Text und Mystik: Zum Verhältnis von Schriftauslegung und kontemplativer Praxis 9783737001168, 9783847101161, 9783847001164

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Text und Mystik: Zum Verhältnis von Schriftauslegung und kontemplativer Praxis
 9783737001168, 9783847101161, 9783847001164

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Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft

Band 6

Herausgegeben im Auftrag der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien von Karl Baier und Christian Danz

Die Bände des Wiener Forums für Theologie und Religionswissenschaft sind peer-reviewed.

Karl Baier / Regina Polak / Ludger Schwienhorst-Schönberger (Hg.)

Text und Mystik Zum Verhältnis von Schriftauslegung und kontemplativer Praxis

V& R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0116-1 ISBN 978-3-8470-0116-4 (E-Book) Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Rektorats der Universität Wien. Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bettina Bäumer Mantra und die Energie des Wortes bei Abhinavagupta. Die Ebenen der Sprache und ihre Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Karl Baier Lesen als spirituelle Praxis in christlicher und buddhistischer Tradition .

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Reiner Manstetten Negative Theologie, reine Bejahung und lediges Bewusstsein. Meister Eckharts Bibellektüre am Beispiel von Exodus 3 . . . . . . . . . . . . . .

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Ludger Schwienhorst-Schönberger Johannes Tauler (1300 – 1361): Mystik und Schriftauslegung

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. . . . . . .

Dieter Böhler SJ Die Bibel in den Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola und in der spirituellen Praxis des frühen Jesuitenordens . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Regina Polak Lebendige Spiritualität durch kontemplative Schriftauslegung? Eine praktisch-theologische Kriteriologie zum Exegese-Modell Ludger Schwienhorst-Schönbergers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Ludger Schwienhorst-Schönberger Kontemplation und Schriftauslegung. Zu einigen Anfragen von Regina Polak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Vorwort

Der vorliegende Band untersucht das Verhältnis von Schriftauslegung und spiritueller Praxis anhand ausgewählter Fallbeispiele in Hinduismus, Buddhismus und Christentum. In diesen wie auch in anderen Religionen existiert das Wissen, dass ein rein kognitiver Zugang zu den Heiligen Texten der jeweiligen Tradition unzureichend bleibt. Die Rezipienten werden durch verschiedene spirituelle Übungen auf das Erfassen der tieferen Bedeutung Heiliger Texte vorbereitet. Einerseits sind die ältesten Formen der Schriftauslegung eingebunden in Liturgie, Ritus, Meditation und Gebet. Andererseits vollzog sich in der Geschichte der Religionen schon relativ früh ein Prozess der Ausdifferenzierung. Ein gewichtiger Teil der Schriftauslegung verlagerte sich in Institutionen höherer Bildung für religiöse Spezialisten, etwa die buddhistischen Hochschulen im alten Indien oder die theologischen Fakultäten der mittelalterlichen Universität in Europa. Dort entstanden Formen des Umgangs mit den Texten, die als wissenschaftlicher Diskurs organisiert und praktiziert wurden. Parallel dazu existierten und existieren bis heute die traditionell »religiösen« Orte der Schriftauslegung weiter. Nicht selten standen und stehen »religiöse« und »wissenschaftliche« Auslegungen Heiliger Texte in Spannung zueinander. An verschiedenen Orten der Textwahrnehmung scheinen unterschiedliche Texterkenntnisse zu entstehen. Setzt ein und derselbe Text entsprechend der Disposition seiner Rezipienten unterschiedliche Bedeutungen frei? Was folgt daraus für die Verhältnisbestimmung von »religiösem« und »wissenschaftlichem« Lesen und Auslegen Heiliger Texte? Die Mitglieder des Forschungsschwerpunkts »Text und Mystik« an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien widmen sich der Untersuchung dieser und ähnlicher Fragen. Die im Rahmen des Forschungsschwerpunkts organisierte Tagung, auf die die meisten Beiträge des vorliegenden Bandes zurückgehen, widmete sich besonders den Traditionen des kontemplativen Umgangs mit Heiligen Texten. Die Mehrzahl der Beiträge behandelt das Problem der spirituellen Schriftauslegung in der christlichen Spiritualitätsgeschichte und in der gegenwärtigen

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Vorwort

theologischen Diskussion. Es schien uns aber wichtig zu zeigen, dass die christliche Reflexion über das Verhältnis von Heiliger Schrift, Exegese und religiöser Erfahrung bedeutsame Entsprechungen in anderen Religionen hat. Das Thema »Text und Mystik« besitzt eine interreligiöse Dimension, die es verdient, in Zukunft noch gründlicher erforscht und in die theologischen Debatten einbezogen zu werden. Zu diesem Zweck wurden religionswissenschaftlich ausgerichtete Beiträge in den vorliegenden Band einbezogen. Der Beitrag von Bettina Bäumer behandelt die verschiedenen Ebenen der Sprache und ihre Bedeutung für die mystische Erfahrung im kashmirischen S´ivaismus, einer der großen mystischen und theologischen Richtungen des Hinduismus. Sie zeigt, dass der Gebrauch von Mantras u. a. in Initiationen und zur individuellen Meditation auf einer komplexen Theologie des Wortes beruht, von der auch die Exegese der Tantras genannten, autoritativen Schriften des Tantrismus durchdrungen ist. Diese Theologie stützt sich einerseits auf die Tantras selbst, die sich mit der Bedeutung des Wortes im Kontext der Offenbarung auseinandersetzen und andererseits auf die Überlegungen des Sprachphilosophen und Grammatiker Bhartr. hari (5. Jahrhundert). Das Durchschreiten der verschiedenen Bedeutungsstufen des Wortes entspricht dem mystischen Aufstieg zur durch Gnade gewirkten Erfahrung der schweigenden Vereinigung mit S´iva. Karl Baier geht in seinem Beitrag davon aus, dass die Praxis des Lesens eine mögliche Schnittfläche zwischen Text und Mystik darstellt. Er zeigt dies anhand einer ausführlichen Analyse des Scala Claustralium genannten Textes aus dem 12. Jahrhundert, der die Lektüre der Bibel als spirituellen Übungsweg darlegt. Die verschiedenen Bedeutungsebenen der Schrift entsprechen den Stufen der Lesepraxis, die – vergleichbar dem Durchlaufen der Stufen des Wortes im S´ivaismus – in der kontemplativen Vereinigung des Seelengrundes mit dem göttlichen Bräutigam münden. Der zweite Teil von Baiers Beitrag widmet sich der wenig bekannten Lesekultur des Chan bzw. Zen. Die von diesen Richtungen des Buddhismus geäußerte Kritik am Lesen der Schriften wird als kritische Reaktion auf einen intellektualisierten Umgang mit den Texten verständlich gemacht. Im Gegenzug dazu betont der Chan-Buddhismus nicht nur die Meditationspraxis des stillen Sitzens und den direkten Kontakt mit dem Meister als Quellen der Erleuchtung, sondern auch die spirituelle Lektüre der Su¯tren. Ein Vergleich beider monastischer Traditionen des kontemplativen Lesens rundet den Beitrag ab. Reiner Manstetten widmet sich Meister Eckhart als Leser und Interpret biblischer Texte, wobei er in Erinnerung ruft, dass der spätmittelalterliche Theologe und Mystiker wohl in der Exegese die Mitte seiner theologischen Arbeit gesehen hat und seine Überlegungen durchwegs von einem Bibelwort ausgehen lässt. Manstetten entwickelt zunächst die Intention und Vorgangsweise

Vorwort

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von Eckharts zirkulär vorgehender Exegese anhand von dessen Einleitung zum Genesiskommentar : Die Schrift wird im Durchgang durch Formen weltlichen Wissens ausgelegt, wobei letztere zugleich durch das Verständnis der Schrift vertieft und in Richtung auf den göttlichen Ursprung geöffnet werden. Der Wahrheitskern der Schrift ist für Eckhart Christus. Ihn durch die Auslegung der Schrift zu finden, bedeutet zugleich die Gegenwart des Wortes Gottes im eigenen Inneren zu erfahren. Als Beispiele Eckhartscher Interpretationen werden sodann die beiden Verse Ex 3,6 und Ex 3,14 dargestellt. Das Verhalten des Mose angesichts der Epiphanie Gottes sein Gesicht zu verhüllen, wird von Eckhart als exemplarisches Verhalten des Menschen Gott gegenüber gedeutet. Es deutet für Eckhart auf das Zurücknehmen aller Erkenntniskräfte und inneren Regungen. Das berühmte Wort »Ich bin der ich bin.« (Ex 3,14) wird in Eckharts Exoduskommentar Wort für Wort unter Heranziehung der Grammatik erläutert und als Hinweis auf die Selbstbejahung der überfließenden und in sich zurückkehrenden Seinsfülle Gottes philosophisch und theologisch ausgelegt. Eckharts Bibellektüren vermögen auch heute noch, so Manstettens Resümee, dabei helfen, die vom diskursiven Verstand errichteten Barrieren zu durchbrechen und die Gegenwart Gottes zu finden. Ludger Schwienhorst-Schönberger liest die mystische Lehre Johannes Taulers als existenzielle Aneignung und Auslegung des alttestamentlichen Fremdgötterund Bilderverbotes. Er zeigt, dass das in der Mystik wurzelnde geistige Verständnis des Alten Testaments in diesem selbst angelegt ist. Tauler vertritt die in jüngster Zeit innerhalb der Exegese wieder neu entdeckte Theorie der Sinnoffenheit biblischer Texte. Er unterscheidet zwischen dem Lesemeister und dem Lebemeister und bindet das »wahre« Verständnis der Heiligen Schrift an eine Lebensform, die das, was in ihr geschrieben steht, im Leben selbst vollzieht. Dieter Böhler geht der Rolle der Bibel in den Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola auf den Grund und diskutiert die mystische Dimension der Exerzitien. Ausgangspunkt ist die Affäre um das von Balthasar Ýlvarez, dem Beichtvater der Teresa von Avila, im Jesuitenorden propagierte »Gebet der Ruhe«, eine Debatte, die zunächst mit einem Verbot dieser Praxis endete. Der zweite Abschnitt geht auf die Rolle von Bibeltexten im Exerzitienbuch näher ein. Es entsteht als »meditativer Textgebrauch zweiter Ordnung« aus Vorgängerwerken, die ihrerseits auf der monastischen Psalmenrezitation und dem Stundengebet aufbauen. Besonders Betrachtungsanleitungen übernimmt Ignatius von dort, setzt aber auch eigene Akzente. Die biblischen Stoffe, die er anführt, betreffen vor allem das Leben Christi, das als Gegenstück zu den Sündenbetrachtungen fungiert. Der Gehorsam Christi gegenüber Gottes Willen und die Teilnahme an seiner Sendung stehen im Vordergrund. Ignatius gibt dem Bibeltext mehr Gewicht als etwa die ihm als Vorbild dienenden Übungsanleitun-

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Vorwort

gen des Abtes Garc†a de Cisneros. Er legt Wert darauf, die Bibeltexte auch denen zugänglich zu machen, die nicht Latein können. Besonders die Bibelzitate in den Punkten zu den Mysterien Christi erlauben es, mit ihnen zu einer kontemplativ werdenden Betrachtungsweise überzugehen. Böhler diskutiert weiters die verschiedenen Auffassungen zur Frage der Mystik in den Exerzitien. Er tritt dafür ein, dass die Exerzitien zu einer mystischen Gottunmittelbarkeit führen, die aber an die praktische Verwirklichung des Willens Gottes, Bibel und Kirche zurückgebunden bleibt. Ziel der Exerzitien sei die Unterweisung von Anfängern und nicht die Hinführung zum kontemplativen Gebet, das aber durchaus auf der Linie der Exerzitien liegt. Die Rehabilitierung des Balthasar Ýlvarez, die nach dessen Tod erfolgte, sei deshalb sachlich gerechtfertigt gewesen und auch das zeitgenössische Anliegen kontemplativer Exerzitien (Jalics) ist mit der Intention der ignatianischen Exerzitien vereinbar, sofern nicht völlig auf diskursive Formen der Meditation verzichtet wird und der Bezug zu Bibel und Kirche bewahrt bleibt. Aus der Perspektive Praktischer Theologie befasst sich Regina Polak mit dem von Ludger Schwienhorst-Schönberger entworfenen Modell eines kontemplativen Schriftverständnisses. Sie hebt die praktisch-theologische Relevanz dieses Modells ebenso hervor wie dessen Einbindung in die theologische und kirchliche Tradition. Sie stellt aber auch einige kritische Anfragen und entwirft und begründet eine Kriteriologie, an der sich das Modell wird messen lassen müssen. Die kritischen Anfragen betreffen vor allem eine mögliche Engführung spiritueller Erfahrungen auf »außergewöhnliche Erfahrungen« im Sinne von »Gipfelerfahrungen« (peak experiences) und einer damit einhergehende Unterbewertung des Glaubens, ferner die Frage, ob »Welt« und »Geschichte« als zentrale Kategorien der biblischen Offenbarung nicht einem zeit- und weltlosen Wahrheitsverständnis zum Opfer fallen. Ein Schlüsselkriterium für die Bewertung des Modells ist für Regina Polak die Kategorie der Beziehung, die sowohl in ihrer vertikalen (Gott – Mensch) als auch in ihrer horizontalen Ausrichtung nicht einer Exegese geopfert werden darf, die den Menschen in eine welt- und beziehungslose Innerlichkeit verweist. Ludger Schwienhorst-Schönberger greift die kritischen Anfragen von Regina Polak auf und erläutert anhand der Begriffe »Erfahrung«, »Glaube«, »Welt(flucht)«, »Beziehung« und »Exegese« zentrale Elemente des kontemplativen Schriftverständnisses. Der Grundgedanke des Modells besteht in der Einsicht, dass biblische Texte ihre volle Bedeutung erst entfalten können, wenn sie von Menschen rezipiert werden, die bereit sind, sich im Rahmen einer spirituellen Übung für den geistigen Sinn der Schrift zu öffnen. In der christlichen Tradition war und ist die Lektüre der Heiligen Schrift (lectio) eingebunden in eine geistige Übung, deren einzelne Stufen gewöhnlich als meditatio, oratio und contemplatio näher bestimmt werden. Im Gespräch mit Theologen und Lehre-

Vorwort

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rinnen und Lehrern des spirituellen Weges wie Origenes, Gregor der Große, Johannes Tauler, Johannes vom Kreuz, Teresa von Avila, Thomas Merton, Hugo M. Enomiya-Lassalle, Karl Rahner, Karlfried Graf Dürckheim und Michael Casey werden anhand der kritischen Fragen von Regina Polak wesentliche Aspekte des kontemplativen Weges erschlossen und naheliegende Missverständnisse ausgeräumt. Der Beitrag schließt mit Erörterungen zum Verhältnis von Kontemplation, wissenschaftlicher Exegese und lectio divina. Karl Baier Regina Polak Ludger Schwienhorst-Schönberger

Bettina Bäumer

Mantra und die Energie des Wortes bei Abhinavagupta. Die Ebenen der Sprache und ihre Bedeutung

Ich will mit zwei Zitaten beginnen. Das erste stammt aus dem Para¯trı¯s´ika¯ (»Tantra der höchsten Göttin der drei Energien«), einem der ältesten Tantras des nicht-dualistischen S´ivaismus von Kashmir : »So wie der grosse Banyan-Baum in einem Samen potentiell enthalten ist, ebenso ist dieses ganze Universum der lebenden und unbelebten Seienden im ›Samen des Herzens‹ enthalten.« (Para¯trı¯´sika¯ V. 25)

Der »Same des Herzens« ist ein Code-Name für einen einsilbigen Mantra1, dessen Initiation zur vollkommenen Befreiung führt (nirva¯na-dı¯ksa¯). Diese ˙ ˙ Metapher spricht für die ungeheure potentielle Kraft eines Mantra, eine Potenz, die, ebenso wie der Same, erst in die Aktualität umgesetzt werden muss, was im Fall des Mantra durch die spirituelle Praxis mit ihm geschieht. Das zweite Zitat ist aus jüngerer Zeit. Es stammt von dem französischen Benediktiner und indischen Sannya¯sı¯ Henri Le Saux (Swami Abhishiktananda, 1910 – 1973). Die Mantras, die er meint, sind die des Veda und der Upanishaden. In seinem spirituellen Tagebuch schreibt er am 11. Mai 1972: »Die Mantras, in die die Rishis (die Weisen) die Erfahrung eingeschlossen [oder : verwahrt] haben, damit der Mensch anlässlich der inneren Befreiung nicht stirbt.«

Im französischen Original verwendet er das Wort »d¦collage«, was zwei Implikationen hat: Loslösung (coller = kleben, also das Gegenteil), und Abheben (wie ein Flugzeug von der Erde abhebt und aufsteigt). Diese Aussage ist deshalb so erstaunlich, weil er damit zwei Funktionen von Mantras andeutet. Die erste ist gewöhnlich die, dass der Übende durch das Aussprechen oder die Meditation über den Mantra in einen höheren Bewusstseinszustand versetzt bzw. mit der Gottheit vereinigt wird, deren »Wortsymbol« der Mantra ist. Doch hier spricht er außerdem an, dass die Mantras, die aus der Erfahrung der Seher-Dichter entstanden sind, auch fähig sind, die explosive Kraft der Erfahrung des Mysti1 Die Autorin hält sich an die Sanskritgrammatik, nach der »Mantra« im grammatischen Genus maskulin ist (Anm. d. Hg.).

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Bettina Bäumer

kers zu bannen, in ein Wort zu fassen. Dieses Wort, ja manchmal nur eine Silbe, ist von der Tradition geheiligt und erprobt, nie willkürlich, und kann den Mystiker daher in die Erfahrung der alten Weisen oder Rishis zurückführen, was ihn vor den Gefahren außergewönlicher Zustände bewahrt. Beide Zitate deuten auf die große Kraft von Mantras im indischen Kontext, eine Kraft, die nicht einfach mit Magie gleichgesetzt werden kann. Das wird schon deutlich in der traditionellen Hermeneutik oder Etymologie des Wortes mantra: Es wird aufgelöst in die Verbalwurzel man-, die denken, reflektieren, auch meditieren bedeutet, und tra, beschützen oder erlösen. Mantra ist daher ein Wort, eine Silbe oder ein Satz, durch dessen Betrachtung man beschützt und letzlich erlöst wird. »Da ein Mantra nicht der konventionellen Sprache angehört, aktiviert er nicht den gewöhnlichen mentalen Gedankenprozess, der den Aussprechenden in die Welt der Differenziertheit hinauszieht, sondern der Mantra wendet den Übenden nach innen, zu der ursprünglichen, transzendenten Quelle aller Rede und daher aller Manifestation.«2

Abhinavagupta, kaschmirischer Mystiker und Philosoph des 10.–11. Jahrhunderts, dessen Interpretation wir uns im Folgenden zuwenden werden, definiert daher Mantra ganz im Sinn der Tradition folgendermaßen: »Mantras sind die göttliche Energie, die aus Lauten (Phonemen) besteht. Sie sind sowohl von weltlicher wie von göttlicher Natur. Sie sind Denken (man) und Befreiung (tra) [oder : sie befreien durch die Meditation über sie], und sie bestehen sowohl aus Gedanken wie aus reinem Bewusstsein.«3

Insofern sie aus Gedanken (vikalpa) bestehen, kann man mit ihrer Hilfe weltliche Ziele erlangen, doch in ihrer reinen Geistnatur (samvit) führen sie zur Befreiung.4 Die Kraft der Mantras beruht nun auf einer ganzen Theologie des Wortes, der Sprache, des Alphabets, die, ausgehend vom nicht-dualistischen S´ivaismus von Kashmir (Trika) die gesamte Exegese der Tantras durchdrungen hat, nicht nur der ´sivaitischen, sondern auch der vishnuitischen und ´saktistischen. Da diese drei großen Traditionen den »Hinduismus« fast völlig durchdringen, ist der Einfluss dieser Theorien und rituell-spirituellen Praktiken kaum zu überschätzen. Wenn einer der frühen Erforscher des Tantrismus, Arthur Avalon (Sir John Woodroffe) behauptet hat: »Vom Mutterschoß bis zum Verbrennungsplatz lebt und stirbt der Hindu mit Mantras«5, und dieser Aussage kaum wieder2 Padoux: Va¯c (1992) 377. 3 Abhinavagupta: A Trident of Wisdom (1989) 89 (Sanskrittext), 376 (engl. Übersetzung), zit. nach a. a. O., 376. 4 Dies steht im Kontext des Kommentars über die Phrase des Tantra Vers 11: asyocca¯re krte ˙ ˙ mantramudra¯gano maha¯n. samyan ˙ ˙ 5 Principles of Tantra, zit. in Padoux: »Mantras, what are they?« (1998) 296.

Mantra und die Energie des Wortes bei Abhinavagupta

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sprochen werden kann, dann ist eben das Verständnis des ganzen Hintergrundes der Mantra-Praxis ein Schlüssel zum Verständnis des Hinduismus – bis hin zum tantrischen Buddhismus. Da dieses Thema daher viel zu weit für einen Beitrag ist, will ich mich dem Autor zuwenden, der die klarste und tiefste »Theologie des Wortes« (va¯c) ausgearbeitet hat, Abhinavagupta. Wie viele indischen Philosophen, aber in einem außergewöhnlichen Grad, war Abhinavagupta sowohl Mystiker als auch Philosoph, aber eben auch Ästhetiker und Exeget der Tantras. Es ist gerade die Verbindung dieser Disziplinen, die seine Größe ausmacht und ihn zu einem klassischen Beispiel für die Beziehung zwischen Text und Mystik machen. Was seine Persönlichkeit betrifft, so beschreibt ihn sein Schüler Madhura¯ja (in seiner »Hymne an den Guru«6) wie folgt: »Was Abhinavagupta geschrieben hat, ist ins Herz geschrieben, was andere Autoren geschrieben haben, ist (wie) auf Wasser geschrieben.« (Vers 21)7 Er begründet das damit, dass Abhinavagupta »ein Schatz des mystischen Staunens« (oder der überwältigenden Freude) gewesen sei (vismayanidhaye namo namah, Vers 36). Das Wort für Staunen, Überra˙ schung, freudiges Überwältigtsein (vismaya), das an dieser Stelle herangezogen wird, bringt bereits nach dem S´ivasu¯tra ein Charakteristikum der mystischen Erfahrung zum Ausdruck.8 Abhinavagupta stützte seine Spekulation über Mantra, über das Wort, auf zwei Quellen: einerseits auf die Tantras, in seinem Fall auf die Bhairava¯gamas, in denen die Mantras offenbart sind, und die sich mit der Bedeutung des Wortes als Dialog im Kontext der Offenbarung auseinandersetzen, und andererseits auf Bhartrhari, den Sprachphilosophen und Grammatiker (5. Jahrhundert). ˙ Ich gehe zunächst auf die Tantras ein. Um nur zwei Beispiele der dort zu findenden mystischen Mantra-Praxis zu erwähnen, zitiere ich aus einem der autoritativsten Tantras der kaschmirischen Tradition, dem VijÇa¯na Bhairava:

6 Guruna¯thapara¯mars´a. 7 Vgl. eine parallele Aussage von Thomas von Aquin über Jesus und die großen nichtchristlichen Lehrer : S. Th III 42,4: »Je hervorragender der Lehrer, desto hervorragender muß auch seine Lehrweise sein. Deshalb entsprach es Christus als einem äußerst hervorragenden Lehrer, seine Lehre den Herzen seiner Zuhörer einzuprägen. Aus diesem Grund heißt es in Mt 7, dass er ›sie lehrte wie einer der Macht hat.‹ Deswegen wollten auch bei den Heiden weder Pythagoras noch Sokrates, die äußerst hervorragende Lehrer waren, etwas niederschreiben. Denn auch das Geschriebene ist nur darauf als Ziel ausgerichtet, die Lehre den Herzen der Leser [wrtl. der Hörenden] einzuprägen.« (Excellentiori enim doctori excellentior modus doctrinae debetur. Et ideo Christo, tamquam excellentissimo doctori, hic modus competebat, ut doctrinam suam auditorum cordibus imprimeret. Propter quod dicitur Mt 7, quod ›erat docens eos sicut potestatem habens‹. Unde etiam apud gentiles Pythagoras et Socrates, qui fuerunt excellentissimi doctores, nihil scribere voluerunt. Scripta enim ordinantur ad impressionem doctrinae in cordibus auditorum sicut ad finem.) 8 Vgl. S´ivasu¯tra 1.12.

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Bettina Bäumer

»Wenn man in Brahman-das-Laut-ist eintaucht, das wie ein unangeschlagener Ton wie ein Wasserfall [oder Strom] im Innern des Ohres ertönt, dann gelangt man zum höchsten Brahman.« (VBh V. 38)

Der wichtige Begriff ist hier S´abdabrahman, das Absolute als Wort oder Laut. Dieser Begriff geht bereits auf die Upanishaden zurück, wo es heißt, dass Brahman zwei Formen hat, Laut bzw. Wort und Schweigen.9 Das Laut-Brahman kann ein Mantra sein, der aber zu dem unausgesprochenen, spontanen, inneren Ton führt, in der ganzen Yoga-Literatur als ana¯hata na¯da bezeichnet. Eine andere mystische Übung desselben Tantra geht vom Aussprechen eines 10 Mantra, vor allem des einsilbigen OM . aus und endet ebenfalls im mystischen Schweigen: »O Bhairavi! Wenn man die heilige Silbe OM . oder irgendeinen anderen (einsilbigen Mantra) vollkommen ausspricht und über die Leere am Ende des gedehnten Ausklangs meditiert, so erlangt man durch die höchste Energie der Leere den Zustand der Leere.« (VBh V. 39)

In diesen zwei Zitaten geht es weder um die rituelle Bedeutung von Mantra, noch um das Geheimhalten, denn die Silbe OM . kann von jedem unabhängig von Initiation als Grundlage der Meditation verwendet werden. Es geht hier um das Erlangen des mystischen Zustands der Leere. Aus den vielen Bedeutungen und Kontexten von Mantra in den Tantras will ich nur noch zwei auswählen, die im Verhältnis zur Mystik von Bedeutung sind. Das eine ist die erwähnte Geheimhaltung. Mantras, denen eine zentrale Stellung für die spirituelle Praxis eines bestimmten Tantra zukommt, werden in dem Text des Tantra nicht in ihrer expliziten Form erwähnt, sondern nur in ›Code language‹. Ein Uneingeweihter macht keinen Sinn daraus, wenn es z. B. heißt: »Drei Bereiche sind durchdrungen von dem Phonem sa, der vierte von dem Dreizack. Der alles transzendierende (Bereich ist durchdrungen) von der Schöpferkraft [visarga, was auch Aushauch bedeutet]. So wird die Alldurchdringung der transzendenten (Göttin) beschrieben.« (Ma¯linı¯vijayottara T. 4.25)

Ebenso undeutlich bleibt es, wenn eben derselbe einsilbige Mantra als »Same des Herzens« (hrdayabı¯ja) oder »Same der Schöpfung« (srstibı¯ja) bezeichnet wird. ˙ ˙ ˙˙ Den Code kann nur auflösen, wer in der Tradition steht bzw. in sie initiiert wird. Diese Geheimhaltung hat eben mit der dem Mantra inhärenten Kraft zu tun, mantras´akti genannt. Seine volle Wirkkraft kann ein solcher Mantra nur im Kontext der Praxis entfalten, die eine Wiederholung, eine Rezitation (japa), ob äußerlich oder innerlich, oder eine Meditation über den Mantra in all seinen 9 Vgl. Maitrı¯ Up. 6.22. 10 pranava kann auch andere einsilbige Mantras bezeichnen, wie hrı¯m, hum. ˙ ˙ ˙

Mantra und die Energie des Wortes bei Abhinavagupta

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Implikationen bedeuten kann. Die Weitergabe der Tradition als Weitergabe der Kraft des Mantra ist dabei nicht zu unterschätzen. Der zweite Aspekt, den ich in der Kürze auch nur andeuten kann, ist die tantrische Lehre, dass das Alphabet bzw. alle Laute (mehr als Buchstaben) des Sanskrit-Alphabets göttliche Energien sind, Ma¯trka¯ genannt, d. h. (kleine) ˙ Mütter. Sie sind Mütter, weil sie Worte, Sätze, ja Sprache überhaupt gebären. Eine spezifisch mystische Form des Sanskrit-Alphabets heißt Ma¯linı¯, »die Göttin Alphabet, die die Laute / Buchstaben wie eine Girlande trägt.«11 In dieser Konzeption ist eben die Sprache in ihren Elementen bereits göttlich bzw. eine göttliche Energie. Natürlich ist diese Einsicht den meisten Menschen nicht bewusst, und es bedarf wieder der Praxis und der Einweihung, um die Sprache als solche zu erfahren. Alle diese tantrischen Vorstellungen von Mantra könnte ein Außenstehender in den Bereich der Magie und des Mythos einordnen, wenn dem nicht eine ausführliche Philosophie und Theologie des Wortes grundgelegt wäre. Mantras »können nur erklärt und verstanden werden in der indischen Tradition mit ihren metaphysischen und mystischen Begriffen des Wortes (der Sprache).«12 Zu diesem indischen Verständnis gehört u. a. die Unterscheidung zwischen Sprache als konventionelle (Bedeutungen entstehen, werden festgelegt und verändern sich auch) und Sprache als göttliche Kraft. Das mystische Alphabet als Grundlage des Mantra gehört in die zweite Kategorie. Daher ist die mantrische Qualität der Sprache eine Art Sakrament, durch das man Zugang zum Göttlichen hat. Wir kommen jetzt zu der zweiten Quelle der Metaphysik – und Mystik – des Wortes bei Abhinavagupta: zu dem Grammatiker und Sprachphilosophen Bhartrhari. Er beginnt seinen fundamentalen Text Va¯kyapadı¯ya mit der Aussage, ˙ dass Brahman, das Absolute, vom Wesen des Wortes ist (s´abda), das Wort, das alles hervorbringt. Wir begegnen hier wieder dem S´abdabrahman, das uns in der Upanisad und im VijÇa¯na Bhairava begegnet ist. Der allen Mantras zu˙ grundeliegende Mantra ist OM . (pranava) (Va¯k. I. 9). ˙ Ohne ins Detail zu gehen, kann gesagt werden, dass zwei zentrale Theorien von Bhartrhari die Philosophie von Trika und PratyabhijÇa¯ nachhaltig beein˙ flussten: Die erste ist die untrennbare Verbindung von Wort oder Sprache und Bewusstsein oder Geistigkeit. Es gibt kein Bewusstsein ohne Sprache. Bhartrhari ˙ entwickelt diese Theorie anhand der Grammatik, der Philosophie und der Psychologie und wendet sie auf die Offenbarungen des Veda und des Tantra an. Für ihn und für einen Großteil der indischen Philosophen ist die Grammatik »der kürzeste Weg zum Erlangen der höchsten Essenz des Wortes, des heiligsten aller Lichter […]« (Va¯k. I. 12). Der andere wichtige Beitrag, den Bhartrhari zu ˙ 11 Vgl. Vasudeva: The Yoga of the Malinivijayottaratantra (2004). 12 Padoux: »Mantras, what are they?« (1998) 296.

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Bettina Bäumer

Abhinavaguptas Sprachmystik geleistet hat, ist die Lehre von den drei Stufen oder Ebenen des Wortes. Bhartrhari kennt erstens die höchste Ebene des »se˙ henden Wortes« (pas´yantı¯), die Ebene der Intuition, die noch vor der begrifflichen Konzeption und sprachlichen Artikulation angesiedelt ist, dann eine »mittlere« Ebene (madhyama¯), die der Gedanken, und erst zuletzt die des ausgesprochenen, artikulierten Wortes (vaikharı¯). Soma¯nanda, der erste Philosoph des Kaschmirischen S´ivaismus oder der PratyabhijÇa¯-Philosophie, kritisierte Bhartrhari, weil die transzendente Ebene des Wortes in seinem Schema fehlt. ˙ Doch Abhinavagupta nahm seine Dreiteilung an und fügte ihr eine vierte Ebene bzw. eine erste Stufe hinzu: Para¯, das höchste, transzendente Wort. Da Va¯c (Wort, Rede) feminin ist, ist das transzendente Wort eine Göttin oder weibliche göttliche Kraft, S´akti. Was bedeuten nun diese vier Stufen der Manifestation des Wortes, besonders im Hinblick auf mystische Erfahrung? Zunächst handelt es sich um zwei Bewegungen: eine absteigende und eine aufsteigende. Absteigend ist die Manifestation der Sprache, von ihrem transzendenten Ursprung (Para¯, »die Höchste«) zur Ebene des »sehenden Wortes« (Pas´yantı¯), einer wichtigen Stufe, der noch ein ganzheitliches Bewusstsein entspricht, das aber schon den Ursprung der Gedanken und Worte keimhaft enthält. Diese Ebene wird oft verglichen mit der gleichzeitigen und ganzheitlichen Schau, die man vom Gipfel eines Berges hat, oder auch mit der Intuition eines Künstlers, in der er ein Bild wie in einem Blitzstrahl innerlich sieht, bevor er es zum Ausdruck bringt. Der Übergang von dieser intuitiven Ebene zum Ausgedrückten findet in Gedanken statt, wo bereits Sprache auftritt, aber nur innerlich. Passenderweise wird diese Stufe der Göttin Rede Madhyama¯ genannt, »die Mittlere«. Sie liegt zwischen dem Unausgesprochenen und dem Ausgesprochenen. Der Endpunkt des Abstiegs ist Vaikharı¯, »die Verkörperte«, weil hier die Sprache körperlich artikuliert wird, natürlich auch mit allen Begrenzungen der zeitlichen Abfolge (die auf der Ebene von Pas´yanti abwesend ist), der Vielfalt der Sprachen und des Ausdrucks. Dieser Abstieg kann ebenso kosmologisch wie psychologisch wie theologisch verstanden werden. Es ergeben sich in diesen Hinsichten eine Vielzahl von Entsprechungen zu den vier Ebenen der Sprache. Eine Anwendung betrifft auch die Offenbarung, da es ja ein Herabsteigen des göttlichen Wortes (Para¯va¯c) von seinem Ursprung bis in die menschliche Sprache bedeutet. Was die höchste Ebene betrifft, so ist noch wichtig festzuhalten, dass in dem nicht-dualistischen System des kaschmirischen S´ivaismus keine Trennung stattfindet, sondern dass das transzendente Wort alle Ebenen, von der höchsten bis zur niedersten, durchdringt und belebt. Und die höchste Energie des Wortes ist nicht getrennt vom Göttlichen, sie ist mit S´iva eins. Dem Absteigen des Wortes bis in die Körperlichkeit entspricht dann ein Aufsteigen, der umgekehrte Prozess auf dem Weg der Befreiung. Mystische

Mantra und die Energie des Wortes bei Abhinavagupta

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Erfahrung vermittelt durch das Wort, durch Sprache, ist eben begründet in der Einsicht, dass Sprache, aber besonders ihre Kondensierung in offenbarter oder mantrischer Sprache, zurückreicht zu ihrem Ursprung in Para¯. Das transzendente Wort in Form des reinen Bewusstseins liegt aller Sprache zugrunde. Übungen wie die anfangs zitierten des VijÇa¯na Bhairava Tantra zielen darauf hin, in dieses reine Bewusstsein im inneren Ton (na¯da) bzw. in den Zwischenräumen zwischen Worten (sogar Silben) oder in das Schweigen nach dem Ausklingen des Mantra einzutauchen. In einem vishnuitischen Tantra, das ganz vom S´ivaismus beeinflusst ist, dem Lakshmi Tantra, heißt es konzis: »Wer das Absolute-als-Wort (S´abdabrahman) kennt, meditiert beständig über den Prozess des Aufstiegs und Abstiegs und erreicht einen Zustand jenseits aller Laute (des Wortes).« (Laksmı¯ Tantra 51.32) ˙

Dass die mystische Praxis dann durch diese Stufen aufsteigt (die natürlich Zwischenstufen enthalten, weil es ein dynamischer Prozess ist), ist leicht nachvollziehbar. Sowohl im gewöhnlichen Sprechen wie in der Mantra-Praxis steigt man vom Ausgesprochenen zum Gedanklichen auf. Dem entspricht das stille Rezitieren des Mantra, bereits im Veda eine höhere Stufe als das laute (tu¯sn¯ım). ˙˙ Dem Prozess der Rückkehr ins Schweigen entspricht auch die immer größere Vereinfachung der Mantras, weshalb die einsilbigen Mantras, genannt bı¯ja, »Same«, eine größere Kraft besitzen als mehrsilbige oder solche, die aus einem Satz bestehen (wie OM . namah ´siva¯ya, »Ehre sei S´iva«). Letzlich reduziert sich die ˙ ganze Sprache auf den ersten und letzten Laut / Buchstaben des Sanskrit-Alphabets: a + ha, das im Ausklingen des Anusva¯ra m endet. A steht in der ˙ tantrischen Symbolik für S´iva, ha für S´akti, seine Kraft, und m für den Menschen ˙ oder das Geschaffene, Nara. Aham bedeutet »Ich« und bezieht sich in dieser ˙ Sprachsymbolik auf das göttliche Ich, das die gesamte Wirklichkeit in sich enthält (Alpha und Omega). Aham, das reine Ichbewusstsein, wird dann als die ˙ allen Mantras innewohnende Kraft bezeichnet: mantravı¯rya. Um noch einen klassischen Text zu zitieren, die »Verse vom Wiedererkennen des Herrn« von Utpaladeva (IPK) und deren Kommentar von Abhinavagupta: »Das Bewusstsein (citi) ist Selbst-reflexion (pratyavamars´a). Es ist das transzendente Wort (para¯), das sich aus seiner eigenen Seligkeit manifestiert (svarasodita), es ist vollkommene Freiheit. Eben dies ist die Herrlichkeit des Göttlichen (parama¯tman).« (I¯s´varapratyabhijÇa¯ ka¯rika¯ I. 5. 13)

Dazu führt Abhinavagupta aus: »Selbstreflexion besteht aus Worten, die vom Wesen inneren Sprechens sind. Das hat nichts zu tun mit konventioneller Sprache. Es ist ein Akt des ungeteilten Staunens (camatka¯ra) […] Eben das gibt den Lauten (Buchstaben) a usw. Leben, aus denen die

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Bettina Bäumer

konventionelle Sprache besteht […] Es ist vom Wesen des reinen Bewusstseins, das in sich selbst ruht, das immer präsente, ewige ›Ich‹.« (IPV I. 5. 13)

Der Yogı¯ steigt auf bis zur Ebene des »sehenden Wortes«, Pas´yantı¯, der reinen, blitzhaften Erleuchtung jenseits von Worten und Gedanken. Das Aufsteigen zur höchsten Ebene, Para¯, ist außergewöhnlich und geschieht nur im Fall äußerst begnadeter Mystiker. Diese Ebenen entsprechen dann auch den vier spirituellen Wegen, upa¯ya, auf die ich hier nicht eingehen kann, die aber nicht unerwähnt bleiben sollen. Der Mystik im eigentlichen Sinn würde man die zwei höchsten Wege zuordnen, den göttlichen (s´a¯mbhava), in dem der Yogı¯ schon sein Ich im göttlichen Ich aufgelöst hat, und den Nicht-Weg, anupa¯ya, der spontan und gnadenhaft geschieht, ohne jede Bemühung. Er entspricht dem höchsten Wort, Para¯. Die Rückkehr in den Ursprung des Wortes, Para¯, ist eine Rückkehr vom Wort ins Schweigen. »Wenn man sich von der Sprache zu ihren ursprünglichen Ebenen bewegt, gelangt man schliesslich zu ihrer Quelle, dem Schweigen. OM . löst sich auf im inneren Ton, na¯da, der sich seinerseits im Licht des reinen Bewusstseins auflöst.«13 Diese Betrachtungen haben nicht unmittelbar mit Texten zu tun, doch liegen ¯ gamas gibt es sie jeder Beschäftigung mit heiligen Texten zugrunde. Nach den A drei Weisen, die höchste Erfahrung oder Erkenntnis zu erlangen: aus den Schriften, vom Meister und aus sich selbst. Letzlich müssen diese drei Weisen der Annäherung sich gegenseitig ergänzen. Die Schriften sind, nach derselben Tradition, nichts als der Ausdruck des göttlichen Bewusstseins. Das Wort des Meisters kommt als lebendiges aus derselben Quelle. Und die eigene Erfahrung als direkter Zugang zur göttlichen Wirklichkeit ist unerlässlich und kann durch nichts ersetzt werden. Nach der Theologie des Trika geschieht sie durch Gnade: anugraha, ´saktipa¯ta. Auf der höchsten Stufe des Mystikers, Yogı¯ (oder Yoginı¯) ereignet sich aber eine Umkehrung, die reine Spontaneität ist. Nicht mehr eine Abhängigkeit von den Schriften, von Mantras, sondern ein Eintauchen in einen Bewusstseinszustand, der die Quelle des Wortes ist. Alle von der Tradition vorgeschriebenen Praktiken, wie Mantra, Mudra¯, Yoga, ereignen sich dann spontan. In vier knappen Versen beschreibt das Abhinavagupta in seinem Anubhavanivedana, »Die Gabe der Erfahrung«: »3. Jedes Wort, das aus seinem Munde hervorkommt, ist ein transzendenter Mantra, die (natürlich) Haltung seines Körpers, in dem Freude und Leide entstehen, ist selbst die mystische Haltung (Mudra¯), 13 Padoux:Va¯c (1992) 428.

Mantra und die Energie des Wortes bei Abhinavagupta

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der spontane Strom seines Atems ist der wunderbare Yoga. Wenn ich das lichtvolle Reich der göttlichen Energie erfahren habe, was bleibt dann, was nicht leuchten würde? 4. Mantra ist das Wort, das erleuchtet, ohne die Zusammensetzung der Buchstaben zu unterscheiden. Mudra¯ ist die Haltung, die entsteht, wenn jede körperliche Bewegung aufgehört hat. Yoga ist die geistige Übung, die sich offenbart, wenn der Strom des Atems sich aufgelöst hat. Wenn die Gutgesinnten in dein lichtvolles Reich eingegangen sind, was wäre nicht wunderbar bei diesem Fest der Freude?«14

Das Schema der vier Ebenen des Wortes und damit des Bewusstseins hat sich in der indischen Spiritualität weitgehend durchgesetzt, auch als Interpretationsmodell mystischer Stufen. Es entwickelt auch eine Antwort auf die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit, von einem Text zur mystischen Erfahrung aufzusteigen und ist deshalb für jedwede interreligiöse bzw. religionskomparative Untersuchung des Verhältnisses von Text und Mystik von größter Bedeutung.

Literatur Abhinavagupta: A Trident of Wisdom. Translation of the Para¯trı¯´sika¯tattva-Vivarana by ˙ Jaideva Singh, Albany 1989. Bäumer, Bettina: Abhinavagupta. Wege ins Licht, Zürich 1992. Padoux, Andr¦: »Mantras, what are they?«, in: Understanding Mantras, Albany 1989, 297. Ders.: Va¯c: The Concept of the Word in Selected Hindu Tantras, Delhi 1992. Vasudeva, Somadeva: The Yoga of the Ma¯linı¯vijayottaratantra, Pondichery 2004.

14 Bäumer: Abhinavagupta (1992) 176 f.

Karl Baier

Lesen als spirituelle Praxis in christlicher und buddhistischer Tradition

1.

Einleitung

Das Thema »Lesen« wird gegenwärtig von einer Vielzahl unterschiedlicher Forschungszweige unter historischen, literaturwissenschaftlichen, philosophischen, soziologischen, psychologischen und pädagogischen Blickwinkeln bearbeitet. Die Rezeptionsästhetik und verwandte Ansätze stellen die Text-LeserRelation und die Konstitution der Bedeutung des Gelesenen im Vollzug des Lesens in den Mittelpunkt. Der Erforschung religiösen Lesens wird dabei relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt.1 Ziel der vorliegenden Studie aus dem Bereich religionswissenschaftlicher Leseforschung ist es, einen bescheidenen Beitrag zur Besserung dieser Situation zu leisten. Ich erhebe keinen Anspruch, das Phänomen in seiner ganzen Bandbreite in den Blick zu nehmen, sondern beschränke mich auf eine einzige Art religiöser Lektüre, die mir freilich besonders aufschlussreich zu sein scheint: das als spirituelle Praxis inszenierte Lesen. Darunter lassen sich der Vollzug und die Kultivierung solcher Lesesituationen und Lesehaltungen verstehen, kraft derer Texte Medien religiöser Erfahrung, Anregung zur Umbildung der persönlichen Identität und Stütze bei der Integration religiöser Einsichten in die Lebenspraxis werden können. Von solchem Lesen ist besonders in autobiographischen Konversionserzählungen immer wieder die Rede.2 Mir geht es im Rahmen dieses Beitrags aber nicht um spontan 1 Siehe dazu Behr / Engelbrecht / Satlow / Schweizer: Empirische Beobachtungen (2007) 21 – 29, 33. In der christlichen Theologie sieht die Forschungslage etwas besser aus als in der Religionswissenschaft. Sowohl die exegetischen Fächern wie auch die Bibeldidaktik rezipieren gegenwärtig leser- und leseorientierter Ansätze. Zur Terminologie: Ich verwende im Folgenden aus Einfachheitsgründen die maskuline Form »der Leser« als Bezeichnung für männliche und weibliche Lesende. 2 Eine Arbeit aus der Konversionsforschung, in der die Lektüre bestimmter Bücher als »Ereignisträger« im Rahmen von Konversionsprozessen an mehreren Stellen gut sichtbar gemacht wird, ist Bitter: Konversionen zum tibetischen Buddhismus (1988). Vgl. a. a. O., 144, 151, 157 f., 161, 180, 195, 210, 271, 277. Abgesehen von empirischen Befunden wurde die durch

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eintretende Leseereignisse von spiritueller Bedeutung, sondern um elaborierte Übungsweisen. Dies legt den Rückgriff auf traditionelle monastische Lesekulturen nahe, in denen das Lesen besonders intensiv als Exerzitium gepflegt wurde.3 Ich möchte zuerst eine einschlägige Schrift aus dem Bereich des westeuropäischen Christentums behandeln und danach auf die Problematik des Lesens im Chan- und Zen-Buddhismus eingehen. Ein letzter Abschnitt fasst die Ergebnisse der Untersuchung im Blick auf beide Traditionen und auf Grundstrukturen spiritueller Leseübung zusammen.

2.

Die Übung der lectio divina am Beispiel der Scala Claustralium

2.1

Die Scala Claustralium und ihr Kontext

Die unter dem Titel Scala Claustralium und in nur leicht abweichender Version als Scala Paradisi und Epistula De Vita Contemplativa überlieferte Schrift wurde im Mittelalter Bernhard von Clairvaux bzw. Augustinus zugeschrieben. In Wirklichkeit stammt sie von dem Kartäuser Guigo II, der Prior des nördlich von Grenoble gelegenen, Grand Chartreuse genannten Stammklosters des Kartäuserordens war. Die meisten Forscher nehmen an, dass es sich um eine vor 1150 verfasste Jugendschrift handelt. Die große Anzahl überlieferter Handschriften belegt, dass der Text einer der beliebtesten spirituellen Traktate des Mittelalters gewesen ist.4 Vom Spätmittelalter an wurde die Scala Claustralium im Zuge der Popularisierung monastischer Praxis aus dem Lateinischen in verschiedene Landessprachen übersetzt und fand zunehmend unter außerhalb des Klosters lebenden Laien und Weltpriestern Verbreitung.5 Damit fand das in ihr tradierte eine Leseerfahrung angestoßene Bekehrung besonders durch die berühmte Gartenszene im achten Buch der Confessiones des Augustinus zu einem Topos der europäischen Literatur. Siehe dazu einige Beispiele aus dem antiken und mittelalterlichen Europa bei Quast: Lektüre und Konversion (2005). 3 Damit soll beileibe nicht gesagt sein, dass die Leseübung in der religiösen Gegenwartskultur keine Rolle spielt. Vgl. dazu Baier: Lesen als spirituelle Praxis (2010). 4 Vgl. zur Scala Claustralium und ihrer historischen Stellung Colledge / Walsh: Introduction (1979); Tugwell: Ways of Imperfection (1984) 103 – 124; Baier : Meditation und Moderne (2009) 32 – 47. Einen Überblick zu Guigo II mit weiterführenden Literaturangaben gibt Hogg: Guigo II (2002). 5 Zur Übersetzung der Scala Claustralium und der damit verbundenen, neuen sozialen und religiösen Kontextualisierung, die sich auch im Übersetzungstext niederschlägt, vgl. den Aufsatz von Iguchi: Translating Grace (2008), der die mittelenglische Übersetzung behandelt. Zur Vermittlung der lectio divina an Nonnen, gebildete Frauen und die Laienschaft im Allgemeinen siehe Edsall: Reading Like a Monk (2000).

Lesen als spirituelle Praxis in christlicher und buddhistischer Tradition

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Konzept des Lesens über den monastischen Bereich hinaus Eingang in die allgemeine christliche Lesekultur. Die Scala Claustralium gilt bis heute als Klassiker der lectio divina genannten Form der Lese-Übung.6 Selbst gegenwärtige Formen spiritueller Bibellektüre im Christentum greifen noch regelmäßig auf sie zurück.7 Innerhalb der Geschichte des monastischen Lesens im christlichen Kontext ist der Text einer Reformbewegung zuzuordnen, die angesichts der Veräußerlichung des individuellen Bibel-Lesens, die in den benediktinischen Klöstern eingetreten war, verstärkt auf das Vorbild der spätantiken Mönchsväter zurückgriff. Der Lebensstil der Kartäuser, die innerhalb des klösterlichen Rahmens weitgehend eremitisch leben, lässt der Vertiefung in die Bibel und andere Schriften breiten Raum. Die Scala Claustralium stellt vor diesem Hintergrund den Kern der im christlichen Mönchtum von Beginn an bedeutsamen Lesekultur auf bisher nicht da gewesene Weise systematisch dar.8 Dabei entfaltet sie eine hoch elaborierte Verbindung von Lesen, Interpretieren und persönlicher Aneignung, durch die das Lesen zu einem Kultakt wird, zum »Lesemysterium«, bei dem die Phasen der Textrezeption Schritten auf einem Initiationsweg gleichen.9

2.2

Die vier Stufen der spirituellen Leseübung

Guigo konzipiert die spirituelle Übung (exercitium spirituale) der Mönche als einen Aufstieg, der vier Stufen (quatuor gradus) durchläuft.10 Er sagt zwar nichts darüber, aber man kann wohl davon ausgehen, dass Anfang und Ende der Übung 6 Zur lectio divina siehe die Standardliteratur Leclercq: Wissenschaft und Gottverlangen (1963) 83 – 102, und Rousse / Sieben / Boland: Lectio divina (1976), sowie Illich: Lectio Divina (1993). 7 Vgl. dazu Baier : Lesen als spirituelle Praxis (2010). 8 Es besteht eine Verwandtschaft zwischen der systematischen Durchdringung der LeseÜbung bei Guigo II und den neuen wissenschaftlichen Standards, die damals in den Domschulen entwickelt wurden. Guigo war offenbar mit den theologischen Strömungen seiner Zeit gut vertraut. Die Scala Claustralium steht den Victorinern nahe, insbesondere Hugo von St. Victor, der die Stufen der lectio ganz ähnlich beschreibt. Außerdem gibt es viele Berührungspunkte mit zisterziensischer Theologie, v. a. mit Wilhelm von St. Thierry. Vgl. zu diesen Einflüssen Colledge / Walsh: Introduction (1979) 11 – 25; Baier : Meditation und Moderne (2009) 38 – 47. 9 Die Bezeichnung »Lesemysterium« stammt von Richard Reitzenstein, der sie für die Annäherung an das Mysterium durch interpretierendes und persönlich aneignendes Lesen gebrauchte, die im Corpus Hermeticum beschrieben wird. Vgl. dazu Gladigow: ›Lesbarkeit der Religion‹ (2005) 276 f. Die mittelalterliche lectio divina verfolgt in dieser Hinsicht dasselbe Ziel wie das hermetische Lesen. 10 Der Ausdruck »exercitium spirituale« geht auf die Väterzeit zurück. Er wird bereits im 4. Jahrhundert in der von Rufinus verfassten Historia Monachorum 7 (Patrologia Latina 21.410d) und 21 (Patrologia Latina 21.453d) verwendet.

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durch Gebärden (Kreuzzeichen, Kniefall, Verneigung) und Gebete rituell gestaltet wurden. Ihr Hauptteil besteht aus Lesung, Meditation, Gebet und Kontemplation.11 Das Verhältnis der Stufen zueinander wird so gedacht, dass die untere jeweils zur nächsthöheren disponiert.12 Außerdem stützen zwei aufeinander folgende Stufen einander wechselseitig. Sie können zwar isoliert geübt werden, doch bringt dies nach der Auffassung Guigos wenig bis keinen Nutzen oder lässt die Übung gänzlich misslingen.13 Der Weg von Stufe zu Stufe wird als Weg wachsender Gottesnähe verstanden, die das Ziel der gesamten Praxis darstellt.14 Da der Mensch während seines Erdenlebens die Vereinigung mit Gott in der Kontemplation nur für kurze Zeit ertragen kann, erfolgt nach dem Erreichen der letzten Stufe der Abstieg auf eine der unteren. Während der Übungszeit hält man sich nach eigenem Gutdünken und unter Berücksichtigung der Umstände mal auf der einen, mal auf der anderen Stufe auf.15 Der Eintritt in die Kontemplation lässt sich jedoch nicht willkürlich bewerkstelligen, sondern ist eine Gnade, die Gott, um die spirituelle Reifung der Übenden zu fördern, auch immer wieder für längere Zeit entzieht.16 Lectio bedeutet für Guigo dreierlei: 1. für sich selbst zu lesen, 2. anderen vorzulesen und 3. eine Belehrung von einem Meister zu empfangen.17 In allen drei Formen erfüllt die Lesung die doppelte Aufgabe, die Meditation sowohl zu inspirieren als auch zu limitieren. Die lectio ist das Fundament (fundamentum) der gesamten Übung, insofern sie den Stoff vorgibt, mit dem sich das Meditieren zu befassen hat (data materia mittit nos ad meditationem); und sie gibt ein bestimmtes Verständnis vor, das dafür sorgt, dass die von den Vätern gesteckten Grenzen der Interpretation nicht verletzt werden (ne falsa aut inania quaedam

11 »Lesung [lectio] ist die eifrige Einsichtnahme in die Schriften mit aufmerksamem Geist. Meditation [meditatio] ist die emsige Tätigkeit des Verstandes, geleitet durch die eigene Vernunft der Erkenntnis der verborgenen Wahrheit nachzugehen. Gebet [oratio] ist die Hinwendung des andächtigen Herzens zu Gott, um Böses zu beseitigen und Gutes zu erlangen. Kontemplation [contemplatio] ist eine gewisse Erhebung des Gott anhangenden Geistes über sich hinaus, wobei er die Freude ewiger Seligkeit verschmeckt.« Guigo II (1970): Epistola, 84.32 – 38: Est autem lectio sedula scripturarum cum animi intentione inspectio. Meditatio est studiosa mentis actio, occultae veritatis notitiam ductu propriae rationis investigans. Oratio est devota cordis in Deum intentio pro malis removendis vel bonis adipiscendis. Contemplatio est mentis in Deum suspensae quaedam supra se elevatio, aeternae dulcedinis gaudia degustans. 12 Vgl. dazu und zum Folgenden Guigo II: Epistola (1970) 106.282 – 112.354. 13 Vgl. a. a. O., 108.303 – 306. 14 Vgl. a. a. O., 116.394 – 395. 15 Vgl. a. a. O., 116.388 – 394. 16 Siehe dazu die gnadentheologischen Überlegungen in: a. a. O., 96.157 – 106.280. 17 Vgl. a. a. O., 110.318 – 320.

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meditando limites a sanctis patribus constitutos transcendamus).18 Man wird die letzte Aussage wohl dahingehend verstehen können, dass die lectio auch das Studium von exegetischer Literatur der Väterzeit und der darin enthaltenen Bibel-Hermeneutik umfasste. In einem für die monastische lectio programmatischen Text hatte bereits Cassiodorus in seinen Institutiones den Gebrauch der tradierten Schriftkommentare zur spirituellen Bibellektüre empfohlen, wobei er in einer an unseren Text erinnernden Weise die Lektüre der Heiligen Schrift mit dem Aufstieg auf der Jakobsleiter vergleicht, der zu den Höhen der Kontemplation führt.19 Bei Guigos Ausführungen zum exercitium spirituale ist mit lectio durchwegs das Für-sich-selbst-Lesen gemeint. Er geht von der lectio continua – der so genannten Bahnlesung – aus, die darin bestand, die Bibel (samt ergänzender exegetischer Literatur) über einen längeren Zeitraum fortlaufend vom Anfang bis zum Ende durchzulesen. Die anderen Arten der lectio, die Lesung der Bibel im liturgischen Kontext und die mündliche Unterweisung in ihrer richtigen Interpretation, bilden zusätzliche, wichtige Verständnishorizonte für die private Lesung. Auf ein Leben in wachsender Gottesnähe hinzielend, führen die Stufen des Lektüreprozesses auf zweifache Weise über eine rein kognitive Aneignung des Gelesenen hinaus. Es geht um eine ethische Formung des Lesenden, die das Leben Jesu Christi und der Heiligen zum Vorbild hat. Des Weiteren soll die Übung zu einer mystischen Erfahrung hinführen, die schon in diesem Leben einen Vorgeschmack der »Freude der ewigen Glückseligkeit« (aeternae dulcedinis gaudia) gewährt.20 Damit die Lektüre dies leisten kann, muss eine bestimmte Art des Lesens kultiviert werden.21 18 Vgl. a. a. O., 106.287 – 288; 108.312 – 315; 110.316 – 320. 19 Cassiodorus: Institutiones divinarum (2003) 94 – 97: Quapropter, dilectissimi frateres, indubitanter ascendamus ad divinam Scripturam per expositiones probabiles patrum, velut per quandam scalam visionis Jacob, ut eorum sensibus provecti ad contemplationem Domini efficaciter pervenire mereamur. (»Lasst uns deswegen, geliebte Brüder, mit Hilfe ehrenwerter Schriftkommentare der Väter unverzagt zur Heiligen Schrift emporsteigen, so wie Jakob über die Leiter seiner Vision, damit wir, von der Väter Denkkraft emporgetragen, nachhaltig zur contemplatio des Herrn gelangen.«) 20 Vgl. a. a. O., 84.38. 21 »Was nützt es denn, die Zeit mit fortgesetzter Lesung zuzubringen, die Taten und Schriften der Heiligen durchzugehen, wenn wir ihnen nicht durch Kauen und Wiederkäuen den Geschmack entlocken und ihn hinunterschluckend bis ins Innere des Herzens vordringen lassen, sodass wir daraus unseren Zustand sorgsam prüfen und uns bemühen, die Werke jener zu tun, deren Taten wir so gern lesen?« A.a.O., 108.306 – 312: Quid enim prodest lectione continua tempus occupare, sanctorum gesta et scripta legendo transcurrere, nisi ea etiam masticando et ruminando succum eliciamus; et transglutiendo usque ad cordis intima transmittamus, ut ex his diligenter consideremus statum nostrum, et studeamus eorum opera agere, quorum facta cupimus lectitare?

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Die angestrebte Form der Rezeption des Textes wird mit einer in der christlichen Tradition seit der Antike beliebten, auch im antiken Judentum und in der hellenistischen Rhetorik bekannten Speisemetaphorik beschrieben. Lesen ist für Guigo dem aufmerksamen Suchen, Finden und Essen köstlicher Trauben vergleichbar.22 Der Lesestoff wird zur Lust und Leben spendenden Nahrung für die Seele, wenn man seinen hintergründigen Sinn (den in der Traube verborgenen Geschmack) gründlich und mit Bezug auf das eigene Leben erforscht, sich emotional von ihm bewegen lässt und ihn so intensiv aufnimmt, dass er schließlich gleichsam in Fleisch und Blut übergeht. Die verschiedenen Phasen solchen »Essens« des Textes ordnet Guigo an anderer Stelle vier Stufen der Übung zu. »Die Lesung führt quasi die feste Speise zum Mund; die Meditation kaut und zerkleinert sie; das Gebet gewinnt den Geschmack; die Kontemplation ist die Wonne selbst, die erfreut und belebt.«23 Historisch und sachlich ist im Rahmen der Speisemetaphorik der Begriff der ruminatio von besonderer Bedeutung, das »Wiederkäuen«, ein oftmaliges Wiederholen derselben Textstelle, das bei Guigo als meditatio mit der rhetorisch intensivierten Vergegenwärtigung des Textgehaltes verbunden ist und nach monastischer Tradition eine Voraussetzung für die Vertiefung in den Text und das Eintreten religiöser Erfahrungen beim Lesen darstellt.24 Man kann den durch die Speisemetaphorik bezeichneten Typus des Lesens, der für das Lesen als spirituelle Praxis von fundamentaler Bedeutung ist, als inkarnierendes Lesen bezeichnen. Mit starken Gefühlen bzw. kontemplativ gesteigerter Wachheit verknüpft, beeinflusst und formt die inkarnierende Lektüre das leibliche Befinden des Lesenden, verändert nicht nur seine Handlungsweise, sondern seine gesamte leiblich-sinnliche Präsenz, sein In-der-Welt-Sein.25 22 Vgl. a. a. O., 86.53 – 55. Das entspricht im Übrigen den Bedeutungen des lateinischen »legere« und des deutschen »lesen«, die ja nicht nur das Lesen niedergeschriebener sprachlicher Mitteilungen meinen können, sondern auch für »pflücken, sammeln, ernten« stehen. 23 A.a.O., 84.43; 86.44 – 46: Lectio quasi solidum cibum ori apponit, meditatio masticat et frangit, oratio saporem acquirit, contemplatio est ipsa dulcedo quae iocundat et reficit. 24 Nach dem Alten Testament (Lev 11,3; Dtn 14,6) gelten wiederkäuende Tiere als rein. Bereits der vorchristliche jüdische Aristeas-Brief vergleicht die Wiederkäuer mit den Frommen, die beständig die Tora rezitieren. Eine der ältesten christlichen Quellen, die die alttestamentlichen Stellen allegorisch als Verweis auf das »Wiederkäuen« der Bibel deutet, ist Barnabasbrief X, 11. Vgl. dazu Ruppert: Meditatio – Ruminatio (1977) 84, und für die weitere Geschichte der ruminatio: a. a. O., 83 – 93. Auch in der hellenistischen Rhetorik eines Quintilian war der Begriff »Wiederkäuen« als Übung der intensiven Aneignung von Texten durch oftmaliges Wiederholen bekannt. 25 Vgl. zum Konzept der inkarnierenden Lektüre mit Bezug auf das Mittelalter Schnyder: Kunst der Vergegenwärtigung (2009) 435 – 437; verwandte Überlegungen bei Largier: Die Kunst des Begehrens (2007) 34 – 71. Biblische Vorbilder für diese Art des Lesens waren vor allem der das Buch verschlingende Prophet Ezechiel sowie – noch stärker die schöpferische leibliche Transformation betonend – die das göttliche Wort empfangende und austragende Maria. Vgl. zur Metaphorik des Essens im Zusammenhang mit meditativer Aneignung von

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In der Literatur wird immer wieder hervorgehoben, dass das für heutige Augenleser befremdlich sinnliche Vokabular, mit dem in der mittelalterlichen Mönchsliteratur das Lesen beschrieben wird, und die intensive leibliche Involvierung des Lesers, die damit angedeutet wird, wohl nur verstanden werden können, wenn man in Betracht zieht, dass in der Regel halblaut murmelnd gelesen wurde.26 Ivan Illich gibt in seinem Kommentar zu Hugo von St. Victors Didascalicon eine Beschreibung dieser Praxis, die seiner Meinung nach von der Mitte des 12. Jahrhunderts an zunehmend verloren geht.27 Neben dem murmelnden Lesen sind in der monastischen Lesekultur äußere und innere Ruhe und Sich-Zeit-Lassen wichtige Bedingungen für das Gelingen der meditierenden Lektüre. Anselm von Canterbury betont dies im Vorwort zu seinen einflussreichen Orationes sive Meditationes.28 Für Guigo und für die monastische lectio generell ist der Übergang vom aufmerksamen kontinuierlichen Lesen zur Meditation einer bestimmten Stelle Sache der persönlichen Entscheidung. Wenn man von einem Satz oder einer Passage den Eindruck hat, »das könnte etwas Gutes sein« (potest aliquid boni Texten auch Butzer : Pac-man und seine Freunde (1998), und Butzer: Rhetorik der Meditation (2000). 26 Der Text der Scala Claustralium enthält allerdings keine eindeutige Aussage dazu. Der in Guigos Definition des Lesens zentrale Begriff der inspectio hat keine auditive, sondern eine eindeutig visuelle Konnotation. Die meditatio ist bei ihm mentis actio, Verstandestätigkeit. Das »Wiederkäuen«, das auch bei Guigo noch mit ihr verbunden ist, wird nicht als leibliche Praxis thematisiert. Es meint offenbar nicht so sehr repetitives Murmeln als vielmehr die Interpretation des Textes in mehreren Durchgängen. Die sinnliche Intensität der Lektüre ist freilich nicht unbedingt auf das halblaute Lesen angewiesen. Sie wird bei Guigo allein schon durch den ausgiebigen rhetorischen Einsatz eines alle Sinne ansprechenden Vokabulars evoziert. 27 »Die Ohren des Lesers sind aufmerksam und mühen sich ab, das aufzufangen, was sein Mund äußert. So wird die Buchstabenfolge unmittelbar in Körperbewegungen umgewandelt, und sie strukturiert die Nervenimpulse. Die Zeilen sind wie eine Tonspur, die mit dem Mund aufgenommen und vom Leser für das eigene Ohr wiedergegeben wird. Die Seite wird durch das Lesen buchstäblich einverleibt.« Illich: Im Weinberg des Textes (1991) 57. 28 »Die folgenden Gebete und Meditationen wurden herausgegeben, um den Geist des Lesers zur Gottesliebe oder Gottesfurcht bzw. zur Selbsterforschung anzuregen. Sie sind nicht im Alltagslärm zu lesen, sondern in Ruhe; nicht überfliegend und schnell, sondern nach und nach mit einer aufmerksamen, verweilenden Meditation.« Anselm von Canterbury, Tomus II, 3: Orationes sive meditationes quae subscriptae sunt, quoniam ad excitandum legentis mentem ad Dei amorem vel timorem, seu ad suimet discussionem editae sunt, non sunt legendae in tumultu, sed in quiete, nec cursim et velociter, sed paulatim cum intenta et morosa meditatione. Die Ermahnung zu langsamem Lesen wurde nötig, weil die im Lauf des frühen Mittelalters eingeführte Getrenntschreibung der Worte eine größere Lesegeschwindigkeit ermöglichte. Diese Neuerung erleichterte auch das lautlose Lesen so weit, dass es sich im Hochmittelalter durchsetzen konnte. Vgl. dazu Saenger: Space Between Words (1997), in Bezug auf Anselm bes. 203 f.

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esse), soll man die entdeckte Lesefrucht pflücken und in der Meditation zu »kauen« beginnen.29 Meditieren bedeutet dabei zunächst das vertiefte Lesen des ausgewählten Textes durch mehrfache Wiederholung, das dann mit der Anwendung der in der monastischen Exegese üblichen Methoden verbunden wird. Der Text wird in Schlüsselworte zerlegt und diese werden durch Gedächtnisarbeit mit anderen Bibelstellen verknüpft, die dieselben Begriffe enthalten.30 Die memorierten Stellen gilt es unter Einsatz rhetorischer Mittel kunstvoll miteinander zu verweben, sodass eine metaphernreiche improvisierte Rede entsteht, die die Übenden gleichsam an sich selber richten.31 Man stellt den Text in immer weitere Sinnbezüge, steigert die emotionale Berührtheit und zieht Konsequenzen für die eigene Lebensführung. Die ausgewählte Stelle wird so zum Spiegel des Meditierenden, zum Medium der Selbstprüfung und Selbsterkenntnis. Mit dieser Lesehaltung steht die Scala Claustralium in einer langen europäischen Tradition.32 Der in der Meditation geschehende Prozess der Selbsterkenntnis führt zu der für die lectio divina essentiellen Erfahrung der compunctio, womit die emotionale Wurzel der aus dem Lesen hervorgehenden Transformation des Lesenden bezeichnet wird. Das Wort compunctio war ursprünglich die medizinische Be29 Guigo II: Epistola (1970) 86.56. 30 Diese Art der Textmeditation war bereits in der hellenistischen Philosophie bekannt. In Ep. 108 der Epistulae morales zeigt Seneca, wie in der stoischen Textmeditation das wortweise Betrachten eines Spruches oder Textes auf grammatische und philologische Interpretationstechniken aufbaut, dann aber über sie hinausgeht, weil die Aufmerksamkeit ganz auf die Gewinnung und Verinnerlichung praktischer Weisheiten gerichtet wird, um damit die Lebensführung positiv zu beeinflussen. Vgl. dazu Rabbow: Seelenführung (1954) 218 – 221, und Gladigow: ›Lesbarkeit der Religon‹ (2005) 277. Einflüsse aus der nicht-christlichen Antike auf die Meditationsweise der mittelalterlichen Mönche sind sehr wahrscheinlich, da ihre Ausbildung im Trivium (Grammatik, Dialektik, Rhetorik) sie mit einschlägigen Quellen vertraut machte. Im 12. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Scala Claustralium, erreichte, nebenbei gesagt, die Popularität Senecas im Mittelalter ihren Höhepunkt. Vgl. Colish: The Stoic Tradition (1985) 17. Die Beziehungen zwischen philosophischer und monastischer Lesekultur warten darauf, noch gründlicher erforscht zu werden. 31 Es lag nahe, von dieser Art der Meditationsübung zum Aufschreiben der Meditationen überzugehen. Sowohl von Guigo II wie auch von anderen mittelalterlichen Autoren aus dem monastischen Bereich sind denn auch schriftlich festgehaltene meditationes überliefert, die wiederum als Vorlagen und Inspirationsquellen für die Praxis dienten. Es ist dies ein weiteres Beispiel für das enge Zusammenspiel von Lektüre- und Schreibpraktiken, die Moser in seiner groß angelegten Studie zu vormodernen Formen schriftgestützter Subjektivität untersucht. 32 »Bis weit in die Neuzeit hinein ist die Problematik der Selbsterkenntnis an die Tätigkeit des Lesens gekoppelt. Das Individuum, das die Wahrheit seines Selbst ergründen will, wendet sich diesem nicht direkt zu, sondern rekurriert auf das Hilfsmittel des Buches. Der Kirchenvater Aurelius Augustinus bringt die enge Verbindung zwischen Selbsterkenntnis und Lektüre dadurch zum Ausdruck, daß er die Bibel mit einem klaren Spiegel vergleicht […]. Der Spiegel der Schrift führt dem Leser vor Augen, wie seine Seele beschaffen sein sollte; er zeigt ihm aber zugleich auch auf, wie es tatsächlich um sie bestellt ist.« Moser : Buchgestützte Subjektivität (2006) 1.

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zeichnung für einen stechenden körperlichen Schmerz.33 Die übliche deutsche Übersetzung mit »Zerknirschung« trifft das Gemeinte nicht genau. Von Cassian, Benedikt von Nursia, Gregor dem Großen und Isidor von Sevilla angefangen, ist damit in der Mönchstheologie ein oft mit Tränen verbundener emotionaler Stich, Stoß oder Schock gemeint, der den Übenden dafür öffnet, sein Leben zu ändern und die Schau Gottes zu suchen.34 Neben der Metapher des Stiches wird diese Erfahrung oft auch mit Wörtern aus dem semantischen Feld von »Hitze«, wie etwa »Glut, Feuer, Brennen, Entzündet-Werden«, umschrieben.35 Die compunctio kann ein Reueschmerz in Bezug auf begangene Sünden sein oder aber die Regung brennender Liebe zu Gott und die Sehnsucht nach ihm, wie das in der Scala Claustralium vor allem der Fall ist.36 Guigo verwendet den Begriff compunctio zwar nicht, aber seine Beschreibung der durch die meditatio hervorgerufenen Verfassung entspricht dem, was man traditionell darunter versteht, genau. Die compunctio ist mit dem Bewusstsein verbunden, dass die als notwendig eingesehene Veränderung des Lebens nicht aus eigener Kraft zu schaffen ist. Dies leitet über zur nächsten Stufe der Übung, zum Bittgebet, in dem um Gottes Hilfe bei der moralischen Besserung bzw. um die Gnade der Gottesschau gebeten wird. Die oratio ist mit Seufzern und Tränen verbunden, die, wie in der Tradition üblich, als Reinigungsprozess und als erstes Anzeichen für das Wirken des Heiligen Geistes verstanden werden.37 Im Zuge des Betens tritt die höchste Stufe der Übung, die contemplatio, ein.38 33 Vgl. zur compunctio und ihrer Rolle in der lectio divina Leclercq: Wissenschaft und Gottverlangen (1963) 39 – 41. Der compunctio kam auch eine Schlüsselfunktion beim Gebet und besonders in der Praxis des Psalmengesangs zu; ein Beispiel dafür, wie die verschiedenen Formen monastischer Praxis dieselben existentiellen Vollzüge anregten und sich so gegenseitig unterstützten. Vgl. zum Psalmengesang Lochner: Source Readings (1991) 72 – 74, 76 f. 34 Vgl. dazu Benke: Die Gabe der Tränen (2002) 48 – 53, 103 – 123, und Pegon: Componction (1953). 35 Vgl. Benke: Die Gabe der Tränen (2002) 104 – 105. 36 Vgl. Guigo II: Epistola (1970) 90.100 – 92.112. Das Zurücktreten des Reue-Motivs zugunsten der Sehnsucht nach der Gottesschau liegt auch an der Wahl der Bibelstelle, an der Guigo die Stufen der Übung exemplifiziert: »Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen« (Mt 5,8). Indem er die lectio gerade anhand dieser Stelle erklärt, tritt die kontemplativ-mystische Ausrichtung des Lesens gegenüber der moralischen Seite stark in den Vordergrund, was wohl Guigos Absicht entspricht. 37 Siehe Guigo II: Epistola (1970) 96.176 – 100.209. 38 »Der Herr aber […] wartet nicht, bis sie aufgehört hat zu sprechen, sondern unterbricht den Fluss ihres Gebets in der Mitte; plötzlich kommt er herbei und eilt der verlangenden Seele entgegen, vom Tau himmlischer Süße benetzt und mit feinstem Öl gesalbt.« A.a.O., 96.159 – 165: Dominus autem […] non expectat donec sermonem finierit, sed medium orationis cursum interrumpens, festinus se ingerit et animae desideranti festinus occurrit coelestis rore dulcedinis perfusus unguentis optimis delibutus.

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Guigo beschreibt sie mit den traditionellen Metaphern der Schau des göttlichen Antlitzes und der Vermählung des Bräutigams Jesus Christus mit der Seele als seiner Braut.39 Die Stimmung des Übenden schlägt um in außergewöhnliche Freude, ja Seligkeit. Man befindet sich in einer gesteigerten Wachheit, ist nüchtern und berauscht zugleich.40 Die für die normalen Erfahrungen zuständigen Seelenkräfte, Sinneswahrnehmung, Verstand, Gefühl und Wille, die auf den bisherigen Stufen der Übung tätig waren, kommen in einem tiefen Schweigen zur Ruhe.41 Wie bei vielen anderen mittelalterlichen Autoren geschieht auch in der Scala Claustralium die Vereinigung mit Gott in der acies mentis (»Spitze, Schneide des Geistes«, auch übersetzbar als »Blick, Schau des Geistes«), von Guigo auch die »geheime Kammer des Heiligen Geistes« (secretum cubile Spiritus sancti) oder »Geheimnis des Herzens« (secretum cordis) genannt. Gemeint ist damit die höchste Weise des Selbstseins, in der der Mensch nach Auffassung christlicher Mystik seine wahre Identität in der Teilnahme am Leben Gottes empfängt.42 Die Augenblicke dieser Erfahrung gewähren einen Ausblick auf die ewige Seligkeit, die für das Jenseits erhofft wird, und sie entlassen die Übenden gestärkt zur weiteren Praxis der niedrigeren Stufen bzw. zu anderen Tätigkeiten, bei denen es gilt, die in der lectio erworbene Erfahrung zu bewähren.

39 Zu den biblischen Wurzeln und der weiteren Geschichte der Rede von der Schau des göttlichen Antlitzes siehe Engelbert: Anschauung Gottes (31993). Das Braut-Bräutigam-Motiv entstammt der mystischen Interpretation der Liebesgedichte des Hoheliedes, die sich gerade auch im Umfeld Guigos großer Beliebtheit erfreute. Mehr dazu bei Turner : Eros and Allegory (1995). 40 Vgl. Guigo II: Epistola (1970) 96.165 – 168. Das Oxymoron »nüchterne Trunkenheit« (sobria ebrietas) lässt sich bereits bei Philo von Alexandrien nachweisen und spielt in der Patristik eine wichtige Rolle. Ambrosius verwendet es oft für die Erfahrung göttlicher Gnade. Über Augustinus fand es weite Verbreitung. Vgl. dazu Lewy : Sobria ebrietas (1929), und Brunner : Sobria ebrietas (Ms. im Internet). 41 Schweigendes Sitzen und Horchen auf das Wort Gottes wird bei Guigo zu Beginn der ersten seiner zwölf Meditationes thematisiert. Vgl. Guigo II: Epistola (1970) 128.30 – 130.53. Ich beziehe es hier auf die Stufe der Kontemplation. Sollte Guigo auch das Lesen, Meditieren und Beten als lautlose Vollzüge konzipiert haben, was – wie gesagt – unsicher ist, dann könnte das alleine und still In-der-Zelle-Sitzen die gesamte Übung charakterisieren. 42 Siehe Guigo II: Epistola (1970) 116.389; 118.628 – 629. Zur Geschichte des Gedankens der acies mentis, die auch unter anderen Bezeichnungen wie z. B. als oculus mentis, apex mentis, abditum mentis etc. bekannt ist und in der deutschen Mystik »Seelengrund« oder »Seelenfunke« genannt wird, vgl. Reiter: Der Seele Grund (1993) 84 – 282; dort auch weitere Literatur.

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2.3

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Der Bezug zur Bibel-Hermeneutik

Zwischen der dargestellten Leseübung und der patristischen bzw. mittelalterlichen Hermeneutik besteht eine enge Beziehung. Das stark leser- und situationsbezogene Interpretieren der Schrift wurde bereits durch hermeneutische Überlegungen der Väterzeit grundgelegt, nach denen die Bibel ein offener Text mit potentiell unendlich vielen Bedeutungen ist.43 Augustinus hält es in diesem Zusammenhang für falsch, die Bedeutung der Texte auf die Intention ihrer menschlichen Autoren zu reduzieren. Das vom jeweiligen Verfasser Gemeinte erschöpfe den Bedeutungsreichtum der heiligen Schriften nicht, der in letzter Instanz auf die unendliche Weisheit Gottes zurückgehe. Es sei, so Augustinus, Gottes Wille gewesen, mit den Worten, zu denen er etwa Moses inspirierte, späteren Lesern ganz andere Wahrheiten zu erschließen als Moses selbst. Gott offenbart sich jedem Leser gemäß dessen jeweiligem Fassungsvermögen und mit einer Botschaft, die seiner Lebenssituation entspricht. Die Mehrdeutigkeit und damit die Vielfalt von möglichen Auslegungen der Bibel wird also als gottgewollt verstanden.44 Dem dadurch legitimierten Spielraum der Interpretation werden durch die regula fidei, den Basiskonsens der christlichen Glaubensgemeinschaft in Bezug auf die zentralen Glaubenswahrheiten, der unter anderem in den Glaubensbekenntnissen formuliert wurde, Grenzen gesetzt und durch die Auflage, die aus der jeweiligen Stelle herausgelesene Auffassung durch andere Stellen stützen zu können. Außerdem bestehen auffällige Ähnlichkeiten zwischen der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn und den Stufen der lectio divina. Diese in hellenistischer Zeit von griechischer Philosophie und jüdischer sowie christlicher Exegese entwickelte Hermeneutik unterscheidet verschiedene Gesichtspunkte, nach denen autoritative Texte (Mythen, heilige Schriften) ausgelegt werden können. Im Mittelalter war eine Einteilung von vier Interpretationsmöglichkeiten vorherrschend, die auf Cassian zurückgeht. Demnach gibt die Auslegung nach dem Literalsinn die wörtliche Bedeutung wieder, die nach Ansicht mittelalterlicher Hermeneutik die Intention des Autors – z. B. des Moses – widerspiegelt und vornehmlich auf historische Begebenheiten Bezug nimmt. Die allegorische Interpretation bezieht eine Stelle auf Jesus Christus und die Kirche (und geht damit besonders im Fall des Alten Testaments über die Autorenintention hinaus). Die 43 Im frühen Mittelalter brachte Johannes Eriugena in De divisione naturae, 560 A, diesen Gedanken auf die bündige Formel »Sacrae scripturae interpretatio infinita est«. 44 Vgl. Augustinus: Confessiones (41980) 729 – 747. Bei Oeming: Biblische Hermeneutik (1998) 11, heißt es zu diesem Abschnitt aus den Confessiones: »Alle wesentlichen Gedanken, die für die gesamte mittelalterliche Hermeneutik grundlegend waren und ihr das gute Gewissen bei der Anwendung der vieldimensionalen Exegese bewahrten, sind hier ausgesprochen […].«

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moralische Auslegung entnimmt dem Text Direktiven für die Lebensführung, und die anagogische Deutung lässt sich schließlich vom Text hinführen zu Einsichten über das eschatologische Heil, zu dessen Erreichen die Lektüre beitragen soll. Die Auslegung stellt insgesamt eine memoria der Erlösung dar, die das Ganze der religiös verstandenen Zeit umfasst: Die Heilsereignisse der Vergangenheit werden mit Bezug auf die Gestaltung des Lebens in der Gegenwart im Licht der endgültigen Zukunft gelesen. Mary Carruthers interpretierte diese Lehre als Zusammenfassung der in der lectio divina zu vollziehenden Übungsschritte.45 Diese Sichtweise hat den großen Vorzug, dass durch sie die Theorie vom mehrfachen Schriftsinn den Anschein verliert, nur eine Aufzählung von bestimmten Bedeutungsschubladen zu sein. Die verschiedenen Schriftsinne werden verständlich als Phasen eines Interpretationsprozesses, bei dem sich im Lauf ritueller Lesepraxis sukzessive unterschiedliche Bedeutungsdimensionen des Textes nicht primär theoretisch erschließen, sondern in emotional ergreifender bzw. kontemplativ schweigender Präsenz leiblich vollzogen werden. Interpretieren ist hier mehr als nur materiellen Zeichen geistige Vorstellungen zuzuordnen. Es hat einen performativen Sinn, »Überführung des Textes in sinnliche Erfahrung, die die Seele formt und die Welt neu Gestalt annehmen lässt«46. Die Textpragmatik steht im Vordergrund. Bei solchem Interpretieren wird der Text gespielt in der Art, wie Musiker Partituren interpretieren.47 Carruthers konkrete Zuordnung der Textsinne zu den Schritten der lectio divina lässt allerdings Fragen offen. Fällt die allegoria wirklich unter die lectio? Bei Guigo erhält man eher den Eindruck, die lectio beschränke sich auf das aufmerksame Lesen des buchstäblichen Sinnes, der auch nicht erst mittels Grammatik und anderer Hilfswissenschaften rekonstruiert werden muss, sondern als bereits konstituiert vorausgesetzt wird. Es macht mehr Sinn, die Allegorese der meditatio zuzuordnen. Sie ist eine Weise des intertextuellen Verbindens von Bibelstellen, das in der meditatio geschieht, und fungiert als Ver45 Carruthers: The Book of Memory (1990) 165: »I think one might best begin to understand the concept of ›levels‹ in exegesis as ›stages‹ of a continous action, and the ›four-fold way‹ (or threefold, as the case may be) as a useful mnemonic for readers, reminding them of how to complete the reading process. ›Littera‹ and ›allegoria‹ (grammar and typological history) are the work of lectio and are essentially informative about a text; tropology and anagogy are the activities of digestive meditation and constitute the ethical aktivity of making one’s reading one’s own.« 46 Largier : Die Kunst des Begehrens (2007) 45. 47 Es ist in der monastischen Literatur üblich, die Seele als psalterium oder cithara zu bezeichnen, deren harmonisches Zusammenspiel mit Gott in der spirituellen Praxis eingeübt wird, was schließlich in der unio mystica mündet. Vgl. dazu Largier : Die Kunst des Begehrens (2007) 62.

