockhausen, sondern Bob Dylan wird vom Papst empfangen, die Beatles und Andrew Lloyd Webber sind Mitglieder des englischen Adels, und Elton Johns ›Candle in the Wind‹ lehrt die Schnebel- und Lachenmann-Anhänger, was wahre Schubert-Nachfolge ist.« An dieser Aufzählung fällt auf, dass im U-Bereich jene Zusammenhänge wenigstens zum Teil noch vorhanden sind, deren Fehlen im E-Bereich oben beklagt wurde. Wie das Beispiel Bob Dylans, Elton Johns oder der Beatles zeigt, fallen im U-Bereich die Positionen des Komponisten und des Interpreten vielfach noch zusammen, was aber im E-Bereich schon Seltenheitswert hat. Und diese Beobachtung gilt im U-Bereich für bei weitem die meisten der Titel, die der Tonträgerindustrie angeboten werden. Man geht davon aus, dass pro Woche etwa hundert Demobänder bei Produktionsfirmen in Deutschland eingehen, und hier sind eigene Stücke, also echte neue Kompositionen eher die Regel als die Ausnahme, weil das Urheberrecht das Covern eines bereits vorhandenen Songs teurer macht und die Vermarktung einer Zweitverwertung keinesfalls leicht ist. Selbst auf der Ebene vieler Amateurbands trifft man nicht selten auf eigene Kompositionen. Lediglich bei Schüler-Bands, die nie über Live-Auftritte hinauskommen und niemals eine CD pressen lassen, kann man davon ausgehen, dass sie ausschließlich vorhandene Titel covern. Die Rock-Stiftung Baden-Württemberg nimmt an, dass von den etwa 3.000 Bands im Rock- und Pop-Bereich allein in Baden-Württemberg deutlich mehr als 10 % vorwiegend mit eigenen Kompositionen arbeiten. Daraus ergibt sich eine überraschende Schlussfolgerung und Korrektur des Bildes vom Musikbetrieb. Mit Blick auf die Musik, die die Öffentlichkeit erreicht – man könnte auch vom Output sprechen – ist der U-Musik-Bereich und hier vor allem die Pop- und Rockmusik wesentlich kreativer und innovativer als die Sparte der E-Musik. 100 Demobänder wöchentlich mit fast ausschließlich eigenen Werken sind allein schon von der Summe her ein höchst eindrucksvolles Zeichen für Kreativität. Zwar gibt es in Europa etwa 50.000 Komponisten zeitgenössischer E-Musik, die jährlich etwa 1 Mio. neue Titel bei den Urhebergesellschaften schützen lassen, doch taucht nur ein verschwindend geringer Teil dieser Werke in der musikalischen Öffentlichkeit auf. Dagegen sind die Kompositionen der U-Musik in weit stärkerem Maße präsent, und sei es nur, dass ein neuer Titel vor 500 Schülern auf einer Schulfete gespielt wird (wovon mancher zeitgenössische Komponist der E-Musik wirklich nur träumen kann). Allerdings darf die U-Musik nicht allein mit der Pop- und Rockmusik gleichgesetzt werden; hierzu zählen auch die traditionelle Schlagermusik bzw. Tanzmusik (Dance) sowie die Volksmusik. Letztere vor allem sind dafür

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verantwortlich, dass U-Musik keineswegs nur eine Domäne der Jugendlichen ist, wie die folgende Tabelle zeigt: Tabelle 6: Altersstruktur der Tonträgerkäufer nach Repertoire-Segmenten 2004 und im Vergleich zur Alterstruktur der Bevölkerung RepertoireSegmente 2004

Anteile der Tonträgerkäufer nach Altersgruppen (in Prozent)

10-19 Jahre

20-29 Jahre

30-39 Jahre

40-49 Jahre

50+ Jahre

TonträgerGesamtmarkt

11,9

19,5

26,3

21,7

20,6

Pop

13,8

20,3

29,1

23,9

13,1

Rock

16,3

26,2

30,9

16,8

7,9

6,4

13,2

16,4

21,5

42,5

Dance

28,1

34,3

18,5

15,6

3,6

Klassik

0,8

6,4

16,7

21,6

54,5

12,4

12,7

17,3

17,7

39,8

Schlager/ Volksmusik

Altersstruktur der Bevölkerung zum 31.12.2004

Quelle: Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft e.V.

Während noch 1992 Rockmusik von annähernd 70 % der 10- bis 29-Jährigen nachgefragt wurde, machte deren Anteil im Jahr 2004 nur noch 42,5 % aus. Dagegen ist die Nachfrage bei den 30- bis 49-Jährigen deutlich gestiegen (zusammen 47,7 %). Dem liegt die Beobachtung zugrunde, dass die Rock-Musik immer »älter« wird; Elvis Presley, die Rolling Stones oder Tom Jones werden eben heute sowohl von der Generation gehört, die damit aufgewachsen ist, als auch – erstaunlicherweise – von den Kindern dieser Generation. Damit verschiebt sich die Nutzergruppe immer weiter in eine höhere Altersgruppe hinein und vergrößert damit auch die Käufergruppe dieser Musik. Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich im Pop-Bereich, nur im Dance-Segment dominiert die Generation der Disko-Besucher. Leicht nachvollziehbar ist die Verteilung im Klassik-Bereich; kein anderes Repertoire-Segment wird so eindeutig von einer Altersgruppe dominiert wie die klassische Musik. Zwar mögen die meisten Daten bei der Lektüre wenig erstaunlich sein, doch muss man sie immer wieder heranziehen, um sich deutlich zu machen, wie sehr der U-Bereich alle Bevölkerungsgruppen erreicht und eben nicht nur etwas für »die jungen Leute« ist.

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Die hier angesprochene Verschiebung der Repertoire-Segmente in die höheren Altersgruppen war bereits bis zum Jahr 2000 zu beobachten; sie hat sich seitdem weiter verstärkt. Dafür dürfte aber nicht nur die angesprochene Veränderung des Musikgeschmacks eine Rolle spielen, sondern auch die Umsatzrückgänge bei den Tonträgerverkäufen seit der Einführung der MP3Formate, da MP3 in erster Linie von der jüngeren Generation genutzt wird. Dazu zunächst noch ein Blick auf die Gesamtzahlen der verkauften Tonträger zwischen 1996 und 2004, wobei hier unter Pop alle Repertoire-Segmente erfasst sind, die nicht zur Klassik gehören (Angaben in Mio. Stück): Tabelle 7: Absatz von Longplays zwischen 1996 und 2004 in Mio. Stück 1996 Pop etc. Klassik Gesamt

1997

1998

1999

2000

2001

2002 2003 2004 2005

194,7 202,3 201,7 202,1 198,3 180,7 159,5 139,1 134,2 122,0 20,2

21,9

20,7

17,0

16,9

14,4

12,2

10,2

11,9

10,2

214,9 224,2 222,4 219,1 215,2 195,1 171,7 159,3 146,1 132,2

Quelle: Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft e.V.

Die Tabelle zeigt die dramatischen Einbrüche im Tonträger-Absatz der letzten Jahre; der Absatz 2005 machte gerade noch 59 % des erfolgreichsten Jahres 1997 aus. Dass dieser Absatzrückgang die Tonträgerindustrie auch wirtschaftlich in eine extrem schwierige Situation brachte, kann nicht verwundern. Betrug der Jahresumsatz der phonographischen Wirtschaft im Jahr 1996 immerhin 2,707 Mrd. €, so waren es 2005 nur noch 1,746 Mrd. €, also rund 1 Mrd. € weniger Umsatz innerhalb von nicht ganz zehn Jahren. Allein von 2002 auf 2003 hatte man einen Umsatzrückgang von 19,8 % zu verkraften. Rückblickend kann man für die Zeit bis etwa 2000 festhalten, dass gerade im U-Musik-Bereich die Tonträgerindustrie einen entscheidenden Anteil am Musikbetrieb erlangen konnte; gegen die Tonträgerindustrie ging damals in der U-Musik fast nichts. Dies umso mehr, als die Tonträgerproduzenten sehr früh auch die Möglichkeiten des Fernsehens erkannt und sie in Form von Musikvideos für ihre Zwecke genutzt haben. Die enge Zusammenarbeit mit den Musiksendern VIVA und MTV war demnach auch von besonders großer Bedeutung. Diese sichere und scheinbar unangreifbare Marktmacht änderte sich aber fast über Nacht. Etwa im Jahr 2000 tauchte erstmals die Möglichkeit auf, über das Internet Musiktitel im MP3-Format herunterzuladen und diese Titel entweder direkt über den PC abzuhören bzw. auf eine CD zu brennen oder – we-

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nige Jahre später – auf einen mobilen MP3-Player zu überspielen. MP3 steht für »MPEG4 2,5 Audio Layer III« und bezeichnet ein Komprimierungsverfahren für große Datenmengen im Internet, das ursprünglich für eine effiziente Bildspeicherung angelegt war, sich aber auch für die digitale Speicherung von Musik eignet. Dabei werden die Frequenzen, die für das menschliche Ohr nicht hörbar sind, herausgefiltert, so dass der verbleibende Datenumfang nur noch etwa ein Zehntel der ursprünglichen Datenmenge ausmacht. Mit Hilfe von MP3 kann etwa eine Rock-Band einen Musiktitel ins Internet stellen, den sich jeder Nutzer, der über eine entsprechende Audio-Technologie wie beispielsweise RealPlayer G2 oder Windows Media Player verfügt, herunterladen und auf einen eigenen CD-Rohling brennen kann. Eine solche Daten-CD ist jederzeit über den eigenen Personal Computer wieder abhörbar oder, wenn man die Datei mit Hilfe eines Decoders in eine Wave-Datei umwandelt, sogar als Audio-CD über jeden CD-Player abspielbar. Die so hergestellte individuelle Audio-CD erreicht nahezu die Qualität einer handelsüblichen CD. MP3 und die Verbreitung von Musik über das Internet sind demnach technische Erneuerungen, die den Musikbetrieb ähnlich verändern wie vor etwa 100 Jahren die Schallplatte und wenig später die Einführung des Radios. MP3 bietet für den Musikbetrieb durchaus interessante Perspektiven. Das Internet verschafft vielen noch unbekannten Musikern, Ensembles und Bands die Möglichkeit, mit ihrer Musik an die Öffentlichkeit zu treten. Folglich tummeln sich zahlreiche so genannte Independent Labels im Internet, um auf diese Weise ihre Musik bekannt zu machen. Auch bietet MP3 im Internet die Möglichkeit, die verschiedensten Interpretationen miteinander zu vergleichen. Allein von einigen populären Popsongs findet man inzwischen bis zu 500 verschiedene Interpretationen im Netz. Längst entdeckt wurde das MP3-Verfahren auch als willkommene Chance, die Kosten der teuren Studio-Aufnahmen zu senken. Musiker können heute ihren Part in einem Musikstück individuell zu Hause einspielen und die Daten dann per MP3 an den Plattenproduzenten senden, der sie im Studio nur noch mit denen der anderen Band-Mitglieder zusammenfügt. Auf diese Weise ist es möglich, eine Band in Europa mit einem amerikanischen Gitarristen zusammenzubringen, ohne dass sie sich je begegnet wären. So faszinierend die Vorteile des MP3-Verfahrens auch sind, so schwerwiegend sind allerdings auch die Nachteile für die Musikwirtschaft und damit letztlich auch für die wirtschaftliche Situation der Musiker. Statt der ursprünglichen Vorstellung, künftig über E-Commerce-Aufnahmen preisgünstig

4 Moving Pictures Experts Group (Expertengruppe für bewegte Bilder).

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zu verkaufen, indem man auf teure Lagerhaltung und Zwischenhändler verzichtete, beherrschen heute mehr und mehr Raubkopien das Internet, da jeder Nutzer jeden Titel von seiner CD ins Netz stellen kann und diese Titel dann wieder – unter Umgehung des Handels – massenhaft verbreitet werden können. Dies führt zu erheblichen wirtschaftlichen Einbußen in der Tonträgerindustrie. Klagte man noch 1999 über Umsatzverluste wegen Internet-Piraterie in Höhe von ca. 60 Mio. €, so musste man 2004 feststellen, dass die Zahl der – überwiegend illegal – bespielten CD-Rohlinge fast dreimal so hoch war wie die Zahl der verkauften CD-Alben. Allerdings beschert das illegale Bespielen von CD-Rohlingen nicht nur der phonographischen Industrie hohe Verluste, sondern führt natürlich auch zu nennenswerten Einkommensverlusten der Künstler, weil gleichzeitig auch die Urheber- und Verwertungsrechte der Komponisten und Interpreten missachtet werden. Sowohl die phonographische Industrie als auch die Urheberrechtsorganisation und Berufsverbände der Musiker haben deshalb in den letzten Jahren große Anstrengungen unternommen, um der Internet-Piraterie und der illegalen Nutzung von urheberrechtlich geschützten Musikaufnahmen entgegenzuwirken. Glaubte man anfangs noch, der Entwicklung durch Hinweis auf die Illegalität und damit durch Androhung von Strafe entgegenwirken zu können, so hat man ab etwa 2003 eingesehen, dass nur eine Legalisierung der neuen technischen Möglichkeiten zu einem Erfolg führen kann. Zu dieser Einsicht verhalfen vor allem die so genannten Brennerstudien, die – für die Tonträgerindustrie – beängstigende Daten offenbarten. Nach der Brennerstudie 2005 bespielten im Jahr 2004 ca. 21,2 Mio. Personen insgesamt 317 Mio. CD-Rohlinge mit Musik. Im Durchschnitt brannte jede Person 15 Rohlinge mit Musik. 11 Mio. Personen brannten Musik auf CD-Rohlinge für andere Personen auf deren Wunsch (vgl. Brennerstudie 2005; http://www.ifpi.de/wirtschaft/ brennerstudie2005.pdf vom 1.6.2005). Um dieser für das Musikleben in Deutschland desaströsen Entwicklung entgegenwirken zu können, bieten seit etwa 2003 verschiedene Onlinehändler die Möglichkeit an, per Internet legal Musiktitel gegen eine geringe Gebühr herunterzuladen. Allein der Online-Shop Musikload der T-Online International AG hat etwa 500.000 Titel aus fast allen Repertoire-Segmenten ins Netz gestellt. Die Standardgebühr beträgt 1,29 € mit Abweichungen nach oben und unten; zudem versucht man mit attraktiven kostenlosen Downloads und kostenlosen Hörproben neue Kunden zu locken. Dagegen wurde die vom Bundesverband der phonographischen Industrie in Zusammenarbeit mit der Bertelsmann-Tochter BMG konzipierte Online-Plattform Phonoline Ende 2004 wieder vom Netz genommen, weil sie von zu wenigen Interessenten angenommen wurde. Dass das System gleichwohl funktionieren kann, zeigt der Computerhersteller Apple in den USA, der über die Plattform

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I-Tunes seinen Nutzern eine Auswahl von 30 Mio. Titeln zum Preis von je 99 US-Cent anbietet.5 Mit dem Kauf des Titels beim Onlinehändler erwirbt der Nutzer das Recht, ein Musikstück anzuhören, zu brennen und auf mobile Abspielgeräte zu übertragen. Um die Online-Nutzung noch attraktiver zu machen, will die EU zudem eine einheitliche Lizenzierung für alle 25 Mitgliedsstaaten einführen. Dann könnten urheberrechtliche Ansprüche, die sich aus einer Online-Nutzung ergeben, beispielsweise auch von der GEMA im Ausland wahrgenommen werden. Vorbild ist hier der weit größere amerikanische Markt: Während 2004 im EU-Gebiet nur 27,2 Mio. € für die Nutzung von Internet-Musikloads gezahlt wurden, verzeichnete der USA-Markt bereits einen Umsatz von 207 Mio. € (vgl. Stuttgarter Zeitung vom 8.7.2005). Das neue Verfahren zeigt bereits erste Erfolge. In der Brennerstudie 2005 gaben 69 % aller Befragten an, dass sie kostenpflichtige Download-Angebote nutzen, um sich legal zu verhalten. Im Jahreswirtschaftsbericht 2005 des Bundesverbandes der phonographischen Wirtschaft erreichte der Download-Markt 2005 bereits einen Umsatzanteil von 26 Mio. € am Gesamtmarkt der Tonträgerindustrie. Aus wirtschaftlicher Sicht sind allerdings nicht nur die reinen Umsatzanteile von Interesse, sondern vor allem auch das damit verbundene Angebot, denn nur die Relation zwischen der Quantität des Angebots und der Größe des Umsatzes sagt etwas aus über die Renditechancen eines Repertoire-Segments. Auch dazu eine bemerkenswerte Zahl: Am Gesamtangebot der Tonträgerproduktionen des Jahres 2004 hatte die Klassik einen Anteil an den Titeln von 31 %. Dagegen macht deren Anteil am Umsatz aber nur 7,8 % aus. Umgekehrt liegen die Dinge in der U-Musik; dort erbringen – relativ betrachtet – weniger Titel mehr Umsatz. Von diesen Titeln im U-Bereich aber sind wiederum mehr als 85 % ein Flop; nur jede neunte Musikaufnahme ist wirtschaftlich erfolgreich. Daran lässt sich zweierlei ablesen: Im Klassik-Bereich teilen sich sehr viele Titel einen relativ geringen Umsatz; im U-Bereich ist zwar der Gesamtumsatz höher, aber das Risiko, einen Flop zu landen, wesentlich größer. Zusammenfassend kann man festhalten, dass der U-Musik-Bereich zwar nach wie vor außerordentlich kreativ ist und mit Neuerscheinungen jeden anderen Musiksektor um Längen überflügelt und dass auch die Nachfrage nach Musiktiteln weiterhin sehr erfreulich ist, dass aber die wirtschaftliche Situation der Branche keineswegs befriedigen kann. Sahen anfangs gerade 5 Aus urheberrechtlicher Sicht sind Musiktauschbörsen über Filesharing-Netze rechtswidrig, nicht dagegen GEMA-pflichtige Download-Angebote; vgl. dazu ausführlich Wenzl 2005.

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auch unbekanntere Bands in den neuen Internet-Möglichkeiten für sich eine Chance, schneller bekannt zu werden und die schwer überwindbaren Hürden der Tonträgerproduzenten zu überwinden, so ist inzwischen wohl jedem Musiker klar geworden, dass eine ungezügelte Internet-Piraterie ein Schnitt ins eigene Fleisch ist. Illegal vertriebene Musikaufnahmen sind urheberrechtlich nicht geschützt und erbringen damit auch keine Tantiemen. Doch sind viele Musiker und vor allem die meisten Komponisten gerade auf diese Einnahmen angewiesen. Deshalb wird die Eindämmung der illegalen Musikkopien – im U-Musik-Bereich mehr noch als in der E-Musik – für den Fortbestand des Musikbetriebs von entscheidender Bedeutung sein. 4.3.3 Verwertungsgesellschaften Wie in anderen Kunstsparten ist es auch im Musikbetrieb nicht einfach, einen Komponisten, Musiker oder Sänger am Markterfolg einer Komposition oder Aufführung zu beteiligen. Letztlich geht es um die Verwertung eines Werks oder einer Dienstleistung, die urheberrechtlich geschützt ist, auf deren Nutzung der Hersteller des Werks aber keinen Einfluss mehr hat. Wie bereits in Abschnitt 4.1 dargelegt, wurden mit der Einführung des Urheberrechts Anfang des 20. Jahrhunderts Verwertungsgesellschaften gegründet mit dem Auftrag, die Urheberrechte von Künstlern wahrzunehmen. Zwei Verwertungsgesellschaften sind für den Musikbetrieb von maßgeblicher Bedeutung, nämlich die GEMA und die GVL. Die GEMA (Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte) (vgl. Kreile u.a. 2005), mit Sitz in Berlin und München sowie Bezirksdirektionen in allen Bundesländern, ist die wirtschaftlich bedeutendste, älteste und bekannteste Verwertungsgesellschaft in Deutschland. Die Initiative zur Gründung einer Verwertungsgesellschaft auf dem Gebiet der Musik in Deutschland geht zurück auf das Jahr 1903. Initiatoren waren Komponisten und Verleger. Besondere Verdienste hat sich dabei der Komponist Richard Strauss erworben, der deshalb als Vater der heutigen GEMA gelten darf. Der Tätigkeitsbereich der GEMA ergibt sich aus § 2 ihrer Satzung: »Zweck des Vereins ist der Schutz des Urhebers und die Wahrnehmung seiner Rechte im Rahmen dieser Satzung.« Konkret nimmt die GEMA die Rechte der Komponisten, Textdichter und Musikverleger wahr, allerdings nur, soweit es sich um so genannte kleine Rechte handelt. Als große Rechte bezeichnet man die bühnenmäßige Aufführung eines Werks, also beispielsweise die szenische Aufführung einer Oper oder eines Musicals. Diese Rechte werden individuell vom Urheber selbst bzw. deren Bühnenverleger wahrgenommen. Alle konzertanten Aufführungen – auch die konzertante Aufführung einer Oper – zählen dagegen zu den kleinen Rechten, für deren kollektive Wahrnehmung die

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GEMA zuständig ist (vgl. Karbaum 1995/96). Die der GEMA zur kollektiven Verwertung übertragenen Rechte und Ansprüche sind im GEMA-Berechtigungsvertrag festgelegt. Dem Musiknutzer stellt die GEMA stellvertretend für den Urheber in einer treuhänderischen Vermittlung gegen entsprechende Vergütung das Weltrepertoire von derzeit über 6,2 Mio. Werken zur Verfügung. Nach dem Urheberrechtswahrnehmungsgesetz ist die GEMA verpflichtet, jeder Nutzung urheberrechtlich geschützter Musik nachzugehen und zu prüfen, ob Vergütungsansprüche zu stellen sind. Die Vergütung richtet sich nach festen, im Bundesanzeiger veröffentlichten Tarifen. 2002 wurden Erträge von 812 Mio. € erzielt, von denen – nach Abzug des eigenen Aufwands von wenig mehr als 14 % – fast 700 Mio. € an die bezugsberechtigten Mitglieder und andere in- und ausländische Verwertungsgesellschaften ausgezahlt wurden. Größte Einnahmequellen sind die Tonträger- und Bildträgervervielfältigungen sowie die Gebühren aus Musiksendungen von Hörfunk und Fernsehen. Die GVL (Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten) ist die urheberrechtliche Vertretung der ausübenden Künstler und der Tonträgerhersteller. Tonträgerhersteller sind Schallplatten- bzw. CD-Firmen und sonstige Tonträger-Produzenten mit eigenem Label. Zu den ausübenden Künstlern zählen Musiker, Sänger, Tänzer, Schauspieler und alle sonstigen Werkinterpreten. Die GVL nimmt die so genannten Zweitverwertungsrechte für die Künstler und die Hersteller wahr. Sie zieht hierfür auf der Grundlage des Urheberrechts und nach den von ihr aufgestellten Tarifen und abgeschlossenen Verträge die Vergütungen ein und verteilt sie an ihre Berechtigten. Da sich die Aufgaben von GEMA und GVL ähneln und die GEMA die größte aller Verwertungsgesellschaften ist, übernimmt sie auch die Inkasso-Geschäfte für die GVL, so dass die Veranstalter und anderen Verwerter es in der Regel immer nur mit der GEMA zu tun haben. Die Verteilung der GVL-Erträge an die Berechtigten erfolgt allerdings durch die GVL selbst. Die GVL wird nur tätig bei der öffentlichen Darbietung von Musik. Bei der privaten Überspielung tritt gegenüber der Tonträgerindustrie die ZPÜ (Zentralstelle für private Überspielungsrechte) als Zusammenschluss aller urheberrechtlichen Verwertungsgesellschaften auf. Der private Nutzer zahlt die ZPÜ-Gebühr indirekt durch einen Aufschlag auf den Kaufpreis eines Wiedergabegerätes oder Ähnliches. 4.3.4 Musikwirtschaft 1988 erschien das Gutachten Die volkswirtschaftliche Bedeutung von Kunst und Kultur (Hummel/Berger 1988). Seitdem unterscheidet man volkswirtschaftlich zwischen dem Kernbereich des Kulturbetriebs und den so genannten vor-

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und nachgelagerten Bereichen. Diese Unterscheidung ist vor allem für die Musikwirtschaft außerordentlich sinnvoll, denn es ist leicht einzusehen, dass allein Konzerte nicht die Musikwirtschaft in ihrer Gesamtheit ausmachen können. Damit es überhaupt zu einem Konzert kommen kann, benötigen Musiker Instrumente und Noten, zwei wichtige Bereiche mithin, die dem eigentlichen Kern der Musikwirtschaft vorgelagert sind. Andererseits werden Produkte und Dienstleistungen des Kernbereichs weiterverwertet, etwa in Form von Tonträgern; sie sind dem Kernbereich nachgelagert. Allerdings ist die Datenlage zur Musikwirtschaft nach wie vor recht unübersichtlich, da die relevanten Statistiken nicht einheitlich geführt werden. So hat es beispielsweise erhebliche Auswirkungen auf das Gesamtergebnis, in welchem Umfang Musiktheater dem Musikbereich zugeordnet oder ob sie allein als Teil des Theaterbetriebs gerechnet werden. Von daher sind alle Statistiken zu diesem Thema mit einiger Vorsicht zu behandeln. Das Deutsche Musikinformationszentrum des Deutschen Musikrats stellt aber in regelmäßigen Abständen Daten der Umsatzsteuerstatistik nach stets gleichen Kriterien zusammen, wodurch zumindest sichergestellt ist, dass stets gleich gewichtet und zugeordnet wird. Hier die wichtigsten Daten der letzten Erhebung von 2002: Tabelle 8: Unternehmen und Umsätze in Musikwirtschaft und Phonomarkt in Deutschland 2002 Steuerpflichtige Unternehmen 2002

Umsatz in Mio. € 2002

Umsatzveränderung 2002 gegenüber 1996

Kernbereich der Musikwirtschaft Selbstst. Komponisten/ Musikbearbeiter Musik- und Tanzensembles Theater- und Konzertveranstalter Private Theater, Opernhäuser, Konzerthallen

2.217 1.993 1.024 197

242,7 215,5 927,9 387,5

Zwischensummen

5.431

1.773,6

Musikverlage Herstellung von Musikinstrumenten

1.011 1.170

633,0 609,4

Zwischensummen

2.181

1.242,4

32,2 % -13,4 % 160,4 % -30,0 %

Vorgelagerte Bereiche 23,4 % -23,2 %

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Werner Heinrichs Der Kulturbetrieb Nachgelagerte Bereiche Tonstudios Herstellung von Tonträgern Vervielfältigung von Tonträgern Einzelhandel mit Musikinstrumenten Diskotheken und Tanzlokale Tanzschulen Phonomarkt (Herstellung und Einzelhandel von Rundfunk- und phonotechnischen Geräten; berücksichtigt wird ein Anteil von 50 %)

966 200 515 2.422 2.070 1.383 5.554

200,0 309,4 624,8 929,9 712,9 165,7 8.545,3

Zwischensummen

13.110

11.488,0

20.722

14.504,0

Gesamtsumme Musikwirtschaft

157,3 % -36,6 % -36,3 % -9,1 % 20,3 % 19,2 % 10,3 %

5,9 %

Quelle: Eigene Berechnung auf der Grundlage der Daten des Deutschen Musikinformationszentrums (http://www.miz.org/suche_1519.html)

Die Tabelle macht noch einmal die methodische Problematik deutlich. Dies betrifft – wie bereits erwähnt – den Theaterbereich, wo die statistische Abgrenzung von Musiktheater und Musikfestspielen nur schwer möglich ist. Problematisch ist die Statistik aber vor allem im nachgelagerten Bereich. Diskotheken, Tanzlokale und Tanzschulen können wohl nicht ausschließlich der Musikwirtschaft zugerechnet werden, auch wenn man sich solche Lokalitäten nur schwer ohne Musik vorstellen kann. Noch problematischer werden die Daten bezüglich des Phonomarktes, weshalb hier auch nur mit einem Anteil von 50 % gerechnet wird. Das scheint gerechtfertigt zu sein, denn der Anteil der phonotechnischen Geräte, die vorwiegend zur Wiedergabe von Musik dienen, ist zweifellos recht groß. Dagegen fehlt im vorgelagerten Bereich die Musikausbildung, also private und öffentliche Musikschulen, Privatmusiklehrer, Konservatorien und Musikhochschulen; sie müssen bundesweit mit etwa 600 Mio. € angesetzt werden. Nimmt man alle Zahlen zusammen (einschließlich der Musikausbildung), so erwirtschaften insgesamt etwa 21.000 Betriebe der Musikwirtschaft einen jährlichen Umsatz von mehr als 15 Mrd. €. Das ist ein auch unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht unerheblicher Betrag, dessen Wert aber vor allem dann deutlich wird, wenn man sieht, wie er zustande kommt. Der bei weitem größte Teil des Umsatzes wird in kommerziellen Unternehmen erwirtschaftet, die sich dabei aber vor allem jener Musiker, Ensembles und Orchester bedienen, die von der öffentlichen Hand ausgebildet bzw. betrieben werden. Ohne den differenzierten Ausbildungssektor und die zahlreichen Klangkörper der öffentlichen Hand und des öffentlichen Rundfunks hätten weder die Musikinstrumentenindustrie und die Musikverlage entsprechende Abnehmer für ihre Produkte, noch stünden Tonaufnahmen für die Tonträger-

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industrie in nennenswertem Umfang zur Verfügung. Dabei sollen die privaten Ensembles, die vor allem im Bereich der U-Musik sehr erfolgreich existieren, keineswegs übersehen werden, doch wurden auch deren Musiker in aller Regel an Musikhochschulen professionell ausgebildet. Insgesamt gibt die öffentliche Hand jährlich etwa 2,4 Mrd. € für den Musikbereich aus; dieser Betrag bildet in nicht unwesentlichem Umfang die Grundlage für jene insgesamt 15 Mrd. €, die jährlich – einschließlich des Anteils der öffentlichen Hand – in der Musikwirtschaft umgesetzt werden. Während in den 90er Jahren in anderen Kunstsparten oft etwas leichtfertig davon die Rede war, dass Subventionen in die Kultur eigentlich Investitionen in die Volkswirtschaft seien, zeigen diese Zahlen, dass diese Aussage zumindest für den Musikbereich eine gewisse Berechtigung hat.6 In der Tabelle 8 zur Musikwirtschaft fällt besonders der große Zuwachs im Veranstaltungsbereich auf. Dies deckt sich mit den Zahlen, die regelmäßig vom Bundesverband der Veranstaltungswirtschaft (IDKV) veröffentlicht werden (vgl. Bundesverband der Veranstaltungswirtschaft (IDKV) und Der Musikmarkt 2004). Demnach haben traditionelle Konzertformen zwar rückläufige Besucherzahlen, doch in der gesamten Veranstaltungswirtschaft zeigt sich konstant eine positive Entwicklung. Das hängt mit neuen Veranstaltungsformen wie Events und Open-Air-Konzerten der Mega-Stars zusammen, die jeweils weit größere Zuschauerzahlen bewegen und damit auch Umsätze zur Folge haben als die traditionellen kleineren Konzertformen. Damit ist ein Trend in der Musikwirtschaft angesprochen, der nicht nur für den Veranstaltungssektor gilt: was groß ist, soll möglichst noch größer werden. Das Mega-Event steht im Mittelpunkt, und zwar nicht nur für den Rockund Pop-Bereich, sondern längst auch für die Klassik: die Berliner Waldbühne und die »Drei Tenöre« machten hier vor Jahren den Anfang. Der Konzentration auf Mega-Veranstaltungen entsprechen Fusionen in der Tonträgerindustrie und in der Musikvermarktung. 2004 schlossen sich die zu Bertelsmann gehörende BMG – bis dahin das fünftgrößte Unternehmen der Branche – und Sony zusammen und bildeten die Sony BMG Music Entertainment. Sie bilden nun – nach Universal Music – das weltweit zweitgrößte Unternehmen in der Musikbranche. Zuvor hatte bereits 2003 ein Konsortium um den ehemaligen Seagram-Chef Edgar Bronfman die Musiksparte des Konzerns Time Warner – Nummer drei der Branche – erworben. Auch EMI – Nummer vier – war lange Zeit für Fusionen im Gespräch. Inzwischen decken allein diese vier größten Konzerne der Musikwirtschaft etwa 80 % des Weltmarktes ab. Dies zeigt noch einmal sehr deutlich, wie sehr die Branche unter Druck 6 Zur politischen Bewertung der Musikwirtschaft vgl. Kulturpolitische Gesellschaft 2004.

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steht; die Internet-Piraterie und das illegale Brennen von CDs machen der gesamten Musikwirtschaft das Leben schwer. Allerdings gibt es erste Anzeichen für eine Stabilisierung; weitere Fusionen im großen Stil, wie dies 2003 und 2004 zu beobachten war, sind wohl nicht mehr zu erwarten. Das ist ein gutes Signal auch für kleinere Labels und kleinere Veranstalter, die sich nun wieder in ihren Nischen einrichten können, ohne den Fusionsappetit der Großen weiter fürchten zu müssen. 4.4 Laienmusik Leider wird in der öffentlichen Wahrnehmung des Musikbetriebs die Laienmusik häufig vergessen. Das ist weder von ihrer quantitativen Bedeutung her noch aus der Gesamtsicht des Musikbetriebs gerechtfertigt. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass viele Menschen ihren Zugang zur Musik über die Laienmusik finden und dass ein ganz erheblicher Anteil der Nachfrage im Instrumentenbau und im Musikalienhandel durch die Laienmusik erzeugt wird. Unter Laienmusik versteht man jenen Teil des organisierten Musiklebens, der von Musikern und Sängern ausgeübt wird, die weder Musik als ihre Haupteinkommensquelle ansehen noch einen solchen Haupterwerb anstreben. Folglich gehört auch der Absolvent der Musikhochschule, der heute vielleicht eine Versicherungsagentur betreibt und nebenher einen kleinen Chor leitet, zum Bereich der Laienmusik, auch wenn er das Musizieren einst professionell erlernt hatte. Laienmusik hat in Deutschland eine recht große Tradition, an die hier ein weiteres Mal erinnert werden muss. War die Musik- und Kunstpflege zunächst über Jahrhunderte hinweg überwiegend Aufgabe der Fürsten und Kirchen, so trat zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein entscheidender Wandel ein. Als Folge von Aufklärung, Französischer Revolution und beginnender Industrialisierung emanzipierte sich Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland das Bürgertum, d.h. die gebildete und zunehmend wohlhabende Schicht des neuen Bürgertums befreite sich schrittweise von der Vorherrschaft und Vormundschaft der Fürstenhäuser. Zwei Erscheinungsformen dieser bürgerlichen Emanzipation sind aus der Sicht des heutigen Musikbetriebs von besonderem Interesse: Erstens signalisierte man gegenüber Adel und Kirchen das steigende Selbstbewusstsein, indem man sich genau jener gemeinnützigen Aufgaben annahm, die bisher allein die herrschenden Schichten für sich in Anspruch genommen hatten, d.h. das Bürgertum übernahm von Adel und Kirchen die Rolle des Kunst- und Musikmäzens. Und zweitens schuf man neue Zirkel der Kommunikation und Sozialisation, um sich von den Sozialisationsmustern des Adels und der Kirchen zu befreien, d.h. man gründete Ver-

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eine. Sieht man nun beide Aspekte zusammen, nämlich das bürgerliche Mäzenatentum und die neue Form der bürgerlichen Sozialisation, so entsteht in logischer Konsequenz der Kunst- bzw. Musikverein. Und in der Tat wurde 1809 in Berlin von dem Musikpädagogen Carl Zelter die Berliner Liedertafel gegründet, der 1824 der Stuttgarter Liederkranz folgte. Daneben gab ab 1832 eine mindestens ebenso wichtige und nachhaltige Bewegung, die aus der Arbeiterschaft kam. Noch im gleichen Jahr wurde eine Sammlung von Arbeiterliedern herausgegeben (Männerstimmen zu Deutschlands Einheit), die vor allem in den frühen sozialistischen und kommunistischen Handwerker- und Arbeiterorganisationen gepflegt wurden. Sowohl die bürgerlichen Gründungen als auch die Vereine der Arbeiterschaft breiteten sich im 19. Jahrhundert außerordentlich schnell aus. Beispielsweise in München gab es bald 150, Ende des Jahrhunderts sogar 3.000 kulturell oder gesellschaftlich orientierte Vereine, was in München die kuriose Folge hatte, dass man bald nicht mehr in der Lage war, neue Vereine noch benennen zu können, weil der Vorrat an Vereinsnamen schlichtweg sprachlich erschöpft war. Auch wenn sich die bürgerlichen Emanzipationsvereine nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Ende des Adels überholt hatten, gibt es auch heute noch eine erstaunlich große Zahl von Musik- und Gesangvereinen, die häufig unmittelbare Nachfolger der Gründungen des 19. Jahrhunderts sind. Die aus der Arbeiterschaft hervorgegangenen Vereine hatten es ohnehin leichter ihren Fortbestand zu sichern, da ihnen die Legitimation der Gründungszeit nicht abhanden gekommen war. Welche quantitative Dimension die Laienmusik auch heute noch hat, belegen eindrucksvoll einige Zahlen. Allein in der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände (ADC) sind mehr als 41.500 Chöre versammelt, denen mehr als 2,5 Mio. aktive und passive Mitglieder angehören. Der ADC ist der Dachverband der wichtigsten eigenständigen Chorverbände: Allgemeiner Cäcilien-Verband für Deutschland (ACV), Arbeitskreis Musik in der Jugend (AMJ), Deutscher Chorverband (DCV), Internationaler Arbeitskreis für Musik (IAM), Verband Deutscher KonzertChöre (VDKC) sowie Verband evangelischer Kirchenchöre Deutschlands (VeK). Der Deutsche Chorverband e.V. ist seit Februar 2005 der Zusammenschluss der bis dahin selbstständigen beiden Verbände Deutscher Sängerbund (DSB) und Deutscher Allgemeiner Sängerbund (DAS). Allein dem Deutschen Chorverband gehören 1,8 Mio. Mitglieder an, davon 750.000 Jugendliche, Männer und Frauen, die in ca. 26.000 Chören aktiv sind. Zum Deutschen Chorverband gehört auch die Deutsche Chorjugend, die immerhin 120.000 Aktive bis zum Alter von 27 Jahren zählt. Dieser Zusammenschluss zum Deutschen Chorverband ist deshalb besonders erwähnenswert, weil sich damit die beiden eben angesprochenen Entwicklungslinien nach mehr als 150 Jah-

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ren treffen. Der Deutsche Sängerbund (DSB) ist aus der Liederkranz-Bewegung und den bürgerlichen Gründungen des frühen 19. Jahrhunderts hervorgegangen. Im Deutschen Allgemeinen Sängerbund (DAS) sind die Arbeitervereine des 19. Jahrhunderts zusammengeschlossen; in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hieß der DAS sogar Deutscher Arbeiter-Sängerbund. In einer Presseerklärung des Deutschen Chorverbands vom 28. Februar 2005 heißt es mit Blick auf diese bemerkenswerte Geschichte: »An Stelle bürgerlich-nationaler oder sozialistischer Orientierung bekennt sich der neue Deutsche Chorverband heute zu überparteilicher Arbeit und zu einer weltoffenen Politik in nationalen, europäischen und weltweiten Organisationen.« Neben den Chören sind die Verbände der Blas-, Spielleute-, Akkordeon-, Mandolinen- und Zithermusik die zweitgrößte Gruppe; diese Verbände haben sich 1956 zur Arbeitsgemeinschaft der Volksmusikverbände (AVV) zusammengeschlossen. Etwa 700.000 aktive und 1,4 Mio. fördernde Mitglieder sind in den zehn Mitgliedsverbänden des AVV vereinigt. Die aktiven Mitglieder treten in 12.000 Musikvereinen und 21.000 Orchestern und Chören auf. Deutlich kleiner, aber doch von großer Bedeutung für die Laienmusik ist der 1924 gegründete Bund Deutscher Liebhaberorchester (BDLO), in dem etwa 25.000 Musiker in mehr als 550 Mitgliedsorchestern organisiert sind. Eine kleine Anmerkung verdient auch hier noch der Pop- und Rockbereich, der im Kontext von Laienmusik erstaunlicherweise kaum thematisiert wird. Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, geht die Rockstiftung BadenWürttemberg davon aus, dass es allein in Baden-Württemberg etwa 2.700 nicht professionelle Rockbands gibt. Angesichts einer durchschnittlichen Besetzung von vielleicht vier bis fünf Musikern sind dies immerhin 10.000 bis 13.000 Laienmusiker, im ganzen Bundesgebiet also vielleicht an die 100.000. Doch in den Statistiken über Laienmusik tauchen diese Personen nicht auf. Insgesamt sind in den drei genannten Dachverbänden der Laienmusik rund 4 Mio. musizierende und singende Menschen versammelt. Zusammen mit weiteren kleineren Verbänden schätzt man deren Gesamtzahl sogar auf 5 Mio. Bürger. Das verdient allein von der Größenordnung her allen Respekt, sollte aber auch für den Musikbetrieb nicht unterschätzt werden. Auch Laienmusiker und Laiensänger benötigen Instrumente und Noten, zahlen GEMA, lassen sich Uniformen und Bühnenkleider schneidern, machen Konzertreisen, nutzen Probenräume und mieten Konzertsäle an. Der wirtschaftliche Effekt dieses Teils des Musikbetriebs dürfte mithin völlig außer Frage stehen. Nicht zuletzt aber tragen diese Aktiven auch dazu bei, dass der professionelle Musikbetrieb lebendig bleibt. Sehr häufig sind es die Laienmusiker bzw. Laiensänger, die die Konzerte der Profis besuchen, und es sind vor allem auch deren Familien, die ihre Kinder in die Musikschule schicken oder

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sie im Verein ein Instrument erlernen lassen. Wenn folglich Profis mit Arroganz auf die Arbeit dieser Laienmusik blicken, so belegen sie damit nur, dass ihnen wichtige Zusammenhänge im Musikbetrieb verborgen geblieben sind. 4.5 Rahmenbedingungen des Musikbetriebs Neben den allgemeinen Rahmenbedingungen des Kulturbetriebs, wie sie in Kapitel 2 beschrieben sind, gelten für den Musikbetrieb einige zusätzliche Rahmenbedingungen. Sie sind hier als strukturelle, kulturpolitische, rechtliche und bildungspolitische Rahmenbedingungen des Musikbetriebs gesondert zu betrachten. 4.5.1 Strukturen Der Musikbetrieb ist überaus vielfältig und außerordentlich differenziert gegliedert. Dazu tragen nicht zuletzt die unterschiedlichen Erscheinungsformen von Musik bei (Konzertmusik, Oper, Filmmusik, Kirchenmusik, Laienmusik usw.), aber auch die in der Musik besonders ausgeprägte Vorliebe, für alles und jedes einen eigenen Verband zu gründen. Das hat dazu geführt, dass der Musikbetrieb in seiner Gesamtheit als besonders schwer über- (und durch-) schaubar gilt. Dennoch gelingt der Überblick, wenn man auch hier wieder die drei bewährten Grundformen der Rechtsträgerschaft im Kulturbetrieb als strukturelle Gliederung zur Hand nimmt, nämlich öffentlich-rechtlich, privatrechtlich-gemeinnützig und privatrechtlich-kommerziell. Im öffentlich-rechtlichen Bereich zählen dazu staatliche und städtische Orchester, Musiktheater, Musikschulen sowie der gesamte Bereich der öffentlich-rechtlichen musikalischen Bildungs- und Weiterbildungseinrichtungen wie z.B. Musikhochschulen und Musikakademien. Im privatrechtlich-gemeinnützigen Bereich hat man es mit den zahlreichen Musik- und Gesangvereinen, einer kaum noch überschaubaren Anzahl von Musikverbänden sowie mit Stiftungen zu tun. Im privatrechtlich-kommerziellen Bereich sind es die Musikverlage, der Musikalienhandel und der Instrumentenbau sowie der gesamte Künstlermarkt und der Musikmedienmarkt. In der Übersicht, die für die verschiedenen rechtlichen Erscheinungsformen nur Beispiele nennt, zeigt sich dies wie folgt:

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Abbildung 4: Musikbetrieb im Überblick (nur ausgewählte Beispiele) öffentlich-rechtlich (ohne Kirchen) Kommunen

a) Einrichtungen Musiktheater Orchester Musikschulen Musikbibliotheken

Länder

a) Einrichtungen Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen;

privatrechtlichgemeinnützig Vereine/ Stiftungen Verbände Musikund Gesangvereine Deutscher Musikrat;

Deutsche Musikhoch- Orchesschulen tervereinigung Musikakademien usw. Konservatorien

GEMA

Deutsche Stiftung Musikleben

privatrechtlich-kommerziell Musikwirtschaft

Künstlermarkt

Medienmarkt

Instrumentenbau

Musiker

Tonträger-

Sänger

Produktion/ Vertrieb

Instrumentengroßhandel Musikverlage Musikalienhandel

Dirigenten Komponisten

Filmmusik

Privater KünstHörfunk ler-/ Konzert- Privates agenFernsehen turen

Rundfunk (Hörfunk und Fernsehen) b) Veranstaltungen Konzerte Festivals c) Förderung c) Förderung Stipendien Preise

z.B. Jugend musiziert

Kompositionsaufträge Vereinsförderung

Auch wenn diese Zusammenstellung stark vereinfacht ist und Querverbindungen nicht sichtbar werden, zeigt sie doch einige interessante Merkmale: • Der Musikbetrieb ist rechtlich außerordentlich differenziert; man begegnet ihm letztlich in allen nur denkbaren Rechts- und Trägerformen. • Wie in anderen Sparten unterteilt sich auch im Musikbetrieb der öffent-

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lich-rechtliche Bereich in den Betrieb eigener Einrichtungen, die Durchführung von Veranstaltungen sowie die Förderung der Aktivitäten Dritter. • Der Musikbetrieb ist sehr breit angelegt; es gehören nicht nur Konzertveranstaltungen, Opernhäuser und Musikvereine dazu, sondern auch der gesamte Tonträgermarkt, die Musikverlage und weite Teile von Hörfunk und Fernsehen. • Es gibt Überschneidungen zu anderen Sparten des Kulturbetriebs, etwa in Form des Musiktheaters (vgl. Kapitel 6) oder in Form der Filmmusik (vgl. Kapitel 7). • Es ist eine enge Verzahnung zwischen Profit- und Nonprofit-Bereichen festzustellen, indem beispielsweise aus kommunalen Musikschulen, staatlichen Musikhochschulen und öffentlich-rechtlichen Orchestern ein großer Teil der Nachfrage im kommerziellen Instrumentenbau und Musikalienhandel stammt. In dieser Zusammenstellung sind vor allem die Effekte von Interesse, die durch eine Musikförderung aus öffentlichen Mitteln erreicht werden. Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, benötigen Schüler einer Musikschule oder Studenten einer Musikhochschule, aber natürlich auch Laien- und Profiorchester Instrumente und Noten. Wenn die öffentliche Hand also aus öffentlichen Finanzmitteln Musikschulen, Musikakademien, Musikhochschulen, Orchester, Chöre und Musiktheater unterhält, so schafft sie durch diese Kulturinvestitionen nicht unerhebliche Multiplikatoreneffekte. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die öffentliche Förderung eine Nachfrage in einem privatwirtschaftlichen Sektor initiiert, der ohne die öffentliche Förderung nicht entstanden wäre. Vor diesem Hintergrund gewinnt die strukturelle Vielfalt des Musikbetriebs zusätzlich an Interesse. Volkswirtschaftlich betrachtet ist die Verknüpfung von öffentlichen, gemeinnützigen und kommerziellen Elementen des Kulturbetriebs in hohem Maße wünschenswert. 4.5.2 Öffentliche Musikförderung Wenn man diesem Gedanken folgt, ist die Frage nach der Höhe der öffentlichen Musikförderung nur konsequent. Allerdings sind die Finanzstatistiken der öffentlichen Hand nicht darauf ausgerichtet, öffentliche Ausgaben beispielsweise nach ihrer Wirkung auf den Musikbetrieb zu erfassen, weshalb eine entsprechende Statistik nur schwer zu erstellen ist. Nach den Berechnungen von Söndermann für das Haushaltsjahr 2001 (vgl. http://www.miz. org / static / themenportale / einfuehrungstexte _ pdf / 02 _ Musikfoerderung / soender mann.pdf vom 13.7.2006, S. 4) entfallen von den Kulturausgaben der öffentlichen Hand (Bund, Länder und Kommunen) 2.444 Mio. € auf die Bereiche

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Musikpflege und Musikförderung, also immerhin 30,4 % der Gesamtausgaben. Dies ist der höchste spartenspezifische Betrag in der gesamten öffentlichen Kulturförderung. Fast jeder dritte Euro der öffentlichen Kulturförderung fließt in den Musikbetrieb. Diese hohe Summe bzw. dieser hohe relative Anteil wird allerdings nur erreicht, wenn man das Musiktheater (1.377 Mio. €) einbezieht. Rechnet man die Ausgaben für öffentliche Musiktheater ab (sie werden üblicherweise den Ausgaben für die Theater zugeschlagen), so entsprechen die Musikausgaben etwa denen für öffentliche Bibliotheken oder öffentliche Museen. Hier die wichtigsten Daten für den öffentlichen Musikbetrieb, aufgeteilt nach Bund, Ländern und Kommunen: Tabelle 9: Musikausgaben im Kulturbereich 2001 in haushaltssystematischer Gliederung nach Bund, Ländern und Gemeinden Ausgabenbereich

Bund

Musiktheater Orchester Musikfestspiele/-festivals

Länder

Kommunen

Summen

604

774

1.377

14

70

138

222

8

10

10

28

35

111

146

67

337

404

Chöre, Vereine, Gruppen Musikschulen Musikhochschulen

201

Musikangebote in Volkshochschulen

4

201 14

18

Musikalienbestände in Museen

2

2

4

8

Musikmedien in Bibliotheken

4

9

23

36

1.410

2.444

Sonstige Musikausgaben Summen

3

3

31

1.003

6

Quelle: http://www.miz.org/static/themenportale/einfuehrungstexte_pdf/02_ Musikfoerderung/soendermann.pdf, S. 4

In der Tabelle 9 schlägt sich nieder, dass die Förderung der Musik auch politisch einen hohen Stellenwert hat. Das ist zum einen darauf zurückzuführen, dass sich Musik als Form des kulturellen Erlebens in besonderem Maße im Alltag niederschlägt, mithin jeder Bürger in irgendeiner Form an den Kulturausgaben für Musik partizipiert. Zum anderen ist aber auch die Nachfrage nach Musik in besonderem Maße erkennbar. Ein voller Konzertsaal prägt sich eben doch anders ein als nur wenige Besucher in einer Kunstausstellung, obwohl die Ausstellung am Ende vielleicht weit mehr Besucher gesehen haben, als es Hörer im Konzert gab. Aber der visuelle Eindruck einer großen Nachfrage ist in der Musik in der Regel doch ausgeprägter als in anderen

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Kunstsparten. Außerdem ist Musik aber auch etwas, mit dem sich Politiker, Mäzene oder Sponsoren gerne schmücken. Die Tradition des kunstfördernden Fürsten, die vom Bürgertum des 19. Jahrhunderts sehr bewusst übernommen wurde, setzt sich auch heute noch fort. Musik schenkt dem öffentlichen Auftritt von Funktionsträgern in Politik und Wirtschaft die Aura des Besonderen und Erhabenen. Nicht umsonst werden auch heute noch Staatsakte musikalisch umrahmt und jede Ehrung eines Kommunalpolitikers mit einem musikalischen Rahmenprogramm aufgewertet. Musik gefällt, und sie ist von großem Nutzen für die Politik; andere Sparten, wie beispielsweise das Schauspiel, haben es da wesentlich schwerer. Dennoch kann nicht übersehen werden, dass gerade auch der Musikbetrieb in den letzten Jahren durch politische Entscheidungen erheblich zu leiden hatte. Gab es nach der Deutschen Einheit 168 aus öffentlichen Mitteln finanzierte Kulturorchester, so sind es heute nur noch 135. Dadurch und durch Kürzungen in den verbliebenen Orchestern sind die Orchesterplanstellen zwischen 1992 und 2005 um 16 % von ehedem 12.159 auf heute 10.240 zurückgegangenen (nach Angaben der Deutschen Orchestervereinigung; Presseerklärung vom 9.2.2006). In den Kommunen werden seit Jahren kontinuierlich die Mittel für Konzerte und Musikprojekte gekürzt, so dass manche traditionsreiche Konzertreihe bereits eingestellt werden musste. Doch nicht nur der unmittelbare Unterhalt von Orchestern, Musiktheatern und Konzertbetrieben ist betroffen, sondern auch der für das Musikleben so wichtige Bereich der Ausbildung. Der Musikunterricht an den allgemeinbildenden Schulen verliert an Stellenwert, und viele kommunale Musikschulen kämpfen ums Überleben. Nach dem Kulturfinanzbericht 2003 stagnieren die Kulturausgaben der öffentlichen Hand für Theater und Musik, und das bei steigenden Ausgaben. Gleichwohl ist Deutschland im internationalen Vergleich immer noch eines der führenden Musikländer. Nirgendwo sonst gibt es so viele Kulturorchester, Musiktheater, Musikfestspiele oder Musikhochschulen. Das Vereinswesen – ein oft als typisch deutsch belächeltes Phänomen – erweist sich gerade in der Musikförderung als eine große Stärke. Mit den Musicaltheatern ist zudem in den letzten beiden Jahrzehnten eine völlig neue Sparte des Musikbetriebs entstanden, die zwar künstlerisch schon vorher bestand, in ihrer Organisationsform aber völlig neue Wege gegangen ist. Nicht zu vergessen ist die Popularmusik, die vom deutschen Schlager und der so genannten Volksmusik bis zur Rockmusik einen auch künstlerisch sehr weiten Bereich abdeckt. Nachdem die Popularmusik vorübergehend von ausländischen Interpreten dominiert wurde, haben sich inzwischen auch wieder deutsche Bands und Sänger etablieren können. Dies weist auf die Bedeutung des Musiklebens hin und auf den hohen

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Stellenwert, den der Musikbetrieb in all seinen Facetten nach wie vor in Deutschland hat. Nicht nur dank Bach, Beethoven und Brahms, sondern auch dank eines heute überaus lebendigen Musikbetriebs ist Deutschland eines der führenden Musikländer der Welt. Ein solches Profil ist im Wettbewerb der Staaten um Ansehen und damit auch um wirtschaftliche Positionierung von kaum zu überschätzendem Wert. Es sollten deshalb von der Politik alle Anstrengungen unternommen werden, um dieses positive Image zu erhalten. 4.5.3 Urheber- und Vertragsrecht Um ein solches Profil mit positiven Imagewirkungen zu erhalten, sind immer auch rechtliche Instrumente gefragt. In Kapitel 2 war bereits von den rechtlichen und steuerrechtlichen Rahmenbedingungen die Rede. Welch unterschiedliche Rechtsvorschriften im Musikbetrieb relevant sind, macht ein Überblick über die Vertragsarten deutlich, mit denen es ein Komponist, Sänger oder Musiker üblicherweise zu tun hat (vgl. Fischer/Reich 1992: 239ff.): a) Wahrnehmungsverträge Komponisten, Textdichter und Musikverleger übertragen die Wahrnehmung ihrer Urheberrechte der GEMA; Interpreten und Tonträgerproduzenten schließen einen entsprechenden Wahrnehmungsvertrag mit der GVL. b) Miturheberverträge Wahrnehmungsverträge für Komponisten und Textdichter, wenn es sich um ein gemeinsam erarbeitetes Werk handelt. c) Gesellschaftsvertrag einer Musikgruppe Freischaffende Musiker, die als Ensemble auftreten, werden rechtlich als »Gesellschaft bürgerlichen Rechts« (GbR) behandelt, d.h. für sie gilt das Gesellschaftsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Dies gilt selbst dann, wenn die Mitglieder der Musikgruppe diesbezüglich keine Regelung treffen. Es empfiehlt sich deshalb, dass die Musiker ihre Rechte und Pflichten im Innenverhältnis der Gruppe wie Gesellschafter individuell regeln. Dazu gehören beispielsweise Regelungen über die Willensbildung der Gruppe, die rechtsgeschäftliche Vertretung nach außen und die Wahrnehmung von Urheberrechten. d) Konzertvertrag Wichtigste privatrechtliche Grundlage für Musiker ist der Konzertvertrag. Ist der Musiker festes Mitglied eines Orchesters oder Ensembles (z.B. ein Chor), so handelt es sich um einen Arbeitsvertrag, aus dem sich ein Weisungsrecht des Arbeitgebers ergibt. Das gilt in übertragener Form auch für das GbR-Ensemble (z.B. eine Band), wo die GbR die Funktion eines Arbeit-

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gebers übernimmt. Ist ein Musiker nur aushilfsweise in einem Ensemble tätig, so handelt es sich um einen Dienstvertrag. Arbeitsvertrag und Dienstvertrag gelten beispielsweise für die Mitglieder eines Opernorchesters oder eines Rundfunkorchesters, wenn sie im Auftrag ihres Arbeitgebers ein Konzert spielen. Tritt ein Orchester oder Ensemble aber bei einem anderen Veranstalter auf, so handelt es sich um einen Werkvertrag. Der Erfolg im Sinne des Werkvertragsrechts ist allerdings nicht der künstlerische Erfolg, sondern die Konzertaufführung selbst; eine Haftung für die künstlerische Qualität ist mit dem Konzertvertrag grundsätzlich nicht verbunden. Im Konzertvertrag werden auch die Rechte und Pflichten der Veranstalter geregelt, wie beispielsweise eine professionelle Werbung, die Wahrung der gesetzlichen und behördlichen Auflagen, die Abrechnung der GEMA-Gebühren sowie die ordnungsgemäße Abrechnung der Kartenverkäufe, sofern eine Beteiligung der Musiker an den Erlösen vereinbart ist (üblich vor allem bei Ensembles der U-Musik). Darüber hinaus werden in einem Konzertvertrag in der Regel Fragen der Haftung und technische Details geregelt. e) Tonträgerproduktionsvertrag Diese Vertragsart befasst sich mit der Herstellung und Auswertung von Schallaufnahmen mit Darbietungen eines Musikers oder Ensembles. Der Tonträgerproduzent verpflichtet sich dadurch, die Tonaufnahmen herzustellen, der Musiker bzw. das Ensemble verpflichtet sich, die vereinbarten Stücke einzuspielen sowie die Leistungsschutzrechte hieran an den Produzenten zu übertragen. Dafür werden die Musiker am Umsatz der verkauften Tonträger beteiligt; üblich sind Vergütungen zwischen 5 % und 15 % vom Netto-Detailpreis, also dem vom Einzelhändler erzielten Preis ohne Mehrwertsteuer. f) Musikverlagsvertrag Der Musikverlagsvertrag ist eine Besonderheit des Verlagsvertrags, weil hier der Druck eines Notenwerks nur ein Teil des Vertrags ist. Von weit größerem Interesse (für beide Vertragspartner) ist die mit dem Musikverlagsvertrag verbundene Verwertung der verlegten Werke durch Aufführungen, über Tonträger und durch Funksendungen. In vielen Vertragsarten kommt dem Urheberrecht eine besondere Bedeutung zu. Wie bereits erwähnt, wurde das Urheberrechtsgesetz von 1965 im Jahr 2003 in wesentlichen Punkten verändert (vgl. Abschnitt 2.2). Das betrifft vor allem die Wiedergabe von urheberrechtlich geschützten Werken durch Bildund Tonträger (§ 21 UrhG). Letzteres ist vor dem Hintergrund der bereits erwähnten Internet-Piraterie für den Musikbetrieb von allergrößter Bedeutung.

