Frieden stiften durch Theater: Konfessionalismus und sein Transformationspotential: interaktives Theater im Libanon [1. Aufl.] 9783839419106

Kann interaktives Theater Frieden stiften? Der Konfessionalismus im Libanon ist geprägt durch die Gewalterfahrung des Bü

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Frieden stiften durch Theater: Konfessionalismus und sein Transformationspotential: interaktives Theater im Libanon [1. Aufl.]
 9783839419106

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Transkription des Arabischen
TEIL I: VOM PROBLEM DER FRAGMENTIERUNG DES LIBANONS ZUR FRAGESTELLUNG DER PUBLIKATION
I.1 Die fragmentierte Geographie des Libanons
I.1.1 Von zwei Libanon-Landkarten zumProblem der libanesischen sozialpolitischen Struktur
I.1.2 Territoriale Fragmentierung und die »Geographie der Angst«
I.2 Konfessionalismus und Klientelismus im Libanon
I.2.1 zu’ama‘-Klientelismus
I.2.2 Milizenklientelismus
I.2.3 Islamischer Klientelismus
I.2.4 Nach dem Krieg
I.3 Ein Blick auf die Mikroebene
I.4 Darstellende Künste im Libanon
I.4.1 Theatralische Darstellungen im arabischen Raum
1.4.2 Libanesisches Theater und der Konfessionalismus
I.5 Die Frage nach der Herausbildung einer konfessionell fragmentierten Gesellschaft in der konkreten Interaktion
TEIL II: RAUM UND FELD: KULTURGEOGRAPHIE, PERFORMANCE UND DAS FORUMTHEATER ALS SOZIALGEOGRAPHISCHER UNTERSUCHUNGSRAUM
II.1 Der Raum: Perspektive und Instrument der Betrachtung
II.2 Die Feldtheorie zur Erfassung von Gruppendynamiken und die Methode der Aktionsforschung
II.2.1 Kurt Lewins Theorie des sozialen Feldes
II.2.2 Kritik und Weiterentwicklung in Anlehnung an zentrale Aspekte der partizipativen Aktionsforschung
II.3 Sozialgeographie und Performance
II.3.1 Die Performance des Alltags
II.3.2 Ein Blick auf den Alltag mittels Performance
II.3.3 Performativität: Kartographie der Momente des Werdens
II.4 Der ästhetische Raum des Forumtheaters
II.4.1 Forumtheater: Ursprünge, Verlauf und Weiterentwicklungen
II.4.2 Der ästhetische Raum des Forumtheaters und der Joker
II.4.3 Performance und gesellschaftliche Realität: Augusto Boals drei Hypothesen zum gesellschaftsverändernden Theater
II.4.4 Modalitäten des vorliegenden Forschungsdesigns
II.4.5 Das Forschungsdesign: Operationalisierung von Lewins Ansatz zur Erforschung von Gruppenbeziehungen mit Boals ästhetischem Raum
TEIL III: DAS SPIEL DER KRÄFTE DES SOZIALEN FELDES IM ÄSTHETISCHEN RAUM: INTERAKTIVE AUFFÜHRUNGEN
III.1 Forschungsdesign: Produktion der Darstellungen und angewendete Interpretationsverfahren
III.2 Exkurs: Aufführungsanalyse − Beschreibung der Aufführungsdynamik
III.2.1 Die Darstellung des Stückes als Kraftfeld (Inszenierungsanalyse nach Pavis)
III.2.2 Antworten im Spiel mit den Kräften: Interventionen und Diskussionen
III.3 Aussagekraft der Darstellungen zum Phänomen ṭā’ifiyah− Induktive qualitative Inhaltsanalyse der Aufführungstexte
III.3.1 »ṭā’ifiyah ist schlecht/falsch« — hat aber Gültigkeit!
III.3.2 ṭā’ifiyah: Das Unausgesprochene, Verbannte und gleichzeitig Omnipräsente
III.3.3 Veränderungsversuche zu ṭā’ifiyah
III.3.4 Zusammenfassung
III.4 Aussagekraft der interaktiven Aktion zum Phänomen ṭā’ifiyah unter Einbeziehung der Diskussion um den öffentlichen Raum − Deduktive qualitative Inhaltsanalyse
III.4.1 Theoretischer Bezugsrahmen des durch die Spannnung zwischen öffentlich und privat erzeugten sozialen Feldes
III.4.2 Legitime Gewaltsamkeit als eine den Raum strukturierende Kategorie des sozialen Feldes
III.4.3 Öffentlichkeiten: Zugang und Ausschlussmechanismen – identisch oder repräsentierend?
III.4.4 Öffentlichkeit als zeigender Bereich und das Recht auf Privatheit als das soziale Feld strukturierende Kategorien
TEIL IV: ERKENNEN UND TRANSFORMIEREN GRUPPEN-DYNAMISCHER KRÄFTE DES SOZIALEN FELDES IM AKTIONSFORSCHUNGSDREIECK: KLEINGRUPPENARBEIT MIT DEM ÄSTHETISCHEN RAUM ALS SOZIALGEOGRAPHISCHE FORSCHUNGSMETHODE
IV.1 Zusammenfassende Schlussfolgerung der Aufführungsanalyse und der beiden Inhaltsanalysen
IV.2 Rückblick auf die Theorie und Rückschlüsse auf die sozialräumliche Fragmentierung im Nachkriegslibanon und ihre Transformationsmöglichkeiten
IV.2.1 Rückblick auf die theoretischen Überlegungen zur Untersuchung von Performance zum Verständnis gesamtgesellschaftlicher Gruppendynamiken
IV.2.2 Transformation von ṭā’ifiyah innerhalb der Konfession ṭāi’f
IV.3 Ausblick: Forumtheater im Aktionsforschungsdreieck als eine emanzipatorische, sozialgeographische Forschungsmethode
Quellenangaben

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Hannah Reich Frieden stiften durch Theater

Kultur und soziale Praxis

Für Utz & Duscha und Ilja

Hannah Reich (Dr. phil.), Islamwissenschaftlerin und Kulturgeographin, arbeitet im Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) für den Bereich der Transformationpartnerschaften mit der arabischen Welt und ist freiberuflich als Trainerin und Wissenschaftlerin im Feld der konstruktiven Konfliktbearbeitung tätig.

Hannah Reich

Frieden stiften durch Theater Konfessionalismus und sein Transformationspotential: interaktives Theater im Libanon

Gefördert von Prof. Gerd Spittler und der Studienstiftung des Deutschen Volkes

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: A Step Away/sabisa – performing change e.V., Beirut, 2007 Korrektorat: Birgit A. Rother, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1910-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 9 Transkription des Arabischen | 11

T EIL I: V OM P ROBLEM DER F RAGMENTIERUNG DES L IBANONS ZUR F RAGESTELLUNG DER P UBLIKATION I.1 Die fragmentierte Geographie des Libanons | 15 I.1.1 Von zwei Libanon-Landkarten zumProblem der libanesischen sozialpolitischen Struktur | 15 I.1.2 Territoriale Fragmentierung und die »Geographie der Angst« | 20

I.2 Konfessionalismus und Klientelismus im Libanon | 27 I.2.1 I.2.2 I.2.3 I.2.4

]X·DPD¸-Klientelismus | 31

Milizenklientelismus | 33 Islamischer Klientelismus | 36 Nach dem Krieg | 37

I.3 Ein Blick auf die Mikroebene | 41 I.4 Darstellende Künste im Libanon | 43 I.4.1 Theatralische Darstellungen im arabischen Raum | 43 1.4.2 Libanesisches Theater und der Konfessionalismus | 47

I.5 Die Frage nach der Herausbildung einer konfessionell fragmentierten Gesellschaft in der konkreten Interaktion | 51

T EIL II: R AUM UND F ELD : K ULTURGEOGRAPHIE , P ERFORMANCE UND DAS F ORUMTHEATER ALS SOZIALGEOGRAPHISCHER U NTERSUCHUNGSRAUM II.1 Der Raum: Perspektive und Instrument der Betrachtung | 55 II.2 Die Feldtheorie zur Erfassung von Gruppendynamiken und die Methode der Aktionsforschung | 61 II.2.1 Kurt Lewins Theorie des sozialen Feldes | 61 II.2.2 Kritik und Weiterentwicklung in Anlehnung an zentrale Aspekte der partizipativen Aktionsforschung | 75

II.3 Sozialgeographie und Performance | 89 II.3.1 Die Performance des Alltags | 90 II.3.2 Ein Blick auf den Alltag mittels Performance | 95 II.3.3 Performativität: Kartographie der Momente des Werdens | 99

II.4 Der ästhetische Raum des Forumtheaters | 103 II.4.1 Forumtheater: Ursprünge, Verlauf und Weiterentwicklungen | 105 II.4.2 Der ästhetische Raum des Forumtheaters und der Joker | 108 II.4.3 Performance und gesellschaftliche Realität: Augusto Boals drei Hypothesen zum gesellschaftsverändernden Theater | 121 II.4.4 Modalitäten des vorliegenden Forschungsdesigns | 128 II.4.5 Das Forschungsdesign: Operationalisierung von Lewins Ansatz zur Erforschung von Gruppenbeziehungen mit Boals ästhetischem Raum | 133

T EIL III: D AS S PIEL DER K RÄFTE DES SOZIALEN F ELDES IM ÄSTHETISCHEN R AUM : I NTERAK TIVE A UFFÜHRUNGEN III.1 Forschungsdesign: Produktion der Darstellungen und angewendete Interpretationsverfahren | 145 III.2 Exkurs: Aufführungsanalyse − Beschreibung der Aufführungsdynamik | 155 III.2.1 Die Darstellung des Stückes als Kraftfeld (Inszenierungsanalyse nach Pavis) | 156 III.2.2 Antworten im Spiel mit den Kräften: Interventionen und Diskussionen | 165

III.3 Aussagekraft der Darstellungen zum Phänomen ®›¸LIL\DK− Induktive qualitative Inhaltsanalyse der Aufführungstexte | 209

III.3.1 »®›¸LIL\DKist schlecht/falsch« — hat aber Gültigkeit! | 210 III.3.2 ®›¸LIL\DK:Das Unausgesprochene, Verbannte und gleichzeitig Omnipräsente | 214 III.3.3 Veränderungsversuche zu ®›¸LIL\DK | 220 III.3.4 Zusammenfassung | 226

III.4 Aussagekraft der interaktiven Aktion zum Phänomen ®›¸LIL\DK unter Einbeziehung der Diskussion um den öffentlichen Raum − Deduktive qualitative Inhaltsanalyse | 231 III.4.1 Theoretischer Bezugsrahmen des durch die Spannnung zwischen öffentlich und privat erzeugten sozialen Feldes | 231 III.4.2 Legitime Gewaltsamkeit als eine den Raum strukturierende Kategorie des sozialen Feldes | 246 III.4.3 Öffentlichkeiten: Zugang und Ausschlussmechanismen – identisch oder repräsentierend? | 252 III.4.4 Öffentlichkeit als zeigender Bereich und das Recht auf Privatheit als das soziale Feld strukturierende Kategorien | 263

T EIL IV: E RKENNEN UND T RANSFORMIEREN GRUPPEN - DYNAMISCHER K RÄFTE DES SOZIALEN F ELDES IM A KTIONSFORSCHUNGSDREIECK : K LEINGRUPPENARBEIT MIT DEM ÄSTHETISCHEN R AUM ALS SOZIALGEOGRAPHISCHE F ORSCHUNGSMETHODE IV.1 Zusammenfassende Schlussfolgerung der Aufführungsanalyse und der beiden Inhaltsanalysen | 279 IV.2 Rückblick auf die Theorie und Rückschlüsse auf die sozialräumliche Fragmentierung im Nachkriegslibanon und ihre Transformationsmöglichkeiten | 291 IV.2.1 Rückblick auf die theoretischen Überlegungen zur Untersuchung von Performance zum Verständnis gesamtgesellschaftlicher Gruppendynamiken | 291 IV.2.2 Transformation von ®›¸LIL\DKinnerhalb der Konfession ®›L¸I | 296

IV.3 Ausblick: Forumtheater im Aktionsforschungsdreieck als eine emanzipatorische, sozialgeographische Forschungsmethode | 303 Quellenangaben | 313 Anhang Der Anhang ist mit folgender Website verlinkt: http://www.transcript-verlag.de/ts1910/ts1910.ph

Vorwort »Truth as factual, objective information cannot be divorced from the way in which this information is acquired; nor can such information be separated from the purpose it is required to serve.«1

Das vorliegende Buch thematisiert die Kreation und Transformation von Gruppenbeziehungen am Beispiel der konfessionellen Segregation im Nachkriegslibanon. Die Fragmentierung des Libanons anhand konfessioneller Kriterien ist Resultat des 15-jährigen Bürgerkrieges und Methode der Kriegsführung zugleich. Die Erfahrungen von Gewalt, Angst und Verlust intensivierten die Suche der Betroffenen nach Schutz, die der Konfessionalismus (arab. ®›L¸IL\DK) zu geben verspricht. Dabei ist es gleichzeitig der Konfessionalismus, der es in seiner gegenwärtigen Form versteht, zukünftige gewalttätige Handlungen gegenüber anderen zu rechtfertigen. Die Einbettung in das patriarchalische, klientelistische System, welches die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum verschwimmen lässt, erklärt die Diffusion des Konfessionalismus in alle Lebensbereiche. Parallel existieren soziale Akteure, die der Frage nachgehen, wie die soziale Fragmentierung nachhaltig transformiert werden kann, damit zukünftig eine gewalttätige Austragung der sozialen Konflikte verhindert wird. In dieser Arbeit verfolge ich die Spur von Libanesen, die Prozesse initiieren, um ®›L¸IL\DK im Lebensalltag Jugendlicher zu visualisieren, zu verstehen, sich seiner bewusst zu werden und ihn zu verändern. Bei einer ihrer friedensbildenden Aktivitäten haben diese Libanesen das interaktive Theater mit seiner besonderen Qualität des sogenannten »ästhetischen Raumes« zur Strukturierung der Beziehungsbildung genutzt. So ging es einerseits um die Beziehungsbildung zwischen Jugendlichen verschiedener Konfessionen und andererseits zur Bewusstwerdung der alltäglichen Beziehungsbildung, der etablierten Mechanismen, der Haltungen, Wahrnehmungen und Empfindungen, die das Phänomen ®›L¸IL\DK subtil in der gewöhnlichen Interaktion konstituieren und transformieren. Diese auf Filmen dokumentierte Aktion zur Transformation der konfessionellen Strukturierung, dient als Hauptdaten1 | Truth and Reconciliation Commission South Africa Report 1998, Kap. 5, 42-44 (Internetseite).

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Frieden stif ten durch Theater

material für die vorliegende Untersuchung. Dementsprechend gilt mein Dank an erster Stelle Richard Bteich und Fadi Al-Turk, welche diese Aktion getragen haben, sowie allen Teilnehmern, welche durch ihr Wissen mein Verständnis über den Konfessionalismus und über Forschungsprozesse erhellt haben. Den Libanon als konfessionell fragmentiert zu beschreiben, ist nicht nur eine Deskription, sondern zugleich eine Aktion, die die Fragmentierung festschreibt. Die Forschung konzipiert diese Ansicht als eine Intervention in das gesellschaftliche Gefüge, die in diesem Fall ein Konfliktgefüge ist. Aus diesem Grund möchte die hiermit vorgelegte Forschungsarbeit auch ein Licht auf die Methoden werfen, durch die die Beziehung des Forschers zu den Erforschten geformt wird, und erweitert diesen Methodenfundus durch die Einbeziehung des partizipativen Gruppenerforschungsprozesses des interaktiven Theaters. Dementsprechend geht an zweiter Stelle mein Dank an Augusto Boal und Bárbara Santos, die mich die Methode des Forumtheaters lehrten und es lebendig, erfahrbar, umsetzbar gemacht haben. Auch danke ich dem Berghof Forschungszentrum (Berghof Foundation), welches mir ein denkbar inspirierendes und zudem angenehm persönliches Umfeld des Forschens geboten hat und den Hintergrund für die Forschung in einem Konfliktforschungsumfeld lieferte. Prof. Dr. Jürgen Pohl vom Geographischen Institut der Universität Bonn hat diese Arbeit betreut. Ihm danke ich insbesondere für den Freiraum, den er mir bei der Entwicklung meiner Gedanken ließ, und für seine vielfältige Unterstützung im Dissertationsprozess. Mein herzlicher Dank geht außerdem an meine Familie, ohne die diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Allen voran danke ich Ines Reich-Hilweg, Utz-Peter Reich und Rebekka Reich für die tatkräftige Unterstützung durch die Betreuung meines Sohnes während meiner Feldforschung im Libanon. Meinen Eltern danke ich auch von Herzen, weil sie in faszinierender Weise das Prinzip der Verplichtung mit dem der Liebe verknüpfen und mich so lehrten, Unwegsamkeiten gelassen anzunehmen und dennoch weiter meine Fragen zu verfolgen. Außerdem möchte ich Sruti Bala für Ihre Präsenz danken, da mich ihre stehts unkonventionelle Betrachtungsweise und ihr ausserordentlicher Humour immer wieder sehr bereichern. Auch danke ich ihr für die Hilfe bei der Korrektur und der Formatierung. Weiterhin gilt mein Dank Ahmed Al-Baba für seine Hilfe bei der Transliteration des Filmmaterials. Meinem Patenonkel Gerd Spittler möchte ich für seine immer sehr inspirierenden Gespräche und seine finanzielle Unterstützung danken. Seine Art des ethnologischen Forschens, die stehts von einer tiefen Wertschätzung gegenüber allem Unverständlichen getragen wird und dennoch nicht versucht aus allem einen direkt zugänglichen Sinn zu machen, sondern Dinge auch einfach erstmal stehen lassen kann, hat mich sehr geprägt. Ihm gilt mein aufrichtiger Dank. Ganz besonders möchte ich noch Ilja Albaba für sein Dasein danken. Er verkörpert für mich den Ursprung der Beobachtung von Prozessen des Werdens in der Suche nach Wissen. Diese Dissertation wurde von der Studienstiftung des deutschen Volkes gefördert, der ich zu guter Letzt ganz herzlich dafür danken möchte. Berlin, 19. September 2013

Transkription des Arabischen

Die Wiedergabe arabischer Buchtitel sowie hocharabischer Ausdrücke und Begriffe basiert im Folgenden auf den Transkriptionsregeln des »International Journal of Middle East Studies« (IJMES).2 Die Wiedergabe des gesprochenen Arabisch orientiert sich an der im Libanon besonders bei den Jugendlichen im Internet und in der Mobilfunktelekommunikation gängigen Verwendung der lateinischen Schrift. Tabelle der arabischen Umschrift:

2 | Siehe »IJMES Transliteration System« (Internetseite).

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Teil I Vom Problem der Fragmentierung des Libanons zur Fragestellung der Publikation

I.1 Die fragmentierte Geographie des Libanons »[The] geography of fear is not sustained by walls or artificial barriers […]. [R]ather it is sustained by the psychology of dread, hostile bonding, and ideologies on enmity.« (Khalaf 2002: 247) »[I]n creating a stage-auditorium division, we transform the stage into a place where everything acquires new dimensions, becomes magnified, as under a powerful microscope.« (Boal 2000: 2)

I.1.1 V ON Z WEI L IBANON -L ANDK ARTEN ZUM P ROBLEM DER LIBANESISCHEN SOZIALPOLITISCHEN S TRUK TUR Der Libanon − ein kleines Land am östlichen Mittelmeer. Mit nur 10.452 Quadratkilometern und circa 3.820.000 Einwohnern gleicht es der Größe nach Nordrhein-Westfalen. Dies ist jedenfalls die Information über den Libanon aus dem gängigen Diercke-Weltatlas. Im ganzen Atlas findet der Libanon nur auf zwei Seiten Erwähnung und selbst in der größten Darstellung ist er kaum zu erkennen. Auf der Landkarte, die den Eingang des Tourismusministeriums in Beirut ziert, sieht der Libanon hingegen anders aus. Neben der Graphik mit dem Titel »Our homeland Lebanon«, auf der die sechs verschiedenen Bezirke des Landes farblich gekennzeichnet sind, ist eine Weltkarte platziert, in der unterschiedlich stark gehäufte Punkte zu sehen sind. Diese tragen die Überschrift: »… and the Lebanese in the World« (siehe Abbildung 1). Diese Darstellung rückt nicht nur den Libanon ins Zentrum des Blickfeldes, sondern verbindet zugleich das Territorium des Libanons durch die Markierung der globalen Verteilung der »Libanesen« mit der ganzen Welt.

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Abbildung 1: Karte des Libanons I.

Quelle: Ministry of Economy 1996: Touristic and Cutural Map of Lebanon, Beirut

Beide Darstellungen, im Diercke-Weltatlas wie im libanesischen Ministerium, erfüllen als Raumabstraktionen ganz im Klüter’schen Sinne (Klüter 1986) die Funktion, die komplexe Wirklichkeit überschaubar, verstehbar, kommunizierbar und beherrschbar zu machen. Sie verweisen auf einen Macht- und Wissensanspruch, mit dem Ordnungen, Zugehörigkeiten, Verbindungen und Bedeutungen verhandelt werden. Es sind Modelle, die einen dazu verführen, sie − gleich der physischen Umwelt − als objektiv gegeben hinzunehmen. Genau durch diese Verschmelzung von »sozialem« mit »physischem« (oder »räumlichem«) Sinn erfüllt die Raumabstraktion ihre Funktion, Sicherheit und Orientierung zu geben, denn »wenn in ihr das Soziale so objektiv erscheint wie das Physische, dann ist die Orientierungswirkung selbstverständlich geworden« (Klüter 1999: 210).

I.1 Die fragmentier te Geographie des Libanons

Der Diercke-Weltatlas stellt dieses kleine Stück Land – wie nicht anders zu erwarten – als einen relativ unbedeutenden Teil des Nahen Ostens dar. Das Tourismusministerium hingegen repräsentiert eine offizielle Version der libanesischen Geschichte, eine Vorstellung der Existenz einer libanesischen Nation. Und auch wenn die Angehörigen dieser Nation weltweit verteilt sind, so sind sie ihr dennoch weiterhin zugehörig und verbunden. In dieser Vorstellung der Existenz einer Nation wird in bekannter Weise die Identität ihrer Mitglieder als ein Fixpunkt, als eine unveränderliche Größe wahrgenommen. Libanesen bleiben Libanesen, auch wenn sie über Generationen hinweg im Ausland leben. Von außen betrachtet und in der Diaspora hat diese Vorstellung der Zugehörigkeit zu einer Nation auch gegenwärtig einen identitätsbildenden Effekt. Sicherlich hat die Bezeichnung »Libanese« in der heutigen Zeit eine anerkannte Gültigkeit. Im Libanon selber aber steht genau diese Vorstellung der Existenz einer gemeinsamen identitätsbildenden Gemeinschaft zur Disposition. Wie sonst hätte der Ausspruch »Wir sind alle Libanesen!« der Demonstrationen 2004 – auch bekannt unter dem Namen »Zedernrevolution« –, an denen nur Libanesen teilnahmen, eine Aussagekraft? Dies macht deutlich, dass die Vorstellung einer solchen gemeinsamen libanesischen Nation, auch wenn sie offiziell nicht in Frage gestellt wird, dennoch zur Disposition steht. Werfen wir noch einmal einen Blick auf die Landkarte im Beiruter Tourismusministerium. Hier erscheinen weder Lateinamerika noch Gambia oder die Elfenbeinküste als ein homogenes Territorium. Vielmehr ist die Verbindung dieser Gebiete zum libanesischen Territorium entscheidend. Das libanesische Territorium ist auf der Karte einheitlich und zusammenhängend dargestellt. Es ist einzig und allein in politische Bezirke unterteilt, deren Namen wiederum auf die relative (Nord-Süd-)Verortung oder auf erdräumliche Gebietsnamen von Bergen und Ebenen verweisen (Bekaa, Chouf), womit eine soziopolitische Ordnung des Libanons entlang dieser Gebietseinheiten suggeriert werden kann. Diese Darstellung ist für Touristen gedacht. Im Libanon selber weiß jeder, dass der Wohnort nur insofern eine soziopolitische Rolle spielt, als dass er eine Familienzugehörigkeit verdeutlicht. Bei der Teilnahme am politischen Willensbildungsprozess definiert der unveränderliche Geburtsort, und nicht der Wohn- oder Aufenthaltsort, den jeweiligen Ort der Stimmabgabe, er ist somit politisch relevant. Entscheidend für den tatsächlichen Zugang zu politischem, sozialem oder kulturellem Kapital ist die, ebenfalls mit der Geburt festgelegte, Familien- bzw. Konfessionszugehörigkeit. Betrachtet man den Libanon nun anhand der Wohnorte der Menschen, gegliedert nach ihrer konfessionellen Zugehörigkeit, so ließe sich eine bestimmte Verteilung ausmachen. Doch auf Grund der politisch höchst brisanten Bedeutung sind keine genauen Statistiken zur Bevölkerungsverteilung der verschiedenen Konfessionen erhältlich (siehe Salibi 1988; Hanf 1990; Perthes 1994). 1 Als Folge 1 | Der letzte Zensus wurde im Jahre 1932 von der französischen Mandatsmacht durchgeführt. Es ist jener Zensus, der bis heute die Grundlage jeglicher Konfessionsangaben dar-

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der fehlenden Statistiken ist auch keine wissenschaftliche Karte erhältlich, die die Verteilung der Konfessionen aufzeigt. Eine derartige Karte hypostasiert ein Ordnungsprinzip, das offiziell nicht als solches anerkannt wird. Nimmt man Identitäten und Wohnorte als prinzipiell flexibel und wandelbar an, so erscheint die Zuordnung von Personen zu einem Territorium basierend auf ihrer Konfession auch äußerst zweifelhaft. Trotzdem ist ein derartiges Vorgehen in diesem Fall gerechtfertigt. Die einzige Karte mit konfessioneller Zuordnung, die ich im Libanon finden konnte, ist eine, in der der Libanon als ein Mosaik dargestellt wird. Abbildung 2: Karte des Libanons II.

Quelle: Eid, F., o.J.: OXEQ›QDOIXVªID¸, le liban-mosaique, Beirut

stellt. Verlässliche Daten zur konfessionellen Segregation auf regionaler Ebene im Libanon existieren nicht (siehe dazu Maktabi 1999: 129-241).

I.1 Die fragmentier te Geographie des Libanons

Die Gestaltung dieser Karte – einer weiteren Raumabstraktion – als Mosaik enthält eine Aussage: Das Mosaik wird im Nahen Osten mit Tradition und Kultur in Verbindung gebracht. Es ist positiv belegt und konnotiert bildlich eine bunte, vielseitige Gemeinschaft. Etwas anderes aber lässt sie aus, ja negiert sie durch die positive Kontextualisierung der konfessionellen Zugehörigkeiten sogar: die Aggressivität, die der gegenwärtigen territorialen Segregation innewohnt, die Samir Khalaf als eine »Geographie der Angst« (Khalaf 1997: 370) beschreibt und die die territoriale Fragmentierung festigt. Auf den ersten Blick vermag man im Libanon das friedliche Nebeneinander unterschiedlicher Gruppenzugehörigkeiten konstatieren, da keine Mauern, Zäune oder sonstigen physischen Barrieren zwischen den Wohnbezirken zu erkennen sind. Das Bedürfnis nach Abgrenzung der Gruppierungen ist jedoch so deutlich, dass bereits ein beim Durchwandern der verschiedenen Wohnbezirke vorgenommener zweiter Blick die Unterschiede erkennen lässt: Die verschiedenen Narrationen der Konfessionen finden mittels Graffitis, Plakaten und Monumenten ihren Ausdruck in der Gestaltung der Wohnbezirke (Haugbolle 2005). Die Tatsache, dass das prägende Ordnungskriterium der libanesischen soziopolitischen Struktur die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession (arab. DO®›¸LIDK) ist, ist nicht unbedingt als etwas Problematisches zu erkennen. Selbstverständlich organisiert sich eine Gesellschaft auf verschiedenen Maßstabsebenen anhand unterschiedlicher Kriterien. Gewalt und Zwang dieses Kriteriums, das Personen zu bestimmten Gruppen zuordnet, treten jedoch dann in Erscheinung, wenn das Kriterium als ein Merkmal alle anderen Ordnungskriterien zu dominieren scheint, es sich auf verschiedenen maßstäblichen Ebenen und in verschiedenen Kontexten immer wieder als das sozial relevante Kriterium herauskristallisiert und es von den Betroffenen selbst als kritisch betrachtet wird. Aus konflikttheoretischer Sicht wird es dann fraglich, wenn diese hypostasierten Gruppenzugehörigkeiten untereinander keine Kommunikationslinien mehr aufweisen, die eine gemeinsame Problemlösung, Verhandlung und Verteilung von Ressourcen ermöglichen, und wenn keine gemeinsamen Nenner zur sozialpolitischen Organisation mehr ausgebildet werden können, die den Einsatz von Gewalt zur kommunalen Konfliktaustragung eindämmen können. Die vorliegende Publikation widmet sich nun dem Phänomen des Konfessionalismus, wobei sie der Frage nachgeht, wie diese konfessionelle Zuordnung, die sozialräumliche Differenzierung auf der Mikroebene in der konkreten Interaktion gemacht wird. Dazu habe ich das abstrakte Schreiben, Denken und Analysieren über das Phänomen Konfessionalismus verlassen, die Konzepte, Ideen und Theorien beiseitegelegt und mich in Beirut dem Konfessionalismus als Erfahrungsraum, als lebensbestimmende Realität im Alltag, zugewendet. Ich verstehe Konfessionalismus als eine Haltung. Damit möchte ich verdeutlichen, dass die Kraft des Konfessionalismus neben den ihn konstituierenden Konzepten, Weltanschauungen und Gedanken von der in der Haltung eingegrabenen, leiblichen Erfahrung herrührt. Ihr und den ihr innewohnenden Transformationspotentia-

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len möchte ich einen Raum geben, da sie den Wahrnehmungen, Vorstellungen, Weltbildern und Interaktionen ihre Relevanz verleiht. Samir Khalaf erklärt im dieser Einleitung vorangestellten Zitat den Zusammenhang der konfessionellen Gruppenbeziehung mit der »Geographie der Angst«, die sich im Inneren der Subjekte manifestiert. Ich ziehe daher den Sozialpsychologen Kurt Lewin zur Analyse heran, um mich dem alltäglichen Konfessionalismus-Machens als einer performativen Handlung − im Sinne von bedeutungsgebend und die Welt kreierend − zu nähern. Um in einem Gruppenprozess tiefer liegende Verbindungen dieser Praxis in einer konkreten zwischenmenschlichen Interaktion zu erkennen und Momente des Wandels zu eruieren, habe ich das »Teleskop« herangezogen, welches Augusto Boal als Betrachtungsinstrument vorschlägt: das interaktive Theater und sein ästhetischer Raum. Prozesse der Beziehungsbildung durch das Aufspannen eines spezifischen Raumes, des ästhetischen Raumes, zu betrachten, ist durch kulturgeographische Diskussionsstränge und den sogenannten »performative turn« inspiriert worden. Trotz meines Blickes auf die Haltung der Subjekte macht es die Hinzunahme des »Raumes« möglich, der Interaktion und dem außerhalb ihrer Subjekte Liegendem, wie z.B. einer bestimmten Atmosphäre des Ortes und der Stimmung, ein Existenzrecht zuzugestehen. Dieser räumliche Blick führt auch dazu, den ästhetischen Raum des Forumtheaters als Methode zur Erforschung von Gruppenbeziehungen in den Mittelpunkt zu stellen. Dieses Buch ist ein Versuch, die Erfahrungsweisen, die sich durch die Analyse von Gruppenbeziehungen mittels Performance offenbaren, und die daraus folgenden Erkenntnisse in der schriftlichen, akademischen Welt sichtbar zu machen. Die Jugendlichen, die die Protagonisten dieser Arbeit sind, kommunizieren weder in verschachtelten akademischen Theorien oder in differenzierter Wortwahl noch in künstlerisch hochwertiger Form, sondern formulieren ihre Erfahrungen in einfachen Ausdrücken und Sätzen. Dennoch ist es mir wichtig, diese Lebenswirklichkeiten zu erfassen. Sie sind es, die in dem Moment der Begegnung, der durch den Prozess des interaktiven Theaters möglich wird, zu Erkenntnissen über Muster der Beziehungsbildung im Libanon führen können. Und trotz der Schlichtheit, Alltäglichkeit, ja aus akademischer Sicht gar Banalität mancher Aussagen entfaltet sich aus ihnen im ästhetischen Raum, in der sinnlichen Begegnung eine Relevanz, die die Kommunikation über die Erfahrung erleichtert und die zu einer Analyse der zugrunde liegenden soziokulturellen Verknüpfungen einlädt. Während die am Gruppenprozess des interaktiven Theaters Teilnehmenden den konfessionellen Alltag beleuchten wollten, um ihren Handlungsspielraum in ihrem Alltag zu erweitern, erhoffte ich mir von dem Prozess, ein besseres Verständnis des Phänomens Konfessionalismus zu gewinnen, das sich für generelle Überlegungen zur Erforschung von Gruppenbeziehungen und der Nachkriegskonfliktbearbeitung nutzen lassen würde. Im Folgenden möchte ich zunächst die territoriale Fragmentierung beschreiben, die »Geographie der Angst« und die Genese des derzeitigen konfessionellen Systems. Ferner werde ich auf die darstellenden Künste im Libanon eingehen, um

I.1 Die fragmentier te Geographie des Libanons

den künstlerischen Kontext der interaktiven Theateraufführungen, die das Herz dieser Untersuchung darstellen, zu skizzieren.

I.1.2 TERRITORIALE F R AGMENTIERUNG UND DIE »G EOGR APHIE DER A NGST« Der Begriff der »territorialen Fragmentierung« ist einer geographischen Theorie postmoderner Prozesse entlehnt. Innerhalb postmoderner Theorien gibt es einige Ansätze, die im gegenwärtigen Zeitalter eine Fragmentierung der Territorien konstatieren. Dieses Phänomen kann als allgemeiner Trend der Globalisierung verortet werden. Die Ausweitung der Kommunikationstechnologien und die zunehmende Mobilität der Menschen ermöglichen einen intensiven Kontakt zu Personen, die sich nicht in unmittelbarer Nachbarschaft oder näherer Umgebung befinden, sondern deren Lebensmittelpunkt weit entfernt ist. So konstatiert Guiseppe Dematteis eine Expansion der globalen Netzwerke. Diese bringen eine Fragmentierung mit sich (Dematteis 2001: 115), die der libanesischen ähnelt.2 Die »globalen Netzwerke« der Libanesen sind jedoch trotz ihrer weltumfassenden Reichweite nicht erst im Zeitalter der Globalisierung entstanden. Vielmehr haben libanesische Händler seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in verschiedenen osmanischen Städten, in Afrika, Europa und Lateinamerika libanesische Gemeinschaften gegründet. Der Bürgerkrieg erweiterte die Diaspora-Gemeinschaften durch die Flucht Hunderttausender nach Australien, Europa, in die USA und nach Kanada. Manche dieser Gemeinschaften isolierten sich in den Ankunftsorten inselartig vom dortigen sozialen Leben und erhielten über Generationen hinweg enge ökonomische und soziale Kontakte in den Libanon (Hourani/Shehadi 1992). Trotz der Ferne blieben die Emigrierten auf eine eigenartige Weise vor Ort verankert (Peleikis 2001b: 26), was sich auch in der Karte im Tourismusministerium widerspiegelt. Mit den Händlerbewegungen aus dem Libanon Mitte des 19. Jahrhunderts, der Expansion der europäisch-zentrierten kapitalistischen Wirtschaft und dem Machtverlust des osmanischem Reiches entwickelte sich die Stadt Beirut zu einem zentralen Handelsknoten. Das Beiruter Hinterland wurde Bestandteil der berühmten Seidenstraße und ein wichtiger Lieferant für die französische Textilindustrie (Nagel 2002: 718). Beirut wuchs nicht nur zu einem kommerziellen Zentrum heran, sondern zog auch europäische Missionen, Bildungsinstitutionen und Konsulate an. Beirut entwickelte den Ruf einer offenen kosmopolitischen Stadt. Eine Vielzahl verschiedener ethnokonfessioneller Gruppen fand ihren Weg 2 | Am Bild D EMAT TEIS’ ist insbesondere von Interesse: Die Fragmentierung resultiert daraus, dass die Netzwerke trotz territorialer Nähe zu anderen Gruppierungen enge, bedeutende Verbindungen zu territorial Entfernten herstellen. Die Entfernten gewinnen oder behalten Bedeutung, während die Personen, die sich in unmittelbarer Nähe befinden, an Relevanz verlieren können bzw. nie Bedeutung hatten.

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dorthin − Armenier, Karkassen, Griechen und Franzosen − und vermehrte damit die Anzahl der ohnehin schon zahlreichen konfessionellen Gemeinschaften. Bis heute gibt es 17 verschiedene konfessionelle Gemeinschaften3, wobei die wichtigsten die Schiiten, Sunniten, Drusen, Griechisch-Orthodoxen, Armenier und Maroniten darstellen. Die konfessionelle Zugehörigkeit stellt nicht nur eine Möglichkeit dar, die Gesellschaft von außen betrachtet sozial zu kategorisieren, sondern sie markiert eine tatsächliche Grenzziehung der sozialen Akteure, die diese selber mit ®›L¸IL\DK (Konfessionalismus) bezeichnen. 4 Dieses Ordnungsprinzip mag sich harmlos in der Ansiedlungspräferenz von Migrationsbewegungen niederschlagen, mit losem Charakter.5 Im Libanon der Gegenwart schwingt im Wort Konfessionalismus (®›L¸IL\DK) eine Konnotation mit, die auf die sogenannten DOD¨G›±, die Ereignisse, mit denen der Bürgerkrieg bezeichnet wird, Bezug nimmt. Die Gewalterfahrung der kriegerischen Auseinandersetzungen sorgte für die Heftigkeit der konfessionell strukturierten Bevölkerungsverteilung. Die territoriale Fragmentierung ist jedoch nicht nur als Folge der Gewalterfahrung zu sehen, sondern das Territorium wurde auch gezielt benutzt, um die Idee einer aggressiven Abgrenzung zu anderen Gruppenverbänden zu materialisieren und konfessionell einheitliche Entitäten zu schaffen.6 Hier kommt das Territorium als hypostasierendes Ordnungsprinzip ins Spiel. In Beirut, dem Zentrum des Landes, markiert die Damaskusstraße eine erste physische Grenzziehung zwischen einer Beiruter konfessionellen Dichotomie 3 | Orthodoxe Armenier, katholische Armenier, Assyrer, Katholiken, Kopten, Drusen, Protestanten, Griechisch-Orthodoxe, Griechisch-Katholische, Ismailiten, Juden, Maroniten, Römisch-Katholische, Sunniten, Schiiten, Syrisch-Orthodoxe und Syrisch-Katholische. 4 | Dieser Ausdruck wird aus dem Wort W›¸LI, zu Deutsch: Teil, Anzahl, Gruppe, Schar, Volk, Klasse, Sekte, Partei, gebildet und hat zunächst keine religiöse Konnotation. (Im I. Stamm bedeutet es: umhergehen, herumstreifen, herumlaufen, sich vertraut machen mit, kennen lernen, siehe Wehr, H. 1976: Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart, Beirut, S. 518-519.) 5 | So gibt es traditionell eine unterschiedlichen Besiedlung der Konfessionsgruppen (Sunniten und griechisch-orthodoxe Christen in den Küstenstädten, Maroniten und Drusen in den Dörfer des Libanongebirges und Schiiten in den Regionen im Südlibanon und der Bekaa-Ebene (Glasze 2003: 211). 6 | Hier wiederum muss man sich davor in Acht nehmen, den politischen Diskurs nicht als eine Wiedergabe der Realität zu sehen. FRIEDERIKE STOLLEIS zeigt, dass im Beiruter Stadtteil Zokak Blat die demographische Situation jetzt nach dem Krieg weit heterogener ist, als zunächst angenommen (Stolleis 2005: 203). Sie verweist darauf, dass die Wahllisten, die gerne für demographische Untersuchungen herangezogen werden, für den Bezirk die Sunniten als größte Gruppe (47 %) ausweisen und die Schiiten mit 40 % veranschlagen. Ihre Befragung machte jedoch 88 % Schiiten aus, die meist im Südlibanon registriert sind (Stolleis 2005: 203).

I.1 Die fragmentier te Geographie des Libanons

(Davie 1997). Sie diente 1958 als grobe Markierung in den Auseinandersetzungen zwischen den christlichen Partisanen von Präsident Camille Chamoun (19521958) und den Kämpfern des sunnitischen Ministerpräsidenten Saeb Salam. Diese Auseinandersetzung hatte zur Folge, dass viele Christen aus Westbeirut wegzogen (Stolleis 2005: 183). In den 1960er Jahren initiierte Präsident Fouad Chéhab (1958-1964) staatlich finanzierte Infrastrukturprojekte, welche die libanesischen Bergregionen, das Beka-Tal und den libanesischen Norden und Süden zu integrieren beabsichtigten. Dies löste eine Migrationswelle7 von ländlichen Familien nach Beirut aus, so dass sich die Bevölkerung in Beirut verdoppelte.8 Im Jahre 1973 verblieben nur noch 40 Prozent der libanesischen Schiiten in den ländlichen Regionen, während 50 Prozent nach Beirut und in Beiruts Vorstädte migriert waren (Hillenkamp 2005: 218). Trotz der Einwanderung in diese Städte hielten die Emigranten einen starken Bezug zu ihrem Herkunftsdorf aufrecht. Die nächsten Migrationsschübe fanden während des Bürgerkrieges (19751990) statt. Im 15-jährigen Bürgerkrieg war mehr als ein Drittel der Bevölkerung mindestens einmal auf der Flucht (Hanf 1990: 443). Abdo Kahi spricht von ungefähr 800.000 bis 900.000 Personen (Kahi 1997: 10). Die Anzahl der Dörfer, die eine Vertreibung erlebt hat, lag bei 949. 83 Dörfer wurden total zerstört und 91 Dörfer teilweise (Kahi 1997: 23).9 Bereits in den ersten Jahren des Krieges10 verließ ein weiterer großer Teil der Christen Westbeirut, während Tausende von muslimischen Familien aus Ostbeirut verbannt wurden und in den westlichen Teilen Beiruts Schutz suchten.11 Die schiitischen Bevölkerungsteile, die sich im Ostteil niedergelassen hatten, übertrafen zahlenmäßig die sunnitischen Familien und waren stärker von der Gewalt und der Vertreibung in den ersten Kriegsjahren betroffen (Stolleis 2005: 192). Sie ließen sich zum Teil in den frei gewordenen christlichen Gebäuden nieder. Eine zweite demographische Verschiebungswelle wurde durch den »Krieg der Vorstädte« im Jahr 1983 ausgelöst. Die Situation 7 | Der Unterschied zwischen den Migranten (PXK›MLUªQ), die aus beruflichen Gründen ihren Wohnort wechselten, und den Vertriebenen (PXKDMMDUªQ), die durch den Krieg entwurzelt wurden, kann nicht deutlich genug gemacht werden (Stolleis 2005: 196). 8 | 1975 lebte nach S TOLLEIS die Hälfte aller Libanesen in Beirut (siehe Stolleis 2005: 184). 9 | In dieser Zählung bezieht sich K AHI auf einen Bericht des »Ministry of the Displaced« von 1992. 10 | Für die ersten beiden Kriegsjahre, die auch »Zweijahreskrieg« genannt werden, könnte man zusammenfassend sagen, dass die rechten Milizen und Parteien, meist Christen, versuchten, den Status quo zu erhalten, während die »linke« Libanesische Nationale Bewegung (LNM), deren Anhänger meist Muslime waren, für einen politischen Wandel kämpften. Diese Trennlinie ist jedoch nicht strikt zwischen Muslimen und Christen zu ziehen: Armenier wurden häufig nicht den Christen zugeordnet und die griechisch-orthodoxen Libanesen gelten bis heute als »halb muslimisch« (siehe Hillenkamp 2005: 228). 11 | THEODOR H ANF schätzt, dass 200.000 Personen in Westbeirut ankamen (Hanf 1990: 443).

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verschlechterte sich Anfang 1984 mit der Belagerung der Vorstädte Beiruts, den Kämpfen in Ras el Nabaa und der Schiitischen Intifada in Westbeirut (Februar 1984). Viele der Vertriebenen suchten Schutz in Schulen, Kinos, Botschaften, religiösen Einrichtungen, Hotels, Banken und Büros in der Westbeiruter Nachbarschaft von Hamra, Ramlet el Baida und Raouché (Faour 1987: 166). Dabei ist anzumerken, dass die Bevölkerungsvertreibung nicht willkürlich ablief. Nabil Beyhum weist nach, dass die politischen Akteure des Krieges gezielt dafür sorgten, dass sich die Bevölkerung in bestimmten Gebieten niederließ (Beyhum 1990: 269-271). Dies bedeutete nicht, dass die Vertreibung in geheimen Plänen genau vorbereitet wurde, sondern vielmehr, dass die politischen Machthaber ihre Klientel unter den Vertriebenen, aus denen sie in allen Lagern die meisten ihrer Milizionäre rekrutierten, nicht aufgaben. Diese Kriegsherren entwickelten ein intensives Netzwerk für illegalen Handel und mit ihm ein »vested interest in sustaining the trouble that became their lifeline and influence of power« (Kubursi 1999: 78). Der Alltag der Beirutis war geprägt durch Misstrauen, Angst und Gewalt. Die deutlichste Grenze, die zum Symbol des Krieges wurde, ist die sogenannte »grüne Linie«, die Damaskusstraße, die West- und Ostbeirut voneinander trennt. Die Bevölkerung segregierte sich mehr und mehr entlang dieser beiden Hälften der Stadt. Die Vertreibungen waren begleitet von einem immer imposanteren Auftreten der Milizen im öffentlichen Raum. Pamphlete, Graffitis, Flaggen und anderes Zubehör wurden sichtbar in den Straßen und an den Gebäuden angebracht (Stolleis 2005: 200). Das verstärkte das Unsicherheitsgefühl jener, die nicht der entsprechenden, zur Schau gestellten Miliz zugeordnet waren. 12 Zusätzlich zu den Rachefeldzügen und den geplanten Säuberungsaktionen erzählten die Menschen später vom Terror, der von den Scharfschützen ausging: »The sniper punished individuals for not abiding by the unwritten laws of spatial division. He terrorised inhabitants on both sides of the demarcation line, reinforcing divisions and creating ghettos.« (Hillenkamp 2005: 229) Dies kreierte die »Geographie der Angst«, in der das Territorium zum einzigen Anhaltspunkt wurde.13 Im Klima der Angst wurde die Etablierung eines nur von einer Gruppe beherrschten Territoriums zur Bedingung für soziale Strukturen, in denen die Milizen Sozialleistungen erbrachten:

12 | Hier ist anzumerken, dass es eine Vielzahl von Milizen gab und z.B. Armenier teilweise nicht als den Christen zugehörig angesehen wurden, wodurch ihre Präsenz in Westbeirut akzeptiert wurde. Dennoch verließ ein Großteil der Armenier nach einem Ereignis im Mai 1986, in dem zahlreiche Armenier getötet wurden, diesen Stadtteil (Stolleis 2005: 201). 13 | In Tripolis wurde z.B. das Bab Tabanne zur »terra sancta« für die Sunniten, für die jungen Milizionäre, die in dem Gebiet hausten und es bis zum Schluss verteidigten (Harik 1994: 45). Dieser Ort wurde zu einem Symbol des »reinen Islams«, mit dem schließlich über den gesamten Libanon triumphiert werden sollte.

I.1 Die fragmentier te Geographie des Libanons »Centralised, uniform and reliable spatial control was an important precondition for integrated public assistance programmes. Only after the various Lebanese territories had undergone a pattern of purification characterised by the removal of the group that did not belong, followed by the political neutralization of contending internal factions was the viability of the entity assured and broadly based social services made possible.« (Harik 1994: 50)

Das abgegrenzte Territorium, in dem kein Zweifel mehr daran bestand, dass alle Bewohner eines bestimmten Gebietes einer Konfession zuzuordnen waren, was mit uneingeschränkter Loyalität zur jeweiligen Miliz und zu dessen Führer gleichgesetzt wurde, erlaubte es, ein soziales System zu entwickeln. Das kreierte eine reale, nach Konfessionen geordnete Gebietsaufteilung, die bis heute wirkt. »Massive population shifts, particularly since they are accompanied by the reintegration of displaced groups into more homogeneous, self-contained and exclusive communities, have also reinforced communal solidarity. Consequently, territorial and confessional identities, more so perhaps than at any other time in Lebanon’s history, are beginning to converge.« (Khalaf 2002: 28)

Dabei ist anzumerken, dass das soziale Gefüge eines Bezirkes de facto auch im Krieg nicht wirklich homogen wurde, die regierende Partei oder Miliz definierte jedoch den dominanten sozialen und politischen Diskurs des Gebietes (Harik 1994: 5051); und damit auch die Möglichkeiten, sich als anderer sichtbar zu machen und zu äußern. Bedrohte und traumatisierte Gruppen suchten auf Grund der Brutalität der gewalttätigen Auseinandersetzungen Schutz in der konfessionellen Solidarität sowie in »cloistered spaces« (Khalaf 2002: 4). Die Suche nach Schutz und Sicherheit, geprägt durch die Art des Krieges, der gleichzeitig überall und nirgendwo tobte, hat zu einer räumlichen Veränderung des permanenten Wohnsitzes und einer territorialen Neuordnung des Libanons geführt. Dennoch, auch wenn das Individuum in dieser Festung ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit zu erlangen vermag, so ist es doch die Abgeschlossenheit dieses Raumes, welche gegenseitige Feindseligkeiten und Feindschaften unterstützt und damit den Ausbruch erneuter Gewalt wahrscheinlicher werden lässt. Es ist nicht die Fragmentierung als solche, die das Problem darstellt, sondern es sind ihre befestigten Grenzen, die mit der einhergehenden subjektiven Einstellung die »Geographie der Angst« materialisieren: »Rather than being a source of enrichment, variety and cultural diversity, the modicum of pluralism the country once enjoyed is now generating large residues of paranoia, hostility and differential bonding. This pervasive ›geography of fear‹, and the predisposition of threatened and displaced groups to relocate in cloistered and homogeneous communities, only serves to accentuate distance from and indifference to the ›other‹.« (Khalaf 2002: 4)

Die »Geographie der Angst« lässt die Fragmentierung nicht dynamisch fließend erscheinen, sondern sie verfestigt ihre Grenzen, schafft abgeschlossene Einheiten

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ohne Öffnungen, ohne Zugang für »andere« und ohne Raum für Bewegung und Veränderung. Zusätzlich kreiert sie ein Gegenüber, auf das sich alles Ungewollte, Unerwünschte und Bedrohliche projizieren lässt. Daher zeigt sich die Fragmentierung der libanesischen Gesellschaft nicht nur durch das Territorium, es wird vielmehr mittels des Territoriums die Segmentierung der Gesellschaft kommuniziert. Innerhalb Beiruts schreiben die Bewohner der verschiedenen Stadtteile mit dessen Hilfe, in seiner materiellen Ausgestaltung ihre jeweils andere Geschichte. Poster und Graffitis an den Hauswänden, den Straßenkreuzungen und Litfaßsäulen zeigen die deutliche Affinität zur einen oder zur anderen politischen Größe oder zu der einen oder der anderen Konfession (Haugbolle 2005: 199-202). Und auch die Massenmedien sowie andere kulturelle Güter werden benutzt, um Zuordnungen und Abgrenzungen zwischen den Gruppen zu materialisieren. Die Zeitungen, Zeitschriften, Radio- und Fernsehsender sind genauso Territorien, mittels derer ein Kampf um Deutungshoheit ausgetragen wird sowie Macht- und Besitzansprüche artikuliert werden (Nesemann 2001), wie das Theater (Salloukh 2005). Die Fragmentierung des Territoriums, welches ein Kommunikationsmittel konstituiert, stellt ein Erbe des Krieges dar. Sie verweist auf den problematischen Beziehungsmangel der jeweiligen Gruppierungen zueinander und auf das Fehlen eines gemeinsamen öffentlichen Raumes für Begegnung, Diskussion und Verhandlung. Konfessionalismus stellt das Phänomen dar und ist der Begriff, welcher herangezogen wird, um die Situation zu beschreiben, die sich in der territorialen Fragmentierung niederschlägt. Er wird als das zugrunde liegende Ordnungsprinzip identifiziert, welches Khalaf wie folgt beschreibt: »Lebanese are today brandishing their confessionalism, if we may use the dual metaphor, as both emblem and armor. Emblem, because confessional identity has become the most viable medium for asserting presence and securing vital needs and benefits. It is only when an individual is placed within a confessional context that his ideas and assertions are rendered meaningful or worthwhile. Armor, because it has become a shield against real or imagined threats. The more vulnerable the emblem, the thicker the armor. Conversely, the thicker the armor, the more vulnerable and paranoid other communites become. It is precisely this dialectics between threatened communities and the urge to seek shelter in cloistered worlds that has plagued Lebanon for so long.« (Khalaf 2002: 27)

Dieses Phänomen des Konfessionalismus, der es als Begriff erlaubt, die territoriale Fragmentierung zu integrieren, ist es – mitsamt seiner Transformationspotentiale –, worauf ich mit dieser Studie ein neues Licht werfen möchte. Dafür werde ich wiederum den Raum als Methode benutzen, und zwar den klar definierten, eigens zur Beleuchtung errichteten Raum, der durch interaktives Theater aufgespannt wird. Zuvor ist es allerdings notwendig, auf den Stand der Forschung zum Thema Konfessionalismus sowie zu den darstellenden Künsten im Libanon einzugehen.

I.2 Konfessionalismus und Klientelismus im Libanon

In der Beschreibung des politischen und sozialen Systems besteht in der Fachliteratur Einigkeit darüber, dass der Libanon in hohem Maße durch die konfessionelle Zugehörigkeit strukturiert wird (Barakat 1977: 25-53; Gordon 1980; Nasr/ Hanf 1987; Perthes 1994; Bennett et al. 1995; Picard 1999; Schumann 2001; Kreidi/Monroe 2002). Die durch den Krieg verfestigten konfessionellen Strukturen werden als einer Friedensbildung entgegenwirkend betrachtet (Harb 2006: 3). Auch die Aktionsforschung hat den Konfessionalismus als das Phänomen herausgestellt, welches gegenwärtig am dringlichsten zu verändern sei (Bteich/Reich 2009). Bevor ich das Phänomen ausgehend von den interaktiven Darstellungen analysiere, möchte ich anhand der Literatur auf den Konfessionalismus eingehen, wobei ich ihn in den Kontext einer klientelistischen Gesellschaft stellen möchte. Die verschiedenen herausgebildeten klientelistischen Formen lassen sich bestimmten historischen Phasen zuordnen. In diesem Zusammenhang werde ich auf die soziopolitische Geschichte des Landes eingehen, aber nur insoweit, dass der moderne und klientelistische Charakterzug des Konfessionalismus dargelegt werden kann.1 Es ist dieses klientelistische System, das nach Nizar Hamzeh die Durchsetzung universalistischer Politik sowie Bürgerbeteiligung und Bürgerrechte verhindert (Hamzeh 2001: 167). Anschließend werde ich auf die gegenwärtige rechtliche und politische Struktur eingehen, in die sich die konfessionelle Segregation eingraviert hat, welche nun wiederum auf die Gesellschaft wirkt. Trotz der Bedeutung, die dem Konfessionalismus zugeschrieben wird, fehlt es an einschlägiger Literatur, die ihn auf der Mikroebene in der alltäglichen Interaktion untersucht. Es ist mir einzig und allein die anthropologische Studie von Suad Joseph begegnet, die sich mit den alltäglichen Interaktionen befasst hat; ich werde daher auf sie Bezug nehmen.

1 | Für eine detaillierte Darstellung zum libanesischen Krieg siehe Hamdan, K. 1997; Hanf, T. 1990; Deeb, M. 1980. Zur libanesischen Geschichte siehe Salibi, K. 1988.

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Anders als häufig vermutet, kann im Libanon der Konfessionalismus nicht als primordial angenommen werden. Er steht vielmehr im Kontext nationaler Ideen, die außerhalb der familiären Grenzen eine Solidargemeinschaft zu konstituieren versuchen (Makdisi 2002: 180; King-Irani 2005: 111). Die Idee einer konfessionellen »vorgestellten Gemeinschaft« forderte die hierarchischen, imperialen und feudalen Strukturen des libanesischen Sozialsystems heraus.2 Die Hauptgrenzlinie verlief vor der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht zwischen den verschiedenen Konfessionen, sondern zwischen ·¯DPPDKD·Z¯DPP (Allgemeinheit, Volk) und wajÐh (einer mit Gesicht) oder D·¯ DQ (besondere Personen, Notabeln).3 Die Herrschaft über das Land war unter mehreren großen Familien aufgeteilt, deren Patriarchen wiederum dem osmanischen Gouverneur von Saida unterstellt waren (Makdisi 2002: 181). Das sozioökonomische System des Mount Lebanon im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert lässt sich als feudal beschreiben (Hamzeh 2001: 168). Das libanesische 7›¸LI-System 4 zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat Vieles gemeinsam mit anderen feudalen Systemen. Aber es unterscheidet sich auch deutlich von weiteren iltizam-Systemen anderer Provinzen des Osmanischen Reiches (Gilsenan 1977: 187).5 Eine Besonderheit stellen der nichtmilitärische Charakter dieses Systems und die Form der klientelistischen Beziehung dar: »[L]egitimacy based more on personal loyalty than on coercive obedience to an impersonal authority.« (Gilsenan 1977: 188)6 Auch wenn dieses patrimoniale System auf verwandtschaftlichen Beziehungen aufbaute und die feudalen Gebiete damit konfessionell recht homogen waren, war das Bewusstsein noch kein konfessionelles. Erst die Unruhen in den Jahren 1841 und 1860 veränderten die klientelistischen Beziehungen von einer persönlichen zu einer konfessionellen Loyalität (Hamzeh 2001: 171). Hier traten zum ersten Mal konfessionelle Auseinandersetzungen in Erscheinung (Khalaf 1977; Salibi 1988). Dieses Phänomen setzt ein bestimmtes konfessionelles Bewusstsein voraus, welches zweifellos vom Nationalismus in Europa beeinflusst war (Johnson 2001: 89) und welches das feudale politische System in Frage zu stellen wagte. Auch wenn es eine persönliche Loyalität zu den Notabeln gab, so herrschte doch eine gewalttätige, feudale Hierarchie, »a violence that undergirded a dynamic elite politics but also a rigid social order that separated high from low – in terms of 2 | Deshalb ist auch in den Chroniken des 18. und 19. Jahrhunderts von Mount Lebanon kein Bezug zum Konfessionalismus zu finden (Makdisi 2002: 181). 3 | So kam es, dass christliche Missionare, die in Beirut ankamen, höchst erstaunt darüber waren, dass sie Christen nicht von Muslimen unterscheiden konnten (Makdisi 2002: 182). 4 | Das ¸LT®›·-System basierte auf der Einteilung in Gebiete (PXT›®D·›W), die jeweils der politischen Macht unabhängiger feudaler Familien unterstellt waren. 5 | Anders als im multazim-System, wo ein Gouverneur keine spezielle Beziehung zu seinem Dorf oder seinen Bauern hatte, wohnte der PXT®L· normalerweise in seinem Dorf und stand somit selbst in einer Beziehung zu seinen Untertanen ( ¸D®E›·) (Gilsenan 1977: 189). 6 | Siehe auch Hamzeh 2001: 168.

I.2 Konfessionalismus und Klientelismus im Libanon

speech, salutation, dress, title, forms of punishment, land, and access to power, and of course, centrality to historical chronicles« (Makdisi 2002: 182). Aus diesem Grund ist es nicht verwunderlich, dass »Konfessionalismus« mit primordial konnotiert wird7, da ein Interesse der Eliten darin bestand, das befreiende Potential der aufkeimenden konfessionellen Bewegungen zu ersticken. Dieser Auf bruch fand in den Jahren von 1830 bis 1860 statt, in jener Zeit, in der Muhammed ·$OL massive Modernisierungsprojekte in Ägypten implementierte, die Europäer ihre Interessen in der Levante verstärkten und, 1839, im Lande selber die 7DQµªPDW-Reformen durchgesetzt wurden.8 Osmanen und Europäer waren sich einig, dass einerseits das Prinzip der absoluten Gleichheit zwischen Muslimen und Nichtmuslimen gelten sollte, während andererseits die »alten« Privilegien des libanesischen Herrschaftssystems erhalten bleiben sollten (Makdisi 2002: 184). Dies schuf einen Widerspruch: Während die Eliten mit der Forderung nach Gleichheit bestimmte Machtansprüche sichern wollten, wurde dieselbe Forderung von Bewegungen aus dem Volk als Möglichkeit interpretiert, sich mit dem Bezug auf die Konfession von den feudalen Strukturen zu befreien. Den Anfang bildete die Kisrawān-Rebellion, die von 7¯DQ\¯DV6K¯DK¯DQangeführt wurde. Im Anschluss daran widersetzten sich weitere Christen im Jahre 1860 ihren Notabeln, die Drusen waren (Makdisi 2002: 185-187). Das war natürlich nicht die Absicht der Eliten gewesen9, die den Widerstand mit Gewalt niederschlugen. 10 FuÝad Pasha – und die europäischen Diplomaten aus England, Frankreich, Russland, Österreich und Preußen – vereinbarten 1861 ein »Réglement Organique«, welches das Land einem nichtlibanesischen, christlichen Generalgouverneur (mutaÒarrif) unterstellte und es in sieben Distrikte teilte, die einem Rat untergeordnet waren. Dieser Rat sollte den Gouverneur in der Verwaltung des Landes unterstützen. Das »Réglement Organique« von 1861 verstärkte die Position der feudalen Familien und ermöglichte mit der Aufteilung des Landes in weitere Distrikte die Absorption einer neuen aufsteigenden Elite aus dem kommerziellen Mittelstand in die höhere Elite (Gilsenan 1977: 194). Die Einteilung der Ratssitze basierte auf konfessioneller Zugehörigkeit, wobei die sechs bedeutenden Konfessionen (Maroniten, Griechisch-Orthodoxe, Katholiken, Drusen, Schiiten und Sunniten) berücksichtigt wurden. Der Rat sollte aus Mitgliedern aller größeren religiösen Gemein7 | Auch Samir K HALAF beschreibt ihn als primordial, wobei er damit wohl eher eine Abwertung des Systems als eine akkurate Beschreibung ausdrücken möchte (Khalaf 1977: 201). 8 | 1840 wurde die osmanische Herrschaft über den Mont Liban mit dem Anspruch der Reformierung wiederhergestellt. 9 | Fu’ad Pasha sah in den Gewalttätigkeiten von 1860 nicht das Aufkommen eines komplizierten nationalen Bewusstseins, sondern das Ende eines vormodernen Tribalismus (Makdisi 2002: 189). 10 | Auch die .LVUDZ‰DQ -Revolte wurde mit voller Unterstützung der britischen und französischen Regierungen sowie der maronitischen Kirche niedergeschlagen (Makdisi 2002: 188).

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schaften bestehen, Gemeinschaften, die es bis dahin noch nicht als »vorgestellte Gemeinschaften« gegeben hatte: »The irony, of course, is that while )X·‰D G thought he was eradicating a distructive tribal will to sectarian violence, he, in fact created a sectarian principle of government which guaranteed the emergence of a culture of sectarianism. I say this because the maintenance of a so-called ›balance of [religious] communities’ – communities which hitherto did not exist as coherent political units – became the ultimate end of political life.« (Makdisi 2002: 191)

Die Anerkennung dieses Zusammenhangs erlaubt es, eine Facette des Konfessionalismus zu sehen, die ihn als Impuls für politische Teilhabe und Gerechtigkeit in einer Gesellschaft beschreibt, die »historically knew neither« (Makdisi 2002: 191). Konfessionalismus als primordial zu bezeichnen, bedeutet in gewissem Sinne, ihm die emanzipatorische Kraft abzuschreiben. 1929 wurde der Libanon zur Republik erklärt, nachdem das Gebiet des Mount Lebanon im Interesse der Mandatsherrschaft Frankreichs um die Küstenstädte, die Bekaa-Ebene und einige Regionen im Norden und Süden zum »Großlibanon« erweitert worden war. Er erhielt eine Verfassung, die vom libanesischen »Repräsentativen Rat« erarbeitet worden war, blieb aber weiterhin unter französischer Vormacht.11 Als der Libanon 1943 seine Unabhängigkeit erhielt, ergriffen der damalige Präsident der Republik, %LVK¯DUD.K¯DU¯Dund der Premierminister Riyād Sulh. nicht die Gelegenheit, die konfessionelle Orientierung zu mildern. Sie entschieden sich dafür, das System beizubehalten und der sunnitischen und maronitischen Vertretung in der Regierung mehr Gewicht zu verleihen (Saadeh 2002: 449). Diese Vereinbarung ging unter dem Namen »DOPL±›TDOZD®DQª« (»Nationalpakt«) in die Geschichte ein. Im Nationalpakt ist eine Konkordanzdemokratie festgeschrieben, in der die Konfessionen ihrer Größe entsprechend vertreten sind und die auf dem Gleichgewicht zwischen Muslimen und Christen beruht.12 Die Errichtung der Konkordanzdemokratie im Jahre 1943 sah nicht vor, die klientelistischen Beziehungen zu unterminieren, vielmehr entstanden mit den sozialpolitischen Mo-

11 | Die knappe Mehrheit der Christen in der im Jahre 1932 durchgeführten Volkszählung benutzten die Franzosen als Rechtfertigung, um die Wahl des Parlamentssprechers Muhammed Jisr zum Präsidenten zu annulieren und einen maronitischen Präsidenten einzusetzen. Die Volkszählung hatte ergeben: Maroniten 29 %, Griechisch-Orthodoxe 10 %, Griechisch-Katholische 6 %, Armenier 4 %, Sonstige 15 %, Sunniten 23 %, Schiiten 20 %, Drusen 6 % (Rotter/Fathi 2001). 12 | Nach der libanesischen Verfassung von 1926 sollte diese Vereinbarung nur zwischenzeitlich gültig sein (Artikel 95 der Verfassung). Siehe Verfassung der Republik des Libanon (Republique libanaise: le conseil constitutionnel), Internetseite.

I.2 Konfessionalismus und Klientelismus im Libanon

dernisierungsprozessen neue Formen der klientelistischen Netzwerke, die sich hinsichtlich der Art ihrer Beziehungen und der Struktur unterschieden. 13 Die Unabhängigkeit des Landes war zum größten Teil durch einen informellen Pakt zwischen führenden christlichen Kaufleuten und Bankiers und ihren sunnitischen Kollegen zustande gekommen. Die vorangegangenen konfessionellen Auseinandersetzungen standen ihren wirtschaftlichen Interessen im Wege (Johnson 1986: 25-26). Der politischen Führung gelang es meist, ihre Klientel im Griff zu behalten und in auf brechenden Konflikten zu moderieren, so dass sie nicht zu konfessionellen Kämpfen ausarteten. Dies wurde durch die ausgeklügelten Mechanismen des klientelistischen Systems ermöglicht, das durch Abhängigkeitsverhältnisse eine Kontrolle der Patrone über ihre Klientel ermöglichte (Johnson 1986: Chapter 4).

I.2.1 =8·$0$¸-K LIENTELISMUS Die bekannteste Form des Klientelismus, die im Libanon bis zum Ausbruch des Krieges dominierte, ist diejenige des ]X·DPD¸-Klientelismus, bei dem der Patron (der sogenannte ]D·LP; Plural: ]X·DPD) ein politischer Führer ist, dessen Amt häufig vererbt und gerne innerhalb derselben Familie weitergegeben wird. Anders als ein patrimonialer Klientelismus ist das Netzwerk der ]X·DP›¸ mit dem weiteren institutionellen Rahmen, Libanons Zentralregierung, eng verknüpft (Hamzeh 2001: 172). Ein wichtiger Gesichtspunkt des ]X·DP›¸-Klientelismus ist, dass der ]D·LP seine Klienten mit Dienstleistungen versorgen kann. Das bedeutet, dass die Unterstützung des Klienten mehr eine transaktionale Verpflichtung darstellt als eine konfessionelle Loyalität (Hamzeh 2001: 172).14 Michael Johnson hat in seiner anthropologischen Forschung zu PatronKlienten-Beziehungen im Libanon überzeugend vor Augen geführt, wie die vorindustrielle vorherrschende Klasse, auf Machterhalt im Modernisierungsprozess bemüht, eine konfessionelle Organisation der Gesellschaft imaginierte und damit entscheidend den auf Dienstleistung beruhenden Kapitalismus des Libanons prägte (Johnson 1986): Die politischen Bosse, ]X·DP›¸, sind, um die politische Durchschlagskraft zu behalten, an einer vertikalen Integration der Gesellschaft interessiert. Diese erlaubt es ihnen, Wahlsiege davonzutragen, verpflichtet sie aber gleichzeitig, ihre zum großen Teil auf Nachbarschaftsbeziehungen aufgebaute Klientel mit Arbeitsmöglichkeiten, Wohlfahrtsleistungen und rechtlichem Schutz zu versorgen. 13 | Hamzeh spricht von einem ]X·DPD¸-Klientelismus, von Milizenklientelismus, Islamistischem Klientelismus und Partei-Klientelismus (Hamzeh 2001: 170). 14 | Trotz lokaler Wettkämpfe von Familien innerhalb derselben Konfession stärkt die Loyalität zu den ]X·DP›¸ die konfessionelle Affinität; die ]X·DP›¸ sind aber auch in der Lage, konfessionsgebundene Unruhen zu reduzieren.

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Frieden stif ten durch Theater »The]D·LP maintains his support in two important ways: first, by being regularly returned to office, so that he can influence the administration and continuously provide his clients with governmental services; and secondly, by being a successful businessman, so that he can use his commercial and financial contacts to give his clients employments, contracts and capital.« (Johnson 1977: 209)

Ein spezifischer Charakterzug des ]D·LP ist die enge Kontrolle seiner Klientel. Diese erreicht er durch Zusammenarbeit mit starken Stadtteil- und Nachbarschaftsführern. Diese Bosse der Nachbarschaft heißen TDEDD\: »Typically the TDEDGD\ is a criminal involved in protection rackets, gun running, hashish smuggeling, or other similar activities. The ]D·LP provides him with protection from the police and the courts, in return for his political loyalty and services. These services include the recruiting and controlling of the ]D·LPV clientele, organising mass demonstrations of support, and, if necessary, fighting for the ]D·LPin battles with other ]X·DPD . A qabaday is someone who is prepared to promote his leadership claims by an open murder in complete disregard for the law.« (Johnson 1977: 212)

Der ]D·LP identifiziert und etabliert diese Nachbarschaftshelden zu Kontrolleuren seiner Klientel, wodurch er sich nicht um jeden Klienten einzeln zu kümmern hat, sondern »conveniently organise[s] his clientele by quarters« (Johnson 1977: 215). Trotz der strukturellen Ungerechtigkeit funktionierte dieses System, solange alle Gesellschaftssegmente integriert waren. Dies änderte sich durch die großen Land-Stadt-Migrationsströme nach Beirut in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren. Die ]X·DPD¸ von Beirut hatten kein Interesse, sich um die Belange der Migranten zu kümmern, da diese nach libanesischem Recht an ihrem Geburtsort und nicht in Beirut wählten. Dementsprechend hatten diese Gruppen im System keinen Fürsprecher und waren aus dem sozialen Dienstleistungssystem ausgeschlossen.15 Dies war umso schwieriger, als auch das Familiensystem in einem Umbruch von großen zu kleineren Einheiten war und sich die migrierte Kleinfamilie in einer prekären Situation befand (Rosiny 1996). Einen Rückhalt fanden diese sozial benachteiligten Gruppen in den neu gegründeten politischen Bewegungen – der rechten »Phalange« auf der einen und den Pansozialisten auf der anderen Seite (Johnson 2001: 6). Johnson sieht im Ausschluss der zwei bedeutenden Fraktionen aus dem klientelistischen System den Grund für den Ausbruch des Krieges im Jahr 1975: die nicht neutralisierten Palästinenser16, die als 15 | F RIEDERICKE S TOLLEIS konnte nachweisen, dass ein Großteil der Schiiten, die in den 1920er Jahren nach Beirut umsiedelten, weiterhin von besser gestellten Schiiten in der Umgebung abhängig waren (Stolleis 2005: 181). 16 | Viele wohlhabende, christliche Palästinenser haben die libanesische Staatsbürgerschaft erhalten.

I.2 Konfessionalismus und Klientelismus im Libanon

Flüchtlinge gekommen waren und denen keinerlei politische und ökonomische Rechte zugestanden wurden, und die schiitischen Migranten, die in den 1970ern nach Beirut ausgewandert waren (Johnson 2001: 6).