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ständnisbrücke, die ansonsten unverständliche, irrelevante oder gar anstößige Stellen über ihre christologische und ekklesiologische Interpretation moralisch auslegbar macht. Im Zentrum der meditatio steht, darin ist Carruthers Recht zu geben, die Tropologie genannte Interpretation der Schrift nach dem moralischen Sinn. Problematisch wird es wieder, wenn sie auch den anagogischen Sinn der meditatio zuordnet. Es ist von der Scala Claustralium und anderen Texten her viel naheliegender, die Anagogie (wrtl. »Aufstieg, Hinaufführung«) auf die contemplatio zu beziehen, die bei Carruthers als eigene Stufe der Textrezeption gar nicht erwähnt wird.48 Als mystische Vereinigungserfahrung gibt sie ja nach monastischem Verständnis einen Vorgeschmack auf das Jenseits. Sie bildet für Guigo die höchste Stufe der Text-Performanz. Wie immer man die Zuordnungen im Einzelnen vornehmen will, die Hermeneutik des mehrfachen Schriftsinns hat ihren existentiellen Ort in der spirituellen Lesepraxis und lässt sich vor diesem Hintergrund am besten verstehen. Auch in buddhistischen Traditionen, denen ich mich im nächsten Abschnitt zuwende, ist die Texthermeneutik eng mit einer transformatorischen Lesepraxis verwoben, die zur Versenkung hinführt.

3.

Lesen als Praxis des Erwachens im Chan und Zen

3.1

Das Verhältnis von Hermeneutik der Schriften und spiritueller Erfahrung im Buddhismus

Im Chan und in anderen Richtungen des ostasiatischen Buddhismus wird vor der Lesung der Su¯tren bzw. vor einem Lehrvortrag folgende ga¯tha¯ rezitiert: »Dem Dharma, unvergleichlich tief und kostbar, begegnet man selten selbst im Lauf von Millionen Jahren. Jetzt sehen wir ihn, hören ihn, nehmen ihn auf und halten ihn ein. Mögen wir die Bedeutung des Tatha¯gata [scil. Buddhas, K.B.] wahrhaft erfassen.«49

Wie Dale S. Wright ausführt, erinnern sich die Praktizierenden durch die Rezitation dieses Verses daran, dass sie »Worte in Händen halten, die aus dem erleuchteten Geist Buddhas hervorgingen, Worte, die aus Mitleid gesprochen wurden, um die Erleuchtung an sie weiterzugeben und sie so aus dem Leid zu 48 Vgl. zu diesem Kritikpunkt Edsall: Reading Like a Monk (2000) 18. 49 Übersetzung nach Suzuki: A Manual of Zen Buddhism (1960) 13. Der Ursprung des Verses ist ungewiss. Man findet ihn bereits im Vorwort der chinesischen Ausgabe des Avatamsa˙ kasu¯tra, die unter Kaiserin Wu (625 – 705 n. Chr.) angefertigt wurde.

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erretten«50.Da die Schriften nach buddhistischer Auffassung die kostbare und selten zu erfahrende Wahrheit enthalten, die Buddha schaute, können sie den Rezipienten als Maßstab und Hilfsmittel für das eigene Erwachen dienen. Die Su¯tren werden also als praktische Anleitung verstanden, als Weg zu der in ihnen artikulierten Sicht der Wirklichkeit. Die Leser sollen ihr Leben danach ausrichten und die vom Buddha repräsentierte befreiende Erfahrung des nirv–na ˙ schrittweise verwirklichen. Da der Buddha die befreiende Einsicht in einem Zustand tiefer Versenkung erlangte, gehen buddhistische Hermeneutiken von Meditationspraxis als höchstem Erkenntnismittel für die Exegese aus.51 Die Frage, wie sich die Autorität der Schriften zur Autorität der durch Meditationspraxis erworbenen spirituellen Erfahrung verhält, wird in der gesamten Geschichte des Buddhismus immer wieder erörtert.52 Das in mehreren Maha¯ya¯na-Schriften zitierte, nur zum Teil im SanskritOriginal erhaltene Catuhpratisaranasu¯tra führt vier Richtlinien (pratisarana, ˙ ˙ ˙ »Zufluchten«) der Interpretation an: Man soll sich erstens bei der Interpretation auf die Lehre in ihrem einsehbaren Wahrheitsgehalt (dharma) nicht auf die Person des Interpreten (purusa) berufen. Zweitens hat der Sinn (artha) Primat ˙ gegenüber dem Buchstaben (vyaÇjana). Des Weiteren ist den in ihrer Bedeutung eindeutigen Texten (nı¯ta¯rtha) Vorrang gegenüber den allegorisch oder figurativ zu verstehenden (neya¯rtha) zu geben. Und viertens soll man sich letztlich auf direkte, intuitive Einsicht (jÇa¯na) stützen und nicht auf diskursives Denken (vijÇa¯na).53 Diesen Prinzipien entspricht das Konzept einer stufenweisen exegetischen Aneignung der in den Texten enthaltenen Wahrheit in der Abfolge von drei prajÇa¯s (Einsichten, Weisheiten), das Parallelen zum oben erörterten Konzept der lectio divina aufweist. Dabei sollen aus der im Vertrauen auf ihre Wahrheit erfolgenden lesenden bzw. hörenden Aufnahme der buddhistischen Lehren zuerst durch diskursives Nachdenken Einsichten entstehen, aus denen dann die höchste, in der Versenkung verwirklichte Erkenntnis hervorgeht. Der locus classicus hierfür ist Vasubandhus Kommentar zu Abhidharmakos´a 6.5.54

50 Wright: Ko¯an History (2000) 203. 51 Siehe zur reichen Tradition buddhistischer Hermeneutik Gómez: Buddhist Literature (1987), und den Sammelband von Lopez: Buddhist Hermeneutics (1992). 52 Siehe dazu Zhiru: Scriptural Authority (2010). 53 Vgl. Lamotte: Assessment of Textual Interpretation in Buddhism (1992). 54 »Wer die Wahrheiten schauen will, der soll zuerst die Sittlichkeitsregeln einhalten. Dann liest er die Lehre, von der sein Schauen der Wahrheiten abhängt, oder er hört ihre Bedeutung. Nachdem er gehört hat, reflektiert er auf richtige Weise darüber. Nachdem er reflektierte, widmet er sich der Kultivierung der Meditation. Auf der Grundlage der Weisheit, die durch die Belehrung entsteht (s´rutamayı¯), entwickelt sich die aus reflektierendem Nachdenken

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Der Bezug auf das sittliche Verhalten als Voraussetzung für das Hören und Lesen der Lehre zeigt, dass sie nicht als bloßer Erwerb von Informationen verstanden wird. Die in der sprachlichen Mitteilung enthaltene Wahrheit soll existentiell realisiert werden, was nur möglich wird, wenn die durch die buddhistischen Tugenden umschriebene Grundhaltung im Leser schon zu einem gewissen Grad lebendig ist und seine Erkenntnisfähigkeit nicht zu sehr durch Begehren und Anhaften getrübt wird. Das eigenständige diskursive Durchdenken der gelesenen bzw. gehörten Auffassungen mündet in einen Zustand der Versenkung, der intuitive Einsichten ermöglicht. Diese von der Lektüre oder vom Lehrvortrag ausgehende Meditationspraxis gehört dem seit dem frühen Buddhismus als vipas´yana¯, Einsichts-Meditation, bekannten Typ an und wird von ´samatha unterschieden, einem Meditieren, bei dem man die Entfaltung nicht-diskursiver innerer Ruhe und Gedankenstille übt. Traditionell versuchte man, eine Balance zwischen beiden Formen der Praxis zu finden.

3.2

Die Kritik des Chan am buchstabenfixierten buddhistischen Gelehrtentum

Auch im Chan-Buddhismus gab es neben dem stillen Sitzen Formen von Lektüre, die mit Meditationspraxis vom vipas´yana¯-Typ (chin. kuan) verbunden waren.55 Doch im Zuge der Entwicklung dieser Tradition wurden Lesen und Erleuchtung, Textstudium bzw. gedankliche Reflexion und Meditation, literarische Welt und unmittelbare Erfahrung zunehmend als Gegensätze konstruiert. Das nicht im frühen Chan, sondern erst ab dem 8. Jahrhundert nachweisbare »Keine Abhängigkeit vom geschriebenen Buchstaben, eine spezielle Überlieferung außerhalb der Schriften« geriet zum Motto der gesamten Bewegung. In keiner anderen buddhistischen Tradition wurde der Rang religiöser Literatur dermaßen stark in Frage gestellt. Ein bekannter Meister wie Linji bezeichnete etwa die Su¯tren als »Kothaufen« und »wertlosen Staub«.56 Wright weist auf den historischen Hintergrund der Chan-Kritik am textorientierten Buddhismus hin.57 China, das Land, in dem der Buchdruck erfunden worden war, hatte zur Zeit der Einführung des Buddhismus die wahrscheinlich hervorgehende Weisheit (cinta¯mayı¯). Auf dieser Grundlage wiederum entsteht die Weisheit, die aus Meditation hervorgeht (bha¯vana¯mayı¯).« Vasubandhu, Abhidharmakos´abha¯sya 334.16 – 19 nach der englischen Übersetzung von ˙¯rti’s Religious Philosophy (2007) 453. Eltschinger : Studies in Dharmakı 55 Vgl. Wright: Philosophical Meditations on Zen Buddhism (1998) 209 f.; Foulk: The Form and Function of Koan Literature (2000) 23. 56 Vgl. Wright: Empty Texts/Sacred Meaning (2003) 261. 57 Vgl. a .a. O., 262 – 264.

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am stärksten an Texten orientierte Kultur der Welt. Das wirkte sich auch auf die religiöse Sphäre aus und besonders auf den Buddhismus, eine seit langer Zeit hochgradig verschriftlichte Religion, die mit einer immensen Fülle an Literatur im Gepäck ins Land kam. Elaborierte Kulturtechniken des Lesens und Schreibens gehörten im chinesischen Buddhismus zur Grundlage des monastischen Lebens. Jahrhundertelang wurde an der Übersetzung des buddhistischen Schrifttums gearbeitet, mit dem Ergebnis, dass der auf Chinesisch überlieferte buddhistische Kanon schließlich zum umfangreichsten aller erhaltenen Textsammlungen wurde. Während der Tang-Dynastie des siebenten und achten Jahrhunderts, als sich der Buddhismus in China durchsetzte, bildeten schriftgelehrte Mönche die dominante buddhistische Gruppe.58 Es gab Spezialisten für die Übersetzung, den Vergleich und die Interpretation der Schriften und Experten für die geschichtliche Herkunft und Klassifizierung der Su¯tren. Vonseiten der chinesischen Regierung wurden strenge Prüfungen in Bezug auf die Schriftkundigkeit der Mönche durchgeführt (mit dem Hintergedanken, damit die Zahl der Klosterinsassen, die von der Steuer befreit waren, zu verkleinern). Dabei mussten die Mönche und Nonnen große Textmengen memorieren bzw. fehlerfrei vorlesen können.59 Primäres Ziel der Kritik des Chan war die Lesekultur der Mönchs-Gelehrten und buddhistischen Intellektuellen, die den Stolz des samgha darstellten. Die ˙ Chan-Meister sahen sich mit einem intellektuellen Milieu konfrontiert, in dem ihrer Ansicht nach Buchgelehrsamkeit zum Selbstzweck zu geraten drohte. Man bestand darauf, dass die Kenntnis davon, was die Su¯tren über das Erwachen sagen und das Erwachen selbst zwei verschiedene Dinge sind und dass Meditationspraxis und nicht Gelehrtentum die Basis des buddhistischen Heilswegs bilden. Die chinesischen Begriffe, die der Chan für das veräußerlichte Wissen gebrauchte, waren die konfuzianischen Ausdrücke zhi (Wissen) und xue (Gelehrtheit). Als Alternative dazu wurden mehrere daoistische Termini für intuitive Wahrnehmung und unmittelbare Schau ins Feld geführt.60 Die Auseinandersetzung zwischen Daoismus und Konfuzianismus diente damit z. T. als Folie für diese innerbuddhistischen Querelen. Die Verminderung der Autorität der Schriften, die mit der Schriftlichkeits-Kritik des Chan verbunden war, wurde davon begünstigt, dass der Buddhismus in Indien während des 7. und 8. Jahr-

58 Vgl. Wright: Philosophical Meditations on Zen Buddhism (1998) 28, und Wright: Empty Texts/Sacred Meaning (2003) 263. 59 Vgl. Wright: Empty Texts/Sacred Meaning (2003) 264. 60 Vgl. a. a. O., 265 f. Auch die im indischen Buddhismus z. T. sehr diffizil gewordenen Unterscheidungen von geistigen Zuständen und verschiedenen Stufen der Meditations-Übung wurden im Chan durch vergleichsweise einfache daoistische Konzepte wie Nicht-Denken (wu-nien) und Nicht-Bewusstsein (wu-hsin) ersetzt. Vgl. dazu Brück: Zen (22007) 10.

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hunderts bereits an Glanz verlor und der Einfluss indischer Schriften in China geringer wurde.61

3.3

Die spirituelle Lesekultur des Chan

Soviel zur Charakterisierung der Situation, in der die Polemik des Chan gegen das Lesen aufkam. Angesichts dieser Kritik bleibt jedoch zu bedenken, dass die Chan-Tradition selbst das »bei weitem umfangreichste und am besten ausgeklügelte Textkorpus des ostasiatischen Buddhismus«62 hervorbrachte. In der neueren Literatur wird zudem herausgearbeitet, dass ihr Verhältnis zu den Schriften wesentlich komplexer ist, als es die markigen Sprüche alter und neuer Meister vermuten lassen.63 Die Bibliophobie, wie sie in den Hagiografien der Chan-Meister anzutreffen ist, entspricht nicht der monastischen Praxis. Bibliotheken und eigene Hallen für die Su¯tren-Lektüre waren in den Chan-Klöstern nicht anders als in den anderen buddhistischen Klöstern Chinas feste Einrichtungen.64 Das Chanyuan quinggui (»Regeln der Reinheit für das ChanKloster« aus dem Jahr 1103) enthält Verhaltensregeln für die Bibliothekare, die das Lesen der Schriften erleichtern sollen und Vorschriften für das Lesen der Schriften in der Lese-Halle.65 Der Chan-Buddhismus war zwar nicht wie andere buddhistische Schulen mit einem bestimmten Su¯tra als Grundtext verbunden, aber viele seiner Meister besaßen profunde Kenntnisse in der Literatur des Maha¯ya¯na und im Tripitaka. ˙ Die Lehre von einer direkten Weitergabe der Überlieferung außerhalb der Schriften und die daraus folgende Unabhängigkeit von der Text-Tradition führte in keiner Phase des Chan dazu, dass die Verbindung zum verschriftlichten Buddhismus tatsächlich verloren ging. Sie diente vielmehr dazu, sich in bestimmter Weise auf etabliertes Schrifttum des Maha¯ya¯na zu beziehen und dadurch die neuen Lehren als berechtigt auszuweisen. Mit David W. Chappell

61 Vgl. a. a. O., 27 f. 62 Wright: Empty Texts/Sacred Meaning (2003) 261. Siehe zum Thema auch die ausführlichen Überlegungen in Wright: Philosophical Meditations on Zen Buddhism (1998) 20 – 40. 63 Siehe dazu etwa das Kapitel »Chan and Language: Fair and Unfair Games« in Faure: Chan Insights and Oversights (1993) 195 – 216, sowie Park: Zen and zen philosophy of language (2002), Zong: Three Language-Related Methods (2005), und Elberfeld: Aspekte philosophischer Textpragmatik in Ostasien (2006), bes. 29 – 37. 64 Siehe dazu den Überblick über die Einrichtungen der buddhistischen Hauptklöster zur Zeit der südlichen Song-Dynastie (1127 – 1279) und den Grundriss eines Chan-Klosters aus dieser Zeit in Do¯gen: Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (2001 – 2008, Band 1) 319 – 323. 65 Vgl. Welter : Buddhist Rituals (2008) 126.

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lassen sich aus dem Prinzip direkter Weitergabe der Lehre vier hermeneutische Prinzipien ableiten: 1. Die Vorrangstellung des erleuchteten Meisters, der als einziger die Schriften adäquat auslegen kann und ihren Sinn in direktem Kontakt mit den Schülern weitergibt. Daraus folgt die Wichtigkeit der Konstruktion von Transmissionslinien, die bis zu Gautama Buddha zurückreichen, für die Konstitution religiöser Autorität und legitimer Auslegung. 2. Eine gewisse Freiheit gegenüber der schulmäßigen Auslegung und der buchstäblichen Bedeutung des Textes. 3. Die Idee, dass die Texte einen zentralen, grundlegenden Sinn haben: die auf diskursivem Weg weder verstehbare noch vermittelbare Erfahrung des Erwachens. 4. Die Auffassung, dass dieser zugrunde liegende Sinn in allen authentischen buddhistischen Schriften derselbe ist.66 Aus diesen Grundprinzipien der Auslegung ging eine Lesart der Su¯tren hervor, die sich in konkreten Meister-Schüler-Beziehungen entfaltete. Die oft ritualisierte, direkte Begegnung mit einer autorisierten Person, die zugleich als Meditationslehrer fungierte und die den Text mündlich kommentierte, war ein das Lesen der Su¯tren prägendes Kommunikationsgeschehen. Sie wurden offenbar nicht Satz für Satz interpretiert, und es wurde auch nicht der Versuch unternommen, einem Text als Ganzem gerecht zu werden.67 Vielmehr stützte man sich auf ausgewählte Kernaussagen, die geeignet erschienen, den Schüler zur Buddha-Weisheit erwachen zu lassen. Diese Stellen wurden mit Hilfe von oft überraschenden poetischen Wendungen und performativen Elementen so in die Dialog-Situation eingebracht, dass die rein kognitive, intellektuelle Interpretation durchbrochen wurde. Die »große Sache« (ta-shih) des Chan, von der man glaubte, dass ihr weder Worte noch Schweigen gerecht zu werden vermögen, konnte in dieser Art Kommunikation aufscheinen, ohne direkt genannt zu werden. Es spricht einiges dafür, dass der Chan-Buddhismus hierin seine Meditationspraxis mit dem alten und in China weit verbreiteten Brauch des spielerischen Poesie-Wettkampfs verband, wo eine Person einen anspielungsreichen Vers vortrug und die andere sofort daran anschließend mit einem dazu passenden Vers zu antworten hatte, der ebenfalls das, worum es ging, nicht direkt, sondern in Anspielungen zu Wort brachte.68 Aller Lektüre-Kritik zum Trotz kann im Chan auch abseits der direkten Meister-Schüler- bzw. Meister-Meister-Kommunikation das Lesen zur Praxis 66 Vgl. Chappell: Hermeneutical Phases in Chinese Buddhism (1992) 193 f. 67 Vgl. a. a. O., 195. 68 Vgl. dazu So¯gen Hori: Zen Ko¯an Capping Phrase Books (2006).

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des Erwachens werden, und es werden Anleitungen zu einer diesem Zweck angemessenen Lesehaltung gegeben. Eine Stelle aus Huangbos »Das Wesen der Geist-Übertragung« (Huangboshan duanji chanshi zhuanxin fayao) weist in diese Richtung. Dort sagt der im Übrigen sehr belesene und oft aus Maha¯ya¯naSu¯tren zitierende Meister : »Einige unter den Alten hatten einen scharfen Verstand. Kaum hatten sie die Lehre gehört, beeilten sie sich auch schon, alle Gelehrtheit abzutun. […] In unseren Tagen wollen die Menschen sich nur mit Wissen und Schlußfolgerungen vollstopfen und suchen überall nach Buchwissen. Dies nennen sie ›Dharmapraxis‹. Sie wissen nicht, daß so viel Wissen und Schlußfolgerungen genau den entgegengesetzten Erfolg haben und nur Hindernisse aufrichten. Wenn du nur Wissensmengen anhäufst, gleichst du einem Kind, das durch zu viel Essen von Süßigkeiten Verdauungsstörungen bekommt. […] Werden sogenanntes Wissen und Schlußfolgerungen nicht verdaut, dann werden sie zu Giften, denn sie gehören nur zur Ebene des Samsa¯ra. […] Alle Begriffe, die du in der Vergangenheit gebildet hast, müssen abgetan und durch die Leere ersetzt werden.«69

Dieser Text ist auch deshalb interessant, weil die Kritik am vergegenständlichenden gelehrten Lesen und Lernen hier anhand der Speisemetapher vorgebracht wird, die – wie schon erwähnt – in der europäischen Geschichte des spirituellen Lesens eine wichtige Rolle spielt. Es wird nicht Belesenheit an sich kritisiert, sondern nur eine solche, die den Lesestoff nicht »verdaut« und den die Person verwandelnden Erkenntnisprozess durch Vielwisserei blockiert. In der christlich-monastischen Lesekultur war diese Gefahr ebenfalls bekannt. Die ruminatio, das Wiederkäuen, war gerade darauf gerichtet, den Lesestoff existentiell zu assimilieren. Huangbo versteht die Schriften als Hilfsmittel für bestimmte Strecken des Weges. Anstatt an ihnen und an der eigenen Buchgelehrtheit festzuhalten, sollte man sie in ihrer relativen Bedeutung durchschauen und sich durch die rechte Lesehaltung vom Su¯tra dorthin führen lassen, wo in der Erfahrung der Leerheit die gedanklichen Aktivitäten zur Ruhe kommen. Eine Geschichte aus der berühmten Sammlung »Aufzeichnung von der Weitergabe der Leuchte« (Jingde Chuandenglu) geht in dieselbe Richtung.70 Auffallend an der kleinen Szene ist zunächst, dass die Lektüre eines Su¯tras durch Meister Zhen als selbstverständliche Angelegenheit betrachtet wird. Das 69 Huang-po: Der Geist des Zen (1983) 67 f. 70 »Als der Meister [Zhen] in den Su¯tras las, fragte ihn der Minister Zhen Zao: ›Meister, welches Su¯tra lest Ihr gerade?‹ Der Meister antwortete: ›Das Diamant-Su¯tra.‹ Der Minister fuhr fort: ›Das Diamant-Su¯tra ist in der sechsten Dynastie wiederholt übersetzt worden. Welche Ausgabe benutzt Ihr?‹ Der Meister hob das Buch in die Höhe und sagte: ›Alle Dinge, die durch Verursachung entstanden sind, sind nur ein trügerischer Traum und der Schatten einer Seifenblase.‹« Zit. nach Chang: Zen (2000) 179.

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Text-Studium ist offenbar nicht nur etwas für Anfänger, geschweige denn überhaupt entbehrlich. Sein Sinn wird – wenigstens an dieser Stelle – auch im Fall eines anerkannten Meisters nicht in Frage gestellt. Das Hochhalten des Su¯tras durch den Meister ist ein Zeichen der Ehrerbietung. Dies bestätigt die Auffassung, dass sich die Chan-Kritik nicht gegen das Lesen an sich, sondern nur gegen eine bestimmte Lektüre-Praxis richtete. Der Minister wird als typischer chinesischer Beamten-Gelehrter gezeichnet, der sich im kritischen Vergleichen der verschiedenen Ausgaben der Su¯tren auskennt.71 Meister Zhen geht auf die Frage des Ministers nach der von ihm benutzten Text-Ausgabe nicht ein. Er scheint vielmehr abrupt das Thema zu wechseln und folgt damit der im Chan entwickelten Rhetorik der Unterbrechung.72 Würde er dem Minister eine erwartungsgemäße Antwort geben, führte er nur den aus seiner Sicht oberflächlichen Diskurs über den Text weiter. Der überraschende Verstoß gegen die Regeln des Frage-Antwort-Sprachspiels soll den Minister dazu motivieren, die Prämissen seiner vergegenständlichenden Lektüre-Praxis fallen zu lassen. Die Antwort Zhens bezieht sich gleichwohl auf das Diamant-Su¯tra, wenn auch nicht auf die mit ihm verbundenen philologischen Probleme. Die Ausdrücke »Traum«, »Schatten« und »Blase« stehen im Su¯tra als Metaphern dafür, auf welche Weise alle Dinge – einschließlich der buddhistischen Texte selbst – aufgefasst werden sollen: als unbeständig, vorläufig und in wechselweiser Abhängigkeit entstanden, in buddhistischer Terminologie also als »leer« (s´u¯nya) von »Eigensein« (svabha¯va). Am Schluss des Su¯tras, den Zhen in seiner Antwort zitiert, heißt es, man solle es anderen lehren, indem man nicht an Zeichen festhält, sondern bei den Dingen bleibt, wie sie von sich aus sind. Dann folgt der Vers: »Alle bedingten Phänomene Sind wie ein Traum, eine Illusion, eine Blase, ein Schatten Wie Tau oder wie der Blitz So soll man sie wahrnehmen.«73

Meister Zhen kommt mit seiner Antwort dieser Aufforderung nach. Anstatt an den Zeichen festzuhalten und die verschiedenen Ausgaben des Su¯tra zu diskutieren, lehrt er die pragmatische Dimension des Textes, den Vollzug, den er im Leser hervorrufen soll, indem er auf die Dinge in ihrer Nichtsubstantialität 71 Vgl. Wright: Empty Texts/Sacred Meaning (2003) 266. 72 Vgl. zu dieser rhetorischen Figur und anderen im Chan üblichen rhetorischen Mitteln Wright: Philosophical Meditations on Zen Buddhism (1998) 82 – 99. Sehr ähnlich unterscheidet Elberfeld: Aspekte philosophischer Textpragmatik in Ostasien (2006) 32 f., verschiedene »Wirkformen« des Textes bzw. »Textpragmatiken« im Chan. Die stilistischen Eigenarten der Texte dürften zu einem großen Teil auf rhetorische Figuren zurückgehen, die in der mündlichen Kommunikation zur Anwendung kamen. 73 Diamant-Su¯tra 32 nach der Übersetzung von Charles Muller.

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verweist, die zugleich transparent ist für die erlösende Wirklichkeit des nirva¯na. ˙ Mit diesem Verweis wird seinem Gesprächspartner nicht eine Text-Bedeutung präsentiert, die mit ihm nichts zu tun hat, sondern er wird in seinem Selbstverständnis in Frage gestellt.74 Es geht in der pragmatischen Dimension des Diamant-Su¯tras um die gemeinsam mit der Erkenntnis der »Leerheit« aller Dinge (inklusive der Texte) zu verwirklichende eigene »Leerheit«. Der Text ist dazu da, den Lesenden selbst zu transformieren, ihn – buddhistisch gesprochen – »erwachen zu lassen«. Das bloß gelehrte Verhältnis zum Text geht an dieser Sinndimension vorbei. Durch historische Objektivierung wird der Text auf Abstand gehalten, der Leser lässt sich nur so weit auf das in ihm Gesagte ein, als es die Rolle des neutralen Forscher-Subjekts erlaubt, das nach neuen Informationen sucht, Übersetzungen vergleicht, den Text in verschiedene Kontexte einordnet etc. Anders beim Su¯tra-Studium, wie es in der Chan-Tradition gepflegt wird. Hier geht es »nicht um ein ›Wissen‹ über die Su¯tren, nicht einmal darum, sie zu ›verstehen‹, sondern vielmehr darum, ihre Weisheit zu verkörpern, indem man ihren Referenten, das worauf sie hinweisen, erfährt«75. Im Vordergrund steht nicht eine stufenweise über die diskursive Reflexion des Textes laufende Vertiefung wie in der älteren buddhistischen Hermeneutik, sondern das augenblickliche, intuitive Gewahrwerden der zentralen Botschaft des Textes und ihre ebenso augenblickliche, intuitive Anwendung auf die nächsten Dinge.76 Die zu praktizierende Lektürehaltung beruht nicht auf Akten des Willens, des Ergreifens und der Inbesitznahme des Textes oder seiner Bedeutung. »Stattdessen wird das meditative Lesen zu einem Prozess der Öffnung über die Reichweite des Willens des Lesenden hinaus, eine Öffnung für all das, was der Text enthüllen mag, und darüber hinaus für jene Transformation im Lesenden, die diese Enthüllung hervorbringen kann.«77

Unterstützt wird diese Art des Lesens durch intensive, nicht durch Texte gestützte Meditationspraxis, in der dieselbe Grundhaltung nichtdiskursiver Offenheit und Wachheit entwickelt wird, die Voraussetzung und zugleich Ergebnis der rechten Su¯tren-Lektüre ist.

74 Vgl. die Überlegungen zur Textpragmatik im Chan bei Elberfeld: Aspekte philosophischer Textpragmatik in Ostasien (2006). 75 Wright: Philosophical Meditations on Zen Buddhism (1998) 30. 76 Vgl. Wright: Empty Texts/Sacred Meaning (2003) 267. 77 A.a.O., 271.

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3.4

Meister Do¯gen über das Lesen als Zenpraxis

Ein Blick auf Do¯gen Zenji (1200 – 1253), der sich ausführlich mit der Frage des rechten Lesens befasste, zeigt nicht nur, dass dieselbe Lesekultur im japanischen Zen gepflegt wurde, sondern dass Do¯gen darüber hinaus das Textstudium als Medium der Vermittlung des Buddha-Dharma schätzt wie kaum ein anderer Chan- oder Zen-Meister. Zunächst schaut es allerdings gar nicht danach aus. In seiner ersten, gleich nach der Rückkehr aus China verfassten Schrift Fukanzazengi (»Allgemeine Lehren zur Förderung des Zazen«) positioniert sich Do¯gen als Reformator, der die seiner Meinung nach vernachlässigte Übung des Nur-Sitzens (shikantaza) als Inbegriff des buddhistischen Weges predigt und das Übergewicht eines rein kognitiven Zugangs zur Lehre des Buddha kritisiert. Er schließt sich damit der Chan-Polemik gegen das Schriftgelehrtentum an. »Der große Meister Bodhidharma, der das Siegel der Erleuchtung überlieferte, hinterließ das Vorbild der neunjährigen Wandbetrachtung. So taten die Heiligen von alters her. Weshalb üben heute die Leute nicht mehr? Laß also davon ab, intellektuelle Erklärungen zu suchen und Worten nachzujagen! Lerne das Licht sich zurückwenden und auf die eigene Natur scheinen zu lassen! Von selbst fallen Leib und Seele aus, und das ursprüngliche Antlitz erscheint.«78

Die Wendung »Leib und Seele fallen aus« (shinjin datsuraku) stammt von einem chinesischen Lehrer Do¯gens. Als er sie zum ersten Mal hörte, erlangte Do¯gen eine für ihn entscheidende Erleuchtungserfahrung. Er gebrauchte diese Formulierung zeitlebens zur Bezeichnung des satori (»Erleuchtung, plötzliches Verstehen, intuitive Einsicht«) – auch an einer Stelle des Kapitels Bendowa (»Ein Gespräch über die Praxis des Zen«) aus dem Sho¯bo¯genzo¯, die dezidiert gegen das Lesen gewandt zu sein scheint: »Nach der ersten Begegnung mit einem wahren Lehrer ist es nicht [mehr] notwendig, Räucherwerk zu verbrennen, sich zu Boden zu werfen, Buddhas Namen zu rezitieren, [seine eigenen Fehler] zu bekennen oder Su¯tren zu lesen. Sitzt nur richtig und erlangt den Zustand, in dem ihr Körper und Geist fallen lasst.«79

Wird diese Stelle isoliert betrachtet, kann sie den falschen Eindruck erwecken, man solle die außer dem Sitzen erwähnten Praktiken, die der monastischen Lebensweise im chinesischen Buddhismus der Song-Zeit entsprechen, völlig aufgeben. Es handelt sich aber nicht um eine wörtlich zu nehmende konstatierende Aussage, sondern in erster Linie um eine Preisung der überragenden 78 Zit. nach Do¯gen: Allgemeine Erklärungen zur Förderung des Zazen (1990) 38. 79 Do¯gen: Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (2001 – 2008, Band 1) 29. Wenn im Folgenden von Kapiteln die Rede ist, bezieht sich dies immer auf Kapitel des Sho¯bo¯genzo¯, das ich in der Übersetzung von Linnebach und Nishijima-Ro¯shi verwende.

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Bedeutung von shikantaza. Wie sonst nämlich sollte man das Faktum erklären, dass die anderen Formen mönchischer Praxis allesamt von Do¯gen an anderen Stellen des Sho¯bo¯genzo¯ ausdrücklich empfohlen werden?80 Auch wäre es schwer zu verstehen, wieso im Eihei Shingi, dem Buch, das Do¯gens Regeln für das Zusammenleben im Kloster enthält, ein Kapitel über die Lese-Halle enthalten ist.81 Andernorts führt Do¯gen die oben zitierte Stelle auf einen Ausspruch seines früheren chinesischen Meisters zurück. Er interpretiert dort die behauptete Überflüssigkeit des Studiums damit, dass das, was man »Lesen der Su¯tren« nenne, in Wirklichkeit eine Herabsetzung der Su¯tren darstelle, während das wahre Su¯tren-Lesen nicht als »Lesen« bekannt sei.82 Damit wird die Negation des Lesens zurückgenommen auf die Kritik an einer bestimmten Art des Lesens. Und in dem in Gesprächsform geschriebenen Bendowa reicht er noch eine Klarstellung bezüglich seiner Einschätzung der Bedeutung des Lesens nach. Auf seine Darlegungen hin wird nämlich (offenbar von Seiten der Zuhörenden) der Einwand geäußert, das Lesen der Su¯tren sei doch eine Bedingung und Ursache für das große Erwachen, das durch »müßiges Sitzen« allein nicht erreicht werden könne. Darauf antwortet er zunächst, zazen sei keine bloße Untätigkeit oder so etwas wie eine Vorübung, sondern stelle bereits das Erwachen der Buddhas dar. Dann fährt er fort: »Es macht mich traurig zu denken, dass nur das Bewegen der Zunge und das Erheben der Stimme die Wirkung einer Buddha-Tat haben soll. Vom Buddha-Dharma sind [solche Dinge] weit entfernt. Außerdem lesen wir die Su¯tren, um die Maßstäbe der Praxis für das plötzliche und allmähliche Erwachen, die der Buddha lehrte, zu verstehen. Jene, die der Lehre entsprechend praktizieren, werden auf jeden Fall in den Bereich der direkten Erfahrung [der Wirklichkeit] eintreten.«83

Hier erscheint die Su¯tren-Lektüre nun doch als allgemeine und unangefochtene Praxis, die eine unumgängliche Orientierungshilfe für die Meditationspraxis darstellt und im Verbund mit dem Sitzen zur direkten Erfahrung führt.84 Die spirituelle Bedeutsamkeit des Lesens wird im Kapitel Bukkyo¯ (»Buddhas Lehre«) noch verstärkt. Do¯gen weist dort mit scharfen Worten die Auffassung zurück, dass die Su¯tren im Vergleich mit der direkten Weitergabe des Erleuchtungsgeistes, also der Überlieferung außerhalb der Schriften, unnütz seien. Leute, die so sprechen würden, hätten nichts verstanden und verdienten nicht, 80 81 82 83 84

Vgl. dazu Foulk: ›Rules of Purity‹ in Japanese Zen (2006) 142 f. Vgl. Do¯gen: Do¯gen’s Pure Standards for the Zen Community (1996) 110 – 119. Do¯gen: Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (2001 – 2008, Band 3) 143. A.a.O., Band 1, 32. Vgl. dazu auch a. a. O., 302. Am Ende des 21. Kapitels, das ganz dem Lesen der Su¯tren gewidmet ist, werden das Lesen der Schriften und das Hören von Belehrungen als »tägliche Hilfsmittel« bezeichnet.

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Schüler Buddhas genannt zu werden.85 Die Vertreter einer eigenständigen Überlieferung außerhalb der Schriften, in der die Erleuchtung unmittelbar mitgeteilt wird, drohen für Do¯gen die Erfahrung des Erwachens von der buddhistischen Tradition abzukoppeln. Das mag für universalreligiös gesinnte Vertreter des modernen Zen eine Option sein. Für Do¯gen kommt die daraus folgende offene Haltung gegenüber anderen Traditionen nicht in Frage. »Außerdem behaupten solche nicht vertrauenswürdigen Menschen, die Lehren des Laozi, des Kongzi und des S´a¯kyamuni würden zu denselben Erkenntnissen kommen und sich nur durch die Art und Weise unterscheiden, wie man in das Tor hineingeht. Manche vergleichen die drei Lehren mit einem Kessel, der drei Füße besitzt. […] Wenn solche Mönche dies behaupten, ist der wahre Buddha-Dharma für sie bereits vom Erdboden verschwunden.«86

Für Do¯gen steht die Unterlegenheit des Daoismus und Konfuzianismus gegenüber der Lehre Buddhas außer Diskussion. Seine Aufwertung der textuellen Tradition des Buddhismus hat zugleich eine Ausschluss-Funktion in Bezug auf nicht-buddhistische Lehren. »Buddha-Schüler sollten nur den Buddha-Dharma lernen.«87 In seinen Klosterregeln verbietet er denn auch konsequenterweise, dass die Bibliothek andere als buddhistische Schriften enthält.88 Als Alternative zur Lehre von der Überlieferung außerhalb der Schriften vertritt Do¯gen die Nicht-Dualität zwischen schriftlicher Überlieferung und außerschriftlicher Geist-Übertragung. Der Buddha-Geist sei auch in den buddhistischen Schriften zu finden, die anderenfalls gar nicht als Buddhas Lehre gelten dürften. Er kennt laut Do¯gen überhaupt kein Außerhalb. »Denkt daran, dass der Buddha-Geist die buddhistische Sicht und die Praxis, alle Dinge und Phänomene und die drei Welten umfasst.«89 Das rechte Verstehen der Su¯tren ist freilich auf Meditationspraxis angewiesen. »Ohne die Praxis der Buddhas und Vorfahren erfahren und erforscht zu haben, seid ihr kaum in der Lage die Su¯tren zu erfahren und zu erforschen.«90 Wo jedoch beides zusammengeht, wird die gesamte Wirklichkeit zum Su¯tra, d. h. zur Verkündigung des Buddha-Dharma, die man im Geist des Erwachens zu »lesen« vermag. Diese Form des »Lesens« stellt für Do¯gen die Vollendung der Su¯tren-Lektüre dar. De facto nimmt er mit diesen Überlegungen die traditionelle Herabsetzung des Textstudiums zurück und verwirft die mit ihr verbundene Ideologie der unabhängigen Überlieferung außerhalb der Schriften. Zwar wird, wie wir ge85 86 87 88 89 90

Vgl. a. a. O., Band 2, 85. A.a.O., Band 3, 147. A.a.O., Band 1, 33. Vgl. Do¯gen (1996): Do¯gen’s Pure Standards for the Zen Community, 114. Do¯gen (2001 – 2008, Band 2): Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges, 86. A.a.O., Band 1, 193.

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sehen haben, die Kritik an bestimmten Fehlformen des Lesens übernommen. Zugleich wird aber die Rückbindung des Zen an die buddhistische Text-Tradition verstärkt. Dies geht mit Überlegungen zur rechten Weise des Lesens einher, auf die nun noch etwas genauer eingegangen werden soll. Im Kapitel Kankin (»Das Lesen der Su¯tren«) erzählt und kommentiert er eine Reihe von Ko¯ans, in denen sich Chan-Meister über das Lesen äußern. Eines davon thematisiert den intuitiv verstehenden Charakter der den Su¯tren angemessenen Lesehaltung, die wir oben schon kennen gelernt haben. Der Meister, von dem erzählt wird, verbietet seinen Mönchen im Normalfall zu lesen, nicht weil das Lesen selbst schlecht ist, sondern weil es eine zu anspruchsvolle Übung darstellt, die ein hohes Maß an Kontemplationserfahrung voraussetzt. »Ein alter Vorfahre, der große Meister Ko¯do¯ vom Berg Yaku, erlaubte es den Mönchen im Allgemeinen nicht, in den Su¯tren zu lesen. Eines Tages las er selbst in einem Su¯tra. Ein Mönch fragte ihn: ›Der Meister erlaubt es anderen nicht, in den Su¯tren zu lesen. Warum liest er selbst darin?‹ Der Meister sagte: ›Ich muss nur meine Augen bedecken.‹ Der Mönch sagte: ›Darf ich es dem Meister gleichtun?‹ Der Meister sagte: ›Wenn du liest, würdest du sogar die Haut eines Ochsen durchlöchern.‹«91

Do¯gen kommentiert: »Die Aussage ›Ich muss nur meine Augen bedecken‹ ist der natürliche Ausdruck bedeckter Augen. Wenn man [beim Lesen] ›die Augen bedeckt‹, bedeutet das, dass es keine Augen und kein Su¯tra mehr gibt.«92 In ihrer Anmerkung zu dieser Stelle erklären Linnebach und Nishijima-Ro¯shi den Ausdruck »die Augen bedecken« (shagan) als Hinweis auf das Sehen mit dem Auge der inneren Weisheit, das sich öffnet, wenn die Augen des unterscheidenden Denkens ruhen.93 Mit ihm zu lesen bedeutet, in der Lektüre S´a¯kyamuni Buddha und den anderen unsterblichen Buddhas selbst zu begegnen, ihnen und ihrem Wort zu vertrauen und zu beginnen die Welt mit dem Blick Buddhas zu sehen.94 Dann gibt es nicht mehr auf der einen Seite den Lesenden mit seiner Auffassung der Dinge und auf der anderen das Su¯tra mit der darin dargelegten Sichtweise. Augen und Su¯tra verschwinden. Ein Ko¯an, das Do¯gen sowohl im Kapitel über das Lesen der Su¯tren als auch im Kapitel Hokke ten Hokke (»Die Blume des Dharmas dreht die Blume des Dharmas«) behandelt, lässt verschiedene Phasen dieses Rezeptionsvorgangs durchscheinen.95 Ich möchte darauf abschließend eingehen. Die Geschichte endet damit, dass der Mönch Hotatsu den Ehrentitel »Der Su¯tren lesende Mönch« bekommt. Sie erzählt, wie er lernt, auf die richtige Weise zu lesen und ist au91 92 93 94 95

A.a.O., 298. Ebd. Vgl. a. a. O., 305, (Anm. 40). Vgl. a. a. O., 299, und Kapitel 61, Kenbutsu (»Buddha begegnen«), a. a. O., Band 3, 237 – 251. Siehe a. a. O., Band 1, 232 f. (ausführlichere Version) und 294 f.

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ßerdem ein Beispiel für die Su¯trenlektüre im Kontext der Meister-Schüler-Beziehung. Zunächst prahlt Hotatsu anlässlich eines Besuchs bei Meister Daikan damit, das Lotos-Su¯tra schon dreitausendmal rezitiert zu haben. Der Meister entgegnet, dass es nicht auf die Quantität der Rezitationen, sondern darauf ankomme, den Sinn des Su¯tra zu verstehen. Hotatsu erbittet diesbezügliche Belehrung und der Meister lässt ihn mit der Rezitation eines Teils des Su¯tras beginnen, um daraufhin das Vorgetragene auszulegen. Er unterbricht die Rezitation zu Beginn des Kapitels »Geschicklichkeit« mit folgenden Worten: »Halte ein! Das Wesentliche in diesem Su¯tra ist der Grund, warum [die Buddhas] in der Welt erscheinen. Obwohl das Su¯tra viele Gleichnisse enthält, ist dies das Wesentliche. Und was ist dieser Grund? Nur um der einen großen Sache willen [erscheinen sie in der Welt]. Diese eine große Sache ist genau die Buddha-Weisheit, [und es geht darum,] sich ihr zu öffnen, sie darzulegen, sie zu verwirklichen und in sie einzutreten. Dies auf natürliche Weise [zu tun] ist die Weisheit der Buddhas. Ein Mensch, dem diese Weisheit gegeben ist, ist bereits ein Buddha. Du musst jetzt fest darauf vertrauen, dass diese Buddha-Weisheit dein eigener Geist ist.«96

Meister Daikan lehrt Hotatsu zunächst beim Lesen auf den Fokus des Textes, seine wesentliche Aussage, zu achten. In einem zweiten Schritt soll das erkannte Grundthema als etwas begriffen werden, das ihn direkt angeht. Die »große Sache« der Buddha-Weisheit ist auch seine Sache. Und schließlich soll Hotatsu im Vertrauen auf die Worte der Buddhas darauf bauen, dass diese Weisheit nicht irgendwo in einer äußeren Lehre zu suchen ist, sondern dass sein eigener Geist mit ihr im Grunde schon eins ist. Der Prozess des Erwachens, der so während des Lesens in Gang kommt, wird von Meister Daikan nach dieser Darlegung mit einem Gedicht kommentiert: »Wenn der Geist verblendet ist, dreht sich die Blume des Dharmas. Wenn der Geist erwacht ist, dreht ihr die Blume des Dharmas. Wie lange ihr auch rezitiert, wenn ihr selbst nicht klar seid, Wird das Su¯tra wegen seines Inhaltes zum Feind für euch. Ohne eine Anschauung ist der Geist in der richtigen Verfassung. Mit einer Anschauung geht der Geist in die falsche Richtung. Wenn ihr über beides [Anschauung und Nicht-Anschauung] hinausgeht, Fahrt ihr ohne Ende in dem weißen Ochsen-Wagen.«97

Der Ausdruck »Blume des Dharmas« (hokke) ist zusammengesetzt aus ho¯, das »Dharma« (Buddhas Lehre) bedeutet und bei Do¯gen zugleich für die »Wirklichkeit in ihrem Sosein« (nyoze) steht, und ke, Blume. Hokke kyo¯, »Su¯tra der 96 A.a.O., 232. 97 Ebd.

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Dharma-Blume«, ist der abgekürzte Name für das Lotos-Su¯tra.98 Do¯gen spielt mit dieser Mehrdeutigkeit. »Blume des Dharmas« meint bei ihm zugleich und in einem das Lotos-Su¯tra, die Lehre Buddhas und das weite, ewige und tiefgründige Sosein der Dinge.99 Auf unser Thema bezogen: Bei rechtem Lesen erschließt die Lektüre des Lotos-Su¯tras der Lehre Buddhas gemäß die Wirklichkeit in ihrem Sosein und damit zugleich die dem Lesenden innewohnende, fleckenlose Buddha-Natur. Wenn man die intendierte Mehrdeutigkeit des Gedichtes berücksichtigt, lässt es sich versuchsweise im Blick auf die Praxis des Lesens auslegen. Das Gedicht beginnt mit dem Lesen bei verblendetem Geist. Ihm entspricht das »Sich-Drehen der Blume des Dharmas« (hokke ten).100 Dies kann dreierlei bedeuten: Erstens die Schriftrolle dreht sich ohne innere Beteiligung des Lesenden, der nur mechanisch rezitiert. Zweitens kann damit gesagt sein, dass die Wirklichkeit in ihrem Sosein sich von sich aus dreht. Der Selbsterweis der Wirklichkeit geschieht unabhängig vom verblendeten Geist, der sie nicht wahrhaben will und seinen subjektiven Anschauungen nachhängt. Und drittens kann das Sich-Drehen der Blume des Dharmas als Hinweis darauf verstanden werden, dass der gelesene Inhalt des Textes, wenn man ihn ernst zu nehmen beginnt, zunächst den aktiven Part übernimmt. Das Enthüllungsgeschehen, um das es beim Lesen geht, ist zunächst in ihm zentriert. In seiner Auslegung des Gedichtes im Kapitel Kankin spricht Do¯gen davon, dass man in der Verblendung von der Blume des Dharmas gedreht wird.101 Der Text »macht« etwas mit dem Leser, er wird zur Quelle der Transformation und zwar so, dass man ihn, wie es weiter unten im Gedicht heißt, zunächst als Feind gegen sich hat. Das ist wohl so zu verstehen, dass die Botschaft des Textes darauf angelegt ist, den Lesenden und seine Anschauungen (Ideen, Absichten, vorgestellte Bedeutungen des Textes) in Frage zu stellen und die illusionsbehaftete Identität, die man festhalten möchte, aufzulösen. Das zweite Stadium des Lesens wird erreicht, wenn dieses Gedrehtwerden durch den Text Erfolg zeitigt. Der Geist des Lesers streift sein Befangensein in den eigenen Ansichten und Absichten ab und erwacht zu der Einsicht in die Wirklichkeit, auf die der Text hinweist. Do¯gen gebraucht für »Anschauung« und »Lesen« dasselbe Wort: nen.102 Mit dem Schwinden der vom Leser-Subjekt vorgestellten Semantik des Textes schwindet auch das Lesen im herkömmlichen Sinn dahin, das für Do¯gen, wie wir oben gesehen haben, eine Herabsetzung der Su¯tren darstellt. Lesen wird zum Nicht-Lesen. Jetzt zentriert sich das Enthül98 Ich übernehme hier die Erklärung der Übersetzer a. a. O., 230. 99 Vgl. zu den angeführten Attributen der Wirklichkeit: a. a. O., 239. 100 Zum transitiven und intransitiven Gebrauch von nen, »drehen«, siehe die Erläuterung der Übersetzer : a. a. O., 241, Anm. 6 und 7. 101 Vgl. a. a. O., 294. 102 Vgl. a. a. O., 303 (Anm. 14).

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lungsgeschehen im Lesenden. Er selbst dreht jetzt die Dharma-Blume, d. h. er erwacht. Das transitiv zu verstehende »Drehen« bzw. »Bewegen« der Blume des Dharmas (ten hokke) kann das achtsam lesende Drehen der Schriftrolle meinen. Zugleich bedeutet es, die Wirklichkeit in ihrem Sosein zu erfahren und in den Einklang mit ihr zu gelangen. Im dritten Stadium tritt der Prozess der Überwindung der Anschauungen und der Verwirklichung des Buddha-Geistes in den Hintergrund. Der Lesende vergisst sich und sein Erwachen und wird zum leeren Ort des Offenbarwerdens der Wirklichkeit in ihrem Sosein. Im Bild gesprochen: die Blume des Dharmas dreht die Blume des Dharmas.103 Das Su¯tra kann jetzt nicht mehr beiseitegelegt und vergessen werden, sondern wird gelebt, ob aktuell darin gelesen wird oder nicht.104 Der weiße Ochsenwagen, von dem es heißt, dass der Lesende nun ohne Ende in ihm fährt, ist ein aus dem dritten Kapitel des Lotos-Su¯tras übernommenes Symbol für die Buddha-Weisheit, die die verschiedenen buddhistischen Richtungen (konkret: die drei Fahrzeuge) übersteigt.105

4.

Zusammenfassung

Am Beginn der Leseforschung steht eine triviale Einsicht, die leicht durch eigene Lese-Erfahrung verifizierbar ist: Lesen ist nicht gleich Lesen. Texte können mit unterschiedlicher Absicht und Intensität auf verschiedene Weisen gelesen werden. Die qualitativen Unterschiede hängen u. a. mit der Eigenart der Texte und ihrer sozialen, kulturellen bzw. religiösen Bedeutung zusammen. Sie führen zu unterschiedlichen Lese-Ergebnissen.106 Die Schriften, die in den analysierten Beispielen die Basis für das Lesen als spirituelle Praxis bilden, zählen zu den Texten, die in der Praxis der jeweiligen Interpretationsgemeinschaft als höchste Autorität akzeptiert sind, seien es nun biblische Schriften, Su¯tren oder Sammlungen der Aussprüche der Patriarchen.107 Die Lesehaltung ist in der Regel von großem Respekt geprägt, was oft im rituellen Umgang mit den Büchern bzw. Schriftrollen zum Ausdruck kommt. Die heftige Schrift- und Lesekritik des Chan bildet dem gegenüber nur scheinbar eine Ausnahme, da sie sich primär gegen eine bestimmte Form der Lektüre wendet, die der Bedeutung der Su¯tren nicht Genüge tut. Sie steht im 103 104 105 106 107

Vgl. a. a. O., 294 f. Vgl. a. a. O., 233. Siehe dazu die Erklärung a. a. O., 244 (Anm. 49). Vgl. Eggert / Garbe: Literarische Sozialisation (2003) 12 – 15. Zur Verbindung von Autorität, Performanz und Interpretation im Bereich des religiösen Lesens vgl. Elster: Authority, Performance, and Interpretation in Religious Reading (2003), der unter diesem Gesichtspunkt die jüdische Lesekultur interpretiert.

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Kontext des in beiden Traditionen geführten normativen Diskurses über die angemessene Art des Lesens der autoritativen Schriften. Für beide Interpretationsgemeinschaften umfasst die Autorität dieser Werke auch Regulations- und Inspirationsfunktionen in Bezug auf die ethische Lebensführung und die religiösen Erfahrungen der einzelnen Mitglieder. Die besprochenen Anleitungen zum Lesen zielen genau auf diese Dimensionen der Schrift-Autorität und sollen die Rezeptionskompetenz dafür im Rahmen monastischer Expertenkulturen steigern. Ein Diskurs über Lesen als spirituelle Praxis kommt deshalb in Gang, weil in beiden Traditionen das Lesen eine durchaus zweischneidige Angelegenheit darstellt. Die Überlegungen zur rechten Weise des Lesens sind verbunden mit der Zurückweisung von Lesehaltungen, die als respektlos gegenüber den Schriften und/oder als ungeeignet empfunden werden, die erwünschten Rezeptionsprozesse in den Lesenden herbeizuführen. Während im Chan bzw. Zen besonders das gelehrte Lesen, aber auch das mechanische Rezitieren im Fokus der Kritik stehen, wird in den Anleitungen des mittelalterlichen Christentums das überfliegende, schnelle Lesen als ungenügend dargestellt und ein Lesen als defizitär betrachtet, das nicht mit reflektierender Meditation verbunden ist, die sich an die tradierten Maßstäbe spiritueller Exegese hält, mit Gebet verbunden ist und schließlich zur Versenkung führt. Die von Guigo konzipierte Lesepraxis hat auffällige Ähnlichkeiten mit der Aneignung der Lehre im Sinn buddhistischer Stufen-Hermeneutik und der Praxis von vipas´yana¯. Im Lesen nach Art des Chan oder Zen spielt dem gegenüber die gedanklich reflektierende Aneignung des Textes keine vergleichbare Rolle. Hier geht es primär um verschiedene Formen nicht-diskursiven TextUmgangs, die über eine spontane Stilllegung der gedanklichen Aktivität zur intuitiven Einsicht führen. Die beschriebenen Übungsformen sollen es jedenfalls ermöglichen, den Sinn der Schriften nicht bloß informativ, sondern leiblich, emotional und in meditativer Wachheit aufzunehmen. Sie dienen dazu, das »kühle Medium« (McLuhan) der Schrift »anzuwärmen« und das Lesen in ein den Leser ergreifendes Enthüllungsgeschehen zu verwandeln. Dies wird im monastischen Kontext durch andere Formen der Textpräsentation und -repräsentation unterstützt. Die Texte der Leseübung sind auch außerhalb derselben auf vielfältige Weise permanent gegenwärtig: als Bestandteile von Ritualen, in visuellen Darstellungen und Skulpturen, in Gruppen-Rezitationen, Liedern, als vorgelesene Texte sowie in mündlichen und schriftlichen Kommentaren. Besonders der mündliche Kommentar vonseiten des Meisters oder etwa des christlichen Abtes, denen beiden auch spirituelle Autorität beigemessen wird, hat nahezu dieselbe Be-

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deutung wie das Lesen der Schriften und formt die Lese-Erfahrung entscheidend mit.108 Ein Lesen, das über das bloße Entziffern des Textes hinausgeht, ist immer schon Interpretieren. Dies gilt umso mehr für die beschriebenen Leseübungen, die auf die Erschließung eines verborgenen Sinns des Gelesenen aus sind. Die untersuchten religiösen Interpretationsgemeinschaften bildeten differenzierte Hermeneutiken aus, um den besonderen Gehalt, der ihrer Meinung nach den Worten der heiligen Schriften innewohnt, aufzuschließen. Wie gezeigt wurde, besteht zwischen diesen Interpretationskulturen und den spirituellen Lesepraktiken eine enge Verbindung. Hermeneutik spielt für das spirituelle Lesen in beiden Traditionen auch deshalb eine Rolle, weil in ihnen ausgiebig intertextuell gelesen wird. Gelesene Stellen werden durch Stellen aus anderen kanonischen Schriften erläutert. Die für dieses Vorgehen vorausgesetzte innere Einheit des Schrifttums ist angesichts der historischen und inhaltlichen Heterogenität der tradierten Texte alles andere als selbstverständlich. Sie wird, wie wir gesehen haben, in beiden Traditionen durch hermeneutische Ansätze und dazugehörige religiöse Hintergrundannahmen konstruiert. Der einheitliche Sinn der Text-Autoritäten, von dem ausgegangen wird, erschließt sich in beiden Religionen verbunden mit der wachsenden Selbsterkenntnis des Lesers und der sukzessiven ethisch-religiösen Transformation seiner Identität. Solches Sichversenken in den Text kulminiert nach den besprochenen Lesemodellen in Transzendenzerfahrungen. Die Lesesituation wird schließlich zur disclosure situation, in der die Grundsituation, die im Mittelpunkt der jeweiligen religiösen Lehre steht, realisiert wird.109 Die Scala Claustralium etwa läuft auf die durch Jesus Christus vermittelte Begegnung mit Gott hinaus, der sich mit dem Menschen, dessen Fähigkeit zur kontemplativen Schau durch seine Sündigkeit beeinträchtigt ist, in zuvorkommender Gnade vereinigt. Bei Do¯gen eröffnet sich im Lesen der Grund für das Erscheinen der Buddhas in der Welt, nämlich die Verwirklichung ihrer Weisheit. Sie geschieht als Innesein der allumfassenden Wirklichkeit in ihrem Sosein, die als Buddha-Natur (bussho¯) mit dem Geist des Übenden eins ist. Erfahrungen dieser Art, deren traditionsspezifische Auffassung ich hier bewusst dogmatisch formuliert habe, um die Unterschiedlichkeit der Verständnishorizonte zu markieren, bergen bei aller textuellen Vermitteltheit zugleich eine Eigendynamik und einen über alle Worte hinaus gehenden Überschuss an 108 Dies hat sich in traditionellen monastischen Kulturen bis heute erhalten. Siehe dazu Klein: Path to the Middle (1994) über den mündlichen Kommentar im tibetischen Buddhismus. 109 Vgl. zu den Begriffen der Grundsituation und disclosure situation im Rahmen einer Begriffsbestimmung von Spiritualität: Baier : Spiritualität und Identität (2008).

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Bedeutung in sich, was zu Spannungen hinsichtlich der Rückbindung an die Texttradition führen kann, besonders wenn diese nicht erfahrungsnah weitergegeben wird. Das zeigt die Lehre von der Weitergabe des Erleuchtungsgeistes unabhängig von den Schriften im Chan und Zen. Auch im Christentum gab es immer wieder kontemplative Bewegungen, in denen sich die Versenkungspraxis von den herkömmlichen Medien der Heilsvermittlung inklusive der Bibel und den tradierten Formen des Heilsverständnisses abzukoppeln begann, was zu Konflikten mit der Amtskirche führte. Für beide religiösen Traditionen sind die Texte ebenso unerschöpflich wie die Wirklichkeit, auf die sie verweisen. Zum Teil liegt diese Auslegungsoffenheit natürlich am Medium des literarischen Textes. Texte liefern keinen völlig festgelegten Code zu ihrer Interpretation mit. Ihre Bedeutungen sind nur ungenau bestimmt und werden in veränderten Situationen je neu konstituiert. Aber beide Traditionen sprechen den Texten darüber hinaus eine einzigartige Unergründlichkeit zu, spiegeln sie doch ihrer Ansicht nach die abgründige Weisheit der Buddhas und der Wirklichkeit in ihrem Sosein bzw. die Unendlichkeit des göttlichen Wortes wider. Das Lesen derselben Texte kann und soll deshalb wiederholt werden, ohne sich je totlaufen zu müssen. Durch Wiederholung prägt sich nicht nur der Lesestoff besser im Gedächtnis ein. Es erschließen sich auch stets neue Bedeutungen oder erkannte Bedeutungen auf neue Weise, was der Unerschöpflichkeit und je nach Situation des Lesenden neue Einsichten offenbarenden Wirklichkeit, auf die die Texte verweisen, entspricht. Sogar die Chan-Meister fahren nach ihrer Erleuchtung damit fort, zu lesen und zu rezitieren, und man wird annehmen können, dass sie dies auch deshalb tun, weil ihnen das Lesen immer noch Neues zu erkennen gibt. Durch seine Repetitivität unterscheidet sich das spirituelle Lesen eklatant von konsumierender Lektüre, nach der man ein durchgelesenes Buch oder sonstiges Schriftstück weglegt, ohne darauf zurückzukommen.110 In beiden Lesekulturen ist das Lesen eine asketische Praxis im Sinn von Gavin Flood.111 Es geht um die persönliche Assimilation einer religiösen Tradition durch Formung des leibhaftigen In-der-Welt-Seins, Erwerb und Verinnerlichung einer bestimmten Sprache sowie Inkorporation kulturellen Gedächtnisses. Das wiederholte Durcharbeiten des Textes ist zugleich ein Durcharbeiten des leiblichen Selbst, ein Arbeiten an körperlichen Dispositionen, das mit Akten der Entsagung, der Verabschiedung von Wünschen und Begierden einhergeht. Die habituelle Orientierung der Person wird von der Erfüllung individueller

110 Diesen Punkt und andere interessante Perspektiven arbeitet Griffiths: Religious Reading (1999) 40 – 54, in seiner Analyse religiösen Lesens heraus. 111 Vgl. Flood: The Ascetic Self (2004) 1 – 34.

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Wünsche als vorherrschendem Motiv weggeführt und auf ein höheres Ziel hingelenkt. Das lesende Selbst wird auf diese Weise durch ein Ritual geformt, in dem das Gedächtnis einer Tradition aufbewahrt ist. Der Leser inkarniert mit seiner Übung dieses Gedächtnis, das auf die geschichtlichen Wurzeln zurückblickt und von dort aus nach vorne zu den durch die geschehenen Heilsereignisse eröffneten künftigen Erfüllungsmöglichkeiten, die im Leben der Lesenden in der Versenkung intensive Gegenwart werden können.

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Reiner Manstetten

Negative Theologie, reine Bejahung und lediges Bewusstsein. Meister Eckharts Bibellektüre am Beispiel von Exodus 3

Einführung Meister Eckhart [1260 – 1326] gehört zu denjenigen Denkern des Mittelalters, deren Werk gegenwärtig starke Beachtung findet: Seine Ontologie und Theologie sind Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung, seine praktischen Hinweise zur Entfaltung des inneren Menschen Anstöße für spirituelle Suche. Die Grundlagen seiner Philosophie (antiker und christlicher Neuplatonismus, patristische Wurzeln, das Verhältnis zu Thomas von Aquin, Albertus Magnus und der von ihm ausgehenden Schule, aber auch Einflüsse aus dem arabischen und jüdischen Denkraum aufgrund der Lektüre von Avicenna, Averroes, Ibn Gabirol und vor allem Maimonides) werden vielfach untersucht und bisweilen kontrovers diskutiert1. Kaum weniger zahlreich sind die Forschungen, die sich mit Eckharts Verbindung zu den als mystisch zu bezeichnenden Strömungen seiner Zeit, insbesondere zur Frauenmystik seiner Zeit, beschäftigen.2 Schließlich wird Eckharts Lehre als Wegweisung für religiös suchende Menschen unserer Zeit angesehen und in diesem Zusammenhang in Verbindung mit islamischer, vedischer und buddhistischer Mystik gebracht3. Weit weniger präsent in unserer Zeit ist Eckhart als Leser und Interpret biblischer Texte, obwohl Kurt Ruh in seinem Standardwerk zu Meister Eckhart mit Recht feststellte: »Eckhart muss in der Exegese die Mitte seiner theologischen Arbeit gesehen haben.«4 1 Vgl. u. a. Beierwaltes: Platonismus und Idealismus (1972); Waldschütz: Meister Eckhart (1978); Kobusch: Metaphysik des moralischen Seins (1986); Albert: Vom philosophischen Leben (1995); Quero-Sanchez: Sein als Freiheit (2004); Flasch: Geburt der Deutschen Mystik (2006). 2 Vgl. u. a. Haas: Meister Eckhart als Normative Gestalt (1971); Langer : Frauenfrömmigkeit (1987). 3 Vgl. u. a. Ueda: Gottesgeburt (1965); Otto: West-östliche Mystik (1971); Wolz-Gottwald: Upanishaden (1984); Jannsen: Nagarjuna (1997); Rahmati: Menschenbild (2006). 4 Ruh: Meister Eckhart (1985) 77. An Studien zur Schriftauslegung Eckharts sind u. a. zu nennen: Winkler: Exegetische Methoden (1965); Mieth: Die Einheit von vita activa und vita

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Von den erhaltenen Schriften Eckharts gibt es nur wenige, die nicht einen genuinen Bezug zu den Schriften des Alten und Neues Testamentes aufweisen. Die Gedankenentwicklung in Eckharts deutschen Predigten setzt mit wenigen Ausnahmen bei einem Bibelwort an, und was von seinem lateinischen Werk erhalten ist, sind hauptsächlich Bibelkommentare: Zu nennen sind insbesondere die Kommentare zum Buch Genesis, ein Exoduskommentar, ein Kommentar zum (für jüdische und protestantische Exegeten deuterokanonischen) Buch der Weisheit Salomos sowie einer zum Johannesevangelium.5 Dass Eckhart als Leser und Ausleger der Bibel heute so wenig berücksichtigt wird, mag daran liegen, dass sein Umgang mit der Schrift, wird er an den üblichen Prinzipien, Methoden und Standards der heutigen Exegese gemessen, in der Regel Befremden und Ablehnung hervorrufen wird. So schreibt Kurt Flasch: »Man muß sich die ›Exegese‹ Eckharts einmal näher ansehen, um zu begreifen, wie leer und irreführend der Titel ›Exeget‹ in seinem Fall wird.«6 Damit gibt er zutreffend den Eindruck wieder, den der theologische Zeitgeist des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts von Eckharts Auslegungsverfahren erhält. Die folgenden Gedanken wollen diesen Eindruck nicht revidieren, wohl aber in einen anderen Verstehenshorizont überführen und damit zu einer Neubewertung der Bibellektüre Eckharts beitragen: Zwar mag Eckharts Umgang mit dem Wort der Schrift nicht nur einer an den Wortlaut gebundenen buchstäblichen Lektüre, sondern auch einem historisch-kritischen Bewusstsein oder einem literaturwissenschaftlich geschulten Blick auf die Bibel anstößig erscheinen. Im Hintergrund der anschließenden Ausführungen steht jedoch eine Anfrage an unsere Gegenwart: Nicht, dass die Legitimität einer ihrer Umgangsformen mit der Schrift bezweifelt werden soll. Wohl aber soll einem anderen als den heute üblichen Zugängen zur Schrift Gehör verschafft und die Möglichkeit eröffnet werden, er könne uns gerade in seiner Andersheit etwas contemplativa (1969); Koch: Schriftauslegungen (1973); Mieth: Das Johannesevangelium in der Mystik (2004); Gire: Ma„tre Eckhart et la m¦taphysique de l’Exode (2006); Manstetten: Eckharts Verfahren der Schriftauslegung (2007); Bely: Ma„tre Eckhart, lecteur de l’Êcriture (2009). 5 Alle genannten Werke Eckharts finden sich in Meister Eckhart: Die Lateinischen Werke (1935 ff.), fünf Bände, im Folgenden abgekürzt mit: LW (die Bandangabe erfolgt in römischen Ziffern, darauf folgt die Angabe von Seite und Zeile). 6 Flasch: Geburt der Deutschen Mystik (2006) 20. Flasch geht es dabei allerdings nicht darum, Eckhart an den Maßstäben der gegenwärtigen fachdisziplinären Exegese zu messen, im Gegenteil: Er plädiert dafür, Eckhart als Philosophen zu sehen, für dessen Denken die Vernunft, nicht aber die christliche Offenbarung die entscheidenden Impulse gibt. Denkt man allerdings weiter längs der Argumentationslinien dieses Plädoyers, das aus einer der heutigen Bibelexegese eher fernstehenden Position formuliert ist, so wird man fast notwendig zu dem Ergebnis gelangen, Eckhart habe heutigen Lesern, die die Bibel als Heilige Schrift Ernst nehmen, wenig oder gar nichts zu sagen.

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mitteilen, auf das wir nie kämen, wenn wir im Rahmen der gewöhnlichen Denkmuster unserer Zeit bleiben. Die vorliegenden Ausführungen sind folgendermaßen aufgebaut. Im Abschnitt 2 werden Intention und Vorgehensweise der Bibelauslegung Eckharts vorgestellt, so wie er sie in der Einleitung zum zweiten Genesiskommentar charakterisiert. Im Abschnitt 3 werden seine Kommentare zu den Versen: »Moses verhüllte sein Angesicht, denn er wagte es nicht, nach Gott hinzublicken« (Exodus 3,6) und: »Ich bin, der ich bin« (Exodus 3,14) betrachtet. Diese Kommentare sind zum Teil einer Quaestio entnommen, die anlässlich einer Disputation während Eckharts Pariser Magisteriums 1301/1302 niedergeschrieben wurde, in der Hauptsache aber entstammen sie Eckharts fast 10 Jahre später abgefasstem Exoduskommentar. Insbesondere wird dabei Eckharts Verständnis von negativer Theologie und seine Überführung von Negationen in die »reinste Bejahung« herausgearbeitet. Im Abschnitt 4 wird gezeigt, in welcher Weise Eckharts Auslegung Bedeutung im menschlichen Leben für die geistliche Übung und für die Orientierung der Lebenspraxis haben kann. Dabei geht es wesentlich um die Entleerung des Bewusstseins und die Bereitschaft, jede Gegenwart vorbehaltslos als Ausdruck des Willens Gottes anzunehmen.

Programm und Verfahren der Auslegungen Meister Eckharts In seinen lateinischen Bibelkommentaren begegnet uns Eckhart an vielen Stellen als Philosoph, der den Fähigkeiten des menschlichen Verstehens ein nicht geringes Zutrauen entgegenbringt. Demgemäß formuliert er selbst in seinem Kommentar zum Johannesevangelium (im Folgenden abgekürzt: In Ioh.) die Intention seiner Bibelauslegung folgendermaßen: »Es ist die Absicht des Autors, dasjenige, was der heilige Glaube und die Schrift des Alten und Neuen Testaments lehrt, auszulegen im Durchgang durch die natürlichen Begründungen der Philosophen (per rationes naturales philosophorum).«7

Schrifttext, christlicher Glaube und natürliche Begründung werden hier in einen dichten Zusammenhang gestellt, der im Lateinischen noch stärker herauskommt: »Natürliche Begründungen« (rationes naturales) verweisen auf das dem Menschen von seiner Natur aus, also nicht von der Gnade Gottes her zukommende Verstehen, das als menschliches Erkenntnisvermögen ebenfalls den Namen ratio naturalis – natürlicher Verstand – trägt. Somit kann Eckharts 7 In Ioh. LW III, 307, 1 – 5. Die Übersetzungen stützen sich auf die in LW angebotenen Übertragungen, sind aber gelegentlich von mir modifiziert worden, ohne dass dies ausdrücklich vermerkt wird.

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Intention so zusammengefasst werden. Wer die Bibel liest, wer über den Glauben seiner Kirche meditiert, sollte sich dabei seines Verstandes bedienen, und er sollte den Schrifttext in den Kontext der überlieferten und gegenwärtig verfügbaren Erkenntnis und Reflexion stellen.8 Obwohl bereits zur Zeit Eckharts die Möglichkeit diskutiert wurde, dass die Schriftoffenbarung im Widerspruch zu denjenigen Erkenntnissen und Hypothesen stehen könnte, die aus dem Verstand zugänglich sind (man denke etwa an die Reflexionen des Maimonides über den Widerspruch zwischen dem anfangslos ewigen Kosmos der aristotelischen Kosmologie und der von Anfang und Ende begrenzten Schöpfung, von der die Bibel spricht), sieht Eckhart einen solchen Widerspruch nicht, ja in seinem zweiten Genesiskommentar behauptet er vielmehr : »In der Schrift sind eingeschlossen zu finden Vermögen und Prinzipien der Wissenschaften, die Schlüssel der Metaphysik, der Naturwissenschaften und der Ethik.«9

Wer genau liest, wird allerdings bemerken, dass Eckhart damit keineswegs das Wort der Schrift vor den Richterstuhl der menschlichen Vernunft zieht. Mag diese dazu neigen, von der Schrift nur dasjenige gelten zu lassen, was natur- oder geschichtswissenschaftlich wenigstens möglich und logisch widerspruchsfrei erscheint, so lehrt Eckhart, dass Metaphysik, Naturwissenschaften und Ethik ihre »Schlüssel« in der Schrift finden. Das bedeutet: Der Sinn dieser Wissenschaften und ihre Bedeutung für den Menschen und sein Verhältnis zu Welt, Mensch und Gott liegt nicht in ihnen selbst, sondern wird erst durch eine sorgfältige Lektüre der Schrift aufgeschlossen. Die Schlüssel zur Antwort auf die Frage, was menschliche Wissenschaft ihrem Wesen nach ist, liegen in der Schrift.10 Somit enthält Eckharts Verständnis von der Aufgabe, die Schrift zu interpretieren, ein zirkuläres Moment: Die Lektüre der Schrift erfordert es, sie im Durchgang durch die Formen des Wissens, mit dem wir Welt und Mensch begreifen (rationes naturales), auszulegen, während damit zugleich das in dieser Welt erworbene Wissen gleichsam an die Schrift herangetragen, durch ein angemessenes Verständnis der Schrift vertieft und mit seiner eigentlichen Wurzel, seinem Ursprung aus Gott, verbunden wird, damit es Bestand und Wirklichkeit gewinnt. Dabei ist der letztere Akzent, die Relativierung des Weltwissens, der entscheidende. In diesem Sinne formuliert Eckhart in einer mittelhochdeutschen Predigt: 8 Zu diesem Programm vgl. Manstetten: Die Gleichnisse bewahren die Wahrheit (2002). 9 Liber Parabolorum Genesis; im Folgenden abgekürzt: In Gen. II, LW I 439, 9 f. 10 Das setzt allerdings Leser voraus, die erkannt haben, dass auch (vielleicht sogar in besonderem Maße) in den modernen Wissenschaften, wenn sie isoliert genommen werden, eine Art Dunkel liegt, das im Bannkreis ihrer Begriffe, Axiome und Methoden nicht einmal als Dunkel wahrgenommen, geschweige denn erhellt werden kann. Vgl. hiezu Faber/ Manstetten: Mensch – Natur – Wissen (2003) 58 – 63 sowie 77 – 80.

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»Alles, was wir hier [auf Erden] hören können, und alles, was man uns zu sagen vermag, das hat darin [in der Heiligen Schrift] einen weiteren, verborgenen Sinn. Denn alles, was wir hier verstehen, das ist alles dem, was es an sich selber und wie es in Gott ist, so ungleich, als wenn es gar nicht wäre.«11

Der verborgene Sinn des Wissens, wie wir es in unserem Erdenleben erwerben, tritt allerdings in der Bibel nicht unmittelbar zutage, denn die Schrift hat ihre eigenen Verborgenheiten. Fast könnte man sagen: Dass unser Weltwissen dunkel ist, sieht man ihm als solchem in der Regel nicht an; erst wenn man es in den Kontext der Schrift mit der Eigenart ihrer Formulierungen und ihres Textduktus stellt, wird gleichsam aus dem unbemerkten Dunkel unseres normalen Wissens das offenkundige Dunkel, das der Schrift an ihrer Oberfläche eigen ist. Daraus ergibt sich dann für Eckhart die eigentliche Aufgabe der Schriftinterpretation: Die Oberfläche der Schrift zu durchdringen, wie die Schale einer Nuss, um zu dem Kern vorzudringen, den Eckhart auch als den sensus mysticus12 der Schrift bezeichnet. Dieser sensus mysticus aber wird demjenigen offenbar, der in der Schrift den Christus findet: »Denn es ist niemandem Einsicht in die Schriften zuzutrauen, wenn er nicht das Mark, Christus, die Wahrheit, die in ihnen verborgen ist, aufzufinden weiß.«13

Allerdings ist dieser Christus, die in den Schriften verborgene Wahrheit, nicht in jeder Hinsicht gleichzusetzen mit der Gestalt des unter dem römischen Prokurator Pontius Pilatus gekreuzigten Jesus von Nazareth. Gewiss, Jesus von Nazareth ist für Eckhart der Christus, aber Eckhart versteht dies in dem bereits von Paulus aufgewiesenen Sinn, dass im Dasein Jesu Christi, insbesondere in seinem Tod und seiner Auferstehung, offenbar wird, was wir sind und dereinst sein werden. Der »verborgene Christus« der Schrift ist zu verstehen insbesondere im Horizont des von Eckhart häufig angeführten Pauluswortes: »Ich lebe, doch nicht ich, Christus lebt in mir« (Gal 2). In der Schrift Christus zu finden heißt also im Letzten: die Gegenwart Christi im eigenen Inneren zu erfahren und aus ihr heraus sein Leben führen zu lassen. Zusammenfassend lässt sich sagen: Eine Scheidelinie zwischen den Gebieten des mit natürlichen Erkenntnisvermögen erworbenen Wissens und der Offenbarung der Schrift scheint es für Eckhart nicht zu geben, im Gegenteil: Wir dürfen die Schrift mit allem empirischen Wissen und allen logischen Argumenten befragen, wie sie uns unsere Vernunft anbietet:

11 Meister Eckhart: Predigt 51, Haec dicit dominus, in: Die Deutschen Werke (im Folgenden abgekürzt: DW), Band II 467, 7 – 10. 12 In Gen. II, LW I 448, 17 ff. 13 In Gen. II, LW I 453, 5 f.

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»Es ist ein Anzeichen von Trägheit und Nachlässigkeit, das, was du glaubst, nicht mit natürlichen Begründungen und Ähnlichkeiten (im Sinne von Analogien im Bereich der Erkenntnis von Welt und Natur) zu erforschen.«14

Aber in dieser Erforschung kehrt sich, wenn wir Eckharts Programm folgen, die Richtung des Suchens um: Aus der Prüfung der Schrift im Durchgang durch die ratio naturalis wird die Umkehr der natürlichen Erkenntnisvermögen, die im Sinn der Schrift ihre Ausrichtung erlangen. Halt, Justierung und Ziel finden sie erst, wenn sie sich über ihre eigenen Fähigkeiten und Grenzen hinaus an Christus orientieren. In der Auseinandersetzung mit der Schrift also werden die menschlichen Erkenntnisvermögen ihrer Leistungsfähigkeit, ihrer Begrenztheit und ihrer Angewiesenheit auf eine ihnen unverfügbare Dimension inne, für die der Name Christus steht.

Exodus 3: Eckharts Auslegung 1.

Moses verhüllte sein Antlitz

Gilbert Dahan, der bedeutende Kenner mittelalterlicher Exegese, spricht mit Recht von dem »trÀs important commentaire de l’Exode de Ma„tre Eckhart«15 : Der Exoduskommentar Eckharts verbindet auf eine besondere Weise genaues Bibelstudium und philosophische Interessen mit einem präzisen Sinn für die Grenzen des Sprechens und des begrifflichen Denkens, derjenigen Seite Eckharts, die man mit guten Gründen als seine Mystik bezeichnen kann.16 Für das Verständnis dieses Kommentars ist zu beachten, dass Eckhart seinen Schriftkommentaren den generellen Hinweis hinzugefügt hat, es sei nicht seine Absicht, ein Schriftwerk durchlaufend zu kommentieren (da dies schon genügend getan sei), sondern er wolle neue und / oder anderswo schwer zu findende (nova et rara) Auslegungen zu ausgewählten Worten und Sätzen bieten. Er nehme bewusst in Kauf, dass dem Leser manches an seinen Auslegungen auf den ersten Blick »zweifelhaft, ungeheuerlich oder falsch« vorkommen möge, denn er sei sich gewiss, seine Auslegung durch Argumente bedeutender Heiliger und 14 In Ioh. LW III 307, 3 f. 15 Dahan: Histoire de l’ex¦gÀse chr¦tienne (2007) 256. 16 In diesem Zusammenhang ist auf die Studie von Pierre Gire hinzuweisen, das, so weit ich sehe, einzige Werk, dessen Fokus primär auf Eckharts Exoduskommentar liegt (Gire: Ma„tre Eckhart et la m¦taphysique de l’Exode [2006]). Besonders aufschlussreich sind die Bemerkungen von MCGinn: Meister Eckhart. Teacher and Preacher (1986) 15 – 30, zu der Art und Weise, wie Eckhart in seinem Exodusommentar die Möglichkeit des Redens über Gott reflektiert. McGinn hebt insbesondere die Bedeutung der Auseinandersetzung Meister Eckharts mit Maimonides hervor.

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Denker stützen zu können. Unterstellt wird dabei ein des Lateinischen kundiger, philosophisch und theologisch gebildeter Leser, dem man sowohl ein Studium des integralen Bibeltextes als auch die Kenntnis allgemein zugänglicher Auslegungen zutrauen kann.17 Eckharts Kommentar zum Exodus folgt diesem allgemeinen Programm, nur bestimmte Bibelstellen auszulegen, zu denen er etwas Ungewöhnliches zu sagen hat. So kommentiert Eckhart auch aus dem 3. Kapitel des Buches Exodus nur wenige Stellen, wie überhaupt sein Exoduskommentar nie größere Abschnitte oder gar ganze Kapitel betrachtet, sondern sich auf wenige ausgewählte Sätze, ja gelegentlich sogar einzelne Worte beschränkt. Dass Moses die Schafe »über die Wüste hinaustreibt«, zum Gottesberg, dem Horeb, gelangt, einen Dornbusch brennen sieht, der nicht verbrennt, die Stimme des Engels Gottes aus dem Dornbusch vernimmt, der ihn mahnt, die Schuhe abzulegen, dass Moses schließlich den Auftrag empfängt, das Volk Israel aus der Knechtschaft zu führen – all das bleibt ungesagt und unkommentiert und ist doch als bekannt vorausgesetzt in dem, was der Kommentator Eckhart zu sagen hat. Abgesehen von einer kurzen Anmerkung über die Anforderungen an einen geistlichen Vorgesetzten (praelatus sive pastor) anlässlich des Verses: »Moses aber weidete die Schafe« (Ex 3,1), konzentriert sich das Interesse Eckharts ganz auf eine, allerdings besonders auffällige Geste der Figur des Moses und auf den, der sich dem Moses auf die Frage nach seinem Namen mit ego sum qui sum offenbart. Die entscheidende Handlung des Moses, die des Kommentars bedarf, besteht für Eckhart darin, dass dieser »sein Angesicht verhüllte, denn er wagte es nicht, nach Gott hinzublicken« (Ex. 3,6). In der Deutung dieser Geste zeigt Eckhart, wie er Moses auffasst: primär nicht als eine historische Figur, sondern als zeitlosen Typus eines Menschen, der Gott sucht und für diese Suche seine ganze Existenz einsetzt. Das, was Moses hier tut, ist exemplarisch für die Haltung des Menschen in der Gegenwart Gottes. Dazu aber darf man die Geste des Verhüllens nicht auf die wörtliche Bedeutung beschränken. Nicht allein die Augen, mit denen wir die Dinge dieser Welt sehen, müssen ihre Tätigkeit einstellen, wenn Gott mit seinem Licht zugegen ist, sondern die gesamte Erkenntnisfähigkeit, die dem Menschen mit seiner Natur gegeben ist, muss zurückbleiben. Nachdem Eckhart in seinem Stellenkommentar zunächst Maimonides und Avicenna (Ibn Sina), also Philosophen aus dem Bereich des jüdischen und islamischen Den17 Aus diesem Grund sind Eckharts lateinische Schriften in einem anderen Kontext zu verstehen als die mittelhochdeutschen Predigten und Traktate. Während letztere häufig von einem des Lateinischen unkundigen, von der Bibellektüre ausgeschlossenen, theologisch und philosophisch nicht spezifisch gebildeten Publikum, aus Frauen und Männern zusammengesetzt, rezipiert wurden, wenden sich Eckharts lateinische Texte ausdrücklich an Mitbrüder, die ihn gebeten hatten, das, was sie in akademischen Predigten und Vorträgen von ihm zu hören gewohnt waren, im Medium des geschriebenen Textes zu fixieren.