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Die Novelle des Urhebergesetzes vom 10. September 2003 setzt die 1996 geschlossenen WIPO7-Verträge in deutsches Urheberrecht um. »Nach der Begründung des Regierungsentwurfs soll dadurch der Schutz der Urheber und Inhaber verwandter Schutzrechte im digitalen Umfeld sichergestellt werden. Zum anderen soll Verwertern und Nutzern ein angemessener Rechtsrahmen vorgegeben werden, durch den die neuen Technologien effizient genutzt werden können« (Weidert/Zehnsdorf 2005: 11). Dies schlägt sich u.a. in folgenden Regelungen nieder: • Neu eingefügt in § 15 Abs. 2 UrhG wurde das so genannte Recht der öffentlichen Zugänglichmachung. Dies wird in § 19a UrhG definiert als »das Recht, das Werk drahtgebunden oder drahtlos der Öffentlichkeit in einer Weise zugänglich zu machen, dass es Mitgliedern der Öffentlichkeit von Orten und Zeiten ihrer Wahl zugänglich ist«. Was hier sprachlich recht unbeholfen zum Ausdruck gebracht werden soll, ist eine Regelung über die Nutzung urheberrechtlich geschützter Werke in elektronischen Netzen (z.B. Internet). Der Urheber hat nun auch bezüglich der öffentlichen Zugänglichmachung das ausschließliche Verwertungsrecht. • § 15 Abs. 2 UrhG regelt darüber hinaus nun auch das Zweitverwertungsrecht. »Das bedeutet konkret, dass etwa einem Komponisten, der sein Musikstück im Internet zugänglich gemacht hat, auch das ausschließliche Recht zusteht, das auf diese Weise zugänglich gemachte Werk anschließend einem an einem Ort versammelten Empfängerkreis vorzuspielen« (ebd.: 12). • Zwar ist das Recht der Vervielfältigung eines Werks grundsätzlich dem Urheber vorbehalten, doch lässt das Urheberecht dennoch bestimmte private Nutzungsformen zu, spricht dem Urheber dann aber einen Vergütungsanspruch zu. Wird also ein Musikstück aus dem Internet heruntergeladen und dann für private Zwecke kopiert, so entsteht dadurch kein Unrecht. Doch zahlt der Nutzer dafür dem Urheber eine Vergütung, was in der Praxis über die Geräte- und Leerkassettenabgaben realisiert wird (§ 53 in Verbindung mit § 54 UrhG). Zum Beispiel ist für jeden Kassettenrekorder eine Abgabe von 1,28 bis 2,56 € zu zahlen; für jeden CD-Rohling beträgt die Abgabe 6 % des Abgabepreises (je Stunde Spieldauer). • Sind zum Schutz vor Kopien Tonträger mit technischen Schutzmaßnahmen versehen, so dürfen solche Schutzmaßnahmen ohne Zustimmung des Urhebers nicht umgangen werden (§ 95a UrhG). • In §§ 73ff. UrhG sind die Rechte der ausübenden Künstler wie Musiker und Sänger geregelt. Deren Rechte wurden durch die Urheberrechtsnovel7 WIPO – World Intellectual Property Organisation.

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le deutlich verbessert; sie sind inzwischen rechtlich den Urhebern weitgehend gleichgestellt. Die urheberechtlichen Regelungen von 2003 waren ein wichtiger Schritt, um die den Komponisten, Textdichtern, Sängern und Musikern zustehenden Ansprüche aus dem Urheberrecht zu sichern. Allerdings hatte diese Regelung von vornherein den Nachteil, dass sie viel zu spät kam; das Recht hinkte hier der technischen Entwicklung um Jahre hinterher. Man kann sich leicht vorstellen, welche wirtschaftlichen Verluste mit dieser zeitlichen Verzögerung für die Rechteinhaber verbunden waren. In einem zweiten Schritt, dem so genannten Korb 2, sollen nun Regelungen getroffen werden, die auch künftige technische Entwicklungen umgehend berücksichtigen können. 4.5.4 Ausbildung und Studium Der Musikbetrieb kommt nicht ohne Bildung aus. Musikalische Bildung ist sogar in zweifacher Hinsicht vonnöten. Zum einen bedarf es der Ausbildung der Musiker und all derer, die die Angebote im Musikbetrieb aktiv gestalten; zu anderen müssen auch die, die Musik konsumieren, also das Publikum, über eine gewisse musikalische Bildung verfügen. Bemerkenswerterweise sind in Deutschland hier die Rollen klar verteilt: Die musikalische Bildung der Konsumenten findet vorwiegend im Musikunterricht der allgemeinbildenden Schulen statt, die Ausbildung der Aktiven dagegen erfolgt in den kommunalen und privaten Musikschulen, bei Privatlehrern und in den Musikhochschulen und Konservatorien. Ein Blick über die Landesgrenzen hinweg zeigt, dass zumindest in der musikalischen Früherziehung und der instrumentalen Grundausbildung diese Trennung in anderen Ländern nicht gilt; dort sind die musikalische Grundausbildung und die Basisausbildung am Instrument nicht selten auch Teil des Musikunterrichts in allgemeinbildenden Schulen. Mit dem Musikunterricht in den allgemeinbildenden Schulen ist es allerdings in Deutschland nicht zum Besten bestellt. Spätestens seit der ersten PISA-Studie hat der Musikunterricht fast überall an Stellenwert eingebüßt, weil Musik scheinbar kein PISA-relevantes Fach ist. »In der PISA-Debatte fragte niemand danach, welche Musikinstrumente die Kinder spielen, welche Komponisten und welche Werke sie kennen – oder kennen sollten. Die Kanondiskussion im deutschen Feuilleton konzentriert sich bis heute auf Literatur und vergisst die Musik« (Elitz 2004: 233). Man scheint vergessen zu haben, dass Musik – und hier vor allem das aktive Musizieren – für die Entwicklung junger Menschen außerordentlich förderlich ist. Musizieren begünstigt das Aufnahmevermögen und trainiert das Gedächtnis. Wer auf eine Aufführung hin üben muss, ist zur Leistung motiviert und weiß, dass er diese Leis-

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tung nur durch Selbstdisziplin erreichen kann. Musizieren erfolgt meistens gemeinsam mit anderen, d.h. man muss sich einbringen in eine Gruppe und erreicht ein Ergebnis nur gemeinsam mit anderen. Zudem erkennt man dabei, dass man gemeinsam mit anderen ein Ergebnis erzielt, zu dem man allein niemals in der Lage wäre; eine bessere Übung für ein positives Sozialverhalten ist kaum denkbar. Nicht zuletzt ist Musik eine wunderbare Möglichkeit, um die eigene Kreativität zu entdecken und zu fördern. Sekundärergebnisse mithin, wie sie gerade auch in anderen Schulfächern dringend gebraucht werden. Insofern ist Musik eben doch ein PISA-relevantes Fach, auch wenn sich diese Relevanz erst über einen Umweg zeigt. Nun wäre es ein Leichtes, mit diesen Erkenntnissen im Gepäck auf die Schulpolitiker zu schimpfen. Helfen würde es allerdings wohl nur wenig. Statt dessen muss es das Ziel aller Musikpädagogen sein, diese Vorteile des Musikunterrichts immer wieder neu in die Debatte und auch in den Schulalltag einzubringen. In Baden-Württemberg beispielsweise wurde eine Schulreform verabschiedet, nach der es den Schulen künftig selbst überlassen ist, ihre Profile zu wählen und auszubauen. Damit in dieser Diskussion auch Musik eine Chance hat, muss der Musiklehrer stärker als bisher für den Musikunterricht einstehen und Musik als etwas, das Vorteile für alle Schüler mit sich bringt, gegenüber Schulleitung und Kollegium darstellen. Dem Musiklehrer der Zukunft kommt damit eine völlig andere und neue Aufgabe zu. Er ist nicht nur Fachlehrer, sondern er ist auch – im besten Sinne des Wortes – Repräsentant seines Faches. Freilich muss zugestanden werden, dass seine bisherige Ausbildung ihm dafür nur selten das Rüstzeug gibt, weshalb über eine Reform der Musiklehrerausbildung dringend zu sprechen sein wird. Die Ausbildung am Instrument oder als Sänger erfolgt – abgesehen von wenigen Privatschulen und so genannten Musikgymnasien – vorwiegend in den kommunalen oder privaten Musikschulen. Nach Angaben des Verbands deutscher Musikschulen e.V. (VdM) gibt es in Deutschland 966 Musikschulen mit 867.516 Schülern, die von rund 34.546 haupt- und nebenamtlichen Lehrkräften unterrichtet werden (Daten für das Jahr 2002). Musikschulen wurden zum Teil bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegründet; eine zweite Gründungswelle gab es in der Nachkriegszeit; eine dritte folgte in den 70er Jahren. Öffentliche Musikschulen werden fast ausschließlich von den Kommunen getragen, sei es als unmittelbare kommunale Einrichtung oder in Form einer formalen Privatisierung als eingetragener Verein oder als gemeinnützige GmbH. Allerdings bleiben auch in solchen Privatisierungsformen die Kommunen (oftmals einschließlich der Landkreise) der Hauptzuschussgeber. Um einer gewissen Zufälligkeit im Unterrichtsangebot zu begegnen, haben sich die kommunalen Musikschulen zum Verband deutscher Musikschulen

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e.V. (VdM) zusammengeschlossen und für alle Mitgliedsschulen verbindliche Richtlinien beschlossen. Im Sinne dieser VdM-Richtlinien sind Musikschulen Bildungseinrichtungen, deren Aufgabe es ist, Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen eine musikalische Grundausbildung zu vermitteln, den Nachwuchs für das Laien- und Liebhabermusizieren heranzubilden, Begabungen zu erkennen und zu fördern sowie auf das Studium der Musik vorzubereiten (studienvorbereitende Ausbildung). Neben die Ausbildung in vokalen und instrumentalen Fächern im Einzel- und Gruppenunterricht tritt die Anleitung zur gemeinsamen musikalischen und musischen Betätigung in Orchestern, Instrumentalgruppen, Kammermusikensembles, Chören, Folklore-, Tanz- und Volksmusikgruppen, Jazzcombos, Rockbands. Das Unterrichtsangebot umfasst musikalische Grundfächer (musikalische Früherziehung ab dem 4. Lebensjahr und/oder musikalische Grundausbildung ab dem Grundschulalter), instrumentale und vokale Hauptfächer (Streich- und Zupfinstrumente, Blas- und Schlaginstrumente, Tasteninstrumente, Vokalunterricht) sowie Ensemble- und Ergänzungsfächer (Ensemble- und Orchesterspiel, Chor, Musiktheorie, Hörerziehung, studienvorbereitende Ausbildung). Daneben bestehen auch ca. 170 private Musikschulen, die aber im Unterschied zu den so genannten VdM-Musikschulen in aller Regel nur einen Teil des oben beschriebenen Angebots abdecken. Aus verständlichen Gründen konzentrieren sie sich nicht selten auf jenen Teil des Unterrichtsspektrums, der eine gewisse Wirtschaftlichkeit erwartet lässt. Die kommunalen Musikschulen kämpfen seit den 80er Jahren gegen eine permanente Schrumpfung der öffentlichen Zuschüsse. 1994 wurden umgerechnet etwa 400 Mio. € an Zuschüssen gezahlt (vgl. Verband Deutscher Städtestatistiker 1998: 246); 2001 war es fast der gleiche Betrag (vgl. Tabelle 9), und das bei gestiegenen Lohn- und Sachkosten. Dieser faktische Rückgang der öffentlichen Förderung konnte nur durch eine permanente Erhöhung der Gebühren ausgeglichen werden; der Einzelunterricht kostet heute schon zwischen 1.000 und 1.500 € jährlich. Das hat inzwischen zur Folge, dass Musikschulunterricht vielerorts zu einem sozialen Privileg geworden ist, das sich nur noch wenige Familien leisten können. In diesem Zusammenhang ist auf die eigenartige Regelung hinzuweisen, dass die Bundesländer im Rahmen ihrer Kulturhoheit zwar auf ihre Zuständigkeit für die allgemeinbildenden Schulen, die Berufsschulen und Hochschulen pochen, die musikalische Bildung aber offensichtlich nicht unter den Bildungsauftrag der Länder fällt. Das mutet recht seltsam an, doch wäre es zu einfach, wenn man daraus den Ländern einen Vorwurf machen würde. In Wahrheit waren es nämlich die Kommunen, die nach dem Zweiten Weltkrieg

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die musikalische Ausbildung sehr schnell als Aufgabe an sich gerissen haben und sich auch in den folgenden Jahrzehnten gern mit dieser Aufgabe geschmückt haben. Aus kulturverfassungsrechtlicher Sicht steht diese Aufgabe aber zweifellos eher den Ländern zu. Da heute die Kassen der Kommunen leer sind, würden sie die musikalische Bildung gern an die Länder abgeben, doch da auch deren Kassen leer sind, finden sie mit diesem Ansinnen dort kein Gehör. Die musikalische Ausbildung für eine spätere professionelle Tätigkeit als Musiker, Sänger oder Komponist erfolgt an den staatlichen Musikhochschulen. Zurzeit gehören 23 Musikhochschulen der Bundesrektorenkonferenz an. Daneben gibt es noch Musikhochschulen in Nürnberg und Augsburg, die aus kommunalen Konservatorien hervorgegangen sind, sowie einige Musik-Fakultäten an Universitäten (z.B. Mainz und Münster), die aber keine selbstständigen Hochschulen sind. Fast alle Musikhochschulen bieten die Studiengänge Künstlerische Ausbildung (in erster Linie für eine Tätigkeit im Orchester), Musikerzieher oder Musiklehrer (für eine Tätigkeit an einer Musikschule oder als Privatlehrer), Schulmusik (für ein Lehramt an Gymnasien) sowie Kirchenmusik (als Organist bzw. Kantor) an. Daneben gibt es in aller Regel noch eine Solistenausbildung für besonders begabte Studierende. Die musikalische Ausbildung erfolgt in der Regel in allen Instrumenten und allen Gesangsfächern, wobei sich allerdings von Hochschule zu Hochschule Schwerpunkte gebildet haben. Einige Hochschulen bilden auch für die Theater aus und unterhalten dazu die Studiengänge Oper, Schauspiel, Bühnenregie, Bühnendramaturgie oder Figurentheater und nennen sich dann Hochschulen für Musik und Theater oder für Musik und Darstellende Kunst. Die nach wie vor ausschließlich aus staatlichen Mitteln finanzierte Ausbildung8 ist recht teuer, da alle Instrumental- und Vokalfächer ausschließlich im Einzelunterricht vermittelt werden. Ein Studienplatz an einer Kunstoder Musikhochschule verursacht jährlich Kosten in Höhe von durchschnittlich 12.400 €; dagegen kostet ein Universitätsstudium (ohne Medizinstudium) jährlich nur 6.500 € (vgl. Kulturfinanzbericht 2003: 82). Doch schlägt sich der Aufwand auch in der Nachfrage nieder; die deutschen staatlichen Musikhochschulen genießen international einen sehr guten Ruf. Im Wintersemester 2005/06 wurden an den 23 Musikhochschulen der Bundesrektorenkonferenz insgesamt 16.988 Studierende ausgebildet, davon 36 % Ausländer. Insgesamt lässt sich feststellen, dass der Bereich der musikalischen Bildung in Deutschland sehr gut ausgebaut ist. Neben den geschilderten staatlichen und kommunalen Angeboten sind auch die zahlreichen privaten Mu8 In einigen Bundesländern werden ab 2007 Studiengebühren eingeführt.

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siklehrer zu erwähnen, die häufig beachtliche pädagogische und künstlerische Erfolge erzielen. Erwähnt werden müssen auch die Volkshochschulen, die vor allem für Erwachsene und Senioren Instrumentalunterricht anbieten. Nicht zuletzt verdienen die Laienmusikvereine Erwähnung, die mit ihrer Instrumentalausbildung innerhalb des Vereins und ihren teilweise von den Verbänden getragenen Schulungszentren zu bemerkenswerten Ergebnissen gelangen. Nicht wenige Studierende an den Musikhochschulen haben ihren Instrumentalunterricht in einem Musikverein begonnen und ihn dann in der kommunalen Musikschule oder bei einem privaten Musiklehrer fortgesetzt. Das gilt in ähnlicher Weise auch für die Gesangsausbildung in den Kinderchören. Woran es allerdings hapert, ist die Finanzierung dieser differenzierten musikalischen Ausbildung. Es wird noch zu wenig beachtet und gewürdigt, wie außergewöhnlich das in Deutschland praktizierte System der musikalischen Bildung ist und wie sehr der deutsche Musikbetrieb um die Quantität und Qualität dieses Bildungssektors beneidet wird. Die musikalische Bildung gehört im internationalen Vergleich zweifellos zu den deutschen Stärken. Diese Position nun durch übermäßiges Sparen zu gefährden, wäre ein großer strategischer Fehler. 4.6 Standortbestimmung und Perspektiven Ein Blick auf den aktuellen Stand des Musikbetriebs in Deutschland zeigt deutlich, dass sich in den letzten Jahren bemerkenswerte Veränderungen vollzogen haben und aus den verschiedensten Gründen weitere Veränderungen zu erwarten sind. Das ist weder verwunderlich noch grundsätzlich zu beklagen. Der Musikbetrieb ist gerade in Deutschland ein außerordentlich vielschichtiger und aktiver Bereich, in dem sich unterschiedlichste Interessen, Ziele und Strömungen zusammenfinden. Insofern stehen Veränderungen immer für die Lebendigkeit des Musikbetriebs und sind deshalb auch positiv zu bewerten. Dennoch gibt es einige Veränderungen, die von außen aufgedrängt wurden und über die sich wohl niemand im Musikleben wirklich freuen dürfte. Bestes Beispiel ist hier die bereits angesprochene Finanznot der öffentlichen Hand, die vielerorts schon zur Schließung von Orchestern, Musikschulen usw. geführt hat. Ganz anders sind Veränderungen zu bewerten, die sich aus dem Verhalten und der Nachfrage des Publikums ergeben. Auf solche Veränderungen muss der Musikbetrieb aktiv reagieren. Zu nennen sind hier vor allem die Überalterung des Publikums im Bereich der klassischen Musik, die Erlebnisorientierung in den Veranstaltungsformen und die berufliche Situation der Musiker. Das Publikum in den Konzerten und Opernaufführungen wird immer älter. Was jeder regelmäßige Konzert- und Opernbesucher aus eigener Anschauung

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berichtet, hat Karl-Heinz Reuband in einer Untersuchung über die Besucher einer Fidelio-Aufführung in der Oper Köln eindrucksvoll belegt. Demnach waren die Besucher einer Fidelio-Aufführung des Jahres 1980 durchschnittlich 38,2 Jahre alt, während im Jahr 2004 ein Durchschnittsalter von 55,3 Jahren ermittelt wurde (vgl. Reuband 2005: 127). Im Konzertbereich – so vermutet auch Reuband – dürften die Daten wohl ähnlich ausfallen. Die Dimension der Alterung des Publikums kann nicht allein durch orts- und aufführungsspezifische Aspekte erklärt werden, auch wenn sie möglicherweise eine Rolle spielen. Auch die generelle Alterung der Bevölkerung kann hier nicht allein als Erklärung dienen, denn sie betrug im angegeben Zeitraum nur etwa zwei Jahre. Es bleibt die erschreckende Tatsache, dass das Durchschnittsalter des Konzert- und Opernpublikums deutlich ansteigt, was vor allem dadurch zu erklären ist, dass das jüngere Publikum nicht in dem Maße nachwächst, wie dies früher der Fall war. Die Gründe sind sicherlich vielschichtig. Dazu gehört wohl, dass der Musikunterricht in der Schule an Stellenwert verloren hat. Dazu gehört aber sicher auch, dass das Musizieren und Singen in der Familie weitgehend aufgegeben wurde und auch die Tradition der singenden und musizierenden Jugendarbeit kaum noch gepflegt wird. Die Folge ist, dass immer weniger Menschen von Musik so viel verstehen, dass sie ihnen mehr als ein reines Unterhaltungsmedium erscheint. Wer es als junger Mensch nie gelernt hat, ein Konzert mehr als nur akustisch wahrzunehmen, wird sich dazu auch als Erwachsener kaum verleiten lassen. Es wird deshalb erforderlich sein, einerseits über neue Konzertformen und musikalische Vermittlungsformen nachzudenken und andererseits die musikalische Ausbildung in der Schule wieder zu verstärken. Zu Letzterem wurde bereits mehrfach aufgefordert; für Ersteres, die neuen Konzert- und Vermittlungsformen, könnte das Stichwort Musikvermittlung, von dem noch die Rede sein wird, ein guter Einstieg in die Fachdiskussion sein. Während das jugendliche Publikum die traditionellen Konzert- und Opernhäuser meidet, sind alle Formen von Events mehr denn je gefragt. Von Event spricht man, wenn ein ursprünglich singuläres Ereignis in ein inszeniertes Umfeld gestellt wird, das sich aus verschiedenen Event-Komponenten zusammensetzt, die optional genutzt werden können und die in ihrer kulturellen Wertigkeit nicht weiter differenziert werden. Typische Events sind im Musikbereich Festspiele bzw. Festivals. Festspiele bieten weit mehr als nur Konzerte in traditioneller Form. Schon Richard Wagner, der sich bekanntlich mit dem Charakter von Festspielen intensiv beschäftigt hatte, definierte: »Ein besonderer Ort, eine besondere Zeit, ein besonderes Werk, eine besondere Aufführung und nicht zu vergessen, ein besonderes Publikum, das zu diesem Zweck eigens anreisen muss.« Heute müsste man hinzufügen: ... und mög-

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lichst noch ein Skandal oder doch zumindest etwas für die Klatsch-Presse, wie das Erscheinen von Anna Netrebko während der Salzburger Festspiele 2005. Inzwischen ist die Zahl der Festspiele kaum noch überschaubar, denn jede Kommune glaubt, mit Hilfe von Festspielen und anderen Musik-Events die eigene Stadt besser touristisch vermarkten und ihr ein positiveres Image vermitteln zu können. Da inzwischen aber fast jedes Dorf eigene Festspiele kennt, ist das Alleinstellungsmerkmal, das aus der Sicht des Marketings stets mit einem Event verbunden sein muss, damit es zur Profilierung einer Gemeinde dienen kann, längst unwiederbringlich verloren. Das vermeintlich einzigartige und unvergleichliche Festival droht längst zum kommunalen Normalfall zu werden. So fraglich mithin der Erfolg eines Events aus der Sicht des Stadtmarketings sein mag, so problematisch ist die im Event erkennbare Erlebnisorientierung auch aus der Sicht des Musiklebens. Musik dient immer auch der Unterhaltung, aber eben »auch« und nicht »nur«. Musikalische Werke mit ihrem hohen künstlerischen Gehalt und hochartifizielle Aufführungen sollten mehr transportieren können als nur Unterhaltung. Musik ist Erkenntnis, Erbauung, Reinigung, Beglückung und vieles mehr; sie nur auf einen Aspekt, nämlich den der Unterhaltung zu beschränken, wird der Größe eines musikalischen Kunstwerks nicht gerecht. Vor allem aber ist eins deutlich zu beachten: Wenn Musik nur noch der Unterhaltung dient, ist sie austauschbar gegen andere Formen der Unterhaltung, sei es Sport, Freizeitvergnügen wie Wandern, Radfahren, Segeln usw. Musik würde dann zu einem beliebigen Unterhaltungsmedium, dass sich immer im Wettstreit mit anderen Unterhaltungsmedien behaupten müsste. Sollte die Musik in diesem Wettstreit auch nur andeutungsweise ins Hintertreffen geraten, würde sich der hohe Aufwand, mit dem der Musikbetrieb in Deutschland aus Steuergeldern gefördert wird, bald nicht mehr rechtfertigen lassen. Noch eine dritte Veränderung ist besonders zu erwähnen; die Rede ist von der beruflichen Situation der Musiker. Erwähnt wurde bereits, dass die Zahl der Orchestermusiker in den letzten zehn Jahren um 16 % geschrumpft ist. Erwähnt wurde auch, dass die Lehrerstellen an den Musikschulen zurückgehen und viele Musiklehrer an Musikschulen schon heute nur noch als Teilzeitlehrer tätig sein können. Damit bestehen auf den beiden wichtigsten Märkten für Berufsmusiker zunehmend schlechte Berufsaussichten. Dazu passt eine andere Zahl: zwischen 1994 und 2004 hat sich die Zahl der selbstständigen Musiker nahezu verdoppelt; sie stieg von 20.198 auf knapp 37.000 (vgl. http://www.miz.org/intern/uploads/Statistik53.pdf vom 31.12.2004). Gleichzeitig blieb die Zahl der Musiker in sozialversicherungspflichtiger Stellung nahezu gleich (20.800 in 2004) (vgl. Söndermann 2004b: 52). Das be-

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deutet, dass der freiberufliche Musiker das dominierende Berufsbild der Zukunft sein wird. Das ist zwar nicht völlig neu, sondern war über Jahrhunderte hinweg fast die Regel, doch sah man es im 20. Jahrhundert als eine besondere Errungenschaft an, dass nun auch der Musiker eine seiner Qualifikation angemessene Anstellung hatte. Von dieser Errungenschaft scheint man sich nun wieder rasend schnell zu entfernen. »Der Musiker der nächsten Jahrzehnte wird mehr selbstständiger Generalist mit einer Kompetenzvielfalt sein als ein festangestellter, hochspezialisierter Orchestermusiker« (Tröndle 2005: 48). Dadurch ergibt sich aber ein neues Problem, dass nämlich der heutige Musiker für eine solche, rein freiberufliche Tätigkeit überhaupt nicht ausgebildet ist. Musiker müssen sich deshalb stärker als bisher darauf einrichten, sich selbst zu vermarkten, was eine intensivere Beschäftigung mit dem zur Folge hat, was man als Selbstmanagement bezeichnet (vgl. Schneidewind/Tröndle 2003). Musiker müssen wieder lernen in Projekten zu denken, ihr Angebot an einer Nachfrage zu orientieren und Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache zu betreiben. Dann bestehen gute Chancen, auch in einem angeblich gesättigten Markt und unabhängig von staatlichen Orchesterstellen den Beruf eines Musikers erfolgreich auszuüben. Mit Blick auf das Publikum, das auf Innovationen und spannende Experimente wartet, könnte dies sogar ein überaus reizvoller Weg sein. Insgesamt sind die Veränderungen, die der Musikbetrieb seit einigen Jahren erfährt, von nicht zu unterschätzender Sprengkraft. Die faktische Aushöhlung des Urheberrechts durch Raubkopien und Internet-Piraterie bedroht die wirtschaftliche Basis der Musiker, die Reduzierung der öffentlichen Kulturförderung führt zum Verlust von Stellen in Orchestern und Chören, die hohen Gebühren für den Musikschulbesuch und die Reduzierung des Musikunterrichts in den allgemeinbildenden Schulen gefährden das Musikverständnis der künftigen Generation und die Kommerzialisierung des Konzertbetriebs und der Künstlervermittlung macht den Musikbetrieb vielleicht für Börsenanalysten interessant, nicht aber für Musikliebhaber. Dennoch besteht kein Anlass zum Jammern, denn immer noch gehört der Musikbetrieb in Deutschland zum differenziertesten und am besten ausgestatteten weltweit. Nicht umsonst sind Künstler aus aller Welt brennend daran interessiert hier aufzutreten oder hier sogar ein Engagement zu erhalten. Aber es besteht Grund zu wachsender Aufmerksamkeit, damit das fein gesponnene Netz, das sich Musikbetrieb nennt, nicht instabil wird.

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4.7 Internetadressen und Standardwerke http://www.miz.org/ Deutsches Musikinformationszentrum des Deutschen Musikrats http://www.dov.org/ Deutsche Orchestervereinigung e.V. http://www.ifpi.de/ Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft e.V. http://www.idkv.de/ Bundesverband der Veranstaltungswirtschaft e.V. http://www.gema.de/ Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte

Kreile, Reinhold/Becker, Jürgen/Riesenhuber, Karl (Hrsg.) (2005): Recht und Praxis der GEMA. Handbuch und Kommentar, Berlin Kulturpolitische Gesellschaft (Hrsg.) (2004): Musik als Wirtschaft. Dokumentation, Kulturpolitische Mitteilungen, Beiheft 4 Moser, Rolf/Scheuermann, Andreas (Hrsg.) (2003): Handbuch der Musikwirtschaft. Der Musikmarkt, 6., vollständig überarb. Aufl., Starnberg, München Passmann, Donald/Hermann, Wolfram (2004): MusikBusiness. Alles, was Sie über das MusikBusiness wissen müssen, Stuttgart Richter, Klaus Peter (1997): Soviel Musik war nie. Von Mozart zum digitalen Sound. Eine musikalische Kulturgeschichte, München Salmen, Walter (1997): Beruf Musiker: verachtet – vergöttert – vermarktet. Eine Sozialgeschichte in Bildern, Stuttgart, Weimar Schneidewind, Petra/Tröndle, Martin (Hrsg.): Selbstmanagement im Musikbetrieb. Handbuch für Musikschaffende, Bielefeld 2003

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Der Literaturbetrieb umfasst die Herstellung, Verbreitung und Rezeption von Literatur. Er ist »der Transmissionsriemen der Literatur auf dem Weg zum Publikum« (Ralf Schnell im Metzler-Lexikon: Kultur der Gegenwart 2000: 308). Allerdings ist der Begriff Literatur höchst diffus. Im engeren Sinne wird darunter die so genannte Belletristik verstanden, die sich an den traditionellen literarischen Gattungen Epik, Lyrik und Dramatik orientiert. Vor allem wenn von der sozialen Situation der Schriftsteller, von Literaturpreisen oder öffentlicher Literaturförderung die Rede ist, liegt dem in der Regel das Verständnis von einer belletristischen oder so genannten Schönen Literatur zugrunde. Im weiteren Sinne aber wird unter Literatur jede Form von publizierten Texten zusammengefasst, also auch Sach- und Fachbücher, Aufsätze in Periodika usw. Besonders im Zusammenhang mit dem Verlagswesen, dem Buchhandel, dem Bibliothekswesen sowie mit jeder Form von Literaturstatistik ist immer der weite Literaturbegriff gemeint. Dagegen haben sich Tageszeitungen und Publikumszeitschriften nicht als Teil des Literaturbetriebs durchsetzen können, obwohl sie von Teilen der Literaturwissenschaft als literarische Texte verstanden werden. Tageszeitungen und Publikumszeitschriften werden allgemein dem Medienbereich zugeordnet. In der öffentlichen Diskussion über Kulturpolitik wird der Literaturbetrieb nur selten und höchstens partiell wahrgenommen. Im Kontext von Kulturpolitik und öffentlicher Kulturförderung ist vom Literaturbetrieb fast nur im Zusammenhang mit Literaturpreisen oder Literaturhäusern die Rede. Auch Bibliotheken werden bisweilen als eine Form der Literaturförderung verstanden, obwohl sie selbst sich viel eher als kulturnahe Medien- und Informationszentren sehen. Dennoch ist der Literaturbereich gerade unter dem Stichwort Kulturbetrieb von besonderem Interesse, weil hier die strukturellen Segmente des Kulturbetriebs besonders eng miteinander verzahnt sind. Zwar sind Teile des Literaturbetriebs zum Nonprofit-Bereich zu rechnen (Literaturpreise, Literaturmuseen, Literaturhäuser), doch besticht vor allem der enge Austausch zwischen Profit- und Nonprofit-Bereich. So wird beispielsweise das Interesse an Literatur in den staatlichen Schulen geweckt, wird in staatlichen Universitäten für den Literaturbetrieb ausgebildet und sind die staatlichen und kommunalen Bibliotheken wichtige Multiplikatoren für die Verbreitung von Werken der Literatur. Nicht zuletzt hat ein aus öffentlichen Mitteln finanzierter Literaturpreis erhebliche Auswirkungen auf die Nachfrage nach den Werken des geehrten Autors. Dennoch liegt der Kernbereich des Literaturbetriebs im privatrechtlich-kommerziellen Sektor, nämlich bei den Verlagen und beim Buchhandel. Das berechtigt umso mehr dazu, die öffentlichen, gemein-

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nützigen und kommerziellen Teile des Literaturbetriebs in einem stärkeren Zusammenhang zu sehen und darzustellen. 5.1 Rückblende Zwar ist die Geschichte der Literatur eine ausgewiesene wissenschaftliche Disziplin mit einer nicht mehr überschaubaren Zahl von Veröffentlichungen, doch ist die Geschichte des Literaturbetriebs innerhalb dieser Disziplin nur von untergeordneter Bedeutung. Erste Ansätze zu einem Blick auf die Entwicklung des Literaturbetriebs findet man in der Kulturgeschichtsschreibung am Ende der Aufklärung und während des 19. Jahrhunderts. Eine intensivere Beschäftigung mit diesem Thema erfolgte aber erst mit der Entwicklung der Sozialgeschichte als Methode und Teil der historischen Forschung. Zwar versteht sich die heutige Sozialgeschichtsschreibung als allgemeine Gesellschaftsgeschichtsschreibung (im Unterschied zur Staatsgeschichtsschreibung), doch gibt es auch eine Sozialgeschichte einzelner Berufsgruppen und Kunstsparten. Wegweisend für die Sozialgeschichte der Literatur war das 1953 erschienene Werk des britischen Sozialwissenschaftlers Arnold Hauser (1892-1978): Sozialgeschichte der Kunst und Literatur. Um mehr über die Entwicklung des Literaturbetriebs zu erfahren, muss aber auch eine historisch orientierte Literatursoziologie herangezogen werden. Dies hat den Vorteil, dass sich diese Disziplin mehr als Fachdisziplin der Soziologie denn als Literaturwissenschaft versteht und damit das Verstehen von Literatur nicht mehr im Vordergrund steht. Vor allem in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts hat sich die Literatursoziologie auch mit Fragen der Produktion, Distribution und Rezeption von Literatur befasst (vgl. Fügen 1964, Schwenger 1979, Silbermann 1981). Drittens ist die Wirtschaftsgeschichte heranzuziehen, wo auch die Geschichte des Verlagswesens und des Buchhandels zur Sprache kommt (vgl. Wittmann 1999). Von einem Literaturbetrieb im heutigen Verständnis kann man erst seit der Entdeckung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern sprechen. Vorher wurden literarische Texte entweder mündlich weitergegeben, wie vor allem als Volkslieder und Märchen, oder aber nur handschriftlich festgehalten. Allerdings entstanden von den handschriftlich festgehaltenen Texten oft zahlreiche Exemplare, indem man mehreren Schreibern gleichzeitig diktierte. Schon in griechischer und römischer Zeit gab es manche Bücher in mehr als 1.000 Exemplaren, wobei es sich allerdings mehrheitlich um Sachbücher handelte. Bekannt und gerühmt sind die Schreibstuben der mittelalterlichen Klöster, in denen aber vorwiegend theologische, philosophische und naturwissenschaftliche Bücher vervielfältigt wurden. Literarische Texte wurden

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eher seltener abgeschrieben; selbst vom Nibelungenlied sind nur 35 Handschriften bezeugt. Der Autor des literarischen Werks hatte folglich nicht die Möglichkeit, durch den Verkauf seiner Texte seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Vielmehr war er darauf angewiesen, dass ihm selbst die Gelegenheit geboten wurde, seine Texte vorzutragen. Das geschah nicht selten in vertonter Form als fahrender Sänger, wobei nicht der Gesang, sondern der Text im Mittelpunkt stand. Solche Sänger und Märchenerzähler waren an den Höfen des Mittelalters sehr beliebt, boten sie doch neben der Unterhaltung auch Nachrichten aus fernen Ländern und von anderen Höfen. Allerdings waren durchaus nicht alle an den Höfen auftretenden Dichter auf eine Honorierung ihrer künstlerischen Leistung angewiesen, da die meisten Dichter jener Zeit dem Adel angehörten bzw. als Sänger im Auftrag eines Adeligen tätig wurden, indem sie dessen Texte vortrugen. Eine entscheidende Veränderung des bis dahin nur rudimentären Literaturbetriebs erfolgte durch den Buchdruck. Zunächst gab es im späten Mittelalter so genannte Blockbücher, die wie ein Holzschnitt entstanden, indem jeweils eine Doppelseite in Holztafeln geschnitzt und dann in einem Hochdruckverfahren vervielfältigt wurde. Um 1450 schließlich erfand Gutenberg (vor 1400-1468) den Buchdruck mit beweglichen Lettern. Danach nahm die Produktion von Büchern sprunghaft zu, und zwar sowohl hinsichtlich der Titel als auch hinsichtlich der Auflagen. Bestand die europaweit hoch angesehene Bibliothek des französischen Königs Karl V. (1338-1380), die den Grundstock der heutigen französischen Nationalbibliothek bildet, aus nicht mehr als 1.000 Handschriften, so gab es um 1550 bereits mehrere Staatsbibliotheken mit Zehntausenden von gedruckten Büchern. Bald konnte ein Drucker innerhalb weniger Tage ein Buch drucken, für dessen Abschrift ein Mönch ein ganzes Jahr benötigte. Schrieben die Mönche in den klösterlichen Schreibstuben noch im 13. Jahrhundert vorwiegend auf dem sehr teuren Pergament, verwendete Gutenberg das wesentlich billiger herstellbare Papier. Durch solch kostengünstige Verfahren wurden Bücher auch für Menschen erschwinglich, die weder in Klöstern lebten noch Angehörige des Adels waren. Damit hatte die Literatur, selbst wenn sie gesellschafts- und sozialkritisch war, eine Chance, schnell und in großer Zahl Verbreitung zu finden. Die im neuen Druckverfahren hergestellten Bücher wurden zunächst auch vom Drucker verlegt und verkauft, d.h. die Druckerei war bis zum 17. Jahrhundert gleichzeitig auch Verlag und Buchhandel. Ab dem 18. Jahrhundert bildete sich der Beruf des Verlagsbuchhändlers heraus, der unabhängig von der Druckerei ein Buch verlegte und verkaufte. Diese Entwicklung war auch für die Autoren von größter Bedeutung. Noch bis zur Mitte des 18. Jahrhun-

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derts lebten sie fast ausschließlich von der Unterstützung eines Mäzens und völlig unabhängig von der Zahl der verkauften Bücher. Erst mit dem Aufkommen der Verlagsbuchhändler wurde das Patronat des Mäzens durch einen Vertrag mit dem Verleger ersetzt. Das geschah zunächst noch durch die Subskription, indem interessierte Käufer dem Autor – vermittelt über den Verleger – schon vor Erscheinen des Buchs den Verkaufspreis zahlten, der Autor also gleichsam einen Vorschuss auf künftige Verkaufserlöse erhielt. Im 18. Jahrhundert wurde die Stellung des Verlegers weiter gestärkt, weil der Autor zunehmend für ein Publikum schrieb, das er überhaupt nicht kannte; er benötigte deshalb den Verlag als Vermittler. Arnold Hauser schrieb dazu: »Die Vermittlerrolle des Verlags zwischen Autor und Publikum beginnt mit der Emanzipation des bürgerlichen Geschmacks vom Diktat der Aristokratie und ist selber ein Symptom dieser Emanzipation. Mit ihr entwickelte sich erst ein literarisches Leben im modernen Sinn, zu dem außer dem regelmäßigen Erscheinen von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften vor allem auch der literarische Fachmann gehört, nämlich der Kritiker, der den allgemeinen Standard der Wertmaßstäbe und die öffentliche Meinung in der Literatur repräsentiert« (Hauser 1953: 565f.).

Erst im 19. Jahrhundert setzte sich die bis heute geltende Differenzierung zwischen Drucker, Verleger und Buchhändler durch, d.h. der bis dahin geltende Beruf des Verlagsbuchhändlers teilte sich weiter auf. Diese Differenzierung war erforderlich geworden, weil das Buch in der Zeit der Aufklärung und in Folge der Französischen Revolution einen einzigartigen Aufschwung erlebte; erstmals entstand ein Massenmarkt für Literatur. Allein das Werk von Christoph Martin Wieland (1733-1813), dem einflussreichsten deutschen Autor seiner Zeit, wurde zu dessen Lebzeiten in 35.000 bis 40.000 Bänden gedruckt und erschien in 25 Übersetzungen. Wenn man berücksichtigt, dass damals in wesentlich kleineren Auflagen als heute gedruckt wurde und auch der Nachfragemarkt erheblich kleiner war, so wirken diese Zahlen umso eindrucksvoller. Die Reaktion des Literaturbetriebs ließ nicht lange auf sich warten. 1796 gründete Friedrich Christoph Perthes (1772-1843) in Hamburg mit Johann Heinrich Besser (1775-1826) die erste reine Sortimentsbuchhandlung Deutschlands. Im Unterschied zum Verlagsbuchhändler, der gleichzeitig auch noch Verleger ist, verkauft der Sortimentsbuchhändler aus einem Sortiment mehrerer Verlage; in der Regel ist der Sortimentsbuchhandel gemeint, wenn heute vom Buchhandel die Rede ist. Schon 1825 schlossen sich die Buchhändler zum Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V. zusammen (ursprünglich Börsenverein der deutschen Buchhändler zu Leipzig), der heute seinen Sitz in Frankfurt am Main hat und dem auch die Buchhänd-

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ler in Österreich, der deutschsprachigen Schweiz und Firmen in anderen Ländern angehören. Seit 1834 ist das vom Börsenverein herausgegebene Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel das wichtigste Publikationsorgan für den Literaturmarkt. Zudem verleiht der Börsenverein jährlich den hoch angesehenen »Friedenspreis des Deutschen Buchhandels«. Von großer Bedeutung für den Buchmarkt des 19. Jahrhunderts waren auch die Buchmessen in Frankfurt am Main und in Leipzig. Grundsätzlich wurden Bücher nicht anders gehandelt als andere Waren, weshalb sie schon in der Renaissance auf allgemeinen Handelsmessen vertreten waren. Doch schon im 16. Jahrhundert gab es in Frankfurt am Main eine erste Fachmesse ausschließlich für Bücher, zu der auch ab 1564 ein eigenständiger Messekatalog erschien. Doch ab dem 18. Jahrhundert wurde Leipzig zur führenden deutschen Messestadt, so dass auch die dortige Buchmesse bald bedeutender war als die Frankfurter. Bedingt durch die deutsche Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg trat die Frankfurter Buchmesse nach 1945 wieder in der Vordergrund; sie ist ein Tochterunternehmen des Börsenvereins. Wie auch in anderen Kunstsparten ging im Literaturbetrieb der große Aufschwung mit einer künstlerischen Entwicklung einher. Noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts standen die literarischen Gattungen Dramatik und Lyrik eindeutig höher als die Gattung Epik. Die Epik verwendete in der Regel die Prosa, also eine der Alltagsprache verwandte Sprache, die weniger poetisch wirkte und folglich niedriger bewertet wurde. Mit den großen Bildungsromanen der Aufklärung (z.B. Wieland: Die Geschichte des Agathon, 1766/67 oder Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1796) gelang der Durchbruch des Romans, der durch Romane des Barock (z.B. Grimmelshausen: Simplicissimus, 1669) bereits vorbereitet worden war. Der Roman aber ließ sich viel leichter privat für sich lesen als Gedichte, die in der Regel im Salon vorgelesen wurden, oder Dramen, die auf der Bühne oder im privaten Kreis aufgeführt oder zumindest szenisch gesprochen werden mussten. Erst der Roman ermöglichte ein Publikum von einzelnen, je für sich lesenden Kunden. Das führte zu einer enormen Steigerung der Nachfrage nach Büchern und damit zu einem Boom auf dem Buchmarkt. Da auch die Autoren sich am Markt zu orientieren pflegen – wahrscheinlich mehr als ihnen bewusst ist –, wurde der Roman zur dominierenden literarischen Gattung des 19. und 20. Jahrhunderts. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten sich die wichtigsten Teile des Literaturbetriebs in einer Form herausgebildet, wie sie bis heute Bestand haben. Im Mittelpunkt stehen die Verlage als die wichtigste Nahtstelle zwischen den Autoren und den Lesern. Für die technische Produktion sorgen Druckereien, die zunehmend auch in der Lage sind, Bücher mit immer hochwertigeren Abbildungen zu illustrieren. Das vom Verlag produzierte und am Markt positionierte Buch wird dem Buchhandel übergeben, der es – teils mit Hilfe

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von Buchmessen – dem Leser zum Verkauf anbietet. Nur vom Autor war in dieser Phase der Entwicklung des Literaturbetriebs etwas zu wenig die Rede; er war zweifellos das schwächste Glied in dieser Kette, obwohl ohne ihn ein Literaturbetrieb nur schwer vorstellbar ist. Die Bezeichnung Autor ist seit dem 15. Jahrhundert gebräuchlich; sie entstammt dem Lateinischen und bezeichnet allgemein den Urheber und Verfasser eines Werks der Literatur, Musik oder Kunst. Dagegen bezieht sich die Bezeichnung Poet ausschließlich auf den schreibenden Autor. Sie stammt ebenfalls aus dem Lateinischen, wurde aber aus dem Französischen entlehnt; sie ist seit dem 16. Jahrhundert bezeugt. Die Bezeichnung Schriftsteller wird seit dem 17. Jahrhundert als Bezeichnung für jemanden verwendet, der berufsmäßig Schriften in Rechts- und Geschäftsangelegenheiten verfasste. Sie ersetzte die bis dahin gebräuchlichen Bezeichnungen Autor oder Skribent. Erst seit dem 19. Jahrhunderts versteht man darunter auch den Autor eines literarischen Textes. Das Wort Dichter dagegen kann zwar bereits seit dem 12. Jahrhundert nachgewiesen werden, doch wurde es erst im 18. Jahrhundert gebräuchlich, um die damals eher verflachende Bezeichnung Poet zu ersetzen. Poet als Berufsbezeichnung wird denn auch heute eher ironisch verwendet; das berühmte Bild Der arme Poet (1839) von Carl Spitzweg (1808-1885) hat den Begriff wahrscheinlich dauerhaft in Misskredit gebracht. Im 19. Jahrhundert bevorzugte man den Ausdruck Dichter, was nicht zuletzt auch mit der Wiederbelebung deutscher Sprache, Kultur und Geschichte zusammenhängen dürfte. Erst als der Dichter verstärkt in einem rechtlich-ökonomischen Kontext gesehen wurde, bürgerte sich die neutraler klingende Berufsbezeichnung Autor erneut ein. Heute nennen sich Literaten selbst bevorzugt Schriftsteller, werden aber von Dritten sowie in juristischen Texten – z.B. Verlagsverträgen und Gesetzen – eher als Autoren bezeichnet. Mit dem Wort Schriftsteller setzt sich der Literat auch gegenüber Drehbuchschreibern, Regisseuren, Werbetextern sowie Gag-Schreibern für bestimmte Fernsehformate ab, die sich ebenfalls als Autoren bezeichnen. Die Namensgleichheit mit den Verfassern von Sach- und Fachbüchern, die sich ebenfalls zu den Schriftstellern zählen, wird dabei wohl leichter in Kauf genommen. Dagegen ist die Bezeichnung Dichter eher dem Autor der Vergangenheit vorbehalten sowie – gelegentlich noch – dem Verfasser von Lyrik. »Der Dichter [...] beansprucht einen Rang für sich, der seinem Marktwert schon fast obligatorisch widerspricht und widersteht« (Muschg 2004: 147). Zwar sagt der Wechsel der Berufsbezeichnungen etwas über das Selbstverständnis des literarischen Verfassers aus, gibt aber seinen Status im immer ausdifferenzierteren Literaturbetrieb nur unzureichend wieder. Allein der Hinweis auf die Verwendung der Bezeichnung Autor in rechtlich-ökonomi-

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schen Kontexten des 19. Jahrhunderts lässt ahnen, dass die urheberrechtliche Absicherung der Autoren spätestens in jener Zeit aufgegriffen wurde. In der Tat ist die Geschichte des Urheberrechts der Autoren eine Geschichte von juristischen Unzulänglichkeiten, die im Nachhinein nur noch peinlich wirken kann. Im Mittelalter war das Urheberrecht für künstlerische Werke völlig unbekannt; jedweder Künstler blieb in aller Regel anonym. Erst mit der Entdeckung des Individuums in der Renaissance erwachte auch der Anspruch des Künstlers auf sein geistiges Eigentum. Doch während Komponisten, Maler und Bildhauer sehr früh ihre urheberrechtlichen Forderungen durchsetzen konnten, behinderte ausgerechnet jene Erfindung die Realisierung der urheberrechtlichen Ansprüche der Autoren, die die Verbreitung ihrer Werke förderte, nämlich der Buchdruck. Zwar wurden literarische Werke dank des Buchdrucks in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß vervielfältigt, aber es entstanden auch Raubdrucke in großer Zahl, ohne dass der Autor dies hätte verhindern können. Drucker und Verleger wehrten sich recht erfolgreich gegen diese Raubdrucke, indem sie sich für die von ihnen gedruckten und verlegten Werke kaiserliche, landesfürstliche und städtische Druck- und Verlagsprivilegien sicherten, d.h. die auch für andere Waren bestehenden Gewerbemonopole wurden nun auch auf Druckerzeugnisse ausgedehnt. Dagegen wurden Autorenprivilegien nur höchst selten vergeben, obwohl das Werk eines Autors nach damaligem Verständnis durchaus einer normalen Ware entsprach (und weshalb Bücher eben auch auf Handelsmessen gehandelt wurden). Erst im 18. Jahrhundert kam mit der Naturrechtslehre der Begriff des geistigen Eigentums auf, aus dem rechtliche Privilegien auch der Künstler abgeleitet wurden. Doch hinkte dem die deutsche Gesetzgebung noch lange hinterher. Erst 1834 verfügte die Bundesversammlung des Deutschen Bundes, dass in den Mitgliedsländern das schriftstellerische Eigentum zu schützen sei. 1837 wurde in Preußen ein »Gesetz zum Schutz des Eigentums an Werken der Wissenschaft und Kunst gegen Nachdruck und Nachbildung« erlassen. Dem schloss sich der Deutsche Bund an und sicherte den Schriftstellern einen Schutz von mindestens zehn Jahren seit Erscheinen des Werks zu. Bis diese Rechtssicherheit endlich erkämpft war, hatte es Jahrhunderte gedauert. Die bis dahin von fast allen Autoren vorgetragenen Klagen über Raubdrucke und unzureichende finanzielle Absicherung würden wahrscheinlich Bände füllen können. Eine besonders kuriose Begebenheit dazu berichtet Kuno Fischer in seiner Geschichte der neueren Philosophie (1852-77, zit.n. Samson 1973: 54f.): Der Philosoph Schelling (1775-1854) hatte seit 30 Jahren nichts mehr veröffentlicht, wohl aber ein neues Werk über die Philosophie der Offenbarung mehrfach angekündigt. Der Heidelberger Professor Paulus ließ deshalb eine Vorlesung von Schelling aus dem Wintersemester 1841/42

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wörtlich nachschreiben und veröffentlichte sie 1843 als »wörtlichen Text der endlich offenbar gewordenen [...] Schelling’schen positiven Philosophie der Offenbarung«. Schelling ließ den Druck beschlagnahmen, doch erreichte Paulus im folgenden Prozess, dass seine Veröffentlichung nicht als »Nachdruck«, sondern als »Vordruck« für ein zu erwartendes Buch zu werten sei. Zudem habe er – so Paulus – die Vorlesung mit »beleuchtenden Erklärungen« versehen, so dass sie als eine eigenständige Leistung von Paulus anzusehen sei. Erstaunlicherweise gewann Paulus diesen Prozess, was – auch nach damaligem Recht – ein Fehlurteil war. Schelling aber war über diesen Vorfall so erbost, dass er daraufhin seine Vorlesungen für immer einstellte. In den Folgejahren verbesserte sich die urheberrechtliche Situation der Autoren sehr schnell. 1870 verabschiedete der Norddeutsche Bund ein »Gesetz betreffend das Urheberrecht an Schriftwerken, Abbildungen, musikalischen Kompositionen und dramatischen Werken«, das mit der Gründung des Deutsches Reiches 1871 zum Reichsgesetz erklärt wurde. 1901 wurde das »Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und Tonkunst« sowie das »Gesetz über das Verlagsrecht« verabschiedet. Beide Gesetze sicherten den Autoren endlich die ihnen zustehenden Rechte an ihrem »geistigen Eigentum« zu. Das erstgenannte Gesetz blieb bis 1965 in Kraft und wurde erst durch das bis heute geltende Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte vom 9. September 1965 modernisiert. Seitdem hat es mehrere Novellierungen erfahren, die vor allem eine Anpassung an technische Entwicklungen ermöglichten. Mit dem Urheberrecht ging schon im 19. Jahrhundert die Gründung der Verwertungsgesellschaft Wort (VG Wort) einher. Da weder ein Verlag noch ein einzelner Autor überblicken kann, wann und wo es zur Nutzung eines urheberrechtlich geschützten Werks durch Dritte kommt, hat der Gesetzgeber diese Aufgabe den Verwertungsgesellschaften übertragen. Die Rechte und Pflichten der VG Wort sind durch das Urheberrechtswahrnehmungsgesetz von 1965 geregelt. Entsprechende Verwertungsgesellschaften gibt es auch in Österreich (Gesellschaft der Autoren, Komponisten und Musikverleger, AKM.; Austro Mechana) und in der Schweiz (ProLitteris). Verlagswesen und Buchhandel erlebten nach ihrer Etablierung Anfang des 19. Jahrhunderts zwischen 1870 und 1930 einen großen wirtschaftlichen Aufschwung. Mehrere große Verlage, die zum Teil heute noch bestehen, entstanden in dieser Zeit (z.B. Ullstein 1877; S. Fischer 1886; Klett 1887; Kröner 1898; Insel 1902; Piper 1904; Rowohlt 1908; Luchterhand 1924). Ähnlich erfolgreich verlief auch der Buchhandel. 1933 allerdings wurde diese glänzende Entwicklung von den Nationalsozialisten unterbrochen, weil eine Diktatur einen freien Literaturbetrieb nicht ertragen kann und weil zahlreiche Verleger und Buchhändler Juden waren.