I.2.2 M ILIZENKLIENTELISMUS Mit den kriegerischen Auseinandersetzungen ab 1975 bildete sich eine weitere Form des repressiven Klientelismus heraus: der Milizenklientelismus. Mit der Erosion des Staates nach 1975 gewannen die Milizen mit ihren Zwangsmaßnahmen und Einschüchterungsmethoden ihres Angstapparates an Bedeutung. Auch wenn einige der Milizen immer noch von den Söhnen der traditionellen ]X·DPD¸-Bosse kontrolliert wurden (wie Amin Gammayyils »Phalange« − »DO¨L]E DONDW¯ D¸LEDOOXEQ›QL\DK«, Dani Chamouns »Tieger« − »QXP³UDO¸D¨U›U« und Walid Jumblats »Progressiv-Sozialistische Partei« − »DO¨L]E DWWDTDGGXPL DO¸LVKWLU¯DNL«), entstanden andere, die von Personen geleitet wurden, welche erst jüngst die politische Bühne betreten hatten (die sunnitischen »Leute des Klosters« − »PXU›EL®XQ«, die maronitischen »Lebanese Forces« − » DOTXZDW DOOXEQ›QL\\D«, die schiitische »Amal« − »¸DIZ¯DMDOPXT¯DZDPDDOOXEQ¯DQL\DK« und die »Partei Gottes« − »¨L]EXO ODK«). Dieses Klientelsystem entwickelte eine spezielle Form der Patron-KlientBeziehung, die auf einer einseitigen gewalttätigen Durchsetzung der Interessen des Patrons basierte und auf der physischen Überlegenheit aufbaute. Während die physische Überlegenheit auch im ]X·DPD¸-Klientelismus präsent ist, bei dem der ]D·LP seine Macht mit Hilfe von TDEDD\ durchsetzt, zeichnet sich diese Form der Unterwerfung nunmehr durch eine bedingungslose Brutalität aus, die keinen Halt vor einer Eliminierung der sich Widersetzenden, vor Attentaten und Massakern macht. Mehr als jede andere Klientelbeziehung funktioniert dieses Milizenklientelsystem nur in einer Abhängigkeitsbeziehung zu anderen, regionalen oder ausländischen, Mächten – wegen der benötigten Ressourcenzufuhr (Hamzeh 2001: 175). Während des Krieges nutzten alle, die »Amal«, die »Lebanese Forces« und die »Progressiv-Sozialistische Partei« (PSP), ihren jeweiligen Küstenstreifen aus, um illegale Häfen zu errichten, wo sie Gelder für den Schiffsverkehr und den Erhalt von Frachtgut erhoben (Harik 1994: 39). Das eigene Einkommen reichte dennoch nicht aus: In großem Umfang bezogen libanesische Milizen Finanzhilfen aus dem Ausland. Picard schätzt die jährliche Transferzahlung der emigrierten Libanesen in den Libanon für Ende der 1970 Jahre auf 1,5 bis 2,5 Milliarden US-Dollar jährlich (Picard 1999: 52). Viele Staaten unterstützten offen oder versteckt ihre Miliz. So schätzt Picard beispielsweise, dass Israel in den Jahren 1975 bis 1982 die »Lebanese Forces« durch jährliche Zahlungen von 25 Millionen USDollar unterstützt hat (Picard 1999: 52). Die »Lebanese Forces« − in den frühen 1970er Jahren unter Bashir Gemayel entstanden − waren auf der maronitischen Seite die wichtigste Miliz (Harik 1994: 9). Diese radikale Miliz hatte das Ziel, alle Ausländer und Gegner aus den maronitischen Gebieten zu entfernen, auch

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wenn das deren physische Vernichtung bedeutete. Auch interne Rivalen wurden beseitigt.17 Auf drusischer Seite war es die Volksarmee (DOMD\VK DVKVK·DEL), die unter dem Banner der PSP mit syrischer Unterstützung agierte. Walid Joumblat, der keinen ernst zu nehmenden Gegner hatte18, versuchte, die Armee durch den Zusammenschluss mit der Nationalen Bewegung zu vergrößern, einer losen Koalition von Palästinensern und Linken, die sich gegen einen maronitisch dominierten Staat wendete (Harik 1994: 10). Es entsprach ganz dem Dienstleistungscharakter des libanesischen Klientelsystems, dass, nachdem vom Staat gar nichts mehr zu erwarten war, auch die Milizenpatrone die Notwendigkeit entdeckten, Sozial- und Dienstleistungen anzubieten. Das trug zu einer weiteren territorialen Fragmentierung bei.19 Die städtischen Versorgungseinrichtungen und Ausstattungen wurden verwendet und geplündert, wo immer sie gefunden werden konnten (Harik 1994: 14).20 Die christlich-konservativen Milizen bauten in ihrem Herrschaftsbereich zwischen 1975 und 1989 parastaatliche Strukturen auf. Ein Volks- und ein Gesundheitskommittee wurden eingesetzt, Letzteres setzte sich für die Verteilung von Medikamenten ein. Ein Rechtsausschuss versuchte zudem, den Wegfall der Gerichtshöfe zu kompensieren. Die Milizen erhoben Steuern, bauten Straßen, führten einen »Militärdienst« ein und versuchten, die autonome Versorgung mit Energie und Trinkwasser für ihr Territorium zu sichern. Dennoch war die Sicherheit ständig bedroht. Nicht so sehr von außen als durch interne Kleinkriminalität und Kämpfe um die Vorherrschaft der unterschiedlichen christlich-konservativen Milizen (Picard 1999). Die außerhalb der Stadt gebauten Wohnkomplexe boten insofern Schutz, als Wachpersonal eingestellt wurde, das häufig gleichzeitig in einer Miliz aktiv war (Glasze 2003: 97). Allerdings wurden diese Resorts zur Falle, als im Sommer 1980 die Miliz von Bashir Gemayel Hochburgen der Chamoun-Clans und ihrer Verbündeten angriff (Glasze 2003: 97). Die Drusen entwickelten eine »Zivile Bergverwaltung« (»Civil Administration of the Mountain«, CAOM), die sich für eine grundlegende zivile Versorgung einsetzte, was auch den Bildungsbereich einschloss, so dass Schulen weiterhin offen gehalten werden konnten (Harik 1994: 18).

17 | Die maronitische Miliz von Rymon Eddes in Byblos 1976 und die »Tieger«-Miliz (» DO QXP³UDO¸D¨UDU«) in Safra. 18 | Der Arslan-Clan hatte nie eine Miliz aufgebaut und wurde auf Grund seiner maronitischen Beziehungen verschmäht. 19 | Anders als J UDITH HARIK würde ich das nicht dem Unvermögen des Staates, Sozialleistungen zu erbringen (Harik 1994: 1), zuschreiben, sondern behaupten, dass der Staat nicht in diesem Sinne konzeptioniert ist. 20 | Usama Fakhuri versuchte 1976 eine staatliche Grundversorgung herzustellen, aber er schaffte es nicht, sich gegen den Druck der politischen Akteure der Stadt durchzusetzen (nach Harik 1994: 15).

I.2 Konfessionalismus und Klientelismus im Libanon

Die Führer der verschiedenen Gruppen benutzten die in kriegerischen Kontexten vorherrschenden starken Emotionen, um ihre sozialen Programme und Aktionen herauszustellen und ihren Gemeinschaftsgeist hervorzuheben. Die drusische Verwaltung stellte z.B. ihre Aktionen als Symbol ihrer Standhaftigkeit gegen die Maßnahmen der sogenannten »Isolationisten« dar, womit Maroniten bezeichnet wurden (Harik 1994: 43). Auf der anderen Seite hatten die im Volkskomitee arbeitenden Personen, die Vorstellung, ein »modernes« Denken zu repräsentieren, das mit der alten Tradition der osmanischen Verwaltung ein Ende machte und sich über den zurückgebliebenen Rest erhebe (Harik 1994: 44).21 Während des Krieges mobilisierten die Milizen auf der Basis einer konfessionellen »vorgestellten Gemeinschaft« (»imagined community«) und lieferten einen Diskurs, der im Stande war, die ungerechten Strukturen in einer Terminologie von »Ehre und Schande« zu rechtfertigen (Johnson 2001: 20). Die konfessionelle Gewalt war also weder ein ländliches Produkt, welches die »zurückgebliebenen« Migranten vom Dorf importiert hatten, noch war sie primordial. Sie entstand aus einem Diskurs22 , der eine Funktion erfüllte: Er erlaubte es den sozial Benachteiligten, eine Gruppenzugehörigkeit zu kreieren und ihren unterprivilegierten Status zu begründen.23 Für die soziale Elite schuf der konfessionelle Diskurs eine Möglichkeit, ihre Privilegien während der sozialen Umbrüche zu verteidigen und die Aggression der Benachteiligten auf andere zu lenken. 21 | Auch wurden andere Symbole verwendet, wie beim Titel des maronitischen Radios »Radio Free Lebanon« (» OXEQ›Q DO ¨XUU«), welcher auf die maronitische Vorstellung von der Befreiung des gesamten Landes verweist. Auch die Radiostation der PSP proklamiert mit ihrem Namen »Stimme der Berge« (» ¬DZWDOMDEDO «), die authentische Stimme der Bergregionen zu sein. Die alte Burg des Shihabi-Emirs in Beiteddine wurde zum Sitz der drusischen Dienstleistungsorganisation und zum »Volkspalast« umbenannt. 22 | Für eine gute Diskussion bezüglich des Verhältnisses sozialer Diskurse zum Ausbruch von Gewalt siehe Jabri, V. 1996. VIVIENNE JABRI macht darin deutlich: »Conflict, and specifically violent conflict, is constitutively defined in terms of inclusion and exclusion and any understanding of war must incorporate the means through which such systems are perpetuated and implicated in violent action.« (Jabri 1996: 7) Daraus folgt auch JABRIS Betonung von Partizipationskonzepten für die Konstitution konstruktiver politischer Diskurse (Jabri 1996: 159). 23 | So wie der Diskurs des Konfessionalismus bestimmte Strukturen erhält, ist es in gewisser Weise auch bei der klientelistischen Beschreibung der Beziehung. Michael G ILSENAN behauptet, das Konzept von Patron und Klient sei oftmals ein integraler Bestandteil der lokalen Ideologie, es sei notwendig, dieses Konzept heuristisch zu verwerfen. G ILSENAN führt aus, dass die Beschreibung dieser Beziehung und ihre damit erzeugte Betonung ungleiche Einkommens- und Besitzverhältnisse kaschiere (Gilsenan 1977: 168). »The lords’ modern dilemma has been to maintain strictly personal-factional politics, localism and village bounded loyalties, and a supply of cheap labour by preserving traditional relations of exploitations.« (Gilsenan 1977: 168)

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I.2.3 I SL AMISCHER K LIENTELISMUS Das Ausbleiben einer ausgeglichenen Verteilung des Wohlstandes und des Zugangs zu politischen, sozialen und kulturellen Ressourcen brachte Ende der 1970er Jahre politische Akteure aufs Feld, die auf das Versäumnis des Staates, soziale Leistungen zu erbringen, reagierten und sich auf die benachteiligten Gruppen konzentrierten. Islamistische Gruppen, allen voran »Hizbulla« (»¨L]EXOODK«) und »Islamische Vereinigung« (»DOMDPL·›W¸LVO›PL\DK«), kreierten eine Solidargemeinschaft, in der Sozialleistungen, Bildung, Gesundheitsfürsorge und Wohnmöglichkeiten bereitgestellt wurden (Rosiny 1996) und die in der Lage war, den Staat und das traditionelle ]X·DPD¸-Klientelsystem zu umgehen. Im Gegensatz zur bedeutenden Rolle, die Drusen und Maroniten in der libanesischen politischen Szene spielten, war die schiitische Bevölkerung politisch bis in die 1960er Jahre unsichtbar (Norton 1986: 157). Imam Sadr gründete 1974 die »Bewegung der Benachteiligten« (»¨DUDN›W OPD¨UXPªQ«). Ihr militärischer Flügel, die »Bewegung der Hoffung«24 (»¨DUDN›WO¸DPDO«), kurz »Amal«, wurde etwas später gegründet und schloss die schiitische Mittelklasse, Geschäftsleute, ein (Haddad 2001: 135). Ihre Milizionäre wurden in Baalbek mit dem Ziel ausgebildet, den israelischen Angriffen im Süden zu widerstehen (Harik 1994: 12). Die Ressourcen der »Amal«-Miliz waren andere, weshalb das Sozialprogramm auch nicht so systematisch aufgebaut wurde. »Differences in locale, population size, and human and physical developmental levels shaped and set limits to what was possible in terms of social assistance and service programmes. The Shia community was less advantaged in all of these attributes than were the Druze and Maronites. This explains the fact that social action in its linkage to Islam was an important agent of political mobilisation as early as Imam Sadr’s arrival in Lebanon in 1959 and remains a critical part of the 6KL¸L awakening still in process.« (Harik 1994: 51-52)

Im Jahre 1967 fand Sadrs »Bewegung der Benachteiligten« einen institutionellen Ausdruck in der Gründung des »Hohen Schiitischen Rates« (»DOPDMOLVDOVKª·ªDO D·O›«). Religiöse Festivitäten wie Ashura wurden damit zu öffentlichen Demonstrationen der gemeinschaftlichen Aspirationen (Hillenkamp 2005: 225). Nach der israelischen Besatzung im Jahre 1982 kam als neuer politischer Spieler die »Hizbullah« auf die Bühne und bezog sich deutlich auf islamische Konzepte (Norton 1986: 160). Nach dem Krieg wurde das Profil der Partei immer pragmatischer und avancierte, mit einer starken institutionellen Präsenz zur Dienstleistung für seine Klientel, zu einem Bestandteil der offiziellen libanesischen Politik (Hamzeh 1997): 1984 wurde die islamische Gesundheitsorganisation gegründet und 24 | Der Name der Bewegung »Amal« wird allgemein mit »Hoffnung« übersetzt, steht aber gleichzeitig für die Anfangsbuchstaben der Worte » DIZ›MDOPXT›ZDPDKDOOXEQ›QL\\D «, zu Deutsch: »Bataillonen des libanesischen Widerstandes«.

I.2 Konfessionalismus und Klientelismus im Libanon

im Jahr 1988 die Wiederauf bau-Kampagne (MLKDGDOELQD¸). Da bei den islamischen Gruppierungen die Sozialleistungen besonders umfassend sind, spricht Hamzeh hier von einer eigenen Form des Klientelismus (Hamzeh 2001: 175). Auch wenn sich der ]X·DPD¸-Klientelismus und der Milizenklientelismus in der Legitimation der Beziehung, der Form der Asymmetrie und im sozialen Austausch wesentlich unterschieden, war die Grundlage der Patronage persönlich und konfessionell. Trotz des kommunitaristischen Charakters blieb die islamistische Bewegung innerhalb der eigenen Konfession gefangen und integrierte sich in das politische System des Libanons, so dass »the Lebanese state became an association of variety of patrons« (Hamzeh 2001: 176).

I.2.4 N ACH DEM K RIEG Auch bei Kriegsende stellten sich die verantwortlichen Persönlichkeiten der höchsten Staatsränge ausdrücklich als Angehörige und Vertreter einer Konfession dar. Der Staat wurde und wird als ein Instrument zur Durchsetzung der Partikularinteressen gesehen. Die Versuche, staatliche Auflagen zu etablieren, werden als illegitime Ausnutzung der jeweils anderen Gruppe und nicht als eine legitime Implementierung von Gemeinwohlinteressen interpretiert (Glasze 2003: 205). Die Eliten der verschiedenen Konfessionsgemeinschaften profitierten von der staatlichen Fragmentierung und es verwundert nicht, »dass sich die Unterschiede zwischen den Konfessionen essentialisierten und als unhinterfragbare Voraussetzung, als ›libanesische gouvernementalité‹ anti-konfessionalistische Rhetorik mit einer konfessionalistischen Praxis [verbanden]« (Glasze 2003: 206). Auch das Rechtssystem ist konfessionell gegliedert und die politische Struktur des Landes, die politischen Ämter, die Zusammensetzung des Parlamentes und die Positionen in der öffentlichen Verwaltung werden nach konfessioneller Zugehörigkeit vergeben. Jede Gemeinde im Libanon hat bis heute ihre eigenen Gesetze bezüglich Geburt, Tod, Heirat, Scheidung, Adoption und Erbe (Saadeh 2002: 450). Dies resultiert daraus, dass der Staat unter der osmanischen Regierung ein sunnitisch-muslimischer gewesen war, in dem das muslimische Gesetz (VKDUL·D) nicht für Nichtmuslime angewendet werden konnte und infolgedessen jeder religiösen Gemeinde ihre eigene juristische Autonomie zugestanden wurde. Die ökonomisch und rechtlich mächtigen religiösen Institutionen wurden zu beachtlichen politischen Entitäten.25 Wie massiv diese Entitäten wirken, zeigen die Versuche, die unternommen wurden, um die rechtlich-konfessionelle Struktu25 | BkirkÐ ist für die Maroniten das Zentrum, welches vom Maronitischen Rat unterstützt wird; '›U DO ,IW›¸ ist der Bezugspunkt für Sunnis; DO0DMOLV DO6Kª·ª DOr$·O› überwacht die privaten Angelegenheiten der Schiiten; 0DMOLV DO 0LOODK (dessen Name immer noch derjenige aus der osmanischen Zeit ist) kontrolliert die Angelegenheiten der GriechischOrthodoxen und 6KD\NKDOr·DTO ist für die Interessen der Drusen zuständig.

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rierung aufzuweichen. Der erste Versuch, einen zivilen Rechtscode einzuführen, war 1936 erfolgt, als die französischen Autoritäten die verschiedenen Konfessionen aufforderten, ein Gesetzbuch vorzulegen, damit der Regierung eine Kopie zur Bezugnahme zur Verfügung stünde (Saadeh 2002: 451). Keiner der Angesprochenen reagierte auf diese Anfrage. Im gleichen Jahr legte der französische Hohe Kommissar ein Gesetz vor, das einen Konfessionsübertritt erlaubte, wenn dieser bei einem eigens dafür eingerichteten Bürgeramt beantragt würde. Das Gesetz musste jedoch auf Grund heftiger Reaktionen der muslimischen Ulama, die mit zivilem Ungehorsam drohten, annulliert werden (Saadeh 2002: 452). Am 12. Januar 1952 forderte das Anwaltssyndikat die Abschaffung des gesamten Personenstandsrechts und untermauerte diese Forderung mit einem Streik. Der Streik dauerte acht Monate und bileb am Ende erfolglos. Im Jahr 1975 gab es einen dritten Versuch, das konfessionelle Recht zu schwächen. Diese Bestrebung kam von Mittelschichtsbürgern, die ihre Konfessionszugehörigkeit vom Ausweis getilgt hatten. Als die Zeit gekommen war, zu der ihr Ausweis erneuert werden sollte, weigerten sich die libanesischen Autoritäten, ihnen einen neuen Pass auszustellen, da die religiöse Zugehörigkeit auf dem alten Ausweis nicht sichtbar sei. Der vierte Versuch erfolgte nach dem Krieg und kam vom Präsidenten der Republik, Elias Hrawi (Ilyas Hirawi), der ein Gesetz vorschlug, das den Libanesen erlauben sollte, zwischen einer zivilen und einer religiösen Ehe zu wählen. 26 Die Reaktionen darauf waren Demonstrationen und Drohungen, wieder zum Bürgerkrieg zurückzukehren, falls dieses Gesetz durchkommen sollte (Saadeh 2002: 453). Die Existenz des konfessionellen Personenstandsrechtes wirkt sich auf die Struktur des Staates und der Gesellschaft aus. Sie führt zu einer Zweigleisigkeit in der Rechtsprechung, mit dem Staat auf der einen und den verschiedenen religiösen Häuptern auf der anderen Seite. Die Religionshäupter haben sowohl bei Privatangelegenheiten (wie Heirat, Scheidung und Erbschaft) als auch in öffentlichen Angelegenheit (wie Ausbildung und Bildung) ein Mitspracherecht. Die Macht der religiösen Entitäten schwächt die Durchsetzungskraft des Staates (Saadeh 2002: 455). Das »Dokument der nationalen Versöhnung« von 1989, auch »Taif-Abkommen« genannt, welches den Krieg beendete und politische Reformen implementierte, sah eigentlich eine Überwindung des konfessionellen Systems vor, ohne jedoch eine Frist dafür zu setzen (Krayem 1997: 423). Die Überwindung des Konfessionalismus wurde als Ziel formuliert, während der Konfessionalsimus gleichzeitig in der Struktur der politischen Machtverteilung wieder implementiert wurde (Norton 1991: 461; Picard 1996). Das Abkommen von Taif stellt einen Kompromiss dar, der es ermöglichte, den Bürgerkrieg zu beenden und auf der existierenden Milizenklientelstruktur aufzubauen. Das Abkommen manifestierte ein Dilemma der sozialpolitischen Struktur, welches Krayem wie folgt beschreibt: 26 | Der vollständige Text dieses Vorschlages kann auf Seite 6 der Zeitung » $O1DKDU« vom 06.02.1998 eingesehen werden.

I.2 Konfessionalismus und Klientelismus im Libanon »The dilemma of the post-Taif state results form the fact that a national and no-sectarian form of representation cannot be carried out by sectarian forces, within a sectarian structure, and under a system which is based on a confessional power sharing formula. Such change needs new forces and a different political and civic culture.« (Krayem 1997: 432)

Solche Kräfte agieren im libanesischen zivilgesellschaftlichen Raum, die versuchen, die konfessionelle Strukturierung zu überwinden.

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I.3 Ein Blick auf die Mikroebene

Die Beschreibung des Konfessionalismus als das gesellschaftliche Phänomen, welches den Libanon am stärksten formt, ist weit verbreitet. Wie das jedoch im alltäglichen Handeln sichtbar wird, in der alltäglichen Praxis, wurde bisher kaum untersucht. Suad Joseph endet nicht mit der Beschreibung der besonderen Bedeutung des klientelistischen Systems, sondern untersucht in der Nachkriegszeit auf einer Mikroebene den Entstehungsprozess von Beziehungen und die Kreation der Vernetzung, in die die Kinder hineinwachsen. Zunächst kann Joseph zur Frage der Kindererziehung zwei parallele Diskurse beobachten. Zum einen existiert ein liberalistisch geprägter Diskurs, der von einem autonomen Subjekt mit Rechten und Pflichten des Kindes ausgeht. Zum anderen werden Kinder in einem Umfeld gesehen, in dem sich diese in einem Beziehungsnetz eingebunden erleben, das auf verwandtschaftlicher Basis oder auf verwandtschaftsähnlichen Verbindungen beruht. Davon hängen die Kinder ab und werden entsprechend normativ legitimiert (Joseph 2005: 1008). Die verschiedenen normativen Bezugspunkte eines autonomen oder relationalen Selbst stellen Möglichkeiten für intensive Verhandlungen von Positionen und Interessen und deren Vermittlung bereit. Diese Verhandlungen bestärken interessanterweise beides, ein patriarchal-konnektives und ein liberalistisch-individuelles Konzept von Bürgerrechten (Joseph 2005: 1008). Joseph spricht von »relationalen« Rechten und Pflichten: Damit bezeichnet sie Ansprüche und Verpflichtungen, die durch das »In-Beziehung-Stehen« zu ganz bestimmten Personen eingefordert werden können.1 Wohlgemerkt gibt es aber keine außerhalbstehende Instanz, gegenüber der diese Ansprüche formuliert und von der sie durchgesetzt werden können. Vielmehr ist es das Beziehungsnetz selber, von dem die Anerkennung der Rechte abhängt. Dementsprechend ist es notwendig, Zeit und Energie in den Aufbau und Erhalt der Beziehungen zu stecken. Ein Bruch in der Beziehung bedeutet automatisch einen Verlust der durch die Beziehung entstehenden Rechte und Verantwortlichkeiten. Joseph zeigt, wie praktisch alle zur Verfügung stehenden Ressourcen politischer, 1 | »Relational rights and responsibilities were personal constructed claims and obligations to specific others.« (Joseph 2005: 1011)

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ökonomischer und sozialer Art durch diese verwandtschaftsähnlichen Netzwerke innerhalb der Nachbarschaft gewachsen sind (Joseph 2005: 1017). Hier kommt die geographische Komponente ins Spiel: Die Anordnung einer Ansiedlung ist von zentraler Wichtigkeit für die Etablierung des Beziehungsnetzwerkes auf Grund der Bedeutung der nachbarschaftlichen Beziehungen (siehe auch Kapitel I.2.1 zu den TDEDD\). Durch die Beleuchtung der Mikroebene ist Joseph in der Lage, einen Blick auf das alltägliche Aushandeln der Beziehungsnetzwerke zu werfen. Diesen Blick möchte ich fortführen, wobei ich den Ort des Verhandelns als gleichwertig zu beachtende Kategorie aufgenommen sehen möchte. Der Bedeutung des Konfessionalismus für den Libanon wird in der Libanon-Forschung Rechnung getragen. Einigkeit besteht auch in der Notwendigkeit seiner Überwindung für einen nachhaltigen Frieden. Diese Positionen argumentieren jedoch stets aus der Sicht einer gesellschaftlichen Makroperspektive. Ich möchte hier mit einer mikroperspektivischen Sichtweise ein Licht auf das Konfessionalismusproblem werfen. Diese erlaubt es, den Ort, an dem die Beziehungsnetzwerke geknüpft und gebaut werden, mit in die Betrachtung einzubeziehen. Dazu werde ich Datenmaterial heranziehen, welches innerhalb einer partizipativen Aktionsforschung entstanden ist. Dieser Ansatz benutzt das interaktive Theater zur Bewusstwerdung der konfessionellen Strukturierung der Gesellschaft auf der Mikroebene. Da es sich um interaktives Theater handelt, besteht die Notwendigkeit, vorab auf die darstellenden Künste im Libanon einzugehen, in deren Kontext die interaktiven Theateraufführungen stehen. Innerhalb dieses Segments der Gesellschaft zeigt sich erneut der Problemhorizont des Konfessionalismus, eingebettet in seine koloniale Geschichte.

I.4 Darstellende Künste im Libanon I.4.1 THE ATR ALISCHE D ARSTELLUNGEN IM AR ABISCHEN R AUM Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf der Untersuchung eines dargestellten Ortes der libanesischen Realität. Die Darstellung ist im Kontext der vor Ort üblichen Darstellungsweisen zu sehen. Aus diesem Grunde halte ich es für notwendig, verschiedene ortsübliche Darstellungsweisen zu erläutern. Dies allerdings erweist sich als kein leichtes Unterfangen: Der fremde Blick läuft leicht Gefahr, das andere als »fremd« und exotisch zu essentialisieren oder das Vorgefundene linear zu vergleichen und in ihm auf Grund unerfüllter Erwartungen nur Mangelhaftes zu erkennen. Um mich dennoch den ortsüblichen Darstellungsweisen zu nähern, orientiere ich mich an Edward Saids »Traveling Theory«, indem ich wie Said von Altbekanntem ausgehe, aber nicht unbedingt bei den Konzepten dieser Beschreibung bleibe (Said 1993: 226). Für eine gewisse Konsistenz im Text verwende ich möglichst weite Kategorien der Beschreibung. So ist es teilweise angebracht, im Diskurs über den arabischen Raum nicht von Theater, sondern von Darstellungsweisen zu sprechen. Denn im Begriff des Theaters schwingt der ganze Kontext der kolonialen Unternehmung und ihrer komplexen Wechselwirkungen mit, welche die durch Said ausgelöste Orientalismusdebatte aufgezeigt hat.1 Dazu gehört die verbreitete These, der arabische Raum kenne ursprünglich kein Theater und erst die napoleonische Invasion von 1798 in Ägypten hätte das Genre in diesen Raum gebracht. So behauptet Jacob Landau, dass es im Grunde bis zum 19. Jahrhundert kein wirkliches arabisches Theater gegeben habe (Landau 1958: 1-2), und Muhammad Badawi ist der Meinung, das arabische Theater sei ein Import aus dem Westen (Badawi 1987: 1). Diese Aussagen beziehen sich darauf, dass bis zum genannten Zeitraum kein Theater im Sinne der aristotelischen Tradition, also mit einem extra dafür ausgezeichneten Ort (Agora) und einem tragischen oder komödienhaften Skript, vorzufinden war. Es ist tatsächlich interessant, zu hinterfragen, warum die philosophischen Werke Aristoteles’ ins Arabische über1 | Gemeint ist die Debatte, die sich durch die Rezeption von EDWARD SAIDS Publikation, Said, E. 1978: Orientalism, herausbildete und praktisch für eine ganze Studienrichtung, »Postcolonial Studies«, den Weg bereitet hat.

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setzt wurden und eine weite Verbreitung fanden, seine Poesie aber offenbar kein Interesse weckte.2 Die historische Arbeit Landaus drückt Verwunderung darüber aus, dass etwas nicht vorhanden ist, was aus einer bestimmten Perspektive zu erwarten wäre, erlaubt aber Offenheit für das Vorgefundene. In den Diskussionen um das Theater in der arabischen Welt wird dennoch in Ansätzen ein »Fehlen« im Sinne eines »Mangels« konstatiert. Vom Standpunkt eines »Mangels« aus lässt sich der Beginn des Theaters im Libanon und in der arabischen Welt zu genau jenem Moment ausmachen, da dieser Mangel ausgeglichen wurde. Marūn n-Naqash (1817-1855) brachte im Jahr 1847 eine Übersetzung des Stückes »Der Geizige« (»al-bakhÐl«) von Molière auf die »Bühne« (Kurrayyim 2000: 54). Es handelte sich um eine Vorstellung in Naqashs privatem Haus, wozu er Freunde und Bekannte eingeladen hatte (Yaghi 1999: 2130). Ein zweites Stück folgte im Jahr 18493 und ein drittes vier Jahre später4 , welches im ersten Theatergebäude aufgeführt wurde, das mittlerweile neben Naqashs Haus errichtet worden war. Kurrayyim zufolge (2000: 54-56) wanderten die Theaterleute ab 1876 nach Ägypten aus, wo das Theater unter Al-Khedyawi Ismail florieren konnte, während es in der Levante Repressionen des osmanischen Regimes ausgesetzt war. Weiterhin erhalten blieb es jedoch in einer Reihe privater Schulen, wo am Schuljahresende jeweils eine Aufführung dargeboten wurde. Zu dieser Zeit begannen auch die beiden bekannten Universitäten, »Université St. Joseph« und die »American University of Beirut« mit Theaterdarbietungen (Kurrayyim 2000: 80-84). Diese halböffentlichen Räume wurden zu den Orten, an denen das Theater im Sinne einer auf einem Skript beruhenden Darbietung lange Zeit überdauerte. Die Geschichte des Theaters, die im Mangel seinen Anfang genommen hatte, muss konstatieren, dass das Theater im Libanon erst wieder Ende der 1960er Jahre mit der Initiative, die sich »theatralische Bewegung« (»al-Îaraka l-masraÎiyah«) nannte, einen Aufschwung erhielt.5 Diese Bewegung 2 | K HALID A MINE spekuliert, dass es an Folgendem lag: »Greek drama’s celebration of simulacra and conflict constituted a real danger to the newly established order of the monotheistic Arabo-Islamic structure, as well as to the social and political orders.« M OHAMMED A ZIZA, ein Experte für arabisches Drama, führt aus, dass es im Griechischen um bestimmte Arten von Konflikten geht, die keine Relevanz für die Araber der Abbassidenzeit hatten. Siehe Aziza 1987. 3 | » $EXO§DVVDQOPX¢DIIDODZ§DUXQDU5DVKLG« (»Der einfältige Abu Hassan oder +D UXQDU5DVKLG«) lautete der Titel des Stückes. 4 | » DO¨DV³GDVVDOª®« (»Der unverschämte Neider«). 5 | 1969 wurde das Baalbeck-Festival, das bis heute großes Renommé genießt, zum ersten Mal veranstaltet. In diesem Zusammenhang wurde auch eine Publikation über das libanesische Theater gefördert. In Kooperation mit der »Commission of the International Festivals of Baalbeck« kam 1969/1970 von SAÞ¯ID K HALISA »$O¨DUDND OPDVUD¨L\\D IL /XEQDQ 1960-1970« [»Die theatrale Bewegung im Libanon 1960-1970«] heraus, eine Dokumentation der libanesischen Theaterszene, bei der die Namen der Ensembles und

I.4 Darstellende Künste im Libanon

wird mit zwei Namen in Verbindung gebracht: Mounir Abu Debs und Antoine Moultaka. In den folgenden Jahren, bis zum Ausbruch des Krieges, wurden viele Stücke auf die Bühne gebracht. Es handelte sich dabei meist um Übersetzungen bekannter europäischer Autoren wie Shakespeare, Dürrenmatt, Camus oder auch Brecht und Goethe (Salloukh 2005: 42). Das arabische Theater, welches man aus der Perspektive des »Fehlens« definiert hatte, unterschied sich nach Amine von 18476 bis in die Mitte der 1990er Jahre nicht vom westlichen »telos« des europäischen Theaterapparates, der mit Skripten und Darstellungsregeln operiert. Dem »Fehlen« einer bestimmten Darstellungsweise wurde von Europäern wie Arabern solch ein Augenmerk geschenkt, dass sich arabische Intellektuelle bemühten, den definierten Mangel durch Übersetzungen europäischer Skripte auszugleichen. Diese Haltung bereitete den Weg dafür, dass den europäischen Darstellungsweisen, die auf einem Skript auf bauten, gegenüber den vor Ort üblichen, nicht schriftlich fixierten Stücken der Vorzug gegeben wurde (Amine 2006: 156). An dieser Handlungsweise erkenne man laut Amine Tiefenstrukturen des Kolonialismus: »The West prevailed ›within the West and outside; in [the] structures and in [the] minds’ of the colonized Arabs. In this context the legacy of reification and auto-reductionism operated as a form of conceptual entail or constraint on the Arabs’ attempts to recover theatrical experience. These instances of reification that were brought about by the colonial encounter caused a rupture between the old tradition and the newly required one.« (Amine 2006: 154)7

Es gab also eine arabische Intelligenz, die sich an dem Projekt beteiligte, bei dem das Fehlen einer bestimmten Darstellungsweise konstatiert und dieses Fehlen durch die Übersetzung berühmter europäischer Theaterstücke (Amine 2006: 155) ausgeglichen wurde. Das Fehlen eines Theatergebäudes mit Bühne verstärkte und bestätigte die weit verbreitete, bis heute existierende Ansicht, dass es im arabischen Raum kein Theater, ja gar keine darstellenden Künste gebe. 8 So schreibt H.R. Gibb: »Drama is not a native Arab Art.« (Gibb, zit.n. Landau 1958: 2) Diese Ansicht wird dadurch bestärkt, dass es − auch auf Arabisch − wenig Sekundärliteratur über das arabische Theater gibt (Badawi 1988; Jayussi/Allen 1995; Ghassen 1958). Dass wenig über Theater geschrieben wird, kann so interdie Biographien der Darsteller, Autoren und Regisseure aufgeführt werden sowie auf die Theaterproduktionen in den Schulen und Universitäten eingegangen wird. 6 | Das Jahr 1847 ist das Datum der ersten Übersetzung eines europäischen Werkes − Molières »Geiziger« (» DOEDNKªO «) − von Marun al-Naqqash in Beirut. 7 | Das Zitat innerhalb des Zitates ist aus Spurr, D. 1993: 193. 8 | Dies passt zu einem Diskursstrang, der behauptet, der Islam sei prinzipiell gegen eine performative Darstellung, was jedoch der Tatsache widerspricht, dass es ein »Islamisches Theater« (PDVUD¨DOLVO›Pª) gibt (Amine 2006: 154).

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pretiert werden, dass Theater als relativ unbedeutend erachtet wird. Man kann es aber auch so verstehen, dass Theater erlebt wird; dass darüber gesprochen und diskutiert wird, und es damit seine Funktion erfüllt, so dass es keine Notwendigkeit mehr für eine schriftliche Fortführung der Diskussion gibt. Warum sollte über performative Darstellungsweisen geschrieben werden, wenn sie doch selber schon ein Kommunikationsmittel sind? Die Behauptung, es hätte im arabischen Raum vor 1847 kein Theater gegeben, basiert auf der Postulation einer bestimmten theatralischen Form als der einzig gültigen Theaterform. Da die darstellenden Künste jedoch durch den Dialog zwischen den Darstellern und Zuschauern entstehen, sind die Darsteller darauf angewiesen, eine Sprache zu sprechen, die von den Zuschauern verstanden wird. Der Prozess einer Skriptübersetzung mag vielleicht als eine tatsächliche Übersetzung eines Stückes aus einer anderen Sprache beginnen. Dann aber verselbstständigt er sich, nimmt vor Ort übliche Darstellungsweisen auf und kreiert damit etwas Neues. Das lässt sich auch im gegenwärtigen libanesischen Theater beobachten, in dem seit den 1990er Jahren auf verschiedene Darstellungsformen Bezug genommen wird. Exemplarisch ist als eine wichtige Darstellungstradition das DO¨DNDZ›WL(der Erzähler) zu nennen. DO¨DNDZ›WList eine Ein-Mann-Show, bestehend aus einem Erzähler, der an irgendwelchen öffentlichen Orten, meistens in einem Café, heroische Geschichten erzählt. Weitere Darstellungsformen sind das Puppentheater (¬DQG³TOIXUMDK), bei dem Puppen aus einer Box erscheinen, sowie das Schattenspiel (¨D\DO ]LOO) und az-zajal, eine Form der improvisierten Dichtung, bei der sich zwei Gruppen gegenüberstehen und gegenseitig herausfordern (Salloukh 2005: 39). Einen Bereich, in dem die performative Darstellung seit langer Zeit blüht, bilden die Darstellungen zum großen Ashura-Fest.9 Zusammenfassend lässt sich zum Theater im arabischen Raum sagen: »Arabic theatre today is construed within a liminal space, on the borderlines between different tropes. It cannot exist otherwise, for it juxtaposes different heterogeneous entities only to emerge as a hybrid drama that is spaces between East and West. It is a fusion of Western theatrical traditions and local Arabic performance traditions.« (Amine 2006: 159)

Dies betrifft vor allem das Theater, welches auf einem Skript aufbaut und in einem Theatergebäude aufgeführt wird. Aber: »The Aristotelian theatre is not the only form of theatre.« (Boal 1992: 12)

9 | »$VKXUD« bezeichnet zunächst einen Zeitpunkt: den zehnten Tag des Monats MuÎarram, jenen Tag, an dem der Imam Husain − der Enkel des Propheten und der dritte Schiitische Imam − im Kampf in Karbala 680 n. Chr. fiel. Husain und seine Kameraden wurden alle bis auf einen kranken Sohn vom Kaliphen Yazid getötet. Weiter gefasst bezieht man sich mit »$VKXUD« auf sämtliche Aktionen und Aktivitäten, die in den ersten zehn Tagen des Monats MuÎarram zur Erinnerung an den Tod Husains durchgeführt werden.

I.4 Darstellende Künste im Libanon

1.4.2 L IBANESISCHES THE ATER UND DER K ONFESSIONALISMUS Die in der Aktionsforschung im Libanon untersuchten Darbietungen fanden alle außerhalb der traditionellen Theater statt. Dies ist kein Zufall, denn die soziokulturelle Struktur, die auch die Theater mit einschließt, erlaubt keinen leichten Zugang zu den Produktionszentren des Theaters. Tarek Salloukh hat sich mit dem Theater im Zusammenhang mit der soziokulturellen Struktur auseinandergesetzt, welche besonders durch den Bürgerkrieg und durch die damit einhergehende räumliche Spaltung in West- und Ostbeirut geprägt wurde (Salloukh 2005). Seine Ergebnisse sind wichtige Bausteine, auf denen die vorliegende Analyse auf baut, die sie dann allerdings zu überwinden sucht. Für die Durchführung seiner Analyse unterscheidet Salloukh zwei Realitäten: Die »Sozialstruktur und die gesamte soziale Umwelt« bezeichnet er als »Realität 1« (R1) und die »Performance, die konstruierte Realität in der Performance« als »Realität 2« (R2) (Salloukh 2005: 348). Er fragt dabei nach dem Zusammenhang beider Realitäten sowie »to which extend are the elements of theatre different in their reception to those in ›R1‹, and to which degree do we have differentiation, on the side of the Lebanese audience, with its poor theatrical culture and extra sensitivity towards signs and symbols related to the spheres of discord, between fiction and reality in the space of performance and that of the outer environment?« (Salloukh 2005: 162)

Er meint damit, dass die Grenze zwischen dem Theater auf der einen und dem wirklichen Leben auf der anderen Seite schwer zu definieren ist und willkürlich gezogen wird (Salloukh 2005: 163). Diese Definitionsschwierigkeit kommt durch die oszillierende Kraft des ästhetischen Raumes zustande. Aus diesem Grund möchte ich diese Unterscheidung zwischen einer ersten und einer zweiten Realität nur heuristisch verwenden. Insbesondere möchte ich sie in das Konzept des ästhetischen Raumes stellen, das dadurch Klarheit bringt, dass es nicht zwischen den beiden Realitäten unterscheidet, sondern nur danach fragt, ob etwas auf der Bühne stattfindet oder nicht. Salloukh stellt fest, dass in den Augen der Libanesen Theaterdarstellungen eine Reflexion des realen Lebens seien (Salloukh 2005: 161-162). Dies erklärt die starke ästhetische Konvention des Realismus. Darüber hinaus zeigt Salloukh ebenfalls auf, wie der Krieg dazu führte, dass das Theater mit vielen emotional aufgeladenen Symbolen arbeitete. Dies konnten Personennamen sein sowie Gegenden und Szenarien, die den Krieg porträtierten (Kalaschnikows, zerbombte Häuser, Tanker etc.) (Salloukh 2005: 66). Auch die Farben der Milizen10 wurden eingesetzt und dekodiert. Gleichzeitig gab es die Sehnsucht nach einem Verges10 | Dunkelgrün: »Amal«; Gelb: »Hizbullah«; Weiß: »Kataib«; Rot: »Progressiv-Sozialistische Partei«; Schwarz: »Syrische Nationalpartei«.

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sen des Alltags und nach einfacher Unterhaltung. Während viele künstlerische Formen sehr unter dem Bürgerkrieg litten, blühte eine Form des Theaters auf: das Chanson-Theater, bestehend aus einer Reihe von Sketchen und Liedern, mit politischer und sozialer Satire (Salloukh 2005: 12). Salloukh fand heraus, dass sich die Darstellung der Chansonnier-Stücke voneinander unterscheidet und immer noch ausdifferenziert ist, je nachdem an welchem Spielort und in welcher Region die Stücke dargeboten werden (Salloukh 2005: 12). Die theatralischen Darstellungen verdeutlichen die Wirksamkeit der unterschiedlichen ästhetischen, normativen und soziopolitischen Regeln in den verschiedenen territorialen Einheiten. Bis in die Gegenwart hinein hat sich diese Ausdifferenzierung der Theaterkulturen erhalten. Salloukh unterscheidet dabei zwei verschiedene: eine »muslimische« und eine »christliche« Theaterkultur. Im christlichen Milieu könne das Theater, so Salloukh, eine soziale Funktion erfüllen, ohne damit seine Existenz rechtfertigen zu müssen (Salloukh 2005: 146-147). Der Wert des Theaters liege in seiner Ästhetik, in ihm selbst als ästhetischem Werk, wodurch es den exklusiven Charakter der Theaterbesucher betonen kann. Dies verdeutlicht eine Bewegungsrichtung weg vom Realismus als ästhetischer Konvention (Salloukh 2005: 147). Im muslimischen Milieu wird hingegen betont, dass das Theater eine soziale Funktion zu erfüllen habe, sonst geriete es oberflächlich und bedeutungslos (Salloukh 2005: 148-149). Diese Funktion wird im Ausdruck sozialer Bedürfnisse gesehen oder einfach in der Unterhaltung. Anders als im christlichen Milieu werden hier die sozialen Bedürfnisse aus einer pragmatischen Sichtweise mit einem allgemeinen Blick präsentiert, der weniger individuelle Existenzfragen zum Gegenstand hat als Fragen zur sozialen Ungerechtigkeit und strukturellen Unterdrückung. Das Ziel, populär zu sein, unterstützt hier eine Bewegungsrichtung hin zu einem verstärkten Realismus in der ästhetischen Darstellung. Das Thema Konfessionalismus, so Salloukh weiter, sei eigenartig tabuisiert. Wenn man bereit sei, über Konfessionalismus zu reden, dann distanziere sich üblicherweise der Sprechende von diesem Phänomen. Die Gräueltaten des Krieges würden in einen engen Zusammenhang zum Konfessionalismus gestellt, weshalb eine Distanzierung erwünscht sei. Bis heute gelte: »[T]here exists a constant need of justification from the accusation of being confessional or not.« (Salloukh 2005: 48) Die Tabuisierung zeige sich z.B. darin, dass in Theaterstücken meist neutrale Namen gewählt würden, durch die ein Hauch konfessioneller Neutralität hergestellt würde. Sehr selten finde man Namen wie Muhammad, Toni oder Ali, sondern eher Fadi, Sami und andere »Passepartout-Namen« (Salloukh 2005: 49). In christlichen Kontexten sei der Konfessionalismus überhaupt ein ungern gesehenes Thema, das verdrängt, verleugnet und unter den Tisch gekehrt würde (Salloukh 2005: 50). In muslimischen Milieus wird das Thema Konfessionalismus offener angesprochen und als ein Problem, welches eine Lösung verlangt, diskutiert (Salloukh 2005: 50). Allerdings wäre das »christliche Theater« bezogen auf die ästhetische Konvention mit der zunehmenden Ästhetisierung und den

I.4 Darstellende Künste im Libanon

daraus folgenden Entwicklungen des Symbolismus besser geeignet, im Rahmen der derzeitigen Freiheitsgrenzen zu überleben, als das durch Realismus und Religion geprägte »muslimische Theater« (Salloukh 2005: 354). Dies resultiere aus der Tatsache, dass im Bereich des Theaters, genauso wie in allen anderen Medien, im Libanon eine starke Zensur wirke, die eng mit dem Staatsapparat und seinem Spitzelsystem verwoben sei (Salloukh 2005: 35; Nesemann 2001). Ein Theateragent müsse zunächst gute Kontakte und Verknüpfungen zu einflussreichen Personen des Ortes herstellen, wenn er erreichen möchte, dass sein Theaterstück dort gut ankommt (Salloukh 2005: 49). Und die Zuschauer wären sich dessen bewusst, dass beobachtet werde, zu welchem Theaterstück sie gehen, zu welchen Schauspielern und mit welchen Begleitpersonen. Salloukh hat festgestellt, dass viele deshalb nicht zu einem Theaterstück kommen, weil der Schauspieler Christ oder Muslim ist. Umgekehrt gäbe es aber auch welche, die genau deshalb kommen, um damit ihre konfessionelle Neutralität unter Beweis zu stellen (Salloukh 2005: 49). Salloukhs Schlussfolgerung lautet, dass die Theaterproduktion durch den Konfessionalismus und die daraus resultierende Sozialstruktur dominiert sei (Salloukh 2005: 353-355). Dabei bezieht er die ästhetische Konvention mit ein und führt aus, dass der exzessive Realismus zu einer Verstärkung des Konfessionalismus führe. Er begründet dies damit, dass die Begrenzung der Freiheit in der sozialen Realität eine objektive Diskussion des Konfessionalismus in der Darstellung verbiete und dadurch viele Vorurteile in Bezug auf die Konstruktion des anderen Verwendung fänden. Er meint aber auch, dass durch die Trennung des Theaters von der Sozialstruktur, d.h. durch die Trennung zwischen »R1« und »R2« und eine daraus resultierende höhere Autonomie in der Realität 2, das Theater umgekehrt positiv auf die Sozialstruktur einwirken und neue Perspektiven im Bereich des Sozialen aufzeigen könne. Mit seiner Analyse liefert Salloukh wichtige Hinweise zu den Theaterproduktionen, zur Theaterrezeption und zur sozialen Strukturierung der libanesischen Gesellschaft. Allerdings möchte ich seiner Analyse mit einer gewissen Vorsicht folgen: Denn so geeignet sie auch die Wirkungsweise gesellschaftspolitischer Strukturen im Bereich der theatralischen Produktion und Konsumption nachweist, so sehr manifestiert sie wiederum eine bestimmte Sicht, die von dieser Struktur reproduziert wird, und die auf eine Beschreibung der Gesellschaft als zweigeteilt – in einen muslimischen und einen christlichen Teil – hinausläuft. Dies suchte die Aktion, und auch die hier vorliegende Publikation, durch die Anerkennung anderer Realitätswahrnehmungen und der Prozesse des Werdens zu überwinden.

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I.5 Die Frage nach der Herausbildung einer konfessionell fragmentierten Gesellschaft in der konkreten Interaktion

In der vorausgegangenen Einleitung zeigte ich das Problem der gesellschaftlichen Fragmentierung im Libanon auf. Dabei bin ich zunächst von zwei Landkarten ausgegangen. Die erste Karte, aus dem Tourismusministerium in Beirut, zeigte die Kategorie der Libanesen als eine zusammengehörige Gruppe, deren Zusammenhalt nicht durch das Leben im Territorium Libanon definiert ist, auch die außerhalb dieses Territoriums lebenden Libanesen wurden auf dieser Karte als dazugehörig eingeschlossen. Sie suggerierte damit eine »vorgestellte« homogene Gemeinschaft der Libanesen. Auch wenn diese Kategorie zweifellos besteht, ist es genau dieses Verständnis von Zusammengehörigkeit, das im Libanon selber zur Disposition steht. Bei der zweiten Karte wurde den unterschiedlichen konfessionellen Gruppen in Gestalt des Mosaiks Raum gegeben. Das Mosaik schuf den Eindruck einer gesellschaftlichen Fragmentierung, verschleierte aber zugleich die Drastik der Konfessionsgrenzen. Die »Geographie der Angst« erklärte die Trennschärfe zwischen den Gemeinschaften, die sich territorial niedergeschlagen hat bzw. die durch das zerteilte Territorium kreiert wurde, was in der unterschiedlichen Gestaltung der verschiedenen Beiruter Stadtviertel sichtbar wurde. Die sozialgeographische Diskussion sieht den Grund für die sozialräumliche Fragmentierung des Libanons im Konfessionalismus (®›¸LIL\DK). Das konfessionelle System wird als das Phänomen beschrieben, welches einer gesellschaftlichen Integration des Libanons und damit einer nachhaltigen Friedensbildung entgegensteht. Ich führte aus, dass der Konfessionalismus nicht als primordial zu begreifen ist, sondern vielmehr als vom europäischen Nationalismus inspirierte Kategorie einer in das klientelistische Gewebe des Libanons eingebetteten »vorgestellten Gemeinschaft«. Dieses unterschiedliche klientelistische Formen umfassende Gewebe durchzieht das gesamte politische System, einschließlich des Staates, des Bildungs- und Rechtssystems, und trägt infolge des Krieges einen aggressiven Charakterzug, der sich in der »Geographie der Angst« materialisiert. Während die Diskussion des klientelistischen libanesischen Systems aus der Ma-

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kroperspektive betrachtet Informationen über die Genese des Konfessionalismus lieferte und die gesamtgesellschaftliche konfessionelle Segmentierung verdeutlichte, konnten in der Mikroperspektive nur wenige Aussagen über das alltägliche Konfessionalismus-Machen gefunden werden. Hier setzt die grundlegende Fragestellung der vorliegenden Untersuchung an, wobei sie vom handelnden Subjekt ausgeht und den Blick auf die Transformationspotentiale richtet: Wie zeigt sich das Phänomen Konfessionalismus (®›¸LIL\DK) im alltäglichen Handeln der Akteure, in ihrer Beziehungsbildung zueinander, und wie ist der Raum strukturiert, in dem und durch den sich die Interaktion aktualisiert? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich eine Mikroperspektive wählen, aus der der Blick auf die Details der Interaktion im jeweiligen Moment geworfen werden kann und welche es somit erlaubt, den konkreten Ort, an dem und durch den die Interaktion verwirklicht wird, als integralen Bestandteil des Geschehens zu betrachten. Gleichzeitig möchte ich nicht über die interagierenden Personen forschen, sondern zusammen mit ihnen gesellschaftliche Zusammenhänge ergründen. Aus diesem Grund habe ich den Prozess mit einer Aktionsforschung begonnen, die zum Ziel hatte, in einem interaktiven Gruppenprozess die konfessionelle Struktur zu erhellen. Kurt Lewin hat für seine Forschungen zum Thema Gruppendynamik die Theorie des sozialen Feldes entwickelt, die auch erklärt, warum die Aktionsforschung gerade zur Untersuchung von Gruppenbeziehungen sinnvoll ist. Lewins Theorie sowie den darauf auf bauenden Forschungsansatz werde ich im folgenden Kapitel darlegen. Allerdings möchte ich zur Operationalisierung meiner Fragestellung, die das Machen der konfessionellen Struktur aus einer Mikroperspektive im Blick hat, Lewins Konzept erweitern. Ich werde daher daran anschließend auf Performance als Konzept und Praxis zur Erforschung sozialräumlicher Phänomene eingehen und die verwendete Methode zur Beleuchtung des Phänomens Konfessionalismus (®›¸LIL\DK) in einen sozialgeographischen Zusammenhang einordnen.

Teil II Raum und Feld: Kulturgeographie, Performance und das Forumtheater als sozialgeographischer Untersuchungsraum

II.1 Der Raum: Perspektive und Instrument der Betrachtung

Durch einen Blick auf das libanesische Territorium zeigt sich eine gesamtgesellschaftliche Fragmentierung, die sich als durch den Konfessionalismus bedingt beschreiben lässt. Diese Fragmentierung konstituiert für die Friedensbildung ein Problem, da sie auf mangelnde Beziehungen zwischen den ehemals verfeindeten Gruppierungen verweist und eine tiefe Spaltung der Gesellschaft zum Ausdruck bringt. Ohne dies explizit formuliert zu haben, wählte ich dabei zur Problemidentifizierung einen Blickwinkel, den Johannes Glückler »Raum als Perspektive« nennt. Glückler schlägt vor, diese räumliche Sicht einzunehmen, um mit diesem Blick vielmehr Probleme zu erkennen, als sie zu lösen: »Die räumliche Perspektive bezieht sich auf die Fragen, die Geographen an die Erfahrungswelt richten und nicht auf die Antworten. Raum oder Distanz werden in dieser Konzeption nicht mehr als Erklärungsvariablen verwendet. Vielmehr werden Problemstellungen erst in räumlicher Perspektive sichtbar: regionale Disparitäten, lokale Konzentrationen gleicher (Cluster) oder unterschiedlicher Aktivitäten (Metropolen), divergierende regionale Entwicklung, interregionale Verflechtungen und Austauschprozesse (Globalisierung) etc. All diese Phänomene werden durch die Sicht auf ihre geographische Verortung beobachtbar.« (Bathelt/Glückler, zit.n. Gebhardt et al. 2003: 173)

Betrachtet man den Libanon mit der Glückler’schen »räumlichen Perspektive« (Glückler 1999), so wird ein Problem der libanesischen Nachkriegsgeschichte deutlich: Die Fragmentierung des Landes zeigt sich im Landschaftsbild, in den medial abgebildeten Territorien wie auch in anderen Kommunikationsmitteln. Glückler verwendet die räumliche Perspektive nicht dazu, um die Ursachen eines bestimmten Zustandes aufzudecken, sondern um die damit zusammenhängenden Fragen und das Problem an sich stärker herauszuarbeiten. Mit dieser Perspektive gelingt es Glückler, einem »Raumdeterminismus«, der soziales Verhalten aus der räumlichen Ausgestaltung seines Umfeldes heraus erklären

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will, zu entgehen.1 Ferner erlaubt diese Perspektive tatsächlich, wie im Falle des Libanons ersichtlich, bestimmte Probleme deutlicher zu erkennen und Fragen abzuleiten. Glückler möchte damit auch einer Raumkonzeption entgehen, denn »Raum kann letztendlich weder als Explanans, noch als Forschungsobjekt sinnvoll konzipiert werden und daher letztlich nicht im Rahmen von Theorien in Erscheinung treten« (Glückler/Bathelt 2003: 171). Hier möchte ich Glückler gerne widersprechen. Denn selbst wenn der Raum weder als Explanans noch als Forschungsobjekt sinnvoll konzipiert werden könnte, so könnte er dennoch als Instrument der Forschung, nämlich als Methode, sinnvoll konzipiert werden und damit in Form von Theorien in Erscheinung treten. Glückler macht mit der Forderung nach »Raum als Perspektive« deutlich, dass er die Festlegung der Geographie auf die Perspektive einer Festsetzung auf den Gegenstand »Raum« vorzieht. Er fordert ferner, Raum weder prinzipiell als Substanz noch als Begriff aufzufassen: »Ein Verständnis von Raum als Perspektive kann nur dann formuliert werden, wenn Raum (1) weder gegenständlich, (2) noch als kausal wirksam, (3) noch als Forschungsgegenstand, (4) noch als Bedeutungssprache einer anderen Sachdimension (räumliche Semantik) gedacht wird.« (Glückler 1999: 135) Aber wie soll »Raum« dann konzipiert werden, nur als ein Adjektiv, als ein Attribut (»räumlich«)? Die »räumliche Perspektive« erweitert den Horizont der Gegenstände, die geographisch betrachtet werden können, da sie keine Festlegung mehr auf einen bestimmten, definierten Gegenstand notwendig macht. Diese Perspektive erlaubt ferner, wie Glückler verdeutlicht, Diversitäten anzuerkennen (Glückler 1999: 137). Dabei betont Glückler, dass diese Perspektive nur eine innerhalb einer Vielzahl von Perspektiven ist. Diese Offenheit gibt den Anspruch eines gemeinsamen sozialgeographischen Gegenstandes zugunsten einer Perspektive auf, die auch nicht für alle sozialgeographischen Fragen zu gelten braucht. Das wiederum aber wird für alle Arbeiten gefordert: die Aufgabe des Raumes als Gegenstand. Im Unterschied zu Glückler halte ich Raum und Räumlichkeit für noch nicht ausgereizte Konzepte. Im Gegenteil können Raumkonzeptionen auch für die Beantwortung der Fragen sinnvoll eingesetzt werden, die sich durch den Raum als Perspektive offenbaren. Dabei benutze ich ein ganz alltägliches Raumverständnis, ein Verständnis vom sinnlich erfahrbaren, materiellen Raum, dem Realraum, von der materiellen Ausdehnung der Dinge, Körper und Gegenstände, ihrer Räumlichkeit, die ihre Beziehungen zueinander impliziert. In dieser Untersuchung wird der Raum als Forschungsinstrument genutzt. Dieses Vorgehen entspricht den Forderungen Wolfgang Zierhofers. Für Zierhofer ermöglichen Räume Entscheidungen (Zierhofer 1999: 181), d.h., »Raum ist 1 | »Dem Raum als Gegenstand und Ursache kann vielmehr ein Verständnis von Raum als Perspektive entgegengestellt werden.« (Glückler 1999)

II.1 Der Raum: Perspektive und Instrument der Betrachtung

die Bedingung der Möglichkeit von Unterscheidungen« (Zierhofer 1999: 181). Der Forschungsprozess verlangt eine Vielzahl von Unterscheidungen. Daher schlägt Zierhofer vor, Raum als einen Interpretationsrahmen zu betrachten, womit der Raum zum Instrument und nicht zum Gegenstand wissenschaftlicher, sozialgeographischer Betrachtung wird (Zierhofer 1999: 185). In meiner Forschung wird nun, um das sozialgeographische Phänomen des Konfessionalismus im Libanon zu beleuchten, ein ganz bestimmter Raum herangezogen, nämlich in Gestalt der spezifischen Raumqualitäten einer interaktiven Darstellungsweise. Mit dem Raum als Perspektive wird ein Problem verdeutlicht: die Fragmentierung der libanesischen Gesellschaft. In beiden Fällen, dem Raum als Perspektive und dem Raum als Instrument der Forschung wird der Raum realräumlich verstanden. Dennoch ist der Raum nicht als ein Container zu verstehen, in dem sich die sozialen Ereignisse abspielen. Vielmehr gestaltet er sich ständig neu im Fluss der Handlungen, Haltungen und Interaktionen sozialer Akteure, er entsteht und vergeht. Dieser Blick verrät eine relationale Sichtweise auf den Raum, da dieser als durch die verschiedenen Beziehungen entfaltet verstanden wird (Thrift 2003: 96). Doreen Massey zeigt, dass Raum ein Produkt von Beziehungen ist und stets durch einen Prozess von Interaktionen konstituiert wird (Massey 2003: 31). Er ist in einem ständigen Prozess des Werdens, er »wird ständig gemacht« (Massey 2003: 36; siehe auch Massey 1992). Das kreative Moment ist dabei durch das zufällige Nebeneinander von miteinander in Beziehung stehenden vielfältigen Erzählungen garantiert, die ein ständiges Werden garantieren. Deswegen ist für sie der unfertige Raum offen und fraktal, verändernd (Massey 2003: 40). Allerdings ist diese Offenheit niemals vollkommen, eine neue Verknüpfung niemals beliebig oder gar zufällig, sondern sie wird eben genau durch die sie konstituierende Räumlichkeit vorstrukturiert. Trotz einer Koexistenz des Vielfältigen entstehen noch lange keine Anknüpfungspunkte. Gerade im Libanon wird diese Koexistenz deutlich. Das Fraktale ist nicht mehr fraktal im Sinne von etwas ImWerden-Begriffenen, sondern es wird als etwas Abgeschlossenes, Stabiles, Haltbares, als ein Fragment konstruiert, das Veränderung blockiert und damit auch Wachstum hemmt. Somit ist Fragmentierung eine Koexistenz, die trotz eines räumlichen Nebeneinanders keine Anschlüsse ermöglicht und keine Verbindungen zulässt. Im Libanon sind die Verknüpfungen nicht nur territorial, politisch, ökonomisch und sozial stratifiziert, sondern deutlich voneinander abgetrennt. Die Rituale des Alltags – die in ihrer Ausgestaltung sehr ähnlich sind – erlauben keine festen Verknüpfungen außerhalb des klientelistischen, konfessionellen Systems. Indes ist die Feststellung nicht vorhandener Fraktale, sondern der Existenz abgeschlossener Fragmente ein politisches Statement, welches einen Zustand nicht nur beschreibt, sondern auch Möglichkeiten der zukünftigen Entwicklung definiert. Dementsprechend ist es mir wichtig, in der Erfassung des tatsächlich fragmentierenden Konfessionalismus auch seine Widersprüchlichkeit und Dynamik anzuerkennen, die zu einem offeneren, fraktalen Raum des Werdens gesellschaftlicher Verknüpfungen führen kann.

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Eine Theorie, die einer relationalen Perspektive entspricht, die gleichzeitig aber die Fragmentierung des Raumes durch die Gruppendynamiken und ihre Dynamik anerkennt, ist Kurt Lewins Theorie des sozialen Feldes. Diese ist nicht nur eine Theorie, sondern sie ist auch eng mit einem methodischen Vorgehen verknüpft. Aus ihr entspringt die Ansicht, dass erstens die Kleingruppe eine vielversprechende Untersuchungseinheit darstellt, was zweitens eng mit dem Interesse an einem konstruktiven sozialen Wandel verknüpft werden kann. Diese Theorie einschließlich ihrer Methode, die Aktionsforschung, werde ich im Anschluss darstellen. Warum ich mich auf Lewins Theorie und seine Aktionsforschung beziehe, hat vier Gründe. Erstens ist es notwendig, die Methode entsprechend der Fragestellung auszuwählen. Kurt Lewin hat seine Methode entwickelt, um Gruppenbeziehungen (»intergroup relations«, Lewin 1946a: 37) zu erforschen, was meiner Fragestellung entspricht. Der zweite Grund ist der, dass Lewin die Aktionsforschung als einen wissenschaftlichen Forschungsansatz verstanden wissen will. In dieses Verständnis möchte ich mich einreihen. Der dritte Grund, der für Lewins Theorie spricht, ist Lewins Geographie: Damit meine ich nicht so sehr seine geometrischen Abbildungen der Feldtheorie als vielmehr die Aufladung dieser Abbildungen als Teil eines »hodological space« (Lewin 1939a: 276-277), der sich eben gerade von dem euklidischen Raum unterscheidet und auf den erlebten/erfahrenen Raum bezieht. Diese drei Gründe werde ich in der Darstellung von Lewins Ansatz ausführlicher erklären. Der vierte Grund liegt darin, dass trotz der vollkommen unterschiedlichen Situierung von Augusto Boal und Kurt Lewin zwischen ihnen Analogien festzustellen sind, die das Weiterdenken Lewins mit den Konzepten von Boal fruchtbar erscheinen lassen. Lewin verzahnt in entsprechender Weise die Praxis mit der Wissenschaft, wodurch »Wissensgewinnung, Lehre und Aktion« nicht mehr voneinander zu trennen sind. Er geht sogar so weit, zu behaupten, dass man bestimmte Dinge nur durch die Praxis verstehen kann. Die Erkenntnis dient also nicht allein der Praxis, sondern umgekehrt die Praxis der Erkenntnis, da durch diese Praxis tiefer liegende Verbindungen und Mechanismen überhaupt erst ersichtlich werden. Dies entspricht dem Ansatz von Augusto Boal, der seinen Prozess als einen »Bewusstwerdungsprozess« durch körperliche Interaktion konzeptioniert hat. Dies wird mit der Darstellung des Boal’schen Konzeptes am Ende dieses Kapitels deutlich werden. Lewin hat seine Theorie in den 1940er Jahren geschrieben und fühlte sich dabei einer mathematischen Visualisierung seiner Erkenntnisse verpflichtet. Hier möchte ich deutlich von Lewin abweichen. Auch wenn ich seine grundlegenden Annahmen zur Sozialwissenschaft allgemein sowie zu Gruppendynamiken im Speziellen teile, ebenso die Kleingruppe als Untersuchungseinheit wähle und die Aktionsforschung befürworte, so möchte ich dennoch für die Untersuchung des Werdens der Beziehungen, der Konstitution eines fraktalen oder fragmentierten Raumes, Darstellungen heranziehen, die mittels des ästhetischen Raumes von Augusto Boal zustande kamen. Die Entscheidung, die Grundlagen Lewins mit

II.1 Der Raum: Perspektive und Instrument der Betrachtung

Hilfe von Boal weiterzuentwickeln, ist eng verbunden mit dem »performative turn« der Sozialgeographie. Demensprechend möchte ich im Anschluss an Lewins Theorie und Methode meine Untersuchung der Performance in die sozialgeographischen Ansätze zu Performance einbetten. Danach werde ich auf eine Kartographie des Werdens eingehen sowie auf die Konzeption des ästhetischen Raumes, den ich als Instrument zur Erfassung der gesellschaftlichen Fragmentierung herangezogen habe und der durch die Methode des Forumtheaters kreiert wird. Diesen Raum, einschließlich der ihn konstituierenden Praxis, werde ich anschließend an die Einbettung um die Diskussion von Performance beschreiben. Die Kraft, die dieser in der Praxis erlangt, entzieht sich leider den darstellenden Möglichkeiten eines geschriebenen Buches.

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II.2 Die Feldtheorie zur Erfassung von Gruppendynamiken und die Methode der Aktionsforschung II.2.1 K URT L E WINS THEORIE DES SOZIALEN F ELDES Um Gruppendynamiken und das Verhalten in Gruppen zu erfassen, entwickelte der Sozialpsychologe Kurt Lewin (1890-1947) die Theorie des sozialen Feldes. Diese basiert auf sechs Merkmalen (Lewin 1942b: 212), von denen zwei m.E. grundlegend sind: Erstens ist die Theorie des sozialen Feldes eine »konstruktive Methode«. Das bedeutet, dass die Theorie nicht klassifizierend arbeitet, sondern die Eigenart des Spezifischen zu erhalten sucht, indem sie es als aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt begreift. Diese Elemente haben nur allgemeinen Charakter. Fundamental ist zweitens, dass die Theorie in der Analyse mit der Beschreibung des Gesamten beginnt: »[F]ield theory finds it advantageous, as a rule, to start with a characterization of the situation as a whole.« (Lewin 1942b: 214) Das bedeutet, dass der Erfassung allgemeiner Eigenschaften, wie des prinzipiellen Grades der inneren Felddifferenzierung durch Regionen, seiner »Flüssigkeit«, d.h. seiner Veränderlichkeit, und auch der allgemeinen Atmosphäre, der Stimmung, ein Augenmerk geschenkt wird (Lewin 1939a: 275). 1 Lewin wendet sich mit seiner Feldtheorie gegen Vorgehensweisen, die das Verhalten eines Einzelnen direkt mit dem Verhalten eines anderen zu verknüpfen suchen. Umgekehrt erkennt Lewin dadurch, dass er den Einzelnen in einem Feld positioniert, das Wirken tiefer liegender gesellschaftlicher Mechanismen und der Kräfte des Umfeldes an. Er macht deutlich, dass die sichtbaren Erscheinungen der sozialen Welt nicht direkt miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Vielmehr sind sie als »Symptome« zu betrachten, »[which] are ›surface‹ indications of some ›deeper laying‹ facts« (Lewin 1947a: 10). Die Suche nach den tiefer 1 | Die anderen von L EWIN aufgezählten Merkmale, die im Folgenden verständlich gemacht werden, sind: ein »dynamischer Ansatz«, ein »psychologischer Ansatz«, das Prinzip »behavior as a function of the filed at the time it occurs« (Lewin 1942b: 214) und eine mathematische Darstellung.

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liegenden Zusammenhängen verdeutlicht Lewin in seiner mathematischen Ausdrucksweise durch die Anerkennung von Variablen, die in die Beziehung vom Verhalten des Einen zum Verhalten des anderen eingreifen.2 So folgert Lewin, dass diese dynamischen Variablen − und nicht die »Symptome« und Erscheinungen − die für den Wissenschaftler, und auch für den sozialen Aktivisten, relevanten Bezugspunkte darstellen sollten. Um zu diesen dynamischen Variablen und den tiefer liegenden Zusammenhängen zu gelangen, schlägt Lewin eine Erweiterung der »Elemente der begrifflichen Konstruktion« (Lewin 1944: 195) vor. So wie in den Naturwissenschaften zunächst die Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft als Grundelemente konzeptioniert wurden und man später zu anderen Begriffen, den Elementen Atome, Elektronen und Neutronen fand, so sei es, nach Lewin, auch in den Sozialwissenschaften wichtig, neue Elemente zu identifizieren und so ihre Realität wahrzunehmen. Damit ließen sich Gegenstände tiefer gehend als eine weitere Kombination von begrifflichen Konstruktionen bestimmen, wodurch die Wissenschaft fortschreiten könnte (Lewin 1944: 195). Die neuen von Lewin vorgeschlagenen Begriffe, die ich hier aufnehmen möchte, sind: der gelebte/erlebte Raum (»live space«), das soziale Feld (»social field«) und das Prinzip der Ortsbewegung (»locomotion«). Um ein bestimmtes Verhalten zu verstehen, ist es wichtig, die Gesamtheit seines Umfeldes, das Lewin »live space« nennt, zu betrachten. Diesen gelebten/ erlebten Raum möchte Lewin als ein Feld verstanden wissen (Lewin 1951: 240). Trotz der Objektivierung durch seine Visualisierung handelt es sich bei Lewins gelebtem Raum nicht um einen objektiv erfassbaren Raum, sondern um einen Raum, der im Subjekt des Einzelnen zu verorten ist. Lewin spricht auch von einem »hodological space« (Lewin 1939a: 276). Der Begriff des »hodological space« ist auf das griechische Wort »hodos« (Pfad, Weg) zurückzuführen. Dieser hodologische Raum steht im Kontrast zum euklidischen Ansatz, der zwei Punkte, A und B, miteinander verbindet. Der »Pfad-Raum« hingegen bezieht sich auf die Erfahrung einer Person, die sie auf dem Weg von einem Punkt A zum Punkt B macht. Der »live space« ist ein subjektiver, von der Perspektive eines Individuums ausgehender erlebter Raum. Mittels des Begriffs vom gelebten Raum gelingt es Lewin, das Umfeld einer Person in Beziehung zum Verhalten zu setzen. Es gilt für ihn: »Behaviour = Function of person and environment = function of live space (B = F [P, E] = F [L Sp]).« (Lewin 1939a: 269) Der gelebte Raum schließt somit beides, den Zustand der Person sowie das von ihr erlebte Umfeld, mit ein. Nun geht Lewin den Fragen nach, welche tiefer liegenden Kräfte in einer gewissen Gesetzmäßigkeit auf den

2 | L EWIN führt aus, dass B = F [B1] nicht möglich ist (mit: B = »Behaviour« einer Person, B1 = »Behaviour« einer anderen Person, F = eine einfache Funktion). Stattdessen lässt sich behaupten, dass k = F (n, m), wobei k, n und m nicht für Verhaltenssymptome, sondern für diesen zugrunde liegende dynamische Größen stehen.

II.2 Die Feldtheorie zur Er fassung von Gruppendynamiken der Aktionsforschung

gelebten Raum wirken3 und wodurch sich das Verhalten der Person verändert (Lewin 1946b: 338). Dazu führt er einen neuen Begriff ein: das soziale Feld. Das soziale Feld kann, anders als der gelebte/erlebte Raum, als ein Versuch gewertet werden, etwas Intersubjektives zu visualisieren. Hier entsteht ein neues Ganzes, das etwas anderes sein kann, als die verschiedenen, individuellen gelebten Räume. Zum Ganzen gelangt Lewin durch die Auseinandersetzung mit den verschiedenen gelebten/erlebten Räumen der beteiligten Personen. Hier gibt es Ähnlichkeiten zu Augusto Boal, der − auch wenn er von einem Protagonisten ausgeht und dessen Erfahrung als Grundlage nimmt − innerhalb des ästhetischen Raumes zur Erfassung eines objektiven sozialen Feldes gelangen möchte. Lewin veranschaulicht sein Vorgehen anhand des Beispiels eines Ehekonfliktes (Lewin 1951: 195). Die Frage, die Lewin mit der Feldanalyse zu beantworten sucht, ist die nach dem Fortgang einer Ehe zu einem bestimmten Zeitpunkt t. Abbildung 3: Gelebter Raum und soziales Feld (Lewin 1947a: 11)

Zunächst beginnt Lewin mit einer Analyse des gelebten/erlebten Raumes des Mannes (H). Diese Analyse bezieht alle relevanten physischen und sozialen Tatsachen aus der Umwelt des Mannes mit ein. Dazu zählen auch Erwartungen an 3 | Das Generalisierbare ist also nicht in einfachem Verhalten im Sinne von, »wenn x eintritt, dann macht Person p y« anzutreffen, sondern im Wirken bestimmter Kräfte, also »y = f(x), mit den Kräften (Vektoren) a, b, c […] als Variablen«. Dies versuchte Lewin auch, zu visualisieren; siehe seine Ausführungen in »Behaviour and Development as a Function of the total Situation«, in: Lewin 1951: 238-296.

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seine Frau, die so dargestellt werden, wie der Mann sie wahrnimmt. Als Fakten zieht Lewin dabei Bedürfnisse, Motivationen, Stimmungen, Ziele, Ängste und Ideale heran (Lewin 1951: 57), außerdem die gegebene physische Umwelt, die bestimmte Regionen definiert. (Diese Regionen können durch einen konkreten Ort bestimmt werden, durch eine Tätigkeit oder auch eine Beziehung, beispielsweise A = Arbeitsplatz, B = Club [Hobby], C = Familienleben, D = Freunde etc.) Wenn man nun davon ausgeht, dass diese Analyse hinreichend vollständig ist, dann müsste es möglich sein, die Ableitung der resultierenden Veränderungskraft aus der Sicht des Mannes zu beschreiben. Das bedeutet, in gewisser Weise vorherzusehen, was der Mann als Nächstes tun wird. Außerdem könnte diese Analyse die Kräfte darstellen, die nach Ansicht des Mannes auf seine Frau wirken. Das Ergebnis dieser »Vektorenaddition« stellt jedoch nicht das dar, was die Frau wohl machen wird, sondern das, was der Mann erwartet, dass seine Frau zu tun gedenkt. Der nächste Schritt wäre eine ähnliche Analyse des gelebten Raumes der Frau, wobei die Frau im dargestellten Fall den Mann in derselben Region verortet, in der er sich auch selber situiert. Sich selbst verortet die Frau allerdings woanders, als es der Mann »mit ihr« macht. 4 Dementsprechend verweist die Ortsbewegung (»locomotion«) der Frau auf eine andere Region.5 Das Ergebnis dieser beiden Darstellungen stellt nun die Grundlage für eine Darlegung des objektiven, sozialen Feldes dar (Lewin 1951: 197). »[A]nalysing the two psychological (›subjective‹) fields gives the basis for predicting the actual (›objective‹) field.« (Lewin 1947a: 11) In diesem sozialen Feld wird nun die objektive, tatsächlich ausgeführte Ortsbewegung aufgezeichnet. Hier ist die Betrachtungseinheit eine sehr kleine Gruppe von nur zwei Personen. Sobald die Betrachtungseinheit größer wird, ist dieses Verfahren nicht mehr möglich.6 Erhalten bleibt dabei Lewins Forderung, sogenannte »objektive« und »subjektive« Aspekte des sozialen Feldes zu erfassen. Mit subjektiven Aspekten bezieht sich Lewin auf kognitive Aspekte, Wahrnehmungen und Empfindungen etc., mit objektiven Aspekten auf Verhaltensweisen und Aktionen (Lewin 1947a: 12).