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kens angeführt und anschließend als christlichen Lehrer Boethius zitiert hat, die alle darin übereinstimmen, dass wir vernünftigerweise die Unfähigkeit unserer Erkenntniskräfte, das Göttliche zu erkennen, einräumen müssen, schließt er seine eigene Deutung an: »Denn gefangen nehmen muss derjenige das Einsichtsvermögen und den natürlichen Verstand (intellectum et rationem naturalem), also das eigene Angesicht, der sehen will das Geheimere und Tiefere an Gott im Licht der Gnade, nämlich im Geist.«18

Der natürliche Verstand (ratio naturalis), dessen Argumentationen Eckhart in seinem Programm der Schriftauslegung so hohe Wertschätzung zuteil werden lässt (s. o.), versagt vor dem, was jeder Wissenschaft, auch Metaphysik und Theologie, unzugänglich ist, den geheimeren und tieferen Dimensionen Gottes, Dimensionen, die darüber hinausgehen, dass er, wie Aristoteles wusste, unbewegter Beweger oder sich selbst denkender Geist ist. Aber nicht auf diesem Versagen liegt Eckharts Akzent, sondern auf einer positiven Lebensmöglichkeit für den Menschen, die diesem Versagen entspricht: Das Innewerden des Versagens der ratio naturalis, das Wissen um die Unangemessenheit aller eigenen Wege der Gottsuche gegenüber dem, was auf ihnen gesucht wird, kann dem Menschen dazu verhelfen, die einzige dem Geheimnis und der Tiefe Gottes angemessene Haltung einzunehmen. Sie besteht darin, dass der Mensch von sich aus bewusst alle eigene Tätigkeit, insbesondere aber auch die laut Eckhart höchste, die des eigenen Erkennens, erst recht aber alle Gefühls- und Willensregungen, zurücknimmt. Indem Moses selbst seine ratio naturalis, wie Eckhart sagt, gefangen nimmt, da er vom Licht der Gnade getroffen ist, wird er in den Bereich des Geistes geführt, der ihn in die Geheimnisse und Tiefen Gottes einführt. Nicht Resignation vor der Aufgabe, Gott, wie er ist, zu erkennen, ist somit die Pointe der Auslegung Eckharts, sondern die entscheidende lebenspraktische Wendung, die aus der Einsicht in die unübersteigbaren Schranken des menschlichen Erkennens hervorgeht: Zurücknahme des Eigenen, nämlich alles Eigenen, wie wir weiter unten sehen werden.

2.

Ich bin, der ich bin – zu Eckharts Deutung in der ersten Pariser Quaestio

Gleichsam der Spitzensatz des gesamten dritten Exoduskapitels ist, in der Auslegung Eckharts, Gottes Selbstaussage: »Ich bin, der ich bin« oder »Ich bin der Ich bin« (ego sum qui sum).19 Was wir schon bei der Auslegung der Geste des 18 In Ex. LW II 18, 8 – 10. 19 Eckhart liest das Buch Exodus in der lateinischen Fassung, der Vulgata, ein anderer Bibeltext (griechisch oder hebräisch) war ihm nicht zugänglich. Die Frage, ob das Hebräische 8=84 LM,14 8=84 angemessen mit »ego sum qui sum« wiedergegeben wird, ob nicht vielmehr ein

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Moses gesehen haben, wiederholt sich auch hier : Eckharts Interpretation schiebt alles Historische beiseite, die konkrete Geschichte des Volkes Israel mit seinem Gott wird zwar, wie sich gelegentlich zeigt, als real stattgefundenes Geschehen vorausgesetzt, aber die bloße Tatsache, dass dieses Geschehen nicht in einem gewöhnlichen Geschichtsbuch, sondern in der Heiligen Schrift überliefert ist, erfordert für Eckhart eine Interpretation, die das Vergangene ins Jetzt des Lesers / Hörers wendet. Aber dieses Jetzt wird auch nicht durch die konkreten Lebensumstände des Lesers / Hörers konstituiert, denn wir haben ja gesehen, dass dieser alle eigenen Erkenntniskräfte und überhaupt alles Eigene zurücknehmen muss. Es ist also ein Jetzt, worin alles, was normalerweise und alltäglich das menschliche »Jetzt« ausmacht, nicht vorkommen kann. Wenn Gott dem Moses (und damit dem wahrhaft gottsuchenden Menschen) ego sum qui sum zuspricht, wehrt er zunächst alle Vorstellungen ab, auch alle intellektuellen Konzepte, die der Mensch sich von Gott zu machen gewohnt ist oder gelernt hat. Denn damit verbleibt der Mensch im Bereich natürlichen Erkennens, damit entspricht er nicht der Wirklichkeit dessen, was ihm begegnet. Aber wie soll eine solche Entsprechung gedacht und begrifflich artikuliert werden? Eckharts Antworten auf diese Frage schließen an die Tradition der negativen Theologie an. Was er darunter versteht, wird im Folgenden erläutert. Um 1301/1302, also einige Zeit vor der Abfassung des Exoduskommentars, ist Eckhart im Verlaufe einer in Paris gehaltenen akademischen Auseinandersetzung auf Exodus 3,14 eingegangen. In seiner Quaestio »Utrum in Deo sit idem esse et intelligere«20 untersucht er die für uns heute eher abstrakt klingende Frage, ob in Gott das Sein dem Erkennen vorausgehe, wie u. a. Thomas von Aquin lehrt, oder ob nicht vielmehr Gottes Erkennen sein Sein fundiere. Gegen die Tradition, gegen Thomas und, wie er sagt, entgegen seiner eigenen früheren Position behauptet Eckhart, er sei nunmehr zu der Ansicht gelangt, dass nicht Gottes Sein Gottes Erkennen begründe, sondern Gottes Erkennen und Denken Grundlage seines Seins sei. Die Fragestellung gehört der Metaphysik an. Metaphysik ist gemäß Aristoteles die Lehre vom Seienden, insofern es ist. Demgemäß thematisiert sie insbesondere die Bedingungen, die es uns ermöglichen, das Seiende zu erkennen und darüber Aussagen zu machen. In diese Fragestellungen lässt sich auch Exodus 3,14 einzeichnen: Schon in der Septuaginta bezeichnet Gott sich selbst als der Seiende, und die Vulgataübersetzung, ego sum qui sum, geschichtlich prozessualer Sinn gemeint ist, der etwa mit »ich bin, der ich sein werde« oder »ich werde sein, der ich sein werde« besser zu Geltung kommen würde, stellte sich für Eckhart daher nicht. Immerhin übersetzt auch Joseph Ratzinger in seiner Einführung in das Christentum (Ratzinger: Einführung in das Christentum [1971] 81) die entsprechende Exodusstelle mit »Ich bin der Ich bin«, wobei er als Alternative vorschlägt: »Ich bin, was ich bin«. Beide Übersetzungen kommen der Auslegung Eckharts entgegen. 20 LW V, 37 – 54, im Folgenden abgekürzt: Qu. Par. I.

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kann so gelesen werden, dass Gott allein sich selbst das wahrhafte und reine Sein zuspricht. Eckhart stellt die Möglichkeit des Ineinandergreifens von Metaphysik und Offenbarung keineswegs infrage, aber die These seiner Quaestio läuft darauf hinaus, dass Gott die Frage nach dem Seienden so sehr transzendiert, dass der Begriff »seiend« von ihm nicht eigentlich ausgesagt werden kann. Bezogen auf die Frage nach Gott wird die traditionelle Metaphysik buchstäblich sprachlos. Angesichts dieser Frage zeigt sich, dass auf dem Grund der Frage nach dem Seienden ein Geheimnis ist, das bereits durch den Begriff »seiend« verdeckt wird. Und es ist dieser Punkt der Argumentation, an dem Eckhart sich auf Exodus 3,14 bezieht. Er scheint sich selbst zu fragen: Wie passt meine Position, Gott selbst das Prädikat »seiend« abzusprechen, zu der Selbstaussage Gottes: »Ego sum qui sum«? Und Eckhart gibt folgende Antwort: »Wie wenn bei Nacht einer, der verborgen bleiben und sich nicht nennen will, von irgendeinem gefragt würde: Wer bist du? – und er antwortete: ›Ich bin, der ich bin‹, so wollte der Herr zeigen, dass die Lauterkeit des Seins in ihm sei, als er sagte: Ich bin, der ich bin. Er hat nicht einfach gesagt: Ich bin, sondern hinzugefügt: der ich bin. Gott kommt also nicht das Sein zu, es sei denn, man wollte diese Lauterkeit Sein nennen.«21

Wäre Gott als seiend im gewöhnlichen Sinne zu begreifen, müsste er antworten: »Ich bin« oder : »Ich bin dieser oder jener«. Was die Wirklichkeit, die Moses begegnet, an dieser Stelle von sich aussagt, ist dagegen die Übersteigung alles derartigen Benennens. In den Grenzen der Frage nach dem Seienden bleibt wer oder was Gott ist, unbegreiflich und unansprechbar. Wenn Gott seinen Namen nennt, als Zurückweisung aller Benennungen und Begriffe, sprengt er die Grenzen der Frage nach dem Seienden. Solange Menschen fragen: Wer oder was bist du?, erweisen sie sich als unfähig, wahrhaft nach Gott zu fragen, und diese Unfähigkeit spiegelt ihnen die Antwort Gottes zurück. Eckhart argumentiert gemäß der negativen Theologie, die ihm im christlichen Kontext insbesondere aus dem Werk des Pseudo Dionysius Areopagita überliefert ist; im Exoduskommentar schreibt Eckhart sie in besonderer Weise dem Maimonides zu, der behauptet, dass im eigentlichen Sinn nur diejenigen Aussagen über Gott, die sagen, was er nicht ist, wahr seien. Wie Eckhart die negative Theologie versteht, hat er prägnant in einer mittelhochdeutschen Predigt ausgedrückt: »Gott ist namenlos, denn von ihm kann niemand etwas aussagen oder erkennen. Darum sagt ein heidnischer Meister : Was wir von der ersten Ursache aussagen, das sind mehr wir selber, als dass es die erste Ursache wäre. […] Sage ich: Gott ist ein Sein – es ist nicht wahr : Er ist ein überseiendes Sein und eine überseiende Nichtheit. […]

21 Qu. Par. I, LW V 45,11 – 15.

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Schweig daher und kläffe nicht über Gott. Denn damit, dass du über ihn kläffst, lügst du, tust du Sünde.«22

Negative Theologie ist der Verzicht auf bildhafte und begriffliche Vorstellungen, die Bestimmungen in Bezug auf Gott fixieren. Dieser Verzicht entspringt der Einsicht, dass derartige Bestimmungen, werden sie positiv gesetzt, mehr über den Bewusstseinszustand dessen, der sie äußert, als über die Wirklichkeit, die sie zu erfassen suchen, besagen. Nur dem Anschein nach stellt Eckhart mit seinem Akzent auf der Verborgenheit und Namenlosigkeit Gottes das Offenbarungsgeschehen, als das sich Exodus 3 dem unbefangenen Leser in ganz besonderer Weise darbietet, in Abrede. Moses, der sein Angesicht verhüllt, Gott, der seinen Namen verschweigt – diese komplementäre Bewegung des Verhüllens und Verbergens ist für Eckhart zugleich Sprechen Gottes und Hören des Moses und damit Offenbarung. Allerdings ist es die Offenbarung einer Wirklichkeit, die jegliches identifizierende Erkennen, Benennen und Begreifen hinter sich lässt. Gottes Verborgenheit ist somit nicht ein intellektueller Begriff, aufgestellt als Resultat des vergeblichen Versuches, Gott mit menschlichem Verstand zu begreifen, sie offenbart sich vielmehr als das, was sie ist, dem für alles Nicht-Göttliche unempfänglichen und gerade daher für sie empfänglichen Moses. Damit wird Gottes Verborgenheit, die dem Menschen klar geworden ist, zur Quelle lebendiger Erfahrung, aus der Moses als ein neuer Mensch, als Übermittler des Bekenntnisses des einen Gottes, der ohne Bild und Gleichnis ist, als Stifter der Tora, der alles Leben auf Gott hinordnenden Weisung, und als Befreier seines Volkes hervorgeht.

3.

Ich bin, der ich bin – zu Eckharts Deutung im Exoduskommentar

Ich bin, der ich bin – dieser Satz wird in der oben angeführten Quaestio nicht eigentlich interpretiert, sondern zur Illustration einer theologisch-metaphysischen These herangezogen. Anders verhält es sich mit dem Exoduskommentar Eckharts. Als Teil des geplanten »dreiteiligen Werks« Eckharts steht, gemäß Eckharts eigener Aussage, der Exoduskommentar – wie alle Bibelkommentare – unter Vorzeichen einer These, die für Eckhart die Basisthese aller Metaphysik und Theologie ist: Esse est deus, Sein ist Gott.23 22 Pr. 83, Renovamini spiritu, DW III 441,4 – 442,5. 23 Vgl. u. a. Beierwaltes: Platonismus und Idealismus [1972] 5 – 37; Albert: Eckharts These vom Sein (1979); Manstetten: Esse est Deus (1993) 49 – 91. Anlässlich der Auslegung Eckharts zu Exodus 3,14 bemerkt McGinn: Meister Eckhart. Teacher and Preacher (1986) 3: »No other text in all his writings comes closer to a general summary of his position [sc. bezüglich der Frage nach dem Sein] than this part of the Commentary on Exodus.«

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Das Erste und Letzte, wonach die ratio naturalis in der Metaphysik fragt, trägt seit der Metaphysik des Aristoteles den Namen: das Sein. Eckharts Antwort auf die Frage nach dem Sein lautet: Sein ist Gott. Das ist nicht eine Antwort, die irgendetwas von dem, wonach gefragt ist, in Erklärungen auflöst, sondern es ist eine Verlagerung und Vertiefung, letztlich einen Umwendung der Frage. Wer wahrhaft nach dem Sein fragt, stößt auf Gott – und damit ist nicht nur, aber in besonderer Weise, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, vor allem aber Gott, der Vater Jesu Christi, des Sohnes Gottes, gemeint. Wer nach dem Sein fragt, findet die Schlüssel für diese Frage in der Bibel.24 Zugleich aber bleibt für Eckhart alles in Geltung, was die negative Theologie eingesehen hat. Das entspricht dem, was wir oben als das Programm der Bibelauslegung Eckharts kennengelernt haben: das natürliche Verstehen stößt an seine Grenzen. Zugleich aber gehört zu diesem Programm auch, wie wir sahen, dass wir, wenn wir das Wort Gottes, wie es in der Schrift geschrieben steht, verstehen wollen, es durch die natürlichen Argumente der Philosophen gleichsam »hindurchschicken«, uns also unseres Verstandes bedienen müssen. Diese Seite der Bibelauslegung ist diejenige, die bei Eckharts Auslegung des Ego sum qui sum unmittelbar ins Auge springt. Eckharts Verfahren besteht darin, diesen Satz Wort für Wort zu erläutern und dabei insbesondere Argumente aus der Wissenschaft der Grammatik heranzuziehen. Daraus ergeben sich für die Auslegung drei Gliederungspunkte: Zu interpretieren sind »ich«, »bin« und »der ich bin« innerhalb der grammatischen Struktur des Satzes »Ich bin, der ich bin«. Dabei steht die Interpretation unter der besonderen Vorgabe, diesen Satz als Selbstäußerung Gottes zu lesen. Was bedeutet es, wenn Gott »ich« sagt, »bin« sagt und »der ich bin« sagt. Und was bedeutet die Einheit dieser drei Momente im Ganzen des Satzes? Ich. Hören wir dazu Eckharts Worte: »›Ich‹ ist Fürwort der ersten Person. Das unterscheidende Fürwort bezeichnet die reine Substanz. Wenn ich sage, ›die reine‹, so meine ich damit die Substanz ohne jegliches Fremde, ohne Eigenschaft, ohne diese und jene Form, ohne ein Dieses und Jenes. Das aber stimmt mit Gott überein und mit ihm allein, der über Akzidenz, Art und Gattung ist. Mit ihm allein, sage ich. Daher sagt er im Psalm: Einzigartig bin ich (Psalm 140,10).«25

24 »Evangelium contemplatur ens inquantum ens« – Das Evangelium betrachtet das Seiende, insofern es seiend ist, behauptet Eckhart in seinem Johanneskommentar (LW III 380, 13 f.). Wenn das richtig ist, kann man das Evangelium als die »wahre Metaphysik« ansehen. Denn die Leitfrage der Metaphysik des Aristoteles ist die Frage nach dem Seienden, insofern es seiend ist. Vielleicht angemessener noch wäre Eckharts Aussage dahingehend zu deuten, dass das Evangelium die Wahrheit der Metaphysik enthält. 25 In Ex. LW II 20, 2 – 8.

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An verschiedenen Stellen seines Werkes reflektiert Eckhart über das Ich-sagen. Immer impliziert das Sagen von »ich« eine Unterscheidung, »ich« im Gegensatz zu »den Anderen« oder »dem Anderen«. Es ist eine Verweisung, deren inhaltliche Bedeutung, so Eckhart, darin besteht, ausschließlich die reine Substanz des Sprechenden zu bezeichnen. Diese Bezeichnung ist die eigentliche Leistung des Personalpronomens »ich«. Allerdings – so könnte man hier Eckharts Argument ausführen –, ist ein menschlicher Sprecher zu einer solchen Bezeichnung in Wahrheit unfähig. Denn wenn ein solcher »ich« sagt, ist er, ebenso wie seine Hörer, keineswegs in der Lage, seine reine Substanz (die er vermutlich gar nicht kennt), zur Sprache zu bringen, er kann zwar »ich« sagen, aber es ist ihm unmöglich, nur »ich« zu meinen: es mischt sich »Fremdes« ein. In alltäglichen Kommunikationszusammenhängen geht es in unseren Äußerungen in der Tat kaum je um eine inhaltliche Bedeutung von »ich« (das für sich nichts anderes ist als die leere Positionierung eines Sprechenden), sondern um die anschließenden Prädikate: »Ich habe keine Zeit, ich bin ein Wissenschaftler, ich bin in diesen oder jenen Familienumständen, Vermögensverhältnissen, habe diese und jene Ansichten, verwalte diesen oder jenen Verantwortungsbereich, gewärtige folgende Zukunftsaussichten, trage diese Sorgen, hege jene Hoffnungen, bin diesen und jenen Gefühlen und Stimmungen ausgesetzt etc.« – was das »ich« darin besagt, ist das eigentlich dunkle an derartigen Aussagen. Wofern »ich« auf veränderliche Merkmale, soziale und wirtschaftliche Umstände, Gefühle, Meinungen, Überzeugungen bezogen wird, so bezeichnet all dies, gemäß Eckhart, nicht die »reine Substanz« des Sprechenden, sondern, in der Begrifflichkeit der Zeit Eckharts, irgendwelche Akzidenzien: »Eigenschaften«, »diese oder jene Form«, irgendein »Dieses oder Jenes«. Wenn ein Ichsager sich aber fragt: »Wer bin ich?«, so fällt auf, dass er die Antwort darauf nicht geben kann, ohne auf Akzidenzien zu rekurrieren, die er eigentlich in der Frage nicht meint: Will er jedoch diesen Rekurs vermeiden, so wird er sprachlos, er muss sich mit Schweigen bescheiden. »Ich« sagen ohne Bezug auf vergängliche und wechselnde Akzidenzien, also im (für Eckhart) eigentlichen Sinne kann kein Mensch, kann kein Geschaffenes, sondern nur Gott, der »reine Substanz« ist. Als solche ist Gott unterschieden von allem in der Welt, das sonst Substanz genannt ist. Gott ist radikal anders als alle innerweltlichen Substanzen, da diese nur in Verbindung mit Akzidenzien sein können, was sie sind, und sich nicht anders als in der Vermischung mit »diesen und jenen Formen« wahrnehmen und erkennen können. Mit dieser Deutung will Eckhart indirekt auch etwas über den Menschen sagen: Als »Ichsager« steht er in gewisser Weise in der Ebenbildlichkeit Gottes, denn sein Sagen verweist auf den, der ihm die Gabe dazu verlieh; aber die Faktizität des menschlichen Ichsagens zeigt durch die Beimischung von »Eigenschaften«, von »diesem und jenem« an, dass das Geschöpf Mensch unendlich geschieden ist von seinem Schöpfer, dass der Mensch nicht in der Lage ist, nichts

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als seine »reine Substanz« zu bezeichnen – schon weil sein natürliches Verstehen nicht erfassen kann, was das sein soll.26 Der Mensch, der sich als »ich und nur ich, nichts Anderes« bezeichnen würde, würde eben damit zeigen, dass er nicht weiß, was er sagt.27 Bin: Eckhart kommentiert: »Zweites ist zu bemerken: ›bin‹ ist hier das Prädikat des Satzes, wenn (Gott) sagt, »ich bin«, und ist das zweite Satzglied. So oft dies der Fall ist, bezeichnet es das reine Sein und das bloße (nackte) Sein im (Satz-)Subjekt und vom Subjekt und das es (das Sein) das Subjekt ist. D. h. es (das Sein) ist das Wesen des Subjektes, nämlich Wesen und Sein sind dasselbe. Das aber kommt alleine Gott zu, dessen Washeit seine Daßheit ist, wie Avicenna sagt, und der keine Washeit außer seiner Daßheit hat, die durch sein Sein bezeichnet wird«.28

»Bin« ist, wie »ist« und die anderen Flexionsformen von »sein«, im allgemeinen die Copula innerhalb eines Aussagesatzes, das heißt, dass der jeweiligen Form von »sein« ein Prädikat folgt, wie in den Sätzen »Ich bin ein Wissenschaftler«, oder »X ist schlechtgelaunt«. Für Eckhart ist indes qui sum (der ich bin), der das sum wiederholende Ausdruck, der auf das hier zu erläuternde erste sum folgt, 26 In diesem Horizont sind gemäß Eckhart auch und gerade die »Ich bin-Worte« des Jesus von Nazareth im Johannesevangelium zu verstehen. 27 Wenn Adorno sagt (Adorno: Minima Moralia [1951] 57): »Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen«, so würde Eckhart noch weiter gehen: Ein Moment von Anmaßung liegt für ihn in jedem emphatischen Ichsagen, worin der Sprechende mit »ich« in irgendeiner Weise seine Identität hervorheben möchte. Die eigene Identität angemessen anzusprechen, dazu ist menschliches Sprechen, so Eckhart, nie in der Lage, denn da diese Identität immer in Akzidenzien ausgedrückt wird, wird eben damit die reine Substanz, das reine Selbstsein des Menschen, verfehlt. Hinter dieser formalen Struktur, die dem Sprechakt als solchem entspringt, steht aber ein inhaltliches Argument: Meine Identität kann nur sein, was ich für die meine halte, nicht aber das, was mich wahrhaft ausmacht – das wäre nur dem Blick Gottes zugänglich. Da aber Menschen in diesem Leben kaum je ganz frei sind von der Vorstellung »ich« im Gegensatz zu »die Anderen«, oder »mein« im Gegensatz zu »nicht mein«, ist der Ausdruck »ich« (abgesehen von seiner unentbehrlichen Funktion zur Ermöglichung von Kommunikation), wenn er – etwa in der Antwort auf die Frage: »Wer bin ich?«– auf mein Selbstsein hinweisen soll, extrem problematisch, sofern wir Eckharts Gedanken folgen. Etwas Ähnliches kommt in einer Geschichte aus der jüdischen Überlieferung des Chassidismus zum Ausdruck: »Ein Schüler des großen Maggids […] wollte in Karlin Rabbi Ahron (gestorben 1772) aufsuchen, der im Lehrhaus des Maggid sein Gefährte gewesen war. Es ging auf Mitternacht, als er die Stadt betrat, aber sein Verlangen nach dem Anblick des Freundes war so groß, daß er sich sogleich zu dessen Haus wandte und an das erleuchtete Fenster klopfte. ›Wer ruft?‹ hörte er die vertraute Stimme fragen und antwortete, da er gewiß war, daß auch die seine erkannt würde, nichts als: ›Ich!‹ Aber das Fenster blieb verschlossen, und von innen kam kein Laut mehr, ob er auch wieder und wieder pochte. Endlich schrie er bestürzt: ›Ahron, warum öffnest du mir nicht?‹ Da entgegnete ihm die Stimme des Freundes, aber so ernst und groß, daß sie ihn fast fremd dünkte: ›Wer ist es, der sich vermißt, sich Ich zu nennen, wie es Gott allein zusteht?‹« (Buber : Chassidim [1949] 326). 28 In Ex. LW III 21, 1 – 6.

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kein Prädikat. Vielmehr liest Eckhart das erste sum für sich alleine als Prädikat, analog zu emphatischen Existenzaussagen der Art: »Liebe ist« im Sinne von: Liebe existiert wirklich. Mit »Liebe ist« wäre in mittelalterlicher Schulterminologie die »Daßheit« der Liebe angegeben, weil diese Aussage besagt, dass Liebe existiert. Was aber die Liebe ist, ihr Wesen, ihre, mittelalterlich gesprochen, »Washeit« (quidditas), bliebe damit offen. Aber diese Analogie trifft noch nicht ganz das von Eckhart Gemeinte. Wenn Gott von sich aussagt »bin«, dann sagt er, so Eckhart, Folgendes: Mein Sein, mein Dasein, meine Existenz, die Tatsache, dass ich existiere, meine Dassheit, das ist zugleich mein Wesen, meine Washeit. Dass Gottes Wesen sein Sein ist, bedeutet, dass jedes andere Prädikat Gott unangemessen ist. Und auch die Bedeutung des Prädikates »Sein« müsste anders erfragt werden als bei allem Geschaffenen, in Bezug auf welches »Sein«, stricte dictum, nur copulativ, also in Verbindung mit einem anderen Prädikat, gebraucht werden kann. Demgemäß sagt Eckhart: »Weil nun bei allem Geschaffenen Sein und Wesen jeweils anderes sind, deswegen ist die Frage, ob etwas ist, die nach der Daßheit oder Sein des Dings fragt, eine andere als die Frage, was etwas ist, die nach der Washeit oder dem Wesen des Dings fragt. Wenn einer fragt, was ist der Mensch oder was ist ein Engel, wäre es töricht zu antworten, daß er (der Mensch oder der Engel) ist, bzw. der Mensch ist oder der Engel ist. Bei Gott aber, wo die Daßheit das Wesen selbst ist, wird einem, der fragt, was Gott ist, angemessen geantwortet, daß Gott ist.«29

Eckharts Hinweis auf den islamischen Philosophen Avicenna (Ibn Sina, 980 – 1037) macht deutlich, dass die Identität von Existenz und Essenz in Gott, von Dassheit und Washeit bereits von einem nicht-christlichen Denker erkannt wurde. Diese Erkenntnis, die aus dem natürlichen Entstehen entspringen kann, bedeutet zugleich jedoch eine Erkenntnisgrenze des natürlichen Verstehens: Bestimmungen eines Wesens zu liefern, das zugleich inhaltlich absolut unbestimmt ist und doch nur als intensivste Gegenwärtigkeit (Sein) begriffen werden kann, das überschreitet die Möglichkeit menschlichen Begreifens. Das bedeutet, dass die ratio naturalis, personifiziert in Avicenna, aus ihrer eigenen Tendenz heraus ihre Ohnmacht gegenüber Gott anerkennt, dass sie aber zugleich in der Lage ist, diese Ohnmacht in einer klaren Formulierung (»Identität von Washeit und Daßheit«) begrifflich anzusprechen, einer Formulierung, die auch dem Offenbarungstheologen hilfreich sein kann. Denn damit ist dem Menschen zugleich mit der Einsicht in die Grenzen seines Erkennens die Aufgabe gewiesen, sich dem Moses gleich auf einen Weg zu machen, der ihn empfänglich macht für das Licht der Gnade, den Geist, der allein die Identität von Wesen und Sein in einem Akt aufschließen kann, der nicht mehr der natürlichen ratio angehört. 29 In Ex. LW II 24, 1 – 7.

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Der ich bin: Den Ausdruck qui sum, worin der Ausdruck sum zum zweiten Male erscheint, kommentiert Eckhart so: »Was ist in solchem Maße dasselbe wie Sein und Sein; ich bin der ich bin? Kein Satz ist daher wahrer als derjenige, in dem dasselbe von sich selbst ausgesagt wird.«30

Für Eckhart fügt also qui sum keinen neuen, verschiedenen Inhalt zu dem hinzu, was in ego sum ausgesagt wird. Dennoch ist die Wiederholung des »ich bin« nicht überflüssig, wie aus dem Kommentar Eckharts deutlich wird: »Die Wiederholung, dass nämlich zweimal ›Sein‹ gesagt wird (wenn gesagt wird: ich bin, der ich bin), zeigt die Reinheit der Bejahung unter Ausschluss jeder Verneinung von Gott an. Wiederum zeigt sie an eine Art zurückspiegelnde Umkehr (reflexivam conversionem) des Seins in sich hinein und auf sich selbst und ein Verharren und Feststehen in sich; ferner eine Art Aufwallen oder Gebärung seiner selbst. In sich selbst brausend und in sich selbst und auf sich selbst fließend und wallend ist es; Licht ist es, das im Licht und in das Licht hinein sich mit allem, was es ist, sich als alles, was es ist, durchdringt und sich selbst von allen Seiten mit allem, was es ist, zu sich selbst umkehrt und zurückstrahlt, nach dem Wort des Weisen: ›Die Einheit zeugt die Einheit, und in sich selbst hinein spiegelt ihre Liebe und Glut zurück.‹«31

Qui sum, die Wiederholung dessen, was in ego sum gesagt ist, ist Ausdruck der unendlichen Bejahung Gottes, der seinem Wesen nach nichts Verneinendes in sich hat: Er ist reine Bejahung unter Ausschluss aller Verneinung. Damit aber wird ein Akzent gesetzt, der im ego sum nicht explizit formuliert war. Die Begrifflichkeit der zurückspiegelnden Umkehr bringt das Moment der Bewegung, des Prozessualen, der Ermöglichung von Geschichte hinzu, ein Moment, das von Eckhart in verschiedenen Metaphern angesprochen wird: Aufwallen, Gebärung, Brausen, Fließen. Dabei wird von Eckhart mit Bedacht verschwiegen, dass die »Umkehr zu sich selbst« ein Ausgehen aus sich selbst voraussetzt, mit Bedacht deswegen, weil Gottes Ausfließen, das anderswo bei Eckhart mit der Schöpfung gleichgesetzt wird, nur in der reflexiven Umkehr sich als Gottes eigene Wirklichkeit erweist, also im dynamischen Kreisgang von Ausfluss und Rückkehr : wohingegen Schöpfung für sich, als isoliert aus der Dynamik des Kreisens herausgenommener Ausfluss aus Gott, nichts und nichtig ist. Zugleich aber bleibt sie, im Kreisen des Aufwallens, Gebärens und Rückwendens gefasst, göttlich. Die Implikationen dieses Gedankens, den Eckhart vor allem in seinem Prolog zum Johannesevangelium entfaltet, werden im Exoduskommentar nicht weiterverfolgt, bis auf einen entscheidenden Akzent: den der Bejahung. Alles, was aus Gott als Geschöpf abstammt, sofern es nicht in Gott wieder eingeboren wird, enthält wesentlich ein Moment der Verneinung: insofern es durch sein 30 In Ex. LW II 77, 4 f. 31 In Ex. LW II 21,7 – 22,3.

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Sosein das Sosein eines anderen Wesens verneint, oder, wie Eckhart sagt, »seiend und nicht seiend ist«. In Gott aber gibt es Verneinung nur als Verneinung der Verneinung (negatio negationis). »Keine Verneinung, nichts Negatives kommt Gott zu, außer der Verneinung der Verneinung, die das Eine bezeichnet, negativ ausgedrückt. Gott ist Einer, (Dtn 6, 4; Gal 3,20). Die Verneinung der Verneinung ist jedoch reinste und erfüllteste Bejahung: Ich bin der ich bin.«32

Mit dieser Formulierung zeigt Eckhart, dass er der negativen Theologie eine bestimmte Orientierung geben möchte: Wenn diese die Unangemessenheit der begrifflichen Erfassung Gottes aufzeigt, so trifft sie damit einen Zug des begrifflichen Denkens selbst: Jede Bestimmung in Begriffen, jede Definition, ist eine Abgrenzung eines Gegenstandes oder Sachverhaltes gegen einen anderen. Damit hat sie einen verneinenden Zug. Diese Verneinung, die das begriffliche Denken wesenhaft mit sich bringt, macht es unmöglich, Gott im Denken zu erfassen. Aber der in der negativen Theologie als undenkbar und unfassbar erwiesene Gott ist nicht der ganz Andere, unendlich Ferne, sondern er ist in seiner umfassenden Fülle Bejahung, die sich jedem Geschöpf mitteilt. »Das Sein kann sich für niemanden und nichts verneinen […] und wiederum kann es nichts verneinen (im Sinn von: für sich behalten). Wie also für das Sein nichts verneint (im Sinne von: versagt) werden kann, so verneint sich das Sein für niemanden und nichts. Umsonst (gratis) empfängt es, umsonst gibt es.«33

Als Ganzes genommen, setzt der Satz »Ich bin der ich bin« nichts Positives, nichts, dessen man begreifend habhaft werden könnte. Für den bestimmenden Verstand bleibt der Gott, der sich dem Moses offenbart, gleichsam eine leere Stelle. Aber Eckhart macht deutlich, dass diese leere Stelle zugleich den Ort bezeichnet, wo menschliches Leben in der bejahenden Fülle des Seins geborgen ist, den Ort, von dem aus es Orientierung, Auftrag, Richtung und Energie gewinnt, wie es dem Moses am Horeb zuteil wurde. Wir haben Eckharts Auslegung von Exodus 3,14 nur in Ausschnitten kommentiert, um an einem Beispiel sein Vorgehen und seine Zielsetzung deutlich zu machen. Nicht gezeigt werden konnte die Pluralität seiner Deutungsansätze gemäß seiner Überzeugung (die er bei Augustinus formuliert fand), dass man eine Schriftstelle keinesfalls auf denjenigen Sinn reduzieren dürfe, den der menschliche Autor in sie hineinlegte, sondern dass jede Deutung, die der Schrift etwas Wahres entnehme, berechtigt sei, da ja der eigentliche Autor der Schrift, Gott, sie den Menschen nur mitgeteilt habe, um sie zur Wahrheit zu führen. Nicht gezeigt werden konnte weiterhin, wie Eckhart angesichts von Exodus 3,14 32 In Ex. LW II 77, 9 – 13. 33 In Ex. LW II 78, 3 – 8.

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insbesondere mit dem jüdischen Denker Maimonides34, mit dem islamischen Denker Avicenna, mit der Patristik, der mystischen Theologie des Dionysius Areopagita, mit Thomas von Aquin sowie Albertus Magnus und seiner Schule im Gespräch steht: Stattdessen wurde hier versucht, sichtbar zu machen, wie Eckhart, ausgehend von einer grammatischen Analyse, den Satz ego sum qui sum zum Feld einer Reflexion macht, die der Metaphysik und Theologie seiner Zeit neue Wege weisen wollte. Schließlich wurde auch nicht darauf eingegangen, dass Eckhart (auch hier ist Augustinus Vorbild) die gesamte Bibel als ein einziges zusammenhängendes Werk liest, nämlich als Wort Gottes, genauer, des Heiligen Geistes, der durch verschiedene und manchmal gegensätzlich erscheinende menschliche Stimmen spricht bzw. sehr unterschiedlichen Schriftstellern beim Schreiben die Hand führt. Daher kann Eckhart auch scheinbar weit voneinander entfernte Schriftstellen zusammenziehen, ohne sich je zu fragen, ob sie nicht, menschlich gesehen, aus unvergleichbaren kulturellen Situationen oder politisch-religiösen Gemengelagen heraus entstanden sind. Im Geist verstanden sind sie für Eckhart in ihren Aussagen einig.

Orientierung der Lebenspraxis und geistliche Übung Richtiges Denken über Gott lehren und dabei durch das Denken hindurch die Unmöglichkeit, Gott denkend zu entsprechen, sichtbar zu machen, ohne auf Denken zu verzichten – das ist das eine Vorzeichen, unter dem Eckhart ego sum qui sum auslegt. Das ganze Leben auf die Suche nach Gott auszurichten und die rechte Haltung bei der Gottsuche zu finden, das ist das andere Vorzeichen seiner Auslegung. Dieses letztere wird indes in den lateinischen Bibelauslegungen Eckharts weniger deutlich als das erstere. Denn darin spricht Eckhart in der Rolle des Gelehrten, des »Lesemeisters«, wie er selbst sagt. Die andere Seite seiner Tätigkeit, sein seelsorgerliches Predigen und Handeln, sein Wirken als »Lebemeister« kommt dabei nur indirekt zum Ausdruck. Eckhart, der seine Reputation als Meister (magister) ja nicht zuletzt seinem Wirken als Lesemeister während seines Magisteriums in Paris auf der ehemaligen Lehrkanzel des Thomas von Aquin verdankt, ist jedoch überzeugt, dass ein Lebemeister weit mehr wert ist als ein Lesemeister. Eckharts Bibelinterpretationen können allerdings daran erinnern, dass man Lesemeister und Lebemeister nicht gegeneinander ausspielen sollte. Was der Lesemeister in Exodus 3 liest und interpretiert, hat Bedeutung für das, was der Lebemeister Eckhart denen ans Herz legt, die ihn um Rat und Unterstützung auf ihrem geistlichen Wege bitten. 34 Vgl. hierzu insbesondere Schwartz: Meister Eckharts Schriftauslegung als Maimonidisches Projekt (2004).

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Erst vor dem Hintergrund der Intentionen des Lebemeisters Eckhart kann wiederum sein Zugang zur Schriftauslegung deutlich werden. Ohne einen solchen Hintergrund muss sein Verfahren, Texte wie das Buch Exodus zu deuten, befremden. Ohne Rücksicht auf das Ganze des Buches, mit spärlichen Hinweisen auf den Auszug aus Ägypten, den Durchzug durchs Rote Meer und die Ereignisse beim Weg durch die Wüste (mit Ausnahme einiger Bemerkungen zum Manna), stattdessen scheinbar willkürlich einzelne Sätze aus dem Gewebe des Textes herausgreifend und in metaphysischen und ethischen Theoriehorizonten erläuternd, so stellt sich der Ausleger Eckhart seinem Leser dar. Wer aber genauer hinschaut, erkennt, dass Eckharts wesentliches Anliegen darin besteht, den Text durch die Auslegung dem Hörer / Leser gegenwärtig werden zu lassen. Diese Gegenwart ist zugleich Herausforderung an den Leser, sein Leben zu ändern, indem er, wie Moses, sein eigenes Angesicht verhüllt, d. h. seine Sorgen, Wünsche, Ängste ebenso wie seinen Weltzugang und seine Überzeugungen beiseite tut. Nur so wird er offen für die Gegenwart des reinen Seins, das ihm, wie dem Moses, als der sich selbst in der Unbegreiflichkeit seines Wesens offenbarende Gott begegnen kann. Demgemäß hebt der Lebemeister Eckhart immer wieder hervor, dass die Menschen, die nach Gott fragen, ihr Bewusstsein (Eckhart spricht das Bewusstsein mit dem Ausdruck Gemüt an) ledig halten sollen. Wie Moses vor dem brennenden Dornbusch soll der Mensch, der sich auf die Gegenwart Gottes einlässt, alles Seinige »verhüllen«, d. h. die Macht alles dessen, was er als »sein« bezeichnen könnte, brechen: »Das kräftigste Gebet ist jenes, das hervorgeht aus einem ledigen Gemüt. Was ist ein lediges Gemüt? Das ist ein lediges Gemüt, das durch nichts beirrt und an nichts gebunden ist, das sein Bestes an keine Weise gebunden hat und in nichts auf das Seine sieht, vielmehr völlig in den liebsten Willen Gottes versunken ist und sich des Seinigen entäußert hat. […] So kraftvoll soll man beten, dass man wünscht, alle Glieder und Kräfte des Menschen, Augen wie Ohren, Mund, Herz und alle Sinne sollen darauf gerichtet sein, und nicht soll man aufhören zu beten, ehe man empfindet, dass man sich mit dem zu vereinen im Begriffe steht, den man gegenwärtig hat und zu dem man betet, das ist: Gott.«35

Ledigsein bedeutet alltagssprachlich: in keiner dauerhaft festen Bindung zu stehen. Für das menschliche Bewusstsein bedeutet dies: Während es alltäglich mit bestimmten Vorstellungen (Überzeugungen, Interessen, Sorgen, Wünschen, Ängsten, Schuldgefühlen, Spuren von Verletzungen etc.) gleichsam »verheiratet« ist, so dass es sich daraus kaum herauswinden kann, traut Eckhart dem Menschen die Möglichkeit zu, davon frei und, wie er sagt, unbeschwert zu sein. Weder von einer Überzeugung, noch von einem Interesse, noch von einem 35 Meister Eckhart, Die Reden der Unterweisung, Vom allerkräftigsten Gebet und vom allerhöchsten Werk, DW V 1901 – 191,4.

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Gefühl braucht man sich knechten zu lassen, denn das ledige Bewusstsein drückt die eigentliche Bestimmung des Menschen aus, »ledig und frei zu sein wie unser Herr Jesus«36. Auch wenn es letztlich, so Eckhart, Gnade ist, die diese Freiheit ermöglicht, so kann sich der Mensch durch Übung dafür bereit machen. Vor allem in seinen »Reden der Unterweisung« gibt Eckhart eine Fülle von Hinweisen und Anregungen, wie der Mensch in unterschiedlichen Lebensumständen sein Bewusstsein ganz auf die Gegenwart Gottes einstellen kann. Von diesem Anliegen Eckharts her kann auch seine Schriftauslegung verstanden werden. Geht es in ihr einerseits darum, das Wissen der Welt (rationes naturales) auf seine transzendenten Wurzeln zu verweisen, so ist vielleicht noch wichtiger das andere Anliegen: In den Schriften Christus, die Wahrheit, zu finden, wie Eckhart fordert, das bedeutet zugleich, das eigene Bewusstsein frei zu machen für denjenigen, von dem Paulus im Galaterbrief schreibt: Ich lebe, doch nicht ich, Christus lebt in mir. Christus in den Schriften finden, heißt demgemäß weniger, die Vorzeichen des Jesus von Nazareth in den Schriften des AT zu erkennen, als vielmehr, selbst mit den Augen des Christus die Schrift zu lesen. Eine solche Lektüre kann nicht in einen philosophischen Bibelkommentar, auch nicht in einen wie den Eckharts, gegossen werden. Aber Eckharts – auf den ersten Blick oft befremdliche, geradezu idiosynkratische – Bibellektüre kann gerade in ihrem oft fragmentarischen Gedankenduktus, in ihren bewussten in Kauf genommenen Brüchen gleichsam Fenster öffnen, die die Wand, die die diskursive ratio zwischen unserem Bewusstsein und der Gegenwart Gottes errichtet, durchbrechen und uns etwas erfahren lassen, das unser Verstand nicht versteht. Der Mann, »der Wein im Keller hat und nicht weiß, dass er gut ist«37, das ist der Mensch, der dem Christus in sich keinen Raum gegeben hat. Gibt er ihm aber Raum, so wird er erfahren, dass in ihm ein Ja ist, das eins ist mit der grenzenlosen Bejahung, die Gott selbst ist. Dieses Ja befähigt ihn, alles, was geschieht, anzunehmen, sei es, in den Worten Bonhoeffers, in einer Haltung der »Ergebung«, sei es als die Herausforderung, die wir annehmen, indem wir »Widerstand« leisten38. Nur das Ja, das dem Christus entspringt, befähigt den Menschen, mit ganzem Herzen zu sagen: Dein Wille geschehe. Demgemäß sagt Eckhart in einer Predigt: »Nun könntest du sprechen: Woher weiß ich, ob es der Wille Gottes ist oder nicht? Das sollt ihr wissen: Wäre es Gottes Wille nicht, so wäre es auch nicht. Du hast weder Krankheit noch sonst irgendetwas, wenn Gott es nicht wollte […] Ich pflege oft ein Wörtlein zu sprechen, und es ist wahr. Wir rufen alle Tage im Paternoster : Herr, dein Wille werde. Und wenn dann sein Wille wird, so wollen wir zürnen, und es genügt uns 36 Vgl. Pr. 1, Intravit Iesus in Templum, DW I 11, 5 – 10. 37 Pr. 10, In diebus suis, DW I 164, 5 – 8. 38 Vgl. Bonhoeffer : Widerstand und Ergebung (1951).

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nicht an seinem Willen. Und was er täte, das sollet uns am allerbesten gefallen. Die es also zum Besten annehmen, die bleiben bei allen Dingen in gänzlichem Frieden. Es dünkt euch mitunter : Ach, wäre es anders gekommen, so wäre es besser. So lange es dich so dünkt, so wirst du niemals Frieden finden. Du sollst es als Allerbestes nehmen.«39

Abschließende Bemerkungen Muss man die Bibel so lesen, wie Eckhart sie liest? Bereits Eckhart selbst hätte diese Frage mit Nein beantwortet, denn der Sinn der Bibel eröffnet, davon ist er überzeugt, so viele Zugänge, wie es Menschen gibt, die ihn suchen. Darunter haben auch alle Einsichten der Wissenschaft ihren Stellenwert. Wenn heute etwa die historisch-kritische Lektüre der Heiligen Schrift mit, wie Eckhart sagt würde, natürlichen Argumentationen unterschiedliche Schichten in biblischen Texten findet, Spannungen zwischen den Interessen unterschiedlicher Autoren und Rezipientengruppen aufdeckt oder Tatsachen und Legenden auf der Basis des Forschungsstandes der jeweils aktuellen Geschichtsschreibung scheidet, so würde Eckhart diesem Verfahren, hätte er es gekannt, seine Zulässigkeit kaum abgesprochen haben. Aber er würde davor gewarnt haben, es zu verabsolutieren, es zum Maßstab gelingender Auslegung zu machen. Die Argumente des natürlichen Verstehens haben dienende Funktion; sie sollen uns bereit machen, in die Tiefen des göttlichen Sinns der Schrift einzugehen, nicht aber diesen Weg ersetzen durch angeblich objektive Erkenntnis. Man muss die Bibel nicht so lesen, wie Eckhart sie las. Aber unter verschiedenen Arten zu lesen erinnert uns diejenige Eckharts daran, dass Heilige Schrift nicht in erster Linie ein Objekt der Forschung, sondern eher die Stätte ist, an der Gott suchende Menschen den Ursprung der Orientierung ihres Denkens und Lebens entdecken können. Dem entsprechen sowohl seine Idee, das Wissen einer Zeit an die Bibel heranzutragen, als auch seine Intention, alle Gottesbilder und alle in der Schrift überlieferten Worte von und über Gottes bilderloses Sein jenseits der Worte zu beziehen, dem entspricht nicht zuletzt die radikal vergegenwärtigende Lektüre des Bibeltextes. Diese Lektüren der Bibel haben einen Wert, der nicht an Zeit, Umstände und Person Eckharts gebunden ist.

39 Pr. 4, Omne datum optimum, DW I 62, 5 – 7 und 64, 3 – 11.

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Literatur Meister Eckhart: Die Deutschen Werke (DW), Stuttgart 1936 ff. (Kohlhammer), mit den in römischen Ziffern angegebenen Bandnummern. Bd. I–III (Predigten) und Bd. V (Traktata), Josef Quint (Hg), Bd. IV,1 Georg Steer (hg. unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek und Freimut Löser). Die hier verwendeten Texte sind alle von J. Quint herausgegeben und übersetzt worden. Ders.: Die Lateinischen Werke (LW), Stuttgart 1936 ff. (Kohlhammer), mit den in römischen Ziffern angegebenen Bandnummern, darunter : Liber Parabolorum Genesis, LW I 447 – 702. (hg. und übers. von Konrad Weiß). Expositio Libri Exodi, LW II 1 – 227 (hg. und übers. von Konrad Weiß). Expositio sancti Evangelii secundum Iohannem, LW III (hg. und übers. von Karl Christ und Josef Koch). Quaestio: Utrum in deo sit idem esse et intelligere, LW V 37 – 54 (hg. und übers. von Bernhard Geyer). Adorno Theodor W.: Minima Moralia, Frankfurt a. M. 1951. Albert, Karl: Meister Eckharts These vom Sein: Untersuchungen zur Metaphysik des Opus tripartitum, Kastellaun 1976. Ders.: Vom philosophischen Leben: Platon, Meister Eckhart, Jacobi, Bergson und Berdjaev, Würzburg 1995. Beierwaltes, Werner : Platonismus und Idealismus, Frankfurt a. M. 1971. Bely, Marie-Etienette: Ma„tre Eckhart, lecteur de l’Êcriture, in: Th¦ophilyon 14,1, Lyon 2009, 187 – 193. Bonhoeffer, Dietrich: Widerstand und Ergebung: Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von Eberhard Bethge, München 1951. Buber, Martin: Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1949. Dahan, Gilbert: Histoire de l’ex¦gÀse chr¦tienne au Moyen ffge in: Annuaire de l’Êcole Pratique des hautes ¦tudes, Sciences religieuses 115 (2007) 256 – 261. Faber, Malte / Manstetten, Reiner : Mensch – Natur – Wissen. Grundlagen der Umweltbildung, Göttingen 2003. Flasch, Kurt: Meister Eckhart. Die Geburt der »Deutschen Mystik« aus dem Geist der arabischen Philosophie, München 2006. Gire, Pierre: Ma„tre Eckhart et la m¦taphysique de l’Exode (Patrimoines Christianisme), Paris 2006. Haas, Alois M.: Meister Eckhart als normative Gestalt geistlichen Lebens, Einsiedeln 1979. Janssen, Paul: Meister Eckhart und Nägärjuna. Von Selbstaufhebungen unterschiedlich unterscheidenden Sagens und dessen, womit es sich zusammengeschlossen hat, in: Schneider, Notker (Hg.): Philosophie aus interkultureller Sicht (Studien zur interkulturellen Philosophie 7), Amsterdam 1997, 95 – 106. Kobusch, Theo: Mystik als Metaphysik des moralischen Seins. Bemerkungen zur spekulativen Ethik Meister Eckharts, in: Ruh, Kurt (Hg.): Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg, Stuttgart 1984, 49 – 62. Koch, Josef: Sinn und Struktur der Schriftauslegungen Meister Eckharts, in: Ders.: Kleine Schriften I (Storia e letteratura; Raccolta di studi e testi 127), Rom 1973, 399 – 428.

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Ludger Schwienhorst-Schönberger

Johannes Tauler (1300 – 1361): Mystik und Schriftauslegung

Der vorliegende Beitrag geht davon aus und möchte im Gespräch mit Johannes Tauler zeigen, dass die Mystik zum Kern des christlichen Glaubens gehört, und zwar von seinen Anfängen an, und dass sich von der Wiederentdeckung dieses Kerns sowohl eine Vertiefung christlicher Lebensformen als auch eine Öffnung im ökumenischen und interreligiösen Dialog ergibt. Aus bibelwissenschaftlicher, insbesondere alttestamentlicher Sicht gilt es, mit dem verbreiteten Vorurteil aufzuräumen, die so genannte »Diesseitigkeit« des Alten Testaments stünde einem mystischen Verständnis desselben entgegen. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass das in der Mystik wurzelnde geistige Verständnis des Alten Testaments in diesem selbst angelegt ist.1 Dies soll am Beispiel des alttestamentlichen Fremdgötter- und Bilderverbotes gezeigt werden. Die mystische Lehre Taulers soll als existenzielle Aneignung und Auslegung des alttestamentlichen Fremdgötter- und Bilderverbotes gelesen werden. Dabei geht es um eine Transformation auf drei verschiedenen Ebenen: auf der Ebene des Textes, auf der Ebene des Subjekts und auf der Ebene des religiösen Systems. Die drei Ebenen greifen ineinander, wie sich noch zeigen wird. 1. Auf der Ebene des Textes geht es um die Rezeption und Transformation des alttestamentlichen Fremdgötter- und Bilderverbots in der mystischen Lehre Taulers. 2. Der mystische Weg, den Tauler lehrt, ist ein Weg der Wandlung. Die Wandlung vollzieht sich zunächst und vor allem auf der Ebene des Subjekts, das diesen Weg geht. Damit ist der anthropologische Aspekt des Themas angesprochen.

1 Vgl. Schwienhorst-Schönberger: Hohelied (2001); Paradigmenwechsel (2003); Erleuchtungserfahrung (2005); Psalm 122 (2006); Psalm 1 (2007); Inspiriertes Wort Gottes (2007); Kontemplatives Schriftverständnis (2007); Einheit der Schrift (2008); Vom Glauben zum Schauen (2008); Sehen im Nicht-Sehen (2009); Psalm 73 (2009); Hoheliedauslegung (2010); Väterhermeneutik (2011).

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3. Die mystische Lehre Taulers führt aber zugleich zu einer Transformation des religiösen Symbolsystems, in dem sie sich artikuliert. Damit ist die Ebene des Systems angesprochen. Wie diese Transformation näherhin zu bestimmen ist, soll am Ende des Beitrags angesprochen werden. An dieser Stelle sei der Hinweis gestattet, dass der Begriff der Transformation in der christlichen Mystik eine Schlüsselrolle spielt. Der biblische Bezugstext ist 2 Kor 3,18, wo der Apostel Paulus von der Transformation in das Bild Christi spricht. In der lateinischen Übersetzung lautet der Text: »Nos vero omnes revelata facie gloriam Domini speculantes, in eandem imaginem transformamur a claritate in claritatem tamquam a Domini Spiritu.« – »Wir alle aber spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider und werden so gleichsam vom Geist des Herrn in sein eigenes Bild verwandelt, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit.« Für den hier beschriebenen Prozess, den zu verstehen der folgende Aufsatz sich bemüht, verwendet Johannes Tauler den Begriff »überformen«2.

Heilige Schrift und christliche Mystik Eine der Grundlagen, um nicht zu sagen: die Grundlage christlicher Mystik ist die Heilige Schrift. Bernard McGinn spricht von der »deutliche[n] Schriftbezogenheit der christlichen Mystik«. Für die christliche Mystik sind »Lektüre, Auslegung und betende Aneignung der Hl. Schrift und anderer klassischer Texte […] zentral«3. Das scheint auch für Johannes Tauler zu gelten. Geht doch jede seiner gut achtzig Predigten, die uns überliefert sind, vom Evangelium oder von der Lesung des jeweiligen Tages aus. In jeder seiner Predigten zitiert er in der Regel mehrfach die Heilige Schrift. In fast allen Fällen legt er das Evangelium oder die Lesung des Tages ganz oder in zentralen Passagen aus. Es dürfte unbestritten sein: Die Lehre seines mystischen Weges entfaltet Tauler auf der Grundlage der Heiligen Schrift.

2 Vgl. H 31, 223: »Sie werden überformt und mit Gott vereinigt.« »Sffl werdent fflberformet und geeiniget in Got« (V 60 f, 316, 9 f.). Dort auch der Hinweis auf 2 Kor 3,18: »Sant Paulus sprach: ›wir werdent transformieret von klorheit in klorheit in das selbe bilde von dem geiste Gottes‹.« (V 60 f, 316, 12 f.). Weitere Belege bei McGinn: Mystik (2008, Band 4) 493, Anm. 235. – Taulers Predigten werden nach der Ausgabe von Vetter (V Predigtnummer, Seite, Zeile) zitiert; die Übersetzungen folgen weitgehend der Ausgabe von Hofmann (H Predigtnummer, Seite). Die Nummerierungen der Predigten weichen in den beiden Ausgaben zum Teil voneinander ab. 3 McGinn: Mystik (1994, Band 1) 23.

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Mystik als Lehre und Mystik als Erfahrung Nun scheint es aber nicht so zu sein, dass Tauler seine mystische Lehre aus der Heiligen Schrift ableitet. Das dürfte auch gar nicht möglich sein, denn wenn es möglich wäre, dann wäre jeder, der die Heilige Schrift sachgemäß auslegt, ein Mystiker, oder ein Lehrer der Mystik. Das ist, wie allgemein bekannt, nicht der Fall. Es gab und gibt viele Theologen und Schriftgelehrte, die keine Mystiker sind. Hin und wieder finden sich bei Tauler kleine Polemiken gegen gelehrte Theologen, die viel wissen, aber kaum etwas erfahren haben. Offensichtlich spielt der Begriff der Erfahrung in Taulers mystischer Lehre eine entscheidende Rolle. Tauler spricht vor dem Hintergrund einer ihm zuteil gewordenen Erfahrung.4 Generell wird man sagen dürfen: Das Wissen, das Mystikern zuteil wurde, ist ein anderes Wissen als das, was sich jemand aus Büchern angeeignet hat. Deutlich hat Hugo M. Enomiya-Lassalle diesen Unterschied zum Ausdruck gebracht: »Sicher sind auch Tauler jene inneren Leiden nicht erspart geblieben, die nicht so sehr von äußeren Einflüssen herrühren als von innen her aufbrechen, denn Mystiker müssen, anders als wissenschaftliche Lehrer, den Weg, den sie lehren, zunächst selbst gehen: mit all seinen inneren Bedrängnissen und oft bis an den Rand der Verzweiflung. Auch Tauler ist den Weg, den er andere lehrte, zunächst selbst gegangen, besser gesagt, geführt worden.«5 In diesem Sinne kann jemand die Bibel sehr gut kennen, ohne dass er ein Mystiker ist. Damit klingt allerdings ein Problem an, das offensichtlich auch Tauler vor Augen stand: Hat jemand die Bibel verstanden, wenn ihm das, worüber sie spricht, aus eigener Erfahrung nicht einmal anfänglich zugänglich ist? Wie bereits erwähnt: Hin und wieder polemisiert Tauler gegen theologische Lehrer, die über biblische Wahrheiten sprechen, sie aber nicht erfahren haben. In Bezug auf die von Paulus in 2 Kor 3,18 angesprochene Verwandlung sagt Tauler : »Wie diese Umwandlug vor sich geht, können nur die wissen, die das erlebt haben« (H 31, 223).6 In einer Predigt über die Heilige Dreifaltigkeit heißt 4 Vgl. dazu und zur Ambivalenz und Differenzierung des Erfahrungsbegriffs in der (Taulerschen) Mystik den Abschnitt: »Zunichte werden – Mystik als Weg der Wandlung« am Ende dieses Beitrags. Verwiesen sei auch auf die Diskussion bei McGinn: Mystik (1994, Band 1) 13 – 20, der mit der neueren Forschung den Begriff des Bewusstseins (einer unmittelbaren Gegenwart Gottes) für fruchtbarer hält als den Begriff der Erfahrung. Zu diesem Aspekt vgl. auch den Forschungsüberblick bei Zekorn: Gelassenheit und Einkehr (1993) 1 – 16. Haas: Nim din selbes war (1971), spricht vom »Erfahrungsmoment der negativen Selbsterkenntnis« (80) und vom »Erfahrungscharakter von Taulers Mystik« (83): »Wenn es so etwas wie eine mystische ›Lehre‹ Taulers gibt, dann liegt deren Radikalität in der erfahrbaren Evidenz, in der sie sich konkretisiert […] Das Lehrhafte ist hier ein ins Erfahrene und Erfahrbare notwendig übergängiges Element« (80). 5 Enomiya-Lassalle: Zen und christliche Mystik (1986) 364. Hervorhebung von mir. 6 »Wie dise wandelunge geschehe, das werdent die gewar die disen weg gegangen sint« (V 60 f, 316, 15 f).

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es: »Hierüber könnte man erstaunlich viele Worte machen und hätte doch nichts gesagt[…]Das zu erfahren ist besser, als darüber zu sprechen[…]Überlassen wir (das Reden darüber) den großen Lehrmeistern: die müssen hierüber etwas sagen können, um den Glauben zu verteidigen, und sie besitzen darüber auch dicke Bücher. Wir aber wollen in schlichter Weise glauben« (H 29, 199 f).7 Man hat Tauler einen »lebmeister« genannt, einen, der die Lehre lebt und sie aus dem Leben und auf das Leben hin entfaltet,8 im Unterschied zu einem »lesmeister«, der die Lehre nur vom Lesen her kennt.9 Nach Stefan Zekorn ist Taulers Selbstverständnis »als Prediger, und zwar genauer als ›Lebemeister‹, das heißt als Seelsorger und Lehrer geistlichen Lebens« der Schlüssel zum Verständnis seines Werkes.10

Glaube aus Erfahrung Damit rückt eine erste grundlegende Konvergenz zwischen Taulers mystischer Lehre und der Heiligen Schrift in den Blick. Sie betrifft noch gar nicht den Inhalt der Lehre, sondern ihre Genese. Von den zentralen biblischen Figuren wird erzählt, dass sie etwas gehört oder gesehen haben. Denken wir an Abraham, an Mose, an Jesaja und Ezechiel, aber auch an die Jünger Jesu. Ihnen wurde, so die Erzählungen, eine Erfahrung, eine Einsicht zuteil. Darauf haben sie reagiert. Auf den Inhalt und die Form derartiger Erfahrungen soll hier nicht näher eingegangen werden. Halten wir zunächst fest: Die biblische Botschaft gründet in einer Erfahrung. Diese Erfahrung wird bezeugt. Das Zeugnis dieser Erfahrung ist in der Heiligen Schrift überliefert. Dieses Zeugnis wird in vielfältiger Weise reflektiert, in und außerhalb der Schrift. So entsteht der Glaube der Kirche und e

7 »Hinnan ab mocht man wunderlich vil wort machen, und enist doch alles nfflt gesprochen […] Hinnan ab ist besser ze bevindende wan ze sprechende […] Und wir bevelhen dis den grossen e phaffen; die mussent doch hinnan ab etwas worte haben ze beschirmende den gelo˘ben, und die hant grosse bu˚ch hinnan ab. Aber wir sfflllen einveltklich gelo˘ben« (V 60d, 299, 15 f; 17; 22 – 24). Ein weiterer Beleg: »Was sich in dieser Gefangenschaft ereignet, das ist besser zu erfahren, als darüber zu sprechen« (H 31, 224). »Wie es do gat in der ingenummenheit, do were besser von zu˚ bevindende denne zu˚ sprechende« (V 60 f, 316, 23 – 25). 8 So die Überschrift des Kapitels über Tauler bei McGinn: Mystik (2008, Band 4) 412: »Johannes Tauler : Der Lebmeister«. Vgl. dazu auch Zekorn: Gelassenheit und Einkehr (1993) 16 – 18; 40. 9 »Die großen Gotteslehrer und die Lesemeister streiten sich über die Frage, ob Erkenntnis oder Liebe wichtiger und edler sei. Wir aber wollen hier jetzt sprechen von den Lebemeistern« (H 51, 389). »Die grossen pfaffen und die lesmeister die tispitierent weder bekentnisse merre und edeler si oder die minne. Aber wir wellen nu al hie sagen von den lebmeistern« (V 45, 196, 28 – 30). 10 Zekorn: Gelassenheit und Einkehr (1993) 16 f. Vgl. auch Gnädinger: Tauler (1993) 27 – 30, 104 – 109.

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seine Begleiterin: die Theologie. Auch für Tauler ist die Erfahrung grundlegend. Ihm geht es nicht um theologische Spekulationen. Er versteht sich als Seelsorger. Er möchte Menschen einen Weg in die Erfahrung der Wirklichkeit Gottes weisen.11 Taulers Predigten haben nach Dietmar Mieth »eine eindeutige Zielbestimmung. Sie richten sich auf die Vereinigung des Menschen mit Gott, wie sie im irdischen Bereich durch die vollkommene Frömmigkeit des Christen ermöglicht wird.«12 Allerdings geschieht dies nicht unreflektiert, sondern im ständigen Gespräch mit der Heiligen Schrift und der Tradition. »Wer dies erfahren will, meine Lieben, muss allen Geschöpfen und sich selbst sterben und ganz allein Gott leben. Nicht nach seinen Sinnen darf er leben, nicht herumlaufen, bald hierhin, bald dorthin, jetzt so, dann so, in vielerlei Ungelassenheit und Äußerlichkeit« (H 28, 197).13 Die Erfahrung, um die es hier geht, übersteigt Sinne und Vernunft. Gleichwohl handelt es sich um eine Form der Wahrnehmung, des Empfindens, der Erfahrung Gottes. Sie ereignet sich im Inneren der menschlichen Seele, in seinem Grund, den Tauler auch als Tempel (der Seele) bezeichnet: »Das findet statt, wenn der Mensch mit allen seinen Kräften und auch mit seiner Seele in diesen Tempel eingeht und einkehrt, in dem er Gott in Wahrheit wohnend und wirkend findet. Und er findet ihn hier in empfindender Weise (in bevindender wisen), nicht nach Art der Sinne noch der Vernunft, nicht so, wie man (etwas) hört oder liest oder durch die Sinne aufnimmt, sondern in erfahrender, kostender Weise (in bevindender smackender wisen), wie es aus dem Grund quillt, gleichwie aus eigenem Brunnen und eigener Quelle« (H 13, 90).14 Wie dieser Vorgang näherhin zu verstehen ist, soll im weiteren Verlauf der Darlegung erschlossen werden. Kurt Ruh unterscheidet zwei Typen von Mystik: zum einen »Mystik als Lehre«. Klassischer Vertreter dieses Typs ist Thomas von Aquin. Einen zweiten Typ bezeichnet Ruh als »eine mystische Theologie, die nicht nur Lehre ver11 Vgl. Haas: Einführung, in: Johannes Tauler, Predigten, Band 1, üb. und hg. von G. Hofmann, 2007, XIII: »Letztlich sind Inhalt und Form der Taulerschen Predigt noch eingebunden in die Technik der allegorischen Schriftauslegung, auch wenn es bei ihm – wie bei Meister Eckhart – nicht mehr bloß um die Vermittlung von Kenntnissen der Heilsgeschichte geht, sondern letztlich um die Ermöglichung von geistlicher Erfahrung.« 12 Mieth: vita activa und vita contemplativa (1969) 253. 13 »Lieben Kinder, so welich mensche dis bevinden wil, der mu˚s allen creaturen und ime selber sterben und Gotte alleine luterlichen leben, und nfflt in den sinnen enmu˚s er leben und nfflt uzlouffen nu har nu dar, nu sus nu so, in manigvaltige manigvaltikeit und ussewendikeit« (V 28, 117 f., 36 – 39). 14 »[…] wenne der mensche mit allen sinen kreften und ouch mit sinre selen inkert und inget in disen tempel, do er Got in der worheit inne vindet wonende und wfflrkende, und er me hie vindet in bevindender wisen, nfflt in sinnelicher wisen noch in vernfflnftiger wisen, aber also e man gehort oder gelitten het oder durch die sinne ist inkummen, sunder in bevindender smackender wisen, also es uz dem grunde heruz ist quellende also us sime eigenen burnen und us der fontenien« (V 13, 61, 10 – 16).

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mitteln, sondern zur Mystik hinführen will«. Mit Dionysius Areopagitas »Mystica theologia« aus der 2. Hälfte des 5. Jh. steht dieser Typ am Anfang der Geschichte der abendländischen Mystik.15 Zu diesem Typ gehört auch Johannes Tauler. »Taulers Mystik ist auf Erfahrung angelegt und praktischer Natur.«16

Taulers Schriftverständnis Für Tauler ist die Heilige Schrift nicht nur und nicht in erster Linie Dokument einer vergangenen Zeit. Was in ihr erzählt wird, geschieht auch heute, wenn Menschen bereit sind, sich dafür zu öffnen. Die Sendung des Heiligen Geistes ereignet sich »alle Tage und zu jeder Stunde«. Es kommt allein auf die Empfänglichkeit des Menschen an. So der Mensch »innerlich zu seinem Empfangen bereit ist«, kann er alle Tage und zu jeder Stunde das Fest der Sendung des Heiligen Geistes begehen (H 23, 153). Tauler vertritt die in jüngster Zeit innerhalb der Exegese wieder neu entdeckte Theorie der Sinnoffenheit biblischer Texte.17 Biblische Texte haben nicht nur eine Bedeutung, sondern ein auf den Leseprozess hin offenes Sinnpotenzial: »Dass man doch das heilige, wonnige Wort des Evangeliums tausendmal überläse, predigte und durchdächte! Stets fände man eine neue Wahrheit, die von den Menschen noch nie gefunden ward« (H 2, 21).18

Schriftauslegung und Lebensform Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Taulers mystische Lehre der Sache nach als existenzielle Aneignung und Auslegung der Heiligen Schrift zu verstehen ist. In ihrem Kern lässt sie sich näherhin als Auslegung des alttestamentlichen Fremdgötter- und Bilderverbotes lesen. Der Begriff »Auslegung« ist hier allerdings weit zu fassen. Es geht nicht um exegetische Techniken der Schriftauslegung im engeren Sinn, wie sie an den Universitäten praktiziert und reflektiert wurden. Tauler hat keine Bibelkommentare verfasst, gleichwohl hat er die Schrift ausgelegt – in seinen Predigten. Dabei steht er in einer bis in die Frühzeit des Christentums zurückreichenden Tradition. Nach Auskunft von Bernard McGinn 15 16 17 18

Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik (2001, Band I) 15. McGinn: Mystik (2008, Band 4) 452. Vgl. Schwienhorst-Schönberger: Einheit statt Eindeutigkeit (2003). »Das man die heilige wunnekliche geschrift in dem heiligen ewangelio tusent werbe fflberlese und predigete und fflberdehte, so vindet man ie me ein nuwe worheit die nie funden wart von dem menschen« (V 2, 12, 21 – 23).

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wurde Taulers Exegese »noch keine große Aufmerksamkeit gewidmet«19. Ähnlich äußert sich Louise Gnädinger : »Die in Taulers Predigten geübte Methode der Bibelinterpretation wie auch der Bibelübersetzung und der Zitierweise des Bibelworts bleibt im einzelnen noch zu untersuchen. Die Beobachtung von Taulers Übersetzung und Anwendung des Bibelworts zeigt bereits bei oberflächlicher Betrachtung, dass der Prediger ausnahmslos darauf ausgeht, den geistigen Sinn der Heiligen Schrift, vor allem den anthropologischen, aufzudecken. Er wird ganz in den Dienst des mystischen Wegs gestellt, und um diesen leichter zu erkennen, passt Tauler öfter schon die Übertragung des lateinischen Bibelworts im deutschen Wortlaut an dieses Ziel an. Nicht hauptsächlich der auf der Oberfläche auffindbare Literalsinn, vielmehr der verborgene mystische soll den Weg zur Vereinigung des Menschen mit Gott wie auch die vollendete Einheit mit ihm als Aufgabe und zu verwirklichende Möglichkeit aufzeigen.«20 Den folgenden Ausführungen liegt die Annahme zugrunde, dass das geistige Schriftverständnis aus dem Zusammenhang einer geistigen Lebensform zu verstehen ist.21 Im Christentum wie auch in anderen Religionen existiert das Wissen um einen Zusammenhang von Schriftauslegung und spiritueller Praxis. Dies gilt auch für den antiken Platonismus und andere Philosophenschulen der Antike.22 Durch spirituelle Übungen wie Meditation und Gebet wird das Bewusstsein der Rezipienten so gestaltet, dass es für die tiefere Bedeutung heiliger Texte empfänglich wird. Die ältesten Formen christlicher Schriftauslegung waren eingebunden in Liturgie, Ritus, Meditation und Gebet. In der Geschichte des Christentums vollzog sich jedoch schon relativ früh ein Prozess der Ausdifferenzierung. Ein gewichtiger Teil der Schriftauslegung verlagerte sich in den akademisch-universitären Raum. Dort entstanden Formen der Auslegung, die als wissenschaftlicher Diskurs organisiert und praktiziert wurden.23 Parallel dazu existierten die traditionell »religiösen« Orte der Schriftauslegung weiter. Nicht selten standen und stehen »religiöse« und »wissenschaftliche« Auslegungen heiliger Texte in Spannung zueinander. In Taulers Predigten klingen 19 20 21 22

McGinn: Mystik (2008, Band 4) 419, Anm. 21. Gnädinger: Tauler (1993) 109. Vgl. Schwienhorst-Schönberger: Hohelied (2001). Vgl. P. Hadot: Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, Berlin 1991. Vor dem Hintergrund dieser Tradition sind auch Äußerungen von J. Ratzinger / Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth, Band 1: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg 2007, 108, zu verstehen, dass Exegese keine »rein akademische Angelegenheit« sein kann: »Was ein Wort bedeutet, wird am meisten in jenen Menschen verständlich, die ganz davon ergriffen wurden und es gelebt haben. Auslegung der Schrift kann keine rein akademische Angelegenheit sein und kann nicht ins rein Historische verbannt werden.« Vgl. dazu Schwienhorst-Schönberger: Gemäß der Schrift. Altes Testament, Judentum und kanonische Exegese im Jesus-Buch von Papst Benedikt XVI., in: HerKorr Spezial: Jesus von Nazaret. Annäherungen im 21. Jh., 05/2007, 10 – 14. 23 Vgl. Baier: Meditation und Moderne (2009, Band 1) 31 – 121.

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derartige Spannungen immer wieder an. Seine Predigten deuten an, dass ein rein kognitiver Zugang zu den Texten der Heiligen Schrift unzureichend bleibt. Taulers Auslegung der Schrift ist von einem »mystischen Ort« her zu verstehen. »Zünftige Theologie und praktisch ausgerichtete Spiritualität […] haben sich hier noch nicht auseinandergelebt, sondern stützen sich gegenseitig. Es ist wohl die geistesgeschichtliche Chance der deutschen Mystik, nach dem Ereignis der Scholastik diesen Einklang von Theologie und Spiritualität nochmals geleistet zu haben.«24 Aus spiritueller Praxis, aus mystischem Bewusstsein heraus erschließt sich der mystische Sinn der Schrift. Dieser Zusammenhang soll im Folgenden am Beispiel des Fremdgötter- und Bilderverbots aufgezeigt werden. Dabei ist gegenüber einer verbreiteten Ansicht darauf hinzuweisen, dass der mystische Sinn der Schrift in ihr selbst angelegt ist. Es handelt sich also nicht um eine aus wissenschaftlicher Sicht zu verwerfende Eintragung in den biblischen Text, sondern um die Erschließung von Sinndimensionen, die im Text selbst angelegt sind. Erst vor dem Hintergrund des Zusammenhangs von Schriftauslegung und mystischer Lebensform25 lassen sich die Techniken der Schriftauslegung im engeren Sinn verstehen. Betrachtet man sie losgelöst von ihrem lebensweltlichen und theologischen Hintergrund scheinen sie willkürlich und unverständlich zu sein. Zu dem Zeitpunkt, da sich der lebensweltliche Hintergrund des geistigen Schriftverständnisses verflüchtigte, begann sein Verfall. Die Exegese erweiterte sich »zu einem System universeller Symbolik, deren Einzelheiten oft sehr schön sind; der Geist aber, der sich darin gefällt, droht auf die Dauer sich im Rankenwerk zu verfangen«26. Mit dem Auseinandergehen von Mystik und Schriftauslegung ist dieser Prozess tatsächlich eingetreten. So scheint es gegenwärtig geboten, den Zusammenhang von Schriftauslegung und geistiger Lebensform theologisch wieder neu und unvoreingenommen in den Blick zu nehmen. Vor diesem Hintergrund sind die folgenden Ausführungen zu verstehen.

Keine anderen Götter In der Deuteronomiumfassung des Dekalogs bilden Fremdgötter- und Bilderverbot ein Gebot.27 Wir nennen es das Hauptgebot: »Ich bin JHWH, dein Gott, 24 25 26 27

Haas: Nim din selbes war (1971) 84. Vgl. Bangert: Mystik als Lebensform. Horizonte christlicher Spiritualität (2003). Lubac: Typologie (1999) 64. Grundlegend zum geistigen Schriftverständnis, a. a. O., 7 – 92. Vgl. Hossfeld: Der Dekalog (1982) 24: »Die Deuteronomiumfassung versteht das Bilderverbot unter dem Primat des Fremdgötterverbots und zieht die beiden zu einem Verbot zusammen. Die Exodusfassung verzichtet auf solche Verklammerung und bietet zwei Verbote mit eigenem Schwergewicht.«

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der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Du sollst dir kein Gottesbild machen, irgendeine Darstellung von etwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. Du sollst dich nicht vor ihnen niederwerfen und ihnen nicht dienen« (Dtn 5,6 – 9). Die positive Entsprechung zum Fremdgötterverbot ist das Gebot der Gottesliebe in Dtn 6,4 – 5: »Höre, Israel! JHWH, unser Gott, JHWH ist einzig. Du sollst JHWH, deinen Gott, lieben mit deinem ganzem Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft.« Das Gebot wird im Neuen Testament von Jesus als gültig bekräftigt und mit dem Gebot der Nächstenliebe aus Lev 19,18 verbunden (Mk 12,28 – 30 par). »Der Sache nach ist aber auch das Gebot der Nächstenliebe bereits im Dtn gegeben. Es konkretisiert die Nächstenliebe nämlich in seinem Gesetz.«28 Allerdings steht das Gebot im Alten wie im Neuen Testament nicht an erster, sondern an zweiter Stelle. Dem Gebot Gottes geht das Angebot Gottes voraus. »Für den Dekalog ist es wesentlich, dass seine Forderungen nur Erlöste betreffen.«29 Fachtheologisch sprechen wir von der Priorität des Evangeliums vor dem Gesetz. Sie gilt sowohl für das Alte wie für das Neue Testament. Gott will das Heil seines Volkes und letztlich das Heil aller Menschen. Wir sprechen vom universalen Heilswillen Gottes. Wie sieht das bei Tauler aus? In der zweiten Predigt vom zwölften Tag der Weihnachtszeit legt er Jes 60,1 aus: »Steh auf, Jerusalem, und werde Licht!« Tauler beginnt zunächst mit einer anschaulichen und eindrücklichen Darlegung des universalen Heilswillens Gottes. Dass Gott alle Menschen liebt, dass er alle Menschen retten will, dass er alle Menschen in seine Gegenwart hineinziehen und verwandeln will, drückt Tauler folgendermaßen aus: »Gott begehrt und bedarf in aller Welt nur eines Dinges; das begehrt er aber so sehr, als ob er seinen ganzen Fleiß darauf verwendete, dies einzige nämlich, dass er den edlen Grund, den er in dem edlen Geist des Menschen gelegt hat, ledig und bereit finde, sein göttliches Werk darin zu vollbringen; denn Gott hat alle Gewalt im Himmel und auf Erden; daran aber allein fehlt es ihm, dass er sein liebreichstes Werk in dem Menschen ohne des Menschen Willen nicht zu wirken vermag« (H 5, 35).30 Was wir theologisch nüchtern als »universalen Heilswillen Gottes« bezeichnen, bringt Tauler eindringlich und beinahe schon ein wenig anstößig zur Sprache: 28 Braulik: Deuteronomium 1 – 16,7 (1986) 57. 29 A.a.O., 50. 30 »Got enbegert noch enbedarff nfflt in aller der welte denne alleine eins dinges, des begert er also uznemende sere als aller sin flis do an gelige, daz ist daz einige das er den edeln grunt den er in dem edeln geiste des menschen geleit hat, daz er in blos und bereit vinde, das er sins edeln e gotlichen werkes do inne bekummen mfflge; wanne Got hat gantzen gewalt in himel und in erden, aber do an gebristet ime allein daz er sins aller wunnenclichesten werkes an dem menschen nfflt bekummen enmag« (V 5, 22, 5 – 11).

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Gott begehrt nichts mehr, als im Menschen sein liebreichstes Werk zu vollbringen. Tauler spricht von einem Bedürfnis Gottes: »Gott begehrt und bedarf in aller Welt nur eines Dinges.« Er verwendet »seinen ganzen Fleiß darauf«. Tauler geht mit Schrift und Tradition davon aus, dass Gott allmächtig ist. Doch Gottes Allmacht findet ihre Grenze an der Freiheit des Menschen. Ohne den Willen des Menschen kann Gott ihn nicht retten. Somit stellt sich die Frage, was der Mensch tun muss, damit Gott bei ihm ankommen kann. »Was soll nun der Mensch dazutun, dass Gott diesen lieblichen Grund erleuchten und darin wirken könne?«31 Tauler greift das Wort der Lesung auf, wo es heißt: »Steh auf und werde Licht, Jerusalem!« (H 5, 35). »Der Mensch muss aufstehen von allem, was nicht Gott ist, von sich selber und von allen Geschöpfen« (H 5, 35). Dieser Satz ist als Auslegung und existenzielle Aneignung des Fremdgötterverbotes zu verstehen. Er begegnet in unterschiedlichen Variationen in vielen Predigten des Meisters. Der Mensch soll alles lassen, was nicht Gott(es) ist. Im Hintergrund steht die subtile Beobachtung, dass der Weltbezug des Menschen durch die Sünde idolatrisch kontaminiert ist. Der Mensch verhält sich zu den Dingen und Begebenheiten dieser Welt, als seien sie Götter. Ihm ist das normalerweise nicht bewusst, da seine Wahrnehmung, und das heißt auch: seine Selbstwahrnehmung durch die Sünde getrübt ist. Er merkt nicht, dass er sich der Welt liebedienerisch unterwirft. Mit seinem Herzen, mit seinem Begehren, mit all seinen Kräften haftet der Mensch an der Welt. Tauler spricht von Anhänglichkeiten an die Geschöpfe, mit denen der Mensch behaftet ist (H 16, 109). Diese Formen der Anhänglichkeit stürzen die Menschen ins Verderben. Das sieht auch die biblische Tradition so. Diejenigen, die auf andere Götter und deren Bilder ihr Vertrauen setzen, werden zugrunde gehen: »Ein Nichts sind alle, die ein Götterbild formen; ihre geliebten Götzen nützen nichts. Wer sich zu seinen Göttern bekennt, sieht nichts, ihm fehlt es an Einsicht; darum wird er beschämt. Wer sich einen Gott macht und sich ein Götterbild gießt, hat keinen Nutzen davon« (Jes 44,9 – 10). So beginnt der von Tauler gewiesene Weg ganz einfach damit, aufzustehen und sich von allem zu lösen, was nicht Gottes ist. Es könnte dabei die Frage aufkommen, was daran »mystisch« sein soll. Hier zeigt sich, dass Mystik zum christlichen Glauben nicht äußerlich hinzukommt, sondern im Grunde nichts anderes als eine konsequente, bis zu Ende durchdachte und gelebte Form christlichen Lebens darstellt. Es geht um Vertiefung, nicht um Ergänzung des Glaubens. Um den Heiligen Geist zu empfangen, bedarf es nach Tauler der »Abgeschiedenheit, der Ledigkeit, der Innigkeit und der Einsamkeit«. Was bedeutet nun, so fragt Tauler, »wahre Abgeschiedenheit«? »Das bedeutet, dass der Mensch 31 »Nu waz sol der mensche herzu˚ tu˚n daz Got in disen minnenclichen grunt erlfflhten und gewfflrcken mfflge?« (V 5, 22, 12 f).