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Der Neuaufbau des Literaturbetriebs nach 1945 erfolgte unter strenger Aufsicht der Alliierten (vgl. Glaser 1997: 139-142). Im Westen regulierten Lizenzvergaben und Papierzuteilungen den Buchmarkt. In den ersten Jahren wurden nur 850 Verlagslizenzen vergeben, von denen aber 1955 bereits ein Drittel wieder vom Markt verschwunden war. In der DDR waren 1949 etwa 160 Verlagslizenzen erteilt worden, von denen 1989 noch etwas mehr als die Hälfte existierten. Doch zeigte sich das Verlagswesen vor allem in der Bundesrepublik sehr erfinderisch und geschäftstüchtig. Weil es für Bücher zu wenig Papier gab, ging der Rowohlt-Verlag 1950 dazu über, Taschenbücher auf Zeitungspapier und auf Zeitungsdruckmaschinen zu drucken. So entstanden Rowohlts Rotations Romane, kurz: rororo. Diese Idee half ganz wesentlich mit, das Taschenbuch als neue Buchform zu etablieren. Neben Rowohlt waren es zunächst die Verlage S. Fischer (ab 1952) sowie Ullstein, Heyne und Herder, die eigene Taschenbuchreihen gründeten. 1961 schlossen sich 12 weitere Verlage zusammen und gründeten den Deutschen Taschenbuchverlag (dtv). In der Folge haben fast alle etablierten Verlage ihre eigenen Taschenbuchreihen eingerichtet, so dass heute etwa 10 bis 14 % der jährlichen Neuerscheinungen Taschenbücher sind. Insgesamt führte die bis Ende des vergangenen Jahrhunderts sehr gute Entwicklung im Verlagswesen dazu, dass München bald zur führenden Verlagsstadt wurde; sie ist heute – nach New York – der zweitgrößte Verlagsstandort der Welt. Gleichzeitig etablierte sich die Frankfurter Buchmesse zur weltweit führenden Messe auf dem Buchmarkt. Der deutsche Buchmarkt entwickelte sich bis zum Ende des 20. Jahrhunderts zum drittgrößten Buchmarkt weltweit. Allein zwischen 1990 (61.015) und 1999 (80.779) stieg die Zahl der produzierten Titel (Erstauflagen und Neuauflagen) um fast 20.000. Doch dann stockte der Boom; die Zahl der Titelproduktionen stagnierte bei durchschnittlich 80.000 (vgl. Abschnitt 5.5). Unvermittelt war die Literaturbranche Ende der 90er Jahre in eine Krise geraten, weil die Neuen Medien sich als ernst zu nehmende Konkurrenz erwiesen und Billigproduktionen im Taschenbuchsegment das Geschäft erschwerten. Hinzu kamen Sparmaßnahmen der öffentlichen Hand, was zu deutlich niedrigeren Einkaufsetats der öffentlichen Bibliotheken und reduzierten Einkäufen seitens der Universitäten, Hochschulen und Schulen führte. In dieser Situation reagierte der Literaturbetrieb erstaunlich schnell, indem durch Fusionen im Produktionsbereich Kosten gespart, mit dem OnlineVersandbuchhandel erfolgreich neue Vertriebswege gesucht und neue Produkte angeboten wurden. Zu Letzteren sind vor allem die Hörbücher zu zählen, die sich – trotz anfänglichem Zögern – nach der Jahrtausendwende erstaunlich gut positionieren konnten. Auch wenn die Gesamtumsätze 2004 noch stagnierten, so blickt die Branche offensichtlich optimistisch in die Zu-

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kunft, denn 2004 wurden immerhin 86.543 Neuerscheinungen auf den Markt geworfen; die höchste Zahl, die der deutsche Literaturbetrieb je vorweisen konnte. 5.2 Zur sozialen Situation der Schriftsteller Die Zahl der in Deutschland tätigen Schriftsteller lässt sich nur sehr schwer feststellen. Für eine quantitative Aussage stehen drei Quellen zur Verfügung: • Die Künstlersozialkasse erfasst alle selbstständigen Schriftsteller, soweit sie nicht anderweitig sozialversichert sind. Demnach zählte man zum 1. Januar 2006 insgesamt 40.373 Schriftsteller (2000 waren es nur 26.935), davon 49,5 % Frauen. 28,6 % dieser Schriftsteller waren Berufsanfänger mit weniger als fünf Berufsjahren. In dieser Zahl sind allerdings auch alle freiberuflichen Journalisten enthalten. • Zweite Quelle ist die Umsatzsteuerstatistik; sie erfasst nur solche selbstständigen Schriftsteller, die mehr als 17.500 € Jahresumsatz erwirtschaften. Demnach gibt es in Deutschland etwa 3.000 bis 3.500 Schriftsteller (ohne Journalisten). Nicht erfasst sind hier die Schriftsteller, die ein geringeres Jahreseinkommen haben und ihren Lebensunterhalt ganz wesentlich aus anderen Quellen sichern (z.B. über das Einkommen des Lebenspartners), sich aber dennoch als selbstständige Schriftsteller verstehen. • Dritte Quelle ist die Verwertungsgesellschaft Wort. Sie verzeichnete 2004 insgesamt 127.171 Autoren, von denen aber bei weitem die meisten wissenschaftliche Autoren oder Journalisten waren. Die belletristischen Autoren, die man im engeren Sinne zum Literaturbetrieb rechnen kann, werden nicht gesondert erfasst. Gesondert aufgeführt sind aber die Autoren, deren Werke in öffentlichen Bibliotheken ausgeliehen werden und die dafür einen Anteil an der so genannten Bibliothekstantieme erhalten. Deren Zahl belief sich 2004 auf 32.520 Autoren. Doch auch hier ist Vorsicht geboten, weil auch nicht belletristische Werke, soweit sie üblicherweise in einer Bibliothek zu finden sind (wie z.B. Reiseführer), ebenfalls über die Bibliothekstantieme erfasst werden. Auch wird von der VG Wort nicht festgehalten, ob es sich um selbstständige oder nebenberufliche Schriftsteller handelt. Man kann mithin konstatieren, dass genaue Zahlen zwar nicht zu ermitteln sind, man aber von etwa 25.000 bis 30.000 selbstständigen Schriftstellern in Deutschland ausgehen darf (ob sie ausschließlich Belletristik verfassen, ist damit aber immer noch nicht geklärt) (vgl. Tieger/Plinke 2005). Diese Schrift-

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steller erzielen ihr Einkommen vorrangig über den Verkauf ihrer Bücher. Das geschieht in der Weise, dass der Verlag den Umsatz eines Buches nach dem Ladenpreis berechnet und dem Autor davon einen vereinbarten Anteil als Honorar überweist. Generell berechnen die Verlage das Honorar nach zwei verschiedenen Honorarsätzen: für gebundene Bücher mit hartem Einband (Efalin, Leinen oder Leder) beträgt der Honorarsatz 10 %, für Taschenbücher und für Paperbacks erhält der Autor 5 %. Der Honorarsatz errechnet sich entweder nach dem Brutto- oder nach dem Netto-Ladenpreis. Von dieser Regel gibt es zahlreiche Ausnahmen. Handelt es sich um sehr prominente Autoren oder geht es um die vierte, fünfte oder noch höhere Auflage, kann der Honorarsatz bis auf etwa 20 % ansteigen. Aber auch der umgekehrte Fall ist möglich, dass nämlich überhaupt kein Honorar gezahlt wird. Dies gilt vor allem für junge, noch unbekannte Schriftsteller sowie für wissenschaftliche Werke mit kleinen Auflagen. Letztlich hängt dies vom Verlag ab. Nicht selten muss der unbekannte Autor mit einem wenig Erfolg versprechenden Titel sogar noch Geld »mitbringen«, und das durchaus in Größenordnungen von bis zu 10.000 €. Dabei handelt es sich meistens um kleinere Verlage, die ihre Wirtschaftlichkeit nicht zuletzt auf Kosten ihrer Autoren erreichen. Man nennt solche Verlage in Deutschland Zuschussverlage. Im Englischen heißen sie vanity press (Eitelkeitspresse), womit darauf angespielt wird, dass dort nur Bücher verlegt werden, die die Eitelkeit des Autors befriedigen, ohne auf dem Buchmarkt bestehen zu können. Andererseits gibt es auch Verlage, die bei Autoren so begehrt sind, dass sie es sich leisten können, Honorarzahlungen zu verweigern. Bestes (oder schlechtestes) Beispiel ist hier der hoch gerühmte Suhrkamp Verlag, der – außer für seine Stars – bei der ersten Auflage eines Buches grundsätzlich keine Honorare zahlt. Andererseits aber ist es für jeden Autor (auch wirtschaftlich) so attraktiv, im Sortiment von Suhrkamp verzeichnet zu sein, dass man auf diese kleine Unbill gerne eingeht. Rechnet der Verlag mit einem guten Verkauf des Buches, so wird er bereit sein, dem Autor bei Manuskriptabgabe einen Vorschuss in Höhe von bis zu 25 % des Honorars der ersten Auflage zu zahlen, der allerdings mit der ersten Honorarabrechnung verrechnet wird. Das Honorar wird mindestens einmal jährlich, in der Regel aber halbjährlich abgerechnet, wobei der Verlag sich für die Abrechnung maximal drei Monate nach dem Stichtag Zeit nehmen darf. In gewisser Weise den Honoraren zuzurechnen sind auch die Ausschüttungen der Verwertungsgesellschaft Wort. Dabei vergütet die VG Wort solche Nutzungen durch Dritte, die der Autor oder dessen Verlag nicht selbst geltend machen können. Die Höhe der Ausschüttungen wird differenziert nach

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den Autorengruppen Belletristik, Presse und Wissenschaft berechnet. Hier einige konkrete Zahlen aus dem Jahr 2004, bezogen auf die Autorengruppen Belletristik und Wissenschaft: • Wenn beispielsweise ein Roman von einer öffentlichen Bibliothek gekauft wird, so erhält der Autor für das verkaufte Exemplar von seinem Verlag das vereinbarte Honorar. Wenn dieses Buch aber in der Bibliothek dreißig Mal ausgeliehen wird, gehen Verlag und Autor dabei leer aus. Deshalb zahlt die VG Wort dem Verlag und dem Autor für die Entleihe von Büchern in einer öffentlichen Bibliothek eine Art Ersatzhonorar, das sich nach der Zahl der tatsächlichen Entleihungen richtet. Allerdings werden nicht in jeder Bibliothek alle Buchentleihungen statistisch genau erfasst, sondern einige große Bibliotheken leisten diese Erfassung, die dann auf das gesamte Bundesgebiet als statistischer Mittelwert übertragen wird. Auch hat man darauf verzichtet, von den Bibliotheken exakt berechnete Abgaben je Buchausleihe zu verlangen. Vielmehr wurden Pauschalen vereinbart, die so genannten Bibliothekstantiemen (früher Bibliotheksgroschen genannt), die von den Bundesländern für alle öffentlichen Bibliotheken des Landes und der Kommunen an die VG Wort überwiesen werden. Aus dem Aufkommen aus der Bibliothekstantieme werden nach der Ausleihstatistik der Bibliotheken individuelle Ausschüttungen an die Verlage und Autoren vorgenommen. Hinzu kommt pro Buch ein Reprographieanteil von 32 € für Kopien, die aus einem Buch des Autors in der Bibliothek angefertigt wurden. 2004 schüttete die VG Wort aus dem Aufkommen der Bibliothekstantieme und der Reprographievergütung folgende Beträge aus: Tabelle 10: Ausschüttungen aus Bibliothekstantieme und Reprographievergütung 2004 (für 2003 und Reste aus Vorjahren) Ausschüttungen aus Bibliothekstantieme und Reprographievergütung 2004

Begünstigte

Durchschnittsbeträge

3.686.417 €

32.520 Autoren

113,36 €

1.596.444 €

2.476 Verlage

644,77 €

• Vom Grundsatz her ähnlich, in der Berechnung aber etwas anders ist die Vergütung für wissenschaftliche Publikationen. Um auf die bibliotheksstatistische Erfassung verzichten zu können, werden hier Pauschalen je Buchpublikation oder je Aufsatzseite gezahlt. 2004 zahlte die VG Wort für ein neu erschienenes Buch pauschal 380 € und pro Manuskriptseite von wissenschaftlichen Beiträgen in Büchern und Zeitschriften 3,20 €. Das ergab eine Ausschüttung von 15.365.959 € an 50.049 Autoren, also durch-

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schnittlich 307,02 €. Hinzu kam die Ausschüttung an die Verlage, die nach einem anderen Schlüssel berechnet wurde. Es ist leicht erkennbar, dass weder über die Bibliothekstantieme noch über die Ausschüttung Wissenschaft nennenswerte Einkommen zu erzielen sind. Will ein Autor allein über diese Ausschüttungen ein Einkommen von 1.000 € jährlich erzielen, muss er schon recht viel publizieren bzw. in Bibliotheken gut vertreten sein. Dies zeigt erneut, wie schwer es ist, vom Schreiben zu leben. Der Sender WDR 2 beschreibt auf seiner Internetseite »Quintessenz« ein fiktives Beispiel: »Für die Arbeit an einem Roman braucht ein Autor oder eine Autorin ein Jahr. Er wird in einer Auflage von 5.000 Exemplaren gedruckt (49 % der aktuell lieferbaren Belletristik in Hardcover wird weniger als 5.000 Mal verkauft). Vom Ladenpreis (19,80 €) gehen 7 % Mehrwertsteuer ab. Es bleiben 18,60 €. Die 10 % Autorenhonorar belaufen sich auf 1,86 € pro Exemplar. Wenn über einen Zeitraum von 12 Monaten 3.500 Exemplare verkauft werden, ergibt das einen Ertrag von 6.510 Euro, pro Monat also einen Verdienst von 542,50 Euro« (http://www.wdr.de/radio/wdr2/quintessenz/313314.phtml vom 29.12.2005).

Allerdings stehen dem Autor auch noch andere Einkommensquellen offen. So werden Veröffentlichungen in Tages- und Wochenzeitungen sowie Publikumszeitschriften im Allgemeinen recht gut honoriert. Nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, sondern auch um bekannt zu werden bzw. zu bleiben, wird ein Autor diese Publikationsmöglichkeit nutzen. Eine weitere Einkommensquelle sind Hörfunk- und Fernsehbeiträge, die in der Regel ebenfalls recht gut honoriert werden, für die aber nur relativ wenige Autoren benötigt werden, d.h. dieses Arbeitsfeld steht bei weitem nicht allen Autoren offen. Sind Autoren bereits relativ gut bekannt, so werden sie auch Einladungen zu Autorenlesungen in Buchhandlungen, Volkshochschulen und Literaturhäusern erhalten. Doch jüngere Autoren bzw. Berufsanfänger mit geringem Bekanntheitsgrad werden sich vorrangig auf Buchhonorare und Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften konzentrieren müssen. Das führt dazu, dass das durchschnittliche Jahreseinkommen der selbstständigen Schriftsteller erstaunlich niedrig ist. Das geht aus einer Statistik der Künstlersozialkasse hervor. Dort sind Künstler sozialversichert, »wenn sie die künstlerische oder publizistische Tätigkeit erwerbsmäßig und nicht nur vorübergehend ausüben« (§ 1 Künstlersozialversicherungsgesetz – KSVG – in der Fassung vom 21.3.2005). Um den Charakter einer selbstständigen Tätigkeit zu unterstreichen, sind diejenigen Künstler und Publizisten von der Künstlersozialversicherung freigestellt, deren Jahreseinkommen weniger als

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3.900 € beträgt (§ 2 KSVG). Demnach ergab sich für diesen Personenkreis im Jahr 2005 ein Jahresdurchschnittseinkommen von 12.282 € (vgl. auch Abschnitt 2.4). Allerdings gibt diese Statistik gleichsam nur das »Mittelfeld« wieder. Die unteren Einkommensgruppen – unterhalb von 3.900 € Jahreseinkommen – sind ebenso ausgespart wie die oberen, weil diese Personengruppe entweder Befreiungsgründe geltend machen kann (z.B. Beschäftigung von mehr als einen Arbeitnehmer), oder ohnehin das Renteneintrittsalter überschritten hat. Gerade die oberen Einkommensgruppen aber geben ein völlig anderes Bild von der sozialen Situation der Schriftsteller wieder. Das wird deutlich, wenn man sich einige Verkaufszahlen von Bestsellerautoren vor Augen führt. So wurden beispielsweise die Bücher von Erich Maria Remarque (1898-1970) in mehr als 50 Sprachen übersetzt und erreichten weltweit eine Auflage von mehreren Millionen. Die Bücher von Michael Ende (1929-1995) wurden ebenfalls in 40 Sprachen übersetzt und erreichten eine Weltauflage von mehr als 20 Mio. Auch von Otfried Preußler (geb. 1923), Autor von Der Räuber Hotzenplotz, wurden weltweit 45 Mio. Bücher verkauft. Neben den Kinderbuchautoren sind vor allem auch Autoren so genannter Unterhaltungsliteratur besonders erfolgreich. Sowohl Johannes Mario Simmel (geb. 1924) als auch Hans G. Konsalik (1921-1999) erreichten mit ihren Büchern eine weltweite Auflage von je ca. 80 Mio. Exemplaren. Von den Autoren der anspruchsvolleren Literatur ist Hermann Hesse (1877-1962) mit großem Abstand der erfolgreichste; die Weltauflage seiner Bücher wird auf mehr als 100 Mio. geschätzt. Heinrich Böll (1917-1985) schlägt mit mehr als 40 Mio. zu Buche; Thomas Mann (18751955) mit etwa 30 Mio. Von den noch lebenden deutschen Autoren der anspruchsvolleren Literatur ist Günter Grass (geb. 1927) mit Abstand der erfolgreichste; allein die Blechtrommel wurde mehr als 25 Mio. Mal verkauft. Ähnlich erfolgreich ist Siegfried Lenz (geb. 1926) mit etwa 25 Mio. Exemplaren. Für alle erfolgreichen Autoren kommen zum Buchhonorar noch Tantiemen für Film- und Fernsehrechte hinzu sowie hohe Honorare für öffentliche Auftritte, auch außerhalb von Lesungen und Signierstunden. Neue Bücher von Günter Grass oder Martin Walser (geb. 1927) beginnen in der Regel mit einer Startauflage von 100.000 Exemplaren und erleben dann sehr schnell weitere Auflagen bzw. Übersetzungen. Ähnlich wie in anderen Kunstsparten gehören auch im Literaturbetrieb die international erfolgreichen Schriftsteller durchaus zu den Spitzenverdienern, deren Einkommen sich mit dem von Industriemanagern messen kann. Allerdings betrifft dies – das muss immer wieder betont werden – nur sehr wenige Personen. Für das Gros der Schriftsteller ist ein Jahresumsatz von 15.000 Exemplaren schon ein guter Erfolg. Was schon 1789 Novalis schrieb, bestätigt sich für die meisten Autoren immer wieder: »Von der Schriftstellerei leben, ist

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[...] ein höchst gewagtes Unternehmen.« Folglich sind nicht wenige, auch namhafte Schriftsteller nicht selten vorübergehend auf Mäzene oder auf die Unterstützung ihrer Verlage angewiesen. So konnte Robert Musil (1880-1942) nur deshalb jahrelang an seinem großen Roman Der Mann ohne Eigenschaften schreiben, weil ihm der Rowohlt Verlag regelmäßig Vorschüsse zahlte, die – angesichts der langen Dauer bis zur Abgabe des Manuskripts – durchaus den Charakter einer sozialen Unterstützung hatten. Auch über Uwe Johnson (1934-1984) erfuhr man nach seinem Tod, dass er jahrelang von einer Unterstützung des Suhrkamp Verlags gelebt hatte. Einen kleinen wirtschaftlichen Vorteil haben Schriftsteller allerdings gegenüber anderen Künstlern doch. Anders als bei Musikern und bildenden Künstlern sind die Kosten der Kunstproduktion bei Schriftstellern sehr gering. Sie benötigen weder teure Musikinstrumente noch Leinwände und Farben bzw. Material für Skulpturen. Vor allem aber kommen sie in der Regel ohne Künstleragenturen und Galerien aus, die im Musikbetrieb und Kunstbetrieb erhebliche Kostenfaktoren sind. Beispielsweise erhält eine auch nur halbwegs renommierte Galerie 50 % des Verkaufspreises eines Bildes; nicht wenige Bildhauer setzen fast ihre gesamten Verkaufserlöse für den Kauf neuer wertvoller Steine oder für die Finanzierung von Bronzegüssen ein. Lektoren, die zumindest in den besseren Verlagen auch heute noch »ihre« Schriftsteller betreuen, werden dagegen vom Verlag angestellt und bezahlt; sie sind mit einem Konzertagenten nicht vergleichbar. Wenn man den geringen materiellen Aufwand sieht, mit dem ein Buch auf dem Schreibtisch des Autors entsteht, so ist die Relation zum späteren Verkaufsumsatz umso erstaunlicher. Dazu ein Rechenbeispiel: Wenn ein Bestseller mit einem Ladenpreis von 24,80 € in Deutschland in einem Jahr 500.000-mal verkauft wird, so entsteht allein aus dem Verkauf dieses Buches ein Umsatz von ca. 12 Mio. €. Daran ist der Staat allein über die Mehrwertsteuer mit 840.000 € beteiligt, hinzu kommen Körperschaftssteuer von Verlag und Buchhandel, Einkommensteuer und Sozialabgaben der Mitarbeiter von insgesamt mindestens 45 %, also nochmals etwas mehr als 5 Mio. €. Zwar erhält auch der Autor davon ein prächtiges Honorar, und selbstverständlich entstehen auch Materialkosten usw., aber es verbleibt immer noch ein nennenswerter Betrag, um damit die Arbeitskosten nicht weniger Leute zu finanzieren. Noch erstaunlicher ist die Rechnung bei kleineren Buchprojekten. Ein Roman, der es gerade mal auf 10.000 Verkaufsexemplare pro Jahr bringt und ebenfalls im Handel mit 24,80 € angeboten wird, erreicht einen Jahresumsatz von knapp 250.000 €. Auch damit lässt sich schon sehr viel anfangen, während der Autor vom Honorar – bei einem Satz von 10 % des Umsatzes – keineswegs üppig wird leben können. Es dürfte keinen anderen Bereich im Kulturbetrieb geben, in dem allein die Leistung eines Einzelnen, die

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zudem noch mit einem denkbar geringen materiellen Aufwand entstanden ist, einen so großen wirtschaftlichen Multiplikatoreneffekt nach sich zieht. Das macht es leicht, auch aus wirtschaftlicher Sicht für gute Rahmenbedingungen der Autoren zu werben. Die eben erwähnten geringen Kosten des Autors verdienen noch eine Anmerkung. In jüngster Zeit zeichnet sich nämlich ab, dass auch Schriftsteller verstärkt mit Literaturagenten zusammenarbeiten. Diese sind hinsichtlich ihrer Aufgaben durchaus mit den Konzertagenten vergleichbar, denn auch der Literaturagent kümmert sich darum, die Leistungen seines Klienten auf dem Literaturmarkt zu verkaufen. Das beginnt mit der Suche nach einem geeigneten Verlag und dem Aushandeln eines Verlagsvertrags, setzt sich fort in der Vermittlung von Autorenlesungen, Interviews in Zeitschriften usw. und endet nicht selten in einer umfassenden Beratung in rechtlichen und finanziellen Angelegenheiten. Etwa 15 % ihrer Einnahmen, also vergleichbar der Provision der Musiker an ihre Konzertagenten, zahlen die Autoren für die Dienste der Literaturagenten. Das aber scheint gut angelegtes Geld zu sein, denn gute Literaturagenten sind heiß begehrt. Zwar übernimmt der Agent nicht die Aufgaben eines Lektors, muss aber doch in der Lage sein, ein gutes von einem schlechten Manuskript zu unterscheiden. Das wiederum nützt auch den Verlagen, die sich deshalb bei Anfragen, die über einen Literaturagenten zu ihnen gelangen, leichter tun als mit den vielen unaufgeforderten Manuskripten von Anfängern. Wie überhaupt Literaturagenten wohl in erster Linie für Berufsanfänger und solche Schriftsteller von Interesse sind, die sich noch nicht endgültig am Markt etabliert haben; Sten Nadolny, Uwe Timm und Martin Walser kommen nach wie vor ohne Agenten aus. Trotz Unterstützung durch einen Literaturagenten und trotz oft sehr enger Zusammenarbeit mit den Lektoren der Verlage bleiben Schriftsteller vom Typ her Einzelgänger. Sie sind keine Teamspieler, sondern Individualisten, die dann am produktivsten sind, wenn man sie in Ruhe lässt. Dies mag auch der Grund sein, weshalb es Schriftstellern stets sehr schwer fällt, ihre gemeinsamen Interessen in Schriftstellerverbänden zu bündeln. Trotz verschiedener Vorläufer – u.a. 1842 der Leipziger Literatenverein – wurde erst 1887 der Deutsche Schriftstellerverband gegründet. Wenn man bedenkt, dass sich Musiker bereits im 13. Jahrhundert zu Musikantenzünften zusammengeschlossen haben (vgl. Abschnitt 4.1), ist die späte Vereinigung der Schriftsteller doch sehr erstaunlich. 1909 entstand zusätzlich der Schutzverband Deutscher Schriftsteller, der mehr gewerkschaftlich orientiert war und sich verstärkt auch um die wirtschaftlichen Interessen der Schriftsteller kümmerte. Alle Verbände wurden während der Nazi-Herrschaft aufgelöst. Nach 1945 bildeten sich in Ost und West getrennte Verbände heraus. Der in der DDR bestehende Deutsche Schriftstellerverband betätigte sich als Bindeglied zwi-

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schen Politik und Literatur, was nicht zuletzt deshalb gelang, weil der Schriftsteller Johannes R. Becher (1891-1958) erster Kulturminister der DDR war. Im Westen kam es dagegen erst 1969 zur Gründung des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS), weil die Schriftsteller sich schwer taten, ihre Rolle zwischen freischaffender Selbstständigkeit und gleichzeitiger Abhängigkeit von den Verlagen und dem Buchmarkt richtig zu definieren. Letztlich entschied man sich aber für eine Berufsvertretung, die vor allem die wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Schriftsteller wahrzunehmen hatte. Folgerichtig schloss man sich 1973 als eigene Fachgruppe der Industriegewerkschaft Druck und Papier an; seit 2001 gehört der Verband zur Gewerkschaft ver.di. 1991 traten – nach Auflösung des DDR-Verbandes – etwa 600 DDR-Schriftsteller dem VS bei. Der VS hat damit heute etwa 3.000 Mitglieder. Dem VS ist es gelungen, eine Reihe von wirtschaftlichen Verbesserungen für seine Mitglieder zu erreichen. So war der VS maßgeblich an der Gründung der Künstlersozialversicherung beteiligt. Auch erreichte der VS die Aufhebung des so genannten »Schulbuchparagraphen«. Demnach konnten literarische Texte in Schulbüchern unentgeltlich abgedruckt werden. Heute zahlen Schulbuchverlage wie alle anderen Verlage Tantiemen, wenn sie urheberrechtlich geschützte Texte aus anderen Büchern abdrucken. Als sich 1973 der VS der Gewerkschaft anschloss, haben die Autoren, die diesem Weg nicht folgen wollten, den Freien Deutschen Autorenverband (FDA) gegründet. Der FDA ist politisch und religiös ungebunden und sieht sich in der Tradition des bereits während der Weimarer Republik bestehenden Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller. Neben VS und FDA gibt es den P.E.N. (oder PEN) als den Schriftstellerverband auf internationaler Ebene. PEN steht für poets, essayists und novelists und wurde 1921 in Großbritannien zur Förderung der Kontakte zwischen europäischen Schriftstellern gegründet, bald aber schon weltweit ausgedehnt. Mitglied des PEN kann man nur werden, wenn man vom PEN-Zentrum seines Heimatlandes vorgeschlagen wurde. Insofern ist der PEN eben kein Interessensverband im engeren Sinne, weil jemand, der seine Interessen vertreten sehen möchte, nicht von sich aus Mitglied werden kann, sondern eher ein Club nach britischem Vorbild, weshalb die Bezeichnung PEN-Club, wie sie oft gebraucht wird, nicht unangemessen ist. Die Mitglieder des PEN haben sich selbst Grundsätze gegeben, die eher an den moralisch-ethischen Ansprüchen eines freischaffenden Autors orientiert sind, als dessen wirtschaftliche und rechtliche Interessen zu berücksichtigen. 2003 zählte man 130 PEN-Zentren in 91 Staaten. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die deutsche Gruppe lange in einen PEN-Ost und einen PEN-West gespalten. Erst 1997 kam es zur Wiedervereinigung der beiden deutschen PEN-Zentren.

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5.3 Literaturförderung der öffentlichen Hand Die öffentliche Literaturförderung konzentriert sich im Wesentlichen auf drei Bereiche: • Autorenförderung, • Leseförderung, • Bewahrung, Pflege und Erschließung des literarischen Erbes. Die Autorenförderung ist vorrangig ein Betätigungsfeld der Kommunen. Allerdings hat der Blick auf die verschiedenen Einkommensquellen gezeigt, dass eine Autorenförderung sich auf die Felder außerhalb der unmittelbaren Buchhonorare konzentrieren sollte. Dagegen greifen Druckkostenzuschüsse in ein System ein, dass im Großen und Ganzen zwischen den Verlagen und den Autoren recht zufriedenstellend geregelt ist. Lediglich für ganz junge und unbekannte Autoren spielt eine solche Literaturförderung eine gewisse Rolle und wäre im Einzelfall auch vertretbar. Die wichtigste Form der Autorenförderung sind Literaturpreise und Stipendien, die von Kommunen und Bundesländern, aber auch von Mäzenen vergeben werden. Die Art und Anzahl dieser Preise und Stipendien ist kaum noch zu überschauen (vgl. Tieger 2002). Zu unterscheiden sind Literaturpreise, die entweder für ein bestimmtes Buch oder für ein Lebenswerk vergeben werden (z.B. der Georg-Büchner-Preis), sowie Stipendien, mit denen die Finanzierung eines Arbeitsaufenthalts ermöglicht wird (z.B. das Villa-Massimo-Stipendium). Zur letzteren Gruppen gehören auch die vor allem in den 70er und 80er Jahren beliebten Stadtschreiber-Stipendien (z.B. Stadtschreiber von Bergen-Enkheim). Einige Preise wenden sich auch ausdrücklich an junge Autoren (z.B. der Förderpreis für Literatur der Landeshauptstadt Düsseldorf). Eher selten wird auch ein Preis an Übersetzer vergeben (z.B. Christoph-Martin-Wieland-Preis). Da Übersetzer in der Regel sehr schlecht bezahlt werden und sie auch – anders als die Autoren – kaum Möglichkeiten haben, Nebeneinnahmen zu erzielen, hat deren Förderung durch Preise und Stipendien einen besonderen Stellenwert. Ein an Bedeutung zunehmendes Betätigungsfeld der Literaturförderung sind die Literaturhäuser, wo es – anders als bei einer singulären Autorenlesung – zu einer permanenten und viele Facetten erreichenden Einbringung von Literatur ins öffentliche Leben kommen kann (vgl. Abschnitt 5.4). Darüber hinaus gibt es zahlreiche Wege der unmittelbaren Förderung der Verbreitung der Literatur, wie beispielsweise finanzielle Hilfen zu Autorenlesungen, Buchwochen oder für literarische Zeitschriften. Dazu gehört auch die Leseförderung in der Schule, etwa über den Boedecker-Kreis, sowie die Leseför-

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derung über die Stiftung Lesen. Dagegen wird der Vorlesewettbewerb, der unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten steht und an dem jährlich mehr als 700.000 Kinder teilnehmen, zwar von den Schulen unterstützt, aber vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels veranstaltet. Für die Leseförderung sind zudem die kommunalen Bibliotheken von größter Bedeutung. Da inzwischen überzeugend nachgewiesen werden konnte, dass Bibliotheksnutzer auch eifrigere Buchkäufer sind als Nicht-Bibliotheksnutzer, sehen inzwischen selbst Buchhändler die öffentlichen Bibliotheken mit größtem Wohlwollen. Diese Bibliotheken, die heute selbstverständlich nicht mehr nur Belletristik zur Verfügung stellen, sondern zu umfassenden Informationszentren geworden sind, werden sowohl aus Bundesund Landesmitteln als auch vor allem aus kommunalen Mitteln gefördert. Kommunen und Bundesländer gemeinsam unterhalten zahlreiche Literaturmuseen und Literaturgedenkstätten. Diese Einrichtungen übernehmen die schwierige Aufgabe, Literatur sichtbar zu machen, indem man die Orte vorstellt und den sozialen Kontext zeigt, in dem ein Werk entstanden ist. Einige dieser Literaturmuseen sind von bundesweiter und sogar internationaler Bedeutung, weshalb sie auch zusätzlich aus Bundesmitteln gefördert werden. Zu nennen sind beispielsweise das Kleistmuseum in Frankfurt an der Oder, das Buddenbrook-Haus in Lübeck oder das Goethe-Haus in Frankfurt am Main. Einige Literaturmuseen sind zudem gekoppelt mit Literaturarchiven und Forschungsstellen. Zu nennen sind hier das Deutsche Literaturarchiv mit dem Schiller-Nationalmuseum in Marbach am Neckar, die Stiftung Weimarer Klassik mit der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek und dem Goethe-SchillerArchiv in Weimar sowie das Freie Deutsche Hochstift in Frankfurt am Main. Der Bund ist vor allem für die länderübergreifende Literaturförderung zuständig. Deshalb fördert er beispielsweise die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, die alljährlich den Georg-Büchner-Preis, den angesehensten Literaturpreis in Deutschland verleiht, sowie die Arbeitsgemeinschaften der literarischen Gesellschaften und nicht zuletzt die drei in Deutschland bestehenden Schriftstellerverbände. Seitens des Bundes ist der 1980 gegründete Deutsche Literaturfonds als besonders wichtige Form der Literaturförderung zu nennen. Er konzentriert sich vor allem auf Arbeits- und Werkstipendien, unterstützt aber auch bundesweit bedeutende Initiativen auf dem Gebiet der Literatur einschließlich der literarischen Vermittlung und Rezeption. Dem Literaturfonds geht es also weniger um das unmittelbare literarische Schaffen, sondern eher um das allgemeine »literarische Klima«. Mitglieder des Literaturfonds sind der Börsenverein des deutschen Buchhandels, die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, der Deutsche Bibliotheksverband, das PEN-Zentrum, die VG Wort und noch einige andere Verbände.

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Die Arbeit des Literaturfonds gewinnt für die Entwicklung der deutschsprachigen Literatur zunehmend an Bedeutung, weil es so möglich ist, vor allem jüngeren, nachweislich begabten Autoren den Freiraum zu bieten, über einen längeren Zeitraum ohne finanziellen Druck an einem literarischen Projekt zu arbeiten. Zudem werden durch die »Werkstatttage für Dramatiker«, die in Kooperation mit dem Wiener Burgtheater durchgeführt werden, sowie durch den zusammen mit dem Norddeutschen Rundfunk veranstalteten Hörspiel-Workshop auch innovative Rahmenbedingungen für die Förderung dramatischer Literatur geboten. Für diese und andere Projekte stellt der Bund jährlich einen Betrag von 1 Mio. € im Jahr bereit. Die Fördermittel des Bundes für den Literaturbetrieb belaufen sich insgesamt auf jährlich etwa 15 Mio. €, die der Bundesländer zusammen auf rund 30 Mio. €. Hinzu kommen die Mittel der Kommunen, die sich aber, da vielfach Teil der Bibliotheksausgaben, nur schwer beziffern lassen. Neben der unmittelbaren Literaturförderung kommt vor allem dem Bund die Aufgabe zu, die Rahmenbedingungen der Literaturproduktion und des Buchmarktes zu gestalten. Dazu gehören vor allem urheberrechtliche Fragen sowie Fragen zur Steuerung des Buchmarktes (z.B. Buchpreisbindung); vgl. dazu Abschnitt 5.7. 5.4 Literaturrezeption Als Rezeption von Literatur bezeichnet man die unmittelbare sinnliche Aneignung eines literarischen Textes, aber auch die Art und Weise der gleichsam materiellen Aufnahme von Literatur durch den Leser. Zu keiner Zeit bestand die Rezeption von Literatur ausschließlich im stillen Lesen. Beispielsweise im 18. Jahrhundert kannte man – nach französischen Vorbildern – auch in Deutschland Salons, in denen auf Einladung einer wohlhabenden Dame gebildete Adlige und Bürger sich gegenseitig Musik und Poesie zu Gehör brachten. Schon im 18. Jahrhundert war es auch üblich, dass Autoren ihre neuen Werke entweder im Kreis von Kollegen oder vor einem literarisch interessierten Publikum vorlasen. Von vielleicht schon etablierten Kollegen erwartete man sich Zuspruch und konnte gleichzeitig beim Publikum die Wirkung eines neuen Textes testen. Da nicht selten auch Theaterintendanten, Schauspieler oder Verleger zum Publikum gehörten, dienten solche Lesungen auch der Verkaufsförderung. Nicht zuletzt waren solche Lesungen gute Gelegenheiten, bei denen der Dichter – neben dem Verkauf seines Buches – sein Einkommen verbessern konnte, und sei es nur in Form eines guten Essens. Noch im 19. Jahrhundert waren Leseabende und Literarische Salons sehr beliebt, boten sie doch nicht selten die einzige Unterhaltung an langen Winterabenden. Diese Form, sich Literatur nicht nur selbst lesend nahe zu bringen, hat

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sich auch nach 1945 fortgesetzt, wenn auch auf andere Weise. Den Anfang machten die Autorenlesungen, allerdings in anderer Form, als sie im 18. und 19. Jahrhundert gepflegt wurden. Seit etwa den 60er Jahren dient die Autorenlesung entweder direkt der Verkaufsförderung, wenn sie in einer Buchhandlung durchgeführt wird, oder ist eine Bildungsveranstaltung, wenn der Autor beispielsweise in einer Volkshochschule bzw. Stadtbibliothek oder – international – in einem Goethe-Institut auftritt. Dabei kann die Veranstaltung der Volkshochschule oder der kommunalen Bibliothek durchaus auch verkaufsfördernden Charakter haben, wenn eine örtliche Buchhandlung oder ein Verlag ergänzend zur Lesung einen Büchertisch anbietet und der Autor bereit ist, nach der Lesung seine Bücher zu signieren. Autorenlesungen sind deshalb nicht nur eine wichtige Form der Literaturrezeption, sondern sind als Einkommensquelle des Autors bzw. des Verlags und des Buchhandels auch wirtschaftliche Ergänzungen des Literaturbetriebs. Einen weit geringeren Stellenwert, gerade auch aus wirtschaftlicher Sicht, haben dagegen Rezitationen. Dabei werden Literaturtexte nicht anwesender bzw. verstorbener Autoren durch entsprechend geschulte Rezitatoren bzw. Schauspieler einem Publikum vorgelesen. Liegt der besondere Reiz der Autorenlesung darin, dass das Publikum den Autor persönlich kennen lernt und in aller Regel sich an die Lesung ein persönliches Gespräch mit dem Autor anschließt, so liegt die Besonderheit der Rezitation in der spezifischen Präsentationsform, die meist noch durch musikalische Begleitung unterstrichen wird. Waren lange Zeit Volkshochschulen und Stadtbibliotheken die typischen Veranstaltungsorte für Autorenlesungen und Rezitationen, so haben sich diese Veranstaltungen in einigen Großstädten in die Literaturhäuser verlagert. Nach eigenem Bekunden sind Literaturhäuser »Zentren öffentlicher Ereignisse rund um das Buch und Ansprechpartner für alle Fragen der Literatur. In den Literaturhäusern treffen sich bei Veranstaltungen und im zwanglosen Rahmen Schriftsteller, Verleger, Übersetzer, Lektoren, Buchhändler, Kulturschaffende, Journalisten und ein literaturinteressiertes Publikum zum Dialog und Interessensaustausch. Die Literaturhäuser greifen dabei nicht nur aktuelle Stimmungen ihrer städtischen Umgebung auf und reflektieren in ihrem reichhaltigen Programm Strömungen der Zeit, sondern geben selbst Impulse für das kulturelle und literarische Leben der Stadt. Aber auch zufällige Begegnungen haben ihren Platz: Die angeschlossene Gastronomie prägt das Flair von Salon und Kaffeehaus, die zum Verweilen einladen und sich zwanglos zur Galerie, zum Musik- und Sprechtheater oder Kino erweitern lassen« (http://www.litera turhaeuser.net/ vom 3.3.2006).

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Nach Vorläufern in Form der so genannten Literaturbüros (z.B. ab 1980 in Düsseldorf und Erlangen) entstanden ab 1986 bis Ende der 90er Jahre Literaturhäuser in Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main, München und Köln. Inzwischen sind weitere Häuser in Kiel, Magdeburg, Rostock, Stuttgart und einigen anderen Städten hinzugekommen. Auch in Salzburg, Wien und Basel wurden Literaturhäuser eröffnet. Die große Stärke dieser Häuser ist zweifellos, dass die Rezeption von Literatur in die Öffentlichkeit gelangt. Durch die Konzentration der literarischen Form auf den Roman drohte die Literatur in der Privatheit zu versinken. Indem in den Literaturhäusern Literatur wieder öffentlich zur Sprache gebracht wird und Literaten mit anderen Künstlern, aber auch mit Politikern und Unternehmern über die Literatur und – vor allem – über die Themen der Literatur diskutieren, erreicht die Rezeption literarischer Texte eine völlig neue und seit Jahrzehnten nicht mehr gekannte Dimension und Qualität. Eine besondere Unterstützung erhält die neue Form von Literaturrezeption auch durch Hörfunk und Fernsehen. Der Hörfunk hat in seinen Kulturprogrammen schon immer Literatursendungen ausgestrahlt, in denen Neuerscheinungen besprochen, über Literatur diskutiert und Texte von Autoren oder von Rezitatoren gelesen werden. Relativ neu sind dagegen entsprechende Aktivitäten des Fernsehens, wo sich allerdings der Versuch, Bücher nach dem Muster des Hörfunks vor laufender Kamera zu besprechen, nicht bewährt hat. Das Fernsehen benötigt für seine Zwecke ein anderes visuelles Format, das mehr ist als die Aufzeichnung einer Hörfunksendung. Dieses Format hat es im Literarischen Quartett gefunden, das zwischen 1988 und 2001 monatlich gesendet wurde und bei dem die »Stammbesetzung« mit Marcel Reich-Ranicki, Hellmuth Karasek und Sigrid Löffler zusammen mit einem wechselnden Gast über jeweils fünf Neuerscheinungen diskutierte. Vor allem dank der oftmals bissigen Eloquenz von Reich-Ranicki und Karasek erreichte diese Sendung einen erstaunlich großen Unterhaltungswert. Ob der Zuschauer dabei wirklich einen nachhaltigen Zugang zur Literatur gefunden hat, bleibt dahingestellt. Der Verkaufsförderung diente das literarische Streitgespräch aber allemal. 5.5 Verlagswesen und Buchhandel Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der Dachverband der Verlage und Buchhändler, zählte zum 30. April 2005 insgesamt 6.285 Mitglieder. Davon waren 1.823 dem herstellenden Buchhandel (Verlage) und 4.349 dem verbreitenden Buchhandel zuzuordnen. Als Verlag bezeichnet man jenen Teil des Literaturbetriebs, der sich gewerbsmäßig mit der buchmäßigen Produktion und der Verbreitung von litera-

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rischen Werken befasst. Vereinfacht könnte man sagen: Der Verleger macht das Manuskript zum Buch und bereitet es für einen Verkauf im Buchhandel vor. Das geschieht rechtlich in der Weise, dass der Verlag vom Autor das Manuskript erwirbt und es auf eigenes Risiko umsetzt. Das bedeutet, dass der Verlag finanziell in erheblichem Umfang in Vorleistungen tritt, weil er Druck, Bindung und Lagerung eines Buches bezahlen muss, noch bevor ein Band verkauft wurde. Verleger zeichnen sich deshalb nicht selten durch einen gewissen Idealismus aus; sie verlassen sich durchaus auf ihr Gespür und sind auch bereit – natürlich nur in wirtschaftlich vertretbarem Umfang –, für einen interessanten Autor oder für ein viel versprechendes Manuskript engagiert einzutreten. Gerade mit Blick auf die Belletristik muss denn auch festgestellt werden, dass vielen Verlegern große Verdienste zukommen; ohne deren Bereitschaft, auch unbekannte Autoren zu verlegen, wäre manches Buch, das heute unbestritten zum Besten der Literatur zählt, nie erschienen. Um die Dimensionen der Verlagstätigkeit zu verdeutlichen, genügt ein Blick auf die Anzahl der inländischen Titelproduktionen. Nach Angaben des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels umfasst die gesamte Produktion der deutschen Buchverlage rund 960 Mio. Bücher und ähnliche Druckerzeugnisse. Interessant ist aber vor allem die Zahl der jährlichen Neuerscheinungen. Hier die Entwicklung der letzten Jahre: Abbildung 5: Titelproduktionen (Erstauflagen und Neuauflagen) 1993 bis 2004 100.000 4

.17

74

80.000

43

71

.

5 51

77

.

9 88

78

.

2 04

36

9

7 .7

80

8

9 2.

88

.0

85

78

.

6 89

43

.5

1 86 97

.

80

00 70.6

.2

67

60.000

40.000

20.000

0 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004

Quelle: Börsenverein des Deutschen Buchhandels

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Die überraschenden Schwankungen in der Zahl der Jahresbuchproduktionen machen deutlich, dass das Verlagsgeschäft besonders risikoreich und konjunkturabhängig ist. Innerhalb eines Zeitraums von 12 Jahren ergab sich eine Schwankungsbreite von 19.343 Titeln oder 22 %. Etwa 75 % der aktuellen Buchproduktionen sind Erstauflagen, was nach wie vor für eine erhebliche Dynamik des Buchmarktes spricht, was aber auch zeigt, dass die Verlagsbranche sehr stark auf den Neuigkeitswert von Büchern ausgerichtet ist, weil nur das Neue sich auch entsprechend vermarkten lässt. Bearbeitete oder sogar unbearbeitete Neuauflagen sowie Nachdrucke (die so genannten Reprints) – sie machen die restlichen 25 % der Buchproduktionen aus – lassen sich nur schwer neu vermarkten, d.h. sie leben allein von dem »Schwung«, der ihnen noch von der Erstauflage geblieben ist. Letzteres gilt natürlich nicht für so genannte Standardwerke im Sachbuchbereich oder »Klassiker« der Belletristik. So verkauft der Verlag Hoffmann & Campe nach wie vor jährlich etwa 30.000 Exemplare von Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues. Auch der Pschyrembel, das beim Verlag de Gruyter erscheinende und inzwischen auch allgemein zugängliche klinische Wörterbuch der Ärzte, ist mit etwa 260 Auflagen ein Selbstläufer. Mit durchschnittlich 80.000 Neuerscheinungen (Erstauflagen und Neuauflagen) ist Deutschland nach China und Großbritannien das Land mit der drittgrößten Titelproduktion in der Welt. Vergleicht man dazu die Größe der einzelnen Sprachräume, ergibt sich für den deutschen Buchmarkt in Bezug auf die Titelproduktion eine relative Spitzenposition. Doch trotz dieser starken Stellung am Weltmarkt darf die aktuelle Lage der Verlagsbranche nicht nur positiv bewertet werden. Wie die Schwankungen in der Zahl der Titelproduktionen bereits andeuten, hat die Branche mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen. So ist die hohe Zahl der jährlichen Titelproduktionen auch ein Indiz dafür, dass man nach dem »Schrotflintenprinzip« versucht, durch eine hohe Zahl von Büchern wenigstens hier und da einen Volltreffer in Form eines Bestsellers zu landen. Und in der Tat fällt es der Branche bis heute schwer, die Spreu vom Weizen zu trennen, was zu immer mehr und immer schnelleren »Versuchsballons« führt. Letztlich ist die Verlagsbranche – wie der gesamte Buchmarkt – ein Musterbeispiel für das Pareto-Prinzip1: Maximal 20 % der von den Verlagen bereitgestellten Titel sichern 80 % der Erträge des Buchmarktes; die restlichen 80 % sind entweder echte Flops oder dienen der Abrundung des 1 Der italienische Nationalökonom Vilfredo Pareto (1848-1923) konnte mit statistischen Untersuchungen belegen, dass 20 % der Bevölkerung 80 % des Volksvermögens besitzen. Dieses 20:80-Prinzip konnte zwischenzeitlich auch für viele andere Lebensbereiche nachgewiesen werden.

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Verlagsportfolios. Nur scheint es wirklich nicht leicht zu sein, diese 20 % erfolgreicher Titel frühzeitig zu erkennen. So war beispielsweise kein Verlag daran interessiert, die deutschen Rechte für J.R.R. Tolkiens Trilogie Herr der Ringe zu erwerben. Am Ende griff der Klett-Verlag zu; der Rest der Geschichte ist bekannt! Die reziproke Relation von 20:80 wird noch auf die Spitze getrieben durch die so genannten big seller. Darunter versteht man Titel, die in so großer Zahl und mit so großem wirtschaftlichen Erfolg verkauft werden, dass sich mit einem Titel das wirtschaftliche Ergebnis eines Verlags und möglicherweise sogar einer Branche erkennbar verändert. So musste der Carlsen-Verlag in Hamburg in 2004 ein Umsatzminus von 61,8 % hinnehmen, weil in jenem Jahr kein neuer Harry Potter-Roman erschienen war. Neben dem besonderen Risiko der Produktauswahl und der stets neuen Produkteinführung – jedes neue Buch ist ein unbekanntes Produkt – kommt aus betriebswirtschaftlicher Sicht für die Verlage erschwerend die sehr teure Lagerhaltung hinzu. Man muss sich nur einmal vor Augen halten, dass es in Deutschland zur Zeit etwa 960.000 lieferbare Titel gibt, die vom Buchhandel bundesweit ständig am Lager bereitgehalten werden. Dies ist nur deshalb möglich, weil durch die Buchpreisbindung der Lagerbestand nicht an Wert verliert, egal ob er dort ein oder zehn Jahre vorgehalten wird. Würden Bücher ohne Buchpreisbindung im zweiten oder dritten Jahr deutlich billiger als nach der Neuerscheinung, würde auch der kalkulierte Kostenanteil für die Lagerhaltung sinken, d.h. die Lagerhaltung wäre nicht mehr bezahlbar. Das hätte einen deutlichen Rückgang der Anzahl lieferbarer Bücher zur Folge und damit weniger Neuproduktionen und kleinere, deutlich teurere Auflagen. Zurzeit versucht die Verlagsbranche, dem Kostendruck und dem Markteinführungsrisiko durch Konzentrationen entgegenzuwirken. Nach den strategischen Überlegungen der Verlage haben Konzentrationen den Vorteil, dass durch gemeinsame Lagerhaltung die Lagerhaltungskosten gesenkt werden können, durch gemeinsame Absatznetze der Absatz belebt werden kann und wegen der großen Zahl höchst unterschiedlicher Produkte eine Art Binnensubventionierung in Form einer Mischkalkulation leichter möglich ist. Wie positiv sich die Konzentrationen auswirken, zeigt ein Blick auf die zehn größten Verlage im deutschsprachigen Raum, die alle aus Fusionen hervorgegangen sind:

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Tabelle 11: Die zehn umsatzstärksten Verlage im deutschsprachigen Raum 2004 Rang

Name

Ort

Umsatz Verände2004 in rung Mio. Euro gegenüber 2003

1

Springer Science + Business Media

Berlin

544

2,6

2

Cornelsen Verlagsgruppe

Berlin

339

0,0

3

Klett-Gruppe

Stuttgart

330

2,9

4

Weltbild

Augsburg

220

0,0

5

Süddeutscher Verlag Hüthig

München

220

-12,0

6

Westermann Verlagsgruppe

Braunschweig

214

3,8

7

Vogel Mediengruppe

Würzburg

209

-17,1

8

Random House

München

195

40,9

9

Weka Firmengruppe

Kissing

195

0,9

10

Wolters Kluwer Deutschland

Unterschleißheim

185

0,0

Quelle: Buchreport

Obwohl alle Buchverlage zusammen nur ein Wachstum von 2003 nach 2004 von 0,1 % erreichten, verzeichneten die 100 größten Buchverlage ein Umsatzplus von 1,1 %. Allein der Branchenführer mit mehr als einer halben Milliarde Euro Jahresumsatz erreichte noch einmal einen Zuwachs von 2,6 %. Den höchsten Zuwachs erzielte die Bertelsmann-Tochtergesellschaft Random House mit 40,9 %, der allerdings in erster Linie auf die Übernahme des Heyne-Verlags zurückzuführen ist. Damit erreichen fünf von zehn Top-Verlagen eine Zuwachsrate, die über dem Durchschnitt aller Verlage liegt. Das Konzept der Fusionen scheint sich also zu bewähren. Um zu verdeutlichen, in welchem Umfang Fusionen bereits vollzogen wurden, hier eine Aufstellung der Tochterunternehmen, die heute unter dem Dach der Verlagsgruppe Springer Science + Business Media agieren. Es sind dies: Ärzte Zeitung Verlagsgesellschaft mbH – Auto Business Verlag GmbH & Co. KG – Bauverlag BV GmbH – Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. Th. Gabler – Birkhäuser Verlag AG – Birkhäuser Verlag GmbH form – Deutscher Universitätsverlag – Dr. Hans Fuchs GmbH Verlag Fuchsbriefe – Heinze GmbH – Media-Daten Verlag – Media-Daten AG – Physica Verlag – Springer Business MediaAustria – Springer-VDI-Verlag GmbH & Co. KG – Springer Verlag Berlin/ Heidelberg – Springer-Verlag KG Wien New York – Steinkopff-Verlag – B.G. Teubner GmbH – Verlag Aktuelle Information GmbH Der Platow Brief – Vieweg & Sohn Verlag – VS Verlag für Sozialwissenschaften – Verlag Heinrich Vogel GmbH Fachverlag – Wendel Verlag GmbH – Verlag Dieter Zimpel. Insge-

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samt zählt der Konzern 44 Verlage in Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie 70 Verlage weltweit. Fusionen im großen Stil erweisen sich aber dann als nachteilig, wenn dabei als Marken eingeführte Verlagsnamen verloren gehen. Die Verlagsbranche ist deshalb sehr bemüht, diesen Fehler nicht zu machen. Selbst große Verlagsgruppen wie Springer Science + Business Media, Bertelsmann (u.a. mit Random House als Belletristik Verlag) oder Holtzbrinck (u.a. mit den Verlagen Droemer-Knaur, S. Fischer, Kindler, Rowohlt, Kiepenheuer & Witsch sowie J.B. Metzler) bevorzugen so genannte Imprint-Verlage, d.h. der alte Verlag bleibt als Marke bestehen, wird strategisch aber am Konzept des Gesamtkonzerns ausgerichtet. Hier wird also das Prinzip der Automobil-Konzerne übernommen, wo man beispielsweise weiterhin einen Jaguar als ein Fahrzeug der Premium-Klasse fahren kann, ohne daran erinnert zu werden, dass diese Marke längst zum Ford-Konzern gehört. Nach schwierigen Jahren mit zum Teil sinkenden Umsätzen konnte sich die Verlagsbranche wieder konsolidieren. Das ist einerseits auf die beschriebene Konzentration zu Groß-Verlagen zurückzuführen, andererseits aber auch auf die Bereitschaft der Verlage, neue Produkte einzuführen (z.B. Hörbücher) und – zum Teil gemeinsam mit dem Buchhandel – neue Vertriebswege zu gehen (z.B. Versandbuchhandel). Korrekterweise steht Buchhandel als Oberbegriff und umfasst den herstellenden Buchhandel (Verlagsbuchhandel) und den vertreibenden Buchhandel (Sortimentsbuchhandel). Doch ist es alltagssprachlich längst üblich geworden, den Buchhandel als den Ort des unmittelbaren Buchverkaufs zu verstehen und damit vom Verlagswesen deutlich abzugrenzen. Deshalb ist auch hier immer vom Sortimentsbuchhandel die Rede, wenn der Begriff Buchhandel verwendet wird. Der Buchhandel bestellt seine Bücher nur in Ausnahmefällen direkt beim Verlag, sondern bemüht dafür statt dessen das Barsortiment als Zwischenoder Großhandel. Das Barsortiment führt einen beträchtlichen Teil der Verlagsprogramme auf Lager (ca. 300.000 Titel), die von dort innerhalb von 24 Stunden an die Buchhandlungen geliefert werden können. Der Betrieb eines Barsortiments ist deshalb mit erheblichen Lagerhaltungskosten verbunden, was dazu geführt hat, dass es nur relativ wenige Barsortimente in Deutschland gibt (z.B. Libri [Lingenbrinck], KNO [Koch, Neff & Volckmar] und G. Umbreit). Für den unmittelbaren Kundenkontakt kennt der Buchhandel neben dem Sortimentsbuchhandel auch noch verschiedene Sonderformen. An Bedeutung gewonnen haben der Bahnhofsbuchhandel sowie der Warenhausbuchhandel mit einem je eigenen Sortiment, das auf die Bedürfnisse der Kunden (z.B. der Reisenden) besonders eingeht. Zu nennen sind auch der Reise-

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buchhandel, über den nur einzelne Bücher (z.B. Lexika) über Vertreter im Von-Tür-zu-Tür-Geschäft angeboten werden, der Antiquariatsbuchhandel sowie der Restebuchhandel (so genanntes Modernes Antiquariat). Innerhalb des kleinen Segments des Restebuchhandels ist allerdings durch den Versandbuchhandel Jokers restseller, ein Tochterunternehmen von Weltbild, Bewegung gekommen. Da Jokers restseller sein Angebot inzwischen auch per Internet bereit hält, gibt es sogar eine Überschneidung zwischen Restebuchhandel und Online-Handel. Dagegen hat der Buchhandel über Buchgemeinschaften an Stellenwert verloren. Zwei besondere Formen des Buchhandels haben in jüngster Zeit an Bedeutung gewonnen, nämlich der Direktvertrieb der Verlage und der Versandbuchhandel, beide in starkem Maße gefördert durch die Möglichkeiten des Internets. Der Direktvertrieb war früher eher von unwesentlicher Bedeutung, weil ein Kunde sich zunächst eine Broschüre über das Verlagsprogramm besorgen musste, dann per Post oder Telefon bestellte, anschließend das Buch im Postversand erhielt und am Ende über die Bank die Rechnung bezahlte. Doch dieses komplizierte und von Kunden wie Verlagen gleichermaßen ungeliebte Verfahren hat sich dank Internet deutlich vereinfacht. Heute informiert sich der Kunde über das Verlagsprogramm per Internet, macht per Internet seine Bestellung und zahlt möglichst auch per E-Banking. Lediglich die Zusendung des Buches erfolgt noch per Post. Diese sehr kundenfreundliche Entwicklung hat dazu geführt, dass viele Verlage ihren Direktverkauf deutlich ausgebaut und mit einem hohen Service versehen haben. Folglich gehört der Direktvertrieb zu den boomenden Segmenten im Buchhandel; er entwickelte sich inzwischen nach dem Sortimentsbuchhandel zur zweitstärksten Vertriebsform. Zweiter großer Gewinner unter den Absatzkanälen des Buchhandels ist in zunehmendem Maße der online betriebene Versandbuchhandel. Während der klassische Versandbuchhandel mit einem Katalog arbeitet, der den potenziellen Kunden regelmäßig ins Haus geschickt wird (wie dies Buchclubs noch heute bevorzugen), bietet der Online-Handel seine Leistungen nur noch über das Internet an. Wurden 1997 erst 12,5 Mio. € per Internet umgesetzt, so waren es 2004 bereits 510 Mio. €. Marktführer ist hier http://www.ama zon.de/ aus Seattle/USA, gefolgt von http://www.buch.de/, einem Tochterunternehmen der Thalia-Gruppe Hamburg sowie http://www.buecher.de/, einer Weltbild-Tochter. Dabei erleichtert das Medium Internet nicht nur die Bestellung, sondern bietet auch interessante Hilfen bei der Buchauswahl an, bis hin zu Rezensionen von Lesern. Internetbuchhändler besitzen zum Teil eigene Warenlager oder arbeiten mit einem Barsortiment zusammen. Nur so ist die zum Teil erstaunlich schnelle Lieferzeit erreichbar. Die für den Buchhandel außerordentlich reizvollen Möglichkeiten des

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Internets haben dazu geführt, dass sich die bisherigen, relativ festen Zuordnungen zunehmend verschieben: Sortimentsbuchhandlungen bieten eigenen Online-Handel an (z.B. http://www.thalia.de/), Versandbuchhändler verlassen sich nicht mehr nur auf ihre Kataloge, sondern stellen ihre Angebote auch ins Netz (z.B. http://www.weltbild.de/), und nicht zuletzt sucht das Barsortiment den direkten Kontakt zum Kunden, indem es einen eigenen Internet-Versandhandel betreibt (z.B. Koch, Neff & Volckmar über die InternetAdresse http://www.buchkatalog.de/). Hier noch einmal die Anteile an den Vertriebswegen des Buchhandels für das Jahr 2003: Tabelle 12: Umsatzanteile 2003 nach Vertriebswegen Vertriebsweg Sortimentsbuchhandel

Umsatzanteile 2003 56,5 %

Bahnhofs- und Warenhausbuchhandel

4,5 %

Online-Buchhandel

4,4 %

Direkthandel der Verlage

17,3 %

Online-Versandbuchhandel

5,0 %

Buchgemeinschaften

3,4 %

Sonstige Verkaufsstellen

8,8 %

Quelle: Börsenverein des Deutschen Buchhandels

Die mehr als 6.000 Betriebe des herstellenden und vertreibenden Buchhandels erwirtschafteten 2004 einen Jahresumsatz von 9,1 Mrd. € zu Endverbraucherpreisen. Das entsprach einer Umsatzsteigerung von etwas weniger als 0,1 % und signalisiert erstmals eine Trendwende bei den zuletzt stetig sinkenden Umsatzzahlen. Das ist deshalb umso bemerkenswerter, als es im Jahr 2004 keinen neuen Harry Potter-Roman gab und damit ein wichtiger Umsatzerbringer fehlte; die Branche sprach deshalb bereits vom negativen Harry Potter-Effekt. Im Gesamtumsatz des Jahres 2004 entfielen 31,1 % auf belletristische Titel, 26,3 % auf wissenschaftliche Bücher und 20,4 % auf Sachbücher und Ratgeber. Die restlichen 22 % teilten sich auf in Kinder- und Jugendbücher, Schulbücher und Reisebücher. Von den oben genannten Titelgruppen wurden etwa 14 % des Umsatzes in Form von Taschenbüchern erreicht. Unter den belletristischen Titeln dominieren nach wie vor Romane mit 49,3 % und Kriminalromane mit 21,7 % Anteil. Besonders erfolgreich entwickelt sich der Verkauf von Hörbüchern; hier melden manche Verlage bis zu 10 % Umsatzsteigerungen im Jahresvergleich.