4 | Er verortet sie in E und nicht in D; außerdem sind die kognitiven Strukturen B und C auch ein bisschen anders als für den Mann. 5 | In dieser Darstellung von nur zwei Personen wird bereits deutlich, dass in dem Moment, da sich die gelebten Räume sehr unterscheiden, die Wahrnehmungen sehr unterschiedlich sind und die Repräsentation eines gemeinsamen sozialen Feldes auf enorme Schwierigkeiten stößt, was L EWIN leider nicht selber thematisiert. 6 | Interessanterweise geht L EWIN von diesem Beispiel direkt zu der Frage über, wie sich zwei Gruppen verhalten, also z.B. ob zwei Nationen anfangen, sich zu bekriegen − naheliegend, wenn man den vorherrschenden Diskurs der Zeit L EWINS und die damaligen Ereignisse in Betracht zieht. Allerdings wird dabei ein etwas widersprüchliches Gruppenverständnis deutlich (siehe im Folgenden).

II.2 Die Feldtheorie zur Er fassung von Gruppendynamiken der Aktionsforschung

Das soziale Feld ist durch soziopsychologische Kräfte strukturiert und es bestimmt welcher Wandel und welche Handlungen, die Lewin mit dem Begriff der Ortsbewegung (»locomotion«) beschreibt, möglich sind. Die Ortsbewegung bezieht sich nach Lewin nicht nur auf körperliche Handlung, sondern ebenso auf soziale und mentale Ortsbewegungen, die − wenn auch unterschiedlich − doch alle drei wahrzunehmen seien (Lewin 1936: 16). Die Summe der im Feld wirkenden Kräfte bezeichnet Lewin als resultierende Kraft (»resultant force«), die dann Richtung und Stärke des Wandels bestimmt (Lewin 1946b: 348). Die Beziehung zwischen den Kräften und dem Verhalten kann wie folgt erklärt werden: »Whenever a resultant force (different from zero) exists, there is either a locomotion in the direction of that force or a change in cognitive structure equivalent to this locomotion.« (Lewin 1946b: 349) Diese Kräfte, die jemanden zu einem positiven Ziel hinziehen oder von einem negativen Ziel wegstoßen, sind nach Lewin die antreibenden Kräfte (»driving forces«). Diese führen unter Umständen zu Ortsbewegungen (»locomotions«), die jedoch durch psychologische oder soziale Hindernisse gebremst werden können. Diese Barrieren bezeichnet Lewin als hemmende Kräfte (»restraining forces«) (Lewin 1946b: 351). Letztere führen zu keiner Ortsbewegung, wirken aber auf die antreibenden Kräfte. Ein Konflikt wird innerhalb dieses Bildes so definiert, dass die Kräfte, die auf eine Person wirken, in unterschiedliche Richtungen weisen, aber ungefähr gleich stark sind (Lewin 1946b: 352). Entsteht ein Gleichgewicht zwischen diesen Kräften, ist keine Bewegung zu beobachten. Sind indes diese Kräfte sehr stark, führt dies zu einer emotionalen Spannung, die in Beziehung zur Stärke der wirkenden Kräfte steht (Lewin 1946b: 358). Entwicklung bedeutet für Lewin eine Erweiterung der Bandbreite und der Ausdifferenzierung des gelebten Raumes (Lewin 1946b: 342). Anders ausgedrückt lässt sich Entwicklung als Erweiterung und Verfeinerung des Handlungsspielraumes begreifen. Auch hier gibt es deutliche Ähnlichkeiten zu Augusto Boal, dem es mit seiner Methode um genau diese Erweiterung des Handlungsspielraumes geht und den er mit einer Bewusstseinserweiterung verbindet. Bedeutend für die Entstehung der Kräfte sind die menschlichen Bedürfnisse (»needs«); sie haben für Lewin den Wesenszug, Verhalten zu »organisieren« (Lewin 1946b: 361). Eine Intention Lewins ist die Aufstellung eines Quasibedürfnisses (Lewin 1946b: 368), das in seiner dynamischen Ausstrahlung der Wirkung der Bedürfnisse entspricht. Als soziale Komponente führt Lewin den Begriff des »induzierten Bedürfnisses« (»induced need«) ein. Damit macht er deutlich, dass die individuellen Bedürfnisse zu einem großen Teil durch die soziale Umgebung, durch die vorherrschenden Ideologien ebenso wie durch das Gruppenverhalten, definiert werden (Lewin 1946b: 372). Diese induzierten Bedürfnisse können auch durch den Willen einer anderen Person, die Druck ausübt, verursacht werden und sie können internalisiert zu eigenen Bedürfnissen werden. Des Weiteren betont Lewin, dass aus der Tatsache, ein Gruppenmitglied zu sein, Bedürfnisse entstehen, welche er mit einem »Wir-Gefühl« im Gegensatz zu einem »Ich-Gefühl« be-

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schreibt (Lewin 1946b: 375). Dadurch wird deutlich, dass Lewin in seiner Untersuchung stets die Gruppe im Bewusstsein hat, was für die hier vorgenommene Forschungsarbeit entscheidend ist. Für den Einzelnen stellt sich die Frage nach der Anpassung an die Gruppe etwa wie folgt: Wie kann der Einzelne erfolgreich seine individuellen Bedürfnisse verfolgen, ohne dabei die Mitgliedschaft und den Status innerhalb der Gruppe zu verlieren (Lewin 1940: 70)? Auch wenn die Bedürfnisse der Gruppe die individuellen Freiheiten einschränken, bewertet Lewin die Gruppenzugehörigkeit nicht als negativ, sondern erkennt sie als grundlegend an, da sie die Basis für den individuellen gelebten Raum darstellt (Lewin 1940: 68). In seinen Untersuchungen zeigt er, dass eine unklare Gruppenzugehörigkeit den gelebten Raum auf unsicheren Boden stellt (Lewin 1940: 69), Gruppenzugehörigkeit das Gefühl der Sicherheit erhöhen kann und dass sich dadurch »Moral und Produktivität« (Lewin 1942b: 85) des Einzelnen steigern lassen. Ob dies so eintritt oder nicht, hängt wesentlich von der Gruppenatmosphäre ab, die auch für das erfolgreiche Lösen von Konflikten bestimmend ist (Lewin 1940: 79). Es ist also nicht die Stärke des Zugehörigkeitsgefühls, welche das Destruktive einer autokratischen Gruppe ausmacht, sondern die Gruppenatmosphäre, die im Wesentlichen vom Führungsstil geprägt ist. Die Fügsamkeit in eine Gruppe kann nach Lewin mehr oder weniger erzwungen werden, oder sie kann einem starken »Wir-Gefühl« entstammen (Lewin 1940: 79). So zeigt Lewin in seinen Untersuchungen, dass Letzteres vielmehr ein Charakterzug bestimmter demokratischer als autokratischer Gruppenatmosphären ist (»democratic atmosphere«).7 Die Gruppenatmosphäre ist geprägt von dem in der Gruppe herrschenden Spannungsgrad (»group tension«), vom Zusammenhalt und auch von der Weltanschauung der Gruppe (»ideology«) (Lewin 1943/44: 285). Für die Charakterisierung des Feldes ist es also notwendig, spezifische Eigenschaften wie z.B. soziale Beziehungen zu berücksichtigen wie auch »more general characteristics of the fields as the atmosphere (for instance, the friendly, tense, hostile atmosphere) or the amount of freedom. These characteristics of the field as a whole are as important in psychology as, for instance, the field of gravity for the explanation of events in classical physics.« (Lewin 1951: 241; Hervorhebungen im Original)

Hier kommt Lewins pragmatische Sicht der ontologischen Frage nach den sozialen Phänomenen zum Ausdruck. Lewin spricht Eigenschaften wie beispielsweise der »Gruppenatmosphäre« dieselbe Existenzberechtigung zu, wie andere empirische Wissenschaften ihren Phänomenen (z.B. die Physik dem Phänomen der Gravitation) einen ontologischen Status verleihen. Ein Atom oder ein Elektron 7 | Die Wertschätzung der Gruppenatmosphäre begründet, dass nicht Homogenität, sondern im Gegenteil das Prinzip »diversity within unity« (Lewin 1942a: 85) eine konstruktive Gruppe ausmache, in der sich Apathie und Aggressivität nicht leicht breitmachen könnten.

II.2 Die Feldtheorie zur Er fassung von Gruppendynamiken der Aktionsforschung

sind nach Lewin genauso real wie Gruppendynamik oder Gruppenatmosphäre (Lewin 1951: 190). Er verweist dabei auf die Abhängigkeit dessen, was man als real ansieht, vom Stand der Wissenschaft, dem wissenschaftlichen Diskurs. Etwas als nicht existent zu deklarieren, bedeutet Lewins Ansicht nach, es aus wissenschaftlichen Untersuchungen auszuschließen. Umgekehrt fordert die Annahme einer Existenz die Auseinandersetzung mit diesen »Fakten«. Dementsprechend ist Vorsicht bei Bezeichnungen, bei der Etikettierung von Phänomenen als nicht existent geboten, denn »[l]ike social taboos, a scientific taboo is kept outside not so much by a rational argument as by a common attitude among scientists: any member of the scientific guild who does not strictly adhere to the taboo is looked upon queer; he is suspected of not adhering to the standards of critical thinking.« (Lewin 1947a: 7)

Wissenschaftliche Analyse versucht nach Auffassung Lewins, bestimmte beobachtbare (phänotypische) Daten mit anderen beobachtbaren Daten zu verknüpfen (Lewin 1951: 194). Die beobachtbaren Daten sind, wie es der Mediziner Kurt Lewin ausdrückt, »Symptome«, die der Wissenschaftler lesen lernen muss. Um diese tiefer liegenden Abhängigkeiten zu erkennen, zieht Lewin das Modell des sozialen Feldes heran (Lewin 1961: 45). Diese Priorisierung des Ganzen vor seinen Elementen zeigt sich auch in der methodischen Vorgehensweise. Lewin versucht, das Ganze nicht in seine Einzelteile zerlegt zu erfassen, sondern umgekehrt zunächst Charakteristika des Feldes festzuhalten, um von diesen ausgehend die kleinere Einheit zu betrachten (Lewin 1951: 62). Auf Grund dieser Theorie erkennt Lewin einen Schlüssel für Veränderungen, für einen konstruktiven Wandel von Wahrnehmungen, Werten und Verhaltensweisen in der Gruppe und der Gruppenzugehörigkeit. Dieser auf die Gruppe gelegte Fokus hat für das methodische Vorgehen zur Erforschung von Gruppendynamiken weitreichende Folgen. Diese zeigen sich in der von Lewin neu entwickelten Methode der Aktionsforschung.

II.2.1.1 Kurt Lewins methodischer Ansatz: Aktionsforschung Kurt Lewin entwickelte seinen Ansatz vom sozialen Feld während der Auseinandersetzung mit Diskriminierung und Minderheitenproblemen in den USA der Nachkriegszeit. Auch wenn das Ziel seines wissenschaftlichen Engagements war, die Beziehungen zwischen verschiedenen Gruppen zu verbessern und er in seiner Forschung praktisch in Gruppenbeziehungen eingriff, war Lewin davon überzeugt, dass die Arbeit mit Kleingruppen einen sozialwissenschaftlichen Mehrwert generiere, der anders nicht zu erfassen sei. »Research which will produce nothing but books will not suffice. This by no means implies that the research needed is in any respect less scientific or ›lower‹ than what would be required for pure science in the field of social events. I am inclined to hold the opposite to be

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true.« (Lewin 1946a: 35) Situiert im wissenschaftlichen Diskurs der 1940er Jahre, bei dem die Konstellation von Forschung vs. sozialem Eingriff sowie von Forscher vs. Erforschtem noch vehementer hochgehalten wurde als heute, war Lewins Haltung zur Analyse von Gruppenbeziehungen äußerst revolutionär. Es gelang Lewin dennoch, seine Methode, die Arbeit mit Kleingruppen, zur Erforschung von Gesamtgruppendynamiken mit den in dieser Zeit gültigen Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit zu versöhnen. Er erreichte dies, aus der Gestalttheorie kommend, durch die Einbettung seiner Methode in seine Theorien zum sozialen Wandel sowie in seine Feldtheorie. Lewins Feldtheorie ist pragmatisch aufgebaut, um trotz Anerkennung der äußersten Komplexität sozialpsychologischer Probleme in der Erforschung von Gruppendynamiken Erkenntnisse zu erzielen (Lewin 1939a: 265). Dabei sah Lewin in der experimentellen Untersuchung von Kleingruppen, bei der er allgemeine Gesetze des sozialen Lebens herausarbeitete, den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn zum Thema Gruppendynamiken. Die Kenntnis der allgemeinen Gesetze kann seiner Ansicht nach die praktische Sozialarbeit der Beziehungsbildung verbessern. Gleichzeitig sind diese Gesetze aber auch erst durch die Arbeit mit Kleingruppen zu erkennen. »In the field of group dynamics […] are theory and practice linked methologically in a way which, if properly handled, could provide answers to theoretical problems and at the same time strengthen that rational approach to our practical social problems which is one of the basic requirement for their solution.« (Lewin 1943/44: 288)

Mit seiner Überzeugung von gleichzeitiger Erkenntnisgewinnung und Veränderung distanzierte sich Lewin von dem bis heute in der klinischen Psychologie und der Medizin weit verbreiteten Trend, die Diagnose von der Intervention zu trennen. Lewin beschreibt die Absurdität der Vorstellung, zunächst das Problem erkennen zu können (z.B. anhand von Fragebogen), sich anschließend eine passende Intervention zu überlegen und diese dann durchzuführen. Konträr dazu macht er deutlich, dass die sogenannte Diagnose − sei sie mittels Fragebogen oder mittels Messgeräten − bereits eine Intervention darstelle, die das System beeinflusse. Dementsprechend sei es wichtig, sich von Anfang an der möglichen Folgen einer bestimmt gearteten Diagnose als erstem Schritt einer Intervention bewusst zu sein. Damit kommt der zyklische Charakter der Aktionsforschung ins Spiel. Sie beginnt mit einer allgemeinen Idee, mit einem allgemeinen Plan, der jedoch im Laufe des Prozesses immer wieder variiert wird, so dass der nächste Schritt »again is a composition of a circle of planning, executing, and reconnaissance or fact-finding for the purpose of evaluation the results of the second step, for preparing the rational basis for planning the third step, and for perhaps modifying again the overall plan. Rational social management, therefore, proceeds in a spiral of steps each of which is composed of

II.2 Die Feldtheorie zur Er fassung von Gruppendynamiken der Aktionsforschung a circle of planning, action, and fact-finding about the result of the action.« (Lewin 1946a: 38)

Lewin betont, dass der zweite Schritt nicht automatisch nach dem ersten ausgeführt werden müsse, sondern das Gesamtkonzept zunächst noch einmal überarbeitet werden und eine Feedback-Schleife eingebaut werden solle: Abbildung 4: Rückkopplungsschleifen (Lewin 1947b: 149)

Die Annahme einer Untrennbarkeit von Diagnose und Intervention hat Folgen für den Forschungsprozess. Erstens werden durch die Aktion neue Erkenntnisse generiert, woraufhin die Aktion in ihrem Vorgehen wiederum an die neuen Erkenntnisse angepasst werden muss. Zweitens kommt mit der Unteilbarkeit von Diagnose und Intervention die notwendige Kooperation der Teilnehmer ins Spiel. Der heutzutage dafür verwendete Begriff lautet »Partizipation«, während Lewin damals von Einbeziehung (»involvement«) sprach. Hier kommt ein, zu der Zeit noch unübliches Subjekt-Objekt-Verhältnis zu Tage, welches Erkenntnisgewinnung nicht allein im Forscher verortet. Dieses Verständnis wird durch Lewins partikulare Sichtweise unterstützt. Lewin spricht zwar allgemeinen Gesetzen eine Gültigkeit zu, wie sich diese jedoch genau materialisiere, hinge von der spezifischen Situation ab. Diesen konkreten Kontext kenne der »Erforschte« besser als der »Forscher«, weshalb beide für die Erkenntnisgewinnung notwendig seien. Die Anerkennung des Spezifischen, des Lokalen, Kontextuellen verlangt im Prozess der Erkenntnisgewinnung die Freigabe eines Raumes, um jenes spezifische Wissen zu erlangen, welches nicht durch die Kenntnis allgemeiner Gesetze zugänglich ist. »Richtiges« Handeln verlangt nicht allein die Kenntnisse allgemeiner Gesetze, sondern erfordert ein Faktenwissen von der spezifischen Situation. »[To act correctly] he [the surgeon or engineer; gemeint ist der Sozialarbeiter, soziale Aktivist; Anm. H.R.] has to know too the specific character of the situation at hand. This char-

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Frieden stif ten durch Theater acter is determined by a scientific fact-finding called diagnosis. For any file of action both types of scientific research are needed.« (Lewin 1946a: 37)

Das hat wiederum Folgen für den Erkenntnisgewinnungsprozess, den »Versuchsaufbau«, wenn man so will: Wenn eine korrekte Erfassung des Kontextes eines Ereignisses für das Verständnis wichtig ist, dann ist leicht zu verstehen, warum Lewin die Positionierung der Forschung innerhalb eines gelebten sozialen Gefüges fordert, d.h., warum es notwendig ist, wie Lewin sagt, ein »Feldexperiment« durchzuführen (Lewin 1947b: 151). Lewin begründet die Wahl des Versuchsortes also theoretisch − mit seiner Theorie des sozialen Feldes − und epistemologisch: Die in den Sozialwissenschaften erkannten Gesetze gelten nicht herausgelöst aus ihrem lokalen Kontext (Lewin 1946a: 44). In der Überbrückung der Kluft zwischen Konkretem und Abstraktem sah Lewin einen weitreichenden erkenntnistheoretischen Gewinn für die Sozialwissenschaften (Peters/Robinson 1984: 114). Gerade zur Erforschung von Gruppenbeziehungen würde eine Integration der praktischen Arbeit, die oft mit einer bestimmten Trainingsarbeit gekoppelt sei, in die wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung von Gruppenprozessen ein enormes Potential bergen. »[During my work …] I could not help but feel that the close integration of action, training, and research holds tremendous possibilities for the field of intergroup relations. I would like to pass on this feeling to you.« (Lewin 1946a: 43) Nach Lewins Verständnis ist ein Forschungsprozess also von der »Einmischung« untrennbar. Im Gegenteil, Aktion, Weiterbildung und Forschung erfolgten gleichzeitig: »[Experiences have convinced me] that we should consider action, research and training as a triangle that should be kept together for the sake of any of its corners.« (Lewin 1946a: 42) Die Notwendigkeit einer derart konzipierten Forschung in einem sogenannten Aktionsforschungsdreieck begründet Lewin theoretisch und normativ.

II.2.1.1.1 Theoretische Begründung des Aktionsforschungsdreieckes Erkenntnisgewinnung über konkrete Gruppenbeziehungen ist nach Lewin nur möglich, wenn der Forschungsprozess nicht außerhalb, sondern innerhalb eines sozialen Gefüges stattfindet, mitten im Feld also. Und dennoch arbeitet Lewin nicht wie ein Ethnologe im klassischen Sinne, der sich als teilnehmender Beobachter in einen Alltagskontext, am besten in einen ihm fremden kulturellen Kontext, begibt und dort versucht, allgemein gültige Regeln und spezifisches Faktenwissen zu erfassen. Er erforscht vielmehr in gewisser Weise künstlich geschaffene Kleingruppen. Das wiederum ähnelt eher einem klassischen Experiment als dem ethnologischen Feldforschungsansatz. Der Anspruch, die zu untersuchende Gruppe unverändert zu lassen, wird nicht erhoben, sondern die Gruppe wird im Gegenteil durch eine Aktion in eine ungewohnte Situation gebracht. Eine Gruppe wird also zu ihrer Erforschung, wenn auch in ihrem gewohnten Kontext, »bewegt« und in »Aktion« gebracht. Eine Tatsache, die der Auffassung, der Wissen-

II.2 Die Feldtheorie zur Er fassung von Gruppendynamiken der Aktionsforschung

schaftler möge nicht intervenieren und nicht eingreifen, sondern alles so belassen, wie es ist, entgegensteht. Lewin geht davon aus, dass in diesen kleineren, untersuchbaren Gruppeneinheiten durch den Bezug auf das soziale Feld bestimmte Muster zu erkennen sind, die auch für die größere Gruppe Gültigkeit beanspruchen können. Er bezeichnet den Prozess, Muster einer Gruppe als gültige Muster einer größeren oder anderen Gruppe zu entdecken, als »Transposition« (Lewin 1943/44: 285). Er nimmt also an, dass Wesentliches der Gesamtgruppe in einer Teilgruppe erhalten bleibt. Das Ausschlaggebende ist also nicht die Quantität einer Gruppe, z.B. die Anzahl ihrer Mitglieder, sondern ihre Qualität, die in bestimmten Mustern des sozialen Feldes sichtbar wird: »If the pattern of the total field is generally more important than, for instance, the size, it becomes possible to study fundamental social constellations experimentally by ›transposing‹ them into an appropriate group-size. (Gestalt psychology understands by ›transposition‹ a change which leaves the essential structural characteristics unaltered.) If the experimenter is able to create such a transposition, he does not need to be afraid of creating ›artificial‹, ›unlifelike‹ situations. […] In view of these considerations we should be able to investigate the properties of large groups on relatively small-scale models.« (Lewin 1943/44: 285)

Lewins Formulierung seiner Theorie in graphisch darstellbaren Funktionen hat in der damaligen Zeit sicherlich seiner Theorie Argumentationskraft gegeben. Allerdings bleibt es problematisch, qualitative Eigenschaften in Funktionen umzuwandeln. Oder, um auf Lewins Argument von der Erhöhung der Variablen einzugehen (Lewin 1951: 195): Es bleibt fraglich, inwieweit Funktionen auch dann noch eine Aussagekraft haben, wenn die Anzahl der unbekannten Variablen sehr hoch ist. Lewin geht vom gelebten/erlebten Raum eines Einzelnen auf das soziale Feld über, auf etwas außerhalb der Individuen Liegendes, das durch eine Gruppe entfaltet wird. Was aber kennzeichnet eine Gruppe? Lewin macht die Notwendigkeit deutlich, Gruppen entlang von Abhängigkeitsstrukturen und nicht anhand äußerer Merkmale zu ordnen (Lewin 1939a: 274).8 Dementsprechend ist es für den Erkenntnisgewinnungsprozess wichtig, den »Versuch« in einem sozialen Gefüge aufzubauen und dadurch mit »real« wirkenden Kräften zu operieren. Erst durch den Versuch, die Kräfte, die sich in den Abhängigkeitsstrukturen zeigen, zu verändern, wird es möglich, sie überhaupt wahrzunehmen und zu erfassen. Denn, um bei der Feldmetapher zu bleiben, in dem Moment, da sich ein Kräftegleichgewicht eingestellt hat, ist keine Bewegung mehr zu beobachten. Ob die wirkenden Kräfte nun stark oder schwach sind und aus welcher Richtung sie kommen, ist auch nicht mehr feststellbar. Aus dieser 8 | »Not similarity but a certain interdependence of members constitutes a group.« (Lewin 1939a: 274)

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Sicht resultiert die Annahme, dass ein Feld nur dadurch verstanden werden kann, dass man versucht, es zu verändern (Schein 2006: 4). Die Forderung, das Feld, oder wie man zeitgemäßer sagen würde, das System zu verändern, wird mittels dieses Argumentes also nicht normativ untermauert, sondern stellt in Lewins Modell eine erkenntnistheoretische Bedingung für die Erforschung sozialer Abhängigkeitsstrukturen dar. Lewins Theorie des sozialen Feldes erklärt theoretisch, warum die Aktion mit einer Teilgruppe arbeitet und beim Einsatz des Aktionsforschungsdreieckes Erkenntnisse zu gewinnen sind. Allerdings liefert Lewin auch einen normativen Begründungsstrang für die Legitimität des Aktionsforschungsdreieckes, den ich im Folgenden darlegen möchte.

II.2.1.2 Normative Begründungen für den aus dem Alltäglichen ausgelagerten Versuchsaufbau Eine andere Legitimation für die Gleichzeitigkeit von Aktion, Weiterbildung und Forschung, also für das Forschungsdreieck, liegt in einer eher normativ ausgerichteten Begründung. Natürlich sind der epistemologische und der normative Begründungsansatz eng miteinander verwoben, da Lewin seine Erkenntnisse und seine Theorien ständig durch die laufende Praxis (weiter-)entwickelte und veränderte. Da jedoch Forschung und Praxis üblicherweise als voneinander unabhängig betrachtet werden, war es mir wichtig, zunächst die epistemologische Begründung für die Gleichzeitigkeit darzustellen. Lewin setzte in seinen Bemühungen, Wirklichkeit zu verändern, im gegenwärtigen Moment an (Lewin 1951: 63). Entgegen damals gültiger psychoanalytischer Ansätze war für Lewin die Vergangenheit nur insofern Thema, als sie das gegenwärtige Verhalten direkt beeinflusst. Der Wandel, auf den sich Lewin bezieht, ist der Wandel von Gruppendynamiken und Wertvorstellungen, die sich in einer autokratischen oder einer demokratischen Kultur offenbart hatten. Lewin macht deutlich, dass dieser Wandel nicht nur durch eine Veränderung der Landespolitik erzielt werden könne, sondern sich in der Soziologie des Alltags widerspiegeln müsse: »[P]attern like democracy is not limited to political problems but is interwoven with every aspect of the culture. How the mother handles her child of one, two, or three years of age; how business is conducted; what group has status; how status differences are reacted to – all these habitudes are essential elements of the cultural pattern. Every major change, therefore, has to be carried through against such highly interwoven background. It cannot be limited to change in officially recognized values; it has to be change in actual group life.« (Lewin 1943a: 37)

Dieser Ansatz offenbart Lewins, wie man heute sagen würde, systemische Sichtweise, bei der die Mikroperspektive, die einzelne Interaktion im Gruppengeschehen gesamtgesellschaftliche Relevanz besitzt. Ferner könne, so Lewin, ein sozia-

II.2 Die Feldtheorie zur Er fassung von Gruppendynamiken der Aktionsforschung

ler Wandel hin zu einer demokratischen Kultur nicht von oben diktiert werden, sondern nur in einem langsamen Prozess des Umlernens (»re-education«), der auf freiwilliger Teilnahme zu basieren habe, erarbeitet werden. Das demokratische Prinzip könne nicht im traditionellen Sinne gelehrt werden, sondern müsse erlebt werden. »To understand what has been talked about, the individual has to have basis in experience – as a child in a student council, in the hundreds and ones association of everyday life; he has to have some taste of what democratic leadership and the democratic responsibility of the follower mean. No lecture can substitute for these first-hand experiences.« (Lewin 1943b: 45)

Nur auf der Erfahrung mit demokratischen Gruppenstrukturen könne eine demokratische Kultur aufbauen (Lewin 1943a: 38). Jeder substantielle Wandel, wie z.B. eine Demokratisierung, kann nicht auf ein politisches Problem reduziert werden, da er mit jedem Aspekt des Lebens eng verknüpft ist (Lewin 1943a: 37). Er kann sich nicht auf eine Veränderung der offiziell anerkannten Werte beschränken, »it has to be changed in actual group life« (Lewin 1943a: 37). Im Sommer 1946 veranstaltete Lewin in Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut für Gruppendynamiken (Research Center for Group Dynamics) ein Führungsstil-Training. Ronald Lippit beschreibt, wie sich in diesem Sommerlager bei den Workshop-Teilnehmern von selbst eine Dynamik der Teilnahme an der Ereignisauswertung und -interpretation entwickelte, was als methodisches Vorgehen bahnbrechend war (Lippit 1949: 6). Zum einen wurde die aktive Teilhabe der Teilnehmer am Forschungsprozess betont. Zum anderen aber wurde das Prinzip einer »teilnehmenden Beobachtung« deutlich, die Lewin so verstand, dass sich die am Forschungsprozess Teilnehmenden einerseits emotional auf den Gruppenprozess einlassen mussten und andererseits die Gruppe und sich selber objektiv zu beobachten hatten. Die Verbindung von konkreter (emotionaler) Erfahrung einerseits und einer analytischen Distanzierung andererseits wurde von Lewin als wesentliches Element für eine Veränderung hervorgehoben (ibd.). Mit diesem Experiment zu verschiedenen Führungsstilen und in den dabei kreierten unterschiedlichen Gruppenatmosphären versuchte Lewin, autokratische, demokratische und Laissez-faire-Führungsstile miteinander zu vergleichen (Lewin 1939b: 61-63).9 Dabei wurde Lewins Überzeugung von der Existenz des außerindividuellen sozialen Feldes und der Kraft der Gruppeneigenschaften gestärkt.

9 | Die Verschiedenartigkeit der Führungsstile war durch die unterschiedliche Art, Entscheidungen zu fällen, Informationen auszutauschen, Bewertungen und Kritik zu äußern und das Machtgefälle zwischen dem Leiter (»Führer«) und den Teilnehmern auszubalancieren, gekennzeichnet.

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Frieden stif ten durch Theater »Im Ganzen, glaube ich, erweist sich zu Genüge, dass der Unterschied des Verhaltens in autokratischen, demokratischen und Situationen des laissez faire nicht das Ergebnis individueller Unterschiede ist. Auf mich haben Erlebnisse einen so starken Eindruck gemacht wie die, den Ausdruck der Kindergesichter im Laufe der ersten Tage der Autokratie sich verändern zu sehen. Die freundliche, aufgeschlossene und zur Zusammenarbeit willige Gruppe, die voller Leben war, wurde innerhalb einer halben Stunde zu einer ziemlich apathisch aussehenden Versammlung ohne Initiative. Der Übergang von der Autokratie zur Demokratie schien etwas mehr Zeit zu beanspruchen als der von der Demokratie zur Autokratie. Autokratie wird dem Individuum auferlegt. Demokratie hat es zu lernen.« (Lewin 1953: 124)

In der Anerkennung der Gruppendynamiken sah Lewin auch den Schlüssel zum Erfolg eines sozialen Wandels. Er war davon überzeugt, dass ein sozialer Wandel nicht alleine bei den Individuen ansetzen könne. Vielmehr sei es notwendig, das Individuum in einer Gruppe platziert zu bewegen. Nach Lewins Theorie vom sozialen Wandel liegt ein Grund des Widerstandes gegen sozialen Wandel in der festschreibenden Beziehung des Individuums zu den Gruppennormen (Lewin 1947a: 39). Für einen Normenwandel der Gesamtgruppe ist es daher notwendig, den Druck der Normen auf das Individuum zu reduzieren. Dies sei ein Grund für die Effektivität gruppengetragener (»group carried«, Lewin 1947a: 34) Prozesse, bei denen in »Face-to-face«-Gruppen auf den Einzelnen eingegangen wird. Wenn es darum ginge, einen Wertewandel herbeizuführen, so gelänge dies eher mittels einer Realisierung der erwünschten Werte in der Kleingruppe. Veränderungen der kognitiven Wahrnehmung des Einzelnen erfolgten eben nicht einfach durch Informationsvermittlung und auch nicht automatisch durch intensive Erfahrung (Lewin 1945: 51). Zudem ist eine Wahrnehmungsveränderung nicht unbedingt mit einem Meinungswechsel, der eng mit der Weltanschauung und dem Wertesystem verbunden ist, gleichzusetzen. Eine wirklich veränderte Wahrnehmung der sozialen Welt, der Wertesysteme und der Handlungsweisen ist eine so tiefgreifende Veränderung10, dass sie einer gewissen Sicherheit bedarf. Diese Sicherheit kann wiederum durch Gruppenzugehörigkeit vermittelt werden, nicht im Sinne einer äußeren Zuordnung, sondern durch das Empfinden des Einzelnen, dieser Gruppe, in der andere Wahrnehmungen und Weltanschauungen gelten, anzugehören. »The individual accepts the new system of values and beliefs by accepting belongingness to a group.« (Lewin 1945: 55) In dem Moment, in dem innerhalb der Kleingruppe neue Werte zur Norm würden, könne das Individuum diese Werte für sich selber annehmen, so Lewin. Würde hingegen, ohne den Rückhalt einer Gruppe, nur an dem Individuum gearbeitet, wäre kaum zu gewährleisten, dass das Individuum irgendwelche neue Werte annähme bzw. sich langfristig an seinen neu erarbeiteten Werten orientiere. »As long as group values are unchanged the individual will resist changes 10 | L EWIN benutzt hier den Begriff der »Handlungsideologie«: »action-ideology« (Lewin 1945: 53).

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more strongly the further he is to depart from the group standards. If the group standard itself is changed, the resistance which is due to the relation between individual and group standard is eliminated.« (Lewin 1947a: 34) Allerdings kann die Gruppenzugehörigkeit für einen konstruktiven Wandel nicht erzwungen werden, da sonst die Gruppenatmosphäre den eigenen Werten widersprechen würde. Vielmehr muss die Zuordnung auf freiwilliger Basis entstehen, muss die Gruppe durch eine Stimmung der Freiheit und Spontaneität getragen werden (Lewin 1945: 53). Das Argument der Gruppenentscheidungen macht deutlich, warum der Versuch, einen sozialen Wandel herbeizuführen, innerhalb eines sozialen Gefüges zu situieren ist. Gleichzeitig wird jedoch eine »Auslagerung«, die Schaffung eines zusätzlichen Raumes gefordert, innerhalb dessen die Erarbeitung anderer Normen und Werte überhaupt möglich wird. Die Gruppe wird damit zum Ansatzpunkt für Veränderung und stellt gleichzeitig die Untersuchungseinheit dar. Der Gruppenprozess einer Kleingruppe steht damit im Mittelpunkt der Betrachtung. Die Aktionsforschung Lewins baut auf dem wissenschaftlichen Paradigma von experimenteller Manipulation und Beobachtung der Auswirkungen auf. (Dickens/Watkins 1999: 130). Eine Veränderung wird initiiert und dann werden die Ergebnisse untersucht, um Prognosen für zukünftige Veränderungsbemühungen aufzustellen. D.h., Lewin versucht mit seiner Aktionsforschung, allgemeine Gesetze in »Wenn/dann«-Aussagen verpackt zu erkennen. Dennoch unterschied sich bereits die Aktionsforschung Lewins dadurch vom traditionellen wissenschaftlichen Paradigma, dass Lewin der Komplexität der Sachverhalte enormes Gewicht verlieh und er versuchte, tiefer liegende Verhaltensverknüpfungen zu erkennen, welche durch aktive Teilhabe der an einem künstlich kreierten Gruppenprozess Teilnehmenden herauszukristallisieren seien. Kurt Lewin forderte damit die Sozialwissenschaftler auf, die Spaltung zwischen sozialer Aktion und sozialer Theoriebildung zu überbrücken und die Forschung mit der Lösung von praktischen Problemen zu verbinden. Nach David Kolb (Kolb 1984: 9) war dies Lewins wichtigstes Anliegen: Praxis und Forschung zu integrieren.

II.2.2 K RITIK UND W EITERENT WICKLUNG IN A NLEHNUNG AN ZENTR ALE A SPEK TE DER PARTIZIPATIVEN A K TIONSFORSCHUNG II.2.2.1 Zeitgenössische Strömungen der Aktionsforschung Die Aktionsforschung hat in der letzten Zeit, besonders im englischsprachigen Raum, einen neuen Aufschwung erhalten. 11 Das kann man im Zusammenhang 11 | Die Anfänge einer Forschung mit der Bezeichnung »Aktionsforschung« − damals auf Deutsch auch »Tunforschung« genannt (abgeleitet aus dem englischen »action research«) −, lässt sich bis in die 1940er Jahre zurückverfolgen. Damals wirkte K URT L EWIN am Tavis-

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mit einem Paradigmenwechsel in der Wissenschaft sehen, in welcher nach dem »linguistic turn« nun von einem »action turn« die Rede ist (Reason/Bradbury 2006). In Deutschland wurde innerhalb der Pädagogik der 1970er Jahre die Aktionsforschung als Konzept entdeckt, dass dazu geeignet schien, an einer Verknüpfung von Theorie und Praxis zu arbeiten (Moser 1975). Viele Aktionsforschungsprojekte wurden zum einen im universitären Bereich durchgeführt, zum anderen aber auch in Projekten der Integrations- und Stadtteilarbeit. Die Projekte, die innerhalb der Universität durchgeführt wurden, blieben aber weitgehend isoliert voneinander. Die Theoriebildung wurde häufig vernachlässigt (Moser 1975). Forschungsberichte beschränkten sich auf deskriptive Beschreibungen des Fortganges und der Projekterfahrung. Trotz des Anspruches, ein Wissen zu generieren, welches den Betroffenen selbst von Nutzen sein könnte, gelang es häufig nicht, dass diese ihre Fragen und Bedürfnisse in das Projekt einbringen konnten (Hurrelmann 1977). Einige behaupten, dass Aktionsforschung nur dann überzeugend ist, wenn sie sich nicht nur auf Problemlösung konzentriert, sondern gleichzeitig emanzipierend ist (Kemmis/McTaggart 1988). Dies verweist auf den Prozess der Erkenntnisgewinnung, und damit auch auf die Frage: Welche Art von Wissen kann man wissenschaftlich mit Aktionsforschung erfassen? Wirft man mit dieser Forderung einen Blick auf die Mehrzahl der Forschungen, die in den 1970er Jahren durchgeführt wurden, so könnte man behaupten, dass der Mangel an Wissenschaftlichkeit der Art der Durchführung und nicht der Methode an sich zuzuschreiben ist. Noch immer hat es die Aktionsforschung in Deutschland schwer, in den wissenschaftlichen Institutionen Anerkennung zu finden. Dies liegt vielleicht daran, dass sie nicht als eine bestimmte Methode beschrieben werden kann, sondern vielmehr als ein Forschungsansatz zu verstehen ist, der verschiedene Forschungsdesigns umfasst (Dickens/Watkins 1999: 127). Peter Reason und Hilary Bradbury sprechen daher auch von einer »Familie von Ansätzen« der Aktionsforschung, die für sehr unterschiedliche Mitglieder ein Zuhause darstellt (Reason/Bradbury 2006: xxii). Linda Dickens and Karen Watkins stellen Aktionsforschung der sogenannten »traditionellen« Forschung gegenüber. Beide Arten verfolgten das Ziel der Wissensgenerierung, so Dickens und Watkins. Der Aktionsforscher beginne mit geringem Wissen über eine ganz konkrete Situation und arbeite dann in enger Zusammenarbeit mit den anderen Beteiligten daran, diese Situation zu beobachten, zu verstehen und letztendlich zu verändern. Die »traditionelle« Wissenschaft hingegen beginne mit umfangreichem Wissen über die hypothetischen Beziehungen des sozialen Phänomens und schreite mit der Absicht fort, neue Fakten zu verifizieren und kausale Erklärungen, die zu allgemein gültigen Getock-Institut als Sozialpsychologe und gab 1947 seinen Artikel »Action Research and Minority Problems« (Lewin 1946a) heraus.

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setzen führen, in den erhobenen Daten ausfindig zu machen (Dickens/Watkins 1999: 130). Diese Gegenüberstellung lässt sich heutzutage sicherlich nicht mehr aufrechterhalten. Dem »traditionellen«, sozialwissenschaftlichen Ansatz hat sich eine Vielzahl von Methoden hinzugesellt, so dass die klassische, empirische Sozialwissenschaft keinen Alleinvertretungsanspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben kann. Wissenschaftlichkeit fordert ein klares Verfahren. Für die Aktionsforschung gibt es keine fest vorgeschriebene, allgemein gültige Verfahrensweise. Während dies aus der Perspektive eines empirischen Sozialforschers als ein Manko gesehen werden kann, erkennen qualitative Verfahren diese Offenheit als eine Qualität an. Wie ein Aktionsforschungsprozess aussieht, ist nicht über den Begriff der Aktionsforschung definiert. Diese Offenheit ist für die Aktionsforschung charakteristisch (Wadsworth 1998: 6). Trotz der verschiedenen Verfahrensweisen und philosophischen Grundlagen gibt es in der Familie der Aktionsforschungsansätze einige Gemeinsamkeiten. Die meisten Aktionsforscher sind sich darüber einig, dass Aktionsforschung aus Zyklen von Planung, Handlung, Reflexion oder Evaluation und dann aus weiterer Handlung besteht (Dickens/Watkins 1999: 134). Peters und Robinson haben elf unterschiedliche Aktionsforschungsansätze12 miteinander verglichen (Peters/ Robinson 1984: 118-120). Nur drei dieser Autoren, Argyris (1980), Elliot (1978) und Kemmis (1981), haben in ihren Ausführungen die philosophische Fundierung dargelegt, auf der ihrer Meinung nach die Aktionsforschung basiere, wobei sie sich ausnahmslos auf Kurt Lewin beziehen (Peters/Robinson 1984: 20).13 Alle drei lehnen positivistische Ansätze zur Erfassung sozialer Sachverhalte ab und betonen stattdessen die Wichtigkeit der Werte, Überzeugungen und Intentionen der Aktionsforschungsteilnehmer. Ferner heben sie den Weiterbildungscharakter 12 | Die Autoren sind: Argyris (1980), Corey (1953), Cunningham (1976), Elliot (1978), Foster (1972), Bell (1973), Kemmis (1981), Ketterer et al. (1980), Rapoport (1970), Smith (1977) und Lewin (1948). 13 | Es ist interessant, dass die allgemeine Aktionsforschung auf L EWIN zurückgeführt wird, obwohl sich im Grunde genommen nur 22 Seiten seines insgesamt doch recht umfangreichen Werkes direkt mit Aktionsforschung beschäftigen (Lewin 1946a). P ETERS und ROBINSON vermuten die Ursache dafür in L EWINS einflussreicher Position in den von ihm etablierten Forschungsinstituten, dem »Commitee on Community Interrelations (CCI)« sowie dem »Center for Group Dynamics« (CGD) (Peters/Robinson 1984). In einer weiteren Ursachenforschung machen PETERS und ROBINSON darauf aufmerksam, dass viele Aktionsforscher in L EWINS Schriften zur Sozialpsychologie und zur Wissenschaftsphilosophie (insbesondere in denen zur Feldtheorie) Rechtfertigungen für ihre eigene Forschungen gefunden haben. Leider habe L EWIN selbst seine Ansichten über Philosophie und Methodologie der Sozialwissenschaften niemals den Perspektiven seiner Zeitgenossen gegenübergestellt (Peters/ Robinson 1984: 114).

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einer sozialen Aktivität hervor, welche in einen ganz konkreten Kontext eingebunden verstanden sein will. Und drittens verstehen sie Aktionsforschung als eine »emanzipatorische« Form der Sozialforschung (Peters/Robinson 1984: 20). Dickens und Watkins unterscheiden zwei Formen der Aktionsforschung 14: zum einen die Handlungswissenschaft (»action science«) und zum anderen die partizipatorische Aktionsforschung (»participatory action research«) (Dickens/ Watkins 1999: 134). Beide Formen können nach Meinung von Dickens und Watkins als in der Lewin’schen Tradition situierte Weiterentwicklungen gesehen werden: Die Aktionswissenschaft setzt am Individuum an. Sie arbeitet daran, tiefer liegende soziale Mechanismen bewusst, Implizites explizit zu machen und es dabei zu transformieren. (Dies ist ein Prozess, den Lewin »reconceptualization« nannte.) Die partizipatorische Aktionsforschung hingegen betont die Forderung eines sozialen Wandels mit dem vorrangigen Prinzip der Partizipation der Teilnehmer, wodurch garantiert wird, dass der Prozess an der konkreten Situation, an den Bedürfnissen, Zielen und Vorstellungen der Teilnehmer ansetzt. Der Lewin’sche Begriff hierfür wäre das Beteiligtsein (»involvement«).

II.2.2.2 Zyklisches Vorgehen und Integration einer Struktur zur partizipativen Wissensgenerierung Die Frage nach Konzept, Rolle, Funktion und Verwendbarkeit von Wissen nimmt in den Theorien und Praktiken der partizipativen Aktionsforschung einen bedeutenden Platz ein (Park 2006: 84). Hinsichtlich dieser Frage sehe ich innerhalb der Disziplin entscheidende Differenzen: Es gibt zum einen die Vorstellung, dass mit der Aktionsforschung Wissen herausgearbeitet wird, welches anschließend der Praxis dient. Hier liegt meist ein klassisches Verständnis von Wissen als Ansammlung von Informationen, auch von Faktenwissen zugrunde. Andere Ansätze aber sehen den Wissensgenerierungsprozess selbst als Intervention, als eine Praxis − wie es auch Lewin getan hat. Dabei wird der Anspruch formuliert, dass die Praxis der Wissensgenerierung und das Wissen für den Lebensalltag der Teilnehmer und nicht nur der Forscher primär relevant sein sollen. Damit eröffnet sich ein Spektrum von Wissensformen, das es schwer hat, im Wissenschaftsbetrieb ausgedrückt und anerkannt zu werden. Diese Wissensformen verlangen nach einer Übersetzung, die teilweise durch eine Wissenstypisierung möglich scheint. Peter Park z.B. spricht von drei verschiedenen Wissensformen: vom repräsentierenden Wissen (welches Park in funktionales und interpretatives Wissen untergliedert), vom relationalen Wissen sowie vom reflektiven Wissen (Park 2006: 86). Erstgenanntes Wissen ist jenes, welches in der Wissenschaft Anerkennung gefunden hat. Das zweite Wissen nennt Park »relational« und meint 14 | D ICKENS und WATKINS beziehen sich in ihrer Unterscheidung auf McTaggert (1991) (Dickens/Watkins 1999: 134).

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jenes Wissen, welches eine Beziehung zum Gewussten ermöglicht. Dieses Wissen konzentriert sich auf das ganz Spezifische, Einmalige des Gewussten und beabsichtigt nichts mehr, als den Kontakt dorthin herzustellen. Im Gegensatz zum repräsentierenden Wissen wertschätzt das relationale Wissen das Spezielle so, wie es ist, ohne es in einen verallgemeinerten Kontext des Verstehens zu platzieren (Park 2006: 87).15 Methoden, welche diese Form des Wissens generieren, sind nach Park »respect, caring, sincerity, authenticity and trust« (Park 2006: 88). Die dritte Wissensform nennt Park reflektives Wissen. Dieses Wissen bezieht sich auf die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu sehen, seine Handlungen und Denkweisen zu reflektieren. Hier geht es jedoch nicht nur um beobachtetes Wissen, sondern auch um den Zustand des Gewissens. Parks reflektives Wissen bezieht sich also auf einen Prozess des »Sich-in-Beziehung-Setzens« zu Werten und Normen. In diesem Sinne passt es zu Paulo Freires Konzept der Conscientization, welches in der Bewusstwerdung (Consciousness) das Gewissen (Conscience) einschließt. Für dieses Wissen ist eine kritische Distanz notwendig, die es ermöglicht, »Ist«- und »Soll«-Zustände zu unterscheiden und Differenzen aufzuzeigen. In der partizipativen Aktionsforschung, auch PAR (»participatory action research«) genannt, wird die Erfahrung als Grundlage zum Verstehen einer zu verändernden Realität gesehen (Borda 1991: 4).16 Die PAR ist eine verbreitete Form der Aktionsforschung und kann als eine Weiterführung von Lewin angesehen werden. Leider unterscheiden sich aber in der Praxis viele Ansätze hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Genauigkeit, weshalb ich mich auf Lewin beziehe und mich in seiner Tradition verankert sehen möchte. Der Ansatz der partizipativen Aktionsforschung betont den politischen Aspekt der Wissensgenerierung. Besonders im nichtwissenschaftlichen Umfeld wird diese Form der Wissensgewinnung mit dem Ziel der Ermächtigung (Empowerment) benachteiligter Gruppierungen verwendet. Die Bewusstwerdung von Unrechtsstrukturen steht im Zentrum dieser Verfahrensweisen, die sich gerne auf Paulo Freire und seine Befreiungspädagogik beziehen.17 Die Intellektuellen sahen sich im Dienste einer sozialen Bewegung mit dem Ziel, soziale Ungleichheit und Unterdrückungsstrukturen zu transformieren. Die Forschung selber sollte dieser Transformation dienen. Das wirkte sich sowohl auf die Auswahl der Daten (»oral traditions«, »trunck or family archieves« etc.) als auch auf die Art des Schreibens aus (Borda 2006: 31). Diese Form der Aktionsforschung ist deutlich vom politischen Denken der 1970er Jahre geprägt und aus diesem Kontext heraus zu verstehen. Das »Theater der Unterdrückten«, einschließlich des Forumtheaters, steht in dieser Tradition und ist in seiner klassischen Form den partizipativen Formen der Wissensgenerierung zu15 | Dieses Wissen wird z.B. deutlich in folgendem Satz: »Ich kenne diesen Menschen.« 16 | »[I]t is through the actual experience of something that we intuitively apprehend its essence: we feel, enjoy, and understand it as reality.« (Borda 1991: 4) 17 | Die Wurzel der PAR liegt in den linken, intellektuellen Strömungen der 1970er Jahre (Somekh 2006: 34).

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zuordnen. Der Prozess der Wissensgenerierung wird hier als in ein politisches Emanzipationsprojekt eingebettet verstanden. Der politische Anspruch geht der Wissenschaftlichkeit 18 voraus, weshalb diese Methode sich vor allem außerhalb des Wissenschaftsbetriebes etablieren und verbreiten konnte. Als Gütekriterium einer partizipativen Aktionsforschung, die es vermag, sich im Wissenschaftsbetrieb zu behaupten, hat Yoland Wadsworth das charakteristische zyklische Vorgehen der partizipativen Aktionsforschung beschrieben (Wadsworth 1998) und darin einen Unterschied zur sonst üblichen Wissenschaftspraxis gesehen.19 Die Tradition der PAR findet in der Praxis weltweit starke Verbreitung, insbesondere in Projekten zur sozialen Entwicklung, in der Entwicklungszusammenarbeit und der Gemeinwesenarbeit (Gaventa/Cornwell 2006: 78).20 In dieser praktischen Tradition wird das Machtverhältnis zwischen Forschendem und Erforschtem, zwischen »Lehrer« und »Schüler« in Frage gestellt und kritisiert. Auch das Forumtheater ist in dieser Strömung der »Befreiungs«-Pädagogik verwurzelt. »PAR« ist ein Überbegriff, der selbst keine bestimmte Methode bezeichnet, im Grunde genommen ist er so allgemein gefasst wie »Aktionsforschung«. Vielmehr ist PAR eher eine Methodologie des ermächtigenden Wissens, das durch die Teilhabe derer, die ermächtigt werden, generiert wird. »[It is a methodology] for an alternative system of knowledge production based on the people’s role in setting the agendas, participating in the data gathering and analysis, and controlling the use of the outcomes.« (Reason 1994: 328) Diese Methodologie ist Machtverhältnissen gegenüber meist kritisch und sie situiert sich gerne normativ und politisch innerhalb von Befreiungsbewegungen.21 18 | Wissenschaftlichkeit im Sinne einer regelgeleiteten Verfahrensweise und einer strengen Verfahrensdokumentation. 19 | WADSWORTH verweist aber auch darauf, dass im Grunde genommen jede Wissenschaft nach dem Modell arbeitet, bei dem sich Reflexion und Einmischung abwechseln, da im Grunde jede Wissenschaft eine Form von Intervention sei. Partizipative Aktionsforschung versucht allerdings, sich dieser Phasen stärker durch Explikation bewusst zu sein (Wadsworth 1998: 6). 20 | »Participatory action research was often associated with various forms of participatory rural appraisal with local planning and development projects, and forms of action with organizational change.« (Gaventa/Cornwell 2006: 78) 21 | Eine spezifische Form der partizipativen Akionsforschung ist das sogenannte Ethnodrama (Saldaña 2005). Das Ethnodrama − aus der Ethnologie kommend − bezieht sich auf die performative Darstellung realer Geschichten und wird im Bereich der Gesundheitsförderung und der Sozialarbeit angewendet (Mienczakowski/Morgan 2006). Ihr Vorgehen zeigt einen pädagogischen Anspruch dieser Methode im Sinne einer instruktiven Pädagogik. Ihre Fragen sind auf die Wirkungen der Aufführungen ausgerichtet; sie beschäftigen sich nicht mit dem Wissen, welches durch die Aufführung und die Diskussion generiert wird, und sehen dieses Wissen nicht unabhängig von irgendwelchen Wirkungen als wertvoll an. Ich möchte mein Vorgehen aus diesem Grund nicht in die Ansätze von M IENCZAKOWSKI

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In der Tat ist das zyklische Vorgehen genau jener Verfahrensaspekt, der im Grunde von jeder Aktionsforschungsrichtung in der einen oder anderen Art eingefordert wird.22

II.2.2.3 Gütekriterien der Aktionsforschung Entsprechend der Vielzahl der Erscheinungsweisen, die die Aktionsforschung annehmen kann, sind in der Bewertung der wissenschaftlichen Forschungsergebnisse innerhalb der Aktionsforschung sehr unterschiedliche Gütekriterien anzuwenden. In der traditionellen empirischen Sozialforschung konnten sich lange Zeit die Gütekriterien Validität und Reliabilität als Wertmaßstäbe behaupten. Die klassische empirische Untersuchung zielt darauf ab, eine Hypothese der Art »wenn y, dann f(x)« dadurch zu überprüfen, dass die unabhängige Variable (x) – unter Ausschluss von Störgrößen durch das Konstanthalten der Versuchsbedingungen – gezielt manipuliert wird und dadurch vom Ergebnis auf die Abhängigkeit der Variablen geschlossen werden kann. Interne Validität existiert dann, wenn die Veränderung der abhängigen Variablen eindeutig auf die Variation der unabhängigen Variablen zurückgeführt werden kann. Die externe Validität bezeichnet die Allgemeingültigkeit, die häufig mittels statistischer Verfahren Gültigkeit beanspruchen kann.23 Die Reliabilität bezieht sich auf eine formale Genauigkeit der Untersuchung, die Zufallsfehler, so gut es geht, auszuschließen versucht. Besonders in klassischen Mess- und Testwissenschaften sind Validität (»Messe ich das Richtige?«) und Reliabilität (»Messe ich richtig?«, d.h.: »Käme ein wiederholter Messvorgang zu denselben Ergebnissen?«) notwendige Voraussetzungen für eine anschließende statistische Generalisierung. Allerdings ist mit und Morgan einreihen, vielmehr steht im vorliegenden Forschungsdesign die Wissensgenerierung durch Aufführung und Forum im Mittelpunkt, nicht aber die Wirkung des Prozesses auf die Zuschauer. 22 | Von K OCK ET AL . wird das zyklische Vorgehen nicht aus der Perspektive der praktischen Verwendbarkeit, sondern mit dem Argument einer Erhöhung der Generalisierbarkeit behauptet. Dies gilt für die Betrachtungseinheiten, die sich in allen Wiederholungen erneut als gültig erweisen. Der geringen Kontrolle über den Versuchsaufbau und über das Umfeld halten K OCK ET AL . zusätzlich die größere Relevanz der Ergebnisse entgegen und sie verweisen auf die Notwendigkeit, für relevante Variablen und deren Beziehungen offen zu sein. Sie konstatieren, dass eine persönliche »Überinvolviertheit« das Forschungsergebnis durch die starke Emotionalität des Forschers verzerren könne, was durch Wiederholungen wieder ausgeglichen werden könne (Kock et al. 2000: 16). Auch B RIDGET S OMEKH (Somekh 2006: 6) und B OB D ICK sehen im zyklischen Vorgehen ein Qualitätsmerkmal »guter« Aktionsforschung. D ICK schlägt zudem vor, möglichst viele Datenquellen zu benutzen und zu versuchen, »to disprove the interpretations arising from earlier cycles« (Dick 2000: 5). 23 | In diesem Fall fragt sie danach, inwieweit von der Stichprobe auf die Grundgesamtheit geschlossen werden kann.

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den Gütekriterien von Validität und Reliabilität die grundsätzliche Frage nicht geklärt, inwieweit überhaupt soziale Phänomene wiederholbar sind und ein Allgemeingültigkeitsanspruch erhoben werden kann. Sicherlich kann man diese Frage in Anbetracht konstruktivistischer Einwände nicht mittels einer stärkeren Differenzierung und Spezifizierung der Messtechniken beantworten. Die Überzeugungskraft statistischer Methoden als Beleg für den Wahrheitsgehalt der Aussagen ist so enorm, dass empirische Forschungen nicht darum herumkommen, sich trotz grundsätzlicher Einwände den Gütekriterien von Validität und Reliabilität zu stellen. Dies gilt auch für die Aktionsforschung. Gerne wird die Aktionsforschung der positivistischen Forschungsrichtung gegenübergestellt, wobei beide als sich widersprechende Ansätze dargelegt werden (Reason 1994). Teilweise werden beide sogar in der einen oder anderen Forschungsströmung als »unsachgemäße« Untersuchungsmethoden abgewertet (Heller 1993). Die Kritik an der Aktionsforschung richtet sich vor allem – um im Vokabular der positivistischen empirischen Sozialforschung zu bleiben – gegen die Zufälligkeit der Untersuchungsergebnisse (sprich: keine Reliabilität), gegen die mangelnde Kontrolle der Variablenmanipulation (geringe interne Validität) und gegen die Art und Weise der Verallgemeinerung (externe Validität), die sich häufig eben nicht statistischer Verfahren bedient. Gütekriterien sind nur in einem diskursiven Zusammenhang sinnhaft (Moser 1995: 116). Im Einzelnen macht es sicherlich Sinn, die Gütekriterien je nach verwendeter Methode unterschiedlich festzulegen. Betrachtet man »Aktionsforschung« zunächst als eine qualitative Bezeichnung eines Forschungsdesigns, dann wäre es naheliegend, die Gütekriterien entsprechend der konkreten Methodenzusammensetzung des Forschungsprozesses festzulegen. Dies steht alles unter dem Vorzeichen einer anerkannten Notwendigkeit von Gütekriterien, womit deutlich wird, dass sich der Forschungsprozess dennoch an jenem der empirischen Sozialforschung orientiert. In textbezogenen Wissenschaften, von der Theologie, den Rechtswissenschaften bis hin zur Literaturwissenschaft, existieren keine derartigen Vorstellungen einer Gütekraft von Wissenschaft, die anhand expliziter Maßstäbe gemessen werden kann. Lamnek weist darauf hin, dass Mayring24 im Grunde genommen im Paradigma der empirischen Sozialwissenschaf24 | In der qualitativen Sozialforschung wird seit einiger Zeit ein Diskurs geführt, der sich von den Gütekriterien der quantitativen Forschung zu lösen und andere Wertmaßstäbe für die Beurteilung einer wissenschaftlichen Forschung anzulegen versucht. M AYRING verweist darauf, dass zwar generalisierte Qualitätsstandards für wissenschaftliches Arbeiten notwendig sind, diese aber vollkommen neu definiert werden müssten (Mayring 1990: 100). Entsprechend der alternativen Vorgehensweise der qualitativen Verfahren sei es wichtig, auch die Gültigkeit eines Ergebnisses nach anderen zur Kriterien zu bewerten. Mayring selber hat für qualitatives Vorgehen sechs Gütekriterien entwickelt: (1) Verfahrensdokumentation, (2) Regelgeleitetheit, (3) interpretative Absicherung, (4) Nähe zum Gegenstand, (5) kommunikative Validierung, (6) Triangulation (Mayring 1990: 103-105).

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ten verhaftet bleibe (Lamnek 1993: 157). Kvale unterzieht die Sinnhaftigkeit der Frage nach der Validität für die Aktionsforschung einer Überprüfung, da hier andere Aspekte relevant seien (Kvale 1989: 78). Heinz Moser hat die Richtung eingeschlagen, neue Validitätskriterien zu entwickeln. Er ist dabei zu dem Schluss gekommen, dass fünf Kriterien relevant seien: (1) Transparenz, (2) Stimmigkeit, (3) Adäquatheit, (4) Intersubjektivität, (5) Anschlussfähigkeit (Moser 1995: 118119). Die an erster Stelle stehende Transparenz bezieht sich auf die Nachvollziehbarkeit des Forschungsprozesses durch »Offenlegung von Funktionen, Zielen und Methoden der Forschungsarbeit« (Moser 1995: 118-119). Mit Transparenz ist eine Nachvollziehbarkeit möglich. Allerdings vermag es Transparenz nicht, alles, was gesehen, was gehört oder erfahren wurde, in das schriftliche Zeugnis, das häufig veröffentlicht wird, zu schreiben. Umgekehrt kann der Respekt vor den Beteiligten eine Verhüllung von Informationen bedeuten. Im Feld der konstruktiven Konfliktbearbeitung spielt die Transparenz, die mit einer Diskretion gegenüber Dritten gekoppelt ist, eine enorme Rolle für einen erfolgreichen Verlauf einer Aktionsforschung, der von der Vertrauensbildung abhängt. Das gilt nicht nur für eine erfolgreiche Aktion, sondern auch für eine respektvolle, nachhaltige Forschungspraxis.25 Dies leitet zu einem anderen Gesichtspunkt Mosers über: zur Stimmigkeit, mit der Moser auf die »Vereinbarkeit von Zielen und Methoden« (Moser 1995: 118-119) der Forschung verweist. Das Kriterium, das oft unter dem Stichwort »Objektivität« abgehandelt wird, ist nach Moser die Adäquatheit. Um dieses zu erreichen, hält Moser die Verfahrensprinzipien der Triangulation und der kommunikativen Validierung für förderlich. Diese Gütekriterien sind zwar hilfreich, sie konnten sich aber nicht grundsätzlich durchsetzen. Der Kritik an Reliabilität und Validität der Aktionsforschung wird seitens der Aktionsforscher gerne mit dem Argument begegnet, dass ein grundsätzlich anderer wissenschaftstheoretischer Standpunkt eingenommen wird, bei dem es nicht das Ziel sei, Variablen auf ihre Kausalbeziehungen hin zu überprüfen (siehe z.B. Reason 1988; Whyte et al. 1991; Stangl 2007). Kock et al. hingegen nehmen diese Kritik aus positivistischer Perspektive ernst und beleuchten die Aktionsforschung unter diesem Aspekt, d.h., sie sprechen über sie nicht in einem hermeneutischen, konstruktivistischen oder postmodernen Vokabular. Dies entspricht m.E. einer Lewin’schen Tradition, welche versucht, die Gültigkeit der Ergebnisse seiner Aktionsforschungen (allgemeine Gesetze und Theorien) mit der Plausibilität der mathematischen Darstellung von Beziehungen zu erlangen. Kock et al. gehen in ihrer Diskussion auf drei Kritikpunkte ein, die an der Aktionsforschung geübt werden: Diese sind zum einen die kritisierte »Zufälligkeit des Forschungsergebnisses«, d.h. eine geringe Realiabilität, zum zweiten die geringe Kontrolle des (Versuchs-)Umfeldes, wodurch eine geringe interne Validität gegeben ist, und 25 | I AN H UGHES schreibt: »Avoid the natural temptation to gossip or share what you learn with others. Learn to be silent, and to reset confidentiality, so that everyone who talks to you feels that he or she can safely tell you anything.« (Hughes 2000: 4)

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zum dritten eine persönliche »Überinvolviertheit« (Kock et al. 1997: 13-22). 26 All diese drei Kritikpunkte kann die Aktionsforschung im Grunde genommen durch ihren zyklischen Ablauf entkräften (Kock et al. 1997: 14-17), wie auch durch die Integration einer Struktur. Rapoport sieht im häufig informellen und unstrukturierten Verlauf einer Aktionsforschung eine weitere Schwäche (Rapoport 1970). Dies hängt damit zusammen, dass die Aktionsforschung in das Forschungsumfeld eingreift, ja, dieses sogar bewusst zu verändern trachtet, was der Aktionsforschung einen weiteren Kritikpunkt einbringt. Daher ist die Frage, wie eine wiederholbare, nachvollziehbare Struktur geschaffen werden kann, die dennoch Raum für Veränderung lässt. Ein Modell für diese Struktur sehe ich im wohlstrukturierten Prozess von Augusto Boal. Die Frage nach der Kontrolle über den Versuchsauf bau und nach der persönlichen »Involviertheit« halte ich für eine wichtige Dimension des Ablaufes. Denn hier spielt ein Aspekt hinein, auf den Kock et al. nicht eingegangen sind: die Frage nach der Teilhabe, der »Involviertheit« der Teilnehmer und ihrer Entscheidungsgewalt. Die Kontrolle über das Umfeld wird in vielen Formen der Aktionsforschung bewusst abgegeben. Ja, nicht nur die Kontrolle über das Umfeld, sondern zum Teil auch über die Inhalte, ja gar über den Verfahrensverlauf! Dadurch wird einer persönlichen »Überinvolviertheit« des Forschers entgegengetreten, da sich dieser immer wieder von seinen eingebrachten Vorschlägen, Vorstellungen und Vorhaben lösen muss, um sich den Gruppenentscheidungen unterzuordnen. Das erklärt die Notwendigkeit eines tatsächlich partizipativen Versuchsauf baus und einer Offenheit und Flexibilität des Forschers bezüglich seiner Forschungsfrage. So ein Vorgehen ist allerdings kein einfacher, schon gar kein linearer Prozess. Der Forscher nimmt also keinen immer gleichbleibenden Abstand zum Forschungsgegenstand ein, sondern übernimmt mal mehr, mal weniger Entscheidungsgewalt, ist mal mehr, mal weniger involviert sowie mal mehr und mal weniger distanziert. Diese Haltung der wechselnden Distanzen wird auch in der Auseinandersetzung mit anderen qualitativen Verfahren diskutiert. Der Boal’sche Gruppenprozess basiert auf dem Engagement der Teilnehmer. Er bietet somit eine wiederholbare Grundlage einer partizipativen Struktur, in der das nichtverbale Wissen des Körpers, die körperlichen Interaktionen und die sinnliche Wahrnehmung zentral sind. Reason und Bradbury halten es nicht für sinnvoll, die Validitätskriterien der empirischen Sozialforschung zu übernehmen, und erarbeiteten deshalb Quali26 | Im Gegensatz zu K OCK ET AL . sieht D ICK in der flexiblen Vorgehensweise kein Manko. Umgekehrt definiert D ICK die Aktionsforschung als reaktionsfähig (Dick 2000: 4), was Veränderbarkeit des Verfahrens verlangt. Aktionsforschung »provides enough flexibility to allow fuzzy beginnings while progressing towards appropriate ends« (Dick 2000: 4). In diesem Prozess sei die kritische Haltung diejenige, welche immer wieder neue Variationen einfordere (Dick 2000: 5). Für Dick bedeutet, »action«, »change« und »research« zu verstehen − wie simultan versucht wird −, Veränderung und Erkenntnis zu erlangen.

II.2 Die Feldtheorie zur Er fassung von Gruppendynamiken der Aktionsforschung

tätsstandards für »gute« Aktionsforschung. Reason und Bradbury versuchen, einen Weg zu eröffnen, um Wahrheitsansprüche stärker an der dialogischen Erzeugung der Wahrheiten als an positivistischen Gütekriterien zu messen (Reason/Bradbury 2006: xxiii).27 Es ist wichtig, sich dabei zu vergegenwärtigen, dass die Aktionsforschung keine bestimmte Verfahrensweise vorgibt. Dies hat Folgen für die Beurteilung ihrer Qualität. Nach Reason und Bradbury ist das Hauptkriterium für eine gute Qualität der Aktionsforschung der bewusste Umgang mit den Entscheidungen: »to be aware of the choices, and to make those choices clear, transparent, articulate, to your selves, to your inquiry partners, and, when you start writing and presenting, to the wider world« (Reason/Bradbury 2006: xxiii). Damit schlagen Reason und Bradbury eine neue Forschungsrichtung ein, die andere Qualitätsstandards zu entwickeln sucht. Der Entscheidung gehen bestimmte Fragen voraus, die zur Grundlage haben, dass »both our theoretical worlds and our life world [or live experience] are necessary and cannot be substituted. More theory cannot fill the vacuum of lack of experience and more experience cannot bring more order into an uninterpreted world.« (Gustavsen 1996: 94, zit.n. Reason/Bradbury 2006: 344) Diese Tatsache bringt die Forderung nach der Verbindung verschiedener Wissensformen mit sich sowie die Frage, wie verschiedene Wissensformen in der Forschung in Erscheinung treten können. Aus diesem Grund finde ich den ästhetischen Raum als Forschungsinstrument so spannend, weil er sich durch die sinnliche Kommunikation entfaltet und somit andere Formen des Wissens in den Ablauf integriert.

II.2.2.4 Schlussfolgerung: Die Erfassung des Feldes und der partizipative Ansatz in der Arbeit mit Kleingruppen Kurt Lewin hat sein Aktionsforschungsmodell als Antwort auf Probleme entwickelt, die durch sein soziales Engagement und sein wissenschaftliches Interesse zum Vorschein gekommen waren (Kemmis/McTaggart 1988; Dickens/Watkins 1999). Er ging davon aus, dass sich die für die soziale Praxis erforderliche Forschung am besten als Forschung im Dienste sozialer Unternehmungen oder sozialer Techniken kennzeichne. Seine »Tunforschung«28 (»action research«) war eine vergleichende Erforschung der Bedingungen und Wirkungen verschiedener Formen des sozialen Handelns und gleichzeitig eine zu sozialem Handeln führende Forschung. Lewin liefert erstens über die Theorie des sozialen Feldes und über das Prinzip der Transposition überzeugende Argumente für das Aktionsforschungsdreieck, welches Training, Forschung und Aktion zusammenhängend begreift und den Erkenntnisgewinnungsprozess über Gruppendynamiken in dieser triangulären 27 | „This is akin to the ›crafting‹ of research away from validity as policing towards ›incitement to dialogue‹.« (Reason/Bradbury 2006: xxiii) 28 | So wurde, wie gesagt, »action research« zunächst ins Deutsche übersetzt.

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Verwobenheit verstanden wissen will. Dies verlangt einen bestimmten »Versuchsauf bau«, an dem wir uns für die Aktionsforschung zur Beziehungsbildung im Nachkriegslibanon orientiert haben. Ein grundlegendes Element dieses Auf baus ist das zyklische Vorgehen innerhalb des Forschungsprozesses, was auch von gegenwärtigen Diskussionen zur Aktionsforschung festgehalten wird. In der zeitgenössischen Strömung der partizipativen Aktionsforschung wird die Forderung der Involviertheit deutlicher als bei Lewin umgesetzt. Diese Kritik an Lewin und die Forderung einer Weiterentwicklung diesbezüglich möchte ich übernehmen. Ferner kommt in der gegenwärtigen Diskussion die Frage nach einem strukturierten, nachvollziehbaren Vorgehen zum Vorschein, wie auch die Suche nach Integration anderer Formen des Wissens. Wie dies möglich ist, hängt beides m.E. eng mit der Subjektkonzeption zusammen. Hier möchte ich stärker als Lewin die körperliche Interaktion durch eine handlungsorientiertes Subjektvorstellung ins Licht der Überlegungen zur Performativität stellen. Ein zweiter Aspekt, der im Lewin’schen Versuchsauf bau zu beobachten und für die vorliegende Aktionsforschung relevant ist, besteht darin, dass die Gruppe den Ansatzpunkt zur Erforschung von Gruppenbeziehungen und Transformationspotentialen bildet. Dies hängt damit zusammen, dass Lewin das soziale Feld, welches er konstruiert durch seine Elemente in seiner spezifischen Ausgestaltung sichtbar machen möchte und welches sich aus den gelebten Räumen der Subjekte zusammensetzte und dennoch etwas anderes ist als die Summe dieser »Pfadräume«. Diese Sicht erklärt die Arbeit mit Kleingruppen und durch die Erforschung mittels Transformation auch die Positionierung der Aktion. Die »Geographie der Angst« im Nachkriegslibanon veranschaulicht die enormen Kräfte des sozialen Feldes. Die Arbeit mit Kleingruppen, die bewusste Zusammensetzung dieser Gruppe sowie die bewusste Positionierung außerhalb des Gesellschaftsalltags und doch innerhalb eines Prozesses − eines Prozesses, der durch Beziehungsveränderung die Beziehungen zu verstehen trachtet − wurde in der hier untersuchten Aktion umgesetzt. Die Aktion selbst war einerseits im Alltag positioniert, was die fortgehenden Aktionen der lokalen libanesischen »Non-Governmental Organizations«, kurz NGOs, verdeutlichen, die regelmäßig Sommerlager mit jugendlichen Teilnehmern aus den ehemals befeindeten Lagern durchführen. Andererseits wurde die Aktion aus dem üblichen sozialen Gefüge ausgelagert, um eine Gruppenbildung und die Durchsetzung anderer Normen zu ermöglichen. Zugleich habe ich Schwierigkeiten mit der Repräsentation des sozialen Feldes im euklidischen Raum eines zweidimensionalen Papiers. Lewin schreibt dazu selber: »Euclidean space generally is not suited for adequately representing the structure of a social field. […] However, the topological and the hodological space are, as far as I can see, applicable within sociology proper as well as in social psychology.« (Lewin 1939a: 276-277). Dies veranlasste mich dazu, zur Repräsentation des sozialen Feldes und zur Analyse durch den Versuch seiner Veränderung, den ästhetischen Raum nach Augusto Boal zu benutzen.

II.2 Die Feldtheorie zur Er fassung von Gruppendynamiken der Aktionsforschung

Ganz nach Lewin setzten die Aktionen bei den Erfahrungen der Gruppenmitglieder an und zielten auf neue Erfahrungen ab. Die Anerkennung der Notwendigkeit, Phasen der Erfahrungen mit Phasen der Reflexion abzuwechseln, ist ein wesentlicher Punkt der Lewin’schen Tradition, den ich erhalten und ausbauen möchte. Dabei möchte ich der für die Erkenntnis notwendigen Beteiligung ausdrücklich mehr Raum geben als Lewin sowie die Körperlichkeit und Sinnlichkeit der Erfahrung betonen. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die Fragestellung für die Beteiligten von Relevanz sein muss. Hier kommt in der Beziehung zwischen Forschern und Erforschten genau das Vertrauen und deren Verhältnis zueinander zum Ausdruck, was gerade für Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften eine Brisanz besitzt. Die Aktion im Libanon basierte auf der Tatsache, dass das Phänomen ®›¸LIL\DK für die Beteiligten von grundlegender Relevanz ist und dass diese ein Interesse daran haben, ®›¸LIL\DK anders als bisher zu begreifen, anders zu verstehen. Für diese partzipative Bewusstwerdung wählten wir einen Prozess, der mit Performance arbeitet, bei der sich Phasen der Erfahrung mit denen der Reflexion abwechseln. Diese Abweichung verlangt, dass ich im Nachfolgenden auf die Theorie dieser Art Performance eingehe und die entsprechenden theoretischen Grundlagen erläutere. Dies wird erhellen, warum ich ein Vorgehen für sinnvoll erachtete, bei dem das identiätsbildende Phänomen ®›¸LIL\DK analog zum Aktionsforschungsdreieck mittels Integration verändernder nonverbaler Wissensformen untersucht wird.