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sich von allem abkehre und trenne, was nicht rein und lauter Gott ist […] und findet er etwas, das auf anderes als Gott zielt, dass er das absondere und hinaustue […] Diese Abgeschiedenheit muss man notwendigerweise besitzen, will man den Heiligen Geist und seine Gaben empfangen; der Mensch soll sich ganz auf Gott richten und sich abkehren von allem, was nicht Gott ist« (H 23, 154 f). »Und ein jeder soll mit dem Licht seiner Vernunft sein Tun und Leben durchsuchen, ob darin etwas lebe und wohne, das nicht Gottes sei« (H 24, 161).

Abhauen, was nicht Gottes ist Fragen wir mit Tauler, wie das »Abhauen von allem, was nicht Gottes ist« (H 24) konkret geschehen soll. Er selbst greift einen gewichtigen Einwand auf: »Wie vermag der Mensch, während er auf Erden lebt, ohne Befriedigung (seiner Bedürfnisse) zu sein? Mich hungert, und ich esse; mich dürstet, ich trinke; ich bin müde und schlafe; mich friert, und ich wärme mich. Fürwahr, dies kann mir nicht geschehen, dass mir dies bitter sei und ich ohne Befriedigung meiner Natur bleiben soll; das bringe ich nicht zuwege, soweit Natur Natur ist« (H 3, 29). Die von Tauler angeführten Bedürfnisse gehören zur Natur des Menschen; sie sind dem Menschen von Gott eingestiftet. Sie können doch nicht einfach überwunden oder gar verworfen werden. Wie lautet Taulers Antwort? »Aber diese Befriedigung soll nicht in dein Inneres dringen und dort keine Stätte haben; sie sollen zwischen dem Tun einhergehen und keine bleibende Statt haben, dieses Begehren soll nicht zur Begierde werden, sondern rasch dahinfließen, und nicht wie im eigenen Besitz schalten, dass man etwa mit Befriedigung oder Lust dort raste; nein, lass rasch dahinfahren alle Hinneigung, die du in dir zur Welt und den Geschöpfen findest« (H 3, 30). Offensichtlich geht es um das Innere des Menschen. In diesem Inneren darf nur Gott wohnen. Weil das Innere des Menschen mit vielen Dingen, Wünschen, Vorstellungen und Bildern besetzt ist, kann Gott nicht darin wohnen, obwohl er nichts sehnlicher begehrt als dies. Mehrfach vergleicht Tauler das Innere des Menschen mit einem Tempel. »Der Tempel, in den der gute Jesus eintrat, ist die edle, liebenswerte Seele mit ihrer lauteren Innerlichkeit« (H 13, 90). Der Tempel ist der Ort, an dem die Gottheit wohnt. Doch wenn der Tempel mit anderen Dingen angefüllt ist, kann Gott nicht in ihm wohnen. Tauler spricht von der Welt, die einen Menschen im Innersten besetzt hält, wenn auch verdeckt und verborgen (H 16). Das Buch des Propheten Ezechiel erzählt, wie die Herrlichkeit des Herrn den Tempel verlässt, weil dieser mit abscheulichen Götzenbildern angefüllt ist (Ez 8 – 10). Alle vier Evangelien erzählen von der so genannten Tempelreinigung Jesu. Im Johannesevangelium steht sie am Anfang seines öffentlichen Wirkens (Joh 2,13 – 22). Die Ursache für die Abwesenheit Gottes liegt nach

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Tauler also nicht darin, dass er nicht kommen will, sondern dass er nicht kommen kann. »Denn in dem Maß, wie die Geschöpfe den Menschen erfüllen, ebenso viel muss Gott mit seinen Gaben vor ihm umkehren« (H 33, 239). Wenn die Geschöpfe den Platz Gottes im Menschen einnehmen, kann Gott in einem »solchen Menschen weder wohnen noch wirken« (H 33, 238). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb das Leerwerden bei Tauler wie bei vielen Mystikern eine so wichtige Rolle spielt. Das Innere des Menschen muss leer werden, damit Gott Einzug halten kann. »Soll Gott eintreten? Das Geschaffene und alles Eigene muss (dann) den Platz räumen. Soll Gott wahrhaftig in dir wirken, so musst du in einem Zustand bloßen Erduldens sein; all deine Kräfte müssen so ganz ihres Wirkens und ihrer Selbstbehauptung entäußert sein, in einem reinen Verleugnen ihres Selbst sich halten, beraubt ihrer eigenen Kraft, in reinem und bloßem Nichts verharren. Je tiefer dieses Zunichtewerden ist, umso wesentlicher und wahrer ist die Vereinigung« (H 31, 220). So besteht die erste Phase des spirituellen Weges in der Reinigung. Tauler spricht mit der Tradition von der »via purgativa«, dem »Weg der Reinigung«.32 Ziel des geistigen Weges ist, dass der Mensch (wieder) »ein Tempel Gottes werde« (H 31, 216).

Innere Einkehr Der mystische Weg beginnt mit der inneren Einkehr. Der Mensch wendet sich von den äußeren Dingen der Welt ab und richtet seine Wahrnehmung auf sich selbst, auf sein Inneres, dort, wo Gott wohnt. Die Abkehr von der Welt bezeichnet Tauler mit dem Wort ker (»Kehre«). In diesem Sinne versteht er den biblischen Ruf zur Umkehr, wie er von den Propheten und von Jesus erhoben wird (H 28). »Diesen Frieden in allen Dingen, den lernt man allein in wahrer Abgeschiedenheit und Innerlichkeit; wer ihn haben will, soll und muss ihn dort lernen, ihn mit nach innen gekehrtem Geist suchen und nirgendwo anders; hier wird er gefestigt, hier wurzelt er ein« (H 23, 160). Dass Gott nur im Inneren der Seele über alle Sinne hinaus und nicht in den Äußerlichkeiten der Welt erkannt werden kann, begründet Tauler unter anderem mit Lk 17,21. »Unser Herr bezeugte dieselbe Wahrheit mit den Worten: ›Das Reich Gottes ist in uns.‹ Das bedeutet: nur im Inneren, im Grunde, über aller Wirkung der Kräfte[…]Wie sollte auch der sinnliche, tierische, nur dem äußeren Tun hingegebene Mensch dieses Zeugnis annehmen können? Denen, die (nur) ihren Sinnen leben und (nur) mit äußeren Dingen umgehen, denen ist dergleichen Aberglaube« (H 29, 202). Die »äußeren« Menschen sind ganz in ihrer 32 Vgl. Gnädinger : Tauler (1993) 147 – 160.

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sinnlichen Wahrnehmung befangen. Sie haften an Bildern, auch an inneren Bildern und finden keinen Zugang zu einer Wahrnehmung, die den Bereich der Sinne überschreitet. Hören wir dazu noch einmal Tauler : »Ihr habt soviel äußeres Tun, bald so, bald so, immer mit euren Sinnen, das ist nicht das Zeugnis, von dem es heißt: ›Was wir sehen, bezeugen wir.‹ Dieses Zeugnis findet man im Grunde, abseits sinnlicher Bilder[…]Wer das erfahren will, kehre sich ins Innere, weit über alle Tätigkeit seiner äußeren und inneren Kräfte und Bilder und über alles, was jemals von außen hineingetragen wurde, und versinke und verschmelze mit dem Grunde« (H 29, 202). Tauler lädt ein zum »Erkennen und Gewahrwerden des inwendigen Grundes, wo sich das Reich Gottes befindet, das Empfinden des Wohnens und Wirkens Gottes in diesem Grunde« (H 34, 246). Nur durch innere Einkehr findet der Mensch Eingang in das Reich Gottes: »Sucht das Reich Gottes, damit es gefunden und entdeckt werde im Grunde der Seele, wo es verborgen liegt; dort ist es zu erwerben« (H 62, 479). »Welche Wunder könnten wir mit Gott vollbringen, wenn wir uns zu uns selber kehrten und dabei beharrten und der Gnaden in uns wahrnähmen! Wir vermöchten alles und fänden das Himmelreich in uns. Aber das tun wir nicht: wir kehren uns in betrüblicher Weise nach auswärts, so sehr, dass es alles Maß übersteigt, indem wir bald dies, bald jenes verfolgen« (H 33, 242).

Grund, Gemüte, Abgrund Wir stoßen hier auf einen Schlüsselbegriff der Taulerschen Lehre: den Begriff vom Grund (grunt). Meister Eckhart (1260 – 1328) gilt als Schöpfer der Mystik vom Grund. Tauler steht in dieser Tradition. Etwa vierhundertmal, häufiger noch als bei Eckhart (etwa 140-mal) begegnet bei ihm der Begriff »Grund«. Gemeint ist damit jener »Ort« jenseits von Raum und Zeit, da Gott und Mensch eins sind. In engem Zusammenhang mit dem Begriff des Grundes steht der e Begriff »Gemüt« (gemute). In der deutschsprachigen Mystik des Mittelalters e wird gewöhnlich das lateinische mens mit gemute wiedergegeben. Die klassische Definition des Gebetes als ascensus mentis in Deum (»Aufstieg des Geistes zu e Gott«) übersetzt Tauler mit ufgang dis gemutes in Got (H 40, 296; V 39, 154, 16 f.). In der 3. Predigt zum 13. Sonntag nach Dreifaltigkeit (H 53)33 erläutert Tauler das Verhältnis von Gemüt und Grund, und er geht der Frage nach, wie wir das Gebot Jesu, Gott aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele und aus ganzem Gemüte 33 Zekorn: Gelassenheit und Einkehr (1993) 20 f. diskutiert die in der Forschung verhandelte Frage, ob die Predigt tatsächlich von Tauler stammt. Er hält die Infragestellung der Authentizität nicht für bewiesen und zieht sie, wie in der Literatur üblich, als Beleg für Taulers Lehre heran.

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zu lieben (Mt 22,37), erfüllen können. Schauen wir uns diese Predigt näher an. Tauler geht vom Evangelium des Tages aus, und zwar von der Seligpreisung Lk 10,23: »Beati oculi qui vident quae vos videtis« – »Selig die Augen, die sehen, was ihr seht.« Tauler fragt: Welches sind diese seligen Augen? Taulers Antwort: Es sind diejenigen, die sich einer inneren geistlichen Betrachtung hingeben. Und diese innere geistliche Betrachtung richtet sich auf den »wunderbaren Adel der Seele«.34 Dieser wunderbare Adel der Seele besteht in der Verwandtschaft des Menschen mit Gott. Diese Verwandtschaft hat Gott in den Grund der Seele gelegt. Tauler spricht von einem »inneren Adel, der im Grunde verborgen liegt« (»inwendigen Adel der in dem grunde lit verborgen«) (H 53, 407; V 64, 347, 9). Davon, so Tauler, haben viele Lehrmeister gesprochen. Sie verwenden dafür unterschiedliche Bezeichnungen: »Der eine nennt ihn ›Seelenfunke‹, der andere einen ›Grund‹ oder einen ›Wipfel‹, einer einen ›Ursprung‹ und Bischof Albrecht ein ›Bild‹, auf dem die heilige Dreifaltigkeit zu sehen ist und worin sie wohnt« (H 53, 407).35 Und nun fährt Tauler fort: »Dieser Funke fliegt, wenn er wohl vorbereitet, so hoch, dass Erkenntniskraft ihm nicht folgen kann, denn er rastet nicht, bis er wieder in den [göttlichen] Grund gelangt, von dem er ausgegangen ist und wo er im Stande seiner Ungeschaffenheit war« (H 53, 407).36 Den inneren Adel, der im Grunde der menschlichen Seele verborgen ist, bezeichnet Tauler hier als einen »Funken«. Er greift diese Metapher auf, um die in dieser Wirklichkeit angelegte Dynamik anschaulich zum Ausdruck zu bringen. Der in den Grund der menschlichen Seele eingestiftete Funke tendiert dazu, abzuspringen, fortzufliegen. Wohin? In den Grund, von dem er ausgegangen ist, in den göttlichen Grund. Dort war er, bevor er geschaffen wurde. Und dorthin möchte er zurückkehren. »Er rastet nicht, bis er wieder in den Grund gelangt, von dem er ausgegangen ist und wo er im Stande seiner Ungeschaffenheit war« (H 53, 407). Und nun folgt eine theologisch brisante und für den interreligiösen Dialog hoch bedeutsame Aussage. Die Einsicht, von der Tauler hier spricht, wurde nicht

34 »[…] ist von dem inwendigen geistlichen angesichte des grossen wunderlichen adels; do die sunderliche sibschaft ist die Got in den grunt der selen geleit hat« (V 64, 347, 5 – 7). 35 »Von diesem inwendigen adel der in dem grunde lit verborgen, hant vil meister gesprochen beide alte und nfflwe: bischof Albrecht, meister Dietrich, meister Eghart. Der eine heisset es ein funke der selen, der ander einen boden oder ein tolden, einer ein erstekeit, und bischof Albrecht nemmet es ein bilde in dem die heilige drivaltikeit gebildet ist und do inne gelegen ist« (V 64, 347, 9 – 14). 36 »Und diser funke flfflget als hoch, do im recht ist, das dem das verstentnisse nfflt gevolgen enmag, wan es enrastet nfflt, es enkome wider in den grunt do es us geflossen ist, das es was in siner ungeschaffenheit« (V 64, 347, 14 – 16).

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nur Christen, sondern auch Heiden zuteil. »Auch vor Gottes Geburt haben viele Meister davon gesprochen: Platon, Aristoteles und Proklos« (H 53, 407 f.).37

Schauen in den Grund Tauler fragt nun weiter nach dem Weg, der zur wahren Seligkeit führt. Ausgangspunkt seiner Erwägungen war die an die Jünger gerichtete Seligpreisung Jesu von Lk 10,23: »Selig die Augen, die sehen, was ihr seht.« Tauler hat gesagt, was diese seligen Augen sehen, nämlich den im Grunde der menschlichen Seele verborgenen Funken, der aus Gott stammt. Das Sehen dieses göttlichen Funkens macht den Menschen selig. Das bezeugen christliche und heidnische Meister. Mit den Worten Taulers: »In diesen Grund musst du kommen; sollen deine Augen selig werden, so musst du gründlich in diesen Grund sehen lernen« (H 53, 408).38 Und jetzt geht es um die Frage des Seelsorgers: Welcher Weg führt zu diesem beseligenden Schauen? Nun erläutert Tauler erneut den Weg, mit dem wir bereits – zumindest theoretisch – vertraut sind. Er spricht ihn in dieser Predigt nur sehr kurz an, weil er ihn bei seinen Hörerinnen bereits als bekannt voraussetzen kann: »Es ist (der Weg der) wahren Demut und ein gänzliches Verleugnen des Menschen selbst und seiner eigenen Art; nichts von sich zu halten noch von allem, was man tut oder tun kann; von allem sich loszulösen und sich für gar nichts zu halten« (H 53, 408).39 Tauler weiß als erfahrener Seelsorger, dass diese Aussagen sehr missverständlich sind. Es könnte nämlich der Eindruck entstehen, als müsse sich der Mensch mit seinem Willen anstrengen, diese Demut zu erlangen. Würde er dies tun, wie es leider häufig geschieht, dann wäre der Mensch wieder ganz in seinem Eigenen befangen. Das wäre, um mit Tauler zu sprechen, eine »gemachte, erdichtete Demut. Sie ist nur Schwester und Gespielin des Hochmuts« (H 22, 152).40 Tauler erläutert das anhand der Aussage Jesu: »Viele Propheten und Könige wollten dies sehen und sahen es nicht.« Erneut geht er von einem Wort der Schrift aus. Unter »Propheten« und »Königen« versteht Tauler hier nicht Personen der Geschichte, sondern Lebensformen, die damals wie heute und zu 37 »[…] und vor Gotz gebfflrte vil meister die hinnan ab sprachen: Plato und Aristotiles und Proculus« (V 64, 347, 20 f.). 38 »In disen grunt mu˚st du komen; sfflllent dine o˘gen selig werden, so mu˚st du gruntlichen leren sehen in disen grunt« (V 64, 347, 30 f.). e 39 »Nu sfflllen wir den weg prufen der zu der woren selikeit leitet, das ir dise tage wol hortent: das e e ist wore demutkeit und ein gantz verloigenen der mensche sin selbs in eigener wise, von im selber nfflt halten noch von allem dem das er tu˚t oder getu˚n mag: dem allem enphallen, und halte sich ze mole ffflr nfflt« (V 64, 347, 25 – 29). e 40 »[…] nfflt in dem gedancke oder in dem schine, also in gemachte, ein gedichte demutekeit, die ein swester ist und ein gespile der hochfart« (V 22, 90, 24 – 26).

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allen Zeiten vorkommen und ein Eingehen in den göttlichen Grund verhindern. »Unter ›Propheten‹ verstehen wir die großen, gewandten, vernünftigen Geister, die sich in der Genauigkeit ihrer Unterscheidung an ihre Urteilskraft halten und sich damit wunder wie vorkommen. Deren Augen werden nicht selig« (H 53, 408).41 Mit der Tätigkeit des Verstandes und seiner Fähigkeit zu unterscheiden gelangt man nicht in diesen Grund. Erneut dürfte Kritik an der Selbstüberschätzung vieler Theologen vorliegen. Unter den »Königen«, die nicht in diesen Grund gelangen, versteht Tauler diejenigen, die sich durch Askese, durch Beten und Fasten darum bemühen. Immer wieder deckt Tauler falsch verstandene Formen von Frömmigkeit auf. Sie dürften in den Klöstern, in denen er als Seelsorger tätig war, häufig anzutreffen gewesen sein. Hören wir Tauler : »Unter ›Königen‹ verstehen wir die herrscherlichen, starken, gewaltigen Menschen, die Herren ihrer selbst sind in Werken, Worten, (in der Kraft) ihrer Zungen und tun können, was sie wollen: fasten, wachen, beten; sie glauben, das sei etwas, und setzen die anderen herab. (Auch) dies sind nicht die Augen, die das erblicken, was sie selig macht. Diese alle wollten sehen und sahen nichts. Sie wollten sehen: sie standen in ihrem Willen« (H 53, 408).42 Das Problem dabei ist nach Tauler der eigene Wille: »Kinder! In diesem Willen liegt der Schaden, denn er ist (so) recht der Gegenstand des Hindernisses. Der Wille bedeckt die Augen von innen so, wie wenn vor dem leiblichen Auge ein Fell oder eine Decke wäre und darum das Auge nicht sehen könnte« (H 53, 409).43 Ein hartes und klares Wort Taulers, das auf den ersten Blick unverständlich erscheint. Wie sollen wir etwas erreichen, wenn wir es nicht wollen (dürfen)?

Den Willen lassen Genau das ist »Umkehr-Logik« des mystischen Weges, die zu verstehen und vor allem die zu praktizieren vielen so schwer fällt. Es geht darum, dass der Mensch 41 »Bi den propheten nemen wir die grossen swinden vernfflnftigen geiste, die in irre natfflrlicher vernunft stent in subtilheit und flogierent do inne. Dise o˘gen enwerdent nfflt selig« (V 64, 348, 6 – 8). 42 Ich weise auf die doppelte Bedeutung des Wollens hin, wie sogleich deutlich wird (deshalb hier von mir kursiv gesetzt). »Bi den kfflnigen nemen wir die heiligen starken gewaltige menschen, die ir selbes gewaltig sint in werken, in worten und irre zungen und mfflgent wfflrken wie si wellent: vasten, wachen, betten, und hinnan ab haltent si als es fflt si, und verkleinent die andern. Dis ensint och nfflt och nfflt die o˘gen die do sehent das si selig mache. Dise alle woltent sehen und ensahen nfflt. Si woltent sehen; si stu˚nden in irem willen« (V 64, 348, 8 – 14). 43 »Kinder, in dem willen do inne lit der schade; wan der wille der ist recht das subjectum, der understant des hindernisses. Der wille der bedecket die o˘gen innewendig, ze gelicher wise als das uswendig o˘ge das ein vel oder ein decken hat, das enmag nfflt gesehen« (V 64, 348, 14 – 17).

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in der Übung der inneren Einkehr seine Ich-Aktivitäten einstellt, und zwar auch jene frommen Aktivitäten, die auf Gott hin ausgerichtet sind. Das ist vor allem für fromme Menschen kaum zu verstehen. Der eigentlich und allein Handelnde auf dem mystischen Weg ist Gott. Die Aufgabe des Menschen besteht darin, sich dem Wirken Gottes nicht zu widersetzen und ihm auch nicht durch gut gemeinte Aktivitäten ins Handwerk zu pfuschen.44 Es geht um vorbehaltlose Hingabe. In einer kühnen und auf den ersten Blick verwirrenden Argumentation veranschaulicht Tauler das am Beispiel des Empfangs der heiligen Kommunion. Tauler zitiert Bernhard von Clairvaux, der gesagt hat: »Wenn wir Gott essen, so werden wir von ihm gegessen. Er zehrt uns auf« (H 30, 209).45 Der von Tauler gewiesene mystische Weg ist ein Weg der Wandlung. Der Mensch wird in Gott hinein verwandelt, wenn er sich dem Handeln Gottes nicht entzieht. Soll dies geschehen, muss er sich selbst und seinen Willen lassen. In einer Predigt zum Fest Fronleichnam legt Tauler den Satz Joh 6,55: »Denn mein Fleisch ist wahrhaft eine Speise und mein Blut ist wahrhaft ein Trank« folgendermaßen aus: »Willst du in Gott umgewandelt werden, so musst du dich deines Selbst entäußern« (H 30, 211).46 Dieser von Gott eröffnete Weg der Wandlung ist Ausdruck seiner Liebe. Die Menschwerdung Gottes zielt auf die Vergöttlichung des Menschen. »Denn er ist Mensch geworden, damit der Mensch Gott werde« (H 30, 208).47 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der Mensch das Ziel der Vergöttlichung nicht durch eigene Willensanstrengung zu erreichen vermag. Es geht nicht um eine ethische Leistung. Die Aufgabe des Willens besteht allein darin, sich ganz dem Handeln Gottes anzuvertrauen, nichts Eigenes mehr zu wollen, den eigenen Willen ganz zu lassen, ihn aufzugeben. Tauler begründet seine radikale Lehre unter anderem christologisch: »Der Wille, meine Lieben, muss weg, wie unser Herr sprach: ›Ich bin nicht gekommen, meinen Willen zu tun, sondern den meines Vaters‹« (H 53, 409).48 Das gilt nach Tauler nicht nur für den weltlichen, 44 »Nicht um ein Tun geht es, sondern um ein Nichttun […] Hier geschieht der größte Schaden dadurch, dass die Vernunft des Menschen sich einmengt. Sie will mitwirken, will wissen, worum es gehe, und nicht zunichte werden. Ach, hüte dich davor!« (H 31, 220 f). »[…] es sol hie nfflt sin ein tu˚n, es mu˚s sin ein entu˚n […] Hie in disem so geschiht der allermeiste schade, das die vernunft wil zu˚slahen; es wil ein zu˚wurken haben und wil wissen was es si, und wil nfflt e entwerden. Ach dovor hute dich!« (V 60 f, 314, 21 – 22; 24 – 27). 45 »Wenne wir Got essen, so werden wir von im gessen; so isset er uns« ( V 60c, 294, 23 – 24). 46 »Solt du in Got gewerden, so mu˚st du din selbes entwerden« (V 60c, 295, 33 f.). 47 »Wan dar umbe wart er mensche, das der mensche Got wfflrde« (V 60c, 293, 23 f.). Zur Geschichte und zum rechten Verständnis dieses Satzes vgl. Schönborn: Vergöttlichung des Menschen (1987) 3 f.: »›Gott wurde Mensch, damit der Mensch Gott werde‹ – dieses Wort kann geradezu als Grundsatz der altkirchlichen Soteriologie gelten. Scholastik, Reformation und Mystik halten an diesem Satze fest. Warum kommt es in neuerer Zeit immer wieder zu energischer Kritik an der ›Vergöttlichungslehre‹?« 48 »Kinder, der wille der mu˚s ab, als unser herre sprach: ›ich bin komen nfflt das ich tu˚ minen willen, sunder mines vatter willen‹.« (V 64, 348, 27 f.).

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also für den nach außen gerichteten Willen, sondern auch für den geistlichen, den nach innen gerichteten Willen. Es gehört zu den großen Herausforderungen des mystischen Weges, sich von diesem nach innen gerichteten Willen erlösen zu lassen. Menschen kommen und lassen sich auf einen geistlichen Weg ein, sie bemühen sich sehr, sie suchen inneren Trost, sie suchen Erleuchtung, sie möchten Gott erfahren und sind nach einiger Zeit sehr erschöpft. »Im Grunde denken sie mehr an sich selbst als an Gott« (H 33, 241).49 Auf schmerzhafte Weise (vgl. H 33, 241) wird ihnen bewusst, dass es so nicht geht. »So lange und die ganze Zeit über, während welcher du deinem Eigenwillen lebst, wisse, dass dir an dieser Seligkeit gebricht. Denn alle wahre Seligkeit liegt an rechter Gelassenheit, an Willenlosigkeit« (H 53, 409).50 »Willst du in Gottes Innerstes aufgenommen, in ihn gewandelt werden, so musst du dich deiner selbst entäußern, aller Eigenheiten, deiner Neigungen, aller Tätigkeit, aller Anmaßung, aller Weise, in der du dich selber besessen hast; darunter geht es nicht« (H 31, 220).51

»Aus ganzem Gemüte« Nach diesen Überlegungen greift Tauler nun die Frage auf, wie denn eine Liebe »aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, aus allen Kräften und aus ganzem Gemüte« beschaffen sein soll (H 53, 409). Es geht also um das Verständnis der eingangs zitierten Forderung von Dtn 6,4: »Höre, Israel! JHWH, unser Gott, JHWH ist einzig. Du sollst JHWH, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft.« Tauler geht die verschiedenen Grade der Liebe durch und kommt dann auf die Liebe »aus ganzem Gemüte« zu sprechen. Was hier »Liebe aus ganzem Gemüte« genannt wird, schließt alle übrigen Grade der Liebe mit ein (Liebe des Herzens, der Seele, der Kräfte). Tauler sagt: »Nun müssen wir bedenken, was dieses ›Gemüt‹ ist. Es steht bei weitem höher und innerlicher als die Kräfte; diese haben all ihr Vermögen von ihm und sind darin und von da heraus geflossen; und es ist in allem doch über jeglichem Maß. Es ist gar einfach, wesentlich und förmlich […] Die Meister sagen, dieses ›Gemüt‹ der Seele sei so edel, stets wirksam, der Mensch schlafe oder wache, er wisse darum oder nicht, es habe ein gottförmiges, ständiges, ewiges Rückblicken auf Gott. Andere sagen, es schaue allerwege und liebe e

49 »[…] die meinent sich verborgenlichen me denne Got« (V 33, 129, 1 f.). 50 »Als lange und alle die wile das du stest in dime eigen willen, so wissest das dir diser selikeit gebristet. Wan alle die gewore selikeit die gelit an rechter gelossenheit, willeloskeit« (V 64, 348, 28 – 31). 51 »Kint, soltu in Got geinniget und verwandelt werden, so mu˚stu an dir selber verwerden und aller eigenheit und minneklicheit und wfflrklicheit und angenummenheit in aller der wise do du dich selber besessen hast; dez mag nfflt minre gesin« (V 60 f, 314, 7 – 10).

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und genieße Gott ohne Unterlass […] es erkennt sich als Gott in Gott, und dennoch ist es geschaffen« (H 53, 411).52 Erneut zitiert Tauler den von ihm so geschätzten »heidnischen Lehrmeister« Proklos, der als »Vollender des Platonismus« nach Plotin heute gern als »Hegel der Antike« bezeichnet wird. Auch Proklos, ein heidnischer Lehrmeister, so Tauler, weiß um das Gemüt: Er »nennt es einen Schlaf, eine Stille, ein göttliches Rasten und sagt: ›Wir suchen auf verborgene Weise das Eine, das weit über Vernunft und Erkenntnis steht.‹«53 Tauler fährt fort mit folgenden grundlegenden Aussagen über das Gemüt und den Grund: »Wann immer die Seele sich dorthin kehrt, wird sie göttlich und führt göttliches Leben. Solange der Mensch unter diesen äußerlichen, sinnlichen Dingen lebt und sich mit ihnen abgibt, kann er davon nichts wissen, ja er vermag es nicht zu glauben, dass das in ihm sei. Das Gemüt, der Grund, ist wie eingepflanzt in die Seele, so dass sie ein ewiges Streben und Ziehen in sich selbst hinein hat; und das Gemüt, der Grund, hat ein ewiges Neigen, ein Grundneigen wieder nach dem Ursprung. Dieses Neigen verlischt auch in der Hölle nicht, und das ist die größte Pein der Verdammten, dass ihnen die Erreichung ihres Ursprungs ewiglich versagt bleibt« (H 53, 412).54 In einigen Texten verwendet Tauler die Begriffe »Gemüt« und »Grund« synonym, in anderen lassen sich kleine Bedeutungsunterschiede feststellen, auf die in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden soll. Halten wir zunächst fest: Im Innersten der menschlichen Seele, auf ihrem Grund gibt es eine dem Menschen eingepflanzte, auf Gott hin ausgerichtete Dynamik. »Gott mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit allen Kräften und mit ganzem Gemüte zu lieben« heißt, sich dieser Dynamik anzuvertrauen. Das geht naturgemäß nur auf dem Weg der inneren Einkehr, der Hinwendung zu diesem e

52 »Nu sfflllen wir alhie merken was dis gemute si. Das ist verre hoher und innerlicher wan die krefte; wan die krefte nement al ir vermfflgen dannan us und sint do inne und dannan us geflossen und ist in allen doch ob sunder mosse. Es ist gar einvaltig und weselich und formelich e […] Die meister sprechent das dis gemute der selen das si als edel, es si alwegent wfflrkent, der mensche slaffe oder wache, er wisse es oder enwisse es nfflt; es hat ein gotformig unzellich ewig wider kaffen in Got. Aber dise sprechent, es scho˘we alwegen und minne und gebruche Gottes ane underlos […] mer dis bekent sich Got in Gotte, und noch denne ist es geschaffen« (V 64, 350, 9 – 19). e 53 »Proculus, ein heidenscher meister, nemt es ein slaf und ein stille und ein gotlich rasen und sprichet: ›uns ist ein verborgen su˚chen des einen, das ist verre fflber die vernunft und verstentnisse‹.« (V 64, 350, 20 – 22). e e 54 »So wenne das sich die sele dar in kert, so wirt si gotlich und lebet eins gotlichen lebendes. Die wile das der mensche sus get mangelen und wfflrken mit disen uswendigen sinnelichen dingen, e so enmag er des nfflt wissen, ja er enmag es nfflt gelo˘ben das das in im si. Dis gemut, diser grunt e das ist als in pflanzet das die pflanze hat ein ewig reissen und ziehen nach ir, und das gemute, der grunt der hat ein ewig neigen, ein grunt neigen wider in den ursprung. Dis neigen e enverloschet niemer och in der helle, und das ist ir meiste pin das in dis eweklich entbliben mu˚s« (V 64, 350, 22 – 29).

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dynamischen, aus sich heraus wirkenden Grund. Da dieser Grund jenseits der Sinne, des Verstandes und des Willens liegt, müssen diese Kräfte auf dem Weg der inneren Einkehr zurückgelassen werden. Sie müssen eingeschmolzen werden in den Grund. Tauler spricht von einem Versinken im Grund (H 29, 202).

Anthropologische Basis Wir begegnen hier der anthropologischen Basis des mystischen Weges. Ohne ihr existenzielles Verständnis bleibt der mystische Weg unverständlich. Nach Dietmar Mieth ist die theologische Anthropologie die Grundlage der Taulerschen Mystik. »Der entscheidende Gedanke ist dabei die ›Verwandtschaft‹ des Menschen mit Gott, die Gottebenbildlichkeit, von Gott geschaffen, durch die Sünde gestört, in Christus wiederhergestellt […] Die wahre Substanz seiner Seele ist die Gottebenbildlichkeit.«55 Halten wir deshalb die entscheidenden Elemente noch einmal fest: Im Grunde liebt jeder Mensch immer schon Gott. Nur weiß er nicht darum. Er hat es vergessen. Er hat sich von seinem Grund entfernt und sucht sein Glück draußen, in der Welt. Das ist die Tragik des Gott vergessenden Menschen; man könnte auch sagen: des Menschen, der seinen Grund vergessen hat: des grund-losen Menschen. Doch vielen frommen Menschen ergeht es nicht besser. Sie meinen, unter Aufbietung ihres Willens und all ihrer Kräfte, durch Gebet und Askese Gott lieben zu können. Doch »in diesem Willen«, so Tauler »liegt der Schaden«. »Der Wille bedeckt die Augen von innen so, wie wenn vor dem leiblichen Auge ein Fell oder eine Decke wäre und darum das Auge nicht sehen könne.« Das innere Auge muss »frei und ledig allen Wollens oder Nichtwollens sein, wenn es unbehindert und in Seligkeit soll sehen können« (H 53, 409).56 Vor dem Hintergrund dieser anthropologischen Analyse wird eine Erfahrung verständlich, die einem kritischen Beobachter religiöser Praxis nicht unbekannt sein dürfte. Es gibt fromme Menschen, die sich redlich um ihren Glauben bemühen, die regelmäßig beten, den Gottesdienst besuchen, die sich auch ernsthaft um ein sittlich gutes Verhalten bemühen, bei denen aber doch der Eindruck entsteht, dass bei all ihren Bemühungen kein wirklicher Reifungsprozess vonstatten geht. Sie stagnieren und bleiben in gewisser Weise infantil. Der Prozess der Wandlung kann nicht stattfinden, weil sie nicht in Kontakt mit dem Grund kommen, aus dessen göttlicher Dynamik der Mensch »von Grund auf« verwandelt wird. Das ist eine gewisse Tragik. Bei Außenstehenden, bei »Ungläu55 Mieth: vita activa und vita contemplativa (1969) 247. 56 »Also mu˚s das innewendig [o˘ge] blos und luter sin alles wellendes und unwellendes, sol es luterlichen und seliklichen sehen« (V 64, 348, 18 – 20).

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bigen« entsteht der fatale Eindruck, dass der Glaube auf den Reifungsprozess des Menschen keinerlei Auswirkungen habe. Sieht man jedoch genauer hin, so zeigt sich, dass es sich hier um Fehlformen religiöser Praxis handelt. Immer wieder weist Tauler darauf hin.57 Am Beispiel des Empfangs des allerheiligsten Altarsakramentes zeigt er, dass diejenigen, die bei den äußeren Zeichen stehen bleiben, leer ausgehen. Sie »schreiten nicht voran« (H 32, 237). Sie stagnieren, es findet keine Wandlung statt. »Solche Menschen schreiten nicht voran; es steht in diesem Jahre genauso wie im vergangenen; von ihnen ist nichts zu erwarten« (H 33, 241; vgl. H 34, 250).58 Das Versinken in den Willen Gottes dagegen bringt »wunderbaren Fortschritt ein« (H 76, 586).

Schweigen Der Weg, der in den Grund führt, ist das Schweigen und das Ruhenlassen aller Kräfte. »Soll Gott wahrhaft sprechen, so müssen alle Kräfte schweigen. Nicht um ein Tun geht es, sondern um ein Nichttun« (H 31, 221).59 In der täglich zu vollziehenden geistigen Übung lässt die Wahrnehmung alle Vorstellungen, Gedanken, Bilder und Wünsche hinter sich und richtet sich nach innen, auf das Eine, das Namenlose, den Grund, das göttliche Leben selbst. Hier gibt es keine Zeit, keine Vergänglichkeit, »diese Freude kann nicht verloren gehen […] und das nennt man die ewige Seligkeit« (H 53, 413).60 Diese, so Tauler, »ist nicht in der Wirksamkeit, sondern in der Wesentlichkeit zu sehen, im Grunde, da ist es unverlierbar und festbleibend und nicht in der Wirksamkeit noch in der Weise dieser Zeit […] Und wer da recht hineingelangt ist, darf wohl fortan selig heißen. Und diese Seligkeit meinte unser Herr, als er sprach: ›Selig die Augen, die das sehen, was ihr seht‹« (H 53, 414).61 Als Lehrer des geistlichen Lebens nennt Tauler seinen Zuhörerinnen und Zuhörern nun konkrete Schritte, die zu gehen sind, »um dies zu erleben«: 57 Besorgt fragt er : »Wie aber kommt es, dass so über alle Maßen große Gnade dem heiligen Sakrament innewohnt und von dort ausgeht und dass mancher im Stand der Gnade befindliche Mensch so oft zum Tisch des Herrn geht und doch so wenig Frucht an ihm sichtbar wird?« (H 34, 248). 58 »Dise verblibent und sint rehte hure also vernent, und enwurt nfflt drus« (V 33, 129, 5 f.). e 59 »Sol Got werlichen sprechen, alle die krefte mussent swigen; es sol hie nfflt sin ein tu˚n, es mu˚s ˚ sin ein entun« (V 60 f, 314, 21 f.). 60 »[…] wan diser lust der enwirt nfflt verlossen […] Und dis ist genant die ewige selikeit« (V 64, 351, 27; 30). 61 »[…] das enist nfflt in der wfflrklicheit, sunder es ist in der wesenlicheit, in dem grunde: da ist es unabziehelich und bibliplich und nfflt in der wfflrklicheit noch wise der zit hie […] Und der recht her in ist komen, der mag wol selig hinnan ab heissen. Und dise selikeit meinde unser herre do er sprach: ›Beati oculi, selig sint die o˘gen die do sehent das ir sehent‹« (V 64, 351 f, 35; 1 f.; 5 – 7).

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»Meine Lieben! Dies zu erleben, dazu muss man einen günstigen Ort, eine gute Zeit haben, Stille, Sammlung, Losgelöstheit; dazu ist die Nacht gut geeignet; sie ist stille und lang […] Das aber ist euer größter Schaden, dass ihr (bei solcher Übung) nicht verharrt. Niemand soll sich (in das Leben) dieser Leute mischen; denn der Papst und die heilige Kirche tun es (auch) nicht: sie lassen Gott mit ihnen schalten« (H 53, 414). Im Hinblick auf das Verhältnis von Mystik und Schriftauslegung ist nun folgende Äußerung Taulers interessant. Er versteht seinen Weg nicht als einen christlichen Sonderweg. »Das alles«, so sagt er, »könnte man wohl bekräftigen aus vielen Stellen der Schriften der allergrößten Heiligen, die je gelebt« (H 53, 414). Er führt eine Reihe von Kronzeugen dafür an: David, Paulus, Johannes, Dionysius, Gregor, Augustinus. »Der himmlische Vater führt und zieht diese Menschen nach innen bis zum Allerinnersten und auch äußerlich mit erstaunlichen Prüfungen und schwerer Übung« (H 53, 414). Er schließt seine Predigt mit der Aufforderung: »Dass wir den Weg gehen, der uns sehen lässt, was unsere Augen selig macht, dazu helfe uns Gott« (H 53, 415).62

Gebet der Worte? Nach diesem zugegebenermaßen kompakten Gang durch die Taulersche Mystik, der hier nur einige Aspekte derselben hervorheben konnte,63 bleiben Fragen. Tauler war Ordensmann, Dominikaner, und er sprach vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, zu Ordensleuten, vor allem Dominikanerinnen. Diese sind zum Stundengebet verpflichtet. Sie nehmen regelmäßig an der Eucharistie teil. Soll das alles wertlos sein? Wird die traditionelle christliche Praxis des mündlichen Gebets aufgegeben? Tauler geht in seinen Predigten einige Male darauf ein (vgl. H 40). Seine Ansicht lautet, kurz zusammengefasst: 1. Das Gebet der Worte kann helfen, ins innere Gebet hineinzufinden. 2. Wenn es rein äußerlich verrichtet wird, ist es wertlos. 3. Ordensleute sollen die ihnen auferlegte Vere

e

62 »Das wir also mussen volgen, das wir also sehen mussen das unser o˘gen selig werden, des helf uns Got« (V 64, 353, 5 f.). 63 Nicht bzw. kaum eingegangen wurde auf die Bedeutung des Leidens und des Sterbens. Die christologische Struktur der mystischen Weges ist geprägt von Leiden, Tod und Auferstehung in diesem Leben: »Aber, ihr Lieben, bevor dies geschieht, muss die (menschliche) Natur manchen Todes sterben. Manchen wilden, wüsten, unbekannten Weg leitet Gott den Menschen, zieht ihn und lehrt ihn sterben. O welch edles, fruchtbringendes, wundersam wonniges Leben erwacht in diesem Sterben! Welch erhabenes, abgründiges, lauteres Gut bedeutet (doch) sterben können!« (H 32, 229). Tauler spricht in diesem Zusammenhang von einem »vielfachen Tod« (ebd.). »Ihr Lieben, ein Leid muss der Mensch immer tragen. Der Mensch sei, wo er sei, er muss stets leiden« (H 35, 258).

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pflichtung zum Gebet aus der Haltung der inneren Einkehr, »aus dem Grunde«, da Gott und Mensch eins sind, vollziehen. Tauler beruft sich auf ein Wort Jesu, wenn er sagt, dass man das eine nicht gegen das andere ausspielen darf: »(Was das Gebet betrifft,) haben die Menschen zwei verschiedene Weisen. Die einen wollen mit ihrem Gebet nichts erbitten und sagen, das könnten sie nicht, denn sie wollen und müssen sich Gott überlassen, damit er mit ihnen und ihren Anliegen mache, was er wolle. Die anderen, die rufen gar eifrig unsere Liebe Frau und die Heiligen um all ihre Angelegenheiten an. Beider Art kann Mängel haben. Die ersten haben nicht erkannt, dass die heilige Kirche das Beten angeordnet hat. Und unser Herr hat uns selber gelehrt zu beten, und das Vorbild des Gebetes hat er uns selber gegeben und zu seinem Vater gebetet« (H 56, 430 f).64 Allerdings weist Tauler dabei auf eine große Gefahr hin. Bei den Menschen, »die ihre Anliegen im Gebet Gott vortragen, kann es daran fehlen, dass sie sich nicht Gott überlassen und wollen, dass das Anliegen, wofür sie beten, vorangehe. Sie sollten wohl bitten, aber das in rechter Gelassenheit, derart, dass das, was Gott gefiele, ihnen lieb wäre in jeder Art und in allen Dingen« (H 56, 430 f.).65 So läuft es letztlich darauf hinaus, dass auch das äußere Gebet nur dann sinnvoll ist, wenn es in den Weg der inneren Einkehr eingebunden bleibt. Das äußere Gebet ist von Wert, wenn es zum inneren Gebet führt: »So wie mein Mantel und meine Kleider nicht ich selbst sind, mir aber dienen, so dienet (auch) alles Gebet des Mundes; er führet (nämlich) zuweilen zum wahren Gebet, ist es aber (selbst) nicht; sondern dabei muss Geist und Gemüt sich unmittelbar zu Gott erheben: dies allein ist das Wesen des wahren Gebets und nichts anderes. Dass das Gemüt in Liebe sich zu Gott erhebe, in innigem Verlangen, in demütiger Unterwerfung unter Gott, das ist wahres Gebet allein« (H 24, 167).66 So grundlegend die Unterscheidung von innerem und äußerem Gebet ist, so geht es Tauler letztlich doch um die Überwindung von »außen« und »innen«. Wenn das Äußere mit dem Inneren eins

64 »Nu sint zwo wise die die lfflte habent. Die einen enwellent nfflt betten und sprechent si e enkfflnnen niemer nfflt gebetten, denne si wellen und mussen sich Gotte lossen, das er mit in e und allen iren sachen tuie was er welle. Nu die andern die bettent gar flisseklichen unser froˇwen an und die heiligen umbe alle ir sachen. Disen allen beiden mag sere gebresten. Den ersten den gebrist das si nfflt wol enhant durch sehen das die heilige kilche geordenet hat das man betten sffllle. Und unser herre hat uns selber gelert betten, und das bilde dis gebetz hat er uns selber gegeben, und bettet sinen vatter an« (V 50, 224, 18 – 27). 65 »Den andern mag oˇch gebresten, die do bettent, das si sint ungelossen, und wellent iemer das ir ding ffflr ge, do si ffflr bittent. Si solten wol bitten, und das in rechter gelossenheit, wie es Gotte geviele, das in das liep were in aller wise und in allen dingen« (V 50, 225, 5 – 8). 66 »[…] also min kappe und min kleider, das enbin ich nfflt, aber sffl dienent mir, also dienet alles gebet des mundes, daz dienet ettewaz zu˚ dem woren gebette, es enist es aber nfflt, sunder do e mu˚s der geist und daz gemute unmittellichen in Got gon; daz ist alleine dis wesen des woren gebettes und anders nfflt« (V 24, 101, 15 – 19).

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geworden ist, wenn der äußere Mensch ganz in den inneren hineingezogen und verwandelt ist, dann ist das äußere Gebet zugleich das innere Gebet.67

Nächstenliebe? Bei einer derart starken Hervorhebung von Gottesliebe und innerer Einkehr wird sich mancher fragen: Wo bleibt die Nächstenliebe? Ist die christliche Mystik nicht eine »Mystik der offenen Augen«, die sich ganz von der Not der Anderen bestimmen und in Anspruch nehmen lässt?68 Schließlich hat Jesus das Gebot der Nächstenliebe dem der Gottesliebe gleich gestellt (vgl. Mk 12,28 – 34 par.). Tatsächlich nimmt die Nächstenliebe rein quantitativ gesehen einen geringen Stellenwert in den überlieferten Predigten Taulers ein.69 Dabei ist jedoch zu bedenken, dass es Tauler vor allem um die Voraussetzungen der Nächstenliebe geht. Tauler ist davon überzeugt, dass der von ihm gelehrte mystische Weg der Welt mehr Gutes bringt als alles äußere Tun. Im Zustand der Beschauung »auch nur einen Augenblick zu verweilen« ist nach Tauler »allen äußeren Werken und Lebensregeln vorzuziehen; und in diesem Grund soll der Mensch für seine Freunde beten, lebende und tote: das wäre nützlicher, als hunderttausend Psalter zu beten« (H 29, 203).70 Wie ist das zu verstehen? Im Grunde geht es um die existenzielle Umsetzung des scholastischen Prinzips »agere sequitur esse« – »das Handeln folgt dem Sein«. Der von Tauler gelehrte und praktizierte Weg ist ein Weg der Wandlung. Die Wandlung vollzieht sich aus der Hinwendung und Einschmelzung in den göttlichen Grund. Dort wird der Mensch von der Gottheit überformt (vgl. H 31, 223). Das Sein des Menschen wird gewandelt. Als ein vom und im göttlichen Grund Gewandelter lebt und handelt der Mensch in der Welt. Der Mensch wird vom göttlichen Leben durchströmt und bringt so der »Welt mehr Gutes als durch alles äußere Tun«. Sein Handeln wird rein und von aller Anhaftung befreit.71 67 Zur Bedeutung des Gebetes bei Tauler vgl. Zekorn: Gelassenheit und Einkehr (1993) 94 – 109: »Wer nur äußerlich betet, der kann Gott nicht finden, ja dessen Gebet kann ihn sogar von Gott wegführen« (a. a. O., 103). 68 Vgl. Metz: Mystik der offenen Augen. Wenn Spiritualität aufbricht (2011). 69 Vgl. Zekorn: Gelassenheit und Einkehr (1993) 168: »Insgesamt ist festzuhalten, dass die Nächstenliebe für Tauler wichtig, aber nicht eines seiner zentralen Themen ist. Sie wird zwar in ihrer Bedeutung gesehen, aber weder quantitativ noch qualitativ ihrem postulierten Stellenwert gemäß behandelt.« 70 »[…] in diseme ston ein ogenblick, das ist verre besser denne alle die ussewendigen werg und ufsetze, und in diseme grunde hat der mensche zu˚ bittende ffflr sine frfflnt, lebende und tot; das were nffltzer denne hundert tusent selter gelesen« (V 60d, 302, 8 – 11). 71 Vgl. Haas: Nim din selbes war (1971) 112: »[…] im Maße als sich einer der Eigen- und

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Durch einen derart geläuterten Menschen handelt Gott in der Welt: »Dann nämlich wirkt Gott alle des Menschen Handlungen in ihm und durch ihn, und der Mensch tut nichts aus sich selbst; sondern Gott wirkt, und der Mensch ist nur das Werkzeug, durch das Gott wirkt« (H 31, 217).72 Einem verbreiteten Missverständnis zufolge führt der mystische Weg also nicht aus der Welt heraus. Es geht um eine »von Grund auf« neue Form der Präsenz in der Welt. Diese neue Form der Präsenz in der Welt erwächst allerdings nicht aus den Bemühungen des menschlichen Ichs, mögen sie noch so gut gemeint sein. Der Weg in die Welt führt über die Verachtung der Welt. Durch die tägliche Übung der inneren Einkehr,73 da der Mensch alle Tätigkeiten der Sinne und des Verstandes lässt und sich in den göttlichen Grund der Seele versenkt, wird er von Grund auf verwandelt. Aus diesem verwandelten Sein heraus erwächst ein verwandeltes Handeln. Der Mensch handelt anders, weil er ein anderer geworden ist und immerfort wird. Das Modell eines solchen Handelns hat Gott den Menschen in Jesus Christus äußerlich sichtbar vor Augen gestellt. Deshalb ist es für Tauler weder nötig noch möglich über Christus hinauszukommen: »Über das Vorbild unseres Herrn Jesus Christus vermag niemand hinauszukommen« (H 15b, 106; vgl. auch H 31, 220).74 Der von Tauler gelehrte mystische Weg ist letztlich der Weg Christi. Wer den Weg geht, wird (wie) Christus, »sowohl im Erleiden seiner Gottferne […] als auch in seiner Teilhabe am inneren Leben der dreifaltigen Hervorgänge«.75 Der Zusammenhang von Gottes- und Nächstenliebe, der in der Heiligen Schrift vielfach bezeugt wird (vgl. Mt 22, 34 – 40 par.; 25,31 – 46; 1 Joh 4,20), ist Tauler sehr wohl bewusst. Die »innere Liebe« zu Gott und die »äußere

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Selbstliebe im Selbsterkenntnisprozess entschlägt, wird er frei für die ›tätige Liebe‹ am Nächsten.« »Denne so wfflrket Got alles des menschen werk in ime und usser ime, und der mensche wfflrket nfflt usser im selber. Denne Got wfflrket, und der mensche ist nfflt denne ein gezowe das Got wfflrket« (V 60 f, 312, 7 – 10). Tauler empfiehlt eine tägliche Übungszeit von etwa einer Stunde. »Denn üben musst du dich, willst du ein Meister werden […] Der Mensch soll sich bei Tag oder in der Nacht eine Zeitspanne nehmen, in der er sich in seinen Grund senken kann, jeder nach seiner Weise« (H e 72, 364). »Wan du mu˚st dich uben, solt du kfflnnen […] Der mensche sol under nacht und tag iemer ein gu˚te zit nemen, und in der sol er sich in senken in den grunt, ein ieklichs nach siner wise« (V 42, 179, 10 f.; 24 – 26). »[…] fflber das bilde unsers herren Jhesu Christi enmag nieman kummen« (V 15, 71, 7 f.). McGinn: Mystik (2008, Band. 4) 466. »Hier bewahrheitet sich des heiligen Paulus Wort: ›Ihr sollt von seinem Tod künden, bis er kommt.‹ Diese Verkündigung geschieht nicht mit Worten, nicht mit Gedanken, sondern sterbend, dich entäußernd, in der Kraft seines Todes« (H 31, 221). Dass auf diesem Weg die Gottvereinigung ebenso groß wie bei Christus wird, hält Tauler theoretisch, nicht jedoch praktisch für möglich: »Je tiefer dieses Zunichtewerden ist, um so wesentlicher und wahrer ist die Vereinigung. Und ließe es sich so wesenhaft und so lauter aufzeigen wie an der Seele unseres Herrn Jesus Christus – käme es dazu, was freilich nicht möglich ist –, so wäre die Gottvereinigung ebenso groß wie bei Christus (selbst). So viel der Entäußerung, so viel des Gottwerdens« (H 31, 220).

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Liebe« zum Nächsten durchdringen einander. Die eine ist in der anderen zu erkennen: »Die wahre göttliche Liebe, die sollst du in deinem Inneren haben, die sollst du erkennen und wahrnehmen an der Liebe, die du nach außen zu deinem Nächsten hast; denn nicht eher liebst du Gott, als bis du findest, dass du deinen Nächsten liebst« (H 76, 583).76 Tauler ist allerdings davon überzeugt, dass der Weg der Liebe von innen nach außen führt. Die Verschlossenheit gegenüber dem inneren Weg ist nach Tauler die Wurzel allen Übels. Sein ganzes Bemühen richtet sich darauf, Menschen einen Zugang zu diesem Weg zu eröffnen. Er zitiert in diesem Zusammenhang ein »angesehenes Mitglied« seines Ordens: »Das Licht Christi leuchtet in unserem Inneren klarer, als alle Sonnen am Himmel leuchten können; jenes Licht aber geht von innen nach außen, nicht von außen nach innen« (H 76, 589).

Ohne Bilder, ohne Formen Von seinem Ursprung her und in der Fassung des Deuteronomiums bilden Fremdgötter- und Bilderverbot im Alten Testament eine Einheit. Es ist nun interessant zu sehen, dass Tauler im Zusammenhang mit der Aufforderung, alles, was nicht Gottes ist, zu lassen, auch auf die (Gottes-)Bilder zu sprechen kommt: »Und wenn dieser Glanz in der Seele leuchtet, so verschwinden alle Bilder und Formen« (H 3, 29).77 Mit der radikalen Hinwendung zu Gott verschwinden auch alle Bilder. Tauler lässt keinen Zweifel daran: »…und wird dieses Licht recht in Wahrheit aufgenommen, so fallen alle Bilder, Formen und Gleichnisse ab, und es zeigt sich allein die Geburt in der Wahrheit. Der Himmel zeigt jetzt seine natürliche Dunkelheit« (H 3, 28).78 Mit dieser Deutung tun sich viele Christen schwer. Es geht aber, wie die mystische Tradition zeigt, wohl kein Weg daran vorbei. Tauler weist darauf hin, dass ein heidnischer Philosoph das besser verstanden habe als viele Christen: »Hierzu sagt ein heidnischer Meister, Proklus: ›Solange der Mensch mit den Bildern, die unter uns sind, beschäftigt ist und damit umgeht, wird er, so glaube ich, niemals in diesen Grund gelangen […]‹ Ach, ihr Lieben, dass ein Heide das verstanden hat und darauf kam, wir aber dem so ferne stehen und so wenig gleich sind, das bedeutet für uns Schimpf und eine große Schande« (H 29, 201).79 76 Vgl. dazu auch Mieth: Die Einheit von vita activa und vita contemplativa (1969). 77 »[…] und wenne dis klore lieht lfflhtet in der selen, so entwichent alle bilde und formen« (V 4, 21, 24 f.). 78 »[…] und wurt dis lieht reht enpfangen in der worheit, und do vallent alle bilde und forme und glichnisse abe und wiset alleine die geburt in der worheit. Der himel ist nu in sinre natfflrlicher dunkelheit« (V 4, 21, 19 – 22). 79 »Hievon sprach ein heidenscher meister Proculus: ,alle die wile und also lange da der mensche

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Die Forderung der Bildlosigkeit der Gottesschau steht in (neu-)platonischer Tradition. Der Sache nach ist sie aber zugleich als existenzielle Aneignung des alttestamentlichen Bilderverbotes zu verstehen. Dieses steht in engster Verbindung mit dem Fremdgötterverbot. In den ältesten Fassungen bilden beide Verbote eine Einheit. So ist es auch bei Tauler. Die radikale Einladung, sich von allem Nicht-Göttlichen zu lösen, sich allein auf Gott hin auszurichten und mit ihm eins zu werden, impliziert das Lassen aller Bilder, auch aller Gottesbilder (vgl. H 41, 309; V 41, 171, 25 – 31). »Zieht dich aber Christus (selbst), so überlass dich ihm ohne Formen und Bilder ; lass ihn wirken, sei sein Werkzeug« (H 15b,106).80

Kontextuelle Schriftauslegung Taulers mystischer Weg kann als Vertiefung und existenzielle Aneignung des alttestamentlichen Fremdgötter- und Bilderverbots verstanden werden. Wir begegnen hier einem Modell von kontextueller Schriftauslegung. Ihrer ursprünglichen Intention nach besagen Fremdgötter- und Bilderverbot, dass Israel neben JHWH keine anderen Götter verehren darf. »Andere Götter verehren« heißt konkret, kultische Handlungen vor den Bildern, die diese Götter repräsentieren, zu vollziehen oder gar solche Bilder herzustellen; die Namen anderer Götter anzurufen, Weihrauch vor ihren Bildern aufsteigen zu lassen, in den Heiligtümern oder auf den Kulthöhen dieser Götter Opfer darzubringen. All dies wird vor allem von den Propheten des Alten Testaments scharf kritisiert (u. a. Jer 2,11 – 13; Ez 8,5 – 18; Hos 4,11 – 19). Die Urszene des Abfalls von JHWH, und damit die Ursünde gegen das Hauptgebot stellt die Erzählung vom Goldenen Kalb dar (Ex 32). Das Hauptgebot gilt für Juden und Christen aller Zeiten: Keine anderen Götter neben JHWH, keine Herstellung von Götterbildern! Positiv formuliert: JHWH, deinen Gott, lieben mit deinem ganzem Herzen, mit deiner ganzen Seele, mit all deiner Kraft. Welchen Sinn aber hat das Fremdgötterverbot in seiner ursprünglichen Bedeutung in einem kulturellen Kontext, in dem der Polytheismus nicht mehr existiert und als konkretes religiöses Symbolsystem keine ernst zu nehmende Option mehr darstellt? Die Dominikanerinnen, vor denen Tauler predigte, standen nicht in der Gefahr, andere Götter zu verehren oder Bilder anderer Götter herzustellen. Würde man das Fremdgötter- und mit den bilden die under uns sint, umbget und mangelt do nfflt, so ist daz nfflt gelouplich daz der mensche in disen grunt iemer komen mfflge […] Kinder, das ein heiden dis verstunt und darzu˚ kam, das wir dem also verre und also ungelich sint, das ist uns laster und grosse schande« (V 60d, 300, 27 – 30; 301, 1 – 3). 80 »[…] zfflhet dich Cristus, so lo dich ime sunder forme und sunder bilde, und lo in wfflrcken, bis sin instrumente« (V 15, 71, 3 f.).

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Bilderverbot auf seine ursprüngliche Bedeutung eingrenzen, wäre es für Christen in Europa mit Beginn des Mittelalters weitgehend bedeutungslos. Aus der Perspektive Taulers, und das heißt: aus einem differenzierten und vertieften Verständnis dieses Gebotes heraus betrachtet, sieht die Sache anders aus. Äußerlich gesehen wird das Gebot erfüllt. Aber wie sieht es im Inneren des Menschen aus? Was heißt eigentlich »Gott lieben«? Nur allzu leicht meint der Mensch, Gott zu lieben, schaut er aber genauer hin, so zeigt sich, wie sehr er an lieb gewordenen Vorstellungen, die er sich von Gott macht, haftet. Sind das nicht auch Gottesbilder? Müssen nicht auch diese Bilder, um mit Tauler zu sprechen, »gelassen« oder gar »umgehauen« werden? Die Dynamik dieser Fragestellung ist in der Bibel selbst angelegt. Mit Fremdgötter- und Bilderverbot weist das Alte Testament in deutlicher Abgrenzung zu den polytheistisch und ikonographisch geprägten Religionen der Nachbarkulturen, mit denen Israel in einem komplexen und wechselseitigen Austausch stand,81 eine kraftvolle Bewegung in das Unsichtbare, das sinnlich nicht Wahrnehmbare, das Geistige auf. Bereits die frühe jüdische Tradition erkannte in dieser Tendenz eine Verwandtschaft zum Platonismus, die sie mit der apologetisch ausgerichteten Auskunft, Platon habe von Mose abgeschrieben, zu erklären suchte.82 In dieser Tradition stehend setzt der von Tauler gewiesene mystische Weg an. Er führt nicht über das in der Bibel Gebotene hinaus, sondern er führt gleichsam in das Innere dieses Gebotes hinein. In seiner auf Praxis ausgerichteten Lehre wird der christliche Glaube zu einem Weg der Wandlung. Martin Luther bekennt im Brief an Spalatin, keinen Theologen deutscher oder lateinischer Sprache zu kennen, der mit dem Evangelium größere Übereinstimmung aufweise als Tauler.83 Die reflektierte und differenzierte Rezeption der Schrift, die im Hintergrund der Taulerschen Mystik steht, sei abschließend im Hinblick auf unsere Thematik noch einmal zusammengefasst. Sie lässt sich als verknüpfende Lektüre des Motivs der Gottebenbildlichkeit (Gen 1,26), des Sündenfalls (Gen 3 – 4) und der dem Menschen angebotenen göttlichen Erlösung verstehen. Von seinem Ursprung her ist der Mensch Bild Gottes. Auf dem Grunde seiner Seele ruht das Bild der Heiligen Dreifaltigkeit (H 11, 201). Durch den Ungehorsam hat sich der Mensch von Gott, von seinem Bild und damit auch von sich selbst entfremdet. Er 81 Vgl. Keel: Geschichte Jerusalems (2007, 2 Bände). 82 Verwiesen sei unter anderem auf den jüdisch-hellenistischen Exegeten Aristobulos (ca. 175 – 150 v. Chr.). Vgl. Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, Band III, 1980, 259 – 279. 83 »Neque enim ego vel in latina vel nostra lingua theologiam vidi salubriorem et cum Euangelio consonantiorem« (D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel 1, Weimar 1930, 79). Vgl. Leppin: Mystische Spiritualität (2011) 139: »Luther war ab etwa 1515 mit den Predigten Taulers vertraut und bewegte sich bis hin zu seinen Thesen gegen den Ablass auf den Bahnen des spätmittelalterlichen Mystikers.«

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ist gespalten. Er ist nicht mehr das, was er von seinem Ursprung her ist. Das Gebot, Gott zu lieben »mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit ganzer Kraft« kann nun so verstanden werden, dass sich der Mensch von allem Nicht-Göttlichen abwendet und sich in seinen Grund hinein versetzt, dass er sich der Dynamik anvertraut, die ihn in sein Inneres hinein zieht und ihn dort »zu Grunde richtet«. Zu Grunde gehend wird der Mensch in das Bild Gottes zurückverwandelt, er wird »vergöttlicht«. Die Entfremdung von Gott und von sich selbst wird aufgehoben. Jetzt erfüllt er das Gebot der Gottesliebe von Grund auf. Aus Gnade ist er wieder geworden, was er als Geschöpf Gottes ursprünglich war und was er im Grunde seiner Seele nie verloren hat: Bild, das heißt: Repräsentant Gottes in der Welt. Wie eine Gottesstatue den Tempel heiligt, in dem sie steht, so heiligt der Mensch als Statue Gottes die Welt, die nach Gen 1 ein Heiligtum ist.

Zunichte werden – Mystik als Weg der Wandlung Zu Beginn meines Beitrags wies ich auf die Bedeutung der Erfahrung hin, ohne die Taulers mystische Lehre unverständlich bleibt. »Kein Lehrer soll von Dingen sprechen, die er nicht selbst erlebt hat« (H 41, 313). Bei der Erfahrung, zu der Tauler führen möchte, geht es nicht um eine sinnliche Erfahrung oder um innere Zustände, wie sie der psychologischen Analyse zugänglich sind. Es geht um die Erfahrung des Grundes. Vor diesem Hintergrund mag nun überraschen, dass Tauler von sich selber sagt: »Glaubt nicht, dass ich in eigenem Erleben bis dahin gelangt sei. Gewiss sollte kein Lehrer von Dingen sprechen, die er nicht selbst erlebt hat. Doch zur Not genügt, dass er liebe und das im Sinn habe, wovon er spricht, und ihm kein Hindernis bereite« (H 41, 313).84 Der von Tauler gewiesene Weg ist ein Weg der Wandlung. Auf diesem Weg geht es nicht darum, dass das menschliche Ich »schöne« spirituelle Erfahrungen macht, sondern darum, dass es sich in den göttlichen Grund versetzt und dort zunichte wird, genauer : seiner eigenen Nichtigkeit gewahr wird. Wenn das geschieht, gibt es kein Ich mehr, das eine spirituelle Erfahrung machen könnte. »Der Mensch soll all sein Können vor Gott beugen […] und soll von Grund auf sein natürliches und sein gebrechliches Nichts erkennen. Das natürliche Nichts, das ist, dass wir von Natur aus nichts sind; das gebrechliche Nichts ist das, das uns zu einem Nichts gemacht hat« (H 63, 485).85 Das menschliche Ich erkennt sich im göttlichen Grund als reines 84 »Nfflt wenent das ich mich dis fflt anneme das ich fflt her zu˚ komen si, allein enkein lerer nfflt e ensffllle leren das er selber von lebende nfflt enhabe. Doch ist es ze noten gnu˚g das er es minne und meine und nfflt do wider entu˚« (V 41, 175, 4 – 7). 85 »[…] also sol der mensche alles sin vermfflgen bfflgen ffflr Got; alles das er ist und vermag, das sol er alzemole bfflgen under die gewaltigen hant und kraft Gotz, und sol gruntlich bekennen sin natfflrlich nicht und sin gebrestlich nicht. Das natfflrlich nicht das ist das wir von naturen

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Nichts. Deshalb sagt der Apostel Paulus: »Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir« (Gal 2,20). So gesehen gibt es Mystiker, die keine mystischen Erfahrungen gemacht haben. In diesem Sinne gehört Erfahrungslosigkeit zur mystischen Erfahrung. Tauler ist sich der Ambivalenz des Erfahrungsbegriffs also sehr wohl bewusst. Sachlich steht er damit in der Tradition von 1 Kor 13. Einerseits hält er an der vielfach in Schrift und Tradition bezeugten Bedeutung geistiger Erfahrung fest,86 andererseits nimmt er das dazu Gesagte zugunsten des durch die geistige Übung eingeleiteten Prozesses der Wandlung hin zu einem Reifen in der Liebe wieder zurück.87 Auch und gerade in Bezug auf den mystischen Weg gilt das Wort Jesu: »An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen« (Mt 7,16).88 Zwar kennt auch Tauler die ihm aus der Tradition zugekommene Unterscheidung von »Anfängern« (incipientes), »Fortgeschrittenen« (proficientes) und »Vollkommenen« (perfecti) auf dem geistigen Weg,89 doch warnt er vor einem falschen Verständnis von »Vollkommenheit«: »Nie soll der Mensch je damit rechnen – soweit das hienieden möglich ist –, vollkommen zu werden, es sei denn, der äußerliche Mensch werde zu einem innerlichen. Dann wird der Mensch (in Gottes Grund) hineingenommen und ein gar großes Wunder, großer Reichtum geoffenbart […] Wisst, ehe das, wovon wir hier gesprochen, voll-

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nicht ensint, und das gebrestlich nicht das ist das uns ze nichte gemacht hat« (V 67, 365, 18 – 22). In der Predigt zum Gleichnis vom Festmahl (Lk 14,15 – 24) sagt Tauler : »Die Lehrmeister und die Heiligen sagen: Wer nicht in irgendeiner Weise einen Vorgeschmack des himmlischen Mahles besitze, werde es niemals verkosten« (H 34, 246). Tauler widerspricht dem nicht, führt allerdings eine wichtige Unterscheidung ein: »Dieser Vorgeschmack aber ist gar ungleich; ungleich ist aber auch der Genuss.« – Vgl. die Fortsetzung des Zitats in der folgenden Anmerkung. »Wenn dies auch in einer Hinsicht richtig ist, so enthält Gott die fühlbare Empfindung des Grundes manchen lauteren und wackeren Menschen all ihre Lebtage vor, derart, dass sie nicht des geringsten Bröckleins dieses Mahles bis zu ihrem Tod teilhaftig werden oder auch gar bis sie zur Teilnahme (am himmlischen Festmahl) gelangen. Und doch stehen solche Menschen tausendfach höher als diejenigen, die hienieden (den Vorgeschmack des himmlischen Mahles) in überfließender Fülle gekostet haben. Es gibt auch Menschen, die auf Erden zahlreiche Offenbarungen erhalten; es kann aber sein, dass sie sich ihrer in einer Weise bedienen, die sie ihres Nutzens beraubt; und so befindet sich derjenige, welcher niemals dergleichen erhalten hat, beim himmlischen Mahl Gott hundertfach näher (als jener). Denn Gott bemisst dieses Mahl nach dem Maß der Liebe und gibt einem jedem, was ihm am meisten frommt. Wer aber diesen Grund verkosten will, der muss Herz und Sinn von allem abgewandt haben, was nicht lauter Gott ist oder dessen wahre Ursache Gott nicht ist » (H 34, 246 f). »Nu sprach das ewangelium: ›an iren frfflchten sol man si bekennen‹.« (V 57, 271,8; H 48, 372). In H 31, 223 spricht er von den »Übungen der Anfangenden« – »Nu sint etteliche lfflte die in e der vordersten ubungen noch stont« (V 60 f, 316, 17 f.).

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bracht wird, muss die Natur gar manchen ungestümen Tod erfahren, äußerlich und innerlich« (H 15b, 107).90

Transkonfessionelle Mystik? Dass der von Tauler gelehrte Weg auf der Ebene des Subjekts ein Weg der Wandlung ist, dürfte deutlich geworden sein. Dass sich die Struktur dieses Weges nicht ausschließlich vor dem Hintergrund neuplatonischer Tradition verstehen lässt, sondern auch vor dem des alttestamentlichen Fremdgötter- und Bilderverbots, hat dieser Beitrag zu zeigen versucht. Taulers Mystik kann als Rezeption und Transformation des biblischen Hauptgebots verstanden werden. Historisch gesehen geht er damit über die ursprüngliche Bedeutung des Gebotes hinaus, theologisch gesehen, so die hier vertretene Deutung, findet das Gebot durch diese Interpretation zu seinem eigentlichen Ziel. Nun ist noch eine dritte Ebene der Transformation, die des »religiösen Systems«, zu bedenken. Zur Diskussion steht die Frage, ob Taulers Mystik das christliche religiöse Symbolsystem, in dem sie sich artikuliert, transformiert oder gar überwindet. Es gibt bekanntlich die These, dass Mystik ein transkonfessionelles und transreligiöses Phänomen sei. Die mystische Erfahrung sei in allen Religionen in ihrem Kern gleich. Unterschiedlich seien lediglich ihre kulturell bedingten Formen der Explikation, zu denen auch die Versprachlichung gehört. Worte wie »Gott« und »Christus«, um bei der christlichen Tradition zu bleiben, seien letztlich austauschbare Chiffren, die auf eine Wirklichkeit verweisen, die in allen Religionen gleich sei. Diese eine Wirklichkeit zu erfahren, sei das Ziel aller Mystik. Diese Ansichten zu diskutieren übersteigt den Rahmen des vorliegenden Beitrags. Es seien lediglich einige wenige Gedanken und Beobachtungen genannt, die der weiteren Ausarbeitung bedürfen. Tauler verstand seine mystische Lehre als Teil einer kirchlichen Erneuerungsbewegung. Er stand in engem Kontakt zur Bewegung der Gottesfreunde.91 Schon von daher weist seine mystische Lehre eine ekklesiologische Dimension auf. Tauler ging es nicht um eine von christlicher Einkleidung befreite transkonfessionelle oder gar transreligiöse Mystik. Das dürfte unbestritten sein. Vertiefung des christlichen Glaubens bei den ihm in der Seelsorge anvertrauten Menschen war sein Anliegen. McGinn 90 »Niemer ensol sich der mensche des versehen daz er iemer volkomen werde; alse verre alse es hie mfflgelich ist, der usser mensche werde broht in den innern menschen, do wurt der mensche ingenomen, do wurt alsolich wunder, alsoliche richeit geoffenbart […] Nu wissent, e daz vollebroht werde dovon wir hie gesprochen hant, do mu˚s uf die nature manig swinde dot vallen ussewendig und innewendig« (V 15, 71, 14 – 17; 19 – 21). 91 Vgl. Gnädinger: Tauler (1993) 39 – 43, 105

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bezeichnet Taulers Mystik als eine »kirchliche Mystik«.92 Er verweist auf ihre tiefe christologische Prägung.93 Entscheidend auf dem Weg zum Einswerden mit Gott ist die Nachfolge Christi. Allerdings gibt Tauler zwei verschiedene Weisen an, in der Nachfolge geschehen kann: einmal »nach dem liebreichen Vorbild unseres Herrn in Begehren, Dank und Lob« (H 64, 496). Dann aber nennt er noch einen »kürzeren Weg […] ohne all dies: ohne sich Gedanken zu machen oder sonst etwas, nur in einem inneren, ganz gelassenen, stillen Schweigen, in einem nach innen gekehrten Seelengrund und einem lauteren Erwarten Gottes, auf das hin, was er in einem Menschen wirken wolle an Reinstem und Höchstem, wie es ihm gefällt oder nach seinem Willen sein mag« (H 64, 496). So stellt McGinn die berechtigte Frage, »wie weit dieser direktere Weg etwas mit dem Vorbild Christi zu tun hat«.94 Von ihrem inneren Gehalt her weist Taulers Lehre eine Offenheit gegenüber analogen Erfahrungen und Einsichten »heidnischer Meister« auf. Tauler selbst spricht dies mehrfach und unbefangen an. Die von ihm angezielte Vertiefung des christlichen Glaubens führt also auch auf der Ebene des Systems zu einer Weitung. Die Korrelation von Vertiefung und Weitung scheint ein durchgehendes Merkmal christlicher Mystik zu sein, zumindest jener mystischen Tradition, in der Tauler steht. Von daher dürfte es kein Zufall sein, dass christliche Mystik zu einem bevorzugten Ort interreligiöser Begegnung geworden ist.95 Diese wiederum hängt auch an einem vertieften und geweiteten Verständnis der Heiligen Schrift. Wer sich auf historische Ursprungsbedeutungen fixiert, wer die Aufgabe der Exegese darauf beschränkt, »einen Text auf Eindeutigkeit hin einzuengen«96, wird sich schwer damit tun.

Literatur Quellen Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, hg. von Ferdinand Vetter (Deutsche Texte des Mittelalters, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. XI.), Berlin 1910. Johannes Tauler, Predigten. Vollständige Ausgabe, übertragen und hg. von Georg 92 93 94 95

McGinn: Mystik (2008, Band 4), 469. A.a.O., Band 4, 462 – 469. A.a.O., Band 4, 464. Vgl. u. a. Enomiya-Lassalle: Zen und christliche Mystik (1966, 31988), und Merton: Weisheit der Stille (1975). 96 So die im Methodenbuch »Exegese des Alten Testaments«, hg. von Fohrer / Hoffmann / Huber / Markert / Wanke (1979) 155, erhobene Forderung.

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Hofmann. Einführung von Alois M. Haas, 2 Bde. (Christliche Meister 2 – 3), Einsiedeln 4 2007. Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, hg. von Werner Georg Kümmel, Bd. III, Lf 2: Unterweisung in lehrhafter Form, Gütersloh 21980.

Sekundärliteratur Baier, Karl: Meditation und Moderne. Zur Genese eines Kernbereichs moderner Spiritualität in der Wechselwirkung zwischen Westeuropa, Nordamerika und Asien, 2 Bd., Würzburg 2009. Bangert, Michael: Mystik als Lebensform. Horizonte christlicher Spiritualität, Münster 2003. Braulik, Georg: Deuteronomium 1 – 16,17 (NEB), Würzburg 1986. de Lubac, Henri: Typologie, Allegorie, geistiger Sinn. Studien zur Geschichte der christlichen Schriftauslegung. Aus dem Französischen übertragen und eingeleitet von Rudolf Voderholzer, Einsiedeln / Freiburg 1999. Enomiya-Lassalle, Hugo M.: Zen und christliche Mystik, Freiburg 31986. Gnädinger, Louise: Johannes Tauler. Lebenswelt und mystische Lehre, München 1993. Haas, Alois M.: Nim din selbes war. Studien zur Lehre von der Selbsterkenntnis bei Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse (Dokimion 3), Freiburg (Schweiz) 1971. Hossfeld, Frank-Lothar : Der Dekalog. Seine späten Fassungen, die originale Komposition und seine Vorstufen (OBO 45), Freiburg (Schweiz) / Göttingen 1982. Keel, Othmar : Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus, 2 Bde., Göttingen 2007. Leppin, Volker : Mystische Spiritualität über Grenzen hinaus, in: Kirchgessner, Bernhard (Hg.): Christliche Spiritualität und Mystik. Begriffsklärungen, St. Ottilien 2011, 131 – 148. McGinn, Bernard: Die Mystik im Abendland, 4 Bde., Freiburg 1994 – 2008. Merton, Thomas: Weisheit der Stille. Die Geistigkeit des Zen und ihre Bedeutung für die moderne christliche Welt, München 1983. Mieth, Dietmar, Die Einheit von vita activa und vita contemplativa in den deutschen Predigten und Traktaten Meister Eckharts und bei Johannes Tauler. Untersuchungen zur Struktur des christlichen Lebens, Regensburg 1969. Ruh, Kurt: Geschichte der abendländischen Mystik, 4 Bde., München 1990 – 1999. Schönborn OP, Christoph: Über die richtige Fassung des dogmatischen Begriffs der Vergöttlichung des Menschen, in: FZPhTh 34 (1987) 3 – 47. Schwienhorst-Schönberger, Ludger : Das Hohelied und die Kontextualität des Verstehens, in: Clines, David J. A. / Lichtenberger, Hermann / Müller, Hans-Peter (Hg.): Weisheit in Israel. Beiträge des Symposiums »Das Alte Testament und die Kultur der Moderne« anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads (1901 – 1971), Münster 2003, 81 – 91. Ders.: Einheit statt Eindeutigkeit. Paradigmenwechsel in der Bibelwissenschaft?, in: Herer Korrespondenz 57 (8/2003) 11 – 22.

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Dieter Böhler SJ

Die Bibel in den Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola und in der spirituellen Praxis des frühen Jesuitenordens

Meine Ausführungen umfassen nach einer Einleitung zwei Punkte: (1) Der Bibeltext in den Geistlichen Übungen und (2) die Mystik der Geistlichen Übungen. Text und Mystik eben. Zum Schluss soll gezeigt werden, dass die Geistlichen Übungen des Ignatius zu einem Gebet führen, das nichtdiskursiv ist und das doch auf den Bibeltext nicht verzichten kann, ja durch ihn eigentlich erst hervorgebracht wird.

Einleitung Siebzehn Jahre nach dem Tod des Ordensgründers Ignatius von Loyola geriet der rasch wachsende Jesuitenorden in dessen spanischer Heimat in eine heftige spirituelle Krise, die sogenannte Affäre Baltasar Ýlvarez.1 Baltasar Ýlvarez wurde 1533 geboren, trat noch zu Lebzeiten des Ignatius von Loyola 22jährig im Jahre 1555 in den Orden ein, wurde 1558 zum Priester geweiht und legte 1567 die feierlichen Professgelübde ab.2 In den Jahren 1566 bis 1576 arbeitet er als Novizenmeister und dann Tertiatsinstruktor3 in Villagarc†a. In dieser Zeit, genauer : ab dem Jahr 1573 kam die Gebetslehre, die er den Tertiariern in seinen Vorträgen nahebrachte, ins Gerede. Ihre Orthodoxie im Allgemeinen und ihre Vereinbarkeit mit der Gebetsweise der ignatianischen Exerzitien im Besonderen wurden angezweifelt. In jenem Jahr fand in Rom die dritte Generalkongregation des Ordens statt, die unter anderem einen Nachfolger für den dritten Ordensgeneral Francisco de Borja (1565 – 1572) zu wählen hatte. Der Delegierte Kastiliens, Juan Su‚rez, berichtete dem neugewählten Generaloberen, dem Belgier Everard Mercurian (1573 – 1580), über Probleme in der kastilischen Ordensprovinz. Darunter nannte er die Tatsache, dass einige Jesuiten eine Gebetsweise pflegten, 1 Cognet: Spiritualit¦ (1966) 229. 2 Ruiz Jurado: Ýlvarez (2001) 91. 3 Das »Tertiat« (tertia probatio) ist eine Art drittes Noviziatsjahr nach Abschluss der Studien.

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die abweiche von dem, was der Ordensgründer Ignatius in seinen geistlichen Übungen gelehrt habe. Insbesondere der Tertiatsinstruktor Baltasar Ýlvarez lehre einen modus peregrinus des Betens. Provinzial geworden verlangte Juan Su‚rez von Baltasar Ýlvarez 1576 und erneut 1577 die Beantwortung einiger kritischer Fragen in einem Bericht, der auch nach Rom gehen sollte.4 In diesen Berichten beschreibt Ýlvarez, dass er sich sechzehn Jahre im diskursiven Betrachten der Heiligen Schrift geübt habe,5 wie es in den Geistlichen Übungen des Ignatius vorgesehen sei, dann aber 1566 zu einer anderen, höheren Gebetsweise übergegangen sei, die er »Gebet der Ruhe« oder »Gebet des Schweigens« nannte (oraciûn de quietud, de silencio). In dieser Gebetsweise arbeiten sich die Seelenkräfte nicht mehr am Betrachtungstext ab, sondern verweilen ruhend in der Gegenwart Gottes.6 Diese Gebetsweise pflegte Ýlvarez nicht nur selbst, sondern er lehrte sie auch die jungen Patres, die bei ihm ihr Tertiat machten. Die Zeiten waren nicht ungefährlich für dergleichen Lehren. Bewegungen von Alumbrados, die sich in ihrem Streben nach Innerlichkeit bisweilen von jeder Bindung an das äußere Kirchenwesen dispensierten, standen unter verschärfter Beobachtung durch die Inquisition. Auch Ignatius selbst war kurzzeitig in Verdacht geraten. Die wichtigsten Akteure der Inquisition wiederum gehörten dem Dominikanerorden an, der die junge Gesellschaft Jesu mit Misstrauen beäugte. Juan Su‚rez und andere Ordensobere lebten in der ständigen Angst, der Orden könnte ins Visier der Inquisition geraten, wenn sich Lehren, die denen der Alumbrados gleichen, darin ausbreiten.7 Es gab aber auch jesuitenspezifische Einwände gegen Ýlvarez’ Gebetslehre:8 1. Sie weiche von der diskursiven Schriftbetrachtung der Geistlichen Übungen ab, die ein von der Kirche approbierter sicherer Gebetsweg sind, während das Verfolgen eigener Empfindungen höchst irrtumsanfällig sei.9 Provinzial Juan Su‚rez nannte es »eine Pflanzstätte von Irrtümern und ein[en] Sprudelquell von Häresien« (errorum seminarium et haeresum scaturigo).10

4 de Ponte: Vita (1616) 480. 5 A.a.O., 14 und 133. 6 A.a.O., 150: »Ex quo fit, ut haec oratio appelletur etiam Quietis aut Recollectionis internae: eo quod careat multitudine, varietate et imaginationum ac ratiocinationum strepitu; et potentiae animae superiores, memoria, intellectus et voluntas simul colligantur et figantur in Deum et in contemplationem mysteriorum eius cum magna in suis actionibus quiete et tranquillitate et haec est quae maxime proprie Contemplatio appellatur, quae […] a meditatione distinguitur, quae a re una in alteram discurrit.« Vita 151: »Contemplatio autem simplici quodam intuitu summam veritatem cum ingenti eius magnitudinis admiratione intuetur . […] Vocatur item Oratio Silentii eo quod Deus in ea loquatur anima tacente.« 7 Almiñana / Moreno: Problema (1970) 227. 8 A.a.O., 234; Ruiz Jurado: Ýlvarez (2001) 92; de Ponte: Vita (1616) 481 – 493. 9 de Ponte: Vita (1616) 509 f. 10 A.a.O., 510.