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Auffallend ist auch, dass inzwischen Startauflagen von durchschnittlich 5.000 Exemplaren zu verzeichnen sind. Der Börsenverein hat auf diesen Trend frühzeitig reagiert und bereits 1999 einen eigenständigen Arbeitskreis Hörbuchverlage eingerichtet. Erste Buchhandlungen sind inzwischen sogar dazu übergegangen, für das Produkt Hörbuch eigene Fachverkäufer einzustellen. Insgesamt zeigen die Umsatzzahlen der jüngsten Zeit eine Konsolidierung des Buchmarktes mit durchaus positiven Signalen in einzelnen Segmenten (vor allem Hörbücher, Online-Versandbuchhandel, Direktverkauf der Verlage). Gleichwohl befasst sich der Buchhandel weiterhin intensiv mit einer Neuorientierung und Neupositionierung. Nach wie vor leidet die Branche unter der erheblichen Überproduktion von Titeln; wie bereits zu lesen war, gibt es zur Zeit jährlich mehr als 80.000 Titelproduktionen und etwa 960.000 Einzeltitel im Verzeichnis lieferbarer Bücher. Man muss kein Kaufmann sein, um erahnen zu können, dass dies erhebliche Lagerhaltungskosten, Beschaffungskosten und Beratungskosten zur Folge haben muss (welcher Buchhändler kann sich auch nur zu 5 % aller aktuellen Titel noch kompetent äußern?). Um dieser Entwicklung entgegenwirken zu können, werden seit wenigen Jahren vier verschiedene Strategien verfolgt. Es sind dies Konzentrationen, Nischen-Strategien, Buchclubs und neue Vertriebswege. • Konzentrationen im Buchhandel verlaufen vor allem über Aufkäufe von vorhandenen Buchhandlungen. Dahinter stehen nicht selten Verlagsketten wie Holtzbrinck, die sich mit neuen Buchhandelsketten nun auch im Buchhandel etablieren. Im Vordergrund stehen aber reine Buchhandelsketten wie die österreichische Medienkette Librodisk. In Deutschland sind hier vor allem die Buchhandelsketten Gondrom, Thalia, Kiepert, Hugendubel und Montanus zu nennen, die sich bisher allerdings vor allem auf bestimmte Regionen konzentrieren. Auch die Warenhaus-Buchläden, die zuletzt leichte Umsatzrückgänge zu verzeichnen hatten, sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Sie alle zeichnen sich aus durch ein relativ kleines Sortiment mit deutlich minimiertem Risiko, durch Synergieeffekte im Management, durch eine konzentrierte Einkaufspolitik gegenüber den Verlagen sowie durch geringere Lagerhaltungskosten. All dies führt zu deutlich niedrigeren Betriebskosten und damit zu geringeren Ertragsrisiken. Dagegen konnte sich die Buchhandelskette Gemini offensichtlich nicht am Markt behaupten, weil deren Sortiment bei weitem zu groß war. In Frankreich, Großbritannien und den USA, wo der Buchhandel mit ähnlichen Problemen wie in Deutschland zu kämpfen hat, ist die Konzentration schon wesentlich weiter fortgeschritten. In Frankreich dominiert bereits die Buchhandelskette FNAC den Buchhandel, in Großbritannien sind es die Buchhandlungen W.H. Smith, Waterstone und Ottakar’s, in den USA

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sind es Barnes & Noble sowie Borders. Dort hat die Konzentration erkennbar negative Auswirkungen, weil die Vielfalt des mittelständischen Buchhandels verloren geht und – vor allem in den USA – die großen Buchhandlungen ihre übermächtige Position bereits monopolistisch zum Nachteil der Verlage und Autoren ausnutzen. • Die zweite Strategie setzt nicht auf eine Konzentration in Massensegmenten, sondern auf das Gegenteil, nämlich auf eine Nischenposition. Bei dieser Strategie wird nicht der Preis als Wettbewerbsinstrument eingesetzt, sondern andere Faktoren wie Einzigartigkeit des Angebots (z.B. bibliophile Bücher) oder ein besonderer Service. Diese Buchhandlungen werden es immer schwer haben, aber einige wenige – nicht jede Buchhandlung kann eine Nischenposition für sich in Anspruch nehmen – werden mit dieser Strategie überleben können. • Dritte Strategie wäre der Weg über Buchclubs. Dieser Weg ist vor allem im Kontext einer Buchpreisbindung interessant, weil Buchclubs das Recht haben, alle Bücher an ihre Mitglieder zu einem Preis unterhalb des Listenpreises anzubieten. Voraussetzung ist neben der Abgabe an Clubmitglieder lediglich die Lizenzübernahme sowie eine etwas andere Einbandgestaltung, die das Buch deutlich als Clubbuch kenntlich machen. So sind als Lizenzausgaben bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erscheinende Bücher anderer Verlage dort etwa 20 bis 25 % billiger als im normalen Buchhandel. Allerdings hat auch das Buchclubgeschäft mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Traditionelle Buchclubs wie die Büchergilde Gutenberg sind teils vom Markt verschwunden, teils in anderen Buchclubs aufgegangen. Allein der Bertelsmann-Buchclub, der größte Buchclub in Deutschland, zählte 2005 nur noch 3,6 Mio. Mitglieder, also die Hälfte dessen, was man in besten Zeiten verzeichnen konnte. Doch geht Bertelsmann nach einem umfangreichen Sanierungsprogramm davon aus, dass in den rund 300 Filialen bei einem Jahresumsatz von 360 Mio. € ab 2006 wieder Gewinne erwirtschaftet werden können. Zu dieser Hoffnung gibt nicht zuletzt die Erfahrung im Ausland Anlass; von den 22 Buchclubs, die Bertelsmann weltweit betreibt, machen nur die deutsche und britische Sparte Verluste. Vor allem in China erweist sich das Bertelsmann-Konzept als sehr erfolgreich. • Vierte und letzte Strategie sind neue Vertriebswege. Hier ist es das Ziel, den traditionellen Buchhandel mit seinen hohen Dienstleistungs- und Beratungskosten möglichst zu umgehen. Zwei Wege zeichnen sich hier ab, nämlich zum einen der dem Buchclub ähnliche Versandhandel sowie zum zweiten der Internet-Handel, über den bereits ausführlich berichtet wurde. Die Daten der Jahre 2003 bis 2005 zeigen ganz eindeutig, dass der Versand-

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buchhandel und der Online-Buchhandel bei weitem die größten Wachstumsraten vorweisen können. Diese Strategie scheint sich also am ehesten zu bewähren. Daneben verfolgt aber auch der Buchhandel – ähnlich wie der Verlagsbereich – die Strategie der Konzentration. Das führt zunehmend dazu, dass wenige Buchhandlungen einen großen Teil des Umsatzes unter sich ausmachen. 2004 erreichten die 100 größten Buchhandlungen 28 % des Gesamtumsatzes, wobei allein die größten zehn schon 15,1 % des Umsatzes erwirtschafteten (obwohl sie nur 0,2 % aller Buchhandlungen ausmachen). Deshalb hier – vergleichbar zur Tabelle der größten Verlage – ein Blick auf die zehn größten Buchhandlungen im deutschsprachigen Raum: Tabelle 13: Die zehn umsatzstärksten Buchhandelsketten im deutschsprachigen Raum 2004 Rang Name

Ort

1

Thalia Holding

Hamburg

448,6

17,2

2

Weltbildplus Medienvertrieb

München

242,0

12,0

3

Hugendubel

München

226,5

4,8

4

Karstadt/Hertie

Essen

132,5

-1,9

5

Schweitzer Sortiment

München

110,0

10,0

6

Mayersche

Aachen

110,0

4,8

7

Kaufhof

Köln

87,0

-1,6

8

Libro Handelsgesellschaft Guntramsdorf/A

75,1

1,5

9

Orell Füssli Buchhandlung Zürich/CH

73,1

13,3

10

Gondrom

69,9

2,8

Kaiserslautern

Umsatz 2004 in Mio. Euro

Veränderungen gegenüber 2003

Quelle: Buchreport

Eine Besonderheit, die über die unmittelbare strategische Ausrichtung des Buchhandels hinausgeht, zeigt sich am Beispiel der Thalia Holding GmbH. Sie gehört seit April 2001 zu 75 % zur Douglas Holding AG mit Sitz in Hagen (die restlichen 25 % halten die bisherigen Eigentümer, die Familie Könnecke) und deckt innerhalb des Mutterkonzerns nur einen Teil von mehreren Geschäftsfeldern ab, die man als Lifestyle-Produkte bezeichnet. Dazu gehören Parfum (Douglas), Schmuck (Christ), Süßwaren (Hussel), Mode (u.a. Pohland) und eben auch Bücher. Damit wird das Produkt Buch erstmals nicht mehr primär als Kulturgut, sondern als ein den Lebensstil prägendes Produkt angeboten. Die Douglas Holding AG hat Thalia bei der Übernahme 100 Mio. € zur Verfügung gestellt, um sich durch die Übernahme bestehender oder durch die

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Gründung neuer Buchhandlungen am Markt zu positionieren. Den Durchbruch erzielte Thalia mit dieser Strategie 2004, als es gelang, die acht Buchhandlungen von Bouvier/Gonski im Raum Köln zu erwerben. Inzwischen (Januar 2006) gehören in Deutschland, Österreich und der Schweiz 137 Buchhandlungen zur Thalia Holding. Ziel ist es, den derzeitigen Jahresumsatz bis 2010 auf eine Mrd. Euro zu verdoppeln. Das dürfte zu einem brutalen Verdrängungswettbewerb führen, denn trotz eines geringen Wachstums ist der Buchmarkt in Deutschland ein gesättigter Markt. Aggressive Expansionen weniger Marktführer gehen deshalb immer zu Lasten der kleinen und mittelständischen Betriebe, die aber bis heute das Bild und die Qualität des deutschen Buchhandels prägen. Da die Kapitaldecke auch großer Buchhandelsketten durchaus überschaubar ist, hielten sich aggressive Expansionen bisher in Grenzen. Wenn nun aber auch Großkonzerne mit einem weit gestreuten Produkt-Mix als Wettbewerber auftreten, wird dies den Buchhandel in Deutschland möglicherweise gravierend verändern. Trotz solcher Einschränkungen und Bedenken muss festgehalten werden, dass sowohl der herstellende als auch der vertreibende Buchhandel sich in den letzten Jahren behaupten konnten. Die Ende der 90er Jahre immer wieder zu hörende Prognose, dass die digitale Textverarbeitung das Ende des traditionellen Buchhandels bedeuten würde, hat sich nicht bestätigt. Dies ist sicher zum Teil auch darauf zurückzuführen, dass sich der Buchhandel früh den digitalen Möglichkeiten geöffnet und diese in seine eigenen Produktund Marketingstrategien einbezogen hat. 5.6 Literatur im digitalen Zeitalter Die Einführung der digitalen Technologien wirkt sich gleich in dreifacher Hinsicht auf den Literaturbetrieb aus. Bereits vorgestellt und in seinen erheblichen Auswirkungen diskutiert wurde der Wandel vom traditionellen Sortimentsbuchhandel zum Online-Versandbuchhandel. Zweitens bietet sich mit dem Konzept »Books on Demand« eine völlig neue Form der Buchproduktion an. Und drittens beeinflusst die neue Technologie auch nachhaltig die Produktionsweise der Autoren (vgl. Zimmer 2001). Die digitale Textverarbeitung ermöglicht es, Literatur nicht mehr nur in Buchform, sondern auf CD-ROM oder DVD zu publizieren. Angesichts einer Speicherkapazität von ca. 260.000 Seiten je CD-ROM – und einem Mehrfachen davon auf DVD – lassen sich ganze Bibliotheken auf wenigen Datenträgern festhalten. Die CD-ROMs bieten zudem neben dem Text zahlreiche Sonderfunktionen, mit deren Hilfe sich Textstellen leicht finden oder in eine andere Datei kopieren lassen. Dieses Verfahren hat sich vor allem für ältere Texte bewährt, die keinem urheberrechtlichen Schutz unterliegen. Die Arbeit

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mit diesen Texten – beispielsweise während eines literaturwissenschaftlichen Studiums – wird durch die digitale Aufzeichnung außerordentlich erleichtert. Im deutschsprachigen Raum ist die Digitale Bibliothek das größte Projekt seiner Art; Ende 2005 umfasste sie 120 CD-ROMs. Es handelt sich um in sich abgeschlossene elektronische Editionen, vorwiegend bestehend aus umfangreichen Textanthologien, Handbüchern und Bildsammlungen zu Themen und Teilgebieten der Literatur, der Kunst, der Geistes- und der Sozialwissenschaften. Der besondere Vorteil dieser Bibliothek besteht darin, dass alle Editionen konzeptionell aufeinander abgestimmt sind und gleiche Such- und Bearbeitungsfunktionen haben. Der Verlag betont ausdrücklich, dass sich die Digitale Bibliothek »nicht als Konkurrenz zum gedruckten Buch versteht. Im Gegenteil, sie will vielmehr die spezifischen, bislang kaum ausgeschöpften Möglichkeiten der elektronischen Erfassung und Verarbeitung von Texten und Abbildungen nutzen, um die Welt der Bücher neu zu erschließen. Ihr markantester Vorzug ist das schnelle und präzise Auffinden von Textstellen« (http://www.digitale-bibliothek.de/). Während die Digitale Bibliothek mit CD-ROMs arbeitet, die man wie ein Buch im Handel käuflich erwerben muss, planen die amerikanische Suchmaschine Google, der Software-Hersteller Microsoft und der Online-Versandhandel Amazon ein vergleichbares Angebot über das Internet. Google will über sein Tochterunternehmen Google Print (http://www.print.google.com/) bis zum Jahr 2015 insgesamt 15 Mio. Bücher digital anbieten. Über die Suchund Indexfunktion von Google erhält man Einblick auf drei Seiten des gesuchten Werks. Um mehr sehen zu können, muss man die Kauf- und Ausleihmöglichkeiten anklicken und mit Google einen Vertrag abschließen. Anschließend kann man auch die restlichen Seiten herunterladen oder ausdrucken. Da das Vorhaben verständlicherweise auf den Widerstand der amerikanischen Verleger- und Autorenverbände stößt, hat sich Google zunächst auf die urheberrechtsfreien Bücher der Universitätsbibliotheken von Harvard, Stanford, Michigan und Oxford sowie auf die New York Public Library beschränkt. Microsoft, Yahoo und Adobe gehen ähnlich vor, kooperieren dazu aber mit der British Library in London. Auch sie beschränken sich vorerst noch auf urheberrechtsfreie Bücher. Allerdings wagt Amazon schon den Schritt darüber hinaus und bietet auf seiner Plattform Search Inside etwa 100.000 aktuelle Bücher an. Zunehmend befinden sich auch deutsche Bücher darunter; Google plant sogar eine deutschsprachige Startseite nur für den deutschen Markt. Allerdings ist die Rechtslage noch völlig ungeklärt. Weder gibt es dazu eine Regelung im Urheberrecht noch steht dazu etwas in den Verträgen der Verlage mit ihren Autoren. Große Sorgen bereitet dem deutschen Buchhandel auch die Beobachtung, dass deutsche Bücher ohne vorherige Rücksprache

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mit dem Verlag ins Netz gestellt werden. Gleichwohl sind auch die deutschen Verlage bemüht, diese Entwicklung nicht zu verschlafen und bieten ab 2006 über den Börsenverein des Deutschen Buchhandels eine Volltextsuche online an. Konzentrieren sich die Angebote von Google, Amozon u.a. auf bereits erschienene Bücher, die nachträglich eingescannt werden, so widmen sich verschiedene Verlage auch den elektronischen Neuerscheinungen. Man spricht von »Books on Demand« oder »E-Books« und meint damit ein Verfahren, dass es im Dissertationsdruck bereits seit einigen Jahren gibt. Demnach wird ein neues Buch nicht gedruckt, sondern nur in seiner fertigen Form elektronisch auf Abruf bereitgehalten. Interessant ist das Angebot vor allem für wissenschaftliche Verlage und Fachverlage mit besonders kleinen Segmenten und niedrigen Auflagen. War bisher der Druck eines wissenschaftlichen Werks für eine sehr kleine Zielgruppe stets mit besonderen Risiken verbunden, so könnte künftig ein solches Buch auf Anfrage erstellt werden. Der Verlag besorgt den Ausdruck, verbunden mit einer einfachen Bindung, und sendet das Einzelexemplar an den Kunden. Damit entfällt nicht nur das Risiko falscher Produkte, sondern der Verlag kann sich auch die teuren Lagerkosten sparen. Auf diese Weise hat mancher Text, der heute wegen zu hoher Kosten und einer zu kleinen Zielgruppe nicht gedruckt wird, die Chance auf eine angemessene Publikation. Dass sich dieses Verfahren aber nicht nur für wissenschaftliche Publikationen und Fachbücher einsetzen lässt, zeigt der Verlag BoD (http://www.bod. de/). Ausgehend von der Erfahrung, dass auch die eifrigste vanity press nicht alle Wünsche erfüllen kann, sich mit der Eitelkeit der Mitmenschen aber sehr leicht Geld verdienen lässt, druckt BoD belletristische Bücher von schriftstellerischen Newcomern auf Bestellung. 13.000 Titel sind auf diese Weise inzwischen abrufbar, und der eine oder andere dieser Autoren soll sogar schon dank BoD eine beachtliche Karriere hingelegt haben. Allerdings ist insgesamt vor zu hohen Erwartungen zu warnen. Noch vor wenigen Jahren ging man davon aus, dass man vor allem Unterhaltungsliteratur nur noch als Books on Demand oder elektronisch über ein buchähnliches Lesegerät anbieten werde. Doch hat sich gezeigt, dass die Leser das Buch als Form nicht missen wollen. Offensichtlich ist das Buch auch haptisch inzwischen so sehr Bestandteil unserer Kultur, dass es nicht ohne weiteres durch ein anderes Medium ersetzt werden kann. Doch hat das elektronische Zeitalter nicht nur Auswirkungen auf die Buchproduktion und den Buchhandel, sondern auch auf die Arbeitsweise der Autoren. Seit es Computer gibt, schreibt auch der Autor in der Regel auf dem PC. Das erleichtert seine Arbeit, beschleunigt auch die Produktion des Buchs in Verlag und Druckerei, erschwert aber die Arbeit der Literaturwissenschaft.

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Für das Verständnis literarischer Werke ist die Genese eines Textes außerordentlich hilfreich. Korrekturen, Ergänzungen und Streichungen in hand- oder maschinenschriftlichen Manuskripten sagen sehr viel aus über die Intentionen des Autors. Deshalb werden diese Manuskripte in Literaturarchiven aufbewahrt und über so genannte »Kritische Ausgaben« Forschern und Lesern zugänglich gemacht. Im Zeitalter des PC existiert aber in der Regel nur das abschließende, druckfertige Manuskript, da alle Änderungen den ursprünglichen Text automatisch löschen. Das könnte das Interesse an der Literaturwissenschaft deutlich reduzieren. Neben der technischen Produktion sowie der Verbreitung von Literatur haben Computer auch Auswirkungen auf die künstlerische Produktion literarischer Texte. In Anlehnung an Elektronische Musik spricht man auch von Elektronischer Literatur und meint damit eine Literatur, die durch multimediale Arrangements alle Sinneswahrnehmungen einzubeziehen versucht. Zur Elektronischen Literatur gehört auch die Computerlyrik, bei der es das Ziel ist, mit Hilfe von vorhandenen oder speziell entwickelten Textverarbeitungsprogrammen elektronisch generierte Lyrik zu verfassen. Zunächst angelehnt an die Aleatorik der Neuen Musik, hat sich die Computerlyrik inzwischen zu einer eigenständigen, multimedialen künstlerischen Ausdrucksform entwickelt. Durch die schnelle Verbreitung des Internets wurde zudem eine kooperierende Produktion multimedialer Literaturtexte möglich, bei der Textsegmente von einem Autor ins Internet gestellt und von anderen Internetnutzern als Ko-Autoren ergänzt oder verändert werden. Dabei überschneiden sich verständlicherweise die ursprünglich getrennten Funktionen von Autor und Rezipient (vgl. http://www.literaturcafe.de/). Gerade die letzten Hinweise zeigen sehr deutlich, dass sich der Literaturbetrieb in einem Wandel befindet. Zwar kann das seit Gutenberg kaum veränderte Medium Buch weiterhin bestehen, doch steht es nicht mehr allein, sondern teilt seinen Platz mit immer neuen Varianten und medialen Experimenten. Dass Verlagswesen und Buchhandel, aber auch die Autoren darauf jeweils recht zeitnah reagieren, macht den Literaturbetrieb zu einem der interessantesten Felder im Kulturbetrieb. 5.7 Rahmenbedingungen des Literaturbetriebs Wie alle Bereiche des Kulturbetriebs ist auch der Literaturbetrieb darauf angewiesen, dass der Staat Rahmenbedingungen schafft, die auf die besonderen Bedürfnisse dieses Teils des Kulturbetriebs eingehen. Im Literaturbetrieb sind dies vor allem das Urheberrecht, die Buchpreisbindung sowie der ermäßigte Umsatzsteuersatz für Verlagsprodukte. Wie bereits in Abschnitt 5.1 ausgeführt, ist das Urheberrecht für den Li-

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teraturbetrieb von grundlegender Bedeutung (vgl. Plinke u.a. 2002). Mit dem Urheberrechtsgesetz vom 9. September 1965 wurde eine Rechtsgrundlage geschaffen, um allen am Literaturbetrieb Beteiligten, also Autoren, Verlagen und Buchhändlern, ein hohes Maß an Rechtssicherheit zu bieten (vgl. dazu auch Abschnitt 2.2). Für den Literaturbetrieb hat sich aber Ende der 90er Jahre gezeigt, dass das Urheberrecht von 1965 den veränderten technischen Möglichkeiten nicht mehr gerecht wird. Elektronisches Publizieren, die Verbreitung von Texten im Internet sowie die deutlich erleichterten Kopiermöglichkeiten drohten die Rechte der Urheber auszuhöhlen. Am 13. September 2003 trat deshalb ein novelliertes Urheberrecht in Kraft, das gleichzeitig die 1996 geschlossenen WIPO-Verträge der Europäischen Union in deutsches Urheberrecht umsetzte. Im Zentrum dieser Novelle steht die Sicherung von Rechten im Zusammenhang mit der Nutzung urheberrechtlich geschützter Werke in elektronischen Netzen (z.B. Internet). Für den Literaturbetrieb ist aber auch die Feststellung wichtig, dass digitale Privatkopien weiterhin zulässig sind, dafür aber gleichzeitig die Verpflichtung bestehen bleibt, beim Kauf digitaler Vervielfältigungsgeräte eine Urheberrechtsvergütung zu zahlen (vgl. auch Abschnitt 4.5.3). Dagegen haben vor allem die Gerätehersteller protestiert, weil diese Abgabe natürlich zu einer Verteuerung der Geräte führt. Die Geräteabgabe wird über die VG Wort erhoben und anschließend an die Rechteinhaber verteilt; sie betrug im Jahr 2004 für alle Gerätearten 28,3 Mio. € (für Fotokopiergeräte, Telefaxgeräte, Scanner, CD-Brenner, Readerprinter) und machte damit am Gesamtaufkommen einen Anteil von 35,78 % aus. Sehr umstritten ist nach wie vor die Regelung in § 52a des novellierten Urheberrechts, wonach es Schulen, Hochschulen und staatlichen Forschungseinrichtungen (bzw. deren Angehörigen) erlaubt ist, urheberrechtlich geschützte Werke ohne Genehmigung zu digitalisieren, in ihr Intranet zu stellen und von dort beliebig oft zu vervielfältigen sowie per E-Mail mit anderen Begünstigten auszutauschen. Diese Regelung, die nicht zuletzt auf Wunsch der Hochschulrektorenkonferenz und des Wissenschaftsrats zustande kam, stößt auf den Widerstand der VG Wort, weil man dort die bisherigen Einnahmen aus der Reprographievergütung der Schulen (3,15 Mio. € im Jahr 2003) gefährdet sieht. Vertreter der Bibliotheksverbände, der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher Verlage und des Börsenvereins haben deshalb eine gemeinsame Charta zum Verständnis des § 52a erarbeitet, um künftige Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden. Im so genannten Korb 2, einer weiteren Urheberrechtsnovelle, die zur Zeit auf Referentenebene erarbeitet wird, geht es u.a. um Kabelweitersendungsrechte (auch bei Einspeisung in Satellitenprogramme), die Ausgestaltung des Pressespiegelparagraphen, die Nutzung von Archivbeständen (z.B. des Rund-

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funks) sowie um die Zukunft der Pauschalvergütung. Die Industrie wünscht, die bisher recht einfache Pauschalvergütung durch ein »Digital Rights Management System« zu ersetzen, bei dem es zu einer stärkeren Einzelabrechnung käme. Die VG Wort aber befürchtet, dass dieses System zu kompliziert ist und deshalb nicht funktionieren wird, was sich vor allem für die Rechteinhaber als nachteilig erweisen könnte. Die in den letzten Jahren heftig diskutierte Buchpreisbindung besagt, dass es (übrigens seit 1888) eine Absprache zwischen den Verlagen und den Buchhändlern gibt, alle Verlagserzeugnisse zu festen Listenpreisen im Handel anzubieten. Diese Vereinbarung ist seit 1888 immer wieder erneuert (und auch verändert) worden, und zwar in so genannten Sammelrevers2. Derzeit gilt der Sammelrevers 1993, der so genannte Drei-Länder-Revers zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz. Nach dem deutschem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) ist eine solche Absprache eigentlich nicht möglich (§ 15 GWB), doch lässt § 16 GWB für Buchproduktionen eine solche Preisbindungsabsprache ausdrücklich zu. Diese Regelung des § 16 GWB wurde inzwischen auch mehrfach höchstrichterlich bestätigt. Da die Europäische Union in innerdeutsches Recht nicht eingreifen darf, bestand in der Vergangenheit auch keine Gefahr, dass die deutsche Buchpreisbindung durch eine europäische Initiative gefährdet werden könnte. Am 1. Januar 1995 aber trat Österreich der Europäischen Union bei, so dass der Drei-Länder-Revers nun erstmals auch für den Handel zwischen zwei EUStaaten galt. Im zwischenstaatlichen Handel zwischen zwei EU-Staaten aber sind Wettbewerbsbeschränkungen nach Art der Buchpreisbindung verboten. Dieses Verbot betrifft also weder die innerdeutsche Buchbranche noch den Buchhandel mit der Schweiz, sondern allein den Buchhandel zwischen Deutschland und Österreich. Nach langen Verhandlungen kam es im Februar 2000 zu einem Kompromiss zwischen dem Wettbewerbskommissar der Europäischen Kommission und den deutschen bzw. österreichischen Verlegern und Buchhändlern. Dieser Kompromiss sieht vor, dass statt der bisher einheitlichen Buchpreisbindung nun in Deutschland und Österreich zwei getrennte nationale Preisbindungssysteme eingeführt werden. Dies wurde in Deutschland durch eine privatrechtliche Vereinbarung und in Österreich per Erlass zum 1. Juli 2000 geregelt. Von dieser Regelung betroffen sind auch Reimporte, d.h. es ist nicht möglich, Bücher, die in Deutschland verlegt wurden, über ein österreichisches Vertriebssystem zu günstigeren Preisen wieder in Deutschland zu ver-

2 Als Revers – aus dem französischen für Rückseite/Gegenseite – bezeichnet man eine gegenseitig unterschriebene Vereinbarung.

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kaufen. Diese Regelung wurde inzwischen auch rechtlich abgesichert; am 14. Juni 2002 hat der Deutsche Bundestag einstimmig das Gesetz zur Sicherung der Buchpreisbindung beschlossen. Durch das neue Buchpreisbindungsgesetz, das am 1. Oktober 2002 in Kraft getreten ist, hat die Bundesregierung sichergestellt, dass feste Buchpreise in Deutschland auch innerhalb der Europäischen Union stärker als bisher rechtlich und politisch abgesichert sind. Damit hat sich die gesetzliche Regelung der Buchpreisbindung als neuer EU-Standard durchgesetzt. Mit Ausnahme Großbritanniens und Irlands, die durch den englischsprachigen Weltmarkt nationale Preisbindungen nur schwer einhalten können, sowie Finnlands haben inzwischen alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union Gesetze zur Buchpreisbindung eingeführt oder bereiten sie vor. Welche Folgen freie Buchpreise haben, kann man in Großbritannien besichtigen. Als dort 1995 die Buchpreisbindung aufgehoben wurde, fielen die Preise nicht, wie angekündigt worden war, sondern stiegen durchschnittlich um 7,5 %. Wohl aber fielen die Preise für Bestseller, weil hier ein ruinöser Preiswettbewerb entstand. Ein aktueller Taschenbuchbestseller ist heute in London umgerechnet für weniger als einen Euro zu haben. Die Folge ist, dass einerseits Bestseller in noch größerer Stückzahl verkauft werden müssen, damit sie sich für den Buchmarkt lohnen und dass alle Bücher außerhalb des Bestseller-Segments immer teurer werden. Eine solche Preispolitik aber können sich nur noch die großen Buchhandelsketten wie W.H. Smith, Waterstone und Ottakar’s leisten, während die unabhängigen Buchläden auf der Strecke bleiben; sie erreichen in Großbritannien nur noch einen Marktanteil von 13 %. Vor allem aber wird der Buchmarkt immer kleiner; 2004 standen in Großbritannien 538.000 lieferbare Titel in den Verzeichnissen der Buchhändler, während es in Deutschland 960.000 Titel sind. Nach § 12 Abs. 1 Ziffer 49 des Umsatzsteuergesetzes wird der Umsatzsteuersatz für Bücher, Zeitschriften und Druckerzeugnisse auf 7 % ermäßigt, sofern die Print-Medien nicht überwiegend Werbung enthalten. Der ermäßigte Umsatzsteuersatz besagt also, dass der Staat auf einen erheblichen Teil der ihm zustehenden Steuereinnahmen verzichtet, um die Buchbranche indirekt zu fördern. Wenn man für 2004 einen Umsatz der Buchbranche von 9,1 Mrd. € zugrunde legt, ergibt sich daraus eine Umsatzsteuerpflicht nach dem ermäßigten Steuersatz von 595 Mio. €. Müsste die Buchbranche den vollen Betrag von 16 % Umsatzsteuer zahlen, ergäbe sich eine Steuerpflicht von 1,36 Mrd. €, d.h. der Staat verzichtet zugunsten der Buchbranche auf Steuereinnahmen in Höhe von 766 Mio. €. Das entspricht etwa 9,3 % dessen, was Bund, Länder und Kommunen jährlich für den gesamten öffentlichen Kulturbetrieb und für die Kulturförderung der öffentlichen Hand ausgeben. Es ist mithin keineswegs so, dass die Buchbranche gänzlich ohne eine öffentliche

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Kulturförderung auskommen muss, aber sie erhält die Förderung indirekt im Gegensatz zur sonstigen direkten Kulturförderung. 5.8 Standortbestimmung und Perspektiven Der Literaturbetrieb hat im letzten Jahrzehnt eine schwere Zeit durchstehen müssen, denn die neuen digitalen Medien sowie das Internet setzten dem Buchmarkt arg zu. Obwohl die Zahl der Neuproduktionen im Mittel mit 80.000 Titeln gleich blieb, gingen die Umsätze zurück. Erst 2004 konnte eine gewisse Konsolidierung erreicht werden. Dass sich der Buchmarkt gleichsam am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen konnte, dürfte – unabhängig von künstlerisch-literarischen Aspekten – folgende Ursachen haben. • Es gibt eine klare Trennung zwischen der künstlerischen Produktion des Autors und der technischen Produktion und Verwertung durch Verlage und Buchhandel. Das hat den Vorteil, dass sich die künstlerische Seite des Literaturbetriebs unabhängig weiterentwickeln kann, selbst wenn die wirtschaftliche Seite unter Druck steht. Wäre dagegen der Autor Angestellter des Verlags – wie der Schauspieler Angestellter des Theaters ist –, so könnte diese Abhängigkeit dazu führen, dass er andere Bücher produzieren müsste als es ihm künstlerisch verantwortbar erscheint. Ein Theater oder Orchester aber, das in der Regel mit einem festen Ensemble arbeitet, unterliegt immer der Gefahr, künstlerische Aspekte zum scheinbaren Vorteil der wirtschaftlichen Zwänge zurückzustellen. Dass für den Buchhandel diese Versuchung nicht besteht, weil die Autoren ein völlig unabhängiger Teil des Literaturbetriebs sind, rettet dem Buchhandel die künstlerischen Potenziale auch über Krisenzeiten hinweg. • Zweitens ist es dem Literaturbetrieb gelungen, sich innerhalb kürzester Zeit auf veränderte Rahmenbedingungen einzustellen. Neue Technologien, die den traditionellen Buchmarkt in Gefahr brachten, wurden konsequent für neue Produkte genutzt. Das betraf vor allem die Hörbücher, die sich zur Zeit sogar zu multimedialen Paketlösungen mit CD und DVD weiterentwickeln, die CD-ROM mit umfangreichen Textsammlungen sowie die Books on Demand. Gleichermaßen anpassungsfähig erwies sich der Buchmarkt bei der Nutzung der neuen Techniken für die Vertriebswege. Hatte man noch Ende der 90er Jahre befürchten müssen, dass der Online-Versandhandel den traditionellen Buchhandel zerstören werde, so sind die neuen Vertriebswege heute sehr gut mit den alten Vertriebswegen vernetzt. Nicht zuletzt ist es auch gelungen, die Arbeit der Autoren und das Produkt Buch wieder neu interessant zu machen. Dazu gehört die Präsenz von Literatur im Fernsehen oder auch der neue Zugang zur Litera-

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tur, der sich mit den Literaturhäusern eröffnet. Dass hier die gemeinnützigen und von der öffentlichen Hand geförderten Literaturhäuser eng mit dem Buchhandel zusammenarbeiten (in Stuttgart beispielsweise ist der Verleger Michael Klett Vorsitzender des Trägervereins des Literaturhauses), spricht nur für die intelligente Anpassungsfähigkeit des Literaturbetriebs. • Nicht zuletzt dürfte für das erfolgreiche Krisenmanagement auch die Tatsache von Gewicht sein, dass der Literaturbetrieb mit dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels über einen außerordentlich schlagkräftigen Dachverband verfügt. Der Börsenverein bedient seine Mitglieder mit dem Börsenblatt nicht nur hervorragend mit Daten und richtet die für den Literaturmarkt außerordentlich wichtige Frankfurter Buchmesse aus, sondern beteiligt sich mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels auch prägend und öffentlichkeitswirksam am internationalen Kulturleben. Nicht zuletzt fördert der Börsenverein mit Lesewettbewerben und anderen Aktionen aktiv die Nachfrage nach dem Produkt Buch. In keiner anderen Sparte des Kulturbetriebs gibt es einen Dachverband, der ähnlich wirkungsvoll und zielorientiert für seine Mitglieder tätig ist. Der Literaturbetrieb und hier vor allem der produzierende und verteilende Buchhandel hat sich konsequent auf betriebswirtschaftlich erforderliche und am Produkt orientierte Neuerungen eingelassen. Er dürfte damit von allen Bereichen des Kulturbetriebs die gesellschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Veränderungen der letzten 15 Jahre am besten überstanden haben. Inwieweit dies darauf zurückzuführen ist, dass der Literaturbetrieb zu mehr als 90 % privatwirtschaftlich betrieben wird und der Einfluss der öffentlichen Hand mithin sehr gering ist, sollte durchaus einmal vorurteilsfrei diskutiert werden. Gleichwohl kann die weitere Entwicklung nicht gänzlich ohne Sorge gesehen werden. Vor allem die offensichtlich nicht mehr aufzuhaltende Tendenz, Verlage und Buchhandlungen zu fusionieren bzw. große Handelsketten mit multifunktionaler Ausrichtung zu bilden, kann nicht nur positiv gewertet werden. Erfreulicherweise konnte durch die Absicherung der Buchpreisbindung eine Entwicklung wie in Großbritannien verhindert werden. Gleichwohl besteht die berechtigte Frage, ob ein Buchhandel, der sich nur noch durch Kaufhauscharakter auszeichnet, jene Buchkultur aufrechterhalten wird, die die Qualität des deutschen Buchhandels jahrelang bestimmt hat. Ein Buch ist zweifellos eine Ware und damit Teil des Wirtschaftskreislaufes. Aber es ist zuallererst doch ein Kulturgut und bedarf deshalb auch als Ware einer besonders pfleglichen Behandlung. Doch gerade vor dem Hintergrund der Feststellung, dass ein Buch ein Kul-

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turgut ist, muss die Frage erlaubt sein, ob die Anstrengungen des Literaturbetriebs ausreichen, um auch die belletristische Literatur als Kunstsparte ausreichend zu fördern. Hinter manch erfolgreicher Literaturveranstaltung verbirgt sich nichts anderes als die Suche nach dem Event, um entweder einen populären Autor wie Orhan Pamuk (geb. 1952) zu erleben, oder sich von streitlustigen Autoren wie Michel Houellebecq (geb. 1958) oder Jonathan Franzen (geb. 1959) unterhalten zu lassen. Nicht selten füllen sich zu solchen Literatur-Events auch große Säle mit bis zu 1.000 Plätzen. Ob dann aber immer auch der Literatur gedient ist, bleibt wohl eine offene Frage. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass es in Deutschland zwar einen gut ausgebauten Literaturbetrieb gibt, das literarische Schreiben aber dem Zufall überlassen wird. Während es vor allem in den USA weit verbreitet ist, Studiengänge und Kurse zum Kreativen Schreiben anzubieten, führt dieser Ausbildungszweig in Deutschland noch ein ausgesprochenes Schattendasein. Die Folge ist, dass der Buchmarkt vor allem im Bereich der Belletristik sehr stark von Übersetzungen lebt, und zwar vor allem dann, wenn es sich um Bestseller handelt. Unter den zehn Bestsellern Belletristik des Jahres 2004 befand sich mit dem Roman von Frank Schätzing Der Schwarm gerade mal ein einziger Titel eines deutschsprachigen Autors. Die übrigen neun Titel stammten von Autoren aus den USA (2), Großbritannien (2), Frankreich (2), Irland (1), Spanien (1) und Brasilien (1). Dass die absoluten Top-Bestseller der letzten Jahre, nämlich die Harry Potter-Bücher von Joanne K. Rowling, ebenfalls Übersetzungen sind, muss kaum noch erwähnt werden. Der deutsche Belletristik-Literaturbetrieb lebt in starkem Maße von einer Substanz, die außerhalb Deutschlands geschaffen wird. Das ist nicht ohne Risiko für das literarische Leben, weil Übersetzungen nicht nur eine fremde Thematik aus einem fremden Kulturkreis vermitteln und damit die Fragen im eigenen Lebensumfeld literarisch nicht verarbeitet werden, sondern weil die Übersetzung auch keinen Beitrag leistet zur Weiterentwicklung der eigenen Sprache und Ausdrucksfähigkeit. Es ist deshalb dringend erforderlich, dass Literaturförderung nicht erst beim Buch ansetzt, sondern auch bereits bei denen, die sich berufen fühlen bzw. den Wunsch verspüren, ein Buch zu schreiben. Es sind Studienangebote und VHS-Kurse zum Thema Kreatives Schreiben erforderlich; der von HannsJosef Ortheil (geb. 1951) an der Universität Hildesheim betreute Studiengang sollte kein Einzelangebot bleiben. Verlage und Stiftungen müssen stärker als bisher bereit sein, unbekannte Autoren auf ihrem Weg zu begleiten, und auch im System der Literaturpreise müssen die Werke der noch lernenden Autoren einen anderen Stellenwert bekommen. Vereinfacht gesagt gilt es lediglich, die Erfahrungen, die man mit der Ausbildung und Förderung junger Musiker,

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Maler, Bildhauer und Schauspieler bereits seit Jahrhunderten hat, auch auf den Literaturbereich zu übertragen. 5.9 Internetadressen und Standardwerke http://www.vgwort.de/ Verwertungsgesellschaft Wort http://www.pen-deutschland.de/ P.E.N.-Zentrum Deutschland, Darmstadt http://www.buchmesse.de/ Buchmesse Frankfurt http://www.leipziger-buchmesse.de/ Leipziger Buchmesse http://www.boersenverein.de/ Börsenverein des Deutschen Buchhandels http://www.boersenblatt.net/ Börsenblatt des deutschen Buchhandels http://www.buchreport.de/ Harenberg Buchreport http://www.buchmarkt.de/ BuchMarkt Verlag K. Werner GmbH http://www.literaturhaeuser.net/ Literaturhäuser-Netzwerk http://www.autorenhaus-verlag.de/ Nach Verlagsdefinition: die deutsche Ratgeber-Homepage für alle, die schreiben und veröffentlichen

Behm, Holger/Hardt, Gabriele/Schulz, Hermann/Wörner, Jochen (1999): Büchermacher der Zukunft. Marketing und Management im Verlag, 2. Aufl., Darmstadt Bittner, Wolfgang (2002): Beruf: Schriftsteller. Was man wissen muss, wenn man vom Schreiben leben will, Reinbek bei Hamburg Fischer, Ernst (2001): Literarische Agenturen – die heimlichen Herrscher im Literaturbetrieb? Mainzer Studien zur Buchwissenschaft, Band 11, Wiesbaden Fohrbeck, Karla/Wiesand, Andreas Johannes (1972): Der Autorenreport, Reinbek bei Hamburg Röhring, Hans-Helmut (2003): Wie ein Buch entsteht. Einführung in den modernen Buchverlag. Vollständig überarbeitet und aktualisiert von Klaus-W. Bramann, Darmstadt Schönstedt, Eduard (1999): Der Buchverlag, 2., durchges. u. korrigierte Aufl., Stuttgart Schütz, Erhard (Hrsg.) (2005): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen, Reinbek bei Hamburg Tieger, Gerhild/Plinke, Manfred (Hrsg.) (2005): Deutsches Jahrbuch für Autoren, Autorinnen 2005/2006 – Schreiben und Veröffentlichen: Aktuelle Informationen und Adressen aus dem Literatur- und Medienmarkt: Theater, Film/ TV, Hörmedien, Buch – 2000 neu recherchierte Adressen, Berlin

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Umlauf, Konrad (2005): Bücher in Bibliotheken und im Buchhandel heute. Reihe Bibliotheksarbeit, Band 2, 2., aktualisierte Aufl., Wiesbaden Uschtrin, Sandra/Küspert, Michael J. (Hrsg.) (2005): Handbuch für Autorinnen und Autoren. Informationen und Adressen aus dem deutschen Literaturbetrieb und der Medienbranche. 6., überarb. u. erw. Aufl. (Selbstverlag) Wittmann, Reinhard (1999): Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick, 2. Aufl., München Zimmer, Dieter E. (2001): Die Bibliothek der Zukunft. Text und Schrift in den Zeiten des Internets, aktualisierte Aufl., Hamburg

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»Deutsches Theater ist, so geht der Ruf im Ausland, zu lang, zu laut, zu verschwitzt, es ist narzisstisch und macht aus sich selbst das größte Geheimnis. Aber es ist das reichste Theater, das es je gab, ein sagenhaftes Wunder, hinter dem ein singuläres, weltweit bestauntes System steht.« So war es am 15. Juli 2004 in der Zeit zu lesen. Und in der Tat ist Deutschland das Theaterland schlechthin: nirgendwo sonst gibt es so viele Dreispartenhäuser, nirgendwo sonst gibt es mehr Opernhäuser und kein Staat gibt so viel Geld für Theater aus wie die öffentliche Hand in Deutschland. Der Deutsche Bühnenverein, der Bundesverband deutscher Theater, zählte in der Spielzeit 2003/04 insgesamt 149 öffentliche Theater mit 744 Spielstätten sowie 217 private Theater. Allein die öffentlichen Theater zeigten in dieser Zeit 63.911 Aufführungen. Hinzu kommen noch 33 Festspiele sowie die den Theatern angeschlossenen Orchester mit eigenem Konzertprogramm. Alle Theater zusammen verzeichneten in der gleichen Spielzeit 35,6 Mio. Zuschauer. Nicht berücksichtigt sind darin etwa 150 Theaterspielstätten ohne eigenes Ensemble sowie etwa 100 Tournee- und Gastspielbühnen ohne festes Haus. Darüber hinaus gibt es eine kaum noch überschaubare Anzahl freier Theater. »Diese Vielfalt ist charakteristisch für die deutsche Theaterlandschaft. An Stelle eines einzigen, übermächtigen Theaterzentrums – wie dies beispielsweise Paris in Frankreich ist – tritt in Deutschland die Fülle von Häusern, die sich hinsichtlich ihrer Qualität in nichts nachstehen. So gibt es überall in der ganzen Bundesrepublik die Möglichkeit, anspruchsvolles Theater zu sehen« (http://www.buehnenverein.de/, vom August 2004).

Das ist wahrlich eine beeindruckende Vielfalt, die nur erreicht werden kann, weil dahinter ein höchst differenzierter Theaterbetrieb steht, der zwar in seinen zahlreichen Einzelbetrieben von der Grundstruktur her weitgehend gleich ist, in seiner konkreten Arbeit aber ein Höchstmaß an Binnendifferenzierung und internem künstlerischem Wettbewerb kennt. 6.1 Rückblende Das europäische Theater hat seine Wurzeln im antiken Griechenland. Zunächst nur kultischen Zwecken dienend wurde es ab dem 5. Jahrhundert vor Chr. auch zu einem Ort der Darstellung politischer Themen. In römischer Zeit wurde die in der griechischen Antike begründete Theaterform im Wesentlichen übernommen und fortgeführt. Für die Geschichte des Theaterbetriebs sind zwei Traditionen aus der Antike von besonderer Bedeutung, nämlich der griechisch-römische Theaterbau und die Organisation des Theaterspiels.

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Im Athen des 5. Jahrhunderts vor Chr. war es Aufgabe des obersten Staatsbeamten, des archons, drei Dichter für die Theaterfestspiele auszuwählen und jedem dieser Dichter einen Chor zuzuordnen, denn der Chor war zunächst das wichtigste Element im griechischen Theaterspiel. Der archon »bestimmte zugleich drei wohlhabende Männer zu Choregen (wörtlich: Chorführer). Sie übernahmen es, aus eigenen Mitteln die Mitglieder des Chors anzuwerben, einzukleiden und für die Zeit der Proben zu unterhalten, ebenso den Flötenspieler, ja die ganze Aufführung auszustatten, übrigens auch einen Raum für die Proben zu stellen. Das alles war Sache privaten Aufwands« (Maier 1998, 65f.). Der private finanzielle Einsatz hatte zur Folge, dass die choregen in der Umsetzung ihres Theaterprojekts weitgehend frei waren. Der archon traf nur die Auswahl der choregen, nahm aber darüber hinaus keinen Einfluss. Neben den Chören wurden maximal drei Schauspieler engagiert, die folglich oft mehrere Rollen, auch die Frauenrollen, übernehmen mussten. Im Laufe der Zeit verlor der Chor zunehmend an Stellenwert, dafür wurden die Schauspieler aufgewertet. Aristoteles klagte sogar darüber, dass das Ansehen der Schauspieler das der Dichter übersteige. Wenn man Christian Meyer folgt, so diente das griechische Theater dazu, einerseits die politischen »Fragen der Gegenwart im fernen Mythos durchzuspielen« (ebd.: 238) und damit auch ein Stück weit zu erproben, sowie andererseits »den Sinnkredit aufzufrischen« (ebd.), indem die eigene Geschichte im Drama in die allgemeinen Sinnstrukturen eingefügt wurde. Aus der Sicht des Theaterbetriebs bleibt zu bemerken, dass der antike Staat zwar durch einen Staatsbeamten das Theaterspiel initiierte, auf die Umsetzung aber keinen weiteren Einfluss nahm. Dieses Prinzip ist bis heute im Intendantenprinzip wiedererkennbar: der Staat ernennt einen Theaterintendanten (der durchaus eine Art Staatsbeamter sein kann), der aber wiederum alle Freiheit in der Auswahl der Künstler und der Stücke hat. Diese freiwillige Zurücknahme des Staates hängt wohl mit der seit der Antike geltenden politischen Ausrichtung des Theaters zusammen; als reiner Staatsbetrieb wäre die politische Rolle des Theaters nicht realisierbar. Auch heute noch ist Theater der Ort, wo – in Anlehnung an Christian Meyer – »Fragen der Gegenwart« im dramatischen Geschehen »durchgespielt« werden bzw. wo »Sinnkredit« im Verständnis von ethischen und moralischen Fragen »aufgefrischt« wird. So wie der innere Theaterbetrieb aus der griechisch-römischen Antike übernommen wurde, gilt dies auch für den äußeren Betrieb, den Theaterbau. Das zeigt sich nicht zuletzt an der bis in die heutige Sprache übernommenen Begrifflichkeit. Ursprünglich wurde in Griechenland auf einem Tanzplatz gespielt, den man orchestra nannte. Hier agierte vorrangig der Chor, weshalb

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dieser Platz relativ groß war. Diesem Tanzplatz gegenüber befand sich der in einem Halbkreis angelegte Zuschauerraum, der allein ursprünglich den Namen theatron, Ort zum Schauen, trug. Dazu nutzte man gern eine natürliche Hanglage mit aufsteigenden Zuschauerreihen. Um dem Chor während seiner Auftrittspausen Gelegenheit zu geben, sich ungesehen aufzuhalten bzw. sich umzukleiden, wurde hinter dem Tanzplatz ein Zelt oder eine Hütte aufgebaut, was im griechischen skené heißt. Diese skené wurde bald auch zur Lagerung von Kulissen, als Garderobe und für die Maske benutzt. »Das relativ niedrige, einstöckige Bühnenhaus hatte ein Flachdach, das ebenfalls in das dramatische Spiel einbezogen werden konnte, so dass die griechische Bühne seit Aischylos’ Orestie drei Spielebenen besaß: die orchestra für den Chor, die flache Bühne vor der skené für die Schauspieler und das Dach der skené, das vor allem für die Götterauftritte genutzt wurde und daher theologeion hieß« (Brauneck/Schneilin 1992: 78).

Später wurde auch der skené eine über die orchestra erhöhte Spielfläche vorgelagert, das proskenion, also eine Art Vorbühne. In den Ruinen des Dionysostheaters in Athen am Südhang der Akropolis ist dieser historische Theateraufbau noch gut ablesbar. Die Grundelemente des griechischen Theaters wurden im römischen Theaterbau übernommen, aber weiterentwickelt, wie etwa das gut erhaltene Theater von Orange in Südostfrankreich mit seinen steinernen Bühnenbauten mit hoher und reich verzierter Stirnseite (scaenae frons) zeigt. Für eine lebhafte Weiterentwicklung des Theaterbaus spricht nicht zuletzt die Tatsache, dass die ursprünglichen Begriffe Theater, Orchester, Szene und Proszenium zwar noch heute verwendet werden, aber zum Teil eine stark gewandelte Bedeutung haben. Das Theater war in griechischer und römischer Zeit von großer kultureller und wirtschaftlicher Bedeutung. Erst als man sich in Rom den zirzensischen Spielen mit Gladiatorenkämpfen, Wagenrennen und sogar Seeschlachten in den Amphitheatern zuwandte, verlor das Theater der griechischen Tradition an Bedeutung. Im deutschsprachigen Raum kann erstmals für das Mittelalter von einer Theaterkultur gesprochen werden. Hier sind zunächst die kirchlichen Theaterspiele zu nennen, die aus der Liturgie des Gottesdienstes hervorgegangen sind und sich vorwiegend am Kirchenjahr orientierten. Nicht nur Weihnachten und Ostern, sondern auch zahlreiche Heiligenfeste und der Kirchweih boten ausreichend Gelegenheit zum Feiern. Man kannte einerseits die geistlichen Spiele, die sich eng an die Liturgie anlehnten und innerhalb oder unmittelbar vor der Kirche spielten, sowie andererseits die städtischen Feste und Theaterspiele, die beispielsweise als Passionsspiele ebenfalls religiösen Ursprungs waren, aber außerhalb des Kirchenraums aufgeführt wurden, wie

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dies im Übrigen auch noch für die heutigen Passionsspiele (z.B. in Oberammergau) gilt. »Die Trägerschaft der Feste und damit auch der Theateraufführungen lag bei der Stadt. Allerdings mussten die Spieler für ihre Kostüme und Requisiten selbst aufkommen und dafür zum Teil erhebliche Summen aufbringen. So ist aus Luzern als größte Ausgabe für eine derartige Spielausrüstung die Summe von 200 Gulden überliefert, die in etwa dem Jahreslohn von 12 Maurern entsprach« (Fischer-Lichte 1993: 16).

Allerdings wurde der größere Teil der Kosten von der Stadt getragen, denn sie hatte für den Aufbau der Bühnen, für die Verpflegung der Spieler und Ehrengäste sowie – was offensichtlich ein nicht unerheblicher Posten war – für die Kosten der Sicherheit aufzukommen. Die Spiele dauerten nicht selten mehrere Tage. Spielorte waren einfache Holzgerüste oder nebeneinander stehende Wagen, auf denen die verschiedenen Szenen nach Art einer Simultanbühne gespielt wurden. Am Ende des Winters bildeten zudem die Fastnachtsspiele eine wesentliche und offensichtlich sehr beliebte Gruppe innerhalb der Spiele und Feste. Sie wurden durch Umzüge und allerlei Belustigungen ergänzt, die weit über ein Theaterspiel im engeren Sinne hinausgingen. Im Gedicht Der Bauerntanz (1528) von Hans Sachs (1494-1576) heißt es: »Der Wein ward also kühlet trunken, dass ihr’ viel unter die Bänk sunken. Sich hub ein groß Grölzen und Speien, ein Knallen, Singen, Juchzen, Schreien.« Erst mit den Nürnberger Fastnachtsspielen Anfang des 16. Jahrhunderts und den von Hans Sachs dafür geschaffenen Texten erreichten die Spiele und Feste in den Städten und Dörfern eine Standardisierung, die den heutigen Vorstellungen von Theater wieder etwas näher kommt. Insgesamt aber sind vor allem die frühen Formen der Theaterspiele wesentlich von der Funktion bestimmt, die sie in der kirchlichen Liturgie bzw. im Stadtleben einnahmen, und sind damit noch nicht als ein künstlerisch eigenständiger Theaterbetrieb zu verstehen. Das änderte sich allerdings im späten Mittelalter und zu Beginn der Renaissance. »Wandertruppen aus Italien und England, aus Frankreich und den Niederlanden zogen quer durch Europa und schlugen – von Brüssel und Köln bis nach Riga und Warschau, von Kopenhagen und Stockholm bis nach Graz und Wien – überall ihre Bühnen auf. Sie kamen weder als Emissäre oder gar Missionare ihrer Kultur noch als Eroberer; sie kamen vielmehr als Kaufleute, die eine begehrte Ware möglichst gewinnträchtig abzusetzen suchten« (Fischer-Lichte 1993: 60).

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Ähnlich wie bei den fahrenden Spielleuten richtete man sich auch hier in erster Linie am Bedarf des Publikums aus, weil keinerlei Auftraggeber vorhanden waren. Theater fand auf öffentlichen Plätzen statt und wurde auf beweglichen Wagenbühnen vielfach in Form eines Stegreifspiels dargeboten. Erst 1576 erbaute man in England ein erstes festes Theater, und 1603-1605 wurde in Kassel mit dem Ottonium auch im deutschsprachigen Raum der erste eigenständige Theaterbau errichtet. Gleichzeitig traten mit Lope de Vega (1562-1635) in Spanien und William Shakespeare (1564-1616) in England die ersten Theaterdichter auf den Plan, um den Weg zum heutigen Theater zu bahnen. Mit Shakespeare erlebte das Theater in England eine erste Blütezeit, die sich erheblich auf den Theaterbetrieb auswirkte. Theater der Zeit Shakespeares waren privatwirtschaftliche Unternehmen, die nach dem Muster von Handwerksbetrieben mit einem Handwerksmeister an der Spitze organisiert waren, der als der Arbeitgeber der Schauspieler und der übrigen Angestellten auftrat. Die Schauspieler waren zwar Berufsschauspieler, erhielten aber meist keinen festen Lohn, sondern waren am Einspielergebnis beteiligt. In jener Zeit entstand eine eigene Form des Theaterbaus, die so genannte Shakespeare-Bühne, die noch heute in einem Nachbau (Globe Theatre) in London bewundert werden kann. Diese Bühnenform, die ihr Vorbild im Wirthaushof hatte, wohin die Schauspielertruppen nach dem Ende der kirchlichen Theaterspiele zunächst ausgewichen waren, bestand aus einem offenen Hof (yard), in den eine relativ kleine Vorderbühne hineinragte. Durch einen Vorhang abgetrennt folgte eine Hinterbühne sowie – für die beliebten Turmund Balkonszenen – eine Oberbühne. Um diese Bühnengruppen herum, die alle ohne Kulissen auskommen mussten, saßen die Zuschauer in einem fast geschlossenen Kreis, der sich in mehreren Galerien in die Höhe ziehen konnte. Auf diese Weise konnten die größeren Häuser bis zu 3.000 Zuschauer fassen, so dass sich das Theater auch an die nicht adeligen Stadtbewohner wenden konnte. Shakespeare selbst war Teilhaber an zwei Theatern auf der Londoner Südseite der Themse und partizipierte damit am dort erwirtschafteten Gewinn. Sein beträchtliches Vermögen erwarb er nicht als Dramatiker oder gar als Lyriker, sondern als Theateraktionär (vgl. Hauser 1953: 439). Hier zeigt sich erstmals sehr deutlich eine »Brücke« zwischen der autonomen Kunstproduktion des Dichters, die keine wirtschaftliche Grundlage bot, und dem Kulturbetrieb, wo man durchaus zu Wohlstand gelangen konnte. Anzumerken bleibt deshalb, dass es zur in Deutschland praktizierten Beteiligung des Künstlers an den Gewinnen des Kulturbetriebs über das Urheberrecht durchaus auch eine Alternative gäbe, nämlich die unmittelbare Beteiligung des

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Künstlers an den Institutionen des Kulturbetriebs (indem etwa der Autor Anteilseigner seines Verlags wäre). Zumindest Shakespeare scheint mit dieser Alternative nicht schlecht gefahren zu sein. Etwa zur gleichen Zeit änderte sich auch in Deutschland der Theaterbereich, ohne allerdings auch nur annähernd die Ausprägung des englischen Theaters zu erreichen. Mit der Reformation wurden die Volksfeste kirchlichen Ursprungs stark zurückgedrängt, denn nach Luther »sollte man alle Feste abschaffen und allein den Sonntag behalten. [...] Ursache: Wie nun der Mißbrauch mit Saufen, Spielen, Müßiggang und allerlei Sünde geht, so erzürnen wir Gott mehr an den Heiligentagen als an den anderen« (Luther 1520/1982: 207f.). Gleichzeitig verlagerten sich die weltlichen Feste von der Straße in den höfischen Raum, wo sie ohnehin schon immer in Form von Ritterspielen gepflegt worden waren. »Die Bestandteile des höfischen Festes passen sich dem veränderten Gesamtkonzept an: das Turnier wandelt sich zum Ballett (Roßballett), an die Stelle von Mut und Kraft treten Geschicklichkeit und Eleganz, der Ritter weicht dem Kavalier, Kampfspiel wird zum Schauspiel. Neben der festlichen Jagd stellt der Triumphzug eine der festlichen Hauptformen dar. Doch ist dieser Trionfo1 gegenüber dem der Renaissance völlig verändert: Die lebenden Bilder und ihre allegorische Deutung sind von der Straße, dem öffentlichen Platz in den Saal übergesiedelt oder der Platz wird zur kulissenumstellten Szene stilisiert. Der soziale Aufbau ist damit ein anderer geworden. Es begegnen sich nicht mehr zwei Partner, die Bürgerschaft und der Fürst, wie in der Renaissance, sondern das Unternehmen wird reines Spiel und Schaustellerei« (Simm 1981: 408).