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II.3 Sozialgeographie und Performance

Die englischsprachigen Begriffe »performance« und »performativity« haben analog zum »performative turn« innerhalb der kritischen Sozialgeographie an Bedeutung gewonnen. Dabei wird das Konzept der Performance einerseits allgemein auf soziale Interaktionen bezogen. Andererseits gewinnen speziell künstlerische Darstellungen als Untersuchungsgegenstände einen Wert zum Verständnis der sozialen Welt. Nigel Thrift nennt fünf Gründe dafür, warum Performance gerade für die Geographie ein wichtiges Konzept sei: Performance betone zum einen ein Verständnis von Kommunikation, das weitergehe als ein rein schriftlicher Ansatz. Zweitens liefere es eine Reihe anderer qualitativer Methoden, die das gegenwärtige Repertoire der Ethnographie (sprich: Fokusgruppen, Tiefeninterviews etc.) bereichern könne. Drittens stelle es insofern ein politisches Instrument dar, da viele politische Proteste auf Performance basierten. Viertens liefere Performance einen anderen Theoretisierungsansatz, indem es auf das aristotelische Verständnis von Phronesis, der Produktion praktischen Wissens, zurückgreift. Dies setzte Thrift selber in seiner »non-representational Theory« (Thrift 2000a: 19) um: »[The non-representational Theory] emphasises the flow of practices in everyday life as embodied, as caught up with and committed to the creation of affect, as contextual, and as inevitably technologised through language and objects. In other words, non-representational theory sees everyday life as chiefly concerned with the on going creation of effects though encounters and the kind of linguistic interplay that comes from this creation, rather than with consciously planned codings and symbols.« (Thrift/Dewsbury 2000: 415)

Und schließlich Thrifts fünfte Begründung: Performance sei an und für sich durch »speculative manipulation of space and time« (Thrift 2000b: 577) geographisch. Lise Nelson geht davon aus, dass das Konzept der Performance ein neues Analysefeld eröffnen kann, da es den Prozess des Werdens deutlich mache: »By interrogation implicit norms within enunciation of ›identity‹ and recognizing it as a process of identification, something that is done over and over instead of some-

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thing that is inherent characteristic, performativity opens up new terrains of analysis.« (Nelson 1999: 339) Der Begriff der »Performance« wirft eine neue Sichtweise auf die Beziehung zwischen Identität und Handlung. Dies setzt allerdings eine bestimmte Konzeption von Performance voraus, die sich nicht auf künstlerische Darstellungen beschränkt, sondern bei der gesamtgesellschaftliche Prozesse in das Blickfeld rücken. Dieser Blick steht in keinem direkten Zusammenhang mit künstlerischen Darstellungen. Dennoch bringt der »performative turn« eine bestimmte Sicht gesellschaftlicher Zusammenhänge, durch die Musik, Tanz, Theater oder szenographische Darstellungen als Datenmaterial für wissenschaftliche Untersuchungen gesamtgesellschaftlicher Phänomene einen neuen Wert erhalten.

II.3.1 D IE P ERFORMANCE DES A LLTAGS Das Konzept der Performance wird in der Geographie häufig im engeren Zusammenhang mit Fragestellungen zu Identitäten und deren Konstitution verwendet, wie etwa die Bedeutung von Judith Butlers Werken (1990, 1993) für das feministische Denken innerhalb der Disziplin veranschaulicht (Smith 2001: 35; Pratt 1995: 578). Allerdings nimmt nicht jeder, der sich auf Performance bezieht, auch das Butler’sche Verständnis nichtessentialistischer Identitäten als Grundlage. Vielmehr lässt sich, darauf verweisen Nickey Gregson und Gillian Rose, die Performance-Diskussion innerhalb der Geographie anhand der theoretischen Konzeption des Selbst in zwei Lager teilen: in eines, das sich weitgehend auf Erving Goffman bezieht, sowie in ein zweites, das sich auf Judith Butler beruft (Gregson/Rose 2000: 433-452). Aus der Sicht Erving Goffmans ist die Performance ein bedeutender Gesichtspunkt in der Analyse seiner interaktiven Ordnung (»interactive order«) (Goffman 1991). Goffman benutzt in seiner Analyse der Selbstdarstellungen im Alltag Begriffe aus dem Theaterleben.1 Besonders auf der »Vorderbühne« sei das Verhalten des Darstellers durch vorteilhafte Präsentationstechniken wie z.B. eines Verkäufers gegenüber dem Kunden geprägt. Die soziale Disziplin verlange von den Darstellern, eine Rolle von innen her durchzuhalten (Goffman 1991: 54). Auf der »Hinterbühne« könnten die Personen gefühlsbetont und spontan leben, hier könne man seinen Launen nachgehen, vielleicht auch mal in der Nase bohren, schlafen etc. (Goffman 1991: 156fff.). Dabei beschreibt Goffman soziale Interaktionen nicht nur mit dramaturgischen Metaphern (»Bühne«, »backstage«, »front stage« etc.), sondern er sieht die Interaktion als eine Aktion zwischen Individuum und Publikum, bei der Individuen für das Publikum etwas darstellen 1 | G OFFMAN verwendet die Ausdrücke »Rolle«, »Sonderrolle«, »Fassade«, »Publikum«, »Regieanweisung«, »Vorder- und Hinterbühne«, »Darsteller« u.a., um grundlegendes Verhalten Einzelner in der Öffentlichkeit zu beschreiben.

II.3 Sozialgeographie und Per formance

und das Publikum wiederum diese (Inter-)Aktion interpretiert. »[T]he self [is] a performed character […] not an organic thing that has specific locations […] [the performer and] his body merely provide the peg on which something of collaborative manufacture will be hung for a time.« (Goffman 1956: 252-253) Hier wird deutlich, dass nach Goffman ein Selbst a priori der Darstellung existiert, welches die Darstellung hinter einer Maske aktiv und bewusst gestaltet. Demgegenüber steht eine andere Auffassung des Selbst, das nicht als a priori von Performance zu konzeptionalisieren ist, wie beispielsweise die von Judith Butler. Dieser Auffassung möchte ich mich anschließen. Butler gibt dem Begriff der »Performance«, wie auch dem der »Performativität«, eine ganz andere Bedeutung, als die oben beschriebene Goffmans. »[I]f a word […] might be said to ›do‹ a thing, then it appears that the word not only signifies a thing, but that this signification will also be an enactment of the thing. It seems here that the meaning of a performative act is to be found in this apparent coincidence of signifying and enacting.« (Butler 1990: 198)

Durch das körperliche »Tun« wird etwas erst zu dem, was es ist. Mit dem Konzept der Performativität macht Butler den Versuch, die Beziehung zwischen den bestimmenden sozialen Strukturen und der persönlichen Handlung körperlich (»embodied«) zu begreifen. Das wiederholte Tun konstituiert die Identität (Butler 1990: 25). Butler liefert ein Verständnis des Subjektes, indem sie zwischen den beiden Polen einer essentialistischen Auffassung einerseits und der des Konstruktivismus andererseits zu vermitteln sucht. Performances sind »Zitatketten« (»citational chains«), deren Wirkungen von den historisch gewachsenen, jeweils gültigen Konventionen abhängen. Die Verschiebung des Diskurses, der dem »Ich« vorausgeht, ist zufällig und nicht intentional (Butler 1990: 28). Nach Nickey Gregson und Gillian Rose sollte Performance, anders als häufig zu verzeichnen ist, konzeptionell nicht von »performativity« getrennt werden.2 Daher halten es Gregson und Rose für wichtig, auf die Art und Weise zu achten, wie Performance konzeptualisiert wird. Denn darin offenbart sich ein bestimmtes Verständnis von Subjektivität, von Handlung (»agency«) und vom Verhältnis zu Macht. »[P]erformance – what individual subjects do, say, ›act-out‹, − and performativity – the citational practices which reproduce and/or subvert discourse and which enable and discipline subjects and their performances –

2 | Während G REGSON und R OSE die Unflexibilität in einer falschen Übernahme des Butler’schen Konzeptes von M C D OWELL auf den konkreten Sachverhalt der Arbeitswelt sehen, liegt für L ISE N ELSON dieser Fehlschluss in einer mangelnden Theoretisierung des B UTLER ’SCHEN Konzeptes für konkrete geographische Fragestellungen zu Identität, Ort und Raum (Nelson, L. 1999: 331-353).

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are intrinsically connected, through the saturation of performers with power.« (Gregson/Rose 2000: 434) Gregson und Rose betonen die notwendige Verbindung von Performance mit Performativität, wodurch ein statisches Verständnis eines a priori von Performance existierenden Subjektes (wie z.B. in: Bell et al. 1994: 31-48) ausgeschlossen wird. Um eine statische Konzeption zu vermeiden, lehnen Gregson und Rose eine theatralische Konzeption von Performance ab (Gregson/Rose 2000: 441). Vielmehr stellen sie das Adverb, die Aktion, den Prozess des »Zitierens« in den Mittelpunkt, der eine Wirkung erzielt und damit auf Macht, Machtpositionen und Machtverhältnisse verweist. Das Werden bezieht sich nicht nur auf die Konstitution des Selbst und der Identitäten, sondern auch auf den Ort, den Raum (Gregson/Rose 2000: 434). Raum verstehen Gregson und Rose nicht als gegeben, sondern als erst durch Darstellungen geschaffen. Und das bedeutet eine Anerkennung der permanent wirkenden Kräfte, die innerhalb sich ständig wandelnder Machtverhältnisse agieren. »Contra many of the geographical accounts […], we maintain that performances do not take place in already existing locations: the city, the bank, the franchise restaurant, the straight street. These ›stages‹ do not pre-exist their performances, waiting in some sense to be mapped out by performances; rather, specific performances bring these spaces into being.« (Gregson/Rose 2000: 441)

Diese Verbindung von Performance und Performativität bezieht sich somit auch auf den Raum, der als durch Darstellungen zustande gekommen zu konzeptionieren ist. Er ist geworden und er wird durch »performativen« Ausdruck von Macht (Gregson/Rose 2000: 434).3 So verstanden ist der Begriff der »Performance« von großem Wert, da er es erlaubt, in komplexer Weise Subjektivität und Identität als durch soziale Handlungen konstruiert zu erfassen. Aus diesem Grunde halten 3 | So machen G REGSON und ROSE in ihren empirischen Untersuchungen auf verschiedene Wirkungsweisen der Machtverhältnisse und auf die Strategien der Akteure, diese zu ihren Gunsten zu beeinflussen, aufmerksam. Beispielsweise müssen »Community Workers« den dominierenden Diskurs zitieren und ihn damit zugleich kreieren, auch wenn sie ihn im Grund ablehnen. Nur durch dieses Zitieren und durch den Bezug auf den Diskurs können die »Community Workers« mit ihren Projektanträgen Gelder sichern. Andererseits werden im Gespräch auch Wörter benutzt (wie »Antragsgerede«) mit der Absicht, sich vom dominierenden Diskurs zu distanzieren (Gregson/Rose 2000: 438). Diese Feststellung impliziert ein selbstreflektives Subjekt, welches zwar nicht zitieren könnte, wenn es wollte, es aber dennoch tut, um bestimmte Ziele zu erreichen. In einer anderen Studie zeigt G REGSON , dass Flohmarktverkäufer zwar einerseits in ihrer zitierenden Praxis den dominierenden Diskurs der Geschlechterrollen reproduzieren und verfestigen, andererseits der Flohmarkt und seine Performance aber auf subtile Art die Strukturen des Konsums und die normative Konstruktion des Einzelhandels in England in Frage stellen (Gregson/Rose 2000: 444-445).

II.3 Sozialgeographie und Per formance

ihn Gregson und Rose auch für einen wichtigen Anhaltspunkt in einer kritischen Humangeographie: »[A] notion of performance is indeed crucial for a critical human geography concerned to understand the construction of social identity, social difference, and social power relations, and the way space might articulate all of these.« (Gregson/Rose 2000: 434) Überzeugend zeichnen Gregson und Rose mit Bezug auf Butler die Bewegung, das Werden, das Formieren von Identitäten und Räumen nach. Die Frage nach dem Impuls, dem Auslöser einer zitierenden Praxis, bleibt aber unbeachtet. Wie steht es um das Verhältnis der Akteure zu ihrer Gestaltungskraft in der Performance? Inwiefern gibt es einen Entscheidungsfreiraum des Handelnden innerhalb des zwingenden Diskurses, innerhalb der gegebenen Strukturen? Die klassische Frage nach dem Verhältnis von Vorbestimmtheit und Willensfreiheit wird durch ein »einerseits – andererseits« beantwortet, wobei dieselbe Praxis als eine die Struktur verstärkende und als eine sie verändernde gelesen wird. In dieses Spannungsfeld greift die Kritik Lise Nelsons ein, die die Sinnhaftigkeit einer direkten Übertragung des Butler’schen Performance-Konzeptes auf geographische Fragestellungen, die von einer Raum-zeitlichen Gebundenheit jeglicher Performance ausgehen, anzweifelt. 4 Wie Gregson und Rose kritisiert auch Lise Nelson zentrale geographische Arbeiten, die das Konzept der Performance zur Grundlage haben (siehe auch Walker 1995: 71-76). Nelson sieht den Mangel aber in den unzureichenden theoretischen Überlegungen zu Handlung, Subjekt und Wandel, was einem alleinigen Bezug auf Butler inhärent sei. Insbesondere bemängelt Nelson an Judith Butlers Theorie die Absenz eines handelnden Subjektes: »Her theory of performativity treats any enunciation of identity as necessarily fixed, and any notion of agency as necessarily one that implies an autonomous, masterful subject. In other words, she runs into a bind because she only conceives of conscious agency as stemming from an autonomous (pre-discursive) subject. Having effectively debunked that notion, she makes no place for conscious agency. In this way, paradoxically, the autonomous, masterful subject continues to haunt her work: she accepts the idea that agency is autonomous and pre-discursive.« (Nelson 1999: 340)

4 | Die Kritik, dass Butler einer abstrakten, universellen Analyse verschrieben bliebe, ohne sich auf spezifische Orte und Situationen zu beziehen, wird ebenso von M C N AY (McNay 1999: 187) wie auch von Thrift und Dewsbury geäußert (THRIF T/D EWSBURY 2000: 413-414). B UTLERS Konzept münde darin, das Performative hauptsächlich aus einem individuellen Verständnis politischer Praxis heraus zu sehen, wodurch wichtige Fragen, wie jene nach der Beziehung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, oder danach, wie sich neue kollektive Identitäten herausbilden und dies im Verhältnis zu einem institutionellen Wandel steht, ungestellt blieben (Thrift/Dewsbury 2000: 414).

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Dementsprechend mangele es dem Performativitätskonzept, so Nelson weiter, an theoretischen Instrumenten zur Analyse des sozialgeographischen Wandels, einem wichtigen Anliegen innerhalb der Sozialgeographie (Nelson 1999: 345). Dies hat Folgen für die Verwertung ihres Konzeptes innerhalb der Geographie. Nelson führt aus: »Performativity [in Butler’s sense] ontologically assumes an abstracted subject (i.e. abstracted as a subject position in a given discourse) and thus provides no space for conscious reflexivity, negotiation or agency in the doing of identity. This point is crucial for geographers, because spatially embedded, intentional human practice often lies at the centre of our inquiries into identity and change.« (Nelson 1999: 332)

In dem Moment, da Performativität nicht abstrakt untersucht wird, sondern mit diesem Konzept ein konkretes gesellschaftliches Problem betrachtet wird, stellen sich diese Fragen des intendierten Wandels, des bewussten Entschlusses und der gewollten Handlung der Akteure.5 Dies ist von zentraler Bedeutung für die vorliegende Arbeit, da sie die Gruppenbeziehung des Konfessionalismus innerhalb seiner Wandlungsfähigkeit erforscht. Festhalten möchte ich aus der bisherigen Diskussion das Verständnis von Identität und Subjektivität als durch soziale Handlung im diskursiven Machtgeflecht konstruiert, was erklärt, warum ich aus der Sicht der Mikroperspektive auf das Phänomen des Konfessionalismus blicke und weshalb mich die konkrete Handlung des Einzelnen in seinem Alltag interessiert. Dennoch lässt sich das Phänomen nicht betrachten, wenn man die Perspektive zu sehr auf das Individuum verengt, da der Konfessionalismus zwar individuelle Beziehungen formt, er aber eine Gruppenbeziehung beschreibt, die eine Mesoebene konstituiert. Ist man zu sehr auf das Subjekt fokussiert, läuft man Gefahr, die das Subjekt und die Handlung konstituierende Zwischenebene der Gruppe aus dem Auge zu verlieren, die mehr ist als die Summe aller sorgfältig geordneten Verbindungen der Gruppenbeziehungen. Ein bestimmter Forscher suchte dieses »Mehr« zu erfassen und setzte sich intensiv mit Gruppendynamiken auseinander, integrierte die Wandlungsfähigkeit von Gruppenbeziehungen in seine theoretischen Überlegungen: Kurt Lewin. Er hat erkannt, dass es wenig Sinn macht, Gruppendynamiken zu untersuchen, ohne dabei den Blick auf die Gruppe zu legen: »Research in group dynamics is, as a rule, group research.« (Lewin 1947b: 153)

5 | »So how might we productively conceptualize ›agency‹ without either obliterating the subject by defining change as random discursive slippages, or reifying subjectivity as autonomous and somehow ›outside‹ of discourse?« (Nelson 1999: 347)

II.3 Sozialgeographie und Per formance

II.3.2 E IN B LICK AUF DEN A LLTAG MIT TELS P ERFORMANCE Nach Nigel Thrift ist Performance »the art of producing the now« (Thrift 2000b: 577). Sie ist ein Modus des gegenwärtigen Momentes, in dem das Jetzt des hiesigen Ortes von Interesse ist und nicht das, was sich an anderen Orten und zu anderen Zeiten ereignet hat, gerade ereignet oder noch ereignen wird. Performance (re-)präsentiert ein Wissen, welches nicht vollständig verbal kommuniziert wird. »So performance is concerned not with the what, but the how; it is a living demonstration of skills we have but cannot ever articulate fully in the linguistic domain.« (Thrift 1996: 34) Aus dieser Sicht gewinnen künstlerische Darstellungen an wissenschaftlichem Wert. Susan Smith, die sich intensiv mit musikalischen Geographien auseinandergesetzt hat, hält fest: »Working with performance offers one possibility for grasping the present in its own right, for valuing and working with everyday practical activities as they occur; as they make what has been into what is to come. Performance is the articulation of the past with the future.« (Smith 2001: 35) Was Smith als Sozialgeographin dazu gebracht hat, sich mit musikalischen Darstellungen zu befassen, war ihr Bedürfnis, über die Konzeptualisierung politischer und ökonomischer Räume hinauszugehen und dabei zusätzlich die emotionalen Räume, Gefühle und Wahrnehmungen zu erfassen (Smith 1991: 36). Die Bedeutung dieser Räume »in shaping the world and its future is definitely underplayed« (Smith 1991: 36). Smith hinterfragt die vermeintliche Macht- und Wirkungslosigkeit von Musik bezogen auf gesamtgesellschaftliche Prozesse und geht vielmehr von einem unterschätzten Einfluss der Musik auf sozialpolitische Prozesse aus (Smith 2000: 632). Die Arbeit mit Darstellungen bzw. Performance ermöglicht erstens durch ihre Schwerpunktsetzung auf gegenwärtige Erfahrung, Zustände, Haltungen, Gefühle und Emotionen einen Zugang zur unmittelbaren Gegenwart. Zweitens wird durch diesen unmittelbar »jetzigen« Fokus die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, was in auf die Sprache bezogenen Untersuchungsweisen leicht unbeachtet bleibt. »Working with performance is working with a conception of knowing and being that goes beyond the visual, the textual and the linguistic.« (Smith 1991: 36) Die Arbeit mit Performance in diesem Sinne bringt bestimmte Konsequenzen hinsichtlich der ontologischen und epistemologischen Voraussetzungen mit sich. Performance bezieht sich auf eine Ontologie, auf ein Seinsverständnis, das nicht essentialistisch gegeben ist, sondern permanent geschaffen wird und nicht in Worten festzuhalten ist. »What is exciting here is the idea of identity as something that can only be accessed as – that only exists in – performance, precisely because it is an expression, an enactment, of what is not ›knowable‹ (in other ways).« (Smith 1991: 36) D.h., um Performance untersuchen zu können, müssen neue Wege der Erkenntnisgewinnung eingeschlagen werden, die es ermöglichen, das Augenmerk dem Vorsprachlichen, Nonverbalen zu widmen. Hier stößt man unweigerlich auf Normen der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung bezüg-

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lich der Vorgehensweise. Das Erkannte muss verbalisiert werden, um es in einem schriftlichen Text zur Diskussion stellen zu können. So macht Gillian Rose auf die epistemologischen und politischen Schwierigkeiten der Tendenz aufmerksam, das Wahrgenommene, Erfahrene in einem schriftlichen Text fixieren und festhalten zu wollen (Rose 1993). Dabei wird oft ausgeblendet, dass nur jenes praktische Wissen in einem schriftlichen Forschungsergebnis zum Vorschein kommen kann, das sich in diskursives Wissen umwandeln lässt, oder das zumindest verbal beschreibbar ist. Auf Grund dieser Problematik wurde hier bewusst eine Forschungsmethode gewählt, die verschiedene Wissensformen zulässt und anerkennt. In diesem Sinne können künstlerische Darstellungen als Objekte zur Erkenntnis allgemeiner sozialgeographischer Prozesse gerechtfertigt werden. Einerseits sind künstlerische Darstellungen ein Teilbereich gesamtgesellschaftlicher Interaktionen und können damit auch als ein solcher analysiert werden. Wenn auch häufig unterschätzt, sind sie kulturelle Produkte und liefern kulturelles Kapital im Sinne Bourdieus – für eine aktive Gestaltung der sozialökonomischen Konstitution der Gesellschaft (Bourdieu 1982; siehe auch Hooks 1991: 104). Kunst ist ein Medium, das Unterschiede verdeutlicht und verwischt, das Grenzen markiert, errichtet und sie wiederum überschreitet. Das macht sie besonders für die Geographie interessant (Pile/Thrift 1995). Denis Cosgrove hat sich mit Landschaftsdarstellungen in der Renaissance auseinandergesetzt und festgestellt, dass diese wertvolle Informationen liefern über das sich wandelnde Verständnis von Verwendung und Kontrolle des Raumes (Cosgrove 1984: 21). Smith bezieht sich darauf, betrachtetet allerdings die Musik der damaligen Zeit als eine »sonische Struktur«, die genauso an Kontrolle und Ordnung der sozialen Welt beteiligt ist (Smith 1997: 507). Im Gegensatz zur Malerei, bei der eine bestimmte Art des Sehens verdeutlicht wird, ist die Art und Weise, wie Musik wirkt, von anderer Natur: Musik füllt einen Raum aus und schafft darüber hinaus einen Raum für Klänge (Smith 1997: 508). Im Italien der Renaissance markiert sie den sakralen Raum und füllt ihn aus. Gleichzeitig schafft die Musik, die ständig präsent ist, einen öffentlichen, säkularen Raum, mit Hilfe von Fanfaren etc., die eine Zeremonie ankündigen oder Krönungen, Amtseinsetzungen und Hochzeiten markieren (Smith 1997: 509). Neben dieser Gestaltung unterschiedlicher Bedeutungszuweisung von Räumen durch Klänge kann Musik auch als ein Unterscheidungsmerkmal lokaler Zugehörigkeiten gesehen werden.6 Dies zeigt, wie auch andere Beispiele7, dass die Klangwelten

6 | Musik wird verwendet, um Ortszugehörigkeit deutlich zu machen und lokale Identität zu stärken. So unterschied sich z.B. der Musikstil Venedigs deutlich von demjenigen des übrigen Italiens und Europas, er half somit, sich abzugrenzen (Smith 1997: 509). 7 | Ein anderes Beispiel, das S USAN S MITH heranzieht und das auf die Bedeutung der »sonischen Strukturen« für sozialräumliche Gestaltung verweist, ist die Brass-Band-Be-

II.3 Sozialgeographie und Per formance

− obwohl in sozialgeographischen Studien kaum beachtet − wirken. 8 Martin Stokes stellt fest, dass Musik deshalb von sozialer Relevanz ist, »not entirely, but largely because it provides means by which people recognise identities and places, and the boundaries which separates them« (Stokes 1994: 5). Erstens wirkt Musik als Medium zur Markierung von Grenzen und zum Erschaffen von Zugehörigkeiten wie auch als Verhandlungsraum, in dem neue Identitäten und Zugehörigkeiten kreiert werden (Smith 1997: 517). Zweitens: Ein Teil des Erzählens von dem, was ist, liegt darin, mit Klängen das Unaussprechliche zu kommunizieren. »[M]usic is a way of feeling and of learning to feel – a form of communication that words are always inadequate to convey, but that is needed for live to be lived.« (Smith 1997: 517) Drittens ist Musik nicht nur ein Weg, um die Bedingungen des Seins zu beschreiben und handzuhaben, sondern sie stellt auch, je nach Verortung der Klänge im Kräfteverhältnis des sozialen Gefüges, eine Art und Weise dar, die den Status quo herausfordert. Catherine Nash ist über ihre Forschungsarbeit zum Thema Tanz auf die Relevanz der Performance-Untersuchungen gestoßen. Infolgedessen möchte sie dazu einerseits ein neues Performance-Vokabular entwickeln und auf der anderen Seite die »imaginative and material geographies of cultural performativity and embodiment« (Nash 2000: 654) erforschen. »If the strength of cultural geography has been its attention to the material and symbolic, to practice and images, and to the economies and politics of places, cultural practices, discourses and products […], I want to consider here what is to be gained from the metaphorical and substantive turn from ›text‹ and representations, to performance and practice.« (Nash 2000: 654)

Tanz, so argumentiert Nash in Anlehnung an Thrift, steht in Verbindung mit Ritualen, mit rhythmischer Arbeit und mit Spiel. Zur Anreicherung dieser Sichtweise zieht Nash kritische Tanztheorien heran und macht damit deutlich, dass Tanz eben nicht die andere Seite des Wortes, der Bedeutung, der Logik, des Verstandes ist, sondern »that all dance is made up of complex intersections of speech, writing, text and body« (Nash 2000: 656). Jeder Tanz sei in ein Muster des Empfindens und Deutens eingebettet, sei kulturell und sozialpolitisch geformt. Das Konzept der Choreographie ist nach Nash in gewisser Weise besser dazu geeignet, Konventionen, Codes und Traditionen zu veranschaulichen als das Performance-Konzept. Nash verweist damit auch auf die Zwänge und die sozialen Regelungen dargestellter Identitäten, und auch auf die Möglichkeiten zur Subversion im Butler’schen Sinne (Nash 2000: 658). In ihrer Analyse des Tangos, dessen wegung der Arbeiterklasse im viktorianischen England Anfang des 19. Jahrhunderts (Smith 1997: 513). 8 | Siehe dazu auch Kizildemir 1995.

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Ursprung auf die Unterwelt von Buenos Aires im späten 19. Jahrhundert zurückzuführen ist und der später nach Paris und London wanderte, verweist Nash auf das hybride, politisch subversive Potential des Tanzes, wie auch auf seine den Status quo bestätigende Funktion (Nash 2000: 659): »[W]hile dance works badly as an example of pre-discursive, non-cognitive practices, it works well as case of the performative ›doing‹ of identity and social identifications. […] Dancing is simultaneously bodily and social, simultaneously about sense of self and individuality and collective experience and shared identifications.« (Nash 2000: 659)

Diese Performance ist also nicht zu verstehen als eine Kopie der realen Welt, die diese nur mangelhaft, da äußerst simplifiziert, wiedergibt. Im Gegenteil entsteht diese soziale Welt durch die Darstellung der verschiedenen Maßstäbe des Selbst und des Kollektivs. Diese doppelte Wirkung der Konstitution, Veränderung und Verstärkung des Selbst, aber auch der kollektiven Erfahrung hat Malbon durch seine Untersuchung des Diskotanzens herausgearbeitet (Malbon 1999: 86). Diese zeigt, dass die Auseinandersetzung mit künstlerischen Darstellungen Aussagen über gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge erlaubt, wenn man deren EingebettetSein in die Kunstform realisiert. Die Auseinandersetzung mit Performance kann aber nicht nur zu neuen Aussagen über die soziale Welt führen, sondern kann ferner Auswirkungen auf den Erkenntnisgewinnungsprozess haben. Körperliche Darstellungen, Tanz und Theater bestehen zu einem großen Teil aus etwas, was sich nicht in einem Text festhalten lässt. Da die Diskurse darüber jedoch schriftlich verlaufen, besteht die Gefahr, Plattitüden zu kommunizieren, was ein Grund dafür sein mag, warum sich diese Kunstformen bisher außerhalb der Kunstwissenschaften nicht richtig als Untersuchungsobjekt durchsetzen konnten. Dasselbe gilt im Grunde für alle anderen sozialen, körperlichen, sinnlichen Interaktionen (Dewsbury 2000: 485).9 Die theoretischen Auseinandersetzungen mit den besonderen Qualitäten der Räume, die durch die künstlerische Darbietung geschaffen werden, und die Reflexionen über das Erlebte fordern das gängige Wissenschaftsverständnis heraus und erlauben es, neue Wege wissenschaftlichen Tuns zu gehen. Kurt Lewin forderte von einem Sozialwissenschaftler »Mut« (»courage«), damit dieser den Versuch unternehmen könne, »to break down methodological taboos which condemn as ›unscientific‹ or ›illogical‹ the very methods or concepts which later on prove to be basic for the next major progress« (Lewin 1946a: 46).

9 | Umgekehrt lässt sich sagen, dass unsere sozialen körperlichen Interaktionen eher dem Tanz als einem Text ähneln, »not aiming at describing events (that is, it is not representational), but at evoking a semblance of a world« (Dewsbury 2000: 485).

II.3 Sozialgeographie und Per formance

II.3.3 P ERFORMATIVITÄT : K ARTOGR APHIE DER M OMENTE DES W ERDENS II.3.3.1 Mikrogeographie: Die Situation und der Moment des Werdens Performativität ist nach Nigel Thrifts Beschreibung als »non-representational theory or theory of practice« (Thrift 1997; 2000), eng mit dem »verkörperten Handeln« verbunden. In dieser Theorie konzentriert sich die Betrachtung auf das verkörperlichte Subjekt, verortet in einem Prozess des Werdens, in dem sich gesellschaftliche Realitäten zeigen (Thrift 1997: 142). Thrift entwirft eine Theorie, die Raum gibt für das Vorsprachliche, das Nichtausgedrückte, das praktische Wissen, das entsteht und gewusst wird, das sich in der Handlung manifestiert und das selber kommuniziert. Damit begibt sich Thrift in eine neue kulturgeographische Richtung, hin zu einer mikrogeographischen Untersuchung gewöhnlicher Handlungen. Die »non-representational theory« ist für Thrift »radically contextual« (Thrift 1996: 41). Damit gibt die »non-representational theory« den konkreten Repräsentationen einen anderen Wert. »[It] takes representations seriously; representation not as code to be broken or as an illusion to be dispelled, rather representations are apprehended as performative in themselves; as doings. The point here is to redirect attention from the posited meaning towards the material compositions and conduct of representation.« (Dewsbury et al. 2002: 438)

Die Aufgabe, einen Blick auf die »materielle Komposition und die Durchführung« der Darstellung zu werfen, verlangt eine detaillierte Betrachtung der Performance-Situation. Diese Situation mit einzubeziehen, hat Folgen für die Forschungspraxis, welche eigens Instrumente dafür entwickeln muss, gesellschaftliche Konstellationen stehen zu lassen. Gleichzeitig verlangt dies eine Achtsamkeit für den Moment der Kreation, in dem sich gesellschaftliche Realitäten aktualisieren. Das Performativitätskonzept rechtfertigt eine detailgenaue Betrachtung und erlaubt es, die Kraft der Situation wirken zu lassen, die eine Realität unabhängig von den handelnden Subjekten beansprucht. Was ausgedrückt wird, ist nicht vollständig unter der Kontrolle des sich Ausdrückenden, sondern es gehört der Situation (Dewsbury 2000: 474), dem Ereignis. Die Situation ist das, was ganz dem »Jetzt« und »Hier« verschrieben ist. Die Situation lässt das Spontane, das Chaotische und das Nichtreduzierbare in Erscheinung treten, das durch die Vielzahl der Unterschiedlichkeiten, auf den unterschiedlichen Ebenen, hervorgerufen wird (Dewsbury 2000: 475). Gilles Deleuze konzipiert zwei verschiedene Arten, Neues zu schaffen. Den einen dieser beiden Ansätze zur Beschreibung dieses Schaffensprozesses, nennt Deleuze die »Realisierung des Möglichen« (Deleuze 1991: 97-98). Sie funktioniert nach den Prinzipien von Ähnlichkeit und Nachahmung: Das, was realisiert wird, ähnelt einer der Möglichkeiten, da es genau diese nachzuahmen sucht. Zunächst

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muss jede Verwirklichung die vielen vorhandenen Möglichkeiten auf jene eine reduzieren, die schließlich realisiert wird. Dann übertritt nur diese eine Möglichkeit die Schwelle der Realisierung. Sie war im Grunde schon vorher existent, was bedeutet, dass durch die Umsetzung nichts grundsätzlich anderes, nichts Neues geschaffen wird. Mit dieser Vorstellung einhergehend ist ein unersetzlicher Verlust, da die anderen Möglichkeiten nun nicht mehr möglich sind (Dewsbury 2000: 479). Dewsbury charakterisiert »Chronos« als diese Bewegung, die Zeit als eine Verlagerung vom Möglichen zum Realen hin beschreibt. Den anderen Ansatz nennt Deleuze die »Aktualisierung des Virtuellen«. Dieser Ansatz funktioniert nicht durch Ähnlichkeit, sondern durch die Generierung von Abweichung, Verschiedenheit und Unterscheidung: »In order to be actualized, the virtual cannot proceed by elimination or limitation, but must create its own lines of actualization in positive acts. The reason for this is simple: While the real is in the image and likeness of the possible that it realizes, the actual on the other hand, does not resemble the vitality it embodies. It is difference that is primary in the process of actualization – the difference between the virtual from which we begin and the actual at which we arrive.« (Deleuze 1991: 97)

Das Virtuelle unterscheidet sich grundlegend vom Aktuellen und ist, auch wenn es nicht aktualisiert wird, im Gegensatz zu den nicht realisierten Möglichkeiten ziemlich real. Denn was den Moment der Gegenwart nicht nur in seiner Bedeutung, sondern auch in seiner Erfahrung ausmacht, sind die Verbindungen des Aktuellen zum Virtuellen. Hier tut sich eine nicht sequentielle Vorstellung von Zeit auf. Nichts existiert ohne eine Erscheinungsform der Zukunft und eine vergangene Genese, aber diese Dimensionen existieren nicht mit dem Aktualisierten, sondern sind virtuell. Das Virtuelle existiert gleichzeitig mit dem Aktuellen und geht ihm nicht voraus. Es ist nicht etwas, was nicht ist, sondern es ist ein Teil, der das konstituiert, was ist. Das Zeitverständnis, das dem Virtuellen Rechnung trägt, nennt Deleuze »Aion«: »[Aion] is this gap which allows us finally to intimate a virtual space that hovers immanently around all that is done, shadowing everything realised with what might have been.« (Deleuze 1990: 100) Im Chronos ist der unwiederbringliche Moment der Gegenwart gültig, Zukunft und Vergangenheit sind nur »relative Modalitäten« des Gegenwärtigen (Deleuze 1990: 162). Aion beschreibt dahingegen eine Zukunft und eine Vergangenheit, die die Gegenwart in jeder Hinsicht teilen und sie immer weiter teilen in Vergangenheit und Zukunft (Deleuze 1990: 164). Diese Einheit des Momentes der Aktualisierung – das geringe Subjektive im Handeln – ist im Grunde eine kontingente Operation. Sie ist an und für sich eine Aktion, die das Potential der Abweichung in der Art zusammenhält, dass sich das Virtuelle in unerforschte Richtungen entfalten kann. Aion ist nicht determiniert. Es konstituiert sich durch das Subjektive im Handeln. Es ist ein Denken der Zeit selbst, ein Denken, das Ereignisse in den Kontext stellt zu alldem, was zuvor passiert ist. Gleichzeitig

II.3 Sozialgeographie und Per formance

wird dadurch alles, was passiert ist, erweitert und verändert, es wird Neues geschaffen. Aion ist Improvisation. Chronos, der eine akkurate, nacheinanderfolgende Erzählung erlaubt, und Aion sind keine einander ausschließenden Kategorien, denn die chronische Konzeption von Zeit ist notwendig – gerade für wissenschaftliche Prozesse –, da sie eine Fixierung erlaubt, von der aus die Welt betrachtet werden kann, wobei dieser Prozess selbst einen Prozess des Werdens konstituiert.

II.3.3.2 Subjekte des Werdens: Dazwischensein und Innehalten Das Konzept der Performance verlangt nicht wie der Poststrukturalismus einen Tod des Subjektes, auch wenn die Situation das Werden ermöglicht und sie nicht durch das Subjekt geformt wird. In Analysen und theoretischen Diskussionen haben die Autoren des »Professional Geographer« ein komplexes, poststrukturalistisch-feministisches Verständnis von Subjektivität dargelegt. Die Projekte der Autoren kreisen um den Begriff des »Dazwischenseins« (»betweenness«, Katz 1994), um einen Raum, der die Instabilität, Situiertheit und Partialität der intersubjektiven Beziehungen, der Selbstreflexion und der Wissensproduktion anerkennt (Nelson 1999: 349). In der Arbeit mit Theater hat man sich über den Zustand des Dazwischenseins Gedanken gemacht. Ute Karl sieht diesen »Schwellenzustand« als integralen Bestandteil eines Wandlungsprozesses (Karl 2005: 34). Grenzüberschreitung und Gestaltung sind, wie Karl anmerkt, konstitutive Elemente des theatralen Gestaltens (siehe auch Schechner 1990; Fischer-Lichte 2001: 347-349; Turner 1989). Karl misst deshalb dem Theater eine ausgeprägte Relevanz für Prozesse des gesellschaftlichen Wandels bei. Turner spricht in diesem Zusammenhang von einem Schwellenzustand, der sogenannten »Liminalität«: »Die Eigenschaften des Schwellenzustandes (der Liminalität) oder von Schwellenpersonen sind notwendigerweise unbestimmt […]. Schwellenwesen sind weder hier noch da; sie sind weder das eine noch das andere, sondern befinden sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem zeremonial fixierten Positionen.« (Turner 1989: 95)

Liminalität kann in ambivalenter Weise Möglichkeiten eröffnen, sie kann aber auch extrem verunsichernd sein und damit persönlichen und gesellschaftlichen Wachstum beschränken. Performance-Kunst, so Erika Fischer-Lichte, zielt auf die »Kunst der Grenzüberschreitung«, das »Zwischen« avanciere zu einer bevorzugten Kategorie. »Wenn Gegensätze zusammenfallen, das eine auch zugleich das andere sein kann, dann richtet sich die Aufmerksamkeit auf den Übergang von einem Zustand in den anderen. Es öffnet sich der Raum zwischen den Gegensätzen, der Zwischenraum.« (Fischer-Lichte 2004: 356) Diese Anerkennung in der künstlerischen Darstellung der Liminalität ist für die Auseinandersetzung mit Prozessen des sozialen Wandels äußerst hilfreich. Die Schwellenwesen sind

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begriffen in einem Moment der Veränderung, in dem ihr Weder-hier-noch-daSein eines besonderen Schutzraumes bedarf, eines Schutzraumes, der ihr Dazwischensein erlaubt. Diesen Zustand der Schwellenwesen möchte ich mit dem Begriff »Zu-Schauspieler« (Boal 1992: 24) festhalten, mit dem im Forumtheater jene Zuschauer beschrieben werden, die die Möglichkeit haben, selbst zu schauspielern. Zu-Schauspieler konstituieren in dieser Forschung die Figuren, die den Prozess der Bewusstwerdung, der Wissensgenerierung durch ihre Erfahrung ermöglichen. Ein Zuschauer tritt dabei auf die Bühne und erscheint dort als Schauspieler in einer Situation, in der er handelt, agiert, improvisiert. Diese Improvisation erlaubt es, Möglichkeiten zu erfassen oder, wie ich es anders sagen möchte, konstituiert eine Aktualisierung des Virtuellen in einer spezifischen Situation, welche Auskunft über die gesellschaftliche Realität gibt. Der Begriff des »Dazwischenseins« verweist auf eine Grenzfläche. Obwohl er eine Bewegung vom einen zum anderen ausdrückt, bedeutet ein Dazwischensein doch keine eindeutige Verortung auf der einen oder anderen Seite. Es ist mehr ein Hin-und-her-Wandeln. Minimiere ich diese Oszillation des Hin und Her ins Unendliche, so gelange ich zu einem Punkt. Es ist der Punkt, der einer Entscheidung vorausgeht und den ich mit Innehalten beschreiben möchte. Das Innehalten gibt dem Subjekt einen Status, der nicht durch seine Intention definiert ist, der aber erkennt, was ist − zwischen einer Haltung, die war, und einer, die sein wird. In diesem Sinne möchte ich das Dazwischensein aufgreifen, wobei ich es als Konzept verstehe, das den Zustand nicht räumlich, sondern zeitlich beschreibt. Ich benutze daher die deutschsprachige Entsprechung dafür. Dieses Innehalten werde ich als eine besondere Figur markieren, die ich den »Joker« nenne, und in der ich dieses Prinzip auffangen möchte. Der Joker stellt eine Schlüsselfigur im Prozess des Forumtheaters dar, da durch ihn der ästhetische Raum die besonderen Qualitäten des Forumtheaters erhält. Nach diesen Überlegungen zur Performativität möchte ich auf die Konzeption des hier im Zentrum der Betrachtung stehenden ästhetischen Raumes eingehen, der die Möglichkeiten der Aktualisierung in der Performance strukturiert. Dieser Raum, der durch das Forumtheater aufgespannt wird, wurde zur Friedensbildung im Nachkriegslibanon errichtet. Er war Teil und Ergebnis einer Aktion, die sich mit dem Phänomen des Konfessionalismus im Libanon auseinandergesetzt hat.

II.4 Der ästhetische Raum des Forumtheaters

Die Erkenntnisse dieser Arbeit beruhen auf der Anwendung und Analyse einer interaktiven Theatermethode im Nachkriegskontext des Libanons. Der dabei durchgeführte Prozess beruhte darauf, dass die Teilnehmer zu »Schwellenwesen« wurden und dass immer wieder innegehalten wurde, damit Haltungen beobachtet, beschrieben und reflektiert werden konnten und Bewusstwerdungsprozesse stattfanden. Daraus erschließt sich, warum hinsichtlich der ereigneten Darstellungen eine gewisse Diskretion angebracht ist. Ich legte daher den Schwerpunkt auf die Untersuchung der öffentlichen Darstellungen, um diese dem wissenschaftlichen Sezier- und Repräsentierverfahren zu unterziehen. Dieses Material ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit, die sich in ihrem Vorgehen am Forumtheater als einer Methode zur Diskussion sozialer Problemfelder mittels theatralischer Darstellung orientiert. Im Folgenden möchte ich deshalb die Methodik des Forumtheaters darstellen und die ihr zugrunde liegenden Annahmen und Theorien erläutern, wobei ich ein besonderes Augenmerk auf den ästhetischen Raum lege und dessen Qualität für die Wissensgenerierung aufzeige. Dabei ist es wichtig, festzuhalten, dass mein erster Zugang zu dieser Methode ein praktischer war. Praktisch heißt in diesem Fall, dass ich diese Methode in verschiedenen Workshops erlernt und sie später selbst mit einer Theatergruppe in Berlin angewendet habe.1 Das Forumtheater, auf das ich mich beziehe, ist eine interaktive, partizipative Theatermethode mit dem Ziel, einen sozialen Wandel herbeizuführen. Sie wurde maßgeblich von Augusto Boal in Rio de Janeiro entwickelt und hat sich in dieser Form inzwischen weltweit verbreitet.2 Aus der Praxis zu kommen, heißt für mich, dass ich die theoretischen Texte zum Forumtheater erst im Nachhinein gelesen habe und dass es mir nicht darum geht, Widersprüche o.Ä. in den Texten Boals nachzuzeichnen. Meiner Anschauung liegen nicht die Texte, sondern die Techniken, Übungen und Redeweisen zugrunde, 1 | In Form von Auftritten mit der Forumtheatergruppe RAAbenschwarz, Berlin, und im Rahmen von Veranstaltungen mit sabisa – performing change e.V. 2 | Siehe: www.theatreoftheoppressed.org und www.formaat.org (jeweils zuletzt aufgerufen: 19.12.2011).

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die ich von Augusto Boal und seiner Kollegin Barbara Santos in Seminaren und Workshops kennen gelernt habe, und die mich, so wie ich sie erfahren, verstanden und verinnerlicht habe, überzeugten.3 Für die vorliegende Darstellung ist eine theoretische Auseinandersetzung mit Boals Technik jedoch hilfreich, da sie dazu beiträgt, die durch diesen Text nicht erfahrbare Praxis präsent zu machen.

II.4.1 F ORUMTHE ATER : U RSPRÜNGE , V ERL AUF UND W EITERENT WICKLUNGEN Forumtheater nennt man allgemein all jene theatralischen Darstellungen, bei denen ein Stück aufgeführt und das Publikum (ein Forum) aufgefordert wird, im Stück auf der Bühne zu intervenieren. Innerhalb dieses Definitionsrahmens gibt es eine Vielzahl an Variationen. Das Forumtheater, auf das ich mich beziehe, erfüllt jedoch noch eine ganze Reihe weiterer Kriterien und basiert auf einer konkreten Vorgehensweise, die von der Entwicklung der Szene bis zur abschließenden Diskussion im Forum reicht. Diese wurde maßgeblich von Boal in dessen »Center of the Theatre of the Oppressed« in Rio de Janeiro, Brasilien, entwickelt und stellt eine Theatermethode aus dem Arsenal des »Theatre of the Oppressed« (TO) dar. Das TO steht für verschiedene Techniken, die darauf abzielen, Menschen zunächst in der theatralischen Darstellung und im Folgenden innerhalb ihres eigenen Lebens zu Protagonisten zu machen. Diese Techniken4 sind von Paolo Freire und dessen »Pädagogik der Unterdrückten« (Freire 1973) inspiriert, was durch den Namen »Theater der Unterdrückten« deutlich wird.5 Es handelt sich dabei um Techniken, die ausgesprochen konfliktorientiert sind (Boal 2000: 16) und den Anspruch erheben, soziale Wirklichkeiten zu verändern oder deren Veränderung zu ermöglichen. Das Forumtheater kann als Grundform weiterer Entwicklungen des »Theaters der Unterdrückten« angesehen werden, in ihm wurden die wesentlichen Prinzipien des »Theaters der Unterdrückten« realisiert. Seine Grundzüge hat Boal in den 1970er Jahren entwickelt. Boal beschreibt den 3 | Das macht eine entsprechende Zitierweise insofern schwierig, als für mich nicht die Veröffentlichung einer Aussage meine Ausführungen belegt, sondern meine Erfahrung durch die Übungen in Workshops und Seminaren. 4 | Die Techniken des TO umfassen neben dem Forumtheater noch das Unsichtbare Theater, das Bilder- oder Statuentheater (»image theater«), das Zeitungstheater, das Legislative Theater sowie das Theater der »Regenbogen der Wünsche« (mit der Haupttechnik: »Polizisten im Kopf«). 5 | THORAU (1982) analysiert das »Theater der Unterdrückten« als eine Synthese aus FREI RES Pädagogik der Unterdrückten, aus Techniken des Psychodramas nach Moreno und der Theaterideologie von Brecht. Dies sind die Personen, auf die sich Boal in seinen Schriften explizit bezieht.

II.4 Der ästhetische Raum des Forumtheaters

Anlass, ein Forumtheater zu entwickeln, mit Worten, die ich im Folgenden in ganzer Länge wiedergeben möchte, um Boals Art ein wenig zu verdeutlichen: »It came from an experience in northeast Brazil when we did a play that ends with our telling people to fight for their freedom, to give their blood. After, someone, Virgilio, came up to us and said, ›Ok, if you think like that, come with us and let’s fight the government.‹ We had to answer that our rifles were false. ›Ok‹, he answered, ›since the rifles are fakes, let’s chuck them. But you people aren’t fakes, you’re genuine; I saw you singing about how blood must be spilt, I was there. You are genuine, so come with us, we have guns enough for everyone.‹ Our fear turned into panic. Because it was difficult to explain – both to Virgilio and to ourselves – how we could be sincere and genuine and true even though our guns wouldn’t fire and we didn’t know how to shoot. We explained to ourselves as best we could. If we agreed to go with them, we would be more of a hindrance than a help […]. ›So, when you true artists talk of the blood that must be spilt, this blood you sing about spilling – it’s our blood you mean, not yours, isn’t that so?‹, ›We are true to the cause, absolutely, but we are true artists not true peasants! Virgilio, come back, let’s talk about it […]. Come back.‹ I never saw him again. We were ashamed to have to say that. From that point on, and never again, have I incited audience to do things that I would not do myself.« (Boal 2002) 6

Von diesem Moment an präsentierte Boal in seinen Theaterstücken keine Lösungen mehr. Er entwickelte die »Simultane Dramaturgie«, bei der die Zuschauer nach der dargestellten Szene Lösungsvorschläge formulierten, welche dann von den Schauspielern improvisiert wurden. »During the years we did simultaneous playwriting7 we kept the power ourselves. We said, ›We are going to do what you want‹, but always we did it, not them. So unconsciously, perhaps I had some resistance.« (Boal, zit.n. Schechner/Taussig 1990: 57) Somit begannen die Zuschauer, verbal an der Darstellung beteiligt zu sein. Die Grenze zwischen Auditorium und Bühne blieb aber zunächst noch aufrechterhalten. Dies änderte sich nach einem weiteren Ereignis, welches Boal dann zu jener Theaterform führte, die er »Forumtheater« nennt. »The real beginning was when I was doing what I called simultaneous playwriting [1973 in Chaclacayo, Peru; Anm. H.R.] using people’s real experiences. In one of these a women told us, what the protagonist should do. We tried her suggestions over and over again but she was never satisfied with our interpretation. So I said, ›Come onto the stage to show us what to do because we cannot interpret your thoughts‹. By doing what she did we understood the 6 | Vortrag in Halle auf der Fachtagung »Forumtheater«, am 18. Oktober 2002, organisiert von: Domino, TheaterDialog, Halle. 7 | Zu Deutsch: »Simultane Dramaturgie«. D.h., ein Theaterstück wurde bis zu einer Krise gespielt und dann wurde das Publikum danach gefragt, was nach dessen Meinung nun passieren solle. Die geäußerten Ideen wurden anschließend von den Schauspielern nachgespielt.

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Frieden stif ten durch Theater enormous difference between our interpreting and her own words and action.« (Boal, zit.n. Schechner/Taussig 1990: 56)

Danach hörte Boal auf, Theaterstücke zu inszenieren, die versuchten die Lösungen anderer darzustellen. Vielmehr fing er an, Stücke nur noch bis zu ihrer Krise darzustellen und dann das Publikum selbst aufzufordern, sich einzumischen, eine Rolle einzunehmen und das Stück zu einem anderen Ende zu bringen. Das ist das Grundprinzip des Forumtheaters: Dem Publikum wird mit dem Stück eine Frage gestellt, die es durch seine Intervention auf der Bühne beantworten soll. Aus diesem Grunde spricht Boal auch nicht von Zuschauern. Vielmehr hat er den oben bereits erwähnten Begriff des »spect-actors« eingeführt: des »ZuSchauspielers«. Boal möchte damit verdeutlichen, dass Zuschauer nicht nur Zuschauer sind, sondern dass die Aufführung erst durch die Intervention des Publikums auf der Bühne vervollständigt wird. Die Frage, die mittels des Stückes an das Publikum, das Forum, gestellt wird und die von den Zu-Schauspielern beantwortet werden soll, lautet: Wie kann der Protagonist in dieser Situation handeln, um den dargestellten Konflikt zu einem anderen Ende zu bringen? Die daraufhin entstehenden Handlungsideen sollen dann durch Interventionen dargestellt und gleichsam ausprobiert werden. Anschließend wird mit dem Forum das Dargestellte diskutiert, wobei es u.a. um die Frage der Realisierbarkeit geht. Letzteres macht diese Vorgehensweise als Forschungsmethode so interessant, da das Dargestellte durch die Diskussion einen gewissen Verallgemeinerungsgrad erfährt. Forumtheater ist zunächst einmal Theater, Es besitzt dementsprechend ein Skript, in dem die Charaktere klar zu erkennen sind, eine Inszenierung und eine Dramaturgie (Boal 1992: 18-19). Boal betont die Notwendigkeit, dass die Figuren zum einen nicht nur sprechen, sondern Dinge tun, sich bewegen, agieren, und dass sich zum anderen eine »Evolution« der Figuren abspielt, so dass deren Wandlung durch den konfliktreichen Prozess im Stück nachzuvollziehen ist (Boal 1992/2001: 19). Die vier wesentlichen Charakteristika des Forumtheaters sind folgende: Erstens arbeitet das Forumtheater mit Laienschauspielern; es ist dabei getragen von der Grundannahme, dass Laien genauso authentisch sein können wie professionelle Schauspieler. Zweitens, diese Authentizität wird dadurch erreicht, dass die Laienschauspieler erlebte Geschichten vorführen. Die Geschichten stellen Erlebnisse dar, in denen die Erzähler persönlich das Gefühl einer Unterdrückung erfahren haben. Es sind Situationen, in denen ihre Wünsche (»desires«) nicht identifiziert, nicht ausgedrückt werden konnten und in denen sie sich als handlungsunfähig erlebt haben bzw. sie nicht wussten, wie sie anders handeln sollten, damit die Situation gewandelt und erträglicher würde. Drittens, die entwickelte theatralische Darstellung wird in einem Forum aufgeführt, d.h., die Geschichte wird bis zu einem bestimmten Punkt, einer Krise dargestellt, danach wird das Publikum aufgefordert, zu intervenieren und andere

II.4 Der ästhetische Raum des Forumtheaters

Szenarien darzustellen, durch die die Krise transformiert wird. Ein zentrales Ziel des Forumtheaters ist es, dass Zuschauer und Schauspieler Ideen für alternative Handlungsmöglichkeiten entwickeln und diese praktisch ausprobieren können. Diese zweifache Rolle kommt in Boals Begriff des »spect-actors« zum Ausdruck. Dabei geht Boal davon aus, dass die »spect-actors« durch den Prozess des Forumtheaters ermächtigt werden, nicht nur auf der Bühne andere Handlungsmöglichkeiten zu präsentieren, sondern auch im wirklichen Leben anders als gewohnt zu handeln (Boal 1989: 68-69). Viertens wird der Prozess mit Hilfe einer »intermediären« Figur, dem sogenannten Joker moderiert. Der Joker besetzt den Raum zwischen Auditorium und Bühne. Er führt in das Forumtheater ein, animiert das Publikum, auf die Bühne zu treten und initiiert die Diskussion nach jeder Intervention. Der Joker ermutigt zu verschiedenen Interpretationen der erfolgten Interventionen und moderiert deren Diskussion innerhalb des Publikums. Die Diskussion im Forum verdeutlicht die Tatsache, dass nicht ein persönliches Problem im Mittelpunkt steht, sondern die generelle Relevanz des Problems für die soziale Gemeinschaft (siehe die Theorie der »analogical induction«, Boal 2000: 45-47). In den letzten Jahren hat sich das »Theater der Unterdrückten« weiterentwickelt und es umfasst inzwischen ein ganzes Arsenal an Praktiken. Während seines Exils in Paris und durch seine Workshops in Europa ist Boal deutlich geworden, dass die Menschen dort an anderen Unterdrückungen leiden, als die Menschen in Brasilien. Im Brasilien der 1970er Jahre waren die Ursachen der repressiven ökonomischen und politischen Bedingungen offensichtlich und konnten an der politischen Elite des Landes festgemacht werden. Zensur, Gewalt und Gefängnis musste Boal selbst, am eigenen Leib erfahren, was ihn auch 1977 ins Exil nach Paris führte. Die Unterdrückungen dort schienen eher anderer Natur zu sein, und dennoch gleich erdrückend. Teilnehmer an seinen Workshops und seines 1979 in Paris gegründeten »Centre of Theatre of The Oppressed« nannten tendenziell innerliche Unterdrückungen, wie »Isolation« oder »Einsamkeit«. »When I started working in Europe in the mid-70s many people said their oppression was ›non-communication‹, ›loneliness‹, ›emptiness‹ etc. At first I did not understand – I was used to social and political oppression: police, the boss, unemployment, and so on. Then I found out that in countries like Sweden and Finland, where the main social problems have been solved – like education, social security, minimum wages, housing – the suicide rate is much higher than in Brazil where people die of starvation or from being murdered by the police. If a person prefers to die she must be suffering terribly. The oppression is different but death is just as final. So I started about internal oppression. I discovered the cops in the heads – knowing that the headquarters are outside.« (Boal 1990: 44)

Boal verortet den Ursprung auch dieser, eher innerlichen Unterdrückungen im Äußeren, in der Gesellschaft. Die inneren Stimmen, die für diese Unterdrückungen verantwortlich sind, nennt Boal »Polizisten im Kopf«, für deren Identifika-

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tion er eine eigene Technik entwickelt hat (Boal 2000: 136-137). Dieses Beispiel der Weiterentwicklung verdeutlicht einen Wesenszug der Techniken Boals: Diese Techniken stellen kein statisches Verfahrensrepertoire dar, sondern sie verfolgen bestimmte Prinzipien, anhand derer sich Boals Arsenal ständig weiterentwickelt. Dies mag ein Grund dafür sein, warum diese Techniken eine weltweite Verbreitung gefunden haben − sie lassen sich leicht variieren und an verschiedene Ausgangssituationen und Kontexte anpassen.

II.4.2 D ER ÄSTHE TISCHE R AUM DES F ORUMTHE ATERS UND DER J OKER »The essence of Forum lies in the dialogic relationship between stage and audience constructed through the use of the space, the performance style, and the conduct of the actors and the Joker. The theatrical goal is to achieve a common purpose with the audience, as solutions are sought and rehearsed in a shared, safe space.« (Heritage 1994: 30)

Im Folgenden beginne ich mit den Kategorien aus Boals Konzeption und erweitere sie gemäß Boals Verständnis einer ständigen, anwendungsorientierten Veränderung so, dass sie für die Erforschung von gesellschaftlichen Nachkriegsstrukturen im Libanon sinnhaft erscheinen.

II.4.2.1 Die räumliche Abtrennung in Sehen und Gesehenwerden Theater (griech. »theatron«, wörtl. »Ort des Sehens«) und Theorie (griech. »theoria«, »etwas ansehen«, »das Gesehene«) beginnen beide im Moment des Beobachtens. Die Fähigkeit, sich selbst zu betrachten, stellt sowohl den Ursprung des Theaters als auch des Theoretisierens dar.8 Das Theater als Gebäude und seine Räumlichkeiten intensivieren den Prozess des Sehens, da sie einen bestimmten Ort für die Zuschauenden sowie einen für die »Angeschauten«, die Darstellenden, ausweisen. Boal macht jedoch deutlich, dass Theater nicht erst durch die Darstellung in einem Theatergebäude zustande kommt. »We simply decide that ›here‹ is ›the stage‹ and the rest of the room, or the rest of whatever space is being used, is ›the auditorium‹: a smaller space within a larger space. The interpenetration of these two spaces is the aesthetic space.« (Boal 2000: 18; Hervorhebung im Original) Ein »ästhetischer Raum« wird durch die Trennung der »Schauenden« von 8 | »Theatre is born when the human being discovers that it can observe; when it discovers that, in this act of seeing, it can see itself – see itself in situ: see itself seeing.« (Boal 2000: 13)

II.4 Der ästhetische Raum des Forumtheaters

den »Angeschauten« geschaffen. Er entfaltet sich durch die Aufteilung in: Bühne, Schauplatz für die Darsteller und Auditorium, dem Platz für die Zuschauer. Diese Trennung ist im klassischen Theater durch eine deutliche Grenze – meist mittels Verlagerung des Bühnenbodens auf eine höhere Ebene, durch einen Vorhang und durch die Bestuhlung – markiert. Die klare Rollenzuweisung Schauspieler – Publikum verstärkt die Aufteilung. Bei Boal hingegen sind diese Rollen nicht fixiert. Auch wird die Grenze zwischen Auditorium und Bühne bewusst aufgeweicht, um den Übergang von der Rolle des Zuschauenden zu der des Darstellenden zu erleichtern. Dennoch existiert ein bestimmter Ort, ein Platz, der betrachtet wird und sich dadurch als Bühne herauskristallisiert (Boal 2000: 19). Boal benutzt für diesen ästhetischen Ort, an dem die beiden Handlungsorte einander durchdringen, den Begriff des »ästhetischen Raumes«, womit er die Betonung auf das sinnlich Wahrzunehmende, das nicht verbal Beschreibbare dieses Ortes legt. 9

II.4.2.2 Intensiviertes Sehen und die Zu-Schauspieler Die Fähigkeit, sich selbst zu sehen und darüber zu reflektieren, bildet nicht nur den Ursprung des Theaters, sondern auch die Grundlage für seine Veränderung. Boal sieht die Fähigkeit der Veränderung in der Fähigkeit zur Theatralität: Menschen können sich selbst beobachten, sich selbst reflektieren und eine Distanz zu ihren eigenen Handlungen aufbauen (Boal 1990: 30-40). Dazu ist es aber wichtig, dass sie ihre eigenen Handlungen sehen und erleben, und nicht nur darüber sprechen. Hierin weisen Boals Theatertheorien Gemeinsamkeiten zu Goffmans Gesellschaftstheorie auf, da beide den Menschen als wandlungsfähig betrachten und anerkennen, dass »das gesprochene Wort in der Interaktion zwar wichtig, aber nicht immer ausschlaggebend ist« (Wiegand 1999: 29). Damit beziehen sich Boal und Goffman nicht allein auf die Körpersprache, sondern auch auf andere Dinge wie Kleidung, Rituale, Insignien und Requisiten innerhalb der Interaktion sowie auf den Realraum − die Bühne −, welcher für beide ein relevanter Gestalter ist. Die Darstellung innerhalb eines ästhetischen Raumes ermöglicht es nach Boal, wesentliche Dinge der eigenen Handlung wahrzunehmen, zu sehen und damit auch zu verändern. Das verlangt aber eine Art und Weise des Sehens, welche das Einzelschicksal in den Kontext der Gesellschaft stellt. Die menschliche Fähigkeit, sich selbst im Kontext der Gesellschaft zu sehen, ist für Boal eine Voraussetzung für die Veränderung seiner selbst und der Gesellschaft.

9 | Wobei das Sehen nur eine, wenn auch sehr wichtige, sinnliche Fähigkeit sei: » Aesthetic« steht im Griechischen ursprünglich für »of or pertaining to things perceptible by the senses« (Boal 2000: 18).

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Frieden stif ten durch Theater »If there is a basic tenet to Boal’s theories, it is the primacy of self-observation and criticism – the ›dichotomic‹ qualities that allow human being to be simultaneously an agent and an object. To engage in Boal’s ›therapy‹ is to become situated in a space between the individual and the socialized category of all such individuals – that is, between the self as a women and the social category of Women, between the self as peasant and the Proletariat, between the self as black and Blacks. Both individual, concrete experience and collective cultural knowledge are forced to interplay.« (Schutzman 1994: 152)

Dieser Prozess ist nur möglich, wenn die »spect-actors« die spezielle Situation, die durch das Stück dargestellt wird, in der Art betrachten, dass sie in ihr etwas sie selbst unmittelbar Betreffendes entdecken und sie sich weder passiv den dargestellten Emotionen hingeben noch einen voyeuristischen, selbstdistanzierenden Blick einnehmen. Eine gelungene Darstellung ermöglicht diesen aktiven Blick und erleichtert die Haltung als »spect-actor«. Diesen Blick kennzeichnet Boal als sympathischen Blick. Boal stellt »sympathisches« Zuschauen einem »empathischen« gegenüber. Letzteres repräsentiert für ihn ein Zuschauen, bei dem der Zuschauer sich selbst distanziert, sich insbesondere von seinen Gefühlen distanziert, da die Gefühle der dargestellten Figur den Zuschauer penetrieren und der Zuschauer vollkommen darin aufgeht (Boal 2000: 42). Sympathisches (»sym« = »mit«, »pathos« = »Gefühl«) Zuschauen hingegen ist ein Sich-selbst-Zuschauen. Der Zuschauer projiziert seine Gefühle auf die dargestellte Figur und macht die erlebte Situation zu seiner eigenen. Dies verlangt einen aktiven Prozess des »spect-actors«, der es ihm ermöglicht, andere Handlungsweisen als die dargestellte zu präsentieren und in die Situation einzugreifen. Die Gruppendynamik des Miteinanderagierens eröffnet schließlich Perspektiven und Handlungsweisen, die möglicherweise die Unterdrückungssituation transformieren. »If an individual farewell image or scene prompts other analogous images or scenes from colleagues in the session, and if one builds a model detached from the particular circumstances of each individual case using these images, such a model will contain the general mechanisms through which oppression is produced. This revelation of the general mechanisms of oppression will enable us to study the different possibilities for breaking the oppression sym-pathetically.« (Boal 1990: 41)

In der Intervention agiert der »spect-actor« als eine Figur innerhalb der geschaffenen Realität des ästhetischen Raumes. Die Handlung dieser Figur wird anschließend diskutiert. Dabei wird nicht die Handlung der tatsächlichen Person im Realraum, sondern die Handlung der Figur im ästhetischen Raum reflektiert. Um diese Trennung deutlich zu machen, bekommt der ehemalige Zuschauer, der im Stück interveniert, einen Teil des Kostüms der Bühnenfigur angezogen und wird in der Diskussion vom Darstellenden immer in der dritten Person gesprochen – so dass er auch selbst über sich als Darsteller als »er/sie« sprechen kann. Trotz der Unterscheidung zwischen der Figur und der Person macht es das Betrachten

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der Handlung der Figur möglich, sich selbst zuzusehen, zu reflektieren und damit die Unterdrückungssituation im Leben anders zu begreifen (Boal 1990: 42). Das ist einerseits durch die Übertragungsleistung des sympathischen Sehens möglich. Andererseits aber besteht eine Beziehung zwischen der Person bzw. der Persönlichkeit des Schauspielers und der dargestellten Figur. Boal unterscheidet hier zwischen den Konzepten Person (»person«), Persönlichkeit (»personality«) und Figur10 (»personnage«), Maske (»mask«). Die Person steht für das mögliche Potential. Jede Person ist unendlich reich an psychologischen und intellektuellen Fähigkeiten und Potentialen. All diese Möglichkeiten werden nach Boal auf Grund der Arbeits- und Bildungssituation und des allgemeinen sozialen Lebens nur teilweise genutzt. Dadurch formt sich – sowohl freiwillig als auch durch Zwang – die individuelle Persönlichkeit, die auf Grund moralischer und ethischer Wertvorstellungen nur bestimmte Handlungen und Gefühle ihrer Person auslebt. Die Persönlichkeit ist durch konkrete Handlungen entstanden: »If the person is the ›I can do it‹, the personality is the ›I do it‹.« (Boal 1990: 40) Die Person, viel reicher als die Persönlichkeit, ist im Alltag nicht präsent. Die Figur hingegen »is ›the other‹. It is the other echoing within ourselves. If the character exists within ourselves, we can play it even if it is completely different from our personality. On the other hand we can not play a character which does not exist in us.« (Boal 1990: 40) Um eine Figur spielen zu können, müssen wir Teile unserer Person einsetzen, die nicht mit unserer Persönlichkeit übereinstimmen. Das ermöglicht es uns, Gefühle und Handlungen zu aktivieren, die wir aus pragmatischen, ethischen, moralischen oder sonstigen Gründen nicht umsetzen. Die Figur aber ist keine Maske, d.h., sie ist nicht statisch. Schließlich geht es im Theater um einen dynamischen Prozess und nicht um ein ausdrucksstarkes, unbewegtes Bild: »[Theatre] is a verb, not an adjective.« (Boal 1992: 51) In der Figur gibt es verschiedene Bedürfnisse, Wünsche und Wertvorstellungen, die miteinander und mit den anderen Figuren im Konflikt stehen (Boal 1992: 50-52). 11 Im Gegensatz dazu steht die Maske, die unverändert und statisch ist. Sie ist »the death of the personality. It is the mechanization and the hardening of the personality. It is the absence of creativity. It is death.« (Boal 1990: 40) Figuren können somit eine Maske tragen. Aber auch eine Persönlichkeit, die sich nicht mehr verändert, die nicht mehr wächst und stets in ihren hergebrachten Mechanismen gefangen bleibt, kann zu einer Maske werden. Boal hat das Verhältnis von Person, Persönlichkeit und Figur folgendermaßen visualisiert:

10 | Griechisch: »persona«. 11 | B OAL spricht von »will«, »counter will« und dem aus diesem Konflikt resultierenden »dominant will«, der mit den anderen dominanten Wünschen der weiteren Figuren im Konflikt steht. Die konfligierenden Ideen müssen sich durch den Kontext in einem Wunsch (»desire«) nach etwas ganz Bestimmtem und in einer konkreten Handlung der Figuren materialisieren, um darstellbar und damit sichtbar zu werden (Boal 1992: 51-59).

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Abbildung 5: What is an Actor? (Boal 2000: 33)

Dieses Bild gilt nicht nur für Schauspieler im klassischen Sinne, sondern für jeden Menschen, der in dem Moment zum Schauspieler wird, in dem er sich selbst betrachtet. Das Theater – das intensivierte Sich-selbst-Beobachten und -Sehen – ist wie das Erhitzen eines Kochkessels, aus dem die vergrabenen, von der Persönlichkeit nicht verwendeten Teile des Selbst herausdampfen. Die Persönlichkeit eines jeden ist nichts Festes, Unveränderliches. Sie kann sich wandeln, kann Mechanismen loslassen, verändern, erneuern, andere Teile ihrer Person aufnehmen, wahrnehmen und integrieren.12

II.4.2.3 Qualitäten des ästhetischen Raumes Um sichtbar zu werden, müssen spezielle Aspekte innerhalb der Figur betont werden, durch die bestimmte Konfliktlinien innerhalb ihrer selbst und mit den anderen Figuren deutlich zum Ausdruck kommen. Hier kommt der Begriff des »Wunsches« ins Spiel, der die treibende Kraft für die Handlung ist. Allerdings vollzieht sich diese Handlung in einem Spannungsfeld, das durch den Willen (»will«) und den Gegenwillen (»counter will«) bereits innerhalb der Person entsteht (Boal 1992: 51-52). Hier ist nochmals auf Lewin zu verweisen, der sein Spannungsfeld auch subjektiv verstanden wissen will. Den12 | »Our personality is what it is, but it is also what it is becoming. If we are fatalists, then there is nothing to be done; but if we are not, we can try.« (Boal 2000: 39)

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noch geht es Boal wie auch Lewin darum, die zugrunde liegenden Kräfte zu verbildlichen, sie zu »verobjektivieren«, um sich erkennbar, sichtbar zu machen. Nach Boal wird dadurch der ästhetische Raum ermöglicht und kreiert. Dieser verlangt nach einer Präzision der körperlichen Statuen und Bilder (»images«), durch die gesprochen wird. Diese Bilder stellen eine eigene Sprache dar, die nicht einfach übersetzt werden kann. »Frequently, the participants insist on the signification of each image. This means that they are calling for the translation of an image (which belongs to a particular language, the language of images) into another language, the language of idiom, verbal language. But it should be noted that images do not translate – no more than the opening chords of Beethoven’s Fifth can be translated as destiny knocks at the door, as someone has already attempted to do, in a 500-page book.« (Boal 2000: 43; Hervorhebung im Original)

Die Kommunikation zwischen Darstellern und Publikum findet körperlich statt. Was gesehen, erlebt und sinnlich erfasst wird, lässt sich nicht auf den verbalen Austausch beschränken. Daher ist die Intervention des Publikums auch so wichtig − es geht Boal um die körperliche Interaktion und nicht nur um das gesprochene Wort. 13 Der ästhetische Raum verlangt und ermöglicht die Betonung des sinnlich Wahrnehmbaren, der körperlichen Interaktion, durch die gesprochen wird. Der ästhetische Raum ist von besonderer Qualität. Er ist erstens plastisch, in dem Sinne, dass »[t]ime and space can be condensed or stretched at will, and the same flexibility operates with people and objects, which can coalesce or dissolve, divide or multiple« (Boal 2000: 20). Eine Figur kann zu mehreren Personen werden, sie kann im Schauspiel zuerst zur alten Frau werden, dann zum jungen Mädchen; eine Bierkiste kann ein Stuhl sein oder ein Motorrad werden, draußen im Wald stehen oder in einer Garage. Der ästhetische Raum knüpft an die Imagination und die Erinnerungen an, die bei den Zuschauern durch die sinnlichen Eindrücke von Bühne und Darstellenden entstehen (Boal bezeichnet dies als »affective dimension«). Zugleich erlaubt es der ästhetische Raum dem Zuschauer, sich ganz und gar davon zu lösen und in seinen Träumen und Projektionen zu versinken (»oneiric space«) (Boal 2000: 22). Ein weiteres Merkmal ist die Dichotomie oder das »Dichotomisieren«. Es entspringt der Tatsache, dass zwei verschiedene Räume denselben Raum einnehmen. Einmal existiert der Raum der Darstellung, das Theater, worin es einen Platz für Zuschauer und einen für die Darsteller gibt. Dann aber existiert der dargestellte Raum, der ein Zimmer oder ein Schloss sein kann, ein Straßenbahnabteil oder eine Waldlichtung. Menschen und Gegenstände befinden sich gleichzeitig in diesen beiden Räumen. 13 | Eine rein verbale Diskussion nennt er »Radio-Forum«, in dem nur gehört, aber nicht gesehen werden kann (Boal 1992: xxiv).