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2. Sie mache die Kontemplation zum Selbstzweck und vergesse die apostolische Zielsetzung jesuitischen Ordenslebens. 3. Wer die diskursive Schriftbetrachtung verlasse, tue nichts mehr für die Ausbesserung seiner Fehler und seinen sittlichen Fortschritt.11 4. Wer die diskursive Schriftbetrachtung vernachlässige, habe anschließend seinem Nächsten keine daraus gewonnenen Erkenntnisse zu predigen.12 5. Die ungewöhnliche Gebetsweise, die nicht für jeden tauge, spalte den Orden, der gerade wegen seiner raschen Ausbreitung eine gewisse Uniformität brauche, um zusammengehalten zu werden. 6. Die Gebetsweise verführe zur Verachtung der Heiligenverehrung, des mündlichen Gebets und äußerlicher Riten (gegen die Kirchenregeln des Ignatius). 7. Die Gebetsweise verführe zu Selbstzufriedenheit und Eigensinn: Tatsächlich seien einige der Jünger des P. Ýlvarez durch Überheblichkeit, Ungehorsam, Unabgetötetheit und pastorale Faulheit aufgefallen. 8. Sorge machte den spanischen Ordensoberen die Tatsache, dass eine nicht unerhebliche Zahl von Jesuiten in die Kartause abgewandert war.13 Da sah man ja, was bei solcher Kontemplation herauskam! Zu diesen konkreten Einwänden und der generellen Furcht vor der Gefahr, in die Nähe der Alumbrados zu geraten, kommt noch die Tatsache hinzu, dass der junge Orden noch keine eigene spirituelle Literatur hervorgebracht hatte und somit über das Übungsbuch des Ignatius hinaus noch keine eigentliche spezifisch jesuitische Gebetslehre entwickelt worden war, die Orientierung hätte geben können bei der Beurteilung des modus peregrinus von P. Ýlvarez und seiner Schüler.14 Alvarez antwortet Punkt für Punkt auf die Vorwürfe:15 Seine Gebetsweise ergebe sich nach langer diskursiver Übung und Vorbereitung durch die Führung des Heiligen Geistes. Mit dem eigenmächtigen und hochmütigen Vorgehen der Alumbrados habe dies nichts zu tun. Diese Gebetsweise entspreche dem, was Ignatius in den Zusätzen zu den Exerzitien sagt, nämlich: »en el puncto en el cual hallare lo que quiero, ah† me reposar¦« (ES 76).16 Das Gebet des Schweigens führe 11 12 13 14 15 16

So Provinzial Su‚rez nach de Ponte: Vita (1616) 514. Vgl. Tarragó: La oraciûn (1928) 171. Vgl. Tarragó: La oraciûn (1928) 169. Almiñana / Moreno: Problema (1970) 226. A.a.O., 225. de Ponte: Vita (1616) 481 – 493. A.a.O., 490 f.: »Iis qui per aliqot annos in ratiocinationibus et meditationibus sunt versati, beneque profecerunt, et ad hunc orandi modum cum interna quiete, et in Dei conspectu et per modum contemplationis sunt bene dispositi, licebit consulere, non quidem ut meditationes omnino deserant ; sed, ut sensim remittant aliquid de ratiocinatione, addant vero plus aliquid de affectu. […] Et hoc est, quod Pater noster Sanctus Ignatius dixit in Additionibus

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zur Selbstbeherrschung, zur Unterwerfung unter den Willen Gottes und damit sehr wohl zur eigenen Besserung und zur Bereitung für das Apostolat. Dass einige Schüler Ýlvarez’ überheblich und eigensinnig werden, liegt nicht an der Gebetsweise, in der sie noch gar nicht geübt sind, sondern an ihnen und kann bei anderen Gebetsweisen ebenfalls vorkommen. Äußere Andachten und mündliches Gebet werden auch nicht verachtet, sondern mehr geachtet, da der Gebetsweg damit begonnen hat. Freilich findet der Geübte dann schneller durch sie hindurch zum stillen Verweilen.17 Alvarez selbst jedenfalls sah im mündlichen und diskursiven Gebet eine notwendige Vorstufe zum Gebet der Ruhe, ja eine stets wieder aufzusuchende Gebetsweise, wenn die oraciûn de quietud sich nicht einstellt.18 Das diskursive Gebet verglich er mit der Arbeit der Ruderer, die eingestellt wird, wenn der Wind die Segel füllt, die aber wieder aufgenommen wird, wenn Windstille herrscht.19 Der römische Ordensgeneral Mercurian schickt einen Visitator, P. Diego de Avellaneda, der – ähnlich wie Provinzial Juan Su‚rez – Ýlvarez gegenüber von vornherein kritisch eingestellt war. Er verbietet Ýlvarez Praxis und Lehre der oraciûn de quietud. Mercurian billigt das Vorgehen des Visitators in einem Schreiben vom Februar 1578.20 Ýlvarez unterwirft sich bis zu seinem Tode zwei Jahre später (1580). Da Ýlvarez aufgrund seiner herausragenden Fähigkeiten und Tugenden in höchstem Ansehen stand und durchaus nicht in Ungnade gefallen war, wurde er weiterhin mit wichtigen Ämtern betraut, sogar noch zum Provinzial ernannt.21 Mit dem Brief des Ordensgenerals Mercurian schien die Frage entschieden: Nichtdiskursive Kontemplation passt nicht zum jesuitischen Beten, ist insbesondere mit den ignatianischen Exerzitien und der apostolischen Zielsetzung des Ordens nicht vereinbar. Der Jesuit darf nur mit der Bibel und anderen frommen Inhalten beten. Nun könnte man P. Ýlvarez ohne Weiteres für eine bloße Fußnote der Spiritualitätsgeschichte halten, wäre er nicht 1559 – 66 der Beichtvater einer be-

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suorum exercitiorum: ut in quo puncto quaesitam devotionem invenerimus, in eo haereamus absque anxietate ulterius progrediendi, donec nobis satisfecerimus.« Almiñana / Moreno: Problema (1970) 234. de Ponte: Vita (1616) 480. A.a.O., 157: »In ipsa oratione non remis et magno labore agitur, sed vento, ut dicitur, ad puppim flante, motione scil. Spiritus Sancti navigatur.« Vita 499: »Estque hoc adeo verum, ut ipsismet, qui ad quietis Orationem conscenderunt, opus sit non oblivisci et omnino deserere exercitium meditandi […] eo quod favor et motio Dei, quae illos ad tantam quietem exaltavit, saepe cessat: ut tunc necesse sit, ipsos potentiis suis operari […] quasi triremes aut parvae naves, quae vento deficiente, remis impelluntur.« Almiñana / Moreno: Problema (1970) 235; Glotin: Actividad (1985) 168. de Ponte: Vita (1616) 517: Alvarez wird Visitator der Provinz Aragon und später zum Provinzial von Toledo ernannt (a. a. O., 561).

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stimmten Nonne gewesen: Teresa S‚nchez de Cepeda y Ahumada. Diese Ordensfrau, besser bekannt als Teresa von Avila, bescheinigt ihm, ein streng prüfender Beichtvater gewesen zu sein, der ihr aber auf ihrer schwierigsten Wegetappe am meisten geholfen und zu ihr gestanden habe.22 Damit ist Pater Baltasar Ýlvarez ein wichtiger Schnittpunkt zwischen ignatianischer und teresianischer Mystik und keineswegs nur eine Fußnote der Geschichte christlicher Spiritualität.

Der Bibeltext in den Geistlichen Übungen Die uralte Gebetsleiter lectio – meditatio – oratio – contemplatio, die angefangen von den Wüstenvätern sich durch die Spiritualitätsgeschichte zieht bis hin zu Bachs Passionen und Oratorien, die noch immer aus Bibeltextrezitativ, meditierendem Accompagnato-Rezitativ und sich frei emporschwingender Arie oder kontemplativem Chor bestehen, versteht unter lectio ursprünglich die hörbare Rezitation eines kanonischen, weithin auswendig gewussten Textes. Die Rezitation des längst bekannten Textes macht nicht mit Neuem bekannt, sondern »sammelt« den Hörer oder Rezitator, der sich in den bekannten Text einschwingt und dort zur Ruhe kommt.23 Der Islamwissenschaftler Abu Zaid beschreibt das so: »Die Bedeutung des Korans geht […] erst in der Rezitation wirklich auf. Beschränkt man sich auf das Schriftstück, mißachtet man den rituellen Aspekt des Korans, dann verliert man, was man die ästhetische oder sinnliche Erkenntnis der Offenbarung nennen kann. […] Jede Religion bedarf sinnlicher oder ästhetischer Erfahrungen. Im Islam ist es vor allem die Koranrezitation, die diese Funktion erfüllt. Sie ist ein spiritueller Vorgang und ritueller Akt: Indem der Gläubige die Rede Gottes hört, hört er den Sprecher selbst – er hört Gott. Gott wird ihm gegenwärtig, und gleichzeitig vergegenwärtigt er sich selbst im Angesicht dieses göttlichen Sprechers. […] Und die Mystiker sprechen bisweilen davon, daß man den Koran solange vortragen soll, bis man seine Zunge vergißt und ganz und gar im Vortrag auflöst. Der Mystiker wird dann 22 Teresa de Jesús: Vida (1986) 25,15: »[…] todos eran contra m†. […] sûlo el confesor que, aunque conformava con ellos, por provarme, sigffln despu¦s supe, siempre me consolava«; a. a. O., 26,3: »Era el que m‚s me aprovechû, a lo que me parece.« 23 Bekannt sind die Schwierigkeiten, die Augustinus mehrfach erlebte, wenn den Gläubigen ein anderer als der ihnen geläufige Bibeltext vorgetragen wurde. So löste die neue Übersetzung des Hieronymus, der in Jona 4,6 die Pflanzenstaude nicht mehr mit cucurbita, sondern hedera wiedergab, in OÚa in Nordafrika einen Tumult aus (Augustinus, ep. 71,5; CSEL 34,253; PL 33,242 f); ähnlich Augustinus, sermo 232, 1 (PL 38, 1108): »Passio […] non solet legi nisi secundum Matthaeum. Volueram aliquando ut per singulos annos secundum omnes Evangelistas etiam passio legeretur : factum est; non audierunt homines quod consueverant, et perturbati sunt.« Ähnliches steht hinter der Ablehnung der Revision der Lutherbibel von 1975 (»Eimertestament«) durch die lutherischen Gläubigen.

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zum Vortragenden, zum Vorgetragenen und zum Vortrag selbst – es ist eine Unio mystica, die sich einstellt, ein Nachvollzug des initialen Offenbarungsaktes.«24

Wie der Islam, so kennen vor ihm schon Judentum und Christentum die rituelle Textrezitation als wohl älteste und ursprüngliche meditative Textbenutzung. Das Stundengebet der Kirche und die Psalterrezitation der Wüstenväter und Mönche gehören zu dieser Sorte Textmeditation. Das Exerzitienbuch des Ignatius von Loyola entsteht sozusagen als meditativer Textgebrauch zweiter Ordnung, über Vorgängerwerke aus solcher spiritueller Textrezitation. Das Übungsbüchlein des Ignatius entwächst dem Nährboden der monastischen Psalmodie, die nach der oratio vocalis, der Rezitation des Psalms innehält zur oratio mentalis, dem inneren Wiederkäuen des Gehörten oder Rezitierten. Ende März 1522 verbrachte der eben von seiner Beinverwundung genesene Ignatius zunächst ein paar Tage im Kloster Montserrat und dann bis Februar 1523 weitere zehn Monate in Manresa in der Nähe. Der vormalige Abt Garc†a Jim¦nez de Cisneros (1455 – 1510) hatte das Kloster zu geistlicher Blüte gebracht, nicht zuletzt durch seine beiden Werke Exercitatorio de la vida espiritual und das Directorio de las Horas Canûnicas.25 Der Abt wollte anleiten zu einem geistlich fruchtbaren Vollzug der sieben Horen des Chorgebets. Dazu schlug er in seinem Directorio für jede der sieben täglichen Horen einer Woche dem Mönch vor, die Psalmen unter einer bestimmten Rücksicht zu singen, die ihm helfen soll, seinen Geist zu sammeln und nicht zerstreut umhergehen zu lassen.26 So schlägt er vor, den ersten Psalm der ersten Nocturn mit den Engeln zu singen und dabei den Blick fest auf den Erzengel Gabriel zu fixieren, der der Jungfrau in Nazaret die Geburt Jesu ankündigt. Zum folgenden Psalm schreibt er dann: »Wenn der erste Psalm beendet ist, lege er den Daumennagel [der linken Hand] auf das zweite Gelenk des Zeigefingers, wende seinen Geist der Stadt Betlehem zu und schaue das neugeborene Kind an, das in die Krippe gelegt ist, sowie die singenden Engel und Hirten; und mit ihnen singe er selbst den zweiten Psalm, indem er, wie erklärt, seinen Sinn anpasst an das, was dort geschieht. Und so schreite er voran durch alle Fingergelenke der linken Hand, um, wenn der Geist umherzuschweifen beginnt, mit dem [Daumen-]Nagel das Gelenk zu berühren und [den Geist] zurückzurufen zur aufgegebenen Meditation.«27 24 Abu Zaid: Leben (1999) 19 f. 25 Melloni: Introducciûn (2006) XVIII: »Ambas impresas en 1500 (en lat†n y en castellano) en el monasterio de Montserrat.« Steinke: Ignatius (2009) 39. 26 Directorium cap. IV (zum Hymnus): »Ne huc et illuc vagus discurrat.« 27 Directorium cap. IV: »Primo finito Psalmo ponat unguem pollicis in secunda junctura indicis, aptans mentem suam civitati Bethleem, et intueatur natum infantem positum in praesepio, et Angelos et Pastores canentes, et cum eis cantet ipse secundum Psalmum adaptans, ut dictum est, sensum ejus ad ea quae illic aguntur, et sic procedat per omnes laevae juncturas, ut, si mens vagare coeperit, ungue tangens juncturam revocet eam ad debitam meditationem.«

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Neben diesen thematischen Ausrichtungen der Psalmenrezitation im Directorio gab der Abt mit seinem Exercitatorio (Übungsbuch) eine Trainingsanleitung für das mentale Gebet in den vorgesehenen Stillephasen des Chorgebets, vor allem nach der Komplet und der Matutin.28 Ignatius lernte auf dem Montserrat höchstwahrscheinlich die Bücher des Abtes kennen. Es spricht aber sehr viel dafür, dass Ignatius vor allem auch eine von einem anonymen Mönch hergestellte Kurzfassung derselben kannte und benutzte. Diese war gedacht nicht nur für Mönche, sondern besonders auch für die Pilger, die damit zur Meditation angeleitet wurden. Diese Zusammenfassung des anonymen Mönchs heißt compendio breve de ejercicios espirituales.29 Das compendio fasst einerseits in den ersten sieben Kapiteln das Exercitatorio des Abtes zusammen und gibt andererseits in Kap. 8 eine Kurzfassung des Directorio. Dabei erlaubt der anonyme Verfasser sich allerdings auch Neuerungen: So weist er, anders als der Abt, einfach jeder der sieben täglichen Horen insgesamt drei Betrachtungspunkte zu – und das durch alle sieben Tage. Dieses DreiPunkte-Schema finden wir bei Ignatius wieder. Der Matutin (Maytines) des Montags weist das compendio zu: »Die Dreieinigkeit der Personen in einem göttlichen Wesen; die Gleichheit der Personen in ihrer erhabenen Majestät; die Ewigkeit der Personen in ihrer bleibenden Unveränderlichkeit.«30 Zur Sext des Montags gibt er das Elend des Menschen, die dauernde Versuchung und das göttliche Erbarmen, das Heilung verheißt, vor.31 Zur Vesper des Montags schlägt er vor: das Erbarmen der Dreieinigkeit, die den Erlöser senden will; den Gruß des Engels und die Antwort der Jungfrau.32 So geht das compendio während der sieben Mal sieben Horen einer Woche in etwa dem Leben Jesu entlang, indem der Verfasser jeder Hore drei Betrachtungspunkte zuweist, die er mit eigenen Worten formuliert. Eigentlicher Bibeltext erscheint hier nicht. Ignatius scheint nun diese Betrachtungsanleitungen, die den psallierenden Mönch beim Psalmtext halten sollten, unter Weglassung der Psalmenrezitation als sein Gebet übernommen zu haben. Statt der sieben Horen Chorrezitation, wie sie oben im Kloster gepflegt wurden, übte Ignatius in seiner Einsiedelei 28 Garc†a de Cisneros selbst hatte die Übung des mentalen Gebets in Kreisen der devotio moderna kennengelernt. Vgl. Melloni: Introducciûn (2006) XIXf. 29 Der Beichtvater und Seelenführer des Ignatius auf dem Montserrat, Juan Chanon (1480 – 1568), hat, nach einem Vorwort zur lateinischen Ausgabe des compendio von 1614, dem Pilger Ignatius das compendio in die Hand gegeben. Vgl. Melloni: Introducciûn (2006) XXVI, Anm. 36. Vgl. Steinke: Ignatius (2009) 41, und Ruiz Jurado: Influyû (1979) 72. Obwohl alles dafür spricht, dass das compendio nicht lange nach Cisneros zusammengestellt wurde, ist bisher keine Ausgabe vor 1555 bekannt. Bei Kleinschriften wie dem compendio muss das nicht viel heißen. Vgl. Melloni: Introducciûn (2006) XXX–XXXV. 30 Compendio (2006) 415. 31 A.a.O., 418. 32 A.a.O., 420.

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unten im Tal sieben Stunden mentalen Gebets nach dem Vorbild des Exercitatorio oder des compendio breve.33 Die Messe und die gesungene Vesper und Komplet hörte er darüber hinaus mit viel geistlicher Bewegung.34 In dieser Zeit verfasste er den Grundstock seines eigenen Übungsbüchleins, das er Exercicios spirituales nannte. Bei aller Inspiration, die Ignatius von Abt Garc†a de Cisneros und wohl mehr noch von dem compendio breve empfing, sind Unterschiede zwischen ihren Übungsbüchern doch unübersehbar.35 Das compendio breve ist ebenso wie das Exercitatorio des Abtes für den Mönch bestimmt. Ignatius gibt sein Übungsbuch in die Hand des Exerzitienbegleiters, der damit den Übenden anleitet. Der Abt leitet den Benediktiner an zur Übung des mentalen Gebets während der oratio vocalis und in den Stillepausen. Ignatius ersetzt die Rezitation durch die Betrachtungspunkte der oratio mentalis. Die benediktinischen Übungsbücher lehren den Mönch die fuga mundi. Das Exerzitienbuch des Ignatius will den Übenden formen für eine Sendung in die Welt hinein. Das zeigen zum einen die Sonderbetrachtungen des Ignatius, für die er keine Vorlage hat: der Ruf des irdischen Königs, die Betrachtung der zwei Banner, die Überlegungen für das Treffen einer Wahl und die Regeln zur Unterscheidung der Geister. Bei Ignatius läuft alles auf die Teilnahme an der Sendung Christi hinaus. Der Abt gibt im Exercitatorio, Kap. 8 als Ziel der Übungen das purgari, illuminari und uniri an. Damit sind zwar einerseits aufeinander folgende Stadien gemeint, aber doch nicht so, dass die späteren Stadien, wenn sie einmal erreicht sind, die vorangehenden einfachhin hinter sich ließen. Das Exercitatorio des Abtes und noch deutlicher das compendio meinen vielmehr, die ganze Leiter sei immer wieder auch von ganz unten zu erklimmen.36 Ignatius unterscheidet gar nicht erst drei Stadien und spricht daher nicht von »Wegen«, vias, sondern von »Leben«, vida purgativa und illuminativa (ES 10). Allerdings spricht er nicht von einer vida unitiva. Die unio, die die Exerzitien anstreben, besteht in der Einung mit dem Willen Gottes im tätigen Gehorsam in der Nachahmung des

33 Ignatius von Loyola: Pilgerbericht 23 und 26; Melloni: Mistagog†a (2001) 37 f.; Melloni: Introducciûn (2006) XLVIII. 34 Ignatius von Loyola: Pilgerbericht 21. 35 Steinke: Ignatius (2009) 46 – 48. 36 Compendio (2006) 132: »Y porque podr†a alguno preguntar qu‚nto tiempo es menester exercitarsse en la v†a purgativa primero que passe a la illuminativa, pu¦dese responder que en esto no se puede dar regla cierta, sino quando (segffln dizen los Doctores sanctos) paresce estar la conciencia ya limpia del or†n de los pecados […] Teniendo estas tres cosas, puede tener el hombre algffln indicio de estar purgado, aunque de tiempo a tiempo deve tornar a las materias y meditaciûn que traen temor. Y por lo dicho arriba, de las condiciones que ha de tener el que se ha de exercitar en la v†a iluminativa, no entiendas que [h]ay algffln tiempo en que no puedas pensar en los beneficios de Dios.«

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Lebens Jesu.37 Als Gebetsweise erscheint die vida unitiva im Exerzitienbüchlein nicht. Zu Erleuchtung und Einung hilft nach Cisneros am meisten »Redemptoris nostri vitam et passionem ruminare«.38 Für die via purgativa gibt er als Stoff von Montag bis Donnerstag die eigenen Sünden, Tod, Hölle und Gericht, für Freitag die Passion, Samstag unsere Herrin und Sonntag die himmlische Herrlichkeit an. Dasselbe gilt für das compendio.39 Die Stoffe sind weitgehend nichtbiblisch, eher ein persönliches memento mori.40 Dem entsprechen für die via illuminativa die zu betrachtenden persönlichen Gnadengaben: Schöpfungsgaben, Begnadung und Rechtfertigung, persönliche Talente.41 Auch hier haben wir mehr dogmatische Themen als Bibeltext. Die via unitiva will der Abt, offenbar wenn die Übungen der via purgativa verlassen sind, an deren Ort nach der Matutin geübt wissen durch die Betrachtung der Vollkommenheiten Gottes.42 Der vierte Teil des Exercitatorio, ebenso lang wie die ersten drei zusammen, handelt von der Kontemplation, die Cisneros im Vorwort als Ziel des Aufstiegs »ad vitam unitivam et contemplativam« beschrieben hatte. Nachdem die drei Wege wie beschrieben eingeübt sind, übe sich der Mönch von da an in der Kontemplation. Mit ausdrücklicher Berufung auf Bernhard und Bonaventura43 empfiehlt der Abt als Materie der Kontemplationsübung das Leben Christi von der Empfängnis bis zur Himmelfahrt – und zwar so, dass von der Menschheit über den Gottmenschen zur Betrachtung der Gottheit fortgeschritten werde. Ziel ist das Verweilen bei der Beschauung der Gottheit im Leben Christi.44 Hier nun legt der Abt nicht mehr wie bei der Einübung der drei Wege dogmatische Gegenstände vor. Er bietet zwar nicht Bibeltext, wohl aber biblischen Stoff. Die Betrachtungsstoffe, die Cisneros einfach der Reihe nach angibt, verteilt das compendio systematisch zunächst auf eine Woche Mysterien des Lebens Christi und dann eine Woche 37 Nach A. Lefrank: Umwandlung (2009) 369, ist »›Kontemplation‹ zur Zeit von Ignatius […] längst ein Wort mit mystischer Konnotation geworden […]. Die intime Christus-Beziehung, zu der die Exerzitien führen, ist jedoch kein Ziel, in dem die Betenden dann ›ruhen‹ sollen wie im reinen Dasein vor Gott. Auch aus diesem Grund hat Ignatius von der klassischen DreiWeg-Lehre geistlichen Lebens die ›Vereinigung‹ neben ›Reinigung‹ und ›Erleuchtung‹ wohl nicht erwähnt.« 38 de Cisneros: Exercitatorium Spirituale (1856) 25. 39 de Cisneros: Exercitatorium Pars I., cap. 12; Compendio (2006) 36; a. a. O., 64: »despu¦s de Maitines«. 40 de Cisneros: Exercitatorium Pars I., cap. 8, nennt »illa quae timorem incutiunt« die geeigneten Gegenstände für die via purgativa. 41 de Cisneros: Exercitatorium Pars II., cap. 23; Compendio (2006) 137, 139. 42 de Cisneros: Exercitatorium Pars III., cap. 26 – 27; Compendio (2006) 205. 43 de Cisneros: Exercitatorium Pars IV., cap. 47; Compendio (2006) 256 – 258. 44 de Cisneros: Exercitatorium Pars I., cap. 8: »Nam Redemptoris vita, mors et passio est ostium, quo intratur ad amorem divinitatis. […] Et cum Dei servus coeperit radicari in deitatis amore, poterit aliquamdiu a consideratione humanitatis cessare.«

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Mysterien von Passion und Auferstehung.45 Auch das werden wir bei Ignatius wiederfinden. Für die konkrete Betrachtung empfiehlt der Abt bei der Betrachtung der Menschwerdung das Beschauen und affektive Nachvollziehen der Sehnsucht der Patriarchen, die sich erfüllt, und der Freude der Jungfrau sowie das Staunen über die Herablassung Gottes.46 Ignatius gestaltet die Inkarnationsszene (ES 101 – 109) als Sendung des Sohnes zur Rettung der todgeweihten Welt, als großangelegtes göttliches Unternehmen, in dem alle Beteiligten – Christus, der Engel, die Jungfrau – gehorsam die Rolle einnehmen, die ihnen der Wille Gottes zuweist. Der Wille Gottes nimmt so Akteure in Dienst zur Rettung der Welt. Das Leben Christi ist somit bei Ignatius das Gegenstück zu den Sündenbetrachtungen der ersten Woche. Wie der Abt für die Betrachtungen der via purgativa die eigenen Sünden, den eigenen Tod, die Hölle und das Gericht vorlegte, so weist Ignatius den Übungen der ersten Woche die Funktion der vida purgativa (ES 10) zu. Er legt dabei aber ähnlich kosmische Ausmaße zu Grunde wie bei der Inkarnation: Die Sünde der Engel und Adams Fall sind jener Ungehorsam gegen den Willen Gottes, an dem der Mensch durch seine persönlichen Sünden mitwirkt, wodurch die Welt zur Hölle verdammt ist.47 Dem steht die Inkarnation entgegen und die Aufforderung, an der Sendung Christi zur Rettung der Welt teilzunehmen im Gehorsam gegenüber dem Willen des Vaters.48 So wählt Ignatius den biblischen Stoff aus dem Leben Christi mit einer gewissen Tendenz aus: Es geht immer um die Teilnahme an der Sendung und dem Gehorsam Christi gegenüber dem Willen Gottes zur Rettung der Welt. Bei der Betrachtung der Geburt Christi erwähnt der Abt die Kleinheit des Kindes und seine Armut, um sie in Gegensatz zu setzen zur Schönheit und inneren Größe und Weisheit des Kindes.49 Ignatius unterstreicht die Mühen und Anstrengungen der Eltern und des Kindes, Armut und Unbilden, »und all das für mich« (ES 116) und lädt dazu ein, den genannten Personen beizustehen und bei dem Unternehmen mitzuhelfen wie ein armer, unwürdiger Sklave (ES 114). Am ausführlichsten wird Ignatius bei der Berufung der Apostel (ES 275), die der Abt eher knapp erwähnt hatte, wobei dieser den Akzent auf die Erwählung von einfachen Fischern und Verstoßenen legte.50 Diesen Punkt erwähnt Ignatius 45 de Cisneros: Exercitatorium Pars IV., cap. 50 – 60; Compendio (2006) 253 – 317 und 318 – 403. Compendio (2006) 403 nennt sie ausdrücklich »ecericios para fuera del coro« – also in den Stillezeiten. 46 de Cisneros: Exercitatorium Pars IV., cap. 51. 47 de Cisneros: Exercitatorium Pars I., cap. 11, und Compendio (2006) 39 erwähnen die Sünde Luzifers und die Adams nur, um zu zeigen, wie folgenreich eine einzige Sünde sich auswirkt, um dem Mönch deren Ernst zu zeigen. 48 Melloni: Mistagog†a (2001) 170. 49 de Cisneros: Exercitatorium Pars IV., cap. 52. 50 de Cisneros: Exercitatorium Pars IV., cap. 52; Melloni: Mistagog†a (2001) 177.

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ebenfalls, betont aber zugleich die Würde, zu der die dem Ruf Gehorchenden erhoben und die reichen Gaben, mit denen sie ausgestattet werden. Auch unterstreicht er, dass es Grade der Nachfolge gibt, deren höchster alles für immer zurücklässt. So ist das Leben Christi, dessen Betrachtung (contemplaciûn) Ignatius der vida illuminativa zuweist (ES 10), nicht einfach nur Verweilen als Selbstzweck, wie bei Cisneros, sondern Anweisung, Aufforderung zur Teilnahme an der Sendung Christi und seinem Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes, ungeachtet der Mühen, die das mit sich bringt. Die Exerzitien des Ignatius haben nicht so sehr das Ziel, den Geist des Übenden auf den Stufen einer Himmelsleiter zur unio und contemplatio emporzuführen, als vielmehr den Übenden mit Christus absteigen zu lassen in einer Art neuerlichen Inkarnation zur Verwirklichung des Willens Gottes wie im Himmel so auf Erden. Die gesuchte unio ist eine tätige Vereinigung mit dem Willen Gottes. Ziel ist ein Mensch, der in actione contemplativus ist (Nadal). Hatte Cisneros die Kontemplation der Mysterien des Lebens Jesu der via unitiva zugewiesen, sind im Exerzitienbuch die contemplationes dieser Mysterien Teil der vida illuminativa (ES 10). Die unio (die Ignatius nicht so nennt) liegt dann erst im gehorsamen Nachvollzug. Daher wird bei Ignatius der biblische Stoff mit einer bestimmten Tendenz ausgewählt. Wie bei Cisneros, Bernhard und Bonaventura geht es um Leben und Leiden Christi, aber nicht an und für sich, sondern als Sendung, zu deren gehorsamer Teilnahme auch der Übende eingeladen wird. Insofern beschneidet Ignatius den Bibeltext für seine Übungen.51 Zugleich aber gibt Ignatius dem Bibeltext mehr Gewicht als der Abt. Garc†a de Cisneros legt die Betrachtungsgegenstände im Exercitatorio für die Gebetspausen und im Directorio für die Psalmenrezitation mit einiger Ausführlichkeit mit eigenen Worten vor. Das compendio breve fasst den Stoff für die Horen in drei Punkte zusammen, ebenfalls mit eigenen Worten.52 Ignatius gibt nun ebenfalls meist ganz knapp drei Punkte für jede Betrachtung, die er allerdings in einer späten Redaktion seiner Exerzitien fast immer mit einem wörtlichen Bibelzitat versieht53, ja oft besteht ein Punkt nur aus einem Bibelzitat.54 Diese 51 Beutler : Die Rolle (1990) 49. Während Ignatius für die zweite Woche den gehorsamen Gesandten, der Menschen ruft, hervorhebt (meist nach Matthäus), will er in der dritten Woche keine Phase des Leidens auslassen und ordnet den Stoff topographisch (Beutler: Die Rolle [1990] 49 f.). 52 Steinke: Ignatius (2009) 42. 53 Die Geheimnisse des Lebens Christi in ES 261 – 312 sind offenbar erst gegen Ende der Pariser Studienjahre des Ignatius zu den Exerzitien hinzugefügt worden. Vgl. Beutler: Die Rolle (1990) 44. Arzubialde: Ejercicios (2001) 635: »Aparecen como un bloque †ntegro y compacto entre 1537 y 1539.« 54 Lefrank: Umwandlung (2009) 359: »Sie bestehen etwa zur Hälfte bis zu zwei Dritteln aus wörtlichen Zitaten von Evangelientexten. Die übrigen Sätze geben knapp wieder, was in den

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Bibelzitate hat Ignatius offenbar selber aus der Vulgata ins Spanische übersetzt.55 Er legte also zunehmend Wert darauf, auch dem, der nicht Latein kann, den Bibeltext zugänglich zu machen. Und es ist nicht nur ein Faktum, dass er – abweichend von Cisneros und dem compendio – vor allem mit wörtlichen Bibelzitaten arbeitet, wie sie freilich im Leben Christi des Kartäusers Ludolph von Sachsen auch zuweilen vorkommen. Ignatius weist vor seiner Punktesammlung ausdrücklich darauf hin: »Bei allen folgenden Mysterien ist zu beachten, dass alle Worte, die in Klammern eingeschlossen sind, aus dem Evangelium selbst sind und die außerhalb nicht. Und bei jedem Mysterium wird man meist drei Punkte finden, um anhand von diesen leichter zu betrachten und zu beschauen« (ES 261). Die wenigen leicht zu merkenden puncta sollen das Betrachten und Beschauen erleichtern. Dies entspricht der zweiten Anmerkung zu Beginn des Übungsbüchleins, wo Ignatius ausführt, der Exerzitiengeber solle nur knapp die Geschichte umreißen, da der Übende mehr Geschmack und geistliche Frucht gewinne, wenn er selbst etwas findet, sei es durch eigene Erwägung, sei es durch göttliche Erleuchtung. Zu breite Entfaltungen durch den Exerzitiengeber wären da nur Hindernis, da nicht das Vielwissen, sondern nur das innere Fühlen und Verkosten der Dinge die Seele sättigt (ES 2).56 Und genau dasselbe, so scheint mir, erleichtern die wörtlichen Bibelzitate, die eine Innovation des Ignatius sind. Sie wollen die genannte direkte Erleuchtung erleichtern dadurch, dass der Exerzitiengeber mit seinen eigenen Worten zurücktritt und Gott selber reden lässt durch die Heilige Schrift. Dem entspricht die 15. Anmerkung in der Einleitung der Exerzitien, wo Ignatius sagt: »Bei der Suche nach dem Willen Gottes ist es viel passender und viel besser, dass sich der Schöpfer und Herr selbst der ihm ergebenen Seele mitteile […] so dass der, der sie [die Übungen] gibt, […] unmittelbar den Schöpfer am Geschöpf wirken lassen soll und das Geschöpf mit seinem Schöpfer und Herrn.« Diese Gottunmittelbarkeit, durchaus eine Art vita unitiva im Gebet, wollen die Übungen erreichen. Und die direkten Bibelzitate scheinen dem nachhelfen zu sollen. Die wörtlichen Bibelzitate in den Punkten zu den Mysterien des Lebens Jesu57 einzelnen Perikopen erzählt wird.« Beutler: Die Rolle (1990) 48: »Die umfangreichste Ergänzung des Exerzitienbuches in der Pariser Zeit besteht in der Hinzufügung der ›Geheimnisse des Lebens Christi, unseres Herrn‹ (EB 261 – 312). […] Ignatius legt zu diesem Zeitpunkt großen Wert darauf, die Schrift sehr genau wiederzugeben und auf Paraphrasen soweit möglich zu verzichten.« 55 Arzubialde: Ejercicios (2001) 636. 56 Ignatius von Loyola: ES 2: »[…] no el mucho saber harta y satisface al ‚nima, mas el sentir y gustar de las cosas internamente.« 57 Ursprünglich stand für Ignatius, wie schon bei Ludolf von Sachsen, eher die Gestalt Christi im Vordergrund, »nicht eine Textwelt« (Beutler: Die Rolle [1990] 45). So nimmt er, wie

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könnten noch einen weiteren Zweck verfolgen: Ignatius stellt sich die Betrachtung einer biblischen Szene zunächst vor als diskursives Meditieren mit den drei Seelenkräften Gedächtnis, Verstand und Wille (ES 50 – 52). Dazu mobilisiert der Übende seine Imagination, um zu schauen und zu hören (ES 106 – 107). Der geistliche Gewinn soll durch Reflexion und Weckung von Affekten daraus gezogen werden (ES 116). Mit dieser Art der diskursiven Meditation wird zunächst der ganze Mensch »eingesammelt«. Ignatius stellt jedoch gegen Ende seines Übungsbüchleins noch drei Weisen des Betens vor. Die erste besteht wesentlich im diskursiven Reflektieren etwa über die Zehn Gebote oder die sieben Todsünden (ES 241, 244 f). Die zweite Gebetsweise will eine Vereinfachung erreichen. Sie wird kniend oder sitzend vollzogen und mit geschlossenen oder auf einen Punkt fixierten Augen.58 Dann wird bei einzelnen Worten, etwa des Pater noster, verweilt, solange das Wort Bedeutungen und Vergleiche, Geschmack und Trost hergibt (ES 252). Ignatius sieht dabei durchaus vor, dass zunächst vielleicht das ganze Gebet und mehr (ES 253) meditiert wird. Ignatius will aber, dass doch möglichst lang beim einzelnen Wort verweilt werden soll (ES 254), so dass er schließlich auch die Möglichkeit ins Auge fasst, dass eine ganze Stunde mit einem oder zwei Wörtern verbracht werden (ES 255). Es ist offensichtlich, dass nach dieser Gebetsweise nicht mehr die Erzählungen des Exerzitiengebers betrachtet werden, sondern nur noch die wörtlichen Bibelzitate. Die dritte Gebetsweise schließlich nennt Ignatius orar por comp‚s (Beten nach dem Takt, nämlich dem Atemrhythmus). Bei jedem Atemzug nimmt sich der Beter ein Wort, etwa des Pater noster vor, nicht um es zu reflektieren, sondern um etwa den anzuschauen, an den es sich richtet (ES 258). Nachdem Ignatius diese drei Gebetsweisen erklärt hat (ES 238 – 260), bringt er die Liste der Mysterien des Lebens Christi mit ihren Bibelzitaten (ES 261ff). Die Bibelzitate in den puncta der Mysterien Christi erlauben nicht nur den direkten Kontakt zwischen Geschöpf und Schöpfer unter Zurücktreten des Exerzitiengebers, sie sollen vielleicht auch einladen, vom diskursiv imaginierenden Beten voranzuschreiten zum Verweilen bei einem Wort der Bibel oder zum Beten mit dem Atem.59 Die Erläuterung der drei Weisen des Betens unmittelbar vor dem Katalog der Mysterien Christi legt nahe, der Übende solle die immer weniger diskursiv werdende Betrachtungsweise auf die Christusmysterien an-

Ludolf, auch außerkanonische Stoffe auf (Beutler: Die Rolle [1990] 44). Mit der späteren Einfügung der Mysterien mit ihren von Ignatius erst ins Spanische zu übertragenden Bibelzitaten ändert sich das. 58 Ignatius von Loyola: ES 252: »De rodillas o asentado […] teniendo los ojos cerrados o hincados en un lugar sin andar con ellos variando.« Dagegen bei der ersten Gebetsweise (ES 239): »[…] asentandose o paseandose«. 59 Jalics: Phase (2002) 65.

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wenden. Die direkten Bibelzitate in den gewöhnlich je drei Punkten erlauben genau das. Ignatius strebt aber darüber hinaus auch durch die Anlage und Organisation der Übungen eine zunehmende Vereinfachung des Betens an. Dafür sorgen ganz wesentlich die Wiederholung und die Wiederholung der Wiederholung, die eine zunehmende Konzentration auf immer weniger Stoff bewirken sollen. Auch diese Wiederholungstechnik ist eine Innovation des Ignatius.60 In der dritten Woche besteht die dritte Übung (ES 62 f) aus der Wiederholung der ersten beiden, wobei aus diesen »die Punkte festzuhalten und bei ihnen zu verweilen ist, bei denen ich größeren Trost oder Misstrost oder größeres geistliches Empfinden gespürt habe61.« Diese erste Wiederholung strebt bereits zur Konzentration auf wenige, alle Seelenkräfte erfassende Punkte. Die vierte Übung als Wiederholung der Wiederholung (ES 64) soll diese Konzentration auf das Wesentliche noch zuspitzen:62 »Ich sagte, sie soll zusammenfassen, weil der Verstand ohne abzuschweifen zielstrebig die Erinnerung an die betrachteten Dinge durchlaufen soll.«63 Die fünfte und letzte Übung eines Tages, die applicatio sensuum, wurde und wird von den Auslegern verschieden gedeutet. Die einen, darunter das offizielle Direktorium von 159964 verstehen darunter eine leichte Abschlussübung zum Ausruhen, die Anwendung der imaginativen Sinne, also ein Verweilen bei vorgestellter Schau, vorgestelltem Gehör, vorgestelltem Geruch, Geschmack und

60 Pires: A funżo (1981) 34 f.: »O elemento totalmente novo nestas semanas seguintes, portanto, ¦ o da aplicażo dos sentidos, uma orażo de simplicidade, que presupþe os exerc†cios anteriores e est‚ colocada no fim do progresso ascencional dos mesmos. Mas temos tamb¦m outros elementos novos: tomar um mist¦rio pela segunda vez ou fazer de novo a repetiżo.« 61 Ignatius von Loyola: ES 62: »Notando y haciendo pausa en los punctos que he sentido mayor consolaciûn o desolaciûn o mayor sentimiento spiritual.« 62 Nach Kawanaka: Comunicaciûn (2005) 186 – 188, stellt die erste Wiederholung eine subjektive Selektion des biblischen Betrachtungsstoffs dar, während die Wiederholung der Wiederholung nicht mehr so sehr beim Stoff sondern bei der damit gemachten Erfahrung verweilt. Melloni: Mistagog†a (2001) 174, unterstreicht, dass diese Technik der Wiederholungen zur Herausdestillation des Essentiellen keinen Anhalt in den Vorlagen hat, sondern eine neue Tendenz zur Vereinfachung und zum Schweigen einführe. 63 Ignatius von Loyola: ES 64: »Dixe resumiendo, porque el entendimiento sin divagar discurra assiduamente por la reminiscencia de las cosas contempladas.« ES 118 – 120: Auch in der zweiten Woche bestehen die dritte und vierte Übung in der Repetition und Repetition der Repetition. 64 Kawanaka: Comunicaciûn (2005) 193. Directorium (1599), 20,1: »Exercitium quintum, quod est applicatio sensuum, est facile valde«; 20,3: »Meditatio est magis intellectualis […] et omnino est altior. […] At vero applicatio non discurrit, sed tantum inhaeret illis sensibilibus.« Sudbrack: Die Anwendung der Sinne (1990) 98, kommentiert dazu: »bis zur Karikatur verharmlost«.

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Tasten.65 Die von Origenes und Bonaventura herkommende Tradition der geistlichen Sinne wurde jedoch in der Neuzeit durch Mar¦chal und Karl Rahner wieder im mystischen Sinne verstanden. Ignatius kennt natürlich die imaginativen geistlichen Sinne66, scheint aber mit »dem Geschmack der unendlichen Süßigkeit und Süße der Gottheit« (ES 12467) über das bloß Sinnenhafte hinauszustreben und dazu anzuleiten, hinter den vorgestellten geschichtlichen Begebnissen der Mysterien Christi Gott selbst anzuschauen.68 Jedenfalls ist nach Karl Rahner Gegenstand der geistlichen Sinne im mystischen Verstande bei Origenes Gott selbst nebst dem Worte Gottes.69

Die Mystik der Geistlichen Übungen Zielen die Geistlichen Übungen des Ignatius eher auf eine Entscheidung und Wahl, wie eine »aszetisch« genannte Auslegungsströmung verficht, und sprechen sie deshalb zwar ausdrücklich von vida purgativa und vida illuminativa (Es 10), niemals aber von vida unitiva? Oder zielen sie mit ihrer ganzen Tendenz zum sich stets vereinfachenden Gebet trotz der Nichterwähnung der vida unitiva dennoch auf mystische Kontemplation oder, wie P. Baltasar Ýlvarez sagen würde, das Gebet der Ruhe? Das vertrat in der Auslegungsgeschichte eine stets existierende mystische Strömung.70 Unter den jüngsten Gesamtauslegungen versuchen Melloni und Kawanaka den Gegensatz als nicht ganz angemessen zu überwinden. Melloni betont, dass Mystik zur Vereinung von Gegensätzen neigt und die ignatianischen Übungen sowohl anabatisch die drei Aufstiegswege zu Gott (einschließlich vita – nicht via – unitiva) als auch katabatisch Erkennen und Verwirklichen des Willens Gottes wie im Himmel so auf Erden in der Wahl anzielen.71 Diese Sicht scheint mir richtig und dem Text der Übungen am ehesten gerecht 65 Kawanaka: Comunicaciûn (2005) 193 – 204; Lefrank: Umwandlung (2009) 363 – 371; Baier : Meditation (2009) 96. 66 Ignatius von Loyola: »ver las personas con la vista imaginativa« (ES 122); »o†r con el o†do lo que hablan« (ES 123). Vgl. Melloni: Mistagog†a (2001) 84. 67 »La infinita suavidad y dulzura de la divinidad.« 68 Thomas von Aquin behandelt in S. th. I q78 a4 die sensus interiores. Er zitiert Augustinus, welcher »tria ponit genera visionum: corporalem quae fit per sensum, spiritualem quae fit per imaginationem vel phantasiam; et intellectualem quae fit per intellectum«. Dabei nennt er die »vis imaginativa« die »media inter sensum et intellectum«. 69 Rahner : Origenes (1975) 127. 70 Melloni: Mistagog†a (2001) 24; Kawanaka: Comunicaciûn (2005) 142 – 150, nennt die beiden Tendenzen »eleccionistas« und »unionistas«. Dabei gehören die bei weitem meisten und auch gewichtigsten Interpreten zu den »eleccionistas«: Nadal, H. U. v. Balthasar, H. und K. Rahner, Fessard, Lefrank (a. a. O., 143). 71 Melloni: Mistagog†a (2001) 25 und 29; Kawanaka: Comunicaciûn (2005) 15 3.

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zu werden. Die Exerzitien des Ignatius sind zunächst ein Übungsbuch für Anfänger, die ihr Leben ordnen wollen72 und dazu geübt werden, den göttlichen Willen herauszufinden, um eine Lebenswahl oder andere Entscheidung zu treffen. Die Übungen wollen dem Anfänger einen spirituellen Weg eröffnen. Sie haben sicher nicht das Ziel, innerhalb von vier Wochen einen solchen Anfänger über die via purgativa und illuminativa auf die via unitiva zu führen. Daher hat die Interpretation des Direktoriums von 1599, das die vierte Woche der Einübung der vida unitiva zuweist73, im Text zunächst keinen Anhalt. So sehr aber das Übungsbüchlein des Ignatius explizit nur von vida purgativa und illuminativa redet (ES 10) und dazu den Anfänger auf dem spirituellen Weg in den meditaciones und contemplaciones der ersten und zweiten Woche initiieren will, von einer vida unitiva aber explizit nicht spricht, ist es doch richtig, dass die Exerzitien eine unio anstreben. Diese ist aber zunächst eine tätige unio mit dem Willen Gottes im Mitvollzug des Gehorsams Christi durch die Wahl nach der zweiten Woche. Die vida unitiva, von der Ignatius nicht redet, die aber mit der traditionellen Rede von purgativa und illuminativa selbstverständlich mit aufgerufen wird, liegt im Sinne des Exerzitienbüchleins zuerst in der tätigen Nachfolge Christi. Insofern zielen die Exerzitien auf eine der Welt zugewandte Mystik der gehorsamen Tat.74 Das ist die sogenannte aszetische Interpretation der Exerzitien als Übung zur Wahl, zum tätigen Gehorsam wie im Himmel so auf Erden, als katabatische Mystik. Diese christusgleich absteigende Vereinigung mit dem Willen Gottes kommt vom Text als Wort Gottes, als offenbartem Willen Gottes nie los. Das stets einfacher werdende und doch immer an das Bibelwort zurückgebundene Gebet, das Ignatius lehrt, will zu einer mystischen Gottunmittelbarkeit führen, die doch nie zu den Verirrungen der Alumbrados (oder wie Luther sagen würde: der Schwärmer) führen kann. Die Bindung an den Willen Gottes und die Bindung an das biblische Wort Gottes und die sichtbare Kirche, »la vera sposa de Christo nuestro SeÇor que es la nuestra sancta madre Iglesia hier‚rchica« (ES 353), gehören für eine derart inkarnatorische Mystik untrennbar zusammen: Wer wirklich mit Gott in Berührung kommt (und nicht nur mit seinen eigenen Ideen), der wird notwendig mit dem inkarnierten Christus und seiner Braut, der Kirche, eins in einer vita unitiva des Wollens und Han72 Melloni: Mistagog†a (2001) 108: »Parece que se ofrecen para un estadio m‚s bien inicial de la vida espiritual […] Sin embargo, el camino inici‚tico de los Ejercicios va m‚s all‚ de los meros comienzos de la vida espiritual.« 73 Directorium 36,1: »[…] quarta Hebdomada videtur respondere viae unitivae!« Zu dieser Deutung neigte schon Nadal (vgl. Kawanaka: Comunicaciûn [2005] 127). 74 Baier : Meditation (2009) 83 – 96; Melloni: Mistagog†a (2001) 231: »la elecciûn como umbral de la vida unitiva«. Ders.: Mistagog†a 108: »Despu¦s del acto de elecciûn se iniciar‚ la vida unitiva, sobre la que ya hemos dicho que Ignacio guardû un respetuoso silencio.« Vgl. Nicolas: Powers of Imagining (1986) 58; Lefrank: Umwandlung (2009) 366 und 369; Beutler : Die Rolle (1990) 49.

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delns. Denn in dieser Mystik geht die eigene Subjektivität auf in einer göttlichen Objektivität, die sich vom sichtbaren Christus und der sichtbaren Kirche nicht trennen könnte. Dazu dienen auch die Regeln zum Fühlen mit der Kirche (ES 352 – 370), die im Büchlein des Ignatius das letzte Wort haben. Diese Bindung an die äußere sichtbare Kirche (und ihren Bibeltext) ist der von Ignatius gewollten Gottunmittelbarkeit (ES 15) nicht aufgesetzt, sondern liegt in der Logik der unio cum incarnato.75 So sehr aber die Vereinigung, die die Exerzitien des Ignatius bewirken wollen, zunächst eine in die Welt hinein tätige unio mit dem Willen Gottes ist, ist doch auch die vida unitiva als Gebetsstufe in den Exerzitien als Möglichkeit, ja als nahegelegte Möglichkeit angelegt.76 Das zeigt sich etwa im Ziel der direkten Kommunikation mit dem Schöpfer (ES 15), in den drei Gebetsweisen, die über das diskursive Betrachten hinausführen, und dann systematisch auch in den konzentrierenden Wiederholungen, in der Anweisung zum Verweilen und Verkosten, das zum Gebet der Ruhe und des Schweigens tendiert und wohl auch der applicatio sensuum.77 Paradoxerweise scheint Ignatius mit den direkten Bibelzitaten in seinen puncta dieses kontemplative Gebet der Ruhe befördern zu wollen. Ein Mehr an Bibelwort bei gleichzeitigem Weniger an Stoff und Text fördert zugleich die Vereinfachung mit Tendenz zum Schweigen und die Gottunmittelbarkeit im Hören, mit anderen Worten die kontemplative Dimension. Dabei haben die vier Wochen der geistlichen Übungen noch nicht das Ziel, zu dieser Gebetsweise hinzuführen, vielmehr wollen sie den Anfänger auf einen Weg bringen. Aber dieser Weg kann auf jeden Fall, ja er wird sogar wahrscheinlich zur Gebetsweise des P. Baltasar Ýlvarez führen. Denn dieser liegt – und damit komme ich an den Anfang zurück – ganz zweifellos auf der Linie der Übungen als Gebetsschule. Das hat letzten Endes zehn Jahre nach Baltasar Ýlvarez’ Tod auch die römische Ordensleitung so gesehen. Die Entscheidungen des Generals Mercurian aus den 1570er Jahren wurden von seinem unmittelbaren Nachfolger, dem Italiener Claudio Aquaviva (1581 – 1615) noch einmal überprüft und faktisch zurückgenommen. In einem Schreiben an die Patres und die Fratres der Gesellschaft Jesu

75 Vgl. Kunz: Bewegt (1990) 92 f. 76 Zur Dienstmystik des Ignatius im Allgemeinen: Wulf: Dialektik von Mystik und Dienst (1990). Zum Schluss schreibt Wulf, a. a. O., 73: »Gegen Ende seiner Dreifaltigkeitsvisionen hören auf einmal die Tröstungen auf, die Ignatius darin bestärkt hatten, Gottes Zustimmung zu seiner Entscheidung hinsichtlich einer strengen Armutsregelung für den Orden gefunden zu haben. Er weiß im Augenblick nicht, wie er das deuten soll, stimmt aber schließlich, als die Tröstungen weiter ausbleiben, in der Tiefe seines Herzens auch dem Schweigen Gottes zu. Das ist die letzte Vollendung seines Einsseins mit dem Willen Gottes, wie immer er sich zeigt.« 77 Baier : Meditation (2009) 94 – 96.

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über das Gebet der Jesuiten von 159078 geht Aquaviva im einzelnen die gut zehn Jahre zuvor gegen Baltasar Alvarez vorgebrachten Argumente durch und relativiert sie. Auf den gegen Baltasar Ýlvarez vorgebrachten Einwand, das spirituelle Leben des Jesuiten ziele nicht auf Ruhe und sei überhaupt nicht selbstzwecklich, sondern diene dem Apostolat, schreibt Aquaviva, das Gebet habe in der Gesellschaft Jesu zunächst sehr wohl einen Selbstzweck, näherhin das eigene Heil und die eigene Vervollkommnung eines jeden, sodann aber auch den Zweck der Rettung und Vervollkommnung des Nächsten. Dabei ruhe aber das letztere apostolische Ziel auf dem ersteren als seinem Fundamente auf.79 Aquaviva erinnert zunächst daran, dass Ignatius »den Professen und formierten Koadjutoren keine Regel vorgeschrieben haben wollte [für die Gebetsdauer], da es als selbstverständlich genommen wird, dass sie bereits zu geistlichen Männern geworden und so auf dem Weg Christi, unseres Herrn, fortgeschritten sind, dass sie ihn laufen können80.« Es ist daher jedem überlassen, wieviel Zeit zum Gebet er braucht.81 »Was aber die Weise und den Gegenstand [des Betens] angeht« verfügt Aquaviva: »Diejenigen, die sich schon länger in jenen frommen Bemühungen geübt und durch lange Praxis Leichtigkeit im Gebet erlangt haben, denen scheint weder ein bestimmter Gegenstand noch eine besondere Weise vorgeschrieben werden zu müssen. Denn der Geist des Herrn, der bei losgelassenen Zügeln über unzählige Wege dahinzueilen pflegt, um Seelen zu erleuchten und ganz eng an sich zu binden, soll nicht durch vorgemerkte Ziele als wie mit Zügeln eingeschränkt werden.«82 Aquaviva weiß dabei sehr wohl – und hier nimmt er wieder Vorwürfe gegen Ýlvarez auf – dass bei dieser Art des Meditierens manchmal gewisse Übel entstehen können wie Selbstüberhebung, Ungehorsam und all das, was man auch zu allen Zeiten bei »Gurus« beobachten kann83. Aquaviva verfügt daher, dass solche

78 Glotin: Actividad (1985) 168; Almiñana: Problema (1970) 228. Der Brief findet sich – noch mit dem irrigen Datum 1599 – in: Epistolae Praepositorum Generalium, tom. I, Roeselare 21909, 248 – 270. 79 Epistolae 248. 80 Epistolae 249: »[…] professis et formatis coadiutoribus, de quibus tamquam certum ducitur quod in viros spirituales evaserint, et qui sic in via Christi Domini nostri profecerint, ut per eam currere possint, nullam regulam praescribendam iudicavit.« 81 Epistolae 250. 82 Epistolae 250 f.: »Quod si vel modus attendatur vel materia: qui se iam saepius piis illis commentationibus exercuerunt, longoque usu facilitatem in orando sunt assecuti, illis nec certum argumentum nec ratio singularis videtur esse praescribenda. Spiritus enim Domini, qui laxissimis habenis ferri solet, per innumerabiles animorum illustrandorum et sibi artissime deviciendorum vias, quasi freno, sic finibus denotatis non est coercendus.« 83 Epistolae 251 f.

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Leute »von ihrer eitlen und falschen Kontemplation abzubringen« wären.84 Er fährt dann jedoch fort: »Aber deswegen muss man nicht der Wahrheit widerstreiten oder der sehr gut bezeugten Erfahrung der heiligen Väter widersprechen und die Kontemplation in Verachtung halten oder die unseren davon zurückhalten, da es nach Urteil und Meinung der meisten Väter klar und erwiesen ist, dass die wahre und vollkommene Kontemplation mächtiger und wirksamer als jede beliebige andere Methode frommer Meditation die hochfahrenden Gemüter der Menschen bricht und zerschlägt, die Bequemen zur Besorgung der Anweisungen der Oberen heftiger antreibt und die Schlaffen zur Sorge für das Heil der Seelen glühender entflammt.«85 Aufgeblasenheit, Eigensinn, pastorale Faulheit – alle Einwände gegen Ýlvarez werden vom Tisch gefegt. Der Beichtvater der Teresa de Jesffls und die Gebetslehre dieser beiden Meister werden damit im Jesuitenorden rehabilitiert. Infolgedessen werden geistliche Lehrer wie die Patres Lallemand SJ (1588 – 1635) und Surin SJ (1600 – 1665) zu spirituellen Autoritäten, die den Gebetsweg des P. Ýlvarez als Konsequenz der ignatianischen Gebetsweise lehren.

Schluss In unseren Tagen lehrt P. Franz Jalics SJ dieses Gebet der Ruhe oder des Schweigens, das er Kontemplatives Gebet nennt.86 Nicht alle Fachleute für ignatianische Spiritualität halten das für einen mit den Exerzitien vereinbaren Weg.87 Ist Jalics zum alumbrado oder Schwärmer geworden? Er schreibt: »Wir Menschen brauchen Mittel, um miteinander in Beziehung zu treten. Will ich mit einem Freund, der sich entfernt von mir aufhält, Kontakt aufnehmen, schreibe ich ihm einen Brief. Wenn er zurückschreibt, sind wir in Briefkontakt. Trifft er jedoch persönlich bei mir ein, höre ich auf, seine Briefe zu lesen. Unsere Briefe haben ihr Ziel erreicht. Wir müssen sie loslassen, sonst stören sie unsere Kommunikation. Statt seine Briefe zu lesen, fange ich an, mit ihm zu reden. Ich habe damit ein anderes Mittel gewählt: das Gespräch. Es verbindet mich stärker mit ihm als die Briefe. Bringt uns das Gespräch immer näher, kann die Zeit kommen, in der auch die Worte zu viel sind. Es bleibt ein Blickkontakt – ebenfalls ein Mittel der Kommunikation; wir schauen uns nur an. Irgendwann wird sogar der Blick zu viel sein. Das stille Beisammensein genügt. Die Herzen 84 85 86 87

Epistolae 252: »[…] ab illa inani et falsa contemplatione segregandi.« Ebd. Jalics: Kontemplative Exerzitien (2005). Vgl. Lefrank: Umwandlung (2009) 369, Anm. 113.

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weiten sich und wir befinden uns noch näher beieinander als in den vorher genannten Mitteln. Das Ziel dieser Mittel ist es, Begegnung zu stiften. Sie haben nur eine vorübergehende Aufgabe. Zuerst sind sie nötig, dann noch hilfreich, später sind sie überflüssig und fangen an zu stören. Am Ende verhindern sie eine tiefere Begegnung.«88 Jalics selbst verweist, wie Baltasar Ýlvarez, auf das Exerzitienbuch mit seiner Aufforderung zum Verweilen und zur Gottunmittelbarkeit (ES 2 und 15), auf die drei Weisen des Betens.89 Zum alumbrado oder Schwärmer würde Jalics nur, wenn er damit den dauerhaften Verzicht auf den Bibeltext und alles äußere Kirchenwesen predigen wollte. Das ist mit den Exerzitien des Ignatius, mit ihrer Bindung an Bibeltext und äußere Kirche, nicht vereinbar. Wenn mit dem »Weglegen der Briefe«, von dem Jalics spricht, eine dauerhaft erreichte Stufe gemeint wäre, die die vorigen Etappen für immer hinter sich lässt, dann wäre nicht nur Ignatius verfehlt, selbst der zur Kontemplation strebende Abt Garc†a de Cisneros wäre missverstanden, der alle Leitersprossen immer wieder neu durchlaufen lässt. Verfehlt wären auch Baltasar Ýlvarez90 und Teresa von Avila91. Teresa betont mehrfach, dass der in höheren Gebetsweisen Geübte stets neu bei der diskursiven Betrachtung der Mysterien der Menschheit Christi anheben müsse, um gefeit zu sein gegen »die Gefahren, die der Dämon bereiten kann«92, insbesondere gegen Illusionen93. Gegen solche Gefahren, denen Alumbrados oder Schwärmer erliegen, aber auch unerleuchtete Jünger des P. Baltasar Ýlvarez, die aufgeblasen und eigensinnig nur noch sich selber suchen, bindet Ignatius 88 89 90 91

Jalics: Der kontemplative Weg (2006) 38. A.a.O., 41 und 65. Vgl. Tarragó: La contemplaciûn (1933) 349. Teresa unterscheidet in ihrer Autobiographie (Libro de la vida) vier Stufen des Betens. Die erste ist die diskursive Betrachtung der Menschheit Christi (Vida 11 – 13); diese vergleicht sie mit dem mühsamen Heraufziehen von Wasser aus dem Brunnen mittels eines Eimers. Die zweite Weise nennt sie oraciûn de quietud und vergleicht dieses nichtdiskursive mentale Beten mit dem mühelosen Ziehen des Wassers vermittels eines Schöpfrades (Vida 14 – 15). Die dritte Stufe nennt sie oraciûn uniûn (17,3), vergleicht sie mit dem Wasserstrom eines Bachs oder Kanals und erklärt sie in Vida 17,3 – 4 als eine Stufe, in der ein Mensch bereits sehr in der Tugend gefestigt ist, nur der Wille in Ruhe verweilt, Gedächtnis und Verstand aber schon wieder frei sind für Aktivitäten und Werke der Liebe, zur contemplatio in actione (Nadal): »Gozando en aquel ocio santo de Maria, en esta oraciûn puede tambi¦n ser Marta« (Vida 16 – 17). Die vierte Stufe nennt sie divina uniûn (Vida 18), vergleicht sie mit dem Regen und beschreibt sie als »suspensiûn de todas las potencias«. 92 Teresa de Jesús: Vida (1986) 12,3: »Este modo de traer a Cristo con nosotros aprovecha en todos estados y es un medio sigur†simo para ir aprovechando en el primero y llegar en breve a el sigundo grado de oraciûn, y para los postreros andar siguros de los peligros que el demonio puede poner.« 93 A.a.O., 12,7: »Torno otra vez a avisar que va mucho en no subir el esp†ritu si el SeÇor no le subiere; […] en especial para mujeres es m‚s malo; que podr‚ el demonio causar alguna ilusiûn.«

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seine Jünger an den Bibeltext und die Autorität der Kirche.94 Teresa de Jesffls betont im selben Sinne die Notwendigkeit eines erfahrenen und gebildeten (»letrado«!) geistlichen Führers.95 Ýlvarez weiß, dass beim geistlichen Segeln der Wind nicht immer weht, sondern auch gerudert werden muss. Ebenso betont die Kirchenlehrerin: »Es gibt keinen so erhabenen Zustand des Gebets, dass es nicht mehr nötig wäre, sehr oft an den Anfang zurückzukehren.«96 Auch Teresa von Avila legt bis zum Schluss die Bibel oder generell zu lesenden Text nicht zur Seite, wenn sie das Gebet der Ruhe pflegt – und zwar aus prinzipiellen Gründen wegen der stets lauernden Illusionsgefahr der Alumbrados oder Schwärmer. Und ganz praktisch meint sie: »Denen, die auf diesem Weg [scil. des Gebets der Ruhe] gehen, hilft ein Buch, um sich schnell zu sammeln«.97

Literatur Abu Zaid, Nasr Hamid: Ein Leben mit dem Islam. Erzählt von Navid Kermani, Freiburg / Basel / Wien 1999. Almiñana, Vicente / Moreno, Antonio: Un problema de oraciûn en la Compadža de Jesffls, in: Manresa 42 (1970) 223 – 242. Arzubialde, Santiago: Ejercicios espirituales de S. Ignacio. Historia y an‚lisis, Bilbao / Santander 1991, 22009. Augustinus: Ep. 71 (CSEL 248 – 255; PL 33, 241 – 243). Ders.: Sermo 232 (PL 38, 1108). Ders.: Ep. 71 (CSEL 248 – 255; PL 33, 241 – 243). Ders.: Sermo 232 (PL 38, 1108). Baier, Karl: Meditation und Moderne, 2 Bde., Würzburg 2009. Beutler, Johannes: Die Rolle der Heiligen Schrift im geistlichen Werden des Ignatius, in: Sievernich, Michael / Switek, Günter (Hg.): Ignatianisch. Eigenart und Methode der Gesellschaft Jesu, Freiburg / Basel / Wien 1990, 42 – 53. Cognet, Louis: La Spiritualit¦ moderne (Histoire de la Spiritualit¦ chr¦tienne, vol. III), Aubier 1966. Compendio breve de ejercicios espirituales (compuesto por un monje de Montserrat entre 1510 – 1555) hg. von Javier Melloni, BAC, Madrid 2006. 94 Ohnehin findet auch die »gegenstandsloseste Meditation« nicht außerhalb eines Glaubensoder Überzeugungsrahmens statt, der bestimmt, wonach gesucht wird. Vgl. Senécal: Gebet (2010) 44: »In Wirklichkeit beweist die Erfahrung, dass keine Technik oder Dynamik der Meditation behaupten kann, im reinen Sein zu existieren, d. h. außerhalb eines Systems bestimmter metaphysischer Koordinaten.« 95 Teresa de Jesús: Vida (1986) 13,19: »Ya dije es menester espiritual maestro; mas si ¦ste no es letrado, gran inconveniente es.« 96 A.a.O., 13,15: »[…] no hay estado de oraciûn tan subido que muchas veces no sea necesario tornar a el principio«. 97 A.a.O., 9,5: »Para las que van por aqu† [scil. a oraciûn de quietud] es bueno un libro para presto recogerse.«

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Dieter Böhler

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Regina Polak

Lebendige Spiritualität durch kontemplative Schriftauslegung? Eine praktisch-theologische Kriteriologie zum Exegese-Modell Ludger Schwienhorst-Schönbergers

I.

Pastoral- und praktisch-theologischer Horizont1

1.

Ekklesiologischer Horizont2

Die Katholische Kirche versteht sich selbst als »das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit«3. Diese Vereinigung mit Gott interpretiere ich in meinem Beitrag als komplexes Beziehungsgeschehen zwischen Gott und den Menschen: Von Gott her gibt es die Einladung und unwiderrufliche Zusage zu einer von seiner Seite her untrennbaren, ungebrochenen Liebes-Beziehung – zu einer »Beziehungs-Einheit«. Dies ist freilich kein sicherer Besitz oder Zustand, sondern ein fragiles und asymmetrisches Beziehungsgeschehen; mehrfach zeugt davon die Bibel. Denn die Menschen können, wie in der Bibel immer wieder bezeugt, diese ihnen zugedachte »Beziehungs-Einheit« mit Gott negieren: indem sie die Beziehung zu Gott nicht wahrnehmen können, nicht wahrnehmen wollen oder sich sogar bewusst und willentlich dagegen entscheiden. Die Vereinigung mit Gott, für die die Kirche einsteht, ist also keinesfalls selbstverständlich gegeben. Aufgrund menschlicher Beziehungslosigkeiten, die es außerwie innerhalb der Kirche gibt, ist die mögliche Beziehungs-Einheit zwischen Gott und Mensch immer auch gebrochen. Zugleich ist die Beziehung zu Gott

1 Praktische Theologie verstehe ich hier als theologische Hermeneutik der Gegenwart, mit Option für die Situation, aus deren Perspektive die Tradition befragt wird; Pastoraltheologie fragt auf dieser Basis nach Sinn, Bedeutung und Handlungsperspektiven für die Kirche in der konkreten Gegenwarts-Situation. In meinem Beitrag konzentriere ich mich auf praktischtheologische Fragen. Der Frage nachzugehen, welche Konsequenzen die Kirche aus den folgenden Überlegungen ziehen kann, wäre ein eigener Beitrag. 2 Ich beschränke mich hier auf eine katholische Ekklesiologie; das Thema hat freilich ökumenische Dimensionen, denn es betrifft alle christlichen Kirchen. 3 Lumen Gentium 1.

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aber fundamental für das Gelingen menschlichen Lebens; ohne sie richtet sich nach biblischem Zeugnis der Mensch selbst zugrunde. Wenn sich die Beziehung mit Gott in einem Fluss kontinuierlicher Begegnungen befindet, zeigt sie sich als lebendige Spiritualität; in der Kirche als lebendige christliche Spiritualität sowohl der einzelnen Gläubigen als auch der ganzen Kirche. Christliche Spiritualität meint dabei zunächst aus theologischer Sicht jene alltäglich gelebte Lebens- und Glaubenspraxis, die sich individuell und in Gemeinschaft, strukturell und institutionell in Liturgie, Diakonie und Martyrium verwirklicht und dabei alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens verwandeln kann. Sie ist von einer lebendigen Beziehung zu Gott gespeist und durchtränkt. Diese lebendige Beziehung wird durch Teilhabe am Geist Gottes ermöglicht und vollzieht sich als gelebte Glaubenspraxis in der Nachfolge Jesu Christi. Die Beziehung mit Gott ist die Quelle der Beziehungen der Menschen untereinander. Sie ermöglicht den Menschen in ihrer Vielfalt miteinander in Frieden und Freiheit, in Liebe und Gerechtigkeit zu leben – innerhalb der Kirche und mit den Menschen außerhalb. Die Einheit der Menschheit ist deshalb unabtrennbare Konsequenz und konstitutiver Ausdruck dieser Vereinigung. Gottes-Beziehung und Menschen-Beziehung sind zu unterscheiden, hängen aber untrennbar zusammen.4 Ist eine der beiden irritiert oder gar gebrochen, ist auch die andere gestört – wobei eine gestörte Gottesbeziehung aus theologischer Sicht die Quelle aller Störungen ist. Anders formuliert: Die Kirche glaubt aufgrund der an sie in der biblischen Offenbarung ergangenen Erinnerungen und Verheißungen (Zuspruch Gottes), dass sie die von Gott zugesagte »Beziehungs-Einheit« der Menschen mit Gott und der Menschen untereinander darstellen (Zeichen) und zu ihr beitragen (Werkzeug) kann – und muss (Anspruch Gottes). Sie glaubt, dass sie durch ihr Sein und Handeln sichtbar machen und mitwirken kann, zu realisieren: Alle Menschen – in all ihrer Vielfalt, mit all ihren Unterschieden und quer durch die Zeiten, synchron und diachron – können mit Gott untrennbar verbunden sein – und deshalb auch miteinander verbunden sein. Sie weiß sich deshalb zu einer entsprechenden Praxis verpflichtet: Menschen dazu zu ermächtigen, diese Beziehungs-Einheit mit Gott und mit den Menschen wahrzunehmen und entsprechend zu leben. Dies kann ihr »in Christus« gelingen: indem die Kirche und ihre Gläubigen in der Nachfolge Jesu Christi leben und handeln. Lebens- und Glaubensformen, in denen sich die Beziehung mit Gott und mit den Menschen konkret realisiert, nenne ich Spiritualität.5 Spiritualität »gibt« es 4 Vgl. 1 Joh 4,20: »Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht.« 5 Dies ist eine theologische Aussage; auf die schwierige Frage, ob und inwiefern sich diese Beziehungs-Einheit in einem explizit geäußerten Bekenntnis zum Ausdruck bringen muss,

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dabei nur im Plural – auch die christliche. Denn vielfältig sind die Formen, in denen sich diese Beziehung ereignen und ausdrücken kann. Die Kirche ist in ihren spirituellen Ausdrucksformen allerdings gebunden: an die Heilige Schrift. Sie kann ihrem Selbstverständnis nur dann gerecht werden, wenn sie durch die Zeiten hindurch und in der konkreten Gegenwart je neu versucht, die biblische Botschaft zu realisieren6 : d. h. sie inmitten der »Zeichen der Zeit« wahrzunehmen und zu verwirklichen. Tragischerweise ist ihr das in Geschichte und Gegenwart nicht immer angemessen gelungen. Die Bibel ist das normative Fundament der Kirche.7 Sie ist der Orientierungsmaßstab dafür, wie sich die Beziehung mit Gott und den Menschen realisieren kann und soll – in aller darin möglichen Vielfalt, die die Heilige Schrift selbst bezeugt. Die Bibel ist daher ebenfalls das Fundament jeder christlichen Spiritualität. Der »Ort«, an dem sich die »Realisation« der Vereinigung mit Gott immer wieder neu ereignet, ist die Pastoral: Jene Situation, jener Raum und jene Zeit, in der die biblische Offenbarung je neu konkret werden kann und soll. Pastoral ist jene je einmalige und einzigartige Verwirklichung der Kirche in der Gegenwart, in der Menschen die Beziehung mit Gott erfahren und aus dieser Erfahrung heraus handeln können. Die Gottes-Erfahrung ist also im Wesen eine Beziehungs-Erfahrung. Alles, was zu einer Beziehung gehört, hat auch in der GottesBeziehung Platz: Begegnung und Kontakt, Nähe und Distanz, Differenz und Konflikt, Freude und Dankbarkeit, Liebe und Leid u. v. m. Die BeziehungsErfahrung mit Gott ist aus einer biblischen Perspektive die zentrale Quelle jeder authentischen Spiritualität. Sie prägt und verändert zwischenmenschliche Beziehungen und damit auch Gesellschaft. Aus christlicher Sicht kann und muss die Beziehungs-Erfahrung ihre konkrete Gestalt in der Begegnung und Auseinandersetzung mit der Bibel als normativer Grundlage entwickeln. Daher ist die Bibel auch der »zentrale Bezugshorizont des pastoralen Handelns«8, sie ist »die wesensnotwendige Mitte der Pastoral«9.

6

7 8 9

kann ich hier nicht eingehen, sie stellt sich aber angesichts des Phänomens atheistischer Spiritualitäten, wie sie die Spiritualitätsforschung bezeugt. Zum Spiritualitätsbegriff vgl. ausführlich VI.2. Vgl. engl. »to realize«: sich vergegenwärtigen, einsehen, erfassen, verstehen, erkennen, begreifen, veräußern, greifbar machen, umsetzen, durchführen, in die Praxis umsetzen usw. Das englische Wort verdeutlicht den inneren Zusammenhang zwischen wahrnehmen, erkennen und handeln. Dieser Zusammenhang ist zentral für eine »spirituelle« Kirche, die aus einer lebendigen Gottesbeziehung heraus handeln möchte. In dieser Aussage ist die Tradition selbstverständlich implizit mit gesagt, da die Bibel im Kontext gemeindlichen und kirchlichen Lebens entstanden ist und ohne ihre ekklesiologische Verortung gar nicht angemessen verstanden werden kann. Fuchs: Die Bibel: Basis der Kirche (2004) 63. A.a.O., 61.

144 2.

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Zeitgenössischer Horizont – eine erste Hinführung

Gegenwärtig ist die katholische Kirche im europäischen Raum mit einer spirituellen Krise und damit verbundenen spirituellen Transformationsprozessen konfrontiert: zum einen mit der Erfahrung der Irritation, des Verlustes und des Bruches der Beziehungs-Einheit vieler Menschen mit Gott; zum anderen mit »spirituellen« Suchbewegungen und Erfahrungen von Menschen, die mit der »transzendenten Sphäre« wieder in Berührung kommen möchten. Diese Erfahrungen können, müssen sich aber nicht (explizit) auf »Gott« beziehen oder religiös gedeutet werden. Diese Krise zeigt sich nicht nur außerhalb der Kirche: Sie betrifft die Kirche zugleich in ihrem Inneren. Sie lässt sich exemplarisch an folgenden Phänomenen festmachen:10 a) Europaweit glaubt eine Mehrheit der Menschen an Gott (vgl. VI.1).11 Dieser »Gott« ist ein polysemer »Bedeutungsträger« für eine letzte Ursache zur Welterklärung (»Etwas Höheres muss es ja geben«), für ein Theorie-Element einer religiösen Weltanschauung, für die (nicht mehr explizit) gestellte Frage nach Grund und Sinn des Lebens, für eine lebendige Beziehung zu Gott.12 So glauben z. B. zwei Drittel der 14 bis 24jährigen jungen Menschen in Österreich an Gott; aber ebenso viele stimmen der Aussage zu, dass man Gott nicht erkennen kann und er im Alltag keine Rolle spielt.13 Der zeitgenössische Gottes-Glaube ist durchzogen von der Ablehnung traditioneller Gottesvorstellungen (z. B. strafender, rächender, eifersüchtiger Gott). Er ist geprägt von Distanz, Skepsis und Zweifel an der Erkennbarkeit Gottes sowie von einem massiven Vertrauensverlust, vor allem in die wirkmächtige Präsenz Gottes im konkreten Leben. Den ambivalenten Gottesglauben junger Menschen in Österreich könnte man so z. B. folgendermaßen umschreiben: »Wenn es einen Gott gibt, dann liebt er alle Menschen. Aber Gott ist im Leben kaum zu erkennen.«14 Individuelle Erfahrungen von Leid und Ungerechtigkeit, das Bewusstsein der Gewalt- und Leidensgeschichte Europas, die Wahrnehmung der globalen Krisenphänomene – von der Armut bis zur Ökologie-Katastrophe, schließlich die Schuldgeschichte der Katholischen Kirche: All dies macht einen ungebrochenen Gottesglauben für viele Menschen heute schwierig.15 Dies gilt gleichfalls für viele Menschen in10 Ausführlich in Kapitel VI. 11 Vgl. dazu Polak / Schachinger: Stabil in Veränderung (2011) 191 – 222: Die Europäische Wertestudie zeigt, dass von 1990 bis 2010 – mit länderspezifisch großen Unterschieden – ca. zwei Drittel der EuropäerInnen an Gott glauben. Österreich gehört zu den Ländern mit überdurchschnittlich hohem Gottesglauben. 12 Empirisch lassen sich die entsprechenden Gruppengrößen nicht feststellen; außerdem ist eine lebendige Gottesbeziehung auch aus theologischen Gründen nicht messbar. 13 Vgl. Polak: Lebenshorizonte (2008) 126 – 213. 14 Ebd. 15 Man muss in diesem Zusammenhang auch die Schwierigkeit insbesondere junger Menschen

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nerhalb der Kirche. Die sogenannte »Gotteskrise« ist deshalb keinesfalls nur das Resultat einer materialistischen, hedonistischen oder gar egoistischen Kultur, sondern hat tiefgreifende Ursachen in der Geschichte und den gegenwärtigen gesellschaftlichen Transformationsprozessen. b) Die traditionellen kirchlichen »Antworten« (Dogmen, Lehre, Moralcodex) – zumindest das, was viele Menschen davon im öffentlichen Raum wahrnehmen – werden als sinnentleert und erfahrungsfern erlebt. Sie helfen den Menschen nicht beim Leben, so die Kritik. Dies gilt vielfach ebenso für die traditionellen religiösen Praxisformen der Kirche, wenngleich diese als kultureller Bestandteil – noch – hohe Wertschätzung erfahren. Kirchliche Rituale und Sakramente zu den Lebenswenden Geburt (Taufe), Hochzeit (Ehe) und Tod (Begräbnis) erfreuen sich relativ stabiler Akzeptanz.16 Aber auch in diesem Bereich klagen viele suchende Menschen über spirituelle Leere. Bei jungen Menschen wiederum lässt sich ein massiver Erosionsprozess gelebter religiöser und spiritueller Alltagspraxis beobachten, sodass sich mitunter die Frage nach spiritueller Erfahrung gar nicht mehr stellt. Die »Gotteskrise« ist allem voran ein Praxiskrise: Was bedeutet der Gottesglaube im konkreten Leben? Wie kann und soll er sich praktisch konkretisieren? Dabei sind die Erwartungen an die Kirche ziemlich hoch: Ihr wird in Familienfragen, in moralischen, sozialen und spirituellen Belangen auch von SkeptikerInnen und Distanzierten Kompetenz zugesprochen.17 c) Innerkirchlich wird seit längerem ebenfalls ein massiver Mangel an Spiritualität beklagt und eine »spirituelle Erneuerung« der Kirche verlangt. Karl Rahner hat die spirituelle Schwäche der Kirche bereits 1972 diagnostiziert und gefordert: »[…] dass die Kirche eine ›spirituelle‹ Kirche sein muss, wenn sie ihrem eigenen Wesen treu bleiben soll. Das bedeutet […] vor allem zunächst einmal, dass die Kirche heute ihre eigenen spirituellen Kräfte neu entdecken und aktualisieren muss. Wir sind doch, wenn wir ehrlich sind, in einem schrecklichen Maße eine spirituell unlebendige Kirche. Die lebendige Spiritualität, die es natürlich auch heute noch gibt, hat sich doch in einer seltsamen Weise aus der Öffentlichkeit der Kirche in (soziologisch gesehen) kleine Konventikel der ›noch Frommen‹ zurückgezogen und versteckt. In der Öffentlichkeit der Kirche herrschen in einem erschreckenden Maße auch heute noch (bei allem guten erwähnen, eine religiöse Wirklichkeitswahrnehmung mit einer naturwissenschaftlich dominierten Wirklichkeitswahrnehmung zu vereinbaren und intellektuell redlich zusammenzudenken; schließlich ist auch die Frage zu stellen, wo und wie der »religiöse Wahrnehmungs-Sinn« gelernt und geübt werden kann. 16 Vgl. dazu die Daten der Europäischen Wertestudie 2008 – 2010: (nicht publiziert); ebenso Polak: Lebenshorizonte (2011) 126 – 213; für Österreich: Zulehner: Verbuntung (2011) 42 ff. 17 Vgl. dazu die Daten der Europäischen Wertestudie 2008 – 2010 (nicht publiziert).