Während das Theater in Italien, Spanien, England und Frankreich im 16. und 17. Jahrhundert eine erste Blüte erlebte, hatte das Theater in Deutschland sehr unter den Folgen der Reformation und des Dreißigjährigen Krieges zu leiden. Erst im 18. Jahrhundert etablierte sich auch in Deutschland wieder eine Theaterszene, die allerdings ausschließlich auf die Höfe beschränkt blieb und lange Zeit von ausländischen Künstlern dominiert war. Italienische Musiker und Sänger zeigten italienische Opern, und französische Schauspielertruppen führte französische Komödien auf, da ohnehin an den Höfen Französisch die vorherrschende Konversationssprache war. Die an den Höfen entstandenen Hoftheater oder Hofbühnen wurden von den Landesherren in eigener Regie betrieben. Dazu wurde in der Regel eine bestehende, von einem Prinzipal geleitete Schauspielertruppe fest engagiert und einem Mitglied des Hofs, dem so genannten Hofintendanten unterstellt.

1 Trionfo = aus römischer Zeit übernommener Triumphzug der Renaissance mit Elementen eines fahrenden Theaters.

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Der Prinzipal, also eine Art Geschäftsführer, war im Besitz der notwendigen Rechte an Theaterstücken, war persönlicher Besitzer der Kostüme und Requisiten und spielte nicht selten auch die wichtigsten Hauptrollen. Man könnte durchaus von einem Gastspielbetrieb in einem festen Haus sprechen, allerdings mit einer auf längere Dauer engagierten Gastspieltruppe. Innerhalb des Hoftheaters lag die dominierende Position beim Hofintendanten. Er gehörte dem höheren Adel an; für ihn war das Amt des Intendanten eine besondere Auszeichnung. Hatte der Intendant zunächst noch nur organisatorische Funktionen, indem er vor allem den Etat in Händen hielt, erweiterte sich diese Position im Laufe der Zeit auch zunehmend auf künstlerische Fragen. Damit zeichnete sich schon früh eine Entwicklung ab, die zur dominierenden Stellung des Intendanten im 20. Jahrhundert führte. Allerdings stand das Hoftheater, das sich in der Regel innerhalb des Bauensembles eines Schlosses befand und damit für ein Publikum von außerhalb nicht zugänglich war, schon bald unter der Kritik der theaterinteressierten, nicht adeligen Bürgerschaft. Zwar waren erste konkrete Versuche, ein nicht höfisches Theater zu bilden, immer nur sehr kurzlebig, aber es waren dennoch wichtige Weichenstellungen. 1767-1769 gab es in Hamburg das erste Deutsche Nationaltheater, das sich der Pflege einer nationalen Theaterkultur bürgerlichen Zuschnitts widmete. Entscheidend ist in dieser Zielsetzung weniger die Orientierung am deutschen Schauspiel als vielmehr die Ausrichtung auf das bürgerliche, nicht höfische Publikum. Das Deutsche Nationaltheater in Hamburg ist für die Theatergeschichte aber vor allem deshalb von größter Bedeutung, weil kein Geringerer als Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) dort als Dramaturg tätig war. In der Auseinandersetzung mit den dortigen Theateraufführungen entwickelte er in der Hamburgischen Dramaturgie (1768-69) die theoretischen Grundlagen für ein modernes bürgerliches Theater. Da es als Privatunternehmen gegründet war, scheiterte es schon nach wenigen Jahren an der fehlenden Finanzausstattung. Schon bald aber gab es weitere Gründungen von Nationaltheatern (Wien 1776, Mannheim 1779, Berlin 1786), die allerdings allesamt von den Fürsten bewilligte Umwandlungen bestehender Hoftheater waren. Die Idee eines aus dem Bürgertum heraus gegründeten und betriebenen bürgerlichen Theaters sahen die Theatermodernisierer jener Zeit damit verständlicherweise nicht realisiert. In Weimar, wo Goethe (1749-1832) von 1791 bis 1817 Intendant des Weimarer Hoftheaters war und wo er sich mit großem Nachdruck dafür einsetzte, »den Deutschen ein Theater zu schenken«, kam es erst 1919 und damit zu Beginn der Weimarer Republik zur Gründung des Deutschen Nationaltheaters. Damit wurde die 1767 in Hamburg erstmals erprobte Idee erst 150 Jahre später tatsächlich und dauerhaft realisiert. Als Folge der Aufklärung und der Französischen Revolution entstand

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erstmals auch in Deutschland ein selbstbewusstes Bürgertum, das sich in seinen Wertekategorien vom Adel absetzen wollte. Während Lessing noch die Tugendhaftigkeit des Bürgers als entscheidendes Kriterium zur Abgrenzung gegenüber der adeligen Gesellschaft propagierte – Odoardo Galotti erdolcht seine Tochter Emilia, um ihre Tugend vor den Nachstellungen des Prinzen zu bewahren –, sieht die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts vor allem in der Kunst eine Gelegenheit, den eigenen Stand und das eigene Selbstverständnis aufzuwerten. »Nach dem Vorbild der Wissenschaften und der literarischen Kultur, die zunächst im Mittelpunkt der Aufklärung gestanden hatten, wurden nun auch Fragen der Musik und der bildenden Künste, der ästhetischen Kultur überhaupt mehr und mehr zur Sache eines aufgeklärten und kunstverständigen Publikums aus Hof- und Staatsbeamten, Offizieren, Professoren, Geistlichen und Künstlern, die sich in Logen, Lesegesellschaften und Salons begegneten und sich dort über ihre Kulturerlebnisse und -eindrücke austauschten. Viele, die den Begriff des Bürgers jetzt in einem neuen emphatischen, in die Zukunft gerichteten Sinne verwendeten, meinten mit ihm in erster Linie diese Kreise der Gebildeten, in die auch die gehobenen Künstler eingeschlossen waren« (Hein 1996: 103).

Das neue Selbstbewusstsein des Bürgertums und das neue Verständnis vom Theater in einer bürgerlichen Gesellschaft schlug sich auch in den Theaterneubauten nieder. Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) erbaute 1818-24 das Schauspielhaus Berlin, das mit einem großen Foyer und verschiedenen Sälen schon ganz auf die Bedürfnisse einer bürgerlichen Gesellschaft ausgerichtet war. Die von Gottfried Semper (1803-1879) zwischen 1838-41 und nach einem Brand 1871-78 erneut aufgebaute Hofoper in Dresden, die heutige Semper-Oper, machte die innere Gliederung in Bühnenturm und Zuschauerraum erstmals für jedermann auch von außen sichtbar. Das Theater bot damit auch ein bauliches Zeichen für die gewachsenen Ansprüche des Bürgertums, denn für die relativ kleine Hofgesellschaft wäre ein solcher, von außen erkennbarer großer Zuschauerraum nicht erforderlich gewesen. Der weitere Aufschwung des Theaterlebens wurde maßgeblich gefördert durch die Einführung der Gewerbefreiheit im Jahr 1869. Die Gewerbefreiheit nach der Lehre des Liberalismus löste den aus dem Mittelalter stammenden Zunftzwang ab. Demnach konnte (und kann) jeder ein Gewerbe betreiben, wozu auch der Bau und Betrieb eines Theaters gehörte. Doch viele dieser oft allzu schnell gegründeten Theaterbetriebe überlebten die Gründerphase nicht. Erst die in einer zweiten Phase gebildeten so genannten Theateraktivvereine standen als privatwirtschaftliche Kapitalgesellschaften auf einer solideren Basis. Nicht selten waren auch der Landesherr oder die Kommune am

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Bau beteiligt, weshalb es häufig zu partnerschaftlichen Finanzierungen kam, indem der Landesherr bzw. die öffentliche Hand einen bestimmten Betrag zusagten, sofern die bürgerlichen Theaterbauvereine eine gleiche Summe an Spenden aufbringen würden. Diese frühe Form der Matching Funds hat sich außerordentlich bewährt (vgl. Heinrichs 1997: 217f.); sie führte innerhalb weniger Jahrzehnte zu zahlreichen Theaterneubauten. Im Kontext der hier verfolgten Darstellung des Theaterbetriebs ist die Betriebs- und Finanzierungsmischform dieser frühen bürgerlichen Theater von besonderem Interesse. »Dabei müssen drei Ebenen unterschieden werden: der Besitz des Theatergebäudes, die Intendanz, d.h. die Leitung des Theaterbetriebs, und die Regie der Theateraufführung. Bauherr und Besitzer des Theatergebäudes war gewöhnlich die Stadt oder eine Aktiengesellschaft, nur in seltenen Fällen eine Privatperson. [...] Das Theatergebäude wurde normalerweise mit Kulissen und Kostümen – zumeist jährlich – an einen Theaterunternehmer verpachtet, der mit seiner Schauspielertruppe auf eigene Rechnung wirtschaftete. Betriebliche und künstlerische Leitung fielen bei diesen selbständigen Theaterdirektoren zusammen. [...] Schließlich gab es aber auch Aktienvereine, die – ohne das Theater zu besitzen – den Betrieb führten, um ihre künstlerischen Vorstellungen zu verwirklichen. So war das Frankfurter Schauspielhaus von 1792 bis 1841 an eine Aktiengesellschaft verpachtet, die die Regie wiederum angestellten Fachleuten überließ« (Möller 1996: 22).

In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Theaterbau – neben Rathaus und Museum – zum bevorzugten Objekt zur Darstellung bürgerlicher Macht und wirtschaftlicher Stärke. Fast jede größere Stadt baute am Ende des 19. Jahrhunderts »ihr« Theater oder Opernhaus. Meyers Konversations-Lexikon nennt in der Ausgabe von 1897 als »bedeutendste Theatergebäude in Deutschland und Österreich« die Häuser in Berlin (Schauspielhaus, Opernhaus, Lessingtheater), Wien (Opernhaus, Hofburgtheater, Theater an der Wien, deutsches Volkstheater), München, Hannover, Dresden, Leipzig, Magdeburg, Köln, Bremen, Karlsruhe, Braunschweig, Darmstadt, Frankfurt am Main, Salzburg, Wiesbaden, Rostock sowie die Festspielhäuser in Bayreuth und Worms (vgl. Meyers Konversation-Lexikon 1897, Band 16: 800). Allerdings reichte allein der Bau eines aus Mitteln des Bürgertums finanzierten Theaters für die Durchsetzung eines bürgerlichen Theaters nicht aus; es bedurfte auch einer inneren Theaterreform. Bereits 1846 schlossen sich die Bühnenleiter und Rechtsträger der nicht höfischen Theater zum Deutschen Bühnenverein (DBV) zusammen; ihm gehören seitdem sowohl die öffentlichen und privaten Theater als auch die Kulturorchester an. 1848 legte der Schauspieler Eduard Devrient (1801-1877) im Auftrag des Bühnenvereins

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der Nationalversammlung in Frankfurt am Main eine Reformschrift vor: »Das Nationaltheater in Deutschland«. Darin forderte der DBV, dass das Theater nicht mehr dem Hof, sondern der Staatsregierung bzw. dem Kultusministerium unterstellt sein solle, dass die Selbstverwaltung des Theaters gewährleistet werde und dass das Ensemble selbst das Recht haben sollte, sich einen künstlerischen Leiter zu wählen sowie dass alle künstlerischen Angelegenheiten allein in der Hand des Theaterdirektors liegen sollten (vgl. Brauneck/ Schneilin 1992: 420). Mit dem Scheitern der Nationalversammlung scheiterten allerdings auch diese Reformbemühungen. Erst nach der Gründung des Deutschen Reiches gelang es, die wichtigsten Forderungen Schritt für Schritt umzusetzen. 1871 wurde die Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger (GDBA), die gewerkschaftliche Vertretung der Bühnenangehörigen, gegründet. In der Zusammenarbeit von DBV und GDBA gelang es, wichtige interne Regelungen für den Theaterbetrieb zu finden. 1873 und 1874 wurden die ersten Normalverträge2 geschlossen; 1905 wurde erstmals die paritätische Bühnenschiedsgerichtsbarkeit eingerichtet und 1919 – nach zehnjähriger Pause – wieder erneuert. 1919 und 1920 wurden die Rechte der Länder und Kommunen als Träger von Theatern geregelt. Nach kommunaler oder privatrechtlicher Trägerschaft der Theater, stattlichen Gebäuden als Zeichen bürgerlichen Selbstbewusstseins und einer im Zusammenspiel von DBV und GDBA gestärkten Selbstverwaltung fehlte nur noch die Organisation der Theaterbesuche, um die Tradition des höfischen Theaters vollends durch das bürgerliche Theater abzulösen. Zwar gab es durchaus das bürgerliche Publikum, doch bestand in den Gründerjahren des späten 19. Jahrhunderts und im Kontext von Arbeiterbewegung und Arbeiterbildungsvereinen der Wunsch, auch das Theater als Bildungseinrichtung für die breite Bevölkerung zu nutzen. So entstand 1890 in Berlin die Theaterbesuchsorganisation der Volksbühne, die nach dem ersten Weltkrieg auf ganz Deutschland ausgedehnt wurde. 1920 schlossen sich die an verschiedenen Orten in Deutschland bestehenden Volksbühnen zum Verband der deutschen Volksbühnenvereine zusammen. 1927 umfasste dieser Verband 263 Ortsvereine mit insgesamt 540.000 Mitgliedern. Ende des 19. Jahrhunderts beteiligten sich die Städte zunehmend an der Theaterfinanzierung. Die Kommunen sahen sich dabei in der Tradition der Freien Reichsstädte und anderer wohlhabender Städte des Mittelalters und der frühen Neuzeit, die ebenfalls großzügig kulturelle Aufgaben als unmittelbare Auftraggeber gefördert hatten. Da die Industriestädte sehr reich waren und die Bereitschaft der wohlhabenden Bürger zur Förderung von Kultur groß 2 Normalvertrag (NV) = Tarifvertrag für künstlerische Berufe am Theater, seit 2002 einheitlich unter der Bezeichnung Normalvertrag Bühne (NV Bühne).

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war, fiel den wenigsten Städten diese neue Aufgabe schwer; im Gegenteil sah man hierin eine Möglichkeit, den Lebensstandard der Bürger zu heben und sich gegenüber Nachbarstädten – durchaus im Sinne einer Frühform von Stadtmarketing – zu profilieren. Zudem erwies sich eine Kommunalisierung der Theater zunehmend als notwendig, um auf diese Weise gegen die schlechte Qualität der privaten Geschäftstheaterbetriebe (vgl. Freydank 1995) angehen zu können. So kam es zur Jahrhundertwende zu einer kleineren und in den 20er Jahren zu einer größeren Welle von Kommunalisierungen. »Während 1914 von 418 Theatern nur zehn in städtischer Eigenregie geführt wurden, war 1932 die Zahl der Regiebetriebe auf 147 angestiegen« (Brauneck/Schneilin 1992: 1004). Dagegen wurden die noch 1918 bestehenden Hoftheater des 18. Jahrhunderts zu Beginn der Weimarer Republik von den Ländern als Rechtsnachfolger der Landesherren übernommen; sie bestehen heute in der Regel als Staatstheater oder Landesbühnen fort. Trotz wirtschaftlich schwieriger Zeiten erlebten die Menschen während der Weimarer Republik eine einzigartige Theaterblüte. »Der Großteil dieser Bühnen lag in der Provinz, mit einigen Zentren wie Frankfurt, Dresden, Hamburg, Darmstadt, Düsseldorf und München. [...] Denn die Tatsache, dass das Berliner Theaterleben stark vom privaten Geschäftstheater geprägt wurde, machte diese Städte zwar zum Schauplatz interessanter Theaterereignisse, jedoch nicht unbedingt zum Ort kontinuierlicher künstlerischer Arbeit. Die Entdeckungen geschahen häufig in der Provinz« (Hermand/Trommler: 1978/88: 194).

Allerdings erlebte ein Stück nur dann einen Durchbruch, wenn es in Berlin erfolgreich sein konnte. »Nur die Hauptstadt verfügte über ein Publikum und eine Presse, mit denen ein Ereignis gemacht oder verhindert werden konnte« (ebd.). Zu diesem Erfolg trugen neben der gesicherten Trägerschaft in den Theatern der öffentlichen Hand vor allem visionäre Regisseure wie Max Reinhardt (1873-1943), Leopold Jessner (1878-1945) und Erwin Piscator (1893-1966) und später Gustaf Gründgens (1899-1963) bei. Zudem standen Schauspielerinnen und Schauspieler zur Verfügung, die noch heute über einen legendären Ruf verfügen: Agnes Straub (1890-1941), Käthe Dorsch (1890-1957), Fritzi Massary (1882-1969), Elisabeth Bergner (1897-1986), Käthe Gold (1907-1997) sowie Albert Bassermann (1867-1952), Fritz Kortner (1892-1970), Paul Wegener (1874-1948), Emil Jannings (1894-1950), Heinrich George (1893-1946) und viele andere. Während des Nationalsozialismus kam die ungewöhnlich reiche Theaterlandschaft fast zum Erliegen, da sich die Theater nicht in die faschistische Ideologie einfügen ließen (»Gleichschaltung«) und zudem viele Künstlerinnen

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und Künstler an den Theatern Juden oder zumindest jüdischer Abstammung waren. Nur an wenigen Orten konnte sich eine Theaterszene auf hohem Niveau halten, nicht selten mit kalkulierter Billigung der Nationalsozialisten. 1944 aber wurden alle Theater geschlossen. Nur dank der Bereitschaft der Schweiz, die deutsche Theatertradition der Weimarer Republik fortzusetzen (vor allem im Zürcher Schauspielhaus), konnte das Theater im deutschsprachigen Raum – wenn auch stark rudimentär – überleben. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Ende der Naziherrschaft war der Wunsch wieder Theater spielen zu wollen mindestens ebenso groß wie das Verlangen des Publikums, endlich wieder ins Theater gehen zu können. Trotz Zerstörung fast aller Theatergebäude und obwohl viele Regisseure und Schauspieler durch Krieg oder Verfolgung ihr Leben verloren hatten, kam es zu einer erstaunlich schnellen Erneuerung des Theaterlebens. »Überall entstanden Theatergruppen; ihre Zusammensetzung war höchst unterschiedlich; der Zufall spielte eine große Rolle. Die Ensembles setzten sich zusammen aus Ortsansässigen, Flüchtlingen, Kriegsheimkehrern, aus der Emigration Zurückgekehrten; neben den Neulingen spielten die Arrivierten, solche, die dem Nationalsozialismus widerstanden und solche, die sich ihm angepasst hatten« (Glaser 1991: 104).

Wie groß der Hunger nach Theater war, zeigte sich vor allem in der freien Szene. »In den Trümmerjahren waren die Menschen geradezu von einem Theaterrausch erfasst. Im Herbst 1945 lagen der Abteilung Volksbildung des Magistrats in Berlin 400 Gesuche für die Eröffnung von Theatern vor; dazu kamen 1.000 Anträge für Kabaretts. Zur zweiten Nachkriegsspielzeit vergab die US-Militärregierung in ihrer Zone und in ihrem Sektor Berlin 400 Theaterlizenzen. [...] Große Zuwachsraten gab es auch in anderen Landesteilen« (ebd.: 106).

Dazu ist anzumerken, dass diese Initiativen von den Theaterleuten selbst ausgingen. Dabei mag sicher die daniederliegende Wirtschaft eine Rolle gespielt haben; manch einer mag die freiberufliche Tätigkeit eines Schauspielers oder Theaterleiters als letzten Rettungsanker gesehen haben, um an Arbeit zu kommen. Dennoch ist die damit einhergehende, neu auflebende Theaterleidenschaft nicht zu übersehen. Auch die Städte reagierten deshalb schon recht früh. Noch bevor es zu einem nennenswerten Wohnungsbau kam, wurden in der Nachkriegszeit die Theater wieder aufgebaut bzw. völlig neue Theaterbauten errichtet. Unter diesen günstigen Voraussetzungen erlebte das Theater in den 50er und frühen 60er Jahren eine erneute Blüte, die in weiten Bereichen an das Theater der Weimarer Republik anknüpfen konnte.

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Erst Ende der 60er Jahre und vor allem in den 70er Jahren kam es zu Umbrüchen im Theater, die mit der Politisierung des Theaterstoffs nicht nur künstlerische Auswirkungen hatten, sondern sich auch auf den Theaterbetrieb niederschlugen (vgl. Rühle 1992). Frankfurt am Main erwies sich hier als engagierter Vorreiter; dort wurde 1972 das Intendantenprinzip durch ein Dreierdirektorium ersetzt. Hilmar Hoffmann, der damalige Frankfurter Kulturdezernent, schrieb dazu: »Je länger ein Theater-Ensemble in einem hierarchisch geordneten Herrschaftsapparat arbeitet, also in einem mit ›Generalintendant‹ umschriebenen System, desto spürbarer wird die Repression, der jedes einzelne Mitglied ausgesetzt ist, und desto lähmender werden sich die einsamen Ein-Mann-Direktiven auch auf das künstlerische Ergebnis auswirken« (Hoffmann 1979: 56).

Zudem wurde »erstmals an einem deutschen Theater die Mitbestimmung in Drittelparität per Magistratsbeschluss eingeführt. Der jeweilige Vertreter des Ensembles im Direktorium erhält von der Basis kein imperatives Mandat und ist ihm gegenüber nicht weisungsgebunden. Er ist allerdings jederzeit mit Zwei-Drittel-Mehrheit abwählbar« (ebd.). Doch fanden solche Mitbestimmungsmodelle kaum Nachahmer und waren im Allgemeinen nur von kurzer Dauer. Lediglich das Direktoriumsmodell findet in einigen Theatern noch heute Anwendung bzw. wurde dort später aufgegriffen (z.B. in Stuttgart). Eine andere theaterbetriebliche Neuerung der späten 60er und frühen 70er Jahre hat allerdings recht machtvoll überlebt. Es sind dies die so genannten Freien Theater, die nicht verwechselt werden dürfen mit den unmittelbar nach Kriegsende gegründeten Privattheatern. Freie Theater »proklamierten ein neues Verständnis von Theaterarbeit; es betraf die Inhalte, die ästhetische Form, die soziale Sinngebung und die institutionelle Struktur des Theaters« (Brauneck/Schneilin 1992: 372). Auf diese Weise entstand eine höchst lebendige Theaterszene außerhalb der zunehmend als schwerfällig empfundenen staatlichen und städtischen Theater. Richtungsweisend und Vorbild für zahllose Nachfolger wurden die Freien Theater Rote Rübe (München), Theatermanufaktur (Berlin) sowie das Theater zwischen Tür und Angel (Hamburg/Köln). Inzwischen ist die Szene der Freien Theater kaum noch überschaubar (vgl. Büscher/Schlewitt 1991 und Kooperative Freies Theater NRW 1997); allein in manchen Großstädten zählt man an die 100 Freie Theater, die allerdings inzwischen überwiegend von der öffentlichen Hand bezuschusst werden und sich damit zumindest aus theaterbetrieblicher Sicht dem öffentlichen Theater ein Stück weit angeglichen haben. In den 90er Jahren wirkten sich vor allem zwei Entwicklungen auf den Theaterbetrieb aus: der Boom der privaten Musicaltheater und die deutsche

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Wiedervereinigung. Mit den Musicaltheatern, die Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre erstmals in Deutschland entstanden, gerieten die traditionellen Bühnen der öffentlichen Hand zunehmend in eine finanzpolitische Erklärungsnot, denn die privaten Musicaltheater wurden ausschließlich über selbst erwirtschaftete Einnahmen finanziert. Das hat vor allem viele Finanzpolitiker in den Ländern und Städten veranlasst, von den traditionellen Theater einen deutlich höheren Eigenfinanzierungsanteil zu fordern. Auch wurde das Repertoiresystem, eine der Stärken des deutschen Theatersystems, in Frage gestellt, weil sich die Wirtschaftlichkeit der Musicaltheater vor allem aus dem Ensuite-System ergaben (vgl. dazu Abschnitt 6.2). Einige Theater versuchten dieser Diskussion dadurch entgegen zu wirken, indem sie in ähnlicher Form Musicals mit in ihren Spielplan aufnahmen. Doch ein Erfolg konnte sich für diese Theater nicht einstellen, weil die Grundidee des Musicaltheaters eine gänzliche andere ist als die des Stadttheaters. Das Musicaltheater ist ein typisches Produkt der Erlebnisgesellschaft, weil dort der Erlebniswert aus allen Komponenten geschöpft wird, die das Theater zu bieten hat. Dazu gehören aber nicht nur die Aufführung des Musicals, sondern auch das Abendessen vor der Aufführung im theatereigenen Restaurant, der Einkauf auf der dem Theater angegliederten Shopping-Zeile sowie die Übernachtung im theatereigenen Hotel, selbstverständlich verbunden mit Schwimmbadund Saunabesuch. Damit gerät der Besuch des Musicals zum Event, das selbst dann von Erfolg gekrönt wird, wenn die Aufführung selbst nur mittelmäßig ist. Die großen Musicaltheater, die mit einer solchen Infrastruktur umgeben sind, beziehen deshalb einen beträchtlichen Teil ihrer Einnahmen aus Hotel, Restaurant und Shopping-Center; die – relativ hohen – Eintrittspreise machen nur den kleineren Teil der Einnahmen aus. Bei näherer Betrachtung wurde deshalb auch den Finanzpolitikern bald klar, dass Musical- und Stadttheater nicht mit einander verglichen werden können und es wohl auch keinen Sinn macht, das traditionelle Staats- oder Stadttheater nachträglich durch eine entsprechende Infrastruktur eventfähig zu machen. Zudem zeigte sich nach der Jahrtausendwende, dass der Musical-Boom schnell zu Ende ging. Erste Häuser wurden geschlossen; statt ungebremstes Wachstum war plötzlich Kosteneinsparung angesagt. Die zweite Veränderung rührte von der Deutschen Einheit her. »Wenn man die Zahl der Theaterplätze ins Verhältnis zur Einwohnerzahl setzte, erschien der ostdeutsche Teilstaat als das theaterreichste Land der Welt: 60 Theater, darunter 30 Opernensembles, boten auf mehr als 120 Spielstätten ihre Aufführungen an. Staatliche Subventionen in beträchtlicher Höhe ermöglichten verblüffend niedrige Eintrittspreise. [...] Die Staatliche Verwaltung und ideologische Kontrolle des gesamten kulturellen Lebens duldete allerdings weder private Bühnen auf kommerzieller Ba-

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sis noch jene Freien Gruppen, die anderswo durch ihre Experimentierfreude die etablierte Szene befruchteten« (Inter Nationes 1992: 75).

Zudem wurde die erstaunlich hohe Auslastung der Theater häufig durch Pflichtbesuche der Werktätigen erreicht. Nach der Wende aber sah sich kaum noch jemand veranlasst, dieser Pflicht weiterhin nachzukommen; der Anteil der Theaterbesucher an der Gesamtbevölkerung sank schlagartig auf Westniveau herab. Damit zeigte sich, dass ein gewaltiges Überangebot an Theatern bestand, das aber auf Dauer nicht finanzierbar war. Zwar kam es anfangs zu einer sehr großzügigen Sonderbezuschussung mit westlichen Transfermitteln, doch war dieser Zustand auf Dauer nicht haltbar. Einige Theater mussten deshalb geschlossen oder mit benachbarten Theatern zusammengelegt werden. In der Spielzeit 2003/ 04 zählte man in den neuen Bundesländern (ohne Berlin) nur noch 49 öffentliche Theater. Da aber gleichzeitig weit mehr Spielstätten als zu DDR-Zeiten eingerichtet wurden, hielt sich der Sanierungsprozess für die Theaterbetriebe und vor allem für die Schauspieler und Bühnenmitarbeiter letztlich in Grenzen. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass die Einspielergebnisse der ostdeutschen Theater deutlich unter denen des Westens liegen. Während in den ostdeutschen Flächenstaaten (also ohne die Sondersituation Berlin) von der öffentlichen Hand ein Zuschuss pro Besucher von durchschnittlich 107,15 € gezahlt wird, beträgt die Vergleichzahl in den westdeutschen Flächenstaaten (also ohne Hamburg und Bremen) nur 92,67 €, und das obwohl im Westen höhere Gehälter gezahlt werden als im Osten. Schon diese wenigen Kennzahlen machen deutlich, dass die Theaterfinanzierung in den neuen Bundesländern weiterhin mit höheren Risiken verbunden ist als im Westen und damit auch der Bestand der ostdeutschen Theater in Einzelfällen immer wieder auf dem Prüfstand stehen wird. Doch trotz dieser partiellen Unsicherheit darf nicht übersehen werden, dass die deutsche Theaterlandschaft – zumindest im Kontext ihrer Geschichte – derzeit als vergleichsweise stabil und zukunftsfest bezeichnet werden darf. 6.2 Unterscheidungskriterien Wenn von Theatern die Rede ist, gehen die Begriffe leider recht häufig durcheinander, denn da wird von Staatstheatern, von Regietheatern, von Repertoire-Theatern oder von Musiktheatern gesprochen. Die Verwirrung entsteht allerdings allein dann, wenn keine Unterscheidungskriterien berücksichtigt werden, weshalb es sinnvoll ist, zunächst solche Unterscheidungskriterien zu benennen und die Theater in ihrer verwirrenden Begrifflichkeit entsprechend zuzuordnen. Die wichtigsten Theaterformen sind begrifflich den Kriterien (a)

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künstlerische Sparten, (b) Rechtsträgerschaft, (c) Rechtsform und (d) Spielplanprinzip zuzuordnen. a) nach den künstlerischen Sparten • Musiktheater Oper, Operette, Musical. Eine in der deutschen Theatertradition besonders gepflegte Sparte – in keinem Land der Welt gibt es so viele Opernhäuser wie in Deutschland, selbst in Italien nicht, obwohl viele Opern der deutschen Spielpläne dort komponiert wurden. Andererseits ist das Musiktheater außerordentlich teuer; es ist mit großem Abstand das teuerste Kulturangebot, das sich die öffentliche Hand in Deutschland leistet. • Ballett/Tanztheater Ballett steht in der Regel in der Tradition des klassischen Balletts des späten 19. Jahrhunderts, allerdings mit zum Teil erheblichen Weiterentwicklungen, während das Tanztheater aus dem Ausdruckstanz zu Beginn des 20. Jahrhunderts hervorgegangen ist und sich bis heute als Modern Dance neben dem klassischen Ballett behaupten kann. • Schauspiel Auch gelegentlich als Sprechtheater bezeichnet, um den Gegensatz zum Musiktheater zu verdeutlichen. In der Kurzform »Theater« ist umgangssprachlich fast immer nur das Schauspiel gemeint. • Kinder- und Jugendtheater Wird im Allgemeinen als eigenständige Sparte geführt, obwohl es sich von den drei ersten Sparten nicht durch die künstlerische Ausdrucksform, sondern nur durch ein anderes Zielpublikum und damit auch durch ein anderes Repertoire unterscheidet. b) nach der Rechtsträgerschaft • Staatstheater Theater, die sich in der Trägerschaft eines Bundeslandes befinden, wie z.B. das Staatstheater Oldenburg oder das Badische Staatstheater Karlsruhe. Staatstheater entstanden in der Regel aus ehemaligen Hoftheatern; sie wurden nach dem Ende des Kaiserreichs nicht von den Kommunen, sondern von den Rechtsnachfolgern der Fürstentümer, also den Ländern, übernommen. • Stadttheater Theater, die sich in der Trägerschaft einer Kommune befinden; sie gelten selbst dann als Kommunaltheater, wenn sie einen relativ hohen Landeszuschuss erhalten. Bei weitem die meisten öffentlich-rechtlichen Theater in Deutschland sind Stadttheater.

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• Landesbühnen oder Landestheater Theater, die sich in der Trägerschaft eines Landes befinden, in erster Linie aber dazu dienen, die Städte ohne eigene Theater zu bespielen. • Privattheater Privatrechtlich-kommerzielle Kulturbetriebe, die von einem privaten Unternehmer oder einer privaten Körperschaft getragen werden. Diese Theater behalten ihren Status als Privattheater selbst dann, wenn sie aus staatlichen oder kommunalen Mitteln bezuschusst werden. Auch die Musicaltheater der kommerziellen Betreiber sind dieser Gruppe zuzurechnen. • Freie Theater Professionelle Theater, die in der Regel als privatrechtlich-gemeinnützige Kulturbetriebe organisiert sind und sich außerhalb des etablierten Theaterbetriebs vor allem dem Experiment und der Avantgarde widmen. Sie bevorzugen dazu unkonventionelle Formen des Managements und der Theaterarbeit. • Amateurtheater Privatrechtlich-gemeinnützige Kulturbetriebe, die nicht von Profis betrieben werden. Dazu zählen beispielsweise Mundartbühnen und einige Freilichttheater. • Tourneetheater Privatrechtlich-kommerzielle Kulturbetriebe, die ausschließlich Gastspiele veranstalten, d.h. die Tourneetheater verfügen weder über ein eigenes Theatergebäude noch über ein eigenes Ensemble; beides wird je nach Bedarf angemietet bzw. per Werkvertrag zusammengestellt. Tourneetheater sind die Hauptanbieter in Städten ohne eigenen Theaterbetrieb und stehen dort in Konkurrenz zu den Landesbühnen. c) nach der Rechtsform • Regietheater Öffentlich-rechtlicher Kulturbetrieb, der – wie ein Amt – in die Kommunaloder Landesverwaltung eingegliedert ist. Im Regiebetrieb gelten das öffentliche Dienstrecht – u.a. der Bundesangestelltentarif – und die Kameralistik. Außerhalb des künstlerischen Bereichs untersteht das Theater als Regiebetrieb der Weisungsbefugnis des zuständigen Dezernenten bzw. ist abhängig von den politischen Beschlüssen des Gemeinderats und seiner Ausschüsse. • Nicht-rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts Korrektere, aber ungebräuchliche Bezeichnung für einen Regiebetrieb.

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• Eigenbetrieb Öffentlich-rechtlicher Kulturbetrieb mit relativ eigenständiger Steuerung, beispielsweise durch Verwendung des kaufmännischen Rechnungswesens. • Zweckverband Öffentlich-rechtlicher Kulturbetrieb, der von mehreren Kommunen und/ oder Landkreisen getragen wird; der Zweckverband ist in den Formen der Steuerung in der Regel ähnlich frei wie der Eigenbetrieb. • Privatrechtliche Trägerformen wie der Verein (z.B. bei Freien Theatern und Amateurtheatern) oder die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) oder die Aktiengesellschaft (vgl. die frühere Stella AG). Soweit es sich um Theater handelt, deren Zuschussbedarf weiterhin aus öffentlichen Mitteln abgedeckt wird, spricht man von einer formellen Privatisierung, um dadurch den Unterschied zu kaufmännischen Privatunternehmen deutlich zu machen. d) nach dem Spielplanprinzip • Repertoiretheater Das Spielplanprinzip, das in den öffentlich-rechtlichen Theatern Deutschlands am stärksten verbreitet ist. Demnach werden in jedem Jahr mehrere Stücke inszeniert, die während der laufenden Spielzeit im ständigen Wechsel gezeigt werden, d.h. in der Regel steht an jedem Abend ein anderes Stück auf dem Spielplan. Das Repertoiretheater ist sehr kostenträchtig, erleichtert aber andererseits das Bespielen mehrerer Abonnements. • En-Suite-System Bei diesem Spielplanprinzip steht ausschließlich ein Stück auf dem Spielplan, d.h. dieses Stück wird so lange gezeigt, bis die Zuschauernachfrage gesättigt ist. Alle Musicaltheater verfahren nach diesem relativ kostengünstigen Prinzip. • En-Bloc-System Dieses Spielplanprinzip bildet ein Mittelding zwischen En-Suite und Repertoire. Auch hier hat das Theater mehrere Stücke im Spielplan – ist also dem Repertoire vergleichbar –, spielt aber jeweils ein Stück mehrere Tage hintereinander – im Block –, bis alle Abonnements bedient sind. Dieses Verfahren ist wesentlich kostengünstiger als das reine Repertoireprinzip, weshalb auch öffentliche Theater in jüngster Zeit zunehmend zum EnBloc-System tendieren. In Frankreich und Italien wird fast ausschließlich nach dem En-Bloc-System gespielt.

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Wenn man von Privattheatern, Freien Theater oder Tourneetheatern absieht und sich nur auf die Theater der öffentlichen Hand bezieht, die verkürzt, aber nicht ganz korrekt, gerne als öffentliche Theater bezeichnet werden,3 so gelten zwei Merkmale als typisch und auch weitgehend einzigartig für die deutsche Theaterlandschaft, nämlich das Ensemble-Prinzip und das RepertoirePrinzip. Als Ensemble bezeichnet man die Gesamtheit der an einem Theater fest engagierten Schauspieler bzw. Sänger. Früher wurde ein Ensemble nach relativ festen Stil- und Kunstprinzipien (Kunstfach oder Rollenfach) zusammengesetzt (z.B. Erster Liebhaber und jugendlicher Held, Koketten und muntere Liebhaberinnen, Soubretten oder Kammermädchen, komische Alte usw.). Heute richtet man die Zusammensetzung des Ensembles zwar immer noch am Bedarf aus (z.B. Anzahl der weiblichen und männlichen Rollen), aber das Rollenfach ist nicht mehr Gegenstand des Vertrags; vielmehr erwartet man heute von den Schauspielern eine größere Flexibilität als noch vor 30 oder 40 Jahren. Lediglich im Musiktheater wird naturgemäß noch stärker nach dem Rollenfach unterschieden (z.B. Tenor, Sopran, Bass usw.). Die Zusammensetzung des Ensembles hat erhebliche künstlerische und organisatorische Auswirkungen. Nur bei einem sorgfältig zusammengesetzten Ensemble ist es dem Theater möglich, ein relativ breites Repertoire mit den verschiedensten Rollen zu bespielen, was wiederum für ein ausgewogenes und für den Theaterbesucher interessantes Abonnement unabdingbar ist. Als Repertoire bezeichnet man die fertig inszenierten und einstudierten Stücke eines Theaters, die bei der Spielplangestaltung jederzeit abrufbar sind. Aus dem Repertoire wird der jeweilige Spielplan zusammengestellt. Im Schauspiel bleiben Stücke selten länger als eine Spielzeit im Repertoire, im Musiktheater dagegen oft mehrere Jahre. Nur mit einem relativ breiten Repertoire ist es möglich, immer wieder ein attraktives Abonnement zu gestalten. Auch steht das Repertoire in einem engen Zusammenhang mit dem Ensemble. Weil man im Repertoire für die unterschiedlichsten Rollen Schauspieler bzw. Sänger benötigt, auf die man ständig zurückgreifen kann, ist ein festes Ensemble unverzichtbar. In anderen Ländern dagegen bevorzugt man das En-Bloc-System oder sogar das En-Suite-System. Beide Systeme kennen kein (En-Suite) oder nur ein kleines Repertoire (En-Bloc), weshalb auch kein Ensemble erforderlich ist. Das deutsche System macht das Theater zweifellos farbiger und abwechslungsreicher, aber es macht es auch erheblich teurer und unflexibler. Die so oft beschworene »Krise des Theaters« in Deutschland – wenn man sie allein 3 »Öffentlich«, im Sinne von öffentlich zugänglich, sind natürlich auch alle anderen Theater.

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auf die Kosten bezieht – ist deshalb eine Krise, die sich auch aus dem System selbst ergibt. Das aber bedeutet konsequenterweise, dass man entweder das System aufgeben muss, um der Krise Herr zu werden, oder aber, wenn man es aufrechterhalten will, man sich dieses System eben etwas kosten lassen muss. Der Vergleich mit den Theaterkosten in anderen Ländern ist hier wenig hilfreich! 6.3 Rechtsträger und Rechtsformen Man unterscheidet sinnvollerweise zwischen Rechtsträgern und Rechtsformen. Als Rechtsträger bezeichnet man die Personen oder Körperschaften, in deren Eigentum das Theater steht und die vor allem für das wirtschaftliche Überleben eines Theaters letztlich verantwortlich sind. Bei öffentlichen Theatern ist dies im weitesten Sinne der Staat, also auch Kommunen und Bundesländer, bei privaten Theatern können dies Einzelpersonen oder private Körperschaften sein. Für die Spielzeit 2003/04 nennt die Statistik des Deutschen Bühnenvereins (DBV) insgesamt 149 öffentliche Theaterunternehmen mit 744 Spielstätten, 217 private Theater, 37 Festspiele und 48 Kulturorchester. Nach der Rechtsträgerschaft verteilen sich die Theater in Deutschland wie folgt: Tabelle 14: Theater, Kulturorchester und Festspiele in Deutschland nach Rechtsträgern in der Spielzeit 2003/04 Rechtsträger Land Kommune Mehrträgerschaft, Sonstige Privat Summen

Theater der öff. Hand

Kulturorchester4

28 77 44

Festspiele

Privattheater

13 20 217

149

48

33

217

Quelle: DBV

Um Missverständnisse zu vermeiden, sei angemerkt, dass von Privattheatern nur dann gesprochen wird, wenn es sich tatsächlich um einen privaten Rechtsträger handelt, hinter dem wiederum nur Privatpersonen stehen. Thea-

4 In der Statistik des Deutschen Bühnenvereins wird für die Kulturorchester nicht nach Rechtsträgern differenziert.

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ter mit privater Rechtsform (z.B. eingetragener Verein, Gesellschaft mit beschränkter Haftung), aber öffentlicher Trägerschaft gelten dagegen weiterhin als öffentlich-rechtliche Theaterbetriebe. Entscheidendes Differenzierungsmerkmal ist hier die privatrechtliche oder öffentlich-rechtliche Abdeckung des unternehmerischen Risikos. Wie die Statistik zeigt, ist die Zahl der Privattheater deutlich höher als die der öffentlichen Theater. Dazu muss man anmerken, dass die Zahl der tatsächlichen Privattheater noch wesentlich höher ist als die von der Bühnenvereinsstatistik veröffentlichte Zahl. Vor allem die in der Regel sehr kleinen so genannten Freien Theater können sich eine Mitgliedschaft im Deutschen Bühnenverein oft nicht leisten, weil sie dann auch dem Bühnentarifrecht mit seinen sehr kostenträchtigen Sonderregelungen unterliegen würden. Dagegen sind die privaten Musicaltheater weitgehend Mitglied im Bühnenverein und werden deshalb auch von der Statistik erfasst. Das zeigt sich zwar weniger in der Zahl der Theater, dafür aber um so deutlicher in der Besucherstatistik (vgl. Abschnitt 6.4). Dagegen kehrt sich das Verhältnis um, wenn man statt der Theaterbetriebe die Spielstätten zugrunde legt. Fast alle öffentlichen Theater verfügen über mehrere Spielstätten, während die Privattheater – auch die privaten Musicaltheater – in der Regel nur eine Spielstätte haben. Bei weitem die meisten öffentlichen Theater sind Kommunaltheater, zumal die Kommunen in aller Regel auch an den Theatern beteiligt sind, die sich laut Statistik in Mehrträgerschaft (z.B. von Kommune und Land) befinden. Eine Trägerschaft des Landes ist vor allem bei den so genannten Landesbühnen oder Landestheatern gegeben sowie bei den von den ehemaligen Landesfürsten übernommenen Staatstheatern. Wie bereits im Abschnitt 6.1 erwähnt, haben sich die Rechtsträger der Theater in Deutschland vor mehr als 150 Jahren zum Deutschen Bühnenverein (DBV) zusammengeschlossen. Der DBV ist Interessenverband aller öffentlichen und privaten Träger der Theater, Festspiele und Kulturorchester in Deutschland und ist in seinem Binnenverhältnis in sechs Gruppen gegliedert: Staatstheatergruppe, Stadttheatergruppe, Landesbühnengruppe, Privattheatergruppe, Intendantengruppe und Gruppe der außerordentlichen Mitglieder (z.B. Rundfunkanstalten). Als solcher nimmt er kulturpolitische und vor allem arbeitsrechtliche Funktionen wahr. Für die Theaterträger tritt er als Tarifpartner auf und handelt mit den Vertreterorganisationen der Arbeitnehmerseite (Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger, Deutsche Orchestervereinigung, Vereinigung deutscher Opernsänger und Balletttänzer) die Tarifverträge aus. Zusammen mit der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger (GDBA) unterhält der Deutsche Bühnenverein die Versorgungsanstalt der deutschen Bühnen und der deutschen Kulturorchester sowie die Bühnen-

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schiedsgerichte, die alle arbeitsrechtlichen Streitigkeiten im Theaterbereich innerhalb der ersten beiden Instanzen regeln. Der Deutsche Bühnenverein publiziert neben der Zeitschrift Theater heute regelmäßige Fachschriften sowie die höchst aufschlussreiche jährliche Theaterstatistik. Da diese Statistik seit vielen Jahren nach gleichem Schema aufgebaut ist, kann mit deren Hilfe ein kompetenter Überblick über die langfristige Entwicklung des Theaters gewonnen werden. Darin finden sich auch Angaben über die Rechtsform der Theater: Tabelle 15: Theater in Deutschland nach der Rechtsform in der Spielzeit 2003/04; eine ähnliche Differenzierung für Festspiele und Kulturorchester kennt die Statistik nicht Rechtsform Regiebetrieb AG oder GmbH eingetragener Verein Zweckverband Einpersonengesellschaft Sonstige Zwischensumme

Theater der öff. Hand

Privattheater

66 45 8 8

85 87

22

28 17

149

217

Quelle: DBV

Interessant ist in dieser Statistik vor allem der öffentliche Bereich. Da die meisten öffentlichen Theater Kommunaltheater sind, findet der Regiebetrieb als Rechtsform immer noch große Verbreitung. Das ist deshalb erwähnenswert, weil es in den 90er Jahren eine klare Tendenz hin zur GmbH gab (1991 gab es vier öffentliche Theater in der privaten Rechtsform einer GmbH, zehn Jahre später waren es 40). Inzwischen hat aber die Modernisierung der Verwaltung (neue Steuerungsmodelle, dezentrale Ressourcenverantwortung, Budgetierung) dazu geführt, dass die wünschenswerte Flexibilität in der Ressourcensteuerung auch in einem Regiebetrieb erreicht werden kann, weshalb man die unübersehbaren Nachteile des GmbH-Modells (vor allem die relativ große Trägerferne) nicht mehr in Kauf nehmen muss. 6.4 Theaterfinanzierung und Theaterbesucher Die Herstellung des Kunstprodukts Theater ist mit außergewöhnlich hohen Kosten verbunden. Man unterhält ein vergleichsweise großes Gebäude, das sich für andere Zwecke kaum nutzen lässt, man benötigt einen hohen technischen Aufwand für die Bühnenmaschinerie, verfügt über sehr differenzierte

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Theaterwerkstätten von der Schreinerei über die Malerei bis zur Schlosserei, verwaltet einen beachtlichen Fundus und ein riesiges Kulissenlager, was allein schon beträchtliche Lagerhaltungskosten verursacht, braucht eine Verwaltung, die sowohl das Personalmanagement, die Hausverwaltung als auch den Kartenverkauf managt, und benötigt nicht zuletzt ein Ensemble vom Regisseur bis zum Schauspieler sowie – falls auch ein Musiktheater angeschlossen ist – ein großes Orchester und eine Vielzahl von Sängern für Solistenrollen und Chor. Selbst kleinere Theater zählen schnell mehr als hundert Mitarbeiter; in sehr großen Häusern wird die Zahl von 1.000 Mitarbeitern nicht selten überschritten. Da kann es nicht verwundern, dass dafür beachtliche Etats erforderlich sind. In der Spielzeit 2003/04 hatten allein die 149 öffentlichen Theater in Deutschland Gesamtausgaben von 2,52 Mrd. €. Angesichts dieser hohen Kosten ist auch der Zuschussbedarf der Theater außergewöhnlich hoch. Es wurde bereits erwähnt, dass die Theater die für die öffentliche Hand mit Abstand teuerste Sparte im Kulturbetrieb sind. Grob gesagt fließt fast jeder dritte Euro des Kulturetats der öffentlichen Hand in den Theaterbetrieb. Folgende Übersicht zeigt die beträchtlichen Summen, die aus Steuergeldern in die Theaterfinanzierung fließen: Tabelle 16: Zuwendungen der öffentlichen Hand an Theater, Kulturorchester, Festspiele und Privattheater in Deutschland in der Spielzeit 2003/04 in 1.000 Euro

Betriebszuschüsse der öffentlichen Hand

Theater der öffentlichen Hand

Kulturorchester

Festspiele

Privattheater

2.106.095

205.592

18.948

78.120

2.408.755 Quelle: DBV

Wie die Übersicht zeigt, erhalten nicht wenige Privattheater auch Zuwendungen der öffentlichen Hand. Dabei handelt es sich in der Regel um kleinere Privattheater wie Freie Theater oder Mundartbühnen; die großen Privattheater wie beispielsweise die Musicaltheater, auf die sich auch die Mehrheit der Gesamtbesucher bezieht (siehe unten), erhalten in der Regel keine direkten öffentlichen Zuwendungen. Dazu muss nochmals darauf hingewiesen werden, dass zahlreiche Freie Theater zwar Zuschüsse erhalten, in dieser Statistik aber nicht erfasst werden, weil sie nicht Mitglied im DBV sind. Interessant ist vor allem, wie sich der Zuschussbedarf in den letzten zehn Jahren entwickelt hat. Der jährliche Zuschussbedarf der öffentlichen Theater

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in Deutschland seit 1994 (ohne Kulturorchester, Festspiele und Privattheater) ist in Abbildung 6 aufgeführt. Abbildung 6: Zuschussbedarf (umgerechnet in Mio. €) der öffentlichen Theater in Deutschland der Spielzeiten von 1994/95 bis 2003/04

2.150 2.100 2.050 2.000 1.950 1.900 1.850

1994/ 1995/ 1996/ 1997/ 1998/ 1999/ 2000/ 2001/ 2002/ 2003/ 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04

Zuschussbedarf 1.959 2.012 2.022 2.047 2.027 2.029 2.048 2.102 2.144 2.106 der öffentl. Theater (in Mill. €)

Wie die Abbildung zeigt, blieb der Zuschussbedarf über mehrere Jahre hinweg konstant. Nach einem kurzen Anstieg in den Spielzeiten 2001/02 und 2002/03 sank der Zuschussbedarf in der Spielzeit 2003/04 sogar wieder. Insgesamt erhöhte sich der Zuschussbedarf innerhalb von zehn Jahren um ca. 150 Mio. €. Das ergibt im Durchschnitt eine jährliche Steigerung von ca. 0,7 % und liegt damit unter den durchschnittlichen Inflationsraten (2004: 1,6 %) der letzten zehn Jahre. Demnach kann man festhalten, dass die Zuschüsse der öffentlichen Hand an die Theater trotz steigender Gesamtbeträge de facto leicht gesunken sind. Folglich sind die Theater gezwungen, mit ihren Mitteln sehr wirtschaftlich umzugehen. Allerdings ist die Forderung nach einem wirtschaftlichen Mitteleinsatz leichter erhoben als in die Tat umgesetzt. 82 bis 85 % aller Kosten der öffentlichen Theater sind Personalkosten, die sich nur sehr schwer reduzieren lassen. Dennoch kennen die Theater seit mehr als zehn Jahren einen kontinuierlichen Personalabbau, wie die folgende Statistik belegt:

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Tabelle 17: Personal an öffentlichen Theatern in ausgewählten Spielzeiten Künstlerisches Personal

Technisches Personal

Verwaltungsund Hauspersonal

Summen

1992/93

20.966

17.037

7.159

45.162

1996/97

18.738

15.970

5.744

40.452

2000/01

18.100

16.011

5.383

39.494

2003/04

17.738

15.682

5.187

38.607

Quelle: DBV

Nach dieser Tabelle haben die öffentlichen Theater zwischen 1992/93 und 2003/04 etwa 15 % ihres Personals abgebaut, ohne während dieser Zeit die Leistung merklich zu reduzieren. Selbst wenn die Personalausstattung Anfang der 90er Jahre vielleicht etwas zu üppig war – was sicherlich für die ehemaligen DDR-Theater galt –, ist ein solcher Personalabbau ohne Leistungseinschränkung doch recht beachtlich. Und dennoch können die Theater – trotz sinkender Personalkosten – das Problem der stagnierenden Zuschüsse nicht auffangen, weil sie gleichzeitig auch mit einem kontinuierlichen Besucherrückgang zu kämpfen haben. Zwischen 1994 und 2004 haben die öffentlichen Theater 1,42 Mio. Besucher5 verloren. Dieser Besucherrückgang hat zur Folge, dass der Zuschuss pro Besucher ebenfalls ständig wächst und sogar die 100-€-Marke in bedenkliche Nähe rückt. Dass es bisher noch nicht zu einer wirklich alarmierenden Situation kam, ist allein darauf zurückzuführen, dass die Theater durch ein gezieltes Kostenmanagement und durch ein Anheben der Eintrittspreise den Eigenfinanzierungsanteils im gleichen Zeitraum von 14,1 % auf 16,3 % steigern konnten; immerhin verbergen sich hinter einem Prozentpunkt Eigenfinanzierungsanteil Mehreinnahmen von etwa 25,2 Mio. € (bei Gesamtausgaben der öffentlichen Theater von zur Zeit etwa 2,52 Mrd. €). Hier die Zahlen im Einzelnen:

5 Korrekt handelt es sich nicht um Besucher, sondern um Besuche, da jeder Theaterbesucher bei jedem Theaterbesuch gesondert gezählt wird; über die Zahl der tatsächlichen Theaterbesucher gibt es keine Statistik.

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Tabelle 18: Gesamtbesucherzahl (einschl. Gastspiele), Eigenfinanzierungsanteil und Zuschuss pro Besucher in öffentlichen Theatern Deutschlands zwischen 1994/95 und 2003/04 Gesamtbesucherzahl (in Tausend)

Eigenfinanzierungsanteil (in %)

Zuschuss pro Zuschauer (umgerechnet in €)

1994/1995

23.127

14,1

82,38

1995/1996

23.022

14,6

85,87

1996/1997

22.851

14,7

85,33

1997/1998

22.977

15,1

86,01

1998/1999

22.716

15,3

86,84

1999/2000

22.450

15,7

90,37

2000/2001

22.253

16,0

91,30

2001/2002

21.673

16,1

96,07

2002/2003

22.040

16,4

94,62

2003/2004

21.706

16,3

95,74

Quelle DBV

Höchst unbefriedigend ist hier vor allem der nach wie vor kontinuierliche Anstieg des Zuschussbedarfs pro Besucher. Hier wirken sich der stetige Besucherrückgang und der ebenfalls stetige, wenn auch leichte Anstieg des Gesamtzuschussbedarfs in der Summe doch sehr negativ aus. Diese Entwicklung könnte nur gestoppt werden, wenn mindestens einer der beiden Parameter (Zuschussbedarf oder Besucherzahl) umgekehrt würde. Würde beispielsweise die Besucherzahl noch auf dem Niveau der Spielzeit 1994/95 stehen, betrüge in der Spielzeit 2003/04 der Zuschussbedarf pro Besucher – trotz eines gestiegenen Zuschussbedarfs – nur 91,06 € (statt 95,74 €). Neben dem Besucherrückgang ist aber auch die zunehmende Praxis vieler Theater, Tickets kostenlos oder stark verbilligt abzugeben (sog. Dienstkarten und Steuerkarten), eine der Ursachen für den steigenden Zuschussbedarf pro Zuschauer, weil damit vor allem der Anteil der in vollem Umfang zahlenden Zuschauer abnimmt. Nach einer Erhebung des Magazins Focus vom 20. September 2004 stellte sich dies in der Saison 2002/03 in ausgewählten deutschen Schauspielhäusern wie folgt dar:

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Tabelle 19: Kostenlose oder stark verbilligte Eintrittskarten in ausgewählten Schauspielhäusern in der Saison 2002/03 Besucher insgesamt

davon stark verbilligt

Prozentualer Anteil

Volksbühne Berlin

171.294

38.993

22,8 %

Schauspielhaus Hamburg

173.975

39.530

22,7 %

Schauspiel Frankfurt/Main

108.391

23.997

22,1 %

Deutsches Theater Berlin

161.716

28.897

17,9 %

Münchner Kammerspiele

111.124

18.005

16,2 %

Quelle: Focus 39/2004

Offensichtlich ist das Bestreben, ein Haus voll zu bekommen, stärker ausgeprägt als das Bemühen um eine gute wirtschaftliche Bilanz. Wenn ein Fünftel aller Theaterbesucher nur noch einen symbolischen Preis zahlt, ist der Anstieg des Zuschussbedarfs je Zuschauer beim besten Willen nicht umkehrbar. Setzt sich die Entwicklung aber fort, so wird schon in wenigen Jahren ein Zuschussbedarf pro Besucher in Höhe von 100 € erreicht sein. Das aber wird dann zu politischen Problemen führen, weil eine solche Bezuschussung angesichts der wohl weiterhin bestehenden Finanznöte der öffentlichen Hand nur schwer zu legitimieren wäre. Man darf nämlich bei aller Euphorie über die wirklich gute Arbeit der öffentlichen Theater auch nie außer Acht lassen, wie die Dinge sich darstellen, wenn man die Daten einmal mit weniger Wohlwollen betrachtet. Dann stellt sich nämlich heraus, dass bei weitem die meisten Theaterbesucher Mehrfach-Besucher sind, d.h. sie haben entweder ein Abonnement oder kaufen sich des Öfteren eine Einzelkarte. Damit aber verkleinert sich der Anteil der Bevölkerung, der regelmäßig ins Theater geht, noch mehr, was wiederum bedeutet, dass die hohen öffentlichen Zuschüsse letztlich für einen relativ kleinen Teil der Bevölkerung gezahlt werden. Wie lange sich dies in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, sinkender Sozialleistungen und hoher Verschuldung der öffentlichen Hand auch gegenüber Kritikern wirklich vertreten lässt, ist nur schwer zu prognostizieren. Das sich hier abzeichnende politische Konfliktpotenzial entschärft sich allerdings, wenn man den Theaterbetrieb in Deutschland nicht nur auf die öffentlichen Theater beschränkt. Schließlich gibt es in Deutschland zahlreiche Privattheater, die zwar früher statistisch nicht sonderlich ins Gewicht fielen, die aber heute zusammen mit den Musicaltheatern etwa ein Drittel aller

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Theaterbesucher stellen. Der Deutsche Bühnenverein verfolgt deshalb schon seit Jahren die Strategie, stets von den Gesamtbesucherzahlen der öffentlichen und privaten Theater zu sprechen und dieser Summe die Summe der öffentlichen Zuschüsse gegenüberzustellen. Doch ist diese Strategie nur allzu durchsichtig, weil die Besucherzahlen der Privattheater zwar hoch, deren Zuschüsse von der öffentlichen Hand aber niedrig sind; sie machen nur etwa 3,2 % aller öffentlichen Theaterzuschüsse aus (vgl. Tab. 16). Hier die Besucherzahlen der öffentlichen und privaten Theater im Vergleich: Tabelle 20: Besucherzahlen der öffentlichen Theater (einschl. Gastspiele) und Privattheater in Deutschland zwischen 1994/95 und 2003/04 Spielzeit

Besucherzahlen (in Tausend) öffentliche Theater

Privattheater

Summen 32.206

1994/95

23.127

9.079

1995/96

23.022

10.511

33.533

1996/97

22.581

11.651

34.232

1997/98

22.977

11.431

34.408

1998/99

22.716

11.097

33.813

1999/00

22.450

10.808

33.258

2000/01

22.253

11.374

33.627

2001/02

21.673

11.358

33.031

2002/03

22.040

11.250

33.290

2003/04

21.706

11.757

33.463

Quelle DBV

Von leichten Schwankungen abgesehen, zeigt die Summe beider Segmente eine erstaunliche Stabilität. Allerdings darf man nicht übersehen, dass diese Stabilität ausschließlich durch Zuwächse bei den Privattheatern hervorgerufen wird. Noch 1991/92 verzeichneten die Privattheater nur 7,2 Mio. Zuschauer; innerhalb von 13 Jahren konnten sie ihr Ergebnis um mehr als 60 % steigern. Dieser Erfolg ist fast ausschließlich den Musicaltheatern zuzurechnen. Zwar ist auch dort eine Sättigung zu beobachten – die Zuwachsraten vom Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre sind vorüber –, doch verzeichnen diese Theater seit Jahren eine relativ stabile Nachfrage auf hohem Niveau. Selbst die überraschende Insolvenz der Stella AG, der Verzicht auf weitere Neubauten und sogar die Schließung erster Musicaltheater scheinen der Branche nicht wirklich geschadet zu haben.