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Frieden stif ten durch Theater »The aesthetic space is dichotomic and creates dichotomy, and all those who penetrate it become dichotomic there. On stage the actor is who he is and who he seems to be […]. Being in a space which creates dichotomy, the aesthetic space dichotomises the spectators: we are here, seated in this very room, and at the same time we are in the castle of Elsinore.« (Boal 2000: 23)

Durch diese Qualität wird das Vorgestellte real erlebbar, denn auch wenn die Situation nur vorgestellt ist, so sind die Handlungen durch das Dichotomisieren des Raumes doch real und damit real erlebbar. Die dritte Qualität des ästhetischen Raumes nennt Boal die »telemikroskopische« Fähigkeit: Durch die Bühne-Auditorium-Trennung wird die Bühne in einen Ort transformiert, an dem alles wie unter einem riesigen Teleskop vergrößert, intensiviert und verstärkt erscheint. Wörter und Gesten werden deutlicher, klarer und damit sichtbarer. Der ästhetische Raum unterstützt durch seine Charakteristik das Beobachten und das Sehen. Seine Qualitäten ermöglichen eine Erweiterung des Wissens: »Theatre is a form of knowledge.« (Boal 2000: 20)

II.4.2.4 Unterdrückendes Terrain vs. Unterdrücker und Unterdrückter Der ästhetische Raum ist kein statischer Raum. Er ist dynamisch, denn Theater ist ein dynamischer Prozess, der durch die verschiedenen Konflikte und deren leidenschaftliche Austragung in Gang gehalten wird. Im Zentrum steht eine Dynamik, eine Bewegung innerhalb eines Konfliktgefüges. Das gilt für jedes Theater. Boal hat nun aber ein besonderes Interesse an asymmetrischen Konflikten, an Konflikten, bei denen einer der beiden Kontrahenten über mehr Ressourcen, mehr Macht, mehr Handlungsmöglichkeiten verfügt als der andere. Daher nennt Boal sein Theater auch »Theater der Unterdrückten«, womit die Situation charakterisiert (als eine unterdrückende) und die Betrachtungsperspektive (die Sicht der Unterdrückten) deutlich gemacht wird. Häufig jedoch lassen sich Konflikte nicht so eindeutig in dieser Zweiteilung beschreiben. Selbst wenn die Asymmetrie der Konfliktkonstellation eine objektive zu sein scheint und man ausschließlich solche, eindeutig asymmetrischen Konflikte in Betracht zieht, ist die feste Einordnung der Figuren als Unterdrücker oder Unterdrückte kontraproduktiv. Einerseits sind oft mehr als nur zwei Personen in verschiedener Weise an der Zuspitzung der Situation beteiligt. So gibt es z.B. den »stillen Beobachter«, der, ohne direkt beteiligt zu sein, mit ansieht, wie Unrecht geschieht. Andererseits ist es häufig so, dass sich der Antagonist selbst in Zwängen gefangen sieht und sich als unterdrückt erlebt. Nehmen wir beispielsweise eine Szene in einer Straßenbahn, bei der ein Obdachloser vom Kontrolleur schlecht behandelt wird. Was ist mit den anderen Fahrgästen? Je nachdem, wie die Szene gespielt wird, können sich diese auch als vom Obdachlosen belästigt/unterdrückt empfinden. Oder vielleicht empfinden sie sich als ohnmächtig, in Widersprüchen verfangen und hoffen insgeheim, nicht anwesend zu sein und nichts gesehen zu haben. Diese Art von

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»Komplizenschaft« macht die Mitanwesenden gleichzeitig zu Tätern und Opfern, Unterdrückern und Unterdrückten. Dies kann auch für den Kontrolleur gelten. Genauso wie der Obdachlose je nach Situation zum Täter/Unterdrücker werden kann. Diese Tatsache veranlasste Mady Schutzman dazu, nicht die Personen mit dem Vokabular Unterdrücker/Unterdrückter zu charakterisieren, sondern den Sachverhalt als ein Attribut des Raumes zu sehen, durch den sich die Situation ereignet. Schutzman bezeichnet dies als »oppressive territory« (Schutzman 1994: 144). 14 Es gelingt ihr damit, von einer notwendigen Zuordnung der Personen zu der einen oder anderen Kategorie abzusehen und nicht nur der schillernden, sich ständig wandelnden Zuordnung Rechnung zu tragen, sondern auch »Weder-Noch«- und »Sowohl-als-auch-Kategorien« zuzulassen. Die Arbeit mit dem Forumtheater in den USA führte Schutzman dahin, »to identify and embody oppressive territory rather than the more dichotomous oppressors and oppressed, and, in so doing, provided a map for dealing with our non-prescriptives, unchosen, social positions, within oppressive territory« (Schutzman 1994: 144-145; Hervorhebung im Original). Der Begriff des »oppressive territory« lenkt den Blick auf den Raum und damit auf die Komplexität der Situation. Infolgedessen ist es den Personen erlaubt, sich starren Rollenverteilungen zu widersetzen. Die Veränderbarkeit der Figuren und ihrer Handlungsweisen wird betont. Es eröffnet sich somit die Möglichkeit, das »oppressive territory« zu transformieren.

II.4.2.5 Der Joker im Zwischenraum Der ästhetische Raum schafft durch Trennung ein Spannungsverhältnis. Er definiert den Ort des Angesehenwerdens und den des Sehens, er schärft das aktive Betrachten durch die Bewegtheit der Grenze: Das Spannungsverhältnis wird dadurch aufrechterhalten, dass die Grenze nicht starr ist, sondern durch das Verwandeln der Zuschauer zu Schauspielern und der Schauspieler zu Zuschauern durchlässig und flexibel ist und immer wieder neu definiert werden muss. Dies wird durch einen archimedischen, unbewegten Aspekt ermöglicht: durch die Figur des Jokers. Während der ästhetische Raum für die Bewegung der Zeiten und Orte steht, so verkörpert der Joker den Moment des Innehaltens. Er präsentiert keine Figur, keine Rolle, sondern er stellt sich selbst dar – ungeachtet der Absicht, sich selbst nicht darzustellen. Er ist real, so wie er ist, genauso wie es die Zuschauer sind. Und dennoch stellt er dar, ist er der Hauptdarsteller, der gleichsam als Erzähler durch den Abend leitet – ohne jemals zu erzählen.

Der Joker, ein Mediator Der Joker ist der Intermediär zwischen Publikum und Schauspielern. Durch ihn verwischt die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum, das Publikum wandelt sich in Zu-Schauspieler. Der Joker führt durch den Prozess, er erklärt die 14 | S CHUTZMAN , in: Schutzman/Cohen-Cruz 1994.

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Regeln und versucht, die Interaktion von Publikum und Schauspielern betrachtenswert zu halten. Das erreicht er dadurch, dass er die Notwendigkeit der Aktion betont und denjenigen den Raum gibt, die für eine Aktion bereit sind. »One of the actors must also exercise the auxiliary function of joker, the wild card, leader of the game. […] Indeed, the effect of the forum is all the more powerful if it is made [by the joker; Anm. H.R.] entirely clear to the audience that if they don’t change the world, no one will change it for them, and everything will inevitably turn out exactly the same – which is the last thing we would want to happen. […] The joker is not the president of a conference, he or she is not the custodian of the truth; the joker’s job is simply to try to ensure that those who know a little more get the chance to explain it, and that those who dare a little, dare a little more, and show what they are capable of.« (Boal 1992: 21)

Der Joker nimmt den Zwischenraum zwischen Bühne und Auditorium ein. Seine Positionierung innerhalb des Geschehens ist sehr wichtig. Denn wenn er sich zu sehr an den Rand begibt, verliert er die Aufmerksamkeit des Publikums und damit auch die Autorität, den Prozess zu leiten. Wenn er sich zu sehr in den Bühnenmittelpunkt stellt, nimmt er den darstellenden Schauspielern und Zuschauern an Licht und gibt seinen Gesten und Worten zu viel Gewicht. Er bewegt sich auf der Bühne und im Auditorium, je nachdem wie sich Darstellung und Diskussion entwickeln. Der Joker ist jene Figur, die die Dichotomie des ästhetischen Raumes verkörpert und die versucht, das Reale des Theaters als ein mögliches Reales in den Lebenswelten der Schauspieler und Zuschauer zu identifizieren.

Der Joker, ein Verallgemeinerer Im Theaterstück wird eine bestimmte Szene dargestellt, eine ganz spezifische Unterdrückungssituation. Damit sich das Publikum aufgefordert fühlt, zu intervenieren, muss es sich mit der Situation identifizieren. Der Joker versucht, durch seine Fragestellungen den Prozess des sympathischen Sehens zu aktivieren und bezweckt damit, alternative Handlungsmöglichkeiten ins Bewusstsein zu rufen, die auch in anderen, ähnlichen (Unterdrückungs-)Situationen denkbar wären. In der Diskussion, die sich der Intervention anschließt, wird nach der Idee gefragt, die diese Intervention getragen hat (»What was the specific contribution of this intervention?«), um diese bewusst und verschiedene Ideen in derselben Handlung erkennbar zu machen. Außerdem wird die Frage nach der Realitätsnähe gestellt. Beides ist darauf angelegt, die Intervention als »rehearsal for reality« (Boal 1992: xxi) zu sehen und eine Übertragung in andere spezifische Kontexte und auf das wirkliche Leben zu erleichtern. Im »Theater der Unterdrückten« bedeutet der Begriff »ascesis« (griech. für »Übung«, »Training«) die Bewegung des Phänomens hin zu einem Gesetz, das alle ähnlichen Phänomene reguliert. Dies wird vom Joker initiiert. Ein Akt der Aggression gegen einen schwarzen Menschen ist beispielsweise ein Phänomen. Als »Rassismus« kann man das Gesetz bezeichnen, welches dieses Phänomen erklärt und welches durch Ascesis zu verstehen

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versucht wird. Der Prozess − vom Phänomen zum Gesetz und wieder zurück, um das Gesetz zu verstehen − wird durch den Joker ermöglicht: »The process of ascesis is one of the tasks of the Joker in a Forum Theatre session and our own task throughout our lives.« (Boal 2000: 26-27)

Der Joker, ein »Erschwerer« Der Joker ist aus Boals Jokersystem heraus entstanden, wobei dieses in seinem historischen Verlauf eine ziemliche Veränderung erfuhr. Das Jokersystem ist eine auf Brecht basierende Darstellungsästhetik, die Boal in seinem Arena-Theater in Sao Paulo von 1956 bis 1971 entwickelt hat. Es war die Antwort auf den damaligen Trend des brasilianischen Theaters, Kunst auf die Nachahmung einer einzigen Realität zu reduzieren, anstatt vielfältigen Interpretationen diverser Realitäten Raum zu geben. Letzteres erreichte Boal durch verschiedene Techniken, z.B. indem er ein und denselben Schauspieler verschiedene Rollen spielen ließ. Boal benutzte zeitliche Verzerrung (es wurden etwa Reaktionen vor Aktionen gezeigt) und räumliches Arrangement (zwei Boxer kämpften beispielsweise in der Distanz gegeneinander), um eine gewisse Verfremdung zu erreichen und damit soziale Falschheit und etwaige Widersprüchlichkeiten in sozialen Rollen und Ritualen deutlich zu machen (Schutzman 1994: 146). Zudem schuf er die Rolle der »Jokerfigur«, die als Erzähler das Publikum direkt ansprechen und gleichzeitig in der Szene mal diese und mal jene Rolle darstellen kann. Obwohl keine der Boal’schen Techniken (auch nicht der Joker im Forumtheater) das Jokersystem inkorporiert hat, spiegelt sich doch der Ansatz der »multiplen Perspektiven«, also der »Vielzahl der Wahrnehmungen und Sichtweisen«, in allen Techniken Boals wider.15 »In forum theatre, the joker sets up the rules of the event for the audience, facilitates the spectators replacement of the protagonist, and sums up the essence of each solution proposed in the interventions. The term derives from the joker (or wild card) in a deck of playing cards: just as the wild card is not tied down to a specific suit or value, neither is the joker tied down to an allegiance to performer, spectator, or any one interpretation of events. Also used as a verb, ›to joke‹. The joker is related but not the same as the joker system.« (Glossar in Schutzman/Cohen-Cruz 1994: 237)

Eine wichtige Aufgabe des Jokers ist es, immer wieder auf die Vielzahl der möglichen Sichtweisen und Interpretationen des Gesehenen hinzuweisen, indem er vielen unterschiedlichen Perspektiven Raum gibt und immer nach alternativen Interpretationen fragt. Daher nennt ihn Boal auch nicht einen »facilitator«, son-

15 | B OALS »Bilder von Bildern«, sein »Kaleidoskopisches Bild« oder auch die »Technik des Rashomon«, bei der jeder Charakter seine eigene Version desselben Ereignisses darstellt, sind nur einige Beispiele hierfür (Schutzman 1994: 149).

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dern einen »difficultator«: Er erschwert eine vereinfachende Sichtweise und betont die Komplexität der Situation (Boal 2000: 58-59).

Der Joker als Verortung: Verbindung zum Ort, dem diskursiven Netz und der gegenwärtigen Zeit Die Positionierung des Jokers in der Mitte zwischen Bühne und Auditorium, in einer Haltung des Fragenden, wodurch das Publikum aufgefordert wird, sich der im Stück formulierten Problematik zu stellen, kreiert einen Moment des Innehaltens; einen Moment, der das Reale im Hier und Jetzt mit anderen Zeiten und Orten verbindet. Hat der Zuschauer keine darstellende Rolle, wie bei klassischen Theateraufführungen, so ist es leicht, ein und dieselbe Darstellung an verschiedenen Orten aufzuführen. Auch hier wird es jeweils Unterschiede geben, das Publikum wird immer anders reagieren und die Aufführung wird eine etwas andere als die vorherige sein, denn jede Darstellung vollendet sich erst durch das Gesehen- und Interpretiertwerden durch die Zuschauer. Jedoch ist dieser Unterschied nicht unmittelbar, nicht direkt, denn es gibt keine Stelle, durch die das vor Ort Gültige von der Bühne aus ins Publikum fließt und wieder zurück. Anders beim Forumtheater: Hier geht es exakt darum, dass die durch das Stück formulierte Fragestellung an den Lebenswelten der Zuschauer ansetzt. Ob die Darstellung und die Interventionen des Publikums überzeugend sind, hängt davon ab, ob das Forumtheater im Kern soziale Lebensprobleme des Publikums anspricht. Denn dann ist dieses wirklich beteiligt und kann in seinen Interventionen aus dem eigenen Erfahrungsrepertoire schöpfen.16 Diese Notwendigkeit der Verortung in den Zuschauerlebenswelten kann durch den Joker verkörpert werden. Sie hat Konsequenzen für die Erstellung des Stückes und für seine Darstellung.

Der Joker als innehaltender Erzähler Während der Aufführung erzählt die Theatergruppe eine Geschichte. Dieser Prozess des Erzählens ist tief verbunden mit der gesamtgesellschaftlichen Situation, denn die Geschichte eines Einzelnen ist eng verwoben mit den Geschichten der anderen und mit der »grande narration«. Gerade in gesellschaftlichen Krisensituationen, in dramatischen Umbrüchen, Katastrophen und Kriegen ist das Geschichtenerzählen den Menschen ein tiefes Bedürfnis. Die chaotische, unvorherbestimmbare und bedrohliche Situation des Krisenalltags drängt sie nach einer Struktur, nach einer Ordnung. Die unverständlichen, komplexen und widersprüchlichen Erfahrungen der Menschen finden leicht in beschönigenden, eingängigen Geschichten ihren Ausdruck. Die Gräuel und Schrecken der spezifischen Ereignisse verlangen nach einer Erzählung, wobei die Erzählform von den gegebenen und bekannten Darstellungsweisen und Geschichten von Gewalt und Zerstörung abhängig ist. Die Erzählmuster, mit denen die Ereignisse aus16 | Dies ist häufig gegeben, wenn die Zuschauer in einer ähnlichen Lage sind wie die Darsteller, z.B. bedingt durch den gleichen Beruf (Wiegand 1999: 52).

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gedrückt werden, helfen einerseits, die Situation zu ertragen. Andererseits sind es aber genau jene Erzählweisen, die die Erhaltung der Konfliktkonstellation nähren. Ein komplexes Muster der Kreation von Erzählungen, der Mythenschreibung und der Wahrheitsbeteuerung bewahrt gerade jene Wahrnehmungs- und Deutungsweisen, die den Konflikt manifestieren. »The use of stories in war is a strategy of those who aim to end conflicts as well those who hope to maintain them – the war-protestors and the warmongers. […] Creating, circulating, and listening to stories in these circumstances is the process of shaping meaning out of the difficult to comprehend (see Nordstrom 1997: 204-212). However, constructing ›meaningful‹ narratives – giving dramatic structure to painful experience of war – can deny as much as it reveals. It can enhance hurt as much as it heals the grief, it can stoke blame and the desire for vengeance as much as it delivers understanding and forgiveness. Because storytelling walks a tight rope between these different possibilities, the form itself must become the subject of enquiry that questions the ethics of social theatre practice.« (Thompson 1994: 151)

James Thompson macht das Potential und die Gefahren sozialer Theateraktionen im Kriegskontext deutlich und plädiert für eine Reflexion nicht nur der dargestellten Inhalte, sondern auch der Form ihrer Präsentation. Der Kriegsalltag durchdringt die Gesellschaft bis tief in die körperliche Konstitution des Einzelnen hinein. Er ist geprägt durch Polarisierung sowie durch die gleichzeitige Homogenisierung der Zuordnungen von Personen und Orten, er verfestigt bestimmte Erzählweisen, Narrationen. In dieser vereinheitlichenden Dynamik muss sich eine Theateraktion bewusst positionieren, um nicht Spielball dieser sich selbst potenzierenden Kräfte zu werden. Dies betrifft einerseits die räumliche Darstellung, den Ort der Präsentation und die präsentierten Körper. Andererseits gilt es für das diskursive Gefüge, wodurch die dargestellten Aussagen und Handlungsweisen in gesamtgesellschaftliche Deutungsschemata eingegliedert werden. Forumtheater stellt in seiner idealen Konzeption eine offene Form der Stückentwicklung und der Darstellungsweise dar. Dementsprechend fließen die polarisierenden und homogenisierenden Mechanismen direkt in diesen Prozess ein. Allerdings ist der Prozess durch seine Form geprägt und getragen von bestimmten Werten und Annahmen, die selber bereits als Angriff auf vereinheitlichende Kräfte gesehen werden können.17 In diesem Format nimmt der Joker die Haltung ein, dass jede der erzählten Geschichten, jede der Deutungen und Interpretationen einen Anspruch auf Gültigkeit erheben könne. Er betont das Recht des Einzelnen auf seine Deutung und seine eigene Geschichte, er stellt keine der Geschichten in Frage. Gleichwohl aber sorgt er dafür, immer auch eine andere Deutung eines Bil17 | THOMPSON hat dies wunderbar anhand einer Übung während eines Theater-Workshops in Sri Lanka demonstriert. Er reflektierte seine Erfahrungen mit BOALS Methoden im sri-lankischen Kriegskontext und beleuchtete die vielfältigen Wirkungsebenen einer sozialen Theateraktion sowie deren Gefahren (Thompson 1994: 154-157).

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des, einer Gestik oder einer Handlung zu hören. Damit stellt er in gewisser Weise die Autorität des Erzählers in Frage. Das mag unter normalen Umständen belanglos sein. In kriegsgeprägten Situationen aber kann dies tief verletzen. »[I]n dismissing that authority [of the teller], it does not take into account that in situations of violent conflict stories are not disembodied discourses adopted or discarded with ease. They are ›deeply ingrained in the practices of everyday life‹ (Kapferer 1988: 34). In dismissing a story you are in danger of attacking the very body of the teller.« (Thompson 1994: 155)

In Umständen, in denen die Erfahrung von Gewalt und Zerstörung das Selbstverständnis der Menschen in Frage stellt, liefern eindeutige, vollständige Geschichten einen Halt. Darauf zu bestehen, dass eine Geschichte wiederum nur ein Teil einer Geschichte ist, dass sie fragmentiert, offen und unvollständig ist, kann vom Erzähler als Angriff auf seine gesamte Konstitution empfunden werden. Diese Irritation entsteht durch die Form, die keiner Geschichte alleinigen Wahrheitsanspruch zugesteht. Gerade in Situationen, in denen bestimmte Geschichten nach Anerkennung und Wahrnehmung dürsten, kann eine Beigesellung anderer oder weiterer Geschichten als Ablehnung gewertet werden. Das Prinzip der Prozessoffenheit erschafft also bereits eine Dynamik. Zusätzlich aber dringen dadurch die äußerlich wirkenden Kräfte mitsamt ihrer Asymmetrien in die Prozessgestaltung ein. Durch die Darstellung eines Stückes wird dieser einen Geschichte besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Vorher ist eine Vielzahl von Entscheidungen gefallen und sind Schwerpunkte gesetzt worden, die leicht das äußere Kräfteverhältnis und die stereotypen Erzählmomente nachahmen. Im Krieg werden Gräueltaten und Kampferfolge trotz ihrer im Grunde genommenen Komplexität schnell in eine glatte Erzählung gegossen, die deren Zirkulation in der öffentlichen Arena ermöglicht, die aber selten dem Spezifischen jedes einzelnen Ereignisses gerecht wird. Jede Partei ist darauf ausgerichtet, möglichst schnell ihre eigene Deutungsweise zu verbreiten, wodurch Handlungen und Aktionen erst Legitimation erfahren. Symbole und Zeichen werden entwickelt, Plätze und Monumente ausgewählt und emotional aufgeladen. Diese tragen dadurch Tragödien des Schmerzes und Verlustes oder Empfindungen und Überzeugungen von Erfolg und Sieg gesamter Bevölkerungsgruppen in sich. Die einzelnen Geschichten und die Identität des Einzelnen sind eng verwoben mit allgemeinen Deutungsschemata bekannter Geschichten, die es ermöglichen, das Unerträgliche, das Unfassbare fassbar zu machen. »In war settings the immediate and devastating impact of personal loss and suffering is connected through formal and informal acts of telling, to notions of right, stories of national oppression, or tales of historic/mythic valor. The narratives become a means to comprehend the pain and grief. Each narrative in different ways pulls at, assuages, sustains, or rakes over an individual’s sense of his/her identity.« (Thompson 1994: 161)

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Die Identität der Schauspieler, ihre Haltung, Kleidung und Kostüme, der Ort der Aufführung und der aufgeführte Ort sind alles Teile dieses umkämpften Deutungsterrains. Der ästhetische Raum wird unmittelbar zu einem Kriegsschauplatz, der niemals belanglos ist, der nichts ohne Zuordnung lässt: Aufführungsort, verwendete Farben, Bilder, Kostüme, Musik werden schnell zu Zeichen, die entweder für die »einen« oder die »anderen« sprechen (Thompson 1994: 157-159). Dasselbe gilt für die Erzählweisen und Dialoge der Aufführung. In diesem Kontext kann die Annahme, die Rolle des Spielleiters liege einzig und allein darin, das Recht jedes Einzelnen auf Erzählung zu unterstützen, dazu führen, dass das Theater durch den Gebrauch dieser sich oft gegenseitig ausschließender Orte, Zeichen und Symbole, Geschichten erzählt, die Gegensätze verstärken und destruktiv auf das Konfliktgefüge einwirken (Thompson 1994: 158). Ein Nachspielen einer dieser umkämpften Geschichten verkörpert nicht nur den Unterschied zwischen den verschiedenen Teilnehmern, sondern verstärkt und verschlimmert ihn. Wer mit diesen Geschichten arbeitet, läuft Gefahr, die Meinung zu bestätigen, es gäbe keine gemeinsamen Orte der Geschichten, und man lasse keine dritten, anderen Orte gelten. Thompson fordert daher einen bewussten Umgang mit den »telling links« – »the way a telling connects to histories, ideologies, and identities« (Thompson 1994: 161). Eine bewusste Positionierung verlangt nach einem Moment des Innehaltens. Der Joker verkörpert diesen Moment. Doch wann und wie? Diese Entscheidungen erfordern eine lokale Verwurzelung in einer Erzähltradition, in Diskursen und in den Deutungsschemata von Körpern, Gestiken und Handlungsweisen sowie eine gleichzeitige Distanzierung, Fremdheit und Nichtzugehörigkeit, wodurch anderes, Neues in den Prozess einfließen kann, welcher sich einer Verstärkung der konflikterhaltenden Tendenzen widersetzt.

II.4.3 P ERFORMANCE UND GESELLSCHAF TLICHE R E ALITÄT : A UGUSTO B OALS DREI H YPOTHESEN ZUM GESELLSCHAF TSVER ÄNDERNDEN THE ATER Augusto Boal entwirft eine Theatertheorie, die explizit den Anspruch erhebt, soziale Wirklichkeit zu verändern. »The Theatre of the Oppressed is a system of physical exercises, aesthetic games, image techniques and special improvisations whose goal is to safeguard, develop and reshape this human vocation, by turning the practice of theatre into an effective tool for the comprehension of social and personal problems and the search for their solutions.« (Boal 2000: 15)

Boal möchte mit seinem Theater Unterdrückungsstrukturen aufdecken, sie erkennbar machen und dadurch den Prozess der Bewusstwerdung (»conscientiza-

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tion«) in Gang setzen, um soziale Veränderung durch die Betroffenen selber zu ermöglichen. Da es Boal um eine gesamtgesellschaftliche Veränderung geht, konzipiert er sein Theater anders als ein von einer Fiktion ausgehendes. Für die Betrachtung gesamtgesellschaftlicher Phänomene mit Hilfe des Boal’schen Theaters ist es wichtig, das in Boals Theatertheorie zum Ausdruck kommende Verhältnis von Darstellung und gesellschaftlicher Wirklichkeit darzulegen. Boal formulierte seine Theatertheorie zum ersten Mal in seinem Buch »Theatre of the Oppressed«18.19 Er vermischt darin polemische Angriffe auf vorangegangene Theaterformen mit Erklärungen zu seiner Arbeit als »Arbeit im Prozess« sowie mit Manifesten zu seiner zukünftigen Arbeit. D.h., seine Theorie ist beides: eine Programmatik und ein Versuch, seine praktischen Erfahrungen zu kodifizieren (Milne 1992: 114). Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf seiner Theaterpraxis, und nicht in einer widerspruchsfreien Theorie, die ohne Praxis einen Wert für sich hätte. Boal spricht dementsprechend von »poéticas políticas« (»politischen Poetiken«) (Milne 1992: 115). Theater besteht für Boal im Wesentlichen aus der Präsentation eines Konfliktes (Boal 2000: 36). Seiner Meinung nach gibt es kein Theater, bei dem nicht die Wünsche und Ziele der verschiedenen Darsteller als unvereinbar empfunden werden und bei dem es nicht zu einem Konflikt kommt (Boal 2000: 16). Von Bedeutung sind für ihn jedoch nicht nur der Konflikt, sondern auch die unterschiedlichen Machtverhältnisse, die den Konflikt strukturieren. Boal hat den Anspruch, in der Gesellschaft politisch zu wirken und diese zu verändern. Er benutzt den dramaturgischen Prozess, um eine politische Einflussnahme zu erreichen. Ohne die Darstellung als Realität anzunehmen, ist dies seiner Ansicht nach dennoch möglich, da er die ästhetische Darstellung in den gesellschaftlichen Kontext stellt. Das »Theater der Unterdrückten« hat zwei grundlegende Prinzipien: »First: To help the spectator become a protagonist of the dramatic action so that s/he can, second, apply those actions s/he has practiced in the theatre in real life.« (Boal 1990: 36) Um diese beiden Ziele zu erreichen, stützt sich das »Theater der Unterdrückten« auf drei Konzepte, die im Folgenden vorgestellt werden.

18 | Zunächst wurde das Buch 1974 in Buenos Aires auf Spanisch veröffentlicht (»Teatro del Oprimido y otras poéticas políticas«), ein Jahr später erschien es in Rio de Janeiro in portugiesischer Sprache unter dem Titel »Teatro do oprimido e outras poéticas politícas«. 1977 wurde es von Dominique Lémann aus dem Spanischen ins Französische übersetzt als »Théâtre de l’opprimé« (Paris) und 1979 transkribierte es Maria-Odilia Leal McBride ebenfalls aus dem Spanischen ins Englische: »Theatre of the Oppressed« (London). 19 | W ELLWARTH schreibt auf der Rückseite der englischen Ausgabe (Boal 1979): »[T]his book is the most important theoretical work in the theatre in modern times – a statement I make without having suffered any memory lapse with respects to Stanislawsky, Artraut or Grotowski.«

II.4 Der ästhetische Raum des Forumtheaters

II.4.3.1 Osmosis zwischen dem Makro- und Mirokosmos 20 Wenn von Osmosis zwischen dem Makro- und Mikrokosmos gesprochen wird, gilt: »1 st hypothesis: All the moral and political values of a given society along with its structures of power and domination, as well as its corresponding mechanisms of oppression are contained in the smallest cells of the social organization (the couple, the family, the neighbourhood, the school the office, the factory etc.) and in the smallest events of social life (an accident at the end of a street, an ID control in the subway, a doctor’s visit etc.« (Boal 1990: 36)

Der Annahme folgend, dass sich in der kleinsten gesellschaftlichen Einheit die Werte und Machtstrukturen einer Gesellschaft materialisieren, begreift Boal das individuelle Schicksal − dem er politische Bedeutung zuschreibt − als in die Gesamtgesellschaft eingebettet. Die Diffusion der Ideen, Werte und Geschmäcker nennt Boal Osmosis. Die Mechanismen dieser Verbreitung sind für Boal allerdings nur negativ: Die Verbreitung geschieht durch Verführung und Unterdrückung – und nicht etwa durch freie Wahl oder Überzeugung (Boal 1990: 37).

II.4.3.2 Analoge Induktion Anhand des Konzeptes der analogen Induktion wird Boals Suche des Allgemeinen im Speziellen deutlich. Boal beschreibt diesen Prozess, durch den etwas Allgemeines im Speziellen gefunden wird, wie folgt: »The Theatre of the Oppressed is the theatre of the first person plural. It is absolutely vital to begin with an individual account, but if it does not pluralize of its own accord we must go beyond it by means of analogical induction, so that it may be studied by all the participants.« (Boal 2000: 45) Die analoge Induktion betrifft zum einen den Prozess, die Geschichte zu finden, die dargestellt werden soll. Die Schauspieler beginnen in einem Gruppenprozess mit selbst erlebten, persönlichen Geschichten, um anschließend bei einer Geschichte anzukommen, die zwar eine ganz persönliche darstellt, in der sich aber Mechanismen offenbaren, die alle Beteiligten betreffen. Das gilt zunächst für die Gruppe der Schauspieler. Für Boal sind die Relevanz nicht nur in Bezug auf die Teilnehmer dieser Schauspielergruppe, sondern er erhebt den Anspruch, Unterdrückungsmechanismen darzustellen, die auch für die Zuschauer relevant sind. Die dramaturgische Gestaltung soll die Betroffenheit der Zuschauer und ihre Aktivierung ermöglichen, woraus die Einführung der Jokerfigur resultiert. Anhand des Konzeptes der analogen Induktion wird einem Prozess Rechnung getragen, durch den im Speziellen der Darstellung das Allgemeine identifiziert und dargestellt wird. Diese Annahme erklärt Boals Suche 20 | Siehe Boal 1990: 36-38; Boal 2000: 40-42.

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nach dem »typischen Speziellen« (Boal 1979: 172), was ein grundlegendes Prinzip seiner Technik darstellt. »The juxtaposition of the general and the specific – the search for a ›typical particular‹ (Boal 1979: 17) – whereby a universalizing abstraction (or historical overview), amalgamates with a concrete reality (or historical moment) – is a fundamental premise of Boal’s Joker System, of forum theatre, of the new techniques.« (Schutzman 1994: 147)

Im Anspruch, durch die Darstellung einer speziellen Geschichte ein alle betreffendes Problem in Angriff nehmen zu können, lauert auch die Gefahr der Simplifizierung und Stereotypisierung. In einem spontanen Prozess werden leicht von vornherein angenommene Ähnlichkeiten als gültig gesetzt. So kann z.B. in einem dramaturgischen Prozess, bei dem Dienstmädchen ihre Geschichten auf die Bühne bringen, die Tatsache wenig Beachtung finden, dass trotz gewisser Ähnlichkeiten die jeweiligen Erfahrungen sehr unterschiedlich sind. Dies passiert vor allen Dingen dann, wenn die Einzelschicksale nach äußeren Typologien zusammengefasst werden (z.B. »Dienstmädchen«) und zu schnell nach verallgemeinernden Kategorien gesucht wird.

II.4.3.3 Metaxis: Realraum vs. ästhetischer Raum Mit Metaxis beschreibt Boal, was er unter dem Verhältnis zwischen dem ästhetischen Raum, der durch die künstlerische Darstellung aufgespannt wird, und dem Realraum, in dem sich alltägliche Unterdrückungen ereignen, versteht. »When the oppressed-artist creates the images of her oppressive reality, she belongs to both the real and the aesthetic world in an active rather than vicarious way. In this instance we have the metaxis phenomenon: the total and simultaneous adherence to two different and autonomous worlds. The aesthetic transubstantiation belongs to the two different and autonomous worlds: reality and the image of reality that has been created by the process.« (Boal 1990: 38; Hervorhebung im Original)

Dabei ist für Boal wichtig, dass die künstlerische Darstellung, oder wie er sagt »das Bild der Realität«, genauso real ist, wie dieses Bild: »[T]he image of reality is as real as an image.« (Boal 1990: 39) Es ist nicht die Realität, die das Bild repräsentiert. Es präsentiert sich, stellt sich wahrhaftig dar. Der Schauspieler kreiert zunächst durch seine Vorstellung von der Realität ein Bild der Realität. Danach interagiert er mit diesem realen Bild, mit den realen Bildern, die er erzeugt hat.21 Auch wenn die Unterdrückung die gleiche bleibt, so wird sie doch verwandelt dargestellt. Metaxis entsteht im Schauspieler. Es ist der Zustand, gleichzeitig und 21 | »The oppressed creates images of his reality. Afterwards, he must play with the reality of those images.« (Boal 1990: 39)

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simultan zwei vollkommen autonomen Sphären anzugehören (Boal 2000: 43). Trotz des autonomen Charakters ist das Bild der Realität nicht willkürlich. Es existieren Ähnlichkeiten, die eine bildhafte Übertragung des Erlebten in die Realität erlauben. Demnach formuliert Boal diese Hypothese wie folgt: »If the oppressedartist is able to create an autonomous world of images based on his own reality, and plays out his freedom in these images, he can then apply everything he has accomplished in the fiction in his own life.« (Boal 1990: 40) Boals Arbeitsweise basiert also auf der Annahme, dass Wesentliches einer künstlerisch dargestellten Situation einer real erlebten Situation gleicht. Hier stimmt Boal mit Goffman überein, auch wenn Letzterer sich nicht auf die Betrachtung künstlerischer Darstellungen bezieht, sondern auf die soziale Welt. Beide gehen jedoch davon aus, dass die Präsentationstechniken im Alltagsleben mit denjenigen der Bühne vergleichbar sind und dass damit ein enger Bezug zwischen beiden Bereichen hergestellt werden kann (Goffman 1991: 233; Boal 1990; Wiegand 1999: 29).

II.4.3.4 Der Prozess des Forumtheaters: Körperzentrierte, partizipative Gruppenprozesse im privaten und (halb-)öffentlichen Raum Mit diesen drei Konzepten, Osmosis, analoge Induktion und Metaxis, definiert Boal die Grundannahmen seiner befreienden Theatertheorie, die ich in der Diskussion zum ästhetischen Raum aufgenommen habe. Mit diesen Konzepten möchte Boal einen Prozess der Katharsis initiieren, durch den gesellschaftliche Wirklichkeit verändert wird. Die Veränderung muss nach Ansicht Boals von den Unterdrückten ausgehen, da die Unterdrücker niemals von sich aus die Situation verändern würden. Der gesamte Darstellungsprozess dient dem Ziel, (Unterdrückungs-)Strukturen den Schauspielern und Darstellern gleichermaßen bewusst werden zu lassen und sie zu Akteuren ihres eigenen Lebens zu machen. Boal wehrt sich explizit gegen die Vorstellung einer aristotelischen Katharsis, da diese seiner Meinung nach versuche, den Drang zur Veränderung zu eliminieren (Boal in Schechner/Taussig 1990: 60). Boal hingegen habe den Anspruch, durch sein Theater Handlungsblockaden aufzulösen: »[W]hen I do Theatre of The Oppressed there is a catharsis. But which? Not the catharsis of the dynamic factor but the catharsis of the blockage. I want to purge myself of what blocks me. I believe that sometimes the work of Moreno [Jacob Levy Moreno, Erfinder des Psychodramas, Anm. H.R.] may differ from mine in that I favour dynamization of people – making people do. I don’t want people to use the theatre as a way of not doing in real life.« (Boal, zit.n. Schechner/Taussig 1990: 60)

Boal legt den Fokus auf die Frage: Wie lässt sich anders handeln, anderes tun? Dies ist für Boal eine andere Art der Katharsis, »[a] purgation of those interna-

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lized fears, not purgation of one’s desires to act« (Schutzman 1994: 152). Er strebt eine Katharsis an, die Blockaden löst und dadurch neue, andere Handlungsspielräume eröffnet. Dies erreicht er durch »Selbstbeobachtung« mit dem Ziel einer Befreiung. »Die Poetik der Unterdrückten ist eine Poetik der Befreiung. Der Zuschauer ermächtigt keine Figur mehr, für ihn zu denken, noch zu handeln. Der Zuschauer befreit sich: er denkt und handelt selbst.« (Boal 1989: 66) Diese Befreiung zeigt sich im Konzept des »spect-actors«, bei dem alle Zuschauer aufgefordert werden, an der Aufführung mitzuwirken. Jeder Zuschauer trifft zumindest eine Entscheidung selber: »Ich schlage etwas vor« und »Ich gehe auf die Bühne und versuche meinen Vorschlag darzustellen« oder »Ich mache das nicht!«. Die Möglichkeit sich an der Diskussion zu beteiligen, und bzw. oder etwas auf der Bühne darzustellen, macht den Zuschauer als »spect-actor« zum Protagonisten und stellt den Anfang einer Selbstbefreiung dar. Die Dramaturgie dient dazu, dass man eine bestimmte Art und Weise des Zusehens fördert: ein Zusehen, das Handeln impliziert. Der Entwurf seiner befreienden Theatertheorie basiert auf Boals Ablehnung der aristotelischen Poetik. Sicherlich ist seine Analyse der aristotelischen Poetik nicht besonders differenziert (siehe Dwyer 2005). Er stellt sie als eine Poetik der Unterdrückung durch die regierende Klasse dar. Dadurch gelingt es ihm, seine Version des Theaters als Antithese, als eine Negation des aristotelischen Theaters zu konstruieren. In gewisser Hinsicht wird in Boals Entscheidung, seine Theatertheorie als Antithese darzustellen, eine simplizistische Struktur deutlich, die Gefahr läuft, in eine binäre Beschreibung der Welt zu verfallen. Dies wird in den Abwertungen Boals der klassischen Theaterformen, denen er das »Theater der Unterdrückten« gegenüberstellt, und in den binären Begrifflichkeiten »Unterdrücker« bzw. »Unterdrückter« deutlich (Fischer 1994: 194; Dwyer 2005: 653). Dieser Gefahr gewärtig zu sein, erlaubt es, Boals theoretische Abhandlungen kritisch zu lesen und trotzdem wertzuschätzen. Die dualistische Kategorisierung lässt sich durch die Verortung der für sein »Theater der Unterdrückten« entworfenen Gesellschafts- und Theatervorstellungen im linken Diskurs der 1970er und 1980er Jahre erklären, zu dem neben dem emanzipativen Anspruch und dem Blick auf die Machtstrukturen auch eine binäre Kategorisierung der Welt gehörte. Diese binären Kategorien bilden allerdings kein der Boal’schen Technik inhärentes Prinzip. Im Gegenteil ist diese von Offenheit und Wandlungsfähigkeit geprägt. Aus diesem Grunde ist es wichtig, sich nicht an den theoretischen Abhandlungen Boals festzubeißen. Das »Theater der Unterdrückten« ist nicht primär eine Theorie, sondern es ist vor allem eine Praxis. Diese Praxis ist weitaus vielschichtiger, als sie in der Theorie erscheint. Entsprechend Boals Bezugnahme auf Theaterpraktiker liegt der Schwerpunkt seiner theoretischen Überlegungen auf den Analysen von Aufführung und Aufführungspraxis. Forumtheater besteht jedoch nicht nur aus der Aufführung selbst, sondern der Aufführung geht ein Gruppenprozess voraus. Dieser ist eine wohlstrukturierte Praxis, bei der der »Laienschauspieler« durch das Trainieren

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seiner Sinne, Ausdrucksfähigkeit und Körperwahrnehmung zur Darstellung befähigt wird und er sozusagen schauspielerische Fähigkeiten erwirbt. Dies ist jedoch nur Mittel zum Zweck, denn Boal benutzt Theatertechniken als interaktives Instrument, um die soziale Realität durch Bewusstwerdung zu verändern. »It’s [Boals theatre] matter is basically in the use of diffuse theatre language, in the use of an aesthetic space and its properties, to start a collective process of conscientization.« (Giolli 2002: 9, Internetseite) Diese Theatertechniken konstituieren ein vielfältiges Repertoire: Indem sie aufeinander auf bauen, kann dadurch ein Gruppenprozess strukturiert werden. All diese Techniken basieren darauf, die Wahrnehmung der Teilnehmer zu stärken: ihre Wahrnehmung der Räumlichkeit, von Geräuschen, Farben und Texturen der Gegenstände, die Wahrnehmung ihrer Körper im Verhältnis zum Raum, zu den Gegenständen und zu den anderen Personen, die Wahrnehmung ihrer Haltungen und ihres Ausdrucks durch ihren Körper und ihre Sprache, die Wahrnehmung von Stimmungen, Gefühlen und Gedanken. Diese Wahrnehmung bildet den Beginn gegenseitigen Lernens, einer wechselseitigen Interaktion, was Boal »transitives Lernen« nennt (Boal 2000: 13; Schutzman 1994: 142). Dieses Lernen wird mittels des ästhetischen Raumes und der körperlichen Interaktionen ermöglicht, wodurch ein kollektiver Lernprozess vorangetrieben werden kann. Dabei ist eine Grundannahme, dass der »Körper denkt«, d.h., dass die Haltungen, die der Körper einnimmt, genauso viel über die Situation sagen, wie das gesprochene Wort (Boal 2000: 29; Giolli 2002: 9, Internetseite; Schutzman/Cohen-Cruz 1994: 3). Eine Basistechnik ist daher auch das Bilder- oder Statuentheater (»image theater«), bei dem ohne Worte durch Skulpturen, die die Menschen mit ihren Körpern formen, Situationen ausgedrückt und kommuniziert werden. Statuentheater ist im Wesentlichen nonverbales Theater, das mit den Teilnehmern als Statuen arbeitet. Häufig geht es jedoch darüber hinaus: Die Statuen lösen sich von einem statischen zu einem bewegten Bild hin und fangen an, einige Worte zu wechseln. Statuentheater existiert in verschiedenen Variationen und wird häufig als Übung innerhalb eines Gruppenprozesses zur Entwicklung eines Forumtheaterstückes verwendet. Dies ist eine Basistechnik, in der die wortlose, körperliche Kommunikation im Vordergrund steht. In dieser Gruppenarbeit tauchen Themen, Situationen und Geschichten auf, die die Teilnehmer erlebt haben und aus denen dann das Stück entwickelt wird. Hier kommen verschiedene Erinnerungs- und Improvisationstechniken zu Tage, die mittels körperlicher Darstellung die Geschichten, Figuren und Situationen langsam zu komplexen Gegebenheiten heranwachsen lassen. Die Möglichkeiten innerhalb des ästhetischen Raumes werden genutzt, um Erfahrungen, die außerhalb gemacht wurden, erneut erfahrbar zu machen, sie zu reflektieren und anders zu kontextualisieren. Ohne Anspruch auf Wiederholung oder Spiegelung der Realität setzt sich die Gruppe ständig mit in der Realität Erfahrenem auseinander. So wächst eine Geschichte heran, die in eine Forumtheateraufführung münden kann. Der Prozess selber aber konstituiert eine Bewusstwerdung der Situation oder einiger Situationen, bei denen sich die Teilnehmer außerhalb des Theaters

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befinden. Sie realisieren ihre Situation. Dieser Gruppenprozess bildet einen integralen Bestandteil der Boal’schen Praxis, auch wenn er in Boals Theatertheorie nicht im Vordergrund steht. Der partizipative Gruppenprozess, der die Arbeitsphase vor der Aufführung und die Aufführung selber ausmacht, ermöglicht es, Boals Theater als wissenschaftliches Instrument zu benutzen, zumindest, wenn man es in die Strömungen der die Praxis anerkennenden Aktionsforschung stellt und sich dabei die Ansätze vergegenwärtigt, die anhand der Betrachtung kleiner Teilgruppen gesamtgesellschaftliche Gruppendynamiken untersuchen wollen.

II.4.4 M ODALITÄTEN DES VORLIEGENDEN F ORSCHUNGSDESIGNS II.4.4.1 Für ein qualitatives, partizipatives Verfahren und die Gruppe als Forschungseinheit II.4.4.1.1 Begründung für ein qualitatives Verfahren Der epistemische Wandel hin zur Anerkennung qualitativer Verfahren brachte eine ausgereifte Diskussion über die Gültigkeit qualitativer und quantitativer Verfahren zur Erkenntnisgewinnung im Wissenschaftsbereich mit sich. Für die Anwendung eines qualitativen und partizipativen Verfahrens in dieser Forschung sprechen zum einen das Fehlen ausreichender quantitativer Daten im Untersuchungsbereich und zum anderen die Präsenz eines in Nachkriegsgesellschaften und postkolonialen Gesellschaften erwartbaren Misstrauens gegenüber direkten Befragungsmethoden. Beides hat seine Gültigkeit, auch wenn im arabischen Diskurs Wissenschaftlichkeit häufig mit quantitativen Argumenten autorisiert wird. Die positivistischen Gesellschaftswissenschaften, die sich an den Naturwissenschaften als Modell zur Theorieentwicklung und zu empirischen Nachprüfungsverfahren orientierten, haben die Sozialwissenschaften durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch geprägt. Dies ist bis heute im arabischen Raum deutlich im Lehr- und Wissenschaftlichkeitsverständnis der Natur- und der Sozialwissenschaften zu spüren. Wenn sich auch langsam in Europa die qualitativen Verfahren von dieser Tradition loslösen und sich als eigenständig emanzipieren können, so nehmen in den arabischen Sozialwissenschaften die quantitativen Verfahren noch eine dominierende Stellung ein. Auch außerhalb der Wissenschaftsdiskurse ermöglichen es auf Quantität abhebende Argumentationsweisen, einen Wissensanspruch zu formulieren, während sich qualitative Verfahren schwertun. Diese Resistenz gegenüber qualitativen Verfahren verdeutlicht einen eigenartigen Widerspruch zwischen den in der Gesellschaft alltäglich praktizierten Formen der Wissensgenerierung, die eher qualitativer Art sind, und den als »wissenschaftlich« autorisierten Darstellungsformen von Wissen, die sich gern mit quantitativen Argumenten absichern.

II.4 Der ästhetische Raum des Forumtheaters

Blickt man noch ein wenig weiter zurück, so entdeckt man lange vor dieser relativ neuen Polarität zwischen qualitativen und quantitativen Verfahren innerhalb der arabischen Soziologie einen Platz für qualitative Ansätze.22 Im arabischen Raum ist die Herkunft eines Ideengebers äußerst identitätsorientierend. Die Frage nach der Authentizität (arab. ÞaÒliyah) von Ideen und Praktiken wird als Reaktion auf die koloniale Erfahrung heftig diskutiert. In dieser Diskussion ist es von Bedeutung, ob Ideen oder Praktiken, also auch qualitative Verfahren, als »fremde Importe« angesehen werden, die sich in einem den Europäern folgenden arabischen Raum erst noch durchzusetzen haben oder ob diese Praktiken in ihrer Repräsentation als vor Ort »ursprünglich« vorhanden dargestellt werden können. Noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts haben die qualitativen Arbeiten über die Gesellschaften im fruchtbaren Halbmond Ägyptens und Nordafrikas in den arabischen Sozialwissenschaften den größten Anteil ausgemacht. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurden Ansätze Angewandter Sozialwissenschaften, wie z.B. das Sammeln von Statistiken zur Verwaltung des kolonialen Vorhabens, in die arabischen Gesellschaften eingeführt (Zureik 2003). Einheimische Wissenschaftler eigneten sich diese Forschungstechniken an und versuchten damit, den wissenschaftlichen und administrativen Anforderungen der kolonialen Macht zu entsprechen. Dennoch konnten sich quantitative Verfahren zur Wissensgewinnung lange Zeit nicht richtig durchsetzen. Erst in den 1960er Jahren fingen im Westen ausgebildete arabische Sozialwissenschaftler an, in nachhaltiger Form mit den positivistischen Methoden zu experimentieren (Zureik 2003: 152). Bis heute existiert ein Spannungsverhältnis zwischen dem hohen Ansehen und der hohen Autorität, die eine Sprache genießt, die sich eines statistischen Vokabulars bedient, und der tatsächlichen Wertschätzung der statistischen Verfahren, die sich in sorgfältiger Erhebung und Archivierung von Daten zeigen würde. Das einwandfrei angewendete Verfahren scheint nicht Dreh- und Angelpunkt der Überzeugungsleistung eines Argumentes zu sein. Dementsprechend dünn ist die Verfahrensdiskussion, und dementsprechend wenig Material ist in der arabischen Diskussion zur Kritik quantitativer Verfahren zu finden (Zureik 2003: 152). Jede sinnvolle Forschungsmethode muss sich an den vor Ort vorhandenen Kommunikationsstrukturen orientieren. Da es hier nicht um die Erforschung arabischer Wissensgenerierung im Wissenschaftsbetrieb geht, sondern die soziale Wissensgenerierung außerhalb des Wissenschaftsbetriebes von Interesse ist, 22 | Ein reicher Fundus qualitativer Ansätze ist z.B. im Werk des irakischen Soziologen A LI A L-WARDI nachweisbar. Indem A L-WARDI den Fußspuren Ibn Khalduns folgte, einem bis heute berühmten Wissenschaftler aus dem 14. Jahrhundert, erforschte er die Wechselbeziehung zwischen Nomadismus und Urbanismus und deren Auswirkung auf die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit und auf das gemeinschaftliche Leben im Irak: $/, $ /:$5', 'LUDVDIL®DEL·DWDPPXMWDPD·DOL·UDNL (»Studien zum Wesen der irakischen Gesellschaft«) 1965.

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bleibt die Kritik an der Verwendung von quantitativen Methoden im arabischen Raum relevant. Diese Kritik verweist auf die Notwendigkeit korrekt erhobener Daten für richtig angewendete quantitative Verfahren. Wenn die Gesellschaft kein Reservoir an Statistiken bereitstellt und korrekte statistische Verfahren schwierig durchzuführen sind, ist auch das Verfahren als solches kritisch zu betrachten. Ist das gesellschaftliche Umfeld von Misstrauen und Angst geprägt, so werden direkte Fragen, die auch noch die Gefahr in sich tragen, allgemein und öffentlich zugänglich zu sein, als hochgradig bedrohlich eingestuft. Da kaum Daten vorhanden sind, müssen zunächst alle Daten erhoben werden, was einen vertrauensbildenden Prozess voraussetzt. Innerhalb einer lokalen wissensgenerierenden Institution, wie z.B. einer Universität, ist es durch die hierarchischen Strukturen ein Leichtes, eine Vielzahl von Freiwilligen zu bekommen, die Statistiken erhebt, mit denen dann weitergearbeitet werden kann. Doch auch hier bleibt äußerst kritisch, inwieweit die Vertraulichkeit derart garantiert ist, dass sich die Befragten bei ihren Antworten an den Tatsachen und nicht primär an der angenommenen Erwartungshaltung der Fragenden orientieren. Elia Zureik führt aus, dass in Gesellschaften, bei denen sich der einfache Mann nicht vorstellen kann, dass seine Meinung von allgemeiner Relevanz ist und dass er öffentliche Ereignisse mitgestalten könnte, und in denen das Verhältnis zwischen der Allgemeinheit und dem Staat eher als von Misstrauen geprägt zu beschreiben ist, nicht in kurzer Zeit das notwendige Maß an Vertrauen zwischen Interviewer und Interviewtem aufgebaut werden kann (Zureik 2003: 153).

II.4.4.1.2 Begründung für ein partizipatives Verfahren Die Frage nach der Beziehungsbildung in einer Nachkriegsgesellschaft bezieht sich auf die verschiedenen Abgrenzungen von Personen und Personengruppen gegenüber anderen. Mittels dieser Grenzziehung wird Fragmentierung geschaffen. Ohne Zweifel steht diese Grenzziehung in enger Verbindung mit der wahrgenommenen und konstruierten Identität. Die Abgrenzungsmechanismen auf den verschiedenen Ebenen dienen dem Schutz der eigenen Identität. Dies ist einerseits körperlich zu verstehen, in der Form, dass man den anderen meidet, ihn nicht als einen Teil des Eigenen definiert und sich von ihm räumlich abgrenzt. Andererseits findet Abgrenzung auch auf einer diskursiven Ebene statt, einer Ebene der Sinngebung, Deutung und Interpretation von Handlungen und Ereignissen. Die Indikatoren, die eine derartige Integritätsverletzung anzeigen und damit den Interpretationsspielraum festlegen, sind die Emotionen. (Im interkulturellen Kontext ist das vielfach unterschiedliche Verständnis von Würde, Ehre, Respekt, Verbindlichkeit, Loyalität und Verantwortlichkeit besonders auffällig.) Die Mechanismen, die zur Wiederherstellung der verletzten Integrität bereitstehen, sind soziokulturell gewachsen. Diese Oszillation zwischen einem soziokulturell entstandenen persönlichen Gefühl und den von Persönlichkeiten geformten soziokulturellen Normen, Werten und Darstellungsweisen erlaubt es,

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die Frage nach der Grenzziehung auf allgemein anerkannte Umschlagspunkte der verschiedenen Gefühlszustände zu richten. Welches Verhalten, welche Haltungen und Äußerungen verlangen und rechtfertigen eine Verstärkung der Grenze, der Grenzziehung, da die eigene Integrität bedroht ist, und was verlangt nach einer Öffnung, einer Aufweichung einer Verschiebung der Zugehörigkeiten? Die Interaktion zwischen dem Forscher und den Erforschten ist meist eine Begegnung zwischen Fremden. Diese ist aufseiten des Forschers durch den Wunsch motiviert, einen Sachverhalt zu verstehen. Die Motivation der anderen Seite, der Befragten, ist selten bekannt. Dennoch ist der Fragende, der häufig nicht nur informiert, sondern auch implizites Wissen darlegt, auf die Arbeit der anderen Seite angewiesen. Der Befragte bildet die Voraussetzung dafür, dass der Fragende in den Prozess der Erkenntnisgewinnung eintreten kann. Nur im Zusammenspiel mit ihm kann es dem Forscher gelingen, einen dem orts- und zeitabhängigen Phänomen entsprechenden Ansatz herauszuarbeiten. So gesehen ist die Frage nach der Motivation der Befragten, am Erkenntnisgewinnungsprozess teilzunehmen, zentral. In politisch-repressiven Systemen sind negative Erfahrungen infolge von Befragungen und Instrumentalisierungen der befragten Person sowie der gewonnenen Informationen sehr präsent, das Misstrauen gegenüber Befragungsverfahren ist dementsprechend weit verbreitet. Bei diesen Systemen besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass die bereitgestellten Informationen zu bedrohlichen und angsterzeugenden Mechanismen geraten und sie so der befragten Person eher schaden als für sie von Vorteil sind. Zusätzlich zum politisch andersgearteten Kontext sind soziokulturelle Normen, die vom Gewohnten abweichen, für die Beurteilung einer geeigneten Art von Gesprächsführung relevant. Sie definieren, welche Form als akzeptabel anzunehmen ist, und welche als unzulässiges Eindringen in für Fremde eigentlich nicht zugängliche Bereiche betrachtet wird. Besteht beim Befragten eine klare Motivation für die Gesprächsteilnahme, so sind auch dessen Zweifel und Misstrauen geringer als in einer Situation, in der für ihn unklar ist, inwiefern ihm dieses Gespräch dienlich sein könnte. Kriegszerrüttete Gesellschaften sind von starkem Misstrauen geprägt. Dies gilt insbesondere gegenüber einem fremden Befragenden. Ein Vertrauensverhältnis zwischen dem fragenden Forscher und den Befragten etabliert sich in von Misstrauen geprägten Nachkriegsgesellschaften nicht innerhalb von Sekunden. Machtverhältnisse können zwar dafür sorgen, dass dem Forscher eine Auskunft gegeben wird und interessante Informationen zum Vorschein kommen. Ist aber das Forschungsergebnis in starkem Maße von der aktiven Mitarbeit der Befragten abhängig, da unter Umständen das Phänomen und die Fragestellung selber zur Disposition stehen, so ist es notwendig, eine Methode der Erkenntnisgewinnung anzuwenden, die in der Lage ist, ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Forscher und den Befragten aufzubauen und eventuelle Abwehrmechanismen abzubauen. Dies kann nachhaltig nur dann gelingen, wenn die Befragten selber ein bestimmtes Interesse am Prozess der Erkenntnisgewinnung haben. Dieses Interesse der

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Befragten, ihre Motivation, ist dann kein wünschenswertes Nebenprodukt, sondern es stellt eine Grundbedingung für den erfolgreichen Verlauf der Vertrauensbildung und damit für den gesamten Prozess dar. Partizipative Verfahren eignen sich daher in diesem Kontext besser, da sie erlauben, die anfängliche Fragestellung zu revidieren bzw. sie in einem gemeinsamen Prozess mit den Befragten zu konkretisieren.

II.4.4.1.3 Begründung für die Wahl der Gruppe als Untersuchungseinheit Ein weiterer Kritikpunkt an quantitativen Erkenntnisgewinnungsverfahren für den untersuchten Bereich liegt im Verallgemeinerungsprozess sowie im Verständnis von Allgemeinheit begründet. Als Grundeinheit dient »eine Person«, die als ein Individuum konzipiert ist. Allerdings ist die Vorstellung vom individuellen »Selbst« kein ort- und zeitunabhängiges Phänomen. Denn wie Ian Burkitt ausführt: »For individuals, relations within the figuration are historically variable, changing as the balance of power and the nature of interdependencies alter. This necessitates the changing of individuals’ strategy of action within the figuration, which also creates a different structure of personality formation: a change not only in the patterns of activity, but also in the feeling and thinking.« (Burkitt 1991: 167)

Die Formierung der Persönlichkeit betrifft auch ihr Selbstverständnis als ein individuelles oder ein soziales Selbst. Denn die Vorstellung des Individuums von sich ist in sozialen Interaktionen gewachsen. »It is only within this communities of active and embodied others, which becomes reflected in consciousness as ›you‹ that individuals find their own existence reflected back at them so they may become conscious of themselves as an ›I‹.« (Burkitt 1991: 111) Das Konzept des Individuums ist bereits ein kulturelles Produkt (Thrift 1996: 20), es wird in quantitativen Verfahrensweisen nicht mehr hinterfragt. Elia Zureik macht darauf aufmerksam, dass sich Fragebogen häufig an eine Person richten, wodurch sie zu einer Abfrage individueller Darstellungen werden. »In a society where collectivist values are deeply rooted and where, to use the Gestalt metaphor, the whole is greater than the sum of its individual parts, it is problematic to aggregate individual responses statistically for the purpose of drawing up a picture of the collective.« (Zureik 2003: 153) Diese Ansicht, es gäbe in anderen Gesellschaften nur Kollektive und keine Individuen, kann zur essentialistischen Gesellschaftsbeschreibung geraten. Meiner Meinung nach liegt die Schwierigkeit, auf die hier verwiesen wird, nicht in der mangelnden Existenz von Individuen, sondern in der anders gearteten interaktiven Subjektivität, eingebettet in abweichende Kommunikationsstrukturen, Medien und Räume des gesellschaftlichen Gefüges, die letztendlich Individualität definieren und die festlegen, was als wahr gelten soll und was nicht. Der ägyptische Soziologe Sa’ad Eddin Ibrahim erläutert dazu:

II.4 Der ästhetische Raum des Forumtheaters »An alternative [to the western-based approach] is to take the group as the unit of analysis in survey research, since in traditional or modernizing societies the decision-making unit may not be the individual. The individual may not initiate action. He or she may not be a free agent, in this respect, the difference between western and Arab societies is one of degree rather than of kind, but it is great enough to call into question the assumption that the individual is always the most appropriate unit of analysis. Alternatives can and should be considered, such as using the social network or some other kind of collectivity.« (Ibrahim 1987: 32-33)

In Untersuchungen zum Thema Gruppendynamiken wird diese Idee aufgenommen und eine andere Einheit, die Kleingruppe, als Analyseeinheit gewählt. In diesen Aktionsforschungen stellt die Kleingruppe, die sozusagen zwischen dem Individuum und einem Kollektiv liegt, den Gegenstand der Untersuchung dar.

II.4.5 D AS F ORSCHUNGSDESIGN : O PER ATIONALISIERUNG VON L E WINS A NSAT Z ZUR E RFORSCHUNG VON G RUPPENBE ZIEHUNGEN MIT B OALS ÄSTHE TISCHEM R AUM II.4.5.1 Mikrogeographie der sozialen Interaktion durch Performance Mit dem Problemaufriss im ersten Kapitel zeigte ich das Thema der gesellschaftlichen Fragmentierung im Libanon auf. Im Anschluss daran konnte Masseys Konzeption einer fraktalen Gesellschaft, bei der Begegnung und Wachstum möglich sind, der fragmentarischen Gesellschaft, die durch eindeutige Abgrenzung der Gruppierungen zueinander entsteht und bei der Ausgrenzung ein Prinzip konstituiert, gegenübergestellt werden. Ausgehend von einem handelnden Subjekt, welches Verknüpfungen erstellt und wieder auflöst, habe ich die Idee des Raumes als Perspektive intensiviert und als handelnde Forscherin den Raum als Instrument zur Problemuntersuchung vorgeschlagen. D.h., ich möchte den Entstehungsprozess des Konfessionalismus in der alltäglichen Interaktion als Gruppendynamik betrachten. Hierfür sind die Theorie des sozialen Feldes von Kurt Lewin sowie dessen Aktionsforschungsdreieck – die ich, ebenso wie die Überlegungen zum Thema Performance, vorstellte – sehr hilfreich. Sozialgeographen haben sich den »performative turn« zunutze gemacht und die alltäglichen sozialen Interaktionen als Performance betrachtet. Unter Zuhilfenahme des Begriffs der »Performativität« wird mit Bezug auf Butler einerseits darauf aufmerksam gemacht, dass durch das wiederholte, körperliche »Tun« Identitäten entstehen, sie nicht schon a priori sind. Gregson und Rose machten darauf aufmerksam, dass sich dieses Entstehen nicht nur auf Identitäten bezieht, sondern auch auf den Raum. Nelson kritisierte an den Butler’schen Überlegungen die Subjektkonzeption und forderte einen Ansatz, der auch intentionales Handeln der Subjekte zulässt. Außer der Betrachtung des Alltags als Perfor-

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mance haben Sozialgeographen andererseits die künstlerischen Darstellungen als Ausdruck gesellschaftlicher Realität erkannt und in ihren sozialgeographischen Kontext eingebunden analysiert. Dadurch konnte Smith in der Betrachtung musikalischer Darbietungen, mittels derer Zugehörigkeiten und Identitäten verdeutlicht werden, Kräfteverhältnisse im sozialen Gefüge erfassen und einen Blick auf die emotionalen Räume, Gefühle und Wahrnehmungen werfen, die Teile dessen kommunizieren, was unaussprechlich ist. Nash ist über Untersuchungen des Tanzes auf die Relevanz, Performance zu untersuchen, gestoßen und konnte ebenso wie Malbon deutlich machen, dass die Darstellungen nicht als eine Kopie der realen Welt zu betrachten sind, die diese nur mangelhaft, da äußerst simplifiziert, wiedergibt. Im Gegenteil entstehe diese soziale Welt durch die Darstellung auf den verschiedenen Maßstabsebenen des Selbst und des Kollektivs. Diese doppelte Wirkung der Konstitution, Veränderung und Verstärkung des Selbst, aber auch der kollektiven Erfahrung, zeigt sich in der Performance. Allerdings verlangt dieses Erkennen, so Thrift, eine neue kulturgeographische Richtung hin zu einer mikrogeographischen Untersuchung gewöhnlicher Handlungen, die in dem Sinne radikal kontextuell ist, dass die Details der ganz spezifischen Handlung mit Schwerpunkt auf die Situation, die unabhängig von den handelnden Subjekten eine Realität beansprucht, aufgenommen und untersucht werden. Was ausgedrückt wird, steht nach Dewsbury nicht ganz unter der Kontrolle der sich Ausdrückenden, sondern es gehört der Situation. Diese mikrogeographische Perspektive erlaubt zwei Ansätze zum Erkennen von Neugeschaffenem, die Deleuze als »Realisierung des Möglichen« und »Aktualisierung des Virtuellen« bezeichnet. Letzteres stellt ein Konzept des Werdens, des Entstehenes dar, bei dem das Gewordene, Aktualisierte so grundsätzlich verschieden vom Vorgestellten, Virtuellen konzeptioniert wird, dass kein Vergleich möglich ist. Dass vielmehr die verschiedenen Verknüpfungen im Virtuellen zur Vergangenheit und zur Zukunft einen Teil der Aktualisierung ausmachen. Die zeitliche Dimension, die dem Virtuellen Rechnung trägt ist Aion, in der alles Realisierte durch das Virtuelle »was war« und »was hätte sein können« aktualisiert wird. Diese Konzeption ist von enormer Relevanz für die Betrachtung von Entstehungsprozessen, da sie die Fülle des Aktualisierungsmomentes verdeutlicht und das erkenntnisbringende Potential einer mikrogeographischen Betrachtung des Werdens erklärt. Auf die Subjekte des Handelns bezogen konstituiert sich das Werden in einem Zustand des »Dazwischenseins« (Katz). Karl und Turner erkennen den Schwellenzustand, die Liminalität, als konstitutiv für künstlerische Darstellungen. Liminalität kann in ambivalenter Weise Wachstum fördern, oder auch hemmen. Deshalb bedarf es eines besonderen Schutzraumes, damit die Auflösung der Grenzen zugelassen werden kann und der Zustand des Weder-das-noch-das-Sein nicht zur Bedrohung wird. Das Dazwischensein der Schwellenwesen möchte ich im Begriff des »Zu-Schauspielers« aufgefangen sehen, der eine bedeutende Rolle im ästhetischen Raum des Forumtheaters spielt. Das Innehalten als einen den Schwellenzustand überhaupt erst ermöglichenden Prozess möchte ich mit der

II.4 Der ästhetische Raum des Forumtheaters

Figur des Jokers markieren, die für den Verlauf der Forumtheaterdarstellung verantwortlich ist und die Interaktion mit dem Publikum moderiert.

II.4.5.2 Performance und gesellschaftliche Wirklichkeit Der ästhetische Raum in der Boal’schen Konzeption bietet besondere Qualitäten, die sich zum Beleuchten und Verstehen nutzen lassen. Das Forumtheater ist eine Methode, die sich der Bewusstwerdung sozialer Strukturen und ihrer Perpetuierung durch Verhalten und Handeln verschrieben hat. Sie benutzt dabei den ästhetischen Raum als Medium der Darstellung, um mit Hilfe des Jokers soziale Strukturen in dargestellten, erlebten Einzelschicksalen zu erkennen. Es wird ein Wandel der Situation angestrebt und durch die Interaktion mit dem Publikum wird ein Forum geschaffen, das tiefere Strukturen sichtbar macht. Ein ästhetischer Raum wird, wie bereits ausgeführt, durch die Trennung von »Schauenden« und »Angeschauten« geschaffen; er entfaltet sich durch die Aufteilung in Bühne, dem Schauplatz für die Darsteller, und Auditorium, den Plätzen für die Zuschauer. Diese Trennung ist im klassischen Theater durch eine deutliche Grenze – meist mittels der Verlagerung des Bühnenbodens auf eine höhere Ebene, durch einen Vorhang und durch die Bestuhlung – markiert. Die klare Rollenverteilung in Schauspieler und Publikum verstärkt diese Trennung. Bei Boal hingegen sind diese Rollen nicht fest. Die Grenze zwischen Auditorium und Bühne wird bewusst aufgeweicht, um den Übergang von der Rolle des Zuschauenden zu der des Darstellenden zu erleichtern. Dennoch existiert ein bestimmter Ort, ein Platz, der betrachtet wird und sich dadurch als Bühne herauskristallisiert. Boals Bezeichnung dessen als »ästhetischer« Raum betont das sinnlich Wahrzunehmende, nicht das verbal Beschreibbare dieses Ortes. Er intensiviert das Sehen. Die Person, die als Figur auf die Bühne tritt, stellt nicht ihre eigene Persönlichkeit dar, sie setzt aber den Reichtum ihrer gesamten Person ein. Um sichtbar zu werden, müssen innerhalb der Figur bestimmte Aspekte betont werden, wodurch bestimmte Konfliktlinien innerhalb ihrer selbst und in der Wechselwirkung mit anderen Figuren deutlich zum Ausdruck kommen. Das wird durch den ästhetischen Raum ermöglicht und dieser wird wiederum daraus kreiert. Er verlangt nach einer Präzision der Statuen oder Bilder, durch die gesprochen wird. Diese Bilder (»images«) stellen eine eigene Sprache dar, die nicht in das gesprochene Wort übersetzt werden kann. Der ästhetische Raum erlaubt diese sinnliche und dennoch sichtbare Kommunikation. Der ästhetische Raum ist von besonderer Qualität. Erstens ist er plastisch in dem Sinne, dass sich Raum und Zeit beliebig ausdehnen oder zusammenziehen, dass sich Figuren und Gegenstände schlagartig verändern können. Ein weiteres Merkmal ist die Dichotomie oder das »Dichotomisieren«. Es entspringt der Tatsache, dass zwei verschiedene Räume denselben Raum einnehmen. Einmal existiert der Raum der Darstellung, das Theater, worin es einen Platz für Zuschauer und einen für Darsteller gibt. Und zum anderen gibt es den Raum des

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Bildes, der Darstellung. Eine dritte Qualität bezeichnet Boal als »telemikroskopische« Fähigkeit: Durch die Bühne-Auditorium-Trennung wird die Bühne in einen Ort transformiert, an dem alles wie unter einem riesigen Teleskop vergrößert, intensiviert und verstärkt wird. Mit diesem Teleskop beansprucht Boal, Unterdrückungsstrukturen der Gesellschaft zu erkennen. Um der Komplexität eines Konfliktgefüges gerecht zu werden, schlägt Schutzman vor, nicht die Person als Unterdrücker bzw. Unterdrückten zu charakterisieren, sondern diese Einordnung als ein Attribut des Raumes zu sehen, durch den sich die Situation ereignet, und stattdessen von einem unterdrückenden Terrain zu sprechen. Die zentrale Figur des Boal’schen ästhetischen Raumes ist der Joker. Er ist der Intermediär zwischen Publikum und Schauspielern. Durch ihn wird die Grenze zwischen Bühne und Zuschauersaal permeabel, das Publikum wandelt sich in Zu-Schauspieler. Der Joker ist derjenige, der den Prozess moderiert und die Bewegung vom dargestellten Phänomen zum Gesetz hin, das all die ähnlichen Phänomene reguliert, initiiert. Dazu erstrebt er, dass viele verschiedene Perspektiven zum Ausdruck kommen, gleichzeitig hält er den Prozess immer wieder an, um Reflexionen, Kommentaren und Überlegungen Raum zu geben. Er ist in die Erzähltraditionen und Narrationen der Ereignisse eingebunden, gleichzeitig werden von ihm Distanz erwartet sowie genaues Beobachten, in jenem Sinne, eine Bewusstwerdung zu verstärken. Dies zeigt sich in der Bewegung des Jokers, der einmal in der Mitte der Bühne steht und dann wieder ganz im Hintergrund des Geschehens bleibt. Das »Theater der Unterdrückten« hat den Anspruch, soziale Wirklichkeit zu verändern. Um dies mit Hilfe einer ästhetischen Darstellung zu erlangen, stützt sich das »Theater der Unterdrückten« erstens auf die Annahme der Osmosis, die davon ausgeht, dass gesellschaftliche Werte und Machtstrukturen in die kleinste Einheit der Gesellschaft (sprich: in Beziehungen, Arbeit, Familie etc.) hineindiffundieren. Die zweite Annahme, die analoge Induktion, die den Prozess des Speziellen zum Allgemeinen beschreibt, ermöglicht es, gesellschaftlich relevante Machtstrukturen in der spezifischen Geschichte der Darstellung zu erkennen. Die dritte Annahme bezeichnet Boal als Metaxis. Sie stellt fest, dass alles auf der Bühne gleichzeitig zu zwei wesensverschiedenen Welten, zur Realität sowie zum Bild der Realität, gehört. Es ist dieses Prinzip der Metaxis, welches meiner Meinung nach den ästhetischen Raum als Instrument der Erkenntnisgewinnung so faszinierend macht. Metaxis entsteht in dem Schauspieler, der gleichzeitig, simultan, zwei vollkommen autonomen Sphären zuzugehören vermag. Trotz des autonomen Charakters ist das Bild der Realität nicht willkürlich. Es existieren wesentliche Ähnlichkeiten, die eine Übertragung erlauben und zulassen. Aus diesem Grund geht Boal davon aus, dass, wenn es dem Zu-Schauspieler gelingt, im ästhetischen Raum eine Veränderung zu bewirken, er sie auch in seiner Wirklichkeit bewirken kann. Das wird in Boals Ausspruch »theatre as rehearsal for reality« (Boal 1992: xxi) deutlich. Während Boal und viele seiner Anhänger die gesellschaftliche Veränderung

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dann in einer erfolgreich umgesetzten Praxis außerhalb des Theaters sehen und messen wollen, erlaubt das Prinzip der Metaxis unter Einbeziehung der Mikrogeographie des Momentes eine andere Sichtweise bezüglich des Verhältnisses der Darstellung zur Wirklichkeit. Zum besseren Verständnis möchte ich betonen, dass der erkenntnisbringende Wert weder dadurch entsteht, dass die Darstellung als Realität angenommen wird, noch, dass die Darstellung als Spiegel sozialer Wirklichkeit betrachtet wird, der diese immer nur mangelhaft und unvollkommen reflektiert. Sondern in Anerkennung der Wesensverschiedenheit und Wechselwirkung von Darstellung und Wirklichkeit eröffnet sich – über das Prinzip der Metaxis, über das Subjekt, welches in der Realität des Theaters wie auch in der Realität der sozialen Wirklichkeit wirkt – ein Verbindungspunkt. Dieser Punkt macht eine Mikrogeographie sichtbar, die einen Blick auf das Werden des Momentes legt. Forumtheater verlangt Improvisation. Die gesamte Dramaturgie der Darbietung zielt darauf ab, die Improvisation der Zuschauer auf der Bühne zu erleichtern, denn durch dieses Werden der Momente in der Interaktion und durch ihre Diskussion wird eine Bewusstwerdung tiefer liegender Strukturen des Handelns erhofft. In dem Augenblick, in dem sich das Bewusstsein der Zu-Schauspieler verändert, wandelt sich – wenn auch subtil – die Wirklichkeit dieser Subjekte, von denen das Bewusstsein einen sie konstituierenden Teil ausmacht.23 Dieser Bewusstwerdungsprozess erlaubt Aussagen über die sozialgeographischen Strukturen der Teilnehmer dieses Gruppenprozesses, gleichsam wie ein Interview Aussagen über die Realität der Interviewten erlaubt.