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Willen, der nicht bestritten werden soll) Ritualismus, Legalismus, Administration und ein sich allmählich selbst langweilig werdendes und resignierendes Weiterfahren auf den üblichen Geleisen einer spirituellen Mittelmäßigkeit.«18 Für die spirituelle Großwetterlage der Kirche scheint diese Diagnose nach wie vor zutreffend zu sein. Empirische Studien lassen jedenfalls noch keinen umfassenden spirituellen Erneuerungsprozess der Kirche erkennen. d) Zeitgleich lassen sich innerhalb und außerhalb der Kirche seit mindestens zwei Jahrzehnten Such-, Experimentier- und Wanderbewegungen von Menschen wahrnehmen, die nach einer authentischen, erfahrungsgesättigten und lebensnahen »Spiritualität« fragen. Dies kann die Suche nach einer persönlichen Gotteserfahrung meinen, indem alte christliche oder kirchliche Traditionen wiederbelebt werden (wie z. B. die lectio divina19). Dies kann das Experimentieren mit spirituellen Praxisformen unterschiedlichster religiöser Herkunft inner- und außerhalb der Kirche meinen; insbesondere fernöstliche Praxisformen aus dem Buddhismus oder Hinduismus stoßen dabei auf großes Interesse. In Pastoral- und Bildungsprogrammen, bei Ordensreformen und als »Angebot« von Gemeinden und geistlichen Bewegungen sowie im Religionsunterricht trifft man zwischenzeitlich ebenso vermehrt auf das Wort »Spiritualität«. Dahinter verbergen sich verschiedenste Praxisformen, die aber empirisch kaum erforscht sind. Die Suche nach »Spiritualität« kann aber auch – ganz und gar nicht-religiös gedeutet – die Suche nach geistigem Sinn (z. B. »Ökospiritualität«20) oder das Experimentieren mit esoterischen Traditionen aller Art beschreiben. Im Zentrum dieser heterogenen spirituellen Transformationsprozesse steht die Suche nach Praxisformen, in denen sich »Gott« oder »Sinn« erfahren lässt, sowie die Frage nach alternativen Lebensstilen inmitten von Gesellschaften, die sich in allen Lebensbereichen rasant verändern. Diese exemplarischen Phänomene kann man als Zeichen dafür interpretieren, dass die Gottes-Beziehung in Europa zur Disposition steht: Sie wird offenkundig als irritiert, gestört, verloren wenn nicht als gebrochen erlebt. Zugleich wird auf neue Weise versucht, mit der »transzendenten Sphäre« in Kontakt zu treten. Diese Sphäre kann, muss aber nicht »Gott« genannt werden. Menschen 18 Rahner : Strukturwandel (1972) 100 – 101; Auslassungen RP. Unter »Spiritualität« versteht Rahner die Erfahrung des Gottesmysteriums (»Mystik«), zu der die »selbstlose Liebe zum Nächsten und Fernsten« gehört, die auch »als wirklicher Kampf um mehr Gerechtigkeit und mehr Freiheit in der Gesellschaft geübt werden muss«, ebd. »Mystische« Erfahrung meint bei ihm »eine Glaubenserfahrung« haben. 19 Vgl. dazu die Recherchen von Karl Baier zu zeitgenössischen »Reload«-Versuchen der lectio divina, »damit die Bibel wieder einfährt«: Baier: Lesen als spirituelle Praxis in der Gegenwartskultur (2011) 246 – 254. 20 Vgl. zum Beispiel die unzähligen Öko-Communities, bei denen man vielfach auf ein spirituelles Selbstverständnis stößt, das mit Religion oder gar Kirche gar nichts zu tun hat: Projekt Eurotopia, Stand 04. 08. 2011, URL: http://www.eurotopia.de/.

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suchen nach einer lebendigen »Spiritualität«, nach geistigem Sinn, der religiös interpretiert werden kann, aber nicht muss. Freilich hat der Begriff »Spiritualität« schillernde, heterogene und diffuse Bedeutungen, die mitunter frei von jeglichem christlichem und religiösem Bezug sind. Inner- wie außerhalb der Kirche bezieht sich die spirituelle Suche jedenfalls nur selten direkt und explizit auf die Bibel. Sie spielt eine untergeordnete Rolle.

3.

Pastoral- und praktisch-theologische Fragen

In diesem ekklesiologischen und zeitgenössischen Horizont ist die Frage nach der Bibelhermeneutik eine eminent wichtige pastoral- und praktisch-theologische Frage. Denn die Kirche ist immer wieder mit der Frage konfrontiert, wie sie die Beziehung mit Gott und sodann mit Menschen in der je spezifischen geschichtlichen Situation realisieren kann – in ihrem Inneren und in ihrem Außen. Nach innen ist sie gegenwärtig zu spiritueller Vertiefung und Erneuerung, zu Verwandlung und Entwicklung herausgefordert: Es gilt, im Dialog mit den gesellschaftlichen Entwicklungen die eigenen spirituellen Traditionen wieder zu entdecken und zu beleben; bibelfundierte, lebendige christliche Spiritualitäten zu fördern, die zugleich zeitgenössisch anschlussfähig und zeit-gerecht sind. Nach außen steht sie vor der Frage, was und wie sie sich in die spirituellen Transformationsprozesse der Gegenwart einbringen kann. Weil das Innen und das Außen21 untrennbar aufeinander verwiesen sind, steht sie zudem vor der Aufgabe, von den spirituellen Aufbrüchen außerhalb der Kirche zu lernen. Denn die Kirche kann in ihrem Inneren nicht realisieren, was sie im Außen nicht verwirklicht – und umgekehrt. So steht die Pastoral gegenwärtig vor vielen brennenden Fragen: Wie kann die Kirche heute ihrem Selbstverständnis gerecht werden? Wie können die biblischen Texte und deren Erfahrungen, Erinnerungen und Verheißungen, Zuspruch und Anspruch in dieser konkreten Gegenwarts-Situation lebendig werden – für Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche? Wie können diese Texte so vergegenwärtigt werden, dass Menschen heute die »Beziehungs-Einheit« mit Gott und mit den Menschen realisieren können? Wie können die Erfahrungen dieser Texte zu Glaubenserfahrungen werden, die die individuellen und gesellschaftlichen Lebenszusammenhänge heute erschließen, vertiefen, durchformen und verändern – innerhalb der Kirche, aber auch außerhalb? Wie können die Gläubigen heute ihren traditionellen Glauben spirituell vertiefen 21 Vgl. Die Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, in der das Außen und das Innen der Kirche theologisch aufeinander bezogen werden, dazu Sander : Theologischer Kommentar zu Gaudium et Spes (2005) 581 – 886.

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und lebendige Spiritualitäten auf biblischer Grundlage entwickeln? Wie sieht eine lebendige christliche Spiritualität heute überhaupt aus? Wie kann man Menschen außerhalb der Kirche in ihrem spirituellen Wachstum begleiten – und welche Rolle kann die Bibel dabei spielen? Welchen Sinn und welche Bedeutung haben die spirituellen Erfahrungen von Menschen inner- und außerhalb der Kirche für die Hermeneutik der biblischen Texte und für die Kirche? Pastoral- und praktisch-theologische Fragestellungen wie diese stehen im Hintergrund meines Interesses an der kontemplativen Schriftauslegung, wie sie Ludger Schwienhorst-Schönberger in die exegetische Diskussion einbringt. Denn diese Art der Bibelexegese zeigt zahlreiche Anknüpfungspunkte an die gegenwärtige »spirituelle Situation« und ist zugleich der kirchlichen Tradition verpflichtet. Wenn sich Praktische Theologie in diesen Diskurs »einmischt«, dann reflektiert sie bibelhermeneutische Konzepte aus der Perspektive der theologisch reflektierten Gegenwart und fragt aus dieser Sicht nach Sinn und Bedeutung der biblischen Tradition. Praktische Theologie befragt also das Modell kontemplativer Schriftauslegung aus der Perspektive einer theologischen Hermeneutik der Gegenwart und mit einer Option für die Menschen heute: Die Lebenserfahrungen von ZeitgenossInnen in einer sich verändernden Welt, deren Glaubens- und Unglaubenserfahrungen, deren spirituelle Erfahrungen und Fragen nach Sinn und Bedeutung des Lebens sind wichtige Kriterien für eine zeit-gerechte Bibelhermeneutik. Pastoraltheologie fragt sodann nach Sinn und Bedeutung dieser Erkenntnisse für die gegenwärtige Kirche und ihre Pastoral.

II.

Fragestellung und Aufbau

Aus der Fülle möglicher Forschungsfragen, die sich in dem eben beschriebenen Horizont ergeben, konzentriere ich mich auf die folgenden: (1) Welche Kriterien kann die Praktische Theologie in die Debatte um die kontemplative Schriftauslegung im Kontext der spirituellen Transformationsprozesse der Gegenwart einbringen? (2) Welche Stärken und welche Schwächen hat das Modell der kontemplativen Schriftauslegung angesichts dieser Kriterien? Die grundlegenden Kriterien und Fragen entwickle ich dabei in der Auseinandersetzung mit der praktisch-theologischen Bibelhermeneutik (»Begegnungs-Hermeneutik«) von Ottmar Fuchs22, die ich für meine Fragestellungen reformuliere. Kriteriologische Rückfragen, die sich angesichts der »spirituellen Gegenwartssituation« stellen, ergeben sich aus einer theologischen Perspektive auf Ergebnisse der empirischen Spiritualitätsforschung. Die Forschungsfragen 22 Fuchs: Praktische Hermeneutik der Heiligen Schrift (2004).

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können angesichts des gegenwärtigen Forschungsstandes in mehreren Teilen beantwortet werden. (1) Die Kriterien der praktisch-theologischen Bibelhermeneutik nach Ottmar Fuchs bilden ein erstes Teilergebnis. (2) Die kriteriologischen Rückfragen angesichts der spirituellen Gegenwartssituation bilden ein zweites Teilergebnis. (3) Eine erste Analyse von Stärken und Schwächen anhand ausgewählter Kriterien sind das dritte Teilergebnis. Von daher ergibt sich der folgende weitere Aufbau meines Beitrages: Kapitel III: Zunächst wird das Modell der kontemplativen Schriftauslegung bei Ludger Schwienhorst-Schönberger dargestellt. Ich beziehe mich dabei auf ausgewählte Theorie-Beiträge. Kapitel IV: Sodann lege ich meinen persönlichen Zugang – wissenschaftliches Interesse und persönliche Erfahrung – zu diesem Modell dar, da dieser die Rezeption und Kritik dieses Modells maßgeblich prägt. Kapitel V: Danach entwickle ich praktisch-theologische Kriterien aus bibeltheologischer Perspektive: ich stelle mein Verständnis einer praktisch-theologischen Bibelhermeneutik als »Beziehungshermeneutik« dar und entwickle im Anschluss an Ottmar Fuchs erste grundlegende Kriterien zur Würdigung des exegetischen Modells. Kapitel VI: Eine sozialwissenschaftliche Darstellung der zeitgenössischen spirituellen Transformationsprozesse in Kirche und Gesellschaft ermöglicht die Formulierung praktisch-theologischer Kriterien aus religionssoziologischer Perspektive. Kapitel VII: Im Horizont ausgewählter Kriterien befrage ich abschließend das Modell der kontemplativen Schriftauslegung auf seine Stärken und Schwächen. Die hier vorgelegten Überlegungen sind ein erster Versuch und Anfang, den mittlerweile zweijährigen Diskussionsprozess mit Ludger SchwienhorstSchönberger und Karl Baier im fakultären Forschungsschwerpunkt »Text und Mystik« der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien23 systematisch darzustellen. Sie spiegeln meine Lernprozesse und Erfahrungen im fächerübergreifenden Dialog wider und bedürfen noch vertiefender Auseinandersetzung und vor allem empirischer Grundlagenforschung dieses neuen Exegese-Modells.24

23 Vgl. Stand 04. 08. 2011, URL: http://ktf.univie.ac.at/content/site/portal/forschung/schwer punkte/article/3775.html. 24 Ein solches Projekt wird derzeit entwickelt: Personen, die langjährige Erfahrungen mit kontemplativer Schriftauslegung haben, werden im Rahmen von qualitativen Interviews auf ihre Erfahrungen bzw. ihre theoretische Expertise hin befragt.

150

III.

Regina Polak

Kontemplative Schriftauslegung bei Ludger Schwienhorst-Schönberger

Im Folgenden stelle ich in aller gebotenen Kürze anhand ausgewählter TheorieBeiträge die kontemplative Schriftauslegung von Ludger SchwienhorstSchönberger aus einer praktisch-theologischen Perspektive dar.25

1.

Zeit-Diagnose

Ludger Schwienhorst-Schönberger teilt mit vielen Fachvertretern aus der Bibelwissenschaft folgenden zeitdiagnostischen Befund: Die Ergebnisse exegetischer Forschungen sind für das Leben der Gläubigen von nur geringer Bedeutung. Demgegenüber ist das neu erwachte Interesse an Spiritualität weitgehend frei von biblischen Impulsen. Spezifisch östliche Formen der Spiritualität stoßen auf weitaus größeres Interesse, auch in christlichen Kreisen.26 Als Ursache ortet Schwienhorst-Schönberger die vorherrschenden Formen der »Vermittlung« der Heiligen Schrift. Die Reduktion auf die Erklärung biblischer Texte ausschließlich durch die historisch-kritische Exegese entspreche nicht deren spezifischer Eigenart, dem Anliegen und Ziel der Bibel: der Ermöglichung einer Gottesbegegnung, sogar einer »Gottes-Schau«. Die Entfremdung der wissenschaftlichen Schriftauslegung sowohl von einer spirituellen Praxis, in die die Auslegung der Schrift in der christlichen Tradition immer eingebettet war, als auch von der spirituellen Erfahrung, aus der heraus die Schrift entstanden ist, seien zentrale Gründe für die Irrelevanz der biblischen Schriften für viele Gläubige. Schwienhorst-Schönberger diagnostiziert demnach eine zerbrochene Einheit von Exegese und Spiritualität, von Theologie und Mystik.27 Zeitgleich nimmt er bei vielen ZeitgenossInnen sowohl Glaubenskrisen und Glaubensverlust als auch einen spirituellen Hunger, eine Sehnsucht nach »mehr«, einen Wunsch nach authentischer Gotteserfahrung wahr. Viele Menschen suchen »in und außerhalb der Bibel nicht nur Informationen, nicht nur 25 Dabei beziehe ich mich auf folgende Beiträge: Schwienhorst-Schönberger : Biblische Spiritualität (2011); Der offenkundige und der verborgene Sinn (2010); Die Einheit der Schrift ist ihr geistiger Sinn (2008); Erleuchtungserfahrung und Schriftverständnis (2005); Kontemplatives Schriftverständnis (2007); Theologie und Mystik (2001); Vom Glauben zum Schauen (2008); Was heißt heute, die Bibel sei inspiriertes Wort Gottes? (2007); ferner die exegetische Studie zum Buch Ijob: Schwienhorst-Schönberger : Ein Weg durch das Leid: Das Buch Ijob (2007). Ich verweise zudem auf seinen Beitrag in diesem Band: Kontemplation und Schriftauslegung. 26 Schwienhorst-Schönberger : Kontemplatives Schriftverständnis (2007) 115. 27 Vgl. z. B. Schwienhorst-Schönberger : Theologie und Mystik (2001).

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Wissen über Sachverhalte der Vergangenheit, sondern einen Weg, der in die Wahrheit führt, der in jene Wirklichkeit hineinführt, aus der die Heilige Schrift stammt, auf die das Wort ›Gott‹ verweist und die dem Leben Sinn verleiht«28. In Theologie und Kirche sowie in traditioneller Seelsorge würden diese Entwicklungen weitgehend übersehen bzw. Glaubenskrisen und Glaubensverlusterfahrungen in erster Linie als Problem wahrgenommen. Ziel der Pastoral sei eine möglichst rasche Überwindung der Krise und Rückführung zum Glauben durch verschiedenste Formen, den Glauben zu erklären – »mal etwas moderner, mal etwas konservativer, mal etwas freundlicher, mal etwas strenger«29. Demgegenüber stellt Schwienhorst-Schönberger fest: »Es gibt auch einen Verlust des Glaubens, der zu Gott führt. Ja, man müsste wohl noch einen Schritt weiter gehen und sagen: Um zu Gott zu finden, muss man alles lassen – auch den Glauben.«30 Eine der Ursachen für die beobachtbaren Glaubenskrisen macht SchwienhorstSchönberger in einem Mangel an spiritueller Erfahrung fest. Unter spiritueller Erfahrung versteht er Gottes- und Erleuchtungserfahrungen, wie sie die Tradition christlicher Mystik beschreibt. Der spirituelle Mangel hängt seiner Ansicht nach ebenso mit erstarrten religiösen Sozialisationsformen zusammen: In unserer Kultur werden Menschen primär dadurch religiös – zu einem Christen, Juden oder Muslim –, dass sie religiöse Handlungen, Texte und Symbole kennenlernen, in sie eingeführt und so mit ihnen vertraut werden. »Ein Christ besucht den Gottesdienst, betet und versucht in seinem Leben jene Gebote zu erfüllen, die den Kern der sittlichen Botschaft der Heiligen Schrift ausmachen.«31 Auch wenn die von einer Religion angebotenen Riten und Traditionen »kondensierte, verdichtete Formen religiöser Ursprungserfahrung«32 sind: Der traditionelle Sozialisationsweg gewährleiste in der Regel keine spirituelle Erfahrung mehr. Wenn es nicht mehr gelingt, »den ursprünglichen Erfahrungsgehalt dieser Traditionen zu verflüssigen, wird eine Religion auf Dauer vertrocknen

28 Schwienhorst-Schönberger : Was heißt heute, die Bibel sei inspiriertes Wort Gottes? (2007) 40. 29 Schwienhorst-Schönberger : Kontemplatives Schriftverständnis (2007) 124. 30 Schwienhorst-Schönberger : Vom Glauben zum Schauen (2008) 150. Wie ein solcher Weg vom Glaubensverlust zur Gottesschau aussehen kann, stellt er in seiner Ijob-Exgese dar : Schwienhorst-Schönberger : Ein Weg durch das Leid: Das Buch Ijob (2007). Diese provokativ zugespitzte Formulierung bezieht sich vor allem auf den Verlust erstarrten Glaubens, Schwienhorst-Schönberger negiert keinesfalls den Glauben als solchen. Zu seiner Begrifflichkeit vgl. seinen Beitrag im vorliegenden Band: Kontemplation und Schriftauslegung. 31 Schwienhorst-Schönberger : Theologie und Mystik (2001) 22. 32 A.a.O., 23.

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und aussterben«33. In einer solchen Situation finden sich heute die Kirche und die Pastoral, so die Diagnose Schwienhorst-Schönbergers.

2.

Kritik an wissenschaftlicher Exegese

Ludger Schwienhorst-Schönberger gehört zu jenen Bibelwissenschaftlern, die eine Vor- bzw. Alleinherrschaft einer ausschließlich historisch-kritischen Auslegung kritisieren. Er beruft sich in seiner Kritik auf drei wesentliche Einsichten in der jüngeren exegetischen Diskussion:34 a) Literarische – und daher auch biblische – Texte sind sinnoffen und mehrdeutig. Sie haben nicht die eine, in sich abgeschlossene Bedeutung, sondern weisen ein nach vorn hin offenes Bedeutungspotential auf, das sich im Rahmen kontextuellen Lesens in verschiedener und vielfältiger Weise erschließen kann. Daher besitzen biblische Texte eine unerschöpfliche Tiefe. Vielfalt und Tiefe wiederum entspringen der von Gott selbst geschenkten Sinnfülle seines Wortes. b) Man kann bei der Interpretation biblischer Texte zwischen der Intention des Autors und der Bedeutung des Textes unterscheiden. Normativ sind in der christlichen Tradition jedoch die Texte und nicht eine isoliert betrachtete Autorenintention. Die Bedeutung der Texte wiederum erschließt sich im Kontext der gesamten Heiligen Schrift. Von daher kann die Bedeutung eines Textes über die Intention historischer Autoren hinausgehen. Letztlich entscheidend ist nicht die Intention des Verfassers eines Textes, sondern die des Urhebers – also die Intention Gottes. Diese kann sich durch intertextuelle Interpretation erschließen. c) Normativ ist der jeweilige Endtext im Rahmen des Kanons, man spricht von kanonischer Schriftauslegung. Diese interpretiert im Unterschied zur historisch-kritischen Exegese den Text nicht nur diachron, sondern auch synchron und verortet die Schriftauslegung ekklesiologisch. Ludger Schwienhorst-Schönberger bettet angesichts dieser Erkenntnisse das Anliegen der historisch-kritischen Exegese in einen größeren theologischen und spirituellen Horizont ein. Er verbindet Theologie und Mystik und relativiert die historischen Zugänge in Bezug darauf. Die Bibel wird von ihm in erster Linie als Zeugnis der Offenbarung Gottes verstanden: Sie bezeugt und expliziert die Vielfalt, in der Menschen die Transzendenz Gottes erfahren haben. Diese Erfahrungen können und sollen via Exegese rekonstruiert und so erschlossen 33 Ebd. 34 Zum Folgenden Schwienhorst-Schönberger : Was heißt heute, die Bibel sei inspiriertes Wort Gottes? (2007) 37 – 39.

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werden, dass sie wieder-holbar und gegenwartsrelevant werden. Aufgabe und Ziel der exegetischen Wissenschaft ist dabei unabdingbar die sachliche Information, die kritische Aufarbeitung historischer Sachverhalte und die Erforschung der Entstehungsgeschichte biblischer Texte. Doch erschöpft sich Exegese nicht darin. Den Glauben zu erklären ist nicht das letzte Ziel.35 Ihre Aufgabe besteht wesentlich darin, den Zugang zu jenen Erfahrungsräumen zu suchen und zu eröffnen, aus denen heraus die biblischen Texte entstanden sind. So soll die Wahrnehmung der LeserInnen für jene Realität sensibilisiert werden, in der die Wirklichkeit auf das Göttliche hin transparent wird. Klassische wissenschaftliche Exegese allein kann das nicht leisten, so die Kritik SchwienhorstSchönbergers.

3.

Anliegen und Ziel

Das Modell kontemplativer Schriftauslegung versteht sich als eine theoretische und praktische »Antwort« auf die eben beschriebene Situation in Pastoral und Exegese. Menschen, die auf spiritueller Suche sind, sollen durch diese Art der Schriftauslegung einen Weg zu authentischer Gotteserfahrung finden und anspruchsvolle »Kost« erhalten. Zugleich möchte Schwienhorst-Schönberger mit diesem Modell einen Beitrag dazu leisten, die Einheit von Theologie und Mystik wiederherzustellen und einen »neuen«, vertieften exegetischen Zugang zu Sinn und Relevanz biblischer Texte ermöglichen. Dazu bezieht er sich – immer auf der Basis historisch-kritischer Exegese – zum einen auf (die auch persönlichen) Erfahrungen mit kontemplativer Praxis, zum anderen greift er auf die geistliche Schriftauslegung der Kirchenväter sowie auf klassische Texte christlicher Mystik zurück. Diese dienen ihm zur Interpretation der in der Kontemplation gewonnen Erfahrungen und zur Exegese. »Neu« an diesem Modell ist die Kombination traditioneller Praxisformen, alter theologischer Traditionen und zeitgenössischer Hermeneutiken. Getragen ist dieses Modell von einem pastoralen, in gewisser Weise auch von einem katechetischen Impetus.36 Mithilfe der kontemplativen Schriftauslegung sollen Menschen von heute Gott schauen lernen. Dazu kommt das Anliegen, die theologisch-spirituelle Dimension der wissenschaftlichen Bibel-Exegese zu beleben durch die spannungsgeladene Integration von Theologie und Mystik. Ausgangspunkt ist die These, dass man die Bibel nur dann angemessen verstehen kann, wenn man sie in und aus dem Geist heraus wahrnimmt, in dem sie 35 Schwienhorst-Schönberger : Kontemplatives Schriftverständnis (2007) 115. 36 Vgl. dazu Schwienhorst-Schönberger : Biblische Spiritualität – ihre Bedeutung für den Religionsunterricht (2011).

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auch entstanden ist: d. h. aus der Erfahrung einer Gottesbegegnung und Gottesbeziehung heraus. Die entscheidende Frage ist daher, wie man in den Raum dieser Erfahrung eintauchen kann, d. h. wie man jenen spirituellen Weg gehen kann, der einem den Zugang zum »verborgenen«37, geistigen Sinn- und Bedeutungsgehalt der Schrift erschließt. Anders formuliert: Wie kann man das Bewusstsein so weiten, dass sich einem diese Dimension der Wirklichkeit erschließt? Schwienhorst-Schönberger geht davon aus, dass das Bewusstsein vieler Menschen heute auf die gegenständliche Alltagswelt fixiert und daher blind ist für diesen »verborgenen« Sinn und die ihn fundierende transzendente Dimension. Deshalb sollen die biblischen Texte »verflüssigt« werden – hin zu einer Wiedergewinnung einer spirituellen Erfahrung. Sie sollen »relativiert« werden, d. h. die »relatio«, die Beziehung zu dem soll wiedergewonnen werden, dessen Offenbarungszeugnis die Heilige Schrift ist.38 Deshalb sind Informationen über historische und entstehungsgeschichtliche Sachverhalte zunächst unabdingbar für ein textangemessenes Verständnis. Um aber »in die Texte hineinzugelangen«, »bedarf es einer Sinneröffnung, die der Mensch selbst nicht mehr in der Hand hat«39. Biblische Texte wollen nicht nur »über religiöse Erfahrungen der Vergangenheit berichten, sondern auch einen Weg weisen, der in solche Erfahrungen hineinführt. Sie wollen eine Lebenspraxis erschließen, in der die in der Schrift bezeugte Wahrheit zur immer sprudelnden Quelle des Lebens wird.«40 Die Fähigkeit, empfänglich zu werden für die Wahrnehmung Gottes, dieser auch in jeder Gegenwart sprudelnden Quelle, ist jedem Menschen kraft Geistbegabung gegeben. Sie ermöglicht es, sich dem geistigen Sinn der Schrift zu öffnen. Die Tradition nennt dies die Inspiration des Lesers, der Leserin.41 Wer sich in diesem Sinn der Bibelauslegung widmet, tritt in einen Wachstums- und Reifungsprozess ein. Ziel der Exegese ist es, einen solchen Prozess zu eröffnen. Schwienhorst-Schönberger beschreibt ihn als Weg »vom Glauben zum Schauen«42. Dieses »Gott schauen« vollzieht sich im Sinne einer »ungegenständlichen Wahrnehmung« und führt zu einer Bewusstseinsveränderung: Das Bewusstsein lernt sich zu öffnen für die »verborgene Gegenwart Gottes«. Der Ausdruck »Gott schauen« bezeichnet keinen äußeren Vorgang, sondern eine innere Erfahrung: die in der Mystik beschriebene Form einer »bildlosen« Gottesschau.43 Diese beschreibt Schwienhorst-Schönberger als eine »Erleuch37 Schwienhorst-Schönberger : Der offenkundige und der verborgene Sinn (2010). 38 Schwienhorst-Schönberger : Theologie und Mystik (2001) 24. 39 Schwienhorst-Schönberger : Was heißt heute, die Bibel sei inspiriertes Wort Gottes? (2007) 40. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Schwienhorst-Schönberger: Vom Glauben zum Schauen (2008) 157. 43 Schwienhorst-Schönberger : Kontemplatives Schriftverständnis (2007) 156.

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tungserfahrung«, als eine »außergewöhnliche Erfahrung«, die die »gegenständlich orientierte Alltagserfahrung überschreitet bzw. durchbricht«44. Zu diesem Weg zur Gottes-Schau gehören auch Leid, Schmerz und Zweifel sowie Verlust und Zerbrechen alter Gottesbilder : Dass der von SchwienhorstSchönberger in der Sprache der Mystik beschriebene spirituelle Prozess keinesfalls nur harmonisch ist, lässt sich insbesondere an seiner Darstellung eines solchen Weges in seiner Exegese des Buches Ijob erkennen.45 Die mystische Erfahrung der Gottesschau wird von SchwienhorstSchönberger zugleich kritisch relativiert. Sie ist zunächst als solche »transverbal«46, sie entzieht sich der Sprache. Als mitgeteilte Erfahrung ist sie dann immer schon interpretierte Erfahrung. Sie steht daher per se in der Spannung von »sprechen müssen und nicht sprechen können bzw. nicht sprechen dürfen.«47 Daher kann und darf ihre jeweilige Ausdrucksform als solche nicht absolut gesetzt werden. Sie versteht sich als »wahre und authentische Stimme in einem offenen Kommunikationssystem.«48 Mystische Erfahrung zeigt sich daher plural. Die mystische Erfahrung darf auch nicht überbewertet werden: z. B. im Vergleich zu vorgegebenen religiösen Formen. Eine Erfahrung, die sich der Formgebung verweigert, versandet.49 Das gilt ebenso für die mystische Erfahrung.

4.

Methode

Wie soll diese Erfahrung nun ermöglicht werden? Die kontemplative Schriftauslegung beginnt nicht mit der Auslegung, sondern mit einer spirituellen Übung: der Kontemplation. Sie ist konstitutiver Bestandteil dieser Art von Exegese. Kontemplation wird dabei verstanden als »eine Übung, bei der sich der Blick nach innen richtet. Dabei geht es um eine Offenheit gegenüber Erfahrungsdimensionen, die das gegenständlich orientierte Alltagsbewusstsein überschreiten. Es geht um eine Form »ungegenständlicher Wahrnehmung.«50 Im Unterschied zu jenen meditativen Formen, die sich an Bildern, Begebenheiten, Personen der Geschichte oder Werken der Natur orientieren, werden die Bilder dabei gänzlich losgelassen. Orientierung bietet einzig die Wahrnehmung und Erfahrung des Atmens. Dies soll einen Zugang zum kontemplativen Gebet er44 45 46 47 48 49 50

Schwienhorst-Schönberger : Erleuchtungserfahrung und Schriftverständnis (2005) 260. Schwienhorst-Schönberger : Ein Weg durch das Leid: Das Buch Ijob (2007). Schwienhorst-Schönberger : Theologie und Mystik (2001) 22. A.a.O., 21. A.a.O., 24. Ebd. Schwienhorst-Schönberger : Kontemplatives Schriftverständnis (2007) 117.

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öffnen und kann im Weiteren zu einem Prozess innerer Wandlung führen. Durch behutsames und liebevolles Üben soll nach und nach das Bewusstsein geöffnet werden für die verborgene Gegenwart Gottes.51 Schwienhorst-Schönberger bezieht sich dabei auf das christliche Kontemplationsverständnis, das freilich seinerseits plural ist. Seine Hauptreferenten sind Bonaventura und Hugo von St. Viktor. Bonaventura versteht in seiner Trias »meditatio – oratio – contemplatio« in »De Triplici Via« die Kontemplation als Praxis, die sich auf das innere Selbst fokussiert und so das Alltagsbewusstsein, die gegenständliche Alltagserfahrung transzendiert. Hugo von St. Viktor wiederum spricht von fünf Stufen, »durch die das Leben der Gerechten zur Ausübung gelangt«: (1) das Studium oder die Belehrung (lectio sive doctrina), die für die Anfänger dient und Erkenntnis (intelligentia) verleiht; (2) die Meditation (meditatio), die Rat (consilium) gewährt; (3) das Gebet (oratio), das erbittet; (4) das Handeln (operatio), das sucht; und (5) die Kontemplation (contemplatio), für die Vollkommenen, die »findet«.52 Dieser Weg wird als Aufstieg verstanden, wobei es freilich kein dauerhaftes Verweilen auf dem Gipfel gibt, und man im irdischen Dasein immer wieder auf die erste Stufe zurückkehren muss. Die Kontemplation ermöglicht nunmehr, in Beziehung zu treten zu der Quelle, aus der die biblischen Zeugnisse stammen. Dabei stellt sich das Schriftverständnis gewissermaßen »von selbst« ein. Streng genommen werden dabei also keine Inhalte vermittelt, sondern Formen einer spirituellen Praxis. Die Abfolge der kontemplativen Schriftauslegung besteht daher (1) im Praktizieren der Übung – (2) in der Erfahrung – und sodann (3) im Verstehen. Erfahren werden kann dabei die »Gottes-Schau« – aber keinesfalls automatisch oder unentwegt. Sehr oft besteht die Erfahrung schlicht darin, dass »nichts« – keine Erleuchtung, keine Vision, keine Fülle – erfahren wird. Um die Qualität der Gottes-Schau angemessen zu verstehen, ist es laut SchwienhorstSchönberger zudem wichtig, zwischen dem Ich und dem Selbst zu unterscheiden: dem empirischen Ich und dem transzendenten Ich, dem äußeren und dem wirklichen Selbst. In der Kontemplation ist es das Selbst, das Gott »erfährt«. Dazu gehört, dass das Ich nichts will, nichts weiß und nichts tut – damit Gott, der eigentlich Handelnde in diesem Prozess, wirken und das Ich des Menschen überformen kann (vgl. Gal 2,20).53 Das Selbst ist es, das mit Gott in Beziehung steht. Genau genommen »macht« der Übende also keine spirituellen oder Gotteserfahrungen, sondern wird von Gott verwandelt. Kontemplation ermög51 Vgl. ebd. 52 Hugo von Sankt Viktor: Didascalion. Studienbuch (Übers. und eingeleitet Thilo Offergeld), Freiburg im Breisgau 1997 (Fontes Christiani 27), V 9, 350 f.; zitiert nach Schwienhorst-Schönberger: Kontemplatives Schriftverständnis (2007) 117. 53 Vgl. Schwienhorst-Schönberger : Biblische Spiritualität – ihre Bedeutung für den Religionsunterricht (2011) 9. These.

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licht einen Wandlungsprozess. Was im Rahmen dieser Übung passiert, ist nur indirekt – über die Folgen (die Früchte, vgl. Mt 7,16) – wahrnehmbar. Die Schriftauslegung richtet sich sodann auf der Basis dieser Übung und ihrer Erfahrung auf den geistigen Sinn der biblischen Texte, auf deren »Innenseite«. Unterstützend dabei sind die Schriftauslegungen der Kirchenväter und der christlichen Tradition der Mystik. Die spirituellen Erfahrungen der kontemplativen Übung werden mithilfe mystischer Traditionen im Christentum interpretiert. ReferenzautorInnen sind dabei u. a. Augustinus, Origines, Gregor von Nyssa, Gregor der Große, Meister Eckhart, Johannes Tauler, Johannes vom Kreuz, Teresa von Avila, aber auch Zeitgenossen wie Thomas Merton oder Thomas Keating. Sie unterstützen dann auch bei der inhaltlichen Exegese.54 Kontemplative Schriftauslegung hat damit keinen primär informativen, sondern transformativen Charakter. Sie zielt auf Wandlung der und durch die Gottesbeziehung. Im Prozess der kontemplativen Schriftauslegung kann sich dabei die »Vielstimmigkeit der Schrift und zugleich die den scheinbaren Widersprüchen zugrundliegende Einheit«55 zeigen, die in der Wirklichkeit liegt, die die Texte bezeugen. Die Widersprüche wollen den Leser, die Leserin zum Nachdenken anregen. Sie ermöglichen die Suche nach jener Wahrheit, auf deren Ebene die Widersprüche aufgehoben sind und die mittels dieser Methode erfahren werden kann.

5.

Und die historisch-kritische Exegese?

Eine der kritischen Rückfragen von Seiten exegetischer FachkollegInnen an die kontemplative Schriftauslegung bezieht sich auf Stellenwert und Rolle der historisch-kritischen Exegese in diesem Modell. Aus praktisch-theologischer Perspektive ist diese Frage insofern bedeutsam, als das Verhältnis zu geschichtlichen Ereignissen und der Umgang mit Geschichte immer auch Auswirkungen auf das Verhältnis zur Gegenwart hat: Wer geschichtliche Ereignisse zugunsten »allgemeiner« oder »eigentlicher« Wahrheiten vernachlässigt, tut dies tendenziell auch mit Ereignissen der Gegenwart. Entscheidend ist also die Frage, wie das Verhältnis zwischen dem Allgemeinen und dem Konkreten jeweils gedacht und gelebt wird. Ohne Suche nach zeitübergreifender Wahrheit verzettelt und verliert man sich im Detail. Aber wenn die Suche nach der universalgültigen Wahrheit nicht zugleich dazu dient, dem Konkreten besser gerecht zu werden, 54 Hier stellen sich schwierige hermeneutische Fragen, insbesondere wenn zur Exegese alttestamentlicher Texte primär christlich-mystische Traditionen herangezogen werden, viele mit neuplatonischer Dominanz. Müsste man hier nicht pluraler vorgehen und auch jüdische mystische Traditionen aufgreifen? 55 Schwienhorst-Schönberger : Die Einheit der Schrift ist ihr geistiger Sinn (2008) 179.

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besteht das Risiko, das Konkrete auf einen Fall des Allgemeinen zu reduzieren und in seinem Wert gering zu schätzen.56 Eine solche Denkweise hatte und hat in der Regel immer auch Auswirkungen auf den Umgang mit Menschen, deren Würde und Wert als »Einzelne« mit ihrer je eigenen Geschichte dann zugunsten »höherer Wahrheiten« geopfert wurden und werden. Schwienhorst-Schönberger spricht in diesem Zusammenhang von einer »Integration« dieser Methode »in das durch eine reflektierte Wiederaneignung der Tradition christlicher Schriftauslegung erweiterte Modell der Bibelhermeneutik«57. Die Methode der historisch-kritischen Exegese ist für jede Bibelhermeneutik unverzichtbar. Sie sorgt dafür, dass Auslegungen nicht willkürlichbeliebig werden – z. B. durch Allegorisierungen. Fundierte Sachkenntnis zieht willkürlicher Interpretation Grenzen. Aber die historische Erklärung ist nicht das letzte Ziel der Exegese. Denn die historisch-kritische Exegese richtet ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die »Außenseite« der Texte. Die biblischen Texte jedoch fragen nicht nur nach dem, was in unserem modernen Sinn historisch geschehen ist, sondern sie fragen danach, was sich in dem zeigt, was passiert ist. Die Heilige Schrift bringt die innere, die verborgene Wahrheit der Geschichte zur Sprache – aber nicht im Sinne einer Deutung im Nachhinein, sondern als Erzählung, Beschreibung und Erfahrung jener Wirklichkeit, die der Geschichte als deren innerer Sinn inhärent ist.58 Die Kritik richtet sich gegen ein positivistisches und an ein konstruktivistisches Geschichtsverständnis.

IV.

Persönlicher Zugang

Für meine Auseinandersetzung mit der kontemplativen Schriftauslegung spielen persönliche Interessen und Erfahrungen eine maßgebliche Rolle. Sie prägen die Wahrnehmung des Modells ebenso wie die Kriteriologie. Daher stelle ich im nächsten Schritt meinen persönlichen Zugang dar.

1.

Wissenschaftliche Interessen

Ich halte das Modell der kontemplativen Schriftauslegung für einen wichtigen und zukunftsweisenden – wenngleich nicht den einzigen – Beitrag zu jener Frage, die mich in meiner pastoraltheologischen Forschung schon länger be56 Zu dieser Diskussion vgl. Fuchs: Alle Zugänge sind erlaubt (2011) 64 – 67. 57 Schwienhorst-Schönberger : Biblische Spiritualität – ihre Bedeutung für den Religionsunterricht (2011) 15. These. 58 Vgl. Schwienhorst-Schönberger : Der offenkundige und der verborgene Sinn (2010) 89.

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gleitet: Wie kann die Kirche im Kontext der spirituellen Transformationsprozesse der Gegenwart und mit Blick auf ihre spirituelle Schwäche wieder eine lebendige christliche Spiritualität entwickeln – der eigenen biblischen Tradition ebenso gerecht werdend wie der zeitgenössischen Situation? Im Ansatz Ludger Schwienhorst-Schönbergers entdecke ich ein Modell, das zum einen Anknüpfungspunkte an die gegenwärtige spirituelle Großwetterlage in Kirche und Gesellschaft ermöglicht. Es kann für spirituell suchende Menschen einen Zugang zur Bibel, zu spiritueller Erfahrung und – vielleicht – zur Kirche eröffnen. Zum anderen bezieht sich dieses Modell auf innerste und älteste Erfahrungsschätze der christlichen Tradition. Es lässt sich am Schnittpunkt von Situation und Tradition verorten. Freilich bedarf es dazu einer praktisch-theologischen Kritik, um dieses Modell im Horizont einer theologisch gedeuteten Gegenwart weiterzuentwickeln.

2.

Persönliche Erfahrung

Das kontemplative Sitzen in Stille und mit ungegenständlicher Meditation hat mir einen vertieften Zugang zum Glauben eröffnet. Diese Praxis methodisch mit Bibelexegese zu verbinden, ist für mich noch relatives »Neuland«. Die spirituellen Erfahrungen, die sich mir dabei erschlossen haben, beschreibe ich in einer anderen Sprache als ich ihr bei Schwienhorst-Schönberger begegne.59 Diese ist weniger von traditioneller christlicher Mystik geprägt als von der philosophischen Phänomenologie, der Dialogphilosophie und den Theologien Karl Rahners und Dorothee Sölles. Wesentlicher Unterschied dieser beiden Ausdrucksformen scheint mir dabei die Bedeutung von »Welt« zu sein. Das bildlose Meditieren und Sitzen in Stille hat mich Gott nicht »schauen« lassen als Wirklichkeit »hinter den Dingen«. Vielmehr sensibilisiert mich diese Erfahrung für mein leibhaftiges Dasein inmitten der konkreten Wirklichkeit. Sie öffnet mich dafür, das Wort Gottes inmitten dieser Gegenwart zu »hören« und seine Wirklichkeit zu »sehen«. Inmitten der Stille kann sich immer wieder ein Raum eröffnen, in dem Gott durch die Wirklichkeit gleichsam »spricht«, wahrgenommen und verstanden werden will. Diese Erfahrung ereignet sich weniger im Inneren oder im Bewusstsein, sondern als leiblich-seelisch-geistige Erfahrung. Sie ruft eher in die Weite der Welt als in das Innere, eher mitten in die Welt hinein als über die Welt hinaus. Sie ermöglicht eine neue, andere Wahrnehmung 59 Dies ist ein Indikator für die Vielfalt kontemplativ gewonnener Erfahrung. Allerdings tauchen auch Fragen auf: Ob und wie nämlich die Art einer spirituellen Erfahrung und ihr sprachlicher Ausdruck einander bedingen? Wie plural der sprachliche Ausdruck einer spirituellen Erfahrung sein kann, dass er sich noch biblisch begründet nennen darf ? usw.

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dessen, was sich – sodann vor allem im Alltag – zeigt und enthüllt: dass und wie alles Geschöpfliche untereinander und mit Gott in Verbindung steht; in einer Beziehung, die sich ständig bewegt und verändert, die manchmal schwierig ist und irritiert, manchmal kaum wahrnehmbar und sogar völlig verloren scheint, aber auf gewisse Weise untrennbar ist. Die Schöpfung (wozu ich auch die Geschichte zähle) wird in ihrer ganzen Pluralität als alles Leben ausdifferenzierender Prozess wahrnehmbar. Mitte und Einheit dieses Beziehungsprozesses ist jene namenlose und unfassbare Wirklichkeit, die ich Gott zu nennen gelernt habe. Lese ich aus dieser Erfahrung heraus die Bibel, höre ich darin wie einen basso continuo die Botschaft von Liebe und Gerechtigkeit. Die Interpretationsarbeit, diese Erfahrung unter Zuhilfenahme der mir bekannten Hermeneutiken und Deutungsmodelle zu versprachlichen, ist dann kein rein intellektueller Vorgang mehr, sondern nimmt an diesen Erfahrungen Maß. Die Stärke dieser Art von Kontemplation besteht darin, sich immer wieder von eigenen Gedanken, Vorstellungen, Bildern und insbesondere vom eigenen Willen distanzieren und befreien zu können bzw. von ihnen befreit zu werden. Dabei zerbrechen Bilder und Vorstellungen – mit all den damit verbundenen Folgen für die Gottes- und Menschenbeziehung. Aber die Kunst des Wahrnehmens wird Schritt für Schritt eingeübt und verfeinert. So hat mich diese Erfahrung auch nicht aus oder über die konkrete Gegenwart und Geschichte hinausgeführt, sondern mitten in sie hinein. In den konkreten Ereignissen zeigt und verbirgt, enthüllt und verhüllt sich Gott – keinesfalls immer zu verstehen, sondern vielmehr neue Fragen aufwerfend. In der Verantwortung für die und Mitgestaltung der konkreten Gegenwart kann und muss sich die spirituelle Erfahrung bewähren. Von daher ist mir die historisch-kritische Exegese unverzichtbar, da sich durch sie überhaupt erst der sog. »geistige Sinn« erschließen kann: als Wort Gottes in einer einzigartigen, einmaligen und konkreten Situation, die ich nicht als Hülle oder Außenseite, sondern als inkarniertes Gotteswort wahrnehme. Dieses zu entschlüsseln ist freilich mitunter eine unlösbare Aufgabe. Die Verbindung der kontemplativen Übung mit der Bibel ermöglicht mir das Eintauchen in einen anderen geschichtlichen Raum. Dazu gehören die Brüche und Unzugänglichkeiten aufgrund des garstigen historischen Grabens. Aber gerade diese Distanz-Erfahrung eröffnet ein verändertes Verhältnis zu den Ereignissen der Gegenwart: Auch sie werden in ihrem Geheimnischarakter wahrnehmbar und lassen sich nicht immer sofort oder gar nicht erkennen. Ein unmittelbares Übertragen historischer Situationen auf die Gegenwart ist nicht möglich. Die Arbeit der Interpretation – die auch ein Vergnügen ist – ist unabdingbar. Aber das In-Beziehung-Treten zu Gott mithilfe der kontemplativen Schriftauslegung ermöglicht den Eintritt in jenen Raum, in dem auch die Beziehung zur Gegenwart und ihren Menschen eingeübt und verändert werden

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kann. Dieser Beziehungs-Prozess, der sich an den biblischen Texten »abarbeitet«, kann zudem für die konkrete Gegenwarts-Situation Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsperspektiven eröffnen.

V.

Praktisch-Theologische Kriterien aus bibeltheologischer Perspektive

Praktische Theologie gewinnt ihre Kriterien aus zwei Quellen: (1) aus theologischen Quellen, die sie aus der Perspektive der Gegenwart reflektiert; (2) aus sozialwissenschaftlichen Quellen, die sie aus einer theologischen Perspektive rezipiert. Im Folgenden entwickle ich eine bibeltheologisch begründete praktisch-theologische Kriteriologie der Bibelhermeneutik und formuliere erste kriteriologische Rückfragen an die kontemplative Schriftauslegung.

1.

Wissenschaftlicher Kontext

In der universitären Praxis der Theologie des deutschsprachigen Raumes findet sich üblicherweise folgende Arbeitsteilung: Die ExegetInnen beschäftigen sich multiperspektivisch und multimethodisch mit einer immer detaillierteren Auslegung der Texte – und überlassen die »Umsetzung« und »Anwendung« ihrer Erkenntnisse den praktisch-theologischen Disziplinen. Umgekehrt delegieren diese nur allzu bereitwillig die Fragen und die Arbeit der Auslegung an die BibelExpertInnen und übernehmen deren Erkenntnisse dann als Kriteriologie für die eigenen Arbeiten. Dazwischen tut sich ein mehr oder weniger größerer Graben auf, in dem sich nicht nur methodologische, sondern auch theologische Fragen stellen: Wie können ExegetInnen theologisch die Schrift auslegen, wenn sie nicht über ein ebenso theologisch gewonnenes Verständnis der jeweiligen Gegenwart verfügen? Immerhin bildet die Gegenwart ein konstitutives Element der Interpretation. Wie können sich Praktische TheologInnen umgekehrt in ihren Gegenwartsanalysen auf die Bibel beziehen, wenn sie keine reflektierte praktisch-theologische Bibelhermeneutik im Hintergrund haben, mittels derer sie Bibel und Gegenwart zu verbinden suchen? Resultat dieser Arbeitsteilung sind dann mitunter praktisch-theologische Texte, die die Bibel als Steinbruch gebrauchen – oder exegetische Texte, in denen einem die Gegenwart im unreflektierten Vor-Urteil des Exegeten entgegentritt. Auf der Strecke bleibt dabei vielfach eine aus verschiedenen theologischen Perspektiven reflektierte Bibelpastoral. Wissenschaftler, die über die Fächergrenzen hinweg forschen und lehren,

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sind eher die Ausnahme als die Regel. Hier ist auf praktisch-theologischer Seite Ottmar Fuchs zu erwähnen, der eine eigenständige praktisch-theologische Bibelhermeneutik entwickelt hat, auf die ich hier Bezug nehme. Fuchs hat den praktisch-theologischen Zugang zur Bibel und die damit verbundenen hermeneutischen Fragen grundlegend reflektiert.

2.

Der klassische praktisch-theologische Zugang zur Bibel: Vom Text zum Handeln

Heiligen Texten wird von ihren Trägergemeinschaften – zumindest theoretisch – Handlungsrelevanz zugewiesen. Denn diese Texte dienen der beständig aufgegebenen Identitätsvergewisserung und sollen zugleich auch normative Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster eröffnen.60 So schreiben auch die christlichen Kirchen und Bewegungen den biblischen Texten eine hohe Handlungsrelevanz zu. »Die Frage ist freilich, wie diese Relevanzzuweisung praktisch umgesetzt wird, wie man also jeweils vom Text zum Handeln kommt.«61 Dies ist in der Regel die klassische praktisch-theologische Fragestellung. Praktische Theologie wird dabei als Handlungswissenschaft verstanden. Joachim Kügler beschreibt in diesem Zusammenhang verschiedene traditionelle Lösungsmodelle:62 (1) Das wörtliche Lesen: Dabei wird die Bibel als »Handbuch des Lebens« verstanden. Den Lesenden wird ein direkter Weg vom Text in ihre aktuelle Lebensrealität eröffnet. Soziokulturelle Entstehungsbedingungen biblischer Texte werden dabei freilich vernachlässigt, die innere Pluralität der Bibel ignoriert, die Textrezeption erfolgt höchst selektiv, da nur »geeignete«, leichter verständliche Stellen in den Blick genommen werden. Die irritierende Fremdheit der Texte wird dabei ausgeblendet. (2) Das literarische Lesen nimmt den literarischen Charakter der Schrift ernst. Allerdings wird die Bibel so zu einem fiktionalen Text und die Frage nach der Handlungsrelevanz tritt in den Hintergrund. In einem christlich-kirchlichen Kontext muss das jedoch fragwürdig erscheinen. (3) Die historisch-kritische Exegese, die durch die Bibelwissenschaften eingebracht wird, löst die Probleme der wörtlichen Lesart, nimmt den literarischen Charakter der Texte ernst, ist aber ebenfalls mit der Frage nach der Handlungsrelevanz konfrontiert: Denn zunächst einmal distanziert die historische

60 Kügler : Bibel und Praxis (2011) 10. 61 Ebd. 62 A.a.O., 10 f.

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Perspektive vom Text und eine Übertragung vom Ursprungsort in die zeitgenössischen Kontexte ist nicht ohne weiteres möglich. Alle drei Zugänge lösen also die Frage nicht zufriedenstellend, wie man vom Lesen zum Handeln kommt. Das mag auch daran liegen, dass in allen drei Zugängen die Texte primär als Texte der Vergangenheit rezipiert werden, durch die Gott in der Vergangenheit zu den Menschen gesprochen hat – und die man jetzt eigenständig »aktualisieren« muss. Vernachlässigt aber wird, dass in diesen Texten Gott auch jetzt – in der Gegenwart – spricht und in seinem Wort gegenwärtig ist. Dabei taucht dann die Frage auf, wie man in der Bibelauslegung das lebendige Wort Gottes heute angemessen wahrnehmen kann. Die Praktische Theologie hat daher bereits in den 70er-Jahren heftige Diskussionen darüber geführt, wie denn der Umgang mit biblischen Texten erfahrungsnäher werden kann. Sie hat nach einer praktischen Hermeneutik gefragt: Wie können die Menschen mit den Texten so in Beziehung treten, dass diese lebensrelevant werden? Dabei ist eine Vielzahl von bibelpastoralen und religionspädagogischen Modellen entstanden – von Anleitungen zur Einzel- und Gruppenlektüre über das Bibliodrama bis hin zur Verknüpfung mit kreativkünstlerischen Methoden aller Art. Diese Zugänge haben Menschen sowohl sachlich als auch persönlich einen vertieften Zugang zur Schrift ermöglicht: Insbesondere bei engagierten »Laien« kann man heute eine gute Bibel-Bildung beobachten; in manchen Gemeinden und Bewegungen ist die Bedeutung der Bibel als Fundament des Glaubens selbstverständlich geworden. Nicht zuletzt argumentiert ja auch die lauter gewordenen Kirchenkritik mit biblischen Motiven. Ottmar Fuchs konstatiert angesichts dieser unüberschaubaren Fülle: »Alles ist methodisch erlaubt, wenn die inhaltliche Richtung stimmt.«63 Was aber ist die »inhaltliche Richtung«, die stimmen muss? Zu dieser grundlegenden hermeneutischen Frage kommt nämlich zwischenzeitlich eine gewisse Ernüchterung. Von der Irrelevanz historisch-kritischer Befunde für die Pastoral war bereits die Rede; ebenso davon, dass in den spirituellen Suchbewegungen innerhalb der Kirche die Bibel eine marginale Rolle spielt. Hinzu kommt ein kritischer Befund über die Lage der Bibelpastoral. So hat beispielsweise Gottfried Bitter in einer kritischen Umschau von Predigtzeitschriften eine Tendenz zu einer schleichenden Instrumentalisierung biblischer Texte festgestellt. Folgende Phänomene werden u. a. damit beschrieben:64 (1) Die zwischenmenschliche Beziehung hat gegenüber der Beziehung zu Gott eine größere Bedeutung; der Beziehung zu Gott wird weniger Wirklichkeit eingeräumt als der zu den Menschen; (2) Auswahl und Besprechung der Texte erfolgen nach den jeweiligen Vorlieben und vermeiden sperrige Aspekte der 63 Fuchs: Alle Zugänge sind erlaubt (2011) 79. 64 Bitter : Bibel und Verkündigung (2001) 6.

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biblischen Botschaft; (3) aus Angst vor Moralisierung bleiben Handlungskonsequenzen vielfach harmlos und der Appell zur Umkehr verflüchtigt sich; (4) manche Auslegung ist eher gutbürgerlich als biblisch, zu privat und innerlich; die geschichtliche und politische Valenz von Texten wird vernachlässigt; (5) Texte werden stärker von den zeitgenössischen Plausibilitäten her interpretiert; der Eigen-Sinn der Texte, damit auch der Glaubens-Sinn der Verstorbenen, wie er uns in der Schrift begegnet, kommt zu wenig zu Wort. Ergänzen möchte ich diesen Befund durch – durchaus widersprüchliche – persönliche Beobachtungen, die ich freilich nicht systematisch empirisch erforscht habe. a) Da gibt es einen Umgang mit der Bibel, der durch starke Erfahrungsbezogenheit vielen Menschen intensive Identifikation mit den Texten, seinen Personen und Inhalten erschließt. Zugleich kann man sich angesichts der Interpretationen mitunter des Verdachtes nicht erwehren, dass es sich dabei primär um Projektionen eigener Lebensrealitäten auf die Texte handelt, die mit den Inhalten der Bibel nur mehr peripher zu tun haben. Hier fehlt der kritischdistanzierende Zugang, den die historisch-kritische Exegese ermöglicht. Texten wird die befremdende, selbstrelativierende Spitze genommen. Sie werden entfremdet und in das Schon-Bekannte der eigenen kleinen Welt »eingemeindet«. b) Ein anderer Zugang versteht sich meisterlich auf das Erklären des Sinnes eines Textes, nach allen Regeln exegetischer Kunst – und dennoch bleibt dessen Bedeutung verschlossen: Wie kann denn der erklärte Sinn Bedeutung erlangen? Wie kann er das Leben existenziell verändern und in den konkreten Alltag Eingang finden? Was man an Sinn verstanden hat, muss ja noch lange keine existenzielle Bedeutung haben – und manch einer ist sich dieses Unterschieds noch nicht einmal bewusst. c) Nach wie vor kann man auf einen moralisierenden Umgang mit der Schrift treffen – in verändertem Gewand. Freilich haben sich die Inhalte der Moralität dabei geändert: Statt um Selbstverleugnung geht es heute um Selbstbehauptung, statt um Körperfeindlichkeit um Körperbejahung – in beiden Fällen dienen die Texte zur Untermauerung der jeweiligen zeitgenössischen Moralität. Die primäre Leitfrage orientiert sich mehr denn je am Handeln: Was sollen wir tun? Andere Fragen, die dem – natürlich legitimen und notwendigen –pragmatischmoralischen Zugang vorausgehen, werden kaum gestellt: Wer bin ich? Wer sind wir? Was ist die Welt? – in ihrer Beziehung zu Gott? Was sagst Du, Gott, mir in diesem Text? Diese spirituelle Dimension ist nach wie vor weitgehend verkümmert. Der pragmatische Zugriff auf Texte – in unserer westlichen Kultur der alltägliche Normallfall – wird auch auf die biblischen Texte übertragen: Was nützen sie? Wozu kann man sie gebrauchen?

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3.

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Praktisch-theologische Bibelhermeneutik als Beziehungshermeneutik

Dieser fragmentarische Befund wirft die Frage auf: Greift vielleicht die Frage, wie man vom Text zum Handeln kommt, zu kurz? Schränkt diese Frage nicht bereits den praktisch-theologischen Zugang zu biblischen Texten ein – auf »Umsetzung« und »Anwendung«? Und werden die damit verbundenen Schwierigkeiten nicht noch durch ein eingeschränktes Verständnis von »Handeln« verstärkt? – Handeln reduziert auf jenen Sinn, den westlich-kapitalistische Kulturen forcieren: Handeln als erzeugen, produzieren, herstellen, umsetzen, »machen«? Die eben beschriebenen Schwierigkeiten lassen mich die Frage nach der »inhaltlichen Richtung«, die stimmen muss, erneut aufgreifen. Worin besteht sie? Welche Leitfrage kann sowohl der Bibel als auch dem theologischen Anspruch und sodann der Sehnsucht der Menschen nach Spiritualität besser entsprechen? Bei der Suche nach einer solchen Frage orientiere ich mich am Entwurf von Ottmar Fuchs und greife aus der Fülle seiner Kriterien sein Verständnis von Hermeneutik als Begegnung65 auf. Im Begriff der Begegnung wird das Verstehen und Interpretieren, das zum Handeln führen soll, erweitert: Denn an einer Begegnung sind alle »menschlichen Fähigkeiten und Unfähigkeiten« beteiligt – »die ganze Lebenspraxis der Menschen, wie sie jeweils auf etwas Eigenes oder Anderes reagiert«. Fuchs zählt auf: »Verstehen und Unverständnis, Freiheit und Verpflichtung, Einverständnis und Widerstand, Einsicht und Staunen, rationale Kraft und die Anbetung des Mysteriums, Dank und Lob, aber auch Klage und Anklage, Erfüllung und Verzweiflung, Zugriff und Ohnmacht.«66 In einem solchen Zugang hat auch spirituelle Erfahrung besser Platz.67 Der Handlungsbegriff wird relativiert. Er wird in einer Begegnungshermeneutik explizit auf die 65 Fuchs: Alle Zugänge sind erlaubt (2011) 58. 66 Alle Zitate Fuchs: a. a. O., 59. 67 Das bedeutet nicht, dass Spiritualität in der Praktischen bzw. Pastoraltheologie bisher keinen Platz hatte; allerdings lässt sich für diese Fächer die von Schwienhorst-Schönberger beschriebene Spaltung zwischen Theologie und Mystik ebenfalls beobachten. Spirituelle Erfahrungen und Anliegen liegen vielen Entwürfen implizit zugrunde, sie werden aber bisher kaum explizit reflektiert und sind auch selten Gegenstand der Forschung; wenn dann im Bereich angewandter Praktischer Theologie, z. B. bei Josuttis: Religion als Handwerk (2002); Grözinger / Luther: Religion und Biographie (1987); Klein: Theologie und empirische Biographieforschung (1994); auch Wolf-Eckhart Frailing, Hans-Günther Heimbrock haben in den 1990er-Jahren mit ihren Konzepten zur »Gelebten Religion« eine spiritualitätsorientierte Praktische Theologie entworfen, um das handlungswissenschaftliche Paradigma zu überwinden. Ebenso gibt es im religionspädagogischen Bereich Studien zur Spiritualität in der Schule oder zur Gebetspädagogik. »Dass Spiritualität zu einem theoretischen Leitbegriff der Pastoraltheologie werden könnte«, wie Karl Baier meint, zeichnet sich derzeit aus meiner Sicht noch nicht ab, vgl. Baier : Spiritualitätsforschung heute (2006) 36.

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Gottesbeziehung bezogen, die dem Handeln zugrunde liegt und vorausgeht. So wird deutlich, dass Gott nicht nur jener ist, der zum Handeln auffordert, sondern seinerseits am Menschen handelt und diesen verwandeln kann. Ich bevorzuge gegenüber dem Begriff der Begegnung den Begriff der Beziehung, fülle ihn aber inhaltlich ähnlich wie Ottmar Fuchs. Begegnungen sind selbstverständlich das Um und Auf von Beziehungen, sie sind ihre Grundlage. Zudem betont der Begriff der Begegnung das Leibhaftige, Konkrete, Einmalige und Unwiederholbare einer Beziehung. Demgegenüber bringt der Beziehungsbegriff den Prozess-Charakter des Zu- und oftmals auch Gegeneinanders von Gott und Mensch, Mensch und Mensch(en) angemessener zum Ausdruck. Wichtig ist, Beziehung nicht als statisch-abstrakten Zustand zu verstehen, sondern als Ereignisgeschichte zwischen Personen. Nur in diesem Sinn ist Beziehung ein konstitutiv anthropologisches Wesensmerkmal (vgl. Aristoteles und seine 4. Kategorie der relatio). Beziehung meint auch keinesfalls nur geglückte Bindung oder einträchtige Harmonie: Zu einer Beziehung gehören auch Konflikte und Krisen, Zweifel und Widerstand, Ambivalenzen und Brüche, Affirmation und Kritik. Entscheidend ist die Bereitschaft, anderen Menschen als »Du« zu begegnen und sie nicht auf die Bilder, die man von ihnen hat, festzuschreiben, sich also auf sie einzulassen. Ausgehend von diesem Verständnis definiere ich praktisch-theologische Bibelhermeneutik in diesem Beitrag als Beziehungs-Hermeneutik.68 Wenn Text und LeserIn miteinander in Beziehung treten und einander begegnen, stehen einander paritätisch verschiedene Personen, Lebensentwürfe, Sinn- und Bedeutungskonzeptionen gegenüber. Indem diese beiden miteinander Kontakt aufnehmen, können sie einander erhellen – aber auch widersprechen. In der Differenz, die sich dabei auftut – zwischen Bibel und Tradition einerseits, Erfahrung und Lebenskontext des Rezipienten andererseits – gewinnt die Beziehung Profil und kann sich Glaube als Prozess erschließen, indem Gott als Gegenüber erfahrbar wird. Praktische Theologie verstehe ich also nicht primär als Handlungswissenschaft, sondern wesentlich als Beziehungs-Wissenschaft, die schwerpunktmäßig danach fragt, wie sich in der konkreten Gegenwart die Beziehung zwischen Gott und den Menschen und die Beziehung der Menschen miteinander realisiert, realisieren kann und soll; und welche Aufgabe die Kirche dabei hat. 68 Ottmar Fuchs entwirft in seinen »Kriterien gegen den Missbrauch der Bibel« noch zahlreiche andere hermeneutische Zugänge: eine wissenschaftlich-exegetische, traditionale, personale und kommunitäre, interkulturelle, materiale, optionale Hermeneutik. Sie alle könnten hier mit der kontemplativen Schriftauslegung guten Grundes ins Gespräch gebracht werden, aber die Kategorie der Begegnung erscheint mir ein erster gemeinsamer Boden, auf dem sich Praktische Theologie und Exegese begegnen können: Fuchs: Kriteriologische Aspekte zwischen Gnade und Gericht (2004) 385 – 407.

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Aus dieser Perspektive analysiert und erklärt eine »gute« Bibelauslegung daher nicht nur Texte und fragt sodann nach ihren Handlungskonsequenzen. Vielmehr eröffnet und ermöglicht, stärkt und vertieft sie Beziehung: zwischen Gott und Mensch, zwischen Mensch und Mensch, synchron und diachron. Im Zuge dieser Beziehungs-Stärkung und Vertiefung kann es – wird und »muss« es vielleicht sogar – zu gravierenden Veränderungen im Beziehungsleben kommen. So kann die Vertiefung der Gottesbeziehung zum Bruch mit Freunden, Familie, dem eigenen Volk führen, wovon Bibel und Kirchengeschichte erzählen. Auch führt die Vertiefung der Gottesbeziehung zunächst, immer wieder und notwendig aus dem selbstverständlichen Alltag hinaus »in die Wüste«. Beziehungsstärkung und -vertiefung meinen also keinesfalls automatisch Glück, Fülle und Eintracht. Aber wenn eine Schriftauslegung oder ein damit verbundener spiritueller Weg nicht im Horizont der Stärkung der Liebesfähigkeit erfolgt, stimmt etwas nicht. Wie bei jeder Beziehung bedarf es dazu der Übersetzung von einer Welt in die Welt des Anderen im Zwischenraum eines Dritten, eines Mediums, in dem sich Verschiedene begegnen können: Symbol, Sprache, Handlung. Wie bei jeder Beziehung ist Verstehen dabei immer nur partiell möglich; es ist mit Unverständnis und Fremd-Bleibendem zu rechnen. Entscheidend ist das In-KontaktBleiben. Wie jede Beziehung birgt der Versuch des Verstehens nicht bloß informatives, sondern vor allem transformatives Potential: Eine gute Bibelauslegung kann verwandeln. Aus praktisch-theologischer Sicht dient Bibelexegese deshalb nicht »nur« zur Reflexion und Selbstvergewisserung und ruft auch nicht »bloß« zum Handeln auf. Dies alles ist selbstverständlich unabdingbar. Entscheidend ist, dass das ganze Leben – das der RezipientInnen wie das der TextautorInnen, das gegenwärtige wie das vergangene – aus und in der Beziehung zu Gott wahrgenommen und verwandelt wird. Das ganze Leben bildet den Rahmen der Auslegung und will daher mit-wahrgenommen und bedacht werden – inklusive aller Schwierigkeiten, Krisen, Schuld und Tabus. Nur in diesem umfassenden Horizont erschließen sich Sinn und Bedeutung eines Textes. Erst dann kommen die Handlungskonsequenzen ins Spiel. So reformuliere ich nun jene Leit-Fragen, die einen weiteren praktischtheologischen Zugang zur Bibel eröffnen – und stelle sie zugleich an die kontemplative Schriftauslegung: Dient die kontemplative Schriftauslegung dazu, den Menschen heute, in ihren je spezifischen Lebenssituationen und -kontexten, die Möglichkeit zu eröffnen, in eine lebendige Beziehung mit und zu Gott einzutreten? Da aus theologischer Sicht die Gottesbeziehung untrennbar mit der Beziehung zu Menschen verbunden ist, muss diese Frage um eine weitere Frage ergänzt werden. Denn ohne lebendige Menschenbeziehungen darf auch an der Qualität der Gottesbeziehung gezweifelt werden. Damit wird der Unterschied zwischen

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Gottes- und Menschenbeziehungen keinesfalls verwischt, sondern ein konstitutives Qualitätskriterium benannt. Dient die kontemplative Schriftauslegung dazu, mit anderen Menschen in eine lebendige Beziehung einzutreten? Gemeint sind damit die »anderen« Menschen heute – jene in unmittelbarer Nähe, aber auch in der Ferne; jene, die man liebt, aber auch die »Feinde«; gemeint sind auch die Menschen von damals, die diese Texte verfasst haben, die mit diesen Texten gelebt haben, die uns in diesen Texten begegnen. Bibelexegese ist also keinesfalls ein harmloses, intellektuelles Geschehen: Vielmehr kann dieser Prozess zu einer Realvergegenwärtigung der Gottesbeziehung führen, die sodann das Verhältnis der Menschen zu sich selbst und untereinander grundlegend verändert. Die Bibelgeschichte als die unsere lesen – dieser friedlich klingende Anspruch – heißt gerade nicht, den Text steinbruchartig für unsere Situation und Zeit anwenden, anpassen, umsetzen, in die Gegenwart auflösen. Vielmehr kann der Auslegungsprozess Menschen in Kraftfelder hinein katapultieren: in die Beziehung zu Gott, in die Beziehung zu Menschen, die längst gestorben sind, in die Beziehung zu den Mitmenschen – und all diese können sich dadurch radikal verändern. Plötzlich finden die biblischen Geschichten im gegenwärtigen Leben statt. Voraussetzung dafür ist, die Texte gleichsam als »Personen« wahrzunehmen – das Wort Gottes ist nach christlichem Verständnis ja auch eine Person:69 In ihnen begegnen uns Menschen, die ihre Gottesbeziehung erzählen, beschreiben, reflektieren, interpretieren. Sie haben Teil am Geist Gottes, sie sind inspiriert. Ohne Inspiration können die Texte auch nicht in ihrer Autorenintention verstanden werden. Aufgrund der Heilsberufung aller Menschen bzw. aufgrund der Taufe können auch Menschen heute inspiriert sein, d. h. am Geist Gottes teilhaben. Freilich ist nicht sofort jeder Mensch, der die Bibel liest, inspiriert – wie gesagt, man kann die Gottesbeziehung auch ablehnen. Im Gespräch zwischen solcherart Inspirierten kann sich Gott zeigen – als lebendige Gegenwart – als JHWH: Ich bin da. Die Vielfalt der biblischen Erfahrungen zeigt, wie plural diese Beziehungsmöglichkeiten waren – und daher auch heute sind. So gehört zu einer praktisch-theologischen Bibelhermeneutik auch die Pluralität der Beziehungserfahrungen und daher der Auslegungen als Grundlage. Die Bibel ist so auch eine Lernschule der Pluralität.

69 Insofern gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Umgang mit Texten und dem Umgang mit Menschen.

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4.

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Optionale Kriterien

Die Beziehungspluralität ist freilich keinesfalls beliebig. Es genügt nicht nur, durch Bibelauslegung eine Beziehung zu eröffnen, sei sie auch zu Gott. Die Qualität dieser Beziehung ist vielmehr immer an der biblischen »Vorgabe«, besser : ihren Erfahrungen zu entwickeln. Es bedarf unterscheidender Kriterien, die Orientierung geben, ob Menschen wirklich mit dem lebendigen Gott in Beziehung stehen. Denn bei spirituellen Erfahrungen kann es sich auch um selbstgemachte Bilder, Projektionen oder gar »Götzen« handeln. Auch zwischenmenschliche Beziehungen, wenn sie durch eine lebendige Gottesbeziehung geprägt sind, weisen aus biblischer Sicht bestimmte Qualitätskriterien auf. Die Bibel selbst eröffnet zahlreiche solcher Kriterien, die diese Qualitäten überprüfbar machen. Aus der Fülle möglicher Hermeneutiken greife ich die »Optionale Hermeneutik«70 von Ottmar Fuchs auf und reformuliere bzw. entfalte sie im Kontext meiner Beziehungshermeneutik. Dieser Zugang erscheint mir besonders geeignet für das Gespräch mit der kontemplativen Bibelauslegung, da seine Kriterien ebenfalls einer Bibelexegese – hier aus einer praktisch-theologischen Perspektive – entstammen. Die drei folgenden Kriterien greifen so zentrale Schlüsselbegriffe der Bibel auf und weisen zugleich Anknüpfungspunkte an dieses Modell auf, sind also zugleich von zeitübergreifender Bedeutsamkeit und daher gegenwartsrelevant. Sie können und müssen selbstverständlich im Rahmen eines konkreten kontemplativen Weges nicht zu jeder Zeit und zugleich berücksichtigt werden, da ein solcher Weg immer auch Schwerpunktsetzungen kennt. Sie dienen so in gewisser Weise der »Unterscheidung der Geister« und wollen vor Einseitigkeiten schützen. Vor allem aber muss ein Theoriekonzept zur kontemplativen Exegese nachvollziehbar machen, wie es zu diesen Rückfragen steht.

70 Fuchs: Kriteriologische Aspekte (2004) 400 – 404. Da niemand – keine Person, keine Gemeinschaft, keine Zeitepoche – den gesamten Sinn eines Textes erfassen kann, bedarf es transparent zu machender und ausgewählter Optionen, aus deren Perspektive man sich der Interpretation nähert. Diese sind freilich keinesfalls beliebig und müssen sich aus der Bibel selbst ergeben. Fuchs spricht von »Steuerungsgrößen«, die in den biblischen Texten selbst immer wieder thematisiert werden und den Umgang mit ihnen zu qualifizieren haben. Diese »Steuerungsgrößen« markieren »die Trennungslinie« »zwischen gutem und schlechtem Bibelgebrauch«; Fuchs benennt »die Option der Umkehr« und »die Option der Gerechtigkeit« als jene beiden Größen, in denen nicht nur der Text, sondern auch die Situation der LeserInnen genau wahrgenommen werden; in der »Option der Gnade« werden diese beiden in eine ganz bestimmte Gottesbeziehung eingebettet. Vgl. Fuchs: Kriteriologische Aspekte (2004) 400 f.

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Dient die kontemplative Schriftauslegung der »Metanoia«?

Ottmar Fuchs spricht vom Kriterium der »Umkehr«. Ich wähle hier aus zwei Gründen den griechischen Begriff für dieses zentrale biblische Motiv : (1) So unabdingbar für eine christliche Glaubenspraxis der ethisch-moralische, wohl auch politische Wandel ist, der mit dem Begriff der »Umkehr« indiziert wird, so sehr wird dieser Begriff leider mit bestimmten moralischen Verhaltensänderungen konnotiert und auf Ethik reduziert. (2) »Metanoia« zeigt als Begriff die spirituelle Bedingung der Möglichkeit für nachhaltige und tiefgreifende (moralische) Verhaltensänderungen an: ein »Darüber-hinaus-Denken«, d. h. eine Veränderung der Wahrnehmung der Wirklichkeit. Der »Nous«, der »Wahrnehmungs-, Denk- und Erkenntnis-Sinn« verwandelt sich, der Mensch sieht die Dinge neu – und muss dann nicht mehr, sondern kann verändert handeln – auch in ethischer Hinsicht. Beziehung – zu Gott und Mensch – verändert die Wahrnehmung: Freilich nur, wenn man sich für diese Beziehung öffnet und sich auf sie einlässt. Zugleich kann umgekehrt Wahrnehmung auch Beziehung verändern – wenn Wahrnehmen nicht bloße Beobachtung, sondern ein bewusstes in Beziehung treten, Kontakt aufnehmen ist. Wahrnehmung ist in gewisser Weise selbst Beziehung. Eine Bibelexegese, die in den Beziehungsraum Gott – Mensch, Mensch –Mensch einführt, kann daher auch Wahrnehmungsveränderungen ermöglichen. Menschen nehmen sich selbst wahr, in ihrer Lebenssituation, in ihrer Beziehung zu Gott und anderen Menschen – zu jenen in und hinter der Schrift, zu ihren ZeitgenossInnen. Dadurch kann sich das Wirklichkeitsverständnis vertiefen und verwandeln. Es kann aber auch massiv in Frage gestellt und sogar tief erschüttert werden. Denn zum einen kann die Gottespräsenz als jener schöpferische Geist wahrnehmbar werden, der die Menschen schützt, tröstet, heilt und liebt: Die Gnade Gottes kann erfahren werden. Wahrnehmbar kann durch die Metanoia aber auch all das werden, was in der gegenwärtigen Lebenssituation in diametralem Widerspruch zu dieser Liebe und Gnade steht. Menschen können und müssen durch die veränderte Wahrnehmung auch erkennen, dass sie »SünderInnen« sind: Sie erkennen ihre gestörten Beziehungen – zu Gott und zu den Menschen. Diese Metanoia – die Wahrnehmung der gegenwärtigen Situation im Licht der Beziehung zu Gott – ermöglicht überhaupt erst die Verhaltensänderungen. Der Prozess, der bei einer solchen Metanoia abläuft, ist dabei weder einmalig, punktuell noch rein geistig-intellektuell-bewusstseinsmäßig. Vielmehr vollzieht sich solche Metanoia auf allen Ebenen: geistig (umdenken), psychisch (umfühlen), physisch (leibhaftige Folgen wie z. B. Schmerz oder Gestaltwandel) und praktisch (umhandeln). Sie hat sichtbare Folgen im Leben des Menschen. Sie ist auch nie ein für alle Mal abgeschlossen, sondern immer wieder neu zu wieder-holen und einzuüben.

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Aus praktisch-theologischer Sicht kommt damit unabdingbar die Gegenwart in den Blick. Die kontemplative Schriftauslegung ist daher daraufhin zu befragen, ob sie den Menschen ermöglicht, ihre je eigene Gegenwart aus der Beziehung zu Gott heraus so wahrzunehmen, wie sie ist – in Freude und Leid, in all ihrer Brüchigkeit und Fragwürdigkeit, in Schönheit und Schrecken, mit allem Gelingen, Scheitern und Schuld. Sodann ist zu fragen: Eröffnet die Schriftauslegung zugleich eine veränderte Wahrnehmung auf diese Wirklichkeit? Motiviert sie zur Veränderung, also ermöglicht sie eine Umkehr im Handeln? Zu dieser veränderten Gegenwartswahrnehmung gehören zugleich auch ein veränderter Vergangenheits- und Zukunftsbezug. Verändert sich die Wahrnehmung der Gegenwart, verändert sich auch die Wahrnehmung der beiden anderen Zeitmodi. Daher gehören zu einer »guten« Bibelauslegung auch das Erinnern und das Hoffen. Eine »gute« Bibelauslegung ermöglicht Menschen, sich an die Vergangenheit zu erinnern – die eigene, die der Anderen; mit all ihren schönen und hässlichen, freud- und leidvollen Dimensionen. Sie eröffnet, auf eine Zukunft zu hoffen; eine »gelehrte« Hoffnung (vgl. »docta spes« bei Ernst Bloch), die gute Gründe benennen kann (1 Petr 3,15) und in der Schwierigkeiten und Bedrohungen nicht ausgeblendet werden müssen. »Metanoia« beschreibt die Bereitschaft, die Wirklichkeit anders – aus der Beziehung zu Gott und den Menschen heraus – wahrzunehmen, sich als umkehrbedürftig zu erkennen und sich von Gott zu verändertem Handeln herausfordern zu lassen. Zugleich ist damit auch die Bereitschaft gemeint, sich immer wieder von den eigenen, selbstgemachten Gottes-, Menschen-, Weltbildern zu verabschieden und frei zu werden für solche, die dem Zu- und Anspruch Gottes gemäßer sind. Durch den veränderten Zeitbezug von Menschen können auch biblische Erinnerungen und Verheißungen wieder bedeutsam werden – und damit auch die Erinnerungen und Hoffnungen von Menschen heute. Metanoia in diesem Sinne ist eine spirituelle Kategorie. Kurz gesagt: Dient die kontemplative Schriftauslegung der spirituellen Transformation, d. h. der Wahrnehmung und Veränderung der Beziehung zu Gott und den Menschen? Und hat das auch praktische Konsequenzen – in den individuellen wie den gesellschaftlichen Lebensbezügen? b)

Dient die kontemplative Schriftauslegung der Befreiung zu Liebe und Gerechtigkeit?

Jenes Handeln, das die Metanoia ermöglichen kann und soll, ist nicht inhaltsleer und beliebig. Daher bezieht sich das nächste Kriterium auf die Qualität des Handelns, das eine gute Bibelauslegung nach sich ziehen kann und soll. Dazu möchte ich zunächst den Handlungsbegriff klären. Denn menschliches Handeln kann man auf verschiedene Weise verstehen.

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(1) Hilfreich bei der Unterscheidung verschiedener menschlicher Handlungsweisen ist die Phänomenologie der Philosophin Hannah Arendt.71 Nach Arendt ist Handeln jene menschliche »Grundtätigkeit«, die sich »ohne die Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen Menschen abspielt«72 – d. h. die Art und Weise, wie Menschen in ihrer Pluralität mit- und untereinander Beziehung aufnehmen. Handeln in einem genuin menschlichen Sinn ist also eine personal-relationale Kategorie. Von dieser Art des Handelns lassen sich das Handeln im Sinne des Arbeitens und das Handeln im Sinne des Herstellens unterscheiden. Auch das Arbeiten und das Herstellen sind menschliche Grundtätigkeiten. Aber zum Arbeiten sind Menschen im Sinne des Überlebens gezwungen, d. h. es ist aus biologischen Gründen notwendig, sich die Wirklichkeit so umzuverwandeln, dass sie das Leben erhält. Das Herstellen wiederum stellt den menschlichen Versuch dar, sich in der Welt eine Heimat zu schaffen, in der man dauerhaft leben kann. Das Herstellen sichert die Kontinuität des Lebens. Dadurch wird die Wirklichkeit zu einem Objekt, das man willentlich gestalten kann. Demgegenüber zeichnet sich das Handeln im genuin menschlichen Sinn dadurch aus, dass Menschen einander in Freiheit als Subjekte begegnen können. Diese Unterscheidung zu treffen ist wichtig, denn in den sogenannten modernen Kulturen dominiert das Verständnis von Handeln im Sinne des Arbeitens und des Herstellens; das tätige Leben wird darauf reduziert. Dadurch laufen auch zwischenmenschliche Beziehungen Gefahr, in dieser Logik realisiert zu werden: Andere Menschen können zu »Objekten« werden, die man zum Überleben braucht oder die man sich nach seinem Willen schaffen kann. In beiden Fällen dominiert ein instrumenteller Zugang zum Anderen. Dieses reduzierte Handlungsverständnis kann man auch auf die Gottesbeziehung übertragen: Gott wird zum Überleben benötigt oder aber nach eigenem Willen zugerechtgelegt. Aus praktisch-theologischer Perspektive geht es beim Handeln, das aus der Metanoia erfolgen kann, zuerst um das genuin menschliche Handeln als freies Beziehungswesen. Eine gute Bibelhermeneutik ermöglicht die Erfahrung solchen Handelns. Ein solches Handeln wirkt sich sodann auch auf die Art des Arbeitens und des Herstellens aus, da diese drei Dimensionen im Alltag ja nicht strikt voneinander zu trennen sind. Es eröffnet, wie bei Arendt gezeigt, zudem die politische Dimension des Handelns, d. h. die gemeinsame Gestaltung des öffentlichen Raumes auf der Basis von Beziehung. (2) Die biblische Tradition stellt für die Qualität des Handelns zwei Grunderfahrungen bereit, die den inhaltlich-normativen Maßstab beschreiben: Liebe und Gerechtigkeit.73 Zunächst sagen diese Begriffe etwas über das Wesen Gottes 71 Arendt: Vita activa (1996/1981) 16 – 18. 72 A.a.O., 17. 73 Ottmar Fuchs spricht in diesem Zusammenhang von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Da

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aus. Immer wieder erzählt die Schrift in Form von unzähligen Geschichten von Gottes Liebe und Gerechtigkeit. In all dieser Pluralität zeigen sich durchgängige Linien: Gottes Liebe gilt allen Menschen. In besonderer Weise aber liebt Gott jene, die ohnmächtig und schwach am Rande der Gesellschaft stehen: die »Witwen, Waisen und Fremden«, die Armen, Kranken und Leidenden, die Außenseiter und Opfer, die Sünderinnen und Sündern. Auch die Starken, Mächtigen, Gesunden und Reichen sind von Gott geliebt – aber die Liebe Gottes stellt an sie einen anderen Anspruch: Sie sind angefragt, wie sie in Beziehung zu den »Anderen« stehen. Daher hat die Liebe Gottes immer auch eine ethische und politische Dimension. Untrennbar mit der Liebe verbunden ist deshalb Gottes Gerechtigkeit. Ohne Gerechtigkeit verliert die Liebe ihre Gestalt und kann sich auch nicht entfalten. Gottes Gerechtigkeit bedeutet zum einen den Zu- und Anspruch einer Gesellschaft, in der Menschen in Frieden miteinander leben können und an den gemeinsamen Gütern teilhaben. Gott selbst bürgt für diese Gerechtigkeit und hat eine spezielle Option für die Benachteiligten, Schwachen und Ausgeschlossenen einer Gesellschaft. Zum anderen sorgt Gott selbst für Gerechtigkeit – auch als Richter, der jene zur Rechenschaft zieht, die gegen Liebe und Gerechtigkeit verstoßen. Die Erfahrungen von Gottes Liebe und Gerechtigkeit ermöglichen und verpflichten Menschen nun ihrerseits zu einem Handeln in Liebe und Gerechtigkeit. Weil Gott die Menschen liebt und für Gerechtigkeit sorgt, können und müssen dies auch die Menschen tun. Liebe meint jene göttliche Kraft, die es ermöglicht, bedingungslos Ja zu einem Anderen zu sagen, so wie er ist, in seiner je spezifischen Einmaligkeit und Einzigartigkeit, vor aller Leistung und trotz aller Schuld. Solche Liebe zeigt sich in konkreten Taten. Gerechtigkeit beschreibt das Erfüllen des Willens Gottes, wozu zentral die Option für die Armen, eine soziale Gesetzgebung (vgl. Dtn) und gerechte Verteilung der Güter gehören. Liebe und Gerechtigkeit sind daher die beiden Kriterien, die den Maßstab für die Qualität des Handelns beschreiben, zu dem eine gute Bibelauslegung befreit. Aus einer spirituellen Sicht kann die Gottesbeziehung den Menschen Teilhabe an seiner Liebe und Gerechtigkeit eröffnen und sie zu dementsprechendem Handeln befreien, das alle Lebensbereiche – persönliche wie gesellschaftliche – verwandelt. Die Beziehung zu Gott lässt Menschen sich selbst und einander als freie Subjekte wahrnehmen. Auf der Basis solcher lebendiger Beziehung werden Menschen liebesfähiger : Sie können die Einzigartigkeit des Anderen wahrnehmen und zur Verschiedenheit der Menschen Ja sagen lernen. Diese Liebesfähigkeit sensibilisiert zugleich für all jene ungerechten und unrechten Lebensder Begriff der Barmherzigkeit in unseren Breitengraden aber ebenfalls sehr belastet ist und Assoziationen von mitunter sogar willkürlich herablassendem Erbarmen eines Mächtigen gegenüber einem Ohnmächtigen freisetzen kann, bevorzuge ich den Begriff der Liebe.