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6.5 Theatermanagement Die öffentlichen Theater in Deutschland beschäftigten in der Spielzeit 2003/ 04 etwa 38.600 Mitarbeiter. Allein ein Haus wie das Württembergische Staatstheater Stuttgart, das größte Dreispartentheater in Deutschland, beschäftigt rund 1.200 Personen und bewirtschaftet einen Etat von rund 85 Mio. €. Da ist es nicht verwunderlich, dass ein solcher Theaterbetrieb nur mit einem höchst professionellen Management gesteuert werden kann. In der Binnenorganisation eines Theaters sind in aller Regel drei große Bereiche zu unterscheiden, nämlich die Direktionen oder Abteilungen Kunst, Technik und Verwaltung. Diese Gliederung gilt unabhängig davon, ob es sich um ein Theater der öffentlichen Hand oder um ein Privattheater handelt: (a) Direktion Kunst • Ensemble (Schauspieler, im Musiktheater Solisten sowie Chor und Orchester) • Regisseure und Dramaturgen • Bühnenbildner, Kostümbildner, Inspizienten und Souffleusen • künstlerisches Betriebsbüro (Steuerung von Proben- und Aufführungsterminen sowie Verpflichtung von Gästen und Aushilfen) (b) Direktion Technik • Bühnenbereich (Bühnenhandwerker, Beleuchter, Tontechniker und Requisiteure) • Gewandabteilung (Schneiderei, Garderobe und Maskenbildnerei) • Werkstätten (Malerei, Schlosserei und Schreinerei, in größeren Theatern auch Rüstmeister) (c) Direktion Verwaltung • allgemeine Verwaltung (Personal- und Finanzverwaltung, Abonnementbüro und Hauptkasse) • Hausverwaltung (Hausmeister, Pförtner, Kantine) An der Spitze eines Theaters steht der Intendant bzw. in Mehrspartentheatern der Generalintendant. Dem Intendanten obliegt die künstlerische, wirtschaftliche und administrative Leitung eines Theaters sowie die Vertretung des Theaters nach außen. Zweifellos hat der Intendant damit eine außerordentlich starke Stellung, die noch dadurch gestützt wird, dass er sich auf das grundgesetzlich gesicherte Prinzip der Kunstfreiheit berufen kann (Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz). Diese Kunstfreiheit betrifft vor allem die ihm zustehende Gestaltung des Spielplans6, die Einstellung und Entlassung des künstlerischen 6 Dass sich die Freiheit der Spielplangestaltung aus dem Prinzip der Kunstfreiheit

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Personals sowie die Verteilung von Regie- und Dirigieraufgaben. Da diese Aufgaben in aller Regel auch wirtschaftliche Auswirkungen haben, befindet sich der Intendant in einem ständigen Konflikt zwischen künstlerischen und wirtschaftlichen Erwägungen. Für die Beschäftigung der Mitarbeiter des Theaters gelten entsprechende Tarifverträge. So einfach und selbstverständlich dies auch klingt, so verbirgt sich dahinter doch ein regelrechter Tarifdschungel, der erst seit dem 1. Januar 2003 wenigstens ansatzweise gelichtet werden konnte. Bis Ende 2002 galten an den öffentlichen Theatern insgesamt sieben Tarifverträge. Nach zähen Verhandlungen des Deutschen Bühnenvereins mit der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger, der Vereinigung Deutscher Opernchöre und Tänzer sowie der Gewerkschaft ver.di ist es gelungen, die sieben Verträge auf vier zu reduzieren. Die bisher geltenden Tarifverträge für Solisten, Chor, Ballett und künstlerische Bühnentechniker wurden zu einem einheitlichen NV Bühne (Normalvertrag Bühne) zusammengefasst. Bestehen bleiben soll weiterhin der TVK (Tarifvertrag für die Musiker in Kulturorchestern), weil die Orchester organisatorisch häufig selbstständig sind. Darüber hinaus gelten selbstverständlich noch die Tarifverträge für das nicht künstlerische Personal, also der BAT (Bundesangestelltentarif) für die Mitarbeiter in der Verwaltung bzw. das Beamtenrecht sowie die Tarifverträge für die nicht künstlerischen Bühnenarbeiter. Dass es in diesem tarifrechtlichen Durcheinander überhaupt noch zu gemeinsamen Produktionen und Aufführungen kommt, muss dem Außenstehenden fast schon wie ein Wunder erscheinen. Dass es überhaupt besonderer tarifrechtlicher Regelungen für die Theaterangehörigen bedarf, hängt mit einigen Besonderheiten des Bühnenarbeitsrechts zusammen. Die wichtigsten seien kurz genannt: • Befristung der Arbeitsverträge für Bühnenkünstler: Damit will man dem »Abwechslungsbedürfnis« in der Kunst gerecht werden, eine Praxis, die sich aus der Kunstfreiheit ableitet und die auch juristisch abgesichert ist.

des Grundgesetzes ableitet, scheint sich noch nicht bei allen Politikern herumgesprochen zu haben. Nur so lässt sich erklären, dass im September 2005 Kulturpolitiker der Stadt Freiburg im Breisgau die Gemeinden des umliegenden Landkreises Breisgau-Hochschwarzwald mit dem Angebot ködern wollten, dass diesen Gemeinden ein Mitspracherecht bei der Spielplangestaltung eingeräumt werde, falls sie sich an der Finanzierung des Freiburger Theaters beteiligen würden (vgl. Stuttgarter Zeitung vom 8.9.2005).

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• Nichtverlängerungsmitteilung: Sie leitet sich aus der Befristung der Arbeitsverträge ab, d.h. der Intendant kann unter Wahrung bestimmter Fristen einem Angehörigen des künstlerischen Personals zum Ende der Spielzeit mitteilen, dass sein Vertrag nicht verlängert wird; erfolgt keine Nichtverlängerungsmitteilung, gilt der Vertrag automatisch als verlängert. • Beschäftigungsanspruch für Bühnenkünstler: Damit Bühnenkünstler auch Gelegenheit haben, ihr Können unter Beweis zu stellen, haben sie Anspruch auf eine angemessene Beschäftigung. Zwar verzichtet man heute auf eine arbeitsrechtliche Festlegung von Kunstfächern bzw. Rollenfächern (z.B. jugendlicher Liebhaber oder Charakterrolle), doch wird der Beschäftigungsanspruch nach wie vor arbeitsrechtlich abgesichert, indem man zu allgemeinen Rollenbeschreibungen greift (z.B. »kleinere«, »mittlere« oder »große« Rolle). Ohne die Einlösung des Beschäftigungsanspruchs würde dem Schauspieler oder Sänger die Chance genommen, sich künstlerisch zu positionieren und damit seinen Marktwert zu festigen. • Bühnenschiedsgerichtsverfahren: Alle arbeitsrechtlichen Streitigkeiten werden in den ersten beiden Instanzen von eigenen Bühnenschiedsgerichten entschieden; erst in der dritten Instanz werden die Arbeitsgerichte tätig. Ein besonders heikler Bereich im Theatermanagement ist die wirtschaftliche Steuerung. Die Abläufe sind außerordentlich komplex und umfassen sowohl künstlerische als auch administrative Vorgänge, die für das Rechnungswesen kaum mit gleichen Instrumentarien messbar sind. Künstlerische Leistungen in einem transparenten Rechnungswesen zu erfassen, erscheint immer noch vielen Theaterleuten schlichtweg unmöglich. Hinzu kommt die sehr langfristige Planung; größere Opernhäuser haben für ihre Inszenierungen in der Regel einen Planungsvorlauf von fünf Jahren. Das macht eine flexible Reaktion auf veränderte Rahmenbedingungen nahezu unmöglich. Als Folge dieser und anderer Hürden verfügt kaum ein öffentliches oder privates Theater über ein überzeugendes Rechnungswesen mit einer entsprechenden Kostentransparenz. (Ausgenommen sind hier die Musicaltheater, die sich aber – wegen des En-Suite-System – ohnehin in einer bevorzugten Situation befinden.) Noch bis vor wenigen Jahren wusste kaum ein Theater zu sagen, was eine abendliche Aufführung wirklich kostet oder wie hoch der Preis für ein Gastspiel in einer anderen Stadt (ein sog. Abstecher) sein müsste. Da kann es kaum noch verwundern, wenn in Theatern immer wieder das Budget nicht eingehalten wird und wirtschaftliche Missstände lauthals beklagt werden. Um diesem Dilemma abzuhelfen, wurden in jüngster Zeit sehr erfolgversprechende Modelle zur Einführung einer Kosten-Leistungsrechnung an Theatern entwickelt. Auch gibt es bereits erste Erfahrungen mit

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einem professionellen Controlling sowie einem Berichtswesen mit der Qualität eines Managementinformationssystems.7 Angesichts dieser ermutigenden Schritte hin zu einem professionellen und an den Kosten orientierten Rechnungswesen sollten defizitäre »Bugwellen« eigentlich der Vergangenheit angehören. Doch nicht nur die betriebswirtschaftliche Steuerung der Theater erweist sich als ein besonderes Problem, auch die Führung im Sinne der Theaterleitung ist nicht ohne Tücken. Das ergibt sich vor allem durch die höchst unterschiedlichen Personengruppen, mit denen man es im Theater zu tun hat (in den Abteilungen Kunst, Technik und Verwaltung); sie gehen naturgemäß mit je unterschiedlichem Selbstverständnis und jeweils anderen Zielsetzungen an ihre Arbeit heran. Allein in der Person des Intendanten müssen diese unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse gesteuert werden, eine fürwahr nicht leichte Führungsaufgabe. Die Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung hat deshalb schon 1989 in einem Gutachten (Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung: 34ff.) fünf Führungsmodelle entworfen, die bis heute in öffentlichen und privaten Theatern zur Anwendung kommen: (1) Die reine Intendantenführung Der Intendant ist im Innen- und Außenverhältnis der allein verantwortliche Leiter des Theaters. (2) Eingeschränkte Intendantenführung Der Intendant vertritt das Theater allein nach außen. Im Innenverhältnis dagegen sind seine Befugnisse eingeschränkt (beispielsweise durch künstlerische Entscheidungen des Generalmusikdirektors oder administrative Entscheidungen des Verwaltungsdirektors). (3) Gemeinsame Führung mit gemeinsamer Verantwortung Der Intendant vertritt das Theater in der Regel allein nach außen. Im Innenverhältnis sind Intendant und Verwaltungsdirektor gleichberechtigt und bilden mit den Spartendirektoren ein Direktorium. (4) Gemeinsame Führung mit geteilten Verantwortungsbereichen Jeder Spartenleiter hat eigene Befugnisse, vor allem in den künstlerischen Fragen seiner Sparte; die wirtschaftlichen Befugnisse liegen beim Verwaltungsdirektor. Die Abgrenzung der Verantwortungsbereiche erfolgt durch eine Geschäftsanweisung.

7 Geradezu vorbildlich – auch in seiner nachvollziehbaren Transparenz – ist hier die Einführung eines Managementinformationssystems am Theater Ulm, nachzulesen in: Schneidewind 2000.

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(5) Gemeinsame Führung mit gemeinsamen und geteilten Verantwortungsbereichen Über Modell (4) hinausgehend bilden Intendant, Verwaltungsleiter, Generalmusikdirektor und die Direktoren der Sparten zusammen ein Direktorium, das über eine Reihe von Aufgaben gemeinsam entscheidet. Trotz dieser Modelle, die durchaus nicht theoretischer Natur sind, sondern alle irgendwo auch tatsächlich angewendet werden, bleibt immer das Grundproblem der Theaterführung bestehen: Ein Theater dient der Produktion und Vermittlung von Kunst und ist doch gleichzeitig ein relativ großer Wirtschaftsbetrieb mit hohem Kostenaufwand und großem Personalbestand. Damit sind ständig zwei höchst unterschiedliche Zielsetzungen, nämlich die Ermöglichung von Kunst und die Wirtschaftlichkeit des Betriebs, miteinander in Einklang zu bringen. Dass dies nur selten ohne Schwierigkeiten möglich ist, erscheint einsichtig. Erst in jüngster Zeit gewinnt ein weiteres Thema des Theatermanagements an Bedeutung, nämlich das Theatermarketing. Früher beschäftigten sich die Theater diesbezüglich lediglich mit Öffentlichkeitsarbeit und dem Kartenverkauf. Für die Öffentlichkeitsarbeit war in der Regel einer der Dramaturgen verantwortlich, und der Kartenverkauf lag in den Händen der Verwaltung. Doch angesichts sinkender bzw. stagnierender Zuschauerzahlen sowie mit Blick auf die Konkurrenz vor allem der privaten Musicaltheater ist es mit diesen traditionellen Formen der Kontakte zum Zuschauer nicht mehr getan. Auch Theater benötigen heute ein professionelles Theatermarketing, und das ist weit mehr als nur Öffentlichkeitsarbeit. Wie in anderen Bereichen auch umfasst Marketing im Theater die Marketinganalyse, zumindest mit einer Nachfrage- und Konkurrentenanalyse, der präzisen Festlegung der Marketingziele sowie eine operative Planung von Marketinginstrumenten wie Produktpolitik, Preispolitik, Distributionspolitik und Kommunikationspolitik (vgl. Klein 2001). Nur wenn ein Theater weiß, wer sein Publikum ist, kann es auch Entscheidungen zugunsten dieses Publikums fällen. Und nur wenn ein Theater weiß, wer die Konkurrenten sind und in welchen Segmenten diese Konkurrenten eigene Zielgruppensegmente abschöpfen könnten, kann es eine erfolgreiche Zielgruppenarbeit betreiben. Und nur das Theater, das die Veränderungen in der Zusammensetzung des Publikums langfristig beobachtet hat und auch Gründe für ein eventuelles Abwandern des Publikums kennt, wird mit strategischen Mitteln die eigene Zukunft durch Zuschauerbindung sichern können.

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6.6 Theaterkunst und Theaterberufe Bisher wurden die Theater vor allem von ihrem wirtschaftlichen Ergebnis her gesehen. Das ist mit Blick auf ein betriebswirtschaftliches Verständnis des Theaterbetriebs sicherlich auch gerechtfertigt, doch darf es keinesfalls bei dieser Beschränkung bleiben. Wer in einem Theaterbetrieb arbeitet oder wer ein Theater besucht, tut dies wegen der Kunst, die dort produziert und vermittelt wird. Und in der Tat steht ja hinter den 110.943 Veranstaltungen, die in der Spielzeit 2003/04 in öffentlichen und privaten Theatern in Deutschland gezeigt wurden, jeweils ein künstlerisches Ereignis. Um einen ersten Überblick über die Gewichtung der künstlerischen Sparten zu erhalten, sei wieder einmal auf die Statistik des DBV zurückgegriffen, allerdings nur beschränkt auf die Theater der öffentlichen Hand: Tabelle 21: Anzahl der Veranstaltungen in ausgewählten Sparten (ohne Gastspiele) an öffentlichen Theatern in Deutschland zwischen 1990/91 und 2003/04 Spielzeit

Oper

Operette

Musical

Ballett

Schauspiel

Kinderund Jugendtheater

Summen

1990/91

7.115

2.707

2.459

1997/98

6.908

2.171

3.070

2.494

21.778

8.049

44.602

2.730

23.638

9.971

2000/01

6.725

1.775

48.488

3.143

2.648

23.052

9.612

2001/02

6.946

46.955

1.534

2.910

2.539

23.263

9.693

2002/03

46.885

7.045

1.557

2.971

2.650

23.969

10.444

48.636

2003/04

6.575

1.591

2.609

2.644

23.362

9.957

46.738

Quelle DBV

Im Verlauf von fast 15 Jahren zeigt sich, dass die Gesamtzahl der Veranstaltungen – mit Ausnahme der Spielzeit 1990/91 – relativ konstant ist. Doch gibt es innerhalb der Sparten verschiedene Auffälligkeiten. So haben Oper und Operette zum Teil deutliche Rückgänge zu verzeichnen, was vor allem bei der Oper damit zusammenhängen dürfte, dass Opernaufführungen überdurchschnittlich teuer sind und sie deshalb von Sparzwängen als Erste betroffen sind. Deutlich erkennbar ist auch, dass sich die öffentlichen Theater Ende der 90er Jahre ihren Anteil am damaligen Musicalboom sichern wollten; heute ist fast wieder der Stand von 1990/91 erreicht. Dagegen konnten Ballett, Schauspiel sowie Kinder- und Jugendtheater ihren Bestand weitgehend halten. Für die Kreativität und Innovationsfähigkeit eines Theaters ist aber weni-

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ger die Zahl der Aufführungen als vielmehr die Zahl der Neuinszenierungen entscheidend. Allein die Statistik der letzten vier Spielzeiten kommt zu interessanten Aussagen: Tabelle 22: Anzahl der Neuinszenierungen in ausgewählten Sparten öffentlicher Theater in Deutschland zwischen 2000/01 und 2003/04 Spielzeit

Oper, Operette, Musical

Ballett

Schauspiel

2000/01

628

173

1.561

2001/02

641

193

1.659

2002/03

677

190

1.724

2003/04

633

194

1.696

Quelle DBV

Generell lässt sich bis zur Spielzeit 2002/03 ein regelmäßiger Anstieg der Neuinszenierungen beobachten. Die Theater haben sich redlich bemüht, dem Publikum immer häufiger etwas Neues zu bieten. In der Spielzeit 2003/04 gelang dies erstmals nicht mehr, weil der Zuschuss der öffentlichen Hand überraschend um 38 Mio. € zurückgefahren wurde (vgl. Abb. 6). Sollte sich diese Tendenz aus finanziellen Zwängen fortsetzen, so hätte dies für die Theaterkultur allerdings zur Folge, dass das Innovative im Theater immer weniger Raum finden würde, was die Theater gleichzeitig immer langweiliger machte, weshalb ihnen dann die Zuschauer verloren gehen werden, was wiederum die Einnahmen mindert usw. Angesichts dieses Teufelskreises kann es nicht mehr verwundern, dass mancher Theaterintendant inzwischen einen recht verzweifelten Eindruck macht. Diese Problematik wird noch verstärkt, wenn man der Frage nachgeht, welche Stücke inszeniert werden. Im Musiktheater sind die Top Ten der meistgespielten Werke seit Jahren nahezu identisch, darunter allein vier MozartOpern sowie Bizets Carmen und Verdis La Traviata. Mit 34 Inszenierungen und 279.000 Besuchern war auch 2003/04 Mozarts Zauberflöte die unangefochtene Nummer eins unter den Publikumslieblingen. Ähnlich ist die Situation im Schauspiel. Publikumsrenner Nummer eins ist hier seit Jahren Goethes Faust, der auch 2003/04 wieder 23 Inszenierungen erlebte und von 141.500 Theaterfreunden gesehen wurde. Selten einmal, dass ein neues Stück unter die ersten Zehn gerät. Das Publikum will immer die gleichen Stücke sehen und beklagt sich gleichzeitig, dass das Theater langweilig geworden sei. Auch dieser Teufelskreis ist nur schwer zu durchbrechen. Inszenierungen bekannter Stücke, die zu neuen Sichtweisen anregen sollen, werden häufig

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nicht akzeptiert, obwohl es gerade hier immer wieder zu außergewöhnlichen und überaus anregenden Leistungen kommt. Dass ein Haus wie die Staatsoper Stuttgart bereits viermal zur »Oper des Jahres« gewählt wurde, ist vor allem darauf zurückzuführen, dass es dort gelingt, bekannte Opern für den Zuschauer der Gegenwart neu zu entdecken und kreativ zu vermitteln. Um so mehr muss es verwundern, dass Musicaltheater mit einer von der Aufmachung her zwar spektakulären, aber dramaturgisch doch konventionellen Inszenierung, die über Jahre hinweg in der immer gleichen Fassung gezeigt wird, um so vieles erfolgreicher sein können als die meisten öffentlichen Theater. Neben der Neuinszenierung bekannter Werke unternehmen die Theater auch große Anstrengungen, um dem Publikum gänzlich neue Stücke vorzustellen. Zählte man in der Spielzeit 2000/01 nur 23 Uraufführungen, so waren es in der Spielzeit 2003/04 immerhin 43. Zu nennen sind hier vor allem die Uraufführungen im Rahmen der Münchner Biennale und des Stuttgarter Forums Neues Musiktheater mit ihrem oft experimentellen Charakter. Aber auch kleinere Opernhäuser leisten einen bemerkenswerten Beitrag zur Durchsetzung der zeitgenössischen Oper. Zu den Uraufführungen zählen zum Beispiel Detlev Glanerts Die drei Rätsel (Opernhaus Halle), Helmut Oehrings Wozzeck – kehrt zurück (Theater Aachen) oder Dirk D’Ases Einstein. Die Spuren des Lichts (Ulmer Theater). Doch nur selten setzt sich eine neue Oper auf Dauer durch; am ehesten hat noch Helmut Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern eine Chance. Offensichtlich fällt es dem Publikum schwer, neben dem neuen Stoff auch noch eine neue musikalische Sprache zu akzeptieren. Deutlich leichter hat es da das Schauspiel, wo sich zwar das Medium – also die Sprache – auch modernisiert hat, diese Sprache in den Ohren der Zuschauer aber weniger fremd klingt, weil sie sie selbst alle tagtäglich verwenden. Hier ist die Reaktion bisweilen umgekehrt wie in der Oper: während das zeitgenössische Stück sprachlich akzeptiert wird, erscheint manchem die Sprache Schillers schon als unnatürlich. In der Oper aber akzeptiert das Publikum die musikalische Sprache aus der Zeit Schillers, nicht aber die musikalische Sprache der Gegenwart. Folglich können die Schauspielhäuser auf zahlreiche Uraufführungen verweisen; 2000/01 waren es immerhin 245. Und bisweilen ist sogar – siehe Kunst von Yasmina Reza – ein richtiges Erfolgsstück darunter. Doch ist das Interesse an Uraufführungen nicht nur an den nackten Zahlen ablesbar, sondern vor allem auch an den dramatisierten Themen. Stücke wie Falk Richters Electronic City oder Moritz Rinkes Die Optimisten (beide Schauspielhaus Bochum) setzen sich mit den rasanten Veränderungen der Welt auseinander und erreichen damit offensichtlich auch die Fragen, die sich die Besucher stellen. Die Bereitschaft der Theater, vor allem im Schauspiel auf Uraufführungen

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und auf neue Stücke zu setzen, wird maßgeblich beflügelt durch die Bühnenverlage. Dabei handelt es sich um ca. 70 Spezialverlage für literarische Bühnenwerke sowie um die Theaterabteilungen in großen Publikumsverlagen wie S. Fischer, Suhrkamp oder Rowohlt. Die Bühnenverlage bieten ihre neuen Stücke den Theatern an und bemühen sich nicht selten sogar selbst um die richtigen Regisseure und Schauspieler, so dass vor allem den kleineren Theatern häufig ein durchkonzipiertes Angebot gemacht werden kann, auf das sie natürlich leichter zurückgreifen, als wenn sie sich selbst am Autorenmarkt umtun müssten. Für Bühnenautor und Verlag ist diese Zusammenarbeit durchaus attraktiv, denn die Tantiemen, die die Theater an Verlag und Autor zu zahlen haben, sind nicht niedrig. Je nach dem Aufwand, den ein Theater für die Produktion eines neuen Stückes hat, werden Tantiemen in Höhe von 12 bis 18 % einer Tageseinnahme gezahlt. Daraus kann sich bei einem erfolgreichen Stück, das an mehreren Theatern gezeigt wird, durchaus ein interessanter Betrag ergeben. Bemerkenswert ist auch hier, dass die Zusammenarbeit zwischen dem öffentlichen und dem privatwirtschaftlichen Teilbereich des Kulturbetriebs sehr wohl funktionieren kann; die bisweilen konstruierte Unverträglichkeit besteht keineswegs. Auf Theatertreffen messen die Theater ihre Leistungen aneinander und suchen im Wettbewerb nach den Stoffen, die die Menschen bewegen und die diese auch auf dem Theater dargestellt sehen wollen. Wichtigstes Treffen dieser Art ist das Berliner Theatertreffen, das im Mai 2005 Friedrich Hebbels Nibelungen in einer Inszenierung von Andreas Kriegenburg (Münchner Kammerspiele) in den Mittelpunkt stellte. Andere wichtige Inszenierungen des Treffens 2005 waren Frank Wedekinds Lulu (Thalia Theater Hamburg, Inszenierung Michael Thalheimer) und Edward Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf? (Deutsches Theater Berlin, Inszenierung Jürgen Gosch). Von ähnlicher Bedeutung sind die Mühlheimer Theatertage, die 2005 bereits zum 30. Mal stattfanden, die aber – anders als das Berliner Treffen – die Theaterautoren in den Mittelpunkt stellen. Den Dramatikerpreis des Jahres 2005 gewann Lukas Bärfuss mit seinem Stück Der Bus (Das Zeug einer Heiligen). Andere preisgekrönte Autoren und Stücke waren Theresia Walsers neues Stück Die Kriegsberichterstatterin, Fritz Katers Drama zur Massenarbeitslosigkeit 3 von 5 Millionen sowie Roland Schimmelpfennigs Liebes- und Rachedrama Die Frau von früher. Der Erfolg von Theaterkunst hängt ganz wesentlich mit der Qualität der Theaterberufe zusammen. Während der Film beispielsweise auf amerikanische Stars zurückgreifen kann, deren Mitwirkung allein schon den Erfolg garantiert, ist zumindest das Schauspiel auf Akteure aus dem deutschsprachigen Raum angewiesen. Das gilt in etwas abgeschwächter Form auch für die Bereiche Regie und Dramaturgie, nicht dagegen für das Musiktheater und für

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das Ballett, wo zumindest dem Grundsatz nach ein weltweites Potenzial zur Verfügung steht. Zu den Theaterberufen zählen aber auch die bühnentechnischen Berufe sowie alle Handwerksberufe, die an Bühnen ausgeübt werden. Für all diese Berufe gibt es bühnenspezifische Ausbildungswege und Angebote der Weiterqualifizierung. Schauspieler werden in Deutschland an zwölf staatlichen Hochschulen, einer privaten Hochschule sowie an mehr als 60 privaten Schauspielschulen von sehr unterschiedlicher Ausrichtung und Qualität ausgebildet. Die Ausbildung an staatlichen Hochschulen erfolgt in der Regel an Musik- und Theaterhochschulen. Es sind dies die Universität der Künste Berlin, die Folkwang Hochschule Essen, die Hochschulen für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main und Stuttgart, die Hochschulen für Musik und Theater in Hamburg, Hannover, Leipzig, München und Rostock sowie – als reine staatliche Schauspielschule – die Ernst Busch Schauspielschule Berlin. Darüber hinaus bildet die Bayerische Theaterakademie August Everding in München als eigenständige Institution Schauspieler aus. Einzige private Hochschule mit einer Schauspielausbildung ist die Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter.8 Dagegen verbergen sich hinter dem anspruchsvollen Namen der Hessischen Theaterakademie Frankfurt am Main und der Theaterakademie Hamburg lediglich eine etwas andere Organisationsform und bestimmte Formen der Kooperation mit Partnern der bereits vorhandenen Studiengänge der Musikhochschulen in Frankfurt und Hamburg9. Eine echte Theaterakademie, an der alle Theaterberufe erlernt bzw. studiert werden könnten – vom Theaterautor über Regisseur, Dramaturg und Schauspieler bis hin zum Bühnenmeister – gibt es in Deutschland aber nicht. Die staatlichen Schauspielschulen haben häufig die besseren Rahmenbedingungen, nicht zuletzt, weil sie schon aus ihrer Trägerschaft als Hochschulen der öffentlichen Hand heraus einen leichteren Zugang zu den öffentlichen Theatern haben. Gemeinsame Projekte mit Staats- und Stadttheatern gehören deshalb in vielen Schauspielschulen zum Kernbereich der Ausbildung. Dieser Kontakt ist folglich auch von Nutzen, wenn es am Ende der Ausbildung gilt, für die Absolventen ein Engagement zu finden. Entsprechend begehrt sind diese Studienplätze, die allerdings nur in äußerst knapper Zahl 8 Zur Ausbildung der Musiker und Sänger vgl. Kapitel 4.5.4. 9 In Frankfurt wurde die Theaterakademie gegründet, um unter einem gemeinsamen Dach die Zusammenarbeit mit dem Theater Frankfurt zu erleichtern und in Hamburg wurde die Theaterakademie gebildet aus dem Zusammenschluss der an der Musikhochschule vorhandenen Studiengänge zur darstellenden Kunst mit denen des Instituts für Theater, Musiktheater und Film der Universität Hamburg.

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zur Verfügung stehen. Jede der zwölf staatlichen Schauspielen nimmt pro Jahr etwa acht bis zwölf Studienanfänger auf, was angesichts eines Bewerberpotenzials von 500 bis 600 Interessenten, die in jedem Jahr wie eine große Prozession von Hochschule zu Hochschule ziehen, um ihre Aufnahmeprüfungen abzulegen, wirklich recht wenig ist. Die Ausbildung an staatlichen Schauspielschulen dauert in der Regel vier Jahre. In den ersten beiden Studienjahren lernen die jungen Schauspielanwärter Grundlagen wie Sprechen, Bewegen, Fechten, Tanzen usw. Im dritten Studienjahr folgen die Projekte, d.h. die Studierenden spielen komplette Stücke und führen sie öffentlich auf. Das vierte und letzte Studienjahr dient der beruflichen Orientierung, d.h. man bereitet sich durch intensives Rollenstudium auf seine Bewerbungen an den Theatern vor. Während der Studienablauf an den staatlichen Schauspielschulen recht einheitlich ist, kennen die privaten Schauspielschulen eine solche Vergleichbarkeit nicht; Studienanforderungen und Studienverlauf sind dort höchst unterschiedlich. Lediglich die Studiendauer ist weitgehend einheitlich; sie beträgt fast an allen privaten Schauspielschulen drei Jahre und ist damit in der Regel um ein Jahr kürzer als an den staatlichen Hochschulen. Für ihre Leistungen erheben die privaten Schauspielschulen Studiengebühren, die je nach Schule zwischen 225 € und 470 € monatlich betragen; Kosten des Lebensunterhalts und der Miete sind hierin nicht enthalten. Allgemein wird behauptet, dass die Berufschancen der Absolventen privater Schauspielschulen schlechter seien als die der staatlichen, allerdings gibt es dazu keine empirische Erhebung. Während Schauspieler im staatlichen Bereich an Musikhochschulen ausgebildet werden, sind Bühnenbildner an den Kunstakademien angesiedelt. Es sind dies die Kunstakademien oder Hochschulen für Gestaltung in Berlin, Dresden, Düsseldorf, Hamburg, Karlsruhe, Offenbach, München und Stuttgart. Private Hochschulen für Bühnenbild gibt es nicht. Bühnenregie kann man an fünf Schauspielschulen studieren; zusätzlich gibt es Studiengänge am Institut für Angewandte Theaterwissenschaften der Universität Gießen sowie am Institut für Medien- und Theaterwissenschaften der Universität Hildesheim. Ähnlich ist auch die Ausbildung der Dramaturgen geregelt, sie findet entweder an Schauspielschulen oder an theaterwissenschaftlichen Instituten der Universitäten statt. Private Anbieter sind in diesem Bereich kaum vertreten. Allerdings gibt es für Bühnenregie und Bühnendramaturgie nicht nur die vorgegebenen Ausbildungswege. Vielmehr ist dies ein bevorzugtes Feld für so genannte Seiteneinsteiger, die häufig über die Praxis einer Assistenz in diese Berufe hineinwachsen. Bühnentechnische Berufe und Bühnenhandwerker sind Lehrberufe, d.h. hier treten die Theater als Ausbildungsinstitutionen auf, indem sie eigene

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Lehrwerkstätten unterhalten und die Lehrlinge gleichzeitig – entsprechend dem dualen System – eine Berufsschule oder Berufsfachschule besuchen. Häufig ist eine abgeschlossene Lehre in einem Handwerk Voraussetzung, um sich durch eine weitere Ausbildung für die Tätigkeit an einer Bühne qualifizieren zu können. Wichtige Weiterbildungsangebote für den bühnentechnischen Bereich hält die Deutsche Theatertechnische Gesellschaft (DTHG) bereit. Die Berufschancen im Theaterbereich sind sehr unterschiedlich. Während in den bühnentechnischen Berufen und für Bühnenhandwerker die Berufschancen recht gut sind, besteht in allen künstlerischen Berufen ein deutliches Überangebot. Wenn man Zeitungsmeldungen glauben darf, gibt es allein in Berlin zur Zeit fast 5.000 arbeitslose Schauspieler. Angesichts von mehr als 70 Schauspielschulen (staatlichen und privaten) ist ein solches Überangebot auch nicht verwunderlich. Viele Schauspieler suchen deshalb ihre Zukunft in zahlreichen Freien Theatern oder als Alleinunterhalter (Kabarettist, Comedians) bzw. als Sprecher. Gleichwohl steht den zahlreichen arbeitslosen Schauspieler eine eher ungewisse Zukunft bevor. In dieser Situation ist es sicherlich nicht sinnvoll, eine Beschränkung der Ausbildungsmöglichkeiten zu fordern. Weitaus hilfreicher ist es statt dessen, die Qualifikation der Schauspieler schon während des Studiums zu verbreitern, damit sie auch in anderen Feldern außerhalb des engeren Bereichs der Bühne eine berufliche Perspektive sehen. So bereiten die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart und die Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg eine Kooperation vor, um die Bühnenschauspieler gleichzeitig auch als Filmschauspieler ausbilden zu können. Eine gute und breite Ausbildung der künstlerischen Berufe im Bühnenbereich ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, um die Attraktivität des Theaters zu erhalten und möglichst sogar noch zu steigern. Die Vermittlung der jungen Schauspieler (und Sänger) hinein in den Arbeitsmarkt erfolgt entweder durch Direktkontakte zu den Theatern oder über die Zentrale Bühnen-, Fernseh- und Filmvermittlung (ZBF) sowie über die Künstlerdienste (KD). ZBF und KD sind Teile der Bundesanstalt für Arbeit und darin der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung (ZAV) in Bonn unterstellt. Dabei handelt es sich um eine Fachvermittlungseinrichtung für darstellende Künstler, künstlerisch-technisches Personal sowie für Künstler aus den Bereichen Show, Artistik, Unterhaltung und Werbung. Die ZBF veranstaltet einmal jährlich in allen Schauspielschulen das so genannte ZBF- oder Intendantenvorsprechen, bei dem die jungen Schauspieler gleichsam ihre schauspielerische »Bewerbungsmappe« vorlegen. Zudem sind ZBF und KD auch tätig, um bereits im Beruf stehenden Schauspielern und Sängern neue Engagements zu vermitteln, was angesichts der kurzen Dauer fast aller Künstlerverträge relativ häufig vorkommt. 2004 haben ZBF und KD insgesamt über 80.000 Enga-

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gements vermittelt, was den hohen Stellenwert dieser Einrichtungen für die Theaterberufe verdeutlicht. 6.7 Standortbestimmung und Perspektiven Die Darstellung zum Theaterbetrieb hat gezeigt, dass die Situation der Theater in Deutschland zunehmend problematisch ist. Den öffentlichen Theatern fehlen die finanziellen Mittel, die vielen kleinen Privattheater kämpfen aus den verschiedensten Gründen ums Überleben. Die noch vor wenigen Jahren hoch gelobten und fast beneideten Musicaltheater stagnieren und müssen heute so engagiert um die Zuschauergunst kämpfen wie die öffentlichen Theater auch. Trotz der unbefriedigenden Situation müssen aber die beachtlichen Fortschritte im Theaterbetrieb hervorgehoben werden: Theatermanagement und Theatermarketing haben sich auch im öffentlichen Bereich deutlich verbessert, der gefürchtete Tarifdschungel beginnt sich zu lichten, der Eigenfinanzierungsanteil erhöht sich kontinuierlich, Tariferhöhungen konnten nicht selten aus eigenen Mitteln aufgefangen werden und die Besucherzahlen konnten – zumindest in der Gesamtschau – im Wesentlichen gehalten werden. Zudem darf man nicht übersehen, dass die Theater wieder verstärkt nach aktuellen Themen Ausschau halten und ihrem Publikum zunehmend neue Stücke anbieten. Alles in allem sind große Anstrengungen erkennbar, die Theater zu erhalten und zukunftsfähig zu machen. Gleichwohl darf trotz aller Anstrengungen und Erfolge nicht übersehen werden, dass eine Lösung für das Hauptproblem des Theaterbetriebs, nämlich den kontinuierlich steigenden Zuschussbedarf je Besucher, weit und breit nicht in Sicht ist. Doch wäre eine Dramatisierung der Situation fehl am Platze, denn jede Bewertung der Theaterarbeit darf nicht ignorieren, dass sich die ökonomischen und kultursoziologischen Rahmenbedingungen auch für die Theater in den letzten Jahren nachhaltig verändert haben. Dies gilt vor allem für eine völlig neue Situation verschiedenartiger Konkurrenten, mit denen sich die traditionellen Theaterbetriebe auseinander zu setzen haben. Während man sich an die Konkurrenz des Fernsehens längst gewöhnt hat und den Konkurrenten Kino aus dem Feld geschlagen glaubte, erlebt Letzterer mit den Multiplexen eine Renaissance, die den modischen Formen des Kulturkonsums in der Erlebnisgesellschaft sehr entgegenkommt. Die Konkurrenz der Musicaltheater wurde schon angesprochen. Nicht übersehen werden darf auch, dass die zahlreichen Festspiele Konkurrenten sind und selbst erste Freizeitparks im Wettbewerb um das Theatererlebnis mitzumischen versuchen (z.B. im Nachbau von Shakespeares Globe Theatre im Freizeitpark Rust). Aus alledem darf man schließen, dass die Situation vor allem für die öffentlichen Theater in Zukunft keineswegs leichter werden wird.

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Hinzu kommt, dass viele Theaterkritiker auch glauben, eine künstlerische Stagnation feststellen zu können. Trotz aller anerkennenswerten Bemühungen, von denen auch bereits die Rede war, tut sich das Theater offensichtlich schwer mit der Herausforderung, auf – im besten Sinne des Wortes – unterhaltsame Weise jene Themen aufzugreifen und auf der Bühne umzusetzen, die die Menschen wirklich bewegen. Das muss nicht allein ein Problem des Theaters sein, es kann auch ein Problem der Theaterautoren sein; wie bereits im Kapitel über den Literaturbetrieb angesprochen, kennen wir in Deutschland keine etablierte Ausbildung von Autoren, d.h. das Wichtigste was ein Theater braucht, nämlich gute Stücke, wird dem Zufall und der Eigendynamik des Literaturbetriebs überlassen. Wie bereits gesagt, man sollte nichts dramatisieren! Aber wenn man die Situation der Theater, und hier vor allem die der öffentlichen Theater in Form der traditionsreichen Staats- und Stadttheater, einmal nüchtern und ohne den Optimismus eines Theaterfreundes darstellt, so bietet der Blick in die Zukunft weit mehr Anlass zur Sorge als zur Zuversicht. Zwischen 1994 und 2004 haben die öffentlichen Theater 1,42 Mio. Besucher verloren. Mit 21,7 Mio. Besucher in der Spielzeit 2003/04 nähern sich die öffentlichen Theater wieder dem Niveau von 1991/92 (20,1 Mio.), als die Theaterszene in den neuen Bundesländern zusammenzubrechen drohte und die Situation allgemein als hochdramatisch angesehen wurde. Das vorübergehende Wiedererstarken der öffentlichen Theater Mitte der 90er Jahre ist weitgehend wieder verpufft; eine Trendumkehr ist nicht erkennbar. Diese Entwicklung ist nicht eine Folge der ausführlich geschilderten Finanzierungsprobleme, sondern umgekehrt: der kontinuierliche Rückgang der Besucherzahlen verstärkt Jahr für Jahr die Finanzierungsprobleme. Dafür ist der steigende Zuschussbedarf je Besucher ein untrüglicher Indikator. Nicht zuletzt muss der Anstieg des Durchschnittsalters der Theaterbesucher (vgl. auch Abschnitt 4.6) in hohem Maße beunruhigen. Aus kulturwissenschaftlicher und kultursoziologischer Sicht ist in diesem Fall die These von Interesse, dass das öffentliche Theater seine größte Zeit in der Phase zwischen etwa 1880 und 1980 hatte. Vor allem die 20er Jahre, aber auch die ersten 20 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg waren die große Zeit des Theaters. Doch seit Mitte der 80er Jahre laufen die Moden des Kulturkonsums dem Selbstverständnis des Theaters entgegen. Das Angebot des Theaters wird zunehmend abgelöst durch Angebote, die die Erlebnis- und Unterhaltungsbedürfnisse des Publikums auf mehreren Ebenen ansprechen und die nach dem Stress des Berufsalltags vor allem Entspannung und passive Unterhaltung bieten. Nicht mehr die tradierte dramatische Form scheint nachgefragt zu sein, sondern das aus den Medien gewohnte Format. Nur so kann man die große Nachfrage nach Karten für die Aufzeichnung von Fern-

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sehshows erklären bzw. nach Veranstaltungen, die nach dem Muster bekannter Fernsehshows ablaufen. Allem in allem scheint das Theater an vielen Stellen zu kranken bzw. mit den Herausforderungen einer veränderten Umwelt immer weniger zurecht zu kommen. Und dennoch bieten sich dem Theater weiterhin wunderbare Chancen, wenn es ihm gelingt, die Einzigartigkeit des Theaterbesuchs herauszustellen und zu vermitteln. Es ist in unserer Fernsehgesellschaft mit ihrer Konservenkost, ihren nach immer gleichen Mustern ablaufenden Aufzeichnungen und peinlichen Remakes das einzige Medium, das mit großem Aufwand an Phantasie, Technik und Können wirklich von sich sagen kann: »immer live!« 6.8 Internetadressen und Standardwerke http://www.buehnenverein.de/ Deutscher Bühnenverein http://www.dthg.de/ Deutsche Theatertechnische Gesellschaft (Fachverband für alle technischen Berufe im Bereich Theater, Film, Fernsehen, Show und Event) http://www.freie-theater.de/ Bundesverband Freier Theater e.V. http://www.theatermanagement-aktuell.de/ Informationsdienst für Theatermanagement http://theaterheute.de/ Theaterheute (wichtige Theaterzeitschrift mit dem Schwerpunkt Theaterkritik) http://www.die-deutsche-buehne.de/ Die deutsche Bühne (wichtige Fachzeitschrift, hrsg. vom Deutschen Bühnenverein, mit dem Schwerpunkt Theaterpolitik und Theatermanagement) http://www.theatertexte.de/ Datenbank für Theaterstücke vom Verband Deutscher Bühnen- und Medienverlage

Brauneck, Manfred/Schneilin, Gérard (Hrsg.) (1992): Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles, 3. Aufl., Reinbek bei Hamburg Büscher, Barbara/Schlewitt, Carena u.a. (Hrsg.) (1991): Freies Theater. Deutsch-deutsche Materialien, Hagen Doll, Hans-Peter/Erken, Günter (1985): Theater. Eine illustrierte Geschichte des Schauspiels, Stuttgart, Zürich Fischer-Lichte, Erika (1993): Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen Kurz, Hanns (1999): Praxishandbuch Theaterrecht, München Röper, Henning (2006): Handbuch Theatermanagement. Betriebsführung, Finanzen, Legitimation und Alternativmodelle, 2. Aufl., Köln, Wien

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Unter allen Kunstsparten im Kulturbetrieb ist der Film die jüngste. Zwar gibt es in allen Sparten neue Ausdrucksformen – wie beispielsweise die Kunst der Neuen Medien in der Sparte bildende Kunst oder Jazz in der Sparte Musik –, doch der Anspruch einer eigenständigen Sparte, die nicht Teil einer anderen Sparte ist, kommt nur dem Film zu. Entsprechend attraktiv war der Film in der Zeit seiner Entstehung und Etablierung im 20. Jahrhundert, und dies über viele Jahrzehnte hinweg. Nach einer schweren Krise zwischen dem Ende der 70er und der Mitte der 90er Jahre konnte sich der Filmbetrieb im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts wieder festigen. Dieser Erfolg ist vor allem auf Innovationen im Kinobetrieb zurückzuführen, weit weniger auf künstlerische oder ästhetische Erneuerungen. Dank dieser Entwicklung konnte sich zumindest der Kinobereich wieder recht gut stabilisieren; dagegen mangelt es in der Filmproduktion und im Filmverleih in Deutschland weiterhin an stabilen und leistungsfähigen Strukturen. Dass Deutschland in den 20er Jahren einmal die führende Filmnation der Welt war, ist heute nur noch Geschichte. 7.1 Rückblende Am Anfang der Geschichte des Filmbetriebs steht eine technische Erfindung: 1889 erfand Thomas Alva Edison (1847-1931) das perforierte Filmband sowie 1891 den Kinetographen, mit dessen Hilfe erste Filmaufnahmen gemacht werden konnten, die über ein Betrachtungsgerät, das Kinetoskop, vorgeführt wurden. Allerdings hatte das Kinetoskop den Nachteil, dass jeweils nur eine Person auf das Betrachtungsgerät schauen konnte. Diesen Nachteil versuchten die Brüder Skladanowsky 1895 mit ihrem Bioskop wettzumachen, in dem über zwei Projektoren in schnellem Wechsel Einzelbilder von zwei Filmen an eine Wand projiziert wurden. Technisch überzeugender war aber der Cinématograph der Brüder Auguste (1862-1954) und Louis Lumière (1864-1948), weil hier der Film über ein einziges Gerät aufgenommen und vorgeführt werden konnte. Die revolutionäre Neuerung bestand darin, dass der Film über einen Greifer ruckartig (intermittierend) transportiert werden konnte und dadurch jedes Filmbild für den Bruchteil einer Sekunde stehen blieb. Durch die schnelle Abfolge von 16 Bildern pro Sekunde entstand für den Betrachter auf der Leinwand der Eindruck der Bewegung. Dieses Prinzip wird bis heute verwendet, wenn auch technisch auf vielfache Weise verfeinert. Deshalb gilt der 28. Dezember 1895, als die Brüder Lumière im Pariser »Grand Café« erstmals

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mit ihrem Cinématographen öffentlich einen Film vorführten, als die Geburtsstunde des Film und des Kinos.1 Die Brüder Lumière waren nicht nur begnadete Erfinder, sondern auch erfolgreiche Geschäftsleute, weshalb ihnen sehr daran lag, ihren Cinématographen möglichst schnell gewinnbringend einsetzen zu können. Einen Franc kostete eine Filmvorführungen im »Grand Café«, zu der die Menschen bald Schlange standen, um sich mit kurzen Alltagsszenen und Schaubudenszenen unterhalten zu lassen. Da es den Brüdern Lumière zudem gelang, dass Patent ihres Cinématographen geheim zu halten, verpachteten sie ihre Geräte lediglich an Lizenznehmer. Bereits 1896 gab es Filmvorführungen in Brüssel, Madrid, St. Petersburg, Köln, Bombay, Sidney, Shanghai, Mexiko City und Alexandria. Erst 1897 verkauften sie das Patent erstmals auch an einen anderen Gerätehersteller, nämlich den Fabrikanten Charles Pathé. Er war es, der dem Film und damit auch dem Filmbetrieb zum endgültigen wirtschaftlichen Durchbruch verhalf. Bemerkenswert ist hier, dass dieser Durchbruch von Geschäftsleuten erzielt wurde und damit vor allem ökonomisch motiviert war. Die künstlerischen Möglichkeiten des neuen Mediums wurden erst etwa zehn Jahre später entdeckt. Das erklärt vielleicht, weshalb der Filmbetrieb bis heute weit mehr ökonomischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt als beispielsweise die Sparten Theater, Musik, bildende Kunst und Literatur. Eine weitere Geschäftsidee verhalf dem Film in den USA zum Durchbruch. Während in Europa das Wanderkino bevorzugt wurde – bedingt durch das Lizenzmonopol der Brüder Lumière –, entstanden in den USA um 1900 die ersten ortsfesten Kinos, die man als Nickelodeons bezeichnete, weil man dort für einen »Nickel«, also für 5 Cent, einen etwa eine Viertelstunde dauernden Spielfilm sehen konnte. Da Film und Publikum häufig wechselten, konnten in den größeren Nickelodeons täglich bis zu 8.000 Personen das Kino besuchen. Wenn man bedenkt, dass Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts allein in den USA bereits 10.000 Nickelodeons bestanden, wird deutlich, welch riesiger Wirtschaftszweig innerhalb kürzester Zeit entstand. In den Nickelodeons war vor allem der chase film beliebt, also Filme mit wilden Verfolgungsjagden. Auch diesem chase film liegt eine technische Erneuerung zugrunde, weil die Kamera hier nicht mehr nur Bewegung dokumentierte, sondern als bewegte Kamera selbst ein Teil dieser Bewegung war – mit entsprechender Wirkung auf die Zuschauer. Damit hatte der Film die Nähe zum Theater überwunden und wurde endgültig zu einer eigenständigen künstlerischen Sparte. Während in den USA die Nickelodeons florierten, setzte man in Europa 1 Zur Geschichte des Films vgl. Faulstich/Korte 1995, Rother 1997 und NowellSmith 1998.