II.4.5.3 Kleingruppe und Gesellschaft (Transposition) Forumtheater besteht nicht nur aus der Performance. Dem Auftritt geht ein intensiver Gruppenprozess voraus, den Boal als einen Prozess des gegenseitigen Lernens beschreibt. Dieses Lernen wird anhand des ästhetischen Raumes, der im Gruppenprozess auch ohne Theateraufführung stets aufgespannt wird, und anhand körperlicher Interaktionen ermöglicht. Dadurch kann ein kollektiver Lernprozess vorangetrieben werden. Diese Prozesse konstituieren eine wohlstrukturierte Praxis, in der der »Laienschauspieler« durch das Trainieren seiner Sinne, seiner Ausdrucksfähigkeit, seiner Körperwahrnehmung nicht nur zur Darstellung befähigt wird, sondern auch zur Wahrnehmung der sozialen Realität, in der er sich befindet und in der er agiert. Dieser Gruppenprozess kann mit Hilfe von Praktiken und Theorien der Aktionsforschung, die mit der Arbeit an Kleingruppen gesamtgesellschaftliche Gruppendynamiken zu erkennen versuchen, als wissenschaftlicher Prozess weiterentwickelt werden. Zu Beginn der Darstellung der Forschungsmodalitäten habe ich verdeutlicht, warum im speziellen Kontext einer arabischen Nachkriegsgesellschaft qualitative, partizipative Verfahren vertretbar 23 | Ein anderer Ausdruck für Bewusstwerdung ist: Realisieren.

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sind. Jede sinnvolle Forschungsmethode muss sich an den Kommunikationsstrukturen vor Ort orientieren. Dies verlangt in einer Nachkriegsgesellschaft, bei den Befragungsmethoden Vorsicht walten zu lassen und unterstützt das Prinzip der Teilhabe. Gleichzeitig lässt sich durchaus begründen, dass für den arabischen Kontext die Kleingruppe als Untersuchungseinheit sinnvoll erscheint. Kurt Lewin begründet die Kleingruppenarbeit zur Erforschung von Gruppendynamiken mit seiner Theorie des sozialen Feldes und seines Aktionsforschungsdreieckes. Dass man ausgehend von der Arbeit mit einer Kleingruppe auch über eine größere Gruppe Aussagen machen kann, begründet Lewin in seiner Feldtheorie, die er auf seinen Untersuchungen aufbauend entwickelt hat, und mit dem Prinzip der Transposition. Lewin zeigt, dass gerade für die wissenschaftliche Erforschung von Gruppenbeziehungen eine Integration der praktischen Arbeit, die oft mit einer bestimmten Trainingsarbeit gekoppelt ist, ein enormes Potential birgt. Nach seinem Verständnis ist also ein Forschungsprozess nicht getrennt von der »Einmischung« zu sehen. Im Gegenteil: Aktion, Weiterbildung und Forschung geschehen gleichzeitig und spannen ein Aktionsforschungsdreieck auf; dieses begründet Lewin theoretisch und normativ. Lewin fordert die Sozialwissenschaftler auf, die Spaltung zwischen sozialer Aktion und sozialer Theoriebildung zu überbrücken und die Forschung mit der Lösung praktischer Probleme zu verbinden. Auf Lewins Aktionsforschung habe ich mich aus fünf Gründen bezogen. Der erste Grund liegt darin, dass Lewin die Aktionsforschung als einen wissenschaftlichen Forschungsansatz verstanden wissen will. In dieses Verständnis möchte ich mich einreihen. Zweitens verzahnt Lewin Praxis und Wissenschaft in einer Weise, durch die »Wissensgewinnung, Lehre und Aktion« nicht mehr voneinander zu trennen sind. Er geht sogar so weit, zu sagen, dass man bestimmte Dinge nur durch die Praxis verstehen kann, dass die Erkenntnis also nicht einzig und allein der Praxis dient, sondern die Praxis der Erkenntnis. Drittens ist es notwendig, die Methode entsprechend der Fragestellung auszuwählen. Lewin entwickelte seine Methode, um Beziehungen zwischen Gruppen (»intergroup relations«, Lewin 1946a) zu studieren. Exakt diese Thematik liegt auch der vorliegenden Arbeit zugrunde: die Fragmentierung des Libanons, basierend auf der Beziehung der konfessionellen Gruppierungen untereinander. Der vierte Grund, der für Lewins Theorie spricht, ist dessen Geographie: Damit meine ich nicht so sehr Lewins geometrische Abbildungen der Feldtheorie, sondern die Aufladung dieser Abbildungen als Teil eines »hodological space«. Im Unterschied zum euklidischen Raum bezieht sich der »hodological space« auf die erlebten/erfahrenen Räume der Subjekte, die das soziale Feld aufspannen, obwohl er von der Summe der einzelnen Räume divergiert. Dieses soziale Feld schreibt der Situation eine Wirkkraft zu. Dies ist besonders für die Erfassung von Gruppendynamiken wichtig. Hinsichtlich der Repräsentation des Feldes und der Erfassung von Transformationspotentialen weiche ich hingegen von Lewin ab. Hier möchte ich vielmehr die Gedanken zum »performative turn«

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einbeziehen. Dies führt zum fünften Grund, warum ich mich auf Lewin beziehe. Zwischen den Konzepten von Augusto Boal und Kurt Lewin sind Analogien festzustellen, die das Weiterentwickeln von Lewins Konzepten mit den Techniken und Theorien Boals als fruchtbar erscheinen lassen.

II.4.5.4 Partizipatives Ergründen von Gruppenbeziehungen im Aktionsforschungsdreieck Trotz aller vorhandenen Unterschiedlichkeit erachte ich − wegen grundsätzlicher Ähnlichkeiten − eine Integration der praktischen, partizipativen, von Augusto Boal bereitgestellten Struktur in die Gedanken Lewins zur Entwicklung eines nachvollziehbaren Forschungsdesigns für sinnvoll. Diese Integration gestattet es, die Erfassung des sozialen Feldes zu operationalisieren, wobei einerseits dem körperlichen, sinnlichen Wissen Beachtung geschenkt und andererseits ein partizipatives Verfahren zur Wissensgenerierung bereitgestellt wird. Boal liefert eine praktisch erprobte, schrittweise aufgebaute Verfahrensweise, die das im Gruppenprozess immanente Wissen der Teilnehmer bewusst macht. Dieses Verfahren ist durch seinen klaren Aufbau trotz der gegebenen Offenheit wiederholbar, was von der Debatte über die Gütekriterien von Aktionsforschung aufgenommen wird. Gleichzeitig entspricht das partizipative Vorgehen den Kriterien einer konstruktiven Intervention. Es erlaubt, das Intervenierende der Forschung mit einer Wissensgenerierung der Betroffenen zu verbinden. Bei diesem Forschungsdesign wird durch den Versuchsauf bau entschieden, ob das generierte Wissen für weiteres Handeln verwendet wird oder ob es in den Forschungskorpus bezüglich Gruppenbeziehungen einfließen soll. Der Versuchsauf bau stellt Räume für Interviews, Evaluationen und Diskussionen zwischen den Gruppenleitern zur Verfügung und ermöglicht eine detaillierte Auswertung der filmisch festgehaltenen Darstellungen mittels qualitativer Auswertungsverfahren. Im Folgenden möchte ich nun auf die Übereinstimmungen im Ansatz Kurt Lewins mit denjenigen im Verfahren Augusto Boals eingehen, was nachvollziehbar macht, warum sich beide trotz vorhandener enormer Abweichungen zusammenfügen lassen. Kurt Lewin begründet mit seiner Theorie des sozialen Feldes, warum erstens für die Betrachtung von Gruppenbeziehungen durch die Arbeit in Kleingruppen mittels Transposition Erkenntnisse über die Gesamtgruppe zu gewinnen und in Anerkennung des Feldes relevante Gesichtspunkte zu beobachten sind, die sich einer individuellen Betrachtung entziehen würden. Auch Boal arbeitet mit der Annahme, dass Wesentliches von der Gesamtgruppe in der Teilgruppe erhalten bleibt, was sich nach Lewin mit der Theorie des sozialen Feldes begründen lässt, während Boal hier von einem Prozess der Osmosis spricht. Zweitens zieht er das Feld als ein wichtiges Betrachtungselement mit eigenen Eigenschaften in die Gruppenbeziehung mit hinein. Dies ist sehr spannend, da sich der ästhetische Raum Boals auch außerhalb der dargestellten Beziehungen entfaltet und doch – wie das Feld − erst durch sie entsteht. Die Situation wird als etwas Eigenes be-

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trachtet, das auf das Geschehen wirkt. Drittens interessiert sich Lewin für die dynamischen Faktoren, für die Größen, die die Veränderung bewirken, und somit schenkt er dem Wandel sein Augenmerk. Dies entspricht der Boal’schen Suche. Viertens liefert Lewin eine methodische Grundlage, bei der der Forschungsprozess zu einem Teil eines gesamtgesellschaftlichen Engagements wird (Aktionsforschungsdreieck). Auch Boal hat das gesamtgesellschaftliche Engagement im Blick, hegt aber ebenso den Anspruch, Wissen zu generieren, und verortet sich in der Welt des Theaters. In der Haltung zum wissensgenerierenden Prozess mit den Teilnehmern gibt es jedoch entscheidende Unterschiede zwischen Boal und Lewin, die ich in der Folge erläutern möchte. Lewin identifiziert mit dem »live space« die Notwendigkeit von Erfahrung als Mittel des Lernens, welches zu einem sozialen Wandel führt. Lewin stellt sich somit dem rein kognitiven Wissen subtiler Wandlungsprozesse, wie sie bei Gruppenbeziehungen anzutreffen sind, entgegen. Diese Bedeutung von Erfahrung wurde anschließend von bestimmten Strömungen in der Aktionsforschung aufgenommen und durch Anerkennung anderer Wissensarten weiter verfestigt. Eindeutig ist Lewins Position bezüglich eines gesellschaftlich- und individuellkonstruktiven Wandels jedoch nicht. Die Frage bleibt: Gilt es, einen Raum zu schaffen, in dem Werte vermittelt und gelebt werden und in dem diese Werte von dem Sich-Wandelnden aufgenommen werden, oder gilt es, einen Raum zu schaffen, in dem der Sich-Wandelnde zu sich selber wird, was nur möglich ist, wenn das ihn umgebende soziale Feld bestimmte Qualitäten hat, die durch Werte wie Achtung, Respekt und Anerkennung geschaffen werden? Lewin hält demokratische, d.h. teilhabende Prozesse hoch und erkennt die Bedeutung eines sozialen Feldes an, das durch Ausmaß und Differenzierung vielfältige und flexible Handlungsmöglichkeiten (Ortsbewegungen, »locomotions«) erlaubt. Er hat jedoch das Verfahren, vielleicht auf Grund seines frühen Todes, nicht weiter konkretisieren können. Im Gegenteil, in seinen Schriften wird vielmehr, gerade nach Ausbruch des Krieges, eine gewisse Haltung sichtbar, die an jene der Patrone erinnert. Lewin betrachtet die Einbeziehung (»involvement«) der Teilnehmer als Grundlage − denn ausschließlich anhand ihrer Präsenz wird das soziale Feld aufgespannt, es ist infolgedessen nur dann gegeben, wenn die Teilnehmer tatsächlich beteiligt sind. Lewin legt trotzdem seinen Schwerpunkt nicht auf die Erkenntnisse der Gruppe. Augusto Boal, der ebenfalls durch die Arbeit mit Kleingruppen gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge zu erkennen sucht, schlägt hier einen klaren Weg ein, bei dem der Schwerpunkt des Bewusstseinsbildungsprozesses über gesellschaftliche Strukturen und über Möglichkeiten ihres Wandels auf den Gruppenprozess gelegt wird. Auch wenn Lewin deutlich der Gruppe und ihren generellen Eigenschaften Bedeutung beimisst und er die Erweiterung des Handlungsspielraumes des Einzelnen als Wertmaßstab für konstruktiven Wandel vorschlägt, so geht es ihm dennoch nicht um eine Befreiung von Zwangsstrukturen, welche der Ermächtigung des Einzelnen als Agenten des Sozialen Wandels eine Priorität einräumt. Dies erklärt, warum ich das Subjekt-

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verständnis von Augusto Boal mit einbeziehen möchte, welches sich in der Struktur der vorgeschlagenen Vorgehensweise niederschlägt. Die Betrachtung der Situation, seines Umfeldes, wird dem agierenden Subjekt gegenübergestellt, welches, obwohl – oder gerade weil − es sich in der gesellschaftlichen Machtkonstellation auf der unteren Ebene bewegt, Veränderung bewirken möchte und so zum Initiator der Veränderung werden kann. Der Wunsch nach Veränderung (»desire«) spannt den ästhetischen Raum auf. Auch bei Lewin ist diese persönliche Kraft, sind die Bedürfnisse (»needs«) für die Erzeugung des Feldes notwendig.24 Boal jedoch setzt hier seine Scheinwerfer auf die unterschiedlichen Machtverhältnisse und auf die Details der leiblichen Interaktion: Wie genau materialisiert sich die ungleiche Machtbeziehung, auch wenn sie aus der Mikroperspektive als eine gesellschaftliche Struktur gesehen wird? Wie sieht die konkrete Wahrnehmung, Haltung und Handlung aus? Und wie kann der Einzelne selber seinen Handlungsspielraum erweitern? Während Boal die Perspektive auf die Gruppe nur innerhalb des ästhetischen Raumes wählt, hat Lewin ständig die Gruppe und ihre Verhältnisse untereinander im Ganzen im Blick. Diesbezüglich ist das hier vorliegende Forschungsdesign deutlich von Lewin geprägt, da die Auswahl der Aktionsteilnehmer im Bewusstsein ihrer Verortung innerhalb des konfessionellen Gefüges der Gesamtgruppe vollzogen wurde (Bteich/Reich 2009). Theoretisch wird Lewin von Boal erweitert, insofern Letzterer der Frage des Beobachtens und Erkennens von sozialen Beziehungen auf der Mikroebene ein Augenmerk schenkt und er den ästhetischen Raum als Werkzeug vorschlägt. Dies begründet er sowohl praktisch als auch theoretisch. Methodisch liefert Boal aus seinem Repertoire eine sauber durchdachte und erprobte Struktur eines Prozesses mit einer Kleingruppe. Ganz nach Lewin wird diese Auswahl an Menschen dadurch zur Gruppe, dass sie sich einem gemeinsame Ziel verschrieben fühlt: der Untersuchung relevanter gesellschaftlicher Unterdrückungsstrukturen mittels interaktiver Darstellung. Boal, der anhand Theatermethoden mit Gruppen arbeitet, geht nicht davon aus, dass seine Visualisierung einer Situation im ästhetischen Raum eine Eins-zu-eins-Übertragung der Realität darstellt, sondern, dass es sich um eine Visualisierung der Situation aus der Perspektive des Protagonisten und seiner Erfahrung in der Interaktion mit der Gesellschaft handelt. Hier ist eine Ähnlichkeit zu Lewins Feld zu erkennen, bei der Lewin auch mit dem gelebten Raum der Probanden beginnt, um letztendlich das soziale Feld zu 24 | Die Kräfte, die die Spannung des Feldes erzeugen, nennt L EWIN »needs«, »induced needs« und »needs as a group member«, Ausdrücke, die durchaus sehr konfliktreich sein können. B OAL arbeitet hier mit dem Begriff des Wunsches, »desire«, bzw. des »will« und »counter will« (siehe oben), der die spannungserzeugende Kraft der Situation darstellt und sich wie bei L EWINS Bedürfnis auf ein konkretes Objekt zu beziehen hat. Bei L EWIN nennt sich die letztendliche Kraft »resultand force«, bei BOAL wird sie »dominant will« (siehe ebenfalls oben) genannt.

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erfassen. Beide, Lewin und Boal, setzen in den Abhängigkeitsstrukturen an, um dort die Handlungsspielräume, die »locomotions« der Beteiligten auszubauen. Beiden geht es jedoch im Grunde um eine gesamtgesellschaftliche Transformation. Dies festzuhalten, ist wichtig, da so während des Forschens nach Boal oder Lewin stets der gesamtgesellschaftliche Kontext im Bewusstsein ist und auch die Forschung als Teil des gesamtgesellschaftlichen Werdens begriffen wird. Bezüglich der Mikro-Makro-Perspektive tut sich, ausgehend vom Boal’schen Subjektverständnis und von der Operationalisierung des Verfahrens auf seine Weise, eine Frage auf: Inwieweit läuft eine handlungszentrierte Position Gefahr, dass systematisch wirkende Strukturen aus dem Blickfeld der Akteure geraten (siehe auch Blotevogel 1999: 23)? Dies gilt in gewissem Sinne auch für Lewin, da das soziale Feld ja aus dem »live space« der Betroffenen entwickelt wird. Allerdings spricht Lewin diesem sozialen Feld dennoch eigene Eigenschaften zu, was Raum lässt für Strukturen, die nicht in der Perspektive der Betroffenen erscheinen. Hier ist die Unterscheidung zwischen System- und Sozialintegration nach Anthony Giddens hilfreich (Giddens 1997). Während die Sozialintegration durch Kopräsenz gekennzeichnet ist, wird die Systemintegration durch strukturelle Integrationsformen, wie z.B. Grammatik einer Sprache, Gesetzeskorpora und Traditionen, ermöglicht (Giddens 1997: 171-173).25 Bei Boal wird die Systemintegration durch den Joker ins Spiel gebracht, der mittels analoger Induktion vom Speziellen auf das Allgemeine schließt und die Diskussion im Forum ermöglicht. Dennoch, denke ich, liegt hierin ein kritisches Moment, weshalb ich die Darstellungen mit bewährten Auswertungsverfahren analysiere und ich die Literatur zur sozialen Fragmentierung im Libanon und zum Konfessionalismus voranstellte. Auch wenn es Boal vorrangig um Veränderung geht, so erfolgt doch durch den Versuch der Veränderung das Sichtbarmachen, und dieses geht der Veränderung voraus. Dieses Sichtbarmachen ist eine Erkenntnis über die Strukturen. Lewin beobachtet die Teilgruppe und interveniert in den Prozess, vollzieht dann aber die Visualisierung des Feldes auf einem zweidimensionales Papier in eigener Verantwortung. Boal hingegen hat den Darstellungsprozess der sozialen Abhängigkeitsverhältnisse im Blick, den er partizipativ, sinnlich, im Werden gestaltet. Das Konzept des ästhetischen Raumes nach Boal ermöglicht es somit, den Kreis zu schließen: Es wird einerseits der Forderung der Aktionsforschung gerecht, die nicht »über« sondern »mit« Menschen forscht (Reason 1994), da es eine wiederholbare, partizipative Struktur der Wissensgenerierung liefert. Andererseits fügt es sich in die Diskussion zum »performative turn« ein, die auf der Mikroperspektive eine Verknüpfung von Identität und Handlung, Performance und Sein zu erforschen erlaubt und mit ihrer sinnlichen Kommunikation dem Moment des Werdens in der Situation Beachtung schenkt.

25 | Beide Integrationsformen sind an der GIDDENS’SCHEN Regionalisierung beteiligt und beeinflussen sich gegenseitig (Giddens 1988: 171-173).

Teil III Das Spiel der Kräfte des sozialen Feldes im ästhetischen Raum: Interaktive Aufführungen

III. 1 Forschungsdesign: Produktion der Darstellungen und angewendete Interpretationsverfahren III.1.1 D ATENERHEBUNG ZUR P RODUK TION III.1.1.1 Genese der Aktion »Enacting Places of Change« Da die Daten der vorliegenden Forschungsarbeit zur gruppendynamischen Fragmentierung im Nachkriegslibanon auf Aktionsforschung basieren, legte ich im vorangegangenen Kapitel die Theorie des sozialen Feldes, die Methode der Aktionsforschung und die spezielle Form der Performance des Boal’schen ästhetischen Raumes, das Forumtheater dar. Im Folgenden möchte ich nun auf die Details der Aktion »Enacting Places of Change« eingehen, die zu den von mir weiter analysierten Daten führte. Dieser Untersuchung liegt das Filmmaterial von Theatervorstellungen zugrunde, die im Jahre 2007 aufgeführt und produziert wurden. Diese Forumtheatervorstellungen fanden im Rahmen einer Aktionsforschung mit dem Titel »Enacting Places of Change« statt. Sie wurde im Februar und März 2007 in Zusammenarbeit der libanesischen Organisation »Ala Boued Amtar« (»A Step Away«) mit »sabisa – performing change e.V.« (siehe auch unter www.sabisa.de) durchgeführt und von der Berghof Stiftung für Konfliktforschung GmbH gefördert. Die Aktion »Enacting Places of Change« verfolgte den Anspruch, auf die Beziehungsbildung im Nachkriegslibanon konstruktiv einzuwirken. Dabei wurde versucht, die Fragmentierung des Landes, welche durch bestimmte Beziehungsbildungsprozesse zustande gekommen ist, besser zu verstehen. Dazu wurden Jugendliche aus den ehemals verfeindeten Gruppierungen zusammengebracht, um in einer Workshop-Reihe ein Theaterstück zu erarbeiten, welches dann an verschiedenen Orten des Landes aufgeführt wurde. In der Workshop-Phase entschieden sich die Teilnehmer für die Bearbeitung und Untersuchung des Konfessionalismus (®›¸LIL\DK). Dieses sozialgeographische Phänomen wurde als Ursache für die Fragmentierung des Landes herausgestellt. Die Theateraufführungen sind das Ergebnis des Gruppenprozesses, in dem man sich interaktiv mit dem

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Phänomen des Konfessionalismus auseinandersetzte. Diese Aufführungen, die filmisch festgehalten wurden, stellen das Hauptmaterial der vorliegenden Untersuchung dar (die übersetzte Transkription der Aufführungen ist im Anhang beigefügt).1 Meine Verfahrensweise mit diesem Material, wird im nächsten Kapitel genau dargelegt. Die Auswahl der Jugendlichen war durch »Ala Boued Amtar« erfolgt. Die Jugendlichen entstammen verschiedenen Regionen des Libanons und unterschiedlichen konfessionellen Lagern: Sie sind Drusen, Schiiten, Sunniten, Orthodoxe Christen und Maroniten. »Ala Boued Amtar« ist eine libanesische NGO, die von einer Gruppe junger Künstler und sozialer Aktivisten im Jahre 2000 gegründet wurde.2 Sie setzt Kunst als ein Instrument ein, Beziehungen zwischen den verschiedenen Konfessionen zu schaffen. Während diese NGO noch recht jung ist, sind ihre Mitglieder alle schon seit mehreren Jahren in der Friedensbildung aktiv. Ihr Anliegen ist es, im Libanon Aktionen zu gestalten, die eine Begegnung zwischen den verschiedenen Konfessionen ermöglichen, Stereotypen des »anderen« abzubauen und langfristig Aktionsformen zu finden, welche die konfessionellen Strukturen des Landes überwinden helfen.3 Das Forumtheater bietet aber auch die Möglichkeit, in weitere Kreise der Gesellschaft einzuwirken und somit den Konfessionalismus in einem öffentlichen Raum zu thematisieren. 4 Das Sommerlager mit dem Projektnamen »Der Andere« (»DO $¦DU«) ist ein Format, welches »Ala Boued Amtar« in der überkonfessionellen Beziehungsbildung verwendet. Dabei kommen Jugendliche mit unterschiedlichem Hintergrund für ein bis drei Wochen zusammen und führen gemeinsam künstlerische Aktivitäten durch. So kam es, dass das Forumtheater in den Rahmen eines gewohnten Formates eingebaut wurde. Das Format war somit einerseits altbekannt. Andererseits war das Thema »Forumtheater« aber neu; und auch der Veranstaltungsort, ein Gemeindezentrum, in dem die Organisation einen Raum als Büro benutzen kann, war neu und wurde zum ersten Mal für diese Gruppenarbeit benutzt. Die Entscheidung für diesen Ort, anstatt für ein Ferienlager in den Bergen wie beim Format »Der Andere«, lag darin begründet, dass das Projekt mehrmals hatte verschoben werden müssen. 1 | Der Anhang ist mit folgender Website verlinkt: http://www.transcript-verlag.de/ts 1910/ts1910.php 2 | Siehe Seite 1 der Internetseite von »$OD%RXHG$PWDU«: www.astepaway.org/ (zuletzt aufgerufen: 02.03.2008). 3 | Interview mit FADI A L-TURK und R ICHARD B TEICH vom 12.10.2005. 4 | Interview mit R ICHARD B TEICH vom 04.11.2005. Die Idee, ein Forumtheaterprojekt durchzuführen, war im November 2005 entstanden, als ich Richard Bteich über die friedensbildenden Aktionen im Lande interviewte und wir dabei über Friedensarbeit und Kunst ins Gespräch kamen. In diesem Zusammenhang erzählte ich ihm von der Methode des Forumtheaters, die ihn sehr interessierte.

III.1 Forschungsdesign: Produktion der Darstellungen und Interpretationsver fahren

Meine Rolle bestand darin, die Techniken des Forumtheaters in das Format einzubringen. Dabei hatte ich die Möglichkeit, intensive Einblicke in die Aktion zu erlangen, und war mit einer klar umrissenen Aufgabe am Prozess beteiligt. Meine Einmischung war auf einen definierten Bereich beschränkt, so dass ich bei den Aufführungen als vertraute Zuschauerin mit anwesend sein konnte, ohne weitere Aufgaben zu haben. Das Hauptgewicht der Verantwortung lag bei »Ala Boued Amtar«, die – wie gesagt – die Teilnehmer rekrutierte, zudem die Partnerorganisationen, Zeiten und Orte auswählte, die Ausgaben koordinierte sowie die inhaltliche Form bestimmte. Die Rollenambivalenz als Spielleiterin, Trainerin (»facilitator«) und Forscherin habe ich nicht dadurch aufzulösen versucht, dass ich mich auf bloße Beobachtung des gesamten Prozesses beschränkte. Wie meine Kollegen von »Ala Boued Amtar« meinten, würde die Anwesenheit einer nur beobachtenden Person den ganzen Prozess der Untersuchung nachhaltig stören. Stattdessen habe ich mich für eine klare Rolle im Prozess als »Trainerin« entschieden. Entscheidungen wurden großteils in Teamsitzungen gefällt. In Anbetracht meiner Fremdheit und Unkenntnis der Situationsdetails in ihrer politischen Brisanz verstand ich mich jedoch mehr als eine Fragende, lernende Person, deren Stärke und Entscheidungskraft sich auf die Techniken des Forumtheaters beschränkte. Die Aktion war sozusagen in zwei Phasen unterteilt, in die Workshop- und die Aufführungsphase. Eigentlich hätte sowohl die Workshop- als auch die Aufführungsphase im Sommer 2006 stattfinden sollen. Wegen des sogenannten »Sommerkrieges« im Jahre 2006, bei dem über 1.200 Libanesen und über 160 Israelis ums Leben kamen, wurde die Aktion jedoch um ein halbes Jahr verschoben. Der Krieg begann am 12. Juli und hinterließ eine massive Zerstörung, besonders im Süden des Landes sowie im Süden Beiruts; neue Kriegserinnerungen wurden geschaffen und die alten wiederbelebt. Die gesamte Infrastruktur des Landes war durch die Zerstörung von Straßen, Fabriken, Krankenhäusern, Schulen und Häusern betroffen. Der fast einen ganzen Monat andauernde Krieg verschärfte die Spannungen, die zwischen den beiden politischen Blöcken »8. März« und »14. März« bestanden und destabilisierte die innere Sicherheit des Landes. Politische Attentate und Autobomben waren die Folgen. Während unser Projekt zu einer Zeit konzipiert worden war, in der es um den Abbau von Spannungen ehemals verfeindeter Gruppierungen durch eine Begegnung mit Jugendlichen aus den verschiedenen Konfessionen ging, geriet es nun zu einem Projekt, bei dem massive Feindseligkeiten an der Tagesordnung waren. Die Frage war, ob das Projekt in so einem Klima überhaupt durchgeführt werden konnte; der dafür angedachte Termin verschob sich infolgedessen ständig nach hinten. Das Sicherheitsgefühl war durch die herrschende Anspannung, sichtbar an den politischen Attentaten, derart geschwächt, dass, selbst wenn eine Bereitschaft zur Begegnung mit einem konfessionell anderen gegeben war, das Risiko, sich im Lande, ja gar in Beirut zu bewegen und für die Treffen zur »anderen Seite« zu fahren, häufig als zu hoch angesehen wurde. Demgegenüber stand

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die Überlegung, dass gerade in dieser Situation friedensbildende Aktionen nicht ausstehen dürfen. Eine Auseinandersetzung auf dem Campus der Beirut Arab University (BAU) am 25. Januar 2007, bei der drei Studenten ums Leben kamen5, verstärkte diese Ansicht. Zumindest erhielt ich darauffolgend, im Februar 2007, eine E-Mail mit der Information, dass »Ala Boued Amtar« in einer Woche, also in der Zeit der kurzen Ferien nach den Klausuren an den Hochschulen mit dem Projekt beginnen wollte. Die Rekrutierung der Teilnehmer war bereits im Sommer 2006 abgeschlossen gewesen. Dennoch veränderte sich die Gruppenzusammensetzung, da einige Eltern in Anbetracht der Situation nun doch gegen die Teilnahme ihrer Kinder waren. Die Gruppe setzte sich aus 14 Jugendlichen zwischen 17 und 22 Jahren zusammen und wurde ergänzt um Richard Bteich, Fadi Al-Turk und mich als Teamleiter sowie um Roger Amine als Filmemacher. Wie die Auswahl der Teilnehmer im Detail zustande gekommen war, blieb für mich bis zum Schluss etwas unklar. Das Ziel war es, »to work with a group […], that represents the diversity of the Lebanese society« (Bteich/Reich 2009: 3). Der Auswahlprozess war wohl ziemlich zeitaufwendig gewesen, »Ala Boued Amtar« hatte auf Vorschläge von Schulen und von ihr bekannten NGOs zurückgriffen und daraufhin die Teilnehmer interviewt (Bteich/Reich 2009: 3). Damit war auf das soziale Netz, das durch interkonfessionelle Aktionen aufgebaut worden war und für die Auswahl eine Vertrauensbasis darstellte, zurückgegriffen worden. Die Mischung der Gruppe war eine äußerst heikle Angelegenheit. Auf die Frage der Auswahl hin erklärte Fadi Al-Turk, dass das Kriterium der konfessionellen Zugehörigkeit wichtig gewesen sei, da erwünscht war, dass sich die Gruppe aus Sunniten, Schiiten, Drusen, Griechisch-Orthodoxen und Maroniten zusammensetzen sollte und die Teilnehmer aus »verschiedenen Regionen des Landes« kommen sollten. Gleichzeitig meinte Fadi Al-Turk aber auch, dass das soziale Engagement eine Rolle spiele, das Geschlechtergleichgewicht sowie die »Gruppenzusammensetzung«. 6 Bei letztgenanntem Kriterium ging es darum, wie mir im Laufe der Zeit klar wurde, welche Ansichten die jeweiligen Personen vertreten, d.h., ob sie gegenüber dem konfessionell anderen eher offen oder eher negativ eingestellt sind. Auf meine diesbezügliche Rückfrage erklärten mir die meisten Gruppenmitglieder, dass sie gefragt worden waren, ob sie an einem Theaterprojekt zum Thema Konfessionalismus teilnehmen wollten. Acht der 14 Teilnehmer hatten schon bei einer Aktion von »Ala Boued Amtar« mitgemacht, eine Teilnehmerin kam hinzu, weil ein Verwandter den Prozess anlaufen gesehen und befunden hatte, dass dies eine gute Sache für sie sei. Wenn die Auswahl über Beziehungen auch in mancherlei Hinsicht als merkwürdig erscheinen mag, so möchte ich hierzu anmerken, dass

5 | Das politische Geschehen an den (Elite-)Universitäten (einschließlich der dortigen Wahlen) ist hochgradig mit der Politik des Landes verwoben, siehe Zaazaa 2007. 6 | Gespräch mit FADI A L-TURK vom 04.04.2007.

III.1 Forschungsdesign: Produktion der Darstellungen und Interpretationsver fahren

in dieser Zeit der politischen Spannung die Sicherheit der Aktion nur durch das Netzwerk erhalten werden konnte. Nach der Gruppenarbeit und Skriptentwicklung in der Workshop-Reihe wurde das entwickelte Forumtheaterstück an fünf verschiedenen Orten aufgeführt. Drei Orte wählte ich aus und analysierte die dortigen Aufführungen im Rahmen der vorliegenden Arbeit. Die Wahl dieser drei Orte war rein pragmatisch begründet und ergab sich aus folgenden Gründen: Eine der fünf Aufführungen war eine Generalprobe und hatte dementsprechend wenig Publikum; die anschließende Diskussion war ebenfalls im Stile einer Probe und wurde nur deshalb geführt, damit die Darsteller ein Gefühl dafür bekamen, wie so eine Diskussion ablaufen könnte. Die fünfte und damit letzte Aufführung wurde nur teilweise gefilmt, da der eigentliche Kameramann nicht anwesend sein konnte. Da mir die Vollständigkeit des Materials für eine detaillierte Untersuchung wichtig war, schied auch diese Aufführung aus, sodass meine Wahl auf die übrigen drei fiel.

III.1.1.2 Ablauf der Aktion: Ein partizipativer Gruppenprozess mit dem Ergebnis Performance Vor dem Sommerkrieg war geplant gewesen, in den Sommerferien am Stück einen zweiwöchigen Workshop durchzuführen. Auf Grund der terminlichen Verschiebung und der prekären Sicherheitslage wurde dieser Plan geändert und man wählte stattdessen die Form von vier dreitägigen Workshops, jeweils an Wochenenden. Die Workshops fanden in Beirut statt, jenem Ort, der für alle einigermaßen erreichbar war. Den Treffpunkt dort bildete das »Social Centre of Sisters of Charity« im Ostteil der Stadt, Ashrafiyeh, da dieses Gemeindezentrum einen ausreichend großen Arbeitsraum, einen Seminarraum sowie eine gute Verpflegung im Hause zu einem günstigen Preis zur Verfügung stellte. Gleichzeitig bot es auch Schlafmöglichkeiten für jene Teilnehmer, die nicht woanders in Beirut hatten unterkommen können (Bteich/Reich 2009: 2-3). Es wurde deutlich, dass »Ala Boued Amtar« bereits seit langem an diesem Ort aktiv war: Die »Sisters of Charity« hatten »Ala Boued Amtar« zur deren Anfangszeit einen Computerplatz und einen Abstellraum für die ganzen Requisiten, die Filmkameras und die sonstigen Materialen kostenlos zur Verfügung gestellt, wodurch »Ala Boued Amtar« überhaupt erst – zu Beginn noch ohne Kapital – ihre Arbeit aufnehmen konnte. An diesem Ort war es somit möglich, kurzfristig mit der Arbeit zu beginnen, da ein Vertrauensverhältnis zu den Besitzern bestand. Auf die Frage hin, ob es nicht einen negativen Einfluss habe, dass der Workshop nicht nur in einem christlichen Wohngebiet (Ashrafiyeh), sondern gar in dem Gebäude einer christlichen Institution stattfand, antwortete man mir ausweichend bzw. dass dies keine Relevanz habe.7 Dass »Ala Boued Amtar« diesen Workshop lieber an einem neutralen Ort durchgeführt hätte, wurde in späteren Gesprächen deutlich. Auf Grund der kon7 | Gespräch mit FADI A L-TURK und R ICHARD B TEICH vom 06.02.2007.

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fessionellen Struktur der Stadt sind dort neutrale Orte – falls überhaupt existent – nicht so leicht ausfindig zu machen und ihre Nutzung ist eine kostspielige Sache. Das gewählte Gemeindezentrum war also eine pragmatische Lösung. Anders als ich es zunächst erwartet hatte, schien mir im Verlauf des Workshops, dass die Teilnehmer mehr von dem guten Essen entzückt waren, als von der Tatsche abgeschreckt wurden, dass dies in einem christlichen Umfeld gegeben wurde. Es ist in Beirut einfach »normal«, dass ein Ort eine konfessionelle Färbung hat. Das Gemeindezentrum besteht aus einem Eingangsbereich (in dem sich die Toiletten befinden sowie das Treppenhaus zu den oberen Etagen), aus zwei Arbeitsräumen, einer Küche, einer Terrasse mit Karten und einem weiteren Raum, der von »Ala Boued Amtar« als Materialraum genutzt wurde. Einer der Räume war normalerweise mit Computern bestückt, da in ihm unter der Woche Weiterbildungsmaßnahmen stattfanden. Hier waren die Tische nur zum Teil zur Seite gestellt. Zwei Computer standen zur Verfügung, so dass ein E-Mail-Zugang bestand und in den Pausen Bilder, Filme und Musik gezeigt und abgespielt werden konnten. Der andere Raum war ganz leer geräumt; hier fand hauptsächlich unsere Arbeit statt. An allen Workshops waren Richard Bteich, Fadi Al-Turk, Roger Amine und ich beteiligt. Roger Amine, unser Filmemacher, war nicht die ganze Zeit dabei, sondern kam zu ausgewählten Sektionen zum Filmen. Weitere Mitarbeiter von »Ala Boued Amtar« stießen zeitweise zur Gruppe. Während Richard Bteich für die Organisation verantwortlich war und Übungen zu Gruppenbildung, Konfliktbearbeitung und aus dem »Anti-Bias«-Training durchführte, lag mein Part in der Anleitung der Übungen aus dem Repertoire des »Theaters der Unterdrückten«. Fadi Al-Turk leitete die Übungen zur ästhetischen Ausbildung von Stimme, Gestik und Bewegung. Er war für die Inszenierung des Stückes verantwortlich und übernahm die Regiearbeit. Die Geschichten wurden entsprechend der Methode des »Theaters der Unterdrückten« erarbeitet. Dieser Prozess ging über drei der vier Wochenenden. Die Teilnehmer erhielten Fragen, die sie im Laufe der Woche während ihres normalen Alltags beantworten sollten. Eine Aufgabe bestand darin, dass die Teilnehmer in ihrem Alltag diskriminierende Sätze sammeln und zudem notieren sollten, an welchen Orten diese Sätze gesprochen worden waren. Außerdem wurden sie aufgefordert, einen Gegenstand zu finden und mitzubringen, der für sie persönlich etwas symbolisiert, was ihnen sehr wichtig ist. Eine dritte Aufgabe fragte nach Konflikten, die die Teilnehmer erlebt hatten, oder nach im Alltag erlebten Situationen, in denen sie sich selbst oder nahestehende Personen sich unterdrückt gefühlt hatten. Diese Geschichten wurden gesammelt, in Kleingruppen selektiert und improvisiert dargestellt. Anschließend wurden sie in der großen Gruppe diskutiert. Anders als im sonst üblichen Ablauf wurde nicht beim nächsten Mal an den ersten Geschichten weitergearbeitet, sondern die alten Geschichten wurden verworfen und neue in Kleingruppen improvisiert dargestellt und anschließend in der Großgruppe diskutiert. Fadi Al-Turk erklärte mir dazu, dass er von Kli-

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schees wegkommen wolle und dass er spüre, je besser sich die Gruppe kenne und je mehr Geschichten dargestellt würden, er umso näher an jene Geschichten herankäme, welche die Teilnehmer wirklich beträfen. 8 In diesem Prozess wurde deutlich, wie subtil und weit verbreitet das Phänomen des Konfessionalismus ist und wie stark es in die verschiedenen Bereiche des alltäglichen Lebens hineinfließt. Die beiden Trainer entschlossen sich dann in Absprache mit der Gruppe, für die Ausarbeitung des Theaterstückes keine Geschichte zu nehmen, bei der es um Familienkonflikte und um extreme Gewalt geht. Man wollte damit vermeiden, dass sich jemand vom Stück provoziert fühle und zu extremen Reaktionen bewegt würde (Bteich/Reich 2009: 4). Diesen Ausschluss fand ich sehr bezeichnend, da jene Geschichten von Relevanz waren, starke Emotionen auslösten und von den Laien mit enormer Überzeugung gespielt wurden. Sie verdeutlichten, dass sich im Grunde die tatsächlichen Konflikte in der Familie abspielten und dass dies aber ein zu »heißes« Thema war, als dass es im geplanten Rahmen in einem halböffentlichen Raum zur Disposition gestellt werden konnte. Man entschied sich daher für die Darstellung von Konflikten, die sich im Alltag von Studenten außerhalb des intimen Kreises der Familie ereigneten. Eine Beschreibung der Gruppe ist dem Bericht »Enacting Places of Change. A Report« zu entnehmen, wobei auch ein wenig auf die beteiligten Personen sowie auf die Wirkung des Projektes auf sie eingegangen wird (Bteich/Reich 2009: 1112). Dies fußt auf der Grundlage unseres Evaluierungsbogens9 sowie auf Gesprächen mit den Teilnehmern. In der Beschreibung dieser wurde deren jeweilige Konfession nicht angegeben, die Angaben reichen jedoch dafür aus, dass ein Libanese wohl die entsprechende Konfessionalität erschließen kann.

III.1.2 I NTERPRE TATIONSVERFAHREN : I NDUK TIVE UND DEDUK TIVE I NHALTSANALYSE Die theatralen Vorführungen waren das Ergebnis einer Aktion der Beziehungsbildung zwischen ehemals verfeindeten Gruppen. Sie hatten gleichzeitig die Bewusstwerdung über die Modi von Beziehungsbildung in einem durch Konfessionalismus strukturierten sozialen Feld zum Ziel. So konstituierte sich ein Aktionsforschungsdreieck, bei dem Aktion, Bewusstseinserweiterung/Training und Forschung jeweils einen Teil bildeten. In einem Gruppenprozess war ein Stück entwickelt worden, welches aus der Reflexion über das Phänomen ®›¸LIL\DK folgte und gleichzeitig eine Frage an das Publikum formulierte. Diese Frage wurde dann vom Publikum verbal und nonverbal beantwortet. 8 | Gespräch mit FADI A L-TURK vom 22.02.2007. 9 | Der abschließend von allen Teilnehmern ausgefüllt wurde (siehe Anhang 3b: Fragebogen).

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Obwohl ich die gesamte Aktion begleitet habe und die dadurch generierten Daten (wie Filmmitschnitte und Forschungstagebuch-Aufzeichnungen) auswertbares Material darstellen, wählte ich für die vorliegende Untersuchung die Analyse der interaktiven Aufführungen als Grundlage. Der Grund für diese Wahl liegt darin, dass erstens die interaktiven Aufführungen ein Ergebnis des Gruppenprozesses öffentlich zur Diskussion stellen und damit die Darstellungen auf einem anderen Verallgemeinerungslevel angesiedelt sind, als diejenigen innerhalb des Workshops. Zweitens ermöglicht dieses Material durch die Hinzunahme qualitativer Auswertungsverfahren eine eigenständige wissenschaftliche Auswertung, eine Transposition der Daten, was nicht im Interesse der anderen Gruppenmitglieder lag. Drittens erlaubt es die Öffentlichkeit dieser Aufführungen, das Material in einer Publikation zu verwerten, ohne das in friedensbildenden Prozessen gültige Vertraulichkeitsgebot zu brechen. Im erlebten interaktiven Prozess der Aufführung wird Wissen übermittelt, welches sich teilweise nicht in der Zweidimensionalität einer Publikation erfassen lässt. Dennoch kann man die interaktive Performance, beobachtet und filmisch dokumentiert, als eine »Karte« betrachten, die wie jede Karte relevante Dinge hervorhebt und andere in den Schatten stellt. Damit lässt sich die Darstellung lesen und lassen sich Aussagen über die Beziehungsbildung erhalten. Einerseits richte ich somit die Frage nach der sozialgeographischen Segregation an die Darstellung selber, an die auf der Bühne dargestellten Inhalte. Andererseits wird, unabhängig von den dargestellten Inhalten, die Aufführung eines Stückes, welches das Publikum zum Mitreden auffordert, als Methode ausgewählt, um die konfessionellen Mechanismen der Beziehungsbildung im Libanon zu verändern. Der Versuch, die sozialräumliche Differenzierung zu verändern, welcher selber eine soziale Interaktion darstellt, sagt wiederum etwas über die Art und Weise der sozialräumlichen Differenzierung aus. Eine weitere Frage richtet sich folglich an die gesamte Aktion: Was sagt die Aktion »Interaktive Aufführung« über die sozialräumliche Differenzierung mittels des Phänomens Konfessionalismus aus? Unter Hinzunahme der Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Raum lassen sich interessante Thesen in der Betrachtung der Aktion bezüglich des Phänomens ®›¸LIL\DK aufstellen, die eine weitere Dimension des Phänomens erkennen lassen und damit die Sinnhaftigkeit von kreierten Theaterräumen als Untersuchungsräume für sozialgeographische Phänomene bestätigen. Die Theateraufführungen, die das Ergebnis der Aktion darstellen, bilden das Herz der Untersuchung. Es war daher notwendig, sich zunächst einer Analyse dieser Darstellung zu widmen, um in gewissem Sinne das Material aufzuarbeiten. Da ich hier nicht direkt auf den Konfessionalismus eingehe, bezeichne ich diesen Vorgang einer Aufführungsanalyse, die sich aus einer Inszenierungsanalyse nach Pavis und einer zusammenfassenden Inhaltsanlyse nach Mayring zusammensetzt, als einen Exkurs. Die Analyse ist insofern wichtig, da ich mit der systematischen Untersuchung des ästhetischen Raumes, der Stimmungen und Haltungen den Blick auf die subtilen Aspekte der sozialen Interaktion innerhalb

III.1 Forschungsdesign: Produktion der Darstellungen und Interpretationsver fahren

der dreidimensionalen Aufführungen gelenkt habe. Die Untersuchung dient dazu, diese Aspekte in den anschließenden textbezogenen Inhaltsanalysen zu bewahren und sie nicht vollkommen verlorengehen zu lassen. Als schriftliche Grundlage für die Textanalysen dient ein Skript, welches ich aus dem Filmmaterial der Aufführungen extrahiert (Anhang 1a) und ins Deutsche übersetzt habe (Anhang 1b). Mit den Verfahren der zusammenfassenden, der induktiven und der deduktiven Inhaltsanalyse beziehe ich mich auf Mayrings Textanalysen. Diese dienen dazu, das Material aus einer kommunikativen Interaktion zu bearbeiten (Mayring 1991: 208).10 In der induktiven Inhaltsanalyse (Kapitel 2.2) habe ich zunächst Selektionskriterien für die Kategorienbildung festgelegt, wobei ich induktiv mit dem Blick auf das Phänomen ®›¸LIL\DK vorgegangen bin. In der deduktiven, qualitativen Inhaltsanalyse (Kapitel 2.3) habe ich mit Kategorien gearbeitet, welche ich anhand der theoretischen Überlegungen zum öffentlichen Raum deduktiv hergeleitet hatte (Mayring 1999: 92). Aufbereitet habe ich das Material, indem ich nach einer allgemeinen Durchsicht die gefilmten Darstellungen auf Arabisch transkribiert habe. Dabei habe ich versucht, möglichst nah am gesprochenen arabischen Dialekt zu bleiben. Dennoch fand eine Übertragung in das Schriftarabische statt. Dies ist meiner Ansicht nach deshalb erlaubt, weil eine inhaltlich-thematische Fragestellung im Mittelpunkt der Analyse steht (Mayring 1999). Starke Veränderungen und mir unklare Stellen habe ich markiert. Daraufhin habe ich die transkribierten Texte ins Deutsche übersetzt (siehe Anhang 1b). Bei der Übersetzung ins Deutsche habe ich in erster Linie versucht, möglichst nah am arabischen Text zu bleiben. Daraus resultierten Fälle, deren Aussage im Deutschen etwas unklar blieb, weshalb ich einen meiner Meinung nach angemessenen deutschen Wortlaut in runden Klammern beifügte. In eckigen Klammern habe ich dann arabische Worte und Sätze in die deutsche Übersetzung hineingenommen, wenn es mir wichtig erschien. Ansonsten habe ich mich bei der Transkription an das System von Kallmeyer und Schütze gehalten (Mayring 1999: 71). Da ich davon ausgehe, dass die meisten Leser der vorliegenden Studie eher nicht Arabisch sprechen und beim Lesen kein Abspielgerät dabei haben, beziehe ich mich in den Verweisen auf die Seitenzahlen der übersetzten Transkription im Anhang. Für diejenigen, die das Arabische hören möchten und die sich die Zeit nehmen, auf den körperlichen Ausdruck sowie auf Raum und Bild einen Blick zu werfen, habe ich in den Belegen die Minutenzahl der zitierten Stelle im Film auf den CD-ROMs angegeben. Beigefügt habe ich nur die Dokumentation, die auf dem Film in .ID\U basiert, da sie mit englischen Untertiteln versehen ist. Allen Interessierten empfehle ich, einen zumindest kurzen Blick auf die filmisch festgehaltene Dokumentation zum Verständnis der Diskussion zu werfen.

10 | »Das Ziel von Inhaltsanalysen ist die systematische Bearbeitung von Material aus Kommunikationen.« (Mayring 1991: 208)

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III.2 Exkurs: Aufführungsanalyse − Beschreibung der Aufführungsdynamik

Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit liegt auf einer Analyse des Phänomens ®›¸LIL\DK, wobei als Instrument der ästhetische Raum herangezogen wird. Aus diesem Grund stelle ich der induktiven und der deduktiven qualitativen Inhaltsanalyse eine Aufführungsanalyse voraus, die sich aus einer Inszenierungsanalyse und einer zusammenfassenden Inhaltsanalyse zusammensetzt. Dadurch möchte ich der ästhetischen, der sinnlichen, nonverbalen Kommunikation einen Platz einräumen, durch die der ästhetische Raum wirkt. Da dies nur indirekt in die Analyse des sozialen Feldes des Konfessionalismus einfließt, ist dies als ein Exkurs zu betrachten. Der erste Teil der Aufführung, in dem die Schauspieler anhand des Skripts das Stück zeigen, stellt im Prozess einer Forumtheateraufführung methodisch das Äquivalent zu einer Fragestellung dar. Da die Fragestellung einen wissensgenerierenden Prozess entscheidend formt, ist es berechtigt, dass ihr besonders viel Aufmerksamkeit gewidmet wird. Sie bleibt als ein inszenierter Mittelteil unverändert. Die Frage ist nicht auf eine verbale Formulierung reduzierbar, vielmehr steht sie zum aufgeführten Skript quer. Sie formuliert sich zwischen den Zeilen mit Hilfe von Aussagen, Gesten, körperlichen und räumlichen Anordnungen. Sie ist eine Aussage, die im Zusammenspiel mit dem Joker zu einer Frage wird. Der Auftritt des Jokers nach jeder Darbietung des inszenierten Teils gleicht dem Anfügen des Fragezeichens in einer schriftlichen Fragestellung. Die Antworten auf diese Frage hat das Publikum verbal und körperlich in den drei Aufführungsorten zur Schau gestellt. Auch hier habe ich die Darstellungen zunächst nicht unter dem Gesichtspunkt des Konfessionalismus betrachtet. Vielmehr habe ich bei der Entwicklung des Kategoriesystems für die zusammenfassende Inhaltsanalyse (Mayring 1999: 73-75) den Schwerpunkt auf Atmosphäre und Stimmungen gelegt, um mich nicht zu schnell auf das verbale Material zu versteifen und die interkorporale Aktion im Blick zu behalten. Im Prozess der Inszenierung wird eine Selektion vorgenommen. Entscheidungen werden getroffen, die dafür sorgen, dass die Aufführung zerteilbar ist

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und dennoch als ein Ganzes existiert, wobei jeder Bestandteil der Aufführung zur Bildung und zum Verständnis des Ganzen beiträgt. Deswegen macht es Sinn, einzelne Elemente zunächst getrennt zu betrachten. Der Fragenkatalog von Pavis bezieht sich auf 14 verschiedene Elemente einer Performance (Pavis 1988: 100-107; Balme 2003: 89).1 Das Herausragende des Ansatzes von Pavis liegt in der Wertschätzung der »Interkorporealität«, der »zwischenkörperlichen« Kommunikation von Zuschauer und Darsteller (Pavis 1995: 222). Die Parameter des Fragenkataloges sind als ein Raster zu verwenden und der Katalog richtet eine möglichst gefächerte Aufmerksamkeit auf vielleicht auch entlegene Aspekte der Inszenierung. D.h., der Fragenkatalog ist »als Instrument und nicht schon selbst als Zweck und Ziel der Analyse zu betrachten« (Balme 2003: 88). Deshalb fand ich Pavis’ Verfahren passend, um es als Grundlage für weitere Analysen zu verwenden. Der Fragenkatalog richtete sich nicht an Interviewpartner, sondern an den Forscher, der gleichzeitig Zuschauer ist. In diesem Fall ist er einer, der aus einem ganz anderen kulturellen Kontext als die Darstellenden und die anderen Zuschauer kommt, der aber anders als in den gängigen Aufführungsanalysen die Produktion von Anfang bis Ende teilnehmend und beobachtend mit verfolgt hat. Ferner ist der Fragenkatalog zur Analyse einer inszenierten Aufführung entwickelt worden, was nur für den ersten Teil des Forumtheaterauftritts gilt, bei dem das Skript gespielt und vorgeführt wird. Zusätzlich liegt bei Pavis ein Schwerpunkt auf der ästhetischen Produktion, während für mich die soziale Aktion als Prozess der Wissensgenerierung bezüglich des Phänomens ®›¸LIL\DK (Konfessionalismus) interessant ist.

III.2.1 D IE D ARSTELLUNG DES S TÜCKES ALS K R AF TFELD (I NSZENIERUNGSANALYSE NACH P AVIS) Die Betrachtung des darstellenden Raumes ist der Betrachtung einer Aufführung immanent. Aus diesem Grund hat Patrice Pavis 14 Bereiche identifiziert, die in einer Inszenierungsanalyse einzeln untersucht werden sollen. Die Betrachtung der Inszenierung2 ist grundlegend für eine Aufführungsanalyse, da sie Fein1 | Es lassen sich nach JAQUELINE M ARTIN und W ILLMAR S AUTER drei Grundelemente einer Performance unterscheiden: das Schauspielen, was alle Bühnenhandlungen der Darsteller mit einbezieht, der »theatrical space«, der die Bühne, das ganze Equipment wie auch den Theaterraum mit einschließt, und schließlich die Komposition des fiktionalen Materials, all das betreffend, was mit dem Erzählen der Geschichte zusammenhängt wie Dramaturgie, Sprache, Musik, Klänge etc. (Martin/Sauter 1995: 92-93). Um weiter auf das Detail blicken zu können, reicht diese grobe Einteilung jedoch nicht aus, so dass weitere Elemente herangezogen werden müssen. 2 | Inszenierung verstehe ich dabei als ein »System von Entscheidungen« (Balme 203: 82).

III.2 Exkurs: Aufführungsanalyse − Beschreibung der Aufführungsdynamik

heiten der bewussten Darstellung und der Entscheidungen für eine bestimmte Gestaltung der Räumlichkeit mit in Betracht zieht. Für das dialogische Theater, welches den Anspruch erhebt, mit einer Frage an das Publikum heranzutreten, formuliert sich die Frage durch das inszenierte Stück. Da der Fragenkatalog für die Analyse »klassischer« Theaterproduktionen entwickelt wurde, habe ich einige Fragen an die Methode des Forumtheaters angepasst. Dies betrifft vor allem das Verhältnis vom Skript zur Inszenierung und die Rolle der Zuschauer. Die verbale Frage, die der Joker am Ende des ersten Teils stellt, lautete in allen drei Versionen: »Was hat euch in dem gestört, an dem, was ihr gesehen habt?« (»VKXNDQPXVLJNXPILKD]DVKXLQWXVKXIWX"«); »Wo war die Situation, die euch am meisten gestört hat?« (»VKXDOPDWUDDNWDUVDJIL"«) (Anhang 2a-2c). Was die Zuschauer gesehen haben, die gezeigten Situationen, wurden in einer Inszenierung dargestellt, die ich als Erstes betrachten möchte.

III.2.1.1 Die dargestellte Geschichte Da das Skript der dargestellten Geschichte3 erst im Laufe des Workshops entstanden ist, lässt es sich nicht als Text unabhängig von der Inszenierung betrachten. Das Skript und die Inszenierung formten sich wechselseitig.4 Die Geschichte, mit der man sich an das Publikum richtete, wurde in vier Szenen erzählt:

Erste Szene: Geburt Das Stück beginnt mit einem lauten Schmerzensgeschrei, das von einer Person ausgeht, die sich mit dem Rücken zum Publikum aufgestellt hat. Der Schreiende ahmt das Schreien einer gebärenden Frau nach, während durch seine Beine und durch ein vor seinen Körper gehaltenes weißes Tuch nacheinander die Darsteller auf die Bühne rutschen. Diese »Babys« werden von drei weiteren Personen, den Registrierpersonen, in Empfang genommen, an der Seite in eine bestimmte Position gebracht und mit einem Stempelaufdruck versehen. Die Szene endet mit dem Einsetzen eines Rhythmus, der von einer Conga, einer Zimbel, von Schellen und einem Standbecken erzeugt wird. Parallel dazu nehmen die Darsteller leere Getränkekisten auf, die am Rande der Szene aufgereiht sind, und tragen diese in unterschiedlicher Weise kreuz und quer über die Bühne.

Zweite Szene: Bus Die Schauspieler sitzen alle mit dem Gesicht zum Publikum auf Stühlen, eine Person befindet sich am Kopfende. Diese Szene stellt eine Busfahrt dar. Die verschiedenen Chara mehr Bus fahren muss und von Roni und seinem Bruder 3 | PAVIS nennt diesen Abschnitt: »Auslegung der Fabel durch die Inszenierung«. 4 | Dementsprechend existiert auch keine andere Auslegung des Textes durch eine andere Inszenierung.

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(Toni), dass Roni zum Studieren zum ersten Mal in die Stadt nach Beirut geht. Maya fängt an, zu singen, wodurch Roni auf sie aufmerksam wird. Maya bemerkt dies und spricht ganz aufgeregt zu ihrer Freundin Farah. Dann erfährt man von Mahmud, dass er eine neue Wohnung sucht, und zuletzt hört man von Hussain und Natasha, einem Liebespaar, dass Natasha ihn ihren Freundinnen nicht als Hussain, sondern als George vorstellen möchte. Einer der Passagiere will, dass das Radio ausgeschaltet wird, was einen anderen empört. Das wiederum verärgert einen dritten Passagier, woraus sich nach und nach ein Konflikt entwickelt, der in Wut und Schimpfen eskaliert bis es zu einem Freeze, einem stillgehaltenen Standbild, kommt. Eine Journalistin springt auf die Bühne, filmt die Szene und berichtet an der einen Bühnenseite in einem Kauderwelsch über die Szene. Ein paar Wörter sind zu verstehen, wie beispielsweise der Sendername. Diese Szene wiederholt sich, wobei die Journalistin auf der anderen Seite der Bühne einige andere Worte verständlich formuliert, womit nun ein anderer Sender dargestellt wird. Der Percussionist beginnt, die Darsteller nehmen die Kisten, auf denen sie bisher saßen, und rennen im Takt auf unterschiedliche Weise auf der Bühne herum (wie nach der ersten Szene). Die Musik hört auf und die Schauspieler lassen die Kisten auf der Bühne in einer neuen Anordnung für die nächste Szene zurück. Die Darsteller verschwinden hinter den Stellwänden.

Dritte Szene: Straße und Haus (Mietszene) Mahmud tritt auf. Er sucht eine bestimmte Wohnung, von der er gehört hat, dass dort ein Zimmer frei sei. Zufällig begegnet er Roni, einem Bekannten aus einem Sommerlager, der ebenfalls ein Zimmer sucht. Beide beschließen, zusammen nach einer Unterkunft zu suchen. Sie finden eine Wohnung, die von Im Sherbel vermietet wird, welche gerade mit ihrer Nachbarin am Kaffeetisch sitzt. Den jungen Männern gefällt die Wohnung. Als jedoch Mahmud seinen Namen nennt, kommt es zu einem Freeze. Anschließend ändert sich die Stimmung, Roni und Mahmud bekommen die Wohnung nicht. Das Becken erklingt, der Rhythmus setzt ein und die Szene wird in gleicher Weise wie vorhin durch das Durcheinanderlaufen aller Schauspieler mit den Kisten abgerundet. Zum Schluss werden die Kisten in einer neuen Anordnung liegengelassen.

Vierte Szene: Universitätscafeteria Zwei Studentinnen sitzen auf der linken und zwei weitere auf der rechten Seite der Bühne, jeweils um einen imaginären Tisch herum. Die Studentinnen auf der linken Seite beginnen, sich über ihr Studium zu unterhalten. Sie machen sich über die Kleidung der Studentinnen lustig, die auf der rechten Seite sitzen. Der Fokus wechselt auf diese Seite, wo man sich wiederum über ein Mädchen aus der anderen Gruppe lustig macht. Toni, Ronis großer Bruder, kommt mit Roni auf die Bühne und stellt ihn seinen Freunden und Freundinnen vor. Das Mädchen aus der Busszene und ihre Freundin betreten die Vorderseite der Bühne und bestellen

III.2 Exkurs: Aufführungsanalyse − Beschreibung der Aufführungsdynamik

sich dort einen Kaffee. Dies wird von Roni bemerkt, der die Gelegenheit nutzt, das Mädchen aus dem Bus wiederzutreffen. Beide flirten miteinander, werden allerdings von einem Anruf unterbrochen: Im Telefonat erklärt Roni, dass er sonntags zum Litaneiensingen da sein werde. Daraufhin bricht das Mädchen schlagartig den Kontakt zu Roni ab und geht zum Tisch ihrer Freundinnen (linker Tisch) mit den Worten: »Es kam heraus, dass er Christ ist.« Anschließend tritt wieder das Liebespaar aus der Busszene auf. Beide setzen sich an den rechten Tisch, zur anderen Gruppe. Hussain wird von seiner Freundin Natasha als George vorgestellt. Die Gruppe fängt nun an, sich über seinen Bart lustig zu machen. Eine Studentin namens Nadine macht sich über die »anderen« lustig (die Schiiten) und sagt, dass Natasha, wenn George von dort käme und sie ihn heiraten würde, zwölf Kinder in die Welt setzen müsse. Das löst bei Toni, Cathrine und Nadine Gelächter aus sowie Bestürzung bei Hussain. Die Belustigung der drei findet einen Höhepunkt im Erzählen eines Witzes, der sich über jemanden namens Hussain lustig macht. Daraufhin steht Hussain auf, will gehen. Seine Freundin will ihn festhalten, ruft ihn »George«, worauf er jedoch nicht reagiert, bis sie ihn zum Schluss mit seinem richtigen Namen »Hussain« ruft. Wieder ein Freeze. Dann hört man den Wutausbruch des älteren Bruders am rechten Tisch, der entsetzt darüber ist, dass seine Bekannte einen Hussain zum Freund hat. Am linken Tisch kommt es zu Vorwürfen gegenüber Hussain, warum er seinen Namen gewechselt habe. Hussain wendet sich in Richtung einer Bank hin ab, auf der bereits Roni und Mahmud sitzen. Hussain erzählt den beiden kurz, was passiert ist. Er wird durch jemanden unterbrochen, der den Wunsch äußert, den Fernseher lauter zu stellen, da gerade Nachrichten liefen. Es kommt wieder zu einem Konflikt, diesmal wird über den Sender gestritten, und die verschiedenen Gruppen gehen aufeinander los. Das Ganze endet in einem Freeze. Die Rhythmusinstrumente setzen ein, das Freeze löst sich auf und die Darsteller ordnen die Kisten wieder an wie zuvor in der Cafeteria vorgefunden. Der Joker betritt die Bühne und stellt seine Frage. Anschließend finden die Interventionen statt, die die Antworten auf die durch das Stück gestellten Fragen bilden.

III.2.1.2 Der gestaltete darstellende Raum III.2.1.2.1 Hintergrundbild In der Gestaltung des Darstellungsraumes5 fällt auf, dass wenig Wert auf ein ausgebautes Bühnenbild gelegt wurde. Das Hintergrundbild wurde dadurch charakterisiert, dass es sich chamäleonartig verwandelte und sich vollkommen nach dem für die Aufführung vorhandenen Raum richtete: Im Dorf Ain bestand es daher aus weißen Tüchern, die einen kleinen, mit Metallregalen aufgebauten Schulpausenkiosk verhängten (Abbildung 6).

5 | PAVIS nennt diesen Abschnitt: »Bühnenbild«.

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Abbildung 6: Hintergrundbild in Ain

Quelle: A Step Away 2007

In Beirut bestand das Hintergrundbild aus einer Fensterwand, die mit Rollos abgedunkelt wurde. Auf drei der Rollos war groß und deutlich das Logo von »Mouvement Social« zu erkennen (Abbildung 7), das einen Weg zeigt, der entlang einer aufgehenden Sonne verläuft. Abbildung 7: Hintergrundbild in Beirut

Quelle: A Step Away 2007

III.2 Exkurs: Aufführungsanalyse − Beschreibung der Aufführungsdynamik

Das Portal einer Gemeinschaftshalle, vor dem die Bühne aufgebaut worden war, fungierte als Hintergrundbild in .ID\U (Abbildung 8). Abbildung 8: Hintergrundbild in Kfayr

Quelle: A Step Away 2007

Das jeweilige Hintergrundbild blieb während der gesamten Aufführung gleich. Die Schauplätze wurden nicht durch Bühnenbilder ausgewiesen, sondern durch den Einsatz gelber Getränkekisten gestaltet und unterscheidbar gemacht. Diese Kisten wurden auf der Bühne variabel platziert und stellten das einzige konstante Bühnenelement dar, welches von einem Spielort zum anderen transportiert wurde. Dass es sich hier um gelbe Kisten handelte, war ein Zufall, denn die Theatergruppe hatte diese auf der Suche nach irgendwelchen Stühlen oder Kisten geschenkt bekommen. In blauer Schrift stand auf der einen Seite der Kisten in arabischen Buchstaben »PD]D«, der Name einer Biermarke, auf der anderen Seite war er in lateinischen Buchstaben zu lesen. Obwohl die Gruppe die Kisten zufällig erhalten hatte, sagen diese Bierkisten etwas über den Inszenierungskontext aus. Deren Nutzung verweist auf die Akzeptanz einer bestimmten Lebenspraxis, die nicht in jeder gesellschaftlichen Gruppierung des Landes vorauszusetzen ist.6

6 | Auch die Tatsache, dass darüber gesprochen wurde, die Schrift jeweils zu überkleben, was dann aber doch gelassen wurde, offenbart die Relevanz der Bezeichnung der Kisten als Bierkisten.

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III.2.1.2.2 Verhältnis vom Zuschauerraum zum Spielraum Betrachtet man das Verhältnis von Zuschauerraum und Spielraum, so fällt auf, dass in erster Linie auf genügend Platz für den Spielraum geachtet wurde. In den beiden Vorführungen, die in Innenräumen stattfanden, wurde auf Kosten der Zuschauerperspektive eine ausreichend große Fläche vom Rest des Raumes abgetrennt. So kam es, dass sich in Ain die Mehrheit der Zuschauer an den Rand setzen musste, wo sie das Geschehen nur von der Seite betrachten konnte und durch Säulen, die Perkussionsgruppe und die anderen Zuschauer zusätzlich behindert wurde. In Beirut gab es überhaupt nur knappe 16 Quadratmeter Platz für das Publikum, welches sich auf dem Boden und hinter einer Schiebetür drängte. Hier war deutlich das Verhältnis von viel Platz für die Performance und wenig für die Zuschauer zu spüren. Meine Nachfrage, ob man nicht den Zuschauern ein bisschen mehr Platz gewähren könnte, wurde verneint. Dies bezeugt, den bewussten Umgang mit dieser Situation. In der Aufführung im Freien in .ID\U stellte sich diese Frage nicht, da wir dort vor einem bestuhlten Platz eine Bühne vorfanden. »Platz« sollte den Darstellern, egal unter welchen Umständen, für ihre Bewegung und die Anordnung der Getränkekisten gewährt werden.

III.2.1.2.3 Die Prinzipien der Raumstrukturierung und das Verhältnis des genutzten Raumes zum fiktiven Ort Die Zuschauer treffen mit dem Eintreten in den ästhetischen Raum auf einen Bereich, den sie einnehmen können und sollen. Von ihm aus können sie auf die Bühne blicken, wenn diese nicht anfangs durch einen Vorhang vor ihren Blicken geschützt wird.7 Wird die Bühne nicht durch einen Vorhang vom Auditorium abgegrenzt, so muss zum einen kenntlich gemacht werden, wo der für die Zuschauer vorgesehene Bereich aufhört. Im hier betrachteten Stück geschah das durch das Ende des bestuhlten Bereiches und durch die Positionierung von Gegenständen auf der nicht zu betretenden Fläche. Zum anderen bedeutete der Wegfall des Vorhangs, dass der Zeitpunkt des Vorstellungsbeginns verschwamm und das Zuschauen direkt mit dem Eintritt in den ästhetischen Raum begann. Warf der Zuschauer vor dem Auftritt der Darsteller einen Blick auf die Bühne, so erblickte er einen Halbkreis, der durch zehn längs aufgestellte Getränkekisten gestaltet wurde (Abbildung 9).

7 | Das Zusammentreffen der Zuschauer mit dem szenischen Spiel kann entweder als eine frontale Gegenüberstellung oder als ein geselliges Miterleben empfunden werden. Dies markiert zwei Pole, die eng mit der Rolle des Zuschauers in Verbindung stehen: Am einen Ende beschreibt sie ihn als einen Voyeur und am anderen als einen körperlich Mitbeteiligten (Pavis 1988: 104). Das hier beschriebene Stück war frontal ausgerichtet wie eine konventionelle Black-Box-Bühne. Allerdings gab es keinen Vorhang zwischen Bühne und Auditorium.

III.2 Exkurs: Aufführungsanalyse − Beschreibung der Aufführungsdynamik

Abbildung 9: Anfangsbild und erste Szene

Je nach Aufführungsort war dieser Halbkreis am hinteren Ende von einer (.ID\U) oder von zwei (Beirut/Ain) Öffnungen unterbrochen, welche Eingänge markierten. Darüber hinaus war nichts von einer bewussten Gestaltung des Bühnenraumes zu sehen. Einzig und allein diese zehn Gegenstände strukturierten den Bühnenraum. Das erste Bild des Halbkreises blieb erhalten, als der einleitende Redner und der Joker auftraten. Auch in der ersten Szene blieb diese Bühnengestaltung unverändert. Die Kisten markierten rechts und links zwei Seiten, denen die Menschen, die auf der Bühne »geboren« wurden, zugeordnet wurden. Nach dem bewegten Umbau wurde in der zweiten Szene der Raum so strukturiert, dass die Kisten in der Bühnenmitte ein Feld bildeten, das die Bestuhlung eines Busses darstellte (Abbildung 10a). Zunächst hatte dieses Feld ungefähr die Ausmaße und die Struktur eines wirklichen, von vorne betrachteten Busses. Das änderte sich aber in dem Moment, da der Bus sich drehte: Jetzt wurde eine Anordnung getroffen, die jeweils den Platz der Darsteller in den Vordergrund stellte, an dem der aktuelle jeweilige Dialog zu hören war. Hier wich der Bus dann von der Gestalt eines realen Busses ab (Abbildung 10c). Abbildungen 10a-10d: Busszene

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In der dritten Szene, einer »Mietszene«, wurde ein Salon durch neun Kisten geschaffen, die mal quer und mal längs gestellt wurden (Abbildung 11).

Abbildung 11: Salon

Die Straße und die Wohnung wurden allein durch die Gesten der Schauspieler suggeriert, wobei sich diese zum Teil widersprachen (z.B. waren die Türen unterschiedlich groß und an unterschiedlichen Stellen; die Zimmerwände waren unbestimmt). Dadurch wurde der fiktive, gedachte Raum diffus. Der Schauplatz der vierten Szene, die Universitätscafeteria, wurde durch das Schauspiel in vier Bereiche unterteilt: rechts, links, vorne und hinten (Abbildung 12). Abbildung 12: Universitätscafeteria

Zwei Orte, ein Tisch mit Stühlen auf der einen und ein weiterer Tisch mit Stühlen auf der anderen Seite, wurden durch die Anordnung der Kisten klar markiert. Sie erschienen deutlich vor dem inneren Auge des Zuschauers. Die Morphologie des Ortes, an dem sich der Dialog zwischen den Figuren Maya und Roni – im Zentrum vorne – abspielte, und die des Ortes, an dem sich die drei Protagonisten

III.2 Exkurs: Aufführungsanalyse − Beschreibung der Aufführungsdynamik

am Ende der Szene niederließen – im Zentrum hinten –, ist hingegen weniger deutlich spürbar. Insgesamt entsprach der durch die Bühnenelemente geschaffene Platz, demjenigen, den der fiktive Raum (eine Cafeteria) auch in der Realität einnehmen würde. Es war allen Szenen gemeinsam, dass der Bühnenraum mittels der Gegenstände immer derart geformt wurde, dass sich die Darsteller in ihm bewegen konnten, wie sie es in der Realität am jeweiligen Schauplatz tun würden. Die Raumstrukturierung legte damit eine realistische Darstellungsform nahe.

III.2.1.2.4 System der Farben und Konnotationen Die Markierung und Strukturierung der Schauplätze geschah wie gesagt durch gelbe Kisten. Die allen Kisten gemeinsame Farbe Gelb erzeugte aus der Vielzahl der Gegenstände eine Einheit, die den Raum übersichtlich machte. Dabei war mehr die Einheitlichkeit der Farbe als die Wahl der Farbe Gelb relevant (siehe III.2.1.4 Gegenstände). In der ersten Szene wurde mit den Farben Schwarz und Weiß gearbeitet, allerdings weniger durch das Bühnenbild als durch die Wahl der Kostüme. Das weiße Tuch, welches den Körper des Gebärenden verdeckte und nur seinen Kopf erkennen ließ, stand im Gegensatz zu den in Schwarz gekleideten Männern der Registrierung. Schwarz und Weiß unterstrichen das Vorschriftsmäßige und Formale dieser gemimten Szene. Auch in den anderen Szenen waren es hauptsächlich die Kostüme, die Farbe ins Spiel brachten. Hier war keine Dominanz der einen oder anderen Farbe festzustellen. Vielmehr wurden viele Farben verwendet, die nicht besonders auffallen, mehrheitlich die Farben Schwarz und Jeansblau, gemischt mit Weiß, Rot, Pink, Lila und Grün. Dieses Zusammenspiel der Farben suggerierte eine Alltäglichkeit, die nur durch die gelben Kisten unterbrochen wurde.

III.2.1.2.5 Verhältnis von Gezeigtem und Verborgenem Dadurch, dass es kein Bühnenbild im klassischen Sinne gab, welches einen dahinterliegenden Bereich verstecken konnte, war der verborgene Bereich begrenzt. Die Darsteller, die in der dritten Szene nicht auf der Bühne erschienen, mussten jeweils einen anderen Ort finden, wo sie sich vor den Publikumsblicken versteckt halten konnten.

III.2.1.3 System der Beleuchtung In dieser Inszenierung wurde nicht speziell mit der Beleuchtung gearbeitet; sie richtete sich vollkommen nach der vor Ort vorgefundenen Lichtsituation und -technik, da kein einziger Scheinwerfer von der Truppe transportiert wurde. In keiner der beiden in Innenräumen stattfindenden Vorführungen wurde die Bühne anders ausgeleuchtet als der Zuschauerraum. In der Freiluft-Vorstellung wurde überhaupt kein künstliches Licht eingesetzt. Das normalerweise am jeweiligen

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Aufführungsort angebotene und verwendete Licht wurde so übernommen, wie es vorher und nachher weiterhin dort benutzt wurde. Obwohl immer viele Schauspieler gleichzeitig auf der Bühne standen, wurde das Licht nicht zur Fokussierung eines Darstellers oder einer darstellenden Gruppe verwendet. Nichts wurde durch die Beleuchtung herausgehoben, und nichts wurde durch die Beleuchtung versteckt oder im Verborgenen gehalten. Der Umgang mit dem »ortsüblichen« Licht unterstützte die Idee der Alltäglichkeit.

III.2.1.4 Gegenstände: Art, Funktion, Verhältnis zu Raum und Körper »Anstatt von Requisiten und Dekor zu sprechen, spricht man heute von Gegenständen und Szenographie.« (Pavis 1988: 32) Diese Anmerkung von Patrice Pavis deutet auf die vieldiskutierte Frage hin, inwiefern die Gegenstände, die während einer Performance benutzt werden, »echt« bzw. »wirklich« sind. Als Beispiel sind hier die Gewehre zu nennen, die Augusto Boal in seiner gerne erzählten Revolutions-Performance benutzte, die »nur« aus Pappe waren und sich daher nicht für eine »wirkliche« Revolution, einen realen Angriff auf die Großgrundbesitzer eigneten. Die Diskussion um die »Echtheit« der Requisiten entfaltet sich im Rahmen der Auseinandersetzungen um den Wirklichkeitsgehalt der Bühne und des Dargestellten. Verwendet man den Begriff »Gegenstände« anstelle von »Requisiten«, gerät diese Frage weniger wesentlich. Wohl aber lassen sich Gegenstände, die nur für die Vorführung geschaffen wurden, von solchen, die auch außerhalb der Vorführung Verwendung finden, unterscheiden. Nennt man solche, nur für die Performance geschaffenen Gegenstände Requisiten, so gab es im vorliegenden Stück keine Requisiten. Außer den Kisten wurden nur noch ein weißes Tuch, eine Zeitung und zwei Bücher verwendet, die aber als Teil der jeweiligen Kostüme betrachtet werden konnten, da sie den Besitzer nicht wechselten und von diesen nicht losgelassen wurden. Betrachtet man alles auf der Bühne Eingesetzte als Requisite, so fällt eine Einheit auf zwischen der Verwendung von Gegenständen als Requisiten und ihrer Verwendung außerhalb der Bühne. Nur die Getränkekisten wurden anders auf der Bühne eingesetzt, als es üblicherweise der Fall ist. Die gelben Getränkekisten bildeten deutlich ins Auge fallende Gegenstände. Sie strukturierten durch ihren Standortwechsel und den jeweils unterschiedlichen Umgang mit ihnen den ästhetischen Raum (siehe III.2.1.2.1 Hintergrundbild). Bei den beiden in Innenräumen stattfindenden Aufführungen markierten sie den für die Bühne vorgesehenen Platz. Sie stellten eine Art der Bestuhlung dar, die sich in Form und Farbe von der Bestuhlung des Zuschauerraumes unterschied. In der Aufführung im Freien war eine Bühnenmarkierung durch die bereits aufgebaute Bühne nicht notwendig. Aber auch hier markierten die Kisten, die sich farblich vom Boden der Bühne – die mit rot, weiß und schwarz gemusterten Teppichen ausgelegt war – absetzten, die Bühne seitlich.

III.2 Exkurs: Aufführungsanalyse − Beschreibung der Aufführungsdynamik

In der ersten Szene wurde jeder, der »geboren« wurde, von den Registrierpersonen in die Nähe einer dieser Kisten gebracht, wo er zu einer unbewegten Statue wurde. In dem Moment, da ein Rhythmus die Statuen wiederbelebte, griff sich jeder eine Kiste und trug diese kreuz und quer durch den Raum. 8 Die Kisten wurden auf dem Kopf getragen, an der Seite gehalten, geschleppt, vor dem Körper – gleichsam wie ein Lenkrad – hin und her gedreht oder auch zu zweit getragen. Sie repräsentierten all die verschiedenen Gegenstände, die alltäglich durch die Straßen getragen, geschoben oder gefahren werden. Während sie hierbei die Art und Weise der Fortbewegung ihrer Besitzer bestimmen und variieren konnten, wurde in den gesprochenen Szenen nur auf ihnen gesessen. Sie schufen beim Durcheinanderlaufen einen farblichen Zusammenhalt, bis sie zu einem Bühnenbild angeordnet wurden, bei dem sie zu Stühlen eines Busses, eines Salons oder einer Cafeteria wurden. In der Busszene wurden verschiedene Dialoge durch die Bewegung der ganzen Reisegesellschaft in eine andere Anordnung unterbrochen. Dabei nahm jeder Fahrgast seine Kiste und positionierte sie in einer anderen, weiterhin zusammenhängenden Formation. Die Gespräche begannen in dem Moment, da die Kisten stillstanden. Durch diese Bewegung wurde zum einen das Reisen des Busses deutlich, zum anderen aber auch das Ausschnitthafte der Dialoge, die gewissermaßen als Dialogfetzen durch den Lärm des Busses vernehmbar waren. Sobald die Kisten stillstanden, in allen Szenen, wanderte der Bewegungsimpuls zu den Gesichtern und Körpern der Schauspieler, und die Dialoge begannen. Die Kisten charakterisierten Stillstand und Bewegung. Waren sie in Bewegung, waren die Emotionen ruhig. Waren sie still, waren die Gemüter bewegt.

III.2.1.5 Kostüme: System und Verhältnis zum Körper Wann ist eine Bekleidung ein Kostüm? Diese Frage möchte ich so beantworten, dass ich alles, was von Darstellern in einer inszenierten Performance getragen wird, »Kostüm« nenne. Insbesondere interessiert mich hier das Inszenierte der Kostüme, d.h. der bewusste Umgang mit den Kostümen, welcher Aspekt sich grob dadurch auszeichnet, dass er in allen drei Vorführungen gleich gehalten wurde.9 Auf Grund äußerer Umstände hatten alle drei Aufführungen eine unterschiedliche Schauspielerbesetzung. Da alle Schauspieler ihre Kostüme aus ihrem eigenen Besitz ausgewählt und selber mitgebracht hatten, ging mit dem Wechsel

8 | Die Registrierpersonen nahmen sich auch eine Kiste, nachdem sie vorher schnell ihr Kostüm gewechselt hatten. 9 | Natürlich kann dieser Aspekt trotz der Gleichheit auch nichtinszeniert, sondern eine Gewohnheit sein. Ferner kann etwas inszeniert sein und trotzdem durch äußere Umstände in allen drei Aufführungen keine Verwirklichung finden.

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der Rollen auch ein Kostümwechsel vonstatten. Allerdings wurde dennoch deutlich, wer welche Rolle zu spielen hatte und wer wen ersetzte. 10 Zunächst ist auffallend, dass die Kostüme außerhalb der Bühne nicht als Kostüme erkennbar waren. Die deutlichste Kostümierung war bei den Personen der ersten Szene auszumachen. Alle drei Registrierpersonen waren in Schwarz und Weiß gekleidet.11 Alle drei wechselten ihre Kostüme im Laufe des Stückes. 12 Von dem Gebärenden war nur der Kopf zu sehen, da er vor seinen Körper ein weißes Tuch hielt, aus dem die »Geborenen« eintraten. Der Busfahrer aus der zweiten Szene trug bei allen Aufführungen eine Mütze, die er dann – als Nachrichtensprecher – ablegte. Wenn er von einer Darstellerin gespielt wurde, war die Kostümierung durch einen zusätzlichen Schal kenntlich gemacht. Die anderen Darsteller trugen Kostüme aus dem Kleidungsrepertoire, das sie auch beim Workshop getragen hatten.13 Die Kostüme zeichneten sich durch ihre »Alltäglichkeit« aus. Sie waren alltäglich in dem Sinne, dass es Bekleidung war, die die Darsteller auch in ihrem alltäglichen Leben tragen konnten. Besonders die Kostüme der Studenten wirkten 10 | In der Generalprobe waren alle Schauspieler anwesend gewesen und jeder hatte seine Rolle gespielt. Auch vorher in den Proben hatte sich langsam herauskristallisiert, wer wen spielen würde. 11 | Die erste Registrierperson war in Schwarz und mit einem weißen Hemd gekleidet, so auch die zweite, die über dem weißen Hemd ein schwarzes Jackett trug. Die dritte Registrierperson arbeitete ganz in Schwarz, einen schwarzen Mantel über einer schwarzen Hose und einem schwarzen Pulli tragend. 12 | Die erste Registrierperson änderte ihr Kostüm dadurch, dass sie das Registrierheft zur Seite legte und (in Ain) ein dunkelrotes Tuch bzw. einen rosa Schal überwarf. Sie legte den Schal für die letzte Szene als Studentin wieder ab und nahm sich wieder ein Heft zur Hand. Die zweite Person änderte (ebenfalls in Ain) ihr Kostüm dadurch, dass sie ihr schwarzes Jackett auszog, wodurch ihre weiße Bluse zum Vorschein kam, oder (in der Open-AirAufführung in Kfayr, bei der es recht kalt war) indem sie sich zusätzlich ein schwarzes Tuch überwarf, wodurch sie zur Nachbarin wurde. Für die letzte Szene legte sie das schwarze Tuch wieder ab und wurde somit, ein Heft in die Hand nehmend, zur Studentin. Die dritte Registrierperson änderte ihr Kostüm dadurch, dass sie (in Ain) den schwarzen Mantel ablegte oder eine beige Jacke über ihre schwarze Bluse zog und damit zur Studentin wurde. 13 | Mahmud war in Jeans gekleidet, mit einem schwarzen Pullover und mit Mütze. Hussain trug eine grüne Jeansjacke über einer Jeans und hatte die langen Haare hinten zu einem Zopf gebunden. Natasha war unterschiedlich gekleidet, trug aber immer eine Hose (Jeans), einmal mit Bluse, Jeansjacke und Schal (Kfayr), einmal mit Jeansjacke (Beirut), einmal mit einem lila-rosa gestreiften Pullover (Ain). Roni trug ein hellblaues Hemd zu einer schwarzen Hose (Beirut und Ain; in Kfayr: mit Jeansjacke); Maya trug auch Unterschiedliches, immer aber eine Jeans (in Kfayr: mit Lederjacke und schwarzer Tasche). Der große Bruder trug einen Pullover über einer Jeans (Ain und Kfayr) und einen beigen Pullover zur Hose in Beirut.

III.2 Exkurs: Aufführungsanalyse − Beschreibung der Aufführungsdynamik

wie normale Kleidung, die diese Personen auch in ihrem Alltag tragen. Es waren sämtlich Kostüme, die Bewegung zuließen (alle trugen bequeme Sachen, Hosen und keine Röcke) und nicht besonders auffällig waren. Obwohl es bei zwei der drei Geschichten um eine Liebesgeschichte geht, wurden die Körper der Darstellerinnen nicht explizit als weiblich betont. Im Gegenteil, die weiblichen Registrierpersonen wirkten in ihren Jacketts sehr formal, nüchtern und nicht verspielt. Die kurze Szene der »Geburt« wurde von einem Mann simuliert, der sich ein weißes Tuch vor den Körper hielt, so dass nur sein Kopf sichtbar war. Sonst erschien dieser Darsteller als Busfahrer und Journalist in Hose und Pullover.

III.2.1.6 Spielweise Für die Analyse der Spielweise ist zunächst festzuhalten, dass es sich bei den Schauspielern 14 um Laien handelte. Die Mehrheit (acht von 14) hatte noch nie zuvor Theater gespielt, brachte aber Interesse am Spiel mit. Das Stück setzt sich aus folgenden Rollen zusammen: • • • •

Gebärender (mimische Rolle): Shafiq/Bassam drei Registrierpersonen (mimische Rollen): Assalih, Nadine, Georgette/Gimmi Geborene (mimische Rollen): alle anderen Journalistin/Journalist (mimische Rollen): Farah/Shafiq

• • •

Busfahrer: Farah/Shafiq Im Sherbel: Assalih Nachbarin: Georgette

• • • • • • • • •

Toni, großer Bruder: Pierre Roni, kleiner Bruder: Rami Hussain: Bassam Natasha: Carla Nadine: Natalie Cathrine: Gimmi/Georgette Maya: Juliette Farah: Darine zwei weitere Studentinnen: Nur, Assalih

Die ersten sechs Rollen sind pantomimisch zu spielen. Sie repräsentieren entweder abstrakte Prinzipien, wie das Gebären und das Geborenwerden oder Berufsgruppen (Registrierpersonen/Funktionäre; Journalisten). Die Mimik des Gebärenden wurde in beiden Besetzungen (Shafiq/Bassam) sehr expressiv gespielt. 14 | Alle bis auf einen, der gerade mit dem Theaterstudium begonnen hatte.

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Mit aufrechtem Gang und selbstbewusster Haltung betraten die Registrierpersonen mit rhythmischer musikalischer Begleitung als Erste die Bühne, stellten sich breitbeinig hin und drehten sich gemeinsam schlagartig um, so dass ihr Auftritt an den von Mannequins erinnerte. Im weiteren Verlauf blieb ihre Mimik kühl und unverändert. Die Journalisten (Ain) bzw. die Journalistin ( .ID\U und Beirut) stellten die bzw. den Filmemacher als übereifrig und die bzw. den Nachrichtensprecher überzogen dar. Das wurde durch Mimik, Gestik und Sprache deutlich (nur die Begrüßung war verständlich, der Rest langsam genuschelt und ausgeblendet). Der Busfahrer hatte zwei Besetzungen. In der einen wurde er pantomimisch gespielt (von Shafiq15), wobei seine Gebärden und Gesten sehr deutlich und ausdrucksstark waren. In der anderen Besetzung stellte Farah ihn als den Typus eines dicken, gemütlichen und gelassenen Busfahrers dar. Die Spielweise dieser beiden Darsteller ähnelte derjenigen Im Sherbels und der Nachbarin, die beide bestimmte Prototypen darstellen: einmal eine reiche oder früher einmal reich gewesene Frau, die Glamour und Luxus liebt (Im Sherbel) und einmal eine Frau, die sich im Hintergrund hält und von dort aus intrigiert und manipuliert (Nachbarin). Auch der große Bruder, Toni, steht für einen Typus: für einen Mann, der in einer rigiden Art Macht und Autorität ausübt. Diese drei Figuren repräsentieren eine bestimmte Gesellschaftsperspektive, die in den Proben als taifiy (konfessionalistisch) und ta23sub2 (parteiisch, extrem) bezeichnet wurde. Die Aussagen der muslimischen und christlichen Studentinnen (Nadine und Cathrine) zeigen typische Redeweisen, die klischeehaft klingen, die aber Geschichten entnommen worden waren, die die Teilnehmer selbst erlebt hatten. Bis auf die drei Rollen Im Sherbel, Nachbarin und Busfahrer handelt es sich bei allen nichtmimischen Rollen um Studenten. Man könnte meinen, dass die konfessionell Dargestellten (die zwei Studentinnen, Toni, Cathrine und Nadine) stärker typisiert und die nichtkonfessionell denkenden Figuren (Hussain, Natasha und Mahmud) eher individualisiert werden. Durch die recht kurzen Dialoge kommt jedoch keine der Figuren lebhaft zum Ausdruck und keine erfährt eine deutliche innere Entwicklung. Auch die übrigen bleiben bei ihrer anfänglich eingenommenen Haltung. In ihrem wirklichen Leben sind alle Darsteller ebenfalls Studenten (mit Ausnahme eines Schülers). Wie berichtet waren in den Workshops Geschichten aus ihrem Leben gesammelt worden, in denen die Studenten und der Schüler Ungerechtigkeit oder Unterdrückung erlebt hatten. Das ursprüngliche Material stellte daher keine typischen Geschichten dar, sondern Einzelfälle. Für das Stück allerdings wurde kein Einzelfall ausgewählt und mit seinen Details präsentiert. Dies ist deshalb besonders bemerkenswert, weil ich als Forumtheatertrainerin eigentlich gerade diese Vorgehensweise forciert hatte. Im Gegenteil wurden mehr und mehr konkrete Einzelfälle gesammelt, in kurze Dialoge zerstückelt und dann 15 | Shafiq ist taubstumm und hat enormes Potential, sich mimisch auszudrücken.

III.2 Exkurs: Aufführungsanalyse − Beschreibung der Aufführungsdynamik

zu »Typen« zusammengesetzt. Das Ergebnis sind drei voneinander unabhängige Geschichten, in denen mit wenigen Worten ein Konflikt ausgedrückt wird und Details zu den Personen, den Umständen, ihren Beziehungen und zum Kontext nicht benannt werden. Es findet eine Verallgemeinerung, im Boal’schen Sinne eine analoge Induktion statt. Obwohl das »Typische« dargestellt wird, handelt es sich dabei nicht um Klischees, die aus einer Fiktion entstanden sind. Im Probenprozess stellte es eine enorme Schwierigkeit dar, trotz dieser verallgemeinerten, typisierten Darstellungsform nicht in Klischees zu verfallen. In drei der vier Probewochenenden beschäftigte man sich nur damit, aus der Vielzahl der Geschichten und Darstellungsweisen das Klischeehafte zu tilgen. Was üblicherweise hilfreich ist, um das Klischeehafte zu verlieren, nämlich das Detaillierte, Konkrete und sich auf das Leben eines der Darsteller Beziehende, wurde ins Verborgene gerückt. Dass es sich nicht um die Erzählung eines bestimmten Falles handelt, wurde durch die Inszenierung stark unterstützt, indem sich die Darsteller immer (außer in der dritten Szene) alle gleichzeitig auf der Bühne befanden. Die gewählten Orte, der Bus und die Cafeteria, erlauben die Anwesenheit aller Darsteller und stellen ein verbindendes Glied zwischen den Dialogen dar. Es sind Orte, die Dialoge präsentieren können, auch wenn die Sprecher nicht alleine im Raum sind. Somit können sich die Dialoge jederzeit zu allgemeinen Gesprächen ausweiten bzw. zu einer Kulisse werden, in der jeder spricht, keiner zuhört, keiner etwas sagt. Dass die Stimmen bei den drei Aufführungen zum Teil sehr leise waren – ein häufig anzutreffendes Merkmal der Laienspielweise –, verstärkte die Unverständlichkeit der Dialoge oder Monologe immer dann, wenn viele gleichzeitig sprachen. Besonders in den improvisierten Interventionen verlangte das Stück vom Publikum eine große Konzentration. Im inszenierten Teil waren die Dialoge zwar verständlich, dennoch transportierten sie durch die Anwesenheit der übrigen Schauspieler eine andere Energie als Dialoge, die von zwei Schauspielern allein auf der Bühne geführt werden. Die Gruppe war als Gruppe wahrnehmbar. Der einzelne Schauspieler verschwand nicht so sehr in seiner dargestellten Figur. Vielmehr verschwand die Person in der Menge der Darsteller. Übergänge, die sonst häufig durch Abwesenheit der Schauspieler gekennzeichnet sind, waren in diesem Fall durch die bewegte Anwesenheit der ganzen Truppe auf der Bühne gekennzeichnet. Diese Gruppe präsentierte sich in einer bewegten, lebendigen Form (alle Schauspieler rannten durcheinander) und nicht in einem, häufig in den Übergängen vorzufindenden Freeze. Der Schauspieler war als Person und als Rolle ein Teil dieser lebendigen, bewegten Gruppe.

III.2.1.7 Funktion von Musik, Geräuschen und Schweigen Die musikalische Untermalung des Stückes mit Hilfe einer Rhythmusgruppe stellte ein grundlegendes Element der Inszenierung dar. Bestehend aus zwei Perkussionisten bestimmte sie die Anfangs- und Endpunkte der Szenen, struktu-

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rierte die pantomimische erste Szene sowie die Übergänge zwischen den Szenen. Zusätzlich wurde sie zur Akzentuierung und Klangmalerei innerhalb der Szenen eingesetzt. Nach der Einführung des Jokers begann die Rhythmusgruppe mit einer Holzglocke in einem Viervierteltakt zu spielen.16 Nach vier Takten setzten die Conga und das Becken ein. Gleichzeitig betraten die Schauspieler die Bühne und stellten sich zur ersten Szene auf. Das Ausklingen des Beckens signalisierte, dass die Formation fertig aufgebaut war. Die pantomimische Szene begann. Die folgende Stille wurde durch den Geburtsschrei unterbrochen. Es vollzog sich die pantomimische Geburt des ersten Darstellers. Die Conga setzte als Hintergrundmusik wieder ein, diesmal in einem punktierten Viervierteltakt, dem Rhythmus »Maqsum«. Die Holzglocken markierten den Stempelaufdruck sowie ein Standbild am Ende der Szene, was aber sogleich wieder aufgelöst wurde, indem ein schneller Rhythmus einsetzte. Dieser Rhythmus war vom schrillen Klang des Beckens und der Rasseln geprägt. Er dominierte das Geschehen auf der Bühne, indem die Schauspieler wild durcheinanderliefen, bis sie sich zur ersten gesprochenen Szene anordneten. Der Rhythmus, den ich Umbaurhythmus nennen möchte, endete, die Darsteller nahmen Platz. Kurze Zeit später setzte die Rhythmusgruppe wieder ein, das Anfahren eines Busses simulierend. Die Fahrgäste bewegten ihre Körper, sich von den Sitzen erbebend, bis der Bus losfuhr und ein Dialog begann. Dieser Dialog wurde durch lautes Singen vom Busfahrer unterbrochen, ein Rhythmus setzte ein und die ganze Fahrgemeinschaft wechselte ihren Standort. Ein kleines Gespräch mit der Polizei führte zu einem erneuten Standortwechsel, begleitet von der Conga, woraufhin ein neuer Dialog begann. Dieser wurde dann durch das Singen eines Mädchens unterbrochen, wodurch eine kurze Flirtepisode eingeleitet wurde. Mit dem Rhythmus wechselte die Fahrgemeinschaft erneut ihre Position, so dass dann der Dialog zwischen Hussain und Natasha gezeigt wurde. Das Becken signalisierte das Ende der Szene und ein kleiner Umbau fand statt, untermalt durch einen Wirbel der Conga. Mahmud hielt seinen Monolog. Der anschließende Konflikt über das Nachrichtenhören wurde durch einen leisen Congawirbel und eine Rassel begleitet und fand seinen Abschluss mit dem Erklingen des Beckens. Die Stille wurde durch das pantomimische Filmen und Berichten der Journalisten getragen: zwei Begrüßungen fielen. Dann setze der Umbaurhythmus ein. In den folgenden Szenen wurde die Perkussion klangmalerisch eingesetzt (für das Klopfen der Tür, das Klingeln des Telefons und das Sich-Einschalten des Fernsehers), das Becken diente zur Markierung von Stimmungswechseln (einmal als Mahmud seinen Namen nennt, und als Maya erfährt, dass Roni ein Christ ist). Das Becken beendete auch das Freeze, nach dem die Gesellschaft der Cafeteria erfuhr, dass der als George Vorgestellte ein »Hussain« ist. Durch die Rasselbegleitung und den leichten Trommelwirbel entstand 16 | In folgender Weise: erste Viertel (hoher Ton), zweite Viertel (tieferer Ton im Quartabstand), dritte Viertel (hoher Ton), zwei Achtel (tieferer Ton).

III.2 Exkurs: Aufführungsanalyse − Beschreibung der Aufführungsdynamik

ein Crescendo während des Konfliktes, der sich erneut über den Nachrichten entzündete und mit dem Beckenschlag in einem Freeze endete. Dieser Höhepunkt wurde durch eine darauffolgende Stille, in der wieder die Reporter hantierten, gehalten. Der Umbaurhythmus brachte die Darsteller auf ihre Plätze in der Cafeteria zurück, womit der zweite Teil mit dem Auftreten des Jokers beginnen konnte. Die Musik durchzog wie ein roter Faden das gesamte Stück. Sie verband die verschiedenen Szenen, strukturierte die einzelnen Abschnitte und markierte dramatische Momente. Während dies vor allem durch die Perkussion geleistet wurde, diente das Singen (am Anfang des Stückes oder auch im Bus) mehr der Auflockerung. In den Interventionen wurde die Perkussion abermals als Überleitung eingesetzt, was ihre Rolle als bindendes Glied zwischen den einzelnen Abschnitten und Szenen verstärkte. Stille, Schweigen, ja ein »Eingefrorensein« (»freeze«) erzeugten Spannungen an den dramatischen Stellen, die jedoch (mit einer Ausnahme) immer wieder vom Umbaurhythmus aufgelöst wurden.

III.2.1.8 Der Rhythmus der Aufführung Der Rhythmus der gesamten Aufführung wurde besonders vom Einsatz der Perkussion getragen. Ein schneller Umbaurhythmus, Dialoge und Freezes wechselten sich so ab, als werde dadurch eine Normalität geschaffen – Ausdruck findend durch Umbauten, die an ein normales Durcheinandergehen auf der Straße erinnerten, und durch einen raschen Rhythmus. Dieser Rhythmus, fröhlich, bewegt, leicht, trieb das Geschehen an, das durch kurze Momente der Ablehnung (»Mahmud«, »Christ«, »Hussain«) irritiert wurde. Diese Irritation war jedoch ohne bleibende Auswirkung. Der Rhythmus ging sozusagen wie gewohnt seinen Gang, er war ein Alltag. Es wurden keine Veränderungen durch die Beleuchtung oder ein Bühnenhintergrundbild vorgenommen. Auch die Veränderung am Bühnenbild selber und an den Kostümen war minimal. Nur die Körper und Kisten auf der Bühne, begleitet oder getragen von der Perkussion, kreierten eine Bewegung. Dabei waren vier Qualitäten augenscheinlich: (1) die Qualität einer alltäglichen Geschäftigkeit (der Umbau als das Durcheinandergehen der Menschen auf der Straße); (2) die ruhigen Dialoge, in denen die Darsteller meist auf den Kisten saßen, aber nicht besonders viel sprachen; (3) die Konfrontation, die durch lautes Durcheinanderschimpfen und Schreien gekennzeichnet war, und (4) das Erstarren der Darsteller im Freeze, in dem es kein Handeln mehr gibt. Durch diese vier Qualitäten, die sich ständig abwechselten, erhielt der Zuschauer blitzlichtartig einen Einblick in alltägliche Geschehnisse. Schlagartig kam es von ruhigen Dialogen zu einer Konfrontation, von dort zu einem Freeze und von da aus wieder zur Normalität, erneut zu einer Konfrontation und dann wieder zu

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einer Normalität. Der Puls des Geschehens zeigte sich hochgradig energetisiert, wo langsame Entwicklungen keinen Raum hatten.

III.2.1.9 Der Text der Inszenierung Innerhalb des Stückes gibt es keine ausgefeilten Dialoge. Die Worte, die gewählt wurden, zeichnen sich durch Einfachheit und Alltäglichkeit aus. Das wird dadurch deutlich, dass (bis auf die zwei Sätze des Journalisten) ein einfaches, gesprochenes Arabisch, hier der libanesische Dialekt, zum Einsatz kommt. Dass bei diesem Stück im Dialekt gesprochen wird, ist keine Selbstverständlichkeit: Die Reden der Veranstalter zu Beginn der Aufführungen fanden in Hocharabisch statt. Auch werden viele Theaterstücke auf Hocharabisch geschrieben, in der Sprache, die in öffentlichen Veranstaltungen und in den Medien verwendet wird. Es kommen dabei keine Tropen vor, wohl aber viele alltägliche Redewendungen. Das Gesprochene lässt sich schwer schriftlich festhalten, denn es gibt eigentlich keine Verschriftlichung dieser umgangssprachlichen Form. Dieser aktiv verwendeten Sprache haftet nichts Dichterisches an. Das ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil die dichterische Ästhetik der arabischen Sprache im allgemeinen Bewusstsein stark verankert ist. Die Dialoge des Stückes sind so kurz, dass im Grunde nur ein paar wenige Sätze fallen. Zeitweiliges gleichzeitiges Reden (Busszene, Mietszene und Cafeteria) oder unbegründete Redepausen (Mahmud und Roni auf der Straße) führen dazu, dass nicht das gesamte Gesagte vom Zuschauer verstanden werden kann. Das Gesagte erscheint wenig ästhetisiert, ja alltäglich. Das Künstlerische der Performance wird maßgeblich durch die körperlichen Anordnungen und Bewegungen im Raum und durch die rhythmische Begleitung statt durch die Wortwahl erzeugt. Mit der unästhetisierten, umgangssprachlichen Wortwahl wird es dem Zuschauer erleichtert, selbst auf die Bühne zu treten und sich in diesen Dialogen zu versuchen.

III.2.1.10 Die Zuschauer Ohne Zuschauer wäre eine Aufführung keine Vorstellung. Er ist ein integraler Bestandteil der Sinnbildung. Insbesondere das vorliegende Stück verlangt eine aktive Mitarbeit. Es mussten nicht nur implizite Informationen hinzugefügt werden, sondern es wurde vom Zuschauer auch eine eigene Handlungsentscheidung gefordert: »Gehe ich auf die Bühne oder nicht?« Es war nicht allein Aufgabe des Zuschauers, das Aufgeführte durch Interpretation zu vervollständigen, sondern an ihm lag es, die Aufführung selber mitzugestalten, sie selber aufzuführen. Der längste Teil der Aufführung besteht aus den Interventionen und Diskussionen mit den Zuschauern. Insgesamt nahm dieser Teil bei allen Aufführungen mehr Zeit in Anspruch als das Stück selber (25 Minuten). Die Interaktion mit den Zuschauern und die Improvisation waren ein Experiment. Wie weit das gelingen

III.2 Exkurs: Aufführungsanalyse − Beschreibung der Aufführungsdynamik

würde und was passieren würde, war äußerst unklar. Das Experiment stellte einen wichtigen Teil der Aktionsforschung dar. Im Anschluss an jede Aufführung wurde ein kleiner Fragebogen an die Zuschauer verteilt. Das Publikum beantwortete die Fragen und es kamen viele Zettel zurück. Allerdings lässt sich die Repräsentativität dieser Zettel anzweifeln. Dadurch, dass durchweg positiv auf die Fragen geantwortet wurde, liegt die Vermutung nahe, dass Unmut nicht mit Hilfe eines Fragebogens zu erfassen ist. Patrice Pavis fragt unter dem Analysepunkt »Zuschauer« auch nach den Erwartungen des Forschers vor der Aufführung, und danach, innerhalb welcher Theaterinstitution die Inszenierung stattfindet. Beides ist miteinander verknüpft. Die hier betrachtete Inszenierung wurde in einem interaktiven Prozess entwickelt, der wie gesagt aus vier Wochenend-Workshops mit 14 Teilnehmern unterschiedlicher Konfessionen bestand. Dieser Prozess der Beziehungsbildung zwischen den Teilnehmern war ein erklärtes Ziel des Projektes und wurde damit zum Bestandteil der Inszenierung. Somit fällt auf, dass sich die Teilnehmer als eine Gruppe präsentierten und nicht als einzelne Fraktionen, dass die Spielweise aufeinander abgestimmt war und ein Vertrauen zu den Trainern – einschließlich mir gegenüber – entstanden war. Die Zuschauer waren das Gegenüber. Dadurch, dass die Inszenierung innerhalb eines Projektes der Nachkriegskonfliktbearbeitung stattfand und ich ein Teil dieses Projektes war, waren meine Erwartungen – unabhängig von meiner anderen kulturellen Prägung – sicherlich zu denen der Zuschauer deutlich unterschiedlich, die sich zum ersten Mal auf dieses Stück einließen. Allerdings kannte ich dafür weder den Aufführungsort noch hatte ich eine Idee davon, welche Zuschauer und wie viele kommen würden. Insofern waren meine Erwartungen mehr auf den Ort, die Zuschauer und die Interaktion gerichtet, als auf das inszenierte Stück. In gewisser Weise glich mein Blick dem der Darsteller: Auch für sie waren, bis auf die Aufführung in Beirut, die Aufführungsorte und die Zuschauer unbekannt. Beirut unterschied sich, als die Organisation, bei der die Aufführung stattfand, ziemlich bekannt ist, ja, einige von den Darstellern (Nathalie/Khaldoun) dort schon freiwillig gearbeitet hatten. Auch die Zuschauer waren nicht alle unbekannt, da einige Schauspieler (Nathalie/Farah/ Shafiq) ihre Familie und Freunde eingeladen hatten. Weil die Zuschauer von solch großer Bedeutung für den Verlauf des Stückes sind und der dadurch entstehende interaktive Dialog für die Interpretation des Stückes bezüglich des Konfessionalismus sehr wichtig ist, möchte ich dies in den nachfolgenden Aufführungsanalysen von Fall zu Fall untersuchen. Dabei werde ich auch auf die von Pavis aufgeworfene Frage bezüglich der Publikumsreaktion eingehen.

III.2.1.11 Erinnern und Fixieren der Aufführung Während der Aufführungen habe ich den jeweiligen Verlauf des Stückes nicht notiert. Ich kannte das Stück, bevor ich es in der Aufführung gesehen habe. Wür-

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de ich den Verlauf aufschreiben, so wären die jeweiligen, durch die Kisten gestalteten Schauplätze dienliche und charakteristische Ankerpunkte. Mit ihrer Hilfe ließe sich das Stück leicht rekonstruieren. Bilder des Stückes selbst habe ich sehr viele im Kopf, da ich das Skript praktisch auswendig kann. Besonders eindringlich waren aber die Konfrontationsszenen, die in einem Freeze endeten, sowie die Bewegungen zwischen den Szenen. Beim schriftlichen Fixieren der Aufführung würde ich daher vor allem die Bewegungen der Schauspieler an den jeweiligen Schauplätzen notieren.17 Für die Aktionsforschung war jedoch die gesamte Aufführung einschließlich der detaillierten Interaktionen mit dem Publikum relevant. Daher wurden die Generalprobe und alle drei Aufführungen filmisch festgehalten. Sind es die Schauplätze und die Bewegungsrichtungen der Schauspieler, mittels derer sich das Stück erinnern lässt, so wurde die Färbung der Aufführung deutlich vom jeweiligen Aufführungsort geprägt. Bei allen drei Aufführungen ist mir der jeweilige Aufführungsort besonders in Erinnerung geblieben.18

III.2.1.12 Unbeschreibliches der Aufführung Das Stück fand in einer mir fremden Sprache in einem fremden Kontext statt. Somit waren viele Zeichen für mich nicht als Zeichen erkennbar. Es fanden viele Interaktionen und Bewegungen statt, die ich nicht wahrgenommen habe. Das Besondere aber, das Unbeschreibliche der Aufführungen war die jeweilige Stimmung, die kreiert wurde. Sie ist, glaube ich, als Teil der Inszenierung zu sehen, lässt sich aber nicht auf Zeichen und Sinn reduzieren. Sie wurde durch die Art und Weise erzeugt, wie die Frage an das Publikum gestellt wurde. Und diese wurde durch das inszenierte Stück gestellt. Die jeweilige Stimmung ist schwer zu beschreiben und sie glich mehr einem Geschmack und einem Duft, der eine bestimmte Erfahrung ermöglichte, als einer sichtbaren Farbe oder einem hörbaren 17 | Die Laban-Notation könnte hierfür hilfreich sein, da sie von den Bewegungsabläufen im Raum ausgeht (Laban 1995). Als räumliche Qualität der Körperzeichen werden dabei Platzierung und Orientierung im Raum sowie die Nutzung von Bühnenraum und Kinesphäre betrachtet (unter Kinesphäre versteht Laban die Umgebung des Körpers, die man mit den Extremitäten erreichen kann, ohne den Standort zu wechseln). Die Laban-Notation trägt mit den vier »Effort«-Kategorien Fluss, Raum, Körperschwere und Zeit auch der dynamischen Qualität von Körperzeichen Rechnung. Die semantische Dimension dieser Bewegungen allerdings wird mit der Notation nicht erfasst. 18 | Die Aufführungsorte waren: zunächst eine Schule, die sich im alten Teil des Dorfes Ain befand und die auf einer Hügelkuppe liegend einen Rundblick über das Dorf erlaubte. Der zweite Ort war der Konferenzraum in der Beiruter Hauptstelle von »Mouvement Social«, der mit dem Logo der Organsiation ausgeschmückt war. Das Ambiente des dritten Aufführungsortes (in Kfayr) war unvergesslich, da er draußen lag und von einer idyllischen Landschaft umgeben war.

III.2 Exkurs: Aufführungsanalyse − Beschreibung der Aufführungsdynamik

Wort. Dieser Geschmack entstand mit Hilfe der körperlichen Interaktion, die Teil dieses Ereignisses war. Er kreierte erfahrbare Grenzen, an denen Widersprüche zwischen Sein und Sollen, zwischen erwünschtem und möglichem Verhalten, zwischen sozialer Norm und persönlichen Wünschen zerschellen konnten. Die Stimmung verschwand nach jeder Aufführung in dem Moment, da sich der letzte Teilnehmer verabschiedete und jeder seiner Wege ging. Dennoch stiftete das Ereignis auf Erfahrung basierende unmerkliche Verknüpfungen und Verbindungslinien, die sich jedoch einer schriftlichen Fixierung verweigern.

III.2.1.13 Allgemeine Beschreibung der Darstellungsweise 19 Der Blick auf diesen Bereich wählt einen kleinen Maßstab, um »den dominanten Diskurs der Inszenierung zu beschreiben« (Pavis 1989: 103). In der Inszenierung wurden fetzenartige, alltägliche Dialoge dargestellt, deren Ästhetisierung maßgeblich durch eine dramatische Beendung, durch pantomimische Abschnitte und durch den Rhythmus der akustischen Übergänge erzeugt wurde. Die Sprache war eine alltägliche, die Farben der Darstellung, die Beleuchtung, Körperhaltungen und Gesten waren ebenfalls alltäglich. Die Orte wurden so dargestellt, wie sie als »seiend«, existierend empfunden wurden, die Figuren als alltägliche präsentiert. Die Inszenierung lässt sich als eine »realistische« beschreiben, in dem Sinne, dass sie die Schauplätze, Kostüme und Figuren äußerst sparsam einer künstlerischen Bearbeitung unterzog. Die Inszenierung lebte davon, die Illusion einer maßstabsgetreuen Wiedergabe der Wirklichkeit zu kreieren. Allerdings schuf sie den Tenor einer Alltäglichkeit durch künstlerische Modifikation.

III.2.1.14 Ankündigung und Darstellung der Aufführung in den Medien Für die Bekanntgabe der Aufführungen waren jeweils die Organisationen verantwortlich, in deren Partnerschaft die Veranstaltung durchgeführt wurde. Zweimal wurde über die Aufführung in der Zeitung berichtet, allerdings nicht als Veranstaltungshinweis, zu dem eingeladen wurde, sondern in Form eines Projektberichtes. Der erste Bericht erschien in der bekanntesten französischsprachigen libanesischen Nationalzeitung »L’Orient de Jour« (siehe Anhang 2). Der zweite wurde auf der lokalen Seite der arabischen Zeitung »Al-Nahar« abgedruckt. In .ID\U wurde außerdem die gesamte Aufführung live über einen privaten, lokalen Fernsehsender im Dorf ausgestrahlt und später eine Woche lang täglich auf demselben gezeigt. Dies hat natürlich den Verbreitungsgrad erhöht. Da die Schauspieler bereits daran gewöhnt waren − eine Kamera schnitt immer alles mit −, hatte das Filmen auf die Aufführung selbst keine merklichen Auswirkungen.

19 | PAVIS nennt diesen Punkt »Globaler Diskurs der Inszenierung«.

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III.2.2 A NT WORTEN IM S PIEL MIT DEN K R ÄF TEN : I NTERVENTIONEN UND D ISKUSSIONEN Im folgenden Kapitel möchte ich die drei Aufführungen der oben analysierten Inszenierung betrachten, um anschließend auf die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen ®›¸LIL\DK einzugehen. Dabei werde ich zu jeder Aufführung so vorgehen, dass ich zunächst den empirischen Raum beschreibe, Ort und Zeit der Aufführung, und dann die Bühne sowie die Zuschauer. Anschließend werde ich den Verlauf der Aufführung in einer zusammenfassenden Inhaltsanalyse wiedergeben. Der detaillierte Verlauf der Aufführung ist aus der übersetzten Transkription im Anhang zu entnehmen, in der wortgetreu die verbalen Interaktionen festgehalten wurden. Die körperlichen Interaktionen sind jedoch nicht zu vernachlässigen. Daher legte ich in der Inhaltsanalyse den Schwerpunkt auf die außersprachlichen Interaktionen und wählte als höheres Abstraktionsniveau die Kategorien der Haltung und Stimmung, wohl wissend, dass ich mich damit auf ein interpretatives Feld begebe. Die zusammenfassende Inhaltsanalyse ergänzte ich um eine Interpretation der Strategie des Protagonisten und der Konfliktkonstellation.

III.2.2.1 Die erste Antwort: Aufführungsanalyse Ain III.2.2.1.1 Ort und Zeit Ain ist ein kleines Dorf im Nordosten des Libanons. Es liegt hinter der BaalbekEbene im Hermel-Gebirge und hat ungefähr 5.000 Einwohner. Die Region zählt zu den ökonomisch benachteiligten Regionen des Landes. Die Haupteinkommensquellen sind der Staat (Polizei, Bildungswesen und die Armee), die Subsistenzlandwirtschaft sowie kleine Händlerbetriebe (Geschäfte). Die Bevölkerung ist mehrheitlich schiitisch.20 Das Dorf ist bergig, so dass man von dem erhöhten Ort aus, an dem die Vorführung stattfand, – einer Schule – die verschiedenen Stadtteile überblicken kann. Auch in Ain ist die Ansiedlung der Dorfbewohner, zumindest nach Aussagen meines Begleiters, konfessionell geordnet: Nördlich der Schule lebt die schiitische und südlich davon die christliche Bevölkerung. Der Schuldirektor betonte die Tatsache, dass zu dieser Schule alle Konfessionen Zugang hätten. Der Beginn der Theateraufführung war für 16.00 Uhr angesetzt. Es blieb mir deshalb nach der Ankunft nur wenig Zeit, um eine kleine Führung durch die Gegend um die Schule herum zu machen und mir dabei die verschiedenen Graffitis anzusehen. Die Gruppe probte zwischenzeitlich das Stück, zum ersten Mal in einer ihr fremden Umgebung. Die politische Spaltung zwischen den Anhängern des »14. März« bzw. des »8. März« war zum Zeitpunkt unseres Besuchs deutlich im Dorf spürbar. Die Situa20 | Dem Report »Enacting Places of Change« zufolge sind 65 % Schiiten, 30 % Sunniten und 5 % Katholiken (Bteich/Reich 2009: 8).

III.2 Exkurs: Aufführungsanalyse − Beschreibung der Aufführungsdynamik

tion war so angespannt, dass der kleine Verein »Zusammenkunft zur kulturellen Förderung in Ain« (»7D¤DPPXD±±DTDIDDODPQ\ILO·$LQ«), der in Ain der »kulturellen Aufwärtsentwicklung und dem kulturellen Wiedererwachen«21 nachgeht und sich für ein interkonfessionelles Zusammenleben stark macht, des Öfteren Drohungen von politischen Führern erhalten hatte, mit dem Aufruf seine Aktivitäten einzuschränken. Der Verein arbeitet ohne Budget und besteht aus hochmotivierten Aktivisten, die mit verschiedenen kleinen Aktionen ihre Weltanschauung und ihren Wunsch nach interkonfessioneller Harmonie zum Ausdruck bringen. Eine Aktion war beispielsweise im Jahre 2007 die Produktion eines Kalenders, auf dem eine Karte des gesamten Libanons abgebildet ist und der mit dem Vereinsnamen und Logo versehen wurde. Eine weitere Aktivität bestand in der Organisation des besagten Forumtheaterauftritts in der Schule.

III.2.2.1.2 Bühne und Zuschauer Die Bühne Die Schule hatte einen etwas größeren Saal, der für Versammlungen und Festlichkeiten genutzt wurde. Über dem Eingang stand ein Koranvers (surat al kursi). Die Wände des Festsaales waren mit selbstgemalten Bildern und Bastelstücken der Kinder geschmückt. Der Raum wurde durch zwei Säulen in der Mitte geteilt. Auf der rechten Seite war eine Bühne errichtet worden, die mit gebasteltem Dekorationsmaterial vollgestellt war. Hinter der Bühne war ein kleiner »Kiosk« eingerichtet worden, d.h., es gab einen Tisch und dahinter standen Regale mit verschiedenen Süßigkeiten und Knabberzeug, das man wohl in den Pausen kaufen konnte. Unsere Bühne wurde vor diesem Kiosk errichtet, der mit Stellwänden, einem weißen Laken und einem Tuch zugehängt wurde. Eine Lücke zwischen den Laken diente den Schauspielern als Auftrittsraum (siehe III.2.1.2.1 Hintergrundbild, Abbildung 6).

Die Zuschauer Die Stühle wurden hinter der Säulenreihe angeordnet. Sobald die Probe beendet war, wurde um 16.00 Uhr die Türe zum Saal geöffnet. Die Zuschauer, die wohl bereits vor der Tür gewartet hatten, fingen an, den Saal zu betreten und Platz zu nehmen. Bald wurde deutlich, dass zu wenig Stühle aufgestellt waren. Die Eintretenden begannen, sich am Rande stehend zu platzieren. Einer der Vereinsaktivisten brachte noch Stühle, die dann entlang der Bühne aufgereiht wurden. Das hatte den Nachteil, dass die Zuschauer sowohl seitlich zur Bühne als auch hinter der Säulenreihe platziert waren, so dass die Vorstellung von diesen Plätzen aus sicherlich nicht besonders gut zu sehen war. Die Zuschauer kamen in Grüppchen verschiedenen Alters, wohl meist Familien, oder in Gruppen von Jugendlichen. Sie setzten sich gemeinsam, wo sie noch Platz fanden, so dass keine besondere 21 | Zitat aus der Fußzeile einer vom Verein produzierten Landkarte des Libanons.

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Sitzordnung zu erkennen war. Es war deutlich zu spüren, dass sich viele Leute untereinander kannten. Die meisten Zuschauer waren Jugendliche zwischen 16 und 23 Jahren. Insgesamt waren circa 120 Leute anwesend.

III.2.2.1.3 Inhaltsanalyse der Aufführung mit Fokus auf die Inter ventionen und Publikumsreaktionen Einführung Zunächst wurde von unserer Kontaktperson, einem Mitglied des Kulturvereines, eine einführende Rede gehalten, in der zum einen auf die Bedeutung des Theaters und zum anderen auf das Thema Konfessionalismus eingegangen wurde. Der Joker machte anschließend deutlich, dass es sich hier um ein etwas anderes Theater handele, bei dem aktive Teilnahme erwünscht sei. Darauf leitete er zwei Spiele mit Publikumsbeteiligung an: ein sogenanntes »Regenspiel« und ein Frage-Antwort-Lied. Zu Beginn des Auftritts herrschte Ruhe im Saal, zumindest solange der Vorredner seine Rede hielt. Sobald sich der interaktive Charakter der Aufführung offenbarte, wurde das Publikum gesprächiger. An den Übungen, die offensichtlich ungewohnt waren, beteiligte es sich aktiv (Ain: Erste Intervention, 3:20-3:22). In der Wiederholung, bei der die Zuschauer die Regenübung mit geschlossenen Augen machen sollten, wurde beschämtes Gelächter hörbar (Ain: Erste Intervention, 6:31) und die Augen blieben auf. Auch die Aufforderung zu singen, wurde mit beschämtem Gelächter beantwortet (Ain: Erste Intervention, 6:49), aber es wurde dann doch kräftig mitgesungen (Ain: Erste Intervention, 7:30-8:04). Die Stimmung war danach von einer aufgelockerten Erwartungshaltung geprägt und das Publikum war aktiv dabei: Auch wenn das Stück durch Murmeln begleitet wurde, so waren die vernehmbaren Kommentare auf die Darstellung bezogen (z.B. Ain: Erste Intervention, 24:30).

Inszenierte Darstellung Dies war die erste Aufführung des Stückes vor einem Publikum, was sich in der starken Aufregung der Schauspieler widerspiegelte. Das Regenspiel und das Frage-Antwort-Lied wurden im Nachhinein von den Schauspielern als »ÎamÁsiyeh« (begeisternd, feurig, zündend) bezeichnet, als etwas, das das Engagement, den Einsatz und die Konzentration steigere. Einige Sätze wurden in der Aufführung ausgelassen (Roni in der Mietszene) und es gab Versprecher (Natasha: »awalan George«). Dennoch verlief die Darstellung ohne bemerkenswerte Pannen. Das Publikum betrachtete die Szenen aufmerksam. Lacher gab es in der ersten Szene nach dem ersten Freeze, als die Journalisten die Bühne betraten. Das »Salam 3alaikum bzzz« der Journalistin sowie ihr »Bonjour bzzz« wurde mit lautem Lachen kommentiert (Ain: Erste Intervention, 16:40; 16:50). An den Stellen, an denen auf der Bühne in der Cafeteriaszene gelacht wurde, gab es im Publikum Unruhe, vor allem nach den Witzen (Ain: Erste Intervention, 27:20).

III.2 Exkurs: Aufführungsanalyse − Beschreibung der Aufführungsdynamik

Die Inter ventionen der fünf Hussains Auf die Frage des Jokers hin, ob sie etwas an den dargestellten Szenen gestört habe, und wenn ja, was in welcher Szene, fingen die Zuschauer an, wild durcheinander zu sprechen (Anhang 2a, Z. 3-26). Ein Jugendlicher, dem der Joker das Wort gab, verwies auf die Stelle in der Cafeteriaszene, in der Hussain diskriminiert wurde. Die Aufforderung »zu zeigen, wie er an der Stelle Hussains handeln würde«, wurde mit einem Lachen des Publikums beantwortet. Dannn setzte die Rhythmusgruppe ein, der Zu-Schauspieler stand auf und begab sich hinter die Bühne. Die Intervention setzte in der Szene an, in der Hussain und seine Freundin die Cafeteria betreten und sie Hussain als George vorstellt. Die Rhythmusgruppe hörte auf und der neue Hussain betrat mit Natasha im Arm die Bühne. Erste Intervention − Hussain: »Was geht der [mein Bart] dich an?« (»shu biddak fi?«) Die erste Intervention (Anhang 2a, Z. 29-57, Ain: Erste Intervention, 30:46-30:48) lässt sich als ein Ausprobieren der Möglichkeit, auf die Bühne zu treten, deuten. Die Stimmung war in diesem Moment beschämt und lustig: Das Publikum und auch die Darsteller erlebten diese Situation zum ersten Mal. Diese Intervention wurde von vielem Gelächter des Publikums begleitet. Schon beim Eintritt Hussains mit Natasha im Arm lachte das Publikum lautstark. »Hussains« erste verbale Reaktion, »Was geht der dich an?« (»shu biddak fi?«) auf seinen Bart bezogen, wurde gleich wieder mit Gelächter beantwortet. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass die Situation, einen Freund oder Bekannten auf der Bühne zu sehen, als so ungewohnt empfunden wurde, dass jede Äußerung von ihm irgendwie als lustig kommentiert worden wäre. Unterstützt wird diese These durch die Tatsache, dass auch der Zu-Schauspieler auf der Bühne lachte, sich allerdings immer wieder auf seine Rolle besann. So saß Hussain auf der Kiste, das eine Bein ständig leicht auf und ab bewegend und die Hände zwischen den Beinen gefaltet. Auch wenn das »Beinzappeln« eine weit verbreitete, ständig zu sehende Geste ist, zeugte sie doch von einer gewissen Aufregung. War der Zu-Schauspieler in seiner Rolle, so nahm er eine defensive Angriffshaltung ein: »Was geht der dich an?«, »Warum nicht George Hamiyyeh!«, als Antwort auf einen Witz. Der Zu-Schauspieler blieb bei diesen Aussagen sehr ernst. Das kontrastierte einerseits zur aufgelockerten Stimmung im Saal, aus dem ständig Gelächter zu vernehmen war. Gleichzeitig stellte die todernste Mimik gegenüber der Witzerzählerin und dem Lachen der Freunde über den Witz einen Affront dar. Dieser wurde durch die Reaktion der Freunde deutlich: »Warum nimmst du das so?« (»lesh tok7od haza hek?«); »Wir wollten dich nicht verärgern!« (»ma biddna biz3alak«); »Warum nimmst du das persönlich?« (»lesh tok7ud haza shak7siyyan?«) Er erzeugte damit eine peinliche Stimmung, in der keiner wusste, was er sagen sollte. Dies wird in der Haltung Nadines deutlich, die mit den Haaren oder dem Buch spielend sagt: »Es ist doch normal.« (»3adi«); darauf beschämtes Grinsen Cathrines. Die peinliche Stimmung war so intensiv, dass der Joker das Geschehen abbrach und es in die Diskussion mit dem Publikum verlagerte.

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Auf die sich an die Intervention anschließenden Fragen des Jokers reagierte das Publikum lautstark und sehr engagiert, so dass der Joker um Ruhe bitten musste (Anhang 2a, Z. 60-82). Das wilde engagierte Durcheinanderrufen des Publikums zeugte von der regen Beteiligung. Die Kommentare des Publikums beschrieben Hussain als sich in einer Haltung des Ausharrens befindlich: »Er hat versucht, sich nicht zu provozieren zu lassen.« (»ma istafzaz.«); »Geduld, Geduld« (»sabir, sabir«); »Er hat die Realität akzeptiert.« (»aqbal alwaqia3.«); »zwei Seiten der selben Medaille« (»wajhain min 3imla wa7ida«); und die Kommentare endeten mit einem einstimmigen »Nein« auf die Frage, ob das, was Hussain gemacht habe, genug sei, um die Situation zu ändern. Diese Intervention wurde vom Publikum als nichts verändernd kommentiert. Betrachtet man allerdings die Antagonisten, so ließe sich deren Peinlichkeit durchaus als eine Veränderung der Situation werten, durch die zumindest ein Innehalten der Witzmacherin zustande kam. Das wurde jedoch entweder nicht bemerkt oder nicht als eine Veränderung betrachtet. Zweite Intervention − Hussain: »Mit Spitznamen heiße ich Hussain!« (»ma3 laqabeh Hussain!«) Die zweite Intervention (Anhang 2a, Z. 85-160, Ain: Erste Intervention, 37:0537:07) fand an derselben Stelle statt. Auch hier lachte das Publikum lautstark, als der Zu-Schauspieler mit Natasha die Bühne betrat. Insgesamt war das Publikum allerdings bei dieser zweiten Intervention ernster. Die Haltung des zweiten Hussains war von einem »Darüberstehen« und einer Souveränität getragen, die sich durch Ironie und Witz bemerkbar machte. »Mit Spitznamen heiße ich Hussain!« (»ma3 laqabeh Hussain!«), war sein erster Satz, womit sich seine Haltung gut zusammenfassen lässt. Damit hieß er wieder Hussain, bekam das Recht, einen langen Bart zu tragen und auf Hussain zu reagieren. Gleichzeitig aber konnte er von Natasha als George vorgestellt werden. Der echte Konflikt war dadurch jedoch nicht beseitigt: Identifizierte er sich zu sehr mit diesem Namen, würde er das Vertrauen seiner Freunde nicht gewinnen. Das machte Natasha wiederholt deutlich. Zunächst nahm Hussain eine sachliche, vernünftige Haltung ein als Reaktion auf die stereotypen abwertenden Witze über Schiiten. Er verwies darauf, dass »wenn sie sich über die anderen lustig machen, machen die anderen sich auch über sie lustig«. Darauf folgte allerdings statt Verständnisses eine noch stärkere Abwertung der anderen Gruppe, worauf Hussain ironisch reagierte (»Sollten wir sie alle rausschmeißen?«). Diese Haltung ermöglichte es ihm, sich persönlich vom Geschehen zu distanzieren, keine Verletzung zuzulassen und sich nicht von den Witzen der anderen angegriffen zu fühlen. Er behielt diese Haltung auch bei, als er an den Tisch der Muslime geholt wurde. Hussain versuchte mittels Ironie, sich treu zu bleiben, und präsentierte radikale Ansichten. Allerdings wurde seine Ironie nicht von allen als Ironie erkannt (Toni: »Ich fange an dich zu lieben!« oder auch Maya: »Das ist schwer, sie davon

III.2 Exkurs: Aufführungsanalyse − Beschreibung der Aufführungsdynamik

abzubringen, Spione zu sein.«). Nadine schien diese Ironie zu verstehen, sonst wäre sie nicht in eine Verteidigungsrolle gefallen: »Wir sind nicht so.« (Anhang 2a, Z. 84-86) Dabei ist interessant, dass der intervenierende Hussain die politische Ebene verwendete, um eine Überspitzung der Weltanschauungen darzustellen (am Tisch der Christen wollte er alle Schiiten aus dem Land schmeißen und am Tisch der Muslime behauptete er, er habe die »Spione des Auslandes« ausgehorcht, die einen islamischen, orthodoxen Staat 22 errichten wollten). Er überspitzte soziale Stereotypen nicht, sondern redete zu beiden Gruppen an deren jeweiligen Tischen von Regierungsformen. Mit dem Wechseln zum anderen Tisch verstärkte er diese ironische Haltung. Seine Äußerungen stießen auf großes Interesse, welches ihm Anlass zu weiteren Ausmalungen gab. Auf diese Intervention gab es starke Reaktionen des Publikums. Ein Junge beantwortete die Frage danach, was Hussain versucht habe und was er verändert habe, so: »Er versuchte, eine Verschwörung anzuzetteln und nicht etwas zu verbessern!« (»bingarrib uftutina wa mish insala7!«) Als Hussain selbst vom Joker gefragt wurde, was seine Strategie war, so meinte er, er habe versucht, den verschiedenen Gruppen ihren Blick auf die Welt vorzuführen. Hierauf gab es Widerspruch: Er habe nicht den Muslimen den christlichen Blick und den Christen nicht den muslimischen Blick gezeigt, sondern er habe »ihren Blick verstärkt«. Auf die Frage des Jokers, ob dies der Weg richtig war, sagte ein Zuschauer, es sei kein guter Weg, denn es sei wichtig, mit den Leuten nicht als Muslimen oder Christen, sondern mit ihnen »auf der Grundlage ihres Menschseins« (»3ala assas inno insan«) umzugehen. Nach ein paar weiteren Kommentaren lenkte der Joker das Thema auf die Beziehung zwischen Hussain und Natasha und forderte einen dies kommentierenden älteren Mann auf, »uns zu zeigen wie die Beziehung zwischen beiden erhalten werden kann«. Das Publikum brach in Gelächter aus und die Rhythmusgruppe setzte ein, so dass der ältere Mann in Ruhe nach vorne kommen konnte. In der zweiten Intervention hatte sich Hussain der Ironie bedient, um sich aus der Situation hinauszuerheben. Er erreichte dadurch, zwar selber ruhig und gelassen zu bleiben, er verlor aber gleichzeitig die Anerkennung seiner Persönlichkeit und damit auch die Beziehung zu seiner Freundin. Der diesbezügliche Kommentar, dass dies nicht der richtige Weg sei, brachte zum Ausdruck, dass Hussains ironische Haltung ihm verwehrte, in seinem Gegenüber jemanden Gleichen zu erkennen und auf gleicher Augenhöhe mit ihm von »Mensch zu Mensch« (»ti3mal mahum ka insan«) zu sprechen. Dritte Intervention − Hussain und der »besoffene Schiit« In der dritten Intervention (Anhang 2a, Z. 238-277, Ain 42:34-42:36) ging Hussain trotz der Aufforderung dazu nicht auf die Beziehungsebene zwischen sich 22 | Dies ist ein Widerspruch, da muslimisch nicht zugleich christlich-orthodox (wofür »das Orthodoxe« als Abkürzung steht) sein kann.

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und seiner Freundin ein. Vielmehr erzählte er eine metaphorische Geschichte von einem besoffenen Schiiten und einem Sunniten, wozu er sogar aufstand und deutlich aus der Rolle Hussains ausstieg. Er wiederholte diese Geschichte noch zweimal, einmal in der Szene und einmal auf eine Frage, die der Joker nach dem Abbruch der Intervention gestellt hatte. Als der Joker fragte, ob es eine Veränderung bezüglich der Beziehung gab, wurde die Intervention als unverständlich kommentiert. Dass der Joker dieses Unverständnis nicht aufklärte, lag daran, dass dieser Zu-Schauspieler als etwas verwirrt wahrgenommen wurde und seine Intervention keinen neuen Aspekt des dargestellten Problems aufgezeigt hatte. Aus diesem Grund möchte ich hier auch nicht weiter auf diese Intervention eingehen, obwohl die erzählte Metapher eine Absurdität der bestehenden Differenzierung zwischen den Konfessionen ansprach. Vierte Intervention − Hussain: »Das geht mit mir nicht!« (»ma fini!«) Im Anschluss daran intervenierte ein Zu-Schauspieler in der Busszene als Hussain (Anhang 2a, Z. 296-340, Ain 49:08-49:10). In dieser Intervention lachte das Publikum viel, beginnend mit Hussains erster lachenden Aussage »Wirklich/ echt?!« (»wallah?!«), die zu seiner Standardantwort auf Natashas Fragen wurde. Trotzdem war dieser Hussain ziemlich ernst. Seine Haltung wurde deutlich von der Absicht geführt, unter keinen Umständen als George vorgestellt zu werden: »Das geht mit mir nicht!« (»ma fini!«) Während er die rechte Hand oben an der Stange des Busses und die linke Hand in der Hosentasche hatte, war Natashas rechter Arm zunächst um Hussain gelegt, danach hielt Natasha sich mit beiden Armen an Hussains linkem Arm fest. Als sie ihm den Vorschlag der Namensänderung machte, zog sie ihn fest an sich. Auf seine Frage: »Warum?« entfernte sie sich jedoch mit dem Satz: »Ich habe Angst.« von ihm so weit, dass sie gar keinen Körperkontakt mehr hatten. Als er darauf mit einem Vorwurf antwortete: »Hast du keine Persönlichkeit?« (»ma 3indak shak7siyeh?«), woraufhin das Publikum lachte, reagierte sie nicht konfrontativ. Im Gegenteil, sie nahm ihn wieder in den Arm und erklärte ihm, dass es keine Frage der Persönlichkeit sei, und dass er noch nie so mit ihr geredet hätte. Von da an hielt sie sich mit beiden Händen an seinem Arm fest. Als er sagte, dass das mit ihm nicht gehe (»ma fini«), blickte sie ihm fest in die Augen. Natasha gab nicht auf, sondern versuchte es immer weiter: »… nur in der ersten Zeit«. Sein stetiges striktes Nein brachte das Publikum zum Lachen – auch die Darsteller von Hussain und Natasha lachten. Natasha wurde jedoch wieder ernst und versuchte es immer wieder, worauf Hussain nachgab. Hier brach der Joker die Intervention ab. Auch wenn sein Nein zum Schluss ein Ja wurde, geschah dies nicht überzeugend, sondern infolge des Drucks der Situation, des Schauspiels oder des Publikums. Hussain ging in dieser Szene nicht auf die Beweggründe für Natashas Wunsch ein, sondern warf ihr mangelnde Persönlichkeit vor. Weder versuchte er, ihre hinter dem Vorschlag liegenden Gründe herauszufinden, noch machte er sich die Mühe, ihr darzulegen, warum er nicht auf ihren Vorschlag eingehen wollte.

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Er wurde aber auch nicht nach seinem Grund für die Ablehnung gefragt. Natasha ging weniger auf die Sachebene als vielmehr auf die Beziehungsebene ein und zeigte sich von Hussains Art, in der er mit ihr redete, irritiert: »Nie hast du so mit mir geredet!« (»3mri ma 7aket ma3 hek«); »Was ist mit dir?« (»shubak?«); »Wo ist der Hussain den ich kenne?« (»wen al Hussain ana bai3raf?«). Dadurch gelang es Natasha, das Publikum auf ihre Seite zu ziehen, welches anscheinend Hussains Verhalten ebenfalls als hart empfand. Der Problemhorizont wurde während des ganzen Gespräches nicht erweitert. Im Gegenteil verschwamm die Beziehungsmit der Sachebene in einer Art und Weise, dass sich der Blick auf das Problem verengte. So kam es, dass die Ablehnung ihres Vorschlages von Natasha als ein Ablehnen ihrer Persönlichkeit gewertet werden konnte: »So einfach verzichtest du auf mich?« (»hek basita itnazal 3ani?«) Und auch umgekehrt verengte sich aus der Sicht Hussains das Problem: entweder stellte Natasha ihn als Hussain vor oder sie hätte keine Persönlichkeit. Damit entstand eine sich gegenseitig verstärkende Polarität, die einem Kreislaufmechanismus folgte. Dieser Kreislauf erzeugte ein Paradox: Gibt er nach, hat sie keine Persönlichkeit, und dann möchte er sich von ihr trennen. Hussain wollte Natasha aber nicht verlieren, dies war das Erste, was er auf die Frage antwortete, was er denn in der Intervention versucht habe: »Primär habe ich versucht, sie nicht zu verlieren!« (»awalan 7kauwwalt ma tik7sirha!«) Dieser Satz wurde vom Publikum beklatscht, was die Bedeutung der Beziehungsebene unterstützte. Aus Hussains Logik heraus durfte er, um Natasha nicht zu verlieren, nicht nachgeben. Nun ist es aber so, dass gerade sein Nichtnachgeben von ihr als ein Aufgeben ihrer Person und Beziehung empfunden wurde, und Natasha daher, da auch sie Hussain nicht verlieren wollte, so energisch versuchte, ihn zu überzeugen. In dieser Intervention stand die Beziehungsebene zur Disposition. Diese Annahme wird durch die Beobachtung unterstützt, dass in der Diskussion, anstatt auf die Sachebene einzugehen, die Frage erörtert wurde, ob Hussain oder Natasha extrem oder fanatisch (mut3assib) gewesen seien. Weder wurde der Vorschlag Natashas diskutiert noch ging es darum, ob es falsch oder richtig sei, dem Vorschlag nachzugeben. Es ging um das Attribut »extrem«, welches in diesem Zusammenhang negativ belegt war. Der Zu-Schauspieler war auf die Bühne gekommen, um etwas anderes zu machen, als der Hussain aus der Ausgangsszene. Dieser hatte die Beziehungsebene so in den Vordergrund gestellt, dass er, ohne genauer nachzufragen, dem Vorschlag Natashas zustimmte. Der jetzt intervenierende Hussain wollte seinen Willen kundtun und dem Vorschlag nicht zustimmen, nicht nachgeben, er wollte aber gleichzeitig nicht als extrem gelten (daher wohl das unüberzeugte Nachgeben zum Schluss). Diese Intervention wurde damit kommentiert, dass Hussain mit seiner Haltung versucht habe, eine Spaltung seiner selbst zu vermeiden: »[Er] versuchte Hussain zu sein [und] nicht zwei Rollen zu spielen, eine christliche und eine muslimische.«; »Er ist Hussain. Muslim. Und auch in einer christlichen Gesellschaft möchte er als Muslim leben.«; »Hussain zu bleiben und [gleichzeitig] ihr Geliebter« (»dallu hussain wa 7abbibha!«); »Er ist und bleibt Muslim.« (»bimshi muslim wa

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bikaffi muslim.«) Außerdem wurde angemerkt, hier zeige sich, dass das Problem zwischen beiden bestünde und nicht zwischen ihnen und der Welt. Daraus wird deutlich, wie sehr die Akteure und das Publikum auf die Beziehungsebene achteten (Anhang 2a, Z. 341-343). Eine Frau trat daraufhin ans Mikrophon und fragte, ob sie zeigen dürfe, was als Hussain zu machen sei. Daraufhin bat sie der Joker auf die Bühne. Fünfte Intervention − Hussain: »Hast du mich nicht angenommen auf der Grundlage, dass ich Hussain bin?!« (»mish inti qabaltini 3ala alasas ana Hussain?!«) Das Bedürfnis, sich nicht auf Natashas Vorschlag einzulassen, wurde vom darauf folgenden Hussain ebenfalls aufgenommen und weitergeführt. Auch dieser ZuSchauspieler, oder genauer diese Zu-Schauspielerin ließ sich nicht auf Natashas Vorschlag ein. In dieser, der fünften Intervention, sprach Natasha zum ersten Mal mehr (Anhang 2a, Z. 381-432, Ain: Erste Intervention, 54:02-54:03). Sie erläuterte ihre Gefühle und die Gründe dafür, warum sie gerne wollte, dass ihr Freund sich nicht als Hussain vorstellt. Hussain fragte ein wenig kritisch nach, wobei der Ton die ganze Zeit ruhig blieb und sie sich einander in den Armen hielten: »Greifen sie so in dein Leben ein?« (»dak7alu fi 7ayyatik hek?«); »Hast du mich nicht angenommen auf der Grundlage, dass ich Hussain bin?!« (»mish inti qabaltini 3ala alasas ana Hussain?!«) Die Stimmung war während dieser Intervention die ganze Zeit über sehr angenehm, auch wenn das Thema sehr ernst war. Bei diesem Gespräch wurde eine entschlossene Haltung Hussains deutlich, die sich vielleicht mit dem Satz: »Du hast mich doch auf der Grundlage angenommen, dass ich Hussain bin!« (»mish inti qabaltni alassa ana Hussain!«), belegen lässt. Wie das Gespräch zwischen Natasha und Hussain ausging, war nicht zu ersehen, denn es wurde von einem Tumult im Bus unterbrochen. Von welch starker Energie das Gespräch war, zeigte sich daran, dass es Hussain zunächst gelang, den Tumult zu ignorieren, und dass er weiter versuchte, Natasha klarzumachen, dass sie zu ihm, Hussain, stehen solle. Der Tumult wurde jedoch so laut, dass es unmöglich war, weiterzusprechen. Das Gespräch verlief insgesamt sehr ruhig, ja gar liebevoll. Hussain umarmte Natasha während des ganzen Gespräches, sie bestätigten sich ihre Liebe gegenseitig und auch das Publikum bewertete das Gespräch als »schön« (»helwa«). Obwohl Hussain nicht auf Natashas Vorschlag einging, suggerierten die Gesten und die Körperhaltung Wärme und Nähe zwischen den beiden. Die Art und Weise, wie Hussain mit Natasha sprach, wurde vom Publikum als konstruktiv gewertet und in der Form gedeutet, dass Hussain versuchte, seine Freundin zu verstehen und besser kennen zu lernen. Auf die Frage hin, was sie selbst umzusetzen versucht habe, sagte die ZuSchauspielerin, sie habe deutlich machen wollen, dass sich Hussain und Natasha als Muslim und Christin kennen gelernt hätten, sich beide in diesem Wissen respektieren sollten und die Gesellschaft keinen Einfluss darauf haben sollte. Dieser »Hussain« sah das Problem also im Zulassen Natashas, dass sich ihre Freunde in

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diese Frage einmischten. Damit stieß die Zu-Schauspielerin eine spannende Diskussion an, die vom Joker folgendermaßen aufgegriffen wurde: »Ist es möglich, dass die beiden miteinander leben, ohne dass die Gesellschaft eingreift?« Eine Frau meinte daraufhin, dass Natasha »Angst vor ihrer Umgebung, vor ihren Freunden, vor ihrer Familie« habe, dass sie »eine schwache Persönlichkeit« habe, dass ihr Kraft und Mut fehlten, sich der Situation, in der sie lebt, zu stellen (»tuwagi al waqia hiyya fiha«) und ihre Liebe und den Fortgang der Beziehung zwischen Hussain und ihr zu bewahren. Eine andere Frau meinte, dass dies unmöglich sei. Vielmehr sei es wichtig, dass sich jeder der beiden zunächst in seiner Umgebung (sprich Familie) über die Akzeptanz des anvisierten Partners erkundigen solle, bevor er eine Beziehung eingehe. Dieses wurde von der Zu-Schauspielerin abgelehnt (Anhang 2a, Z. 434-436). Während in der vorherigen Intervention das Problem in der Beziehung gesehen wurde, wurde in dieser Intervention die Beziehung in einen sozialen Kontext gestellt und die Möglichkeiten der Distanzierung wurden von diesem Kontext ausgehend in Frage gestellt. Diese Intervention sowie die nachfolgende Diskussion stellten den Höhepunkt der Veranstaltung dar. Sechste Intervention − Hussain: »Es gibt kein Problem!« (»ma fi mishkele!«) In der letzten, der sechsten Intervention (Anhang 2a, Z. 539-541, Ain: Zweite Intervention, 04:07-04:09), stieg der »neue Hussain«, erneut eine Zu-Schauspielerin, in der Busszene in das Stück ein und machte von Anfang an seine Sichtweise deutlich. Er sah kein Problem darin, dass er einer anderen Konfession angehörte, womit es für ihn auch keinen Grund gab, sich auf Natashas Vorschlag einzulassen, was er ihr ganz optimistisch bei der Vorstellung ihrer Freunde zeigen wollte. Die Rhythmusgruppe begann und die Cafeteriaszene wurde eingeleitet. Die ZuSchauspielerin betrat als Hussain die Bühne und stellte sich selbst als Hussain vor. Natashas Blick verriet eine Kälte, wie sie der spürbar werdenden Abkühlung unter den Freunden entsprach. Hussain reagierte darauf verletzt und fragte ganz offensiv, ob er, nur weil er Hussain sei, »nicht gut sei« (»ana mish mni7 ya3ni?«). Während Cathrine und Toni sich darauf ziemlich offensiv abwendeten, zeigte Nadine noch Interesse an Hussain. Dieser überrumpelte Nadine, indem er sie bei der Hand nahm, und ging mit ihr zum anderen Tisch. Hier ließ er sie stehen, da er ein Gespräch mit einer Studentin begann, um diese dazu zu überreden, sich zu den Christen zu setzen. Nadine nahm zwischenzeitlich wieder bei der ersten Gruppe Platz, doch Hussain hollte sie wieder zum anderen Tisch zurück. Eine muslimische Studentin ging währenddessen trotzig zum christlichen Tisch hinüber und setzte sich genau Toni gegenüber. Hussain nahm dann bei dieser Gruppe Platz und versuchte, ein Gespräch anzufangen, was sich aber nicht entwickelt wollte. Durch das Umsetzen hatte sich ein gemeinsamer Halbkreis gebildet, der keine zwei getrennten Tische mehr erkennen ließ. Eine andere Stimmung war entstanden − eine etwas absurde, trotzige, lustige, perplexe. Der Joker beendete

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die Szene und das Bild erhielt vom Publikum Applaus, sogar ein Pfeifen war zu hören. Das einfache Sich-zum-anderen-Setzen wurde zu einer »Lösung« des Problems verbildlicht. Die beiden Tische hatten sich aufgelöst, die Barrieren waren verschwunden, aber Interesse daran, dem anderen zu begegnen, wurde dadurch nicht geweckt. »Es gibt kein Problem!« wollte Hussain Natasha zeigen. Es gelang ihm, die Personen umzusetzen und umzugruppieren: Die eine Studentin machte es aus Trotz, die andere war zu verschämt, um nein zu sagen. Somit wurde die praktische Möglichkeit geschaffen, miteinander zu sprechen (der erste Kommentator aus dem Publikum beschrieb dieses Verhalten als einen »praktischen Schritt«). Das Bedürfnis und das Interesse, den anderen kennen zu lernen, wurde damit jedoch noch lange nicht erzeugt. Hussain handelte ohne Angst vor einer Vermischung der Konfessionen (ein Publikumskommentar hierzu: »Er wollte deutlich machen, dass sie [Natasha] vor nichts Angst haben sollte, nicht vor der Gesellschaft und nicht vor ihm.«). Tatsächlich kam es nicht zu einem Tumult oder Konflikt. Es zeigte sich ein optisch verändertes Bild auf der Bühne. Allerdings schienen sich alle in dieser neuen Position nicht besonders wohl zu fühlen, es wirkte so, als könnte eine kleine Erschütterung der Situatoin sofort wieder die »gewohnte Ordnung« herbeiführen.