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und Gesellschafts-Verhältnisse, die das Leben von Menschen kleinmachen, beeinträchtigen, zerstören. So wird auch die Fähigkeit gestärkt, für Gerechtigkeit zu sorgen. Das damit verbundene Liebes- und Gerechtigkeitshandeln verliert dadurch seinen Arbeits- und Herstellungscharakter und kann zu einem gemeinsamen freien Handeln mit freien Menschen werden. Die Anderen sind nicht mehr Objekte der Liebe und Gerechtigkeit, sondern werden als Gegenüber mit gleicher Würde74 wahrgenommen, mit denen gemeinsam für eine bessere Welt gesorgt wird. Die Starken, Reichen, Mächtigen lernen von den Schwachen, Armen, Ohnmächtigen und sorgen für gerechtere Lebensverhältnisse. Zugleich werden letztere ermächtigt, ihre Einzigartigkeit zu realisieren und sich selbst für ein besseres Leben einzusetzen. Aus praktisch-theologischer Sicht kommt in diesem Kriterium erneut die Gegenwart in den Blick. Denn der Ort, an dem sich Handeln in Liebe und Gerechtigkeit realisiert, ist die konkrete Geschichte. Eine Bibelauslegung ist daher daraufhin zu befragen, ob sie den Menschen ermöglicht, Geschichte und Gegenwart als jene Orte wahrzunehmen, in denen sich die Beziehung zu Gott und den Menschen bewährt. Daher ist zu fragen: Werden sich Menschen ihrer Fähigkeit zu freiem Handeln bewusst? Befreit die Auslegung Menschen zu einem Handeln in Liebe und Gerechtigkeit? Werden Menschen in ihrer Begegnung mit der Bibel liebesfähiger? Entdecken sie ihre Verantwortung für die Sorge um eine gerechte Gesellschaft und Welt – und handeln sie dem entsprechend? Dieses Kriterium fragt nach den ethischen und politischen Handlungskonsequenzen. Kurz gesagt: Dient die kontemplative Schriftauslegung der Transformation menschlichen Handelns, d. h. der Selbstwahrnehmung als Personen, die zu einem Handeln in Liebe und Gerechtigkeit fähig und verpflichtet sind – in ihrer jeweiligen konkreten geschichtlichen Situation?

c)

Dient die kontemplative Schriftauslegung der Stärkung des Vertrauens in das Gottesmysterium?

Dieses Kriterium fragt nach einer spezifischen Art der Gottesbeziehung, die durch eine Bibelauslegung eröffnet wird: Eröffnet kontemplative Schriftauslegung Menschen die Wahrnehmung, dass Gott ein Geheimnis ist und ermutigt sie zugleich dazu, sich vertrauensvoll auf dieses Geheimnis einzulassen und »in ihm« mit Gott Beziehung aufzunehmen? Eine Bibelauslegung, die einen solchen Zugang eröffnet, kann damit einen wichtigen Boden bereiten, dass Menschen die 74 Das gilt in gewisser Weise auch im Leben mit Kindern. Hier sind natürlich insofern asymmetrische Verhältnisse, als Erwachsene für die Sorge um Kinder verantwortlich sind; aber auch in dieser Sorge ist es unverzichtbar, die Stimme der Kinder und deren Weltperspektive wahrzunehmen und von ihnen zu lernen.

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Erfahrung Gottes, wie er sich laut biblischer Tradition in Geschichte und Gegenwart selbst offenbart, widerfahren kann, die letztlich ein Gnadengeschenk ist und auch durch Bibelexegese nicht »machbar« ist. (1) Der Gott, der sich in der Schrift offenbart, erweist sich als unendlich verborgenes Geheimnis. Dieses Mysterium erweist sich in der Geschichte und ihr gegenüber immer wieder als jener Gott, der seine Menschen in Treue begleitet und sie trotz aller Sünde und Schuld nicht im Stich lässt, sie liebt und für Gerechtigkeit sorgt. Gott enthüllt und verbirgt sich dabei gleichermaßen. Er erweist sich zugleich als ganz nahe und ganz fern. Er offenbart sich und entzieht sich zugleich jeglichem Zugriff und totalem Verständnis. Dieses Gottesmysterium bekommt für Christen in Jesus Christus eine konkrete Gestalt. In ihm ist Gott den Menschen ganz nahe gekommen, er ist das Bild des unsichtbaren Gottes (Kol 1,15). Zugleich bleibt auch Jesus Christus in seinem Leben, Sterben und Auferstehen den Menschen auf gewisse Weise fremd und entzogen. Das gilt bereits für seine JüngerInnen, die ihn oftmals nicht verstehen; es gilt umso mehr für ChristInnen, denen Jesus in den Evangelien begegnet. In deren Pluralität und Widersprüchlichkeit lässt sich Jesus auch für diese nicht greifen. Zur Offenbarung Gottes – auch in Christus – gehört also immer das entzogene Geheimnis. So sind alle Vorstellungen und Bilder, die sich Menschen – notwendigerweise – von Gott machen, immer wieder zu hinterfragen, zu korrigieren. Der Weg der Gottesbeziehung ist von daher verbunden mit Krisen, mit dem Verlust, dem Zerbrechen von Gottesvorstellungen. (2) Die Spannung zwischen Offenbarung und Geheimnis kann Menschen zu ehrfurchtsvollem Staunen, zu Lob und Dankbarkeit motivieren und die Liebe zu Gott wecken angesichts der Größe Gottes. Sie kann aber ebenso ob der damit verbundenen Ambivalenzen Fragen, Kritik, Zweifel, Widerstand, Angst und Misstrauen auslösen. Denn die menschliche Geschichte und Gegenwart sind auch voll von unbegreifbaren Katastrophen. Die Bibel erzählt davon, dass alle diese Reaktionen in der Beziehung zu Gott nicht nur möglich, sondern erlaubt sind. Klage und Anklage Gottes, Streit und Hader mit Gott gehören in die Gottesbeziehung hinein. Entscheidend für die Qualität der Art und Weise der Gottesbeziehung ist daher nicht eine problem- oder friktionsfreie Beziehung, sondern ob Menschen innerhalb dieser Beziehung verweilen können und den »Draht« nicht verlieren. Anders gesagt: Ob in dieser Gottesbeziehung das Vertrauen wachsen kann angesichts des Gottesmysteriums – ohne dabei Leid, Klage und ungelöste bzw. unlösbare Fragen ausklammern zu müssen. (3) Die Erfahrung von Gott in der Spannung von Offenbarung und Geheimnis wirkt sich auch auf die Wahrnehmung und Beziehung von Menschen durch Menschen aus. Wer um die Unergründlichkeit Gottes weiß, um das immer wieder Verlieren und Zerbrechen von Gottesbildern, wird auch eher fähig sein, im Menschen ein Geheimnis wahrzunehmen, das sich dem Zugriff entzieht (und

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umgekehrt). So können Respekt und Liebe zum Anderen in seiner Andersartigkeit wachsen – und damit die Fähigkeit, mit der Pluralität und Verschiedenheit der Menschen zu leben. Freilich werden auch die menschlichen Beziehungen dadurch nicht ambivalenzfrei. Aber in dem Maß, in dem Menschen Gottvertrauen lernen, kann auch Menschenvertrauen wachsen. Solches Vertrauen ist keinesfalls naiv, sondern weiß um die Abgründe jeder Beziehung. Beziehung – zu Gott und Menschen – hat aus biblischer Perspektive daher spezifische Qualitätsmerkmale. Dazu gehören die Wahrnehmung und Erfahrung Gottes und sodann des Menschen als unergründliches Geheimnis; das Ernstnehmen der Geschichte und Gegenwart als jene Orte, an denen sich dieses Geheimnis offenbart und entzieht; die Erfahrung widersprüchlicher Reaktionen auf dieses Mysterium; die Erfahrung, dass die eigenen Bilder und Vorstellungen, die man sich von Gott und Menschen macht, begrenzt sind und immer wieder korrigiert werden müssen; die Erfahrungen, dass Gottesvertrauen etwas ist, das wachsen kann, aber keinesfalls sicher gegeben ist – von dem aber die Bibel bezeugt, dass es das Leben trägt. Die Art der Gottesbeziehung, in die Bibelexegese einführt, hat fundamentale Bedeutung dafür, ob es Menschen möglich wird, Gottes Liebe und Gerechtigkeit zu erfahren und bereit für eine Metanoia zu werden. Hier zeigt sich ein hermeneutischer Zirkel der drei benannten Kriterien. Die praktisch-theologische Sicht ergänzt dieses Kriterium um die Frage, ob und wie Menschen in der jeweiligen Gegenwart das Gottesmysterium wahrnehmen und welcher Art die Beziehung zu diesem offenbaren Geheimnis ist. Denn Gott zeigt und enthüllt sich auch in der Gegenwart. Eine Bibelauslegung ist also daraufhin zu befragen, ob sie Menschen ihren je persönlichen Zugang zu diesem Mysterium eröffnet: ob und wie darin die menschlichen Reaktionen auf dieses Geheimnis Platz haben; ob sie eine vertrauensvolle Beziehung zu Gott stärkt; ob und wie sie mit den Gottesbildern der Menschen umgeht; welche Auswirkungen diese Erfahrungen auf menschliche Beziehungen haben. Kurz gesagt: Dient die kontemplative Schriftauslegung dem vertieften Vertrauen in Gott, der sich zeigt und entzieht gleichermaßen – und wie spiegelt sich dies in den zwischenmenschlichen Beziehungen wieder?

VI.

Praktisch-theologische Kriterien aus religionssoziologischer Perspektive

Das folgende Kapitel dient der Entwicklung von kriteriologischen Fragen aus der Perspektive religionssoziologischer Forschung. Die Leitfrage dabei lautet: Inwiefern reagiert die kontemplative Schriftauslegung auf die spirituellen Transformationsprozesse der Gegenwart? Auf welche zeitgenössischen religiösen bzw.

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spirituellen Erfahrungen kann und muss sie reagieren? Der religionssoziologische Befund erfolgt in drei Schritten: aus einer quantitativ-empirischen (VI.1), einer qualitativ-empirischen (VI.2) und einer praktisch-theologischen Perspektive (VI.3). Kriteriologische Rückfragen formuliere ich jeweils im Anschluss an die deskriptive Darstellung. Diese sollen dazu anregen, empirische Ergebnisse – und damit die »Stimme der Gegenwart« – in ihrer theologiegenerativen, d. h. auch hermeneutischen und normativen Funktion für die kontemplative Schriftauslegung zu rezipieren. Ich formuliere dabei bewusst Fragen und keine Kriterien, denn aus der Empirie können unmittelbar selbstverständlich keine Kriterien abgeleitet werden (empiristischer Fehlschluss). Diese wären in einem nächsten Schritt erst im kritischen Dialog mit der Theologie zu entfalten. Wohl gehe ich aber davon aus, dass der Empirie hermeneutische und normative Dimensionen innewohnen, die aus theologischen Gründen als eigenständige Kriterien ernst zu nehmen sind. Die kriteriologischen Rückfragen dienen vielmehr der Entwicklung von Kriterien, die keine Normen zur Bewertung, sondern Unterscheidungsmerkmale zu angemessenerem Verständnis sind.

1.

Religiöse Transformationsprozesse in Europa

In der religionssoziologischen Forschung spricht man seit zwei Jahrzehnten von gravierenden sozioreligiösen Transformationsprozessen im »religiösen Feld« (Pierre Bourdieu): jenem Raum, in dem unterschiedliche ProtagonistInnen – Einzelpersonen, ExpertInnen, Kirchen und Religionsgemeinschaften, politische Institutionen, usw. – in Kommunikationsprozessen aushandeln, was denn unter »Religion« zu verstehen und wie diese zu leben sei. Charakteristische Merkmale dieser Prozesse sind u. a. (1) die Erosion traditioneller, kirchlich-gebundener Religiosität, (2) Säkularisierung und Pluralisierung der subjektiven Religiositäten innerhalb und außerhalb der Kirchen in Verbindung mit der Entkoppelung von Religiosität und Kirche sowie (3) die Entstehung eines »neureligiösen« Feldes, das sich vor allem durch die Suche nach und das Experimentieren mit »Spiritualität« beschreiben lässt. Die Ergebnisse der Europäischen Wertestudie 2008 – 2010 (EVS) ermöglichen einen differenzierten Blick auf diese Entwicklungen im Langzeitvergleich seit 1990.75 Religiosität wird bei dieser Studie in einem sehr engen und traditionellen Sinn festgemacht am Glauben an Gott, am konfessionellen Selbstverständnis, am Kirchgang und an der Gebetspraxis. Dieser konservative Zugang ermöglicht es, das quantitative Ausmaß des »neureligiösen« Feldes besser abzuschätzen. Von 75 Polak / Schachinger: Stabil in Veränderung (2011).

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einer umfassend sichtbar werdenden spirituellen Bewegung kann dabei keine Rede sein. Die Religiositäten der EuropäerInnen verändern sich zwar über den Jahrzehntvergleich, erweisen sich aber als erstaunlich stabil und konfessionell geprägt. Die These einer generellen Säkularisierung im Sinne eines kompletten Bedeutungsverlustes von Religiosität kann zugleich nicht bestätigt werden. Vielmehr zeigt sich selbst bei einem klassischen Frageinstrumentarium die konstante Bedeutung von Religiosität. Zugleich werfen die beobachtbaren Pluralisierungsprozesse Fragen nach deren spiritueller Qualität auf, die eine quantitative Studie aber nicht angemessen beantworten kann. Wenn, dann lässt sich »Spiritualität« zwischen den Ergebnissen erahnen. Zwei Beispiele aus den Ergebnissen sollen das verdeutlichen. a) EuropäerInnen glauben an Gott: Stabiler Gottesglaube – aber wenig erfahrungsgesättigt Von einer umfassenden Säkularisierung – im Sinne eines völligen Verlustes des Gottesglaubens – kann in Europa nicht gesprochen werden. Die folgende Grafik zeigt, dass sich der Glaube an Gott über einen Zeitraum von zwanzig Jahren – mit einigen Ausnahmen – auf einem länderspezifisch konstanten Niveau gehalten hat.

Grafik 1: Glaube an Gott nach Ländern im Zeitvergleich, geordnet nach %. Quelle: EVS 1990 – 2008.

Es lassen sich drei Gruppen unterscheiden: (a) Länder, in denen 2008 unter 50 % der Befragten an Gott glauben; (b) Länder, in denen über 75 % an Gott glauben; (c) die große Mehrheit der Länder, in denen mehr als die Hälfte bis drei

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Viertel an Gott glauben. Im »hochreligiösen« Bereich finden sich so gut wie immer die orthodoxen Länder, in denen Kirche und Nation eng verbunden sind und Religion zum kulturellen Grundbestand gehört sowie jene katholischen Länder, in denen Religion und Nationalität ebenfalls eng verbunden sind bzw. (noch?) eine intensive Volksfrömmigkeit anzutreffen ist. Im »mittelreligiösen« Bereich siedeln sich die übrigen katholischen sowie die katholisch-protestantischen Länder an; am unteren Ende das laizistisch-säkulare Frankreich. »Niedrigreligiös« sind die protestantischen Länder sowie die Länder jener ehemals kommunistischen Regionen, in denen schon vor dem Kommunismus massive Säkularisierungsprozesse stattfanden. Trotz länderspezifischer Unterschiede lässt sich ein radikaler Gottesverlust in Europa nicht feststellen. Freilich ist damit noch nichts über die Qualität des Gottesglaubens gesagt. Der Blick auf Vorgängerstudien lässt durchaus eine Gottes-Krise vermuten: An Gott zu glauben verbindet sich nicht automatisch mit einer spezifisch religiösen oder gesellschaftlichen Praxis. Menschen, die an Gott glauben, unterscheiden sich in ihren Werthaltungen nicht signifikant von jenen, die nicht glauben. Unterschiede werden erst erkennbar ab einer bestimmten Intensität dieses Glaubens.76 Für die Mehrheit scheint der Glaube an Gott eine Art »Platzhalter« für die Frage, den Wunsch oder die Sehnsucht nach einer »höheren«, transzendenten Wirklichkeit zu sein, oder er dient als weltanschauliches Erklärungsmodell. Offen bleiben in der EVS die Frage nach der Art der Gottesbeziehung und die Frage nach der Alltags- und Lebensrelevanz des Gottesglaubens. Eine von spiritueller Erfahrung getragene Gottesbeziehung scheint ein Minderheitenphänomen zu sein – wenngleich es Anzeichen eines Wachstums der Sensibilität für die transzendente Dimension gibt. Mehrheitlich scheint der Gottesglaube nur für eine Minderheit erfahrungsgesättigt77 zu sein. Er »hängt«

76 Vgl. dazu z. B. die Österreich-Ergebnisse der EVS, die in Österreich ergänzend zur Glaubensfrage auch nach Erfahrung gefragt hat: So erleben 2 % der ÖsterreicherInnen 2008 sehr oft das Gefühl, »mit allem eins« zu sein; 10 % erleben das oft, 36 % gelegentlich, 30 % selten und 19 % nie. 53 % sagen, dass man von Gott wenig spürt, vgl. Zulehner / Polak: Von der »Wiederkehr der Religion« zur fragilen Pluralität (2008) 155. Zulehner berichtet in seiner Studie »Religion im Leben der ÖsterreicherInnen 2010« von der Zunahme außergewöhnlicher Erfahrungen: 28 % der Befragten hatten schon einmal das Gefühl der Gegenwart Gottes (2000: 20 %), 26 % haben schon einmal eine heilige Macht in der Natur empfunden (2000: 18 %), 30 % haben das Gefühl, schon einmal durch Gebete Hilfe bekommen zu haben (2000: 29 %). Ein Großteil dieser Erfahrungen wird von der Mehrheit religiös gedeutet, vgl. Zulehner: Verbuntung (2011) 47. Die spirituelle Sensibilität scheint also zu wachsen, ist aber ein Minderheitenphänomen. 77 »Erfahrungssättigung« meint hier keinesfalls primär oder ausschließlich Erfahrungen des Glücks oder der Erfüllung; auch Erfahrungen der Ohnmacht, des Zweifels, der Leere können damit beschrieben werden. Der Begriff bezieht sich auf das Zueinander von »theoretischer Weltanschauung« und authentischer Integration des Geglaubten im persönlichen Leben:

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in gewisser Weise für viele als Abstraktum – zur Welterklärung, zur Problemlösung u. ä. – »in der Luft«; die Beziehung zu ihm erschließt aber nur für Wenige das persönliche Leben im Alltag, geschweige denn in der gesellschaftlichen Situation. Angesichts dieses hohen, aber wenig erfahrungsgesättigten Gottesglaubens lässt sich fragen: Dient die kontemplative Schriftauslegung einer Ermöglichung von lebendiger Gotteserfahrung? Dazu gehören die emotional-sinnliche Dimension, aber auch die Klärung, Auseinandersetzung, Reflexion von Gottesbildern. Dazu gehören Erfahrungen der Fülle, aber auch der Ohnmacht und der Leere; der Gottesnähe und der Gottesferne. Unterstützt die kontemplative Bibelauslegung die »Bildung« des Gottesglaubens? Kommen dabei die konkreten Gottesvorstellungen und -erfahrungen, die Vor-Urteile und Fragen der Menschen über und an Gott zur Sprache? Geschieht dies auf allen Ebenen der Existenz: physisch, psychisch, geistig; relevant für den persönlichen und gesellschaftlichen Lebensalltag?78 b) Pluralisierungsprozesse als Kontext spiritueller Suche Tiefenanalysen der EVS lassen erkennen, dass es innerhalb der religiösen Selbstverständnisse zu einer umfassenden Pluralisierung gekommen ist. Dabei zeigen die Ergebnisse der EVS auch eine überaus enge Verbindung zwischen religiösem und konfessionellem Selbstverständnis: Ob jemand an Gott glaubt oder nicht, hängt maßgeblich von seiner Konfessionszugehörigkeit ab. Orthodoxe Personen glauben signifikant häufiger an Gott als KatholikInnen, diese wiederum häufiger als ProtestantInnen.79 So zeigt die folgende Grafik, welche unterschiedlichen Kombinationsmöglichkeiten sich allein zwischen einem konfessionellen und einem religiösen Selbstverständnis ergeben und wie diese länderspezifisch verteilt sind. Sechs Typen lassen sich dabei unterscheiden: (1) konfessionelle Religiöse, (2) konfessionelle Unreligiöse, (3) konfessionelle AtheistInnen, (4) konfessionslose Religiöse, (5) konfessionslose Unreligiöse, (6) konfessionslose AtheistInnen.

z. B. wie verbinden sich religiöse Begriffe und Deutungen mit persönlichen Lebensereignissen, wie steht es um die »ganzheitliche« Aneignung von Glaubenslehren, u. ä. 78 In der Praxis kann und wird dies nicht alles zugleich vorfindbar sein; aber langfristig sind diese Fragen im Blick zu halten. 79 Vgl. Polak / Schachinger: Stabil in Veränderung (2011).

Grafik 2: Typen von Konfession und Religiosität nach Ländern, Angaben in %. Quelle: EVS 2008

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Erneut wird der enge Zusammenhang von hoher Religiosität und Konfessionalität vor allem in den orthodoxen und traditionell-katholischen Ländern sichtbar. Zugleich zeigt bereits diese relativ einfache soziologische Typologie, wie heterogen die Situation ist. In den (noch?) hochreligiösen Ländern sieht man, dass Konfessionalität nicht mit einem religiösen Selbstverständnis gedeckt sein muss. Konfessionalität kann kulturelle Tradition sein – und es ist offen, wie sich das konfessionelle Selbstverständnis auf die je konkrete Sinnkonzeption auswirkt. In jeder Gruppe könnten sich spirituell Suchende, Interessierte, Erfahrene finden lassen. Auch die Ablehnung eines religiösen Selbstverständnisses (unreligiös, atheistisch) kann ja bloß bedeuten, sich von der jeweils dominanten Kirche und deren Vorstellungen über Religiosität zu distanzieren. Weiters sind Gruppen erkennbar, in denen möglicherweise verstärkt jene Personen zu finden sind, die nach neuem – spirituellem? – Sinn suchen: die Gruppe (2) der konfessionell Unreligiösen sowie die Gruppe (4) der konfessionslosen Religiösen. Die Grafik zeigt, wie verschieden groß die Gruppen in den einzelnen Ländern sind. Die spirituellen Transformationsprozesse finden in Europa in den meisten Ländern – noch? – innerhalb konfessioneller Zugehörigkeiten statt. Viele der potentiell »Neureligiösen« verstehen sich offenbar konfessionell gebunden. Deutlich sichtbar wird aber bereits in dieser konventionellen Auswertung die umfassende Pluralisierung des »religiösen Feldes«. Angesichts dessen lässt sich fragen: Dient die kontemplative Bibelauslegung der Klärung, Unterstützung und Bildung des je persönlichen (religiösen) Selbstverständnisses? Wird zugleich die Fähigkeit gefördert, die eigene Spiritualität in einem pluralen Kontext zu realisieren?80 Geschieht dies zugleich in einem Horizont gemeinsamer Suche nach Wahrheit, die für eine christliche spirituelle Praxisform unverzichtbar ist?

2.

Spirituelle Transformationsprozesse in Europa

a)

Was ist Spiritualität aus sozialwissenschaftlicher Sicht?

Der Begriff Spiritualität hat ein weites Bedeutungsspektrum und kann angesichts zeitgenössischer Spiritualitätsforschung nicht ausschließlich mit einer spezifischen Form von Religion oder gar mit Religiosität gleichgesetzt werden. Er reicht von einer anthropologisch-philosophischen Kategorie über sozialwissenschaftliche und religionswissenschaftliche bis hin zu theologischen Ka80 Dazu gehören u. a. die Förderung von Fähigkeiten wie Empathie, Pluralitätskompetenz, Reflexions- und Argumentationskompetenz, Lernkompetenz, Vermittlung und Aneignung von Sachkenntnissen, usw.

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tegorien. So »berufen sich anthropologische Definitionen von Spiritualität darauf, dass zum Mensch-Sein die Tiefendimension einer heilvollen, identitätsstiftenden Bezogenheit auf eine letzte Wirklichkeit gehört. Spiritualität ist die Erfahrung, Entwicklung und Gestaltung dieser Beziehung im Leben von Einzelnen und Gemeinschaften«81. In diesem Sinn ist Spiritualität eine menschliche Fähigkeit: Sie kann, muss aber nicht zwangsläufig religiös formatiert sein. Der höchste Wert kann auch ohne Bezug auf Religion oder Gott verstanden werden, z. B. als Humanität oder Gerechtigkeit. In der Sozialwissenschaft handelt es sich um eine »ethnographisch-semantische Kategorie«, die zum einen deskriptiv erfasst, was die jeweils Handelnden damit bezeichnen; zum anderen in einem weiteren wissenschaftlichen Schritt als eine sozialwissenschaftliche Deutekategorie fungiert, die die jeweiligen subjektiven Selbstkonzeptionen in wissenschaftliche Bezugssysteme, sog. »Konstrukte zweiter Ordnung«, überführt, um sie mit anderen Aspekten der Sozialwelt zu vergleichen.82 Spiritualität ist auch eine religionswissenschaftliche Kategorie und beschreibt darin mittlerweile ein »Weltwort« (Karl Baier), das man in allen Religionen zur Selbstbezeichnung der je eigenen Praxis finden kann. Religionssoziologisch kann der Begriff eine eigenständige Sozialform des Religiösen bezeichnen. Religionsphänomenologisch beschreibt er eine spezifische Art von Erfahrung, die mit Kategorien wie Transzendenz, Selbst, letzte Wirklichkeit, Wert, Grund-Entscheidung usw. in Verbindung gebracht wird. Theologisch bedeutet der Begriff die leibhaftige Teilhabe und Teilnahme am Geist Gottes, die dem Menschen dadurch ermöglicht wird, dass er mit Gott in einer Beziehung steht. Indem er diese Beziehung realisiert – aus christlicher Sicht geschieht dies, indem er sich für eine Nachfolgepraxis »in Christus« entscheidet – kann der Geist Gottes den Menschen durchformen. Spiritualität beschreibt also die Beziehung zu Gott, durch die der ganze Mensch durchformt und verwandelt wird. Damit kommt auch eine normative Dimension ins Spiel, denn wer und wie Gott »ist«, lernt man mit der Bibel. Ausgehend von meiner praktisch-theologischen Interessenslage definiere ich Spiritualität nicht nur eng theologisch, sondern auch sozialwissenschaftlich, um die Gegenwartssituation möglichst breit in den Blick zu bekommen: – Spiritualität beschreibt zum einen die gelebte Religiosität, wobei mit Religiosität jeglicher menschliche Existenzvollzug gemeint ist, der sich auf einen transzendenten und göttlichen Horizont bezieht. – Spiritualität beschreibt alle Formen gelebten Sinnes, womit jene Praxisformen gemeint sind, mittels derer Menschen ihren Lebensweg erfahrungsbezogen, 81 Baier : Spiritualitätsforschung heute (2006) 14. 82 Knoblauch: Soziologie der Spiritualität (2006) 92.

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bewusst und reflektiert in einen umfassenden Deutungshorizont stellen. Dieser muss nicht transzendent oder religiös verstanden werden. So ergeben sich bereits erste Fragen an die kontemplative Schriftauslegung: Von welchem Spiritualitätsverständnis ist sie geleitet? Dient sie der Wahrnehmung, Förderung und Entwicklung sowie Transformation menschlicher Fähigkeit zur Spiritualität auch in einem anthropologischen Sinn? (Wie) nimmt sie die Vielfalt der Spiritualitäten wahr und ernst? b)

Spiritualität als Zeichen einer gesellschaftlichen Transformationskrise

»Spiritualität« ist ein Modewort: In allen gesellschaftlichen Bereichen taucht es seit zwei Jahrzehnten regelmäßig auf. Der diffuse Begriff ist eine Art »Zeugenotion«: d. h. ein Begriff, der »plötzlich« sowohl auf individueller als auch öffentlicher Ebene massenhaft auftaucht, und in dem sich symbolhaft die zeitaktuellen Herausforderungen und Nöte einer Gesellschaft ebenso verdichten wie zugleich eine mögliche Lösung angedeutet wird. Das gehäufte Auftreten des Begriffes »Spiritualität« zeugt davon, dass Menschen die gegenwärtigen gesellschaftlichen Transformationsprozesse krisenhaft erleben und auf der Suche nach Unterstützung, nach Lösungen und alternativen Lebensmöglichkeiten sind: Die rasanten Entwicklungen in Wirtschaft und Politik, die zu einem Umbruch in den Arbeits- und Beziehungswelten führen; die Veränderungen durch neue Technologien und die Bedrohung durch den anthropogenen Klimawandel; der gesellschaftliche und kulturelle Wandel durch die demographische Entwicklung und Migration.83 Diese Entwicklungen lösen bei Vielen auch eine Art »Sinnkrise« – eine »geistige Krise« aus. Traditionelle Deutungs- und Handlungsmuster reichen nicht mehr aus, um die zeitgenössischen Transformationsprozesse und die damit verbundenen Krisenphänomene zu verstehen und angemessen zu handeln. Theorie- und Praxismodelle, die bei der Klärung der Sinnfrage Lösungen unterstützen, werden oftmals als »spirituell« bezeichnet. Indem mit der Kategorie »Spiritualität« ein Begriff aus dem Bedeutungsfeld »Religion« gewählt wird, wird dreierlei ausgedrückt: (1) Die Transformationskrise wird als eine Sinnkrise rund um die »letzten, transzendenten Fragen« erlebt, die angesichts der katastrophischen Begleiterscheinungen der Transformationsprozesse in allen Lebensbereichen verstärkt ins Bewusstsein treten (Ökologiekrise, Armut, Gewalt, etc.). Zur Disposition stehen Sinn und Bedeutung, Grund und Ziel des Lebens. In dieser Hinsicht könnte man auch vom Aufbrechen religiöser Fragen sprechen – vielleicht sogar 83 Eine Beschreibung der gesellschaftlichen Transformationsprozesse findet sich in Polak: Grundlagenfragen und Situierung des Diskurses (2011) 39 – 62.

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der Gottesfrage: denn nicht nur ein Teilaspekt, sondern das Ganze des Lebens wird zur existenziell-erschütternden Frage. Spiritualität kann das Aufbrechen der Sinnfrage bezeichnen – auch, aber nicht zwangsläufig das Aufbrechen religiöser Fragen. (2) Religion, insbesondere in Gestalt der traditionellen Glaubensformen der Kirche, wird als wenig hilfreich erfahren, die anstehenden gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Spiritualität wird als Alternative zu traditioneller Religion verstanden. Religion wird dann dabei nicht ausgeschlossen, wenn sie bei der Lösung der anstehenden Probleme hilft. Spiritualität kann dabei als Quelle für gesellschaftliches Engagement dienen (Ökospiritualität, Diakonie). Sie kann aber gleichfalls instrumentalisiert werden als privater Rückzugsort, um sich den Problemen zumindest zeitweise zu entziehen (Vertröstung). Sie kann zur Legitimierung der Verhältnisse dienen (z. B. Selbstoptimierung durch Spiritualität, um erfolgreicher im Alltag bestehen zu können). (3) Die Transformationskrise ist eine Praxiskrise, d. h. sie besteht in der Frage, wie und angesichts welchen »letzten Sinnhorizontes« man konkret-praktisch leben und handeln kann und soll, um gut zu leben – als Einzelner und in Gesellschaft. Spiritualität bezeichnet dementsprechende Versuche und Erfahrungen – innerhalb und außerhalb der Religion. Die spirituellen Transformationsprozesse reichen also über die Entwicklungen im »religiösen Feld« hinaus und sind in engem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen wahrzunehmen und zu deuten. Dies führt zu einer nächsten Frage: Wie setzt sich die kontemplative Schriftauslegung in Beziehung zu den gesellschaftlichen Transformationsprozessen? Sind sie Thema, wie werden sie interpretiert, welche Rolle spielt bzw. möchte dieses Modell darin spielen? c)

Spiritualität als subjektive Selbstkonzeption: was Menschen suchen und erfahren

Einen ausgezeichneten Einblick in das, was Menschen erfahren, wenn sie mit spirituellen Praxisformen experimentieren – jedweder Herkunft, von der Esoterik über Zen-Meditation bis zu christlicher Kontemplation –, bietet die Ethnologin Ariane Martin. In ihrer Studie arbeitet sie sieben verschiedene Dimensionen zeitgenössischer Spiritualitäten heraus.84 Die Bedürfnisse der Menschen, die dabei erkennbar werden, bilden nicht per se Kriterien, die die kontemplative Schriftauslegung allesamt erfüllen müsste. Kriteriologisch relevant sind sie aber dennoch, da sich in ihnen legitime Sehnsucht und Fragen zum Ausdruck bringen. 84 Martin: Sehnsucht (2005).

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(1) Spiritualitäten, die sich auf eine Reise zu sich selbst, ins Innere des eigenen Selbst machen: Ausgelöst durch ein diffuses Unbehagen sehnen sich Menschen nach innerer Harmonie, Lebensqualität und seelischem Gleichgewicht. Das körperliche und seelische Wohlbefinden stehen dabei im Mittelpunkt. Man sucht nach Möglichkeiten der Entspannung und der Stille, nach Selbstvergewisserung und Lebenssinn, nach Wegen der Kontingenzbewältigung. »Wellness« wird dabei ein zentrales Stichwort. Von Ayurveda-Kuren bis Zen-Meditation wird alles interessant, was bei dieser Selbstfindung hilft. Die Ziele solcher Reisen ins Innere des eigenen Selbst sind materieller Reichtum, aber auch ein Leben in Einfachheit. Man sucht Autonomie, Anerkennung und Erfolg. Mittels der Psycho-Methoden des Positiven Denkens oder der Psychotechnik des Neurolinguistischen Programmierens soll das persönliche Selbst- und Weltbild verbessert werden. Macht und Kontrolle über das eigene Leben sollen wachsen. Andere wiederum wollen ihr Selbst finden, sich in sich selbst verorten. Sie erforschen in Selbsterfahrungsgruppen ihr Inneres und entdecken dabei Elemente des Göttlichen in sich selbst. Kriteriologische Fragen: Inwiefern muss, kann und darf die kontemplative Schriftauslegung dieser Suche nach Selbsterfahrung und Verinnerlichung dienen? Wie grenzt sie sich ab von der Reduktion von Spiritualität auf private Innerlichkeit sowie der Instrumentalisierung von Spiritualität? (2) Spiritualitäten, bei denen die Sehnsucht nach Verzauberung im Mittelpunkt steht: Außergewöhnliches ist attraktiv, man möchte dem Alltag und seiner Routine entkommen und sucht das Magische, Märchenhafte, Staunenswerte auf. Gesucht werden Erfahrungen aus erster Hand. Man will Grenzen überschreiten, sehnt sich nach Wundern, ist von übersinnlichen Phänomenen fasziniert oder will das Leben ästhetisieren. Die Suche nach Abenteuern, intensiven Erlebnissen, die Lust auf Neues und Experimentierfreude sind hier charakteristisch. Schönheit wird ein spiritueller Wert. Kriteriologische Fragen: Darf und wie weit darf die kontemplative Schriftauslegung der Ermöglichung außergewöhnlicher – das Alltägliche transzendierender – Erfahrungen dienen? Wie bewahrt sie Spiritualität vor der Reduktion auf ein »spirituelles« Event? Wie unterstützt sie bei der Unterscheidung zwischen authentischer und manipulierter Transzendenzerfahrung? (3) Die Dimension der Heilung spielt eine zentrale Rolle in vielen Spiritualitäten: Die Erfahrung von körperlicher Krankheit, Leid, unerträglichen Lebenssituationen, geistigem oder seelischem Leid lässt Spiritualität für viele zur Hoffnung werden. Alternative und komplementäre Medizin, Geistheilerei sollen ganzheitliche Gesundheit ermöglichen: körperliche, seelische und geistige Gesundheit. Menschen suchen nach Vollkommenheit, d. h. ein ursprüngliches Heilsein und die Möglichkeit zur Selbstentfaltung der eigenen Potentiale, um zu

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werden, wer man ist. Sie suchen auf verschiedenste Art und Weise nach Unsterblichkeit. Kriteriologische Fragen: Dient die kontemplative Schriftauslegung einer »ganzheitlichen« Heilung von Menschen? Wo sind aber auch die Grenzen der Heilkompetenz? Wie kommt das Leid zur Sprache – und wie wird es interpretiert bzw. mit ihm umgegangen? (4) Spiritualitäten, die nach Festigkeit suchen: Viele spirituell Suchende suchen nach Orientierung, Halt, Gewissheit und Strukturen, die im Leben stützen. Sie suchen und entwickeln ihre persönlichen Rituale oder nehmen an Riten religiöser Traditionen teil. Lebensberatung, Coaching stehen hoch im Kurs, spirituelles Coachen, Ritenberater, aber auch divinatorische Techniken (Astrologie, Kartenlegen) sind gefragt. Man sucht klare Regeln, Verlässlichkeit und Wahrheit, d. h. nach einer Weisheit, die man direkt und authentisch im Herzen erfahren kann. Spirituelle Meister sind als Autoritäten gefragt. Kriteriologische Fragen: Dient die kontemplative Schriftauslegung dieser Suche nach Festigkeit – Orientierung, Halt, Autorität, Regeln und Strukturen? Wie widersteht sie zugleich den Versuch(ung)en, neue Abhängigkeiten und Unfreiheiten zu schaffen – z. B. durch spirituellen Leistungsdruck, durch neue, aber ebenso rigide Regelwerke, durch Missbrauch der Autorität des Exegeten? Dient die kontemplative Schriftauslegung zugleich der Befreiung und verweigert sich den Wünschen von Menschen, ihre Freiheit und die damit verbundene Verantwortung an jemanden anderen abzugeben? (5) Spiritualitäten, in denen Gemeinschaft ein zentrales Thema ist: Menschen suchen hier nach Beziehungen oder Anschluss an eine Gruppe, die von einer »Ethik der Liebe« geprägt sein sollen. Innere Verbundenheit, übereinstimmende Weltanschauungen werden erwartet. Es entstehen spirituelle Freundschaften und spirituelle Netzwerke. Dabei entwickeln sich neue Sozialformen: Events, Szenen, spirituelle Stammtische. Neue Gemeinschaftsprojekte wie »Ökodörfer« entstehen, in denen Menschen miteinander alternative Lebensformen ausprobieren. Solche Projekte scharen sich nicht selten um eine gemeinsame geistige Mitte und spirituelle Gründungsfiguren. Kriteriologische Fragen: Dient die kontemplative Schriftauslegung der Gründung und Entwicklung von Gemeinschaften? Von welcher Qualität sind diese Gemeinschaften? (6) Spiritualitäten, die ins Weite reisen: Hier geht es um Entwicklung, Entfaltung, Dynamik, um sich »in etwas Tieferes, Höheres, Weiteres, Übergeordnetes« einzuordnen. Ausdruck dieser Sehnsucht nach Weite ist das wachsende Pilgerwesen, aber auch der Aufbruch in den Cyberkosmos. Man sucht nach Verwebung und Verortung in transzendenten Sphären, sehnt sich nach Transzendenz- und Einheitserfahrungen, die man mittels Trance, Ekstase oder Me-

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ditation forcieren möchte. Erleuchtung und Erwachen sind angestrebte Ziele, die religiösen Traditionen des Ostens sind hier von besonderem Interesse. Kriteriologische Fragen: Dient die kontemplative Schriftauslegung diesem Aufbruch ins Weite? Eröffnet sie Menschen einen weiteren Horizont – im Wahrnehmen und Denken, in der spirituellen Erfahrung, aber auch im Umgang mit Menschen und der Sorge um die Welt? (7) Schließlich geht es spirituell Suchenden auch um neue Weisen der Welterklärung und des Weltverhältnisses: Es lassen sich weltflüchtige, weltnegierende Spiritualitäten ebenso finden wie retrospektivische oder perspektivische Spiritualitäten. Die einen nützen Spiritualität zum Eskapismus, zur Flucht oder zum Protest gegen eine unmenschliche Welt, andere setzen auf Retro-Romantik und Nostalgie und beschäftigen sich mit Schamanismus, Druidentum, keltischen oder Natur-Religionen. Spiritualität kann sich in der Solidarität mit Mensch und Natur und dem Streben nach neuen gesellschaftlichen Strukturen paaren. Weltverantwortung ist dann die eine Folge spiritueller Sehnsucht. Spiritualität wird zur Wurzel für Demut und Respekt gegenüber der Schöpfung oder die Suche nach einem universalen Weltethos. Visionen einer neuen Welt und eines neuen Menschen werden geboren. Geträumt wird – manchmal mit apokalyptischem Unterton – von einer Welt des Friedens, der Freiheit und der Solidarität. Kriteriologische Fragen: Dient die kontemplative Schriftauslegung der Klärung des Weltverhältnisses der Menschen? Wird dabei der Vielfalt biblischer Erfahrungen Rechnung gezollt, zu denen – selbst in den wenigen apokalyptischen Ansätzen – eine grundsätzliche Wertschätzung der Welt und der Auftrag zur Weltverantwortung gehört?

3.

Merkmale zeitgenössischer Spiritualitäten

Im nächsten Schritt ordne ich die empirisch vorfindbaren Spiritualitäten – außer- wie innerhalb der Kirche – aus einer praktisch-theologischen Perspektive entlang von Merkmalen, die sich in deren Vielfalt als Gemeinsamkeit herauskristallisieren.85 (1) Spiritualität als Ausdruck von und Antwort auf Grenz- und Intensiverfahrungen: Das Aufbrechen des Interesses an Spiritualität ereignet sich oftmals im Kontext menschlicher Grenz- und Intensiverfahrungen: Leid, Krankheit, Tod – Freude, Glück, Liebe sind charakteristische Erfahrungen, in denen Sinnfragen 85 Vgl. dazu Polak: Spiritualität (2008); die Kategorisierungen sind Ergebnis mehrjähriger Forschung am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

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aufbrechen. Diese Sinnfragen haben mitunter religiösen Charakter, sei es, dass Menschen in diesen Situationen die Frage nach Gott explizit stellen oder nach dem Ganzen des Lebens fragen. Aus theologischer Sicht ist dies ein existenzieller Ausdruck der Gottesfrage. Kriteriologische Frage: Dient die kontemplative Schriftauslegung der Thematisierung, Reflexion und »Aufarbeitung« solcher Grenz- und Intensiverfahrungen? (2) Spiritualität als Abgrenzung von religiöser Fremdbestimmung: Das Interesse an religiösen und Sinn-Fragen, die Erfahrungen, die man mit »neuen« Praxisformen gewinnt, werden als »Spiritualität« bezeichnet, um sich von einem spezifischen Verständnis von »Religiosität« abzugrenzen. Das traditionelle Religiositätsverständnis wird als aufgezwungen erfahren oder vorgestellt. Die Bedeutung »religiös« ist dabei länderspezifisch verschieden und kulturell bedingt. In Österreich bedeutet die Selbstbeschreibung »ich bin spirituell, aber nicht religiös« in der Regel »ich bin nicht katholisch«, »ich gehe nicht jeden Sonntag in die Kirche«, »ich verstehe meinen Glauben nicht so, wie ihn mir die katholische Kirche vorschreibt«, »ich lehne dogmatische Vorstellungen ab«. Spiritualität beschreibt hier eine Abgrenzung von Fremdbestimmung in religiösen und SinnFragen. Diese Abgrenzung bezieht sich vor allem auf moralische Vorstellungen, die einem (tatsächlich oder angeblich) von »der Kirche« aufgezwungen werden. Theologisch drückt sich darin die Bestimmung des Menschen zur Freiheit zum Glauben aus.86 Kriteriologische Fragen: Dient die kontemplative Schriftauslegung einer kritischen Auseinandersetzung mit solchen Fremdbestimmungserfahrungen? Ermächtigt sie Menschen zu autonomen – freien, vernünftigen – religiösen und moralischen Entscheidungen? (3) Spiritualität als Wunsch nach Autonomie in religiösen und Sinn-Fragen: Neben der Abgrenzung drückt sich im Wunsch nach bzw. in den Erfahrungen von Spiritualität zugleich der Wunsch nach Autonomie aus. Menschen möchten auch in religiösen und Sinn-Belangen frei und selbstbestimmt wählen. Sie möchten eigenständig urteilen und entscheiden. Sie suchen Transzendenzerfahrungen aus »erster Hand«, möchten selbst Erfahrungen sammeln und sich nicht überreden lassen oder ungeprüft Erfahrungen anderer übernehmen. Insofern Glaube die »Dazwischenkunft einer Entscheidung« (Hermann Stenger) ist, ist dieser Wunsch Ausdruck menschlicher Berufung zur Freiheit. Kriteriologische Fragen: Dient die kontemplative Schriftauslegung diesem 86 In diesem Zusammenhang wäre auch zu fragen, ob die Kirche als Lebensraum erfahrbar werden kann, der mit seinen Erfahrungen und Traditionen einen spirituellen Lernprozess begleiten kann. Die für eine solche Erfahrung nötige Kirchengestalt hier zu reflektieren, führt aber zu weit.

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Wunsch nach Autonomie und Freiheit? Unterstützt und begleitet sie Menschen bei der Entwicklung der Fähigkeiten, die es für eine freie religiöse Entscheidung braucht: Freiheit, Kritikfähigkeit, Vernunft? Kann Kirche als autonomie-fördernder Lebensraum erfahrbar werden? (4) Spiritualität als Wunsch nach »Gefühl«: Im Zentrum der Suche nach Sinn und Religiosität steht bei vielen Menschen der Wunsch nach »Gefühl«: Man möchte religiöse und Sinn-Wahrheiten nicht nur theoretisch erklärt bekommen, sondern sie selbst fühlen und spüren können. In diesem Zusammenhang spricht man zumeist vom Wunsch nach »Erfahrung«. Erfahrung wird dabei aber nicht selten reduziert auf die Dimension der emotionalen Evidenz: Wichtig ist, wie »es« sich anfühlt. Als »wahr« gilt, was sich gut anfühlt und emotional überzeugt. Vernunftgeleitete Reflexion und Interpretation, die ein Ereignis – ein gefühltes Erlebnis – überhaupt erst zur »Erfahrung« werden lassen, werden tendenziell vernachlässigt. Der Frage nach der »Wahrheit«, die sich in diesem Kontext stellen müsste, wird entweder ausgewichen oder sie wird mittels der Evidenz als Beweis behauptet.87 Dahinter verbirgt sich vielfach die Erfahrung, dass Ansprüche auf absolute Wahrheiten konflikt- und gewaltproduktiv sind oder überhaupt eine große Skepsis gegenüber der Möglichkeit von Wahrheitserkenntnis. Theologisch ist der Wunsch nach »Gefühl« ein Ausdruck um das »Wissen« der Menschen, dass der Glaube die ganze Person erfasst, nicht nur ihren Intellekt. Das Vermeiden der Wahrheitsfrage, des Deutens und Argumentierens sind problematisch und aus theologischer Sicht keine gangbaren Wege, können aber auch als Ausdruck von Bescheidenheit wahrgenommen werden.88 Kriteriologische Fragen: Eröffnet die kontemplative Schriftauslegung eine »ganzheitliche« spirituelle Erfahrung, zu der Ereignis und Gefühl, Deutung und Reflexion sowie die Wahrheitsfrage und -suche gehören? (5) Spiritualität als Suche nach alternativem Leben: Spiritualität entsteht im Kontext einer »Krisen-Gesellschaft«. Protest und Distanzierung gelten daher nicht nur traditioneller Religiosität. Sie richten sich auch gegen die traditionellen Sinnvorstellungen einer materialistischen-kapitalistischen Gesellschaft, die mit ihren Fortschrittsvorstellungen an ihre Grenzen stößt und deren Folgen als entmenschlichend erfahren werden. Spiritualität sucht in diesem Kontext nach Lebensalternativen, kann Trost spenden und zum Widerstand motivieren. Sie kann aber auch der Vertröstung dienen, wenn das Leid, insbesondere das 87 Letzteres lässt sich nicht nur in esoterischen, sondern auch in manchen christlichen, missionarischen Gruppen beobachten, die das »lebendige Zeugnis« als »Beleg« für den Glauben für ausreichend erachten und auf Argumentationen verzichten. 88 Das Problemfeld, das sich hier auftut, kann hier nur angedeutet werden: Wie steht es um den Zugang zur Wahrheitsfrage in der europäischen Kultur? Wie kann und muss die Kirche ihren Wahrheitsanspruch reformulieren? Was hat sie selbst zu dieser Situation beigetragen? usw.

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Leid der Anderen, ausgeblendet oder weg-interpretiert wird. Theologisch zeigt sich hier das Potential von Spiritualität, menschliche Lebensverhältnisse zu humanisieren. Zugleich wird auch deren Ambivalenz deutlich, die zur »Religionskritik« verpflichtet. Kriteriologische Fragen: Dient die kontemplative Schriftauslegung der kritischen Wahrnehmung gesellschaftlicher Verhältnisse? Unterstützt sie bei der Entwicklung alternativer Lebensstile? Wie hält sie es mit der Religionskritik? (6) Spiritualität als Ausdruck sozioreligiöser Resignifikationsprozesse: Semantik und Pragmatik der Begriffe Religion, Religiosität, Spiritualität und Sinn befinden sich gesamtgesellschaftlich in gewaltigen Umdeutungsprozessen. Traditionelle Bedeutungen werden kritisiert, revidiert, reformuliert; neue Sprachspiele und Praxisformen entstehen. Hans-Joachim Höhn nennt diesen Prozess »Dispersion«: Religiöses wird liquidiert und deformatiert. Religiöses wird verflüssigt – es wird lebendig, löst sich aber auch auf. Es zeigt sich in neuen Rahmungen und Kontexten. Religiöses taucht in säkularen Zusammenhängen auf, in der Werbung, in der Therapieszene, in der Wirtschaft und Politik.89 Im Begriff Spiritualität verdichten sich diese Reinterpretationsprozesse. Theologisch verweist dieser Prozess auf die Notwendigkeit, dass lebendige Religiosität, lebendiger Glaube ein ständiger Deutungsprozess ist: Jede Generation steht vor der Aufgabe, die Tradition zu verflüssigen und innerhalb ihrer Zeit angemessen zur Sprache zu bringen. Kriteriologische Fragen: Was trägt die kontemplative Bibelauslegung zu diesen Resignifikationsprozessen bei? Wie bringt sie die biblischen Erfahrungen, biblische Traditionen und Theologien in dieses Geschehen ein? Was lernt sie von diesen Prozessen? (7) Säkulare und plurale Spiritualitäten: Zeitgenössische Spiritualitäten (auch die christlichen) bilden sich im Kontext einer säkularen Gesellschaft, sind also von deren Weltanschauungen und Werten geprägt. Dazu gehören u. a. Religionsfreiheit, das Bekenntnis zur Pluralität, das Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten, das naturwissenschaftliche Paradigma u. v. m. Spiritualitäten können daher Elemente aus vielfältigen anderen Weltsichten und -praktiken kombinieren. Spiritualität gibt es deshalb nur im Plural. So lassen sich im spirituellen Feld inner- und außerhalb der Kirche Spiritualitäten finden, die sich mit religionskritischen Motiven verbinden ebenso wie sie Motive und Praktiken anderer religiöser Traditionen aufgreifen. Die einen integrieren naturwissenschaftliche, die anderen philosophische, die dritten religiöse Deutungen. Selbst in ihren konservativen oder fundamentalistischen Spielarten beziehen sich Spiritualitäten auf die säkulare Gesellschaft, indem sie Traditionen für die Gegenwart fruchtbar werden lassen möchten oder eine bestimmte Wahrheit gegen 89 Polak: Megatrend Religion? (2002).

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den »Zeitgeist« absolut setzen. Die Pluralität der Spiritualitäten kann hier nur angedeutet werden. Hier stellt sich die Frage nach einer Theologie der spirituellen Pluralität im Horizont des christlichen Wahrheitsanspruches. Kriteriologische Fragen: Wie bezieht sich die kontemplative Schriftauslegung auf die Weltdeutungen und Werte einer säkularen Gesellschaft? Welche säkularen Dimensionen weist sie selbst auf ? Was trägt sie schließlich bei zur Bildung eines qualifizierten Pluralismus, d. h. einem reflektiertem Verhältnis zur Pluralität der Spiritualitäten im Kontext der Frage nach der Wahrheit?

VII.

Stärken und Schwächen der kontemplativen Schriftauslegung

Aus der Fülle der entwickelten praktisch-theologischen Kriterien wähle ich nun einige aus, um Stärken und Schwächen der kontemplativen Schriftauslegung zu benennen bzw. Rückfragen zu stellen. Dabei versteht sich die vorgelegte Kriteriologie mit der Vielzahl ihrer Fragen als Anregung und Impuls zu einer Weiterentwicklung von Theorie und Praxis und soll die Anschlussfähigkeit an die gegenwärtigen Spiritualitäts-Diskurse in Theologie und Humanwissenschaften unterstützen – ist dieses Modell, insbesondere in den exegetischen Wissenschaften, ja keinesfalls unumstritten. Selbstverständlich kann und muss kein spirituelles Praxis-Modell alle Facetten, die hier zur Sprache gekommen sind, total und perfekt abdecken. Jedes Praxis-Modell hat seine spezifischen Zugänge und Schwerpunktsetzungen. Wer immer alles zugleich abdecken und absichern will, kommt am Ende nirgendwohin. Das ist nicht nur eine pragmatische, das ist auch eine theologische Aussage: Gott verlangt keine perfekten Spiritualitäten, d. h. Beziehungen zu ihm. Gerade weil die besondere Stärke des hier dargestellten Modells darin liegt, das »Herz« des Glaubens zu »beleben« – eine lebendige Gottesbeziehung zu eröffnen – und ich in diesem Konzept ein großes Erneuerungspotential für Pastoral und Theologie wahrnehme, halte ich es zugleich für wichtig, transparent darzustellen und zu klären, wie sich dieses Modell zu den im Theorie-Modell nur implizit oder gar nicht angesprochenen Fragen und Kriterien verhält. So versteht sich meine Kriteriologie nicht primär als Leitfaden für die konkrete Praxis, so als wären diese Fragen dann im Rahmen der Übungen und Auslegungen zu stellen. Die Stärke der Kontemplation liegt ja zunächst in ihrer Befreiung von inhaltlichen Vorgaben, auf das der / die Einzelne seine persönliche Gottesbeziehung wahrnehmen lernen kann. Der Sinn einer solchen Kriteriologie liegt darin, eine Art »Reflexionsfragebogen« zur Verfügung zu stellen, der für die Theoriekonzeption und die praktische Durchführung aus einer Vogel- und Langzeitper-

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spektive eine Art »praktisch-theologischer Qualitätssicherung« unterstützen soll. Ein solches Instrument dient daher nicht primär der Beurteilung, sondern der bewussten und reflektierten Schwerpunktsetzung, Vertiefung und Entwicklung. Die Kriteriologie kann insofern auch für andere spirituelle Praxismodelle verwendet werden. Dem Vorhaben, das Modell Schwienhorst-Schönbergers zu reflektieren, sind außerdem zum gegenwärtigen Stand der Forschung methodische Grenzen gezogen. Die folgende Kritik kann sich derzeit nur auf seine Theorie-Beiträge beziehen. Da die kontemplative Schriftauslegung konstitutiv mit einer spirituellen Praxis verbunden ist, müssten die diesbezüglichen Erfahrungen systematisch in die Stärken- und Schwächen-Analyse mit einbezogen werden. Weil es dazu derzeit noch keine empirische Forschung gibt, können insbesondere die praktisch-theologischen Rückfragen aus religionssoziologischer Perspektive nicht seriös beantwortet werden. Sie stehen aber für weitergehende Forschung zur Verfügung. Eine umfassende praktisch-theologische Analyse und Kritik verlangt nach empirischen Studien, die den spirituellen Prozess und die dabei erschlossenen Erfahrungen der InterpretInnen bzw. jener Menschen berücksichtigen, die sich auf ein solches Modell90 einlassen. Solche empirischen Untersuchungen sind erst im Entstehen: Interviews mit Personen, die über ihre Erfahrungen und Erkenntnisse erzählen, teilnehmende Beobachtung an Kontemplationskursen und der dabei praktizierten Schriftauslegung, Langzeitstudien mit Menschen, die an solchen Prozessen teilnehmen. Nur eine Zusammenschau von Theorie und Praxis kann dem Anliegen dieses Models gerecht werden. In diesem Beitrag kann ich daher nur die theoretischen Beiträge mit meinen Kriterien in ein Gespräch bringen. Diese Texte wiederum sind geronnene abstrahierte Erfahrung des Autors und beschreiben die von ihm in PraxisErfahrung gewonnenen Ergebnisse und Erkenntnisse. Diese implizit zugrundeliegenden Praxis-Erfahrungen wären ebenfalls explizit zu machen, um bestimmte Formulierungen angemessener zu verstehen, z. B. Kategorien wie Gottes-Schau, Innerlichkeit, Bewusstseinsweitung. In diesem Sinne sind die folgenden Überlegungen ein erster Versuch.

90 Im Umfeld dieses Modells werden regelmäßig Kontemplationskurse angeboten.

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1.

Stärken und Schwächen anhand praktisch-theologischer Kriterien aus bibeltheologischer Perspektive

a)

Beziehungshermeneutik

Die große Stärke der kontemplativen Schriftauslegung besteht im Wiedergewinnen eines beziehungshermeneutischen Zugangs zur Schrift: insbesondere das Anliegen, Menschen einen Weg zu einer lebendigen Gottesbeziehung zu eröffnen, ist hervorzuheben. Indem dieses Modell »Gottes-Schau« ermöglichen möchte, wird damit die spirituelle, näherhin mystische Tradition des Christentums wieder in Erinnerung gerufen – und damit Mystik als mögliche Erfahrung auch in der Gegenwart erkennbar. Die hier beschriebene praktischtheologische Bibelhermeneutik – eine Beziehungs-Hermeneutik – teilt diese Anliegen: Die Beziehung Gott – Mensch soll durch die Lektüre der Heiligen Schrift eröffnet, erschlossen, gestärkt und gefördert werden. Die dabei erfahrbare Beziehungs-Einheit kann und soll sich als Spiritualität zeigen. Die kontemplative Schriftauslegung ist ein unverzichtbarer Beitrag zum Wecken, Wiedergewinnen, Weiterentwickeln der christlichen Spiritualität sowie eine Erinnerung daran, dass mystische Erfahrungen auch in der Gegenwart möglich sind. Demgegenüber kommt die Beziehung zu anderen Menschen in den TheorieBeiträgen so gut wie nie zu Wort. Wie sich die »Gottes-Schau« auf die zwischenmenschlichen Beziehungen auswirkt und diese verändert, ist – mit Ausnahme des Ijob-Buches – kein Thema. Desgleichen kommen auch die je spezifischen Lebenssituationen von Menschen und gegenwärtigen Gesellschaftsbedingungen kaum zu Wort (außer bei der Zeitdiagnose). Den Theoriebeiträgen eignet eine gewisse Beziehungs- und Weltlosigkeit. Woran liegt das? Wo und wie kommen die anderen Menschen in der kontemplativen Schriftauslegung vor? Womit lässt sich diese Schwäche begründen? In den Beiträgen scheint diese Art der Exegese ein intimes Gespräch zwischen einem Einzelnen und Gott zu eröffnen. Dies ist Stärke und Schwäche zugleich: Denn die Stärkung der persönlichen Gottesbeziehung ist theologisch und auch angesichts der Zeit-Diagnosen notwendig. Zugleich aber stellt sich die Frage nach der Bedeutung anderer Menschen. Das konkrete Leben in zwischenmenschlicher Beziehung ist seltsamerweise kaum Thema. So bleibt denn auch unklar, welche Bedeutung dieses Modell für eine Gemeinschaft, die Gesellschaft und die Kirche hat. Stärke und Schwäche des Modells sind die Fokussierung auf die individuelle Gottesbeziehung. Ethische und politische Fragen sind ausgeblendet. Woran liegt das? Von welchen impliziten Voraussetzungen geht das Modell in diesen Fragen aus?

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Optionale Kriterien

(1) Metanoia: Die kontemplative Schriftauslegung dient eindrücklich der Metanoia – insbesondere was die Dimension einer veränderten Wirklichkeitswahrnehmung (»Bewusstseinsveränderung«) und die Sensibilisierung für die göttliche Dimension der Wirklichkeit betrifft. Was die Auswirkungen dieser Bewusstseinsveränderungen auf das menschliche Handeln betrifft, bleibt allerdings verborgen. Menschliches Handeln wird nicht besprochen. Diese Schwäche irritiert – denn zugleich zeigen die Texte das Wissen um die Phasen und Krisen eines geistigen Wachstums- und Reifungsprozesses. Aber wie sich dieser auf das Leben und zwischenmenschliche Beziehungen auswirkt, lässt sich den Texten, die ich rezipiert habe, kaum entnehmen.91 (2) Liebe und Gerechtigkeit: Das Fehlen der »Anderen« in den Theoriebeiträgen wird auch deutlich, wenn man nach der Befreiung zu Liebe und Gerechtigkeit fragt. Beide Begriffe habe ich in den Theorie-Beiträgen zur kontemplativen Schriftauslegung nicht gefunden. Dies ist eine befremdliche Leerstelle. Worauf ist sie zurückzuführen? Die kontemplative Schriftauslegung zielt stark auf das »Sein« des Menschen, insofern er die untrennbare Beziehung mit Gott wieder wahrnehmen lernen soll. Wie verhält sich die Gottes-Schau zur Gottes-Liebe und zur Menschen-Liebe? Wie führt das Sein zum Sollen, auf das Schwienhorst-Schönberger immer wieder verweist? Führt die Konzentration auf die mystische Erfahrung zu dieser Reduktion? Und steht eine solche mystische Erfahrung dann noch in biblischer Tradition? Eng verbunden mit der Frage nach Befreiung zu Liebe und Gerechtigkeit ist die Frage nach der Geschichte: Sie ist der Ort, an dem jene in konkretem Handeln erfahrbar werden – oder auch nicht. Das Anliegen, nach dem inneren Sinn der Geschichte zu fragen, enthält eine berechtige Kritik am historistischen Positivismus. Aber ist die Geschichte tatsächlich nur »Außenseite«? Was bedeutet eine solche Aussage für die Wahrnehmung der Gegenwart – für die Wahrnehmung einer konkreten Lebensgeschichte eines Menschen? Schlüsse, die aus solchen Formulierungen gezogen werden können, sind theologisch nach Auschwitz nicht möglich: Konkrete Biographien oder geschichtliche Ereignisse zu Außenphänomenen abzuwerten, deren »eigentlichen« Sinn man dann sucht. In der Geschichte selbst ereignet sich Gott. Gotteserfahrung und -verlust sind eng und untrennbar mit historischen Erfahrungen verbunden. Diese sind daher nicht beliebig abstrahierbar oder zeitlos verallgemeinerbar – außer um den Preis der Ignoranz von konkretem Leben. Auch das zeitübergreifend Wahre der biblischen Botschaft enthüllt sich immer nur in konkreter Geschichte. Inkarnationstheologisch sind an dieses Geschichtsverständnis ebenso kritische Rück91 Ausnahme auch hier das Ijob-Buch.

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fragen zu stellen. Praktisch-theologisch ist die Frage nach dem Stellenwert von Geschichte in diesem Modell brisant, weil sich daraus Konsequenzen für die Gegenwartsbeziehung ergeben. Von daher ist die historisch-kritische Exegese wohl nicht nur eine Vorübung, ehe man dann zum »Eigentlichen« kommt. Schwienhorst-Schönberger verweist darauf, dass die exegetische Kunst darin besteht, in den historischen Ergebnissen deren spirituelle Dimension zu erschließen. Aber wie kann das so geschehen, dass die konkreten Ereignisse nicht zum Fall eines Allgemeinen werden? So ist z. B. die Exoduserfahrung der Israeliten aus ägyptischer Sklaverei nicht ohne weiteres zu spiritualisieren auf individuelle Befreiungsprozesse und ihrer politischen Dimension zu berauben. Ebensowenig können die konkreten Exilserfahrungen ignoriert werden, die im Hintergrund vieler alttestamentlicher Texte stehen, wenn weiße, reiche, bürgerliche Menschen mit festem Wohnsitz diese Texte auf ihre Situation übertragen.92 Die Bedeutung konkreter Geschichte und Gegenwart im Kontext kontemplativer Schriftauslegung genauer zu entfalten ist eine wichtige Aufgabe. Denn hier geht es auch um die Bedeutung der Menschen. (3) Gottesmysterium: Eine weitere große Stärke der kontemplativen Schriftauslegung besteht in der Sensibilisierung und Einführung in das Gottesmysterium. Mit paradoxen Begriffen wie der »bildlosen Schau«, dem »verborgenen Sinn«, der Beschreibung spiritueller Reifungsprozesse – vom Gottesverlust bis zur Gottesschau – aktualisiert das Exegese-Modell vergessene mystische Traditionen des Christentums. Dies ist ein wesentlicher Beitrag zur Integration von Theologie und Spiritualität, deren Spaltung auch aus praktischtheologischer Sicht ein Problem darstellt.93 Angesichts des wenig erfahrungsgesättigten Glaubens, der Gottes-Krise und traditionalistisch erstarrter Gottesbilder kann das Anliegen, die Gottesbeziehung zu verflüssigen nicht hoch genug eingeschätzt werden. Zudem sind die Negativ-Erfahrungen der mystischen Theologie anschlussfähig an zeitgenössische Erfahrungen des GottesVerlustes. Ob und wie dabei freilich die zeitgenössischen Ursachen solchen Gottesverlustes – die ja andere sind als die zur Zeit eines Meister Eckhart – 92 Ottmar Fuchs nennt dies die situative Analogie: Bei der Auslegung sind die konkreten Lebens- und Gesellschaftsbedingungen der Texte und der RezipientInnen in ein kritisches Verhältnis zu bringen. Derselbe Text hat an Reiche andere Botschaften als an Arme. 93 Die Theologie im deutschsprachigen Raum ist zwischenzeitlich so hoch ausdifferenziert in Teildisziplinen, dass die Einheit der Theologie dabei mitunter ebenso bedroht ist wie ihre spirituelle Dimension unsichtbar ist. Der (theologische) Anspruch und die Herausforderung, sich im wissenschaftlichen Gespräch mit anderen Disziplinen zu bewähren, führt bisweilen dazu, die spirituelle Erfahrungsdimension, die allen theologischen Disziplinen zugrundeliegt, nicht ausreichend explizit zu machen. So klagen nicht wenige pastoral Verantwortliche und Studierende über mangelnden Erfahrungs-, Lebens- und Gegenwartsbezug der Theologie, der sich auch in einer spirituellen Schwäche manifestiert.

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einbezogen werden, ist unklar. Eine allzu rasche Identifikation mystischer Erfahrungen von Vergangenheit und Gegenwart scheint jedenfalls problematisch. Ungeachtet dessen ist die kontemplative Schriftauslegung ein wesentlicher Beitrag zur Förderung des Vertrauens in das Gottesmysterium, da sie auch schwierigen Erfahrungen nicht ausweicht. c)

Begriffliche Unklarheiten

Schwierigkeiten und offene Fragen ergeben sich angesichts einzelner Begriffsverständnisse. (1) Der Erfahrungsbegriff: Schwienhorst-Schönberger relativiert ihn durchaus selbstkritisch. Dennoch ist seine Einschränkung von spiritueller Erfahrung auf »außergewöhnliche«, »den Alltag überschreitende und durchbrechende Erfahrungen«, auf spirituelle »Gipfelerfahrungen« zu hinterfragen. Mitunter entsteht der Eindruck, ein echter, vollwertiger Christ könne man nur werden, wenn man eine solche Erfahrung gemacht habe. Alle anderen Erfahrungen sind bloße »Vorstufe«. Dies kann den Eindruck der Machbarkeit solcher Erfahrungen (und sodann große Enttäuschung, wenn sie ausbleibt) ebenso wecken wie einen spirituellen Leistungsdruck. Das ist aus biblischer Sicht problematisch. Zum einen sind »Gipfelerfahrungen« ein Gnadengeschenk, sie sind nicht machbar, sie werden von Gott eröffnet. Daher sind sie auch nicht Bedingung der Möglichkeit, zu Gott eine Beziehung zu haben. Teresa von Avila warnt z. B. sogar vor solchen Erfahrungen, weil sie bloße Täuschungen sein können und besonders aufmerksamer Kritik bedürfen. Zum anderen sind aus biblischer Sicht die entscheidenden Kriterien der Gottesbeziehung »glauben, hoffen, lieben« (1 Kor 13). Dies sind Beziehungsvokabel, die sich mit einer Gottes-Schau verbinden können, aber nicht müssen – so schmerzhaft es sein mag, wenn sich aus unterschiedlichsten Gründen das Bewusstsein ein Leben lang einer solchen mystischen Erfahrung verschließt. Entscheidend ist, dass man in der GottesBeziehung bleiben kann. »Christliche Spiritualität geht zu Fuß«,94 sie muss nicht auf außergewöhnliche Erfahrungen begründen. Die Erfahrungen mit Gott können langsam wachsen. (2) Beschreibung der Erfahrung als »Gottes-Schau«: Die Beziehung zu Gott kann sich mit einer Vielfalt an Erfahrungen verbinden. Wie in Liebesbeziehungen gibt es hier unterschiedliche Formen und Intensitäten. Die mystische Erfahrung der Gottes-Schau ist nur eine davon – und auch diese gibt es in pluraler Form. In den Texten wird sie als eine Art innerer Erfahrung beschrieben, die aber nicht näher ausgeführt wird. Aber auch »innere Erfahrungen« sind 94 So hat das Josef Weismayer, emer. Professor für Dogmatik an der Universität Wien, formuliert.

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vielgestaltig – sie können geistig, emotional, physisch sein. Sie lassen sich in Bildern beschreiben, Schwienhorst-Schönberger verwendet oft das Bild der »Quelle«. Welche Formen gibt es noch? In den Beiträgen von SchwienhorstSchönberger wird die Pluralität immer wieder betont; zugleich wird die beschriebene Erfahrung aber relativ monochrom beschrieben. Liegt das an der Auswahl der Referenz-Traditionen (Kirchenväter, klassische Mystik)? (3) »Glauben«: Der Begriff »glauben« wird diffus verwendet und erscheint gegenüber dem »schauen« als defizitär. Liegt dies daran, dass SchwienhorstSchönberger mit »glauben« eine bestimmte erstarrte, ritualisierte und erfahrungsdürre Form des Glaubens an Gott beschreibt, die er überwinden möchte? Glauben ist im biblischen Sinn aber durchaus ein erfahrungsnahes, weil Beziehungsvokabel. Ist das »Schauen« nicht auch eine Art des »Glaubens«? Ist »Glauben« im Sinne einer Beziehung nicht die Bedingung der Möglichkeit für geschenktes Schauen-Dürfen? Dies ist nicht ganz klar ausgeführt. (4) »Alltag«: Der Alltag erscheint in den Texten zum einen sehr unkonkret, zum anderen als »auf gegenständliche Wahrnehmung fixiert«. Dies ist eine das Modell schwächende Einschränkung. Wie steht es um die theologische Dignität des Alltags und seine Rolle als locus theologicus? Wie steht es um die Möglichkeit der Gotteserfahrung inmitten des Alltags? »Inmitten der Töpfe ist der Herr zugegen«95, darauf hat schon Teresa von Avila verwiesen. So erweckt die Beschreibung der Erfahrungsmöglichkeit durch kontemplative Schriftauslegung manchmal den Eindruck, sie sei elitär – insofern sie sich über die Niederungen des Alltags erhebt. Eliten-Erfahrungen haben durchaus ihren Wert und können für breite gesellschaftliche Bewusstseinsveränderungen relevant werden. Entscheidend ist die Frage, wozu sie dienen und in welches Verhältnis sie sich zum »Normalen«, zum »Alltag« stellen. (5) »Spiritualität«: Schwierig ist auch die Gleichsetzung der Begriffe Spiritualität und Mystik. Dies erscheint mir als eine nicht ganz legitime Einengung, denn Spiritualität – ein geistliches Leben – ist auch ohne mystische Erfahrungen möglich. Zudem habe ich auf die Pluralität des Spiritualitätsbegriffes ausführlich verwiesen. So wünschenswert es ist, allen Menschen einen Zugang zu mystischer Tiefenerfahrung zu eröffnen – es sind diesem Anliegen von Gott und Mensch her Grenzen gesetzt. Mystische Erfahrung lässt sich nicht produzieren. Auf menschlicher Seite kann es psychische, intellektuelle, körperliche Einschränkungen geben, die den Sensor für solche Erfahrungen schwächen. (6) Kriteriologie: Die Texte zur kontemplativen Schriftauslegung erzählen von einem Gott, der sich offenbart und verbirgt zugleich. Sie betonen auch, dass man Gott genaugenommen nicht erfahren kann – wohl aber »schauen« im Sinne einer inneren Begegnung. Allerdings bleibt uns Schwienhorst-Schönberger in 95 Teresa von Avila: »Ich bin ein Weib« (1998) 96.

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den Texten die Kriterien schuldig, die zu unterscheiden helfen, ob es sich bei der Gottes-Schau um Gott oder um selbstgemachte Gottesbilder handelt.

2.

Stärken und Schwächen anhand praktisch-theologischer Kriterien aus religionssoziologischer Perspektive

Diese kriteriologischen Rückfragen können mangels empirischer Studien nicht angemessen beantwortet werden. Die Theorie-Beiträge wiederum bieten zu wenig Material und lassen den Gegenwartsbezug nur fallweise und zu abstrakt erkennen, um hier seriös analysieren zu können. Daher können hier nur einige wenige vorsichtige Beobachtungen formuliert werden. (1) Zeitdiagnose: In Bezug auf die Zeitdiagnose dieses Modells zeigen sich zahlreiche Überschneidungen mit dem praktisch-theologischen Befund. Die kontemplative Schriftauslegung reagiert ohne Zweifel auf die sozioreligiösen Transformationsprozesse. Darin besteht ihre Stärke. Schwienhorst-Schönberger nimmt die große Sehnsucht nach lebendiger, authentischer, unmittelbarer, lebensrelevanter Gottesbeziehung innerhalb und außerhalb der Kirche wahr. Zudem sieht er in den sozioreligiösen Entwicklungen nicht nur Defizite (»Die Leute verlieren den Glauben«), sondern erkennt das Entwicklungspotential von Glaubenskrisen. Kritisch benennt er auch die kirchlich selbstgemachten Ursachen, die Erstarrung traditioneller Formen und eine spirituell geschwächte Kirche. Er möchte den Glauben verlebendigen. In der Theologie ist eine solche Perspektive alles andere als die Regel. Gleichwohl lässt sich sein Befund nicht auf Gesellschaft, Kirche und Pastoral als ganze beziehen. Schwienhorst-Schönberger beschreibt bestimmte Teilbereiche des sozioreligiösen und pastoralen Feldes. Denn mittlerweile gibt es bereits zahlreiche Orden, geistliche Bewegungen und Gemeinschaften und auch Gemeinden, die sich auf einen spirituellen Weg gemacht haben und durchaus auch auf biblischer Basis die christliche Spiritualität vertiefen und weiterentwickeln bzw. revitalisieren. Desgleichen ermöglichen auch andere exegetische Methoden die Förderung eines spirituellen Zugangs zur Schrift, vielleicht weniger explizit und mit keinem mystischen Zugang, aber durchaus erfahrungsorientiert und die Gottes-Beziehung stärkend. Auch die Heterogenität der spirituellen Transformationsprozesse, deren Vielfalt an Formen, Wünschen, Sehnsüchten, Merkmalen ist in den Texten nicht präsent und wirft die Frage auf: Ist in diesem Modell Platz für diese Vielfalt? Wird sie wahrgenommen? Wie wird auf sie reagiert? Kann die Bibelexegese auch von den spirituellen Erfahrungen der Menschen etwas lernen? Für jenen Teilbereich des spirituellen Feldes innerund außerhalb der Kirche, das den Praxiserfahrungshintergrund SchwienhorstSchönbergers bildet, ist dieses Modell hoch anschlussfähig. Freilich wäre in-

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teressant zu wissen, welche sozialen Schichten bzw. Milieus hier primär anzutreffen sind. (2) Erfahrungsnahe, aber unkonkret: Die kontemplative Schriftauslegung reagiert auf den Bedarf nach erfahrungsgesättigtem Gottesglauben. Die Texte lassen zahlreiche Anknüpfungspunkte der kontemplativen Schriftauslegung an Anliegen zeitgenössischer Spiritualität vermuten: Die Sehnsucht nach Verinnerlichung, nach außergewöhnlichen Erfahrungen, Heilung, Festigkeit, Horizontweitung (vgl. VI.2) – auf sie kann dieses Modell reagieren. Unklarer wird es bereits bei der Frage nach der Gemeinschaft, dem Weltverhältnis, den alternativen Lebensstilen: Worin besteht hier der Beitrag der kontemplativen Schriftauslegung? Diese Fragen und die Fragen nach der Reaktion auf die spezifischen Merkmale zeitgenössischer Spiritualitäten (vgl. VI.3) – lassen sich anhand der Theorie nicht beantworten. Das gilt ebenso für die Frage danach, wie denn ein solcher Auslegungsprozess konkret aussieht. Dies bleibt vorläufig unkonkret. Eine Klärung dieser Fragen verlangt nicht nur nach empirischer Forschung, sondern auch nach einer Theorie-Darstellung der kontemplativen Schriftauslegung, die die Praxiserfahrungen mit diesem Modell explizit benennt und systematisch integriert. (3) Insbesondere die religionssoziologischen Kriterien werfen die Frage nach dem »Wie?« auf: Wie findet ein solcher Auslegungsprozess konkret statt? Wie kann und muss er gestaltet werden, damit die Sehnsüchte, Erfahrungen, Fragen der Menschen wahr- und ernstgenommen werden können? Wie kann ein solcher Auslegungsprozess die Realität der Menschen mit der Realität der Bibel verbinden, ohne einer der beiden auszuweichen? Damit stellen sich auch religionspädagogische und katechetische Fragen: Wie können und müssen im Rahmen der kontemplativen Schriftauslegung Erfahrungs-, Reflexions-, Klärungsund Bildungsprozesse gestaltet sein? Wie lernt man z. B. Gott-Schauen, GottErfahren oder Argumentations- und Pluralitätskompetenz? Bibelkenntnisse und mystische Erfahrung via Kontemplation allein sichern die diesbezügliche Qualität wohl nicht und ersetzen keine diesbezüglich reflektierte »Vermittlungstheorie und -kompetenz«. Angesichts der Vielfalt – und wohl auch Komplexität bzw. existenziellen Schwere – der Erfahrungen und Fragen, die im Prozess einer kontemplativen Schriftauslegung zur Sprache kommen können, verbindet sich das Modell der kontemplativen Schriftauslegung auch mit hoher Verantwortung gegenüber jenen, die sich darauf einlassen. Gerade aufgrund des existenziellen und ganzheitlichen Anspruchs dieses Modells ergänze ich hier eine weitere Frage: Verfügen die Personen, die eine solche kontemplative Bibelauslegung leiten, über angemessene psychologische, religionspädagogische und katechetische Kompetenzen?

202 3.

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Aus praktisch-theologischer Perspektive sind sowohl das theologische als auch das pastorale und katechetische Anliegen und Ziel der kontemplativen Schriftauslegung zu unterstützen. Die Suche nach einer lebendigen Spiritualität im Sinne einer Gottes-Beziehung – innerhalb wie außerhalb der Kirche – ist eine wichtige praktisch- und pastoraltheologische Frage. Die Bibel als gegenwartsrelevantes Offenbarungszeugnis zu verstehen, das auch Menschen heute in den Raum der Gottesbeziehung hineinführen kann und will, kann ich uneingeschränkt teilen. Es geht in diesem Modell um einen lebendigen Zugang nicht nur zur Schrift, sondern zu dem, was diese eröffnen möchte und kann: eine lebendige Gottesbeziehung. Die Sensibilität für die transzendente Dimension der Wirklichkeit, die Schulung der Wahrnehmung der Gottespräsenz sind genuine Anliegen einer praktisch-theologischen Kairologie. Ebenso erfreulich ist die Betonung der Inspiration des zeitgenössischen Lesers der Schrift: den Glaubenssinn der Menschen heute ernst zu nehmen, d. h. deren Fähigkeit, die Offenbarung Gottes auch heute wahrnehmen und verstehen zu können, gehört zum praktisch-theologischen Grundbestand. Insofern ist dieses Exegese-Modell ein wichtiger Beitrag für die Entwicklung einer lebendigen Spiritualität. Aus praktisch-theologischer Sicht bedarf es dazu freilich noch der Klärung einiger wichtiger Aspekte: Dazu gehören die Frage nach der Beziehung zu anderen Menschen und zur Welt, zu Gesellschaft und Geschichte. Auch die methodischen Dimensionen sind noch genauer zu erforschen. Aus meiner Sicht ist eine Spiritualität nur dann lebendig, wenn auch die horizontale Dimension in ihrer theologischen Würde wahrgenommen werden kann. Wenn die kontemplative Schriftauslegung im Verein mit der Gottes-Schau dazu dient, lebendige Menschen-Beziehungen zu fördern, zu Liebe und Gerechtigkeit im Handeln befreit und auch lehrt, in der konkreten Geschichte und Gegenwart Gott zu schauen und dementsprechend zu handeln, ist sie ein unverzichtbarer Beitrag für die spirituellen Transformationsprozesse in Gesellschaft und Kirche. Dann kann sie der Kirche dabei helfen, ihr Wesen zu verwirklichen (vgl. LG 1).