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zunächst noch auf die so genannten Wanderkinematographen, die mit ihrer Geräteausstattung und ihren Filmen von Stadt zu Stadt zogen. Erst ab etwa 1905 setzten sich auch hier die festen Filmtheater durch. Durch die hohe Zahl der Filmtheater in den USA und in Europa entstand die Notwendigkeit des Filmverleihs, weil die Kinos die Filme nicht erwerben konnten und wollten. Entscheidenden Anteil an der Entwicklung des Filmverleihs hatte der bereits erwähnte französische Konzern Pathé Frêres, der zugleich auch als Filmproduzent auftrat. Pathé Frêres dominierte 1914 sowohl den amerikanischen als auch den europäischen Markt und erwirtschaftete dabei zuletzt einen Jahresumsatz von 30 Mio. Franc. Um 1910 entstanden die ersten abendfüllenden Langfilme, für die die auf schnellen Publikumswechsel ausgelegten Nickelodeons ungeeignet waren. Deshalb wurden in den USA und in Europa erste Filmtheater und Kinopaläste mit 1.000 und mehr Zuschauerplätzen gebaut. Das Kino wurde damit – sowohl was die Dauer des Programms als auch was das Ambiente betraf – zu einer ernsthaften Alternative des Theaters. Innerhalb von nur 15 Jahren hatte sich der Film von seinen zaghaften Anfängen zu abendfüllenden Spielfilmen in eigens dafür gebauten Kinopalästen entwickelt, wo ein Millionenpublikum sich von den bewegten Bildern faszinieren ließ. Ein neuer Wirtschaftszweig war entstanden, der eine nicht unerhebliche Eigendynamik entwickelt hatte. Der wirtschaftliche Erfolg machte es aber auch erforderlich, das Publikum mit immer neuen Produkten für sich zu gewinnen. Da die Möglichkeiten der vordergründigen Unterhaltung nach Art des chase films bald ausgereizt waren, entstand der Wunsch nach auch künstlerisch wertvolleren Spielfilmen. Die Wege, die der junge Filmbetrieb dazu ging, waren höchst unterschiedlich. In Frankreich gründeten die Brüder Lafitte 1907 eine Gesellschaft für Kunstfilme, die sich auf Literaturverfilmungen in der Art des Theaters konzentrierte. In Italien spezialisierten sich Filmproduzenten auf die Verfilmung historischer Stoffe in aufwendigen Monumentalfilmen. 1914 erschien mit Cabiria der teuerste Film vor dem Ersten Weltkrieg, in dem Massen von Komparsen, Elefanten und Kamelkarawanen zum Einsatz kamen. Die dänische Nordisk Films Compagni drehte 1907 einen ersten Safari-Film. In den USA drehte Edwin S. Porter 1903 den Film Der große Eisenbahnraub, der als der erste Western der Filmgeschichte gilt. In den USA hatte sich ein von Edison angeführtes Filmkartell MPPC gebildet, das vor allem über den Weg der technischen Patente den Markt zu beherrschen versuchte. Doch die Monopolisierung misslang, da die unabhängigen Filmproduzenten aus dem Umfeld der Kinobesitzer die Bedürfnisse des Publikums besser einschätzen konnten und deshalb mit ihren Produktionen weit erfolgreicher waren als die auf Patentbeherrschung ausgerichtete MPPC. Um sich dem Zugriff der MPPC zu entziehen, gründeten die unabhängigen

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Filmproduzenten 1908 in der Nähe von Los Angelos ein eigenes Filmstudio, wo sie bei beständig gutem Wetter ideale Drehbedingungen fanden und wo 1914 bereits 50 % aller weltweit vertriebenen Filme hergestellt wurden: Hollywood war geboren! Angesichts des schnellen Aufstiegs von Hollywood hatte der Erste Weltkrieg (1914-1918) für die europäischen Filmproduzenten verheerende Wirkungen. Der künstlerisch dominierende französische Film kam ebenso zum Erliegen wie der innerhalb seines Genres dominierende italienische Monumentalfilm. Zwar gelang in den 20er Jahren nochmals eine vorübergehenden Dominanz des europäischen Films, doch hat die bis heute bestehende Vorherrschaft von Hollywood zweifelsfrei ihren Ursprung darin, dass die europäischen Produktionsfirmen gerade in jenem Augenblick durch den Weltkrieg geschwächt wurden, als es zum entscheidenden Kräftemessen zwischen Hollywood und dem europäischen Film kam. In Deutschland, worauf sich die weitere Darstellung nun konzentrieren wird, entdeckte man während des Kriegs den Film als Propagandamittel. Dazu wurde 1917 von Generalquartiermeister Erich Ludendorff die Universum Film AG (Ufa) in Potsdam-Babelsberg gegründet. Die Person des Gründers und die Tatsache, dass die Gründung auf Veranlassung der Reichsregierung und mit Kapital des Deutschen Reiches erfolgte, zeigen deutlich, welchen Zwecken diese Produktionsgesellschaft vorrangig dienen sollte. Konkret wurden die drei Filmunternehmen Nordisk Film Company, der Meester-Konzern und die Projektions AG zusammengelegt und die neue Gesellschaft mit einem Aktienkapital von 25 Mio. Reichsmark ausgestattet. Aktionäre waren neben der Reichskasse auch die Deutsche Bank sowie Reedereien und Industriekonzerne. Doch trotz der recht befremdlich erscheinenden Gründungsgeschichte muss rückblickend konstatiert werden, dass die Ufa außerordentlich erfolgreich war und den Filmbetrieb in Deutschland über Jahrzehnte prägen sollte. Mit Hilfe der Ufa wurde Deutschland zum künstlerisch bedeutendsten Filmland der 20er Jahre. Vor allem die expressionistischen Filme der Regisseure Robert Wiene (1873-1938), Friedrich Wilhelm Murnau (1888-1931), Paul Wegener (1878-1948) und Fritz Lang (1890-1976) prägten mehrere Jahre die aktuelle Filmkunst. Gleichzeitig schuf Ernst Lubitsch (1892-1947) seine ersten Filmkomödien, während Georg Wilhelm Pabst (1885-1967) mit psychoanalytischen Filmen eine völlig andere Stilrichtung einschlug. Fritz Lang gelang zudem 1926 mit Metropolis der erste utopische Monumentalfilm. Andere Regisseure suchten zeitgenössische Tendenzen in der bildenden Kunst (Kubismus, Neue Sachlichkeit, Dadaismus, Surrealismus) auch im Film umzusetzen. Insgesamt erlebte der Film in den 20er Jahren in Deutschland eine einzigartige Blüte, die vorrangig künstlerisch geprägt war, die aber auch durch die zu-

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nehmend erstarkende Ufa ermöglicht wurde, die sich zu einem Konzern mit 71 Tochterunternehmen entwickelt hatte. Ab 1927 setzte sich auch in Deutschland der Tonfilm durch und ließ schlagartig alle Stummfilme veralten. Was sich hier so leicht sagt, verdeckt kaum die damit verbundene soziale Katastrophe. Innerhalb kürzester Zeit waren 12.000 Kinomusiker, die die Stummfilme am Klavier, an der Kinoorgel oder in so genannten Kinoorchestern musikalisch begleitet hatten, arbeitslos. Ein ähnliches Schicksal traf auch zahlreiche Filmschauspieler, denen es an der erforderlichen Mikrofon-Stimme fehlte oder die sich auf die nun völlig andere schauspielerische Gestik nicht mehr einstellen konnten. Die Ufa konnte das damit verbundene finanzielle Fiasko nicht überleben und musste deshalb 1927 an den Zeitungsverleger Alfred Hugenberg verkauft werden. Hugenberg machte die Ufa in den 30er Jahren zu einer deutschnationalen Filmgesellschaft und stellte sie willig der nationalsozialistischen Propaganda zur Verfügung. Dennoch entstanden in den ersten Jahren auch der Hugenberg’schen Ufa noch bemerkenswerte Filme, die vorwiegend Literaturverfilmungen waren und damit die Popularität eines anderen Mediums für Zwecke der Filmindustrie nutzten. Zu nennen ist hier beispielsweise der 1930 entstandene Film Der blaue Engel von Josef von Sternberg (1864-1969) mit Emil Jannings und Marlene Dietrich nach dem Roman Professor Unrat von Heinrich Mann. Als Kino der Neuen Sachlichkeit drehte G.W. Pabst 1928 Die Büchse der Pandora nach Frank Wedekind, und Phil Jutzi verfilmte 1931 Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz. Auch Bertolt Brecht entdeckte die Filmbranche: 1931 wurde seine Dreigroschenoper verfilmt, und 1932 schrieb er für den sozialkritischen Film Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt das Drehbuch. Zu den erfolgreichsten und bis heute bekanntesten Filmen jener Zeit gehört Fritz Langs 1931 entstandenes Werk M – eine Stadt sucht einen Mörder mit Peter Lorre als gejagtem Mörder und Gustaf Gründgens als Gangsterchef »Schränker«. Fritz Langs Film thematisiert bereits die Gewaltbereitschaft unmittelbar vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten und die Parallelen in den Handlungsweisen der Gangster und des Staates. Mit Blick auf die bereits damals sehr starke NSDAP wurde der ursprünglich vorgesehene Titel Mörder unter uns abgeändert. Es kann nicht verwundern, dass Fritz Lang als einer der ersten Filmregisseure 1933 Deutschland verließ. Neben den großen Kunstfilmen standen zahlreiche, höchst erfolgreiche Unterhaltungsfilme, die deutsche Stars wie Marlene Dietrich, Willy Fritsch, Lilian Harvey, Heinz Rühmann, Zarah Leander, Marika Rökk oder Willi Forst zu einzigartiger Popularität verhalfen. Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten produzierte die Ufa zunehmend auch Filme, die unverhohlen im Dienst nationalsozialistischer Propaganda standen. Bevorzugte Themen

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waren Führerfiguren, in deren Filmleben Ideale wie Opferbereitschaft und Hingabe an das Vaterland verherrlicht wurden, oder auch Filme, die den Krieg als Bewährungsprobe für allerlei Helden zeigen. Sowohl die Unterhaltungsfilme als auch die nationalsozialistischen Heldenfilme erwiesen sich noch während des Krieges als gut funktionierende Mittel, um von den Schrecken der Wirklichkeit abzulenken. Daneben gab es auch eindeutig propagandistische Filme wie beispielsweise Triumph des Willens (1934) von Leni Riefenstahl, Hitlerjunge Quex (1933) von Hans Steinhoff oder Jud Süß (1940) von Veit Harlan. Regisseure wie Ernst Lubitsch und Friedrich Wilhelm Murnau verließen schon während der Weimarer Republik, Fritz Lang und Max Ophüls 1933 Deutschland und fanden in Hollywood Beachtung und internationalen Erfolg. Die dominierende Rolle, die der deutsche Film in den 20er Jahren weltweit hatte, verlagerte sich nicht zuletzt wegen der neuen »Filmpolitik« der seit 1937 verstaatlichten Ufa nach Amerika – eine Entwicklung, die seither nicht mehr umkehrbar ist. Mit den Western-Klassikern von John Ford (1895-1973) ab 1939 und dem bis heute weltweit erfolgreichsten Film Gone with the wind (ebenfalls 1939) von Victor Fleming (1883-1949), dem ersten großen Farbfilm, festigte Hollywood noch im gleichen Jahrzehnt seine bis heute bestehende Vormachtstellung. Der Verstaatlichung der Ufa 1937 folgte auch eine Verstaatlichung der übrigen Filmgesellschaften Tobis, Bavaria und Wien-Film. Sie wurden 1942 zur staatlichen Ufa-Film GmbH (Ufi) zusammengelegt, so dass sich nun alle großen deutschen und österreichischen Filmgesellschaften in staatlicher Hand befanden. Allein im Filmbereich beschäftigte das Deutsche Reich damals mehr als 10.000 Personen. Angesichts der politischen Rolle der Ufa war an einen Fortbestand nach 1945 nicht zu denken. 1946 wurde zunächst in der sowjetischen Besatzungszone in Potsdam-Babelsberg die Deutsche Film AG (DEFA) gegründet. 1953 folgte eine Entflechtung des Ufa-Film Konzerns in die eigenständigen Unternehmen Bavaria Filmkunst GmbH München, die Ufa Theater AG (seit 2003 Teil der Cinestar-Kinokette) und Universum Film AG Berlin (seit 1964 Teil des Bertelsmann-Konzerns). Innerhalb des Bertelsmann-Konzerns wird der Name Ufa in verschiedenen Konzerntöchtern bis heute beibehalten. Die DEFA wurde nach der Deutschen Einheit 1990 und 1992 privatisiert und in andere Gesellschaften überführt (vor allem in die Taurus Beteiligungsgesellschaft des Kirch-Konzern sowie die französische CGE-Gruppe). Nach 1945 fand der Film in Deutschland sehr schnell wieder großen Zuspruch, weil er vor allem als Unterhaltungsfilm half, das Elend der Nachkriegszeit wenigstens vorübergehend zu vergessen. Zudem war der Film zunächst noch völlig unbehelligt von der Konkurrenz des Fernsehens, so dass er

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sich sehr schnell wieder zu einer festen Größe im Kulturleben entwickeln konnte. Schon 1949 wurden 62 deutsche Spielfilme hergestellt; 1955 waren es bereits 128. Im gleichen Zeitraum verachtfachte sich die Zahl der Kinositzplätze auf 3 Millionen. Allein in der Bundesrepublik (ohne die DDR) zählte man 1956 insgesamt 830 Mio. Kino-Besuche. Künstlerisch und thematisch sind im Filmangebot der Nachkriegszeit und der 50er Jahre vor allem drei Bereiche zu unterscheiden. Da war zunächst der Versuch, mit künstlerischen deutschen Filmen wieder an die Tradition der 20er und frühen 30er Jahre anzuknüpfen. Dafür standen hervorragende Regisseure zur Verfügung wie Max Ophüls (1902-1957), Helmut Käutner (19081980), Wolfgang Liebeneiner (1905-1987), Wolfgang Staudte (1906-1984), Kurt Hoffmann (1910-2001), Rolf Thiele (1918-1994) oder Bernhard Wicki (1919-2000). Bei weitem die meisten der Filme, die an die künstlerische Qualität der Weimarer Zeit anknüpfen wollten, setzten sich mit der jüngeren Vergangenheit im Nazi-Deutschland und der Situation der unmittelbaren Nachkriegszeit auseinander. Der zweite Komplex der westdeutschen Filmproduktionen der 50er Jahre waren die Heimatfilme, übrigens das einzige originär deutsche Filmgenre. Sie vermittelten wenigstens für ein paar Stunden jene heile Welt, nach der sich die Nachkriegsdeutschen zwischen Trümmern und Wiederaufbau so sehr sehnten. Allein den 1955 gedrehten Film Der Förster vom Silberwald sahen innerhalb der ersten drei Jahre in Westdeutschland und Österreich 22 Mio. Kinobesucher. Vor allem mit Blick auf die Millionen Heimatvertriebenen hatte der Heimatfilm auch eine hohe politische Bedeutung, sollte er den Heimatlosen doch auch am neuen Wohnort den Wert von Heimat erhalten. Der dritte Komplex im Kinoangebot der 50er Jahre waren die zahlreichen ausländischen Spielfilme, die in aller Regel Filme ehemaliger Kriegsgegner waren und deshalb im Deutschland der Nazi-Zeit nicht gezeigt werden durften. Vor allem die Amerikaner setzten ihre Spielfilme auch bewusst als Instrument ihrer politischen Umerziehung ein. Folglich subventionierte die US-Regierung zwischen 1948 und 1953 den Vertrieb amerikanischer Filme in Westdeutschland mit mehr als 5 Mio. US-$. Der Erfolg dieser Politik ließ nicht lange auf sich warten: Wurden 1936 (also vor dem Krieg) in Deutschland von 187 Filmen nur 75 ausländische Produktionen gezeigt, waren es 1952 nur 75 deutsche und 375 ausländische, darunter allein mehr als 200 amerikanische. Gleichzeitig feierte auch der neue realistische Film aus Italien (Visconti, Rossellini, De Sica und Fellini) und – etwas später – aus Frankreich (Truffaut, Chabrol, Godard) erste Erfolge in Deutschland. Allerdings kam das Kino weltweit und damit auch in Deutschland Mitte der 50er Jahre zunehmend in Bedrängnis, weil ihm im Fernsehen die erste, wirklich ernst zu nehmende Konkurrenz in seiner jungen Geschichte erwuchs.

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Bereits 1953 mussten in den USA von 26.000 Kinos etwa 6.000 schließen. Ähnlich, wenn auch zeitversetzt, verlief die Entwicklung in Deutschland, wo 1952 die ersten Fernsehprogramme ausgestrahlt wurden. Mit dem neuen Medium, das bezeichnenderweise »Pantoffelkino« genannt wurde, veränderte sich der Konsum kultureller Angebote erheblich. Zwar waren auch die Erwartungen der Kultur- und Bildungspolitiker an das neue Medium außerordentlich groß – Adolf Grimme, der damalige Generalsekretär des Nordwestdeutschen Rundfunks behauptete sogar: »Das Fernsehen vermag den Menschen besser zu machen« –, doch wurde das Fernsehen von den Konsumenten vorrangig als Unterhaltungsmedium verstanden, was sich beispielsweise am Erfolg der ersten Familienserien (Familie Schölermann, Familie Hesselbach) eindrucksvoll zeigte. Gleichzeitig entstand ein neuer Berufsstand, der des Quizmasters und Entertainers, für den Peter Frankenfeld und Hans Joachim Kulenkampff die dauerhaften Vorbilder wurden. Den großen Durchbruch erlebte das Fernsehen denn auch nicht mit einem Kultur- und Bildungsangebot, sondern mit einem sportlichen Ereignis, nämlich der Fußballweltmeisterschaft 1954. Damit erwies sich das Fernsehen gegenüber dem Kino in zweifacher Hinsicht als Konkurrenz. Zum einen konnten im Fernsehen Kinofilme gezeigt werden, so dass es nicht mehr erforderlich war, dafür eigens ins Kino zu gehen, zum anderen bot das Fernsehen eine Art von Unterhaltung, die den Film ersetzte. Die Folgen für das Kino und für die Filmwirtschaft waren verheerend. Während noch 1956 mehr als 800 Mio. Kinobesuche in der Bundesrepublik gezählt wurden, waren es zehn Jahre später nur noch weniger als 200 Mio. nen und 1989 sogar nur noch rund 100 Mio. Ähnlich verlief die Entwicklung in der DDR, wo 1957 insgesamt 316 Mio. Kinobesuche gezählt wurden, während es 1989 nur noch 65 Mio. waren. Entsprechend verringerte sich auch die Zahl der Kinos. Von über 7.000 (BRD 1959) bzw. über 1.400 (DDR 1958) sank die Zahl 1989 auf 3.200 im Westen und 800 im Osten. Im Westen reagierte man auf diese Entwicklung mit einem Umbau der alten Kinopaläste, die auch als Lichtspielhäuser oder Filmtheater bezeichnet wurden. Da die großen Säle mit oft mehr als 1.000 Sitzplätzen nicht mehr zu füllen waren, teilte man sie in mehrere kleine Säle auf, die vom Publikum etwas abfällig als »Schachtelkinos« bezeichnet wurden. Damit konnten zwar die hohen Kosten für die großen Säle gesenkt werden, gleichzeitig ging aber auch das große Kinoerlebnis verloren, weil gerade Breitbildfilme in den Schachtelkinos kaum besser zur Geltung kamen als auf dem heimischen Fernsehgerät. Die Folge war, dass sich der Niedergang des Kinos dadurch eher noch beschleunigte. Ein weiterer Beschleunigungsfaktor beim Niedergang des deutschen Films war zweifellos auch die wenig überzeugende deutsche Filmkunst der späten 50er und frühen 60er Jahre. Allzu lange hatte man auf die Erfolge der

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Vorkriegsregisseure und der Heimatfilme gesetzt und versuchte nun mit billigen Schlagerfilmen sowie anspruchslosen Sexfilmen (z.B. Der Schulmädchenreport, 1970) wirtschaftlich zu überleben. Zudem wurden nicht wenige Kinos in Pornokinos umgewandelt, doch erwies sich auch diese Maßnahme als ein Schritt in die falsche Richtung. Erst Mitte der 60er Jahre kam es im Westen Deutschlands – angeregt durch die nouvelle vague in Frankreich – zu einer Erneuerung des Films. 1962 wurde das Oberhausener Manifest verkündet, dessen Motto lautete: »Papas Kino ist tot!« (Hoffmann 1987) Es entstand der Junge Deutsche Film als Autorenfilm, der von Regisseuren wie Rainer Werner Fassbinder (1945-1982), Ulrich Schamoni (1939-1998), Volker Schlöndorff (geb. 1939) und Alexander Kluge (geb. 1932) geprägt wurde. Allerdings ließ sich schon damals absehen, dass sich der Autorenfilm, der – wie bei einem Roman – vom alleinigen künstlerischen Urheber als Autor ausgeht, so nicht werde durchsetzen können. Stattdessen ist der Film – heute mehr denn je – eine Gemeinschaftsproduktion von Regisseuren, Kameraleuten, Drehbuchautoren, Schauspielern, Kopiermeistern, Cuttern und auch Filmproduzenten, was eher an die Entstehung eines Orchesterklangs als an die Entstehung eines Buchs erinnert. Insofern war der Autorenfilm bereits zur Zeit seiner Entstehung ein Anachronismus; schon die damalige Gegenwart und erst Recht die Zukunft gehörte dem arbeitsteiligen, fast industriellen Produktionsprozess. Mit den Bemühungen um eine künstlerische Erneuerung des deutschen Films in den 60er Jahren ging auch eine Reform des Kinos einher. 1970 wurde in Hamburg mit dem Abaton das erste deutsche Programmkino gegründet (vgl. Grassmann 1997). Es folgten das X-Screen in Köln, das Leopold in München und weitere Programmkinos in Tübingen, Berlin und einigen anderen Städten. Sie schlossen sich 1972 in Hamburg zur AG Kino zusammen. Die Programmkinos hatten sich zum Ziel gesetzt, in einem nach Themen oder Personen (z.B. Regisseure) ausgerichteten Programm künstlerisch anspruchsvolle Filme zu zeigen, die von den großen Verleihfirmen und den Kinokonzernen nicht oder nur wenig beachtet wurden. Dabei waren (und sind) die Programmkinos allerdings durchaus kommerziell ausgerichtet, d.h. die Kinobetreiber müssen ihr Kino aus den Eintrittskarten der Besucher finanzieren. Folglich sind Programmkinos durchaus an den Publikumswünschen ausgerichtet, aber vorrangig an den Wünschen eines Publikums, das Film als Kunstsparte und nicht als eine Form von abendlicher Unterhaltung versteht. Gleichzeitig entstanden ab 1970 in Frankfurt am Main, Berlin, Stuttgart, Duisburg und Mannheim die ersten Kommunalen Kinos. Einer der maßgeblichen Förderer dieser neuen Form von Kinokultur war der damalige Frankfurter Kulturdezernent Hilmar Hoffmann. Er sah das Kino als eine »gesellschaftspolitische Aufgabe« (Hoffmann 1979: 191) und damit als eine Kultur-

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einrichtung, die Theatern und Museen vergleichbar ist. Daraus schloss Hoffmann die Legitimation, ein Kino auch mit öffentlichen Fördergeldern betreiben zu können. In der unmittelbaren Relation zum Theater leitete Hoffmann diese Legitimation aus der Tatsache ab, »dass viele Menschen aus Gründen ihrer Sozialisation zum Theatergang nicht motiviert sind, aber gleichwohl einen legitimen Anspruch auf kulturelle Teilhabe erheben können, die ein Kino von bestimmter Qualität zweifellos vermitteln kann« (ebd.: 191f.). Die Erwartung Hoffmanns, dass das Kommunale Kino das Theater jenes Teils der Bevölkerung werde könne, der gegenüber dem Theater eine anerzogene Schwellenangst empfindet, hat sich allerdings nicht bewahrheitet. Ohne den kommerziellen Druck, wie ihm auch die Programmkinos ausgesetzt sind, beschränkten sich die Kommunalen Kinos bald auf ein Programm für elitäre Cineasten. »So kommen mit Steuermitteln geförderte Filmproduktionen zur Aufführung, die sonst kaum mehr als einen einmaligen Festivaleinsatz erleben und in den Regalen verstauben würden« (Huebner 1997: 54). Um der Krise des Kinos zu begegnen, wurden weitere neue Kinoformen in Deutschland eingeführt. Darunter sind vor allem die in den USA bereits seit 1933 bekannten Autokinos (Drive-in-Kinos) zu nennen, nach deren Vorbild 1960 das erste europäische Autokino in Gravenbruch bei Frankfurt am Main eröffnet wurde. Ihr Reiz besteht darin, dass man – auf einem Parkplatz mit bisweilen bis zu 1.000 Stellplätzen – vom eigenen Auto aus den Film auf einer riesigen Leinwand verfolgen kann. Die Beschallung erfolgt über Kopfhörer per Funk, so dass jeder Kinobesucher individuell seine Lautstärke einstellen kann. Filme wie American Graffiti (1973) von George Lukas förderten die Verbreitung von Autokinos auch in Deutschland. In jenem Film ist auch ein besonderer Vorzug des Autokinos festgehalten, nämlich die so genannte love lane, also die letzte Wagenreihe, die jenem Publikum vorbehalten ist, das der Filmhandlung nur sekundäre Bedeutung beimisst. Gleichwohl konnten Autokinos in Deutschland nie jene Popularität erlangen wie in den 60er Jahren in den USA. 2004 zählte man in Deutschland insgesamt 38 Autokinos, deren Besucherzahl allerdings nur 0,3 % der Gesamtbesucherzahl ausmachte. Dagegen wurde in den 80er und 90er Jahren in Deutschland eine andere Form von Freilichtkinos populär, bei denen das Publikum wie im Kino in Stuhlreihen sitzt, aber unter freiem Himmel. Solche Freilicht- oder Freiluftkinos finden in den Sommermonaten meist auf zentralen Plätzen oder auch in Innenhöfen von Schlössern und Burgen statt. Nach einer Erhebung der SPIO (Spitzenorganisation der deutschen Filmwirtschaft e.V.) zählte man 2005 insgesamt 658 Freilichtkinos mit allerdings stark schwankenden Besucherzahlen, was vor allem auf die Witterungsabhängigkeit zurückzuführen ist. Die Idee der Freilichtkinos stammt aus Italien – in Fellinis Filmen tauchen sie im-

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mer wieder mal auf – und erfreut sich in Deutschland großer Beliebtheit, sie sind aber naturgemäß hier sehr wetterabhängig. Allerdings sind Programmkinos, Kommunale Kinos, Autokinos und Freilichtkinos für den Filmbetrieb in seiner Gesamtheit nur von geringer wirtschaftlicher Bedeutung; nur etwa 2,5 % aller Kinobesucher nutzten 2005 diese Sonderformen. Eine wirklich spürbare Belebung des Kinobetriebs und damit auch des Filmbetriebs erfolgte in den letzten beiden Jahrzehnten allein durch die Einführung der Multiplexe. 1983 wurden in Großbritannien die ersten Multiplexe gegründet, 1989 folgte das erste deutsche Multiplex in Hannover. Die Entstehung der Multiplexe, auf die die Filmindustrie große Hoffnungen gesetzt hatte, ging unglücklicherweise mit der Einführung der Videorekorder einher. Mitte der 80er Jahren schossen überall Videotheken wie Pilze aus dem Boden. Mit Hilfe recht preiswerter Videorekorder und einem herkömmlichen Fernsehbildschirm konnte sich nun jeder sein eigenes Kinoprogramm zusammenstellen. Verschärft wurde diese Entwicklung Ende der 90er Jahre, als die ersten DVDs auf dem Markt erschienen. Mit Großbildschirmen oder per Beamer kann man nun die heimischen vier Wände in ein Kino mit hervorragender Bild- und Tonqualität verwandeln. Zudem ist es – ähnlich wie bei CDs im Musikbetrieb – relativ leicht, sich ganze Filme aus dem Internet herunterzuladen (legal oder illegal), so dass es immer weniger Gründe gibt, den Weg ins Kino anzutreten. Die Filmindustrie reagiert auf diese Entwicklung mit Filmen, die ihre Wirkung allein auf einer Großleinwand erzielen, und unterstützt damit die Position der Multiplexe. Doch damit ist bereits die aktuelle Situation des Filmbetriebs in Deutschland angesprochen, auf die in den folgenden Abschnitten eingegangen wird. Fasst man die Geschichte des Filmbetriebs in Deutschland zusammen, so dienten die Geburtsjahre des Films zwischen 1895 und 1914 in erster Linie dazu, die technischen Möglichkeiten des neuen Mediums zu entwickeln. Zwischen den beiden Weltkriegen erlebte der Film in Deutschland seinen ersten Höhepunkt; künstlerisch und auch technisch gehörte der deutsche Film zur weltweiten Elite. Wie in anderen Kunstsparten auch, bildete der Zweite Weltkrieg für den Filmbetrieb eine bis heute spürbare Zäsur. Dieser Einschnitt war nur zum Teil durch den Krieg selbst gegeben; weit schwerer wiegend waren die Vertreibung und Ermordung zahlreicher Filmkünstler sowie die Instrumentalisierung des deutschen Films für Zwecke der Nazi- und Kriegspropaganda. Dennoch wurde der Film nach Kriegsende bis Ende der 60er Jahre zum beliebtesten Medium, weil er leicht konsumierbar und der Konsum relativ preiswert war. Erst mit der Konkurrenz des Fernsehens geriet der Film in eine schwere Krise. Die durch künstlerische Innovationen (vgl. Oberhausener Ma-

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nifest), durch neue Kinoformen und durch eine verstärkte öffentliche Filmförderung gestützten Anstrengungen zur Wiederbelebung des Filmbetriebs können – auch angesichts neuer Medien für die private Nutzung – lediglich eine Stabilisierung, nicht aber eine Rückkehr zum wirtschaftlichen Niveau des Filmbetriebs der 50er und 60er Jahre bewirken. 7.2 Der Film und seine Gattungen Als Film bezeichnet man entweder das belichtungsfähige Material oder das Filmwerk, also die mit fotografischen oder elektronischen (Video) Mitteln erzeugte Abfolge von Einzelbildern, die bei einer entsprechenden Projektion in schneller Folge den Eindruck einer Bewegung wiedergeben. Aus der Sicht des Kulturbetriebs ist vorrangig der Film im Sinne von Filmwerk von Interesse, der begrifflich nach verschiedenen Kriterien unterschieden wird: a) nach künstlerischen und inhaltlichen Kriterien • Im Spielfilm wird von Schauspielern eine fiktive Handlung umgesetzt. • Der Dokumentarfilm zeigt mit Dokumentaraufnahmen einen Ausschnitt aus der Realität. • Der Animationsfilm (Trickfilm) gibt durch Verwendung von technischen Hilfsmitteln eine fiktive Handlung oder einen Sachbericht wieder; dabei kann es sich um Zeichnungen (Zeichentrickfilm) oder um Computer-Animationen handeln (Animation). b) nach der Dauer/Länge eines Films • Kurzfilme (unter 60 Minuten) • Langfilme (60 bis 90 Minuten) • Filme mit Überlänge (mehr als 90 Minuten) c) nach der Technik des filmischen Materials • Stummfilme (bis Ende der 20er Jahre) • Tonfilme • Schwarz-Weiß-Filme • Farbfilme (ab Anfang der 30er Jahre) • elektrotechnisch erzeugte Filme (Video als VHS oder DVD) Im Konkreten treffen auf jeden Film stets mehrere Kriterien zu, weshalb man es beispielsweise mit einem Spielfilm von 90 Min. Dauer (Langfilm) zu tun hat, der als Tonfilm in Farbe produziert wurde. Der Filmbetrieb ist für alle Filmgattungen mehr oder weniger gleich. Allerdings werden Dokumentarfilme nur noch selten im Kino, sondern weit mehr

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im Fernsehen gezeigt. Auch Stummfilme, die einst im Mittelpunkt des Filmbetriebs standen, sind heute nur noch in Kommunalen Kinos oder über DVD zu sehen. Für den Hauptteil der Filme, die abendfüllenden Spielfilme in Farbe und mit Ton, aber gilt im Filmbetrieb seit mehr als 100 Jahren die Trias von Filmproduktion, Filmverleih und Filmtheater. Diese Dreiheit macht den eigentlichen Filmbetrieb aus. 7.3 Filmproduktion Die Produktion eines Films ist ein sehr komplizierter Prozess, der aber – etwa im Gegensatz zu einer Theaterinszenierung – in einer sehr engen Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten verläuft. Grundsätzlich kann man im Prozess der Filmproduktion folgende Phasen bzw. Stadien unterscheiden (vereinfachte Darstellung): 1. Exposé (Filmidee, Entwurf der Filmhandlung) 2. Treatment (Handlungstext ohne Dialog, Skizzierung der Schauplätze und Charaktere) 3. Rohdrehbuch (Verlauf der Handlung mit den aus der Sicht des Films wichtigsten Vorgaben für Drehorte/Locations, Personen und Szenen) 4. Finanzierung 5. Drehbuch (Ausformulierung der Texte für alle Schauspieler, Szenenbeschreibung hinsichtlich Ausstattung, Kamera, Licht) 6. Auswahl und Verpflichtung der Schauspieler (Casting) • Hauptrollen • Nebenrollen • Komparserie (Statisten) 7. Verpflichtung des technischen Stabs • Kamerateam • Architektur/Bauten • Ausstattung • Schnitt • Musik 8. Drehplan (Logistik der Produktion, Festlegung der Szenen nach Drehtagen und Kameraeinstellungen) 9. Filmaufnahmen 10. Filmmontage/Filmschnitt (Zusammensetzung der gedrehten Szenen nach künstlerischen Gesichtspunkten bzw. nach den Vorgaben des Drehbuchs) 11. Vertonung (Zusammenführung von Bild und Ton) 12. Vermarktung, Merchandising (in Zusammenarbeit mit dem Filmverleih)

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13. Vorpremieren und Premiere 14. Zweitverwertung (Video/DVD, Fernsehen) Mit der Premiere verlässt der Film gleichsam die Produktion und wird an den Filmverleih weitergereicht. Doch zuvor noch einige Anmerkungen zur Filmproduktion. Während im Theater der Autor eines Schauspiels oder der Komponist einer Oper nur in Ausnahmefällen an der Produktion einer Inszenierung beteiligt ist, muss man bei der Filmproduktion von einer engen Zusammenarbeit zwischen Drehbuchautor, Regisseur und Kameramann ausgehen. Zwar gibt es Romanverfilmungen oder auch Verfilmungen von Theaterstücken, doch ist diese literarische Vorlage für die eigentliche Verfilmung nur noch zweitrangig; entscheidend ist die dramatische Umsetzung der Vorlage im Drehbuch. Dieses Drehbuch aber entsteht nicht selten in enger Zusammenarbeit zwischen Drehbuchautor und Regisseur – häufig handelt es sich sogar um die gleiche Person, etwa in den Filmen von Woody Allen oder Ingmar Bergman. Man hat es folglich mit einer etwas anderen Verteilung der Positionen zwischen Autor und Interpreten zu tun, als man dies beispielsweise vom Musikbetrieb her kennt. In Wahrheit ist der Filmregisseur nicht mehr nur Interpret eines dramatischen Stoffes, wie dies für den Theaterregisseur gilt, sondern ist vielmehr in sehr starkem Maße selbst Autor. Aus der Sicht des Filmbetriebs steht aber nicht der Filmregisseur im Mittelpunkt, sondern der Filmproduzent. Der Filmproduzent ist der Unternehmer, der die Produktion eines Films finanziell möglich macht und der auch für die Vermarktung und den wirtschaftlichen Erfolg eines Films verantwortlich ist. Folglich wählt er den Stoff aus und sucht dafür den geeigneten Regisseur; auch auf andere zentrale künstlerische Positionen wie die Leitung des Kamerateams oder die Hauptdarsteller hat der Produzent einen erheblichen Einfluss. Wichtigste Aufgabe des Filmproduzenten ist die wirtschaftliche Absicherung der Filmproduktion. Dazu sollten vorrangig Eigenmittel des Produzenten herangezogen werden, weil die Filmproduktion eine unternehmerische Investition ist. Solche Eigenmittel sind z.B. Entnahmen aus Rücklagen, aber auch Darlehen, die der Produzent mit eigenem Risiko aufnimmt. Neben Eigenmitteln stehen Fremdmittel zur Verfügung. Dazu gehören einerseits alle im Wirtschaftsbetrieb üblichen Finanzierungsmittel (z.B. Rückstellungen, Risikoinvestitionen Dritter), aber vor allem auch Mittel der Filmförderung. Nicht zuletzt gehören zur Filmfinanzierung auch die zu erwartenden Erlöse aus dem Kartenverkauf sowie die Einnahmen aus Lizenzen (z.B. für die Verwertung durch Fernsehen und Video, aber auch Lizenzen für Merchandisingprodukte). Diese Erträge müssen aber gegebenenfalls über Kredite vorfinanziert werden.

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Soweit Fremdmittel von Dritten eingesetzt werden, ist von einer Rückführung der Mittel auszugehen, d.h. die mit dem Film erzielten Gewinne sind an die Drittmittelgeber weiterzuleiten. Das gilt in aller Regel auch für Mittel der Filmförderung. In der Systematik der Filmfinanzierung deutet sich bereits ein Problem an, das den deutschen Filmbetrieb erheblich belastet. In Deutschland gibt es keine Produktionsfirma, die in der Lage ist, größere Summen aus Eigenmitteln für eine Filmproduktion zur Verfügung zu stellen. Deshalb werden viele deutsche Filme entweder über die Filmförderung teilfinanziert oder aber zusammen mit einer Rundfunkanstalt produziert. Aber auch dann ergeben sich noch keine Summen, die international konkurrenzfähig wären. Dies zeigen die für das deutsche Fernsehen geltenden »Preislisten«: eine TV-Auftragsproduktion von 90 Minuten Dauer ist auf Kosten von ca. 1,2 Mio. € festgeschrieben. Da für einen Fernsehfilm eine Zweitverwertung im Kino nahezu ausgeschlossen ist, macht für aufwendigere Produktionen nur der umgekehrte Weg Sinn, d.h. der Film wird über andere Mittel produziert und dann im Rahmen der Zweitverwertung im Fernsehen gegen eine Lizenz ausgestrahlt. Andererseits bietet auch die Filmförderung keine wirkliche Lösung des Problems, da die dort gezahlten Summen nur zur Ergänzung einer Finanzierung bzw. für Low-Budget-Filme geeignet sind. 2004 wurden aus Mitteln der öffentlichen Filmförderung 30 Mio. € zur Verfügung gestellt, die auf insgesamt 108 Filmproduktionen verteilt wurden (vgl. Abschnitt 7.6). Das Bundesinnenministerium, das bis 1998 für die Filmförderung des Bundes zuständig war, schreibt dazu in seinem Bericht von 1997: »Die Gründe für die nicht zufriedenstellende Position des deutschen Films auf dem einheimischen Markt sind vielschichtig und liegen ebenso im wirtschaftlichen wie im kreativen Bereich. Die deutschen Produktionsunternehmen sind überwiegend Kleinunternehmen mit geringer Kapitalausstattung. Sie haben Schwierigkeiten, größere Projekte – auch internationale Gemeinschaftsproduktionen – zu finanzieren und durchzuführen. Deutsche Filme sind in der Regel finanziell zu gering ausgestattet und daher oft gegen die mit großem Produktionsaufwand erstellten amerikanischen Filme nicht konkurrenzfähig.«

Während noch in den 90er Jahren kaum zwischen dem wirtschaftlichen und kreativen Bereich unterschieden werden musste, hat sich die Situation insofern geändert, als die Kreativität deutscher Filme inzwischen weltweit Anerkennung erfährt (dazu später mehr). Dennoch bleibt aber das Problem der unzureichenden finanziellen Ausstattung. Deutsche Spielfilme verursachen Produktionskosten in Höhe von durchschnittlich 2 bis 3 Mio. €, in Einzelfällen auch mal bis zu 13,5 Mio. € (z.B. Der Untergang). In den USA geht man

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dagegen für einen international angebotenen Film von durchschnittlich 30 bis 50 Mio. US-$ Produktionskosten aus, von den »teuersten Filmen aller Zeiten« wie Cleopatra (286,4 Mio. $), Titanic (220 Mio. $) oder King Kong (207 Mio. $) ganz zu schweigen. Dennoch spielen die amerikanischen Filme diese gewaltigen Summe relativ problemlos ein. Allein Titanic erspielte weltweit Einnahmen von 1,8 Mrd. US-$. Selbst ein eher anspruchsvoller Film wie Aus der Mitte entspringt ein Fluss spielte in den USA mehr als 43 Mio. US-$ ein; wirtschaftliche Top-Filme kommen leicht auf mehrere 100 Mio. US-$ Umsatz. Wenn man berücksichtigt, dass etwa ein Drittel der eingespielten Einnahmen an die Produktionsfirma zurückfließen, kann man sich leicht vorstellen, welches beachtliche Kapital dort für Filmproduktionen zur Verfügung steht. Die großen Produktionsfirmen können es sich deshalb auch leisten, pro Jahr gleich reihenweise Filme zu produzieren und damit evtuell Flops immer wieder durch Hits auszugleichen. Ein Unternehmen aber, dass, wie dies in Deutschland üblich ist, pro Jahr nur einen Film produziert, ist auf Gedeih und Verderb auf den Erfolg dieses Films angewiesen. Erstaunlicherweise ist es dem deutschen Film aber trotz der schwierigen Ausgangssituation in den letzten Jahren gelungen, seine Position auf dem deutschen Filmmarkt zu festigen. Dies verdient deshalb besondere Beachtung, weil noch in den 80er Jahren der Anteil der deutschen Filme auf Besucherbasis (Anteil der Besucher in deutschen Filmen an der Gesamtbesucherzahl) bei 20 % lag und diese Zahl dann in den 90er Jahren teilweise bis unter 10 % sank. Seit dem Jahr 2000 aber werden deutlich bessere Zahlen gemeldet. So betrug der Anteil der Besucher in deutschen Produktionen im Jahr 2003 immerhin 17,5 % und 2004 sogar 23,8 % am Gesamtbesucheraufkommen. Dieser Erfolg wird allgemein auf die verbesserte Qualität deutscher Produktionen zurückgeführt und auf eine im Vergleich zu den US-Produktionen größere thematische Bandbreite. Letzteres zeigt sich darin, dass einerseits Michael Herbigs Parodie (T)Raumschiff Suprise (2004) mit mehr als 9 Mio. Besuchen (bis Mitte 2005) und Oliver Hirschbiegels Film Der Untergang (2004) mit 4,5 Mio. Besuchen die erfolgreichsten deutschen Filme der letzten beiden Jahre waren, auch wenn sie thematisch unterschiedlicher kaum sein können. Die filmische Darstellung der letzten Tage Adolf Hitlers wurde übrigens von Bernd Eichinger produziert, dessen Erfahrungen auf dem USFilmmarkt hier sicher gute Dienste leisteten. Insgesamt konnten von den 100 erfolgreichsten deutschen Produktionen, die 2005 in Kinos gezeigt wurden, 18 Filme Gesamtbesucherzahlen (seit ihren Filmstart) von mehr als 1 Million vorweisen. Gleichwohl ist die Euphorie, mit der die Filmwirtschaft dieses Ergebnis feiert, nicht ganz nachvollziehbar. Erfolgreiche deutsche Filme hat es auch in

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der Vergangenheit schon gegeben – erinnert sei nur an Der bewegte Mann (1994), den 6,5 Mio. Zuschauer sahen und der etwa das Zehnfache seiner Produktionskosten einspielte. Vor allem aber gleicht der hoch gelobte Besucheranteil an deutschen Filmen einer Achterbahn. 1997 wurden erstaunliche 17,3 % verzeichnet, 2001 waren es 18,4 % und 2004 sogar sensationelle 23,8 %. Besorgniserregend ist aber, dass zwischen diesen sehr guten Ergebnissen auch Talsohlen lagen mit 9,5 % im Jahr 1998 und 11,9 % im Jahr 2002; 2005 wurden wieder nur 17,1, % erreicht, also 6,7 Prozentpunkte weniger als im Vorjahr. Das zeigt, dass zwar insgesamt ein positiver Trend erkennbar ist, dass die konkreten Jahresdaten aber stark vom jeweiligen Filmangebot abhängig sind. Ohne (T)Raumschiff Surprise, das erst am 22. Juli 2004 in den Kinos startete und bis Ende 2004 schon 9,1 Mio. Besuche erreichte, wäre das Ergebnis für den deutschen Film im Jahr 2004 kaum mehr als durchschnittlich gewesen. Da gleichzeitig auch kein amerikanischer Streifen auf dem Markt war, der den Namen Blockbuster verdiente, stellte sich die Situation des deutschen Films Ende 2004 relativ gut dar. Wäre ein Film wie Titanic auf dem Markt gewesen, der allein in Deutschland von 18 Mio. Menschen gesehen wurde, wären die Zahlen wahrscheinlich wieder deutlich schlechter ausgefallen. Es bleibt deshalb festzuhalten: Auf dem deutschen Markt fehlt ein Filmproduktionsunternehmen, das aufgrund seiner Kapitallage fähig wäre, größere Produktionen in größerer Zahl und regelmäßig zu finanzieren. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass auch die Ufa einst aus einem Zusammenschluss zahlreicher kleinerer Produktionsfirmen entstand. Für diese mittelständischen Unternehmen hat sich der Zusammenschluss bekanntlich gelohnt. Warum sollte dieses Konzept nicht auch heute wieder zum Erfolg führen. 7.4 Filmverleih Ist ein Film fertig produziert, wird er den Kinos zur Aufführung angeboten. Für diesen Teil im Filmbetrieb ist der Filmverleih (vgl. Hahn/Schierse 2004) zuständig. Rein rechtlich betrachtet erwirbt der Filmverleiher vom Filmproduzenten das Recht, vom fertig produzierten Film Kopien herzustellen und diese Kopien Filmtheatern zu vermieten. Dieses Recht sichert sich der Filmverleiher in der Regel für einen Zeitraum von 12 bis 15 Jahren zu, d.h. er erwirbt damit auch das Recht, den Film später für eine Zweitverwertung als Video/DVD oder im Fernsehen auf den Markt zu bringen. Der Mietzins, den der Verleiher vom Filmtheater erhält, richtet sich nach Größe und Ausstattung des betreffenden Kinos sowie nach der Aktualität des Films. Neue Filme sind eben teurer als

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bereits abgespielte. In der Regel erhält der Verleiher 40 bis 50 % der Kinoeinnahmen, von denen er wiederum einen bestimmten Betrag an die Produktionsfirma abführt. Je nach Vertrag hat er die Möglichkeit, gegenüber dem Filmproduzenten die so genannten Verleihvorkosten abzuziehen, also jene Kosten, die ihm im Zusammenhang mit der Vermarktung des Films entstanden sind, so dass der Produzent möglicherweise erst relativ spät – nämlich nach Ausgleich der Vorkosten – etwas von den Kinoeinnahmen erhält. Das macht noch einmal deutlich, wie wichtig es für den Filmproduzenten ist, über eine ausreichende Kapitaldecke und Liquiditätssicherung zu verfügen. Ist der Film erfolgreich, teilen sich Filmtheater, Filmverleih und Filmhersteller die Einnahmen etwa zu einem Drittel. Ist der Film weniger erfolgreich, geht dies vor allem zu Lasten von Filmtheater und Filmhersteller, denn der Verleiher hat noch am ehesten die Möglichkeit, durch eine Zweitverwertung im Video- und TV-Bereich die Einnahmesituation nachträglich zu verbessern. Dies zeigt, dass die wirklichen »Herren« im Filmgeschäft die Verleiher sind, also wiederum – man beachte die Parallelität zum Musikbetrieb – die Vermarkter in der mittleren Position zwischen den künstlerischen Produzenten und dem Publikum. Folglich sind die Filmverleiher häufig weit bekannter als die Filmproduzenten. Weltbekannte Firmen wie Warner Brothers, 20th Century Fox, Buena Vista International, UIP (Zusammenschluss von MGM, Paramount und Universal) oder Columbia/TriStar sind allesamt Filmproduzenten und Filmverleiher, die den größten Teil ihres Umsatzes im Verleihgeschäft machen. Diese fünf Verleihfirmen sind die Major Companies; sie verbuchen – zusammen mit ihren deutschen Tochterunternehmen – auch in Deutschland mehr als 80 % des Umsatzes. Den Rest des deutschen Marktes teilen sich die deutschen Verleihfirmen Constantin, Kinowelt, Pandora, Senator, Concorde, Tobis, Atlas, Universum, Stardust und einige wenige andere. Der Verband der Filmverleiher e.V. zählte 2005 insgesamt 49 Verleihfirmen zu seinen Mitgliedern, von denen allerdings etwa ein Drittel nur einen einzigen Film vertrieben hat. Allein das Verzeichnis der 100 erfolgreichsten deutschen Filme, die 2005 in deutschen Kinos gezeigt wurden, nennt 45 Verleihfirmen. Auch hier gilt demnach wieder das, was bereits für den Produktionsbereich festgestellt wurde: Durch Konzentrationen beherrschen die amerikanischen Filmverleiher den Weltmarkt, während in Deutschland mittelständische Unternehmen versuchen, deutsche Filme auf den Weltmarkt zu bringen. Im Jahr 2004 wurden in deutschen Kinos 368 Spielfilme und 62 Dokumentarfilme von insgesamt 75 Verleihunternehmen erstaufgeführt. Dabei wurde ein Verleihumsatz von 410,4 Mio. € erzielt. Von 2000 bis 2004 entwickelten sich die relativen Marktanteile nach den Herkunftsländern der Filme am Verleihumsatz (in %) wie folgt:

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Tabelle 23: Marktanteile (in %) am Verleihumsatz nach Herkunftsländern 2000-2004 Deutschland

Frankreich

Großbritannien

2000

9,4

0,9

5,1

2001

15,7

1,6

3,8

2002

9,5

2,6

2,4

Italien

USA

Sonstige

0,2

81,9

2,5

0,8

77,0

1,1

0,1

83,0

1,2

2003

16,7

0,9

3,3

0,2

76,8

2,1

2004

20,8

2,2

3,5

0,1

72,1

1,3

Quelle: SPIO e.V. Stand 09/2005

Die Statistik zeigt noch einmal die Dominanz des amerikanischen Filmbetriebs, gerade auch im Verleihbereich. Die Statistik zeigt aber auch wieder die geringe Konstanz deutscher Marktanteile. Erstaunlich auch die geringen Anteile von Filmen aus Frankreich, Großbritannien und Italien; noch in den 70er Jahren lag deren gemeinsamer Anteil in der gleichen Größenordnung wie der Anteil deutscher Filme. Abbildung 7: Anteil der Herkunftsländer am Filmangebot in Relation zum Anteil am Verleihumsatz 2004 (in %)

80 72,1 70 60 50

45,1

40 30

23,6

20,8

20,1

20 7,3 10 0

2,7 3,5 USA Großbritannien Deutschland Anteil Filme

2,2

1,1 0,1 Italien

Frankreich

1,3 Sonstige

Anteil Verleihumsatz

Quelle: SPIO e.V. Stand 09/2005

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Es wurde bereits mehrfach angesprochen, dass der US-Filmbetrieb den Weltmarkt vor allem dank seiner Konzentration beherrscht. Diese Konzentration schlägt sich bekanntlich in einer äußerst potenten Kapitalausstattung nieder, die es ermöglicht, aufwendige Film zu produzieren und mit diesen relativ wenigen, aber sehr erfolgreichen Filmen den Markt zu beherrschen. Dies wird deutlich, wenn man die in Abbildung 7 aufgelisteten Marktanteile (2004) in Relation zum Anteil am Filmangebot stellt. Es fällt auf, dass nur in den USA und in Großbritannien der relative Anteil am Verleihumsatz größer ist als der relative Anteil an der Anzahl der angebotenen Filme. Die USA und Großbritannien verbuchen zusammen 75,6 % des Verleihumsatzes, obwohl sie nur 47,8 % aller Filme stellen. Dagegen stammen zwar 52,1 % aller Filme aus den übrigen Ländern (einschließlich Deutschland), doch erreichen sie zusammen nur einen Anteil von 24,4 % am Verleihumsatz. Mit anderen Worten: Vor allem die Filmindustrie in den USA kann sich viel leichter auf die Vermarktung relativ weniger Filme konzentrieren, während in den übrigen Ländern verhältnismäßig viele Filme am Markt positioniert werden müssen. Das ist sicher einer der Gründe, weshalb USamerikanische Filme in Europa so erfolgreich sind. Zwar erwirtschaften ausländische und deutsche Filme gleichermaßen Umsätze an den Kinokassen, doch da bei ausländischen Filmen die Lizenzentgelte an die Filmverleiher ins Ausland fließen, ergeben sich daraus nicht unerhebliche volkswirtschaftliche Folgen. Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle hat für das Jahr 2004 folgende Zahlen dokumentiert: Tabelle 24: Lizenzentgelte und Lizenzerlöse im Filmverleih 2004 Lizenzentgelte für die Filmeinfuhr Lizenzerlöse für die Ausfuhr von Filmen deutschen Ursprungs Handelsbilanzdefizit

1.057.757.163 € 69.854.012 € 987.903.151 €

Quelle: Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (Filmstatistik 2004)

Während in früheren Jahren neue Filme recht lang in den Kinos blieben – wer einmal einen Film verpasst hatte, konnte sicher sein, ihn ein oder zwei Jahre später noch in einem anderen Kino sehen zu können –, sind heute allein die ersten Wochen und Monate nach dem Start entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg eines Films. Ist ein Film erst einmal »abgespielt«, taucht er nie wieder in den normalen Kinos auf (von Kommunalen Kinos und einigen Programmkinos abgesehen), sondern wird nur noch über Videos, DVD und TV, also auf den so genannten Folgemärkten, zweitverwertet. Für den Filmverleiher bedeutet dies, dass er seinen Film zeitgleich in

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möglichst vielen Kinos starten muss, d.h. er muss eine möglichst große Zahl von Kopien herstellen. Hier nun haben es die Amerikaner – nicht zuletzt aufgrund der finanziellen Potenz der Verleih-Riesen – zu schwindelerregenden Größenordnungen gebracht. Während der immerhin mit dem Deutschen Filmpreis ausgestattete Film Burning Life (mit Maria Schrader und Anna Thalbach) gerade mal mit 17 Kopien in den Verleih kam, startete Der bewegte Mann schon mit 382 Kopien. International sind aber ganz andere Zahlen üblich: Peter Jacksons King Kong (2005) startete weltweit mit 3.568 Kopien, davon allein 723 in Deutschland. Diese Zahlen zeigen deutlich, worauf die Filmbranche abzielt; allein in der Phase der Ur- und Erstaufführung müssen etwa 80 bis 90 % des Gesamtumsatzes eines Films eingespielt werden, wenn der Film wirtschaftlich erfolgreich sein soll. Einen Film in die Kinos zu bringen ist allerdings nur ein Teil des Filmverleihgeschäfts. In Wahrheit hat man es mit einer langen Verwertungskette zu tun, die aus folgenden Teilen besteht: • Kinoauswertung Erstaufführung unmittelbar in den Wochen nach Markteinführung Zweitaufführung (z.B. in Programmkinos und Kommunalen Kinos) • Videoauswertung (VHS/DVD) Kaufvideos (VHS/DVD) Mietvideos (VHS/DVD) DVD-Flatrates (Online-Videotheken) • Fernsehauswertung Pay-per-view Pay-TV Free-TV • Archiv-Verwertung (Re-Licensing) Üblicherweise liegen zwischen der Kinoauswertung und der Videoauswertung sechs Monate Sperrfrist, die in jüngster Zeit aber immer seltener eingehalten wird. Gleichwohl ergibt sich aus der Sicht des Lizenzhandels ein relativ einheitlicher Ablauf, der zweidimensional – mit der Achse »Aktualität« – wie folgt dargestellt werden kann:

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Abbildung 8: Lizenzverlauf in der Filmbranche

Start Kinolaufzeit

Aktualität

Werbung Lizenzierung

ca. -1 Jahr Dreharbeiten

Herstellung

Videorelease

6-8 Wochen 9 Monate Verkaufszeit an den Endverbraucher

Quelle: Niemann 1999, 162

Doch die Grafik zeigt auch noch etwas anderes, das für die Filmwirtschaft zunehmend von Bedeutung wird, nämlich wie sich die Positionierung von Merchandising-Produkten zur Aktualität eines Spielfilms verhält. Erlöse aus Licensing und Merchandising sind heute zumindest für Filme mit Produktionskosten von mehr als 100 Mio. US-$ unverzichtbar; ohne diese Einnahmen wäre eine Finanzierung nicht mehr möglich. Kurz die Definitionen von Licensing und Merchandising: Als Licensing bezeichnet man den Handel mit Lizenzen, also mit dem Recht, Teile des eigenen Urheberrechts für andere Zwecke zu verwenden. Licensing bezieht sich immer auf die Nutzung des Rechts durch einen Dritten, während sich Merchandising auf die eigene Nutzung des eigenen Rechts bezieht. Um es am Beispiel aus der Museumsbranche zu verdeutlichen: Lässt ein Museum vom Motiv eines Gemäldes, das sich im Besitz des Museums befindet (Rechteinhaber), ein Lesezeichen drucken und schenkt dieses Lesezeichen allen Käufern einer Eintrittskarte mit dem Erwerb des Tickets, so handelt es sich um ein Werbemittel. Verkauft das Museum dieses Lesezeichen aber in seinem Museumsshop, so handelt es sich um Merchandising. Und die dritte Variante: Tritt dieses Museum das Recht der Vermarktung am Motiv des Gemäldes an eine Agentur ab, die davon Lesezeichen herstellt, die in zahlreichen Museen und auch in kommerziellen Papierhandlungen und Buchläden verkauft werden, so handelt es sich um Licensing (selbst wenn das Museum, das die Rechte verkauft hat, dieses Lesezeichen von der Werbeagentur in Kommission nimmt und im eigenen Museumsshop zum Verkauf anbietet). Zurück zum Film: Merchandising- und Licensing-Produkte sind für die Filmbranche inzwischen von überragender Bedeutung. Man schätzt, dass allein für den Film Star Wars – Episode 1 weltweit Umsätze aus Merchandisingund Licensing-Produkten in einer Größenordnung von 5 Mrd. € erzielt wur-

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den. Diese Rechte werden selbstverständlich von den Filmverleihern gehalten, weshalb es nun nicht mehr verwundert, dass der Filmverleih wirtschaftlich die interessanteste Station im Filmbetrieb ist. Der Lizenzhandel bezieht sich aber nicht nur auf die das Marketing unterstützenden Produkte, sondern auch auf die Zweit- und Drittverwertung über Videos (VHS und DVD) bzw. TV; rechtlich betrachtet entsteht eine Unterlizenzierung durch den Lizenznehmer (also das Filmverleihunternehmen) gegenüber dem Vertreiber von Videos bzw. den Fernsehanstalten. Vor allem die Unterlizenzierung für das so genannte Home-Entertainment (VHS und DVD) gewinnt zunehmend an Bedeutung. Entsprachen die Umsätze aus dem HomeEntertainment noch 1999 ungefähr denen aus dem Kinomarkt, so lagen sie 2004 bereits fast doppelt so hoch. Mit einem Umsatz von 1.747 Mio. € war der VHS- und DVD-Umsatz in 2004 die umsatzstärkste Filmauswertungsstufe (gegenüber 893 Mio. € auf dem Kinomarkt). Innerhalb des Videomarktes dominiert wiederum der DVD-Kaufmarkt; er sicherte 2004 mehr als 75 % des Gesamtumsatzes im Home-Entertainment, während der VHS-Verleihmarkt auf einen vernachlässigbaren Anteil von 1,9 % zurückfiel. Man ahnt sehr schnell, dass diese Umsätze auch für den Filmverleih von nicht geringer Bedeutung sind. Und in der Tat erzielen die Filmverleiher inzwischen 25 bis 35 % ihres Gesamtumsatzes aus der Unterlizenzierung für den Videomarkt. Zusammenfassend erzielt der Filmverleiher mithin Erlöse aus vier Quellen: • Die an der Kinokasse erzielten Erlöse; sie betragen für den Filmverleiher etwa 35 bis 55 % des Einspielergebnisses. • Lizenzentgelte aus der Unterlizenzierung gegenüber Vertreibern von Videos (VHS/DVD) • Lizenzentgelte aus der TV-Verwertung • Lizenzentgelte aus Merchandising- und Licensing-Produkten Da nicht wenige Verleihunternehmen auch die Vermarktung der Videos sowie der Merchandising-Produkte selbst in die Hand nehmen, erzielen sie nicht nur Lizenzentgelte, sondern auch unmittelbare Verkaufserlöse. Besonders erfolgreiche Hollywood-Regisseure wie Steven Spielberg sichern sich sogar einen erheblichen Anteil an den Erlösen aus dem Merchandising und Licensing oder treten dort sogar selbst als Unternehmer auf. Dies alles zeigt noch einmal, warum vor allem amerikanische Filmproduzenten und Filmverleiher so außerordentlich erfolgreich sein können. Sie beherrschen alle Stationen einer möglichen Verwertungskette und planen diese Verwertungskette mindestens so frühzeitig und so sorgfältig wie den Film

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selbst. In Deutschland dagegen ist man schon sehr zufrieden, wenn wenigstens der Film gelingt und später vielleicht auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen eine Lizenz erwirbt. Doch wenn es den deutschen Filmproduzenten und Filmverleihern nicht bald gelingt, an die weltweiten Marktführer in der Filmverwertungskette Anschluss zu finden, wird es ihnen immer schwerer fallen, wenigstens noch ihre relativ kleine Marktposition weiter zu behaupten. 7.5 Filmtheater Die Filmtheater in Deutschland werden üblicherweise nach vier Gruppen unterteilt: • • • •

die Kinozentren und Einzelkinos die Programmkinos die Kommunalen Kinos die Multiplexe

Kinozentren und Einzelkinos werden in der Regel von einzelnen Betreibern geführt; es sind dies die traditionellen Kinos oder Lichtspieltheater am Ort. Sie gehen häufig zurück auf Großkinos mit mehr als 1.000 Sitzplätzen – das Universum-Lichtspielhaus in Berlin bot im größten Saal 1.800 Plätze –, die sich aber in den 70er Jahren beim besten Willen nicht mehr füllen ließen. Man zog deshalb Zwischenwände ein und machte aus einem Kinosaal ein halbes Duzend kleiner Kinos mit durchschnittlich etwa 100 Plätzen (abfällig als Schachtelkinos bezeichnet). Allerdings wurden damit auch die Leinwände kleiner, und auch das akustische Raumgefühl konnte nur mit hohem technischen Aufwand hergestellt werden. Als Programmkino bezeichnet man ein Filmtheater, das kommerziell von einem Kleinunternehmer betrieben wird und das für sich den Anspruch erhebt, ein anspruchsvolles Kinoprogramm nach künstlerischen Gesichtspunkten anzubieten. Solche Programmkinos folgen selten dem Mainstream und können deshalb auch nur dann wirtschaftlich überleben, wenn sie sich auf ein treues Publikum von Cineasten stützen können. Kommunale Kinos wurden vor allem in den 70er Jahren gegründet (siehe Kapitel 7.1). Sie werden entweder unmittelbar von einer Gemeinde betrieben oder aber als gemeinnützige Vereine aus Gemeindemitteln wesentlich gefördert. Sie haben es sich zum Ziel gesetzt, vor allem den künstlerischen Film zu zeigen, sowie solche Filme wieder dem Publikum zu präsentieren, die längst vergessen und vom Markt verschwunden sind. Programmkino und Kommunales Kino besetzen nur relativ kleine Nischen in der Filmtheater-Landschaft. Da

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sie in der Regel über ein kleines, aber treues Publikum verfügen, sind sie von den aktuellen Veränderungen am Kinomarkt relativ wenig berührt. Von Multiplexen spricht man, wenn sich unter einem Dach mindestens sechs, häufig aber sogar mehr als zehn Kinos für insgesamt etwa 2.200 bis 2.500 Besucher befinden. Da die Zahl der Multiplexe nur noch wenig über das Angebot aussagt, zählt man die im Komplex befindlichen Leinwände und meint damit die Räume, in denen Filme unabhängig von anderen Räumlichkeiten gezeigt werden können. Diese Multiplexe passen sehr gut in die Erlebnisorientierung und die »Kultur des Wählens« der Postmoderne. Zudem bietet ein Multiplex viele Event-Komponenten, vom eigentlichen Film über den Treffpunkt im Foyer und die Auswahl am Shop bis zum Kino-Café, ja selbst bis zum Entertainment über den hauseigenen Animateur. Folglich hat man es mit einem Angebot zu tun, das genau den veränderten Erwartungen des Kulturkonsumenten in der postmodernen Erlebnisgesellschaft entspricht. Da das neue Kinoangebot genau der Entwicklung des Rezeptionsverhaltens von Kinobesuchern in der Zeit der Postmoderne entsprach, wurde den Multiplexen eine glänzende Zukunft vorausgesagt. Und in der Tat erlebten die Multiplexe in der kurzen Zeit seit ihrem Entstehen – 1989 wurde in Hannover das erste Multiplex eröffnet – ungewöhnliche Zuwachsraten. In den 90er Jahren wurden jährlich 10 bis 15 neue Multiplexe eröffnet, so dass man im Jahr 2000 bundesweit bereits 128 Großkinos mit 1.162 Leinwänden zählen konnte. Inzwischen setzt sich zwar das Wachstum weiter fort, aber deutlich langsamer; 2004 waren es 1.314 Leinwände. Zwar wurden zwischenzeitlich einige Multiplexe bereits wieder geschlossen, doch wurden dafür andere Häuser immer größer. In Essen, Nürnberg, München, Berlin und Wien stehen inzwischen so genannte Megaplexe mit mehr als 15 Leinwänden für 5.000 und mehr Besucher. Multiplexe und Megaplexe werden vorwiegend von großen Kino-Ketten betrieben. Marktführer sind die Kino-Ketten CineStar, CinemaxX, Cineplex und Kinoplex. Die CineStar-Gruppe ist hervorgegangen aus der Lübecker Kinobetreiber-Familie Kieft. Die Geschwister Kieft gründeten 1995 ihr erstes Multiplex-Kino und übernahmen 2003 von der Ufa-Gruppe 30 Kinos. Damit wurde CineStar vorübergehend Marktführer in Deutschland. Allerdings zeigte sich, dass sich die Geschwister Kieft damit übernommen hatten; 2004 mussten sie ihr Unternehmen an die australische AHL (Amalgamated Holdings Limited) verkaufen, die damit heute Eigentümer der CineStar-Gruppe ist. Die Gruppe CinemaxX wurde 1998 in Hannover von dem dortigen Kino-Betreiber Hans-Joachim Flebbe gegründet. Im Gegensatz zum regionalen Konkurrenten Kieft konnte sich Flebbe behaupten; sein Unternehmen betreibt fast 50 Kinocenter. Deutlich kleiner ist die Cineplex-Gruppe, die neben 18 Multiplexen

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auch mehr als 40 Einzelkinos unterhält; sie hat ihren Sitz in Münster. Cineplex ist ein Verbund unabhängiger, mittelständischer Kinounternehmen, weshalb die Gruppe auch vorwiegend in Mittelstädten angesiedelt ist. Kinopolis entstand ebenfalls aus dem mittelständischen Bereich und hat seinen Schwerpunkt in Süddeutschland. Daneben gibt es auch Kinobetreiber, die nur ein oder zwei Multiplexe unterhalten. Der Besucheranteil der Multiplexe ist nach wie vor sehr hoch; er lag 2005 bei fast 47 %. Bemerkenswert und auch besorgniserregend ist allerdings, dass die Besuchszahlen der Multiplexe der ersten bis sechsten Generation (Baujahre 1990 bis 1998) durchweg rückläufig sind. Die nach wie vor bestehenden Steigerungsraten kommen allein durch die Neugründungen zustande. Offensichtlich benötigt die Kinobranche der schnelllebigen Erlebnisgesellschaft immer wieder einen neuen Kick; selbst Innovationen, die gerade mal wenige Jahre alt sind, verlieren schon an Attraktivität. Insgesamt hat sich die Kinobranche von den Besucherzahlen her in den letzten zehn Jahren recht positiv entwickelt. Zwar ist man noch weit entfernt von den Höhenflügen der Nachkriegsjahre – 1956 zählte man allein in Westdeutschland über 800 Mio. Kinobesuche – doch ist auch die Talsohle des Jahres 1992 mit 106 Mio. Besuchen – dem schlechtesten Ergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik – deutlich überwunden. Auch verläuft die Entwicklung der Besuchszahlen durchaus nicht immer kontinuierlich, wie der dramatische Einbruch 2005 zeigt, aber tendenziell ist eine positive Entwicklung nicht übersehbar: Tabelle 25: Kino-Besuche und Bruttoeinnahmen zwischen 1995 und 2005 Jahr

Besuche in Millionen

Filmtheater-Bruttoeinnahmen in €

1995

124,5

604,9

1996

132,9

671,8

1997

143,1

751,1

1998

148,9

818,2

1999

149,0

808,1

2000

152,6

824,5

2001

177,9

987,2

2002

163,9

960,1

2003

149,0

849,8

2004

156,7

892,9

2005

127,3

745,0

Quelle: SPIO e.V. und Filmförderungsanstalt

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Die bereits mehrfach erwähnten Schwankungen sind vor allem auf die hohe Abhängigkeit von so genannten Blockbustern zurückzuführen. Eine Untersuchung der Filmförderungsanstalt hat gezeigt, dass vor allem die Filme mit mehr als 1 Mio. Besuchen für die Gesamtbesucherzahl ausschlaggebend sind; sie machen im Durchschnitt zwei Drittel aller Besuche aus. 2001, in dem seit der Deutschen Einheit bisher besten Kinojahr (177,9 Mio. Besuche), überschritten 46 Filme die Millionengrenze, während es 2003, in einem relativ schlechten Jahr (149,0 Mio. Besuche), nur 36 Filme waren. Den Schwankungen der Besucherzahlen entsprechen auch die Veränderungen bei den Umsatzzahlen. Hier sind die Spielräume relativ gering, da sich die Eintrittspreise seit Jahren bei einer durchschnittlichen Größenordnung von 5,50 € bis 5,80 € eingependelt haben. Da die Zahl der Besuche pro Sitzplatz seit Jahren relativ konstant ist (2005 waren es 148 Besuche je Sitzplatz), ist eine Erhöhung der Eintrittspreise mit erheblichen Risiken verbunden. Folglich ist der zusätzliche Umsatz, der durch den Verkauf von Speisen und Getränken – auch außerhalb des Kinosaals – erzielt wird, von steigender Bedeutung. 2004 gab jeder Besucher durchschnittlich 2,09 € für Speisen und Getränke aus, d.h. etwa ein Viertel seiner Ausgaben für den Kinobesuch entfielen auf Verzehrkosten. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die relativ hohen Umsatzahlen vom verbleibenden Gewinn weit entfernt sind. Abzuziehen sind nämlich nicht nur die Betriebskosten, sondern vor allem die Lizenzentgelte, die der Kinobetreiber an den Verleiher zu zahlen hat. Zurzeit liegen diese Entgelte bei 40 bis 50 % der Einnahmen aus dem Kartenverkauf, und dies mit steigender Tendenz. Vereinzelt werden bereits 53 % gefordert (vgl. MEDIA Magazin 02/2005: 14f.). Ergänzend zur Besuchs- und Umsatzstatistik ist noch anzumerken, dass es zwar einen Anstieg der Leinwände gibt (2005: 4.889 gegenüber 1995: 3.901), gleichzeitig aber die Zahl der Standorte rückläufig ist. Zählte man 1995 noch 1.109 Standorte, so waren es 2005 nur noch 1.035, also 6,7 % weniger innerhalb von zehn Jahren. Dahinter verbirgt sich eine Konzentration, die zu einer Verschlechterung der Kinoversorgung in der Breite führt, was sich vor allen in Kleinstädten und im ländlichen Raum niederschlägt. Gleichwohl hat die Filmtheaterbranche wieder eine Stabilität erreicht, wie sie noch Mitte der 80er Jahre niemand erwarten konnte. Damals stagnierte die Branche bei 110 Mio. Besuchen, was sich auch nach der Deutschen Einheit kaum änderte. Dass in den letzten Jahren durchschnittlich 150 Mio. Besuche erreicht werden, ist eine erfreuliche Entwicklung. Allerdings bleibt abzuwarten, wie sich die immer bessere DVD-Bildqualität und die deutlich verbesserte Raumklangqualität auf diese positive Entwicklung auswirken. Auch der vermehrte Kauf hochauflösender Bildschirme und Beamer zur Fußball-

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weltmeisterschaft 2006 wird sich möglicherweise auf eine Wiederentdeckung des heimischen Wohnzimmer-Kinos auswirken. 7.6 Rahmenbedingungen des Filmbetriebs Wichtigste Rahmenbedingungen des Filmbetriebs in Deutschland sind einerseits direkte und indirekte Fördermaßnahmen aus öffentlichen Kassen sowie andererseits das Urheberrecht. Grundlage der staatlichen Filmförderung ist das Gesetz über Maßnahmen zur Förderung des deutschen Films – Filmförderungsgesetz (FFG) vom 22. Dezember 2003 (Bundesgesetzblatt I Nr. 64: 2771) mit Wirkung ab 1. Januar 2004. Das FFG trat zum ersten Mal 1968 in Kraft und wurde seither mehrfach novelliert. Zur Umsetzung dieses Gesetzes hat der Bund 1968 in Berlin die Filmförderungsanstalt (FFA) gegründet. Über sie heißt es in § 1 des FFG: »Die Filmförderungsanstalt (FFA) fördert als bundesweite Filmförderungseinrichtung die Struktur der deutschen Filmwirtschaft und die kreativ-künstlerische Qualität des deutschen Films als Voraussetzung für seinen Erfolg im Inland und im Ausland. Sie ist eine bundesunmittelbare rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts.«

Im Einzelnen sieht das FFG für die Filmförderungsanstalt folgende Aufgaben vor: (1) Förderung des deutschen Films sowie Verbesserung der Struktur der deutschen Filmwirtschaft; (2) Unterstützung der gesamtwirtschaftlichen Belange der Filmwirtschaft in Deutschland; (3) Verbesserung der internationalen Orientierung des deutschen Filmschaffens und seiner wirtschaftlichen und kulturellen Ausstrahlung im Ausland; (4) Unterstützung deutsch-ausländischer Gemeinschaftsproduktionen; (5) Unterstützung der Zusammenarbeit zwischen der Filmwirtschaft und den Fernsehveranstaltern; (6) Beratung der Bundesregierung in zentralen Fragen der Belange des deutschen Films; (7) Abstimmung und Koordinierung der Filmförderung des Bundes und der Länder. Zur Finanzierung ihrer Aufgaben erhält die FFA einerseits Zuschüsse aus Bundesmitteln und erhebt anderseits eine Filmabgabe. Für jeden Kinosaal beträgt die Filmabgabe, sofern mehr als 75.000 € Bruttoumsatz erzielt wer-

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den, zwischen 1,8 % und 3 % des Jahresbruttoumsatzes. Zahlungspflichtig sind auch Videotheken bzw. die Lizenzinhaber von Spielfilm-Videos; sie zahlen je nach Umsatz zwischen 1,8 und 2,3 % ihres Jahresbruttoumsatzes. Insgesamt erzielte die FFA im Jahr 2004 Einnahmen aus der Filmabgabe in Höhe von 22,2 Mio. € sowie 16,2 € aus den Abgaben der Videowirtschaft. Zusammen mit den Lizenzabgaben der Fernsehanstalten und sonstigen Einnahmen erreichte die FFA in 2004 Gesamteinnahmen in Höhe von 77,4 Mio. €. Die Filmförderung der FFA erfolgt nach zwei Prinzipien, dem Referenzprinzip und dem Projektprinzip: »Die Förderung nach dem Projektprinzip erfolgt in Form eines bedingt rückzahlbaren Darlehens. Es ist nur dann zu tilgen, wenn Erlöse eingespielt werden. Es können Darlehen mit einem Regelbetrag von 250.000 Euro bewilligt werden, in besonderen Fällen auch bis zu einer Höhe von 1.000.000 Euro. Über eine solche Bewilligung entscheidet die Vergabekommission, die [...] nur dann ein Darlehen zuerkennen, wenn das eingereichte Filmvorhaben aufgrund des Drehbuches und der Stab- und Besetzungsliste einen Film erwarten lässt, der geeignet erscheint, die Qualität und die Wirtschaftlichkeit des deutschen Filmes zu verbessern« (FFA-Geschäftsbericht 2004: 18).

2004 wurden 31 Filme mit einer Summe von 11,7 Mio. € nach dem Projektprinzip gefördert. »Das Referenzprinzip bietet dem Hersteller eines bereits erfolgreichen deutschen Filmes eine nachträgliche Förderung, bedeutet also eine Anerkennung für die geleistete Arbeit. In diesen Fällen werden Zuschüsse gewährt, die nicht zurück gezahlt werden müssen. Sie sollen vorrangig in neue Filmprojekte investiert werden, können aber auch für die Erhöhung des Stammkapitals oder für die Preproduction verwendet werden. Die Mittel müssen zwei Jahre nach der letzten Zuerkennung abgefordert werden. Voraussetzung für eine Förderung ist, dass der Film hinreichend Referenzpunkte erreicht hat. Die Höhe des Zuschusses ist abhängig von der erreichten Referenzpunktzahl. Die Referenzpunktzahl errechnet sich zum einen aus der Höhe der Besucherzahl im Kino, zum anderen wird die Teilnahme, die Nominierung oder der Erfolg bei international bedeutsamen Festivals und die erhaltenen Filmpreise mit Punkten dotiert« (ebd.).

2004 wurden 77 Filme mit einer Summe von 16,1 Mio. € nach dem Referenzprinzip gefördert. Vor allem die Förderung nach dem Referenzprinzip ist sehr umstritten, da es sich um erfolgsbezogene Mittel handelt, d.h. erfolgreiche Filme werden belohnt und weniger erfolgreichen wird keineswegs geholfen. Das in der Kulturförderung vielfach geltende Prinzip »Fördern, was es schwer hat!« gilt hier

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offensichtlich nicht. Diese Abweichung erklärt sich wiederum dadurch, dass Filmförderung nach dem Referenzprinzip vorrangig als Wirtschaftsförderung denn als Kulturförderung verstanden wird. Kulturförderung im engeren Sinne findet in erster Linie über die qualitätsorientierte Förderung nach dem Projektprinzip statt. Beide Förderprinzipien gelten für die Produktionsförderung, die Drehbuchförderung, die Verleihförderung, die Filmtheaterförderung und für einige kleinere Förderbereiche. • Produktionsförderung Gefördert wird die Produktion so genannter programmfüllender Filme mit einer Vorführdauer von mindestens 79 Minuten oder von Kurzfilmen von höchstens 15 Minuten Vorführdauer, sofern dem Film ein Prädikat der Filmbewertungsstelle Wiesbaden zuerkannt worden ist oder er innerhalb von zwei Jahren nach der Freigabe und Kennzeichnung einen im Filmförderungsgesetz näher bezeichneten Preis erworben hat. • Drehbuchförderung Zur Herstellung von Drehbüchern für programmfüllende Filme können Zuschüsse bis zu 25.000 €, in Ausnahmefällen bis zu 50.000 € zuerkannt werden. • Filmverleihförderung Auch hier gelten wieder die Kategorien Referenzprinzip (Zuschüsse) und Projektprinzip (Darlehen). Dabei variieren die Höchstbeträge je nach Maßnahme. Höchstbeträge für Darlehen bewegen sich zwischen 150.000 € und 600.000 €; für Zuschüsse bis 100.000 €. • Filmtheaterförderung Seit 1968 gibt es eine nach dem Referenzprinzip errechnete Zuschussförderung für alle Filmtheaterbetreiber, die Filmabgabe zahlen bzw. gezahlt haben. Zur Modernisierung und Verbesserung von Filmtheatern sowie zu ihrer Neuerrichtung können zinslose Darlehen bis zu 200.000 € gewährt werden. Ferner können Zuschüsse für Filmkopien in- und ausländischer Filme gewährt werden, die zum Einsatz in Orten mit in der Regel bis zu 20.000 Einwohnern bestimmt sind, wenn die Filme eine Besucherzahl von insgesamt mehr als 1,5 Millionen erwarten lassen. • Sonstige Förderungen Darüber hinaus ist eine Förderung von Videotheken und Videoprogrammanbietern möglich. Zudem fördert die FFA filmberufliche Fortbildung, Forschungs-, Rationalisierungs- und Innovationsmaßnahmen sowie Werbemaßnahmen für den deutschen Film im In- und Ausland. Neben der Filmförderungsanstalt sind auch der Bund über den Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, die Bundesländer sowie die öffentlichen und

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privaten Fernsehanstalten in der Filmförderung aktiv. Im Jahr 2003 wurden insgesamt folgende Fördersummen gezahlt: Tabelle 26: Staatliche Filmförderung in Deutschland 2003 Förderinstitutionen

Fördersummen (in Mio. €)

Filmförderungsanstalt (FFA)

76,5

Bundesbeauftragter für Kultur und Medien

23,1

Filmstiftung Nordrhein-Westfalen

36,6

Film-Fernseh-Fonds Bayern

32,4

Filmboard Berlin-Brandenburg

17,2

Mitteldeutsche Medienförderung

14,0

Filmförderung Baden-Württemberg

10,3

Filmförderung Hamburg Nordmedia Fonds Summe

9,7 8,8 228,5

Quelle: FFA-Geschäftsbericht 2004

Daneben gibt es noch eine europäische Filmförderung (Eurimages), die über die FFA abgewickelt wird. Von den 19,3 Mio. €, die dort 2004 zur Verfügung standen, wurden 2,7 Mio. € für 22 Projekte mit deutscher Beteiligung gewährt. Insgesamt ist die Filmförderung recht beachtlich; immerhin lässt sich aus diesen Zahlen eine Subventionierung pro Arbeitsplatz der deutschen Filmwirtschaft von etwa 5.000 € pro Jahr errechnen (vgl. http://www.medien maerkte.de/artikel/kino/040502_film_foerderung.html vom 30.1.2006). Kritisiert wird aber, dass diese Förderung einerseits zu breit gestreut ist und andererseits durch das Referenzprinzip den ohnehin erfolgreichen Film zusätzlich unterstützt. Von den 95 programmfüllenden deutschen Filmen bzw. Koproduktionen unter deutscher Beteiligung, die 2004 in Deutschland uraufgeführt wurden, erhielten allein 59 eine Förderung der FFA und des Bundesbeauftragten für Kultur und Medien. Erfolgreichste Uraufführung mit 6,5 Mio. Besuchern allein in 2004 war 7 Zwerge – Männer allein im Wald; dieser Film erhielt eine Förderung von 2,366 Mio. €. An zweiter Stelle rangierte Der Untergang mit 4,5 Mio. Besuchern (nur in 2004); diese Produktion wurde mit 1,2 Mio. € subventioniert (vgl. FFA-Geschäftsbericht 2004: 45-50). Beide Filme erwiesen sich als wirtschaftlich erfolgreich; warum sie dennoch aus öffentlichen Mitteln subventioniert wurden, ist für viele Filmschaffende eine unbeantwortete Frage. Diese Frage verschärft sich noch, wenn man auch die Länderförderung und die Mittel aus der TV-Förderung hinzurechnet. So er-

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hielt der erfolgreichste Film des Jahres 2003 (Das Wunder von Bern) eine öffentliche Förderung aus unterschiedlichen Töpfen in Höhe von 7,4 Mio. €. Umgekehrt werden aber auch – trotz des am Erfolg orientierten Referenzprinzips – regelrechte Flops hoch subventioniert. So erhielt der 2003 vom Verleih Pegasos angebotene Film My sweet home eine Förderung von fast 400.000 €, obwohl er nur 1.225 Zuschauer fand. Das ergibt eine öffentliche Subventionierung von 320 € je Zuschauer, die damit die durchschnittliche Bezuschussung je Zuschauer in öffentlichen Theatern mehr als das Dreifache übersteigt. So fragwürdig die Filmförderung mit Blick auf ihre Förderprinzipien ist, so zweifelhaft ist inzwischen auch die dahinter stehende wirtschaftspolitische Intention. Vor allem die Bundesländer haben ihre Filmförderung mit Blick auf ihre Standortpolitik eingerichtet; über die ländereigene Förderung wollten sie sich attraktive Medienstandorte im Land sichern. Doch weil heute in vielen Fördertöpfen etwas zu holen ist, wird eine Filmproduktion zunehmend auf mehrere Standorte verteilt, um an den unterschiedlichen Förderprogrammen der Bundesländer partizipieren zu können. Der ehemals mit der Errichtung der Filmförderprogramme erhoffte Standortfaktor erweist sich damit als nur bedingt erfolgreich. Neben dieser wirtschaftlichen Filmförderung gibt es seitens der öffentlichen Hand auch eine künstlerische Filmförderung, die früher dem Bundesminister des Innern unterstand und heute zum Arbeitsbereich des Bundesbeauftragten für Kultur und Medien zählt. Im Mittelpunkt steht der Deutsche Filmpreis (Filmband in Gold bzw. Silber), der jährlich für die besten Filme und für herausragende filmische Leistungen (Regisseure, Schauspieler, Kameraführung) vergeben wird. Ausgezeichnet werden auch herausragende Jahresfilmprogramme der Kinos sowie die Arbeit von Filmprogrammgestaltern. Um vor allem das Kapital für Filmproduktionen zusammenzubekommen, wurden bereits in den 70er Jahren so genannte Medienfonds errichtet. Über diese Fonds können private Anleger Kapital für die Herstellung von Filmen bereitstellen und erhalten aus den Gewinnen des Films eine entsprechende Verzinsung. Das klingt gut, ist in Wahrheit aber noch viel besser. Da es sich bei Filmen um immaterielle Wirtschaftsgüter handelt, müssen Investitionen sofort und vollständig abgeschrieben werden, d.h. steuerlich ergibt sich zunächst einmal ein erheblicher Verlust, der die Gesamtsteuerschuld des Investors entsprechend mindert. Fließen dann später tatsächlich Erträge aus dem Fonds zurück, so werden sie entweder über eine Kommanditgesellschaft mit neuen steuermindernden Investitionen verrechnet oder der Investor zahlt – weil er inzwischen vielleicht Rentner ist – nun einen niedrigeren Steuersatz, so dass sich insgesamt in jedem Fall ein steuerlicher Gewinn ergibt. In der Praxis aber tritt dieser (unerwünschte) Fall eher selten ein, da sich an einem

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Gewinn des Films zunächst viele andere bedienen (Produzent, Verleiher, Filmtheater usw.). Eine Untersuchung aus dem Jahr 2003 bestätigt denn auch, dass nur drei von 20 Fondsfilmen wieder unmittelbare Erträge ausgeworfen haben (vgl. Stuttgarter Zeitung vom 28.8.2004). Wie bei allen steuersparenden Investmentfonds spürt man ein gewisses Unbehagen, das man aber mit Blick auf die zweifelsfrei damit verbundene private Filmförderung leicht in Kauf nimmt. Allerdings zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass nur ein geringer Anteil dieses Kapitals der deutschen Filmproduktion dient; stattdessen wandern etwa 80 % dieser Gelder in die USA. Filme wie Der Herr der Ringe, Terminator, Mission Impossible oder Gangs of New York wurden etwa zu 20 % mit Kapital aus deutschen Medienfonds finanziert. Bis 2004 wurden jährlich etwa 2 Mrd. € in solche Medienfonds eingezahlt, von denen bei weitem der größte Teil in Hollywood landete. Widerstand gegen solche Medienfonds gibt es also von zwei Seiten. Zum Einen fürchtet die Bundesregierung ein zunehmend größeres Steuerschlupfloch. In zwei Medienerlassen (2003 und 2004) hat sie deshalb versucht, die Bedingungen für Medienfonds zu verschärfen und vor allem durch eine Abschreibung über einen Zeitraum von zehn Jahren den Fonds unattraktiv zu machen. Zum Zweiten gibt es Bemühungen, die Fonds auch für deutsche Filmproduktionen zu stärken. Um Letzteres zu unterstützen, hat die Bundesregierung 2005 einen Risikokapitalfonds über 90 Mio. € eingerichtet, über den die deutsche Filmwirtschaft Zugang zu zusätzlichem Kapital erhalten soll. Angesichts des im Vergleich zum Kapital der Medienfonds minimalen Betrags (2003 betrug das Eigenkapital und Fremdkapital der Medienfonds 4,2 Mrd. €) ist der Erfolg dieser Bemühungen allerdings noch sehr fraglich. Es bleibt mithin festzuhalten, dass der Staat den Filmbetrieb in erheblichem Umfang fördert. Neben der unmittelbaren Förderung über die FFA und diversen Länderprogrammen mit insgesamt rund 230 Mio. € (in 2004) gibt es auch eine indirekte Filmförderung durch einen bewussten Verzicht auf Steuereinnahmen. Dies betrifft zunächst den Filmverleih und den Kinobetrieb, denn beide Bereiche kommen nach § 12 Abs. 2 Ziffer 7b in den Genuss des ermäßigten Umsatzsteuersatzes. Wenn man bedenkt, dass allein die Filmtheater etwa die Hälfte ihres Umsatzes von jährlich rund 900 Mio. € aus dem Verkauf von Eintrittskarten erzielen, dann ergibt sich allein dort ein Verzicht auf Steuereinnahmen in Höhe von ca. 40 Mio. €. Hinzu kommen noch die Steuerausfälle aus dem Filmverleih. Die indirekte Filmförderung durch steuerliche Mindereinnahmen gilt aber vor allem für die genannten Medienfonds. Da diese Fonds vorwiegend von Spitzenverdienern mit dem höchsten Steuersatz genutzt werden, kann man – bei Einbeziehung aller nur möglichen steuerlichen Vorteile – von einer Steuerersparnis von ca. 50 % ausgehen. Das bedeutet, dass von den 2,5 Mrd. €, die 2003 als Fremdkapital in die Medien-

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fonds flossen, 1,25 Mrd. € aus einer indirekten öffentlichen Förderung stammten. Aus direkter und indirekter Förderung ergibt sich demnach eine Summe von rund 1,5 Mrd. €. Damit liegt die Filmförderung noch über der staatlichen und kommunalen Förderung der Museen, Sammlungen und Ausstellungen. Nur – wie gesagt – fließt der bei weitem größte Teil dieser Summe in vorwiegend US-amerikanische Filmproduktionen und schadet somit dem deutschen Filmbetrieb mehr, als er ihm nutzt. Es ist deshalb durchaus auch im Sinne der deutschen Filmwirtschaft, dass die Bundesregierung der Filmförderung über Medienfonds 2005 einen Riegel vorgeschoben hat. Neben der direkten und indirekten Förderung ist als weitere wichtige Rahmenbedingung das Urheberrecht zu nennen. Nach § 2 Abs. 1 Ziffer 6 Urheberrechtsgesetz (UrhG) gehören auch »Filmwerke, einschließlich der Werke, die ähnlich wie Filmwerke geschaffen wurden« zu den geschützten Werken in Sinne des Urheberrechts. Die im UrhG aufgeführten Schutzrechte gelten für Filmwerke ähnlich wie für andere Kunstwerke, weshalb auf die Gesamtdarstellung in Abschnitt 2.2 verwiesen werden kann. Innerhalb des allgemeinen Teils des Urheberrechtsgesetzes besteht eine Besonderheit hinsichtlich der Dauer des Urheberrechts. In § 65 Abs. 2 UrhG heißt es: »Bei Filmwerken und Werken, die ähnlich wie Filmwerke hergestellt werden, erlischt das Urheberrecht siebzig Jahre nach dem Tod des Längstlebenden der folgenden Personen: Hauptregisseur, Urheber des Drehbuchs, Urheber der Dialoge, Komponist der für das betreffende Filmwerk komponierten Musik.« Darüber hinaus werden die »Besonderen Bestimmungen für Filme« im Teil 3 des Gesetzes (§§ 88-95) geregelt. Darin ist u.a. geregelt, dass die Verfilmung beispielsweise eines Romans dem Hersteller des Films große Freiheiten einräumt, was bedeutet, dass mit der Verfilmung ein Kunstwerk mit einer urheberrechtlichen Eigenständigkeit entsteht. Andererseits kann der Verfasser des Romans sein Werk nach zehn Jahren von einem anderen Filmregisseur neu verfilmen lassen, d.h. das Recht der Verfilmung eines Romans bleibt beim Autor. Zu den besonderen Bestimmungen zählt auch ein herausragender Schutz des Filmherstellers. Allein der Filmhersteller, also der Filmproduzent, hat das Recht, das Werk zu vervielfältigen und zu verbreiten, sofern er dieses Recht nicht auf einen anderen (z.B. den Filmverleiher) übertragen hat (§ 94 Abs. 2 UrhG). Allerdings erlischt dieses Recht des Filmproduzenten – abweichend von anderen Urheberrechten – bereits nach 50 Jahren (§ 94 UrhG). Ähnlich wie im Musikbereich hat auch der Filmbetrieb vor allem mit dem rechtswidrigen Herunterladen von Filmen aus dem Internet sowie mit Raubkopien von DVDs zu kämpfen. Um das Ausmaß dieser Urheberrechtsverletzungen einschätzen und Gegenmaßnahmen einleiten zu können, werden seit einigen Jahren so genannte Brennerstudien erstellt. Die Brennerstudie 2005

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zeigt, dass die Medienpiraterie inzwischen dramatische Ausmaße angenommen hat. »Im ersten Halbjahr 2005 wurden fast 12 Mio. Spiel- und Kinofilme kostenlos aus dem Internet heruntergeladen, das waren 1,6 Mio. bzw. 16 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Bemerkenswert ist die Zunahme der Reichweite: 1,7 Mio. Deutsche haben illegal Filme aus dem Internet heruntergeladen. Somit wird das illegale Downloaden von Spielfilmen mehr und mehr zu einem Breitenphänomen. 10 Prozent der Befragten geben an, Spielfilme bereits vor dem Kinostart herunterzuladen. 34 Prozent der Downloader werden erst nach dem Kinostart, jedoch bevor es den Spielfilm auf DVD/VHS im Handel oder in der Videothek gibt, aktiv« (Pressemitteilung der FFA vom 31.1.2006 zur Brennerstudie 2005).

Ähnlich dramatisch sind die Ergebnisse hinsichtlich des illegalen Brennens von DVDs. »In den ersten sechs Monaten 2005 brannten sieben Mio. Personen insgesamt 58,4 Mio. Spiel- und Kinofilme. Das bedeutet rund 10 Mio. Filme mehr als im Vergleichszeitraum 2004 und einen Zuwachs um 15 Prozent. Mehr als die Hälfte der Brenner ist männlich und kommt vornehmlich aus den Kinogänger-Kernzielgruppen zwischen 20 und 29 Jahren und 30 bis 39 Jahren« (ebd.).

Illegales Downloaden und Brennen von DVDs hat für die Filmindustrie handfeste wirtschaftliche Auswirkungen. Laut Bennerstudie 2005 hat der Kinobesuch bzw. das Videokaufen oder -leihen bei den Raubkopierern um rund 25 % nachgelassen, rund 19 % nehmen dieses Filmangebot gar nicht mehr wahr. Um illegalem Herunterladen und Brennen entgegenwirken zu können, hat die Filmbranche die Gesellschaft zur Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen e.V. (GVU) gegründet. Sie ist Mitglied im Netzwerk der internationalen Antipiraterie-Organisationen der MPA (Motion Picture Association), die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Verbreitung von Raubkopien einzudämmen und den durch sie entstehenden wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen. Nach Auskunft der GVU fügt die Piraterie den Branchen Film und Entertainmentsoftware jährlich Verluste in Höhe von mehreren 100 Mio. € zu. Allerdings ist bei weitem nicht jedes Downloaden oder Brennen rechtlich verboten. Herunterladen oder das Kopieren für private Zwecke sind grundsätzlich erlaubt, sofern davon nicht mehr als sieben Kopien für den privaten Gebrauch hergestellt werden. Verboten ist es, Kopien an Dritte zu verkaufen oder von Dritten zu kaufen, beispielsweise über Internet-Tauschbörsen. Wer also auf dubiosen Wegen per Internet eine DVD erwirbt, bei der er nicht si-

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cher sein kann, ob es sich nicht möglicherweise um eine illegale Kopie handelt, macht sich strafbar. Verboten ist es zudem, bei Kopien einen Kopierschutz durch elektrotechnische Manipulationen zu umgehen. Allerdings ist es recht strittig, ab wann man von einem wirksamen Kopierschutz ausgehen kann. Alles in allem sind aber Privatkopien oder privates Downloaden nicht wirklich problematisch, da der wirtschaftliche Schaden relativ gering ist; er ist kaum höher, als dies früher bereits bei kopierten Musikkassetten der Fall war. Wirklich problematisch für die Branche ist dagegen die illegale Verbreitung von Filmen über Internet-Tauschbörsen. Hier unterscheidet sich die Situation der Filmbranche kaum von der der Musikbranche. Eine wirkungsvolle Lösung des Problems ist hier wie dort nicht in Sicht. 7.7 Standortbestimmung und Perspektiven Nach einer langen Durststrecke in den 70er und 80er Jahren hat sich der Filmbetrieb in Deutschland seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre spürbar erholt. Nicht zuletzt dank der Multiplexe und technisch aufwendiger Filme, die auf die neuen Möglichkeiten der Multiplexe abgestellt sind, steigen die Besucherzahlen in den Kinos wieder. Zwar ist man nach wie vor weit entfernt von den Besucherzahlen der 50er Jahre, doch reichen sie aus, um für die nächsten beiden Jahrzehnte ein Überleben der Branche vorauszusagen. Sehr positiv entwickelt hat sich zudem der deutsche Film. Nachdem man vorübergehend befürchten musste, dass er fast gänzlich aus den Kinos verschwinden werde, erreichte er zuletzt wieder durchschnittlich 20 % Anteil am Verleihumsatz. Dennoch besteht noch kein Anlass zu entspannter Zufriedenheit. Die gesamte Filmbranche in Deutschland ist abhängig von den Blockbustern; ein Jahr ohne mindestens einen Blockbuster schlägt sich deutlich in der Statistik nieder (vgl. die Ergebnisse für 2005). Das gilt auch für den deutschen Film. Zwar sollte man hier nicht von Blockbustern sprechen, doch ist auch hier der Erfolg einiger weniger Filme entscheidend für das Gesamtbild. Die Filmbranche in Deutschland bewegt sich mithin auf einem schmalen Grat; ein Absturz in die Zahlen der 80er Jahre ist jederzeit wieder möglich. Dies hat nicht nur künstlerische, sondern zum Teil auch strukturelle Gründe. Nicht wenige Kulturpolitiker kritisieren, dass im Filmgeschäft der ständige Blick auf die öffentliche Förderung eher schädlich als nützlich ist. Im Jahresdurchschnitt der letzten Jahre erhielten etwa 80 % aller programmfüllenden deutschen Spielfilme eine Förderung nach dem Filmförderungsgesetz bzw. aus Mitteln der Länder. Dies führt dazu, vorhandene Strukturen beizubehalten, denn dank der Filmförderung sind auch Low-Budget-Produktionen finanziell erträglich. Würde man dagegen die Filmproduktion stärker dem Markt

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überlassen, käme es zwangsläufig zu einer Konzentration und damit auch zu kapitalkräftigeren Strukturen. Dass daraus nicht eine Minderung der künstlerischen Qualität folgen muss, zeigt das amerikanische Beispiel. Stattdessen ist die Filmindustrie in Deutschland ganz auf die öffentliche Förderung ausgerichtet und produziert deshalb häufig Filme, die weder wirtschaftlich noch künstlerisch erfolgreich sind. Eine Konzentration der Filmproduktion und des Filmverleihs würde den deutschen Filmbetrieb auch für private Investoren interessant machen. Dass deutsche Medienfonds ihr Kapital in Hollywood-Produktionen stecken, hat nicht nur mit den besseren Erfolgsaussichten der Hollywood-Filme zu tun, sondern auch damit, dass dort Partner zur Verfügung stehen, die mit den gewaltigen Kapitalsummen der Medienfonds auch etwas anzufangen wissen. Wenn die deutsche Filmindustrie im internationalen Filmgeschäft wieder Anschluss gewinnen will, muss sie Strukturen schaffen, die mit den amerikanischen Vorgaben wenigstens halbwegs mithalten können. Es müssen also leistungsfähige und kapitalstarke Unternehmen gebildet werden, die zu teuren Produktionen und weltweiten Vermarktungskampagnen in der Lage sind. Eine Filmwirtschaft, die ihr Wohl und Weh vorwiegend an den Richtlinien der staatlichen Filmförderung ausrichtet, wird auf dem internationalen Filmmarkt immer nur Einzelerfolge verbuchen können. 7.8 Internetadressen und Standardwerke http://www.spio.de/ Spitzenorganisation der deutschen Filmwirtschaft e.V. http://www.ffa.de/ Filmförderungsanstalt http://www.vdfkino.de/ Verband der Filmverleiher e.V. http://www.bvv-medien.de/index.shtml/ Bundesverband Audiovisuelle Medien e.V.

Clevé, Bastian (Hrsg.) (2004): Von der Idee zum Film. Produktionsmanagement für Film und Fernsehen, 4., völlig überarbeitete Aufl. Reihe Praxis Film, Band 6, Konstanz Eggers, Dirk (2006): Filmfinanzierung. Grundlagen, Beispiele, Berlin Gordon, Michael (1998): Kosten und Nutzen wirtschaftlicher Filmförderung. Schriftenreihe zur Film-, Fernseh- und Multimediaproduktion, Band 11, Potsdam Hahn, Anke/Schierse, Anna (2004): Filmverleih. Zwischen Filmproduktion und Kinoerlebnis, Reihe Praxis Film, Band 15, Konstanz Simonis, Stefan (2000): Multiplex-Kinos. Entwicklung der Kino-Landschaft in Deutschland. Marketingstrategien & Erfolgsfaktoren, Aachen

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Spitzenorganisation der Filmwirtschaft e.V. (2005): Filmstatistisches Jahrbuch 2005, zusammengestellt und bearbeitet von Wilfried Berauer. Schriftenreihe zu Medienrecht, Medienproduktion und Medienökonomie, Band 12, Baden-Baden Storm, Sebastian (2000): Strukturen der Filmfinanzierung in Deutschland, Schriftenreihe zur Film-, Fernseh- und Multimediaproduktion, Band 6, Berlin

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Der Blick auf fünf spartenbezogene Kernbereiche des Kulturbetriebs hat gezeigt, dass der Kulturbetrieb bei weitem nicht so monolithisch und konstant ist, wie man dies aufgrund der einleitenden rechtlich-strukturellen Beschreibung erwarten durfte. Das bedeutet, dass die vielleicht etwas naive Vorstellung, Kunst und Kultur würden sich weiterentwickeln, während der die Kultur institutionalisierende Kulturbetrieb weitgehend unverändert bestehen bliebe, dringend der Revision bedarf. Oder anders formuliert: Die Selbsterhaltungslogik, mit der vor allem in traditionellen Kulturbetrieben wie den Theatern, Orchestern oder Museen für die Beibehaltung dieser Betriebe mit ihren Strukturen und Arbeitsformen argumentiert wird, widerspricht den tatsächlichen Entwicklungen. Doch ab einem bestimmten Zeitpunkt ist es dringend erforderlich, sich diese Veränderungsprozesse im Kulturbetrieb zu vergegenwärtigen und sich dem Veränderungsdruck zu stellen, weil eine späte oder gar zu späte Reaktion immer zu Einschränkungen in den persönlichen und institutionellen Gestaltungsspielräumen führt. Autor – Interpret – Rezipient: Die Herrschaft der »mittleren« Position Mehrfach wurde das Verhältnis von Autor, Interpret und Rezipient im Kulturbetrieb angesprochen. Dabei hat sich erwiesen, dass dieses Verhältnis geradezu als Indikator für den Zustand des Kulturbetriebs herangezogen werden kann. So hat sich beispielsweise gezeigt, dass in heutiger Zeit die Rolle des Interpreten bzw. die dem Interpreten nahe stehende Rolle des Vermittlers die bei weitem dominierende ist. Dies gilt vor allem für den Musikbetrieb, wo der Komponist als musikalischer Autor teilweise schon in Vergessenheit geraten ist und nur noch der Interpret genannt wird. Mit Blick auf den Musikbetrieb, den Filmbetrieb, den Literaturbetrieb und auch den Kunstbetrieb war zudem zu beobachten, dass die – um es bildlich zu sagen – mittlere Position zwischen Autor und Publikum aus ökonomischer Sicht die interessanteste ist. Musikinterpreten und Musikvermarkter, Verleger und Buchhändler, Filmverleiher und der gesamte Kunsthandel bestimmen letztlich die ökonomische Dimension des Kulturbetriebs; Komponisten, Literaten, Maler und Bildhauer sind hier – ökonomisch betrachtet – immer von sekundärer Bedeutung. Das ist eine wenig gute Entwicklung. Schließlich sind es die Autoren als Schöpfer des ursprünglichen Kunstwerks, die Neues schaffen und die damit auch die Potenziale für die Zukunft sichern. Der Betrieb kann immer nur das reproduzieren und vermarkten, was die Autoren eines Kunstwerks zur Verfü-

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gung stellen. Wird diese Basis des Kulturbetriebs aber vernachlässigt und zu wenig gepflegt, mangelt es irgendwann an vermarktbarer Kunst. Es ist deshalb dringend erforderlich, die Künstler – eben die Autoren – wieder in den Mittelpunkt zu stellen, denn sie sind die Wurzel, aus der der Kulturbetrieb seine Früchte treiben und ernten kann. Künstler suchen Wege außerhalb des traditionellen Kulturbetriebs Interessanterweise bringen sich die Künstler wieder selbst ins Gespräch, indem sie von sich aus zu Veränderungen im Kulturbetrieb beitragen. Es war die Rede davon, dass eine Gruppe bildender Künstler heute bevorzugt in Form von Installationen und Aktionen arbeitet, indem ephemere Werke nicht mehr auf Vorrat produziert, sondern nur noch als ein bestimmtes Ereignis realisiert werden. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf den Kunsthandel und auf die Arbeit der Museen, weil solche Werke der Aktionskunst sich weder im Kunstbetrieb handeln noch von Sammlern erwerben lassen, und erst recht nicht für eine Aufbewahrung im Museum zur Verfügung stehen. Ähnlich radikal bricht die Computerlyrik mit traditionellen Regeln des Kulturbetriebs, weil sie die Grenzen zwischen Autor und Rezipient verwischt und den Verleger und Buchhändler nicht mehr benötigt. Die elektronische Musik, um ein drittes Beispiel zu nennen, existiert nur noch auf dem Computer; zu ihrer Aufführung bedarf es nicht mehr des Konzertsaals. Weitere Beispiele ließen sich aufführen, die allesamt zeigen würden, dass erstmals neue künstlerische Ausdrucksform entstehen, die die seit etwa 200 Jahren bestehende Struktur des Kulturbetriebs verändern, weil sie sie so nicht mehr benötigen. Nutzer werden zu Konsumenten Eine weitere Veränderung im Kulturbetrieb geht von den Nutzern aus. Es war die Rede von der postmodernen Gleichwertigkeit unterschiedlicher Erscheinungsformen von Kultur. Ob Oper oder Freizeitpark, ob Roman lesen oder Musik im Internet downloaden, ob Kunstausstellung oder Techno-Disko: Immer häufiger erscheinen vor allem jüngeren Menschen die verschiedenen Formen des Kulturkonsums als grundsätzlich gleichwertig; eine wie auch immer geartete soziale oder bildungsorientierte Zuordnung zu bestimmten Kategorien von Kultur entfällt. Damit aber entfällt auch die Legitimation für eine Bevorzugung ausgewählter Kulturbetriebe. Wenn Oper und Freizeitpark gleichwertig sind, verliert die Oper ihren Stellenwert als »Stadtkrone« und damit auch die Berechtigung einer außergewöhnlich hohen öffentlichen Förderung. Würde sich das Nutzerkonzept einer pluralen Gleichwertigkeit oder

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»radikalen Pluralität« (Welsch 1991: 4) durchsetzen – und vieles spricht dafür –, würde dies das traditionelle Bild vor allem vom öffentlichen Kulturbetrieb nachhaltig verändern. Verlagerung von Innovationspotenzialen Ein Veränderungsdruck entsteht auch dadurch, dass sich die Innovationsfähigkeit zunehmend vom öffentlichen und gemeinnützigen Bereich auf den kommerziellen Kulturbetrieb verlagert. War der öffentliche Bereich noch in den 70er Jahren mit vielen kreativen Kulturpolitikern und auf Erneuerung ausgerichteten Künstlern die treibende Kraft im Kulturleben, so trifft man heute in Theatern, Museen, Orchestern und Kulturämtern allenthalben auf das Bemühen, das Bestehende zu erhalten. Das erscheint aus der aktuellen Situation heraus verständlich, denn die Finanzknappheit der öffentlichen Hand droht bewährte Einrichtungen und Angebote einzuschränken; da ist es richtig und notwendig, sich dem zu widersetzen. Aber für die Innovationsfähigkeit des öffentlichen Kulturbetriebs ist dieses Verhalten nicht gut; wer immer gegen Planierraupen kämpfen muss, versäumt es selbst etwas aufzubauen! Letzteres aber leistet umso mehr der kommerzielle Kulturbetrieb, der sich damit als die eigentliche innovative Kraft im derzeitigen Kulturbetrieb erweist. Der privatwirtschaftliche Literaturbetrieb hat die Krise des letzten Jahrzehnts sehr gut gemeistert, ohne dafür die öffentliche Hand in Anspruch genommen zu haben. Die öffentlichen Theater haben innerhalb der letzten zehn Jahre mehr als 1,4 Mio. Zuschauer verloren, während die Privattheater im gleichen Zeitraum 2,7 Mio. Zuschauer hinzugewinnen konnten. Der Kunsthandel reagiert flexibel auf neue Technologien (Internetkunsthandel) und partizipiert gleichzeitig an einem neuen Nachfrageboom, während sich die Aussteller und Museen der öffentlichen Hand erfolglos mit fehlenden Ankaufs- und Ausstellungsetats herumschlagen. Im Musikbetrieb festigt sich nach mehreren Krisenjahren vor allem der kommerziell ausgerichtete Bereich der U-Musik, während die vorwiegend von der öffentlichen Hand getragene E-Musik bisher ergebnislos einen Ausweg aus der Krise sucht. Ob all diese Entwicklungen letztlich dem Kulturleben wirklich dienen, sei dahingestellt, aber dass die Aktivität und damit mittelfristig auch die Meinungsführerschaft nicht mehr von der Kulturpolitik und den öffentlichen Kultureinrichtungen ausgeht, sondern zunehmend von der privaten Kulturwirtschaft, lässt sich nur noch schwer bestreiten.

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Die Grossen fressen die Kleinen oder Wie kann Vielfalt gesichert werden? Die Innovationsfähigkeit der Kulturwirtschaft wird nicht zuletzt gestärkt durch die Tendenz zu Konzentrationen. Weltweit beherrschen vor allem fünf amerikanische Verleihfirmen das Filmgeschäft, die CD- und Medienvermarktung der Musik liegt in der Hand weniger Medienkonzerne, und im Literaturbetrieb kaufen Bertelsmann, Springer und Holtzbrinck alles auf, was noch einen Rest an Selbstständigkeit für sich reklamiert. Die Großen fressen die Kleinen und scheinen dabei nicht einmal über Völlegefühl zu klagen. Wohin das am Ende führen wird, lässt sich heute nur schwer abschätzen. Zu befürchten ist, dass sich durch die Konzentrationen ein gewisser Hang zum Mainstream durchsetzen und damit die Vielfalt des Kulturangebots verloren gehen könnte. Allerdings wird diese Befürchtung durch bisherige Erfahrungen in anderen Produktbereichen nicht bestätigt. Im Lebensmittelbereich, wo große Teile des Marktes dem Nestlé-Konzern gehören, hat die Vielfalt der Produkte nicht nachgelassen. Ganz im Gegenteil hat Nestlé immer großen Wert darauf gelegt, dass das eigenständige Produkt mit seinem unverwechselbaren Markencharakter erhalten bleibt und die Firma Nestlé als Mutterunternehmen möglichst nicht in Erscheinung tritt. Diese Strategie, die auch in der Automobilbranche zu beobachten ist, würde die Vielfalt im Kulturangebot erhalten, aber durch Synergien im Management die Leistungsfähigkeit des Kulturbetriebs stärken. Allerdings spricht gerade die Entwicklung im Kinobereich eher gegen eine solch optimistische Erwartung. Dort, wo die neuen Multiplexe und Megaplexe entstanden sind, konnten sich kleinere Kinos vielfach nicht halten. Zudem zeigen alle Multiplexe bundesweit mehr oder weniger das gleiche Filmprogramm. Sollte sich die Befürchtung bewahrheiten, dass die Konzentrationen zu einer Standardisierung des Kulturangebots führen, so müssten dem Nischenprogramme entgegengehalten werden, die nur ein kleines Publikum ansprechen oder die beim besten Willen nicht rentabel zu führen sind. Für diese Nischenprogramme käme letztlich wohl nur die öffentliche Hand als Träger in Betracht. Leitmotiv einer solchen Strategie wäre es, Vielfalt zu sichern. Vielfalt hinsichtlich der Inhalte und Gegenstände von Kultur, hinsichtlich der Angebotsformen und mit Blick auf die unterschiedlichsten Bedürfnisse des Publikums. Kultur wieder zu einem Gegenstand von Bildung machen Neben der Gewährleistung von Vielfalt wäre eine weitere Aufgabe der öffentlichen Hand die Stärkung der kulturellen Bildung. »Bildung ist mehr als kultu-

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relle Bildung, aber ohne diese kulturelle Dimension wären alle Formen und Inhalte von Bildung wertlos« (Schavan 2004: 252). Wer nicht schon während der Schulzeit mit Kunst, Literatur, Musik oder Theater in Berührung kommt, wird sich auch als Erwachsener dafür nicht interessieren. Das aber bedeutet, dass auch jene Ausbildungssegmente, die heute von Musikschulen, Kunstschulen und Ballettschulen angeboten werden, künftig viel stärker in den Unterricht der allgemeinbildenden Schulen integriert oder zumindest mit jenem Unterricht koordiniert werden müssen. Die Sprache der Künste zu vermitteln, um sie mit Gewinn lesen zu können, ist eine Aufgabe der Schule. Wer Künste zu lesen versteht, wird im späteren Leben nach ihnen fragen; wem die Künste schon als Kind nichts zu sagen haben, der wird auch sie auch als Erwachsener nicht um Antworten bitten. Zur kulturellen Bildung gehört aber nicht nur die Phase der Schulbildung, sondern auch die Phase einer permanenten kulturellen Bildung, wie sie etwa die Bibliotheken, die Volkshochschulen und Museen anbieten. Kulturelle Bildung in diesem umfassenden Verständnis aber wird man kaum als Leistung der Privatwirtschaft erwarten können. Hier ist vielmehr die öffentliche Hand gefragt, der nach dem Grundgesetz die Bildungshoheit zugestanden ist. Folglich eröffnet sich hier ein unbestrittenes Betätigungsfeld, das die öffentliche Hand bisher nur unzureichend wahrnimmt. Würde sie hier ihre Aufgabe ernster nehmen, könnte daraus eine interessante Partnerschaft zwischen öffentlicher Hand und Privatwirtschaft entstehen, weil in der Ausbildung der Grundstock für die Nachfrage gelegt würde, die in zunehmendem Maße die Privatwirtschaft zu befriedigen hat. Die Rolle der öffentlichen Hand neu definieren Am Ende muss man feststellen, dass es dringend erforderlich ist, die Rolle der öffentlichen Hand im Kulturbetrieb neu zu überdenken. Die öffentliche Hand ist in vielen Angebotssegmenten in der Defensive, weil sie das Publikum der Zukunft nicht mehr gewinnen kann. Und was das Entscheidende ist: Durch die hohe Staatsverschuldung und die Finanzknappheit der öffentlichen Haushalte fehlt dem öffentlichen Kulturbetrieb die Potenz, um sich im Wettbewerb um Geschäftsfelder, Ideen und Kunden positionieren zu können. Gleichwohl weiß jeder, dass es ohne die öffentliche Hand nicht geht; zu viele Bereiche sind defizitär und doch unverzichtbar. Aber nur auf eine bessere Zukunft zu hoffen, wäre leichtsinnig. Stattdessen sollte sich die öffentliche Hand im Kulturbetrieb auf zwei Aufgaben besinnen, nämlich die Gewährleistung der kulturellen Bildung und die Sicherstellung von Vielfalt. Kulturelle Bildung muss weit mehr als bisher Teil der Schulbildung sein und muss auch im späteren Leben in Form von

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Museen, Bibliotheken und Volkshochschulen allen Menschen in hoher Qualität zur Verfügung stehen. Die kulturelle Bildung ist die Grundlage für einen qualitativ hochwertigen Kulturbetrieb, weil sie nicht nur das Verständnis für Kunst und Kultur vermittelt, sondern auch die Nachfrage nach den Leistungen des Kulturbetriebs befördert. Zweitens ist von der öffentlichen Hand Vielfalt zu gewährleisten. Vielfalt steht hier nicht einfach für ein Mehr an Angeboten, sondern steht vor allem für das, was das Kulturleben spannend, weil ungewöhnlich macht. Gleichzeitig steht Vielfalt auch für das Experimentelle und Risikobehaftete, das sich in der Erprobung aber möglicherweise als ein Angebot der Zukunft erweisen wird. Dann muss die öffentliche Hand allerdings auch bereit sein, ein von ihr eingeführtes und inzwischen erfolgreiches Angebot ohne falsche Besitzansprüche an die Privatwirtschaft anzugeben. Die öffentliche Hand muss in der Gesamtsicht des Kulturbetriebs erkennen, dass sich ihre Rolle nachhaltig geändert hat. Sie hat die über Jahrzehnte bestehende Meinungsführerschaft und Leitfunktion im Kulturbetrieb verloren oder ist zumindest auf dem besten Weg sie zu verlieren. Kultur und Kulturpolitik haben kaum noch eine gesellschaftspolitische Funktion; Kulturpolitik ist heute fast nur noch das Setzen von Rahmenbedingungen für einen weit größeren Kulturbetrieb. Hoffte man lange Zeit noch darauf, dass es wenigstens Aufgabe der öffentlichen Hand sei, »den Sinnkredit aufzufrischen« (Meyer 1998: 238), so muss man sich heute eingestehen, dass auch diese Aufgabe der private Kulturbereich längst übernommen hat, wie sich beispielsweise am kommerziellen Erfolg der Esoterik-Welle ablesen lässt. Nicht zuletzt ist das Verhalten des Publikums ein anderes geworden; die privaten Anbieter erreichen vor allem das jüngere Publikum weit besser als die öffentlichen, wie der obige Hinweis auf das veränderte Konsumverhalten der Nutzer wieder zeigt. War Kultur noch vor wenigen Jahrzehnten eine öffentliche Angelegenheit und war die Teilhabe an Kultur auch eine Teilhabe am öffentlichen Leben, so zeichnet sich heute ab, dass Kultur schon in wenigen Jahren zu einer reinen Privatsache werden wird bzw. sie dies für einen großen Teil der Bevölkerung schon heute geworden ist. Das aber bedeutet, dass die öffentliche Hand zu einem Teil des Kulturbetriebs wie jeder andere werden wird. Sie tut deshalb gut daran, sich auf diese neue Rolle möglichst schnell einzurichten. Die Erweiterung des Blickfeldes von den eigenen Einrichtungen und Angeboten auf den gesamten öffentlichen wie gemeinnützigen und privaten Kulturbetrieb wäre dazu ein erster guter Schritt.

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Werner Heinrichs ➔ 10. Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen



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10. Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen

10.1 Verzeichnis der Abbildungen Abb. 1: Abb. 2: Abb 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8:

Der Kulturbetrieb aus rechtlich-systematischer Sicht, S. 22 Der Kulturbetrieb unterschieden nach Zweck und Zielen, S. 24 Private u. öffentliche Kulturfinanzierung in Deutschland 2000/01; Umsätze/Ausgaben/Aufwendungen in Mrd. €, S. 31 Musikbetrieb im Überblick (nur ausgewählte Beispiele), S. 136 Titelproduktionen (Erstauflagen und Neuauflagen) 1993 bis 2004, S. 175 Zuschussbedarf (umgerechnet in Mio. €) der öffentlichen Theater in Deutschland der Spielzeiten von 1994/95 bis 2003/04, S. 220 Anteil der Herkunftsländer am Filmangebot in Relation zum Anteil am Verleihumsatz 2004 (in %), S. 259 Lizenzverlauf in der Filmbranche, S. 262

10.1 Verzeichnis der Tabellen Tab. 1:

Tab.

Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab.

Zusammenfassung der Erwerbstätigen in Kulturberufen in Deutschland nach beruflichen Sparten/Feldern 2003 (Mikrozensus-Konzept), S. 32 2: Durchschnittseinkommen der aktiv in der Künstlersozialklasse Versicherten auf Bundesebene nach Berufsgruppen und Alter (1.1. 2005), S. 53 3: Ausgaben (Grundmittel) der öffentlichen Haushalte für Kunst und Kulturpflege nach Ausgabenbereichen in Mio. €, S. 55 4: Folgerechtsabgabe nach dem Entwurf zum Zweiten Urheberrechtsänderungsgesetz (Korb 2) vom Januar 2006, S. 92 5: Aufkommen der VG BILD-KUNST in 2004 für den Bereich bildende Kunst (einschließlich Fotografie), S. 93 6: Altersstruktur der Tonträgerkäufer nach Repertoire-Segmenten 2004 und im Vergleich zur Alterstruktur der Bevölkerung, S. 122 7: Absatz von Longplays zwischen 1996 und 2004 in Mio. Stück, S. 123 8: Unternehmen und Umsätze in Musikwirtschaft und Phonomarkt in Deutschland 2002, S. 129 9: Musikausgaben im Kulturbereich 2001 in haushaltssystematischer Gliederung nach Bund, Ländern und Gemeinden, S. 138 10: Ausschüttungen aus Bibliothekstantieme und Reprographievergütung 2004 (für 2003 und Reste aus Vorjahren), S. 164

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Tab. 11: Tab. 12: Tab. 13: Tab. 14: Tab. 15: Tab. 16:

Tab. 17: Tab. 18:

Tab. 19: Tab. 20:

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Die zehn umsatzstärksten Verlage im deutschsprachigen Raum 2004, S. 178 Umsatzanteile 2003 nach Vertriebswegen, S. 181 Die zehn umsatzstärksten Buchhandelsketten im deutschsprachigen Raum 2004, S. 184 Theater, Kulturorchester und Festspiele in Deutschland nach Rechtsträgern in der Spielzeit 2003/04, S. 216 Theater in Deutschland nach der Rechtsform in der Spielzeit 2003/ 04, S. 218 Zuwendungen der öffentlichen Hand an Theater, Kulturorchester, Festspiele und Privattheater in Deutschland in der Spielzeit 2003/ 04 in 1.000 €, S. 219 Personal an öffentlichen Theatern in ausgewählten Spielzeiten, S. 221 Gesamtbesucherzahl (einschl. Gastspiele), Eigenfinanzierungsanteil und Zuschuss pro Besucher in öffentlichen Theatern Deutschlands zwischen 1994/95 und 2003/04, S. 222 Kostenlose oder stark verbilligte Eintrittskarten in ausgewählten Schauspielhäusern in der Saison 2002/03, S. 223 Besucherzahlen der öffentlichen Theater (einschl. Gastspiele) und Privattheater in Deutschland zwischen 1994/95 und 2003/04, S. 224 Anzahl der Veranstaltungen in ausgewählten Sparten (ohne Gastspiele) an öffentlichen Theatern in Deutschland zwischen 1990/91 und 2003/04, S. 230 Anzahl der Neuinszenierungen in ausgewählten Sparten öffentlicher Theater in Deutschland zwischen 2000/01 und 2003/04, S. 231 Marktanteile (in %) am Verleihumsatz nach Herkunftsländern 20002004, S. 259 Lizenzentgelte und Lizenzerlöse im Filmverleih 2004, S. 260 Kino-Besuche und Bruttoeinnahmen zwischen 1995 und 2005, S. 266 Staatliche Filmförderung in Deutschland 2003, S. 271

2006-08-16 17-29-12 --- Projekt: T532.kum.heinrichs.kulturbetrieb / Dokument: FAX ID 0081123726260138|(S. 293-294) T01_10 abb+tab.p 123726260866

Kultur- und Museumsmanagement Roswitha Muttenthaler, Regina Wonisch Gesten des Zeigens Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen November 2006, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-580-4

Viktor Kittlausz, Winfried Pauleit (Hg.) Kunst – Museum – Kontexte Perspektiven der Kunst- und Kulturvermittlung Oktober 2006, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-582-0

Petra Schneidewind Betriebswirtschaft für das Kulturmanagement Ein Handbuch Oktober 2006, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 3-89942-546-4

Oliver Scheytt Kulturstaat Deutschland Ein kulturpolitisches Plädoyer Oktober 2006, ca. 200 Seiten, kart., ca. 21,80 €, ISBN: 3-89942-400-X

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Udo Liebelt, Folker Metzger (Hg.) Vom Geist der Dinge Das Museum als Forum für Ethik und Religion 2005, 196 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 3-89942-398-4

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Hartmut John, Ira Mazzoni (Hg.) Industrie- und Technikmuseen im Wandel Perspektiven und Standortbestimmungen 2005, 302 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-268-6

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