III.2.2.1.4 Ende und Ausklang Nach dieser Intervention endete die Aufführung. Der Joker verkündete, dass das Theaterstück nun zu Ende sei, und bedankte sich bei den Zuschauern. Er wies noch darauf hin, dass Zettel auslägen mit Fragen, die die Zuschauer doch bitte beantworten sollten. Die Zuschauer verließen langsam den Saal, einige blieben noch, um mit den Schauspielern zu reden, sich untereinander auszutauschen und die Fragebogen auszufüllen. Die Schauspieler waren erschöpft, so dass es in Anbetracht des langen Rückweges nicht angebracht war, sofort eine Evaluation zu machen. Es war nun 17.00 Uhr und die Schauspieler hatten bis auf einige Brote auf dem Hinweg nichts gegessen. Von den Veranstaltern wurde uns in das Empfangszimmer am Eingang links, in dem wohl normalerweise Lehrer- oder Elterngespräche stattfanden, Essen gebracht, das alle hungrig verzehrten. Der Weg nach Hause war noch weit und die Gruppe erreichte erst spät in der Nacht wieder Beirut. Das Dorf Ain liegt weitab von Beirut und die Reise dorthin hatte viel Zeit gekostet und die Gruppe sehr in Anspruch genommen. Keiner der Schauspieler war dort je zuvor gewesen. Es war etwas Besonderes, dass sich eine konfessionell gemischte Gruppe auf den Weg in ein Dorf machte, aus dem keines ihre Mitglieder stammte. Das Neuartige daran wurde durch die Kommentare der Teilnehmer deutlich (»Was sollen wir hier?«; »Warum hier?«), deren Bedeutung mir mein Teamleiterkollege erklärte: Die Teilnehmer würden niemals von sich aus in ein Dorf reisen, das sie nicht ihr eigenes nennen.

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Die Interventionen hatten sich um »Hussain« gedreht, denn es war diese Geschichte, die die Zuschauer am meisten berührt hatte. Es war deutlich geworden, dass viele der Zuschauer jemanden namens Hussain kannten, ja, dass manche unter ihnen vielleicht sogar selber Hussain hießen. Die angespannte Atmosphäre im Saal, an jenen Stellen, als man sich über Hussain lustig machte, und die Reaktionen in den Interventionen belegen, dass die Zuschauer von der Geschichte Hussains betroffen waren. Während zunächst nur die Angriffe abgewehrt wurden (erste Intervention), wurden in der nächsten Intervention Ironie und Witz zum Schutz gewählt. In der vierten und fünften Intervention ging es um die Beziehung Natashas und Hussains sowie um die Frage, ob die Beziehung trotz einer Ablehnung des Vorschlags von Natasha würde erhalten bleiben können (vierte Intervention) bzw. ob es möglich wäre, den vom gesellschaftlichen Umfeld ausgehenden Druck außen vor zu lassen (fünfte Intervention). Die sechste Intervention zeigte auf, was es bedeutet, wenn man die gesellschaftlichen Animositäten negiert und herunterspielt. Dabei war stark zu spüren gewesen, dass alles von der Fragestellung ausgegangen war, wie sich »ein Hussain« gegenüber ungerechte Vorurteile wehren oder wie er dagegen sogar immun werden könne.

III.2.2.2 Die zweite Antwort: Aufführungsanalyse Beirut III.2.2.2.1 Ort und Zeit Die Aufführung in Beirut fand in Zusammenarbeit mit »al-Îaraka al-iÊtimaÝi« (zu Deutsch: »die soziale Bewegung«) statt, einer bekannten, im ganzen Land aktiven NGO, die ihren Hauptsitz in Beirut hat. Ihr Motto lautet: »Für eine gerechtere und menschlichere Gesellschaft«.23 Die stark französisch geprägte Organisation ist dementsprechend auch unter ihrem französischen Namen »Mouvement Social« bekannt. Ihr Logo in Blau und Weiß stellt, wie hier an früherer Stelle bereits kurz erwähnt, einen Weg dar, der an einer aufgehenden Sonne vorbeiführt. »Mouvement Social« existiert unter diesem Namen als soziale Bewegung seit Anfang der 1960er Jahre. Ihr Netzwerk war demnach schon vor dem Krieg im sozialen Bereich aktiv und auch während des Krieges versuchte sie, über die Konfessionen hinweg Aktionen zu starten. In ihrem Jahresbericht zu 2005 und 2006 stellt sie ihre Ziele wie folgt dar: »›Die soziale Bewegung‹ ist eine Organisation, die nicht wohltätig ist, nicht konfessionell und nicht parteiisch (parteipolitisch). Sie engagiert sich seit dem Jahr 1961 in der Entwicklung auf allen libanesischen Gebieten. Sie strebt nach dem Bau einer gerechteren und menschlicheren Gesellschaft und setzt sich durch ein Programm für gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung und durch Teilhabe der Jugendlichen an einer positiven Veränderung dafür ein.« (Übersetzung von der Verf., »al-Îaraka al-iÊtimaÝi« o.J.: 3)

23 | Siehe in den verschiedenen Sprachen auf der Internetseite von »Mouvement Social«.

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Nicht alle Publikationen der »Mouvement Social« erscheinen in arabischer Sprache, alle jedoch auf Französisch. Erst seit Neuerem werden sie auch in die englische Sprache übersetzt, eine Folge der Wechselbeziehung zu den Geldgebern der Bewegung. Finanziert wird »Mouvement Social« zum größten Teil durch internationale Organisationen.24 In den Darstellungen und Projektflyern schreibt die Organisation »Mouvement Social« über sich selbst: »Ihre Zentren sind über die gesamten libanesischen Gebiete verteilt.« (DO¨DUDND DOL¤WLPD·L o.J.: 4)25 Tatsächlich befinden sich sechs der zwölf Zentren in Beirut.26 Darüber hinaus sind zwei Zentren im Süden des Landes (in Nabatiye und Saida) und vier im Norden (in Tripolis, Akkar, Ras Baalbeck und Zahle).27 Die stärkere Gewichtung liegt damit bisher noch im Norden des Landes. Neben den langfristig angelegten Programmen für Jugendliche ist »Mouvement Social« im öffentlichen Raum durch »gemeinsame Aktionen« tätig. Diese Aktionen finden meist in Zusammenarbeit mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen statt.28

III.2.2.2.2 Bühne und Zuschauer Die Aufführung fand im Konferenzraum der »Mouvement Social«-Hauptstelle in Beirut statt. Diese befindet sich im Stadtteil Badaro, einer Gegend an der ehemaligen Grünen Grenze. Im Norden liegt das schiitische Viertel Íarek Írek, im Westen das sunnitische Viertel Al-Hur, im Südosten Ain ar-RumÁinah und im Südwesten Ash-Shiakh. »Mouvement Social« befindet sich im ersten Stock des Gebäudes – ursprünglich ein Wohnhaus – und ist durch ein Schild mit Logo am Balkon von außen erkennbar. Dennoch findet sich hier sicherlich niemand ein, der nicht schon über Bekannte, Verwandte oder Freunde etwas von der Organisation gehört hat. In der zivilgesellschaftlichen »Szene« ist der Sitz von »Mouvement Social« und damit auch der Aufführungsort jedoch bekannt. Für unsere 24 | Beispielsweise der Europäischen Union sowie: Conseil régional d’Île-de-France; Oxfam-Québec International und Partenaires internationaux; Broederlijk Delen; Comité catholique contre la faim et pour le développement; Christian Aid Partage (Jahresbericht 2006: 27; Finanzbericht; nur auf Französisch erhältlich). 25 | »[L]es centres du Mouvement Social sont présents sur toutes les régions du Liban.« (Mouvement Social: 4, Internetseite) 26 | Diese sind in Roumieh (im Gefängnis), Sin El Fil, Ghobeiry, Jnah sowie in Barbar El Khazen (ebenfalls im Gefängnis). 27 | In einer anderen Broschüre wurden folgende Zentren aufgeführt: Akkar, Badaro; Bourj Hammoud, Ghobeiry, Jnah, Prison de Roumieh; Prison de Barabar Khazen, Sin el Fil I, Sin el Fil II, Saida, Tripoli; Zahle, in: Le Volontariat o.J.: 5. 28 | Als Letztes waren sie bei der Aktion »Genug!« (»khallas«) beteiligt, einer Kampagne, die am 7. August 2007 in die Öffentlichkeit trat, um die Politiker zu einer Einigung zu bewegen (www.khalass.net/).

III.2 Exkurs: Aufführungsanalyse − Beschreibung der Aufführungsdynamik

Schauspieler war »Mouvement Social« bereits vor dem Auftritt ein Begriff.29 Die Organisation hatte die Aufführung in ihrem direkten Netzwerk bekannt gegeben, was aber nach den Aussagen eines Mitarbeiters wohl recht kurzfristig erfolgt war. Diesmal fuhren wir nicht alle gemeinsam an den Veranstaltungsort, sondern jeder kam auf eigene Faust dort hin. Obwohl die Aufführung erst um 16.00 Uhr stattfinden sollte, waren wir schon um 13.00 Uhr miteinander verabredet. Als ich das Zentrum erreichte, waren die meisten Schauspieler bereits da. Es war ein sehr warmer Tag. Ein Teamleiter hatte bereits mit dem Umräumen des Konferenzsaales begonnen, damit bald mit den Proben begonnen werden konnte. Der Saal wurde ursprünglich durch blaue Stühle strukturiert. Er hatte einen hellbraunen Teppichboden und eine mit Holzintarsien dekorierte Decke. Die linke Seitenwand war im selben, modernen Stil der Decke durch Holzeinlagen unterteilt, dazwischen hing ein Poster eines Projektes von »Mouvement Social«. Alles schien neu gemacht worden zu sein. Der Teamleiter baute die Bühne vor den vorgefundenen Sitzreihen auf, so dass der Blick durch die Fensterwand auf die Straße bzw. auf den Balkon hinaus gerichtet war. Die Fensterwand konnte man mit fünf weißen Rollos verdunkeln, was auch erfolgte. Dabei kam das Logo der Organisation zum Vorschein, welches über drei Rollos hinweg in blau-schwarzer Farbe abgebildet war und damit zum Blickfang für die Zuschauer wurde.30 Die Stühle wurden alle weggeräumt und in andere Zimmer gestellt. Die durch die gelben Getränkekisten markierte Bühne nahm somit vier Fünftel des Saales ein. Auf mein Drängen hin, den Zuschauern doch ein wenig mehr Platz zu geben, wurden die Kisten nur minimal nach hinten verschoben. Der Platz würde einfach gebraucht, begründete dies der Teamleiter, das Publikum könne sich auf den Boden setzen. Langsam trudelten die Zuschauer ein. Diesmal kannten viele von ihnen einen oder einige der Schauspieler, so dass eine sehr familiäre Stimmung entstand. Wenn ein Zuschauer keinen der Schauspieler kannte, war er zumindest mit den Organisationsmitarbeitern bekannt, was die Atmosphäre einer »Generalprobe« ebenfalls verstärkte. Diesmal bestand das Publikum nicht mehrheitlich aus Jugendlichen, sondern aus Personen zwischen 25 und 40 Jahren. Sie platzierten sich in dem engen Raum hinter der Schiebetür zum angrenzenden Saal, da im Bereich vor der Bühne wenig Platz war. Insgesamt waren etwa 25 bis 30 Zuschauer31, einschließlich der fünf Teammitarbeiter, anwesend.

29 | Zwei der Schauspieler waren sogar vorher schon im Freiwilligenprogramm von »Mouvement Social« aktiv. 30 | Es war ein Poster zum Freiwilligenprogramm (siehe III.2.1.2.1 Hintergrundbild, Abbildung 7). 31 | Im Report standen circa 40 Teilnehmer, Report, S. 10.

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III.2.2.2.3 Inhaltsanalyse der Aufführung mit Fokus auf die Inter ventionen und Publikumsreaktionen Verlauf der Fragestellung Statt einer einleitenden Rede durch einen Vertreter der Partnerorganisation gab es bei dieser Aufführung eine sehr kurze Einführung vom Joker selbst. Er erklärte, dass es sich hier um eine andere Form von Theateraufführung handele, da die Zuschauer ebenfalls zu Schauspielern würden. Auch diesmal machte der Joker eine gemeinsame Aufwärmübung: Er leitete zum »Regenspiel« den »italienischen Regen« an, ließ aber das Frage-Antwort-Lied weg. Er beendete die Übung ohne viele Worte und leitete ebenso zügig zum Stück über: »Okay, jetzt beginnt das Theaterstück.« (Beirut 0:25) Die Perkussiongruppe startete ihren Rhythmus. Die Schauspieler betraten durch die offene, aber mit Rollos zugehängte Balkontür die Bühne. Da es mitten am Tag war, sahen die Rollos hell erleuchtet aus, was dem Schauplatz ein ästhetisches Ambiente verlieh: Die Darsteller spielten gegen das durch die Rollos scheinende Licht. Die Registrierpersonen betraten für die Geburtsszene die Bühne. Eine der Registrierpersonen trug eine Jeans, wodurch ein wenig von der erwünschten formalen Atmosphäre verloren ging. Wegen des hellen Lichts konnte man durch das weiße Laken hindurch schattenhaft den Körper des »gebärenden« Schauspielers sehen. In der Busszene wurde gelacht, als sich der Bus zum ersten Mal drehte (Beirut 4:24). Auch gab es in der Szene zwischen Roni und Maya aus dem Publikum Gelächter, als Maya sich so genierte (Beirut 5:44; 6:21). Lautstark wurde gelacht, als Natasha den Vorschlag machte, ihren Freund George zu nennen (Beirut 6:59) − ein Lachen, das bis zum Ende der Szene anhielt (Beirut 7:13). Auch die Szene, in der Mahmud und Roni ein Zimmer mieten wollen, wurde diesmal mit Gelächter begleitet: Es war die Nachbarin, welche die Leute erheiterte (Beirut 11:44). In der Cafeteria wurde das Gespräch der muslimischen Studentinnen lachend kommentiert (Beirut 13:10). Ganz anders als in Ain wurden auch die Kommentare Nadines32 erheiternd empfunden (Beirut 15:50-15:52). Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass in Beirut besonders die Äußerung konfessioneller Ansichten und extremer Sichtweisen als lustig empfunden wurden, d.h., es zeigte sich eine gewisse Distanz zu diesen. Der Einsatz der Journalisten wurde, anders als in Ain, vom Publikum überhaupt nicht kommentiert. Sie wurden diesmal allerdings in einer zu Ain abweichenden Besetzung weniger ausdrucksvoll gespielt (Beirut 8:14; 19:25). Am Ende des Stückes fragte der Joker zunächst: »Wie ist eure Meinung zu diesem Theaterstück?«, was im Publikum Stille und Befangenheit auslöste. Der Joker reagierte aber sogleich darauf und richtete nun die Frage an die Zuschauer, an welcher Stelle (»matra7«) sie empfunden hätten, »dass einer unterdrückt 32 | »Wenn sie einen von denen heiraten würde, müsste sie zwölf Kinder gebären.« sowie der Witz über Hussain Hamiyyeh.

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wird und ihr hattet Mitgefühl mit ihm« (»3atiftu ma3hum«). Außerdem fragte er, wessen Geschichte sie »gestört« hätte (»iza3gkum«). Ein Zuschauer sagte daraufhin, dass ihn die Situation mit Hussain und Natasha gestört habe, Hussain hätte seinen Namen behalten sollen. Dieser Mann wurde dann aufgefordert, in der Busszene zu zeigen, wie er das machen würde (Anhang 2b, Z. 2-22).

Fünf Antworten durch die Inter ventionen Erste Antwort − Hussain: »Wenn du mich liebst, dann mit allem … zuerst vor dir selber und dann vor ihnen!« (»Izi bit7ibni ma3 kull shi, awallan qudam nafsak wa ba3den qudamhum!«) Wieder war es die Geschichte von Hussain und Natasha, die als Erstes zu einer Intervention veranlasste: Der Zu-Schauspieler versuchte als Hussain im Bus, Natasha davon zu überzeugen, dass ihr Vorschlag für ihn nicht annehmbar sei. Zunächst war es für den Zu-Schauspieler schwierig, sich in die Rolle einzufinden. Er wusste nicht so genau, was er sagen solle und richtete fragende Gesten an das Publikum (Beirut 21:56). Sobald es dann zu seiner Ablehnung ihres Vorschlages kam, wurde er in seiner Rolle flüssiger. Er machte Natasha als Hussain klar, dass sie offen (»sari7«) mit ihren Freunden reden müsse, und sie, wenn sie ihn liebe, dies auch vor ihren Freunden tun müsse. Er sagte dies alles in sehr ruhigem Ton, lachte sie an und hatte die ganze Zeit seinen Arm um ihre Schultern gelegt. Er fragte sie weder nach ihren Gründen für ihren Vorschlag noch ging er auf ihre Befürchtungen ein, was passieren würde, wenn ihre Freunde erführen, dass er Hussain heiße. Er versuchte, ihr zu erklären, dass sie sich, wenn sie mit ihm ernsthaft zusammen sein wolle, mit den Reaktionen von Freunden, Bekannten und Verwandten auf ihr Zusammensein mit einem Hussain anfreunden müsse. Natasha antwortete, sie wolle nicht, dass ihre Freunde sie negativ beeinflussten. Da machte Hussain sie darauf aufmerksam, dass sie sie bereits jetzt beeinflussten. Dies ließ sie verstummen. Sie konnte nichts mehr sagen. Hussain redete in dieser Intervention sehr viel. Weder fragte er nach noch gab er Natashas Gefühlen Raum. Das Publikum kommentierte dies als eine »Viertellösung« (»rubi3 7all«). Hussain habe nur seine Ideen dargelegt (»wada7 af karo bus«), sei aber nicht auf Natasha eingegangen, da er von seiner Ansicht überzeugt war und erreichen wollte, dass sie dieselbe annahm.33 Gleichzeitig wurde dieser Hussain trotz Natashas Zweifel nicht dazu veranlasst, die Beziehung zu ihr aufzugeben. Dies ließ sich an seinem Körperkontakt, seinen Gesten und seinem Tonfall erkennen. Nach seinen eigenen späteren Angaben wollte er sie vielmehr im ersten Schritt von dem Gedanken, mit einem Hussain zusammen zu sein, vollends überzeugen, denn dann stellte dies vor den Freunden kein Problem mehr dar. 33 | Der Zu-Schauspieler kommentierte seine Strategie wie folgt: »Ich wollte sie dahin bringen, dass sie selbst von der Idee überzeugt ist. Sie war nicht von der Idee überzeugt. Sie hatte Angst vor ihren Freunden, sie hatte Angst vor der Gesellschaft, die sie umgibt. Sie ist nicht von innen überzeugt von der Idee, dass ich Hussain bin.« (Beirut 23:35)

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Auch wenn das Problem nicht gelöst werden konnte, so wurde sichtlich ein Prozess in Gang gesetzt, bei dem auf der Sachebene Aspekte, wie die Frage nach Natashas Haltung ihren Freunden gegenüber, angesprochen wurden. Die Atmosphäre während des Dialoges war warm, das Gespräch wirkte konstruktiv. Dies wurde durch die sich anschließenden Kommentare des Publikums (»That’s great!«) bestätigt (Anhang 2b, Z. 71-73). Die zweite Antwort − Mahmud: »… ich hatte nicht das Gefühl, dass ihr dasselbe bei der Äußerung meines Namens empfunden habt!« (»Ma 7asset inno 7essetu nafsil shi lamma 7aket ismi: ma7mud!«) Mit der nun folgenden Intervention in der Mietwohnung (Anhang 2b, Z. 112fff., Beirut 27:05-27:07) wurde erstmals in einem Plot interveniert, der nicht Natasha und Hussain betraf. Als Auslöser für diese Intervention nannte der Zu-Schauspieler seinen Eindruck, dass Im Sherbel ein Problem mit Mahmuds Namen hätte. Allerdings schien es ihm nicht möglich, Im Sherbels Verhalten zu ändern. Er wurde dennoch zum Intervenieren aufgefordert. Bis zum Moment des Eklats sprachen nur Im Sherbel und Roni. Nach dem Eklat durch Mahmuds Namensnennung begann der Zu-Schauspieler als Mahmud das Geschehen zu beeinflussen. Er versuchte zunächst, eine Begründung dafür zu erhalten, warum er die Wohnung nicht bekommen solle. Als er daraufhin nur Vorwände zu hören bekam, verwies er darauf, dass Roni allein die Wohnung mieten wolle. Darauf ging Im Sherbel allerdings nicht ein. Er konnte diese Strategie auch nicht weiterverfolgen, weil ihm Roni widersprach und darauf verwies, dass er erst seinen Bruder fragen müsse. Mahmud versuchte nun, zumindest seine Enttäuschung deutlich zu machen. Er machte dies geschickt durch eine Spiegelung: Zunächst lobte er Im Sherbel und ihren Namen und verwies dann auf sein positives Gefühl, welches er bei der Äußerung ihres Namens empfunden hatte. Allerdings habe er das Gefühl, dass »sie nicht dasselbe bei der Äußerung seines Namen empfunden hätte« (»ma 7asset inno 7essetu nafsil shi lamma 7aket ismi: ma7mud«). Das hinterließ eine gewisse Peinlichkeit: »Nein, die Sache ist nicht so.« (»la alqissa mish hek.«); »Aber jeder hat so seine Vorsichtsmaßnahmen.« (»kull wa7id 3indo … ta7afuzato.«) Ein Aspekt, der den Zu-Schauspieler bewegt hatte, war nach eigenen Angaben der Widerspruch, dass Roni und Mahmud sich gegenseitig akzeptierten und gemeinsam eine Wohnung mieten wollten, diese Akzeptanz aber radikal von der Vermieterin Im Sherbel durchbrochen wurde. Dies brachte der Zu-Schauspieler in seiner Art zu intervenieren und in seinen anschließenden Kommentaren zum Ausdruck. Es gelang ihm jedoch in der Intervention nicht, eine starke Solidarität mit Roni aufzubauen, da dieser auf Mahmuds Strategie nicht einging. Roni zeigte zwar in dem Moment, als die Stimmung nach der Nennung des Namens Mahmud schlagartig abkühlte, mimisch Entrüstung (Beirut 26:50), behielt diese Haltung aber nicht bei. Vielmehr entwand er sich schnell der Situation mit der Behauptung, er müsse seinen Bruder noch fragen.

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Die Entwicklung der Szene litt daran, dass nicht deutlich wurde, was die einzelnen Figuren voneinander wollten bzw. was diejenigen wollten, die noch im Kontakt blieben.34 Mahmud blieb, ohne dass klar wurde, was er wollte. Wollte er das Zimmer wirklich mieten? Es schien nicht so. Er kommentierte später, dass er Im Sherbel zeigen wollte, dass er so sei wie sie, und er nicht, nur weil er Mahmud heiße, mit einem Messer käme (»kunnit biddi fargiha inno min fikar wa7ideh. Bus iza ismi Mahmud ma bagi min al sakine.«). Roni war nach der Namensnennung kaum noch am Gespräch beteiligt. Sobald es ihm möglich war, verließ er die Bühne. Dass weder Mahmud noch Im Sherbel von einem klaren Willen getrieben wurden, zeigte sich in dieser Improvisation deutlich und machte sich in der Ästhetik der Darbietung bemerkbar. Die dritte Antwort − Im Sherbel: »Sie ist verrückt!« (»majnuneh!«) Die dritte Intervention (Anhang 2b, Z. 221-223, Beirut 29:51-29:52) erfolgte auch in der Mietszene. Hier wurde jedoch das Problem nicht im Verhalten Im Sherbels gegenüber Mahmud gesehen, sondern im Verhalten Im Sherbels gegenüber der Nachbarin. Die These besagte: Im Sherbel wäre nur deshalb so negativ gegenüber einem Mieter mit einer anderen Konfession, weil sie es nicht schaffe, sich gegenüber der Nachbarin durchzusetzen (»qadir itwajiha«). In dieser Intervention war Im Sherbel proaktiv. Die Zu-Schauspielerin ließ sich ganz auf die Rolle der Vermieterin ein, spielte gelassen und selbstsicher. Gegenüber den Jungs war sie zustimmend und wohlwollend. Der Nachbarin gegenüber trat sie selbstsicher und konfrontativ auf. Sie machte der Nachbarin direkt deutlich, dass sie nicht wissen wolle, woher die Jungs kämen. Im Gegenteil, es sei ihre Wohnung und sie könne bestimmen, wer hier einziehen dürfe (»baiti«). Auf die Sorgen der Nachbarin, dass es doch wichtig sei, verlässliche Mieter zu haben, ging sie nicht ein. Vielmehr bewertete sie das Verhalten der Nachbarin als unmöglich, sagte ihr, dass sie sich benehmen solle (»i7tiram 7alak wa i7tirim al duyuf«) und stellte sie vor den Fremden bloß (»Sie ist verrückt!« − »majnuneh!« − »Das hat sie manchmal.«). Im Sherbel zeigte sich in dieser Intervention selbstbewusst und unabhängig. Sie wirkte wie jemand, der sich von niemandem etwas sagen lassen würde und offenbarte keinerlei Verständnis für die Gründe, die die Nachbarin zu ihrer Haltung bewegten. Sie kategorisierte alle Einwände der Nachbarin pauschal als unberechtigt, wies bereits die Frage, woher die Mietinteressenten kämen als einen Angriff auf ihr Wertesystem zurück und bezeichnete die emotionale Betroffenheit der 34 | Die Nachbarin wollte eindeutig den Kontakt abbrechen. Bis auf die Frage, was mit dem Namen der Wohnung sei, hielt sie sich aus dem Gespräch heraus. Sie war nur damit beschäftigt, Im Sherbel zum Abbruch des Gespräches zu bewegen (ständiges Ziehen am Ärmel, Rückwärtsgehen, Im Sherbel zurückholend). Im Sherbel aber wehrte sich gegen diese Überzeugungsversuche und blieb bis zum Schluss standhaft mit Mahmud im Gespräch, ohne dass eigentlich deutlich wurde, warum. Sie ging sogar zum Schluss auf den Vorschlag ein, mit ihm einen Kaffee trinken zu gehen.

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Nachbarin als »Verrücktheit«. Sie brachte dem Verhalten der Nachbarin gegenüber eine Abwertung zum Ausdruck, die über eine einfache Ablehnung hinausging. Diese Abwertung gipfelte im Bloßstellen der Nachbarin vor den fremden Gästen. Allerdings zeigte sie dieses Verhalten aus einer Machtposition heraus: »Es ist ihr Haus!« Aus dieser Position heraus konnte sie es sich erlauben, aggressiv auf die versuchte Beeinflussung ihrer Entscheidung zu reagieren. Die Szene endete damit, dass sich die Nachbarin in einer peinlichen Situation wiederfand. Im Sherbel nahm hier zu den ihr fremden Mietinteressenten eine solidarische Haltung ein, eine konfrontative hingegen zu ihrer Nachbarin, die im ursprünglichen Stück als eine enge Freundin dargestellt worden war. Der unterschiedlichen Nähe und damit auch Verbindlichkeit zu und gegenüber den fremden Männern und zur vertrauten Nachbarin wurde in dieser Intervention nicht Rechnung getragen. Auf die Abhängigkeiten, die zwischen Im Sherbel und der Nachbarin bestanden, ging die »neue« Im Sherbel – wie sie in der Diskussion genannt wurde – genauso wenig ein, wie auf die Gefahren, irgendwelche fremden Mieter ins Haus zu holen. Dies wurde in der Diskussion, die sehr kurz gehalten wurde, nicht thematisiert. In dieser Intervention bekam ich stark den Eindruck, dass die Rolle Im Sherbels dazu verwendet wurde, ein ersehntes Abgrenzungsverhalten gegenüber einem äußeren, negativ bewerteten Einfluss zu präsentieren. Dies geschah unabhängig von Im Sherbels vorher präsentierten Figur und von ihrem ursprünglichen Kontext. Dies mag der Grund dafür sein, warum der Joker diese Intervention nicht weiter diskutierte und er zügig zu einer nächsten Intervention überleitete (Anhang 2b, Z. 284-286). Die vierte Antwort − Hussain: »Hussain, Abu Hassun!« In der vierten Intervention (Anhang 2b, Z. 313-315, Beirut 35:50-35:52) wurde in der Cafeteriaszene ein »neuer Hussain« eingesetzt. Diese Intervention stellte energiemäßig den Höhepunkt der Beiruter Aufführung dar. Der Vorschlag, den die Zu-Schauspielerin unmittelbar vor ihrer Intervention gemachte hatte, war, Natasha zu zeigen, was es für ein Gefühl sei, wenn man einer Gruppe mit einem zwar passenden, aber falschen Namen vorgestellt würde.35 Die Szene begann mit dem Eintritt Natashas und Hussains in die Cafeteria, wo sie sehr herzlich von den Freunden empfangen wurden. Hussain wurde als George vorgestellt, nannte sich selbst aber anschließend Hussain. Natasha erklärte dies sofort damit, er mache Witze, wodurch sich die Situation verkomplizierte. Toni machte sogleich deutlich, wie absurd es wäre, wenn Natashas Freund Hus35 | Die Zu-Schauspielerin machte auf die Frage des Jokers hin, ob sie sich andere Lösungen vorstellen könne, einen Vorschlag. Sie sagte, man könnte Natasha in dieselbe Situation wie Hussain stecken und sie z.B. als Fatmeh vorstellen (Beirut 35:19). Die Szene entfaltete ihre eigene Dynamik, so dass die Zu-Schauspielerin gar nicht dazu kam, Natasha als Fatmeh vorzustellen.

III.2 Exkurs: Aufführungsanalyse − Beschreibung der Aufführungsdynamik

sain wäre (»Der macht sich über uns lustig!« – »bimza7 3laina shu Hussain!«). Hussain nahm daraufhin keine Angriffshaltung ein. Im Gegenteil, er gab nachfragend Toni den Raum, sich zu erklären. Toni nutzte diesen Raum, um seine ganzen Vorurteile zu präsentieren. Er redete dabei eine sehr deutliche Sprache. Bereits auf die erste Frage Hussains, was denn wäre, wenn er Mahmud hieße, reagierte Toni mit starker Ablehnung. Natasha versuchte, das Thema zu wechseln, was ihr auch kurz gelang. Hussain kam aber wieder auf das Thema der konfessionellen Zugehörigkeit zurück. Er blickte Toni lachend an und offenbarte ihm seine Zugehörigkeit: »Ich bin Hussain, Abu Hassun!« (wortwörtlich »der Vater des kleinen Hussain!«)36. Damit erzeugte er eine seltsam bedrückte Stimmung. Cathrine wendete sich unverhohlen von ihm ab. Sie hätte das schon gesehen, dass er ein Hussain sei (»Das hat man dir angesehen!« – »kan imbayyin 3alik!«), wobei sie mit einer Handbewegung – das Kinn anfassend – auf den Bart verwies. Cathrine zeigte ihre Ablehnung dem Publikum unverhohlen in Mimik und Gestik. Hussain ließ sich davon jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Er hielt die ganze Zeit intensiven Blickkontakt mit allen dreien, Toni, Cathrine und Nadine. Er lächelte, reagierte bestimmt und mit ruhiger Stimme auf die Fragen und Anschuldigungen und hatte die Beine zu Natasha gewandt übereinander geschlagen (was damit zusammenhängen kann, dass er von einer Frau gespielt wurde). Er kam schnell auf die Tatsache zu sprechen, dass er Natashas Freunde kennen lernen wolle, und dass er es gut fände, wenn sie auch seine Freunde kennen lernen würden. Dieser Vorschlag entwickelte sich mehr und mehr zu Hussains Ziel. Natasha und seine Beziehung zu ihr verlor er dabei aus den Augen. Vielmehr wurde sein Wunsch deutlich, dass die eine Gruppe mit der anderen ins Gespräch käme. Dieser Wunsch schien einer Norm zu entsprechen: Nadine meinte, dass es die anderen seien, die nicht mit ihnen reden wollten und sie deswegen auch nicht mit ihnen sprechen wollten. Sie hätten ja nichts gegen die anderen, aber diese kämen nicht zu ihnen. Ein legitimer Grund dafür, mit dem anderen keinen Kontakt zu haben, schien also zu sein, dass der andere kein Interesse habe, mit einem zu reden. Hussain ließ sich auf den Vorschlag ein, die anderen zu holen und ging deshalb zum anderen Tisch. Hier offenbarte sich ihm jedoch, dass auch an diesem Tisch kein Interesse bestand, mit den anderen zu sprechen. Er wurde dort gleich damit begrüßt, was er denn drüben bei den anderen gemacht hätte. Als er dann sagte, dass er mit denen geredet habe, so wie er auch mit ihnen rede, kam bei diesen Studenten eine ähnliche Haltung zum Ausdruck, wie bei denjenigen am anderen Tisch. Eine der muslimischen Studentinnen sagte es deutlich: »Wir haben kein Problem. Aber diese, sie machen den Block.« Auch forderte eine, dass die anderen doch zu ihnen kommen sollten. Hussain hatte sich zum Ziel gesetzt, diese beiden Seiten zusammenzubringen, brachte sich damit aber in eine Zwickmühle. Zwar wollte keiner zum an36 | Abu Hassun − Im Arabischen werden Personen als Vater oder Mutter ihres Namens in der Verkleinerungsform als Ausdruck einer Nähe und liebevollen Beziehung genannt.

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deren gehen, jeder bezeugte aber, bereit zu sein, mit dem anderen zu sprechen. Erstens habe man nichts gegen die anderen, sondern die anderen hätten vielmehr etwas gegen einen. Zweitens ziehe man es vor, dass die anderen zu einem kämen, anstatt sich selbst zu ihnen zu begeben. »Hussain« beschrieb später (in einem Gespräch mit mir), dass er diese Situation als schrecklich schwer erlebt habe. Er habe es als unmöglich empfunden, die einen mit den anderen zusammenzubringen, weil beide Seiten es als ein Verlieren empfunden hätten, sich auch nur zu der anderen Seite zu begeben. Die beiden Gruppen erzeugten eine Spannung, die durch gegenseitige Ablehnung aufgeladen und die zugleich von einem Wettkampfgeist getragen wurde. Die Angst zu verlieren, verbot den einen wie den anderen, sich zu bewegen. Auch wenn man keinen Kontakt zueinander gesucht hatte, so bezog man sich dennoch wechselseitig aufeinander. Hussain wurde durch seine Wanderung von dem einen zum anderen Tisch zu einem Medium, das es ermöglichte, den Wettkampf weiter auszutragen. Die Gelegenheit wurde genutzt, aufeinander reagieren zu können. Toni antwortete beispielsweise auf die Anschuldigungen einer Studentin mit einem Gegenvorwurf; er begab sich dazu nicht vom Platz, ja, er drehte sich nicht einmal zu der Studentin um, sondern redete mit ihr, während er ihr den Rücken zuwandte. Es war nicht zu erkennen, ob es für ihn tatsächlich von Bedeutung war, dass seine Einwände bei den anderen Studenten ankamen, oder ob für ihn vielmehr der Eindruck zählte, den seine Missbilligung bei seinen Freunden hinterlassen würde. Der Wortabtausch wirkte wie ein Wettstreit unter Anwesenheit von Zuschauern, von Schaulustigen. Der Einzige, dem diese Auseinandersetzung naheging, der sie ernst zu nehmen schien, war Hussain. Er wirkte überrumpelt, stellte sich hilflos an die Seite, so als hätte die Möglichkeit seines Einflusses aufgehört. An dieser Stelle brach der Joker die Szene ab. Der Ortswechsel von der einen Gruppe zur anderen hatte eine Art Anerkennung der anderen Gruppe dargestellt, die nicht bedingungslos erfolgen konnte. »Zum anderen zu gehen« war mit Zweifeln verbunden. Den anderen auch nur zu besuchen, ihm an seinem Ort zu begegnen, schien unangenehm, wenn es nicht gar als bedrohlich empfunden wurde. So als würde einer, der zum anderen geht, Gefahr laufen, sich durch diesen Besuch in eine Position der Verletzlichkeit und Bedürftigkeit zu begeben. Ja, es schien sogar so, als würde das Besuchen der einen oder anderen Gruppe als Unterlegenheit gedeutet werden können. Gründe, die einen dazu bewegen könnten, zur anderen Gruppe zu gehen und Interesse zu bekunden, wurden in der Intervention nur von Hussain genannt. Hussain fühlte sich mit seinem Versuch, die beiden Gruppen zusammenzubringen, von beiden Gruppen ausgestoßen und keiner der Gruppen zugehörig. Er hatte versucht, einen »dritten Ort« zu finden, wie es jemand aus dem Publikum formulierte. Er habe sich als allein und fremd empfunden, sagte er später selbst. Seine Situation war ihm ausweglos erschienen. An einem anderen Ort, einem neutraleren Ort, wie er es ausdrückte, gäbe es vielleicht eine Chance der Begegnung, aber nicht dort oder dort.

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Die Szene, die emotional sehr aufgeladen war, hatte deutliche Fronten gezeigt und hinterließ eine frustrierte Zu-Schauspielerin, die als Hussain versucht hatte, die beiden Gruppen zusammenzubringen. Mit diesem Versuch wich sie vom Ausgangsproblem ab, bei dem es um Hussains Vorstellung bei Natashas Freunden ging. Dies war, wie der Joker im Anschluss meinte, doch ein bisschen gelungen und die Zu-Schauspielerin hätte als Hussain den Anfang einer Bewegung gemacht. Die fünfte Antwort − Roni: »… ich komm’ mit dir?!« (»… agi ma3ki?!«) Die Stelle für die fünfte Intervention (Anhang 2b, Z. 449-451, Beirut 42:50-42:51) wurde vom Regisseur vorgeschlagen: Es ist die Stelle, an der Roni Maya anspricht. Bei dieser Intervention fiel zunächst auf, dass Roni ähnlich wie Maya – die vom Joker als Juliette angesprochen wurde, also mit dem echten Namen der Schauspielerin – selbst schüchtern und verliebt auftrat. Er lachte beschämt, hatte die Hände gefaltet, den Oberkörper gebeugt und schaute immer wieder lachend weg (Beirut 43:40-43:42). Dessen ungeachtet nahm er Mayas kühlen Wandel nicht so einfach hin. Dadurch, dass sie ihre Ablehnung nicht direkt ausdrückte, sondern sich nur ständig räusperte, wurde es möglich, ihren Stimmungswechsel zu ignorieren. Notgedrungen nahm sie Roni an den Tisch ihrer Freunde mit, da sie es umgehen wollte, seine Frage danach, mitzukommen, direkt zu verneinen (»… ich komm‹ mit dir?!« – »… agi ma3ki?!«, Anhang 2b, Z. 487). Die Freundinnen verhielten sich so ähnlich wie sie: Sie versuchten das Gespräch schnell zu beenden, ohne diesen Wunsch direkt zu formulieren. Das Gespräch wurde dann von einem äußeren Umstand beendet: Ronis großer Bruder kam, um Roni von diesem Tisch zurückzuholen. Doch bevor Roni seine Autorität walten lassen konnte, griff unerwartet Hussain in das Gespräch der beiden Brüder ein. Während am rechten und am linken Tisch Studentinnen saßen, fand nun in der Mitte der Bühne eine Auseinandersetzung zwischen den drei Männern statt. Hussain sprach in einem Ton, in dem er nie zuvor gesprochen hatte. Er trat in dieser Improvisation mit einer Klarheit und Deutlichkeit auf (»Was willst du von ihm?« − »shu biddak fiho?«, »Verlass ihn!« − »itriko!«], die den Bruder zurückwies und ihn zynisch werden ließ (»Steh‹ auf, und umarme ihn!« − »3aniqo!«, Anhang 2b, Z. 517). Hussains Worte blieben unwidersprochen im Raum. Sein unerwartetes, entschiedenes Eingreifen führte einen Machtwechsel herbei, bei dem die Gruppe um Hussain als Sieger erschien. Das wurde dadurch verstärkt, dass Natasha aufstand und sich in seine Arme drängte. Auch Maya erhob sich und gesellte sich zu Roni, der sie dann in seinen Arm nahm. So entstand ein Bild zweier siegreicher Pärchen. Das Publikum fing erlöst an, zu klatschen und »Bravo« zu rufen. Das Bild des Sieges fand seinen Höhepunkt in der Geste Mahmuds − jetzt, am Ende des Stückes, als Khaldun −, der sich in das Klatschen hinein auf die Kisten hinter die Pärchen stellte und mit dem Siegeszeichen die Szene beendete.

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Schluss und Zusammenfassung Nach diesem Finale kommentierte der Joker die Szene nicht mehr. Er beendete die Veranstaltung mit einer kurzen Danksagung an das Publikum und verwies nach dem Beifall noch darauf, dass am Eingang Fragebogen vorbereitet wären, in denen das Publikum nach seiner Meinung gefragt würde. Diesmal hatten die Schauspieler anschließend noch ein bisschen Zeit, so dass wir eine gemeinsame Evaluation machen konnten. Die Schauspieler wollten gerne unsere Meinung zu ihrem Spiel hören. Sie erklärten uns alle, dass sie sich diesmal sicherer als beim ersten Mal gefühlt hätten. Die Aufführung in Beirut war eine Aufführung in einer familiären Atmosphäre unter Gleichgesinnten. Diese These wird zum einen davon getragen, dass das Publikum hauptsächlich aus Freunden und Verwandten der Schauspieler und Teammitarbeiter bestand. Zum anderen aber auch davon, dass es weder eine formale Ansprache von der einladenden Organisation noch Worte der Danksagung an die Organisatoren gab, auch die Theatermethode war nur sehr kurz vorgestellt worden. Trotz dieses familiären Charakters war es gelungen, einen ästhetischen Raum zu schaffen und eine Spannung zu erzeugen, die die Konzentration erleichterte. Während des Stückes fiel auf, dass sich alle Schauspieler (bis auf eine Schauspielerin, die in der Journalistinnenrolle einspringen musste) ihrer Rollen deutlich sicherer waren, als in Ain. Es gab keine Versprecher und keine unklaren, unsicheren Stellen. Das Verhalten des Publikums, seine Lacher, Interventionen und Diskussionsbeiträge zeugten von einer Distanz gegenüber dem Anspruch einer konfessionellen Lebensordnung. Die erste Intervention als Hussain hatte deutlich gemacht, dass eine Veränderung der konfessionellen Orientierung mit einer ehrlichen Reflexion über die eigenen Einstellungen beginnt. In der zweiten Intervention hatte Mahmud versucht, dem Hochmut der Andersgläubigen durch Spiegelung ihrer Einstellung anderen gegenüber zu begegnen und sie dadurch bloßzulegen. In der dritten Intervention befreite man sich vom Einfluss konfessioneller Sichtweisen, wobei allerdings die Abwertung einer anderen Person in Kauf genommen wurde. In der vierten Intervention verdeutlichte Hussain die Kraft einer Haltung, die gegenüber konfessioneller Herabsetzung immun ist, bekam jedoch beim Versuch, die ihm gegenüber herrschende Haltung zu verändern, deren Starrheit und Unflexibilität zu spüren. Dies manifestierte sich in einer physischen Unbeweglichkeit. Die letzte Intervention in der Rolle Ronis zeigte erneut die Möglichkeiten, die in der Ignoranz subtiler Ablehnung verborgen liegen. Das bildete die Grundlage dafür, um die Sehnsucht nach einer neuen Gruppenaufteilung visionär zu porträtieren.

III.2 Exkurs: Aufführungsanalyse − Beschreibung der Aufführungsdynamik

III.2.2.3 Die dritte Antwort: Aufführungsanalyse Kfayr III.2.2.3.1 Ort und Zeit .ID\U ist ein kleines Dorf ganz im Süden des Landes. Es liegt in der für Ausländer geschlossenen südlichen Sperrzone. Wir fuhren gemeinsam in einem VW-Bus von Beirut nach Saida und dann Richtung Westen. Dementsprechend kamen wir an vielen vom Sommerkrieg gezeichneten Dörfern vorbei u.a. auch an dem von den Israelis vollkommen zerstörten Dorf Khiyyam. Dort lag das bekannte Gefängnis Khiyyam, während des Bürgerkrieges ein Symbol des Widerstandes, das dem Erdboden gleich gemacht worden war und von dem nun nicht einmal mehr Ruinen zu erkennen sind. Die ganze Gegend ist vermint, nur die großen Straßen sind ungefährlich. Südlich von Marjayoun wurden israelische Gebiete sichtbar. Israel zu sehen, löste im Bus Aufregung aus. Wir fuhren einen kleinen Umweg, einen Feldweg entlang, um näher an Israel heranzukommen. Auch wenn wir nicht aussteigen konnten, wurden hier eifrig Photos gemacht: ISRAEL. Wir blieben nicht lange, schließlich ist es nicht erlaubt, zu nah an die Grenze heranzufahren, aber es wurden begeistert Geschichten von der Grenze erzählt. Die Bebauung ist beidseitig so nah an der Grenze, dass sich beide Seiten in ihrem Alltag sehen können. Auf dem Weg zu unserem Aufführungsort kamen wir auch an Hasbayya vorbei, einem drusischen Dorf, aus dem ein Teilnehmer (Khaldun) stammte, sowie an Marjaoun, dem Heimatdorf Ramis. Rami erzählte mir die Geschichte von der Flucht seiner Familie im letzten Sommer, dem Kriegssommer. Derartige Geschichten prägten die Autofahrt. Es gab auch Momente der Stille, ohne Musik und Gesang, und alle hörten dem jeweiligen Erzähler zu. Das war ganz anders als auf der Fahrt in den Norden. Der Krieg des letzten Jahres war noch zu spüren. Die Stimmung war seltsam bedrückt, obwohl die einzelnen Dörfer äußerlich sehr idyllisch aussahen. In .ID\U war der Aufführungsort leicht zu finden: Er war ein Ort, der speziell für Festlichkeiten erbaut wurde. Ein imposantes Gebäude wurde an einer exponierten Stelle errichtet, die von allen Seiten von Bergen umgeben ist und von der aus das Dorf überblickt werden kann.

III.2.2.3.2 Bühne und Zuschauer Der Aufführungsort war ein Platz vor einem Festgebäude mit einem reich verzierten Portal. Mauern zur rechten und linken Seite des Portals umrahmten den Bereich vor dem Portal und verbargen links den Zugang zu einer Küche und rechts einen Tioletteneingang. Das Portal war überdacht und von einer Säulenreihe umgeben. Es markierte die Vorderseite des Platzes, auf dem bei gutem Wetter die Festlichkeiten stattfinden konnten. Für den Fall, dass es regnete, gab es noch die Ausweichmöglichkeit, in den Saal zu gehen, der sich hinter dem Portal verbirgt. Die Bühne war vor dem Portal aufgebaut worden: Sie war eine richtige Tribüne, die mit Teppichen ausgelegt war. Davor befanden sich bereits mehrere Stuhl-

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reihen für das Publikum. Es gab Lautsprecher zu beiden Seiten der Bühne sowie am Ende der bestuhlten Fläche, außerdem ein Mischpult in der Mitte des Zuschauerbereiches. Es war deutlich zu erkennen, dass hier große Vorbereitungen im Gange waren, um den Ort herzurichten und den Nachmittag vorzubereiten. Sobald wir angekommen waren, machte sich der Regisseur gleich an die Proben. Es ging ein starker Wind und die Ungewissheit, ob das Wetter halten oder es bald regnen würde, stand im Raum (eines der Teammitglieder meinte vollkommen überzeugt, dass es die Wetterlage kenne und erst bei Sonnenuntergang mit Regen zu rechnen sei. Dies wäre so um 18.00 Uhr, also zu dem Zeitpunkt, an dem möglicherweise gerade das Stück beendet wäre). Allmählich trafen die Zuschauer ein. Sie hatten sich herausgeputzt und für die Veranstaltung extra schön gemacht. Auf der einen Seite des Weges, der zum Veranstaltungsort führte, standen ein paar junge Männer, die aus Thermoskannen Kaffee an die Ankommenden verteilten. Die Menschen begrüßten sich herzlich und man merkte, dass sie sich untereinander kannten. Langsam füllten sich die Stuhlreihen. In der vorderen Reihe saß die ältere Generation: Die Männer setzten sich rechts und die Frauen, die mehrheitlich weiße Kopftücher trugen, links. Diejenigen mittleren und jüngeren Alters setzten sich geschlechtlich gemischt dahinter. Es waren insgesamt sehr unterschiedliche Altersgruppen vertreten: sehr alte Männer und Frauen, Mütter mit Kindern, Familien und Gruppen von Jugendlichen. Es schien, das ganze Dorf habe wohl von dieser Aufführung gehört. Dieser Eindruck wurde auch dadurch bestärkt, dass ein Mann darum bat, das Stück filmen und in seinem nichtlegalen Fernsehsender im Dorf ausstrahlen zu dürfen. Tatsächlich war natürlich nicht das ganze Dorf anwesend. Es handelte sich hier um einen Ort der drusischen Gemeinde. Diese kam zu jeder Festlichkeit hierher, während die Christen hingegen einen zwar ähnlichen, aber anderen Ort nutzten, den man von diesem Platz aus, am Fuß des anderen Hügels sehen konnte.

III.2.2.3.3 Inhaltsanalyse der Aufführung mit Fokus auf die Inter ventionen und Publikumsreaktionen Einleitungen, Publikum und Stück Der Auftritt in .ID\U hatte von allen drei Aufführungen den offiziellsten und formalsten Charakter. Dies zeigte sich zum einen am gut vorbereiteten Aufführungsort. Die Bühne war besonders aufgebaut und ausgestattet, die Tontechnik bereits installiert und die Stühle waren alle aufgereiht worden. Dies geschah unter Mithilfe vieler Beteiligter, was sich vor und während der Aufführung zeigte und sich im Dank des Leiters der durchführenden Partnerorganisation »Verein der freien Jugendlichen« (»alnadi al shabab al7urr«) in seinen Gruß- und Schlussworten niederschlug. Zum anderen offenbarte sich der formale Charakter in der wohlüberlegten und organisierten Reihenfolge der Festansprachen sowie in der Art und Weise dieser Ansprachen und Vorführungseinheiten selbst. Es

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gab eine Moderatorin, was es sonst bei keiner der Aufführungen gegeben hatte. Sie begrüßte die Anwesenden und rief einleitend zum Singen der libanesischen Nationalhymne auf. Die Hymne, zu der alle aufstanden, verstärkte den formalen Charakter des Ereignisses. Die folgende, von der Moderatorin angekündigte Ansprache des Leiters der Partnerorganisation wurde allen Regeln einer formalen Rede gerecht. Der Redner begrüßte, seinen Vortrag ablesend, im formalen Hocharabisch alle hochrangigen Anwesenden einzeln, sprach dann in abstrakter Forum über die Liebe der Menschen zueinander und über die Bedeutung des Theaters, und beendete dann seine Rede mit einer langen Danksagung. Die sich daran anschließende kolloquiale Begrüßung des Jokers mit »Hallo« (»mar7aba!«) wirkte nach den Vorreden und der Hymne geradezu wie ein abrupter Stilbruch, was aber dadurch ausgeglichen wurde, dass der Joker diesmal mehr Worte als bei den anderen Aufführungen verlor. Er sprach frei, benutzte das gesprochene Arabisch einer gebildeten Schicht und nannte es eine Besonderheit, an diesem Ort in .ID\U ein Theaterstück aufzuführen. Und in der Tat hatte die Vorstellung unter freiem Himmel, mit den emporragenden Bergen zur rechten und zur linken Seite, dem Vogelgezwitscher und dem vielzähligen Publikum etwas Aufregendes, Begeisterndes. Der Joker sprach auch von der Ausstrahlung dieses Ortes, durch die sich das »Herz vergrößere«. Zwar ging er auf die spezielle Art des folgenden Theaters ein, erklärte aber nicht, dass die Zuschauer im Anschluss an das Stück auf die Bühne kommen sollten, um selbst schauzuspielern. Vielmehr erwähnte er einen anschließenden »Dialog« (»7iwwar«) oder eine »Diskussion« (»niqash«). Allerdings betonte er, dass dabei von den Zuschauern Aktivität gefordert sei37, um das Stück erfolgreich zu machen (.ID\U 8:12). Damit forderte der Joker einen »empathischen« Blick, was dadurch noch verstärkt wurde, dass er um die Meinung der Zuschauer und um »Erfahrungen der Einwohner dieses Dorfes« bat. Inhaltlich ging er nur indirekt auf das Stück ein. Er erklärte, dass es sich bei den dargestellten Geschichten um Geschehnisse handele, die sich leider (»alasif«) im Libanon tatsächlich ereigneten. Er stellte klar, dass es sich bei diesen Ereignissen nicht um erfundene Begebenheiten handele oder um welche, die nur an speziellen Orten passieren würden, sondern dass es Geschichten seien, die aus dem alltäglichen »Leben im Libanon« stammten. Er erklärte, dass diese realen Geschichten von den Jugendlichen in »der Familie, den öffentlichen Verkehrsmitteln und der Universität« erlebt worden waren und werden. Der Joker zeigte durch die Herausstellung .ID\Us seinen Respekt gegenüber den Veranstaltern vor Ort sowie den Zuschauern gegenüber und definierte deren Mitwirken nicht als schulisches Abfragen von Wahrheiten, die von Städtern definiert worden waren, sondern als eine Meinungsumfrage, die von der Gruppe überall im Libanon durchgeführt werde (Anhang 2c, Z. 6-36, .ID\U 8:12-8:13).

37 | »[Dieses Theater] verlässt sich auf die Zuschauer, wie es sich auch auf die Schauspieler verlässt.« (Kfayr 7:08)

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Das Publikum beteiligte sich im Folgenden, obgleich es vielzählig war und die Situation formaler als sonst, aktiv an der Aufführung. Es reagierte sofort auf die Fragen des Jokers und machte sich durch häufiges Klatschen bemerkbar. Schon zu Beginn des Stückes, als die Schauspieler die Bühne betraten, fing es an, den Rhythmus der Perkussionisten mitzuklatschen. Auf die erste, das Podium eröffnende Frage des Jokers, an welcher Stelle es sich am stärksten belästigt (»muz3ij«) gefühlt habe, reagierte das Publikum sogleich mit zahlreichen Antworten, die durch weitere Zurufe bestätigt wurden. Diese rasche und breite Reaktion der Zuschauer blieb bis zum Ende der Performance erhalten. Auffallend war sie besonders zu Anfang, denn da verhält sich das Publikum im Forumtheater erfahrungsgemäß häufig schweigend, etwas betreten und es braucht seine Zeit, um vom reinen Zuschauer zu einem Zu-Schauspieler zu wechseln. Dass dieses Publikum bereits zu Anfang so aktiv dabei war, ist somit bemerkenswert. Erste Intervention − Hussain: »Warum sagst du nicht die Wahrheit?« (»lesh mish al-7aqiqa?«) Die erste Frau aus dem Publikum, die das Mikrophon in die Hand bekam, reagierte auf die Geschichte mit Hussain und Natasha (Anhang 2c, Z. 80-118, .ID\U 29:35-29:36). Der Joker fragte sie, ob das Dargestellte eine »falsche Lösung« sei, worauf sie mit klarer und deutlicher Stimme sagte: »Natürlich ist die Lösung falsch«, »Natürlich hätte das nicht passieren dürfen!« Auf die Frage, wie sie sich verhalten würde, sagte sie, dass sie »die Wahrheit sagen« würde. Mit dieser Idee wurde die Frau auf die Bühne geholt. Das Lachen des Publikums und der einsetzende Rhythmus erzeugten Spannung. Die Frau betrat in ihrer hergerichteten Erscheinung, selbstbewusst lachend die Bühne. Natasha und sie lachten sich an und auch im Publikum war Gelächter zu hören, besonders als Natasha die ZuSchauspielerin dazu brachte, richtig in die Rolle Hussains zu rutschen und ihren Arm um sie zu legen. Dann wurden die beiden Darstellerinnen ernst.38 Hussain behielt in der ganzen Intervention eine aufrechte, selbstbewusste Haltung. Auch wenn in dieser Intervention der Zu-Schauspielerin und dem Publikum die Tatsache, dass jemand aus dem Dorf hier auf der Bühne stand, ständig bewusst zu sein schien und dies Gelächter erzeugte, war die Spielerin in ihrer Intension als Hussain klar, bestimmt und in intensivem Kontakt mit Natasha. Sobald es weiterging und Natasha direkt mit ihrem Vorschlag begann, blickte die Zu-Schauspielerin bzw. Hussain Natasha in die Augen und äußerte ein »Nein«

38 | In einer kurzen Pause am Anfang, in der das Mikrophon richtig hingestellt wurde, stand die Zu-Schauspielerin lächelnd, freudig gespannt ins Publikum blickend auf der Bühne. Man hörte herzliches Lachen im Publikum. Jemand rief ihr etwas zu und sie antwortete lachend, überzeugt nickend mit einer Kopfbewegung (Kfayr 31:12). Ich konnte verstehen, wie eine Frauenstimme sagte: »k7alli Hussain!«, also in etwa: »Bleibe Hussain!“

III.2 Exkurs: Aufführungsanalyse − Beschreibung der Aufführungsdynamik

zu ihrem Vorschlag.39 Ihre bzw. seine Antwort erzeugte im Publikum Gelächter sowie Klatschen, woraufhin die Zu-Schauspielerin ebenfalls lächelte, mit ihrer Konzentration aber bei Natasha blieb und sie anblickte. Hussain fragte Natasha mit Entschiedenheit, warum sie nicht die Wahrheit sagen könne, hielt dabei aber Natasha umarmt. Seine Bestimmtheit zeigte sich nicht nur im Tonfall und im Blick, sondern auch in seiner Körperhaltung, denn er ballte die rechte Hand zur Faust, hielt Natasha aber weiterhin mit links umarmt. Natasha nahm diesen Arm, während sie Hussain davon zu überzeugen versuchte, sich nur für die erste Zeit George nennen zu lassen. Die Frage, wie sie es ihren Freunden sagen solle, dass sie mit einem Hussain zusammen war, ging für sie sehr tief und berührte sie besonders (»bitmissni«). Auf Hussains Frage, warum sie nicht die Wahrheit sagen würde, verwies sie auf das Denken der anderen und auf deren Einfluss (»Wenn du wüsstest wie sie denken«; »Ich akzeptiere dich, aber die Freunde beeinflussen mich negativ.«) Hussains rechte Hand blieb bis zum Schluss zu einer Faust geballt. Er löste sie erst dann, als er nachgab und sich bereiterklärte, zumindest für die erste Zeit George genannt zu werden, zuvor hatte Natasha gesagt, dass sie ihn liebe. Obwohl Hussain am Anfang seine Ablehnung gegenüber der Idee, seinen Namen zu wechseln, deutlich gemacht hatte, ging er zum Schluss auf Natashas Vorschlag ein. Sie hatte ihre Nähe zu ihm deutlich gemacht, während sie gleichzeitig auf die Schwierigkeiten verwies, die die Leute ihr machen würden, wenn sie mit einem Hussain zusammen sei. Sie lehnte Hussains Forderung, die Wahrheit zu sagen, nicht ab, sondern verschob sie nur auf »später«. Es war, als verlange sie von ihm nicht, sich selbst als jemand anderen darzustellen, sondern als wolle sie von ihm nur, dass er ihr half, den Einfluss der Leute nicht zuzulassen. Diese Intervention wurde nicht weiter diskutiert. Zweite Intervention − Roni: »Stört dich diese Angelegenheit nicht?« (»hazihil masaleh ma iz3ajik?«) Der Joker leitete von der Diskussion, einer abstrakten Ablehnung des Konfessionalismus bei der Vermietung von Wohnungen in den Medien und »in den Gewohnheiten und Traditionen«, über die Ablehnung der konfessionellen Orientierung als Entscheidungsmerkmal für Beziehungen zu einer praktischen Umsetzung in einer Intervention über (Anhang 2c, Z. 120-193, .ID\U 34:23-34:24). Eine Frau, die vorher auf die Schwierigkeiten der Praxis verwiesen hatte, begab sich auf die Bühne und begann ihre Intervention an der Stelle, an der Roni Maya in der Universitätscafeteria anspricht. Als sich dann herausstellte, dass Roni ein Christ ist, und Mayas Stimmung sich abrupt abkühlte, fragte Roni, ob es sie nicht störe, dass in jedem Ort in Beirut bestimmte Leute wohnen. Ihn störe es, dass 39 | Bereits im kaum zu vernehmenden Dialog war es – mit einem strahlenden Lachen auf dem Gesicht der Zu-Schauspielerin – zu einem »Nein« gekommen, als Natasha Hussain nach der Änderung des Namens fragte (Kfayr 31:05).

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auch »das Wohnen im Libanon konfessionell sei«. Maya bestätigte, dass es sie störe, allerdings nicht so stark (»mish lil hazihil darageh«), und dass sie sich damit abgefunden habe (»So ist die Wirklichkeit!« − »hek al7aqiqa«). Roni spezifizierte daraufhin seine Aussage (er fand es nicht richtig, dass die Frage, ob man einem fremden Menschen näherkommt und man sich die Mühe macht, ihn kennen zu lernen oder nicht, davon abhänge, ob dieser derselben Konfession angehöre wie man selbst). Dann wurde Roni allerdings von seinem Bruder Toni unterbrochen, der nicht akzeptieren wollte, dass er mit einem muslimischen Mädchen sprach (»Weißt du nicht, mit wem der da gerade sitzt?«; »Komm mit mir!«). Roni gelang es, seinen Bruder abzuwehren und sich wieder auf Maya zu konzentrieren. Er erklärte ihr eindringlich, es sei schlecht, wenn die Frage, ob man sich für jemanden interessiere, von der Konfession abhinge. Daraufhin wusste Maya nicht mehr, was sie sagen sollte. Hier brach der Joker die Intervention ab. Roni hatte seinem autoritären Bruder gegenüber eine ablehnende Haltung eingenommen (»Nein, das geht so nicht« − »ma basir hek«, »Nein ich rede nicht nur mit den Leuten, die du vorschlägst«; siehe auch sein Losreißen aus des Bruders Armen sowie seinen Blick und die Haltung seiner Hände). Auch in der rhetorischen Frage »Welche Gruppe?« war Ronis Ablehnung deutlich geworden, da im Grunde klar war, auf wen sich sein Bruder bezogen hatte. Damit hatte Roni ihn dazu gedrängt, seine Vorurteile zu formulieren. Toni vermied dies aber weiterhin (er sagte nur: »die Gruppe, die nicht von uns ist« und nicht etwa: »die Muslime« oder »die von einer anderen Konfession«). Roni hatte im Gespräch seine eigene Entscheidungskraft betont, die sich auch in seiner Zuneigung zu Maya zeigte (er nahm sie in die Arme, führte sie, um sie hinzusetzen, sorgte dafür, dass sie nicht fortging, und blickte ihr viel in die Augen). Diese Intervention wurde von einer Zuschauerin so kommentiert, dass dies die Intervention eines »Gebildeten« (»muthaqaf«) sei. Die Dame betonte, dass der Konfessionalismus allgemein abgelehnt werde, »wir [aber] auf der praktischen Ebene auf das Gegenteil zurückkommen«. Dieser Roni allerdings hätte versucht, beide Seiten zusammenzubringen und zu vereinen. Aus ihrer Sicht hatte Roni das Abstrakte mit dem praktischen Verhalten vereint. Irgendwie kam es ihr aber unrealistisch vor. Sie betonte, dass Roni die Rolle des »Gebildeten im Libanon« übernehme, der sich nicht so verhalte, wie er aufgewachsen sei, sondern sich davon trenne. Weiter wurde kommentiert: »Es könnte sein, dass die Umgebung, die Gesellschaft uns [die modernen Jugendlichen] dahingehend beeinflusst, nicht mit der anderen Konfession zu sympathisieren.« Diese Zuschauerin merkte an, dass, wenn sie selbst als Drusin mit einem Christen zusammen wäre, die Leute über sie reden würden. Ein anderer Kommentator meinte, dass »Professor Roni versucht hat, aus der Realität herauszusteigen […] [und] die gesellschaftlichen und konfessionellen Wände zu zerbrechen und zu der Person und seiner Liebe zu stehen«. Auch er lobte damit das vorgeführte Verhalten, sagte aber, dass Roni damit aus der Realität herausgetreten sei. Alle drei Kommentare beinhalteten eine Zweiteilung: einmal die Unterscheidung zwischen der abstrakten Idee und ihrer

III.2 Exkurs: Aufführungsanalyse − Beschreibung der Aufführungsdynamik

praktischen Umsetzung und zum anderen die Unterscheidung zwischen den Normvorstellungen des Ichs und jenen der antizipierten Gesellschaft (Anhang 2c, Z. 121-123, .ID\U 45:03-45:04). Mit der Frage, ob es in der momentanen Gesellschaft möglich sei, dass zwei Personen verschiedener Konfessionalität eine Beziehung eingehen könnten, kam der Joker genau auf den Punkt der Realisierbarkeit zurück. Er fragte nicht, ob das Verhalten von Roni realistisch sei, sondern er fragte zunächst einmal, ob es grundsätzlich möglich wäre, mit einer Person einer anderen Konfession zusammen zu sein. Hier antwortete das Publikum mit »schwerlich«. Ein Zuschauer sagte, dass es in der Stadt schwierig, aber möglich sei, am Dorf aber unmöglich, weil hier dies grundsätzlich abgelehnt würde. Die Vorstellung erreichte dann ihren dramatischen Höhepunkt mit der sich direkt anschließenden Frage des Jokers: »Ich frage die Angehörigen des Dorfes, ist es unmöglich für euch und eure Kinder?« Eine Frau betonte die Gültigkeit der Norm des nichtkonfessionellen Verhaltens (»Es ist unmöglich, wenn wir so, wie wir sind, bleiben.«) Eine andere Zuschauerin sagte, dass es möglich sei, befreundet zu sein, nicht aber zu heiraten. Sie meinte aber, dass sie ihren Kindern trotz der Gewohnheiten und der Traditionen vielleicht diese Freiheit geben würde. Daraufhin gab es Beifall des Publikums. Der Joker kommentierte diese sowie noch weitere Wortmeldungen nicht. Er ließ sie so im Raum stehen.

Schluss und Zusammenfassung Nach dieser Diskussion bedankte sich der Joker beim Publikum und bat darum, die kurzen Fragebogen auszufüllen, die ausgeteilt worden waren. Er forderte außerdem die Mitwirkenden auf, sich vorzustellen. Ein Schauspieler nach dem anderen trat nun auf die Bühne, sagte seinen Namen sowie den Ort, aus dem er stammte. Jeder erhielt seinen Applaus, natürlich besonders die Jungen aus der Gegend. Musik aus der Anlage setzte ein und der Leiter des Partnervereines beendete die Veranstaltung, wie oben bereits berichtet, mit einer langen Reihe von Danksagungen. Nach der Aufführung führte der Filmer einige spontane Interviews mit den Zuschauern. Anschließend waren wir beim Leiter der Partnerorganisation zu sich nach Hause eingeladen, wo uns seine Familie und Angehörigen empfingen. Die Veranstaltung, die durch die Live-Übertragung des lokalen Fernsehsenders auch noch von weiteren Personen gesehen worden war, wurde sehr gelobt. »Und jetzt findet in den Familien die eigentliche Diskussion statt!«, meinte Rami, der Leiter des »Vereines der freien Jugendlichen«. Diese Aufführung in .ID\U hatte den Charakter einer offiziellen, größeren Veranstaltung: der Aufführungsort, die Reden, die Zuschauer und ihre Garderobe sprachen dafür. Diese Bedeutung kam deshalb zustande, weil diese Veranstaltung die Antrittsveranstaltung des Leiters des Vereines war. Er war vorher nach Beirut gekommen, zur Generalprobe, um sich das Stück anzusehen. Mit der Wahl dieses Stückes positionierte er sich in der politischen Landschaft und konnte damit gleichsam seine Agenda auf den Tisch legen. Es passte in die Rhe-

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torik eines »Jumblats«, der die drusische Gemeinde anführt. Gleichsam aber subvertierte es sie durch die Art und Weise wie das Thema des Konfessionalismus angesprochen wurde. In der Rede des Jokers waren gleich zu Anfang die Ereignisse als nicht allein in der Stadt (Beirut) oder in bestimmten Dörfern vorkommend ausgewiesen worden. Vielmehr erhielten sie durch den Bezug auf viele öffentliche und im Land verteilte Orte einen allgemeinen Charakter. Das wurde durch Spezifizierung kontrastiert und verstärkt: Der Joker wollte die speziellen Erfahrungen der Einwohner »dieses Dorfes« zu diesen Ereignissen von allgemeinem Belang wissen. Das Besondere, das Spezielle war dieses Dorf und waren diese Einwohner, und nicht die aufgeführten Geschichten. Dieser Kontrast wurde dadurch betont und verstärkt, dass die Darsteller aus einer Vielzahl von Orten kamen und dass das Stück an mehreren Orten des Libanons aufgeführt worden war. Dieses Dorf bekannte sich nun zunächst dazu, sich die Möglichkeit offener, konfessionsübergreifender Beziehungen zu wünschen, was gleich durch die erste Intervention als Hussain verdeutlicht worden war. Gleichzeitig waren die Schwierigkeiten spürbar geworden, die es bereitete, Hussain offen, also unter seinem Namen vorzustellen. In der zweiten Intervention war Roni im Mittelpunkt gestanden. Er hatte ein Verhalten vorgeführt, das anschließend als vernünftig und gebildet beschrieben wurde, denn er hatte sich nicht von konfessionellen Bedenken irritieren lassen, hatte diese in Frage gestellt. Die Diskussion dazu war offen und ehrlich und zeigte die Diskrepanz des Wunsches nach einer eigenen gelebten Realität gegenüber der Dominanz der praktischen Verhaltensnormen. Im Versuch, die Situation zu verändern, wurde hier der Weg gewählt, das Phänomen ®›¸LIL\DK direkt anzusprechen und auf einer abstrakten Ebene zu diskutieren. Dies war in der ersten Intervention geschehen, als Wunsch, die Wahrheit zu sagen, in der zweiten Intervention auf der Bühne und drittens in der Diskussion mit dem Publikum, welches direkt über ®›¸LIL\DK sprach.

III.3 Aussagekraft der Darstellungen zum Phänomen ®›¸LIL\DK − Induktive qualitative Inhaltsanalyse der Aufführungstexte

In der Aufführungsanalyse wurden die Darstellung des Stückes, die Inszenierung sowie die Publikumsreaktionen an den drei Aufführungsorten (dem Festsaal einer multikonfessionellen Schule in dem kleinen Dorf Ain im Norden des Landes; dem Versammlungssaal der libanesischen Nichtregierungsorganisation »Mouvement Social« in Badaro, einem Stadtteil Beiruts; sowie zum dritten im Festgebäude des multikonfessionellen Dorfes .ID\U im Süden des Landes) untersucht. Das dabei gezeigte Stück setzt sich aus vier Szenen zusammen. Es beginnt mit einer Geburtsszene, die pantomimisch dargestellt wird und in der die konfessionelle Zuordnung der Menschen direkt nach der »Geburt« verdeutlicht wird. Die zweite Szene spielt in einem Bus. In ihr werden folgende Personen vorgestellt: Im Sherbel und ihre Nachbarin, die beiden christlichen Brüder (Toni und Roni), Mahmud, der auf Zimmersuche ist, sowie das Liebespaar Natasha und Hussain. Die Szene endet mit einem Streit über einen Radiosender. Die dritte Szene stellt eine Vermietungsszene dar, in der zwei Freunde, Roni und Mahmud, bei Im Sherbel ein Zimmer mieten möchten, dieses aber nach der Nennung von Mahmuds Namen nicht mehr bekommen. Die vierte Szene spielt in der Universitätscafeteria. Hier findet ein Eklat statt, als Natasha ihren Freunden Hussain unter dem falschen Namen George vorstellt und dies schließlich herauskommt. Zwischen den Szenen gibt es pantomimische Darstellungen von Medienvertretern, die über die verschiedenen Konflikte berichten. Der Joker betritt anschließend die Bühne und fragt das Publikum nach Eingreif- und Veränderungsvorschlägen, woraufhin das Publikum interveniert (siehe Exkurs). Im Folgenden möchte ich nun die Ergebnisse einer qualitativen Inhaltsanalyse der Aufführungstexte darstellen, bei der ich induktiv vorgegangen bin, um das Phänomen ®›¸LIL\DK herauszuarbeiten. Ich unterschied hier die Analyse jenes Aufführungsteils, in dem die Darsteller das Stück präsentierten, von derjenigen

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der darauf folgenden Interventionen. Den ersten Teil nenne ich das »Skript des Stückes« (Anhang 1b). Im zweiten Teil steht die Interaktion mit dem Publikum im Vordergrund, was ich als »Aufführungstext Ain«, »Aufführungstext Beirut« und »Aufführungstext .ID\U« bezeichne und für alle drei Aufführungen transkribiert und übersetzt wiedergebe (siehe Anhang 2a-2c). Beziehe ich mich in der Untersuchung auf die Ergebnisse der zusammenfassenden Inhaltsanalyse der Aufführungen in Ain, Beirut und .ID\U, so kürze ich den Verweis mit »siehe Ain«, »siehe Beirut« und »siehe .ID\U« ab. Das Skript des Stückes erstellte ich aus den drei nichtmimischen Szenen, indem ich es aus den Filmaufnahmen der Aufführungen herausarbeitete. Dort, wo Unterschiede in den Aufführungen aufgetreten waren, nahm ich entweder die Version, die am öftesten vorgekommen war und die mir am schlüssigsten erschien, oder ich gab die verschiedenen Versionen an. Fehler und Versprecher wurden weggelassen. Inhaltliche Unterschiede markierte ich. Das Skript diente dann als Grundlage für ein induktives Vorgehen einer Kategorienbildung. Die Aufführungstexte stellen die übersetzten Transkriptionen der Filmmaterialien dar, wobei ich mich auf den Teil mit Publikumsinteraktion beschränkte. In der Transkription orientierte ich mich an Kallmeyer und Schütze (Mayring 1999: 71). Nach der Herstellung dieser Materialien arbeitete ich zuerst das Skript durch und dann die Aufführungstexte, ich bildete Kategorien und glich diese mit den Kategorien aus dem Skript ab. Anschließend systematisierte ich das gesamte Material bezüglich der erarbeiteten Kategorien.

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