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Dies. (Hg.): Zukunft.Werte.Europa. Die Europäische Wertestudie 1990 – 2010: Österreich im Vergleich, Wien 2011. Polak, Regina / Schachinger, Christoph: Stabil in Veränderung: Konfessionsnahe Religiosität in Europa, in: Polak, Regina (Hg.): Zukunft.Werte.Europa. Die Europäische Wertestudie 1990 – 2010: Österreich im Vergleich, Wien 2011, 191 – 222. Rahner, Karl: Strukturwandel der Kirche als Chance und Aufgabe. Neuausgabe mit einer Einführung von J. B. Metz, Freiburg im Breisgau 1989 (1972). Sander, Hans-Joachim: Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, in: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, hg. von Peter Hünermann und Bernd-Jochen Hilberath, Bd. 4, Freiburg im Breisgau 2005, 581 – 886. Schwienhorst-Schönberger, Ludger : Biblische Spiritualität – ihre Bedeutung für den Religionsunterricht. Zwanzig Thesen zur Diskussion. Religionspädagogische Tagung in Bozen 10. 12. 2010, Wien 2011, unveröff. Manuskript. Ders.: Der offenkundige und der verborgene Sinn, in: Katechetische Blätter 135 (2/2010) 86 – 91. Ders.: Die Einheit der Schrift ist ihr geistiger Sinn, in: Bibel und Kirche 63 (3/2008) 179 – 183. Ders.: Ein Weg durch das Leid: Das Buch Ijob, Freiburg i. Br. 2007. Ders.: Erleuchtungserfahrung und Schriftverständnis, in: Lengsfeld, Peter (Hg.): Mystik – Spiritualität der Zukunft. Erfahrung des Ewigen. FS P. Willigis Jäger OSB zum 80. Geburtstag, Freiburg 2005, 251 – 264. Ders.: Kontemplatives Schriftverständnis – Zur Wechselbeziehung von kontemplativer Übung und Schriftverständnis, in: Studies in Spirituality 17 (2007) 115 – 125. Ders.: Theologie und Mystik – eine Integrationsaufgabe: Mystik und Theologie 2 (2001) 20 – 25. Ders.: Vom Glauben zum Schauen. Der Weg Ijobs, in: Pröpper, Thomas / Raske, Michael / Werbick, Jürgen (Hg.): Mystik – Herausforderung und Inspiration. FS Gotthard Fuchs zum 70. Geburtstag, Ostfildern 2008, 150 – 159. Ders.: Was heißt heute, die Bibel sei inspiriertes Wort Gottes?, in: Söding, Thomas (Hg.): Geist in Buchstaben? Neue Ansätze in der Exegese (Quaestiones Disputatae 225), Freiburg im Breisgau 2007, 35 – 50. Zulehner, Paul: Verbuntung. Kirchen im weltanschaulichen Pluralismus. Religion im Leben der Menschen 1970 – 2010, Ostfildern 2011. Zulehner, Paul M. / Polak, Regina: Von der »Wiederkehr der Religion« zur fragilen Pluralität, in: Friesl, Christian / Polak, Regina / Hamachers-Zuba, Ursula: Die Österreicher/-innen. Wertewandel 1990 – 2008, Wien 2009, 143 – 206.

Internetquelle: Projekt Eurotopia, Stand 04. 08. 2011, URL: http://www.eurotopia.de/.

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Kontemplation und Schriftauslegung. Zu einigen Anfragen von Regina Polak

Zu Recht stellt Regina Polak fest, dass sich die kontemplative Schriftauslegung sowohl der kirchlichen Tradition als auch den »Zeichen der Zeit« verpflichtet weiß (143). Sie hat aber auch einige kritische Fragen gestellt, auf die ich in diesem Beitrag eingehen möchte.

Erfahrung Regina Polak hat richtig gesehen, dass der Begriff der Erfahrung in meiner Darlegung des kontemplativen Weges und einer damit einhergehenden Schriftauslegung eine wichtige Rolle spielt. Zwar sei durchaus erkennbar, dass ich den Erfahrungsbegriff kritisch verwende, dennoch sei meine »Einschränkung von spiritueller Erfahrung auf ›außergewöhnliche‹, ›den Alltag überschreitende und durchbrechende Erfahrungen‹, auf spirituelle ›Gipfelerfahrungen‹ zu hinterfragen.« »Mitunter entsteht der Eindruck, ein echter, vollwertiger Christ könne man nur werden, wenn man solche Erfahrungen gemacht habe« (198). Ich stimme Regina Polak insofern zu, als ich vor allem in meinen frühen Veröffentlichungen zur Thematik die Rolle der Erfahrung stark akzentuiert habe, und zwar oft im Sinne einer »Durchbruchs- oder Gipfelerfahrung«. Auch der Begriff »Erleuchtungserfahrung« wird verwendet.1 Allerdings habe ich bei der Beschreibung derartiger Erfahrungen sehr wohl darauf hingewiesen, dass es nicht um Erfahrungen geht, die das empirische Ich »macht«, sondern um Erfahrungen, bei denen das empirische Ich auf das zugrunde liegende wahre Selbst hin aufgebrochen und für die göttliche Wirklichkeit hin geöffnet wird. Solche Erfahrungen gibt es. Sie ereignen sich spontan und treten auch bei Menschen auf, die keine spirituelle Praxis aufzuweisen haben. Dabei ist zweierlei zu beachten. Zum einen kommt es darauf an, diese Er1 So in meinem Aufsatz Schwienhorst-Schönberger: Erleuchtungserfahrung und Schriftverständnis (2005).

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fahrungen als solche zu erkennen. Hier liegt in der Seelsorge meinem Eindruck nach einiges im Argen. Ich habe einige Male erlebt, dass Menschen, die sich mit derartigen Erfahrungen an Seelsorger gewandt haben, auf Unverständnis gestoßen sind. Von Seelsorgerinnen und Seelsorgern, insbesondere auch von Priestern sollte man jedoch erwarten dürfen, dass sie allein schon aufgrund der Kenntnis der biblischen und christlichen Tradition um derartige Phänomene wissen und sie zumindest anfänglich richtig einschätzen können. Es geht nicht darum, dass jeder Seelsorger in der Lage sein sollte, Menschen mit derartigen Erfahrungen zu begleiten. Wenn sie jedoch mit Unkenntnis oder Unverständnis auf Phänomene reagieren, die ein Indikator dafür sind, dass bei einem Menschen eine neue und entscheidende Etappe des Glaubensweges beginnt, werden sie dem, was man von Seelsorgern erwarten darf, nicht gerecht. Johannes vom Kreuz beklagt: »Es ist schade, viele Menschen zu sehen, denen Gott Talent und Gnade gegeben hat um weiterzukommen«, die aber niemanden finden, der sie »einweist und unterrichtet«. Oft werden Menschen von Gott auf den erhabenen Weg der Kontemplation geführt, doch es fehlt »ihnen an geeigneten und wachen Führern«. »Manche Seelenführer behindern solche Menschen eher und schaden ihnen mehr als dass sie ihnen auf ihrem Weg helfen, weil sie von diesen Wegen weder Licht noch Erfahrung haben […] Darum ist es hart und mühsam, wenn ein Mensch in solchen Zeiten sich selbst nicht versteht noch jemanden findet, der ihn versteht.«2 Teresa von Avila nennt es eine Qual, »auf einen Beichtvater zu treffen, der so verständnisvoll [wohl ironisch gemeint] und erfahrungsarm (poco experimentado) ist, dass es nichts gibt, was er für sicher hält: Alles befürchtet er und alles bezweifelt er, sobald er nicht alltägliche Dinge wahrnimmt.«3 Zwar kommen derartige Gipfelerfahrungen selten vor. Bei etwa ein bis zwei Prozent der Teilnehmer von Kontemplationskursen ist das meinem Eindruck nach der Fall. Aber es gibt sie, und sie sollten ernst genommen werden. »Echte Wesenserfahrungen treten auf sowohl im Gefolge von Leidenserfahrungen, in denen die Seele durch die dunklen Tore der großen Ungewissheit und Angst, der Empörung und Verzweiflung, der Einsamkeit und Leere zu schreiten hat. Es gibt sie aber auch in uns plötzlich ergreifenden Wellen des Glücks, der Stille, des Lichtes und der Wärme, wo das Alltägliche selbst sich zum Wunder verwandelt.«4 Es kommt nun darauf an, derartige Erfahrungen richtig einzuschätzen. Sie sollten weder über- noch unterschätzt werden. Gewöhnlich bringen sie einen Menschen auf einen geistigen Weg. Sie werden, oft auch im späteren lebensgeschichtlichen Rückblick als die entscheidende Lebenswende angesehen, 2 Johannes vom Kreuz: Aufstieg auf den Berg Karmel (32007) Vorwort, 3 f. 3 Teresa von Avila: Wohnungen der Inneren Burg (22007) VI, 1, 8. 4 Dürckheim: Erlebnis und Wandlung (1978/1992) 97.

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durchaus vergleichbar der christlichen conversio. Teresa von Avila spricht von einer Wahrheit, die der Seele so fest eingeprägt bleibt, »dass sie niemals vergisst, noch daran zweifeln kann, dass es so war, auch wenn sie Jahre verbringen sollte, ohne dass Gott ihr diese Gnade noch einmal erwiese, ganz abgesehen von den Wirkungen, die in ihr zurückbleiben […]«.5 Allerdings dürfen derartige Erfahrungen auch nicht überbewertet werden. Das Tor, das bisher verschlossen schien und das sich wie aus heiterem Himmel geöffnet hat, muss auch durchschritten und der Weg, der sich nun zeigt, gegangen werden. Das bleibt auch einem Menschen mit »außergewöhnlichen Erfahrungen« nicht erspart. Jetzt geht es um die Integration, um die Verleiblichung der Erfahrung. »Zum erschütternden Erlebnis, in dem für einen Augenblick das ›Eigentliche‹ aufblitzt, muss hinzukommen die den ganzen Menschen erfassende langsame Verwandlung. Ohne Seinserlebnis gibt es keine Verwandlung, aber ohne Verwandlung geht auch das als wesenhaft Erlebte verloren. Nur in dem Maße, als der Mensch das, was er in der Tiefe erfuhr, fortschreitend in sich Raum greifen lässt und mit ihm eins wird, erfüllt auch die Große Erfahrung ihren Sinn.«6 Derartige »Wesenserfahrungen« sind vergleichbar einem Kredit, den jemand bekommt, um ein Haus zu bauen: Mit einem Schlag wird er »reich«, kann ein Haus bauen und darin wohnen. Aber danach muss er viele Jahre seines Lebens arbeiten, um den Kredit zu erstatten. Tut er es nicht, wird ihm das Haus wieder genommen und er muss unbehaust seiner Wege gehen. Natürlich könnte der Erfahrungsbegriff inhaltlich weiter entfaltet werden. Karlfried Graf Dürckheim präsentiert in seiner Einführung in die Meditation eine differenzierte Phänomenologie der Erfahrung.7 Er unterscheidet zwischen großen Seinserfahrungen und kleinen Seinsfühlungen. »Große Seinserfahrungen sind jene, die in Sternstunden des Lebens mit einer Gewalt, die die bisherige Lebensordnung erschüttert, ja umwirft, die Wirklichkeit eines überweltlichen Lebens ins Bewusstsein bringen. In den Seinsfühlungen berührt es uns nur zart, aber doch auch in einer unverwechselbaren Qualität.«8 Es gibt eine Pluralität an Erfahrungen, es gibt unterschiedliche Grade der Intensität. Im Zusammenhang des kontemplativen Diskurses kommt es darauf an, die Struktur der Erfahrung, um die es hier geht, sorgfältig zu beachten. Es geht um Erfahrungen, die das Ich erschüttern, die an der Nahtstelle zwischen dem Ich und dem Selbst zu verorten sind. Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass ich die Erfahrung »relativ monochrom« beschreibe, wie Regina Polak kritisch anmerkt (199). Die Pluralität der Erfahrungen, um die es hier geht, und die stärker zu berücksichtigen von 5 6 7 8

Teresa von Avila: Wohnungen der Inneren Burg (22007) V, 1, 9. Dürckheim: Erlebnis und Wandlung (1978/1992) 7. Dürckheim: Meditieren – wozu und wie (1976, 71983) 22 – 50. A.a.O., 21 f.

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Regina Polak angemahnt wird, ist nicht auf der Ebene des empirischen Ichs zu lokalisieren. Es geht nicht um »Wellness-Spiritualität«. Gegen »Wellness«, gegen Erholung und schöne (religiöse) Erfahrungen ist prinzipiell nichts einzuwenden. Sie dürfen aber nicht mit jenen Erfahrungen verwechselt werden, die das Ich im Kern erschüttern und einem Menschen etwas zeigen, »was kein Ohr gehört und kein Auge geschaut hat« (Jes 64,3). Diese Erfahrungen ernst zu nehmen und ihrem immanenten Ruf zu folgen bringt den Menschen auf einen Weg der Wandlung, der in seiner Struktur dem Weg Jesu entspricht: »Wer das Leben gewinnen will, wird es verlieren; wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen« (Mt 10,39). In der Kontemplation geht es um eine cognitio Dei experimentalis, um eine Erkenntnis Gottes aufgrund von Erfahrung. So gesehen ist es richtig und angemessen, den kontemplativen Weg über den Begriff der Erfahrung zu erschließen. Regelmäßig wird in diesen Zusammenhängen das inzwischen allseits bekannte Wort Karl Rahners zitiert: »Nur um deutlich zu machen, was gemeint ist, und im Wissen um die Belastung des Begriffs ›Mystik‹ (der recht verstanden, kein Gegensatz zu einem Glauben im Heiligen Pneuma ist, sondern dasselbe) könnte man sagen: der Fromme von morgen wird ein ›Mystiker‹ sein, einer, der etwas ›erfahren‹ hat, oder er wird nicht mehr sein, weil die Frömmigkeit von morgen nicht mehr durch die im voraus zu einer personalen Erfahrung und Entscheidung einstimmige, selbstverständliche oöffentliche Überzeugung und religiöse Sitte aller mitgetragen wird, die bisher übliche religiöse Erziehung also nur noch eine sehr sekundäre Dressur für das religiöse Institutionelle sein kann. Die Mystagogie muss von der angenommenen Erfahrung der Verwiesenheit des Menschen auf Gott hin das richtige ›Gottesbild‹ vermitteln, die Erfahrung, dass des Menschen Grund der Abgrund ist: dass Gott wesentlich der Unbegreifliche ist; dass seine Unbegreiflichkeit wächst und nicht abnimmt, je richtiger Gott verstanden wird, je näher uns seine ihn selbst mitteilende Liebe kommt.«9 Rahners Prophezeiung scheint sich in unserer Zeit zu erfüllen. Seine Diagnose 9 Rahner: Frömmigkeit früher und heute (1966) 22 f. Vgl. auch Rahner : Zur Theologie und Spiritualität der Pfarrseelsorge (1980) 161 f.: »Die Einsamkeit des individuellen Glaubensgewissens hat aber durchaus, um bestehen zu können, eine positive Seite. Sie lebt nämlich, soll sie bestehen, aus einer ganz personalen Erfahrung Gottes und seines Geistes. Man hat schon gesagt, dass der Christ der Zukunft ein Mystiker sei oder nicht mehr sei. Wenn man unter Mystik nicht seltsame parapsychologische Phänomene versteht, sondern eine echte, aus der Mitte der Existenz kommende Erfahrung Gottes, dann ist dieser Satz sehr richtig. Nach Schrift und adäquat erfasster kirchlicher Lehre kommt nämlich die letzte Glaubensüberzeugung und -entscheidung letztlich nicht bloß aus einer von außen kommenden lehrhaften Indoktrination, die von einer profanen oder kirchlichen Öffentlichkeit abgestützt wird, noch aus einer bloßen fundamentaltheologischen rationalen Argumentation, sondern aus der Erfahrung Gottes, seines Geistes, seiner Freiheit, die aus dem Innersten der menschlichen Existenz aufbricht und da wirklich erfahren werden kann, auch wenn diese Erfahrung nicht adäquat reflektiert und verbal objektiviert werden kann.«

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wird auch von außen stehenden Beobachtern geteilt: »Religiöse Verankerung des Lebens scheint mir nur in dem Maße lebendig zu bleiben und weiter reifen zu können, als sie in Erfahrungen wurzelt, die als solche unabweisbar sind und für den Verstand ein Geheimnis bleiben […] Gerade in dem, was für den Verstand zunächst dunkel bleibt, leuchtet für die Seele das Licht, und der schwankende Boden verwandelt sich zu einem sicheren Grund, auf dem man faktisch lebt, und auf dem ›Erfahrene‹ sich begegnen und finden. Menschen, die selbst nichts erfahren, sind, auch wenn sie viel ›wissen‹, für die Beurteilung solcher Erfahrungen nicht ›zuständig‹.«10 Auch Thomas Merton hebt hervor, dass es praktisch unmöglich ist, die kontemplative Erfahrung von außen her zu verstehen oder gar zu beurteilen: »The only way to get rid of misconceptions about contemplation is to experience it. One who does not actually know, in his own life, the nature of this breakthrough and this awakening to a new level of reality cannot help being misled by most of the things that are said about it. For contemplation cannot be taught. It cannot even be clearly explained. It can only be hinted at, suggested, pointed to, symbolized. The more objectively and scientifically one tries to analyze it, the more he empties it of ist real content, for this experience is beyond the reach of verbalization and of rationalization. Nothing is more repellent than a pseudo-scientific definition of the contemplative experience.«11 In der westlichen Psychologie fand man in den 60-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach Jahrzehnten der Entfremdung neue Zugänge zu Religion und Mystik über das Phänomen so genannter »Gipfelerfahrungen« (peek-experiences).12 Allerdings kann der Begriff der Erfahrung in diesem Zusammenhang auch in die Irre führen. Es gibt viele Mystiker, die keine »außergewöhnlichen Erfahrungen« aufzuweisen haben. Bedeutende Lehrer des mystischen Weges wie Meister Eckhart haben sich kritisch zu erfahrungsbezogenen Formen der Mystik geäußert. Bernhard McGinn weist deshalb darauf hin, dass in der modernen Mystikforschung der Begriff der Erfahrung durch den Begriff des Bewusstseins ersetzt worden ist. Er versteht Mystik als »das Bewusstsein einer unmittelbaren Gegenwart Gottes«.13 Geht man einen Schritt weiter, so wird man, zumal im christlichen Kontext, den Begriff der Erfahrung durch den Begriff der Verwandlung vertiefen, um ihn 10 Dürckheim: Erlebnis und Wandlung (1978/1992) 24. 11 Merton: New Seeds of Contemplation (1961/2007) 6. Ähnlich auch Teresa von Avila: Wohnungen der Inneren Burg I (22007) 1, 9: »Und gebe Gott, dass ich etwas Zutreffendes sage, denn wenn die Erfahrung fehlt, ist es recht schwierig, euch verständlich zu machen, was ich möchte.« 12 Vgl. Maslow: Religion, values and peak experiences (1964). 13 McGinn: Die Mystik im Abendland (Band I, 1994) 17: »Schon aus diesem Grund ist es nur zu begrüßen, wenn die neuere Forschung die Kategorie ›Bewusstsein‹ für präziser und fruchtbarer hält als ›Erfahrung‹. Offensichtlich aber kann ›Bewusstsein‹ ebenso vieldeutig verwendet werden wie ›Erfahrung‹.«

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so vor naheliegenden Missverständnissen zu schützen. Grundlegend für das Verständnis christlicher Mystik ist die Unterscheidung zwischen dem empirischen Ich und dem transzendenten Selbst. Das empirische Ich, mit dem wir in der Welt tätig sind, ist nicht der ganze Mensch. Es ist eingebettet in eine Wirklichkeit, die wir als das »wahre Selbst« oder auch das »transzendente Ich« bezeichnen. Nach Thomas Merton ist Kontemplation keine Funktion des empirischen Ichs. In der kontemplativen Übung geht es darum, dass das Ich nichts will, nichts weiß, nichts tut. Der eigentlich Handelnde ist Gott. »Kontemplation ist genau die Bewusstheit, dass dieses ›Ich‹ in Wirklichkeit ›nicht Ich‹ ist; sie ist das Erwachen des unbekannten ›Ichs‹, das jenseits aller Beobachtung und Reflexion liegt und nicht imstande ist, über sich selbst etwas auszusagen.«14 So gesehen geht es auf dem kontemplativen Weg nicht darum, dass sich unser Ich »spirituelle Erfahrungen« oder ein Wissen über Spiritualität aneignet, sondern darum, dass es verwandelt wird, dass es in die Erde fällt und stirbt und reiche Frucht bringt (vgl. Joh 12,24). Das ist der Weg der Erlösung. »Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir« (Gal 2,20). So gilt auch für den kontemplativen Weg das Wort Jesu: »An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen« (Mt 7,16).

Glaube Regina Polak schreibt: »Der Begriff ›glauben‹ wird diffus verwendet und erscheint gegenüber dem ›schauen‹ als defizitär. Liegt dies daran, dass Schwienhorst-Schönberger mit ›glauben‹ eine bestimmte erstarrte, ritualisierte und erfahrungsdürre Form des Glaubens an Gott beschreibt, die er überwinden möchte?« (202). In der Tat bedarf auch der Begriff des Glaubens ebenso wie der Begriff der Erfahrung einer Klärung. Vor allem in meinem Kommentar zum Buch Ijob habe ich den Weg Ijobs unter das Leitwort: »Vom Glauben zum Schauen« gestellt. Der Schlüssel zum Verständnis des Buches ist meines Erachtens Ijob 42,5: »Vom Hörensagen nur hatte ich von Dir gehört, jetzt aber hat mein Auge dich geschaut.«15 Es gibt in der biblischen wie in der theologischen Tradition eine 14 Merton: New Seeds of Contemplation (1961/2007) 7: »Contemplation is precisely the awareness that this ›I‹ is really ›not I‹ and the awakening of the unknown ›I‹ that is beyond observation and reflection and is incapable of commenting upon itself.« Übersetzung von Schellenberger: Thomas Merton, Christliche Kontemplation. Ein radikaler Weg der Gottessuche, München 2010, 31. 15 Ausführliche Begründung: Schwienhorst-Schönberger : Ein Weg durch das Leid. Das Buch Ijob (2007, 22011). Genau genommen habe ich den letzten Teil des Dialogs unter die Überschrift »Vom Glauben zum Schauen gestellt«. Während im Prolog davon die Rede ist, dass Ijob »gottesfürchtig« war (Ijob 1,1), kommt der Begriff im Epilog nicht mehr vor. Eine ähnliche Bewegung »vom Glauben zum Schauen« scheint Thomas von Aquin in seinem

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Gegenüberstellung von Glauben und Schauen. Wenn wir im Himmel sind, so die Lehre der Kirche, werden wir nicht mehr an Gott glauben, sondern wir werden ihn schauen »von Angesicht zu Angesicht« (vgl. 1 Kor 13,12; 1 Joh 3,2; Offb 22,4) – so hat Papst Benedikt XII. im Jahre 1336 »kraft Apostolischer Autorität« entschieden.16 Es gibt eine Form des Schauens, die den Glauben »aufhebt«. Diese Tradition habe ich in meinen bisherigen Veröffentlichungen herausgestellt, und zwar, wie ich weiter unten darlegen werde, aus gutem Grund. Zunächst sei jedoch darauf hingewiesen, dass der erfahrungsbezogene Ansatz der Kontemplation den Glauben keineswegs aufhebt. Da das Schauen Gottes in diesem Leben immer ein »verhülltes Schauen« ist (vgl. 1 Kor 13,12), wird durch diese Form der contemplatio Dei der Glaube nicht aufgehoben, sondern genährt und vertieft. Zudem setzt die kontemplative Übung selbst einen »reinen Glauben« voraus. Ohne Vertrauen ist der Weg der Hingabe nicht möglich. Ein gewisses Maß an Vertrauen muss zunächst dem Lehrer, der Lehre und dem Weg entgegengebracht werden. Der eigentliche Akt des Vertrauens aber richtet sich auf jene Wirklichkeit, auf die sich der Übende vorbehaltlos einlässt. Kontemplation ist ein Weg der Hingabe. Wie in der Bibel, besonders im Neuen Testament vielfach bezeugt, wirkt der Kontakt mit der göttlichen Wirklichkeit heilend und befreiend. Sich auf diesen Prozess einzulassen setzt ein hohes Maß an Vertrauen voraus. Wer in diesem Sinne glaubt, wird gerettet: »Fass Mut, Tochter, dein Glaube hat dich gerettet« (Mt 9,22). Gott allein ist es, der bei dem, was hier geschieht, handelt. Die Aufgabe des Menschen besteht darin, sich dem göttlichen Handeln anzuvertrauen. Darum geht es in der Kontemplation. So gesehen ist die Kontemplation keine Alternative zum Glauben, sondern radikaler Vollzug des Glaubens. Wenn sich jemand aufgrund einer schweren Krankheit einer Operation unterziehen muss, tut er sich und dem Arzt keinen Gefallen, wenn er bei der Operation behilflich sein möchte. Seine Aufgabe ist es still zu halten und sich dem ärztlichen Handeln anzuvertrauen. In der christlichen Tradition wird nun in vielfacher und glaubwürdiger Weise bezeugt, dass derjenige, der sich ganz eucharistischen Lobgesang »Adoro te devote« zu beschreiben. Er weist zunächst, was die contemplatio Dei anbelangt, auf die Defizienz der sinnlichen Wahrnehmung hin und betont die Bedeutung des Glaubens: »Quia, te contemplans, totum deficit. Visus, tactus, gustus in te fallitur / Sed auditu solo tuto creditur. Credo, quidquid dixit Dei Filius […]«. In der vierten Strophe bittet er um die Mehrung des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe: »Fac me tibi semper magis credere. In te spem habere, te diligere.« In der letzten Strophe kommt es dann zu einer überraschenden Wende. Jetzt ist plötzlich vom Schauen die Rede, und zwar von einem gegenwärtigen und einem zukünftigen Schauen. Das Verbum »credere« (»glauben«) kommt nicht mehr vor, statt dessen finden sich drei unterschiedliche Wörter für »schauen«: »Jesu, quem velatum nunc aspicio / Oro fiat illud quod tam sitio; / Ut te revelata cernens facie / Visus sum beatus tuae gloriae. Vgl. Tück: Gabe der Gegenwart (22011) 258 – 274. 16 Vgl. Denzinger-Hünermann (412007) 407, Nr. 1001.

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dem göttlichen Heiland überlässt, nicht zugrunde gehen wird, auch wenn es zunächst und bisweilen anders aussehen mag. Den biblischen Zeugen dürfen wir Vertrauen entgegenbringen. Wenn uns selbst ähnliche Erfahrungen zuteil werden, können wir uns dankbar in die Reihe derer stellen, die bekennen: »Herr, du hast mich herausgeholt aus dem Reich des Todes, aus der Schar der Todgeweihten mich zum Leben gerufen« (Ps 30,4). »Gott will das Heil aller Menschen« ist eine beliebte Aussage, die von Theologen gerne zitiert, aber nur von wenigen wirklich geglaubt wird. Wenn es ernst wird, möchten wir gerne »ein Wörtchen mitreden« und dem lieben Gott konstruktive Vorschläge unterbreiten, wie wir die Dinge gerne hätten. Der kontemplative Weg lädt uns ein, das zu lassen. Er lädt uns ein, inne zu halten, zu schweigen, zu hören und uns vorbehaltlos Gott zu überlassen. Nach Johannes Tauler kann der Mensch den Prozess der Verwandlung nicht durch eigene Willensanstrengung erreichen: »Der Wille, meine Lieben, muss weg, wie unser Herr sprach: ,Ich bin nicht gekommen, meinen Willen zu tun, sondern den meines Vaters‹«.17 Das gilt nach Tauler nicht nur für den weltlichen, also für den nach außen gerichteten Willen, sondern auch für den geistlichen, den nach innen gerichteten Willen. Es gehört zu den großen Herausforderungen des kontemplativen Weges, sich von diesem nach innen gerichteten Willen erlösen zu lassen. Menschen kommen und lassen sich auf einen geistlichen Weg ein, sie bemühen sich sehr, sie suchen inneren Trost, sie suchen Erleuchtung, sie möchten Gott erfahren und sind nach einiger Zeit sehr erschöpft. »Im Grunde denken sie mehr an sich selbst als an Gott«.18 Auf schmerzhafte Weise (vgl. H 33, 241) wird ihnen bewusst, dass es so nicht geht. »So lange und die ganze Zeit über, während welcher du deinem Eigenwillen lebst, wisse, dass dir an dieser Seligkeit gebricht. Denn alle wahre Seligkeit liegt an rechter Gelassenheit, an Willenlosigkeit«.19 Weshalb ich den Glauben bisweilen provokativ der »geistigen Erfahrung« und dem »Schauen« gegenüber stelle, lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen: Jemand leidet an einer Krankheit. Niemand kann ihn heilen. Plötzlich hört er von einem Freund: »Es gibt einen Arzt, der diese Krankheit heilen kann.« Der Kranke freut sich über diese frohe Botschaft. Die erlösende Nachricht lässt ihn aufleben. Doch damit ist es nicht getan. Die Verkündigung der frohen Botschaft macht ihn nicht gesund. Er muss sich aufmachen, mit dem Arzt in Kontakt kommen, sich von ihm berühren und behandeln lassen. Erst so kann der Prozess der Heilung einsetzen. – Mein Eindruck ist, dass wir im kirchlichen Leben bei 17 H 53, 409. »Kinder, der wille der mu˚s ab, als unser herre sprach: ,ich bin komen nfflt das ich tu˚ minen willen, sunder mines vatter willen‹« (V 64, 348, 27 f.). e 18 H 33, 241. »[…] die meinent sich verborgenlichen me denne Got« (V 33, 129, 1 f.). 19 H 53, 409. »Als lange und alle die wile das du stest in dime eigen willen, so wissest das dir diser selikeit gebristet. Wan alle die gewore selikeit die gelit an rechter gelossenheit, willeloskeit« (V 64, 348, 28 – 31). Vgl. meinen Beitrag zu Johannes Tauler im vorliegenden Band.

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der Verkündigung der Frohen Botschaft nicht selten auf halber Strecke stehen bleiben. »Jesus hat uns erlöst« wird als Frohe Botschaft emphatisch und bisweilen rhetorisch eindrücklich und mit Autorität verkündet. Wie diese Botschaft aber ihre heilende und erlösende Kraft entfalten kann, darüber wird kaum noch gesprochen. Hier setzen wir ganz konkret mit der kontemplativen Übung an. Wir bieten eine durch Tradition und Erfahrung belegte Form der Übung an, bei der Menschen Schritt für Schritt eingeführt werden, den Weg der inneren Einkehr zu gehen und sich jener Wirklichkeit gegenüber zu öffnen, auf die das Wort »Gott« verweist. Dieser Ansatz, der Glauben und Schauen miteinander verbindet, steht in biblischer und gut bezeugter theologischer Tradition: »In der Erkenntnis des allmächtigen Gottes ist unser erster Eingang der Glaube, der zweite seine Schau, zu welcher wir im Glauben wandelnd gelangen. In diesem Leben treten wir in den ersteren ein, um dereinst zu letzterer geführt zu werden. Eingang steht somit gegen Eingang, weil durch den Eintritt in den Glauben der Eintritt in die Schau Gottes eröffnet wird. Es widerspricht keineswegs einer gesunden Ansicht, dass einer in diesem Leben diese beiden Eingänge erreichen möchte [Hervorhebung durch den Autor].«20 Häufig ist die Rede von einer »Krise der Verkündigung«. Meines Erachtens leiden wir nicht an einer Krise der Verkündigung, sondern an fehlenden Hilfen, wie diese Verkündigung angenommen werden kann, damit sie ihre heilende und rettende Kraft entfalten kann. Frei nach Goethes Faust könnte man sagen: »Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt die Übung.«21 Die christliche Tradition kennt eine solche Übung: »Der erste Schritt besteht darin, dass die Seele sich in sich selbst sammelt, der zweite, dass sie sich in dieser Sammlung wahrnimmt, der dritte, dass sie sich über sich selbst hinausschwingt und sich unverwandten Blickes der Schau des unsichtbaren Schöpfers hingibt.«22 Es wäre ein Zeichen der Hoffnung, wenn die praktische Theologie diese Form christlicher Praxis wieder entdecken und suchenden Menschen einen Zugang zu ihr eröffnen würde.

20 Gregor der Grosse: Homilien zu Ezechiel (1983) II, V, 8: »In cognitione uero omipotentis Dei primum ostium nostrum fides est, secundum uero species illius, ad quam per fidem ambulando peruenimus. In hac etenim uita hanc ingredimur, ut ad illam postmodum perducamur. Ostium ergo contra ostium est, quia per aditum fidei aperitur aditus uisionis Dei. Si quis uero utraque haec ostia in hac uita uelit accipere, neque hoc a salubri intellegentia abhorret.« 21 Faust I, Glockenklang und Chorgesang – als Antwort auf den Chor der Engel: »Christ ist erstanden!« 22 Gregor der Grosse: Homilien zu Ezechiel (1983) II, V, 9: »Primus ergo gradus est ut se ad se colligat, secundus ut uideat qualis est collecta, tertius ut super semetipsam surgat ac se contemplationi auctoris inuisibilis intendendo subiciat.«

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Welt(flucht) Regina Polak fragt, ob nicht dank eines neuplatonischen Ansatzes geschichtliche Ereignisse zugunsten »allgemeiner« und »eigentlicher« Wahrheiten vernachlässigt werden. »Aus praktisch-theologischer Sicht bedarf es […] der Klärung einiger wichtiger Aspekte: Dazu gehören die Frage nach der Beziehung zu anderen Menschen und zur Welt, zu Gesellschaft und Geschichte« (202). Der Verdacht, mit Hilfe der kontemplativen Übung könne man den konkreten Problemen der Welt entkommen und in eine Welt der Ideen flüchten, ist unbegründet. Wäre dies das Ziel der Kontemplation, dann wäre sie gründlich missverstanden.23 In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall. Kontemplation ist eine Schule der Wahrnehmung. Es geht darum, das wahrzunehmen, was ist. Gewöhnlich ist unsere Wahrnehmung verschleiert. Wir sehen nicht, wie die Wirklichkeit in Wahrheit beschaffen ist, sondern »machen uns etwas vor«. Durch die kontemplative Übung, wenn sie in rechter Weise vollzogen wird, wird der Schleier unserer Wahrnehmung nach und nach gelüftet. Deshalb bezeichnet die christliche Tradition die erste (und nie gänzlich abgeschlossene) Phase des kontemplativen Weges als »via purgativa«, als »Weg der Reinigung«. Was dabei gewöhnlich zum Vorschein kommt, sind unser Elend, unsere Not, unsere ungeordneten Leidenschaften, unsere unausgeheilten Wunden. Nach christlicher Tradition führt der Weg der Gotteserkenntnis über die Selbsterkenntnis. »Uns selbst zu erkennen, ist so wichtig, dass ich nicht möchte, dass es diesbezüglich jemals ein Nachlassen gibt«, schreibt Teresa von Avila.24 Der Mensch sieht sich in seinem Elend, in seiner Erlösungsbedürftigkeit. Aus diesem Elend kann er sich selbst nicht befreien. Jetzt versteht er, was »Erlösung« heißt. Zum Kernbestand der christlichen Botschaft gehört die biblisch breit bezeugte Auskunft, dass Gott die Menschen erlöst hat. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass viele Menschen ihre Erlösungsbedürftigkeit gar nicht mehr wahrnehmen. Das Problem, das zu lösen die christliche Botschaft beansprucht, ist vielen nicht mehr bewusst. Zwar gibt es diffuse existenzielle »Befindlichkeitsstörungen«, eine ungestillte Sehnsucht, nicht selten auch Not und Verzweiflung, doch deren wahres Wesen wird gewöhnlich nicht mehr durchschaut. So wird nach Ersatzlösungen Ausschau 23 Natürlich gibt es solche Missverständnisse. In derartige Fallen zu tappen, ist beinahe unvermeidbar. Merton: Contemplative Prayer (1969/1996) 79: »Very often, the inertia and repugnance which characterize the so-called ›spiritual life‹ of many Christians could perhaps be cured by a simple respect for the concrete realities of every-day life, for nature, for the body, for one’s work, one’s friends, one’s surroundings, etc. A false supernaturalism which imagines that ›the supernatural‹ is a kind of Platonic realm of abstract essences totally apart from and opposed to the concrete world of nature offers no real support to a genuine life of meditation and prayer. Meditation has no point and no reality unless it is firmly rooted in life.« 24 Teresa von Avila: Wohnungen der Inneren Burg I (22007) 2, 9.

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gehalten. Doch auf Dauer zeigt sich, dass sie das, was sie versprechen, nicht halten können. In der kontemplativen Übung wird diesen subtilen Fluchtmechanismen Einhalt geboten. Deshalb sind Schweigen und Innehalten zentrale Elemente der Übung. Es soll – zunächst einmal rein äußerlich – verhindert werden, dass der Mensch davonläuft und sich vor Gott versteckt (vgl. Gen 3,9). Die Kontemplation öffnet uns die Augen für die Wirklichkeit. Die wachsende Sensibilität für die eigene Not führt zu einer erhöhten Achtsamkeit für die Not anderer. Beide Formen der Wahrnehmung werden sich gewöhnlich wechselseitig verstärken. Die Wahrnehmung der Not der anderen kann ebenso den Anstoß geben, den Weg der Kontemplation zu gehen, wie die Konfrontation mit der eigenen Not. Die kontemplative Übung führt zu einem sensitiven Erwachen. Die Nöte anderer Menschen werden nach einer gewissen Zeit der Übung oft besser und klarer gesehen, als es bei diesen selbst der Fall ist, da sie gerne verdrängt oder geleugnet werden. Es entsteht eine tiefe Form des Mitleidens. Vor allem Johann Baptist Metz hat diesen Grundzug christlicher Mystik unter dem Stichwort »Compassion« in den letzten Jahren deutlich herausgestellt. Die kontemplative Übung führt nicht in die Absonderung, sondern in eine tiefe Form der Solidarität mit allen Menschen. Nicht selten kommt es vor, dass Menschen dabei überfordert sind. Durch die Intensität der Übung kann die Wahrnehmung so verfeinert werden, dass das Ich noch nicht stark genug ist, diese zu verarbeiten und angemessen darauf zu reagieren. Menschen werden »dünnhäutig« und stehen vor der Herausforderung zu lernen, damit in rechter Weise umzugehen. Aus der Wahrnehmung der Not heraus erwächst der Impuls zu helfen. Gewöhnlich ist es so, dass sich der Mensch in der Konfrontation mit der Größe des Elends als machtlos erfährt. Er spricht mit dem Beter der Psalmen: »Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen: Woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat« (Ps 121,1 – 2). Die kontemplative Übung hilft, sich über die Wahrnehmung der Not hinaus zu öffnen für die heilende und rettende Gegenwart Gottes. Aus dieser Erfahrung heraus drängt es den so Beschenkten, das zu bezeugen, »was er gesehen und gehört hat« (vgl. 1 Joh 1,1 – 3). Der kontemplative Mensch wird zum Zeugen der Frohen Botschaft. Als einer, der von Gott berührt wurde, der in den Prozess der Verwandlung hineingenommen wurde, lebt er nun »unerkannt mitten unter den Menschen«. Er lebt diese Wirklichkeit und er handelt aus dieser Wirklichkeit und er wird so zu einem »Mitarbeiter Gottes« in einer erlösungsbedürftigen Welt (vgl. 1 Kor 3,9). Soziales Engagement und Nächstenliebe sind also kein sekundärer Anhang zum Evangelium, sondern gehören zum innersten Kern der christlichen Botschaft und des kontemplativen Weges. Wir können, so Hugo von Sankt Viktor,

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nicht ununterbrochen auf dem Gipfel der Beschauung verweilen.25 Nach der Verklärung auf dem Berg steigt Jesus mit den drei Jüngern hinab und heilt einen besessenen Knaben (Lk 9,28 – 43; par.). Die »Flucht aus der Welt« ist genau genommen die Voraussetzung dafür, dass wir in der Nachfolge Jesu die Besessenheiten der Welt erkennen und heilen können. Deshalb gehört das Motiv der Weltflucht (fuga mundi) und der Weltverachtung (contemptus mundi) zum Selbstverständnis des christlichen Glaubens. In der (theologischen) Öffentlichkeit kommt, wie jüngste Beispiele zeigen, gewöhnlich große Unruhe auf, wenn diese Begriffe in den theologischen Diskurs eingeführt werden und, wie es jüngst Papst Bendikt XVI. getan hat, die Forderung erhoben wird, die Kirche müsse sich entweltlichen. Das verwundert, gehört doch die Forderung der Entweltlichung zum Kern der christlichen Tradition (vgl. Joh 18,36; Röm 2; Eph 4,17).26 Bevor auf mögliche Missverständnisse dieses Motivs eingegangen wird, seien drei Beispiele aus drei Epochen der Kirchengeschichte angeführt: Gregor der Große (540 – 604): »Verachten wir also aus ganzer Seele dieses gegenwärtige Zeitalter, das doch so im Argen liegt!«27 Mit feiner psychologischer Beobachtungsgabe nennt Teresa von Avila (1515 – 1582) ein Motiv, das Menschen auf den Weg des inneren Betens führen kann: »Gerade aus der Unzufriedenheit, welche die Dinge dieser Welt verursachen, erwächst die schmerzliche Sehnsucht, aus ihr herauszukommen«.28 Mit Hilfe drastischer Bilder beschreibt sie den Zustand einer Seele, »die tief in weltliche Dinge verstrickt ist«. Sie betont, wie wichtig es ist, sich zu bemühen, von unnötigen Dingen und Geschäften abzulassen, jeder so, wie es seinem Lebensstand entspricht.«29 Thomas Merton (1915 – 1968) weist darauf hin, dass sich die monastische Lebensform ihrer Struktur nach nicht von der Lebensform eines jeden Christen unterscheidet. »In the way of prayer, as described by the early monastic writers, meditatio must be seen in its close relation to psalmodia, lectio, oratio and contemplatio. It is part of a continuous whole, the entire unified life of the monk, conversatio monastica, his turning from the world to God.«30 Die Hin25 Hugo von Sankt Viktor: Didascalicon de studio legendi (1997) 5, 9. 26 Wie fremd uns dieser Gedanke geworden ist, zeigt eine erklärende Anmerkung zum Lied: »›Mir nach‹, spricht Christus, unser Held, ›mir nach, ihr Christen alle! Verleugnet euch, verlasst die Welt, folgt meinem Ruf und Schalle […]‹« von Angelus Silesius (Johannes Scheffler) im »Gotteslob« unter Nr. 616 (Ausgabe 1975); in der Anmerkung heißt es: »›Welt‹ (Strophe 1) wird vom Dichter hier als Inbegriff des Gottwidrigen verstanden (1. Johannesbrief 2,15 – 17). Fern davon, Weltflucht zu predigen, ruft sein Lied gerade zur Bewährung der Nachfolge Jesu in der Welt auf.« 27 Gregor der Grosse: Homilien zu Ezechiel (1983) II, VI, 24: »Despiciamus ergo ex toto animo hoc praesens saeculum uel exstinctum.« 28 Teresa von Avila: Wohnungen der Inneren Burg V (22007) 2, 10. 29 Teresa von Avila: Wohnungen der Inneren Burg I (22007) 2, 14. 30 Merton: Contemplative Prayer (1969/1996) 57.

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wendung zu Gott wird hier in einem Atemzug mit der »Abwendung von der Welt« genannt. Das eine ist offensichtlich ohne das andere nicht zu haben. Thomas Merton wird man sicherlich nicht den Vorwurf machen können, er habe sich von den Problemen der Welt nicht berühren lassen und sich »unpolitisch« in eine weltlose Einsiedelei zurückgezogen: »The peculiar monastic dimension of this struggle lies in the fact that society itself, institutional life, organization, the ›approved way‹, may in fact be encouraging us in falsity and illusion. The deep root of monastic ›dread‹ is the inner conflict which makes us guess that in order to be true to God and to ourselves we must break with familiar, established and secure norms and go off into the unknown [Hervorhebung durch den Autor]. ›Unless a man hate father and mother. […]‹ These words of Christ give some indication of the deep conflict which underlies all Christian conversion – the turning to a freedom based no longer on social approval and relative alienation, but on direct dependence on an invisible and inscrutable God, in pure faith.«31 Weltflucht und Entweltlichung gehören auch zum Kern der kontemplativen Übung. Allerdings ist sehr genau darauf zu achten, was damit gemeint ist und an welcher Stelle dieses Motiv in der kontemplativen Übung zu verankern ist. Man kann zunächst rein äußerlich ansetzen und sagen: Dadurch, dass ich meine Arbeit unterbreche, dass ich mit keinem Menschen spreche, dass ich meine Wahrnehmung ganz auf Gott hin ausrichte, steige ich aus meinen gewöhnlichen weltlichen Bezügen vorübergehend aus. Diese Haltung ist im Grunde die Voraussetzung eines jeden andächtigen Gebetes (oratio). Auch wenn ich eine Kirche betrete, betrete ich einen Raum, der die Welt des Marktplatzes, die Welt des Büros und der Fabrik außen vorlässt. Es handelt sich schon rein äußerlich um einen Vorgang der Entweltlichung. In der kontemplativen Übung wird dieser Prozess bis in das Innere hinein radikalisiert. Mit einer rein äußeren Flucht ist es nicht getan, wie von erfahrenen Lehrern des geistigen Lebens immer wieder hervorgehoben wird: »Wenn man nun die Welt, äußerlich gesehen, geflohen hat, sei es dass man sich in eine Klause oder ins Kloster begibt, so erhebt sich Archelaus dennoch und herrscht trotz allem. Ja eine ganze Welt steht in dir auf, die du nimmer überwindest, es sei denn mit viel Übung und Fleiß und Gottes Hilfe; denn gar starke grimme Feinde, die kaum je einmal überwunden werden, hast du in dir zu überwinden.«32 Genau an diesem Punkt setzt nun die kontemplative Übung an. In ihr richten wir unsere Wahrnehmung nach innen. Dazu nehmen wir eine Haltung ein, in der wir ruhig und ungestört etwa 20 bis 30 Minuten in Stille sitzen. Wir denken nicht nach und schauen nicht herum. Der Blick ruht. Von Gedanken, Bildern und Gefühlen, die in unserem Bewusstsein aufsteigen, lassen wir uns nicht ablenken. 31 A.a.O., 47 – 48. 32 Johannes Tauler: 2. Predigt (H 22) (42007).

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Wir lassen sie vorüberziehen. Dabei kann uns der Atem helfen. Wenn wir merken, dass wir in Gedanken abschweifen, kehren wir zur Wahrnehmung des Atems zurück. Wir öffnen unser Bewusstsein für die verborgene Gegenwart Gottes. Da Gott kein »Gegenstand« menschlicher Wahrnehmung sein kann, muss die Wahrnehmung, die sich auf Gott hin ausrichtet, ungegenständlich sein. Wer diese Übung regelmäßig einmal am Tag praktiziert, wird nach einiger Zeit eine Veränderung an sich wahrnehmen. Wir werden ruhiger und gelassener. In unseren weltlichen Tätigkeiten sind wir anders »bei der Sache«. Etwas von dem, was uns in der regelmäßigen Übung berührt und verwandelt, ohne dass wir es direkt bemerken oder gar fassen könnten, nehmen wir mit in die Welt hinein. Wir sind in der Welt anders da. Es setzt ein Prozess der Wandlung ein. Unser Sein verändert sich und folglich auch unser Handeln, das unserem Sein entspringt. »Nicht die Arbeit lässt dich unzufrieden werden, sondern die Unordnung, die du in deine Arbeit trägst.«33 Die Weltflucht führt also nicht zu einem Ausstieg aus der Welt, sondern zu einer neuen und vertieften Präsenz in der Welt. Diese Präsenz nährt sich aus der Begegnung mit Gott, der in der Verborgenheit gegenwärtig ist. Wir handeln nun nicht mehr aus unserem begrenzten und beschränkten und aufgeblähten Welt-Ich heraus, sondern aus dem Hören auf einen »different drummer«, der uns einen neuen, wahren Takt vorgibt. Erst auf diese Weise entsteht der dem christlichen Glauben angemessene Weltbezug. Dieser ist aber ohne Entweltlichung nicht zu haben. Wenn wir den Weg der Entweltlichung nicht gehen, haben wir der Welt nichts anderes anzubieten als das, was sie ohnehin schon kennt und woran sie leidet. Der christliche Glaube wäre dann überflüssig. In der Kontemplation geht es letztlich nicht um eine Verbesserung der Welt, so wichtig sie immer auch sein mag, sondern um die Erneuerung der Schöpfung. Dazu bedarf es der Einsicht, dass der Mensch zunächst selbst der Erneuerung bedarf. Von seinem Ursprung her ist der Mensch Bild Gottes (Gen 1,27). Doch dieses Bild ist verschattet. Durch die Sünde ist der Mensch sich selbst und Gott gegenüber fremd geworden. Darunter leidet er. Kontemplation ist ein Weg der Rückkehr in jenen ursprünglichen Zustand, da der Mensch mit sich und mit Gott »eins« ist. Der Mensch soll wieder werden, was er von seinem Ursprung her ist: Bild Gottes. Die hebräische Wortverbindung säläm elohim (Gen 1,26 – 28) heißt wörtlich: Statue Gottes. Eine Gottesstatue steht gewöhnlich in einem Heiligtum. Dort vergegenwärtigt sie die Gottheit. Der biblischen Schöpfungserzählung nach ist die Welt von ihrem Ursprung her ein Heiligtum.34 In diesem Heiligtum steht eine Gottesstatue: der Mensch. In ihr ist Gott selbst gegenwärtig. Als 33 Johannes Tauler: 47. Predigt (H 362) (42007). 34 Vgl. dazu Schwienhorst-Schönberger : Die Welt als Heiligtum (2011).

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Gottesstatue bekommt der Mensch den Auftrag, in der Welt zu herrschen. So gesehen gehört der Weltbezug des Menschen zum Kern der biblischen Anthropologie. Der Auftrag, in der Welt zu herrschen, setzt implizit voraus, dass die von Gott der Welt eingestiftete Ordnung nicht ungefährdet ist. Tatsächlich hat Gott das uranfängliche Chaos von Gen 1,2 nicht beseitigt, sondern zurückgedrängt. In der Gestalt der Urflut und der Finsternis lauert es am Rande der Schöpfung. Der weitere Verlauf der Erzählung zeigt, dass der Mensch seiner Aufgabe nicht gerecht geworden ist. Gen 3 erzählt vom Sündenfall. Der Mensch hört nicht mehr auf Gott. Vom Motiv der Gottesstatue in Gen 1 her gelesen besagt dies: Der Mensch repräsentiert nicht mehr Gott, sondern nur noch sich selbst. Er verweist in seinem Sein und Handeln nicht mehr auf Gott. Er ist nicht mehr das, was er von seinem Ursprung her ist. Er hat sich selbst und Gott gegenüber entfremdet. Die Folgen dieser Entfremdung kommen im weiteren Verlauf der Erzählung anschaulich zur Sprache. In der Schöpfung bricht die Gewalt aus: Kain tötet seinen Bruder Abel (Gen 4). Dramatisch wird in der Sintfluterzählung geschildert, wie die chaotischen Wasser die Erde überfluten, »um alle Wesen aus Fleisch zu vernichten« (Gen 6,17). Damit der Mensch wieder in rechter Weise in der Welt herrschen kann, muss er selbst wieder hergestellt werden. Der christliche Glaube bekennt, dass Jesus von Nazareth das wiederhergestellte Bild Gottes ist: »Er ist das Bild (eikon) des unsichtbaren Gottes« (Kol 1,15). In ihm ist Gott als »wahrer« Mensch in seiner Schöpfung gegenwärtig. Die mit der Bewahrung der Schöpfungsordnung beauftragte Gottesstatue, der Mensch, ist in den Staub gefallen. Gott selbst, so bekennt der christliche Glaube, ist gekommen, um sie wieder aufzurichten, sie zu heilen und zu reinigen (vgl. Lk 10,25 – 37; Kol 3,10), damit sie, in ihrem ursprünglichen Glanz wieder hergestellt, ihrem Schöpfer gleicht und zum Repräsentanten seiner Herrschaft wird. Kontemplation ist im Grunde nichts anderes als die Bereitschaft, sich auf diesen Weg einzulassen: »Legt den alten Menschen ab, der in Verblendung und Begierde zugrunde geht, erneuert euch in Geist und Sinn! Zieht den neuen Menschen an, der gottgemäß (EÜ: nach dem Bild Gottes) geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit« (Eph 4,22 – 24).

Beziehung In der pastoraltheologisch motivierten Anfrage von Regina Polak spielt der Begriff der Beziehung eine wichtige Rolle. Praktische Theologie versteht sie »wesentlich als Beziehungs-Wissenschaft« (166). Sie stellt die Frage: »Dient die kontemplative Schriftauslegung dazu, mit anderen Menschen in eine lebendige

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Beziehung einzutreten?« (168). Darauf ist differenziert zu antworten. »Beziehung« ist ein wichtiger Begriff auf dem kontemplativen Weg. Man kann die kontemplative Übung vom Begriff der Beziehung her erschließen. Menschen leiden unter vielfältigen Formen von Beziehungslosigkeit. Kontemplation kann als ein Weg verstanden werden, aus der Beziehungslosigkeit herauszufinden. Dabei sind drei miteinander verbundene Aspekte zu unterscheiden. In der biblischen Schöpfungserzählung wird in anschaulicher Weise vor Augen geführt, wie sie innerlich miteinander verbunden sind: Es geht um die Beziehung des Menschen (a) zu sich selbst, zu seinem wahren Wesen, (b) zu Gott und (c) zur Welt und zum Mitmenschen. Ist eine dieser Beziehungen gestört, werden zugleich die übrigen kontaminiert. In Gen 3 – 4 wird erzählt, wie das gestörte Verhältnis des Menschen zu Gott unmittelbar dazu führt, dass auch das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zum Mitmenschen aus den Fugen gerät. Der Entfremdung von Gott entspricht die Selbstentfremdung und die Entfremdung von der Welt und vom Mitmenschen. In der Kontemplation gehen wir von der biblisch bezeugten Erfahrung aus, dass Menschen in »falschen Verhältnissen« leben. Sensible Menschen spüren das und leiden darunter. Nicht selten werden sie dadurch motiviert, Ausschau nach einer Lösung zu halten. Falsche Beziehungen müssen aufgegeben werden. Deshalb finden Kurse, die in die Kontemplation einführen, im Schweigen statt. Die Teilnehmer sollen nicht miteinander sprechen und keinen Kontakt miteinander aufnehmen. Sie sollen auch nicht zu Hause anrufen, um mit ihren »lieben Angehörigen« zu sprechen. Der Grundgedanke dabei ist: Die bisher vertrauten Formen der Kommunikation, das bisherige »Miteinander-in-Beziehung-Sein« ist vorübergehend auszusetzen. Beziehungen werden vorübergehend außer Kraft gesetzt, sie werden »gelassen«. Diese Übung ist nicht Ausdruck einer Verachtung von Beziehung, sondern Ausdruck einer »Verachtung« von kontaminierter Beziehung. Damit etwas Neues wachsen kann, muss das Alte gelassen werden. Die Botschaft des Propheten Jeremia lässt sich in sechs Worten zusammenfassen: »ausreißen, niederreißen, vernichten, einreißen, aufbauen, einpflanzen« (Jer 1,10). Die ersten vier Worte sind Begriffe der Destruktion. Damit etwas Neues entstehen kann, muss das Alte, das, was der Wahrheit nicht entspricht, eingerissen und zunichte werden. Das ist eine Botschaft, die gewöhnlich nicht gern gehört wird. Aber sie gehört zur biblischen Tradition. Ohne sie ist der christliche Glaube nicht zu haben. Der Abbruch von Beziehungen gehört zum christlichen Weg: »Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben hasst (misein), dann kann er nicht mein Jünger sein« (Lk 14,26). Dieser vorübergehende Beziehungsabbruch wird von Menschen, die nicht darin geübt sind, anfänglich als irritierend und befremdlich wahrgenommen. Nach einer gewissen Zeit der Übung jedoch wird das Schweigen gewöhnlich als

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wohltuend empfunden. Die Wahrnehmung soll von aller äußeren Zerstreuung »eingesammelt« und auf das Eine, das Unnennbare hin ausgerichtet werden. Je nach Anlage des Kurses wird diese Übung über zwei bis drei oder mehrere Tage hin praktiziert. Danach nehmen wir unsere Beziehungen wieder auf. Gewöhnlich stellt sich dabei als eine vielfach bezeugte Erfahrung ein, dass sich die Beziehung zu anderen Menschen vertieft hat: Ich bin anders da. Ich bin gegenwärtiger. Ich höre anders zu. Die inneren Stimmen, die sonst ständig dazwischenreden, wenn ich anderen »zuhöre«, sind in weite Ferne gerückt oder sogar ganz verstummt. Vorher war mir das gar nicht bewusst. Das, was gelassen wurde, die Beziehung, kehrt in »gereinigter« Form zurück. Jetzt wird mir klar, wie beziehungslos ich in meinen bisherigen vielfältigen und scheinbar so intensiven Beziehungen gelebt habe. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung erschließt sich das provokative Wort Jesu: »Amen, ich sage euch: Jeder, der um meinetwillen und um des Evangeliums willen Haus oder Brüder, Schwestern, Mutter, Vater, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird das Hundertfache dafür empfangen: Jetzt in dieser Zeit wird er Häuser, Brüder, Schwestern, Mütter, Kinder und Äcker erhalten, wenn auch unter Verfolgungen, und in der kommenden Welt das ewige Leben« (Mk 10, 29 f.). In der Kontemplation geht es nicht darum, vorhandene Beziehungen vordergründig zu verbessern. Kontemplation ist kein Kurs der Personalentwicklung. Diese Dinge mögen ihre Berechtigung haben. Die Kontemplation geht einen Schritt zurück. Sie nimmt die Kernstörung in den Blick, sie zielt auf eine Heilung in der Wurzel. Diese Störung kann als Beziehungsstörung verstanden werden. Die gestörte Beziehung des Menschen zu Gott hat weitere Beziehungsstörungen nach sich gezogen. In der Kontemplation setzen wir diese gestörten Beziehungen vorübergehend außer Kraft und richten unsere Wahrnehmung ganz auf Gott hin aus, von dem allein Heilung zu erwarten ist. Wir bemühen uns um eine Umkehrung dessen, was in Gen 3 erzählt wird: Wir hören nicht auf die Stimme eines Geschöpfes, und mag sie noch so klug daherreden, sondern wir hören auf die Stimme des Schöpfers. Dazu müssen wir schweigen und alle unsere natürlichen Kräfte ruhen lassen. »Soll Gott wahrhaft sprechen, so müssen alle Kräfte schweigen.«35 In der Regel berichten Menschen, die sich ernsthaft auf diesen Weg einlassen, dass sich durch diese Übung ihre Beziehung zu sich, zu den Menschen und zu den Dingen der Welt vertieft hat. Sie sind sich und den Menschen, ihrer »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst« (GS 1,1) näher als je zuvor. Allerdings werden sie auch sensibler und können gewisse Formen flacher Gesellung nicht mehr

35 Johannes Tauler : 31. Predigt (H 221) (42007). »Sol Got werlichen sprechen, alle die krefte e mussent swigen« (V 60 f., 314, 21 f.).

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ertragen. Das oberflächliche Geschwätz des Alltags ist ihnen zuwider, im Kreis der Spötter halten sie es nicht mehr aus (Ps 1). Der regelmäßige Rückzug aus der Welt gehört somit zum Kern des christlichen und kontemplativen Weges. Jede Form der Andacht und des Gebets setzt einen solchen Rückzug voraus. Mose zieht sich regelmäßig ins Offenbarungszelt zurück. Dort bekommt er die Kraft, sich immer wieder von Neuem den Nöten der Menschen zuzuwenden: »Intus in contemplationem rapitur, foris infirmantium negotiis urgetur – Im Inneren [des Offenbarungszeltes] wird er in die Beschauung hineingezogen, außerhalb [des Offenbarungszeltes] lässt er sich von den Sorgen der Leidenden bedrängen.«36

Exegese Ein eigens zu diskutierender Punkt ist die Frage nach dem Verhältnis von »wissenschaftlicher Exegese« und dem, was ich »kontemplatives Schriftverständnis« genannt habe. In der Darstellung meines exegetischen Modells (153) fühle ich mich verstanden und im Prinzip richtig wiedergegeben. Allerdings würde ich einige der von Regina Polak geschriebenen Sätze so nicht formulieren. Die Feinheiten des sprachlichen Ausdrucks sind in diesem Zusammenhang nicht zu unterschätzen. So schreibt sie beispielsweise: »Mithilfe der kontemplativen Schriftauslegung sollen Menschen von heute Gott schauen lernen« (153). Zwar verwende ich den biblisch bezeugten Ausdruck »Gott schauen«, aber die Verbindung »Gott schauen lernen« habe ich meines Wissens so nie verwendet und würde es auch – zumindest nicht unvermittelt – tun. In der zitierten Formulierung entsteht der Eindruck, als könne man die Gottesschau erlernen so wie man Griechisch und Hebräisch lernt. Äußerst zurückhaltend wäre ich auch bei der Aussage: »Letztlich entscheidend ist nicht die Intention des Verfassers eines Textes, sondern die des Urhebers – also die Intention Gottes. Diese kann sich durch intertextuelle Interpretation erschließen« (152). Aus dem Wort der Schrift die »Intention Gottes« zu erschließen ist ein komplexer Vorgang, bei dem grundlegende Fragen biblischer Hermeneutik zu bedenken sind. Richtig ist, dass dabei die gesamte Heilige Schrift zu berücksichtigen ist und folglich die intertextuelle Lektüre eine wichtige Rolle spielt. Regina Polak fragt, ob in meinem Modell nicht geschichtliche Ereignisse zugunsten »allgemeiner« oder »eigentlicher« Wahrheiten vernachlässigt werden, und sie fährt fort: »Wer geschichtliche Ereignisse zugunsten ›allgemeiner‹, oder ›eigentlicher‹ Wahrheiten vernachlässigt, tut dies tendenziell auch mit 36 Gregor der Grosse: Regula pastoralis II (1992) 5.

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Ereignissen der Gegenwart« (157). Die Frage überrascht, war es doch gerade die historisch-kritische Exegese, die gezeigt hat, dass vieles von dem, was in der Bibel erzählt wird, nicht in einem historischen Sinn zu verstehen ist. Kaum ein »historisch-kritischer Exeget« rechnet heute noch damit, dass beispielsweise den Erzelternerzählungen konkrete historische Begebenheiten einzelner Personen oder Familien zugrunde liegen. Ähnlich sieht es bei den Erzählungen vom Auszug aus Ägypten, von der Wüstenwanderung und der »Landnahme« aus. Die historische Rückfrage gestaltet sich im Horizont der modernen Geschichtsforschung und des Wissens bezüglich der Konstruktivität von Geschichtsschreibung als äußerst komplex. Darauf kann und soll in diesem Beitrag nicht eingegangen werden. Demgegenüber hat die Väterexegese ein relativ großes Vertrauen in die Historizität biblischer Erzählungen. Von ihr kann die Anregung aufgegriffen werden, dass sich die Bedeutung eines biblischen Textes nicht innerhalb seines primären historischen Bezugsrahmens erschöpft. Zur Verdeutlichung greife ich folgendes Beispiel auf: Origenes bestreitet nicht die Historizität des Exodus, sieht aber darüber hinaus in den Erzählungen die Möglichkeit angelegt, das dort erzählte Geschehen geistig zu verstehen und nachzuvollziehen. Neben äußeren Formen der Sklaverei gibt es auch innere Versklavungen, unter denen Menschen leiden. Der Exodus eröffnet eine Perspektive, auch aus diesen Formen der Sklaverei befreit zu werden. Zu Ex 1,5 schreibt er : »Dies alles ist für uns nicht um der Geschichte willen aufgeschrieben worden, wir sollen auch nicht meinen, die heiligen Bücher würden die Geschichte Ägyptens aufzeichnen. Vielmehr ist, was geschrieben wurde, zu unserer Belehrung und Ermahnung geschrieben worden. Vielleicht hast du, der du dies hörst, schon die Gnade der Taufe empfangen, wurdest zu den Söhnen Israels gerechnet, vielleicht hast du Gott in dir als deinen König angenommen und wolltest danach abweichen, die Werke der Welt ausführen und der Erde dienen, dann sollst du wissen und erkennen: In dir ist ein anderer König aufgetreten, der Josef nicht kennt‹ (Ex 1,8). Er ist König in Ägypten und zwingt dich, für ihn zu arbeiten. Er bringt dich dazu, dass du für ihn Lehmziegel herstellst.«37 Im weiteren Verlauf der Predigt erschließt Origenes im Horizont einer christologischen Perspektive den Weg der Befreiung. Die von Origenes herausgearbeitete Bedeutung dürfte wohl kaum der Aussageabsicht des historischen Autors entsprechen. In einem modernen Kommentar wird man eine solche Auslegung nicht finden. Gleichwohl ließe sich zeigen, dass die Deutung des Origenes eine Sinndimension des Textes zur Sprache bringt, die in ihm selbst angelegt ist. Diese zu erschließen ist, wie die Erfahrung zeigt, von hoher theologischer und pastoraler Relevanz. Die vielfach zu beobachtende Sehnsucht nach spiritueller Erfahrung und Reifung kann so im Gespräch mit der Heiligen 37 Origenes: hom. in Ex 1, 5 (2008).

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Schrift aufgegriffen und geformt werden. Das setzt jedoch eine reflektierte Form der Schriftauslegung voraus. Sie kann von der Väterexegese lernen, ist aber keineswegs an sie gebunden. Sie vermag sich ihrem Selbstverständnis nach auch im Kontext einer hermeneutisch geöffneten modernen historisch-kritischen Exegese zu artikulieren. Sie setzt nicht nur eine gute Kenntnis der Schrift voraus, sondern auch ein gewisses Maß an Erfahrung und Wissen um jene geistigen Prozesse, die im Gespräch mit der Schrift erschlossen werden sollen. Das Wissen, das Mystikern zuteil wurde, ist ein anderes Wissen als das, was sich jemand aus Büchern angeeignet hat. Deutlich hat Hugo M. Enomiya-Lassalle auf diesen Unterschied am Beispiel von Johannes Tauler hingewiesen: »Sicher sind auch Tauler jene inneren Leiden nicht erspart geblieben, die nicht so sehr von äußeren Einflüssen herrühren als von innen her aufbrechen, denn Mystiker müssen, anders als wissenschaftliche Lehrer, den Weg, den sie lehren, zunächst selbst gehen [Hervorhebung durch den Autor]: mit all seinen inneren Bedrängnissen und oft bis an den Rand der Verzweiflung. Auch Tauler ist den Weg, den er andere lehrte, zunächst selbst gegangen, besser gesagt, geführt worden.«38 Es geht mir also nicht darum, die Einsichten der historisch-kritischen Exegese über Bord zu werfen. Für notwendig erachte ich allerdings eine Öffnung der Schriftauslegung im Hinblick auf die hier beschriebenen Prozesse. Eine der Grundlagen, um nicht zu sagen: die Grundlage christlicher Mystik ist die Heilige Schrift. Bernard McGinn spricht von der »deutliche[n] Schriftbezogenheit der christlichen Mystik«. Für die christliche Mystik sind »Lektüre, Auslegung und betende Aneignung der Hl. Schrift und anderer klassischer Texte […] zentral«.39 Origenes vergleicht, in biblischer Tradition stehend, das Wort der Schrift mit einem Samenkorn: »Jedes Wort der Schrift scheint mir einem Samenkorn ähnlich zu sein. Es liegt in seiner Natur, dass es in die Erde geworfen zu einer Ähre wieder ersteht […] und sich vielfach vermehrt, um so reicher, je mehr Arbeit ein erfahrener Bauer für den Samen aufwendet oder je größeren Ertrag ein fruchtbarer Boden schenkt. Durch gewissenhafte Pflege wird ein kleines Samenkorn, z. B. das Senfkorn, das das kleinste von allen Samenkörnern ist, ein Baum, der größer als alle Gewächse ist, so dass die Vögel des Himmels kommen und in seinen Zweigen nisten (vgl. Mt 13,31 f.). Ebenso ist es auch mit diesem Wort aus der Heiligen Schrift, das uns gerade vorgelesen worden ist. Bei der ersten Begegnung erscheint es klein und unscheinbar, wenn aber ein erfahrener und gewissenhafter Bauer beginnt, es sorgfältig zu bearbeiten und auf geistiger Ebene auszulegen, dann wächst es zu einem Baum und breitet sich aus mit vielen Zweigen.«40 38 Enomiya-Lassalle: Zen und christliche Mystik (31986) 364. 39 McGinn: Die Mystik im Abendland (Band I, 1994) 23. 40 Origenes: hom. in Ex 1, 1 (2008).

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Nun äußert Regina Polak aber gerade gegen die oben vorgestellte geistige Deutung des Exodus Bedenken. Die Exoduserfahrung der Israeliten aus ägyptischer Sklaverei dürfe nicht ohne weiteres spiritualisiert werden, indem man sie auf individuelle Befreiungsprozesse bezieht und ihrer politischen Dimension beraubt. Selbstverständlich wird man das eine nicht gegen das andere ausspielen dürfen. Gerade die Einsicht in die Mehrdeutigkeit und Sinnoffenheit biblischer Texte verbietet eine Deutung nach der Devise: »Der Text will uns nichts anderes sagen als […]«. In der Tat erzählt die Exoduserzählung von der Befreiung eines Volkes. Es geht um das Volk Gottes und um die Frage nach einer gerechten Gesellschaft. Gerechte Gesellschaft kann aber nur entstehen, wenn der Exodus von jedem einzelnen vollzogen wird. Deshalb kann in den einschlägigen Texten der Adressat der Geschichte sowohl mit einem pluralischen »ihr« als auch mit einem singularischen »du« angesprochen werden: »Ihr sollt euch keine Götzen machen […]« (Lev 26,1) und: »Du sollst keine anderen Götter neben mir haben« (Ex 20,3). Die soziale und individuelle Dimension des Geschehens dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Eine gerechte Gesellschaft ist noch keine Garantie dafür, dass jeder einzelne in ihr auch wirklich in das Leben hineinfindet. In einer Gesellschaft, in der die »politische Dimension« des Exodus verwirklicht sein mag, wird es auch weiterhin Menschen geben, die von Krankheiten heimgesucht werden, die unter Ängsten leiden, denen der Tod bevorsteht. Diese Herausforderungen zu bestehen, kann ihnen keine Gesellschaft abnehmen. So gesehen ist das, was im Exodus zur Sprache kommt, eine alle Zeiten übergreifende Wahrheit. Damit wird die Verankerung der Erzählung (narratio; story) in der Geschichte (res gestae; history) nicht geleugnet, wie auch immer diese näher zu bestimmen sein mag. Es ist zudem daran zu erinnern, dass sich auch Jesus, soweit es die Evangelien erkennen lassen, den Nöten einzelner Menschen zugewandt hat. Dass seine Worte und Taten eine Dynamik enthalten, die letztlich auf eine neue Gesellschaft, auf die »Erneuerung des Gottesvolkes«, auf eine Kultur der Liebe und Gerechtigkeit zielen, bleibt unbestritten. Wenn dieses neue Leben aber nicht in jedem einzelnen verankert ist, wenn es nicht dort wachsen und reifen kann, wie soll es dann zu einer gesellschaftlichen Wirklichkeit werden? In diesem Zusammenhang schreibt Regina Polak: »Aber wenn die Suche nach der universalgültigen Wahrheit nicht zugleich dazu dient, dem Konkreten besser gerecht zu werden, besteht das Risiko, das Konkrete auf einen Fall des Allgemeinen zu reduzieren und in seinem Wert gering zu schätzen. Eine solche Denkweise hatte und hat in der Regel immer auch Auswirkungen auf den Umgang mit Menschen, deren Würde und Wert als ›Einzelne‹ mit ihrer je eigenen Geschichte dann zugunsten ›höherer Wahrheiten‹ geopfert wurden und werden« (157 f).

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Ich kann die Bedenken nicht nachvollziehen. Gerade vor dem Hintergrund der kontemplativen Übung, wie sie oben dargestellt wurde, dürfte deutlich geworden sein, dass es bei ihr um eine sehr genaue Wahrnehmung dessen geht, was konkret geschieht. Da soll nichts übersprungen oder geleugnet werden. Sowohl der einzelne Mensch in seiner konkreten leiblichen Verfassung als auch seine Einbindung in »Geschichte und Gesellschaft« werden ernst genommen. Christliche Mystik ist eine Schule des Sehens und des Verstehens. So sind auch die biblischen Erzählungen angelegt. Sie öffnen uns die Augen und zeigen uns, was in Wahrheit geschieht. Regina Polak bringt dem Modell des kontemplativen Schriftverständnisses große Sympathie entgegen, führt jedoch weiter aus, dass es der »praktischtheologischen Kritik« bedarf, um es »im Horizont einer theologisch gedeuteten Gegenwart weiterzuentwickeln« (159). Der folgende Abschnitt, der offensichtlich die »praktisch-theologische Kritik« vorbringt, steht unter der Überschrift »Persönliche Erfahrung«. Es steht mir nicht zu, diese in irgendeiner Form zu beurteilen oder gar zu kritisieren. Ich sehe keinen Widerspruch zu dem, was ich vertrete. Ich teile die von Gottfried Bitter genannten bibelpastoralen Defizite, die Regina Polak zustimmend zitiert. Unter den Defiziten gegenwärtiger Bibelpastoral führt sie im Anschluss an Bitter an: »Die zwischenmenschliche Beziehung hat gegenüber der Beziehung zu Gott eine größere Bedeutung; der Beziehung zu Gott wird weniger Wirklichkeit eingeräumt als der zu den Menschen« (163). Genau an dieser Stelle setzt das kontemplative Schriftverständnis an. Das dürfte aus den vorangehenden Darlegungen deutlich geworden sein. Als zweites führt sie im Anschluss an Bitter an: »Auswahl und Besprechung der Texte erfolgen nach den jeweiligen Vorlieben und vermeiden sperrige Aspekte der biblischen Botschaft« (163 f). Dieser Gefahr steuert die lectio divina entgegen. In ihr setzt sich der Leser einem Buch von Anfang bis zum Ende aus. Man kann meinen Ansatz als Antwort auf die konstatierten Defizite verstehen. Das Modell des kontemplativen Schriftverständnisses versucht, das von Regina Polak postulierte Modell einer »praktisch-theologischen Bibelhermeneutik« als »Beziehungs-Hermeneutik« (168) zu verwirklichen. Die von ihr formulierten Fragen können durchgehend mit »Ja« beantwortet werden. Die moderne, häufig auch als »historisch-kritisch« bezeichnete wissenschaftliche Exegese gehört für mich zum unaufgebbaren Standard einer zeitgenössischen Theologie. In ihr hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten allerdings eine interessante Entwicklung angebahnt, die für unsere Frage nach dem Verhältnis von Exegese und Spiritualität, von »Text und Mystik« von Bedeutung ist. Stichwortartig seien die wichtigsten Aspekte dieser Entwicklung genannt: die Mehrdeutigkeit und Sinnoffenheit biblischer Texte (»zweifacher« bzw. »vierfacher Schriftsinn«), die Wiederentdeckung des Kanons der Schrift als

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des Kontextes der Auslegung im Rahmen der kanonischen Exegese, die Bedeutung der Intertextualität für die Sinnerschließung eines Textes und die Rolle der Rezeptionsgemeinschaft (»Volk Gottes«) für die Sinnfindung und Sinnbegrenzung biblischer Texte. In der Sache ergeben sich aus dieser immanenten Entwicklung überraschende Affinitäten zur vorneuzeitlichen Exegese, insbesondere zur Exegese der Kirchenväter.41 In der Exegese der Kirchenväter spielt der geistige Sinn der Schrift eine entscheidende Rolle. Der geistige Sinn der Schrift wurde in der modernen Exegese lange Zeit als »unwissenschaftlich« beiseite geschoben und nicht weiter beachtet. Dies ist meines Erachtens in dieser grundsätzlichen Form so nicht mehr möglich. Damit bietet sich die Möglichkeit, jenes Schriftverständnis auch in der »wissenschaftlichen Exegese« wieder stärker zu berücksichtigen, das als die entscheidende Schnittstelle zwischen »Text und Mystik« angesehen werden kann. Von einer interessanten Erfahrung berichtet Ulrich Luz im Vorwort des vierten und letzten Bandes seines Kommentars zum Matthäusevangelium: »Meine Grunderfahrung in der Beschäftigung mit der Auslegungs- und Wirkungsgeschichte der Passionstexte war, dass es hier Schätze von Erfahrungen mit den biblischen Texten zu heben gilt, die für uns wieder wichtig werden könnten. Dabei war mir besonders wichtig, scheinbar Fremdes und längst Überwundenes ernst zu nehmen. Dazu gehört für mich als modernen Exegeten z. B. die allegorische Auslegung der biblischen Texte oder für mich als Protestanten die oft genug zu Unrecht als ›Werkgerechtigkeit‹ abqualifizierte mittelalterliche Passionsfrömmigkeit. Die Erfahrung des Reichtums der Wirkungsgeschichte führte mich auch dazu, noch mehr als bisher den Reichtum der biblischen Texte selbst zu entdecken, welche mit ihren Sinnpotenzen, ihrer Offenheit und ihrer Kraft die Wirkungsgeschichte angestoßen und bestimmt haben. Die Leser/innen werden entdecken, dass die Frage nach ›richtigen‹ und ›falschen‹ Exegesen des Textes in diesem Kommentar eine sehr geringe Rolle spielt.«42

Dennoch wird die wissenschaftliche Exegese das spirituelle Potenzial der Schrift nicht voll ausschöpfen können. Ihrem Selbstverständnis nach will sie das auch gar nicht. Das bedeutet allerdings, dass es eine Form der Bibellektüre geben muss, die über das Modell der »wissenschaftlichen Exegese« im engeren Sinn hinausgeht, die aber nicht unwissenschaftlich oder unvernünftig ist. In der christlichen Tradition ist das die so genannte lectio divina. Es ist hier nicht der Ort, diese in unserer Zeit neu entdeckte Form der Schriftlektüre näher vorzustellen.43 Ihr Verhältnis zur wissenschaftlichen Exegese wird in den einschlägigen Publikationen gelegentlich erörtert, bedürfte aber meines Erachtens noch einer gründlichen Untersuchung. 41 Diese habe ich vor allem in meinen im Literaturverzeichnis angeführten Beiträgen herausgestellt. 42 Luz: Das Evanelium nach Matthäus Bd. 4 (2001) VIII. 43 Vgl. ausführlich dazu den Beitrag von Karl Baier in diesem Band.

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Bei der lectio divina geht es nicht in erster Linie um die Aneignung von Wissen, sondern um die Begegnung mit dem Wort der Schrift. Die Begegnung zielt letztlich auf eine Verwandlung. Die bei der lectio divina eingenommene Haltung weist Entsprechungen zu der bei der kontemplativen Übung einzunehmenden Haltung auf: Die Lektüre eines Textes erfolgt langsam; es soll nicht zu viel gelesen werden; wiederholendes Lesen (ruminatio), Verweilen bei einem Wort, das »anspricht«, und Nachklingenlassen des Gelesenen sind weitere Elemente der lectio divina. Die Übergänge zwischen lectio, meditatio, oratio und contemplatio können fließend sein. Michael Casey hat aus langer Erfahrung und exzellenter Kenntnis der Tradition den Zusammenhang von Kontemplation und lectio divina aufgezeigt: »Lectio divina ist ein für die Entfaltung der Kontemplation wesentliches Element. Was ist Kontemplation? Sie ist eine zweifache Änderung des Bewusstseins. Einerseits ein Rückzug aus dem gewöhnlichen Sinnes- und Verstandeswissen, sowie aus den mit ihm zusammenhängenden Sorgen und Plänen. Andererseits und noch genauer : das Wissen um die Wirklichkeit und das Geheimnis Gottes. Hat man sich, Christus nachahmend, entäußert (Philipper 2,7), wird man von der Fülle Gottes erfüllt. […] Ungeachtet der Intensität der Erfahrung ist die mystische Vereinigung mit Gott nicht eine Verengung des Horizonts, als ob außerhalb des eigenen Selbst und Gottes nichts von Wichtigkeit wäre. In jeder authentischen mystischen Erfahrung betreten wir eine umfassendere Welt; an ihrem höchsten Punkt schließt sie alles mit ein. Nur wenn man mit der ganzen Schöpfung eins ist, kann man die Vereinigung (Einheit) mit Gott erfahren. Das meint das Doppelgebot: Liebe Gott, liebe deinen Nächsten. Wenn lectio zur Kontemplation führen soll, muss sie mehr und mehr zur Solidarität mit der ganzen Menschheit hinführen.«44

Gregor der Große versucht den Unterschied mit den Begriffen Wissenschaft und Weisheit zu erfassen. Er sei hier abschließend zitiert: »Nun muss man wissen, dass die Beschauung (contemplatio), die sieht, was nicht ausgesprochen zu werden vermag, etwas anderes ist als die Wissenschaft (scientia) beziehungsweise die Lehre (doctrina), die sieht, was in Worten ausgedrückt werden kann. Im Vergleich zu jener Erleuchtung, die nicht in Worte gefasst werden kann, ist all das, was mit Worten wiederzugeben ist, gleichsam draußen […] Nach den Worten Pauli wird dem einen durch den Geist das Wort der Weisheit (sermo sapientiae) verliehen, dem anderen aber die Rede der Wissenschaft (sermo scientiae) in demselben Geist (1 Kor 12,8). Es gibt Menschen, die aufgrund eines Gnadengeschenkes auch das verstehen, dessen Erklärung sie von keinem Lehrmeister gehört haben: diese haben offenbar das Wort der Weisheit empfangen. Und dann gibt es andere, die das, was sie gehört haben, nicht verstehen, wohl aber das behalten, was sie bei den Theologen gelesen haben, und die das beim Lesen Gelernte gescheit wiedergeben.«45 44 Casey : Lectio divina (2010) 63 f. 45 Gregor der Grosse: Homilien zu Ezechiel, II, VI, 1 – 2.

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Autorinnen und Autoren

A.o. Univ.-Prof. Dr. Karl Baier, Institut für Religionswissenschaft, KatholischTheologische Fakultät der Universität Wien Prof. Dr. Dr. h.c. Bettina Bäumer, Direktorin der Samvidalaya Abhinavagupta Research Library in Varanasi (Indien) und Gastprofessorin an den Universitäten Wien und Salzburg Prof. Dr. Dieter Böhler SJ, Professor für Exegese des Alten Testaments an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt am Main PD Dr. Reiner Manstetten, Privatdozent am Alfred-Weber-Institut für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Heidelberg Dr. Regina Polak, Ass.-Prof. am Institut für Praktische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Univ.-Prof. Dr. Ludger Schwienhorst-Schönberger, Vorstand des Instituts für Bibelwissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien