Vom Text zum Bild: Die Collagen von Peter Weiss und ihr Verhältnis zum schriftstellerischen Werk 9783839443989

For the first time ever the collages created by Peter Weiss are the focus of a scientific monography. Helena Köhler refl

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Vom Text zum Bild: Die Collagen von Peter Weiss und ihr Verhältnis zum schriftstellerischen Werk
 9783839443989

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Zum Ansatz der Studie
2. Peter Weiss als Künstler verschiedener Medien
3. Text und Collage bei ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘
4. Text und Collage bei ‚Abschied von den Eltern‘
5. Fazit
6. Literatur

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Helena Köhler Vom Text zum Bild

Lettre

Für Constantin

Helena Köhler (Dr. phil.), studierte Germanistik und Literaturwissenschaft in Greifswald und Bielefeld. Mit der Studie zu Peter Weiss wurde sie 2017 an der Universität Bielefeld promoviert.

Helena Köhler

Vom Text zum Bild Die Collagen von Peter Weiss und ihr Verhältnis zum schriftstellerischen Werk

Dissertation an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld 2017 Gefördert durch ein Promotionsstipendium der Begabtenförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Mit 22 Abbildungen von Peter Weiss; © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Peter Weiss: Collage II, 1959. Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: HZ 3386.4; © VG Bild-Kunst, Bonn 2018; mit freundlicher Genehmigung der Akademie der Künste, Berlin. Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4398-5 PDF-ISBN 978-3-8394-4398-9 https://doi.org/10.14361/9783839443989 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7 1

Zum Ansatz der Studie | 9

1.1 Einführende Überlegungen, Leitfragen und Vorgehen | 9 1.2 Methodik und Gliederung | 16 1.3 Forschungsstand | 22 2

Peter Weiss als Künstler verschiedener Medien Intermedialität und Medienwechsel | 29

2.1 2.2 2.3 2.4

Gründe, Formen und Konsequenzen des Medienwechsels | 29 Peter Weiss als Maler | 52 Zur quantitativen Modifizierung | 70 Zur qualitativen Markierung | 75

3

Text und Collage bei ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ | 79

3.1 Einführende Text- und Bildbeschreibungen | 79 3.2 Zum Verhältnis von „Mikroroman“ und Collagen | 94 4

Text und Collage bei ‚Abschied von den Eltern‘ | 155

4.1 Einführende Text- und Bildbeschreibungen | 155 4.2 Zum Verhältnis von ‚Erzählung‘ und Collagen | 171 5

Fazit | 277

Literatur | 283 6.1 Siglen | 283 6.2 Quellen | 284 6.3 Forschungsliteratur | 287 6

Vorwort

Dies ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation. An der Entstehung hatten viele Menschen Anteil, denen ich an dieser Stelle danken möchte. Mein großer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Wolfgang Braungart. Seine umfassende Betreuung, seine fachlichen Ratschläge, die wissenschaftlichen Diskussionen und die ermutigenden Gespräche waren mir auf dem Weg zur fertigen Arbeit eine große und bedeutende Hilfe. Prof. Dr. Lothar van Laak verdanke ich nicht nur mein großes Interesse an Peter Weiss und seinen Collagen, sondern auch ganz wesentlich die Ermutigung, eine Promotion zu beginnen. Prof. Arnd Beise danke ich sehr für seine unermüdliche Bereitschaft, mir viele hilfreiche Auskünfte zu Peter Weiss zu geben. Darüber hinaus danke ich Prof. Dr. Gerhard Lauer für seine bereitwillige Hilfe bei der Suche nach (digitalen) Mitteln und Wegen, die Herkunft der Fragmente zu recherchieren, Dr. Markus Huss für die Informationen zum Kunst- und Literaturbetrieb in Schweden im 20. Jahrhundert und Henning Marmulla für die Auskünfte zu Peter Weiss und Hans Magnus Enzensberger. Dr. Markus Pahmeier und Tanja Kirchhof danke ich für das gründliche Korrekturlesen. Gunilla Plamstierna-Weiss danke ich für ihre besondere Gastfreundschaft und ein anregendes und informatives Gespräch in Stockholm. Ebenso danke ich Frau Palmstierna-Weiss stellvertretend für die ganze Erbengemeinschaft sowie der Akademie der Künste, Berlin, und dem Suhrkamp Verlag für die Genehmigungen, alle Collagen in meiner Monografie abbilden zu dürfen. Die Begabtenförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) hat mich und mein Promotionsvorhaben mit einem Promotionsstipendium finanziell unterstützt. Doch ganz besonders habe ich von der ideellen Förderung der KAS profitiert. Zudem waren Dr. Daniel Tandecki als Leiterin der Promotionsförderung und Dr. Gernot Uhl als mein betreuender Referent mir jederzeit persönliche und vertrauensvolle Ansprechpartner. Beide wurden dadurch zu wichtigen Begleitern in meiner Zeit als Doktorandin und Promotionsstipendiatin der KAS.

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Ganz besonders danken möchte ich meinem Mann Oliver für seinen steten Zuspruch, sein Verständnis und für die Freiräume, die er mir schuf, um konzentriert an der Dissertation arbeiten zu können. Meinem Sohn Constantin danke ich für das große Verständnis, dass ich viele Abende und Wochenenden am Schreibtisch verbracht habe. Ohne den Rückhalt meiner Familie wären die mehr als vier Jahre bis zur Fertigstellung der Dissertation um ein Vielfaches beschwerlicher gewesen.

Berlin, im September 2018

Helena Köhler

1

Zum Ansatz der Studie

1.1 EINFÜHRENDE ÜBERLEGUNGEN, LEITFRAGEN UND VORGEHEN Nachdem der Preis der Gruppe 47 im Jahr 1958 an Günther Grass verliehen wurde, vergingen vier weitere Jahre, bis ein anderer Autor auch nur ansatzweise als ähnlich gut eingestuft und damit als auszeichnungswürdig angesehen wurde. Spätestens mit der Nominierung von Peter Weiss im Jahr 1962 steht demnach fest, dass Weiss zu den wichtigsten deutschen Autoren des 20. Jahrhunderts zählt.1 Mit dem von Hans Magnus Enzensberger als „Mikroroman“2 bezeichneten ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ 3 und der als im Untertitel ausge-

1

Der Preis ging allerdings nicht an Weiss, sondern an Johannes Bobrowski. Vgl. dazu auch Helmut Böttiger: Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb. München 2012, besonders S. 300-305, hier S. 305: „[…] und das überraschende Ergebnis lautete: 43:30 für Bobrowski.“

2

Vgl. Anm. 3 in: Siegfried Unseld – Peter Weiss. Der Briefwechsel. Hg. von Rainer Gerlach. Frankfurt a. M. 2007, S. 38: „[…] Enzensberger erfand für ihn [den Text ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers; H. K.] die Gattungsbezeichnung ‚Mikroroman‘.“ Alle Zitate aus diesem Titel werden im Folgenden als B mit Angabe der Seitenzahl nachgewiesen.

3

Peter Weiss: Der Schatten des Körpers des Kutschers. In: Werke in sechs Bänden. Hg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Gunilla Palmstierna-Weiss, Band 2: Prosa 2. Frankfurt a. M. 1991, S. 7-56. Alle Zitate aus diesem Titel werden im Folgenden als K direkt im Anschluss an das Zitat mit Angabe von Kürzel für den Titel und jeweiliger Seitenzahl nachgewiesen. Generell gilt: Werke von Peter Weiss werden, wenn möglich, nach den ‚Werken in sechs Bänden‘ mit Angabe von Kürzel für den Einzeltitel und Seitenzahl zitiert.

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wiesenen ‚Erzählung‘ ‚Abschied von den Eltern‘4 gelang Weiss 1960/61 als Schriftsteller der Durchbruch in Deutschland. Mit seinem Drama ‚Marat/Sade‘5 hat Weiss Brechts Theaterkonzept entscheidend weitergeführt und das Theater nach 1945 weiterentwickelt.6 Peter Weiss ist als Künstler verschiedener Medien bekannt. Doch seine bildende Kunst wird sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Forschung erstaunlicherweise wenig beachtet. Insgesamt ist auffällig, dass dem Bilder, Zeichnungen, Illustrationen und Collagen umfassenden bildkünstlerischen Werk von Peter Weiss trotz international beachteter Ausstellungen 7 bisher wesentlich weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird als seiner Literatur. Das ist insbesondere deshalb verwunderlich, da bei so zentralen Werken wie ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ und ‚Abschied von den Eltern‘ Text und Bild direkt nebeneinanderstehen. Insgesamt fertigte Weiss nachträglich 22 Collagen zu diesen beiden Texten an. Die spärliche Sekundärliteratur zu dem Text-Bild-Verhältnis bei Weiss hat sich noch nie mit den Collagen zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ und ‚Abschied von den Eltern‘ in toto auseinandergesetzt; diese Lücke soll meine Studie schließen. Denn bisher wurden weder die Collagen eingehend analysiert noch wurde ihre eindeutige Referenz auf die Texte untersucht. Der Suhrkamp Verlag8 veröffentlichte Weiss’ avantgardistischen Roman ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ 1960 in der Erstauflage als Tausend-

4

Peter Weiss: Abschied von den Eltern. In: Werke in sechs Bänden. Hg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Gunilla Palmstierna-Weiss, Band 2: Prosa 2. Frankfurt a. M. 1991, S. 57-142. Alle Zitate aus diesem Titel werden im Folgenden als A direkt im Anschluss an das Zitat mit Angabe von Kürzel für den Titel und jeweiliger Seitenzahl nachgewiesen.

5

Peter Weiss: Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade. Drama in zwei Akten. In: Werke in sechs Bänden. Hg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Gunilla Palmstierna-Weiss, Band 4: Dramen 1. Frankfurt a. M. 1991, S. 155-256.

6

Zu Peter Weiss als Dramatiker siehe Genia Schulz: Peter Weiss (1916-1982). In: Deutsche Dramatiker des 20. Jahrhunderts. Hg. von Alo Allkemper/Norbert Otto Eke. Berlin 2000, S. 403-416.

7

Für eine Übersicht über die Ausstellungen des bildkünstlerischen Werkes vgl. Kapitel ‚Peter Weiss als Maler‘, S. 52ff.

8

Peter Weiss hat sämtliche Werke im Suhrkamp Verlag veröffentlicht. Die Wichtigkeit des Suhrkamp Verlags für Weiss untersucht Rainer Gerlach in: Die Bedeutung des Suhrkamp-Verlags für das Werk von Peter Weiss. St. Ingbert 2005.

Zum Ansatz der Studie | 11

druck, in dem sieben von insgesamt elf dem Text zugehörigen Collagen abgebildet wurden.9 Die autobiographisch beeinflusste ‚Erzählung‘ ‚Abschied von den Eltern‘ erschien im Jahr 1961 in der deutschen Erstausgabe ebenfalls als Tausenddruck mit einer beigefügten Mappe, die acht Collagen zu diesem Text enthielt.10 Auch in den folgenden Auflagen veröffentlichte der Suhrkamp Verlag die Texte mit exakt dieser Auswahl der Collagen. Dadurch blieben vier Collagen zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ bis heute weitgehend unbeachtet oder unveröffentlicht. Insgesamt neun Collagen zum ‚Abschied‘ und elf Collagen zum ‚Kutscher‘ befinden sich in der Kunstsammlung der Akademie der Künste in Berlin. Einen Monat, bevor er starb, hat Peter Weiss drei neue Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ hergestellt. Der Verbleib dieser drei Originale war bisher unklar. Während der Recherchen zu dieser Studie tauchten zwei Collagen an einem privaten Ort wieder auf: Sie hängen im Wohnzimmer im Haus von Gunilla PalmstiernaWeiss, der Witwe von Peter Weiss. Die dritte Collage aus dem Jahr 1982 befindet sich in der Akademie der Künste in Berlin. Alle drei nachträglich hergestellten Collagen sind in ‚Fluchtpunkt‘,11 das als Fortsetzung zu ‚Abschied‘ gelesen

9

Der Schatten des Körpers des Kutschers. Mit sieben Collagen des Autors. Frankfurt a. M. 1960 (Tausenddruck 3); reproduzierter Nachdruck ebd. 1991. Für die Erstausgaben dieses Textes traf Peter Weiss in Abstimmung mit seinem Verleger beim Suhrkamp Verlag, Siegfried Unseld, eine Auswahl aus seinen Collagen. Publiziert wurden die Collagen ‚I‘, ‚II‘, ‚III‘, ‚IV‘, ‚V‘, VI‘ und ‚VI‘ (vgl. Kapitel 3.1 ‚Einführende Textund Bildbeschreibungen‘, S. 79ff.). Diese Information findet sich zwar in allen Ausgaben, allerdings fehlt der Hinweis, dass es noch weitere Collagen gibt und die ausgewählten Collagen zum Teil nur als Ausschnitt abgebildet werden. Vgl. zur Genese des Buches: Siegfried Unseld – Peter Weiss, Der Briefwechsel, insbesondere S. 9-77, sowie o. a. Kapitel dieser Arbeit. In der Folge wird der ‚Briefwechsel‘ zitiert als B mit Angabe der Seitenzahl. Die vier nicht veröffentlichten Collagen zum ‚Kutscher‘ sind nicht nummeriert. Für diese Studie wird eine Nummerierung dieser Collagen in ‚a‘, ‚b‘, ‚c‘ und ‚d‘ vorgenommen.

10 Deutsche Ausgabe mit Reproduktionen in Originalgröße: Abschied von den Eltern. Mit 8 Collagen des Autors sowie einer separaten, vom Autor signierten Collage. Mit einem Nachwort von Christa Grimm. Leipzig 1980. 11 Peter Weiss: Fluchtpunkt. In: Werke in sechs Bänden. Hg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Gunilla Palmstierna-Weiss, Band 2: Prosa 2. Frankfurt a. M. 1991, S. 143-294. Alle Zitate aus diesem Titel werden im Folgenden als F direkt im Anschluss an das Zitat mit Angabe von Kürzel für den Titel und jeweiliger Seitenzahl nachgewiesen. Arnd Beise zeigt zwei der nachträglich angefertigten Collagen in sei-

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werden kann, abgedruckt – allerdings ohne den eigentlichen Herstellungskontext kenntlich gemacht zu haben und ohne Verweis auf die ursprüngliche Anbindung an ‚Abschied von den Eltern‘; so wurden die drei nachträglich hergestellten Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ nach ihrer Reproduktion in ‚Fluchtpunkt‘ im Jahr 1983 oftmals dem falschen Werk zugeordnet. Wenn in dieser Studie von einer Collage die Rede ist, ist eine ästhetische Definition von Collage und Montage als „Verfahren und Werke, die aus urspr[ünglich] separaten Teilen unterschiedlicher Herkunft etwas Neues zusammensetzen“12, gemeint. Die Begriffe Collage und Montage bezeichnen „zunächst generell den technischen Prozess des Zusammenfügens und seine Produkte.“ 13 Eine Collage ist „eine Klebe-Arbeit v. a. auf Papier.“14 Sowohl die Collage als auch die Montage sind aufgebaut aus einer „Abfolge von Materialien“. 15 Material wird hier verstanden als „allg[emeiner] Werkstoff.“16 Oft werden Collage und Montage als Begriffe synonym verwendet;17 etabliert hat sich aber die Trennung der Montage von der Collage als „Technik, aus vorfabrizierten, heterogenen Ma-

ner Monographie ‚Peter Weiss‘ (Stuttgart 2002). In der Folge wird der dieser Titel zitiert als AB mit Angabe der Seitenzahl. In der Ausgabe des Suhrkamp Verlages werden alle drei Collagen – neben einer weiteren aus der ‚Dinosaurus-Reihe‘ – reproduziert: Peter Weiss: Fluchtpunkt. Roman. Mit vier Collagen von Peter Weiss. Frankfurt a. M. 1983, hier S. 55, S. 110-111 und S. 159. Die Collagen, die auf S. 55 und S. 159 abgebildet sind, hängen gerahmt bei Gunilla Palmstierna-Weiss nebeneinander im Wohnzimmer. Die nachträglich angefertigten Collagen zu ‚Abschied‘ sind nicht nummeriert. Für diese Studie wird eine Nummerierung dieser Collagen in A, B und C vorgenommen, die sich an der Reihenfolge ihrer Reproduktion in der o. a. Ausgabe von ‚Fluchtpunkt‘ orientiert (Collage A siehe S. 55; Collage B siehe S. 108-109 [Original wird in der Akademie der Künste, Berlin, verwahrt]; Collage C siehe S. 159). 12 Eckart Voigts-Virchow: Montage/Collage. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. von Ansgar Nünning. Stuttgart/ Wiemar 42008, S. 514-515, hier S. 514. 13 Ebd., S. 514. 14 Hanno Möbius: Collage oder Montage. In: Metzler Lexikon Avantgarde. Hg. von Hubert van den Berg/Walter Fähnders. Stuttgart 2009, S. 65-67, hier S. 65. 15 Voigts-Virchow, Montage/Collage, S. 514. 16 Franck Hofmann: Material. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hg. von Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moennighoff. Stuttgart 32007, S. 480. 17 Vgl. dazu auch Möbius, Collage oder Montage, S. 65: „In den Grundoperationen synonyme Begriffe, die sich tendenziell einzelnen Künsten zuordnen lassen.“

Zum Ansatz der Studie | 13

terialien Kunstwerke zu produzieren“,18 wobei ausschließlich Fremdmaterialien eingesetzt werden und das Endprodukt primär den räumlichen Aspekt betont. Die „‚Montage‘ ist abzugrenzen von ‚Stoffen‘, ‚Themen‘ und ‚Motiven‘, den inhaltlichen Elementen […].“19 Der Begriff der Montage „verengt sich […] auf einen handwerklichen Vorgang […]“20 und meint ein aneinanderfügendes Verfahren, also mit einer vorrangig zeitlichen Dimension, die „[b]eim Film […] für den Schnitt des Bild- und Tonmaterials [steht].“21 Der Begriff der Montage wird hiernach in Bezug auf das Medium Film verwendet, denn „[d]ie technisch geprägten Künste (Fotografie, Film, Hörsspiel) verwenden vorwiegend den Begriff.“22 Mit dem Begriff der Collage ist in dieser Studie generell ein bildliches Kunstwerk gemeint, das durch die Erfüllung folgender drei Eigenschaften zur Gattung der Collage zu zählen ist: „(a) Das Collagematerial [ist] präexistent […], (b) die Collage wird durch Zusammenfügen des Materials hergestellt und erzeugt (c) den Eindruck von Disparatheit.“23 Bei den Untersuchungen der Weiss’schen Collagen ist generell zu berücksichtigen, wie man diese zu benachbarten Kategorien, die sich durch die enge Anbindung an den Text ergibt, wie beispielsweise der des Emblems24 oder der der Verbildlichung abgrenzen kann. Denn die Collagen sind mehr als eine reine Verbildlichung von (eigener) Literatur. Gegen den Begriff der Illustration als ei-

18 Anke Detken: Collage. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hg. von Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moennighoff. Stuttgart 32007, S. 127. Vgl. ebenso Möbius, Collage oder Montage, S. 65: „Mit der [...] Übernahme des Begriffes [der Montage; H. K.] in die Künste gaben sich die Montagekünstler nach 1900 als Techniker […]. Die Montageformen des sowjetischen Stummfilms führten dazu, dass sich der Begriff auch in Literatur und Theater weitgehend durchsetzte.“ 19 Anke Detken: Montage. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hg. von Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moennighoff. Stuttgart 32007, S. 512. Vgl. ebenso: Burkhardt Lindner/Hans Burkhard Schlichting: Die Destruktion der Bilder: Differenzierungen im Montagebegriff. In: Alternative 122/123, 21. Jahrgang 1978, S. 209-224. 20 Möbius, Collage oder Montage, S. 65. 21 Detken, Montage, S. 512. 22 Möbius, Collage oder Montage, S. 65. 23 Holger Lund: Angriff auf die erzählerische Ordnung. Die Collagenromane Max Ernsts. Bielefeld 2000, S. 222. 24 Grundsätzliches zum Emblem in: Bernhard F. Scholz: Emblem. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band 1. Hg. von Klaus Weimar. Berlin 1997, S. 435438.

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ne „bildliche Darstellung, die sich in erklärender oder schmückender Weise auf einen gleichzeitig dargebotenen Text bezieht“, 25 spricht vor allem, dass es eben keinen wirklich „gleichzeitig dargebotenen Text“ gibt: Die Zuordnung von Text(-stellen) und Bild(-ausschnitten) ist oft nicht unmittelbar erkennbar und weitaus komplizierter als eine lineare, simple oder gar erklärende Übersetzung oder Übernahme der Worte in eine bildliche Entsprechung, die primär zu Anschauungszwecken dient. Die Collagen sind vielmehr als das Ergebnis einer Transformation sprachlicher, syntaktischer und narrativer Strukturen sowie in einer semantischen Übertragung textueller Vorgaben in eine bildliche Entsprechung zu beschreiben. Meine Leitfragen sind dabei folgende: • Wie lassen sich die Anbindungen der Collagen an den entsprechenden Text

erkennen? Wie lassen sie sich beschreiben und verifizieren? • Wie sieht die rein quantitative Bindung der Collagen an den Text aus? Wie

viele Verweise auf den Text gibt es? • Wie sind die Zitate qualitativ in ihrer Strukturalität, Referentialität, Selektivität

und Dialogizität markiert und skaliert? 26 27 • Kann der Text als Prätext und die Collage als sein Posttext definiert werden? • Wie hoch ist die quantitative Dichte, wie hoch die Häufigkeit der Bezüge und wie hoch sind die genaue Zahl sowie die Streubreite der Prätexte, wenn die Collage als Posttext definiert wird? • Gibt es möglicherweise weitere Prätexte in Weiss’ Gesamtwerk?

25 Anja Schachtschabel: Illustration. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hg. von Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moennighoff. Stuttgart 3

2007, S. 342.

26 Siehe dazu Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hg. von Ulrich Broich/Manfred Pfister. Tübingen 1985, hier: Skalierung der Intertextualität, S. 25-30. 27 Bernd Auerochs: Prätext. In: Metzler Lexikon Literatur. Hg. von Dieter Burdorf/ Christoph Fasbender/Burkhard Moennighoff. Stuttgart 32007, S. 606f.; Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer/Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1993, S. 14: Genette spricht von ‚Hypotext‘ und ‚Hypertext‘ synonym zu ‚Prätext‘ und ‚Posttext‘. ‚Prätext‘ bezeichnet „einen (älteren) Bezugstext, aus dessen Transformation ein anderer (jüngerer) Text hervorgegangen ist, [und] meint das Verhältnis von Prätext und Text, einen für die Gestalt des Textes als Ganzen konstitutiven Bezug.“ (Auerochs, Prätext, S. 606.) Dieser zweite (jüngere) Text ist hier bezeichnet als Posttext.

Zum Ansatz der Studie | 15

• Veranschaulichen die einzelnen Bildelemente der Collagen den Text oder deu-

ten sie ihn eher? • Wie kann man einzelne Bildelemente deuten: eng bezogen auf den Text oder

autonom(-er)? Was trägt die Struktur der Collage dazu bei? • Wie ist das Verhältnis von Text und Collage? Gibt es eine Wechselwirkung

oder „wechselseitige Erhellung“?28 • Welche Funktionen haben die Collagen? • Was geschieht mit dem Text, wenn die Collagen hinzugefügt werden? Peter Weiss diskutiert und reflektiert in seinem Gesamtwerk die Medien Sprache, Bild und Film. Überall finden sich Zusammenhänge, die die Wechselwirkungen, Differenzen und Gemeinsamkeiten der verschiedenen Medien herausstellen. Durch die Collagen zu den hier untersuchten Texten verbindet Weiss explizit die Medien Wort/Text und Bild. „So ist die erzählende Literatur von Zeitlichkeit, Handlung, Bewegung und von der Mittelbarkeit ihres Vortrags geprägt, also von Charakteristiken, die den Hauptmerkmalen der Malerei diametral entgegengesetzt sind“,29 um mit Bernard Dieterle zu sprechen. Die Collagen sind formal und inhaltlich analog zum jeweiligen Text. Vorsichtig formuliert, könnte man fast sagen, Weiss zitiert sich selbst. Mit Zitat und Zitieren ist hier allerdings nicht die „wörtliche Übernahme und Einfügung aus fremden Texten […] mit dem Kriterium der Wörtlichkeit“30 gemeint. Vielmehr bedeutet Zitat in diesem Kontext einen bildlichen Verweis auf einen sprachlichen Text als intermedialer Bezug, also als eine nachweisbare Anbindung durch die im Bild reproduzierten Charakteristika textueller Vorgaben. Die Besonderheit der Collagen in Form, Machart und Anbindung an den jeweiligen Prätext ist folglich bedingt durch die enge Beziehung und Wechselwirkung von Text und Bild und durch transmedial verwendete Motive, die intermedialen Transformationsprozessen unterworfen wurden. Transmedialität meint das

28 Vgl. Oskar Walzel: Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe. Berlin 1917. 29 Bernard Dieterle: Erzählte Bilder. Zum narrativen Umgang mit Gemälden. Marburg 1988, S. 11. 30 Rudolf Helmstetter: Zitat. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Band 3. Hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin u. a. 2003, S. 896.

16 | Vom Text zum Bild

Vorkommen des gleichen Stoffes, also „Konstellation[en] aus Figuren, Ereignissen, Handlungen“,31 in unterschiedlichen Medien. Ein weiterer wesentlicher Grund für die Besonderheit aller Collagen liegt in der Gattung der Bilder selbst, und damit folglich auch in der Technik der Bildfindung. Und genau hier lässt sich auch der Unterschied zu bekannten Künstlern ausmachen, an denen sich Weiss orientiert. Einen signifikanten Einfluss hatten Paul Klee und Max Ernst – neben unzähligen anderen Autoren und Künstlern.32 Die Nähe zu Ernst ist besonders bei der Betrachtung der Collagezyklen zu ‚Abschied von den Eltern‘ und zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ sehr offensichtlich. Ernsts Collageromane beispielsweise, darunter ‚La Femme 100 Têtes‘ (1929) und ‚Une Semaine de Bonté‘ (1933), werden die wichtigsten Vorbilder für die Collagen von Weiss. Schnell wird deutlich, dass Weiss in seiner Anlehnung an Ernst und an den Surrealismus als solchen motivisch stark auf die Aspekte Traum und Wirklichkeit fokussiert ist – beides bleiben zwei der zentralen Motive in Weissʼ Œuvre – bildkünstlerisch, filmisch und literarisch. Durch die Nähe zum Surrealismus ergeben sich letztlich in allen Medien, die Weiss nutzt, diverse interdisziplinäre Berührungspunkte. Mit den Collagen möchte Weiss Anschluss an die (bildkünstlerische) Moderne finden. Dadurch erlangen sie eine gewichtige und einzigartige Stellung innerhalb des Gesamtwerks; und man liegt nicht falsch, wenn man sagt, dass sie auch aufgrund der Weiterentwicklung der Gattung einen bildkünstlerischen Höhepunkt darstellen.

1.2 METHODIK UND GLIEDERUNG Die vorliegende Untersuchung nimmt das Verhältnis von Text und Collage bei Weiss anhand der eingangs bereits genannten Texte ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ und ‚Abschied von den Eltern‘ in den Blick. Mit dieser Studie sollen demzufolge zwei große Lücken in der Peter Weiss-Forschung geschlossen werden, indem 1.) beide Collagezyklen eingehend analysiert werden und 2.) das Verhältnis von Text und Collage untersucht wird. Gezeigt wird, dass die Collagen in Form und Inhalt auf einer Transformation sprachlicher, syntaktischer und narrativer Strukturen sowie einer semantischen Übertragung textueller Vorgaben

31 Sabine Doering: Stoff. In: Ralf Georg Bogner: Medienwechsel. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hg. von Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moennighoff. Stuttgart 32007, S. 735-736, hier S. 735. 32 Vgl. Kapitel 2.1.1 ‚Peter Weiss als Künstler verschiedener Medien‘, S. 29ff.

Zum Ansatz der Studie | 17

in eine bildliche Entsprechung beruhen und dass der jeweilige Text als ihre Vorlage im Sinne eines Prätextes dient. Die enge nachweisbare Anbindung der Collagen an den jeweiligen Prätext bedingt die entsprechende Charakteristik der jeweiligen Bildzyklen. Ich arbeite sehr text- und bildnah und lege den Schwerpunkt auf die detaillierten Analysen in den beiden entsprechenden Kapiteln 3 und 4. Der Vorteil dieses Vorgehens besteht darin, dass die Untersuchung aller 22 Collagen möglich wird und explizit die Besonderheiten des Text-CollageVerhältnisses herausgearbeitet werden können. In ihrer Summe werden die Ergebnisse der Analysen des Text-Collage-Verhältnisses auch zu wesentlichen Aussagen über die „grundsätzlichen Möglichkeiten der literarischen Bezugnahme auf andere Medien und damit nach den Formen und Funktionen intermedialer Verfahren der Bedeutungskonstitution33 führen, um es mit Irina O. Rajewsky zu sagen. Das Nebeneinander von Sprache und Bild im Allgemeinen und von Text und Collage im Einzelnen ergibt eine neue Sichtweise auf den Text und dessen mediale Grenzen. In dieser Studie werden ‚Abschied von den Eltern‘ und ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ mit sämtlichen Collagen sowohl inner- und intertextuell als auch intermedial miteinander in Beziehung gesetzt. Textuelle und bildliche Motive werden thematisch erfasst, eingeordnet und – gegebenenfalls gebündelt aufgrund von motivischen Überschneidungen oder als Bekräftigung einer These – ins Verhältnis zueinander gesetzt. Weiss arbeitet mit einem Medium immer grenzauslotend in Bezug auf die jeweils typischen Verfahrensweisen und Techniken. Die medialen Grenzen werden in den Einzelanalysen bestimmt und es wird zu zeigen sein, dass Weiss bestimmte Abwandlungen, Modifikationen oder Variationen des jeweiligen Prätextes im Zuge der Transformation sprachlicher Charakteristika in eine bildliche Entsprechung vornimmt und vornehmen muss, um Sprache in ein Bild zu transformieren. Durch diese Untersuchung werden erstmalig textuelle und bildliche Vergleiche zu sämtlichen Collagen gezogen, sodass die Collagen im Gesamtwerk von Peter Weiss im Verhältnis zu den Texten positioniert und gewichtet werden können. Ebenfalls erstmals werden die bisher weniger bekannten, aber durchaus beachtenswerten Collagen besprochen. Die Anbindung der Collagen an den Text kann nachgewiesen werden durch die Analyse der bildlichen Gestaltung textueller Charakteristika: Die Analyse des Verhältnisses von Text und Collage berücksichtigt die genauen Auswahlkriterien der Bildsegmente, die Technik der Bildfindung, die Art und Weise des Zusammenfügens der Collagen und die Anlehnung an kunsthistorische und lite-

33 Rajewsky, Intermedialität, S. 13.

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rarische Motive. Dabei sind die Anbindungen an und die Verweise auf den Text unterschiedlich ‚sicher‘. Vom Text her führt oftmals eine hermeneutische Spur zum Bild; es ist aber zunächst einmal nicht immer zwingend notwendig, dieser Spur zu folgen. Zu klären wird sein, was vom Bild bleibt, wenn die Textanalyse nicht per se hermeneutischer Leitfaden für es ist. Ich arbeite grundsätzlich sehr nah am Text, leiste aber keine erneute detaillierte Textanalyse, denn die gibt es zu den Weiss’schen Texten reichlich. Vielmehr konzentriere ich mich auf die Besonderheiten des und die Umwandlung von sprachlichen Vorlagen in ikonographische Entsprechungen und beobachte und beschreibe die Umwandlungsmechanismen am Einzelfall. Die Zuordnung der Collagen zu Teilkapiteln mit bestimmten Themen und Oberbegriffen ist wegen der Fülle des vorliegenden Bildmaterials notwendig, eine Beschreibung und Analyse ohne Bündelung wäre nicht vollständig zu leisten. Diese Einteilung bedeutet ausdrücklich nicht, dass ein Motiv nur singulär vorliegt, ganz im Gegenteil. Die gewählte Einteilung wird vorrangig bestimmt durch inhaltlich semantische Hauptmotive und ausschlaggebende intermediale und/oder formale Kriterien. Die Einteilung meint also eine Zuordnung nach Alleinstellungsmerkmal, herausstechendem Merkmal und/oder Motiv der jeweiligen Collage. Manche Collagen ziehe ich in den Analysen als Unterstützung der entwickelten Thesen heran. Aus den eingangs formulierten Leitfragen ergibt sich ein dreigliedriger Hauptteil meiner Studie. Diesem Hauptteil vorangestellt sind die vorliegenden einführenden Überlegungen zum medientheoretisch intermedialen und ästhetischen Ansatz der Studie, dem Hauptteil nachgestellt werden das Resümee der Ergebnisse der Einzelanalysen und der reihenübergreifende Vergleich des TextCollage-Verhältnisses. Im ersten Kapitel des Hauptteils, bezeichnet als Kapitel 2, erarbeite ich die theoretischen Grundlagen. Orientiert an Werner Wolf34 gliedert sich dieses Kapitel, das insgesamt die theoretische Einbettung leistet, in die Bereiche beteiligte Medien, Genese, Funktion in den Kapiteln 2.1 sowie 2.2 und in die Aspekte Dominanzbildung, Qualität und Quantität in Kapitel 2.3.35

34 Werner Wolf: Intermedialität. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. von Ansgar Nünning. Stuttgart/Weimar 42008, S. 327-328. 35 Zugunsten der Einzelanalysen verzichte ich in diesem Kapitel bewusst auf eine detaillierte Diskussion verschiedener Theorien zu Medien, Medienwechsel, Intermedialität und Transmedialität. Ich konzentriere mich auf die für meine Studie wesentlichen Aspekte.

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Zu der Untersuchung der beteiligten Medien, der Genese und der Funktion des Medienwechsels36 rückt Weissʼ Lebensweg in den Fokus, steht dieser doch in konkreter Verbindung zu seinem künstlerischen Œuvre. Diese Verbindungen und Verknüpfungen zwischen den Medien Sprache, Bild und Film werden aufgedeckt und gezeigt, um den Stellenwert der einzelnen Medien herauszuarbeiten. Ausgangspunkt dabei sind immer wieder die beiden zentralen Texte sowie die Collagen. Dadurch wird letztlich der Stellenwert der Collagen, im Verhältnis zum jeweiligen Text und im Hinblick auf Weissʼ Gesamtwerk, herausgearbeitet. Zu den Aspekten der Dominanzbildung, Qualität und Quantität betrachte ich die „Eigenqualität […] als spezifische Form der Medialität“,37 um Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verbundenen Zeichensysteme aufzuzeigen. Dabei werden quantitative und qualitative Skalierungen der Intermedialität erarbeitet, die die Basis bilden für die Einzelanalysen. Intertextualität und Intermedialität werden als hermeneutische Modelle aufgefasst, die den Begriff der Intermedialität und Intertextualität als beabsichtigte, nachweislich bewusste und markierte Bezüge zwischen Text und Text oder Medium und Medium verstehen. Mit Intermedialität ist eine ‚Transposition‘38 als Übertragung, oder auch: ein Übergang spezifisch analoger Charakteristika textueller Vorgaben in eine bildliche Entsprechung gemeint, bei der syntaktische, narrative und sprachliche Strukturen durch Transformation und semantische Übertragungen zum Zuge kommen.39 Nach diesen

36 Medienwechsel wird in dieser Studie definiert als „Überführung von Thema, Handlung oder argumentativer Struktur eines Textes von einem Medium in ein anderes.“ (Ralf Georg Bogner: Medienwechsel. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hg. von Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moennighoff. Stuttgart 32007, S. 484.). Bei einem Medienwechsel bei Weiss ist immer auch ein Stofftransfer, also der Transfer von „Konstellation[en] aus Figuren, Ereignissen, Handlungen“ (Doering, Stoff, S. 735) impliziert. 37 Uwe Wirth: Hypertextualität als Gegenstand einer „intermedialen Literaturwissenschaft“. In: Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Hg. von Walter Erhart. Stuttgart/Weimar 2004, S. 410-430, hier S. 410. 38 Kristeva führt den Begriff der Transposition ein: vgl. dies.: Die Revolution der Sprache. Aus dem Französischen und mit einer Einleitung versehen von Reinhold Werner. Berlin 1978, S. 68. 39 In der praktischen Umsetzung müssen Begriffe der Intertextualitätsforschung entlehnt werden. Uwe Wirth diskutiert die Frage, ob der Gegenstands der Intertextualität ausschließlich auf die Beziehung zwischen Texten beschränkt werden oder ob eine Ausweitung der Beziehung „auf alle semiotischen Systeme genutzt werden soll“ (Wirth, Hypertextualität, S. 413). Diese Ausweitung halte ich für unumgänglich. Renate

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allgemeinen Überlegungen zu Medientheorie, Medienwechsel und Intermedialität folgt als Zuspitzung auf das eigentliche Anliegen dieser Studie – die Untersuchung des konkreten Text-Collage-Verhältnisses bei Weiss – die Darstellung von Weissʼ eigener Medientheorie, die er in seiner Lessingpreisrede40 von 1965 und der darin formulierten Theorie über das Verhältnis von Wort und Bild erörtert. Grundlagen der Textanalysen, die die beiden anderen Hauptteile einleiten, sind die zwei Texte ‚Abschied von den Eltern‘ und ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘. Die den jeweiligen Hauptteilen vorangestellten einführenden Einlassungen zu den Text- und Bildbeschreibungen sollen als Annäherung an den Text und an die Collagen, als eine Hinführung an Schreibanlass, Form und Inhalt verstanden werden, um erste grundlegende Vergleiche zwischen Text und Collagen erarbeiten zu können. In den sich anschließenden Einzelanalysen zu den beiden Texten und Collagezyklen arbeite ich mit sehr vielen Textstellen im Detail, die im Ganzen zu einer ausführlichen Interpretation des Textes und der Collagen führen. Ich arbeite dabei mit den exakten Reproduktionen der Erstausgaben mit der originalen Beifügung der Collagen. Herausgearbeitet werden zunächst primär sprachliche und stilistische Merkmale, syntaktische, formale und narrative Strukturen sowie inhaltliche Kernaspekte von ‚Abschied von den Eltern‘ und ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘, über die die Anbindung der Collagen an den Text nachweisbar und das Text-Collage-Verhältnis beschreibbar wird. Diese wesentlichen formalen und inhaltlichen Charakteristika des jeweiligen Textes sind, neben den detaillierten Bildbeschreibungen der Collagen, Grundlage für die abschließende Interpretation durch die konkrete Gegenüberstellung von Wort und Bild.

Lachmann definiert den Begriff der Transformation (in: Dialogizität und poetische Sprache. In: Dialogizität. Hg. von ders. München 1982., hier S. 244ff.) und meint mit Intertextualität einzig die Beziehung zwischen Texten. Neben der „Partizipation“, der „dialogischen Teilhabe“ und „Tropik“ wird der Begriff der Transformation definiert als „Usurpation des fremden Wortes“, die eine Integration in den vorliegenden Text meint. In dieser Studie wird der Begriff der Transformation nicht nach Lachmann verwendet, da ich davon ausgehe, dass Intermedialität einen Wechsel des Zeichensystems beinhaltet und der Intertextualitätsbegriff weiter gefasst werden muss als nur eine Beziehung zwischen Texten im engeren Sinne. Medienwechsel meint in dieser Studie immer den Wechsel des Zeichensystems. 40 Peter Weiss: Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache. In: Rapporte. Frankfurt a. M. 1968, S. 170-187. Alle Zitate aus diesem Titel werden im Folgenden als L direkt im Anschluss an das Zitat mit Angabe der Seitenzahl nachgewiesen.

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Ich nähere mich dem konkreten Text-Collage-Verhältnis,41 indem ich induktiv vorgehend herangezogenen (man könnte auch sagen: die zitierten) Textstellen der jeweiligen Collage den einzelnen Bildausschnitten zuordne, sie analysiere und motivisch erfasse. Die Analyseergebnisse beruhen auf der zuvor erarbeiteten spezifischen Intermedialität bei Weiss und auf den aktuellen Ansätzen der Intermedialitäts- und Intertextualitätstheorien. Im Vordergrund der Studie steht aber immer die Analyse des Verhältnisses von Text und Collage. Von den Einzelanalysen ausgehend wird das gesamte Collagewerk im Verhältnis zur textuellen Vorlage auf einer werkübergreifenden Ebene gedeutet. Für die Bildanalysen muss festgestellt werden, welche Herkunft der von Weiss genutzten Fremdmaterialien wahrscheinlich ist.42 In den Bildanalysen werden die genauen Auswahlkriterien der Bildsegmente, die Technik der Bildfindung, das Zusammenfügen der Collagen, die Anlehnung an kunsthistorische und literarische Motive und die bildlichen Gestaltungen textueller Charakteristika untersucht. Die Motive der Bilder, aber auch die Art und Weise der Bildfindung sind den sprachlich syntaktischen Strukturen, der Semantik der zitierten Textstellen und der gesamten textuellen Vorlage sowie der Transformation der Worte in eine bildliche Entsprechung geschuldet, die in der Studie herausgearbeitet und gedeutet wird. In der Analyse der ‚Collage V‘ zu ‚Abschied von den Eltern‘, greife ich teilweise auf die Methoden der psychoanalytischen Literaturwissenschaft zurück. Der Hauptgrund hierfür liegt in der Bedeutung der Psychoanalyse für Peter Weiss, und speziell die formalen und inhaltlichen psychoanalytischen Einflüsse in ‚Abschied von den Eltern‘ sind nicht zu übersehen. Auch wenn die Methode der psychoanalytischen Literaturwissenschaft kontrovers diskutiert wird, ist meines Erachtens eine psychoanalytische Interpretation mit ergänzendem Cha-

41 Für eine grundlegende Definition des Begriffs der Collage eignet sich besonders die Studie von Hanno Möbius: Montage und Collage. Literatur, bildende Künste, Film, Fotografie, Musik, Theater bis 1933. München 2000. 42 Es ist nicht mehr en detail festzustellen, welche Titel genau Weiss nutzte. Anja Schnabel stellt fest, dass „[d]as Collagematerial (Lithographien] zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ […] aus Büchern und Zeitschriften vor dem Ersten Weltkrieg [stammt].“ (‚Nicht ein Tag, an dem ich nicht an den Tod denke.‘ Todesvorstellungen und Todesdarstellungen in Peter Weiss’ Bildern und Schriften. St. Ingbert 2010, Anm. 106, S. 296). Für die Reihe zu ‚Abschied von den Eltern‘ verwendet Weiss ausschließlich homogenes Material, nämlich vorrangig Xylographien beziehungsweise Reproduktionen von Holzstichen aus dem 18. und 19. Jahrhundert als Ausgangsmaterial. Vgl. dazu auch Anm. 95 auf S. 62 dieser Studie.

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rakter aufgrund der sprachlichen und bildlichen Motive und Themen bei Weiss eine geeignete Annäherung an das Verhältnis von Text und Collage. Weiss bezieht zudem sehr stark das Motiv des Traumes mit ein, das nicht nur auf die Theorien des Surrealismus verweist, sondern auch auf psychoanalytische Gesichtspunkte. Gegliedert und eingeteilt habe ich beide Zyklen nach Kompositionsprinzip, Hauptmotiven und formalen Merkmalen. Manche Collagen werden bei den Analysen eher als Ergänzung und Unterstützung zur Thesenbildung, zur Abgrenzung oder zum Aufzeigen von Gemeinsamkeiten herangezogen, wenn eine detaillierte Bildbeschreibung und Einzelanalyse dieser Collagen zu redundanten Aussagen führen würde oder aber der Collage als Kunstwerk kaum oder kein eigenständiger Wert zugesprochen werden kann.

1.3 FORSCHUNGSSTAND Wichtige Themenfelder wie Kunst, Politik und Gesellschaftskritik sind in allen Medien bei Weiss zu finden: Er beschäftigt sich zeitlebens mit dem Verhältnis von Literatur und Politik, mit Protest und der eigenen Politisierung, mit Gesellschaft und Religion, mit Selbstdarstellung, Identifikation und Exil und mit Trauer- und Erinnerungsarbeit. Dazu liegen umfassende Studien in großer Zahl vor. Bisher fehlt aber eine umfassende Studie zur besonderen Intermedialität bei Peter Weiss. Die wichtigste Orientierungshilfe und Informationsquelle in Weiss’ umfangreichem Werknachlass ist das seit 1991 erscheinende ‚Peter Weiss Jahrbuch für Literatur, Kunst und Politik im 20. und 21. Jahrhundert‘. Die Herausgeber Arnd Beise und Michael Hofmann bieten zu einem bestimmten thematischen Schwerpunkt in vier regelmäßigen Rubriken43 die Möglichkeit der wissenschaftlichen Diskussion und eine Übersicht über die neuesten Forschungsansätze. Vor seiner Tätigkeit als Schriftsteller ist Weiss als Maler und Zeichner sowie als Drehbuchautor und Regisseur tätig. In den 1930er- und 40er-Jahren betätigt sich Weiss vorrangig bildkünstlerisch. Maßgeblichen Einfluss auf ihn haben der Surrealismus und Max Ernst. Christian Bommert untersucht Weissʼ surrealisti-

43 „Archiv“ (Erstveröffentlichungen von Peter Weiss aus dem Nachlass), „Dossier“ (Dokumentationen und Recherchen zu Werk und Wirkung von Peter Weiss), „Analyse“ (wissenschaftliche Aufsätze und Essays zu Peter Weiss und anderen Autoren/Themen) und „Kritik“ (Rezensionen zu Neuerscheinungen zu Peter Weiss und zu anderen Autoren/Themen).

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sche Strategien44 in einer umfangreichen Studie, die sich allerdings eher auf die ‚Ästhetik des Widerstands‘45 (1975-1981) bezieht. Als Maler gelingt es Peter Weiss erst spät, Anerkennung zu gewinnen. Ab 1976 aber erzielt er besonders mit der Ausstellung ‚Peter Weiss. Malerei ∙ Collage ∙ Zeichnung 1933-1960‘ große Erfolge. Die Ausstellung wird international gezeigt46 und zu dieser Ausstellung erscheint ein dreisprachiger Katalog, 47 an dem Peter Weiss selbst redaktionell mitwirkt. 1982 erscheint ein Katalog 48 zur Peter Weiss-Ausstellung in Bochum, durch den der erste und bis jetzt einzige Versuch unternommen werden sollte, das bildkünstlerische Werk geschlossen zu präsentieren. Allerdings ist der Katalog sehr lückenhaft: Es werden nur die bereits bekannten acht Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ und lediglich zwei der insgesamt elf Collagen zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ abgebildet – die übrigen, insbesondere die unveröffentlichten Collagen, bleiben gänzlich unerwähnt –, sodass erneut die Notwendigkeit einer vollständigen Erarbeitung des Collagewerks deutlich wird. 1991 zeigt die Akademie der Künste in Berlin die Ausstellung ‚Peter Weiss. Eine Ausstellung.‘ unter der Mitarbeit von Weissʼ Ehefrau Gunilla PalmstiernaWeiss und es erscheint dazu einer der wichtigsten Kataloge. 49 Anfang der 1950er-Jahre bis ins Jahr 1960 wendet sich Weiss dem Film zu. In diesem Medium hat er die „Möglichkeit, die Starrheit, die ‚Beständigkeit‘ des

44 Christian Bommert: Peter Weiss und der Surrealismus: Poetische Verfahrensweisen in der „Ästhetik des Widerstandes“. Opladen 1990. 45 Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. Roman. Frankfurt a. M. 2005. 46 Die Ausstellung wurde in Rostock (1976), Ost-Berlin (1977), Paris (1977), München (1977), Zürich (1978) und Malmö/Schweden (1978) gezeigt. Weitere Ausstellungen zu Weissʼ Bildern gab es 1955 in Malmö und 1980 in Bochum. 47 Peter Weiss. Malerei Collage Zeichnung 1933-1960. Hg. von Per Drougge. Södertälje Kulturämnd 1976. Dies ist das maßgebliche Werkverzeichnis; die Nummerierung der Collagen, wie sie in der vorliegenden Studie ausgewiesen ist, folgt diesem Katalog und demjenigen zur Ausstellung in Bochum (vgl. die folgende Anm. 48). Die Vorgabe ist (mutmaßlich) eine Nummerierung nach Entstehung. 48 Der Maler Peter Weiss. Bilder ∙ Zeichnungen ∙ Collagen ∙ Filme. 8. März 1980-27. April 1980. Kunstsammlung Museum Bochum 1980. In der Folge wird der dieser Titel zitiert als MPW mit Angabe der Seitenzahl. 49 Peter Weiss. Leben und Werk. Eine Ausstellung. Akademie der Künste, Berlin 24. Febr. bis 28. Apr. 1991. Hg. von Gunilla Palmstierna-Weiss/Jürgen Schutte. Frankfurt a. M. 1991. In der Folge wird der dieser Titel zitiert als LW mit Angabe der Seitenzahl.

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Bildes aufzulösen, das Visuelle in Bewegung zu versetzen.“ 50 Weiss dreht insgesamt vierzehn Filme, davon sechs Experimentalfilme51 sowie mehrere Dokumentarfilme.52 Auch filmisch hat Weiss ein nicht ausschließliches, aber ausdrückliches Vorbild: Als Anhänger der Filme Luis Buῆuels53 lobt er, dass die „Stärke“ des Films ‚Un chien andalou‘ (1929) „nicht in den Bildkompositionen, Montagen und Rhythmen, sondern einzig in seinem emotionalen Gehalt“ liege, denn „der Film war mit den Prinzipien der Traumarbeit aufgebaut. […] Traum und Wirklichkeit waren eins. Der Film erzeugte Wirklichkeit mit den Mitteln des Traums.“54 Mit dem Thema Film bei Peter Weiss setzt sich Ek Sverker dezidiert in den Aufsätzen ‚„Eine Sprache suchen“. Peter Weiss als Filmemacher‘55 und ‚Der Filmemacher Peter Weiss‘56 auseinander. Auch Beat Mazenauer analysiert

50 Sepp Hiekisch-Picard: Der Maler Peter Weiss. In: Peter Weiss. Frankfurt a. M. 1984, S. 75. 51 Zwischen den Jahren 1952 und 1956 dreht Weiss die experimentellen Filme ‚Studie I/ Uppvaknandet‘ [1952, 16mm, s/w, 6 Min., Magnetton], ‚Studie II/Hallucinationer‘ [1952, 16mm, s/w, 6 Min., Lichtton], ‚Studie III‘ [1953, 16mm, s/w, 6 Min., ohne Ton], ‚Studie IV/Frigörelse‘ [1954, 16mm, s/w, 10 Min., Lichtton], ‚Studie V/ Växelspel‘ [1955, 16mm, s/w, 10 Min., Lichtton] und ‚The Studio of Dr. Faust/ Ateljénteriör‘ [1956, 16mm, s/w, 10 Min., Lichtton]. 52 Weiss dreht die Filme ‚Ansikten i skugga‘ [1956, 16mm, s/w, 14 Min., Lichtton], ‚Igenting Ovanligt‘ [1957, 35mm, s/w, 10 Min.], ‚Enligt lag‘ [1957, 35mm, 19 Min., s/w, Lichtton (später auf Lichtton kopiert)], ‚Vad ska vi göra nu då?‘ [1958, 35mm, s/w, 20 Min., Lichtton], ‚Hägringen‘ [1959, 35mm, s/w, 80 Min., Lichtton], ‚Anna Casparsson‘ [1960, 16mm, s/w, 10 Min., Lichtton], ‚Öyvind Fahlström‘ [1960, 16mm, s/w, ca. 10 Min., ohne Ton (Fragment)] und ‚Bag de ens facader‘ [1960, 16mm, s/w, 27 Min., Lichtton]. Die Dokumentarfilme entstanden als Auftragsarbeit. 53 Als Annäherung an das komplexe Werk Buῆuels eignet sich insbesondere der Band Luis Buῆuel. Essays, Daten, Dokumente. Hg. von der Deutschen Kinemathek. Berlin 2008. Dort findet sich eine detaillierte Übersicht und Einordnung von Buῆuels Werk. 54 Peter Weiss: Avantgarde Film. Aus dem Schwedischen übersetzt und herausgegeben von Beat Mazenauer. Frankfurt a. M. 1995 (schwedischer Originaltitel: Avantegardefilm, 1956). Im Jahr 1963 wurden Auszügen für die Zeitschrift ‚Akzente‘ übersetzt, die 1968 Eingang finden in Weiss’ ‚Rapporte‘ [vgl. Jens-Fietje Dwars: Und dennoch Hoffnung. Peter Weiss. Eine Biographie. Berlin 2007, S. 92]). In der Folge wird der dieser Titel zitiert als AF mit Angabe der Seitenzahl. 55 Ek Sverker: „Eine Sprache suchen“. Peter Weiss als Filmemacher. In: LW 138-154. 56 Ders. in: Peter Weiss. Hg. von Rainer Gerlach. Frankfurt a. M. 1984, S. 129-144. In der Folge wird der dieser Titel zitiert als PW mit Angabe der Seitenzahl.

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in ‚Staunen und Erschrecken. Peter Weissʼ filmische Ästhetik‘57 treffend dessen filmisches Werk. Einen neueren Beitrag leistet André Fischer in ‚Bilder der Konvulsion. Betrachtung zum filmischen Werk von Peter Weiss.‘ 58 Fischer beschäftigt sich darin mit den Einflüssen des Surrealismus auf den Film bei Weiss und analysiert seine Experimentalfilme einzeln. Auch als Filmemacher findet Weiss in der Forschung insgesamt weniger Beachtung denn als Schriftsteller. Im April 2012 erschien im Suhrkamp Verlag allerdings eine kommentierte Filmauswahl,59 die die Aktualität des Themas verdeutlicht. Nach dem Film widmet sich Weiss vorrangig dem Medium Sprache. Seine Texte zeigen dabei eine große Facette formaler Variationen: Autobiographisch beeinflusste Werke wie ‚Abschied von den Eltern‘ und ‚Fluchtpunkt‘ stehen neben avantgardistischer Literatur und dokumentarhaften Theaterstücken. Mit allen literarischen Werken, insbesondere aber mit ‚Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade‘,60 ‚Die Ermittlung‘61 sowie ‚Abschied von den Eltern‘ gelang Weiss international der Durchbruch. Seine Texte finden bis heute große Beachtung. Als literarisches Hauptwerk gilt neben dem dreiteiligen Roman ‚Ästhetik des Widerstands‘ die in meiner Studie untersuchte ‚Erzählung‘62 ‚Abschied von den Eltern‘. In der Forschung zu dieser Erzählung stand

57 Beat Mazenauer: ‚Staunen und Erschrecken. Peter Weissʼ filmische Ästhetik‘. In: Peter Weiss Jahrbuch, Band 5. Hg. von Martin Rector/Jochen Vogt. Opladen 1996. Generell gilt: Titel aus Peter Weiss Jahrbüchern werden als PWJ mit Angabe von Band und Seitenzahl zitiert. 58 André Fischer: Bilder der Konvulsion. Betrachtung zum filmischen Werk von Peter Weiss. In: Ein Riss geht durch den Autor. Transmediale Inszenierungen im Werk von Peter Weiss. Hg. von Margit Bircken/Dieter Mersch/Hans-Christian Stillmark. Bielefeld 2009, S. 155-178. 59 Peter Weiss: Filme. Mit einer Einführung von Harun Farocki. Hg. von Hark Machnik/Reiner Niehoff. BRD 1981, 124 Min. (mit Interview). 60 Das Stück erhielt 1966 den anerkannten Theater- und Musicalpreis Antoinette Perry Award als bestes Theaterstück. 61 Peter Weiss: Die Ermittlung. Oratorium in elf Gesängen. In: Peter Weiss: Werke in sechs Bänden. Hg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Gunilla Palmstierna-Weiss. Band 5: Dramen 2, Frankfurt a. M. 1991, S. 7-200. 62 ‚Abschied von den Eltern‘ trägt den Untertitel ‚Erzählung‘. Vgl. dazu Helmut Lüttmann: Die Prosawerke von Peter Weiss. Hamburg 1972, S. 113: „Zu dieser Klassifikation sagt der Autor [Peter Weiss; H. K.] […]: ‚Die Gattungsbezeichnungen kommen

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bisher oftmals der Aspekt der Autobiographie im Vordergrund. Beat Mazenauer untersucht diesen Aspekt in ‚Konstruktion und Wirklichkeit. Anmerkungen zur autobiographischen Wahrhaftigkeit bei Peter Weiss’63 und ‚Lebenslandschaften in den Bildern von Peter Weiss’.64 Ein nicht weniger bedeutendes Werk ist Weissʼ Roman ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘. Die Forschung konzentriert sich bei diesem Text oft auf die Diskussion von Realitätskonzepten und auf die Besonderheit der Beschreibungen. Rüdiger Steinlein beschäftigt sich mit diesem Erzählen in ‚Ein surrealistischer „Bilddichter“. Visualität als Darstellungsprinzip im erzählerischen Frühwerk von Peter Weiss’65 ebenso wie Christine Ivanović in ihren beiden Aufsätzen ‚Die Ästhetik der Collage im Werk von Peter Weiss’66 und ‚Die Sprache der Bilder. Versuch einer Revision von Peter Weiss’ „Der Schatten des Körpers des Kutschers“‘.67 Christine Ivanović stellt in ihrem Aufsatz über ‚Die Ästhetik der Collagen im Werk von Peter Weiss’ fest, dass die Collagen „vor allem [durch] ihre durchgängige Textbezogenheit“68 bemerkenswert sind. Sie untersucht die Unterschiede der Weiss’schen Collagen zu Collagen anderer Künstler und Epochen, zum Beispiel bei Max Ernst und im Kubismus. Anhand der Collagen zu ‚Der Schatten

vom Verlag, nicht von mir… Selbst weiß ich nie recht, wie ich so etwas bezeichnen soll‘ und: ‚Sowohl die Gattungsbezeichnung Erzählung [für ‚Abschied‘] als auch Roman [für ‚Fluchtpunkt‘] sind Notlösungen, eigentlich überflüssig, Überreste von verbrauchten Kategorien, die für diese Art von Literatur nicht mehr zutreffen. Sie sollten eigentlich heißen: Bericht oder Aufzeichnung.“ (Peter Weiss, zitiert nach Helmut Lüttmann [Prosawerke, ‚Anmerkungen 3‘, S. 18]: Brief vom 5. November 1965 an den Verfasser, Hervorhebung im Original) 63 Beat Mazenauer: ‚Konstruktion und Wirklichkeit. Anmerkungen zur autobiographischen Wahrhaftigkeit bei Peter Weiss‘. In: PWJ 2 41-50. 64 Ders. in: Die Bilderwelt des Peter Weiss. Hg. von Alexander Honold/Ulrich Schreiber. Hamburg 1995, S. 13-25. 65 Rüdiger Steinlein: Ein surrealistischer ‚Bilddichter‘. Visualität als Darstellungsprinzip im erzählerischen Frühwerk von Peter Weiss. In: Peter Weiss. Werk und Wirkung. Hg. von Rudolf Wolff. Bonn 1987, S. 60-87. Alle Zitate aus dem Titel von Rudolf Wolff werden im Folgenden als WW mit Angabe der Seitenzahl nachgewiesen. 66 Christine Ivanović: Die Ästhetik der Collage im Werk von Peter Weiss. In: PWJ 14 69-100, hier 69. 67 Christine Ivanović: Die Sprache der Bilder: Versuch einer Revision von Peter Weissʼ ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘. In: PWJ 8 34-67. 68 Ivanović, Die Ästhetik der Collage, PWJ 14 69.

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des Körpers des Kutschers‘ analysiert Ivanović die Ästhetik der Collagen, die für Weiss, so Ivanović’ These, eine „Problematisierung der Wahrnehmung“ darstellen, nicht die in anderen Stilrichtungen eher übliche Zerstörung eines alten und Schaffung eines neuen Sinnzusammenhangs. Allerdings behandelt auch dieser Beitrag nicht das Text-Collage-Verhältnis, sondern stellt die These heraus, dass bereits der Text als Collage organisiert zu sein scheint.69 Kerstin Gleinig beschäftigt sich in ihrer Studie von 1998 mit der ‚Collage als ästhetisches Verfahren in Bild und Sprache‘ bei Weiss.70 Allerdings untersucht Gleinig nicht dezidiert das Text-Collage-Verhältnis, da sie die Collagen unbegründet als rein „bildlichen Kommentar“71 wertet, in dem Einzelbilder zusammenhanglos nebeneinandergesetzt würden. Darüber hinaus überprüft Gleinig nicht die Zuordnung der Collagen und ordnet drei Collagen dem falschen Text zu, wodurch die Studie mindestens unvollständig und oberflächlich bleibt. Denn dass das Kompositionsprinzip der Collagen analog ist zu den jeweiligen Charakteristika des Textes, ist durchaus nachweisbar, wie die Einzelanalysen zeigen werden. Stephan Westphal72 beschreibt die Collagen zwar als autonom und sieht ebenfalls mehr als einen rein additiven, illustrierenden Charakter; dennoch spricht er von den Collagen als „rätselhaft[e]“73 und „überaus irritierende Bildvorlagen“74 und „undurchschaubaren Handlungen“75 – die allerdings zu entschlüsseln sind, wenn man die ‚Collage IV‘, auf die er sich in seinen verallgemeinernden Aussagen insbesondere bezieht,76 aus der ‚Abschied‘-Reihe bei einer aufmerksamen Lektüre parallel zur Hand genommen hätte. In einer aktuellen Abhandlung beschäftigt sich Regula Bigler mit den ‚Gesten des Vergessens und Erinnerns‘77. Hier liegt der Fokus auf Zeichen- und Schriftsystemen sprachlichen

69 Vgl. ebd., 76ff. 70 Kerstin Gleinig: Collage als ästhetisches Verfahren in Bild und Sprache. Bild-TextBeziehungen in den frühen Veröffentlichungen von Peter Weiss. Göttingen 1998. 71 Ebd., S. 213. 72 Stephan Westphal: Das Nautisch-Maritime in Peter Weiss’ Prosa. Genese und Variationen eines Motivs. Bielefeld 2004. 73 Ebd., S. 115. 74 Ebd., S. 111. 75 Ebd. 76 Vgl. ebd., S. 115. 77 Regula Bigler: Gesten des Vergessens und Erinnerns. Peter Weiss’ Text- und Collagearbeiten unter der medientheoretischen Perspektive Vilém Flussers betrachtet. In: PWJ 24 81-96.

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Codes in ‚Peter Weiss’ Text- und Collagearbeiten unter der medientheoretischen Perspektive Vilém Flussers‘.78 Bigler stellt „Flussers Reflexionen zur Geste einigen ausgewählten Stellen aus Peter Weiss’ interdisziplinären Arbeiten“ (PWJ 24 82) gegenüber.79 Interessant sind für meine Studie besonders die Ausführungen zu der „Erinnerungsarbeit […] in der Annäherung der beiden Medien Text und Collage“.80 Allerdings geht Bigler davon aus, dass „[d]ie Collagen“ als „bildliche Darstellungen, die Szenen, Figuren oder Motive aus dem Text jeweils assoziativ aufnehmen, […] in Wechselwirkungen zu Textsequenzen [treten], ohne dass sich dabei Text und Bild eindeutig aufeinander beziehen lassen.“81 Diese Annahme ist situativ zu überprüfen.

78 Vgl. Vilém Flusser: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Göttingen 52002, und ders.: Kommunikologie. Frankfurt a. M. 1998. 79 Vgl. Vilém Flusser: Gesten. Versuch einer Phänomenologie. Düsseldorf/Bensheim 1991. 80 Bigler, Gesten des Vergessens und Erinnerns, PWJ 24 82. 81 Ebd. 87.

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Peter Weiss als Künstler verschiedener Medien Intermedialität und Medienwechsel

2.1 GRÜNDE, FORMEN UND KONSEQUENZEN DES MEDIENWECHSELS 2.1.1 Peter Weiss als Künstler verschiedener Medien Nach wie vor ist Peter Weiss als Künstler unterschiedlicher Medien bekannt: als Autor verschiedenster Literatur, als bildender Künstler, als Autor filmtheoretischer Abhandlungen und als Filmemacher gleichermaßen. Sein Interesse an Literatur, Musik und bildender Kunst wird in Berlin geweckt, wohin die Familie im Jahr 1929 zieht:1 „Da fing es an. Da fing es an mit einigen Freunden, die ich damals hatte, die sehr interessiert waren an Kunst. […] Wir gingen jeden Sonntag in die Museen, in das KaiserFriedrich-Museum, in das Pergamon-Museum – das waren meine frühen Eindrücke, die ich später in der „Ästhetik“ in veränderter Form schildere, obwohl es genau so in meinem eigenen Leben war, die Malerei-Erlebnisse, die Musik-Erlebnisse, wir hörten uns die Bach-Passionen an im Berliner Dom, wir gingen in die Bibliotheken, wir lasen alles, was überhaupt zu lesen war, wir verschlangen ein Buch nach dem anderen. In diesen Jahren, zwischen 1931 und 1933, erwarb ich meine ganzen Literaturkenntnisse […]. Ich hatte schon angefangen, Gedichte zu schreiben, die ich heute noch habe, diese Manuskripte […].“ (MPW 14-15)

Weiss’ „Freunde“ kamen sowohl in Bremen als auch in Berlin aus gutbürgerlichen Kreisen. In Bremen verband Weiss eine enge Freundschaft mit Berthold 1

Vgl. dazu auch AB 12.

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Merz, den Weiss für seine Arbeit an ‚Abschied von den Eltern‘ in Bremen aufsuchte und der auch als Figur in ‚Abschied von den Eltern‘ auftritt. Mehr als „erste Schreibversuche“ (MPW 13) entstanden allerdings nicht. Ausschlaggebend für die ersten Berührungen mit Literatur, Kunst und Film war Weiss’ Freundschaft mit Uli Rothe, dem Stiefsohn des Übersetzers Hans Rothe. In der Familie Rothe sprach man, anders als in der Familie Weiss, offen über „modernistische Kunst“ (MPW 14), klassische und moderne Musik. Über das Schweigen seiner Eltern berichtet Weiss: „[…] was meine Eltern wirklich betroffen hat, haben wir nie […] gehört.“ (MPW 13) Und weiter: „Ich habe mich immer interessiert für Bilder, habe auch in dieser Richtung in der Bibliothek [der Eltern; H. K.] ‚herumgeschnüffelt‘ – obgleich uns das verboten war! Wir Kinder [Peter und seine Geschwister; H. K.] durften nicht alle Bücher lesen. Es gab da bestimmte illustrierte Werke […], die nun absolut verboten waren, neben einer ganzen Reihe anderer Sachen, [die] durften wir nicht lesen, aber gerade diese Bildwerke haben mich natürlich umso mehr interessiert. . . hier gibt es sicherlich grundsätzliche oder grundlegende Ansätze zur Bilder-Welt.“ (MPW 14)

Angeregt durch die Museumsbesuche und „beeindruckt vor allem durch Feininger, Nolde, Klee – vor allem waren es die deutschen Expressionisten und Kubisten, die unsere Aufmerksamkeit fesselten, nicht die französische Kunst!“ (MPW 16), besuchten Rothe und Weiss ab 1932 die Klasse von Eugen Spiro in der Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums Berlin, die in der Prinz-AlbrechtStraße 8 (heute Niederkirchnerstraße 7) lag. Dieses Gebäude wurde später das große Hauptquartier und Gefängnis der Gestapo. In diesem Zusammenhang berichtet Weiss von seinem Freund Dietrich H. und dessen Familie, die, wie die Familie Roth, „ein sehr hohes, edles Kulturniveau hatten“ (MPW 14). Die Mitglieder von Dietrich H.s Familie wurden nach 1933 „begeisterte Nationalsozialisten […]: Das waren Edelnazis geworden.“ (MPW 14-15), während Dieter H. selbst von Weiss vielmehr als „die Person des Antifaschisten“ (MPW 15) wahrgenommen wurde. Politisch interessiert oder aktiv waren zu der Zeit weder Weiss noch Roth.2 Beeinflusst wurde Weiss in dieser Zeit vielmehr von den verschiedensten Künstlern und Künsten, Stilrichtungen und Gattungen, denen nicht etwa „wissen-

2

Erst durch die Freundschaft zu Max Hodann in Stockholm in den 1940er-Jahren wird Weiss politisch interessiert (vgl. MPW 39). Vgl. ebenso Kapitel 4.2.1 ‚ Psychoanalytisch-symbolhafte Bilder‘, S. 171ff.

Peter Weiss als Künstler verschiedener Medien | 31

schaftlich[e]“ Kriterien zugrunde lagen: Die Interessen entsprangen „rein dem Emotionalen“ (MPW 18). Weiss interessierte sich für Themen wie das allgemeine Weltgeschehen, kulturelle Probleme und Geschichte ebenso wie für Literatur, bildende Kunst und Musik. Weiss nennt in einem Interview mit Peter Roos, Sepp Hiekisch und Peter Spielmann die außerordentlich zahlreichen und verschiedenartigen Einflüsse verschiedenster Künste, Epochen, Gattungen und Stile:3 Der (deutsche) Expressionismus, altmeisterliche Schreibweisen und Bilder, Romantik, Realismus, Bauhaus, Kubismus, (zeitgenössisches) Kunstgewerbe und Surrealismus prägen Weiss ebenso wie Illustrationen in Kinderbüchern.4 Daneben haben Opern, klassische und moderne Musik sowie Schauspielerei und Theater großen Einfluss. Themen wie „Sexualität und Revolution“ (MPW 14) nähert Weiss sich mithilfe (illustrierter) Aufklärungsbücher,5 Eisensteins ‚Potemkin‘ und anderen „russische[n] Revolutionsfilme[n]“ (MPW 17). Zahlreiche Künstler verschiedenster Gattungen nennt Weiss seine Vorbilder und Impulsgeber,6 darunter Komponisten wie Komponisten Johann Sebastian Bach und Kurt Weill, Filmemacher wie Friedrich Wilhelm Murnau, Luis Buῆuel und Sergei Eisenstein, bildende Künstler und Maler wie Brueghel,7 Albrecht Dürer, Hieronymus Bosch, Théodore Géricault, Henri Rosseau, Emil Nolde, Lyonel Feininger, Francisco di Goya, Johann Heinrich Füssli, Alfred Kubin, Oskar Schlemmer, Salvador Dalí, Otto Dix, Paul Klee, Max Ernst und Schriftsteller wie Shakespeare, Voltaire, Frank Wedekind, Thomas Mann, Hermann Hesse, Robert Musil, Franz Kafka, Stefan Zweig, Georg Heym, Franz Werfel, Bertolt Brecht und Klaus Mann, um nur die Wichtigsten zu nennen. Diese Namen weisen Weiss als Kenner der Klassischen Moderne mit deutlichen Vorlieben aus. Er selbst erklärt zu seinen breit gefächerten Interessen: „Wir waren Internationalisten von Natur aus, Uli und ich. An Deutschland interessierte uns, was es an Malerei, Musik, an Geschichte, an Literatur gab, und sonst interessierte uns die Welt.“ (MPW 17; Hervorhebung im Original) An anderer Stelle sagt er: „Oh ja, ich hatte ganz Europa in mir.“ (MPW 30) Immer wieder kann man Weiss’ immens großes Wissen, die profunden Kenntnisse der Literatur- und Kunstgeschichte und das Be-

3

MPW 11-43.

4

Vgl. MPW 18: Besonders an die „magischen Situationen“ in ‚Grimms Märchen‘ und an die Illustrationen zu ‚Struwwelpeter‘ erinnert sich Weiss als stark prägende „viselle Erfahrung“.

5

MPW 14: „Sittengeschichte“ von Eduard Fuchs, „Vollkommene Ehe – ihre Physiologie und Technik“ von van de Veldes.

6

Vgl. MPW 15-18.

7

Vgl. MPW 25: Gemeint ist Pieter Brueghel der Ältere.

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wusstsein der Geschichtlichkeit8 in seinem gesamten Werk erkennen – und besonders auch in seinen Collagearbeiten zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ und zu ‚Abschied von den Eltern‘. 1935 verlässt die Familie Weiss Deutschland und zieht nach Chislehurst, einer Ortschaft in Kent nahe London, wo Peter Weiss die ‚Polytechnic School of Photography‘ besucht. Mit den Eltern gab es einen lange währenden, zähen Konflikt über die Berufswahl. Die Eltern zogen eine Tätigkeit als Kaufmann im Textilgewerbe des Vaters vor, während Weiss beharrlich und entgegen aller Schwierigkeiten sein Ziel verfolgte, Maler zu werden. Der Besuch der ‚Polytechnic School of Photography‘ war ein Kompromiss mit den Eltern: Solange Peter Weiss tagsüber bei seinem Vater im Textilgeschäft mitarbeitete, durfte er die ‚Polytechnic School‘ besuchen.9 Ebenso errang er „wenigstens einen Tag in der Woche […] nur für mich, an dem ich ausschließlich malen konnte. Das Wochenende musste auch für die Kunst reserviert sein. […] In diesen Jahren habe ich vor allem gemalt, ganz wenig geschrieben, weil ich zu wenig Zeit hatte; schreiben, das kam erst später wieder.“ (MPW 22)

In London lernt Weiss Ruth Anker, eine deutsche emigrierte Jüdin, und Jaques Ayschmann kennen, der in ‚Abschied von den Eltern‘ in der Figur des Jaques und in der ‚Ästhetik des Widerstands‘ unter seinem richtigen Namen auftritt. 10 Durch Ayschmann kommt Peter Weiss das erste Mal mit Politik und politischem Engagement in Berührung. Zum Jahreswechsel 1936/37 zieht die Familie „aus ökonomischen Gründen“ nach Warnsdorf, wo Weiss’ Vater eine Stelle „als kaufmännischer Leiter in einer Textilfabrik“ (MPW 23) angeboten worden war. Zu dieser Zeit beginnt Weiss auch wieder zu schreiben. In der Villa, in der seine Familie die untere Etage bewohnt, lebt Weiss in „eine[r] Dachkammer, von der eine Zeichnung vorhanden ist, ‚Mein Atelier I, Warnsdorf/Böhmen‘ (1936). […] in der Dachkammer hauste ich mit meinem Grammophon, meinen Platten, meiner Malerei und meinen Lieblingsbüchern. Hier fing das Schreiben wieder an

8

Vgl. weiterführend Gustav Landgren: Rauswühlen, rauskratzen aus einer Masse von Schutt. Zum Verhältnis von Stadt und Erinnerung im Werk von Peter Weiss. Bielefeld 2016.

9

Vgl. MPW 21.

10 Vgl. MPW 22. Vgl. ebenso die Episode zur Figur des Jaques in ‚Abschied von den Eltern‘ (A 118-122), die Weiss dort beschreibt als „dreizehntägiges Gespräch. Ein dreizehntägiger gemeinsamer Traum, in dem alles was in uns nach Ausdruck suchte, zur Sprache kam.“ (A 120)

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und wurde gleichzeitig mit der Malerei betrieben.“ (MPW 25) 11 In Warnsdorf hat Weiss so gut wie keine sozialen Kontakte: „Ich hatte ja keinen Menschen, keine Freunde und Bekannte, in Warnsdorf lebte ich in der totalen Isolierung […].“ (MPW 26) Weiss geht 1938 nach Prag, um an der Prager Kunstakademie in der Malerklasse von Willi Nowak zu studieren. In Prag hat Weiss Kontakt zu dem deutschen Journalisten Max Barth,12 dem 1936 aus Berlin in die Tschechoslowakei geflüchteten Publizisten und Wissenschaftsjournalisten Robert Jungk, dem ungarisch-schwedischen Maler und Graphiker Endre Nemes und Peter Kien,13 beide ebenfalls Schüler der Malklasse von Willi Nowak. Durch Kien lernte Weiss Kafkas Texte kennen. In der Malklasse von Nowak sieht sich Weiss aufgrund seines Stils als Außenseiter; er wurde jedoch ausnahmslos akzeptiert. Weiss beschreibt seinen damaligen Stil als „zu dunkel, zu schwer, von irgendeiner deutschen Tradition beeinflusst. Ich weiß gar nicht, wie ich diese Tradition nennen soll […]. [J]edenfalls wurde in Prag kubistisch gemalt, expressionistisch und impressionistisch. Der Surrealismus kam mit herein.“ (MPW 28)14 Nach einem weiteren Aufenthalt bei Hermann Hesse in der Schweiz ab September 1938 – er hatte bereits den Sommer 1937 bei Hesse in Montagnola verbracht –, reist Weiss 1939 nach Alingsås bei Göteborg, wohin Weiss’sche Familie mittlerweile geflüchtet war.15 In den nächsten Jahren pendelt er zwischen Alingså, Stockholm,

11 Vgl. Kapitel ‚‚‚Collage IV‘ und ‚Collage A‘: ‚Lebensgeschichtlicher Innenraum‘, S. 201ff. 12 Hermann Hesse vermittelte Peter Weiss nicht nur an Willi Nowak, sondern stellt auch den Kontakt zu dem 1933 aus Deutschland emigrierten Journalisten Max Barth her; dieser nahm Weiss bei sich in Prag auf. Max Barth findet sich in ‚Abschied von den Eltern‘ in der Figur des Max B. (vgl. A 126ff.), in ‚Fluchtpunkt‘ erkennt man Barth in der Figur des Max Bernsdorf. Vgl. dazu Harry Pross: Sechseinhalbtausend Mark Wiedergutmachung. Barths Exilerinnerungen sind das Zeugnis eines Nichtkorrumpierten in seiner Unbefangenheit. In: Die Zeit 18, 24. April 1987. 13 Zur Figur des Peter Kien vgl. A 133 und Kapitel ‚‚‚Collage IV‘ und ‚Collage A‘: ‚Lebensgeschichtlicher Innenraum‘, S. 201ff. 14 Vgl. MPW 28-29. Die Berührung mit dem Surrealismus ist hier nicht prägend. Dies geschieht erst in den 1940er-Jahren. 15 Während Weiss sich 1938 bei Hermann Hesse aufhält, besetzen die Deutschen Teile der Tschechoslowakei, darunter auch das direkt hinter der deutsch-tschechoslowa– kischen Grenze liegende Warnsdorf. Sein Vater muss als Jude sofort fliehen, seine Mutter bleibt noch einige Zeit in Warnsdorf, um sich um die Haushaltsauflösung zu kümmern. Vgl. MPW 30-32.

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Pixbo – einer kleinen Stadt in Västergötland/Südschweden nahe Göteborg – und Nordschweden, wo er 1943 als Wanderarbeiter lebt. 1944 lässt Weiss sich endgültig in Stockholm nieder.16 In Schweden hat Weiss nach seiner Ankunft 1939/40 deutlich weniger Kontakt zu anderen (deutschen) Exilanten und dortigen Kulturkreisen als beispielsweise in England, wo er sehr integriert war und am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilnahm.17 In Schweden hat Weiss Kontakt zu dem 1935 ebenfalls nach Schweden emigrierten Künstler und Bildhauer Karl Helbig, zudem sucht er gezielt den Kontakt zu Bertolt Brecht, der aber nicht zustande kommen wird. In Stockholm pflegt Weiss eine enge Freundschaft zu dem ungarischschwedischen Maler und Graphiker Endre Nemes und zu Max Barth.18 Über Nemes kommt Weiss im Übrigen intensiver mit dem Surrealismus in Kontakt, den es zu der Zeit in Schweden nicht gibt (vgl. MPW 38): „Endre Nemes hatte ja, da er einige Jahre älter ist, eine viel größere Erfahrung in den künstlerischen Richtungen. Außerdem lernte ich surrealistische Elemente natürlich schon während des Krieges kennen, in Ansätzen habe ich sie in Prag schon kennengelernt.“ (MPW 38)

Die ersten Jahre in Stockholm sind geprägt von Geldmangel und fehlender Anerkennung sowohl durch die Eltern als auch durch die schwedische Gesellschaft.19 Weiss sucht dessen ungeachtet den Kontakt zu anderen (schwedischen) Künstlern und bewegt sich in seinem fortlaufenden Bestreben, sich auch in Schweden „zu assimilieren“ (MPW 36), vorrangig in schwedischen Künstler-

16 Vgl. LW 331-339, hier 332-334; vgl. ebenso Martin Rector: Laokoon oder der vergebliche Kampf gegen die Bilder. Medienwechsel und Politisierung bei Peter Weiss. In: PWJ 1 24-41, hier 24. 17 „Zu Peter Weiss und den Exilantenkreisen betont Max Barth, Weiss habe ‚in Prag wie in Stockholm eigentlich außerhalb der Exilantenkreise gelebt und in unseren Kreisen eigentlich nie wirklich mitgemacht‘ (Brief an Peter Weiss vom 17.6.1961 […]).“ In: Axel Schmolke: „Das fortwährende Wirken von einer Situation zur andern.“ Strukturwandel und biographische Lesarten in den Varianten von Peter Weissʼ ‚Abschied von den Eltern‘. St. Ingbert 2006, hier S. 742, Anm. 362, Hervorhebung im Original). 18 Ausführlich beschreibt diesen Aspekt Günter Schütz in: Peter Weiss und Paris. Prolegomena zu einer Biographie, Band 1, St. Ingbert 2004, hier S. 31ff. 19 Zum Verhältnis von Peter Weiss und Schweden vgl. Annie Bourguignon: Der Schriftsteller Peter Weiss und Schweden. St. Ingbert 1997.

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gruppen, darunter in der Gruppe „Fyrtitalisterna“, die aus „junge[n] Schriftsteller[n] [bestand], die mich dann anspornten, wieder literarisch tätig zu sein“ (MPW 36). Ab den späten 1940er-Jahren hat Weiss deutlich mehr Kontakte zu Künstlern und Künstlergruppen, verkehrt in einem recht großen Kreis aus kunstgeschichtlich gebildeten Menschen und pflegt Kontakte zu finnlandschwedischen Autoren. Weiss gehört auch der Gruppe an, die das ‚Moderna Museet‘ in Stockholm mit aufgebaut hat. Zu dieser Gruppe zählen unter anderem das Gründungsmitglied des ‚Moderna Museet‘, Carlo Derkert (1915-1994), der später in Weiss’ Filmen mitspielt, und seine Mutter Siri Derkert, eine bekannte schwedische Expressionistin (1888-1973). Alle Gruppen, in denen Weiss sich bewegt, sind offen und zwanglos organisiert, bei deren Treffen miteinander gegessen und diskutiert wird. Man verstand sich als eine „kleine Avantgarde“. Besonders aktiv war eine avantgardistische Autorengruppe, bestehend aus Männern und Frauen, zu denen auch Stieg Dagermann gehörte, ein bekannter schwedischer Schriftsteller und Journalist (1923-1954). Diese Gruppe wird oft als ‚Keimzelle‘ moderner schwedischer Literatur gesehen, in ihr entstanden viele Sprachexperimente. Peter Weiss berichtet zur Situation der Literatur nach 1945 in Schweden: „Es geschah sehr viel, vor allem auf dem Gebiet der Literatur gab es eine Reihe von hervorragenden Prosaisten und Lyrikern, die zu meinem Kreis gehörten: Die Psychoanalyse rückte damals ins Zentrum des Interesses. […] Mein eigenes Interesse wurde vor allem durch meine Freundschaft mit dem Arzt Max Hodann verstärkt. […] er hat mein Interesse für die Psychoanalyse geweckt. […] er gab viele Anstöße, daß ich damals Freud, Jung und andere Psychologen gelesen habe.“ (MPW 39)

Weiss hielt, neben dem engen Kontakt zu dem Arzt Max Hodann, auch Kontakt zu Öyvind Fahrström, einem schwedischen Künstler (1928-1976), von dem in einem Weiss’schen Filmfragment Bilder zu sehen sind. Einen besonderen Einfluss auf Weiss und seine künstlerische Arbeit und Entwicklung nahm seine Ehefrau Gunilla Palmstierna-Weiss, die mir in unserem Gespräch schilderte, wie sie und Peter Weiss ihr Tagwerk diskutierten, indem sie abends ihre Ateliers tauschten, die direkt nebeneinander lagen. Dieses enge Miteinander, so Gunilla Palmstierna-Weiss, führte zu einer gegenseitigen Inspiration und Beeinflussung, die sich beispielhaft anhand von Kostümentwürfen von Gu-

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nilla Palmstierna-Weiss und parallel dazu entstandenen Collagen von Peter Weis zu ‚1001 Nacht‘ auch anschaulich belegen lässt.20 In den 1930er- und 40er-Jahren betätigt sich Weiss also vorrangig bildkünstlerisch, aber er versteht sich gleichzeitig als Autor und Bildkünstler: „Ja: Schreiben und Malen waren im Gleichgewicht – all diese Gedichte sind illustriert, jedes Gedicht hat eine Zeichnung bei sich, meist aquarellierte Zeichnungen. Das gilt für 1933. '33 fing ich auch an, die ersten Bilder zu malen, ganz schwarze, dunkle Bilder, ein bißchen klobig und unbeholfen. Die Phase dauerte bis 1934 an […], und 1934 […] kam das einschneidende Erlebnis für mich […]. [D]er Tod meiner Schwester.“ (MPW 18)

„Diese Gedichte“: Damit meint Weiss seine ganz frühe, um 1932 entstandene Poesie, die ihm „ungemein wichtig“ war und „die [er] heute noch [hat], […] zu kleinen Bändchen zusammengebunden.“ (MPW 18) Das Schreiben steht dabei in keiner Konkurrenz zum Malen: „Die Malerei war für mich, von der handwerklichen und der beruflichen Seite gesehen, das Primäre. Gedichtet und geschrieben habe ich immer und durch alle Zeiten, aber: Das Geschriebene war mir ein Nebenprodukt. Ich habe nie eine Konkurrenz zwischen Schreiben und Malen empfunden. Ich wollte ganz einfach Maler werden, aber gleichzeitig auch Gedichte schreiben, Tagebuch führen, Prosa komponieren und so – nur hatte die Malerei eben Vorrang.“ (MPW 20)

1934, im Jahr des „einschneidenden Erlebnisses“, entstehen die Typoskripte ‚Günther an Beatrice‘ mit acht, ‚Die kleine Geschichte von fünf Seeräubern und einem Mädchen‘ mit fünf und ‚Traum, Dämmerung und Nacht. Eine Liebesgeschichte in Gedichten, Fragmenten und Tagebuchblättern von Peter U. Fehér‘ (Pseudonym von Peter Weiss) mit weiteren Illustrationen.21 Ausgelöst wurde die künstlerische Produktivität durch den Unfalltod der Schwester Margit Beatrice

20 Vgl. dazu die weiteren Collage- und Illustrationsarbeiten von Peter Weiss, darunter ‚Samothrake‘, Tempera auf Papier, 1945, ‚Das Duell IV‘, Collage, 1951, ‚Tausend und eine Nacht‘, Collage, 1957, ‚Personengalerie‘, Collage, 1959, ‚Häusliche Szene‘, Collage, 1959 und ‚Dinosaurus‘, Collage, 1974, sowie die Kostümentwurf zu ‚Marat/Sade‘ von Gunilla Palmstierna-Weiss (zum Beispiel in dies.: Minnets Spelplats. Stockholm 2013, S. 201 und S. 285). 21 Vgl. dazu Heinrich Vormweg: Der Schriftsteller als junger Künstler. In: LW 24-38, hier 26-28, sowie Kapitel ‚Peter Weiss als Maler‘, S. 52ff.

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Anfang August 1934,22 die sich u. a. in „Bilder[n] und Zeichnunge[n]“ manifestiert, „mit denen Peter Weiss seiner Verzweiflung zu begegnen sucht.“23 Darin und im großen Zweifel an der richtigen „Wahl des Ausdrucksmittels“ 24 spiegelt sich „wider, wie ein junges empfindsames Gemüt auf Ereignisse und Stimmungen […] reagierte.“25 So gibt es, wie Beise herausstellt, im Wesentlichen zwei Gründe für die künstlerische Tätigkeit: „Es ging erstens darum, sich auszudrücken, also das eigene Ich in Kunst zu verwandeln, und zweitens ging es Weiss darum, sich auszudrücken, also dem, was er zu sagen hatte, eine künstlerisch durchgestaltete Form zu geben […].“ (AB 7) Die autobiographische Veranlassung des persönlichen Ausdrucks und die sich immer weiter herausbildende multimediale Ästhetik bedingen sich dabei als Gründe des Medienwechsels von Beginn an gegenseitig. Gewiss sind die frühen Texte und Bilder qualitativ weniger bemerkenswert als spätere Werke und zudem besonders stark autobiographisch beeinflusst,26 dennoch: „Sie [die frühesten Schriften; H. K.] dokumentieren die Anfänge eines noch ganz jugendlichen, Orientierungen und sich selbst erst noch suchenden Autors […]. Es fesseln ihn die Möglichkeiten, die sich in ihnen abzeichnen […].“27 Viele dieser „sich abzeichnenden Möglichkeiten“ werden Weiss mit der Emigration aus Deutschland erst einmal genommen: Um der durch die fehlenden schwedischen Sprachkenntnisse bedingten ‚Sprachlosigkeit‘ zu entgehen und das

22 Die Bedeutung des Todes der Schwester beschreiben sowohl Vormweg in ‚Der Schriftsteller als junger Künstler‘ als auch Per Drougge in ‚Peter, der Maler. Über das bildkünstlerische Werk‘ (in: LW, S. 63-89). Vgl. ebenfalls Kapitel ‚Peter Weiss als Maler‘, S. 52ff. In ‚Abschied von den Eltern‘ heißt es: „Das Zittern ließ mich nicht mehr los […]. Und am nächsten Tag war das Zittern in mir, am nächsten Tag, als ich vor der Staffelei in meinem Zimmer stand und malte. Während Margit mit ihrem unheimlichen Geliebten [der Tod; H. K.] rang, bis ihre Kräfte sich langsam verbrauchten, malte ich mein erstes großes Bild. […] Auch am nächsten Tag malte ich […]. (A 100) Vgl. ebenso die Kapitel 2.2.1 ‚Das bildkünstlerische Werk‘, S. 52ff., ‚‚‚Collage IV‘ und ‚Collage A‘: ‚Lebensgeschichtlicher Innenraum‘, S. 201ff., und ‚‚Collage III‘: Schiffbruch im Dachboden‘, S. 242ff. 23 Vormweg, Der Schriftsteller als junger Künstler, LW 27. 24 Drougge, Peter, der Maler, S. 63. 25 Ebd., S. 72. 26 Vgl. dazu auch die Vorbemerkung in AB: „[…] bei den frühen Werken [dominierte] der Drang, sich auszudrücken […].“ (AB 7-9, hier 8, Hervorhebung im Original) 27 Vormweg, Der Schriftsteller als junger Künstler, LW 38.

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dadurch drohende ‚Verstummen‘ abzuwenden,28 wendet sich Weiss fast zwanghaft immer mehr vom Schreiben ab und zur bildenden Kunst hin. Das thematisiert Weiss später in seiner ‚Laokoon‘-Rede von 1965 genauer: Als Konsequenz aus seiner Exilsituation sieht Weiss sich „zwischen zwei Sprachen“ (L 177) – Deutsch und Schwedisch. Die deutsche Sprache ist ihm nach der Machtergreifung Hitlers fremd und wenig zugänglich geworden:29 „Die Sprache nimmt jetzt eine Gewalt an, die er sich selbst bei seinen gewagtesten abseitigen Beschwörungen nicht hätte vorstellen können. Sie dröhnt aus Lautsprechern. Sie macht sich mit fetten Buchstaben breit. Menschen drängen sich zusammen und tragen ein einziges Wort über sich. Menschen stehen vor einer Stimme, und in allen Ohren vibrieren die Trommelfelle unter den gleichen Schwingungen, und tausendfach vervielfältigt wird die Stimme von den Gehörknöchelchen in die Labyrinthe hineingeschlagen. Menschen marschieren und brüllen zum Takt ihrer Schritte Wörter, die ihre Verständlichkeit verlieren. Jeder, der hier in der Sprache zu Hause ist, gerät in den Kampf, der in dieser Sprache geführt wird. Die Bedeutung der Wörter verschiebt sich. Unsicherheit breitet sich aus. […] Jetzt […] verschwand das Nachprüfbare.“ (L 175)

Durch die ‚Übernahme‘ der deutschen Sprache durch Hitler und die Nationalsozialisten findet Weiss keine Worte mehr, er fühlt sich „der Sprache enteignet“ (L 176). Weiss sieht kaum noch Möglichkeiten, sich sprachlich auszudrücken: „Die [deutsche; H. K.] Sprache lag ebenso weit entfernt von ihm, wie das Land, aus dem sie stammte. Die Erinnerungen an Begegnungen und Berührungen, an Witterungen, Farben und Geräusche, die jedem Wort anhafteten, wurden überlagert vom Bewußtsein, daß der Zugang dazu verloren war. Die Wörter von dieser kompakten Feindlichkeit zu befreien, und nur sachliche Angaben über ein gesammeltes Wissen in ihnen zu sehen, vermochte er noch nicht.“ (L 177)

Deutsch war als Sprache der Nationalsozialisten für ihn unbrauchbar, Schwedisch hingegen beherrschte er noch zu wenig, um in dieser Sprache schreiben zu können: „Die Wörter des neuen Bereichs wuchsen vor ihm auf. Sie waren überdimensioniert, er turnte zwischen den Wörtern umher, stolperte von einem zum andern, die Wörter hatten scharfe Kanten, an denen er sich stieß.“ (L 177) Später

28 Zum Aspekt der Sprachlosigkeit und zum Verhältnis von Wort und Bild vgl. Kapitel 2.1.3 ‚Weissʼ ‚Laokoon‘-Paradigma: Zum Verhältnis von Sprache und Bild‘, S. 47ff. 29 Vgl. dazu Kapitel 3.1 ‚Einführende Text- und Bildbeschreibungen‘, S. 79ff.

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gelingt Weiss mit ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘, geschrieben 1952, die Rückkehr zum Schreiben und zur deutschen Sprache. In Sprache, Bild und Film stellt Weiss Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten, Wechselwirkungen und Differenzen der verschiedenen Medien heraus. Weiss geht in seiner Arbeit an und mit einem Medium immer bis an die jeweiligen medialen Grenzen, sowohl in inhaltlich darstellenden als auch in formalen und technisch herstellenden Verfahrensweisen. Er erarbeitet eine ganz subjektive Medien- und Sprachtheorie, wägt mediale Möglichkeiten und Grenzen gegeneinander ab und erforscht die verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten in Sprache, Bild und Film. Dabei muss zwar immer unbedingt mitgedacht werden, dass Weiss̕ gesamtes Werk stark autobiographisch beeinflusst ist und wesentlich bestimmt wird von der Suche nach einer Möglichkeit, sich persönlich auszudrücken. Weissʼ Lebensweg steht fortwährend in konkreter Verbindung mit seinem künstlerischen Œuvre. Allerdings darf nicht der Fehler begangen werden, ausschließlich Erklärungen innerhalb der Biographie finden zu wollen. Arnd Beise stellt fest, dass „die Frage, wie sich ein Autor auszudrücken verstand, allemal interessanter [ist] als die Frage danach, wie ein Autor sich auszudrücken verstand.“ (AB 8; Hervorhebung im Original) Zweifelsohne begründet die lebenslange Reflexion mit sich wiederholenden und überlappenden, oft lebensgeschichtlich beeinflussten Motiven und Themen als Künstler verschiedener Medien die besondere Ästhetik des Medienwechsels, des Stofftransfers und der Intermedialität bei Weiss. Besonders zu betrachten ist aber beispielsweise weniger die unbestreitbar ausnehmend prägende Erfahrung der Exilsituation als solche, sondern vielmehr die Art und Weise, wie Weiss das dadurch hervorgerufene Dilemma der ‚Sprachlosigkeit‘ verarbeitet, vor dem er nach seiner Emigration ins schwedische Exil steht. So wird in der ‚Laokoon‘Rede nicht nur Autobiographisches thematisiert, sondern auch als Literatur qualitativ auf höchstem Niveau künstlerisch gestaltet. In bestimmten Lebensphasen bevorzugt Weiss also ein jeweils anderes Medium. Weiss erklärte seinen Medienwechsel selbst einmal so, dass es ihm durch materielle Sicherheit aufgrund seines Erfolges als Schriftsteller möglich sei, seiner eigentlich bevorzugten Kunst nachzukommen und zu malen. Martin Rector stellt diese Erklärung des Künstlers zu Recht infrage: „[E]s will mir doch schlechterdings nicht in den Kopf, daß bei einer derart weitreichenden Frage nur äußere Umstände und nicht Gründe des Mediums selber eine Rolle gespielt ha-

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ben sollen. […] Das Zweiphasenmodell […] ist […] zu grob. […] Denn für Peter Weiss blieb die Frage Bild und/oder Wort eine lebenslange und kaum endgültig entscheidbare.“30

Auch wenn Weiss temporär ein Medium bevorzugt verwendet, so schließt er die Arbeit mit und in anderen Medien nie völlig aus, ganz im Gegenteil: Gerade durch das dauernde und bewusste Nebeneinander der Medien, durch die charakteristische Intermedialität, die transmedial verwendeten Motive und den wiederholten Medienwechsel erzeugt Weiss eine Spannung zwischen Text und Bild, die die besondere Ästhetik der Collagen hervorruft. Das grundlegende dynamische Verhältnis dient auch als Konstruktionsprinzip. Es erzeugt die mediale Vielfalt und Variation bei Weiss. Weiss (ge-)braucht die Medien gleichzeitig: Der Medienwechsel – auch der imaginierte, also die bei der Herstellung ‚nur‘ mitgedachten Grenzen des Mediums, in dem er sich gerade bewegt – ist notwendig, um eine adäquate Form des Ausdrucks finden zu können, wenn Weiss an mediale Grenzen gelangt, die er nicht überwinden kann, wenn er im selben Medium bliebe. Daneben ist ein weiterer Grund, nämlich ein produktionsästhetischer, sowohl ausschlaggebend als auch gleichermaßen vielschichtig wie die lebenslange Suche nach einer adäquaten Möglichkeit (1) sich (2) auszudrücken: Das Interesse an den Möglichkeiten und Grenzen des Ausdrucks, inhaltlich Gleiches oder Ähnliches in einem anderen Medium zu formulieren und darzustellen, etwas in einem anderen Medium zu wiederholen oder zu intensivieren, wird ergänzt durch (3) eine Rezeptionsästhetik, durch die Weiss sehr systematisch den Blick des Rezipienten lenkt. Besonders spürbar wird das bei den Collagezyklen zu ‚Abschied von den Eltern‘ und zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘, die, nachträglich angefertigt, den Blick des Rezipienten ganz methodisch (an-)leiten. Weiss betont auf diese Weise ihm wichtige Themen und richtet die Aufmerksamkeit des Lesers auf bestimmte Inhalte, wenn die Collagen dem jeweiligen Text hinzugefügt werden. Auffällig sind dabei die wiederholten Darstellungen von Orten (Häuser, Zimmer, oben vs. unten, Haus, Heimat, Hafen), von Zerstörung, Gewalt und Schmerz, des Theaters, des Jahrmarktes und des Zirkus, der Familie und der Eltern, des Traumes sowie innerer Welten und ‚autobiographi-

30 Rector, Laokoon oder der vergebliche Kampf gegen die Bilder, S. 25. Rector verweist hier als Beleg u. a. auf die Entstehung erster Prosaarbeiten wie die Erzählung ‚Der Vogelfreie‘, die schon 1946 entstand, aber erst 1949 als ‚Dokument I‘ in Schweden und 1980 als ‚Der Fremde‘ unter dem Pseudonym ‚Sinclair‘ auf Deutsch erschien. Rector verweist weiter auf ‚Von Insel zu Insel‘ sowie die weiteren Texte aus den 1950er-Jahren.

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scher Außenwelt(en)‘.31 Neben den bereits geschilderten strukturellen Zusammenhängen zwischen allen drei Medien, die Weiss nutzt, finden sich, wie nun schon mehrfach erwähnt, diverse semantische Schnittstellen; die oben genannten Themen nutzt Weiss transmedial, d. h. die Motive finden sich bei ihm nicht nur in seinen Texten und in bildkünstlerischen Werken, sondern auch im Film, dem sich Weiss seit Anfang der 1950er-Jahre bis ins Jahr 1960 zuwendet.32 2.1.2 Exkurs: Peter Weiss als Filmemacher Weiss verfasst diverse filmtheoretische Abhandlungen33 und dreht insgesamt vierzehn Filme, darunter sechs Experimental- sowie acht Dokumentarfilme, die zum Teil fragmentarisch blieben. Das Medium Film ermöglicht Weiss, „die Starrheit, die ‚Beständigkeit‘ des Bildes aufzulösen, das Visuelle in Bewegung zu versetzen.“34 Die neuen „Möglichkeit[en]“, die sich Weiss im Film bieten, beschreibt er folgendermaßen: „Als Maler kann ich ein Bild aus verschiedenen Aspekten aufbauen, ich kann verschiedene Geschehen auf ein und derselben Ebene zeigen, ich kann die Fläche in Formen auflösen, die in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen, ich kann einen Bewegungsablauf andeuten und so die Illusion der Bewegung hervorrufen – aber das Abgebildete bleibt immer statisch. Was ich auf einem Bild fixiert habe, steht als etwas Unveränderliches außerhalb der Zeit. Als Schriftsteller arbeite ich mit der Dimension der Zeit. Vergangenes und Gegenwärtiges stehen zu meiner Verfügung, ich kann gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen arbeiten, ein Ereignis schildern, gleichsam als wäre es durchsichtig und berge eine tieferliegende Assoziationsschicht, ich kann Gedanken mit Gedanken verketten und Bild mit Bild, kann Überblendungen und Doppelbelichtungen benutzen, die Beweglichkeit meines Darstellungsvermögens ist unbegrenzt – aber ich kann nur das beschreiben, was

31 An diese Hauptthematiken sind auch die Einteilungen der Einzelanalysen angelehnt, d. h. die Analysekapitel sind nach dem Kompositionsprinzip der Collagen sortiert. 32 Zum Film bei Peter Weiss vgl. besonders folgende Beiträge: Sverker, „Eine Sprache suchen“; ders.: Der Filmemacher Peter Weiss; Mazenauer, Staunen und Erschrecken; Harun Farocki: Gespräch mit Peter Weiss. In: PW 119-128; Jens Birkmeyer: Scheiterndes Sehen. Filmisches Erzählen in Meine Ortschaft von Peter Weiss. In: PWJ 7 67-99; Hark Machnik/Reiner Niehoff: Peter Weiss, Filme. 33 In ‚Avantgarde Film‘ sind ein historischer Überblick, diverse theoretische Überlegungen und „zugleich ein Autorkommentar seiner eigenen Versuche“ (Dwars, Und dennoch Hoffnung, S. 92) von Peter Weiss zum Film versammelt. 34 Hiekisch-Picard, Der Maler Peter Weiss, S. 75.

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ich höre und sehe. Im Film dagegen gewinnt die Vision Form, und sie saugt und stürzt uns mitten in sich hinein.“35

Weiss verbindet in diesem Medium die Kategorie des Raumes als Element der Malerei und die Kategorie der Zeit als Element der Poesie, wodurch sich ihm wieder neue Möglichkeiten des Ausdrucks bieten. Auch im Film ist Weiss’ Faszination von der Darstellung des Inneren, des Traumhaften spürbar,36 sodass auch seine filmischen Arbeiten starke Einflüsse des Surrealismus und der Psychoanalyse aufweisen; seine Filme wirken surreal, traumhaft und unwirklich fantastisch. Die avantgardistisch experimentellen Filme entstehen im Rahmen der schwedischen Gruppe ‚Studio-Scenen‘, die „die Produktion formal experimenteller Filme mit einer visionären oder poetischen Ästhetik fördern wollt[e].“ (AB 45) In ‚Avantgarde Film‘ entwirft Weiss eine stark subjektive Filmästhetik, die „von einem tiefen Misstrauen gegen die Sprache und die Vernunft geprägt [war].“ (AB 115) Im Film kann Weiss Bilder „in Bewegung […] versetzen“,37 seine Filmsprache soll eine „rein visuelle Sprache“ (AF 48) sein. Die Filme sind durch die Reihung und durch harte Schnitte getrennter Einzelbilder eher Collage als Montage, zumal „Peter ausdrucksvolle Details aus dem Gesamtbild […] herausgesucht, sie, wie für die Collage zu einem Film, herausgeschnitten [hatte] […].“38 Weissʼ Filme sind gekennzeichnet durch das Fehlen von Sprache, eine mehrfach unlogische (Bild-)Abfolge und die Darstellung von Visionen in „oft eher statische[n] Bilder[n]“,39 um durch eine Orientierung am Inneren „zur inneren Selbsterforschung“40 zu gelangen. Deren Ziel soll sein, Empfindungen in den Vordergrund zu stellen. Als Anhänger der Filme Luis Buῆuels lobt Weiss, dass

35 Sverker, „Eine Sprache suchen“, LW 143. Der Artikel, aus dem Sverker Weiss zitiert, erschien am 5. Mai 1953 in der schwedischen Zeitung ‚Dagens Nyheter‘. 36 In einem Artikel zum deutschen Nachkriegsfilm lobt Weiss besonders die Filme ‚Die Mörder sind unter uns‘ von Wolfgang Staudte und ‚In jenen Tagen‘ von Helmut Käutner, denen gemeinsam sei, dass sie visionären Charakter hätten, weil in ihnen in Gesichtern die Landschaft der Seele zu sehen sei. Vgl. dazu AB 46. 37 Hiekisch-Picard, Der Maler Peter Weiss, S. 75. 38 Staffan Lamm: Nichts, oder: Strange walks in and trough and out. Notizen über Dreharbeiten. In: LW 125-137, hier 127. 39 Andreas Schönefeld: Die filmische Produktion des multimedialen Künstlers Peter Weiss im Zusammenhang seiner künstlerisch-politischen Entwicklung in den späten 40er und 50er Jahren. In: WW 114-129, hier 119f. 40 Peter Weiss, zitiert nach AB 46.

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„seine [der Film ‚Un chien andalou‘ (1929); H. K.] Stärke […] nicht in den Bildkompositionen, Montagen und Rhythmen, sondern einzig in seinem emotionalen Gehalt [lag]. Der Film war mit den Prinzipien der Traumarbeit aufgebaut. […] Traum und Wirklichkeit waren eins. Der Film erzeugte Wirklichkeit mit den Mitteln des Traums.“ (AF 40) Der Film dient als Darstellungsform ‚innerer Wirklichkeiten‘: „In Buῆuels ‚Andalusischem Hund‘ (1929) und dem ‚Goldenen Zeitalter (1930) sieht er [Peter Weiss; H. K.] verwirklicht, was seine eigene Prosa angestrebt hatte: Traum und Wirklichkeit verschmelzen zu Bildern […].“41 Träume und Visionen zeigen eine Demaskierung des Menschen, und „die verzerrten Impulse des Menschen, seine unterdrückten Triebe und unstillbaren Begierden“ (AF 40) werden im Film sichtbar. Auch in diesem Medium und besonders beim Experimentalfilm arbeitet Weiss ähnlich assoziativ wie beispielsweise bei ‚Abschied von den Eltern‘. Man kann die Texte und Collagen zwar nicht exakt einer bestimmten Art von Film zuordnen, man kann also nicht ganz eindeutig den einen Text den Experimental- und den anderen Text den Dokumentarfilmen zuweisen. Doch eine annähernde Zuweisung bestimmter Charakteristika aufgrund der sich wiederholenden Motive und Inhalte sowie struktureller Gemeinsamkeiten ist durchaus möglich. So werden beispielsweise in ‚Studie II‘ „vorher von Weiss angefertigte assoziative Zeichnungen nackter Körper zu quasi abstrakten Bildern arrangiert.“ (AB 51) Bei den Filmen ‚Studie III‘ und ‚Studie IV‘ „handelt [es] sich um Versuche, mittels einer stark aufgeladenen Filmsprache den eigenen Prozess der Lösung von den Eltern […] darzustellen.“ (AB 51) Somit stehen diese Filme in erkennbarer Verbindung zu ‚Abschied von den Eltern‘, da sie auf Grundlage autobiographischer Texte entstanden, die die Basis für ‚Abschied von den Eltern‘ bilden.42 Zudem sind im Film die Kategorien Zeit und Raum aufgehoben. „Im filmischen Werk ist der abgebildete Raum immer wieder ein zentrales und bewußt eingesetztes Gestaltungselement.“43 In ‚Der Schatten des Körpers

41 Dwars, Und dennoch Hoffnung, S. 96. 42 Besonders im Film ‚Växelspel‘ spielen psychoanalytische Elemente in der Filmsprache eine große Rolle (z.B. die spezielle Darstellung der Vaterinstanz ähnlich der [typisierten] Figur eines Psychoanalytikers; vgl. dazu auch die Besprechung der ‚Collage V‘ zu ‚Abschied von den Eltern‘ in Kapitel ‚‚Collage V‘: Bild(er) des Ich-Erzählers‘, S. 171ff., sowie die Darstellung der Mutter in Kapitel ‚‚Collage VIII‘ und ‚Collage II‘: Die Eltern‘, S. 178ff. 43 Manuel Köppen: Die halluzinierte Stadt. Strukturen räumlicher Wahrnehmungen im malerischen und frühen erzählerischen Werk von Peter Weiss. In: WW 9-26, hier 23.

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des Kutschers‘ wirkt eine Auflösung des „zeiträumliche[n] Zusammenhang[s]“44 wie filmähnliche Schnitte: „In sich kontinuierliche Bewegungsabläufe werden kubistisch zerstückelt, indem die Bewegung […] in ihrer Abfolge mehrfach durch einen synchronischen Schnitt unterbrochen und ‚in der Quere geteilt‘ aufgezeichnet wird.“45 Auch filmähnliche Überblendungen werden im Text imitiert.46 Im Dokumentarfilm, der den Experimentalfilm ablöst, steht ein absoluter Realismus als neuer, demaskierender Modus der Darstellungsästhetik im Vordergrund. Die insgesamt sechs Dokumentarfilme sind weit weniger persönlich als die experimentellen Filme. Der Übergang zum Schriftsteller beendet die filmische Arbeit Weissʼ, doch in den Texten sind filmische Einflüsse weiterhin erkennbar. Der Dokumentarfilm bei Weiss ist in Technik und Inhalt eher mit ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ vergleichbar. Im Gegensatz zu den Experimentalfilmen zeigt Weiss in den Dokumentarfilmen Ausschnitte der Wirklichkeit mit dem Fokus auf sozial schwache Existenzen. Die Ästhetik des gelebten Lebens fasziniert Weiss und zeigt sich zum Beispiel in gefilmten „zerstörten Gesichter[n]“47. In einem poetisch realistischen Stil zeigt Weiss Gesellschaftsstudien in suggestiven Bildern, die die Gegenwart analysieren. Die Montage der Bildfolgen erfolgt als ständiger Wechsel zweier Szenen. Dabei bleibt „der Film […] fragmentarisch.“48 Ebenso fehlen im Dokumentarfilm sämtliche Kommentare und Erklärungen, ähnlich wie in der Erzählung ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘. In diesem Text fallen Darstellungs- und Beschreibungstechniken

44 Mireille Tabah: Modernität in ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘. In: Peter Weiss. Neue Fragen an alte Texte. Hg. von Irene Heidelberger-Leonard. Opladen 1994, S. 39-50, hier S. 42. 45 Gunther Witting: Bericht von der hohen Warte. Zu Peter Weiss‘ ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘. In: Der Deutschunterricht 37. Hg. von Gerhard Augst. Stuttgart 1985, S. 55-64, hier S. 59. 46 Grundsätzlich berücksichtigt werden muss hier, dass bei einem Medienwechsel „Themen […] massiven Veränderungen [unterliegen], weil die Zeichensysteme von Ausgangs- und Zielmedium sich grundlegend voneinander unterscheiden.“ (Ralf Georg Bogner: Medienwechsel. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hg. von Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moennighoff. Stuttgart 3

2007, S. 484.). Vgl. auch Genia Schulz: ‚Die Ästhetik des Widerstands‘. Versionen

des Indirekten in Peter Weiss’ Roman. Stuttgart 1986., insbesondere das Kapitel zum ‚Filmischen Schreiben‘, S. 124-129. 47 Sverker, „Eine Sprache suchen“, LW 148. 48 Ebd., 151.

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auf, die an filmische Techniken und Kameraperspektiven erinnern. Ähnlich wie das im Film eingesetzte Zoomen an Dinge heran, scheint sich das Blickfeld zu verringern, indem im Text in steter Abfolge immer kleinere Details genannt werden. So wird sprachlich der filmische Übergang einer totalen Kameraeinstellung über eine Nahaufnahme hin zu einer Detailaufnahme nachgeahmt. Ein umgekehrter Verlauf dient als Überblicken der Szene. Eine „Kette nacheinander gewonnener Eindrücke“49 im Text erinnert an einen Kameraschwenk. Der Blick im Text ahmt das ‚Blicken‘ (durch) eine(r) Kamera nach: „Wenn die Kamera ‚blickt‘, Lichtstrahlen in ihr Objektiv fallen läßt und die Spuren registriert, die diese Strahlen hinterlassen, funktioniert sie ähnlich wie das menschliche Auge.“50 Verweise finden sich aber nicht nur auf literarische, sondern auch auf bildkünstlerische Werke, insbesondere auf die Collagen: „Der Zusammenhang zwischen Weissʼ Malerei und Filmarbeit ist also von Anfang an offensichtlich und bleibt in der ganzen Reihe surrealistisch geprägter Experimentalfilme erhalten: Studie I-V. Vor allem der letzte […] zeugt von Weissʼ avancierter künstlerischer Beherrschung der Filmsprache. Schönheit wie Grausamkeit der Phasen des Liebesaktes markiert den Film u. a. dadurch, daß verschiedene geometrische Figuren, wie Kuben, Kreise etc., durch Doppelbelichtung ins Bild komponiert und mit den stilisierten Bewegungen des menschlichen Körpers parallelisiert werden. So entsteht eine ausdrucksstarke Wechselwirkung zwischen abstrakten und organischen Formen.“51

Noch während der Arbeit als Filmemacher beginnt Weiss mit den Collagen zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ und mit der letzten Fassung zu ‚Abschied von den Eltern‘ sowie der zugehörigen Collagereihe. In dieser Zeit vermischen sich verschiedenste Erlebnisse und Einflüsse seiner filmischen Arbeiten zu „Zwangsgedanken“ (KJ 114), die sich zu Albträumen zusammenfügen:

49 Torsten Pflugmacher: Die literarische Beschreibung. Studien zum Werk von Uwe Johnson und Peter Weiss, München 2007, S. 259. 50 Christine N. Brinckmann: Die anthropomorphe Kamera. In: Mimesis, Bild und Schrift. Ähnlichkeit und Entstellung im Verhältnis der Künste. Hg. von Birgit Erdle/Sigrid Weigel. Köln u.a. 1996, S. 99-121, hier S. 99. Insbesondere die ‚Collage II‘ und die ‚Collage IV‘ zeigen die hier benannten Strahlen. Vgl. dazu auch Kapitel ‚‚Collage II‘: Strahlen, Kreise, geometrische Figuren‘, S. 99ff. 51 Sverker, „Eine Sprache suchen“, LW 141.

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„Die Form dieser immer wieder ansetzenden, mahlenden Gedanken setzte sich aus Elementen zusammen, die teils aus der anstrengenden Schneidearbeit mit dem Film stammten, teils das Zerschnittene, Zerstückelte und Verwickelte meines eigenen Zustands ausdrückten. Es war ein unaufhörliches, sinnloses Suchen nach verlorenen Teilen, ein unaufhörliches Sichbemühen, Stücke, die nicht zusammenpassten, aneinanderzufügen.“ (KJ 114)

Die innere Form des Künstlers, der ‚sich bemüht‘, das „Zerschnittene, Zerstückelte“ des „eigenen Zustands“ als „Stücke, die nicht zusammenpassten, aneinanderzufügen“, spiegelt sich in der äußeren Form der Filmarbeit mit der „Schneidearbeit“; und wieder bestätigen sich die enge Verbindung von Leben und Werk bei Weiss und seine lebenslange Suche nach der richtigen Form des Ausdrucks. Nach dem Film widmet Weiss sich vorrangig dem Medium Sprache. Auffällig ist, dass er sagt, die Literatur, das Schreiben komme als neues Instrument hinzu (vgl. MPW 41). Deutlich wird, dass die Form des Ausdrucks und das jeweilige Medium als Instrument, also als Werkzeug, angesehen werden und dass eine neue Form hinzukommt, ein anderes Medium also nicht abgewertet oder verdrängt wird. Die Medienwechsel und der Transfer der Stoffe ermöglichen letztlich ein umfangreiches, die Bereiche Literatur, bildende Kunst und Film umfassendes Œuvre, das transmedial, also in wiederkehrenden Inhalten, Themen und Motiven, sowie intermedial, also mit spezifischen Strukturen und Formen, die Möglichkeiten und Grenzen verschiedener Medien diskutiert und reflektiert. An dieser Stelle kann summierend festgehalten werden, dass die Gründe des multimedialen Ausdrucks vielschichtig sind: Weiss ging es darum, (1) sich (2) auszudrücken. Zudem möchte er rezeptionsästhetisch eingreifen und (3) den Rezipienten lenken, was besonders stark bei den Collagen spürbar wird. Ein weiterer Grund ist die lebenslange Beschäftigung mit bestimmten Themen, also (4) der Aspekt der Verarbeitung, Bearbeitung und Bewältigung. Schließlich kann Weiss (5) durch die Überwindung subjektiver medialer Grenzen künstlerisch anspruchsvoller und differenzierter das darstellen oder beschreiben, wozu seine Fähigkeiten in dem anderen Medium (in dem Moment) nicht gereicht haben. In allen Medien gibt es Hauptthemen und medial strukturelle Überschneidungen. Nach dieser ersten eher autobiographisch und werkchronologisch ausgerichteten Übersicht über den Medienwechsel bei Weiss muss im Folgenden seine subjektive Funktionsdifferenzierung von Wort und Bild untersucht werden. Diese bildet den Rahmen für den letzten Schritt vor der Analyse des konkreten Verhältnisses von Text und Collage, nämlich die Einbettung in die einschlägigen

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Theorien der Intermedialitäts- und Intertextualitätsforschung und die Skalierung der Intermedialität. 2.1.3 Weissʼ ‚Laokoon‘-Paradigma: Zum Verhältnis von Sprache und Bild Weiss formuliert in seiner Lessingpreisrede ‚Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache‘52 eine stark subjektive Funktionszuweisung der Medien Sprache und Bild. Er „diskutiert das Wesen der Sprache im Hinblick auf seine eigenen Erlebnisse mit Mutter- und Zweitsprache. Die ersten Erfahrungen des Kindes mit der Sprache sind […] ein ‚Stammeln und Lallen‘ bzw. ‚unartikulierte Geräusche‘ (L 170), mit denen sich das Kind erst zum Schrei, dann zur Sprache hinarbeitet.“53 Die subjektive Funktionszuweisung resultiert aus einer Wechselwirkung zwischen der engen lebensgeschichtlichen Bindung an das Gesamtwerk und der Diskussion um eine (ästhetische) Wechselwirkung der Künste im Sinne von Walzels „wechselseitiger Erhellung“, dass nämlich das eine hilft, das andere zu verstehen. Weiss scheint sich auf den ersten Blick an Lessing zu orientieren. Lessings Schrift ‚Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie. Mit beyläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte. Erster Theil‘ erscheint 1766.54 Lessing stellt seiner Auseinandersetzung mit der LaokoonGruppe die „Wiedergabe von Winckelmanns Interpretation der Laokoon-Gruppe

52 Zur Vertiefung der hier nicht diskutierten Aspekte der ‚Laokoon-Rede‘ sind die ausführlichen Besprechungen bei Bernard Dieterle (Peter Weiss. Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache. In: ders., Erzählte Bilder) und bei Ulrich Engel (Laokoons ältester Sohn alias Peter Weiss. Zum Verhältnis von Bild und Schrift im Werk von Peter Weiss. In: PWG 79-92) besonders lohnenswert. Dieterle setzt den Schwerpunkt auf die Deutung der Laokoon-Gruppe hinsichtlich des Medienwechsels bei Weiss und verknüpft diese Überlegungen mit Weissʼ ‚Ästhetik des Widerstands‘. Engel konzentriert sich in seiner Abhandlung auf das Verhältnis von Text und Bild. 53 Bigler, Gesten des Erinnerns und Vergessens, PWJ 24 91. Über das „erste verdunkelte Zimmer“ lässt sich eine Verbindung ziehen zu dem Motiv des Dachzimmers. Vgl. dazu insbesondere die beiden Kapitel ‚‚‚Collage IV‘ und ‚Collage A‘: ‚Lebensgeschichtlicher Innenraum‘‘, S. 201ff, und ‚‚Collage III‘: Schiffbruch im Dachboden‘, S. 242ff. 54 Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie, Stuttgart 2006.

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[…]“55 voran. Im Kontext der Entstehung sind nach Monika Fick „zwei Linien […] zu verfolgen: Lessings Auseinandersetzung mit Winckelmann, […] und seine [Lessings; H. K.] Beschäftigung mit der theoretischen Frage nach der Vergleichbarkeit von Dichtung und bildender Kunst“56 Mit seiner Laokoon-Schrift kritisiert Lessing Winckelmann in Teilen: „Lessings Kritik richtet sich dabei besonders gegen die Versuche, die dichterische Phantasie an die Bildschöpfungen der Malerei und Plastik zu binden.“57 Nach Lessing sind trotz der „Gemeinsamkeit […], die faßbar [wird] in der Wirkung“, 58 Malerei und Dichtung nicht zu vermischen. „‚Schilderungssucht‘ macht er der beschreibenden Poesie zum Vorwurf. Umgekehrt habe die Überfrachtung der Malerei mit Bedeutung zur ‚Allegoristerei‘ geführt.“59 Lessing interpretiert die Laokoon-Gruppe, um die von ihm gesehenen Unterschiede von Literatur und bildender Kunst zu bekräftigen: „Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nämlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: so können nebeneinander geordnete Zeichen auch nur Gegenstände, die nebeneinander, oder deren Teile nebeneinander existieren, aufeinanderfolgende Zeichen aber auch nur Gegenstände ausdrücken, die aufeinander, oder deren Teile aufeinander folgen. Gegenstände, die nebeneinander oder deren Teile nebeneinander existieren, heißen Körper. Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften die eigentlichen Gegenstände der Malerei. Gegenstände, die aufeinander, oder deren Teile aufeinander folgen, heißen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie.“

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In der Dichtung folgen Worte „aufeinander“, in der Malerei stehen Zeichen, „Figuren und Farben in dem Raume“ […] nebeneinander“. Dichtung kann nach

55 Monika Fick: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: LessingHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von ders. Stuttgart 22004, S. 216-241, hier S. 218. Lessing bezieht sich in seiner Schrift auf: Winckelmann, Johann Joachim: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst: Zweite, vermehrte Auflage. Berlin 2016 [1755]. Vgl. für einen gründlichen Überblick über Entstehung und Kontext der Laokoon-Schrift dies., S. 216-222. 56 Ebd., S. 216. 57 Ebd., S. 224. 58 Ebd., S. 232. 59 Ebd., S. 225. 60 Lessing, Laokoon, S. 114.

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Lessing also Handlungen darstellen, Poesie hingegen Gegenstände. Malerei kann Handlung durch Andeutung des Körpers nachahmen; Poesie kann Malerei durch Andeutung der Handlung schildern. Bei Weiss ist der Laokoon-Text aus subjektiver Intention formuliert, und damit auch autobiographisch zu lesen.61 Grundlage der Begriffsdefinitionen von Wort und Bild ist die Charakterisierung von Bildern als „Bewusstseinsphänomene.“62 Autobiographisches zeigt sich oft in der Thematisierung der eigenen Sprachlosigkeit, wenn es zum Beispiel heißt: „[…] er kann keine Worte finden […].“ (L 172) Die Flucht ins schwedische Exil bedeutet für Weiss den Verlust des Heimatlandes und damit einhergehend auch den Verlust der heimatlichen Sprache. „Herausgerissen aus einer alten Sprache, noch nicht heimisch in einer neuen, konnte er alles, was er nicht auszusprechen vermochte, im Bild zu einem verständlichen Erlebnis zusammendrängen.“ (L 180) Weiss kann angesichts seiner ‚Sprachlosigkeit‘ bildlich das darstellen, wofür die Sprache nicht mehr oder, treffender gesagt, in diesem Moment nicht ausreicht, also: für was „er keine Worte finden kann“. Literatur und Malerei betrachtet Weiss dennoch immer als gleichberechtigt: „Ich glaube, beide Sprachen [die bildnerische und die Schreib-Sprache; H. K. nach Peter Roos, vgl. MPW 41] sind gleichermaßen exakt. Ich empfinde […] starke Ähnlichkeiten. Daneben gibt es Parallelen in der Motiv-Wahl, in der Form. Ich habe […] versucht, Sprache exakt einzusetzen und an den Inhalt zu binden – genau wie bei den Gemälden.“ (MPW 42)

Eine neue, veränderte Situation erfordert für Weiss ein neues Medium, um sich ausdrücken zu können, nicht eine Schwächung oder Abwertung des bisherigen. Weiss differenziert dabei sehr genau die unterschiedlichen Funktionen und Charakteristika von Wort und Bild: „Was er in den Bildern von sich mitteilte, lag in einer andern Dimension als das Geschriebene. Wenn die Bestandteile eines Bildes auch aus den verschiedensten Erlebnissen her-

61 Vgl. dazu auch Michael Hofmann: Der ältere Sohn des Laokoon. Bilder und Worte in Peter Weissʼ Lessingpreisrede und in der Ästhetik des Widerstandes. In: PWJ 1 42-58. Hofmann stellt zunächst den Spracherwerb (eingeteilt in die vier Phasen ‚Ichkonstitution‘, ‚Kommunikation‘, ‚Absonderung durch Sprache‘ sowie ‚Forderung der Welt an das Ich‘) als autobiographisch heraus, um eine zunehmende Politisierung Weissʼ als Hauptthese zu untermauern. 62 Hofmann, Der ältere Sohn des Laokoon, PWJ 1 42.

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vorgeholt werden, so fügen sie sich am Ende doch zu einem einzigen Augenblick zusammen. Wie reich auch immer der Inhalt eines Bildes ist, er umfaßt doch nie mehr als eine einmalige Situation. Das Auge folgt den Einzelheiten auf der Fläche, und alle Einzelheiten ergeben in Gleichzeitigkeit das Bild. Das Sprechen, Schreiben und Lesen bewegt sich in der Zeit. Satz stößt auf Gegensatz, Frage auf Antwort. Antwort auf neue Frage. Behauptetes wird widerrufen. Widerrufenes wird neuen Bewertungen unterzogen. Der Schreibende und Lesende befinden sich in Bewegung, sind ständig offen für Veränderungen.“ (L 179)

Während Sprache „offen für Veränderungen“ ist und der Schreibende und der Lesende sich ‚bewegen‘, zeige das Bild einen fixierten Augenblick, eine einmalige Momentaufnahme. Das Bild biete dem Betrachter gleichzeitig alle Einzelheiten dar, während Sprache durch eine ständige Dynamik des Schreibenden und des Lesenden eine zeitliche Dimension und ein Nacheinander der Worte charakterisiert sei. Texte beinhalteten generell ein Vorher und ein Nachher und seien insofern in einem Kontext verortet. Bilder sind nach Weiss’ Verständnis ohne Kontext oder Kontextualisierung zu betrachten und zu verstehen. Sprache bezwecke das Erlesen einer Gesamtwirkung. Wert und Wirkung ordnet Weiss der bildlichen Darstellung zu, Ursache und Wirkung der sprachlichen: „Das Bild liegt tiefer als die Worte. Wenn er nachdenkt über die Einzelheiten des Bildes, verlieren sie sich schon. Er muß bedingungslos an den Wert des Bildes glauben. Je besessener er vom Bild ist, je weniger er sich um die Anlässe des Bildes kümmert, desto überzeugender wird die erreichte Wirkung. Worte enthalten immer Fragen. Worte bezweifeln die Bilder. Worte umkreisen die Bestandteile von Bildern und zerlegen sie. Bilder begnügen sich mit Schmerz. Worte wollen den Ursprung des Schmerzes wissen.“ (L 182)

Weiss definiert „Worte und Bilder in einem psychologischen Sinne und [er] versteht unter Bildern bildliche, unter Worten bereits versprachlichte Bewußtseinsinhalte“,63 aus denen sich das konkrete Bild schließlich entwickelt. Bilder, so Weiss, gehen aus Worten erst hervor. Der Wert des Bildes steige, „je besessener er vom Bild ist, je weniger er sich um die Anlässe kümmert.“ (L 182) Worte forschen nach den Ursachen, und da Worte das Bild lediglich „umkreisen“, liege „das Bild […] tiefer als die Worte.“ Der Rezipient muss an den Wert eines Bildes glauben. Die Beschreibung, dass „eine Bildfläche […] Perspektiven nach zahlreichen Richtungen hin aufweisen“ (L 179) kann, erinnert an die Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ und zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘. Da auch die

63 Hofmann, Der ältere Sohn des Laokoon, PWJ 1 43.

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Collagen als Ganzes durch ihre Komplexität, ihr Kompositionsprinzip und ihren Herstellungskontext aus vielen heterogenen Ursprungsmaterialien in viele weitere Richtungen gleichzeitig verweisen (das Bewusstsein der Geschichtlichkeit, das Zitat im Zitat, der breite Rückgriff auf die Kunstgeschichte, das Zitieren mehrerer Textstellen in einer Collage). Die einzelnen Bildsegmente beinhalten aber mindestens ebenso viele Verweise, und Rückgriffe implizieren ebenso viele Deutungsmöglichkeiten. Die Beschreibung, dass die Bestandteile eines Bildes auch aus den verschiedensten Erlebnissen hervorgeholt würden, die sich am Ende doch zu einem einzigen Augenblick zusammenfügen, lässt ebenfalls an den Herstellungsprozess der Collagen denken, bei dem Weiss die einzelnen Bildsegmente auch aus den verschiedensten Materialien zusammensucht, um aus den vielen einzelnen Teilen ein einziges Bild ‚zusammenzufügen‘. Mit Blick auf die Fragestellung dieser Studie nach dem Text-Collage-Verhältnis lässt sich festhalten, dass Weiss diese in der ‚Laokoon‘-Rede auf eher abstrakten Ebenen ausgeführten Überlegungen zum Wort-Bild-Verhältnis konkret im literarischen und bildkünstlerischen Werk umsetzt. Indem Weiss unter anderem Sprache und Bild durch visuelle Sprachgestaltung miteinander in Verbindung setzt, zeigt sich, dass „in dem, was ich schreibe, […] das Visuelle eine große Rolle [spielt].“64 Weiss nutzt detailreiche Beschreibungen, um Anschaulichkeit und Visualität im Text herzustellen. Sprachliche Bilder sorgen für eine visuelle Unmittelbarkeit und Evidenz. Diese weisen eine „gesteigerte Aufmerksamkeit für Farbwerte der Umgebung“65 auf. Hier treffen Sprache und Bild direkt aufeinander, und deutlich „erkennbar ist die Einschreibung der Malerei in die Landschafts-, Personen- und Architekturbeschreibungen. Man kann von einem malerischen Code sprechen, weil in den Beschreibungen ikonographisches Vokabular reichlich Verwendung findet.“66 Zudem nutzt Weiss Verben der

64 Wolf Schön: Die Malerei ist statisch. Als aus Bildern Bücher wurden. Ein Gespräch mit Peter Weiss. In: Peter Weiss im Gespräch. Hg. von Rainer Gerlach/Matthias Richter. Berlin 1986, S. 259-262, hier S. 260. Eine übersichtliche und ausführliche Untersuchung der Beschreibung bei Peter Weiss unternimmt Torsten Pflugmacher anhand der ‚Notizbücher‘ (Peter Weiss: Notizbücher 1960-1971. Erster Band. Frankfurt a. M. 1982. Alle Zitate aus diesem Titel werden im Folgenden als NB1 direkt im Anschluss an das Zitat mit Angabe von Kürzel für den Titel und jeweiliger Seitenzahl nachgewiesen; ders.: Notizbücher 1960-1971. Zweiter Band. Frankfurt a. M. 1982 [Alle Zitate aus diesem Titel werden im Folgenden als NB2 direkt im Anschluss an das Zitat mit Angabe von Kürzel für den Titel und jeweiliger Seitenzahl nachgewiesen]. 65 Pflugmacher, Die literarische Beschreibung, S. 254. 66 Ebd.

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Wahrnehmung: Er thematisiert in seinen Texten häufig das Sehen. Die Sicht des Rezipienten wird durch das sprachlich beschriebene Blicken des Ich-Erzählers geleitet.67 Auch Erinnerungsbilder und Träume werden ‚gesehen‘. Die Blicke des Erzählers geben Einblicke, Ausblicke und Überblicke.68 Sie sind verknüpft mit einem „optischen Vokabular“69 und visualisieren Situationen, auch durch die Beschreibung von Räumen und Landschaften. In der „Schreibpraxis […] verbinden sich verschiedene Modi visueller Wahrnehmung, die von einer exakten Wiedergabe äußerer Wirklichkeitseindrücke bis zu ihrerseits traumhafthalluzinatorischen verfahrenden Versprachlichung einer inneren, psychogenen Bilderproduktion reichen.“70

Diese ‚Bilderproduktion‘ führt Weiss im Medium Film fort: „Der Film ergab sich dann aus der Malerei.“ (NB1 55)

2.2 PETER WEISS ALS MALER 2.2.1 Das bildkünstlerische Werk Um den Stellenwert der Collagezyklen im Verhältnis zum Gesamtwerk ermitteln zu können, muss zunächst das bildkünstlerische Werk als Ganzes überblickt werden, damit in einem nächsten Schritt auch das Verhältnis zum literarischen Werk und zu den beiden hier untersuchten Texten bestimmt werden kann. Anfangs wurden Weiss’ bildkünstlerische Werke nur in Schweden gezeigt; bis auf eine Ausnahme wurden alle Ausstellungen in Stockholm71 realisiert.

67 Nach dem gleichen Prinzip leitet Weiss den Blick des Betrachters der Collagen an. Vgl. dazu auch die Kapitel zu den einführenden Text- und Bildbeschreibungen (Kapitel 3.1 ‚Einführende Text- und Bildbeschreibungen‘, S. 79ff., und Kapitel 4.1 ‚Einführende Text- und Bildbeschreibungen‘, S. 155ff.) 68 Vgl. Kapitel 2.1.2 ‚Exkurs: Peter Weiss als Filmemacher‘, S. 41ff. 69 Pflugmacher, Die literarische Beschreibung, S. 244. 70 Steinlein, Ein surrealistischer ‚Bilddichter‘, S. 61. 71 1941 gab es die erste offizielle Ausstellung in den ‚Mässhallen‘ in Stockholm; 1943 folgte eine Ausstellung im Stadshotell Alingsås (dort lebte Weiss zu der Zeit bei seiner Familie); 1945 zeigte die ‚Gummesons Konsthall‘, Stockholm, Werke von Weiss und 1946 wurde eine Ausstellung in der ‚Kunstgalerie Louis Hahne‘, Stockholm, realisiert.

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1963 gab es in der Galerie Springer in Westberlin die erste Ausstellung außerhalb Schwedens. 1976 wurde die Ausstellung ‚Peter Weiss – Malerei, Collagen, Zeichnungen 1933-1966‘ zuerst in der Kunsthalle von Södertälje, danach auch in Rostock, Ost-Berlin, München, Paris und Zürich gezeigt. Es folgten weitere international beachtete Ausstellungen – auch nach dem Tod von Weiss im Mai 1982 – in den 1980er- und 1990er-Jahren.72 Arnd Beise teilt das bildkünstlerische Œuvre in vier Phasen ein (vgl. AB 2243): „tastende Anfänge vor 1934; eine überwiegend düstere und altmeisterlich geprägte Phase von 1934 bis 1941; der Versuch, den Anschluss an die künstlerische Moderne (wieder) zu finden, von 1941 bis 1946; und endlich die Periode der Reduktion des malerischen Ausdrucks nach 1947.“ (AB 22) In der Zeit vor 1934, nach Beise die erste Phase, ist Weiss beeindruckt von zeitgenössischer moderner Malerei73 und unternimmt erste „Fingerübungen“ (AB 22).74 Weiss orientiert sich zum Beispiel an Emil Nolde, Paul Klee und Otto Dix. Die frühesten Werke von Weiss sind aber wenig relevant. In der Zeit von 1934 bis 1941 ist Weiss’ vorrangiges Thema das autobiographisch bedingte „Gefühl von Isolation, Verfolgung und Ausgeliefertsein“ (AB 23), die Bilder waren „düster und melancholisch, häufig auch grausam.“ (AB 23) Denn ab 1934 sieht Weiss das Malen als Überwindung der Sprachlosigkeit, „in doppelter Hinsicht.“ (AB 23)75 Die zweite Phase bringt durch den Tod der Schwester Margit 193476 vornehmlich düstere Werke hervor. Der Tod der Schwester wird ihn vor allem künstlerisch lang beschäftigt. Weiss selbst charakterisiert seine Werke dieser Phase als „[s]chwarze, dunkle Bilder voller Trauer, voller Verzweiflung.“ (MPW 19) Nach seiner Emigration nach Schweden über England und die Tschechoslowakei fühlt sich Weiss von seiner Muttersprache derart weit entfernt, dass ihm die Möglichkeiten eines für ihn adäquaten sprachlichen Ausdrucks fehlen. Auch die neue Sprache Schwedisch beherrscht Weiss

72 1980 ‚Der Maler Peter Weiss‘ im Museum Bochum; 1983 ‚Peter Weiss als Maler‘ in der Kunsthalle Bremen; 1991 Ausstellung ’Peter Weiss. En utställning’ im Moderna Museet Stockholm beziehungsweise ‚Peter Weiss. Eine Ausstellung.‘ in der Akademie der Künste, Berlin. 73 Siehe Kapitel 2.2.1 ‚Das bildkünstlerische Werk‘, S. 52ff. 74 Vgl. Kapitel 2.1.1 ‚Peter Weiss als Künstler verschiedener Medien‘, S. 29ff. 75 Siehe dazu Kapitel 2.1.1 ‚Peter Weiss als Künstler verschiedener Medien‘, S. 29ff, insbesondere Anm. 22. 76 Vgl. dazu MPW 18-19. Vgl. ebenso die Kapitel 2.1.1 ‚Peter Weiss als Künstler verschiedener Medien‘, S. 29ff., ‚‚‚Collage IV‘ und ‚Collage A‘: ‚Lebensgeschichtlicher Innenraum‘, S. 201ff., und ‚‚Collage III‘: Schiffbruch im Dachboden‘, S. 242ff.

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zunächst zu wenig, um sich geeignet ausdrücken zu können. „Drei Jahrzehnte, zwischen 1930 und 1960, waren die Jahrzehnte des Malers.“ (MPW 41) Seine in dieser Zeit entstandene „Autobiographie in Bildern“77 zeigt vom Standpunkt des Ichs aus die „[i]nnere und äußere Not“, die „zumeist in allegorisierenden Darstellungen miteinander verwoben“ (AB 26) scheinen. In Werken wie ‚Die Maschinen greifen die Menschen an‘ (1935) demonstriert er zum einen sein Dasein als Außenseiter, das sich auch in späteren Phasen wiederfindet. Zum anderen stellt er sich selbst dar und thematisiert seine grundlegenden Erfahrungen, die sich in seinen Werken zeigen: „Ich stehe im zerstörten Dachstuhl einer Ruine an der Staffelei und male den Mond. Ich stehe in der ruinierten Stadt, zwischen den fliehenden Menschen: schon die Vision des Untergangs, ganz unbewußt, überhaupt nicht konstruiert oder bewußt etwas formuliert. Das waren einfach Visionen, das waren Grunderlebnisse: die Erlebnisse des Todes der Schwester und die Erlebnisse des Zusammenbruchs der alten Welt.“ (MPW 21)78

Der Aufenthalt in der Schweiz bei Hesse 1937 führt zu einem kurzfristigen Motivwandel. Weissʼ helle und farbenfrohe Werke haben eine fröhlich gesellige Wirkung, sie sind „mit einem lockeren Strich gemalt, viel luftiger […] und weit entfernt von [einer] düsteren Schwere.“ (AB 34). Das künstlerische und private Glück von Peter Weiss spiegelt sich in der ungezwungenen, heiteren Darstellung seines Ichs: „Das war eine sehr fruchtbare Zeit, in der ich zum ersten Mal ohne Angst gearbeitet habe, ohne diese beständige Beklemmung durch die Exilsituation. Das hing natürlich mit dieser wunderbaren Landschaft zusammen. […] die ganze Atmosphäre war von einer ungeheuren Frische der Natur. Das entsprach genau unserer Lebenssituation. Alles war offen, war schön, man fühlte sich frei, man hatte noch keinerlei Beängstigung. Auch die Zeichnungen, die ich damals machte, waren sehr locker, gelöst, hatten nichts mehr von diesen schweren düsteren Beängstigungen der ersten Jahre der Emigration, die so dominierend waren.“ (MPW 30)

Nach der Übersiedlung 1939 ins schwedische Exil charakterisiert Weissʼ Malerei eine erneute dunkle Motivik, bedingt durch den abermals aufkommenden Kon-

77 Kurt Böttcher/Johannes Mittenzwei: Dichter als Maler. Deutschsprachige Schriftsteller als Maler und Zeichner. Leipzig 1980, S. 331(zitiert nach AB 26). 78 Vgl. dazu auch Kapitel ‚‚Collage III‘: Schiffbruch im Dachboden‘, S. 242ff.

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flikt mit den Eltern über die berufliche Zukunft des Sohnes und durch das starke Gefühl der Isoliertheit, „weil ich nicht die Sprache beherrschte“ (MPW 35): „[E]in fürchterlicher Sturz zurück ins Alte! […] Das erste Bild, das ich 1939/40 gemalt hatte, war ‚Der Hausierer‘, mit Reminiszenzen aus Prag […]. Diese ganze folgende Bilderserie wurde der neu-alten Probleme wegen gleich wieder dunkler […]. Ich malte ununterbrochen […].“ (MPW 33)

In Schweden erfährt Weiss das „Emigrationserlebnis am stärksten“ (MPW 34). Ab dem Frühjahr 1940 bleibt Weiss in Stockholm; er will sich dort als Maler etablieren. Er schließt sich der künstlerischen Moderne in Schweden an, findet jedoch keine Aufnahme in die schwedische Gesellschaft: „Die Malerei, die in Schweden Anfang der 40er Jahre gültig war, war eine etwas expressionistisch-naturalistische Landschaftsmalerei mit hellen Farben, und die Bilder, die Endre [Nemes; H. K.] und ich malten, paßten überhaupt nicht in diesen Rahmen hinein, fanden da auch überhaupt kein Verständnis […]. [D]ie Kunstkritik [war] immer abweisend oder verständnislos akzeptierend à la: Menschen von ganz anderer Art […].“ (MPW 35-36)

Seine Ausstellungen haben wenig Erfolg. Aus der Not heraus arbeitet Weiss als Zeichner für Textilmuster, was ihm aber völlig widerstrebt: „Laufend mußte ich mich mit etwas beschäftigen, was meinem Geschmack völlig widersprach […]. Ich versuchte immer wieder, so Paul-Klee-hafte Elemente hinzukriegen und einige Bauhaus-Elemente – es war ein schrecklicher Kampf, um mich nicht völlig zu desavouieren vor mir selbst. […] Das war dieser Einbruch der Malerei […], eine Periode, 1943-44-45, in der ich mich mit Farben, Formen und Stimmungen beschäftigte, die mir im Grunde genommen nicht richtig entsprachen.“79

79 Ebd., S. 37. Gemeint sind hier mit den „Paul-Klee-hafte[n] Elemente[n]“ sehr wahrscheinlich Elemente, die einen perspektivisch dekorativen, ornamentalen, flächig schematischen Charakter aufweisen und die sich dementsprechend gut für die künstlerische Gestaltung eines Stoffmotivs eignen, wie zum Beispiel ‚Einst dem Grau der Nacht enttaucht‘ (1918), ‚Ab ovo‘ (1917) oder ‚Architektur‘ (1923), um nur einige wenige zu nennen. Im ‚Kopenhagener Journal‘ notiert Weiss am 20. September 1960, er habe zum einen das „große Kleebuch von Grohmann gekauft. Und die zwei Bände China-Bilder aus dem Folkwang-Verlag […], die früher schon einmal Vorlagen für Bilder von mir waren.“ (KJ 45) Gemeint sind offensichtlich die Monographie Will Grohmanns aus dem Jahr 1954 (Will Grohmann: Paul Klee. Stuttgart 1954) sowie die

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Den Grund für die Ablehnung durch die schwedischen Kultur- und Kunstszene sieht Weiss darin, dass sein künstlerischer Ausdruck nicht genügend verstanden wird: „Ich versuchte krampfhaft, mich zu behaupten, mich künstlerisch am Leben zu erhalten. Maler-Kollegen sagten mir dann noch in dieser Situation, die Malerei, die ich mache, passe hier nicht rein und rieten mir, ich müsse versuchen, etwas anderes zu malen. […] Das waren Versuche, in der schwedischen Malerei irgendwo anzukommen. Ich glaubte, wenn ich die kleinen Figuren, die ich malte, aufblasen würde zu größeren Figuren, würden sie irgendwie monumentaler wirken und damit irgendwo Anklang finden. […] Aber diese Bilder wurden genauso wenig akzeptiert wie die anderen.“ (MPW 37; Hervorhebung im 80

Original)

Letztlich war der Misserfolg vorhersehbar, denn die Aufnahme von Emigranten in die schwedische Gesellschaft gestaltete sich allgemein als nicht einfach81 – folglich „standen [wir] völlig allein mit unseren künstlerischen Arbeiten, wir hatten keine Beziehungen zu Kreisen, Gruppen, zu einer Außenwelt“ (MPW 36). „[I]n den 50er Jahren“ (MPW 41) kamen Weiss „Zweifel, ob Malen das richtige „Ausdrucksmittel“ (MPW 40) sei:82 „In den 50er Jahren war ich nicht mehr der reine Maler. […] es waren prinzipielle Zweifel da […]. Das war alles sehr kompliziert und schwierig. Ich konnte es selbst überhaupt nicht richtig fassen. Wahrscheinlich änderte ich deswegen auch die Formen so oft und suchte

Bände ‚China. Erster Teil: Das Land der Mitte. Ein Umriss von E. Fuhrmann‘, Band 1. Hagen i. W. 1921 (= Schriften-Reihe Geist, Kunst und Leben Asiens. Hg. von Karl With, Bde. IV und V China) sowie ‚China. Zweiter Teil: Der Tempelbau. Die Lochan von Ling-yän-sï. Ein Hauptwerk buddhistischer Plastik.‘ Von Dr. B. Melchers, Band 2. Hagen i. W. 1921 (= Schriften-Reihe Geist, Kunst und Leben Asiens. Hg. von Karl With, Bde. IV und V China). Interessanterweise entstanden Klees Schriftbilder „aus dem Erleben chinesischer Gedichte“ (Grohmann, Paul Klee, S. 144). Vgl. auch die ausführliche Untersuchung in Kapitel 4.1 ‚Einführende Text- und Bildbeschreibungen‘, S. 155ff. Zur Orientierung von Weiss an Klee vgl. insbesondere Kapitel ‚‚Collage VIII‘ und ‚Collage II‘: Die Eltern‘, S. 178ff., sowie die Anm. 51 (S. 185) und 185 (S. 72) dieser Studie. 80 Es entstehen u. a. die Werke ‚Harlekin-Figuren‘, ‚Jahrmarktsgruppe‘, ‚Musikanten‘ (1944) und ‚Obduktion‘ (1944). 81 Vgl. MPW 36. 82 Vgl. Kapitel 2.2.1 ‚Das bildkünstlerische Werk‘, S. 52ff.

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immer wieder nach neuen Möglichkeiten, es visuell auszudrücken […], zum Schluß in der Collage, mit der man die zersplitterte Welt sehr eindringlich darstellen kann.“ (MPW 41)

Mit „Umschlag“ meint Weiss, dass „ab 1959“ (MPW 41) die „Literatur [hinzukommt], das Schreiben als neues inneres Instrument, wobei es nicht ganz neu war, als Ausdrucksform immer schon dagewesen, aber nicht dominant. […] Durch einen sehr schwierigen Umbruchprozess schob sich das alt-neue Ausdrucksmittel in den Vordergrund, das Schreiben.“ (MPW 41)

Tatsächlich gibt es letztlich einen ganz handfesten Grund, denn: „Plötzlich bestand eine Publikationsmöglichkeit.“ (MPW 41) Bevor Weiss aber 1960 an das Ende der „drei Jahrzehnte […] des Malers“ (MPW 41) gelangt, setzt 1947 die vierte Phase ein. Eine neue Form suchend, entstanden in dieser letzten Phase des Malers seine Collagen, die er als Ausdruck des „prinzipielle[n] Zweifel[s]“ gegenüber der „Malerei als Medium“ und des „Zweifel[s] am Dasein überhaupt“ (MPW 41) versteht. Das steht der früheren ‚Autobiographie in Bildern‘ klar entgegen: „Ich mußte nach anderen Mitteln des Ausdrucks suchen.“ (A 88) „Schon aufgrund ihrer Materialität und Struktur eignet sich die Form der Collage, ein zusammengestelltes Bild aus Splittern und Bruchstücken, besonders gut zur Darstellung des Bruchs und Aufbruchs […].“83 Hier liegt also der persönliche Aufbruch, der eine, möglicherweise: die bedeutende Zensur der künstlerischen Entwicklung markiert: „Ich war immer noch der Einzelgänger, der Maler, der jedoch nicht mehr richtig zu Rande kam mit seinen Ausdrucksmitteln. Das glitt dann ins Schreiben über – die Malerei als ein statisches Medium entsprach mir nicht mehr, das Bild ist eine geschlossene Einheit, und ich selbst war so zerfetzt von dieser ganzen Situation, daß ein einziges geschlossenes Bild mir nicht mehr genügte.“ (MPW 39)

Weiss hat bereits vor den Collagen zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ illustriert und collagiert. Das Collage- und Illustrationswerk von Weiss umfasst neben den elf Collagen zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ sowie den 13 Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ sieben Illustrationen zum Typoskript

83 Ursula Bessen: Eine „destruktive Gewaltfigur“ oder Abschied von Mutter und Medusa. In: PWJ 8 89-96, hier 91. Bessen zeigt in diesem Beitrag, wie Weiss seine Mutter durch die bildliche Fixierung und die Verwandlung in eine „mythologische Topographie […] entmachtet“ (ebd., 94).

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‚Günther an Beatrice‘ (1934), sechs Illustrationen zum Typoskript ‚Die kleine Geschichte von fünf Seeräubern und einem Mädchen‘ (1934), die Illustrationen zu ‚Traum, Dämmerung und Nacht. Eine Liebesgeschichte in Gedichten, Fragmenten und Tagebuchblättern von Peter U. Fehér‘ (damit ist Weiss selbst gemeint; 1934; Abbildungen siehe MPW 126), 17 Illustrationen zum Manuskript ‚Skruwe‘ (1936/37; Abbildungen siehe MPW 125), acht Illustrationen zum Manuskript ‚Die Insel‘ (1937; Abbildungen siehe MPW 126-127), 13 Illustrationen zum Typoskript ‚Die Gezeiten‘ (1938; Abbildungen siehe MPW 163), 14 Illustrationen zum Typoskript ‚Die Landschaft in den Träumen‘ (1939), vier Illustrationen zu ‚Von Insel zu Insel‘ (1947) sowie zehn Federzeichnungen zu ‚Das Duell‘ (1951). Zu fremder Literatur fertigte Weiss eine Vielzahl von Illustrationen und Collagen an, darunter eine Collage als Einbandgestaltung für ‚Söllskap för natten‘ von Arthur Lundquist (1965), verschiedene Illustrationen für Werke von Hermann Hesse (Bilder zu ‚Anton Schievelbeyn’s ohnfreywillige Reise nacher Ost-Indien‘ [1910] und Zeichnungen zum Märchen ‚Kindheit des Zauberers‘ [1937] sowie 26 Zeichnungen zum ‚Tessiner Sommerabend‘ [1921]), eine Collage zu dem Gedicht ‚Samothrake‘ von Gunnar Ekelöf (1945),84 16 Collagen zum ersten Band von ‚Tausend und eine Nacht‘ von Nils Holmberg (1958) und zwölf Collagen zum zweiten Band (1958). Weiss studiert wegen seines „prinzipiellen Zweifel[s]“ ab etwa 1947 in immer größerem Maß die Möglichkeiten und Grenzen des Bildes und der Sprache. Dabei orientiert er sich besonders stark an den Werken von Max Ernst, was bei der Betrachtung der Collagen auf den ersten Blick deutlich wird.85 Weiss spricht von seiner Anlehnung an den Surrealismus: „Gleich nach Kriegsende [Der Zweite Weltkrieg; H. K.] erlebte ich zum ersten Mal den Surrealismus, und zwar sehr stark. Es war eine wirklich ernsthafte Beschäftigung. […] Vermittelt wurde mir der Surrealismus sowohl literarisch als auch bildkünstlerisch.“ 86

(MPW 38)

84 Vgl. dazu Sepp Hiekisch-Picard: Weiss und Ekelöf. Anmerkungen zur Rezeption der poetischen Theorien Gunnar Ekelöfs im bildkünstlerischen, literarischen und filmischen Werk von Peter Weiss. In: WW 43-59. 85 Die Ähnlichkeiten zu Ernsts ‚La Femme 100 Têtes‘ (1929) und zu ‚Une Semaine de Bonté‘ (1933) sind unverkennbar. 86 Peter und Gunilla Palmstierna-Weiss unternahmen viele Reisen nach Paris. Der französische philosophische und politische Einfluss, aber auch italienische und westeuropäische Tendenzen allgemein, haben beide geprägt. Sicher ist, dass es zu einem kurzen und wahrscheinlich eher unbedeutenden Treffen mit Max Ernst kam. Peter Weiss

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Weiss’ Arbeiten sind jedoch nicht epigonal. Erklärtes Vorbild ist zwar eine dem Surrealismus entlehnte Ästhetik der Kombinatorik, die darauf zielt, Bekanntes zu entfremden und eine neue Wirklichkeit zu erschaffen. Doch Weiss’ Collagen sind nicht eine ‚imitatio‘, sondern vielmehr ein Ausdruck des reflektierten Selbstbewusstseins eines Künstlers, der lebenslang auf der Suche nach der passenden Form des Ausdrucks und dem dafür geeigneten Medium ist. 87 Weiss stellt seine Collagen nachträglich auf Grundlage der Texte her, während Ernst für seine Bildernovellen zuerst die Collagen herstellt und daraufhin den Text schreibt. Auch die jeweilige Art der Collagen ist nach Werner Spies verschieden: „Synthetisch wären die zu nennen, bei denen Max Ernst aus einzelnen Bildfragmenten ein Bild zusammenstellt. Ausschlaggebend dabei ist, daß hier alle Elemente aus getrenntem Kontext herangeholt werden. Die analytische Collage dagegen geht von einem übergeordneten rahmenbildenden Kontext aus.“88

Während Ernst durch „synthetische“ Collagen eine ambigue und dadurch eine „irritierende Gleichzeitigkeit mehrerer Bedeutungen in jedem einzelnen Zeichensystem“89 erzeugt, sucht Weiss nach Fremdmaterialien, um „einen übergeordneten rahmenbildenden Kontext“ zu gestalten. Auch Arnd Beise stellt fest: „Wie Ernst kaschierte auch Weiss die Schnittstellen, doch wirken seine [Weiss; H. K.] Collagen noch radikaler, weil er die Elemente atomistischer auffasste und weniger als Ernst auf ein wie auch immer verschnittenes Grundbild vertraute. Kann man schon bei den Collagen Ernsts meist relativ wenig die genauen Ursprungsillustrationen für ein neues Bild ausmachen, so dürfte dies bei Weiss weitaus schwerer fallen: zu mannigfach sind seine Quellen, und insofern sind seine Collagen auch keine epigonalen Produkte, sondern

berichtet auch von einem kurzen Besuch bei „Breton, […] um ihm zu sagen, wie wichtig seine Arbeit für mich war. Es war keine tiefgreifende Begegnung.“ (MPW 38) 87 Dies führt auch an dieser Stelle wieder zu einem modifizierten Zitatbegriff. Das Material, aus dem die Collagen geklebt wurden – Holzstiche und Reproduktionsgraphiken des 19. Jahrhunderts, medizinische Handbücher, Möbel- und Interieurkataloge –, zitieren u. a. in einem breiten Rückgriff die Kunstgeschichte. Vgl. dazu Anm. 95 auf S. 62 dieser Arbeit. 88 Werner Spies: Max Ernst – Collagen. Inventar und Widerspruch. Köln 1974, S. 105; zitiert nach Hanno Möbius, Montage und Collage, S. 143. 89 Ebd., S. 187.

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Weiterentwicklungen der Gattung für ein von Film- und sonstigen Bildern übersättigtes Zeitalter, das neue und eigene Bilder nurmehr als Zitatcollage möglich macht.“ (AB 42)

Weiss sucht nach Ausgangsmaterial, mit dem er die Textstellen, die er zitieren möchte, bildlich gestalten kann. Peter Weiss ‚formuliert‘ vorab eine bestimmte Aussage, die diese intentionale Auswahl des Fremdmaterials erfordert. Weiss’ Collagen sind in dieser Hinsicht also auf andere Weise verrätselt als die Collagen Ernsts, die eher einer ästhetischen Logik folgen. Die Collagen von Weiss sind durch eine eher semantische Logik verschlüsselt: Eine fundierte Deutung der Collagen kann nicht ohne die Zitate gelingen, die durch ‚close reading‘ auffindbar sind. Die Collagen zu den beiden Werken sind stilistisch völlig neu. Weiss beschreibt eine sehr schwierige Phase in seiner künstlerischen Entwicklung. Die Wahrnehmung der Welt als eine „zersplitterte“ kann er in den Collagen „sehr eindringlich darstellen.“ (MPW 41) Im Eintrag vom 30. Oktober 1960 im ‚Kopenhagener Journal‘ führt Weiss diesen Aspekt genauer aus: „In der völligen Entwertung aller Worte in unserem superlativistischen Zeitalter ist es notwendig, nach den einfachsten, nüchternsten Ausdrücken zu suchen. Die Poesie ist von der Reklame verbraucht. Auch das Bilddenken ist völlig in die Breite verschwommen, es scheint da nur noch die Grösse, das sensationell Einzigartige zu gelten. Klee, mit seinen kleinen, unendlich konzentrierten Ausdrücken, ist mir immer noch vorbildlich im Vergleich mit den gewaltigen, verklecksten Schinken, die jetzt die Galerien füllen. […] Deshalb sind auch die Bilder, die mir vorschweben, ganz klare, genaue Wiedergaben von Visionen, Traumgeschehnissen, nach innen vertieft, nicht hinaus ins Format. Hierbei will ich nur der eigenen Stimme gehorchen, auch wenn sie völlig unzeitgemäss erscheint. Dass ich nach so vielen verschiedenen Richtungen hin experimentiere, vor allem im Malen, hängt mit meinem zersplitterten, desorganisierten Wesen zusammen.“ (KJ 105-106)

Weiss unterstreicht gemeinsame und unterschiedliche Aspekte von Literatur und Malerei und möchte durch eine neue Form eine Möglichkeit finden, sich adäquat ausdrücken zu können: „Das war eine ganz lange Zwischenzeit ständigen Schwankens: Was für eine Form kann ich wählen, wie kann ich mich bildhaft überhaupt noch ausdrücken, welche künstlerischen Mittel gibt es noch für mich, wo liegen meine Begrenzungen, was kann ich, was kann ich nicht mehr, was habe ich inzwischen erfahren und wo gibt es noch irgendwelche Möglichkeiten, diese Erfahrungen beispielsweise im Bild auszudrücken. Diese Spannungen zeichnen sich in den Bildern ab, die ich damals malte – sie sind oft zersplittert, verscho-

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ben. [D]enn während der 50er Jahre wußte ich überhaupt nicht, wo ich hingehöre. Ich wußte nicht, soll ich schwedisch schreiben, soll ich deutsch schreiben. Es gibt alte Manuskripte von mir, die sind gemischt geschrieben; deutsch-schwedisch ineinander, manchmal englisch; es war ein einziges Chaos. Dieses Chaos drückt sich ja in den graphischen Arbeiten dieser Zeit exakt aus. Es waren aber auch wieder Versuche, zurückzukommen zu dem Elementaren, Traumhaften in mir.“ (MPW 40)

An diesem Punkt der starken inneren „Spannungen“ beginnt also die Arbeit mit einer für Weiss ganz neuen Form: Es entsteht mit den Collagen ein bildkünstlerischer Höhepunkt. 2.2.2 Collagen und Illustrationen im Werkkontext Peter Weiss thematisiert also sowohl in seinen theoretischen Abhandlungen als auch in den literarischen, bildkünstlerischen und filmischen Werken die Möglichkeiten der verschiedenen Medien. Auch die Bildcollagen müssen im Kontext der Suche nach dem richtigen Ausdruck und dem richtigen Medium verstanden werden. Um 1957 fertigte Weiss 32 Collagen für die ersten beiden von insgesamt sechs Bänden zu der Erzählung ‚Tausend und eine Nacht‘ an. 90 Weiss collagiert hier „noch relativ wenig verfremdete“ (AB 40) Bilder auf einen schwarzen Hintergrund. Die subjektiven Bilder zu ‚Abschied von den Eltern‘ stehen in Kontrast zu Weissʼ Selbstportraits aus früheren Phasen. Der späte Bildkünstler Weiss thematisiert nun vorrangig seine eigene Biographie, weniger eine Gesamtansicht der Welt als ‚Welttheater‘, die sich zum Beispiel noch im Werk ‚Die Maschinen greifen die Menschen an‘ zeigt. Weiss beschreibt in seiner vierten Phase als Maler, in der die Collagen entstehen, eine Konzeption von Wahrnehmung und Wirklichkeit, die offensichtlich auf der Freud’schen Psychoanalyse, dessen ‚Traumdeutung‘91 sowie den eigenen Erfahrungen mit der Psychoanalyse fußt. 92 In Weiss’ Werken spiegeln sich seine eigenen psychoanalytischen Erfahrun-

90 Nils Holmberg: Tusen och en natt. Första delen/Andra samlingen. Stockholm 1958. Zweibändige schwedische Ausgabe von Tausend und eine Nacht mit 16 + 12 Collagen. 91 Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Frankfurt a. M 2009. 92 Peter Weiss sagte in einem Interview: „[D]ie Erfahrungen mit der Psychoanalyse haben da natürlich stark mit hineingespielt […]. Das Schreiben dieser selbstbiographischen Bücher, wie der ‚Abschied‘, wie der ‚Fluchtpunkt‘, hängt untrennbar mit der Psychoanalyse zusammen.“ (MPW 41)

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gen.93 Die intensive Beschäftigung mit dem Surrealismus, Weiss’ „Leseerfahrungen mit Rimbaud, mit Jarry, mit den französischen Surrealisten und Symbolisten […]. [D]ie starken Erlebnisse durch die surrealistischen Filme, Buῆuels’ ‚L’âge d’or‘ zum Beispiel“ (MPW 39), das Traumparadigma, die Kunst- und die Traumtheoreme der Surrealisten prägen unverkennbar Weiss’ künstlerischen Ausdruck und seinen Stil – und sein Verständnis von Wirklichkeit und deren Strukturierungen.94 Diesen Aspekt bei der Untersuchung des Text-CollageVerhältnisses mitgedacht, zeigt sich, dass Weiss durch das Zusammenfügen heterogener Bildfragmente einen neuen, fiktiven Zusammenhang schafft, indem die einzelnen Elemente in eine neue Struktur und einen neuen Kontext eingebunden und gewissermaßen homogenisiert werden. Die ursprünglichen Werke,95

93 Peter Weiss: „Mein eigenes Interesse wurde vor allem durch meine Freundschaft mit dem Arzt Max Hodann verstärkt. […] er hat mein Interesse für die Psychoanalyse geweckt. […] er gab viele Anstöße, daß ich damals Freud, Jung und andere Psychologen gelesen habe.“ (MPW 39) Weiss unterzieht sich 1941 in Alingsås der ersten Psychoanalyse bei Ivan Bratt und ab 1950 einer zweiten bei Lajos Szekely, den er mit Bildern bezahlte. (Vgl. MPW 40) 94 Vgl. dazu Bommert, Peter Weiss und der Surrealismus. Bommert untersucht detailliert die Bezüge, die Weiss zum Surrealismus herstellt, und erweitert seine Ergebnisse um aufschlussreiche Aspekte bezüglich des Verhältnisses von Weiss zu Freuds ‚Traumdeutung‘. 95 Weiss verwendet, wie oben bereits beschrieben (vgl. Anm. 42, S. 21 und auch Anm. 87, S. 59), ausschließlich kategorial homogenes Material, nämlich Xylographien beziehungsweise Reproduktionen von Holzstichen aus dem 18. und 19. Jahrhundert als Ausgangsmaterial für diese Collagereihe. Weiss’ Collagen stehen also weniger in der Tradition der Materialcollage, sondern sind vielmehr „materiell homogen“ (Lund, Angriff auf die erzählerische Ordnung, S. 223) und erscheinen dadurch fokussierter auf die Darstellung semantischer Aspekte denn auf die Darstellung formaler (vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 4.1 ‚Einführende Text- und Bildbeschreibungen‘, S. 155ff.). Die Materialien findet Weiss, wie Gunilla Palmstierna-Weiss berichtet, während seiner vielen Reisen, die er meist gemeinsam mit ihr u. a. in kleine französische Orte und nach Amsterdam unternimmt, auf Flohmärkten, auf denen er ganz gezielt nach Magazinen, Zeitschriften, illustrierten Büchern und anderen möglichen Fremdmaterialien sucht. In Katalogen, Buchillustrationen, Kinderbüchern, Lexika, wissenschaftlichen beziehungsweise medizinischen Handbüchern und Nachschlagewerken, Lehrbüchern, antiquarischen Prospekten, illustrierten Gebrauchsanweisungen, bebilderten Dokumenten und in Karten beziehungsweise Kartographien aus Atlanten und

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also die verschiedenen Fremdmaterialien, die Weiss als Inspiration und als Herstellungsmaterial dienen, werden aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgetrennt und zu neuen Wirklichkeiten, nämlich zu subjektiven inneren Bildern, arrangiert. Dabei orientiert sich Weiss, wie bereits dargelegt, an Künstlern des Surrealismus und an der Psychoanalyse (Freuds). Durch die Zergliederung und Zerstückelung des originären Bildmotivs und auf diese Weise auch des ursprünglichen Kontextes der Fremdmaterialien sind nur noch einzelne Elemente und nicht mehr das ursprüngliche Ganze erkennbar. Diese Herausnahme, diese Entkontextualisierung und die damit einhergehende Um- und Neudeutung, bewirkt eine Rätselhaftigkeit der Collagen; die Bilder wirken, ähnlich wie auch seine Filme, surreal, traumhaft und unwirklich fantastisch.96 Jedes Element für sich ist erkennbar, doch die fertige Collage Weissʼ benötigt die Sprache, also die Beifügung des entsprechenden literarischen Textes und der entsprechenden Textstellen, zu einer substantiellen Entschlüsselung,97 die Weissʼ Intention nahe kommt.98 Die (Neu-)Anordnung der Fragmente wird, neben der Einbindung des Schreibprozesses und der formalen Eigenschaften, durch die sprachlichen, narrativen und semantischen Strukturen und Charakteristika der jeweiligen textuellen Vorlage vorgegeben. Durch die Sprache werden Bildsegmente ausgewählt, Motive angeordnet und zu sinnstiftenden Einheiten zusammengesetzt. Dieser Vorgang verweist auf die surrealistische Ästhetik der Kombinatorik, um die Wirklichkeit zu entfremden und eine neue Realität zu erschaffen. Die „Collagen verharren […] nicht mehr in der Statik des Bildes, sondern drängen bereits zum Er-

Geographiebüchern wird Weiss offenbar fündig (vgl. Westphal, Das NautischMaritime in Peter Weiss’ Prosa, S. 113). An dieser Stelle gilt Prof. Dr. Gerhard Lauer, Göttingen, mein großer Dank, der mir viele nützliche Hinweise gegeben hat, auf welche Weise und an welchen Stellen ich digital die Herkunft der Fragmente recherchieren könnte. Leider steckt die maschinengestützte Erkennung von bildkünstlerischen Bildern zum Zeitpunkt der Bemühungen noch in den Anfängen, sodass die Herkunft der Bildsegmente bis zum Abschluss dieser Studie leider nicht geklärt werden konnte. 96 Vgl. Kapitel 2.1.2 ‚Exkurs: Peter Weiss als Filmemacher‘, S. 41ff. 97 Der Begriff Entschlüsselung suggeriert vielmals Eindeutigkeit. Ich verwende den Begriff in meiner Studie weniger stark und meine damit generell die Text-Bild-Bezüge beziehungsweise Deutungen, die ich plausibel mache. 98 Vgl. zur semantischen Logik beziehungsweise Verrätselung bei Weiss Kapitel 2.2.1 ‚Das bildkünstlerische Werk‘, S. 52ff.

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zählen, sie setzen es gleichsam frei. Insofern markieren sie Weiss’ definitiven Übergang zur literarischen Arbeit […].“99 2.2.3 Die Collagezyklen zu ‚Abschied von den Eltern‘ und zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ Weiss fertigte die Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ und zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ erst einige Zeit nach Abschluss der Texte an.100 Sieben der elf Collagen zu dem sieben Jahre zuvor verfassten ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ wurden in der Erstausgabe 101 reproduziert. Die Erstausgabe von ‚Abschied von den Eltern‘102 enthielt dagegen noch keine Collagen; erst für die schwedische Übersetzung fertigte Weiss eine Reihe von Collagen an, deren acht als Reproduktionen in Originalgröße dem Buch beigelegt waren. 103 Weitere drei Collagen aus dem Jahr 1982, bei denen sich eine Bindung an ‚Abschied von den Eltern‘ nachweisen lässt, wurden ohne Hinweis, worum es sich handelt, in einer späteren Ausgabe des Romans ‚Fluchtpunkt‘ reproduziert.104 Noch eine weitere fragmentarische Collage „aus dem Kreis der Illustrationen zu ‚Abschied von den Eltern‘“ wurde im ersten Band der ‚Notizbücher 1960-1971‘ abgebildet. Auch in den Ausstellungskatalogen105 zu den bereits erwähnten Ausstellungen wurden die beiden Collagezyklen zu ‚Abschied von den Eltern‘ und zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ nicht vollständig abgebildet. Es wurden noch nie alle Collagen mit dem jeweiligen Bezugstext publiziert.

99

Bessen, Eine ‚destruktive Gewaltfigur‘, PWJ 8 89.

100 Zum jeweiligen Entstehungszeitpunkt und -kontext vgl. Kapitel 3.1 ‚Einführende Text- und Bildbeschreibungen‘, S. 79ff., sowie Kapitel 4.1 ‚Einführende Text- und Bildbeschreibungen‘, S. 155ff. 101 Vgl. Anm. 9 auf S. 11 dieser Arbeit. 102 Peter Weiss: Abschied von den Eltern. Erzählung. Frankfurt a. M. 1961. 103 Vgl. Anm. 10, S. 13 dieser Studie: Peter Weiss: Diagnos. Översättning: Benkt-Erik Hedin. Staffanstorp 1963. Separat: portfölj med 8 collage av Peter Weiss. – Deutsche Ausgabe mit Reproduktionen in Originalgröße: Abschied von den Eltern. Mit 8 Collagen des Autors sowie einer separaten, vom Autor signierten Collage. Mit einem Nachwort von Christa Grimm. Leipzig 1980. 104 Peter Weiss: Fluchtpunkt. Roman. Mit vier Collagen des Autors. Frankfurt a. M. 1983, S. 54-55, 109-110 und 158-159. 105 Darunter ‚Peter Weiss. Malerei Collage Zeichnung 1933-1960‘ von Per Drougge (vgl. Anm. 47); MPW sowie LW.

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In beiden Zyklen wird – auf unterschiedliche Art und Weise – ein realer Raum durch den künstlich erzeugten, surrealistisch anmutenden Ort ersetzt. Weder die Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ noch zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ zeigen reale Räume oder Landschaften, sondern innere Orte und Landschaften, Träume und Fantasien, manchmal auch Halluzinationen.106 „Und tatsächlich sind Halluzinationen, Illusionen usw. keine geringzuachtende Quelle […].“107 In der ‚Erzählung‘ – so der Untertitel – von 1961 ist die Aufhebung der Zeit deutlicher ausgeprägt als im „Mikroroman“. Durch den assoziativen Schreibprozess und die häufigen Zeitsprünge verdichten sich in den Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ oft viele, zeitlich weiter auseinanderliegende Vorfälle. Weiss zitiert hier qualitativ mehr Textstellen und Aspekte in einer Collage als in den Collagen zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘, bei dem die zitierten Stellen enger zusammenliegen und oft auch in einem einzelnen Textabsatz zu finden sind, wie in den einzelnen Analysen zu zeigen ist. Peter Weiss nutzt für die Herstellung beider Collagezyklen die gleiche Technik der Bildfindung. Auch die Hauptmotive kehren immer wieder und überschneiden sich, und es gibt zahlreiche Analogien, sowohl auf formaler als auch auf inhaltlicher Ebene. Fast alle Collagen zeigen Motive des Schmerzes; es ist eins der transmedial zu findenden Hauptmotive bei Weiss. In der ‚Laokoon‘Rede heißt es passend: „Bilder begnügen sich mit Schmerz“ (L 182); und auch in den ‚Notizbüchern‘ hält Weiss fest: „[…] die intellektuelle Tätigkeit der Wortverarbeitung contra emotionelle Hingabe an Bildsprache.“ (NB 1 54) Die Gestik in den Collagen ist stark expressiv und Ausdruck von Schmerz, Angst, Ver-

106 Vgl. Kapitel 4.1 ‚Einführende Text- und Bildbeschreibungen‘, S. 155ff. Zur Unterscheidung von innerer und äußerer Welt vgl. Bruno Waldvogel: Innere Welt – äußere Welt. In: Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. Hg. von Wolfgang Mertens/Bruno Waldvogel. Stuttgart 32008, S. 352-358, insbesondere S. 352-353. Die Ausführungen hierzu basieren mit Waldvogel auf den Annahmen des „kritischen Realismus“ (vgl. ebd., S. 352), der „[anerkennt], daß uns die äußere Welt aufgrund der selektiven und konstruktiven Qualität unserer Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse prinzipiell nicht zugänglich ist, wir uns nur näherungsweise ein mehr oder weniger funktionelles Bild von dieser machen können.“ (Vgl. ebd., S. 352) Weiss’ Collagen zeigen innere Bilder, auch wenn sie – zunächst zumindest scheinbar – eine Außenwelt zeigen Doch auch dies sind Innenwelten, da sie aus „Vorstellungen, Empfindungen, Gefühlen, Gedanken, Erinnerungen und Träumen“ (Waldvogel, Innere Welt, äußere Welt, S. 353) basieren beziehungsweise bestehen. 107 Andre Breton: Erstes Manifest des Surrealismus 1924. Deutsch von Ruth Henry. Reinbek 1986, S. 12.

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zweiflung und Ohnmachtsgefühlen. Dies wird beispielsweise erkennbar an den starr ausgestreckten und erhobenen Armen der Ich-Figuren in den Collagen ‚I‘, ‚II‘, ‚IV‘ und ‚C‘ zu ‚Abschied von den Eltern‘, an der knienden Ich-Figur in der ‚Collage VII‘ sowie an der Ikonographie des Schreis in den Collagen ‚IV‘ und ‚VII‘ aus derselben Reihe. Auch die Collagen ‚III‘ und ‚VI‘ zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ sind darunter zu fassen.108 Die Darstellung des Schreis wiederum referiert auf den ‚Schrei des Laokoon‘ und verweist damit auf das Weiss’sche ‚Laokoon‘-Paradigma. Ebenso kann das Motiv des Schmerzes als Schnittpunkt verstanden werden, in dem sich der Aspekt von (bildender) Kunst als Dimension der Erinnerung mit der Kategorie der Mnemosyne eröffnet, durch den auf die Pathosformel nach Aby Warburg und Sergeij Eisenstein sowie Walter Benjamin verwiesen wird. Auch der Verweis auf die Funktion des Schreis bei Lessing ist offensichtlich.109 Es werden kaum positiv konnotierte Motive gezeigt, was auch dem Aspekt der Verarbeitung und Aufarbeitung geschuldet ist. Zentral für alle Collagen lässt sich zudem feststellen, dass „[sich] dergestalt […] allegorische Bildtopographien zu persönlichen Lebenslandschaften [wandeln], deren Struktur von Ich-Figurinen und biographischen Symbolen bestimmt wird.“ 110 Dieser ‚Subjektivismus‘ bei Weiss offenbart sich im Text und in den Collagen, indem Erinnerungen, Wahrnehmungen, Träume und Halluzinationen der IchErzähler gezeigt werden. In beiden Bilderserien werden Wirklichkeit und Traum mit einem Blick in das Innere des jeweiligen Erzählers visualisiert. In ‚Abschied von den Eltern‘ geht es um Weiss’ eigene Wirklichkeit, die eigene (Körper) Wahrnehmung. Weiss führt den Rezipienten auf einen Weg in sein Seelenleben. Auch in ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ richtet sich der Blick des Ich-Erzählers auf die innere Wirklichkeit, auf das Innere des Körpers, wobei die Außenwelt einen wesentlichen Störfaktor darstellt. Für die Deutung der Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ und die Erfassung des Kontex-

108 Vgl. allgemein zur Bedeutung der Körpersprache in der bildenden Kunst z.B. Barbara Pasquinelli: Körpersprache. Gestik, Mimik, Ausdruck. Hg. von Stefano Zuffi (= Bildlexikon der Kunst, Band 15). Berlin 2007. 109 Vgl. dazu Kapitel ‚‚Collage III‘: Schiffbruch im Dachboden‘, S. 242ff. Zum Aspekt der Nähe zum Mnemosyne-Atlas von Aby Warburg vgl. auch Kapitel 3.1 ‚Einführende Text- und Bildbeschreibungen‘, S. 79ff., und Kapitel 4.1 ‚Einführende Text- und Bildbeschreibungen‘, S. 155ff. Eine vollständige, kommentierte Übersicht des Mnemosyne Bilderatlasses bietet die Publikation: Aby Warburg. Mnemosyne Bilderatlas. Hg. von der Forschungsgruppe Mnemosyne und 8. Salon. Karlsruhe 2016. 110 Beat Mazenauer: Lebenslandschaften in den Bildern von Peter Weiss, S. 15.

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tes, in dem sie zu verstehen sind, führt Weiss den Rezipienten zu einer Assoziationskette, wie sie auch seinem assoziativen Schreiben zugrunde liegt. Der Rezipient sucht Verbindungen und findet sie sowohl sprachlich in Form eines einzigen „Textblock[es]“111 als auch bildlich vor. In den Collagen sind, wie auch im Text, keine Schnittstellen zu erkennen, alles scheint miteinander verwoben. Der Rezipient muss die einzelnen Bildelemente isolieren und die zitierten Textstellen identifizieren. Die Zitate, die sich auf eine Collage beziehen, können im Text durchaus weit auseinanderliegen. Die sprachlichen Beschreibungen in ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ führen, trotz eines sprachlich inszenierten Zoomens und fast schon mikroskopisch sezierenden und genauesten Formulierungen, zu wenig konkreten Darstellungen. Aus diesem Grund muss Weiss sich auch im Prozess der Transformation textueller Vorgaben in ein Bild mehrmals für ein Detail entscheiden, welches der Text offenlässt. Diese Diskrepanz aus unpräzisen textuellen Vorgaben und der für die Herstellung notwendigen Festlegung der bildlichen Entsprechung lässt die medialen Grenzen und Konsequenzen deutlich zutage treten.112 Die sprachliche Aneinanderreihung und Aufzählung sämtlicher Einzelheiten spiegelt sich in den Collagen zum ‚Schatten‘, anders als bei den miteinander verwobenen Bildelementen der Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘, durch das klare, gegliederte Nebeneinanderreihen vieler einzelner, meist viereckiger 113 Fragmente. Die Beschreibungen bleiben oberflächlich, flach und umständlich und wirken dadurch zweidimensional, was der Gestaltung der Collagen zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ entspricht. Bei dem direkten bildlichen Zitieren textueller Vorgaben können also einige Schwierigkeiten auftauchen. Wenn im Text beispielsweise keine eindeutige Aussage getroffen wird, muss sich Weiss für die bildliche Darstellung festlegen, also eine Interpretation der Worte vornehmen. Zudem können Intentionen und Schwerpunkte der Textvorlage ausschlaggebend dafür sein, welche Sätze oder Satzteile beim bildlichen Zitieren ausgelassen oder besonders hervorgehoben werden.114 Die Erzählung kennzeichnet sich durch ein Nacheinander, während die Collage alles gleichzeitig zeigt.

111 Axel Schmolke: Kommentar. In: Peter Weiss: Abschied von den Eltern. Erzählung. Frankfurt a. M. 2001 [= Suhrkamp BasisBibliothek 77], S. 125-155, hier S. 134. 112 Vgl. Kapitel ‚‚Collage IV‘: Durch Salz gesehene Landschaften‘, S. 94ff. 113 Eine Ausnahme bildet hier die ‚Collage d‘ (siehe Abbildung und Analyse in Kapitel ‚Collage d‘: S. 150ff.). 114 Vgl. Kapitel ‚‚Collage II‘: Strahlen, Kreise, geometrische Figuren‘, S. 99ff. Die Analyse der ‚Collage II‘ zeigt beispielsweise besonders deutlich, dass Weiss es für

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Aber auch Einflüsse anderer Medien lassen sich in den beiden hier diskutierten finden. Weiss bezieht durch die ungewöhnlichen Perspektiven in den Texten und in den Collagen das Medium Film mit ein. Die Erzählperspektiven können als Kameraeinstellungen verstanden werden, die inhaltlich assoziative und formale Verbindung der semantisch autarken Absätze als Schnitt- und Montagetechnik. Der Text ändert sich durch die Collagen‚ besonders hinsichtlich der Rezeption. Die nachträglich hergestellten Collagen dienen in ihrer bildlichen Fixierung textueller Vorgaben der Erinnerung115 und Aufarbeitung. Weiss schafft durch die Collagen im Nachhinein eine Deutung seiner Erzählungen, indem er die Themen und Motive herausstellt, die ihm in seinem Prozess der Verarbeitung der Kindheit und im Kontext der ‚(Selbst-)Heilung‘ besonders wichtig erscheinen. Wenn Text und Collage nebeneinanderliegen, liest der Rezipient den Text mit einer gewollten Fokussierung auf bestimmte Motive; im Bild nicht Dargestelltes erscheint weniger relevant. So kann Weiss die Rezeption von Text und Bild unter einem bestimmten Blickwinkel sehr gezielt steuern. Eine weitere Intention für die Anfertigung der Collagen ist also die Konzentration auf bestimmte Textinhalte und Motive, eben auf die bereits erwähnten Hauptthemen. Zudem beabsichtigt Weiss, dass der Rezipient sprachliche und narrative Strukturen genau in den Blick nimmt, indem er sprachliche und syntaktische Besonderheiten in den Collagen zitiert. Die jeweiligen Collagezyklen weisen aber keine Abfolge auf, sind also keine Bildergeschichte für sich, sondern eine Herausstellung und Thematisierung einzelner Themenkomplexe und Inhalte des Textes. Zum Teil verweisen die ‚Collagen‘ untereinander auf sich. Das geschieht durch die Verwendung gleicher Motive sowohl im Text als auch im Bild. Auffällig ist beispielsweise in beiden Texten und beiden Collagezyklen, wie häufig Weiss das Motiv des Kutschers verwendet hat: „[Die] intensive Wiederkehr verweist […] auf die grundlegende strukturelle Bedeutung, die ‚der Kutscher‘ für Peter Weiss hat; es ist eine Vaterfigur im Spannungsgefüge von Sexualität und Macht, die offensichtliche Verdrängungsstrukturen aufweist.“116

weniger wichtig hält, ob der Ich-Erzähler ein „Gefühl des Fahrens“ hat oder ob Hirsche oder ein Schwein zu sehen sind. Wichtig allein sind hier die Konzentration auf die Verbildlichung des Prozesses des ‚Salzsehens‘ und die Wiedergabe der vom Erzähler gesehenen Formen und Strahlen sowie die bildliche Entsprechung der sprachlichen Detailgenauigkeit in den ‚Mikroskop-Fragmenten‘. 115 Vgl. dazu auch Lee Heewon: Kunst, Wissen und Befreiung: Zu Peter Weiss‘ Ästhetik des Widerstandes. Frankfurt a. M. 2001, S. 21ff. 116 Ivanović, Die Sprache der Bilder, PWJ 8 52.

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Weiss selbst zieht zudem die Verbindung zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ und zu den zugehörigen ‚Collagen‘: „Das bildliche Element hat bei allem, was ich tue, immer eine große Rolle gespielt, und vieles davon hat Eingang in den ‚Kutscher‘ gefunden und ist dort verarbeitet worden.“117 Neben dem Motiv des Kutschers sind weitere gemeinsame Motive offensichtlich: In beiden Texten und Collagezyklen sind psychoanalytisch konnotierte Symbole, Orte und Räume, Bilder der Gewalt und Zerstörung oder (innere) Landschaften Hauptthemen. Die entsprechenden Collagen118 sind Bilder des Schmerzes, sie zeigen Zerstörung und Flucht und stellen so die unbestreitbare Verbindung von Leben und Werk bei Weiss her. So hat Weiss in der ‚Collage III‘ zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ abgetrennte Hände auf ein Hintergrundbild geklebt. In der Collage ergeben sich zwei kontrastierende Ebenen: eine hintergründige, stark dynamisch geprägte und eine plakativ statische, die sich gegenseitig begrenzen und in ihrem Zusammenspiel entfremdet und verfremdet wirken. Auch diese Collage verweist auf die bereits angesprochenen starken Anlehnungen an den Surrealismus und lässt den dabei so wichtigen Aspekt der Verfremdung erkennen, denn die „Verfremdung […] ist die hauptfunktion aller surrealität. Man kann eine hand verfremden, indem man sie vom arm trennt. Sie gewinnt dabei als hand.“119 Das Ziel der Verfremdung, die Intensivierung der Wahrnehmung, ist in der sich anschließenden Untersuchung ebenso zu untersuchen wie der hier offensichtliche Verweis auf den Aspekt der Psychoanalyse: „[…] seine abgehackte Hand: Das Zeichen für seine Machtlosigkeit, für seine geistige und sexuelle Kastration.“ (AF 47) Auch „[a]uf den surrealistischen Collagen […] werden die einzelnen Glieder von dem Körper, zu dem sie gehören, abgetrennt.“120 Und „das Haus [ist] für die Gedanken und die Träume des Menschen eine der großen Integrationsmächte.“121 Über das Motiv des (Dach-) Zimmers in ‚Abschied von den Eltern‘ beispielsweise kann man eine weitere Verbindung zur Kategorie des (heimatlichen) Hauses sowie zur Thematisierung

117 Peter Weiss zitiert nach Ivanović, Die Sprache der Bilder, PWJ 8 36. Auch in ‚Avantgarde Film‘ beschäftigt sich Weiss mit der Szene eines Films von Feuillade unter den Aspekten einer Kutsche, die er an dieser Stelle zudem in Verbindung mit einem Zimmer und einer Frauenfigur bringt. 118 Die Collagen ‚III‘ und ‚V‘ zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ und die Collagen ‚III‘, ‚VI‘ und ‚VII‘ zu ‚Abschied von den Eltern‘. 119 André Breton, zitiert nach Möbius, Montage und Collage, S. 179. 120 Tabah, Modernität im ‚Kutscher‘, S. 41. 121 Ebd.

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der Elternschaft und -instanz in ‚Abschied von den Eltern‘122 ziehen. Weissʼ Vater kämpft um den Erhalt der Familie und des Heims, das die Kinder nach dem Tod des Vaters untereinander aufteilen.123 Die Auflösung der Familie geschieht letztlich durch die Auflösung der Räume, des gesamten Heims und damit der ganzen Familie. Die Entzweiung der Ordnung und Sicherheit verweist zudem auf die Flucht vor dem Nationalsozialismus. Die Flucht der Familie aus Deutschland heraus bedeutet die Fortsetzung des Exils im elterlichen Haus als eine Flucht vor dem Draußen in das elterliche Haus hinein, aber zugleich die Flucht vor den Eltern und dem von ihnen ausgeübten Druck im Innern des Hauses nach oben in das Dachzimmer. „Auch ihnen [den Eltern; H. K.] gilt die Flucht auf den Dachboden.“124 Die (Be-)Deutung von wiederkehrenden Orten – Dachböden und Dachzimmer, Wohnräume und Gärten – ist in den einzelnen Untersuchungen zu berücksichtigen.125 Zuvor müssen aber die theoretisch formalen sowie qualitativen Aspekte der Transformation formaler Strukturen und semantischer Übertragungen erarbeitet werden, um die Text-Bild-Analysen noch weiter theoretisch einzubetten.

2.3 ZUR QUANTITATIVEN MODIFIZIERUNG 2.3.1 Transformation: Nachahmung, Entstellung und Ableitung Dem komplexen Verhältnis von Text und Collage bei Peter Weiss kann man sich mit Begriffen aus der Intertextualitätsforschung geeignet nähern und es zunächst einmal grundlegend beschreiben. So können ‚Abschied von den Eltern‘ und ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ als Prätexte und die Collagen als Posttexte beschrieben werden. Die (Aus-)Gestaltung, die Motive und die Themen der Collagen rühren zum einen her von einer Transformation sprachlicher, syntaktischer

122 Vgl. dazu insbesondere die Collagen ‚VI‘ und ‚VIII‘. 123 Vgl. dazu die Collage ‚VI‘. 124 Karl Heinz Götze: Poetik des Abgrundes und Kunst des Widerstands. Grundmuster der Bildwelt von Peter Weiss. Opladen 1995, S. 43. Vgl. dazu auch Kapitel ‚‚‚Collage IV‘ und ‚Collage A‘: ‚Lebensgeschichtlicher Innenraum‘‘, S. 201ff. Damit zieht Weiss zudem eine weitere Verbindung zu einem seiner Werke, nämlich zu ‚Der Turm‘ (Peter Weiss: Der Turm. In: Stücke I. Suhrkamp 1976). 125 Vgl. auch Ulrike Weymann: Zur Semantik räumlicher Strukturen in Literatur und Film. Das surreale Prosastück ‚Der Fremde‘ und dessen filmische Adaption ‚Hä– gringen‘. In: PWG 51-68.

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und narrativer Strukturen, zum anderen von semantischen Übertragungen textueller Vorgaben in eine bildliche Entsprechung. An die Transformation formaler Strukturen bei Weiss kann man sich mit Gérard Genette nähern, indem man eine „rein quantitative und folglich rein formale“ Analyse betreibt, bei der zwischen „Reduktion“ und „Erweiterung“ unterschieden wird; beides wird bei Genette ‚Entstellung‘ genannt, was bei ihm nicht negativ gemeint ist, sondern wertfrei die durch den Medienwechsel bedingten Veränderungen bezeichnet:126 „Einen Text reduzieren oder ausweiten heißt […] einen anderen […] Text hervorbringen, aber nicht, ohne ihn auf verschiedene, jeweils spezifische Weisen zu entstellen […].“127 So ist „[…] es […] zweckmäßig, diejenige Grenze zu sehen, die überschritten werden muß, wenn es nicht beim bloßen, unvergleichbaren Nebeneinander bleiben soll.“ Untersucht man diese ‚Entstellungen‘ genauer, erhält man die Chance, das jeweils „Spezifische des Mediums, das die Dichtung zur Dichtung […] und die Malerei zur Malerei macht“,128 zu erfassen. Parallel müssen auch die Gemeinsamkeiten der Kunstformen vergleichend betrachtet werden, da „die eine Kunst in der Lage ist, die andere nicht nur abzubilden, sondern auch abbildlich zu interpretieren.“129 Damit stellt sich die „Frage nach den grundsätzlichen Möglichkeiten der […] Bezugnahme […] und damit nach den Formen und Funktionen intermedialer Verfahren der Bedeutungskonstitution“,130 so Irina O. Rajewsky; also die Frage nach den semantischen Übertragungen. In ihrer Terminologie wäre die Erzählung bei Peter Weiss als „kontaktgebendes System“131 das „Referenzmedium“,132 die Collage als „kontaktnehmendes System“133 das „Objektmedium“.134

126 Genette, Palimpseste, S. 15. 127 Ebd. 128 Peter V. Zima: Ästhetik: Wissenschaft und „wechselseitige Erhellung der Künste“. In: Literatur intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film. Hg. von dems. Darmstadt 1995, S. 1-28, hier S. 3. 129 Hans Holländer: Literatur, Malerei und Graphik. Wechselwirkungen, Funktionen und Konkurrenzen. In: Literatur intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film. Hg. von Peter V. Zima. Darmstadt 1995, S. 129-170, hier S. 131. 130 Rajewsky, Intermedialität, S. 3. 131 Ebd., S. 200. 132 Ebd. 133 Ebd. 134 Ebd.

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Die Transformation formaler Strukturen und die semantischen Übertragungen zwischen „zwei konventionell als distinkt wahrgenommene[n] Medien“135 lässt sich weiterhin nach dem Grad der ‚Entstellung‘ charakterisieren, insofern zum Beispiel eine möglichst enge Anlehnung an den Prätext oder das Referenzmedium gesucht wird – wie es bei den beiden Collagezyklen bei Weiss der Fall ist – oder aber eine freie „Ableitung“ vorliegt, bei der der Posttext oder das Objektmedium von etwas anderem spricht als der Bezugstext, ohne diesen aber „gar nicht existieren könnte“,136 sich also auf ihn „bezieht, ohne ihn unbedingt zu erwähnen oder zu zitieren“.137 Durch die „Mediengrenzen überschreitende[n] Phänomene, die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren“, 138 wird eine spezifische Analogie, Bindung und Wechselwirkung von Text und Bild erzeugt, indem formale Strukturen transformiert und textuelle Vorgaben in bildliche Entsprechungen semantisch übertragen werden. Die oben bereits beschriebene ‚Entstellung‘ und Genettes Begriff der „Ableitung“ können helfen, eine mögliche Beziehung und Bindung zwischen „Referenzmedium“ und „Objektmedium“, also zwischen dem Text als Prätext (A) und der Collage als Posttext (B), zu beschreiben: „Die Ableitung [eines Textes B aus einem früheren Text A; H. K.] kann aber auch ganz anders geartet sein, wenn B [d. h. der Posttext; H. K.] zwar nicht von A [d. h. dem Prätext; H. K.] spricht, aber in dieser Form ohne A gar nicht existieren könnte, aus dem er mit Hilfe einer Operation entstanden ist, die ich […] als Transformation bezeichnen möchte, und auf den er sich auf eine mehr oder weniger offensichtliche Weise bezieht, ohne ihn unbedingt zu erwähnen oder zu zitieren.“139

Dies ist bei den vorliegenden Collagen insofern der Fall, als dass die Bilder bis zu einem gewissen Grad autark ‚funktionieren‘: Die Collagen lassen sich auch ohne den jeweiligen Prätext beschreiben und sicherlich in Ansätzen deuten. Allerdings ist der Prätext letztlich doch vonnöten, um die semantische Verrätselung der Bilder aufzulösen.140

135 Ebd., S. 13 („Schema 1“); zur Definition des Medienbegriffs vgl. ebd., S. 9-10 („Texttafel 2“). 136 Genette, Palimpseste, S. 15. 137 Ebd. 138 Rajewsky, Intermedialität, S. 13. 139 Ebd. 140 Vgl. Kapitel 2.2.1 ‚Das bildkünstlerische Werk‘, S. 52ff.

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Es lassen sich darüber hinaus Merkmale einer „Nachahmung“ finden, die sich u. a. durch „so wenig wörtliche Übernahme wie möglich“ 141 kennzeichnet: „Für bloße Zitate […] ist […] kein Platz.“142 Diese ‚Nachahmung‘ findet sich in der Analogie der textuellen und bildlichen Charakteristika. Aber: „Einen Text reduzieren oder ausweiten heißt […] einen anderen […] Text hervorbringen, aber nicht, ohne ihn auf verschiedene, jeweils spezifische Weisen zu entstellen […].“143 2.3.2 Einzel- und Systemreferenz Das Text-Collage-Verhältnis stellt sich bei Peter Weiss aufgrund der Bindung an einen einzelnen „Bezugstext“ zunächst als „intermediale Einzelreferenz“ 144 dar. In den Einzelanalysen muss im ‚close reading‘-Verfahren eingangs die Bindung als Einzelreferenz an den jeweiligen Prätext nachgewiesen werden. Auf welche Art und Weise und wie ausgeprägt eine Einzelreferenz im Einzelfall vorliegt, muss für jede Collage gesondert geprüft werden. Möglicherweise liegen die Collagen oder gar die Collagezyklen auch als eine ‚intermediale Systemreferenz‘ vor, denn es gibt Hinweise auf weitere mögliche Prätexte von Weiss. So finden sich im ‚Kopenhagener Journal‘ und in ‚Fluchtpunkt‘ ebenfalls Textstellen, auf die Weiss mit seinen Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ Bezug genommen haben könnte. Ebenfalls als mögliche Prätexte kommen die beide Bände der ‚Notizbücher‘, der ‚Briefwechsel‘, der Text ‚Der große Traum des Briefträgers Cheval‘145 sowie die ‚Traumprotokolle und -analysen‘146 in Betracht. Eine Tendenz zeichnet sich bereits vor den Einzelanalysen ab: Eine Trennung zwischen Einzelreferenz als „Bezugnahme eines medialen Produkts auf ein einzelnes mediales Produkt, also zum Beispiel die Bezugnahme eines Textes auf einen bestimmten real oder fiktiv existierenden Einzeltext“, und einer Systemreferenz als „Bezugnahme eines Textes oder anderen medialen Produkts […] auf ein semiotisches System“147 ist in vielen Fällen kaum abschließend möglich.148

141 Genette, Palimpseste, S. 103. 142 Ebd. 143 Ebd., S. 315. 144 Rajewsky, Intermedialität, S. 196 und S. 205; vgl. auch ebd., S. 149-155. 145 Der große Traum des Briefträgers Cheval. In: Peter Weiss: Rapporte. Frankfurt a. M. 1968, S. 136-150. 146 Peter Weiss: Traumprotokolle und -analysen. In: Füreinander sind wir Chiffren. Das Pariser Manuskript. Hg. und übersetzt von Axel Schmolke. Berlin 2008, S. 79-100. 147 Rajewsky, Intermedialität, S. 196 und S. 205; vgl. auch ebd., S. 149-155.

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Allerdings scheinen die intermedialen Einzelreferenzen vorrangig zu sein, allein schon weil das Zitat als prägnante Form der Einzel(-text-)referenz eine wesentliche Rolle spielt. 2.3.3 Der Text als konstitutiver Bezug Der Prätext bietet einen „für die Gestalt des Textes als Ganzen konstitutiven Bezug“,149 während beispielsweise ein wörtliches Zitat in einem literarischen Text ein „punktueller Bezug“150 wäre. Das Besondere am „konstitutiven Bezug“ von Weiss’ Collagen auf die vorangegangenen Erzählungen ist, dass er sich aus einer Ansammlung vieler gleichsam „punktueller Bezüge“ ergibt, nämlich aller im Bild zitierten Textstellen. Um den konstitutiven Bezug der Collagen zum Prätext bestimmen zu können, müssten also auch alle „punktuellen Bezüge“, d. h. zitierten Textstellen, aufgefunden werden. Der verwendete Zitatbegriff ist stark modifiziert und erweitert.151 Es ist klar, dass der hier gebrauchte Begriff nicht mehr nur das literarisch wörtliche Zitat meint, sondern einen bildlichen Verweis auf die textuelle Vorlage, bei dem es durch den Medienwechsel zu spezifischen Transformationen, Entstellungen und Ableitungen kommt. 152 Eine Ausweitung des Zitatbegriffs ist sicherlich nicht unproblematisch, wie auch Rudolf Helmstetter herausstellt: „Da das Zitat Verknüpfungen zwischen Texten herstellt, hat der Zitatbegriff eine Schlüsselfunktion in der Intertextualitätstheorie; kontrovers ist weiterhin die extensionale Abgrenzung.“153 Allerdings wird der Begriff – besonders seit den 1960/70er-Jahren – kontinuierlich diskutiert und weitet sich stetig aus. Helmstetter stellt weiter fest, dass „der strengen Einschränkung auf wort-

148 Vgl. dazu auch Ulrich Broich: Zur Einzeltextreferenz. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hg. von dems./Manfred Pfister. Tübingen 1985, S. 48-52. 149 Auerochs, Prätext, S. 606. 150 Ebd. 151 Vgl. dazu auch: Andreas Böhn: Formzitate, Gattungsparodien, ironische Formverwendung. Hg. von dems. St. Ingbert 1999; Herman Meyer: Das Zitat in der Erzählkunst. Zur Geschichte und Poetik des europäischen Romans. Stuttgart 1967. Du– bravka Oraic Tolic: Das Zitat in Literatur und Kunst. Wien u. a. 1995. 152 Spezifische Probleme des Medienwechsels und der Intermedialität diskutiert auf der Basis einschlägiger Theorien (Julia Kristeva, Michail Bachtin, Gérard Genette, Roland Barthes, Jaques Derrida, Manfred Pfister, Renate Lachmann und anderer) Wirth in ‚Hypertextualität‘ (siehe Anm. 37). 153 Helmstetter, Zitat, S. 867.

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lautliche Einzeltext-Referenz […] begriffliche Tendenzen einer entdifferenzierenden Ausweitung auf jegliche Form von Bezugnahme gegenüber[stehen].“154 Das Verhältnis von Text und Collage bei Weiss von der Intertextualitätsbzw. Intermedialitätstheorie her zu denken, hilft dabei, die Gleichgewichtung beider Medien in diesem Prozess medialer „Umformungen“ oder intermedialer Überführungen deutlich werden zu lassen. Die Collagen haben keinen rein additiven Charakter und sind nicht nur als Kommentar zu den Texten zu verstehen, sondern sie sind in der Lage, ihn „nicht nur abzubilden, sondern auch abbildlich zu interpretieren“.155 Sie befinden sich in einer dynamischen Spannung zwischen einem durch ihre Komplexität und ihre Ästhetik bedingten Eigenleben und der gleichzeitigen Gebundenheit an den Prätext.

2.4 ZUR QUALITATIVEN MARKIERUNG Neben den quantitativen Kriterien der Intermedialität (Anzahl der Verweise auf den Prätext, Dichte und Häufigkeit der intermedialen Bezüge, Anzahl und Streubreite der Prätexte) sind die bildlichen Entsprechungen der textuellen Vorlage, also die im Bild zitierten Textstellen, durch die semantischen Übertragungen und die beschriebene Transformation auch qualitativ markiert und modifiziert. Manfred Pfister schlägt zur qualitativen Feststellung der Intensität von intertextuellen Bezügen die sechs Kriterien Referentialität, Kommunikativität, Autoreflexivität, Strukturalität, Selektivität und Dialogizität156 vor, deren Anwendung sich auf die Text-Collage-Bindung bei Weiss anbietet.157 Mitgedacht werden muss im Folgenden, dass die Begriffe der Intertextualitätsforschung auf die Intermedialitätsforschung angewendet werden; ein Text-Text-Bezug impliziert hier auch immer den erweiterten intermedialen Bezug von Text und Bildcollage. Die Referentialität ist nach Pfister „umso intensiver intertextuell […], je mehr der eine Text den anderen thematisiert, indem er seine Eigenart […] ‚bloßlegt‘.“158 Je stärker also der Posttext den Prätext thematisiert, desto intensiver in-

154 Ebd., S. 867 und S. 869. 155 Holländer, Literatur, Malerei und Graphik, S. 131. 156 Vgl. zur Dialogizität: Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hg. von Rainer Grübel. Frankfurt/Main 1979. 157 Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hg. von Ulrich Broich/Manfred Pfister. Tübingen 1985, S. 130, hier: Skalierung der Intertextualität, S. 25-30. 158 Pfister, Konzepte der Intertextualität, S. 26.

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tertextuell ist die Beziehung. Bei Weiss lässt sich feststellen, dass die Collage als Posttext den jeweiligen Prätext stark thematisiert und die stilistischen und semantischen Eigenarten des Prätextes deutlich hervorhebt. Diese „intensive intertextuelle“ Referentialität bei ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ und ‚Abschied von den Eltern‘ entsteht durch die starke (An-)Bindung der Collagen als Prätexte an den jeweiligen Posttext, da „der Zitatcharakter hervorgehoben und bloßgelegt und damit auf das Zitat und auf seinen ursprünglichen Kontext also sehr intensiv verwiesen wird.“159 Die Kommunikativität skaliert den „Grad der Bewusstheit des intertextuellen Bezugs beim Autor wie beim Rezipienten.“160 Die Kommunikativität ist sehr hoch, da Weiss als Autor die Bindung natürlich sehr bewusst ist und beabsichtigt hat; und auch durch die Art der Veröffentlichung der Texte mit den Collagen zusammen – zumindest teilweise – weiß der Rezipient um die Text-CollageBindung. Nicht erreicht wird der maximal mögliche Grad der Kommunikativität allerdings dadurch, dass die Collagen ihrerseits nur implizit durch die Analogie zur textuellen Vorlage, nicht aber explizit auf den verweisen. Die Autoreflexivität untersucht Thematisierung, Problematisierung oder Rechtfertigung161 der Intertextualität des Autors im Text. Weiss thematisiert die Bezüge auf diese Weise nicht, der Grad der Autoreflexivität ist also äußerst gering. Die Strukturalität als „syntagmatische Integration der Prätexte in den [Post-] Text“162 ist bei Weiss nahezu maximal intensiv, da der Prätext nicht nur zum punktuellen Bezugspunkt wird, sondern „zur strukturellen Folie [des] ganzen [Post-]Textes“. Auch der Grad der Selektivität, der „die unterschiedlichen Grade in der Prägnanz der intertextuellen Verweisung“163 erfasst, ist sehr hoch. Denn durch die Bindung an nur einen Text und durch das Zitieren vieler einzelner Textstellen sind die Bezüge bei Weiss sehr prägnant und gezielt. Die Dialogizität misst die Intensität der „Verweis[e] auf vorgegebene Texte oder Diskurssysteme“, die „umso höhe[r] ist, je stärker der ursprüngliche und der neue Zusammenhang in semantischer und ideologischer Spannung zueinander stehen.“164 Die Dialogizität ist bei Weiss von eher geringer Intensität, da es ihm

159 Ebd., S. 25. 160 Ebd., S. 27. 161 Vgl. ebd. 162 Ebd., S. 28. 163 Ebd. 164 Ebd., S. 29.

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trotz der Transformation um eine Analogie narrativer, syntaktischer und semantischer Strukturen geht. Die intermedialen Bezüge bei Weiss sind also (1) hoch referentiell und (2) aufgrund ihrer Markierung und Intention kommunikativ relevant, aber (3) nicht autoreferentiell. (4) Der Prätext bildet eine strukturelle Folie und (5) die Bezüge sind prägnant und pointiert, während (6) eine Dialogizität kaum auszumachen ist.

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Text und Collage bei ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘

3.1 EINFÜHRENDE TEXT- UND BILDBESCHREIBUNGEN Der „Mikroroman“ ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ war einer der ersten Texte, den Weiss wieder auf Deutsch schrieb.1 Während des Zweiten Weltkrieges und in den Jahren danach hatte Weiss sich als schwedischer Autor versucht, denn er „hatte kaum Deutsch gesprochen, hatte mich von der deutschen Sprache und allem, was mit Deutschland zusammenhing, völlig abgewandt, sah nach ganz kurzer Zeit jedoch ein, daß die Versuche, als schwedischer Schriftsteller zu arbeiten, völlig verfehlt waren. Obgleich sie von der Kritik teilweise positiv beurteilt wurden, waren es nicht meine Ausdrucksmittel, mich als schwedischer Schriftsteller zu etablieren. So fing ich wieder an, auf deutsch zu schreiben. Die deutsche Sprache hatte dann überhaupt nichts mehr zu tun mit dem deutschen Hintergrund: ‚mein‘ Deutsch war nur noch eine Fremdsprache, die ich mir mühsam zurückerobern mußte.“ (MPW 38)

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Als „Nebenprodukte“ (MPW 38) zu seiner Malerei schrieb Weiss ab 1945 wieder Texte. 1946 gibt er sein erstes Buch mit schwedischen Prosagedichten unter dem Titel ‚Från ö till ö‘ (‚Von Insel zu Insel‘) heraus (W1 7-52). Es folgen ‚De besegrade‘ (‚Die Besiegten‘, 1947; W1 53-121), ‚Der Vogelfreie‘ (1948 geschrieben auf Deutsch, von mehreren deutschen Verlagen abgelehnt; 1949 publiziert in Schweden unter dem Titel ‚Dokument I‘; 1980 im Suhrkamp Verlag unter dem Pseudonym Sinclair veröffentlicht als ‚Der Fremde‘; W1 145-220) und ‚Duellen‘ (‚Das Duell‘, 1951; W1 221-288). Vgl. auch W1 291-292. Genau genommen ist der ‚Schatten‘ also der zweite Text, den Weiss wieder auf Deutsch geschrieben hat.

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Weiss integrierte sich sowohl in England als auch in Schweden vor allem über die Sprache. Sein Deutsch hat er dabei gewissermaßen ‚konserviert‘, denn er „kannte gar nicht, was in Deutschland so gesprochen und geschrieben wurde“ (MPW 38); sein Deutsch war das Deutsch von vor 1933, und er hatte es sehr lange nicht verwendet. Die Rückkehr zur deutschen Sprache war ein langer Prozess, der sich über die gesamten 1950-er Jahre hinweg hinzog:2 „Ich war nach diesen großen Umwegen und Qualen wieder in einem Medium, in dem ich mich ausdrücken konnte [...].“ (MPW 40) 1948 nahm Peter Weiss Briefkontakt zu Peter Suhrkamp auf (vgl. B 9-31), nachdem er diesen 1947 persönlich bei einem Aufenthalt in Deutschland als Korrespondent der schwedischen Zeitung ‚Stockholms Tidningen‘ befragt hatte (vgl. B 11-12, Anm. 1, sowie B 42). In einem dieser Briefe schreibt Weiss detaillierter über die problematische Rückkehr zur deutschen Sprache: „ich sitze hier und schreibe in deutscher Sprache und das ist als kehrte ich in ein seit langem nicht mehr gesehenes und doch vertrautes Zimmer zurück. Während der Jahre in denen ich eine fremde Sprache schrieb war mir immer, als fehlte etwas Wesentliches, als läge unter jedem Wort ein schwer fassbarer Schatten. […] Ich […] selbst war […] gezwungen, tagtäglich die andere Sprache [Schwedisch; H. K.] zu sprechen […]. Ich hatte den Weg in ein wesentliches inneres Gebiet verloren, teils weil mich die neue Umgebung dazu gezwungen, teils weil ich mit dem Deutschen allzuvieles verknüpfte was ich gern verges3

sen wollte.“ (B 9)

Nach und nach zeigt sich jedoch ein Fortschritt im Umgang mit der deutschen Sprache: „[U]nd nach den langen Jahren […] schreibe ich nun Satz auf Satz und die Worte strömen ganz leicht und decken sich mit Gefühlswindungen, die mit meinen frühesten Anfängen verbunden sind.“ (B 10) Weiss hat das Gefühl, sich wieder ausdrücken und fließend auf Deutsch schreiben zu können. Und dennoch war ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ „ein Versuch, sich die deutsche Sprache so schwierig zu machen wie nur irgend möglich, und zu versuchen, in dieser Sprache, die ich mir jetzt zurückerobern mußte, das Äußerste an komplizierten Sätzen zu bauen, die überhaupt möglich waren.“ (MPW 38)

2

Vgl. MPW 34.

3

„[…] weil ich mit dem Deutschen allzuvieles verknüpfe was ich gern vergessen wollte.“: Vgl. zum Gefühl der Isolation beziehungsweise zur Wahrnehmung des Deutschen als ‚gewalttätige Sprache der Nazis‘ die beiden Kapitel 2.1.1 ‚Peter Weiss als Künstler verschiedener Medien‘, S. 29ff., sowie 4.1 ‚Einführende Text- und Bildbeschreibungen‘, S. 155ff.

Text und Collage bei ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ | 81

Weiss schickt Peter Suhrkamp neben einigen anderen ersten Manuskripten auf Deutsch das Manuskript ‚Journal einer Jugend‘, eine Vorstufe zu ‚Abschied von den Eltern‘. Suhrkamp lehnte die Publikation aller von Weiss eingereichten Manuskripte ab. Weiss schickte seine Texte auch an diverse andere Verlage, doch erst Walter Höllerer, Gründer der Zeitschrift ‚Akzente‘, wird auf Weiss aufmerksam. Höllerer veröffentlicht später als Erster „mit kleinen Abweichungen in Text und Interpunktion de[n] komplette[n] vierte[n] Abschnitt des Kutschers“ (B 37, Anm. 1) in seiner Zeitschrift.4 Höllerer ist es auch, der den Kontakt zum Suhrkamp-Verlag wieder herstellt (vgl. B 36), wo „Enzensberger, Höllerer und ich [Siegfried Unseld; H. K.] [den Text ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘] schätzten, ja bewunderten […].“5 Weiss freut sich über diese Entwicklung besonders, fühlt er sich doch dem Hause Suhrkamp durch seinen Austausch mit Peter Suhrkamp sehr verbunden: „Dass mein Buch hier [im Suhrkamp Verlag; H. K.] herausgegeben wird macht mir viel Freude, es scheint mir manchmal ganz unwirklich […]. Auch die schöne Ausstattung des Buches und die Anerkennung die mir zuteil kommt ist noch nicht richtig fassbar, nach allem was ich von Schweden her an Ablehnung gewöhnt bin und nach den 8 Jahren, in denen der Kutscher unbeachtet umherwanderte.“ (KJ 32)

Die „schöne Ausstattung“ meint die Buchgestaltung als „‚Tausenddrucke‘, Bücher also, die in nummerierter Auflage von tausend Exemplaren erscheinen.“ (36) Siegfried Unseld schreibt in einem seiner Briefe über die Pläne zur Publikation und zur Buchgestaltung: „Ich hatte Suhrkamp im Herbst 1954 […] vorgeschlagen, monatlich ein exemplarisches Buch in großer Auflage zu niedrigem Ladenpreis zu veröffentlichen. Suhrkamp lehnte diesen Plan sehr energisch ab […]. Er wollte Bücher für die Elite machen und erfand dafür als neue Reihe die sogenannten ‚Tausenddrucke‘, schön ausgestattete klassische Bücher, die nummeriert jeweils in tausend Exemplaren erscheinen sollten. […] Das Unternehmen der ‚Tausenddrucke‘ scheiterte […]. 1959 beschäftigten wir uns im Lektorat mit dem Manuskript ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ von Peter Weiss. […] Enzensberger, Höllerer und ich schätzten, ja bewunderten den Text […]. Aber auch wir zweifelten, daß die komplizierte Erzählung sich in der normalen Form des Buches durchsetzen könnte. Da

4 5

Akzente, Heft 3. Juni 1959, S. 228-237. Siegfried Unseld: Der Marienbader Korb. Über die Buchgestaltung im Suhrkamp Verlag – Willy Fleckhaus zu ehren. Hamburg 1976, S. 31f. Zitiert nach: Siegfried Unseld – Peter Weiss, Briefwechsel, Anm. 3, S. 38.

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erinnerten wir uns an Suhrkamps ‚Tausenddrucke‘ und übernahmen die Idee für den ‚Kutscher‘, gestalteten das Äußere jedoch weniger ‚klassisch‘ auf einen modernen Text hin 6

um.“ (B 38)

Nachdem also der Auszug aus ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ im Juni 1959 in ‚Akzente‘ veröffentlicht worden war, unterbreitet Siegfried Unseld Peter Weiss im Brief vom 19. August 1959 ein Angebot zur Publikation: „Sinn dieser Zeilen soll nun sein, Ihnen unser Interesse an Ihren Arbeiten zu bekunden und Ihnen auch mitzuteilen, daß wir bereit sind, eine Publikation von Ihnen jetzt ernsthaft zu bedenken. […]“ (B 36) Angeboten wird Weiss, wie in der Redaktion des Suhrkamp Verlages besprochen, eine Veröffentlichung eines seiner Texte in der Reihe „‚Tausenddrucke‘ […]. Der Sinn des Unternehmens ist, schwierige Texte, die […] für einen kleinen Kreis in Frage kommen, sichtbar in einer Auflage von tausend Exemplaren vorzulegen. […] Wir denken daran, […] auch eine größere Arbeit von Ihnen, die Sie auch illustrieren könnten, herauszugeben.“ (B 36-37)

Weiss war dem Suhrkamp Verlag als Maler bekannt (vgl. B 34: „Es handelt sich nämlich um einen Maler aus eng-bürgerlicher Familie“), und Unseld kannte die Weiss’ Collagen zu ‚1001 Nacht‘ (vgl. B 37). Es gibt aber noch keinen konkreten Vorschlag, zu welchem Text Weiss ‚Illustrationen‘ anfertigen könnte, es ist zunächst als allgemeiner Vorschlag gemeint. Die Idee, Bilder zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ herzustellen und beizufügen, ist auf Willy Fleckhaus, seinerzeit Graphiker bei Suhrkamp, zurückzuführen, der den verhältnismäßig kleinen Text – „die ganze Prosaarbeit umfasst 50 […] Schreibmaschinenseiten“ (B 39) – durch Bebilderung vergrößern und so drucktauglich machen wollte.7

6 7

Vgl. dazu ebd., Anm. 3, S. 38. So Gunilla Palmstierna-Weiss im Gespräch mit H. K. am 16. September 2014. Auch im Brief vom 19. August 1959 heißt es, wie oben bereits zitiert: „Wir denken daran, […] auch eine größere Arbeit von Ihnen, die Sie auch illustrieren könnten, herauszugeben.“ (B 36-37; Hervorhebung H. K.) Es ging also nicht per se um die Publikation des ‚Kutschers‘ in den ‚Tausenddrucken‘. Höllerer hatte Unseld u .a. den Auszug vom ‚Kutscher‘ vorgelegt. Die Idee, den ‚Kutscher‘ für die Tausenddrucke auszuwählen, entwickelte sich erst im Laufe der weiteren Überlegungen, wie Weiss’ Texte im Verlag untergebracht werden können, und ging einher mit dem Austausch zwischen Weiss und Unseld über das Publikationsangebot. Am 24. August 1959 fordert Unseld

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Zum Vorabdruck des Auszuges aus ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ schreibt Unseld im selben Brief: „Sie knüpfen in Ihrer Prosa an die Erfahrungen der modernen Graphik an, und ich finde, es ist Ihnen auch gelungen, das Gespenstische, Hintergründige, ja Katastrophale in der Alltagswelt aufzuzeigen.“ (B 37)8 Im Brief vom 22. August 1959 nimmt Weiss die Idee der Illustrationen zum „Mikroroman“ direkt auf: „Sehr interessiert wäre ich natürlich daran, einen solchen Band zu illustrieren.“ (B 40) Offensichtlich gefällt Weiss die Idee einer Bebilderung so gut, dass er sich gleich an die Arbeit macht, denn bereits im Brief vom 28. August 1959 schreibt er: „Natürlich würde der ‚Kutscher‘ allein für einen kleinen Band reichen. Vor allem, wenn er auch illustriert herausgebracht werden könnte – die Sache beschäftigt mich schon und ich arbeite – weil es mir Spaß macht – an Collage-Skizzen dazu.“ (B 42) Weiss entscheidet sich folglich sehr rasch dazu, Collagen als Illustrationen herzustellen. Am 3. November 1959, nachdem der Vertrag über die Publikation von ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ bei Suhrkamp unterzeichnet ist, schreibt Weiss in einem Brief an Unseld, dass er nun „gern ein paar Illustrationsvorschläge zusammenstellen möchte. Das Collage-Material dazu habe ich schon gesammelt.“ (B 58) Am 10. September 1959 schreibt Lis Mertens im Auftrag von Siegfried Unseld an Peter Weiss: „‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ ist für eine Publikation doch ein klein wenig zu umfangarm, selbst wenn wir noch einige Illust-

dann die Manuskripte vom ‚Kutscher‘ und ‚Die Versicherung‘ an, denn „[o]ffenbar scheinen sie Ihnen [Peter Weiss; H. K.] am geeignetsten für einen solchen ‚Tausenddruck‘ zu sein.“ (B 41) Bis zu diesem Zeitpunkt kennt Unseld lediglich den in ‚Akzente‘ veröffentlichten Auszug vom ‚Kutscher‘ (vgl. B 41). Am 10. September 1959 bestätigt Lis Mertens vom Suhrkamp Verlag im Auftrag von Siegfried Unseld die Auswahl von ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ für den ‚Tausenddruck‘ (vgl. B 44). 8

Wieder und wieder wird ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ in der Forschung als moderner Text bezeichnet: „Kein literaturwissenschaftlicher Beitrag zum ‚MikroRoman‘ ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ […] kommt ohne Verweis auf die (mittlerweile berüchtigte) Modernität des Textes aus“, wie Adam Soboczynski in ‚Von Schatten oder Schwarz auf Weiß. Überlegungen zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ von Peter Weiss‘ (in: PWJ 8 68-88, hier 68) ganz richtig anführt. Diese Studie möchte sich hier nicht einreihen und wiederholen, was viele andere Abhandlungen zuvor bereits ausführlich beschrieben haben und verwiese auf die entsprechenden Abhandlungen, insbesondere ausgewiesen im Kapitel zum Forschungsstand (siehe 1.3 ‚Forschungsstand‘, S. 22ff.).

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rationen in Betracht ziehen.“ Weiss erwidert am 14. September: „Sie finden den ‚Kutscher‘ zu kurz. Schade. An sich stünde er wohl am besten für sich allein9 – möglicherweise begleitet von Collage-Illustrationen, die sich nicht direkt an den Lauf der Geschichte schliessen, sondern eine gute Parallel-Handlung bilden. Kleine Bücher sind gut.“ (B 47) Da aber auch der Hanser Verlag konkretes Interesse an der Publikation des ‚Kutschers‘ signalisiert, antwortet Walter Boehlich in Vertretung für den verreisten Siegfried Unseld bereits am 17. September 1959, dass „der ‚Kutscher‘ unter allen Umständen bei uns [im Suhrkamp Verlag; H. K.] erscheinen [wird], als ‚Tausenddruck‘. Ob allein oder in Verbindung mit anderem, das ist eine spätere Sorge. Der Umfang spielt keine entscheidende Rolle. Kleine Bücher sind wirklich gut.“ (B 50)

Im November 1959 bestätigt der Suhrkamp Verlag das Eintreffen der Collagen (vgl. B 61). Weiss wünscht sich für die Ausgestaltung des ‚Tausenddrucks, dass „[d]ie Collagen dazu […] immer dort eingesetzt [werden], wo ein Abschnitt der Erzählung zuende ist. Nie mitten in den Abschnitt hinein gesetzt. Das Bild soll die ganze Buchseite ausfüllen, also ohne Randmarginal.“ (B 62) Zur genauen Platzierung und Einbindung der Collagen schildert Unseld Weiss die verlagsinternen Überlegungen: „Einen Augenblick dachten wir auch daran, einzelne Details aus den Collagen herauszunehmen und sie in die Buchseiten einzubauen. Aber ich glaube, dies wäre ein Bruch in unserer Absicht; denn dann bekäme das einzelne Detail doch wieder illustrativen Charakter, den wir vom Ganzen her nicht beabsichtigen.“ (B 69-70)

Unseld teilt Weiss auch seine Überlegungen dazu mit, wie der Satzspiegel so gestaltet werden kann, dass die Bilder besonders zum Tragen kommen: „Wir werden jetzt noch Versuche zur Satzspiegelbreite machen. […] Brächten wir den Text in halber Breite, die Collagen jedoch in voller Breite, gäbe dies Ihren Zeichnungen noch einen zusätzlichen Akzent. Da wir nur einige Zeichnungen bringen können, scheint es mir richtig, sie dann in dieser Form hervorzuheben. […] Mir läge sehr an einer zweifarbigen Wiedergabe.“ (B 72)

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Unseld schlug vor, zusammen mit ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ einen weiteren Text von Weiss in einem Buch zu veröffentlichen. Diesen Vorschlag lehnt Weiss ab.

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Irritierend ist die wiederholte Verwendung des Begriffs „Zeichnungen“, aber wahrscheinlich handelt es sich lediglich um eine sprachliche Ungenauigkeit, denn bereits einen Absatz später schreibt Unseld wieder über die „Blätter“, also die „Collagen“ (B 72). Die schließlich publizierte Fassung des ‚Kutschers‘, für deren „äußer[e] Form der Ausgabe“ (B 63) Willy Fleckhaus als Graphiker verantwortlich zeichnet, setzt die Vorgaben von Weiss und Unselds Überlegungen größtenteils um. Alle sieben veröffentlichten Collagen sind zweifarbig in Strichätzung auf der rechten Buchseite „in voller Breite“ (B 72) abgebildet,10 der Text wird „in halber Breite“ (B 72) gebracht. Nach Klärung der formalen Ausgestaltung des Buches geht es um die Bildfunktion bzw. -auswahl: „Auch wir sehen den Sinn der Bilder nicht so sehr in einem illustrativen, sondern vielmehr in einem assoziativen, visionären Charakter. Sie sollen die Erzählung in eine andere Dimension heben; es ist also eine Art zweite Erzählung zu den Bildern. Nur […] wir sind der Meinung, daß Ihnen diese Absicht nicht mit allen Collagen geglückt ist. Wir haben fünf Blätter herausgesucht, die nach unserem Urteil selbstständigen künstlerischen Wert besit11

zen.“ (B 69)

Dabei handelt es sich um die Collagen ‚I‘, ‚II‘, ‚IV‘, ‚VI‘ und ‚VII‘. Drei weitere Collagen hält Siegfried Unseld ebenfalls noch für möglicherweise publizierbar, nämlich die Collagen ‚V‘, ‚a‘ und ‚c‘. Der Antwortbrief von Weiss auf diesen Vorschlag ist leider nicht überliefert, aber in dem nächsten Brief von Unseld an Weiss vom 12. Februar 1960 heißt es, dass man sich auf die ersten fünf Collagen plus zwei weitere zur Veröffentlichung geeinigt hat. Bei den zwei zusätzlichen Bildern handelt es sich zum einen, wie von Unseld vorgeschlagen, um die ‚Collage V‘, zum anderen wurde die ‚Collage III‘ auf Weiss’ Bitte hin ausgewählt (vgl. B 72). Unseld nimmt in seinem Brief vom 3. Dezember 1959 die Frage nach der Funktion der Collagen noch einmal explizit auf: „Es würde mich einmal interessieren, von Ihnen selbst zu hören, inwiefern Sie diese Collagen als Illustrationen zu diesem Text ansehen wollen. Für mich liegt die Beziehung daran, dass diese Bilder Sinnliches und Unsinnliches, Organisches und Anorganisches, Mechanisches und Lebendiges, im Gegensatz, im Widerstreit aber doch auch wieder in einem

10 Siegfried Unseld möchte „auf das eine oder andere [Blatt] zu verzichten.“ (B 63) 11 Unseld wählt die Collagen ‚I‘, ‚IV‘, ‚II‘, ‚V‘ und ‚VII‘ aus. Man einigt sich zudem auf die Abbildung der beiden Collagen ‚III‘ und ‚V‘.

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Bezogensein aufeinander zeigen. Von hierher sehe ich die Verbindung zu dem, was Sie mit Ihrer Prosa wollen: einmal die Durchleuchtung des Allergewöhnlichsten und zum andern das Transparent-Machen des Alltäglichen. […] denn es wird nicht wenige Leute geben, die uns sagen, daß ohne diese Zeichnung der Text selbst größere Wirkung hätte.“ (B 63-64)

Weiss geht nicht auf die Frage nach den Bildinhalten der Collagen ein, sondern bezieht sich in seiner Antwort vom 29. Dezember 1959 wieder auf formale Aspekte: „[…] ich dachte sie mir z w i s c h e n den verschiedenen Abschnitten – also nie i n den Text eingesetzt. Ich weiß nicht, ob ich sie nummeriert habe, sie halten sich ja nur ganz assoziativ an den Text – ihre Ordnung ist vielleicht nicht ohne weiteres ersichtlich.“ (B 65; Hervorhebung im Original) Dennoch ist dies insofern eine sehr besondere Stelle, als dass sie die einzige ist, an der Weiss eine konkrete Anbindung der Collagen an den Text bestätigt. Dabei halten sich die Collagen laut Weiss „nur ganz assoziativ an den Text“. Doch gerade in dieser Collagereihe tritt die Transformation formaler Strukturen besonders ausgeprägt zutage. Die Collagen sind eng an textuelle, narrative und syntaktische Charakteristika gebunden und der Bildinhalt resultiert überwiegend aus semantischen Übertragungen textueller Vorgaben. Das heißt: Formale Strukturen des „Mikroromans“ zeigen sich in der Struktur der Bilder, die Machart der Collagen entspricht wesentlichen formalen Charakteristika des Textes. Als „zweite Erzählung“ (B 69) weisen die Collagen semantische Übertragungen textueller Vorgaben in eine bildliche Entsprechung auf; die Anbindung der Bilder an ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ als Prätext ist also auch inhaltlich nachweisbar. Und da die Antwort von Peter Weiss auf die Frage, „inwiefern [Weiss; H. K.] diese Collagen als Illustrationen zu diesem Text ansehen“ will, nicht überliefert ist und lediglich die Funktion als „zweite Erzählung“ genannt wird, müssen wir uns selbst auf die Suche nach der Antwort machen, was die Collagen tatsächlich leisten (sollen), da sie eben nicht primär als Illustrationen eingesetzt werden sollen. Eine Intention war besagte Geschichte neben der Geschichte, doch auch die Spiegelung syntaktischer Strukturen ist stark ausgeprägt und fällt dem Rezipienten schnell ins Auge. Bevor jedoch die genaue Analyse des TextCollage-Verhältnisses die Funktionen und Wechselwirkungen aufdeckt sowie der Nachweis einer Anbindung anhand der Einzelanalysen erbracht werden kann, muss zunächst eine allgemeine Textanalyse vorgenommen werden, die auch immer den Vergleich mit der zugehörigen Collagereihe sucht.

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In elf unterschiedlich langen Abschnitten berichtet ein Ich-Erzähler „als beweglicher Beobachtungsstandpunkt“12 aus dem Leben und den Geschehnissen auf einem ländlichen Gut. Neben dem Ich-Erzähler befinden sich auf dem abgeschiedenen Hof insgesamt zehn weitere Personen: die strenge Haushälterin als Gastgeberin, der plumpe Hausknecht, der Steine sammelnde Herr Schnee, der Hauptmann, der sich seine Kleidung aus alten Fetzen selbst nähende Schneider, der Doktor und eine Familie, bestehend aus einem gewalttätigen Vater, der hilflosen Mutter, dem gedemütigten und misshandelten Sohn und einem Säugling. Eine weitere Figur ist der Kutscher, der, wie der Titel des Romans bereits andeutet, neben einer knappen Erwähnung zu Beginn (vgl. K 9) nur als „Schatten“ im letzten Textabschnitt auftritt (vgl. K 50-56, insbesondere 51-55). Die Figuren erscheinen wie „ein Spiegelbild der bürgerlichen Gesellschaft mit typischen Repräsentanten (Arzt, Hauptmann, Schneider, Kleinfamilie, Dienstpersonal), die aber im Zustand des grotesken Zerfalls und der absurden Selbstaufhebung gezeigt [werden].“13 Es gibt keine individuelle Charakterisierung der Figuren. Die genannten Attribute sind den detaillierten und dabei oftmals schonungslosen, degradierenden Beschreibungen des Ich-Erzählers entnommen, die er ohne Herstellung eines Sinnzusammenhangs aneinanderreiht. Ebenso unerwähnt bleiben die Gründe für den Aufenthalt einer jeden Figur auf dem Gut. Ror Wolf schreibt über die besondere Erzählweise: „Das Auge ist das Auge des Erzählers, der weder über das Innere seiner Personen verfügt, noch über deren Zukunft. Er ist nur mehr blanker Berichterstatter, kommt nur bis zur Kruste, bis zur blanken, kühlen Oberfläche der Objekte.“14 Aufgrund einer stark „räumlich-visuell bestimmte[n] Wahrnehmung“15 sind die Beschreibungen der banalen Alltäglichkeiten „mikro-

12 Hans Esselborn: Die experimentelle Prosa Peter Weiss’ und der nouveau roman Robbe-Grillets. In: Literatur, Ästhetik, Geschichte. Neue Zugänge zu Peter Weiss. Hg. von Michael Hofmann. St. Ingbert 1991, S. 29-47, hier S. 39. Siehe weiterführend auch Manuel Köppen: Peter Weiss und Alain Robbe-Grillet. Standortbestimmung zwischen den Künsten. In: PWG 167-180. 13 Esselborn, Die experimentelle Prosa, S. 38. Esselborn spricht von „typischen Repräsentanten [der bürgerlichen Gesellschaft]“ [Hervorhebung H. K.], zählt dann aber keine „typischen Repräsentanten“ des Besitzbürgertums oder Bildungsbürgertums auf, sondern benennt vorrangig Arbeiter und Angestellte. Esselborn scheint mit den „Repräsentanten“ der „bürgerlicher Gesellschaft“ offensichtlich Vertreter des Kleinbürgertums zu meinen. 14 Ror Wolf: Die Poesie der kleinen Stücke. In: Über Peter Weiss. Hg. von Volker Canaris. Frankfurt a. M. 1970, S. 25-27, hier S. 26. 15 Köppen, Die halluzinierte Stadt, WW 23.

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skopisch genau“16 und bleiben allesamt ohne Interpretation, indem „der Erzähler die Situation aufnimmt und genauso wiedergibt, wie es das Auge einer Filmkamera und das Mikrophon aufnehmen würden.“17 Es entsteht der Effekt einer Momentaufnahme oder der Fixierung eines Vorgangs. Die Erzähltechnik der „extreme[n] Objektivität der Ding- und Vorgangsbeschreibung“18 erinnert an den nouveau roman, auch wenn „ein Einfluß des noveau roman schon zeitlich ausgeschlossen ist.“19 Es handelt sich bei diesem Sprachexperiment „um einen radikal modernen Text, der auch die deutsche Prosaliteratur der 60er Jahre entscheidend beeinflusst hat“20 und dessen Erzählweise an den avantgardistisch experimentellen Stil eines Alain Robbe-Grillet erinnert.21 Während also Personen nicht charakterisiert werden und Sinnzusammenhänge unerwähnt bleiben, berichtet der Ich-Erzähler „nicht nur von den wahrgenommenen Vorgängen, sondern auch von den Umständen der Beobachtung und Niederschrift, vom Zeitpunkt, der Motivation usw.“:22 Hans Esselborn ist zuzustimmen, wenn er daraus schließt, dass also „[d]ie Sprache wie das Subjekt eine eigene und zentrale Rolle“ erhalten.23 Weiss lässt dementsprechend zum einen seinen Protagonisten die eigene Sprachlosigkeit nachempfinden.24 So, wie Weiss sich wieder in der deutschen Sprache üben muss, so gehen die traumförmigen Beschreibungen in seinem Roman nicht in die Tiefe; sie bleiben stets eng mit der Oberfläche verhaftet. Zum anderen erhält das Subjekt, der Ich-Erzähler, eine zentrale Rolle. „Der Blick, den der Ich-Erzähler auf diese sonderbare Mikro-Welt wirft, nimmt eine chaotische, in Auflösung begriffene Realität wahr, in der trotz äußerster Anstrengung, sie durch präzise, vollständige Beschreibung in den Griff zu bekommen, die Orientierung extrem mühsam oder vergeblich ist.Wahrgenommen werden immer nur einzelne, kleine Rea-

16 Tabah, Modernität im ‚Kutscher‘, S. 40. 17 Schönefeld, Die filmische Produktion des multimedialen Künstlers Peter Weiss, S. 119. 18 Heinrich Vormweg: Peter Weiss. München 1981, S. 43. 19 Esselborn, Die experimentelle Prosa, S. 36. 20 Tabah, Modernität im ‚Kutscher‘, S. 39. 21 Für einen detaillierten Vergleich von Weiss’ Prosa und dem nouveau roman RobbeGrillets siehe Esselborn, Die experimentelle Prosa, S. 29-47. 22 Ebd., S. 39. 23 Ebd. 24 Es gibt Ansätze, ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ als autobiographisch zu verstehen. Vgl. Tabah, Modernität im ‚Kutscher‘, S. 40.

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litätsfragmente, die sich nicht zu einem sinnvollen Ganzen zusammensetzen lassen. Ein Überblick ist von vornherein unmöglich.“25

Die Umgebung, die Situationen, die anderen Bewohner des Hofes und deren Handlungen erscheinen dem Ich-Erzähler derart „chaotisch“, unverständlich und durcheinander, dass er zwanghaft die Realität durch seine akribischen, minutiösen Beobachtungen und „Beschreibung“ ordnen möchte, um ihr letztlich so beizukommen: „Mit dem Bleistift die Geschehnisse vor meinen Augen nachzeichnend, um damit dem Gesehenen eine Kontur zu geben, und das Gesehene zu verdeutlichen, also das Sehen zu einer Beschäftigung machend, sitze ich neben dem Schuppen […].“ (K 30) Der genaue Blick des Erzählers schafft eine „geometrische Ordnung des Raums“.26 Gleichzeitig dient das Protokoll des Erzählers „zur Selbstvergewisserung“.27 Schon zu Beginn des „Mikroromans“ zeigt sich die „Selbstvergessenheit“ (K 10) und Weltentrücktheit des Ich-Erzählers. Die Wahrnehmung der Umwelt ist verzerrt und verfremdet, was sich in der verschachtelten Sprache der Erzählung und in den Collagen widerspiegelt. Verstärkt wird die Atmosphäre des Verzerrten und Entrückten durch die Abgeschiedenheit des Hofes (zu erreichen nur „nach [einer] langen Wagenreise“ oder „eine[r] Tageswanderung zu Fuß“ [K 8]), durch die Schaffung eines fast schon hermetisch abgeriegelten, zeit- und kontextlosen Ortes ohne Verbindung zur Außenwelt (und wenn dann doch jemand in diese Welt von außen hereinbricht, wie der Kutscher an Tag drei, stürzt alles vollends zusammen), der kein Wissen preisgibt über seine Bewohner. Auch der Ich-Erzähler klärt den Leser nicht auf, sondern beschränkt sich ganz auf das zwanghafte Protokollieren, mit dem der „Mikroroman“ unvermittelt einsetzt, sodass es für den Leser nur diese eine, absolute Gegenwart gibt. Das Protokollieren bestimmt das Handeln und Denken des IchErzählers vollständig, der Zwang des Schreibens und Beobachtens ist pathologisch und personifiziert: „Die Niederschrift meiner Beobachtungen hat mich davon abgehalten, die Hose hinaufzuziehen und zuzuknöpfen; oder das plötzliche Einsetzen meines Beobachtens ließ mich vergessen, die Hose hinaufzuziehen; oder auch war es […] die Selbstvergessenheit die mich hier auf dem Abtritt überkam […].“ (K 10)

25 Tabah, Modernität im ‚Kutscher‘, S. 40f. 26 Esselborn, Die experimentelle Prosa, S. 39. 27 Ebd.

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Offenbar unaufhaltsam und absolut nicht beeinflussbar ist der Ich-Erzähler aus sich selbst heraus gezwungen, alles aufzuschreiben. Der Zwang handelt autonom. Einzig, wenn der Ich-Erzähler sich in seiner Kammer unter dem Dach Salz28 in die Augen streut, kann er der Realität und seinem Zwang durch ein „Erdenken von Bildern“ (K 15) kurzzeitig entfliehen. Im Kontakt mit den anderen Figuren ist er oftmals unfähig zu handeln, unsicher und verhält sich passiv, zeigt aber „im Extrem auch Emotionen und praktisches Eingreifen“.29 Auf dem Gut nimmt der Erzähler als ‚Protokollant‘ die Perspektive eines Außenseiters und Beobachters ein. Er flüchtet sich vor der Wirklichkeit in die ‚erdachten Bilder‘, die er hervorruft, indem er sich Salz in seine Augen streut. Die durch das ‚Salzsehen‘ hervorgerufenen Halluzinationen verstärken sich stufenweise, einige halluzinierte Elemente bleiben abstrakt, andere Bilder sind klar umrissen. Wörtliche Rede kommt in der monotonen Syntax nicht vor. Weiss nutzt stattdessen eine ‚Mikrophontechnik‘, bei der eigentlich wörtliche Rede in Form einer Aufzeichnung durch den Ich-Erzähler wiedergegeben wird. Der Ich-Erzähler versteht von den Gesprächen der anderen Bewohner allerdings immer nur zusammenhanglose Fetzen und gibt diese sprachlich genauso unverständlich wieder, sodass der Leser die Dialoge rekonstruieren und sich den Zusammenhang der aktuellen Geschehnisse selbst erklären muss. In einer Szene im neunten Abschnitt wird dies besonders deutlich, wenn der IchErzähler über mehrere Seiten hinweg versucht, die Gespräche der anderen Figuren zu reproduzieren, er aber bereits an einem Mindestmaß an Hörverständnis zu scheitern scheint. Die Reproduktion des Gehörten gelingt mit Mühe in groben Stichworten und mit zeitweiligen Unsicherheiten (die dem Ich-Erzähler durchaus bewusst sind, die er aber auch nicht kommentiert oder für sich oder den Leser erklärt), wenn nur eine einzige der anwesenden Personen spricht. Sobald aber

28 Zu Bedeutung und Symbolik des Salzes vgl. Thomas Strässle: Salz. Eine Literaturgeschichte. München 2009, insbesondere S. 236-252. 29 Ebd., S. 39. Selbst bei offensichtlichen Misshandlungen des Sohnes greift der Protagonist nicht ein: „[…] und obgleich mir der Verlauf der Unruhe bekannt war erhob sich wieder, wie jedes Mal, die Frage ob ich mich hinunter begeben sollte, um zu helfen, oder um einzugreifen, oder nur um vor der Tür zu stehen und zu warten. Und wie immer blieb ich erst eine Weile liegen […]. Vor der Tür zum Zimmer der Familie blieb ich stehen […].“ (K 26) Erst auf die Hilferufe der Mutter hin wird der IchErzähler tatsächlich aktiv und „öffnete […] die Tür“ (K 28), um der Mutter mit dem kollabierten Vater zu helfen. Er greift aber nicht in das Geschehen ein, sondern bringt den Vater zum Bett und verlässt das Zimmer der Familie sofort wieder. Vgl. dazu auch Kapitel ‚‚Collage III‘: Ein Familienbild‘, S. 106ff.

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mehr als ein Gespräch parallel geführt wird, überlagern sich Worte und Geräusche, sodass „diese Worte […] wieder im Gelächter der Haushälterin [ertranken]“ (K 42) oder „[d]as Gespräch ringsum […] weiter [lief] und […] sich zu einem vielfältigen Summen zusammen[schloß] […].“ (K 44; vgl. K 40-42) Der ‚Zerfall der Sprache‘ löst auch die Zusammenhänge von Zeit und Raum noch weiter auf. Mit der „Unüberschaubarkeit des zerstückelten Raums“30 verweist Weiss auf den Surrealismus: „Wie in einem Traum gleiten die einzelnen Realitätsbruchstücke an seinem entfremdeten Blick vorbei. Sie haben die gleiche intensive Nähe und Gegenwärtigkeit und zugleich dieselbe unheimliche Ferne und Schattenhaftigkeit wie die Dinge im Traum, und sie werden mit der ähnlichen paradoxen Verbindung von surrealer Genauigkeit und absurder Fremdheit beschrieben, die auch die surrealistische Malerei kennzeichnet.“

31

In der letzten Szene der Erzählung kommt es zum Beischlaf zwischen dem Kutscher und der Haushälterin, den der Ich-Erzähler beobachtet. Eigentlich sieht er aber lediglich den Schatten des Kutschers und den der Haushälterin während des Aktes, woraufhin sich der Erzähler gänzlich in seiner eigenen wirklichkeitsfernen, verzerrten Welt verliert. Die Collagereihe zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ besteht aus elf Collagen, von denen sieben im ‚Tausenddruck‘ veröffentlicht wurden. In Ausschnitten wurden die sieben Collagen für die Ausgabe in der ‚edition suhrkamp‘ übernommen. Zehn der elf Collagen dieser Reihe bestehen jeweils aus mehreren, unterschiedlich großen, sorgfältig eckig ausgeschnittenen und streng geometrisch angeordneten Fragmenten. Ein Bild, nämlich die ‚Collage d‘, ist insofern anders, als dass sie zwar ebenfalls mit sichtbaren Klebestellen, aber insgesamt doch homogener gestaltet und in sich weniger geometrisch komponiert wurde als die übrigen zehn Collagen.32 Die Collagen erinnern in ihrer Machart an Bildtafeln des Bänkelsangs, was analog zum zentralen Motiv des Jahrmarkts bei Peter Weiss gesetzt werden kann, und an den Mnemosyne-Atlas Aby Warburgs. Die einzelnen Segmente der Collagen wurden zu einem bestimmten Thema oder zu Gegensatzpaaren gruppiert. Manchmal ergibt eine Collage in einer imaginären Rekonstruktion oder Umsortierung der Fragmente ein Bild, das ein reales Motiv erkennen lässt. Aus den 19 Fragmenten der ‚Collage I‘ zum Beispiel lässt sich recht schnell und ohne besonderen Aufwand eine Figurendarstellung

30 Tabah, Modernität im ‚Kutscher‘, S. 41. 31 Ebd., S. 43. 32 Vgl. dazu die Analyse der ‚Collage d‘: , S. 150ff.

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erkennen. Die Motive der Collagen sind, wie die „[i]n sich kontinuierliche[n] Bewegungsabläufe […] kubistisch zerstückelt“33 und werden auf einer rechteckigen Fläche nach einem streng geometrisierenden Gestaltungsprinzip neu zusammengesetzt, ähnlich einem konstruktivistischen Gestaltungsprinzip. Die einzelnen Fragmente zeigen zwar zum Teil Ausschnitte von wirklichen Räumen, Landschaften, Menschen, Körperteilen, Interieurs und Alltagsgegenständen, doch eine Neuanordnung zu einem wiederum homogenen Bild geschieht hier nicht. Zum Teil ist nicht mit Sicherheit zu klären, was einzelne Motive darstellen sollen und wie sie zu den übrigen Bildinhalten passen. In diesen Fällen werden Form, Farbgebung und Platzierung innerhalb der Collage umso wichtiger, um daraus eventuell vom Abstrakten zum Konkreten zu gelangen und Rückschlüsse auf Herkunft und Bedeutung ziehen zu können. Die einzelnen Collagen fügen sich also nicht zu Gesamtbildern zusammen und haben als Gesamtbild selten dreidimensionale räumliche Tiefe, sondern beharren durch die strenge Geometrisierung und die beabsichtigte Heterogenität auf ihrer Disparität im Zusammengesetztsein aus diversen Fremdelementen, obwohl zwischen einzelnen Fragmenten doch oftmals eine motivische Verbindung auszumachen ist. Die Sätze des „Mikroromans“ sind lang und verschachtelt und ein einzelner Satz kann zahlreiche Informationen enthalten. Formal kennzeichnend für den Text sind zudem Aneinanderreihungen und Aufzählungen. Diese Merkmale sind auch für die Collagen zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ charakteristisch: Die Fragmente sind aneinandergereiht, ohne dass eine logische Abfolge ersichtlich wird. Die Wiedergabe wörtlicher Rede, aber auch die pedantischen Aneinanderreihungen und Aufzählungen erfolgen durch eine Aneinanderreihung einzelner Satzfragmente. In den Collagen zeigt ein Fragment etwas, was über die gut sichtbare Schnittstelle als Pendant zum Komma im „Mikroroman“ zum nächsten Fragment und damit zum nächsten Detail, zur nächsten Erzählung übergeht: Was die Kommata für den Text und die Aufzählungen sind (die Trennung, oder besser: die Strukturierung der Aneinanderreihung kleinster Realitätsfragmente), sind folglich die Schnitt- und Klebestellen für die Collage (die Strukturierung der Abfolge, oder besser: Aneinanderreihung der Fremdelemente). Die vom Ich-Erzähler beobachteten und beschriebenen Dinge im Text werden ebenso wenig miteinander verbunden, sondern vielmehr durch Kommata getrennt, wie die einzelnen Fragmente der Collagen. Die Collagen wirken durch das Nebeneinander der vielen kleinen Elemente chaotisch und überladen, wie „[a]uch […] die engen Räume [des Gutshofs; H.

33 Tabah, Modernität im ‚Kutscher‘, S. 42.

Text und Collage bei ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ | 93

K.] zu sehr mit Menschen und mit einer grotesken Fülle absurder Gegenstände vollgestopft [sind], als daß sich eine Übersicht gewinnen ließe.“34 Durch die akribischen Beschreibungen möchte der Ich-Erzähler, alles ‚Vollgestopfte‘, Chaotische, das ihn umgibt, ordnen und systematisieren, ja fast schon durch eine Reihung als penible Bestandsaufnahme geometrisieren, was ihm aber misslingt. Diese ‚Geometrisierung‘ und Systematisierung ahmt Weiss mit dem geometrisierenden Kompositionsprinzip bei der Herstellung der Collagen und deren Ausgestaltung – formal wie inhaltlich – nach. Die sprachliche Abfolge gleicht der Bildfolge. „Die Logik des Zerfalls prägt die Gesamtstruktur“ von Text sowie Collagen, die sich „inhaltlich […] in der Darstellung von unterschwelliger Gewaltsamkeit, von Wirklichkeitsauflösung, Wahrnehmungsstörung, Ich-Verlust und Sprachzerfall aus[drückt], formal in der mikroskopisch genauen Beschreibung einzelner Realitätsausschnitte aus der beschränkten Perspektive des Außenstehenden, in der Auflösung der Wirklichkeit in Traumbzw. Alptraumrealität und in der grotesk-surrealistischen Verfremdung einer grausamen, sinnlosen Welt.“

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Diese „einzelne[n] Realitätsausschnitte“ entsprechen den einzelnen Fragmenten der Collagen in ihrer Heterogenität. In den Collagen zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ zitiert Weiss klar gegliedert und partiell einzelne isolierte, kleine Wahrnehmungsfragmente des Protagonisten in einzelnen Bildelementen. Die jeweiligen Bildelemente beziehen sich auf einzelne Textstellen. Ein Bildbereich kann sich dabei zum Teil auf mehrere Textstellen beziehen und umgekehrt. Analog dazu bestehen die Collagen selbst nicht nur aus vielen kleinteiligen Fragmenten, sondern die einzelnen Fragmente selbst zeigen darüber hinaus oftmals chaotische, übervoll wirkende Motive. Auch die Anordnung scheint vielfach eine willkürliche zu sein, wenn auch ihre exakte Aneinanderreihung streng symmetrisch und geometrisch ist. Die jeweilige Collage als Ganzes wirkt dadurch geradlinig, exakt und geordnet. Durch die Art der Herstellung und Anordnung erscheinen die Bilder sezierend und auffächernd. Ebenso tragen die vielen einzelnen Fragmente in einem Bild zu einem besonderen Kontrast bei, der diese Collagereihe ausmacht. Die ungewöhnliche Ästhetik wird also hervorgerufen durch die fast schon bizarre Diskrepanz zwischen Geradlinigkeit, Detailreichtum und ‚geordnetem, geometrisiertem Chaos‘. Der genaue Blick des Erzählers

34 Ebd., S. 41. 35 Ebd., S. 40.

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schafft eine „geometrische Ordnung des Raums“,36 die der „geometrischen Ordnung“ der Collagen entspricht, während der Blick des Rezipienten auf die Collagen wie der Blick durch ein Kaleidoskop ist: Diverse Textstellen, Motive und formale Charakteristika werden in geometrische Formen zerlegt, durcheinandergewürfelt, neu sortiert und in einem neuen Bild zusammengesetzt. Der Blick durch ein Kaleidoskop ist immer nur ein Ausschnitt und eng begrenzt, ebenso wie der Blick des Ich-Erzählers oft begrenzt ist, indem er zum Beispiel durch das Schlüsselloch in das Zimmer der Familie blickt oder aber durch die halb geöffnete Tür aus dem Abtritt heraus. 37 Entsprechend dazu wurden alle Collagen im Hochformat arrangiert, wie es üblich ist für Portraits und Ausschnittbilder – und dies sind die Collagen ja auch: Ausschnitte aus der Realität, begrenzt durch den begrenzten Blick des Ich-Erzählers Die Motive dieser Collagereihe lassen sich in einem ersten Schritt einteilen in a) bildliche Darstellungen der ‚erdachten Salz-Bilder‘ des Ich-Erzählers, b) Figuren- und Körperstudien, c) allgemeine Struktur- und Ordnungsstudien und d) Alltag und Alltägliches. Die Collagen ‚I‘, ‚III‘, ‚V‘ und ‚c‘ zeigen Menschen-, Figuren- und Körperbilder, die in ihrer formalen Machart recht unterschiedlich, aber durch das Oberthema geeint sind: Es sind Bilder von Menschen, Darstellungen von Figuren aus dem Text und von (deren) Körper(-teilen). Hier setzt Weiss ein Motiv formal verschiedenartig um. Weitere wesentliche Bildthemen sind Möbel beziehungsweise Interieur, verschiedenste Alltagsgegenstände und Kleidung. Zwei Bilder fallen aufgrund ihrer Machart ‚aus dem Rahmen‘: Die ‚Collage VII‘ beinhaltet als einziges Bild auch Text, und die ‚Collage d‘ ist weniger heterogen als die übrigen Bilder dieser Reihe. Die genannte motivische Einteilung gibt die Gliederung der sich nun anschließenden Analysen vor.

3.2 ZUM VERHÄLTNIS VON „MIKROROMAN“ UND COLLAGEN 3.2.1 Salz in den Augen: Erdachte Bilder des Ich-Erzählers ‚Collage IV‘: Durch Salz gesehene Landschaften Insgesamt besteht die Collage aus 15 ursprünglich selbstständigen und voneinander unabhängigen Elementen. Das Element, das eine Seenlandschaft zeigt, bildet mit dem in dieses Element montierten Bildteil, der einen Frauentorso

36 Esselborn, Die experimentelle Prosa, S. 39. 37 Vgl. dazu auch Tabah, Modernität im ‚Kutscher‘, S. 41.

Text und Collage bei ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ | 95

zeigt, die Mitte der Collage. Der Betrachter findet, entsprechend der Länge der zugehörigen Textstelle, gleich vier Hauptmotive: Körperdarstellungen und Gesichter, ‚Landschaften‘ und Naturdarstellungen, naturwissenschaftliche Abbildungen sowie Technisches. Der Bereich der Technik wird einmal in der Glühbirne mittig am oberen Rand der Collage thematisiert, ein zweites Mal durch die Abbildung eines Fernrohrs, durch welches ein Mann schaut. Dieses Fragment am linken unteren Bildrand beinhaltet gleichzeitig zwei der vier Hauptmotive (Technisches und Menschendarstellungen) und unterstreicht damit die Bedeutung als einzunehmender Blickwinkel zur Betrachtung des Ganzen. Betont wird durch diese Perspektive das Fragment, das rechts mittig platziert ist. Strahlen scheinen, mit einem Ausgangspunkt im linken Fragmentbereich, nach rechts aus dem Bild heraus und dehnen sich dabei gleichmäßig aus. Das Fragment zeigt die mithilfe eines Mikroskops stark vergrößerte Aufnahme von Bakterien. Das vergrößerte Bild der Bakterien wird an eine helle, vertikale Fläche projiziert. Das Fragment über diesem Schema zeigt die stark vergrößerte Aufnahme kleiner Tierchen, die an Fruchtfliegen erinnern. Diese aus der Biologie stammenden Bildsegmente verdeutlichen das äußerst präzise, mikroskopisch genaue Beobachten des Ich-Erzählers. Die Strahlen des Mikroskopie-Fragments und die Projektion stark vergrößerter Bakterien können auch als bildliche Darstellung der Projektion der erdachten Bilder verstanden werden: So, wie die Bakterien stark vergrößert auf eine Wand projiziert werden, so projiziert der Ich-Erzähler seine erdachten Bilder „über die Realität“. (K 15)38

38 Dies ist vergleichbar mit der ‚Collage II‘ dieser Reihe. Vgl. Kapitel ‚‚Collage II‘: Strahlen, Kreise, geometrische Figuren‘, S. 99ff.

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Abbildung 1: ‚Collage IV‘, 1959

Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: HZ 3386.1 „Während ich mit weitgeöffneten Augen vor mich hinblicke, entstehen allmählich aus den […] Schatten, Strahlen, Prismen, Farbflecken und Linien die ersten Andeutungen von Gestaltungen […].“ (K 15-16)

Die Projektionslinien gehen rechts aus dem Bild heraus, wodurch eine Konzentration auf die rechte Bildseite gelegt wird. So nehmen Leser und Betrachter die Sicht des Protagonisten ein, entsprechend einer Dynamik von links nach rechts. „Während ich mit weitgeöffneten Augen vor mich hinblicke, entstehen allmählich aus den […] Schatten, Strahlen, Prismen, Farbflecken und Linien die ersten Andeutungen von Gestaltungen […].“ (K 15-16) Die „Andeutungen von Gestaltungen“ zeigen sich zum einen in der Motivik der Körper- und Gesichtsdarstellungen. Sechs Elemente zeigen Gesichter oder

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Torsos. Drei dieser Elemente zeigen kopflose Körper und eine Detaildarstellung eines Bauches, die drei anderen Gesichter. Zwei der Gesichter sind männlich und mit dem Ich-Erzähler in Verbindung zu bringen, wie oben gezeigt wurde und im Folgenden erläutert wird. Das dritte Gesicht-Fragment zeigt das doppelte Portrait einer Frau. Die Augen der Frau sind geschlossen. Das linke Portrait ist deutlich schärfer und etwas kleiner als das rechte. Im Text hingegen ist nur von einem Gesicht die Rede: „[…] ein Gesicht mit mageren Wangenknochen, breitem dunklen Mund, dunkel beschatteten Augen, und unter dem Gesicht ein schmaler Hals, dahinter das geöffnete Haar […].“ (K 17) Der Prozess des ‚Salzsehens‘ ruft undeutliche Formen, Gestalten und ‚Landschaften‘ hervor. Im Prozess der Bildfindung und bei der Auswahl der Bildelemente muss Weiss sich, entgegen dem dynamischen Prozess des Schreibens und dem damit einhergehenden Aspekt der Offenheit, immer wieder festlegen. Die Undeutlichkeit des Gesehenen bringt er durch das zweifache Nebeneinander des Frauengesichtes zum Ausdruck. Das linke Abbild des Gesichtes ist klar umrissen, während das zweite als Gegenstück zur notwendigen Festlegung auf ein Fragment zu betrachten ist und sich in der Unschärfe dieses Abbildes zeigt. Entsprechend der sprachlichen Dynamik und der Ausrichtung der Schrift von links nach rechts entwickelt Weiss eine Betrachtungsrichtung im Bild mithilfe der Bildfragmente und deren spezifischer Anordnung. Einen Frauentorso am rechten Bildrand, mittig verortet, beschreibt Weiss sprachlich von oben nach unten: „[…] und unter dem Haaransatz das scharf gezeichnete Schlüsselbein, daran die nackten geraden Schultern, und unter den Schultern […] die nackten Brüste mit den schwarzen Mittelpunkten der Brustwarzen, und unter den Brüsten die […] Rippen und die glatte, nackte Wölbung des Bauches mit dem dunklen Mittelpunkt des Bauches, und unterhalb des Bauches die dreieckige Schönheit des Schoßes, und die […] Hüften […], die langgestreckten […] Oberschenkel […].“ (K 17)

Im Text verläuft die sprachliche Beschreibung des Körpers von oben nach unten. Die Anordnung der Collage hingegen verläuft von unten zur oberen Mitte und von oben zur unteren Mitte. Die Anordnung der Bildelemente erinnert an den unkontrollierten, willkürlichen Prozess des ‚Salzsehens‘ des Protagonisten. Links oben schaut ein Junge herab. Die Linien, die auf den Elementen rechts neben dem Jungen zu sehen sind, verweisen mit ihrer geraden vertikalen Linienführung ebenfalls auf die Sicht das Jungen. Der Junge stellt den Protagonisten dar und verbildlicht den Zweck des ‚Salz-in-die-Augen-Streuens‘: „Die Aufgabe der Salzkörner ist es, meine Tränendrüsen zu reizen, […] mit den Tränen löse

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ich sie auf.“ (K 15) „Sie“, die festen Formen, werden nun nicht nur beim Protagonisten durch das ‚Salzsehen‘, sondern auch innerhalb des Textes und im Bild durch die Technik der Collage aufgelöst. So, wie die festen Formen der Sprache aufgelöst werden, werden die Originalbilder, aus denen die Collage zusammengesetzt wurde, aus dem ursprünglichen Kontext getrennt, sodass etwas Neues entsteht oder überhaupt erst entstehen kann. Auch die durch das ‚Salzsehen‘ bereits entstandenen Bilder verwandeln sich ständig, was in der Collage durch das Nebeneinander der einzelnen Bildelemente umgesetzt wird. „Die Figuren […] verwandelten sich […] unaufhörlich, glichen Gewächsen.“ (K 16) Die Umsetzung von Sprache in ein Bild verlangt eine unbedingte Festlegung auf einen Aspekt, auch wenn der Text keine genaue Vorgabe leistet: „Zuerst unterschied ich eine Rundung, ähnlich einer […] gläsernen Kugel. […] Diese Kugel konnte eine Lampe sein.“ (K 16) Während es im Text offenbleibt, ob es tatsächlich eine „Lampe“ ist, die der Protagonist sieht, erfordert das Medium Bild eine Festlegung. Weiss entscheidet sich, die „gläserne Kugel“ als Glühbirne zu zeigen, die an einer Fassung hängt, und so in der Collage zu fixieren, dass sie die Collage von oben gewissermaßen beleuchtet, analog zur Beschreibung im Text: „von oben herab“ (K 16). Die Verortung am oberen Rand der Collage unterstützt die Sicht auf die Collage in Analogie zu der Sicht des Jungen. Die Glühbirne wird im Bild räumlich eingeordnet, entsprechend der weiteren sprachlichen Beschreibung des Vorganges: „Rings um die Kugel fügten sich jetzt farbige Bänder […]. Das Gebilde strahlte […] vor dem schwarzen Hintergrund, aus dem jetzt neue Einzelheiten hervortraten.“ (K 16) Ein markanter Unterschied zwischen Prätext und der ‚Collage IV‘ ist die Farbgebung: Während das ‚erdachte Bild‘ des Ich-Erzählers „in seinem regenbogenhaften Glanz [strahlte]“ (K 16) und „zuweilen ins Grüne, zuweilen ins Gelbe oder Blaue [wechselte]“ (K 16), mit „[v]iolett und rosa gesprenkelten Flächen“ (K 16), ist die Collage vorrangig schwarz-weiß mit vier gelblichen Fragmenten. Nicht nur die ‚Collage IV‘, sondern fast alle und besonders die Collagen ‚II‘, ‚V‘ und ‚c‘ weisen trotz nachträglicher Anfertigung überraschenderweise die „jähen Anflüge völliger Schwärze“ (K 16) auf, die in den ‚Satz-Bildern‘ des Ich-Erzählers bereits „in den ersten Andeutungen“ (K 16) entstehen. Vor diesen schwarzen Flächen, auf diesem schwarzen Hintergrund entwickelt sich dann das fertige Bild mit den einzelnen Segmenten. Die ‚Landschaften‘ und Naturdarstellungen ergeben in ihrem Nebeneinander als Gesamtbild surrealistische Landschaften. Die einzelnen Landschaften an sich – Baumstämme in auffällig gleichförmiger Reihung, eine Seenlandschaft mit Seerosen, diversen kleinen Kranichen und einer hoch bewachsenen Insel im Hintergrund sowie auf einem liegenden Baumstamm wurzelnde Bäume in ebenfalls

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sehr symmetrischer Anordnung – sind auf den Fragmenten klar zu erkennen und wirken weder verzerrt noch surreal. Die drei Landschaftselemente erscheinen viel detailreicher und genauer, als es die sprachliche Vorlage vorgibt, denn da heißt es: „[…] die Gesamtheit eines Raums war jedoch nicht zu erkennen.“ (K 16) Die Collage an sich zeigt natürlich keinen zusammenhängenden, homogen gestalteten Raum – das will sie auch gar nicht. Jedes einzelne Natur-Fragment hingegen zeigt eine real wirkende Landschaft, die durch ihr Motiv, die schwarzweiße Farbgebung und die typische Struktur eines Holzstiches sehr ruhig wirkt. Die Fragmente deuten auf die Ruhe der Natur und demzufolge auf Gelassenheit und innere Ruhe hin. Denn der Ich-Erzähler begehrt diese innere Ruhe, um in dem unruhigen, verworrenen Miteinander im Hause der Haushälterin, das sich auch durch die sprachliche Gestaltung der Erzählung spiegelt, zumindest „in diesen zehn Minuten, höchstens eine Viertelstunde“ (K 16) Gelassenheit zu erlangen. Er kann beim ‚Salzsehen‘ der Realität entfliehen, zumal er beim Zusammentreffen mit den anderen Bewohnern des Hauses geradezu zwanghaft jeden einzelnen beobachtet und akribisch beschreibt, als sei es ein unabdingbares Muss für ihn, vor dem er sich nicht schützen kann: „Ich konnte die Kraft nicht aufbringen, noch einmal zu beschreiben […], sondern legte mich […] auf mein Bett, streute mir ein paar Salzkörner in die Augen und sah, nach einem kurzen verschwommenen Stadium, ein Bild vor mir, […] es war, als bewege ich mich auf […] einer breiten, asfaltierten Straße; […] längs der Landstraße Elche oder Hirsche, gewaltige Tiere, paarweise in der Begattung liegen.“ (K 34)

Diese Textstelle führt den Rezipienten an eine weitere Collage zu dieser Thematik heran. Die ‚Collage II‘ verbildlicht das ‚Salzsehen‘ mit mehr Fragmenten und mit wiederholten Darstellungen von Strahlen, Prismen und geometrischen Figuren als im Vergleich zur ‚Collage IV‘. ‚Collage II‘: Strahlen, Kreise, geometrische Figuren Die ‚Collage II‘ wird im Tausenddruck als vierte Collage abgebildet.39 Sie besteht aus insgesamt 14 unterschiedlich großen, rechteckigen Fragmenten und ist, wie auch die ‚Collage IV‘, insgesamt auffallend flächig und formal wie inhaltlich stark heterogen gestaltet. Das Bild besteht aus neun schwarz-weißen Fragmenten und fünf gelblich getönten Elementen. Weitere Farbkontraste ergeben sich durch die gleichmäßige Aufteilung der schwarz-weißen Elemente in fünf eher dunkle Elemente sowie fünf hellere Fragmente. Alle Fragmente der Collage

39 Weiss, Der Schatten des Körpers des Kutschers, Tausenddruck 3, S. 45.

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sind nahtlos aneinandergeklebt, und obwohl kein klassisches Kompositionsschema beispielsweise mit einem Vorder-, Mittel- und Hintergrund offensichtlich wird, wirkt die Collage in ihrer Gesamtanordnung insgesamt harmonisch und ausgewogen. Das ist auf die ausgeglichene Farb- und Flächenverteilung und die ausgewogenen Proportionen von Bildformat und Anordnung zurückzuführen. Durch die Heterogenität in Machart und Bildinhalten der einzelnen Fragmente wirkt die Collage als Gesamtbild zweidimensional, während einzelne Fragmente durchaus dreidimensionale Motive zeigen. Abbildung 2: ‚Collage II‘, 1959

Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: HZ 3386.4 „[Ich] überblickte […] noch einmal, noch klarer als zuvor, die um mich liegenden […] Bestandteile der Landschaft; […] ich sah das kristallene Glitzern von Sandkörnern auf der Erde […].“ (K 32)

Text und Collage bei ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ | 101

Vier Fragmente, die links mittig zusammenhängend platziert wurden, zeigen geometrische Figuren und Formen. Zwei Elemente dieser Vierergruppe sind eher räumlich perspektivisch und wurden Richtung Bildmitte platziert, die beiden anderen zeigen flächige, geradlinige Strukturen und wurden am linken äußeren Bildrand arrangiert. Besonders auffällig ist trotz der geringen Größe ein Fragment in der linken unteren Bildecke, das ein Tier in einem Bild zeigt, das ansonsten von geometrischen Formen und anorganischen Materialien dominiert wird.40 Wie auch im Text beschrieben wird, dass der Ich-Erzähler „[d]urch die halboffene Tür […] den lehmigen, aufgestampften Weg und die morschen Bretter um den Schweinekofen [sieht]“ und „[d]er Rüssel des Schweins […] in der breiten Fuge [schnuppert], wenn er nicht schnaufend und grunzend im Schlamm wühlt“ (K 9), so wird auch das Tier in der Collage abgebildet: Das Tier wühlt mit seinem „Rüssel“ auf dem Boden, vielleicht auch „im Schlamm“ herum. Hier wird ein Detail aus der Realität des Ich-Erzählers in die Darstellung des ‚erdachten Bildes‘ aufgenommen: Der „Mikroroman“ beginnt mit dem Bericht über den Blick des IchErzählers aus dem Abort hinaus auf das Schwein. Und „über das deutlich in meine Netzhaut eingeätzte Abbild“ (K 15) der Realität legen sich die imaginierten ‚Satz-Bilder‘, und zwar analog zu der Art und Weise, wie in dieser Collage alle weiteren Fragmente zu dem Schwein-Fragment arrangiert werden. Am rechten Bildrand fällt ein anderes Fragment auf, auf dem eine Hand einen Griffel hält. Dies ist das einzige Fragment mit der Abbildung eines menschlichen Körperteils. Die Hand ist auf einen Hintergrund geklebt, der mit seinen zwei kreisähnlich verlaufenden und miteinander verbundenen Strichelchen an das typische Muster erinnert, welches entsteht, wenn man Magnetstrahlung durch Metallspäne sichtbar macht. Die Hand befindet sich exakt zwischen den beiden Kreisen und bezieht sich sowohl generell auf das (Be-)Schreiben des IchErzählers, auf die „Niederschrift meiner Beobachtungen“ (K 10), als auch auf die Bedeutung der „schreibenden Hand“ (K 11). Der Ich-Erzähler weist seiner Hand bereits in der ersten Szene des Textes eine grundlegende Eigenständigkeit zu: „Ich schiebe den linken Fuß vor, auf das rechte Bein stütze ich den Arm mit der schreibenden Hand, und stoße die Tür etwas weiter auf.“ (K 11) Die „schreibende Hand“ agiert selbstständig, was analog ist zum zwanghaften Protokollieren und der damit einhergehenden pathologischen „Selbstvergessenheit“ (K 10) des Ich-Erzählers.41 Darüber hinaus gilt das Zeichnen von Händen als erste Fin-

40 Vgl. die folgenden Ausführungen: Ein weiteres Fragment zeigt eine menschliche Hand. 41 Siehe Kapitel 3.1 ‚Einführende Text- und Bildbeschreibungen‘, S. 79ff.

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gerübung von Mal- und Zeichenschülern und ist vergleichbar mit dem Künstler und Autor Peter Weiss, dessen „Mikroroman“ ein erster „Versuc[h] des Schreibens“ (K 15) auf Deutsch ist. Keines der insgesamt 14 Fragmente bildet eine eindeutige Bildmitte. Relativ zentral angeordnet ist die Darstellung eines geometrisch geformten Körpers, der eine weitere Nahaufnahme zu sein scheint, die wie eine Vergrößerung eines Kristalls aussieht. Weiss nimmt hier die schriftlichen Aufzeichnungen des IchErzählers, dargestellt durch die einen Stift haltende, „schreibende“ Hand, sowie den Prozess des ‚Salzsehens‘ genau ‚unter die Lupe‘: „[…] die Figuren […] glichen Gewächsen, Mineralen, Skulpturen, Kristallen“ (K 16); er arrangiert neben dem Hand-Element ein Element in diese Collage, das stark an die vergrößerte Darstellung eines Salzkristalls erinnert, was das Salz meint, das sich der IchErzähler in die Augen streut. Mehrere weitere Textstellen beziehen sich auf das Element mit den vergrößerten kristallinen Strukturen. So beobachtet der Protagonist im siebten Abschnitt Herrn Schnee und den Sohn beim Steine Sammeln (vgl. K 31-34). Dabei „überblickte ich noch einmal, noch klarer als zuvor, die um mich liegenden […] Bestandteile der Landschaft; […] ich sah das kristallene Glitzern von Sandkörnern auf der Erde […].“ (K 32) Es ist nur wahrscheinlich, dass auch dieses „kristallene Glitzern“ bildlich aufgenommen wurde, obwohl eine Vergrößerung von „Sandkörnern“ eher rundliche Strukturen abbilden würde, handelt es sich bei dieser Stelle doch ebenfalls um eine Thematisierung von und einen bildlichen Verweis auf das akribische, mikroskopisch genaue Beobachten und Beschreiben des Ich-Erzählers. Ein weiteres Element verdeutlicht das mikroskopisch genaue Beobachten des Protagonisten: In der linken oberen Bildecke sieht man auf einem relativ großen Fragment zwei übereinandergelegte Kreise. Der innere Kreis, der auf den äußeren geklebt wurde, zeigt eine mikroskopische Aufnahme von unterschiedlichen Bakterien und/oder Einzellern. Die Kleinstlebewesen haben längliche, stabähnliche und runde Formen. Der äußere Kreis zeigt weiß-graue, länglich flächige Strukturen. Der Hintergrund, auf den die Kreise geklebt wurden, ist fast vollständig schwarz. Im ersten Abschnitt (K 9-12, hier 12) beschreibt der Ich-Erzähler das erste Mal, wie Herr Schnee Steine sammelt, und konzentriert sich auch auf „[d]ie Erde um das Haus“ (K 12): „[…] hier und da liegen Steine, größere und kleinere, manche als lockeres Geröll, manche mit einer weißlichen Rundung oder Kante aus dem Boden ragend, manche zu kleinen Pyramiden gehäuft, manche reihenweise aneinandergelegt, nach Form und Umfang geordnet.“ (K 12) Das obere rechte Fragment der hier benannten Vierergruppe zeigt eine Anhäufung „zu kleinen Pyramiden“, die „aus dem Boden ragen“.

Text und Collage bei ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ | 103

Die Formulierung von Steinen, von denen „manche reihenweise aneinandergelegt [sind], nach Form und Umfang geordnet“, beschreibt sehr gut die beiden linken Elemente der Vierergruppe. Beide Elemente weisen ganz ähnliche, geradlinig und vertikal verlaufende Streifen auf, die regelmäßig von kurzen horizontalen Strichen unterbrochen werden. Dadurch, dass die Streifen des oberen Fragments schwarz sind und mit weißen Strichen unterbrochen werden, während die des unteren weiß sind und von grau-schwarzen Strichen unterbrochen werden, wirkt das eine wie das farbliche Pendant oder Negativ des anderen. Die beiden Fragmente erinnern den Betrachter von heute an die Darstellung von DANNSequenzen, was natürlich zeitlich unmöglich ist. Dennoch lässt sich ein großer Motivbereich feststellen: die Naturwissenschaften mit den Teildisziplinen Biologie, Physik und Geowissenschaften. Darüber hinaus erinnert dieses Element an die schematische Darstellung einer Sonne, was mit dem wiederum links davon geklebten Element korreliert, zeigt dieses doch das Sternenbild des Zwillings mit den Sternen Castor und Pollux. In einer anderen Szene zeigt Herr Schnee einige seiner Steine, die er „aus der einen Tasche seines Hausrocks [nimmt].“ (K 23) Er zeigt die Steine auf seiner Handfläche herum und „mit Schnees eigenem Blick sammeln sich die Blicklinien zu einem Strahlenbündel auf den Steinen […].“ (K 23) Unter dem KristallFragment in der ‚Collage II‘ befindet sich ein Element, auf dem Strahlen zu sehen sind, die an eine schematische Darstellung einer am Horizont auf- oder untergehenden Sonne denken lassen. Die „Blicklinien“ erscheinen analog zu der Richtung der Strahlen des Sonnen-Fragments, die wiederum die „Strahlenbündel“ meinen. Die „Steine“ werden durch das Kristall-Element dargestellt. Ebenso kann ein anderes Fragment die „Blicklinien zu einem Strahlenbündel auf den Steinen“ darstellen, nämlich das zweite Fragment von rechts in der Fragmentreihe ganz unten. Dieses Element schließt sich nur in seiner linken oberen Spitze an besagte Vierergruppe an, weist aber, ebenso wie das Sonnen-Fragment, die Darstellung eines „Strahlenbündel[s]“ auf, das seinen Endpunkt in einer Kugel hat, die durchaus als „Stein“ gesehen werden kann. Diese Vierergruppe bezieht sich folglich auf mehrere Textstellen, die allesamt das ‚Salzsehen‘ des Protagonisten sowie seine akribischen Beobachtungen und Beschreibungen zum Thema haben. Und die Vierergruppe wurde ebenfalls „nach Form und Umfang geordnet“, ganz so, wie auch Herr Schnee seine Steine sortiert und der Ich-Erzähler versucht, seine Beschreibungen und mithin seine Gedanken zu ordnen. Zwei Fragmente passen auf den ersten Blick inhaltlich nicht zu den Elementen, die das ‚Salzsehen‘ thematisieren. Ein Element zeigt einen Weg, der, beleuchtet von auseinanderlaufenden Lichtstrahlen, in das Element hineinführt.

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Ausgangspunkt dieser Strahlen ist ein Anwesen am Ende des Weges. Im Kontext der übergeordneten Themenstellung dieser Collage lässt sich die Beleuchtung des Weges durch Strahlen dahingehend verstehen, dass das ‚Salzsehen‘ den einzig möglichen und zugleich richtigen Weg zur Realitätsflucht für den IchErzähler bedeutet, die Flucht in ein anderes Dasein. Um diese Annahme zu unterstützen, können zwei Fragmente hinzugezogen werden, die sich unmittelbarer an das Weg-Fragment anschließen. Eines ist unterhalb des Weg-Fragments und wurde zuvor als mögliche „Blicklinien zu einem Strahlenbündel auf den Steinen“ interpretiert. Es zeigt sechs aus winzigen Punkten bestehende Strahlen, die, angenommen, sie kommen aus einem gemeinsamen Punkt heraus, den Weg darüber verlängern und ihm optisch einen Ursprung geben. Hier wird erneut der Prozess thematisiert, den Weiss schon in der ‚Collage II‘ mit dem doppelten Frauenportrait darstellt. Die beim ‚Salzsehen‘ zunächst verschwommenen Bilder entwickeln sich während des Prozesses in deutlichere Bilder mit zum Teil konkreten Ausgestaltungen: Aus den sich auffächernden abstrakten Strahlen entwickeln sich eine tatsächliche Landschaft und ein Weg, der den Verlauf der abstrakten Strahlen zu spiegeln scheint. Auf dem Fragment links neben dem WegFragment sind abermals Strahlen zu sehen, die von einem Halbkreis aus nach links, rechts und nach oben gehen. Dieses Fragment unterstreicht die Lesart des Weg-Fragmentes als sozusagen erleuchteter und erleuchtender Weg aus der Realität hinaus, hinein in die Welt der erdachten Bilder. Andererseits erinnert dieses Element, wie beschrieben, an die schematische Darstellung einer Sonne, was mit dem wiederum links davon geklebten Element zusammenpasst, das das Sternenbild zeigt. Auch das Gleiten des Ich-Erzählers „in das Bild hinein“ korreliert auf den ersten Blick mit der bildlichen Darstellung der bereits oben zitierten „Straße“ (K 34), die den Protagonisten in seine Halluzination hineinführt: „[E]s war, als säße ich, bequem zurückgelehnt, in einem Automobil, einem Omnibus […].“ (K 34) Zur Erklärung heißt es in der Textvorlage weiter: „[…] das Fahrzeug war nicht zu sehen, es bestand nur aus einem Gefühl des Fahrens, des Dahingleitens […].“ (K 34) Ohne Vorlage des Textes würde der Betrachter der Collage nicht auf die Idee kommen, dass der Erzähler ein „Gefühl des Fahrens“ verspürt. Bildlich lässt sich das nicht zeigen, da das Auto auch „nicht zu sehen“ ist – nicht für den IchErzähler und somit auch nicht für den Betrachter der Collage. Zwischenfazit Die ‚Collage VI‘ ist eine bildliche Entsprechung der vom Ich-Erzähler erdachten und „über die Realität“ (K 15) projizierten ‚Salz-Bilder‘. Ihre Besonderheit liegt darin, dass der Prozess des ‚Salzsehens‘ im Bild gemeint ist und dargestellt wird.

Text und Collage bei ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ | 105

Er wird aber nicht ‚einfach‘ illustriert. Die Entschlüsselung, dass genau dieser Prozess gemeint ist, gelingt dem Rezipienten erst nach einem mehrteiligen Verfahren: Zunächst müssen der Prätext analysiert und die zitierten Textstellen aufgefunden werden. Dann können diese sukzessive den einzelnen Fragmenten zugeordnet werden. Basierend auf den Textanalysen zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ gelingt eine Deutung des Bildes im Zusammenspiel mit den textuellen Vorgaben. Deutlich wird, dass sich Weiss mehrfach auf eine bildliche Entsprechung festlegen muss, da der Prätext nicht immer klare Vorgaben macht. Dies ist bei der ‚Collage VI‘ dem Prozess des ‚Salzsehens‘ geschuldet, der undeutliche, willkürliche Formen hervorruft. In der ‚Collage II‘ geht es beispielsweise um die nicht umsetzbare Darstellung des „Gefühl[s] des Fahrens“. Beide Collagen beziehen sich auf den Ich-Erzähler. Besonders ‚Collage VI‘ als erste Collage ermöglicht dem Rezipienten, sich grundsätzlich mit dem IchErzähler und den sprachlichen Besonderheiten des Textes zu beschäftigen. Die ‚Collage II‘ bietet diese Möglichkeit ebenfalls, wird aber ergänzt durch die stärkere Fokussierung auf das zwanghafte Niederschreiben und durch die Einbindung weiterer Figuren (der Sohn, Herr Schnee). Die Textstellen, auf die sich die Collagen beziehen, sind recht leicht zu identifizieren und – trotz der beschriebenen sprachlichen Ungenauigkeiten an manchen Stellen – präzise.42 Die Anbindung ist nachweisbar und sicher. Die enge Anbindung der Collagen an den Prätext wird während der gesamten Untersuchung deutlich. In beiden Collagen wird inhaltlich und formal ins Bild transformiert: der IchErzähler in seiner Umgebung, seine Realitätsflucht in die ‚erdachten Bilder‘, seine Auseinandersetzung mit der Welt in all ihren (kleinsten) Bestandteilen und seine eigene Position in der Gesellschaft und unter den Bewohnern des Gutes als „Repräsentanten einer bürgerlichen Gesellschaft“. Zudem wurde deutlich, dass die Fragmente einem sehr breit gefächerten Motivkreis entstammen, nämlich den naturwissenschaftlichen Disziplinen der Physik (Magnetfelder), der Biologie (Bakterien oder Kleinstlebewesen), den Geowissenschaften (Geologie/Petrologie [Wissenschaft von den Gesteinen]/Mineralogie/Kristallographie) und der Astronomie (Sternbild) sowie Landschafts- (Weg), Mensch- (Hand) und Tierdarstel-

42 Regula Bigler sieht diese Anbindung der ‚Collage II‘ nicht. Vielmehr beschreibt sie „die dargestellten Elemente als […] abstrakt. Mäandernde Linien, geometrische Formen oder schattenwerfende Punkte deuten Bildzusammenhänge höchstens noch an, ohne sie anschaulich zu machen. Das Bild löst sich in ikonisches Material auf.“ (PWJ 24 93) seien.

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lungen (Schwein). Weiss eröffnet mit der vielfältigen Auswahl der Motive eine große Überschau: Von diesen ganz großen, übergeordneten Disziplinen geht es bis hin zum ganz kleinteiligen, strukturellen Aufbau kleinster Bausteine und Lebewesen (Bakterien/Einzeller, DNA, kristalline Strukturen). Dies zeigt, dass Weiss mit dieser Collagereihe eine Gesamtschau mit den Collagen herstellt, die über die reine Transformation formaler, syntaktischer und narrativer Strukturen und semantische Übertragungen in bildliche Entsprechungen hinausgeht. Die Machart der Collagen selbst kann als symbolische Form verstanden werden, die das Zusammengefügtsein der Welt und der Gesellschaft darstellt.43 3.2.2 Figuren, Körper und Vertreter einer Gesellschaft ‚Collage III‘: Ein Familienbild Die ‚Collage III‘ wird im Tausenddruck als drittes Bild abgedruckt.44 Sie besteht aus acht Elementen. Links oben sieht man seitlich ein Bett, in dem, starr ausgestreckt, ein Mann liegt. Er ist bis zum Hals zugedeckt und der Kopf ruht, mit Blick an die Decke, auf einem Kissen. Rechts daneben ist eine Frau drei Mal abgebildet: In der linken Darstellung hält sie einen nackten Säugling vor sich auf Höhe des Unterleibes. Auf dem zweiten Bild rechts daneben hält die Frau das Baby mit nach oben ausgestreckten Armen in die Höhe und wieder daneben hält sie den Säugling erneut nach unten, diesmal mit gebücktem Rücken, sodass das Kind etwa auf Kniehöhe ist. Diese dreifache Darstellung der Frau scheint als ein einziges Fragment ausgeschnitten worden zu sein. Es gibt auch hier kein zentrales Fragment, das als Bildmitte fungiert. Die acht Fragmente der Collage sind alle von verschiedener Größe, aber fast symmetrisch arrangiert: Vier Elemente sind auf der rechten Bildseite ordentlich und nahezu von gleicher Größe untereinander platziert, und vier Elemente befinden sich in einer beinahe exakten, senkrechten Anordnung auf der linken Bildseite, sodass die einzelnen Teile aufeinander aufzubauen scheinen. Eine Ausnahme in dieser Anordnung bildet das unterste Element. Dieses ist von seinem ‚Gegen-

43 Grundsätzliches zur symbolischen Form bei: Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache. Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz. Hamburg 2010 (1923); ebd.: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Hamburg 2010 (1925); ebd.: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis. Text und Anmerkungen bearbeitet von Julia Clemens. Hamburg 2010 (1923). 44 Weiss, Der Schatten des Körpers des Kutschers, Tausenddruck 3, S. 33.

Text und Collage bei ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ | 107

stück‘ auf der rechten Seite nicht deutlich visuell und auch inhaltlich nicht klar getrennt. Abbildung 3: ‚Collage III‘, 1959

Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: HZ 3386.3 „[A]uf meinem Bett liegend […] wieder […] das Poltern, Schlagen und Schreien.“ (K 26) „Die Mutter hatte den Säugling […] auf die Bettdecke abgelegt […].“ (K 28)

Das unterste Element bildet auf diese Weise die Basis der Collage, die auch das zentrale Thema des Bildes, die Familie, unterstreicht. Denn die ‚Collage III‘ stellt ein Bild der Familie dar, die auf dem Gut wohnt, und referiert konkret auf eine Szene aus dem fünften Abschnitt. In diesem Abschnitt beschreibt der IchErzähler, dass er die Unruhe hört, die die Familie während eines Streits auslöst.

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Der Vater verprügelt (erneut) seinen Sohn, während die Mutter auf den Sohn einschreit und sich zugleich um den Säugling kümmert. Der Vater erleidet, während er seinen Sohn prügelt, einen Herzanfall. Der Ich-Erzähler hilft der Mutter, als diese laut um Hilfe ruft, sich um den Vater zu kümmern, der sich kurz drauf wieder erholt. Sowohl links als auch rechts ist ein Säugling in ähnlicher Haltung zu sehen. Das Baby auf der linken Seite ist noch über die Nabelschnur mit dem Uterus der Mutter verbunden und hat die Haltung eines Fötus. Rechts liegt der Säugling anscheinend kurz nach seiner Geburt auf einer weichen Unterlage, im Gesicht einen zufriedenen Ausdruck. Eine Schere schwebt über der Nabelschnur, die sich bereits zwischen den beiden Scherenblättern befindet. Die Nabelschnur ist kurz davor, durch die von unsichtbarer Hand geführte Schere durchtrennt zu werden. Der rechte Bildbereich passt zu einer Textstelle, in der es heißt: „Die Mutter hatte den Säugling […] auf die Bettdecke abgelegt […].“ (K 28) Die doppelte Darstellung eines Säuglings und eines weit entwickelten Fötus verweist auf die Stellung des jüngeren Kindes innerhalb der Familie. Der Erstgeborene steht in der Hierarchie klar unter dem Zweitgeborenen. Die in dem Fragment dargestellte Entwicklung vom Fötus hin zum Neugeborenen entspricht der Richtung des Lesens von links nach rechts. Der Uterus ist relativ mittig im Element abgebildet und ist so die ungefähre Bildmitte dieses Basisfragments. Die Gebärmutter scheint aufgrund der detaillierten Darstellung – selbst Salpinx und Ovar und gar die verästelten Blutgefäße der Plazenta innerhalb des Uterus sind zu erkennen – einem medizinischen Fachbuch des letzten Jahrhunderts entnommen zu sein. Ebenfalls aus dieser Quelle kann das Fragment stammen, das eine weibliche Brust im Querschnitt zeigt. So, wie die Struktur der weiblichen Brust und die Entwicklung von Un- und Neugeborenen in diesen Büchern untersucht werden, untersucht Weiss in dieser Collage die Anatomie der Familienstrukturen. Das zweite Element von links oben ist das größte aller Bildteile und zeigt passenderweise eine im Vergleich zu den anderen Bildinhalten der einzelnen Fragmente überproportional große Brust. Der Querschnitt gibt die Sicht frei auf zwei Milchgänge, die sich im Innern der Brust in die diversen Brustdrüsen verzweigen. Dort sind auch die einzelnen Alveolen detailliert zu erkennen. Im Querschnitt der Brustwarze sind die Ansätze weiterer Milchgänge erkennbar, die aus Gründen der übersichtlichen, schematischen Darstellung nicht weitergeführt wurden. Zwischen diesen Elementen und dem Basis-Element befindet sich die Darstellung zweier Personen. Eine Frau, von hinten abgebildet, lehnt ihren Kopf an die Schulter eines Mannes. Die Frau hat die Haare hochgesteckt und trägt ein Oberteil, das am Rücken leichte Falten wirft. Der Mann hält sich seine rechte Hand vor das Gesicht und vor die Augen, sein rechtes Auge bleibt aber für den

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Betrachter der Collage noch zu erkennen. Die Frau ist bis unterhalb der Schulterblätter abgebildet, der Mann ist so weit von der vor ihm stehenden Frau verdeckt, dass alles unterhalb seiner oberen Schulterpartie nicht zu sehen ist. Dieses Fragment ist das einzige schwarz-weiße Element und ein wenig dunkler als alle übrigen Elemente, aus denen die ‚Collage III‘ zusammengesetzt ist. Durch diesen Farbkontrast fällt das Element dem Betrachter besonders auf. Die strichartige Machart des ursprünglichen Bildes, die erkennen lässt, dass es sich bei der von Weiss verwendeten Originalvorlage um einen Holzstich handelt, lässt das Element dunkler erschienen als die übrigen Fragmente der Collage. Diese Akzentuierung durch einen Hell-Dunkel-Kontrast betont auch das Thema ‚Familie‘. Der Mann und die Frau meinen den Vater und die Mutter aus ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘. Folglich verdeutlicht dieses wichtige Element den Zusammenhalt der Eltern gegenüber dem als ungehorsam wahrgenommenen Sohn. Keine Textstelle beschreibt diese diesen Zusammenhalt, die Bedeutung muss gänzlich dem Kontext des gesamten Textes und der hier im Bild zitierten Szene sowie dem Thema und den einzelnen Motiven der Collage entnommen werden. Die Platzierung der beiden Personen zwischen der Brustdarstellung und dem Fötus lässt neben der Deutung, dass die Vereinigung von Mann und Frau ein Kind hervorbringt, auch die Interpretation zu, dass die Eltern sich vereint zeigen gegen den älteren Sohn. Während der Säugling und die Eltern auf der linken Bildseite vergleichsweise konkret dargestellt werden, werden Sohn und Ich-Erzähler auf der rechten Seite symbolisch thematisiert. Der Sohn wird dargestellt durch das ‚baumelnde‘ Kind im obersten Element. So wird bildlich die gewaltsame Erziehung und Züchtigung des Sohnes dargestellt. Zugleich ‚steht‘ das Kind zwischen den Personen wie ‚zwischen den Stühlen‘, ähnlich der Mutter, die zwischen ihrem Ehemann und dem Sohn steht. Erst schreit sie ihren Sohn an (vgl. K 26), später hingegen redet sie ihm gut zu (vgl. K 27). Es ist aber auch möglich, die dreifache Frauendarstellung als die mit dem Säugling spielende Mutter zu interpretieren. Eine eindeutige Zuweisung kann hier nicht getroffen werden. Auf dem Fragment unter dem Dreifach-Element ist ein Bett zu sehen. Das Ende des Bettes markieren hohe, längs gesetzte Metallstreben mit einer waagerechten Strebe obenauf als Abschluss. Eine Tagesdecke ist zur Hälfte zurückgeschlagen und gibt am Fußende den Blick frei auf die Unterlage, die nicht eindeutig als Matratze oder als Lattenrost identifiziert werden kann. Oben am Kopfende des Bettes schauen zwei Kissen unter der Tagesdecke heraus. Die Bettseiten ziert ein umlaufender, geraffter Stoff. Im Text kommt ein Bett mehrere Male vor. Der Ich-Erzähler hört „auf meinem Bett liegend […] wieder […] das Poltern, Schlagen und Schreien“ (K 26).

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Sogleich ordnet der Erzähler die bereits altbekannten Geräusche der Familie zu: „Da ich diese Unruhe von anderen Abenden her kannte wußte ich, daß sie aus dem Zimmer der Familie kam […].“ (K 26) In seiner Unfähigkeit zu handeln und seiner Unschlüssigkeit einzugreifen gefangen, bleibt der Erzähler erst noch im Bett liegen und streut sich Salz in die Augen. Als der Erzähler doch zum Zimmer der Familie geht, schaut er durch das „Schlüsselloch“ (K 26) des Raumes. Die immer gleichartig rechteckigen Formen der einzelnen Fragmente der ‚Collage III‘ simulieren hier den eckigen Ausschnitt, der sich bei dem Blick durch das Schlüsselloch ergibt. Auch die Mutter sitzt auf einem Bett in der hier herangezogenen Szene. Auf diesem Bett liegt auch der Vater nach seinem Zusammenbruch. Das Bett wird im Text meist nur in der genannten Szene thematisiert, sodass nicht abschließend zu klären ist, welches Bett genau gemeint ist. Wahrscheinlicher als die Darstellung des Bettes des Erzählers (der sich im Bild vielleicht während des ‚Erdenkens von Salz-Bildern‘ als im Bett liegende und von der Familie dabei gestörte Figur oben links finden lässt) ist die Darstellung des Bettes im Zimmer der Familie, denn dort spielt sich das für diese Collage relevante Geschehen ab. Für diese Annahme spricht auch, dass in der rechten Bildhälfte vorrangig der Sohn thematisiert wird, der nach der Jagd des Vaters letztlich in Büßerhaltung vor dem im Bett liegenden Vater kniet. Über dem in der Collage auf der rechten Seite gezeigten Bett schwebt ein Keuschheitsgürtel. Dieser steht für die Machtlosigkeit des Sohnes ob der Gewalttätigkeit seines Vaters. Der Keuschheitsgürtel impliziert den Aspekt der Kastrationsangst und betont damit die übermächtige Vaterinstanz, wohingegen die überdimensionierte Brust im Querschnitt die Mutterinstanz in den Vordergrund stellt.45 Auffällig im Zusammenhang mit der Vater-Sohn-Konstellation ist die Verortung und Zuweisung von oben und unten. Im Raum ist der Vater oberhalb, der Sohn unten und der Vater muss den Sohn zu sich herabziehen. Der Sohn hat hochgezogene Schultern und senkt seinen Kopf, um den Schlägen des Vaters auszuweichen. Nach dem Zusammenbruch des Vaters geht der Sohn „gebückt zum Bett“, und das „schleichend“, um danach kniend „vor dem Bett des Vaters“ (K 29) zu beten. Diese Stelle verdeutlicht eindeutig die Unterwürfigkeit des Sohnes gegenüber dem Vater. Der Sohn ist gezwungen, sich zu erniedrigen und zu seinem ihn schlagenden Vater hochzublicken. Selbst als der Vater liegt – wie die im Bett ausgestreckte Figur links oben –, sich also in einer eigentlich niedrigeren Position befindet, „kniet“ sich der Sohn noch davor, unterwirft sich also auch dann noch. Das Baby hingegen hat einen

45 Siehe auch Alf Gerlach: Kastration. In: Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. Hg. von Wolfgang Mertens/Bruno Waldvogel. Stuttgart 32008, S. 381-384.

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höheren Rang als der Sohn: So liegt der „Säugling […] nicht mehr zappelnd […] über seinem [der Vater; H. K.] Kopf“ (K 29). Dafür spricht wieder die Möglichkeit, dass in der ‚Dreifach-Abbildung‘ die mit dem Säugling spielende Mutter gesehen werden kann. Die acht Fragmente sind nahtlos aneinandergeklebt und im Verhältnis zueinander weniger deutlich abgetrennt als beispielsweise die Fragmente der ‚Collage II‘. Alle Elemente sind, bis auf ein einziges, gelblich bis ockerfarben. Dadurch und durch die Auswahl sehr ähnlicher, thematisch verwandter Motive erscheint diese Collage ein wenig homogener als die übrigen Bilder der ‚Kutscher‘-Reihe. Über die gesamte ‚Collage II‘ erstrecken sich Punkte und Spritzer, wodurch die einzelnen Fragmente optisch noch stärker miteinander verbunden werden. Die Spritzer wurden nach dem Arrangieren aller Fragmente wie als Abschluss auf das Bild gebracht; sie befinden sich in nahezu regelmäßiger Verteilung auf jedem Fragment und besonders an den Schnittstellen. Die Spritzer erscheinen für den Betrachter wie Blut, wie durch die Schläge des Vaters hervorgerufen. Andererseits können sie auch Salzreste darstellen. Durch die Unruhe gestört, sieht der Ich-Erzähler aber diesmal „keine Bilder“ (K 26), die Salzkörner erfüllen ihre Aufgabe diesmal nicht. Das Salz ruft womöglich aber ein Blinzeln beim Erzähler hervor, das ähnlich wie die im Bild nachträglich aufgebrachten Spritzer auf der Netzhaut des Protagonisten ein ‚Flimmern‘ entstehen lässt und so das Bild stellenweise mit „Lichtpünktchen“ (K 15) überlagert. Wahrscheinlich ist hier ein Zusammenspiel aller möglichen Deutungsansätze, die die Spritzer erklären, wobei der Eindruck von Blutspritzern angesichts der brutalen Züchtigung des Sohnes als die wahrscheinlichste gesehen werden kann und in ihrem Schwarz eher als Blut denn als „Lichtpünktchen“ gedeutet werden können. In der ‚Collage III‘ werden einige Aspekte und Details im Bild nicht gezeigt, die im Text aber genannt werden. In der ‚Collage III‘ fehlt so zum Beispiel die Darstellung, wie der Vater den Sohn wiederholt anschreit und ihn grob an der Jacke packt. (vgl. zum Beispiel K 23 und 26f.) Ebenso werden die Schläge des Vaters nicht explizit gezeigt. Anderes ist wiederum nicht im Text zu finden, wie zum Beispiel die Umarmung der Eltern als Zeichen ihres Zusammenhaltes und Verbündetseins gegen den älteren Sohn. Dies muss vom Text her aus dessen Kontext erklärt werden. Auf diese Weise treten Text und Collage in eine interessante wechselseitige Beziehung und ergänzen sich in diesem Zusammenspiel gegenseitig. Was der Text in der Form nicht leistet, übernehmen die Collagen: Sie zeigen Figuren und veranschaulichen, analysieren und charakterisieren sie.

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‚Collage I‘: Zergliedert und Zerschnitten Abbildung 4: ‚Collage I‘, 1959

Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: HZ 3386.2 „[D]er Hauptmann, in einem schwarzen […] altmodisch geschnittenen Gehrock, ebensolchen Hosen, einer grauen Weste […], einem weißen Hemd mit hohem Stehkragen und einer schwarzen […] am Hemd befestigten Krawatte“ (K 17) „[Ü]ber der Lehne hingen ein paar Riemen und ein Gurt mit einer Säbelscheide.“ (K 16)

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Die ‚Collage I‘ wird im Tausenddruck als zweites Bild abgedruckt. 46 Sie besteht aus 23 einzelnen Fragmenten; fünf Elemente sind gelblich bis ockerfarben, die übrigen 18 Elemente sind schwarz-weiß. Die Elemente zeigen hauptsächlich Ausschnitte von Körpern, Gliedmaßen und Gesichtern. Gesichter, Leiber, Kleidung und sonstige Motive sind in sich ausnahmslos realistisch und naturgetreu. Das Fragment im linken oberen Bildbereich, auf dem der Ausschnitt eines Gesichts zu sehen ist, könnte ein Ausschnitt aus Da Vincis gezeichnetem Selbstportrait sein, das etwa 1512 entstand. Die Fragmente an sich und das Gesamtbild wirken sehr dunkel. Helle Kontraste bilden die Abbildungen von Händen und ein Gesichtsausschnitt in der obersten Reihe auf der linken Seite. Es gibt 17 Fragmente, die – unter anderem oder vorrangig – Nahaufnahmen von Händen zeigen. Diese Fragmente sind über das gesamte Bild verteilt, es gibt keine ausschließliche Ansammlung an einer bestimmten Stelle, allerdings lässt sich eine leichte Konzentration um die Bildmitte herum feststellen. Die abgebildeten Hände sind oftmals deutlich heller als die übrigen deutlich dunkleren Fragmente und den jeweiligen Motiven, sodass ein starker Kontrast entsteht. Die Hände werden durch die hellere Farbgebung betont. Die ‚Collage I‘ ist überhaupt ein Sammelsurium menschlicher Körperteile: Zuoberst werden zwei Augen mit Teilen von Wange und Nase abgebildet; ein seitlich gezeigtes Ohr samt Haaransatz wurde zwischen die beiden AugenFragmente montiert; hinzu kommen fünf Beindarstellungen, wovon ein unbekleidetes Bein das eines Liegenden zu sein scheint, während die vier anderen jeweils die mit Hosen bekleideten Beine eines sitzenden Mannes zeigen. Alle Bein-Fragmente wurden in die beiden untersten Fragmentreihen geklebt. Ergänzt wird die Zusammenstellung bestimmter menschlicher Körperteile durch eine Sammlung diverser Waffen: Es gibt drei Säbel auf den Bein-Fragmenten, die jeweils von einer Hand gehalten eine Parallele zum Standbein bilden, einen in der rechten oberen Bildecke von einer Faust umschlossenen, dicken Stock und eine ebenfalls von einer Hand gehaltene Axt im linken Bildbereich. Der Stock ist allerdings nicht nur als Waffe interpretierbar, sondern auch als Wanderstab. Denn im Hintergrund dieses Elements sind Pflanzen zu erkennen, die es möglich machen, dass es sich um die Darstellung eines Wanderers handelt. Vervollständigt wird dieses Gesamtarrangement durch die Abbildung eines reich verzierten Griffs eines Schwertes, gehalten von einer Hand und quer über den Schoß gelegt, eine Nahaufnahme eines ebenso reich verzierten Säbel und

46 Weiss, Der Schatten des Körpers des Kutschers, Tausenddruck 3, S. 27.

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dessen Griffs in einer Scheide, auf der eine Hand abgestützt ist, sowie zwei Fragmente, die jeweils ein Horn abbilden, ebenfalls von Händen festgehalten. Insgesamt wirkt die Collage sehr unruhig, was auf mehrere Ursachen zurückzuführen ist: Zum einen sind alle 23 Fragmente, mit Ausnahme der Hände, sehr dunkel und auffällig stark schraffiert, was eine eigentümliche Gleichförmigkeit entstehen lässt, aber zugleich einen sehr unruhigen, fast hektisch flatterhaften Effekt erzeugt. Des Weiteren zeigt jedes Fragment an sich ein sehr detailliert ausgearbeitetes Motiv. Die auf gleich mehreren Ebenen – Farbgebung, Motiv, Schraffierung, Anordnung – nicht zu stark voneinander getrennten Elemente ermöglichen die Wahrnehmung als Gesamtbild, als ein Objekt; zum anderen wirkt das Bild aber speziell durch die Vielzahl der direkt aneinander arrangierten Fragmente und die Auswahl der Motive unruhig und trotz der geometrischen Reihung beinahe chaotisch. Anscheinend handelt es sich bei dieser Collage um eine Figurendarstellung, die für dieses Bild zerschnitten und neu zusammengefügt wurde. Weiss hat dabei das Bild oder die ursprünglichen Bilder zerstückelt, aber nicht das Motiv an sich in geometrische Formen zerlegt, wie man es zum Beispiel von den Künstlern des Kubismus kennt.47 Durch die so erweiterte Perspektive betont Weiss stark Form und Machart der ‚Collage I‘. Zwar nimmt er selektiv und punktuell Gestaltungsprinzipien der Klassischen Moderne auf – zum Beispiel die geometrischen Formen des Kubismus, manch grundlegendes Prinzip der bildnerischen Gestaltung wie die Einteilung in waagerecht und senkrecht oder hell und dunkel des De Stijl, die Graphik der Maler des Bauhauses, das unbedingte Streben nach Originalität des Futurismus sowie Verfremdungsmechanismen, Darstellung von Unwirklichkeiten und die Collage als typische Form des Surrealismus – er entwickelt aber etwas ganz Eigenes. Der Fokus wird also durch verschiedene Effekte wie die kontrastierende, hell-dunkle Farbgebung, die geometrische Fragmentanordnung und Gleichförmigkeit vs. die unruhige, chaotische Wirkung oder die zerstückelten und puzzleartig neu konstruierten, geometrisierte(n) Figur(en) immer wieder gelenkt auf die Machart der Collage. Weiss provoziert auf diese Weise eine ständige Bewegung des Rezipienten: Man ist sehr bemüht, die offensichtliche Zerstückelung der Figur, die Weiss vorgenommen hat, wieder rückgängig zu machen. Allerdings – und das wird offensichtlich, ohne dass man die einzelnen Fragmente und abgebildeten Körperteile tatsächlich zählen muss – stimmt die Anzahl der Teile mitnichten überein: Es

47 Auch Anja Schnabel bespricht die „Malweise“ des „synthetischen Kubismus“ in ‚Todesvorstellungen und Todesdarstellungen‘, S. 259-308, hier insbesondere S. 278-285 (dies., Todesvorstellungen und Todesdarstellungen, hier S. 280).

Text und Collage bei ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ | 115

sind schlichtweg zu viele Hände und Beine und zu wenig Kopf- und Körperdarstellungen für die restlose, gelingende Wiederherstellung einer oder mehrerer Figuren. Also versucht man in einem nächsten Schritt, mindestens eine weitere Figur zu rekonstruieren. Aber auch das schlägt fehl aufgrund der nicht stimmigen Anzahl der dargestellten menschlichen Körperteile. Letztlich folgt die Erkenntnis, dass der ursprüngliche Zustand nicht auf eine einzige Figur oder vielleicht auch zwei oder mehrere Figuren zurückzuführen ist. Dennoch gibt es eine gewisse Anordnung, die den Menschen in seinem Aufbau zumindest annähernd nachahmt: Augen und Ohr sind oben und in der Mitte, links und rechts davon zwar keine Schultern oder ein Hals, aber immerhin Arme; Beine und Füße werden unten im Bild angeordnet, und das Dazwischen bilden Hände und einige wenige Teilabbildungen von Leibern oder Schößen stehender und sitzender Männer. Es ist also eine zerstückelt dargestellte Figur, die grob dem tatsächlichen Aufbau des Menschen entsprechend, neu zusammengesetzt wurde. Die 23 Fragmente sind wie Teile, die aus unterschiedlichen Puzzles stammen, und es stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob sich überhaupt rekonstruieren lässt, welche und wie viele Figuren dargestellt werden. Und wie lässt sich dann der Fokus auf die Hände durch deren farbliche Akzentuierung und Überzahl in Relation zu anderen Körperteilen erklären? Zur Frage, was die Hände eigentlich tun, kommt man unter Zuhilfenahme des Prätextes zu einer ersten Erklärung. Denn wenn man der logischen Annahme folgt, dass es sich hierbei um eine Figurendarstellung handelt, liegt es nahe, dass eine Figur oder mehrere Figuren aus dem „Mikroroman“ als Vorlage gedient haben. Zunächst ist festzuhalten, dass es sich offensichtlich um männliche Figuren handelt. Die Hände wirken sehr maskulin, sie sind groß, kräftig und wenig zierlich; die Figuren tragen typische Männerkleidung wie Hosen, Männerschuhe und Gehrock, ebenso passen auch die Waffen eher zu der Darstellung männlicher Figuren. Die Gestik der Hände ist überwiegend maskulin, dominant und aktiv agierend. Ein relativ großes Element zeigt zwei aufeinandergelegte Hände, deren Handflächen sich berühren und die Finger sich jeweils um die andere Hand legen. Diese Darstellung erinnert an Dürers ‚Betende Hände‘48, die Haltung drückt Wohlwollen, Ruhe und Besinnlichkeit aus. Rechts daneben sieht man die Gestik zweier anderer Hände, die wie ein Gegensatzpaar zu den ruhig und besinnlich zusammengelegten Händen wirken, indem sie die typisch nachdrückliche Gestik eines engagierten Redners während seines Vortrags zeigen: Offensichtlich energisch gestikulierend hält er seine rechte Hand nach vorne ausgestreckt, als ob er

48 Albrecht Dürer: ‚Betende Hände‘, Tintenzeichung, um 1508.

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auf etwas oder jemanden zeigt, während seine linke Hand einen kleinen Zettel hält. Passend dazu sieht man im oberen rechten Bereich der Collage einen in die Luft gereckten Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger, was auffordernd oder auf sich aufmerksam machend wirkt. Ein Element in der linken oberen Bildecke zeigt eine auf den Oberschenkel abgestützte Hand. Noch ein weiteres bildet ebenfalls eine auf den Oberschenkel abgestützte Hand ab, und zwar ein gelbliches Element rechts unten. Darüber wiederum wird eine Hand gezeigt, die als nicht allzu feste Faust auf einer Stuhllehne abgelegt wurde. Ein Fragment rechts außen etwa in der Mitte zeigt eine Hand, die in ihrer Haltung mit nach oben gewendeter Handfläche etwas weniger männlich, aktiv oder dominant wirkt, sondern eher hilflos und unnatürlich, da wie auf dem Rücken verdreht. Alle anderen Hände tragen oder halten Waffen. Eine Ausnahme in dieser Reihung bilden die beiden Hörner haltenden Hände sowie ein großes Fragment auf der rechten Seite der Collage. Bei den beiden Horn-Fragmenten scheint es sich auf den ersten Blick um ein doppeltes Abbild eines einzigen Ursprungsbildes zu handeln, das in verschieden großen Ausschnitten und im linken Bereich um 90° gedreht abgebildet wurde. Bei sorgfältiger Betrachtung wird aber deutlich, dass der Schallbecher des Instruments einmal auf der linken und einmal auf der rechten Seite ist, das Bild also, wenn überhaupt, einmal spiegelverkehrt genutzt wurde. Aufschluss darüber könnte der Hemdkragen der linken Figur geben, allerdings wird genau dieser Bildbereich im rechten Element vom darüber arrangierten Augen-Fragment verdeckt. Das große Fragment auf der rechten Seite zeigt zwei Personen, die hintereinanderstehen. Offenbar hält die hintere Person die vor ihr stehende gewaltsam fest, während sich die vordere Figur an etwas anderem (einer weiteren Figur? Einem Geländer? auch hier verdeckt wieder ein anderes Element den Bereich, der Aufschluss geben könnte) festhält. Ob es sich hierbei um zwei Männer handelt oder ob die vordere, festgehaltene Figur vielleicht doch eine Frau ist – zumal sie Kleidung trägt, die an Frauenkleidung erinnert –, lässt sich nicht feststellen, da beide Figuren nur im Ausschnitt von den Schultern bis zu den Oberschenkeln zu sehen sind. Direkt darüber befindet sich das Element mit dem von einer Hand gehaltenen Stock. Im „Mikroroman“ gibt es neun männliche Figuren: den Ich-Erzähler, Herrn Schnee, den Doktor und den Schneider, den Vater und seinen Sohn sowie den Hausknecht, den Kutscher und den Hauptmann. Zur Figur des Hauptmanns heißt es, dass er „in einem schwarzen, weißgestreiften, altmodisch geschnittenen Gehrock, ebensolchen Hosen, einer grauen Weste […], einem weißen Hemd mit hohem Stehkragen und einer schwarzen […] am Hemd befestigten Krawatte“ (K 17) in einem eigens für ihn bestimmten „Sessel“ (K 14) sitzt. Dies passt zu den

Text und Collage bei ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ | 117

Fragmenten, die jeweils einen Mann zeigen, der einen „Gehrock“ nebst „Hosen“ trägt. Alle ‚Gehröcke‘ im Bild sind dunkel (ob sie original „schwarz“ sind, lässt sich nicht genau sagen, da das Ursprungsbild an sich oder zumindest dessen Reproduktion schwarz-weiß war). Auch das „weiße Hemd mit hohem Stehkragen“ findet sich wieder, und zwar in dem linken der beiden Horn-Fragmente. Zudem sitzen die Männer auf den einzelnen Fragmenten, wie auch der Hauptmann im Text stets auf seinem „Sessel“ Platz nimmt. Ein Fragment rechts unten zeigt eine stehende Person, die einen Säbel parallel zum Bein hält. Auch dazu gibt es eine nachweisbare textuelle Vorgabe, in der es nämlich heißt, dass „über der Lehne […] ein paar Riemen und ein Gurt mit einer Säbelscheide [hingen].“ (K 16) Der Hauptmann wird, ebenso wenig wie die übrigen Figuren, im Text nicht charakterisiert. Die Informationen, die der Leser über ihn und die anderen Figuren erhält, ergeben sich aus der Summe der aufgezählten Handlungsabläufe und den vom Ich-Erzähler wahrgenommenen und in Teilen reproduzierten Gesprächsfetzen. Der Leser erfährt nichts über Charaktereigenschaften, Handlungsabsichten, den Kontext des Aufenthaltes auf dem Gut, Gedanken oder Gefühle des Hauptmannes. Der Ich-Erzähler beschränkt sich auf die grobe Beschreibung oder eher: Benennung von Kleidung und Interieur. An dieser Stelle übernimmt die Collage anscheinend eine Funktion, die der Text nicht erfüllt, nämlich eine Figurencharakterisierung, anhand derer sich Leser und Bildbetrachter tatsächlich ‚ein Bild machen‘ können. Der Text beschreibt die Figuren nur in prägnanten äußerlichen Merkmalen und der minutiösen Aufzählung ihrer alltäglichen Handlungen. Und die Collage als solche gibt zu wenige Erklärungen auf semantischer Ebene und lenkt zu stark auf Form und Machart, wenn sie für sich steht, wie eben gezeigt wurde. Die Funktion der Charakterisierung kann die Collage also nur dann übernehmen, wenn man auch den Text zur Hand hat, da sie für sich genommen den Fokus zu sehr auf die ganz eigene, modern avantgardistische Manier lenkt. Die Collage ergänzt den Text um die wesentliche Funktion der Figurencharakterisierung, der Prätext wird durch den bildlichen Posttext nachträglich entscheidend erweitert. Die oben beschriebene Einbindung in die publizierte Fassung, die Abbildung neben dem Text, ermöglicht es dem Leser (zumindest beim Tausenddruck und später in der ‚edition suhrkamp‘, wenn hier auch eingeschränkt), Text und Bild gleichzeitig, da nebeneinander, in ihrer Wechselwirkung zu rezipieren. Aufgrund der unstimmigen Anzahl der Körperteile liegt die Überlegung nahe, dass mit der ‚Collage I‘ nicht nur der Hauptmann gemeint ist – auch wenn er, der Menge der sich auf ihn beziehenden Bildteile nach zu urteilen, als hauptsächliche Vorlage für dieses Bild gedient hat –, sondern dass mit einzelnen Fragmenten weitere Figuren des Prätextes dargestellt werden.

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Das Fragment in der linken oberen Ecke zeigt eine Hand, die auf den Oberschenkel aufgestützt ist, während sich der Oberkörper ganz leicht vornüberbeugt, als ob sich die Person in einer (ab-)wartenden, beobachtenden Haltung befindet. Direkt darunter ist die Axt zu sehen, die von einer Person außerhalb des Ausschnitts gehalten wird. In einer Szene im Text sind die Haushälterin und die Mutter im Wandschrank eingeschlossen. Der Hausknecht holt eine „Axt“ (K 46), mit der der Vater auf die Tür einhiebt. (vgl. K 46-47) Somit sind Vater und Hausknecht mit dem Axt-Fragment gemeint. Und auch eine vierte männliche Figur bringt diese Collage ins Spiel, nämlich den „Doktor, der auch während des Vorfalls mit der Garderobentür unbeteiligt in seinem Stuhl […] gesessen hatte […].“ (K 48) Das Fragment mit der aufgestützten Hand nimmt die Charakterisierung des Doktors als passiv und desinteressiert auf, indem das Collageelement wiederholt, was im Text schon deutlich wird. Die Collage fügt dem Text hier nichts Neues hinzu, sondern hat in diesem kleinen Ausschnitt eine eher illustrierende Funktion. Es gibt daneben weitere Fragmente, die auf die Vaterfigur bezogen werden können. Nach einem gemeinsamen Abendessen in Abschnitt IV (K 17-25, hier 17-21) treffen sich alle Bewohner in der Diele, in der diverse Stühle bereitstehen. (vgl. K 21) Dort „[beugt sich] [d]er Vater […] vor und ergreift die Säbelscheide die noch vom Nachmittag, an dem der Hauptmann sich mit ihr beschäftigt haben mochte, her über Sessellehne der hängt […].“49 (K 22) Der IchErzähler mutmaßt, dass der Hauptmann „sich mit ihr [der Säbelscheide; H. K.] beschäftigt haben mochte“ (K 22), und stellt so im Text den Zusammenhang her zwischen dem Hauptmann, dem ihm gehörenden Säbel, der Scheide des Säbels und der Figur des Vaters. Auch wird hier der Sessel des Hauptmanns mit dem ihm gehörenden Säbel und dem „Gurt mit einer Säbelscheide“ (K 14; siehe oben) verbunden. In der Collage gibt es drei bildliche Analogien der im Text hergestellten Verknüpfung von Hauptmann – Vater – Sessel – Säbel(-scheide). Ein schmales längliches, gelbliches Fragment, welches von der Bildmitte hinunter zum unteren Bildrand reicht, zeigt eine Hand, die nach einem Säbel greift, der wiederum von einer anderen Hand gehalten wird. Dies passt zu einer Textstelle, an der es heißt: „[E]r [der Vater; H. K.] hebt sie [die Säbelscheide; H. K.] zu sich heran und befühlt sie; der Hauptmann […] greift nach dem Gurt an dem die Scheide befestigt ist, schiebt die Scheide weiter zum Vater hinüber, läßt den

49 In Abschnitt II des ‚Mikroromans‘ (K 12-15) beschreibt der Ich-Erzähler den „Vormittag“ und benennt an dieser Stelle den hier bereits beschriebenen, eigens für ihn bestimmten „Sessel, […] über [dessen; H. K.] Lehne […] ein paar Riemen und ein Gurt mit einer Säbelscheide [hingen].“ (K 14)

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Gurt aber nicht los.“ (K 22) Wie die Hand auf dem Element sich dem Säbel nähert, so nähert sich im Text die Hand des Vaters der Säbelscheide: Er „befühlt“ sie, während der Hauptmann die Scheide dem Vater zwar zuschiebt, sie aber nicht aus den Händen gibt. Auch mit einem zweiten und dritten Fragment kann diese Situation gemeint sein: Die beiden kleinen, fast quadratischen Fragmente rechts neben dem gelblichen Säbel-Hand-Fragment zeigen jeweils eine Hand; die linke Hand hält einen Säbel oder ein Schwert am Griff fest umschlossen, wie der Hauptmann mit seiner Hand seine Säbelscheide „festhält“. Mit der Hand auf dem rechten, etwas kleineren Fragment kann sinnbildlich die Hand des Vaters gemeint sein, die den Säbel nicht aus dem Griff des Hauptmanns nehmen kann. Die Hand auf diesem Fragment ist nach hinten verdreht und die Handfläche zeigt nach oben; in dieser Haltung ist die Hand nicht aktiv handlungsfähig. Es handelt sich bei dieser Darstellung also nicht nur um eine Figurendarstellung mit der Funktion einer nachträglich hinzufügenden Charakterisierung, sondern auch um die bildliche Darstellung einer bestimmten Situation, bei der die einzelnen Szenen sich in einzelnen Bildteilen wiederfinden. Die drei genannten Fragmente beziehen sich auf einen textuell vorgegebenen Ablauf: „ergreifen“, „zu sich heben“, „befühlen“ und „festhalten“ (K 22), den sie inhaltlich und in ihrem Nebeneinander nachahmen. Der Vater unterliegt dem Hauptmann in ihrem kleinen ‚Wettstreit‘ um die Säbelscheide. Diesen Konkurrenzkampf entscheidet der Hauptmann wie nebenbei für sich, er hat den Gurt nämlich „fest in der Hand“ (K 22), und das, obwohl der als sehr gewalttätig und aggressiv beschriebene Vater in einer an Vergewaltigung erinnernden Handlung „den Zeigefinger in die Scheide [steckt].“ (K 22) Die Gewalttätigkeit des Vaters kann sich auch in dem Element wiederfinden, das rechts außen direkt über das Verdrehte-Hand-Fragment geklebt wurde. Dort sind im Ausschnitt zwei Körper zu sehen. Die hintere Figur umfasst die vordere sehr grob von hinten um die Taille, während sich die vordere Figur an einem Geländer festzuklammern scheint. Gegen diese Annahme sprechen die nicht stimmigen Körperproportionen, wenn die vordere Figur den Jungen meinen soll, denn sie ist zu groß für ein Kind und hat eher den Körperbau eines Erwachsenen. Gemeint sein kann auch hier der allegorisch dargestellte Konkurrenzkampf zwischen dem Hauptmann und dem Vater. Dass der Hauptmann die dominantere, überlegene der beiden Figuren ist, zeigt sich im Text daran, dass „der Hauptmann […] sich den Gurt mit der Säbelscheide um[knöpft]“, vielleicht um sie vor erneuten Zugriffen Dritter zu sichern (K 38), nachdem der Vater die Säbelscheide losgelassen und seinen Finger wieder aus ihr gezogen hat. Auch im Bild ist die Dominanz des Hauptmanns erkennbar, da er, wie oben gezeigt, als Hauptfigur der ‚Collage I‘ dient – auch,

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weil diejenigen Fragmente, die sich auf seine Figur beziehen, gewissermaßen die gesamte Collage umschließen: Die Anordnung der beiden Augen-Fragmente und des Ohr-Fragments oben, der auf einer Lehne ruhende Arm mit der leicht geschlossenen Hand links, das Säbel-Hand-Fragment rechts und mittig platzierte Elemente, die eine sitzende Männerfigur zeigen, bilden nicht nur grob eine Figur, sondern auch einen Rahmen für die Collage. Diese Interpretation der Collage gelingt nicht über das übliche Handwerkszeug einer hermeneutischen Bildanalyse. Das Bild ist für sich beschreibbar, aber eine belegbare Deutung lässt sich kaum entwickeln. Erst durch das Nebeneinander von Wort und Bild, durch den Nachweis der Anbindung der Collage als Posttext an bestimmte Stellen des „Mikroromans“ als Prätext, ist eine schlüssige und fundierte Deutung des Bildes möglich. In einer intensiven Wechselwirkung erklärt der Text die Collage und die Collage erweitert diesen entscheidend durch die Charakterisierung von Figuren und die bildliche Ausgestaltung einzelner Szenen des Textes. ‚Collage VI‘: Konstellation und Interkation Die ‚Collage VI‘, die als sechste Collage abgebildet wird, 50 funktioniert auf vergleichbare Art und Weise und übernimmt ähnliche Funktionen, ist aber in ihrer Machart sehr unterschiedlich im Vergleich zur ‚Collage I‘. Die ‚Collage VI‘ besteht aus zwei Bildebenen. Den Hintergrund bildet ein großes Fragment, das oben durch zwei und unten durch drei weitere Fragmente ergänzt wird. Das große Fragment zeigt eine von links nach rechts flüchtende Menschenmenge. Wovor sie genau flüchtet, gibt der Ausschnitt nicht preis. Die Menschen im Vordergrund der Menge, in der Mitte und auf der rechten Seite der Collage sind sehr detailliert zu erkennen; die Gesichtszüge und Körperkonturen der Menschen im hinteren linken Bereich werden zunehmend undeutlicher und scheinen bald in der ‚grauen Masse‘ zu verschwinden. Im oberen Bildbereich schließen sich die beiden ergänzenden Elemente thematisch an das große Hintergrundfragment an: Es ist ein Himmel zu sehen, der sich motivisch fast nahtlos an das darunter befindliche Element anfügt. Nur bei gewissenhafter Betrachtung fällt die Klebelinie zwischen dem großen und den beiden darüber platzierten Element auf, die die verschiedene Herkunft erkennen lassen. Den unteren Bildrand bilden drei Fragmente, von denen sich nur das mittlere inhaltlich dem großen Element anschließt. Es zeigt einen Mann, der mit weit aufgerissenen Augen und mit weit aufgerissenem Mund auf dem Rücken liegt, als sei er aus der Menge der rennenden Menschen heraus so heftig gefallen,

50 Weiss, Der Schatten des Körpers des Kutschers, Tausenddruck 3, S. 61.

Text und Collage bei ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ | 121

dass er sich entgegengesetzt der Laufrichtung gedreht hat und rücklings auf den Boden gestürzt ist. Auch hier ist nur bei gründlicher Betrachtung eine Klebelinie zum großen Element auszumachen. Abbildung 5: ‚Collage VI‘, 1959

Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: HZ 3386.6 „[M]an liest die Beschreibung des Schauplatzes einer Handlung und gleitet dann zum Schauplatz einer anderen Handlung über […].“ (K 11)

Zusätzlich zur sorgfältigen Verklebung der einzelnen Hintergrundelemente und der zusammenpassenden Motive lenkt besonders die vorgelagerte zweite Bildebene – zunächst – von einer intensiven Betrachtung der Hintergrundgestaltung ab. Die Landschaft im Hintergrund, der Raum und die Tiefenperspektive werden durchbrochen durch elf einzelne rechteckige Fragmente im Vordergrund. Die über die gesamte Collage verteilten Bilder zeigen verschiedene Verletzungen an

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Armen und Beinen. Zu sehen ist rechts unten ein offener Bruch des Schienbeins, darüber ruht ein mit drei Bändern fixierter Arm in zwei Schienen. Mittig sieht man einen stark blutenden Unterschenkel, der unterhalb des Knies mit einem Druckverband versorgt wurde, und im oberen Bereich vier Fragmente, die verschiedene Verbandsmöglichkeiten unterschiedlicher Verletzungen von Unterarmen und einer Hand zeigen. Das zweite Fragment von links aus dieser Reihe zeigt die Auswirkungen eines zu festen Verbands, nämlich eine stark geschwollene Hand. Darunter wiederum wird veranschaulicht, wie man den Puls am Handgelenk richtig fühlt – diese Darstellung lässt sich anhand der Buchstaben, die offensichtlich Teil einer Legende sind, als Abbildung aus einem medizinischen Lehrbuch identifizieren. Auch links daneben, am rechten äußeren Bereich der Collage, befindet sich ein Fragment, das aus einem solchen Lehrbuch stammt. Hier wird die Versorgung der Beinverletzung, die mittig im Bild gezeigt wird, detaillierter veranschaulicht: Zu sehen sind schematisch die Blutgefäße, die durch den Druckverband unterhalb des Knies verschlossen werden. Unter dieser Abbildung sieht man auf einem Element zwei Beine sowie in der Mitte einen Arm, allesamt gebrochen und mit Haushaltsutensilien wie einem Kochlöffel oder Schürhaken geschient. Ein Element fällt etwas aus dem Rahmen: Rechts oben ist ein Ohr abgebildet. Offensichtlich stammt es ebenfalls aus einem (dem gleichen?) medizinischen Buch, es zeigt aber als einziges keine (erkennbare) Verletzung. Wahrscheinlich ist, dass es sich auch hierbei um einen Ausschnitt aus einem medizinischen Lehrbuch handelt. Somit reiht sich auch dieses Fragment in die Reihe der medizinischen Herkunft ein. Der Betrachter der ‚Collage VI‘ weiß gar nicht, was ihm mehr Angst einjagt: der unsichtbare Schrecken, der die Menschen panisch flüchten lässt oder aber das offen gezeigte Grauen drastischer Verletzungen. Die Bedrohung im Hintergrund ist zwar spürbar, aber diffus und nicht sichtbar, im Vordergrund hingegen sehr plastisch und konkret. Durch den farblichen Kontrast zwischen dem schwarz-weißen Hintergrund und den davor ‚schwebenden‘ sämtlich gelblichen und ockerfarbenen Bildteilchen kann der Rezipient recht gut zwischen den einzelnen Ebenen hin und her wechseln, als ob „man […] die Beschreibung des Schauplatzes einer Handlung [liest] und […] dann zum Schauplatz einer anderen Handlung über[gleitet]“ (K 11). Dieser ständige Wechsel zwischen Hinter- und Vordergrund bewirkt aber zugleich eine große Unruhe. Die beiden Ebenen verursachen in ihrer Überlagerung eine eigentümliche Spannung aus Dynamik und Statik: Im Hintergrund ist eine starke Bewegung auszumachen, wohingegen die medizinischen Abbildungen starre, fixierte Positionen zeigen. Hier scheinen sich die Einflüsse des Films

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bemerkbar zu machen, denn die Collage wirkt wie ein Standbild, angehalten genau in dem Moment einer Überblendung exakt an einem Punkt, an dem beide Bilder in voller Schärfe zu sehen sind. Neben dieser formalen Besonderheit sind die beiden Bildebenen auch motivisch und thematisch nicht sofort in Einklang zu bringen. Eine Flucht kann natürlich mit großen Verletzungen – physisch wie psychisch – einhergehen, so, wie sich vielleicht der Mann unten in der Collage bei seinem Sturz verletzt. Und damit könnte man annehmen, man sei wieder bei Weiss selbst angelangt: Seine eigene Flucht und Exilsituation bedingen die metaphorische Thematisierung existenzieller Ängste. Dies scheint mir aber bei diesem Text weniger die richtige Spur zu sein, denn wenn man nah am Text bleibt, liegt die Erklärung genau dort: Diese Collage bezieht sich auf eine Szene am Abend, als die Bewohner nach dem Abendessen von der Haushälterin in deren Zimmer geladen wurden. Der Sohn der Familie zerstört dort die Spieldose der Haushälterin, woraufhin ein großer Tumult entsteht, der sich möglicherweise im Hintergrundbild wiederfindet: „Die Haushälterin sprang auf […], drängte sich seitwärts am Vater, an Schnee und am Hauptmann vorbei“ (K 43), während die „Mutter mit dem Fuß am Tischbein hängen [blieb], […] dann stolperte sie dem Vater entgegen“ (K 43), und „das Bügeleisen […] beim Vorüberlaufen der Haushälterin […] auf den […] Fuß des Herrn Schnee [fiel]“ (K 43). In diesem Zusammenhang ist denkbar, dass die Fragmente, die die Verletzungen zeigen, auf die Figur des Doktors anspielen, dessen „Kopf mit dicken Verbänden umwickelt [war], ein Pflaster quer über die Nase und ein Pflaster auf der Oberlippe, einen Verband um den Hals, Verbände um die Handgelenke, unförmig dicke Bandagen an den Beinen […].“ (K 17-18) Denn die Collage zeigt – neben der im Bild nicht gezeigten „Nase“ und der „Oberlippe“ – genau die verletzten Körperteile, die im Text benannt werden. Auch an anderer Stelle heißt es, dass „der Doktor […] mit der einen Hand den Verband am Gelenk der anderen Hand abwickel[t]“ (K 25) oder dass „[d]ie bloßgelegten Teile des Verbands am Handgelenk des Doktors […] Flecke von Blut und Eiter auf[weisen] […].“ (K 25) Es wird im Text immer wieder beschrieben, dass der Doktor sich selbst verarztet und operiert und auf welche Weise er dies tut. Auch in der Szene mit der zerstörten Spieldose, die möglicherweise als Vorlage für den Hintergrund gedient hat, wird zum Beispiel beschrieben, „wie der Doktor die Sicherheitsnadel am Verband um seinen Kopf öffnete“ (K 42). Auch eine weitere Textstelle aus dieser Szene passt zu dem Flucht- und Verletzungs-Motiv der Collage: „[…] und aus den Bemerkungen die der Vater […] verlauten ließ, war zu verstehen, daß er von Prügelstrafen, Spießrutenlaufen, Erhängungen, Enthauptungen, Einkerkerungen, Ertränkungen, Verbrennungen und

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Verbannungen sprach.“ (K 44) Auch damit bewegt sich Weiss im selben Kontext – szenisch wie motivisch. Helmut Lüttmann verweist in seiner Analyse auf einen ironischen Charakter dieser Collage, da sie den Text in ironischer Disparität ‚überdimensioniere‘.51 Seine Aussage stützt sich auf seine generelle Annahme, dass sich die Collagen immer exakt auf diejenige Textstelle beziehen, neben der sie abgebildet sind. Das trifft in Teilen zwar zu, allerdings ist auch eine textuelle Anbindung der Collage – wie auch mehrheitlich bei den anderen Collagen dieser Reihe – über den gesamten Abschnitt, der als textuelle Vorlage dient, nachweisbar. Die Anbindung geschieht nicht nur über eine einzige, bestimmte Buchseite, deren finale Gestaltung sich höchstwahrscheinlich durch die Vorgaben des Satzspiegels ergeben hat und von Ausgabe zu Ausgabe unterschiedlich ausfallen kann. Darüber hinaus übernehmen die Collagen vorrangig die Funktion einer Figurencharakterisierung und -beschreibung und nicht die Funktion als ironische „PseudoIllustrationen“.52 Die nur punktuellen Text-Bild-Zuweisungen bei Lüttmann werden dem weitaus differenzierteren Verhältnis nicht gerecht. Wie die ‚Collage I‘ übernimmt also auch die ‚Collage III‘, trotz aller formalen Unterschiede, die Funktion einer differenzierteren Charakterisierung mehrerer Figuren in einem Bild. Die Figuren werden gezielt zu bestimmten Konstellationen zusammengefügt und so miteinander in Verbindung, ja geradezu in Interaktion gesetzt. Damit übernimmt die Collage etwas, was der Text nicht leistet. Auf Grundlage des Textes kann man die Figuren in Beziehung zueinander setzen, sich Konstellationen erschließen und auch deuten, doch die Collagen bieten dem Rezipienten ein sehr viel nuancierteres Bild – sofern er denn die Anbindung der Collagen an den Text im Detail nachvollzieht. Zwischenfazit Weiss versammelt in einigen Collagen zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ „typisch[e] Repräsentanten [der […] Gesellschaft]“ mit den „typischen“ Vertretern „Arzt, Hauptmann, Schneider, Kleinfamilie, Dienstpersonal“.53 Die Collagen übernehmen ganz offensichtlich eine Funktion, die der Text nicht leistet: sie veranschaulichen, analysieren und charakterisieren Figuren. Die ‚Collage III‘ ist an eine einzelne Szene aus dem fünften Abschnitt angebunden. In diesem Bild wird die Familie charakterisiert. Dabei werden die Hierarchien innerhalb der Familie dargestellt. Daneben gibt es Bezüge zum Ich-

51 Vgl. Lüttmann, Prosawerke, S. 107. 52 Ebd., S. 107. 53 Esselborn, Die experimentelle Prosa, S. 38.

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Erzähler. Weiss nutzt zur Herstellung dieser Collage medizinische Bücher als Quellen. Dadurch wirkt das Bild motivisch recht homogen. Eine eindeutige Zuweisung von Textstellen ist aber nicht immer möglich, folglich gibt es Auslassungen im Bild: Einige Aspekte werden in der Collage nicht gezeigt, die aber im Text an der zugehörigen Textstelle genannt werden. Anderes wiederum ist im Bild dargestellt, was zwar vom Text her zu deuten, aber im Text nicht explizit zu finden ist. So entsteht eine bemerkenswerte Wechselwirkung zwischen Collage und Text. Mit der ‚Collage I‘ werden vorrangig männliche Figuren und deren Dominanzverhalten über die Abbildung von Kleidung, Stühlen und Waffen charakterisiert. Sie zeigt eine Ansammlung menschlicher Körperteile in verschiedenen Einstellungsgrößen. Das ‚Sammelsurium‘ wirkt sehr unruhig. Die ‚Collage VI‘ zeichnet sich durch eine starke Wechselwirkung von Dynamik und Statik aus. Sie unterscheidet sich in ihrer Machart von anderen Collagen dieser Reihe, aber nicht in ihrer Funktion der Figurenbeschreibung und charakterisierung. Ebenso weist ‚Collage VI‘ ähnliche szenische wie motivische Bezüge auf wie die ‚Collage III‘ und die ‚Collage I‘. Deutlich wird bei den hier besprochenen Collagen auch die bewusste Konstellation von Figuren. Weiss interpretiert mit seiner Technik der Zergliederung Gestaltungsprinzipien der Klassischen Moderne neu. Neben der textuellen Anbindung und der herausgearbeiteten spezifischen Wechselwirkung von Text und ‚Collage I‘ sollte noch einmal die besondere Form und Machart der Collage betont werden. Mit der Technik der Zergliederung gelingt ein Blick ins Innere, sodass Charaktereigenschaften der Figuren, die der Text nicht beschreibt, mithilfe des Bildes erschlossen werden können. Weiss’ Anlehnung an die geometrische Formensprache des Kubismus wird deutlich, zumal er sich auch in anderen Werken an dieser Kunstrichtung ausprobiert.54 Weiss schafft eine besonders auffällige „Flächigkeit“ der Collage. Und aus dieser Perspektive darf ein weiterer Aspekt nicht unberücksichtigt bleiben: Die Abbildung von insgesamt elf Händen und fünf Handpaaren auf insgesamt 15 Fragmenten kann als Verweis gesehen werden auf die ‚ersten Fingerübungen‘ eines wieder zum Deutsch zurückfindenden, schreibenden Peter Weiss. Trotz der Hinwendung zum Medium Wort und den „Versuchen des Schreibens“ (K 15) ist er doch noch als bildender Künstler für die Publikation des ‚Kutschers‘ tätig,

54 Siehe dazu die insbesondere Weiss’ Bild ‚Obduktion‘.

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diesmal aber nicht nach einer geeigneten Form des Ausdrucks suchend, sondern ‚eine neue Form findend‘.55 Weiss’ Collage (und nicht nur die ‚Collage I‘, sondern nahezu die gesamte Reihe zum ‚Kutscher‘) leistet zweierlei: formal einen Anschluss an die künstlerische Moderne, und inhaltlich eine Figurendarstellung und -charakterisierung mit ergänzender und/oder illustrierender Funktion zum Text. 3.2.3 Figuren(-konstellationen), Szenen und Räume ‚Collage V‘: Die Figuren im Alltag und der Alltag der Figuren Weiss nutzt Collagen aus der Reihe zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ als nachträgliche Charakterisierung und Ausdifferenzierung von Figurendarstellungen sowie als bildliche Darstellung verschiedener Situationen, Szenen und einzelner Abläufe. Mit der ‚Collage V‘, dem fünften Bild im ‚Tausenddruck‘, 56 kommen zwei weitere Schwerpunkte hinzu, und zwar zum einen die der bildlichen Darstellung der im Text beschriebenen Räume und des dort vorhandenen Interieurs, zum anderen die der Darstellung des Alltags der Gutsbewohner. Die Besonderheit liegt darin, dass Letzteres über Ersteres geschieht: Die Figuren werden über Dinge und Gegenstände aus ihrem Alltag im Text beschrieben und im Bild gezeigt, um daraufhin anhand der Darstellung alltäglicher Situationen charakterisiert und letztlich in ihren Funktion als „Repräsentanten [einer] Gesellschaft“57 dargestellt zu werden. Zwar sind mit der ‚Collage V‘ ebenfalls mehrere eindeutig zu identifizierende Figuren in einem Bild gemeint, es geht hier insgesamt aber weniger um die singuläre Darstellung eines einzelnen Charakters wie zum Beispiel in der ‚Collage I‘, sondern vielmehr um die allgemeinen Figuren(-konstellationen) als „Spiegelbild der bürgerlichen Gesellschaft mit typischen Repräsentanten (Arzt, Hauptmann, Schneider, Kleinfamilie, Dienstpersonal) […].“58

55 Vgl. dazu die beiden Kapitel 2.2.1 ‚Das bildkünstlerische Werk‘, S. 52ff., und 2.2.2 ‚Collagen und Illustrationen im Werkkontext‘, S. 61ff. 56 Weiss, Der Schatten des Körpers des Kutschers, Tausenddruck 3, S. 51. 57 Esselborn, Die experimentelle Prosa, S. 38, sowie Kapitel 3.1 ‚Einführende Text- und Bildbeschreibungen‘, S. 79ff. 58 Esselborn, Die experimentelle Prosa, S. 38.

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Abbildung 6: ‚Collage V‘, 1959

Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: HZ 3386.5 „Die Unregelmäßigkeit der Verteilung der Gäste im Raum schafft schon zu Anfang ein schwer überblickbares Muster in der Verkettung der Bewegungen und Laute.“ (K 21-22)

Die ‚Collage V‘ ist die Collage, die Unseld möglicherweise für publikationswürdig hält und die auf Bitte von Peter Weiss in die Erstausgabe aufgenommen wird. Neben der ‚Collage c‘ ist diese Collage eines der beiden Bilder, deren Fragmente nicht direkt an- oder übereinandergeklebt, sondern so auf einen schwarzen Hintergrund arrangiert wurden, dass dieser zwischen sämtlichen Einzelbildern sichtbar bleibt.59 Das Bild wirkt wie eine Ansammlung von Dias oder 59 Helmut Lüttmann schreibt, dass „nur in einem Falle […] ein schwarzer Untergrund in schmalen Streifen zwischen ihnen [den einzelnen Fragmenten; H. K.] sichtbar [ist].“

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eine eng beklebte Seite eines Fotoalbums. Die Intention einer „zweite Geschichte“ von Weiss mitgedacht, kann man auch in Betracht ziehen, dass Weiss mit seiner ‚Bilderzählung‘ an den Bänkelsang anschließen möchte. Durch den schwarzen Hintergrund sind auch hier Ähnlichkeiten zu Warburgs MnemosyneAtlas erkennbar. Die ‚Collage V‘ besteht aus 26 rechteckigen, unterschiedlich großen Einzelbildern, die ohne Verbindung miteinander auf den schwarzen Hintergrund geklebt wurden. Zu sehen sind teilweise vollständige, teilweise halb bekleidete Körperteile wie Hände, Ohren, Gesichter und ein Bein, das bis zur Mitte des Oberschenkels zu sehen ist. Daneben reihen sich Töpfe und andere Küchenutensilien, zum Beispiel Trinkbecher, Wasserkocher, eine Waage und ein Herd. Zudem gibt es eine Großaufnahme von kleinen Tierchen, die wie Milben aussehen, sowie einen schematischen Querschnitt eines Kieferknochens. Es gibt keinen auf den ersten Blick zu fassenden Kontext für diese Collage, da kein homogenes Gesamtbild entsteht. Dies ahmt die ‚Schwierigkeit‘, oder besser: den Aufwand nach, die Zimmer des Gutshofes als Ganzes zu beschreiben, da sie extrem vollgestellt sind und sich zumeist viele Menschen in einem Raum gemeinsam aufhalten. Für den Ich-Erzähler, auf dessen Beschreibungen diese Annahmen basieren, bedeutet das nicht nur eine besondere Herausforderung, sondern stellt eine regelrechte Überforderung dar. Die Collage systematisiert diese übervollen Räume für einen besseren (totalen) Überblick. Der Blick des Ich-Erzählers geht im Text systematisch von einer Seite zur anderen, wenn er Räume und Vorgänge beschreibt, und er katalogisiert akribisch das vorhandene Interieur, die anwesenden und selbst die fehlenden Personen sowie deren Handlungen der Reihe nach. Diesen ‚Rundum-Blick‘ ahmt die Collage in ihrem Sammelsurium nach.

(Lüttmann, Prosawerke, S. 105, Hervorhebung im Original) Dies geschieht offensichtlich in Unkenntnis darüber, dass die Reihe nicht aus sieben, sondern aus elf Collagen besteht. Im Weiteren weist Lüttmann darauf hin, dass es ‚exakte Analogien im Text‘ gibt (vgl. ebd., S. 105-109). Er benennt wenige einzelne Details (vgl. ebd., S. 106108), an denen er seine These festmacht, belässt es aber bei diesen punktuellen, intentional selektierten Beispielen. Lüttmann verweist einzig auf einen ironischen (da den Text in ironischer Disparität ‚überdimensionierend‘, vgl. S. 107) und spielerischen Charakter (da Aktivierung des Lesers durch „versteckte Anspielung“ aufgrund wenig offensichtlicher oder gänzlich fehlender Verbindungen, vgl. S. 108) der „PseudoIllustrationen“ (S. 107). Der ist in Teilen zwar zu finden. Aber durch die punktuelle, stark zweckbestimmte Auswahl und die sehr unvollständige Untersuchung des TextCollage-Verhältnisses bleibt die enge Textbezogenheit unbemerkt.

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Die Zwischenräume zwischen den einzelnen Collageelementen erklären sich aus den textuellen Vorgaben: Der Ich-Erzähler verbindet die Aufzählungen nicht, sondern setzt sie vermeintlich beziehungslos aneinander. Ebenso beziehungslos erscheinen zunächst die 26 Fragmente der ‚Collage V‘ nebeneinandergeklebt. Und wie der Ich-Erzähler auf dem Abtritt alte Zeitungen lesend „vertieft man sich in kleine, durcheinandergewürfelte Bruchstücke der Zeit, in Ereignisse ohne Anfang und ohne Ende, oft auch in der Längsrichtung oder in der Quere geteilt; man folgt der Rede des einen und setzt dann mit der Rede des anderen fort, man liest die Beschreibung des Schauplatzes einer Handlung und gleitet dann zum Schauplatz einer anderen Handlung […]; und gleichartige Ereignisse findet man immer wieder mit neuen Einzelheiten ausgestattet […].“ (K 11)

Im Text werden die verschiedensten Ereignisse nacheinander katalogisiert, in der Collage gleichzeitig dargestellt. Für den Ich-Erzähler kommt erschwerend hinzu, dass „[d]ie Unregelmäßigkeit der Verteilung der Gäste im Raum […] schon zu Anfang ein schwer überblickbares Muster in der Verkettung der Bewegung und Laute [schafft].“ (K 21-22)60 Analog zur Systematisierung durch die Form der sprachlichen Beschreibung sollen auch mit der Collage die Vorgänge systematisiert werden, damit sich der Ich-Erzähler orientieren kann. Die Beschreibungen, der ‚katalogisierende Rundum-Blick‘ des Protagonisten, werden durch die Machart des Bildes nachgeahmt.61 Inhaltlich bezieht sich die ‚Collage V‘ auf zwei Szenen, nämlich auf eine „Abendmahlzeit“ (K 17-21) und eine Frühstücksszene (vgl. K 37-38), beides banale Alltagsszenen. Die Küche als der gleiche Ort beider Szenen entsteht über die Analogie der sprachlichen Vorgaben, in denen es heißt, dass „[i]n der Mitte […] die beiden Kochtöpfe [stehen]“ (K 18) sowie „rechts der Herd“ (K 13). Die entsprechenden Abbildungen finden sich in der Collage in einem Herd rechts oben, in einer Ansammlung von diversen Töpfen mittig und in anderen abgebildeten Küchenutensilien. Die „Abendmahlzeit“ (K 17) wird, wie alle anderen Mahlzeiten auch, gemeinsam „am Tisch der Küche“ (K 17) eingenommen. Passend zu dieser Esssituation klebt in der oberen Hälfte recht mittig ein Fragment, das in einem Ausschnitt eine offenbar sitzende Person zeigt, die mit der einen Hand eine Schüssel zum Mund führt und den anderen Arm auf einer „Tischplatte“ (K 17) abgelegt

60 Vgl. Tabah, Modernität im ‚Kutscher‘, S. 41. 61 Vgl. dazu auch noch einmal die Ausführungen in Kapitel 3.1 ‚Einführende Text- und Bildbeschreibungen‘, S. 79ff.

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hat. „Auf die Reinlichkeit der Tischplatte wird […] kein Wert gelegt; so ist die Platte voll von Mehl und Teigklumpen, und von getrockneten Brotkrumen und Fleischfädchen vorhergegangener Mahlzeiten.“ (K 17) Die dreckige Platte, die der Ich-Erzähler mit seinem mikroskopisch genauen Blick ‚unter die Lupe nimmt‘, findet ihre Entsprechung in einem Fragment rechts unten, das die bereits benannte Nahaufnahme der milbenartigen Tierchen zeigt. Der Tisch wird „[t]rotz der Reichhaltigkeit des Geschirrs im Wandschrank […] mit einem Mindestmaß an Tellern, Trinkgefäßen, Schüsseln und Bestecken gedeckt […].“ (K 17) Die „Reichhaltigkeit des Geschirrs“ zeigt sich in der Collage in einem mittig arrangierten Fragment, das – neben einem ganzen Fisch – insgesamt 17 verschiedene Küchenutensilien zeigt. Direkt darunter kleben sechs Fragmente, die jeweils nur ein einzelnes Küchenutensil zeigen, was dem beschriebenen „Mindestmaß“ entspricht. Zu sehen sind ein Wasserkocher, der auch eine Teekanne sein könnte, eine Schale oder ein tiefer Teller mit flachem Rand, ein hoher Kochtopf mit Deckel, zwei Kasserollen und eine von einer Hand gehaltene Kanne mit Deckel, die stark den heutigen Thermoskannen mit Trinkdeckel ähnelt. Mit dieser Kanne kann der „Becher, aus dem man sein Wasser, sein Bier, seinen Wein oder seinen Kaffee trinkt“ (K 17), gemeint sein. Denkbar ist auch, dass mit dieser ‚Thermoskanne‘ die „Flasche“ (K 19) des Herrn Schnee gemeint ist, worin sich „dunkelrote[r] Wein“ befindet (K 19). Wenn es keine Flasche ist, die hier abgebildet ist, kann die „Flasche“ des Herrn Schnee dennoch gemeint sein, da er sie „in der Tasche seines Hausrocks aufbewahr[t]“ (K 26) und sie deshalb aller Wahrscheinlichkeit nach verschließbar ist, ebenso wie die ‚Thermoskanne‘ in der Collage. Die Textstellen, die aus der ‚Abendbrotszene‘ im vierten Abschnitt (vgl. K 17-25) stammen, können ebenfalls auf eine andere Situation bezogen werden, in der die Bewohner das Frühstück gemeinsam einnehmen (vgl. achter Abschnitt: K 34-38). Dort wird beschrieben, dass „die Haushälterin [Kaffee] aus der blauen Kanne in unsere Näpfe goß“ (K 38). Und tatsächlich erinnern die Schale oder der tiefe Teller mit dem flachen Rand auf der Collage rechts unten durchaus an einen „Napf“. Der „Kaffee“ findet sich in der Collage in dem Element wieder, das recht mittig im Bild eine Kaffeemühle zeigt. Und wie sich „jeder eine Scheibe des schon geschnittenen Brotes ergrif[f]“ (K 38), veranschaulicht das Element rechts im unteren Bildbereich, das eine Hand zeigt, die um etwas geschlossen ist, was der Form nach als ‚Scheibe Brot‘ ausgelegt werden kann. Das „Mindestmaß“ an Geschirr, wie es im vierten Abschnitt beschrieben wird, sowie die Figur aus der Collage mit der Schüssel am Mund passen zu dieser und zu einer weiteren Textstelle aus demselben Kontext. Dort heißt es, dass „ein etwaiges Vorgericht und ein etwaiges Nachgericht auf dem selben Teller

Text und Collage bei ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ | 131

wie das Hauptgericht, einem tiefen Teller aus weißem Porzellan verzehrt wird.“ (K 17) In der Collage sieht man auf einem gesonderten Element im rechten unteren Bildteil entsprechend eine Schüssel, mit der der einzig genutzte Teller gemeint sein kann. Die Collage zeigt mit dem Teller-zum-Mund-Fragment aber eindeutig einen Teller, wie ihn die Beschreibung im Text vorgibt. In diesem Fragment fehlt allerdings das Besteck, während es im Text heißt, dass „[a]ls Eßwerkzeug […] ein Zinnlöffel verwendet [wird].“ (K 17) Mit diesem Tellerzum-Mund-Element kann auch eine konkrete Figur gemeint sein, und zwar Herr Schnee, der sich während des Essens „schmatzend […] über den Teller gebeugt“ hat (K 19). Es lassen sich noch weitere Figuren über den Nachweis textueller Anbindungen identifizieren. Das schreiende Baby beispielsweise auf einem Fragment rechts unten erklärt sich durch folgende Textstelle: „Der Säugling plärrte, beruhigte sich aber bald, wahrscheinlich wurde er von der Mutter an die Brust genommen.“ (K 20) Die Collage zeigt zwar einen „plärrenden Säugling“, aber die „Mutter“, die ihr Kind „an die Brust genommen“ hat, wird nicht dargestellt. Stattdessen wird auf einem Fragment mittig im oberen Bildteil ein Mann gezeigt, der ein Kind im Grundschulalter tröstend in den Armen hält. Damit kann gewiss nicht die aggressive Vaterfigur des „Mikroromans“ gemeint sein, zumal dessen Sohn besonders beim Ich-Erzähler nach Trost und/oder Hilfe sucht und sich niemals an den eigenen Vater halten würde. Ob mit diesem Fragment aber tatsächlich die Suche des Sohnes nach Hilfe bei anderen Figuren gemeint ist, kann aufgrund fehlender Textanbindung nicht belegt werden. Jedenfalls enthält dieses Element auch einen Kasper. Der Kasper wird als Marionette von einer Hand rechts neben das Kind und den tröstenden Mann gehalten. Im Text wird die Figur des Schneiders immer wieder mit einem Harlekin verglichen: „[D]er Schneider, in seinem fadenscheinigen Anzug, scheckig wie ein Harlekin“ (K 18), dessen Gestik einer Handpuppe oder Marionette gleicht „mit Bewegungen die so durchdacht sind, daß sie ständig über sich selbst hinaussteigen, große Bogen, verschnörkelte Arabesken und fuchtelnde Winkel beschreibend.“ (K 18) Auch „ruckt und zuckt [der Schneider] mit dem angewinkelten Arm wie eine Gliederpuppe“ (K 20). Der Kasper im Bild hingegen hängt ‚schlaff in den Seilen‘,62 was eine weitere kleinere Verschiedenheit von Text und Bild ist. Auch die Figuren der Haushälterin und des Hauptmanns finden sich im Bild. Im Text heißt es, dass die Haushälterin „sich dem Hauptmann [näherte] und […] ihre gespreizten Finger seinem Rücken entgegen[hob], um einen langen weißen

62 Vgl. zur Figur des Schneiders und der Funktion des Harlekins auch Kapitel ‚‚Collage VII‘: „Mama! Mama!“ , S. 145ff.

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Faden, der in geschlängelter Linie auf seinem Rücken klebte, zu entfernen.“ (K 38) Dieser Moment des Zupackens ist mit einem kleinen Bild gemeint, das sich links oben in der ‚Collage V‘ befindet. Es zeigt eine Hand, die mit Zeigefinger und Daumen nach etwas offensichtlich Kleinem greift. Was dies allerdings genau ist, zeigt der Ausschnitt nicht, da er exakt dort endet, wo sich Zeigefinger und Daumen berühren. Direkt unter diesem Fragment sieht man eine von zwei Händen gehaltene Drehmaschine für Zigaretten. Dies bezieht sich auf die Raucher unter den Gästen, wie zum Beispiel den Schneider, „der […] seiner rückwärtigen Hosentasche die Pfeife [entnimmt] und beginnt, sie mit Tabak, den er aus seiner seitlichen Hosentasche gezogen hat, zu stopfen […].“ (K 22) Ein weiterer Raucher ist der Hauptmann, der nach dem Essen „ein silbernes Etui hervor[nimmt]“ und „eine Zigarette dem Etui entnimmt.“ (K 22) Auch Schnee bietet er eine Zigarette an. Rechts oben in der Collage sieht man eine Lampe mit offener Flamme, was man mit dem Text in Verbindung bringen kann, wenn es heißt, dass „der Hauptmann […] die Hand mit einem Feuerzeug hervortreten [läßt]; […] die Finger des Hauptmanns schlagen Feuer“ (K 22). In einem Element links unten sieht man Spielkarten, die von zwei Händen gemischt werden. Auch dazu gibt es eine entsprechende Szene: Nach dem Abendessen versammeln sich alle Bewohner in der Diele und der Hausknecht holt ein „Kartenspiel“ (K 24) hervor. Der Schneider spielt mit und er „mischt jetzt die Karten.“ (K 25) Etwas weiter rechts, neben dem sich hier anschließenden Element mit dem schreienden „Säugling“, sieht man ein angewinkeltes Bein bis zur Mitte des Oberschenkels, das mit Strumpf und Strumpfhalter bekleidet ist. Auch dieses Fragment kann auf die Spielsituation bezogen werden, da es im Text heißt, dass die Spielenden „einen Schluck aus dem Becher [nehmen], den Schnee auf seinem einen Knie balanciert und der Hauptmann zwischen seinen beiden Knien festklemmt“ (K 25). Diese Aufzählungen des ‚katalogisierenden Rundum-Blicks‘ des IchErzählers setzen sich weiter fort, zum Beispiel mit einem Fragment, das rechts neben dem großen Kiefer-Fragment einen Oberkörper zeigt, der mit Krawatte und Sakko bekleidet ist. Zwei Hände halten das Sakko auf beiden Seiten am Revers ein wenig auseinander. Damit kann eine Textstelle in Verbindung gebracht werden, in der beschrieben wird, dass „[d]ie Haushälterin […] ein leinenes Hemd aus der unteren Lade des Tisches gezogen [hat] und beginnt, einen Knopf am Halsansatz anzunähen.“ (K 23) Ebenso ist es möglich, dieses Bildelement mit einer Textstelle in Verbindung zu bringen, in der „[d]er Vater […] die Hand [hebt] und […] seinen Zeigefinger im obersten Knopfloch der Jacke des Sohnes [befestigt].“ (K 23) Eine eindeutige Zuordnung ist aber erneut nicht möglich.

Text und Collage bei ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ | 133

Mit dem Kiefer-Fragment kann illustrativ „der Mund des Hauptmanns“ (K 19) gemeint sein, der „vorsichtig am künstlichen Gebiß manövrierend“ (K 19) sein Essen zu sich nimmt. Es kann aber auch „Schnees Mund mit breit aufgezogenen […] Lippen“ (K 19) darstellen, oder aber „de[n] Mund des Schneiders, gewählt aufklappend und sich erweiternd zur Maulstarre“ (K 19). Ebenfalls beschrieben werden „die Zähne der Haushälterin“, die „den Faden ab[beißen]“ (K 25). Wahrscheinlich ist an dieser Stelle, dass zum einen ein menschliches Grundbedürfnis dargestellt wird, das alle Bewohner des Gutshofes eint, nämlich das Essen, das im Text häufig und ausführlich beschrieben wird. Möglich ist auch die Anbindung an eine Situation beim gemeinsamen Essen, als sich der Schneider „einer neuen Brotscheibe zuwenden wollte“ und „plötzlich inne hielt […], sich in den Mund [griff] und sich einen Zahn […] aus dem Unterkiefer [zog].“ (K 38) Herr Schnee nimmt den Zahn für seine Sammlung an sich, und niemand stört sich an der Szene, bis auf den Ich-Erzähler, der befürchtet, an dem „Gefühl der Unendlichkeit dieses Morgens zu ersticken.“ (K 38) Die Abbildung des Kiefers führt den Rezipienten darüber hinaus an die Geräuschkulisse der gemeinsamen Esssituationen heran, wenn es im Text heißt: „So kauen wir […], der Hauptmann mit dem Gebiß knarrend“ (K 19). Das geöffnete Gebiss in der Collage scheint wie in der Bewegung fixiert, und die knöcherne Darstellung impliziert bereits das „knarrende“ Geräusch, auch wenn es heißt: „So essen wir schweigend.“ (K 19) In Korrelation zu dieser Annahme steht das im Bild dargestellte Ohr auf der linken oberen Seite der ‚Collage V‘. Auch wenn die Mahlzeiten „schweigend“ eingenommen werden, werden doch die Geräusche benannt, die beim Essen entstehen. „[D]ie Haushälterin [isst] langsam, kreiselnd, mahlend, der Hauptmann […] knarrend, Schnee schmatzend […], der Doktor würgend […], der Hausknecht schlürfend, der Schneider […] schleckend […].“ (K 19) Auch Geräusche von draußen erwähnt der Erzähler: „[Z]u Beginn […] war der Ruf der Krähe […] zu vernehmen.“ (K 20) Besonders auffällig wird durch diese Textstelle, dass die Außenwelt zwar wahrgenommen wird und Aufnahme findet in die bildliche Entsprechung, aber nicht gezeigt wird in der Collage. Es geht rein um die Darstellung der Abläufe im Inneren des Hauses. Der Ich-Erzähler beschreibt auch die Geräusche außerhalb der Küche, aber innerhalb des Hauses: „Als unsere Löffel […] zu schlürfen begannen hörte man auch durch die Wand das Klappern von Geschirr auf dem Tisch der Familie; der Säugling plärrte […]; ein Geräusch als schlüge ein Zinnlöffel an einen Zinnbecher wurde nebenan deutlich, […] worauf ein anderes Geräusch erklang, wie von einem auf einen Körper hart niederfahrenden Riemen, mehrmals wiederholt, bis es wieder still wurde; bald darauf war dann das Scheppern des Geschirrs wieder

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im Gange.“ (K 20) Über diese Anbindung findet zuletzt auch die Familie Eingang in die Collage. Die Aufzählungen und Aneinanderreihungen bekommen in ihrer Häufigkeit einen wiederholenden, addierenden und damit an manchen Stellen redundanten Charakter. Besonders hingegen bleibt die Darstellung des Raumes: „Der Raum zerfällt […] in einzelne, isoliert wahrgenommene Einheiten, aus denen bei dem Versuch, ihn durch Beschreibungen zu rekonstruieren, kein zusammenhängendes Raumgefühl entsteht. Der Unüberschaubarkeit des zerstückelten Raums entspricht die surreale, die Realität auflösende Wahrnehmung der zersplitterten Körper und Körperbewegungen.“

63

Auch der Mensch scheint in seine grundlegenden Strukturen (Anatomie, Emotionen, gesellschaftliches Miteinander im Alltag) zu zerfallen durch die sprachlichen Beschreibungen sowie durch Form und Machart der ‚Collage V‘ und der spezifischen Anbindung an den Prätext. Die Mannigfaltigkeit des Menschen scheint in all seinen Facetten dargestellt; der Kontrast im Menschen wird paraphrasiert, ebenso die Interaktion mit anderen Menschen. Es werden banale Alltäglichkeiten dargestellt, die den Ich-Erzähler so immens überfordern, dass er sie zergliedern, katalogisieren und systematisieren muss. Diese besondere Verknüpfung von Form und Inhalt in der Collage und die damit einhergehende Betonung der sprachlichen Besonderheiten scheinen mir dafür ausschlaggebend, dass Weiss auf einer Veröffentlichung der Collage bestanden hat. In der Collage überwiegen textuelle Katalogisierungen und Summierungen einzelner Vorgänge und/oder Figuren, die analog dazu im Bild aneinandergereiht werden. Die Collage erklärt als Ergänzung zum „Mikroroman“ etwas mehr als der Text für sich alleine, lässt aber vieles auch offen, wie die Analyse gezeigt hat. Nicht immer gelingt die exakte Zuordnung der zitierten Textstellen, was möglicherweise dem Stellenwert als „zweite Erzählung“ geschuldet ist. Die Collage stellt Figuren auf eine Weise dar, wie wir es auch in anderen Collagen der Reihe finden können. In der ‚Collage V‘ fällt diese vergleichsweise ‚schmal‘ aus. Sie betont besonders die Merkmale der sprachlichen Beschreibungen.

63 Tabah, Modernität im ‚Kutscher‘, S. 41.

Text und Collage bei ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ | 135

Die unveröffentlichten Collagen ‚a‘, ‚b‘ und ‚c‘: Möbelstücke, Schnittmuster und anatomische Studien Die ‚Collage a‘ besteht aus 20 Einzelbildern, die zum Teil neben- und übereinander, zum Teil nicht verbunden auf einem weißen Hintergrund arrangiert wurden. Neben zwei Abbildungen von zwei verschiedenen Fingerabdrücken am oberen rechten Rand der Collage gibt es drei Fragmente, die ein Motiv singulär verwenden: Auf einem Fragment ist eine Nähmaschine zu sehen, ein anderes zeigt einen (ausgestopften?) Hund auf einem Ständer mit federartigem Kopfschmuck und ein weiteres bildet einen Waschzuber ab. Die restlichen Motive lassen sich zu den Kategorien Kleidung, Möbel und anatomische und medizinische Abbildungen zusammenfassen. Die Collage ist sehr flächig gestaltet. Der Mittelpunkt des Bildes ist der Hund auf dem Ständer, um den sich recht gleichmäßig die übrigen viereckigen Einzelbilder in unterschiedlicher Größe über die gesamte Fläche des Bildes verteilen. Die ‚Collage a‘ wirkt insgesamt vergleichsweise hell; die verwendeten Fragmente sind überwiegend weiß und beige. Eine Ausnahme bildet das Element in der linken oberen Ecke, auf dem vor einem schwarzen Hintergrund eine Stuhllehne und eine Tischplatte zu sehen sind. Auf dem Tisch sind zwei identische Füße, vielleicht von zwei Gläsern, zu sehen. Bei gewissenhafter Betrachtung wird deutlich, dass diese Collage weniger sorgfältig arrangiert wurde als die übrigen Bilder der Reihe. Manche Fragmente sind leicht schief und unsauber aneinandergeklebt. Auf insgesamt fünf Elementen sind Frauenkörper oder weibliche Torsi abgebildet. Alle befinden sich im oberen Bereich der Collage. Weitere fünf Elemente zeigen Männer, männliche Körperteile oder Kleidung für Männer, die allesamt in den unteren Teil der Collage geklebt wurden. Ein Fragment zeigt einen stehenden Menschen ohne Haut, wodurch der Blick auf den muskulären Aufbau möglich ist. Da der Mensch von hinten gezeigt wird, ist nicht feststellbar, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt.

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Abbildung 7: ‚Collage a‘, 1959

Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: HZ 3386.8 „Außer diesen Stühlen und Tischen, zwischen denen man nun verteilt stand, fügten sich rings um die Wände noch weitere Möbelstücke und Gegenstände […].“ (K 40)

Ein Fragment zeigt einen Frauentorso in einem locker fallenden Kleid mit Faltenwurf. Direkt daneben befinden sich der Waschzuber sowie die weitere Abbildung eines Frauenkörpers, bei dem das Skelett des Oberkörpers sichtbar ist. Wenn der Betrachter in dieser Reihe weiter nach rechts blickt, schaut er auf noch eine anatomische Abbildung eines weiblichen Oberkörpers, eine Nähmaschine und einen Torso mit auffallend ausgeprägten weiblichen Rundungen, der mit einem Tuch notdürftig bedeckt ist. Diese Reihung scheint die Frau auf ihren Körper zu reduzieren – und auf die ‚typischen‘ Aufgaben einer Frau im Haushalt. Und laut textueller Vorgabe ist die Haushälterin, die über die „Nähmaschine“ (K

Text und Collage bei ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ | 137

14) und die zentrale Abbildung des „springenden Hund[es]“ (K 39) aus ihrem Zimmer mit den Frauendarstellungen in Verbindung gesetzt werden kann, tatsächlich für die haushälterischen Abläufe im Haus zuständig: waschen, putzen, kochen. Auch ihr weiblicher Körper findet Beachtung, als sie den Boden wischt, „wobei sich das dünne, an den Lenden und Armen durchnäßte Kleid prall über die schweren Buchtungen ihres Körpers spannte.“ (K 13) Auffällig ist, dass hier speziell „die Arme“ benannt werden, die Frauen im Bild aber allesamt ohne Arme dargestellt sind. Die „Lenden“ und die analogen bildlichen Entsprechungen, die sexualisierte Betonung des Weiblichen, bringen eine sexistische Dimension ins Spiel, was einhergeht mit der offensichtlich sexuellen Beziehung der Haushälterin zum Kutscher. Ob Weiss das Fehlen der Arme und die Bedeutung dessen aufweichen wollte, indem er das Skelett eines Armes in die direkte Nähe zu den Frauen-Fragmenten klebt, ist ungewiss. Es fehlt eine nachweisbare Anbindung an den Text, die das aufklären könnte. Eine weitere Frauenfigur, die über zwei Textstellen Eingang findet in diese Collage, ist die Mutter. In einer Situation schüttelt diese „sich den Rock“ (K 43), was in Verbindung gesetzt werden kann mit der Abbildung der Frau in dem wallenden Kleid. Dann bleibt „die Mutter […] mit dem Fuß am Tischbein hängen, wobei sie einen Schuh verlor […].“ (K 43) Entsprechend zu dieser Vorgabe findet sich auf der rechten Seite der Collage ein Fragment mit einem Damenschuh. Mit der Mutter kommt auch der Vater ins Bild; als dieser nämlich die strauchelnde Mutter auffängt, wird dabei Kaffee und Likör verschüttet, „was zur Folge hatte, daß sowohl der Kaffee als auch der Likör sowohl über das Kleid der Mutter als auch über die Hose des Vaters spritzten.“ (K 43) Sowohl Kleid als auch die Hose werden gewaschen werden müssen, was den Waschzuber nötig macht – was als Aufgabe der Frau wortwörtlich in ihren Bildbereich fällt. Die Fragmente, die dem Männlichen zuzuordnen sind, erscheinen wie das Pendant zu den weiblichen Darstellungen; es sind hier aber keine Textanbindungen nachweisbar. Wie schon in ‚Collage I‘ wird vermehrt Kleidung abgebildet, hier aber ist ohne eine belegbare Textvorgabe keine Deutung möglich. Die Einteilung in weiblich vs. männlich kann auf die grundsätzliche Aufgabenverteilung von Mann und Frau oder männlichen und weiblichen Figuren im „Mikroroman“ zurückgeführt werden. Allerdings ist die Collage weit weniger deutlich in der Figurencharakterisierung oder Betonung der sprachlichen Merkmale des Textes, als es bei anderen Bildern dieser Reihe der Fall ist. Denn: Die textuelle Anbindung der ‚Collage a‘ an den Prätext ist äußerst spärlich. Die Analyse zeigt, dass es kaum Textstellen gibt, die herangezogen werden können, um die Collage zu ‚entschlüsseln‘. Dieses Bild ist deutlich weniger aussagekräftig

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und ist überdies als solches künstlerisch kaum bemerkenswert. Möglicherweise liegt darin auch der Grund für die Ablehnung als zu veröffentlichende Collage. Auch die ‚Collage b‘ ist, wie mir scheint, künstlerisch wenig wertvoll. Gerahmt von 25 kleineren Fragmenten in sorgfältiger geometrischer Anordnung und mehrheitlich in Schwarz-Weiß, bildet ein einziges, großes, ockerfarbenes Fragment das zentrale Bildelement der ‚Collage b‘. Dieses Fragment zeigt einen Mann und eine Frau, beide starr stehend und den Blick freigebend auf ihre Skelette. Zwischen ihren Füßen klebt das Element eines kleinen Tierchens, das abermals einer Milbe ähnelt.64 In drei der vier Bildecken befinden sich Stühle. Unten links steht statt einer Sitzgelegenheit ein Tisch mit diversen Pflanzen, die wie auf einer Etagere übereinander angeordnet sind. Die Struktur der Skelette ähnelt der Struktur der ungepolsterten Stühle. Das Arrangement der Pflanzen erinnert an die Form von Rippen. Den linken Rahmen des inneren Skelett-Fragments bilden, von oben nach unten betrachtet, ein längsgestreiftes Hemd und ein Abtritt aus Holz. Die rechte Seite spiegelt die linke, allerdings wurde der Abtritt durch einen Schaukelstuhl und das Hemd durch eine längsgestreifte Bluse mit Rüschenkragen und Puffärmeln ersetzt. Zusätzlich wurde unter den Schaukelstuhl die Abbildung eines Tisches geklebt. Diese Aufteilung der Seiten in links = männlich und rechts = weiblich passt zu der Platzierung von Mann und Frau im zentralen Fragment. Bezeichnenderweise ist der Stuhl in der rechten unteren Ecke auch ein Hochstuhl für Kleinkinder. Oben im Bild, zwischen dem linken Stuhl mit runder Rückenlehne und dem Stuhl in der rechten Bildecke mit gerader Lehne, sind nebeneinander vier Hosenträger in unterschiedlichen Ausfertigungen aufgereiht. Die Hosenträger hängen schnurgerade herunter. Das Hemd und die Bluse, die passenderweise neben die Oberkörper der beiden Figuren geklebt wurden, nehmen diese ‚Bewegung‘ durch die Längsstreifen auf. Die Einzelbilder mit den Hosenträgern, alle auf weißem Hintergrund, wurden sorgfältig aneinandergeklebt. Als Pendant dazu finden sich unter dem Zentralfragment die Abbildungen von zwölf verschiedenen Hemdkragen. Die ‚Collage b‘ ist besonders mit einer Szene im neunten Abschnitt (vgl. K 39-49, insbesondere 39-42) in Verbindung zu setzen, in der die Bewohner im Zimmer der Haushälterin zusammenkommen. Dort bemerkt der Ich-Erzähler „rundherum Tische und Stühle“, ähnlich wie es die Anordnung auf der Collage

64 Dies kann daran liegen, dass Weiss möglicherweise die Elemente, die ähnliche Abbildungen von Kleinstlebewesen zeigen, einer einzigen Quelle entnommen hat.

Text und Collage bei ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ | 139

wiederholt. Insgesamt stehen neun Tische und sechs Sitzgelegenheiten – diverse Stühle, Sessel, ein Sofa und ein Korbstuhl (vgl. K 39) – im Zimmer. Auch „ein bis zur Zimmerdecke reichendes baumartiges Gewächs“ (K 40) wird aufgezählt, das den ‚Pflanzentisch‘ links unten meint. Abbildung 8: ‚Collage b‘, 1959

Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: HZ 3386.9 „[A]us den Worten der Haushälterin und der Mutter war zu vernehmen, daß sie von Schürzen, Blusen, Röcken, Hauben, Bändern und Hüten sprachen […]. [U]nd aus den Worten des Herrn Schnee […], daß man von gebügelten Hosen, Schuhmodellen,

geputzten

und

ungeputzten

Schuhen, Kavalleriestiefeln, Reitpferden und einer Weinstube […] sprach […].“ (K 44)

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Mit den Stühlen können die Figuren des „Mikroromans“ gemeint sein. Die Haushälterin und die Mutter sitzen in besagter Situation auf dem Sofa, der Hauptmann und Herr Schnee „in tiefen Sesseln“ (K 41) und, „auf dem hohen, schwarzen Stuhl, der Vater“ (K 41). Der Doktor sitzt auf einem ledernen Sessel, der Hausknecht auf einem gepolsterten Hocker und der Schneider auf einem Schemel. Der Sohn steht neben seinem Vater; die Kinder der Familie werden über den Hochstuhl mit in das Bild geholt. Der Ich-Erzähler steht in dieser Situation am Fenster – an anderer Stelle sitzt er aber auf dem „Abtritt“ (K 10), sodass sich hier eine direkte bildliche Entsprechung ergibt. Allerdings kann das aufgrund der unzureichenden sprachlichen Anbindung nur eine Annahme bleiben. Die Haushälterin hat eine „Garderobenkammer“ (K 43), was zu den vielen Darstellungen von Kleidungsstücken passt. Allerdings sind im Bild eher Kleidungsstücke für Männer abgebildet; einzige Ausnahme bildet die Bluse auf der rechten Seite. Wenn es heißt, dass „[d]ie Haushälterin und die Mutter […] sich [erhoben], von Kleidersäumen, Perlmuttknöpfen, Korsettösen, Hutnadeln und Broschen sprechend, und seitwärts […] auf die Garderobentür zu[gingen] und sich […] in den mit Kleidern vollgehängten Raum [begaben]“ (K 45), kann die Ansammlung von Hosenträgern und Kragen den „vollgehängten Raum“ meinen; diese Anbindung scheint aber recht lose und nur bedingt stichhaltig, besonders, da die im Text benannten Kleidungsstücke nicht im Bild wiederzufinden sind. Auch wenn „aus den Worten der Haushälterin und der Mutter […] zu vernehmen [war], daß sie von Schürzen, Blusen, Röcken, Hauben, Bändern und Hüten sprachen“ (K 44), gibt es zwar eine Assoziation zu den Motiven auf der Collage, aber die nachweisbare und überzeugende bildliche Entsprechung fehlt. Auch zu „den Worten des Herrn Schnee […], daß man von gebügelten Hosen, Schuhmodellen, geputzten und ungeputzten Schuhen, Kavalleriestiefeln, Reitpferden und einer Weinstube […] sprach“ (K 44), gibt es keine stichhaltige Anbindung des Posttextes an den Prätext. Denkbar ist die Absicht, mit der ‚Collage b‘ zu zeigen, dass eine äußerer Rahmung durch Kleidung dargestellt wird. Es wird darauf hingewiesen, dass jeder Mensch sich in Abhängigkeit zu der Gesellschaft, in der er lebt, nach außen hin reguliert – aber im Inneren letztlich alle gleich sind. Jeder Mensch besteht im Inneren aus dem gleichen Knochengerüst. Hier verliert sich ein Versuch der Erklärung aber in Spekulation, die nicht zielführend ist. Das Resümee muss sein, dass dies eine der Collagen der Reihe ist, die nur sehr spärlich textuell angebunden ist, sowohl formal als auch inhaltlich.

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Eine weitere Collage aus dem Kreis der unveröffentlichten ist die ‚Collage c‘. Das Bild zeigt vornehmlich Körperteile und anatomische Abbildungen. 65 Ergänzt wird das durch eine Tasche, die an eine Arzttasche erinnert, eine Kröte mit Eiern auf dem Rücken und zwei Fragmenten, die Schüsseln und gestapelte Becher abbilden. Die Collage hat, wie auch die ‚Collage a‘, einen erkennbaren schwarzen Hintergrund. Die elf Fragmente, aus denen dieses Bild besteht, wurden also nicht über- oder aneinander-, sondern ohne Verbindung nebeneinandergeklebt. In sieben weiße und beigefarbene Bildelemente wurde zusätzlich mindestens ein kleines, schwarzes Rechteck geklebt. In das Element auf der rechten Bildseite hingegen, das als Einziges sehr dunkel ist und zwei Personen in einer Umarmung zeigt, wurde ein helles Rechteck geklebt. Zwei Fragmente – die Darstellung von drei ineinander gestapelten Schüsseln rechts unten und der Kröte mittig im Bild – haben kein zusätzliches Rechteck. Diese Collage kann wieder auf eine einzelne Figur des Romans bezogen werden, den Doktor. Wiederholt wird im Text beschrieben, wie diese Figur sich selbst operiert und an seinen Verbänden nestelt: „[…] der Doktor löst, mit verzerrtem Mund, das letzte Stück des Verbandes vom Handgelenk und blickt auf sichtbar gewordene flammend rote Haut […].“ (K 25) Einmal sucht der Doktor Hilfe beim Ich-Erzähler: „Seine Lippen regten sich, doch seine Stimme war nicht zu vernehmen […]. [N]un konnte ich mir aus seinen Atemzügen und Zungenbewegungen folgende Worte deuten, Wunden heilen nicht, wie tief ich auch schneide, tief aushöhle, bis auf die Knochen, Messer auf Knochen knirschen, schaben, abbrechen, abbinden, […] unten am Arm, dann weiter oben, hoben, Achselhöhle, Oberarmknochen, […] Gelenk, […] bis zu den Rippen, in der Brust, tief in der Brust, Herz frei legen, Lungenflügel, Beine, […], sägen, ausfegen, um die Waden, Schienenbeine aufgeschnitten, […], Oberschenkel, tief im Unterleib […].“ (K 35)

Diese Textstelle und ähnliche Textstellen rufen Ekel hervor, wenn der Doktor sich „aufs Geratewohl“ (K 60) den ganzen Körper öffnet. Die Textstellen sind anschaulich und ekelerregend; zur Verstärkung des Effekts werden die Geräusche benannt und akustisches Vokabular eingesetzt (vgl. K 35). Die Collage al-

65 Weiss hat ein ausgeprägtes Interesse an anatomisch-medizinischen Darstellungen, wie sich in der Herstellung anderer Bilder, beispielsweise ‚Obduktion‘ oder ‚Anatomie‘ mit diesem Motiv ablesen lässt. Er selbst sagt: „Zur ‚Obduktion‘ kam ich durch den Vater meiner Frau, der Pathologe war und Obduktionen am ‚Karolinischen Krankenhaus‘ machte, wo ich die Möglichkeit hatte, bei solchen Obduktionen zu zeichnen.“ (MPW 37)

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lerdings ist in ihrer Gesamtwirkung weit weniger ekelerregend. Vielmehr wirkt sie im direkten Vergleich zu den Textstellen sauber, ordentlich und reduziert auf schematische anatomische Darstellungen ganz ohne „Blut, Eiter“ (K 35). Abbildung 9: ‚Collage c‘, 1959

Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: HZ 3386.10 „[D]er Doktor löst, mit verzerrtem Mund, das letzte Stück des Verbandes vom Handgelenk und blickt auf sichtbar gewordene flammend rote Haut […].“ (K 25)

Analog dazu, wie der Doktor „schabt“ und „freilegt“, zeigt die Collage einen von seiner Haut freigelegten Kopf links oben und ein ebensolches Bein links unten. Das Fragment in der Mitte, das an ein Organ denken lässt, steht in direkter Beziehung zu der Beschreibung, „wie tief [der Doktor; H. K.] auch schneide[t], tief aushöhl[t], bis auf die Knochen, […] tief in der Brust […], freileg[t]“ (K 35).

Text und Collage bei ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ | 143

Und passend zu der Beschreibung, dass „seine Augen […] mit einem leeren weißlichen Schimmer vor sich hin[starren]“ (K 35), zeigt Weiss rechts oben im Bild ein weit aufgerissenes Auge, umgeben von Bläschen und wabernden Strukturen. Immer wieder wird berichtet, dass eine „Wunde offen“ (K 35) ist. In benannter Szene führt der Ich-Erzähler den Doktor aus dem Zimmer: „Ich stützte ihn am Arm, öffnete die Tür, leitete ihn aus meinem Zimmer heraus“ (K 36), ähnlich wie im Bild auf der rechten Seite ein Mann von einem anderen gehalten wird. Fast absurd wird die Szene, wenn der Doktor fragt, „wohin, wohin, wohin führt der Kranke den Arzt […].“ (K 36) Der Erzähler führt den „Arzt“ in dessen „Zimmer“ (K 36). Dort zählt der Ich-Erzähler sieben Tische, davon zwei Instrumententische „mit Pinzetten, Messern, Nadeln, Gläsern, Flaschen, Näpfen und Schachteln“ (K 37) darauf. Im Bild sieht man passend dazu eine Tasche, die sehr an die eines Arztes erinnert. Auch die ineinandergestellten Schalen lassen an medizinische Utensilien denken, ebenso wie die übereinandergestapelten Becher. Die Fächer eines Schrankes sind „mit zahllosen braunen, grünen und schwarzen, mit Etiketten versehenen Flaschen angefüllt“ (K 37). Diese „Etiketten“ können ihre bildliche Entsprechung in den kleinen Rechtecken auf den einzelnen Elementen haben. Und damit endet die Text-Collage-Anbindung auch bereits wieder. Ebenso wie bei den Collagen ‚a‘ und ‚b‘ gibt es nur wenige Textstellen, auf die sich die Collage nachweisbar bezieht. Der Text wird durch die Collagen nicht bemerkenswert ergänzt. Zwar werden einzelne Aspekte und Charaktere der Figuren auch hier bildlich betont. Es werden auch Szenen und Ausschnitte aus Situationen im Bild aufgenommen und es kommt der Aspekt des Katalogisierens zum Tragen. Dennoch sind diese drei Collagen im künstlerischen Wert und in ihrer Wirkung weit weniger bedeutsam als die bis hierher besprochenen Bilder. Interessanterweise ähneln diese drei unveröffentlichten Collagen in ihrer Addition von Fragmenten zwei anderen Collagen von Weiss, die in ‚Rekonvaleszenz‘66abgebildet wurden. ‚Rekonvaleszenz‘ wurde 1991 posthum veröffentlicht; zwei der drei dort abgebildeten Collagen stammen aus dem Jahr 1959. Sie entstanden also exakt zu jener Zeit, in der Weiss die Reihe zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ herstellte. Sie heißen bezeichnenderweise ‚Personengalerie‘ und ‚Häusliche Szene‘ – beides Themen also, die sich auch in den benannten Collagen der ‚Kutscher‘-Reihe wiederfinden. Ob die Collagen in demselben Kontext hergestellt wurden, ist nicht mehr festzustellen, zumal der Suhrkamp Verlag es auch an dieser Stelle verpasst, Herkunft, Herstellungskontext, Titel

66 Peter Weiss: Rekonvaleszenz. Mit drei Collagen vom Autor. Tausenddruck 4. Frankfurt a. M. 1991, hier S. 101 und S. 141.

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und Entstehungsjahr der Collagen auszuweisen. Allerdings ist die Herkunft aus demselben Kontext sehr wahrscheinlich: In der ‚Häuslichen Szene‘ findet sich die Nähmaschine von ‚Collage a‘ wieder. Auch ähneln sich die Frauendarstellungen dieser beiden Bilder sehr. Zwei Elemente der ‚Collage V‘ befinden sich in den beiden ‚Rekonvaleszenz‘-Collagen: In der ‚Collage V‘ ist eine Hand, die etwas mit Zeigefinger und Daumen greift, nur teilweise zu sehen. In der ‚Häuslichen Szene‘ ist die gesamte Abbildung der Hand aufgeklebt. Es ist unbestreitbar dasselbe Element. In der ‚Personengalerie‘ und in der ‚Collage V‘ ist der gleiche Kochtopf zu sehen. Allerdings gibt es keine darüber hinausgehenden Anbindungen an den Text, sodass der gleiche Entstehungskontext an dieser Stelle zwar wahrscheinlich erscheint, sich aber weder für das Text-Collage-Verhältnis keine neuen Aspekte ergeben noch eine Anbindung der beiden Collagen aus ‚Rekonvaleszenz‘ an ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ nachweisbar ist. Zwischenfazit Die ‚Collage V‘ bezieht sich auf zwei unterschiedliche Szenen und setzt zwei neue Schwerpunkte: die bildliche Darstellung von im Text beschriebenen Räumen und die Darstellung des Alltags der Bewohner, also deren Zusammenleben. Es geht weniger um eine singuläre Darstellung eines einzelnen Charakters wie zum Beispiel bei den Collagen ‚I‘ und ‚III‘. In ihrer Machart ist die ‚Collage V‘ besonders, da der schwarze Hintergrund zwischen den einzelnen Elementen sichtbar bleibt. Räume und Alltagsgegenstände werden, entsprechend der textuellen Vorgabe, in der Collage katalogisiert und systematisiert. Dabei ahmt Weiss den ‚Rundum-Blick‘ des Ich-Erzählers durch die Machart der Collage und die katalogisierende Anordnung der Fragmente nach. Bei der Analyse wird außerdem deutlich, dass sich fast alle bildlichen Darstellungen auf die Geschehnisse beziehen, die sich im oder im nächsten Umfeld des Hofes ereignen. Die Anbindungen an den Text sind zahlreich und sicher, jedoch können nicht immer alle Fragmente eindeutig auf eine bestimmte Textstelle bezogen werden. Durch die diversen Verweise ergibt sich zwar ein detailreicher Blick auf den Alltag der Bewohner. Die Figurendarstellung fällt dadurch aber insgesamt auch ‚schmaler‘ aus als bei anderen Bildern aus dieser Reihe. Drei andere Collagen, die in Machart und Inhalt ganz ähnlich erscheinen, wurden nicht veröffentlicht. Dabei handelt es sich um die Collagen ‚a‘, ‚b‘ und ‚c‘, die ich soeben untersucht habe. Sie bieten weit weniger Deutungspotential als die bisher besprochenen Bilder und auch als die ‚Collage V. Diese drei Collagen sind künstlerisch wenig wertvoll und können am ehesten, so wird mit der Analyse offenkundig, als Unterstützung der ‚Collage V‘ gesehen werden. Die

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Entscheidung gegen eine Veröffentlichung dieser drei wenig gehaltvollen Bilder erklärt sich spätestens mit der Untersuchung des zugegebenermaßen wenig ergiebigen Text-Collage-Verhält–nisses. Es gibt relativ wenige Bezüge zum Text, und auch die Betonung der sprachlichen Besonderheiten erscheint redundant. Die drei unveröffentlichten Collagen sind insgesamt banal und nur unwesentlich aussagekräftig. In anderen Collagen arbeitet Weiss weitaus gekonnter und differenzierter aus, was in den drei unveröffentlichten Bildern lediglich in Ansätzen wiederholt wird. Durch die formalen Wiederholungen, die wenig relevanten inhaltlichen Bezüge und die mangelnden neuen Aspekte und Erkenntnisse sind die drei Collagen belanglos. Sie sind nicht mehr als eine erweiternde, ausdehnende, man mag gar sagen: verwässerte Illustration mit rein additivem Charakter. 3.2.4 Zwei fallen aus dem Rahmen ‚Collage VII‘: „Mama! Mama!“ Die ‚Collage VII‘ wird als siebtes und damit letztes Bild im ‚Tausenddruck‘ abgebildet.67 In diesem Bild fügen sich neun gelbliche und 13 schwarz-weiße Teile zu einer heterogenen Collage zusammen. Sie wirkt uneinheitlich aufgrund semantisch disparater und ungleich angeordneter Bildfragmente. Die einzelnen Fragmente wurden teils nebeneinander-, teils übereinandergeklebt, teils bleibt ein weißer Hintergrund zu erkennen. Alle Schnittstellen sind deutlich erkennbar. Ein zentrales Thema wird nicht sofort deutlich. Über die Zuordnung zu Motivbereichen können die Themen der Collage jedoch treffender bestimmt werden. Die 22 Fragmente lassen sich in vier wesentliche Motivbereiche einteilen: Kutsche und Pferd; Harlekin und Marionette; Schweine; Kind und Karren. Eine Besonderheit ist die Integration eines Textfeldes: In der Mitte des rechten Bildrandes sind die Worte „Mama! Mama!“ zu lesen. Die Buchstaben sind dick und schwarz. Diese Besonderheit ist, auch reihenübergreifend betrachtet, einzigartig. Zum Motivbereich ‚Kutsche und Pferd‘ gehören neun einzelne Bildelemente. Oben rechts gruppieren sich vier schwarz-weiße Elemente zu einer in sich abgeschlossenen Einheit. Drei von vier Teilen zeigen Ausschnitte von Kutschen; ein viertes zeigt, entgegen der Abbildungsrichtung der Kutschen-Elemente, einen Pferdekopf mit Trense. Diese vier Teile scheinen harmonisch eine Einheit zu bilden, obwohl das Pferd, wie beschrieben, ‚falsch herum‘ vor der Kutsche steht.

67 Weiss, Der Schatten des Körpers des Kutschers, Tausenddruck 3, S. 69.

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Abbildung 10: ‚Collage VII‘, 1959

Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: HZ 3386.7 „[D]er Schneider […] wie ein Harlekin […].“ (K 18) „[E]r kommt, der Wagen, der Wagen kommt.“ (K 50) „Der Sohn schob den Karren, mit aller Kraft […].“ (K 31)

Die drei Abbildungen von Kutschen scheinen sich aufeinander zu beziehen. Das oberste der Dreiergruppe kann dabei als Ausgangsbild gesehen werden, da die beiden darunterliegenden Bildteile eine jeweilige Vergrößerung eines bestimmten Ausschnittes zu zeigen scheinen. Durch den ähnlichen (oder gar gleichen?)

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Herkunftskontext68 fügen sich die drei Bilder trotz kleinerer Differenzen im gemeinsamen Hauptmotiv zu einer Einheit. Nicht nur motivisch, sondern auch formal entsteht diese Verbundenheit. Zudem wurden die vier Elemente so passend ausgeschnitten und aneinandergeklebt, dass sie oben, links und rechts eine akkurate gemeinsame Außenlinie bilden. An ihrem unteren Rand ragt nur das unterste Kutschen-Fragment etwas über diese Außenlinie hinaus. Ein weiteres Element reicht ein klein wenig in die Vierergruppe hinein. Unter der Vierergruppe klebt mit der Abbildung einer Handkarre ein weiteres Fragment aus dem ersten Motivkreis. Auch dieses Fragment ist schwarz-weiß. Und wieder scheint es, als ob ein anderes Element einen Ausschnitt in Nahaufnahme zeigt: An der rechten unteren Ecke des Fragments schließt sich ein Bild an, das einer Vergrößerung eines der beiden Räder der Handkarre gleicht. Dieses Bild könnte aber auch als ‚herangezoomter‘ Teil der Kutsche der beschriebenen Vierergruppe zugeordnet werden. Eine eindeutige Zuordnung ist nicht möglich. Im unteren Drittel der ‚Collage VII‘ wurden die drei übrigen Bilder aus dem Motivkreis ‚Kutsche und Pferd‘ angeordnet. Alle drei Elemente sind gelblich und zeigen im Gegensatz zu den beschriebenen Fragmenten im oberen Bereich der Collage sowohl eine Kutsche, einen Handkarren oder Anhänger als auch ein Pferd auf ein und demselben Element. Das linke der drei unteren Elemente zeigt einen Scherenschnitt und scheint damit auf den Beischlaf zwischen Haushälterin und Kutscher im letzten Abschnitt des „Mikroromans“ anzuspielen, der ähnlich einem Schattenspiel vom Ich-Erzähler wiedergegeben wird (vgl. K 49-56, hier insbesondere 54-56). Der Anhänger, vor den das Pferd gespannt ist, könnte ein kleines Güllefass sein. An der vorderen Seite des Güllefasses ist ein umgedrehtes Herz eingelassen. Dies kann als weiterer Hinweis auf den Beischlaf der Haushälterin mit dem Kutscher verstanden werden, zumal der Ich-Erzähler angesichts der für ihn nicht zu verarbeitenden Situation noch ‚verdrehter‘ als überhaupt schon erscheint. Der bildliche Verweis auf diese bestimmte ‚verdrehte‘ (Erzähl-)Situation und das Nichtverstehen des Protagonisten findet sich im umgedrehten Herz, das den Güllewagen ziert.

68 Denkbar ist, dass eine Zeitschrift wie ‚Das Journal des Luxus und der Moden‘ eine Quelle für Weiss war. Einige Elemente der Collagereihe zum ‚Kutscher‘ ähneln den Abbildungen im ‚Journal‘ stark, dennoch konnte trotz sorgfältiger Recherche, besonders in den Teilnachdrucken der Bände 11 bis 40 aus den Jahren 1796-1825 von Friedrich Justin Bertuch, keine eindeutige Quelle während der Arbeiten an dieser Studie identifiziert werden.

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Während der Kutscher im Text nur als Schatten zu sehen ist, fehlt eine bildliche Entsprechung völlig. Einzig über das Motiv der Kutsche findet die Figur des Kutschers Eingang in die Collage. Allerdings bringt Weiss andere Figuren in die Collage: Über das Motiv des Karrens und über die Bedeutung der Ankunft der Kutsche für die Familie im letzten Abschnitt des Textes gelangt der Rezipient beispielsweise zur Figur des Sohnes. Analog dazu findet sich das zweite der drei unteren Motive von Kutsche und Pferd auf der rechten Seite im unteren Drittel. Dort stehen ein Karren und ein Pferd nebeneinander in einer Box. Auf diese Weise verknüpft Weiss die einzelnen Figuren und Situationen. Im Text heißt es: „Der Sohn schob den Karren, mit aller Kraft […].“ (K 31) Links in der Collage befindet sich, zusätzlich zum gerade genannten Pferd-neben-Karren-Fragment, der oben beschriebene Handkarren. Links daneben ist ein Kind dargestellt. Das Kind wendet sich von etwas ab, was außerhalb des Ausschnittes liegt. Dabei hält es sich eine Hand über den Kopf. Es schaut verängstigt über seine Schulter. Auch die Geste der Hand wirkt schutzsuchend. Das Kind blickt scheinbar aus ‚seinem‘ Fragment heraus auf den danebenklebenden Karren. Hinter dem Kind lugt der ausgestreckte Zeigefinger eines Erwachsenen hervor. Etwas stark Mahnendes liegt in dieser Geste. Dieses Fragment kann bezogen werden auf eine Szene im sechsten Abschnitt (vgl. K 29-31), in der der Vater mit Herrn Schnee abmacht, dass der Sohn am Folgetag als Erziehungsmaßnahme zusammen mit Herrn Schnee Steine sammeln wird (vgl. K 31-34). Der Ich-Erzähler und Herr Schnee beobachten den Jungen tags darauf beim Steine Sammeln, „und so lag Schnees und des Sohnes Tätigkeit im Brennpunkt unserer Blicklinien.“ (K 33) Mit einem Element links oben kann der Sohn der Familie gemeint sein. In dem Fragment sieht man ein Kind in recht starrer Haltung. Es ist zentral inmitten eines Rahmens positioniert, dessen Form an ein Haus erinnert. Auch wenn in dem Fragment keine „Blicklinien“ dargestellt sind, wird durch Haltung und Position des Kindes auf die zentrale Rolle des Sohnes in der Szene angespielt. Etwas starr geht auch das Sammeln voran, und wegen eines „im Boden versinkenden Rad[s]“ (K 32) kippt der Karren des Sohnes um. Nur mit großer Mühe und Anstrengung gelingt das Wiederaufrichten der Karre. Das wird im Bild allerdings nicht dargestellt. Die Not des Sohnes drückt sich im Bild einzig über das Fragment am linken Bildrand aus. Auch das Textfeld bezieht sich auf die Familie, die familiäre Situation und besonders auf die bedenkliche Lage des Sohnes im Familiengefüge. Denn gleichsam wie der Junge nicht nur in dieser einen Situation Hilfe benötigt und niemand ihm zu Hilfe kommt, prangern die großen Lettern anklagend auf der ‚Collage VII‘: „Mama! Mama!“ Doch nicht einmal seine Mutter hilft ihm. Der Fingerzeig kann außerdem darauf bezogen werden, dass der

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Junge im neunten Abschnitt alleine in die Stadt geschickt wird (vgl. K 39-49). Dort soll er die Spieluhr der Haushälterin reparieren lassen, die er zuvor unabsichtlich beschädigt hat. Die Eltern warten auf die überfällige Rückkehr des Sohnes und eilen zur Kutsche, als sie das „Hornsignal des Kutschers“ (K 50) hören: „[E]r kommt, der Wagen, der Wagen kommt.“ (K 50) Wie auf einem Fragment am unteren Rand in der Mitte, auf dem auf einem sehr dunkeln Fragment ein Einspänner zu sehen ist, „schob sich das Pferd [i]n der dichter werdenden Dunkelheit […] gemächlich trottend, und dahinter der schwankende Wagen mit der Silhouette des Kutschers hoch oben auf dem Bock, zu uns heran […].“ (K 51) Der Sohn befindet sich aber nicht in der Kutsche und kehrt bis zum Ende des Textes auch nicht auf den Hof zurück. Sein Verbleib ist ungewiss. Daneben findet auch die Figur des Schneiders als bildlicher Hinweis Eingang in die ‚Collage VII‘. Zum zugehörigen Motivkreis ‚Harlekin und Marionette‘ finden sich in der Collage zwei Fragmente. Wie schon bei der ‚Collage V‘ angeklungen,69 sieht der Schneider für den Ich-Erzähler aus „wie ein Harlekin“ (K 18). Das liegt offensichtlich an „seinem fadenscheinigen, zusammengeflickten Anzug, scheckig wie ein Harlekin“ (K 18). Auch durch seine Bewegungen, „die so durchdacht sind, daß sie ständig über sich selbst hinaussteigen, große Bogen, verschnörkelte Arabesken und fuchtelnde Winkel beschreibend“ (K 18), erinnert die Figur des Schneiders an einen Harlekin, eine Handpuppe oder auch an eine Marionette. Zudem „ruckt und zuckt [der Schneider] mit dem angewinkelten Arm wie eine Gliederpuppe“ (K 20). Ein gelbliches Fragment unten in der Mitte zeigt einen wild gestikulierenden Harlekin von der Seite, der einen bunt gemusterten Anzug trägt, wie „zusammengeflickt“ und „scheckig“. Die Bewegung deutet „große Bogen, verschnörkelte Arabesken und fuchtelnde Winkel“ an. Der Schneider findet hier anscheinend seine bildliche Entsprechung. Das zweite Fragment aus diesem Motivbereich findet sich rechts über dem beschriebenen. Dieses Element zeigt einen weniger freundlich und arglos wirkenden Harlekin: eine grimmig dreinschauende Handpuppe, die aber auch die übertrieben beschriebenen Bewegungen des Schneiders nachahmt, wie sie im Prätext zu finden sind. Auch in der ‚Collage VII‘ überlagern sich mehrere Vorgänge, von denen manche parallel ablaufen, obwohl sie im Text nacheinander berichtet werden. Im Bild kann alles gleichzeitig gezeigt werden. Zudem übernimmt auch dieses Bild die Funktion einer Figurendarstellung.

69 Vgl. Kapitel ‚‚Collage V‘: Die Figuren im Alltag und der Alltag der Figuren‘, S. 126ff.

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Links unten sind, als letzter Motivbereich, vier Schweine zu sehen. Die Schweine und die Figur des Kutschers und dessen Kutsche werden gleich zu Beginn des „Mikroromans“ genannt; mit der Darstellung des Schattens des Kutschers und der Kutsche schließt der Text ab. Weiss nimmt Textanfang und Textende in die ‚Collage VII‘ als bildliche Verweise auf. Sie scheint auf diese Weise den „Mikroroman“ abzuschließen. ‚Collage d‘: Homogenität und Umfeld Ein letztes, nicht veröffentlichtes Bild ist die ‚Collage d‘. Sie besteht aus sechs großen und einem kleineren Fragment. Die beiden kleineren befinden sich mittig am linken Bildrand. Durch die großen Fragmente und deren regelmäßige Anordnung ergeben sich für den Betrachter grob vier Bildteile, deren Motive wie folgt gegliedert sind: links oben eine Bergspitze, ein übergroßer Schuh darunter, rechts unten eine Männerfigur, ein Landschaftsbild mit übergroßem Nachtfalter darüber. Auf dem kleineren Element ist ein Mann zu sehen, der auf dem Boden sitzt und sich mit seinem linken Arm auf einem auf der Seite liegenden Pferd abstützt. Links daneben sieht man den vorderen Teil einer Karre und in der Mitte einen fassähnlichen, runden Stumpf. Darunter klebt ein Fragment, das einen Schnürschuh in Großaufnahme zeigt. Die Schnürsenkel sind nur lose durch die vier untersten Ösen gezogen, und die Zunge des Schuhs hängt heraus. Der Oberflächenstruktur nach könnte der Schuh aus Leder sein. Er wurde anscheinend oft getragen und ist entsprechend abgenutzt. Der Schuh bei Weiss erinnert an van Goghs ‚Ein Paar Schuhe‘.70 Rechts neben dem Schuh-Fragment klebt ein großes, rechteckiges Element. Auf diesem steht ein junger Mann, bekleidet mit Hut und halbhohen Schnürstiefeln. Seine Jacke ist geöffnet und gibt den Blick frei auf eine weitere, geschlossene Jacke und ein hochgeschossenes Hemd. Der Mann steht auf einem Waldoder Feldweg. In seinen Händen hält er einen Stift und zwei lose Blatt Papier. Unter seinem linken Arm klemmt ein Wanderstock mit halbrundem Griff, und er hat ein Messer in einer Scheide umgehängt. Den Blick hat er fest geradeaus gerichtet, als ob er etwas sucht oder taxiert. Die Pose und seine Mimik inszenieren den Mann als nachdenklichen, aber unerschrockenen Betrachter. Alles oberhalb seiner Schultern und um den Kopf herum wurde weggeschnitten, sodass sein Kopf in ein anderes Fragment hineinragt. Der Übergang zu dem oberen Fragment ist mit Geweihen oder Dornen gestaltet.

70 Vincent van Gogh: ‚Ein Paar Schuhe‘, Öl auf Leinwand, 1886.

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Abbildung 11: ‚Collage d‘, 1959

Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: HZ 3386.11 „[E]ine Tageswanderung zu Fuß von der nächsten Stadt aus […].“ (K 10)

Der obere, rechte Bildteil besteht im Prinzip aus zwei Teilen: einem Hintergrundbild mit Berglandschaft und einem daraufgeklebten, riesigen Nachtfalter. Der Falter fliegt wie im Sturzflug mit dem Kopf voran von oben auf den Mann zu. Durch die beiden übergroßen Motive des Falters und des Schuhes wird besonders gut deutlich, dass die Größenverhältnisse der einzelnen Bildteile einander zuwiderlaufen. Auch zu der ‚Collage d‘ gibt es nur wenig nachweisbare Bezüge zum Text. Im sechsten Abschnitt (vgl. K 29-31) lässt der Ich-Erzähler seinen Blick schweifen und benennt den „Feldweg [hinter dem Haus]“ (K 30). Dies ist eine der sehr wenigen Stellen, in denen der Protagonist sich nicht auf etwas innerhalb des abgeschlossenen Hofes oder die nächste Umgebung des Gutes bezieht. Diese spe-

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ziellen Passagen sind indes relativ knapp gehalten: Sie benennen eigentlich nur, dass es ein ‚Außerhalb‘ gibt. Zu Beginn des „Mikroromans“ beschreibt der Ich-Erzähler, wie abgeschieden der Hof liegt: „[E]ine Tageswanderung zu Fuß von der nächsten Stadt aus […].“ (K 10) Beide Stellen können für eine Beschreibung und Deutung des Bildes herangezogen werden. Denn der „Feldweg“ könnte in der Collage mit den Landschaftsdarstellungen gemeint sein. Auch die Abgeschiedenheit kann auf ähnliche Weise bildlich dargestellt sein, da es in den Landschaften der Collage keine Anzeichen der Besiedlung gibt. In einer dritten Passage beschreibt der Ich-Erzähler weiter: „Den Blick nach links wendend nehme ich den Steinhaufen hinter dem Schuppen wahr, und hinter dem Steinhaufen, von tiefen Räderspuren umlaufen, erhebt sich die Scheune, und hinter der Scheune breiten sich Äcker aus, und in den Ackerfurchen stampft ein Pferd, und hinter dem Pferd schwankt ein Pflug, halb auf dem Griff des Pfluges liegend, stampft der Hausknecht, und hinter den Äckern liegen die Waldungen in rötlich violettem Dunst […].“ (K 30)

Mit dieser Textstelle erklären sich auch das „Pferd“ und der Karren (zwar nicht als Karren selbst, sondern über die „Räderspuren“) in der ‚Collage d‘. Weitere sichere oder eindeutige Bezüge gibt es in dieser Collage nicht. Zwischenfazit Nicht etwa, weil mit der Analyse der beiden Collagen noch wesentliche Neuerungen oder bedeutende Interpretationsansätze gewonnen wären, habe ich die ‚Collage VII‘ und die ‚Collage d‘ zusammengenommen und in einem gesonderten Kapitel analysiert. Sondern diese beiden Bilder weisen jeweils eine Eigenheit auf, die ich gerne herausstellen wollte. Die ‚Collage VII‘ weist als einzige Collage Text im Bild auf. Mit dem Textfeld stünde Weiss der Anschluss an die Form der Text-Bild-Collage offen. Mit der beschriebenen Technik der Zergliederung, der geometrischen Formensprache und seiner Orientierung am Kubismus hat Weiss mit der Aufnahme des Textelementes die Chance, ein spielerisches Element in die Reihe aufzunehmen. Das bleibt allerdings aus, da Weiss dafür zu eng an seinem Text bleibt. Das Textfeld dient vielmehr als ein Element in der Thematisierung innerfamiliärer Verhältnisse. Denn erneut dient die ‚Collage VII‘ maßgeblich einer Figurendarstellung und -charakterisierung. Und abermals ist das Verhältnis von Vater und Sohn im Bild gemeint; ergänzt wird die Figurendarstellung des Schneiders. Mit der Abbildung der Schweine und dem Motiv der Kutsche beziehungsweise des Kutschers um-

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fasst die Collage den ersten und letzten Abschnitt des Textes und damit den gesamten „Mikroroman“. Es kommen insgesamt aber keine wesentlich neuen Aspekte hinzu; vielmehr können die zugehörigen Textstellen wiederholt dem gleichen oder einem ähnlichen Kontext zugeordnet werden. Auch zu der ‚Collage d‘ gibt es nur spärliche und wenig sichere Verweise auf oder Anbindungen an den Prätext. Wenn man annimmt, dass die Collage aufgrund mangelnder textueller Anbindungen offener zu deuten ist, könnte man annehmen, dieses Bild sei symbolisch gemeint. Dem widerspricht Weiss: „Einige Kritiker glaubten, nicht nur in den beigefügten Collagen, sondern auch im Text symbolische Inhalte zu erkennen. Peter Weiss widersprach dieser Meinung. In einem Interview mit Michael Roloff 1964 sagte er: ‚Nein, mich interessierte nur die Isolierung ländlichen Lebens in so einem Bauernhaus. Dabei habe ich nichts Symbolisches beabsichtigt. Weder der Kutscher noch irgendeine andere Person sind symbolisch gemeint. Für mich waren das nur Menschen auf dem Lande. Meiner Meinung nach ist der gesamte Text ganz und gar realistisch. Ich kannte zufällig Menschen, die genauso lebten, und ich kenne solche Menschen und solche Gegenden in Schweden, in denen total abgeschiedene Bauernhäuser stehen und wo die Bewohner einfach nur so herumsitzen. [...] Ich glaube nicht, daß ich etwas sagen wollte, was über das Geschriebene hinausgeht. Ich meine, dies ist die realistische Erzählung eines Mannes, der eine Existenz am Rande der Gesellschaft führt, unter Menschen, die genauso abgeschnitten sind vom normalen Leben wie er.“

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Wenn Text und Collagen nicht symbolisch gemeint sind, liegt eine Begründung möglicherweise in der Weiterentwicklung der Technik und Gestaltung, denn Weiss fertigt mit der ‚Collage d‘ ein vergleichsweise homogenes Bild an, in dem er das Ich sehr stark in den Fokus rückt. Homogenität und die zentrale Bedeutung eines Ichs sind wesentliche Merkmale, die man in den Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ findet – dort weit ausgeprägter zwar; aber dennoch markiert die ‚Collage d‘ höchstwahrscheinlich einen Wendepunkt in Weiss’ künstlerischer Entwicklung.

71 Online im Internet: URL: http://www.peter-weiss-bibliothek.de/peter-weiss-derschatten-des-k%C3%B6rpers-des-kutschers.html [Stand 21.11.2016, 14:42 Uhr]. (Peter Weiss zitiert nach einem Interview mit Michael Roloff, 1964. In: Peter Weiss im Gespräch. Hg. von Rainer Gerlach/Matthias Richter. Berlin 1986.)

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3.2.5 Das Text-Collage-Verhältnis bei ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘: Ein kurzes Resümee Die Collagereihe zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ ist überwiegend eng und nachweisbar an den „Mikroroman“ angebunden. Die meisten der Collagen sowie deren einzelne Fragmente dienen weitgehend einer ‚Veranschaulichung‘ einzelner, oftmals zusammenhängender Textstellen. Eine Illustration als Veranschaulichung mit erklärender und/oder schmückender Funktion ist weiterhin nicht gemeint, denn in einer Gesamtschau lässt sich feststellen, dass die Collagen zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ folgende Funktionen übernehmen: auf sprachliche Besonderheiten aufmerksam machen; Figuren charakterisieren und darstellen; Orte, Situationen und Szenen zeigen; veranschaulichen und, zum Teil, illustrieren. Die Figuren werden in ihrer Struktur, ihrem Alltag und ihren gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Ordnungsprinzipien dargestellt. Die Figuren werden im Text, noch genauer aber im Bild, als Repräsentanten der bürgerlichen Gesellschaft gezeigt. Viele Collagen aus der ‚Kutscher‘-Reihe übernehmen ganz offensichtlich Funktionen, die der Text nicht leistet: sie veranschaulichen, analysieren und charakterisieren Figuren. Damit sind sie wechselseitig erhellend, um es mit Walzel zu sagen. Die Ambivalenz zwischen illustrativen einerseits und über den Text hinaus weisenden Funktionen andererseits lässt sich nicht abschließend lösen. Denn der Prätext wird durch die Collagen inhaltlich ergänzt. Die Collagen veranschaulichen den Text und fügen ihm ausgewählte Aspekte hinzu. Diese werden teils besonders intensiv dargestellt. Die Absicht, eine „zweite Geschichte“ hinzuzufügen, ist aufgrund der fehlenden Narrativität der Bilder weniger gut gelungen. Doch die formalen Variationen und die abwechslungsreiche Gestaltung schaffen überwiegend gehaltvolle Collagen. Sie sind mannigfaltig in ihrer Machart und ihrem Inhalt, auch wenn es – bis auf eine Ausnahme mit ‚Collage d‘ – geometrisierende, aus Rechtecken zusammengesetzte flächige Bilder sind. Dabei sind die einzelnen Collagen mal mehr, mal weniger ergiebig und unterschiedlich gelungen und in verschiedenem Maße als eigenständiges Kunstwerk zu bewerten.

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Text und Collage bei ‚Abschied von den Eltern‘

4.1 EINFÜHRENDE TEXT- UND BILDBESCHREIBUNGEN Im Jahr 1960, kurz nach dem fast gleichzeitigen Tod seiner Eltern, 1 beginnt Peter Weiss, den autobiographisch-subjektiven Text ‚Abschied von den Eltern‘ zu schreiben. Eigentlicher Schreibanlass2 war allerdings der „tiefe Bruch zwischen uns [Peter Weiss und Gunilla Palmstierna-Weiss; H. K.] vor bald zwei Jahren, an den sich ein Jahr Trennung schloss“ (KJ 61), wie der folgende Eintrag im ‚Kopenhagener Journal‘ zeigt: „[…] 27 August 1960. Habe aus der TEXTUR das weggestrichen, was der eigentliche Anlass zum Niederschreiben war, nämlich alles über die Krise nach dem Bruch mit G. Jetzt steht nur noch die Auseinandersetzung mit den Eltern und der Jugend.“ (KJ 33)3 Auch in seinem Brief vom 24. August 1960 an Siegfried Unseld schreibt Weiss:

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Frieda Weiss stirbt im Dezember 1958, Eugen „Jenö“ Weiss im März 1959. Vgl. dazu Sigmund Freud: VI. Die Traumarbeit. In: ders., Traumdeutung, S. 284-500, hier besonders: ‚A Verdichtungsarbeit‘, S. 285-308: Aktuelles, Leben(-sumstände), Erinnerungen gelten bei Freud als Auslöser und gleichzeitige Berührungspunkte; vgl. dazu ders.: Der Dichter und das Phantasieren. In: ‚Der Dichter und das Phantasieren‘. Schriften zur Kunst und Kultur. Hg. von Oliver Jahraus. Stuttgart 2010, S. 101-112.

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‚Textur‘ war – neben ‚Stadien der Befreiung‘, ‚Befreiungsversuch‘, ‚Stadien eines Befreiungsversuchs‘, ‚Schwierigkeiten bei einer (der) Befreiung: Der Loslösung‘, ‚Loslösung‘ und ‚Austritt aus einer Familie‘ (B 99) – der von Weiss vorgeschlagene Titel für seine Erzählung. ‚Textur‘ wurde vom Lektor des Suhrkamp Verlages, Hans Magnus Enzensberger, jedoch in ‚Abschied von den Eltern‘ geändert (vgl. KJ 116 und AB 210).

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„Ich habe mir inzwischen das Manuskript der „Textur“ vorgenommen und herausgefunden, was verkehrt daran war. Die angedeutete Geschichte von einer mißglückten Liebe, die als Thema neben dem eigentlichen Stoff herlief, habe ich weggestrichen. […] Nun steht das Thema des Buches, die Auseinandersetzung der Ich-Figur mit den Gestalten von Vater und Mutter, frei.“ (B 83)

Der finale Text trägt sowohl autobiographische als auch fiktive Züge; Weiss selbst nennt seinen Text „selbstbiographisch“ (MPW 41). In zwei Zeitformen – Präteritum und Präsens – zeichnet der Ich-Erzähler in einer puzzleartigen Mischung aus Tagebuch, Collage, Reportage und Dokumentation den Lebensweg des Erzählers nach. Die ‚Erzählung‘ ist nicht durchweg belegbar; oft kann zwischen Realität und Fiktion, Wirklichkeit und Traum nicht unterschieden werden.4 Weiss schreibt nicht stringent chronologisch und verknüpft seine Gedankenketten assoziativ. Er versteht dieses assoziative Schreiben, ähnlich wie die Surrealisten, als eine Technik der kreativen Selbstbefreiung. Der Ich-Erzähler ist dabei eine „Figur, die er [Peter Weiss; H. K.] am eignen Leib spürt […]. Die Figur, die aus seinen Gedanken entstanden ist, trägt Züge seiner selbst und von Erlebnissen, die ihm widerfahren sind, doch erhebt sie sich wie in einem Traum, mit Konturen, die sich verschieben und zu neuen Gebilden werden wollen.“ (NB1 40)

Der Traum ist zum einen eins der zentralen Motive für Weiss, zum anderen wesentliches Gestaltungscharakteristikum. Weiss beschreibt sein Leben als das eines Außenseiters, der „auf dem Weg, auf der Suche nach einem eigenen Leben“ (A 141) ist. Er bemängelt das Fehlen einer wirklichen Zugehörigkeit: zu seiner Familie, zu einem Land, zu anderen Kindern. In ‚Abschied von den Eltern‘ beschreibt Weiss, wie er sich schon als Kind in selbst gewählte Exile flüchtet – bevorzugt in seine jeweiligen Kinderzimmer (die auffälligerweise immer unter dem Dach waren; auch als er älter wird und die Familie wiederholt umzieht, ist sein Raum im Dachgeschoss und auf dem Dachboden) und, in früher Kindheit, auch

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Zur Diskussion um (Auto-)Biographie und literarische Konstruktionen bei Peter Weiss vgl. Mazenauer: Konstruktion und Wirklichkeit. Mazenauer zeigt in dieser Abhandlung anhand einiger treffender Beispiele, „wie sehr Erfahrung und Erinnerung, Erlebens-Gegenwärtigkeit und literarische Konstruktion auseinanderklaffen und im nachhinein einen Sachverhalt verändern und verfälschen können“ (PWJ 2 46-47). Mazenauer verneint allerdings die Frage, ob ‚Abschied von den Eltern‘ autobiographisch zu nennen ist (vgl. ebd., PWJ 2 46).

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in die Gartenlaube, die sich im Garten des Hauses in der Bremer Grünenstraße befand. Dort oben erschafft er Traumwelten, entzieht sich zumindest zeitweilig dem Zugriff der Eltern und entflieht der Realität; diese Spiele in seiner Kindheit sind immer mit Träumereien und Flucht verbunden: „Erfüllt von der Gewißheit, völlig abgeschieden und von allen vergessen zu sein, schlich ich mich zu meiner Landschaft [gemeint ist eine Kriegsszenerie, die Weiss in seinem Zimmer im Dachgeschoss erschafft, um damit zu spielen; H. K.], die ich […] erbaut hatte.“ (A 79) Wie sehr diese Flucht nötig ist, zeigt folgende Stelle sehr eindringlich: „[…] und immer tiefer halluzinierte ich mich in die Nacht hinein, […] und alles sank von mir ab, der Druck der Schule, die Drohungen und Ermahnungen, und nur wie eine ferne, ewige Brandung vernahm ich noch die Forderungen der Welt.“ (A 87) Auch für die Beschreibung und Entwicklung von Figuren in ‚Abschied von den Eltern‘, die auf realen Freunden, Bekannten und Weggefährten basieren, zieht Weiss den Traum heran, so zum Beispiel bei der Beschreibung der Figur des Berthold: „Bertholds Gestalt ist fließend und vergehend, wie Traumgestalten morgens […].“ (A 70)5 Aus seinen Träumereien erwachend oder durch den Ruf der Mutter herausgerissen, findet sich Weiss in der ungeliebten, schwierigen Realität wieder: „Und dann […] nahm das Zimmer Gestalt an, das furchtbar alltägliche Zimmer, und vernichtete meine Einbildungen.“ (A 87) Was für den halbwüchsigen Peter Weiss das Träumen war, ist für ihn als Erwachsener die Kunst: ein Befreiungsversuch. Das Kind möchte vor der Realität flüchten, besonders vor der erzwungenen Exilsituation, ebenso vor seinen Eltern. Aus dem Traum entsteht Neues, und so ist und bleibt er für Weiss eine wichtige, lebenslange Quelle der Ideenfindung. Kunst und Traum gehen miteinander einher. Beide ermöglichen ihm, sich aus seiner Realität zu befreien und seinen eigenen Empfindungen Ausdruck zu verleihen, oder um es mit Weiss selbst zu sagen: Die Fantasie kann fließen. (vgl. KJ 16) Der Zusammenhang und die Bedeutung von Fantasie und Spiel, vom Traum und von der Rettung durch Spiel im Exil, später dann durch die Kunst: All das findet sich auch im ‚Kopenhagener Journal‘. Das ‚Kopenhagener Journal‘ als nicht zur Veröffentlichung vorgesehenes Tagebuch entsteht zwischen Juli und Dezember 1960. Es ist eine reichhaltige Quelle für die Entwicklung von ‚Abschied von den Eltern‘ und für den Text-Collage-Kontext. Denn darin spiegeln sich der Arbeitsprozess und seine Gedanken und Ideen – und somit auch die Phase des ausgeprägten Zweifels am eigenen Ich. Wie auch ‚Abschied von den

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Die literarische Figur des Berthold basiert auf der realen Person Berthold Merz, mit dem Peter Weiss seinerzeit in Bremen eng befreundet war.

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Eltern‘ ist das ‚Kopenhagener Journal‘ ein „introspektives Gewahrwerden“, das „diese Empfindungen [Vorstellungen, Stimmungen, Eindrücke, Gefühle, Gedanken, H. K. nach W. Mertens6] zum Gegenstand der inneren Betrachtung macht.“7 Bis zu diesem Zeitpunkt ist Weiss als Künstler kaum bekannt und wenig erfolgreich, wodurch in ihm erhebliche Zweifel am Schreiben als geeignetes Mittel des Ausdrucks entstehen. Seine Erwartungen an sich selbst und der Druck, nach dem Erfolg von ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ den nächsten Erfolg versprechenden Text zu liefern, hemmen ihn offensichtlich enorm. Von einer Schreibblockade zu sprechen, liegt nahe. Hinzu kommt die schwierige Beziehung zu Gunilla Palmstierna-Weiss. Weiss notiert ständige Reflexionen im ‚Kopenhagener Journal‘ über das Ich, reflektiert die Suche nach dem (eigenen) Ich, was auch motiviert ist durch die Arbeit an ‚Abschied von den Eltern‘. Der Nachweis, dass ein direkter Zusammenhang zwischen der ‚Erzählung‘ und dem Tagebuch vorliegt, soll hier exemplarisch an der im ‚Kopenhagener Journal‘ festgehaltenen literarischen Skizze vom ‚Briefträger Cheval‘8 vorgenommen werden. Zum einen schreibt Weiss über „Texturen der versponnenen Ebenen […], überall ist das Traummaterial […]. Die Bildwände […] sind überwoben mit Schriftzeichen und Daten, und dieses Linienspiel ergänzt und bestätigt das Entstandene.“ [KJ 15; Hervorhebung H. K.] Schon das Vokabular zieht eine nicht zu übersehende Parallele zu ‚Abschied von den Eltern‘, das, wie bereits erwähnt, ursprünglich den Titel ‚Textur‘ tragen sollte. Auch die Beschreibung als „versponnen“ und „überwoben“ kann man auf zentrale formale Charakteristika von ‚Abschied von den Eltern‘ und auch auf die zugehörige Collagereihe beziehen. Über die Figur des Briefträgers Cheval selbst heißt es, er „ist dreiundvierzig Jahre alt als er […] beginnt, und er weiss, warum er jetzt plötzlich beginnen muss, in der Reife seines Lebens, […] dieser dieser Stoss, so stark, so einfach, so überzeugend, er geht […] und stolpert, er stolpert über einen Stein, […] diesen ersten Baustein zum Palast seines Traums.“ (KJ 21)

6

Vgl. Wolfgang Mertens: Introspektion. In: Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. Hg. von Wolfgang Mertens/Bruno Waldvogel. Stuttgart 32008, S. 369-375, hier S. 369.

7 8

Vgl. ebd. Vgl. KJ 12ff. sowie Anm. 145 auf S. 73 in dieser Studie. Der fertige Text ‚Der große Traum des Briefträgers Cheval‘ wurde publiziert in: Peter Weiss: Rapporte. Frankfurt a. M. 1968, S. 136-150.

Text und Collage bei ‚Abschied von den Eltern‘ | 159

Weiss selbst ist zum Zeitpunkt der Aufzeichnungen ebenfalls 43 Jahre alt. Und wie bei seiner literarischen Figur des Briefträgers gibt es auch bei ihm selbst besagten ‚Stolperstein‘ als (Schreib-)Anlass. Es scheint, als spiegelt der Briefträger Cheval wesentliche autobiographische Merkmale des Autors wider. „Die Grundmasse des Traumes, die erste Begegnung. Hier entsteht etwas. Eine Welt von Gedanken. Ein Murmeln, ein Selbstgespräch mit Traumstimme. Worte. Traumworte, […] doch hier entsteht die Wirklichkeit eines Ich. Ich bin es, ich selbst bin es, der dies entstehen lässt. […] Meine Imagination. Ich träume. […] Meine Gedanken sind verschlungen, verworren, überladen mit Eindrücken […].“ (KJ 13)

Die Figur des Cheval beginnt aus einem ersten Stein seinen ‚Traumpalast‘ zu bauen, ähnlich einem Peter Weiss, der ‚Abschied‘ „entstehen lässt“ – einen Text, der ‚verwoben‘ ist, wie dann auch die Collagen „verschlungen, verworren, überladen“ sind. Außerdem erscheinen die Reflexionen über das ‚Innere‘ der literarischen Figur des Briefträgers Cheval analog zu den intensiven Auseinandersetzungen von Peter Weiss mit sich selbst: „[…] im erstarrten Augenblick dieser Zusammenballung dieser Gefühle in diesem träumenden Leib […]. Alles geschieht in seinem Innern. Er ist in sich drinnen, er träumt und er bannt das Geträumte.“ (KJ 14) Wie auch der Briefträger Cheval Rettung findet in der Kunst und im Traum:9 „Seine Gegenwart im Innern dieses Gebildes so stark, weil dies Gebilde kein Kunstwerk ist sondern Ausdruck einer Seele. […] Man wird nicht vor ein Kunstwerk gestellt, um es genau zu betrachten, sondern man gelangt tief in das Fantasieinnere eines Menschen hinein. Andre tragen diesen Traum […] in die Irrenhäuser, versinken dort in der Dumpfheit ihrer Einkerkerung, diesem Briefträger aber gelang es, seinen Traum zu materialisieren und damit sein Leben zu retten.“ (KJ 17)

Weiss beschreibt damit im Prinzip seine eigene Rettung durch die Kunst und durch den „materialisierten Traum“, durch den wiederum eine Bannung im Sinne einer künstlerischen Bearbeitung möglich ist.10 Bei einer Psychoanalyse durchlebt der ‚Patient‘ eine belastende Situation, erinnert sich bestimmter Affekte, holt sie wieder in sein Bewusstsein und deckt so Vergessenes respektive vom Bewusstsein bisher nicht Zugängliches wieder auf; der Affekt kann durch die

9

Vgl. zu den Aspekten Rettung, Traum und Selbstvergewisserung Bigler, Gesten des Vergessens und Erinnerns, insbesondere PWJ 24 81-86 .

10 Vgl. Kapitel ‚‚Collage V‘: Bild(er) des Ich-Erzählers‘, S. 171ff.

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Rede, die freie Assoziation, ‚abfließen‘.11 Ähnlich sucht auch Peter Weiss Hilfe: Er durchlebt schreibend die belastenden Situationen aus Kindheit und Jugend, Exil- und beruflicher Situation, wobei der Text, das Medium Wort, noch nicht ausreicht, um diese wichtigen und belastenden Themen auch wirklich abschließend zu bearbeiten. Erneut thematisiert und bearbeitet Weiss zentrale Motive, die er dafür in ein anderes Medium, nämlich ins Bild, transferiert. In dieser nachträglichen Be- und Aufarbeitung sucht Weiss letztlich immer weiter nach einem Abschluss und Befreiung – also seiner Rettung, um es ganz zugespitzt zu formulieren. Diese medial übergreifende Bearbeitung seiner Kindheit und Jugend ist ihm also ein großes inneres, lebenslanges Bedürfnis (man denke an die drei Collagen, die erst drei Monate vor seinem Tod entstehen), wie man auch aus der folgenden Aussage schließen kann, die sowohl auf Weiss selbst wie auch auf die literarische Figur des Briefträger Chevals bezogen werden kann: „[…] er spürt das unaufhörliche Pochen einer Idee die gestaltet werden muss, er spürt das Netz innerer Zusammenhänge, seine ganze Schöpfung […] webt er aus diesen inneren Zusammenhängen hervor […].“ (KJ 20) Dieses ‚Weben‘ meint die „innere[n] Zusammenhänge“, also eine „Textur“ mit diversen „Berührungspunkte[n]“ (KJ 120) und „Beziehungsnetze[n]“ (KJ 123), die durch einen schwierigen Erinnerungs- und Aufarbeitungsprozess und untrennbar miteinander verflochten zutage treten und sich letztlich sowohl im Text als auch in den Collagen als eine der stärksten Eigenschaften wiederfinden. Es ginge zu weit, die Figur des Briefträgers mit dem Autor gleichzusetzen; aber wie dargelegt wurde, können einige Stellen aus dem ‚Kopenhagener Journal‘ und besonders die Reflexionen des Briefträgers Cheval nicht einzig auf diese Figur bezogen werden, sondern ganz unverkennbar auch auf den Autor selbst. Der Ich-Erzähler von ‚Abschied von den Eltern‘ trägt autobiographische Züge. Die Selbsterforschung, die Erkundung des Ich, wie sie Weiss in ‚Abschied von den Eltern‘ vornimmt, ist ein langwieriger, schwieriger und letztlich nicht abzuschließender Prozess, wie Weiss vielfach, vor allem im ‚Kopenhagener Journal‘, festhält. So notiert er am 24. November 1960, als er noch einmal das eigentlich druckfertige Manuskript der Erzählung vom Verlag zurückerhält: „Der Versuch der Auseinandersetzung mit Kindheit und Eltern ging durch verschiedene Stadien. Die letzte Variation […] liegt vor mir, und zeigt sich in ihrer Unvollkommenheit. Diese Kindheit, diese Beziehung zu den Eltern erweist sich […] als etwas Unbestimmba-

11 Vgl. Wolfgang Leuschner: Traum. In: Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. Hg. von Wolfgang Mertens/Bruno Waldvogel. Stuttgart 32008, S. 761-767.

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res, Wandelbares. Die Kindheit ist nicht mehr vorhanden. Die Eltern sind tot. Gegenwärtig ist nur ein späteres Ich, das etwas über seine Vergangenheit aussagen will. Die Aussagen über diese Vergangenheit waren bestimmt von der jeweiligen gegenwärtigen Lage. Die frühesten Ansätze zur Ausformung hatten romantische Prägung. […] Später kamen Versuche, die grundlegenden Erlebnisse in eine fantastisch-poetische Sfäre zu versetzen. Dann kamen, mit dem Prozess einer Psychoanalyse, starke emotionale Kräfte mit ins Spiel, und grosse Abschnitte standen unter dem Zeichen des Hasses und des gewaltsamen 12

Ausbrechens.“ (KJ 119)

Wie schwierig die Arbeit an dem Ich der ‚Erzählung‘ ist, hält Weiss in vielen Einträgen im ‚Kopenhagener Journal‘ fest: „20 Sept. Wenn ich ER schreibe setze ich den Stoff auf Abstand. Ich entfremde ihn, objektiviere ihn, verstecke mein ICH, wasche mich selbst rein, stehe für den Stoff nicht anders ein als mit der Person eines Schriftstellers. Schreibe ich ICH, so halte ich gefühlsmäßig mir alles nahe, ich verspüre alles am eigenen Leib. ER ist ein künstlerisches Prinzip, eine Formfrage. ICH ist nackt. Schwanke hin und her zwischen ICH und ER, ICH wäre wohl am stärksten, wenn ich dazu noch eine Objektivität wahren könnte. Vom ICH ausgehen, für das ICH einzustehen und gleichzeitig mein eigenes Ich zu untersuchen und zu analysieren. Oder auch nur das ICH ungebändigt ausströmen zu lassen, der alte Versuch […].“ (KJ 45)

Weiss „schwankt“ zwischen Objektivierung und Distanz einerseits und Nähe zu den Erinnerungen und Selbstreflexion andererseits. „Die zwei Pole meines Schreibens. Die Richtung des freien, hemmungslosen Stroms, der subjektiven Entladung, und des objektiven Ordnens des Materials, des Analysierens. Manchmal scheint mir das eine stärker, manchmal das andre. […] Versuch, das Ich objektiv zu schildern. Sachlich die Bewegungen des Ich auf zeichnen, dabei aber auch die inneren Regungen zur Sprache kommen zu lassen, ohne dass diese gefühlvoll wirken“. (KJ 99)

12 Die zweite Psychoanalyse bricht Weiss im September 1960 ab: „Psychoanalyse. Ich hörte auf als der Analytiker sagte, vielleicht brauchen Sie gar nicht zu malen oder zu schreiben, vielleicht ist das nur Ihre Neurose, die sich da ausdrückt, und Sie sollten vielleicht einen bürgerlichen Beruf ausführen, und sich anpassen.“ (KJ 40) Er versucht, sich selbst zu helfen: „Die Schwierigkeiten direkt mit mir selbst – oder mit meinen Nächsten – vor allem G.– aufzunehmen. (?) Meine Neurose: das ist nicht das Infantile oder Impotente, sondern da liegt meine größte Kraft.“ (KJ 42)

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Zur Distanzierung und Objektivierung tilgt Weiss alles in seinen Augen übermäßig Emotionale aus dem Text: „I/12 60 Abschied von den Eltern abgeschlossen. Hatte anfangs geglaubt, das ganze müsse noch einmal umgeschrieben werden. […] Ich lasse es jetzt aber so, nachdem ich Reflektierendes, Erklärendes beseitigt, Sprünge in der Kontinuität ausgeglichen, dazu Gefühlsbetontes versachlicht habe. Der Fluss ist einfacher, geradliniger geworden […].“ (KJ 124)

Immer wieder betont Weiss seinen Wunsch, den Text so distanziert und so wenig emotional wie möglich zu formulieren und entsprechend umzuarbeiten: „13 November Im Manuskript alles streichen was gefühlsbetont ist. Adjektive bis aufs äusserste einschränken. Sätze wie, hinter dem Fenster stand schwarz die Nacht, dürfen nicht vorkommen. Schwierig wird es werden bei den spontanistischen Abschnitten wie, O grosse Fotze des Lebens. Hier ist eine gewisse ursprüngliche Kraft, die mir gerade beim Schreiben damals wertvoll war. Muss hier aber ernüchtern. „Fotze, aus der ich einst gekrochen“ geht auch nicht. […] Das ganze Buch muss noch einmal von Anfang bis Ende, Wort für Wort durchgeprüft werden. […] Titel des Buches ABSCHIED VON DEN ELTERN.“ (KJ 116)

Ein Grund für die für Weiss nicht abschließbare Arbeit – immerhin strebt er über Jahre hinweg danach, das Projekt zu realisieren, und der letztlich publizierte Text ist „das Ergebnis eines sich über gut ein Jahrzehnt erstreckenden Schreibprozesses“13 – oder vielmehr: nicht abschließbare Bearbeitung des Stoffes, kann

13 Schmolke, Das fortwährende Wirken, S. 11. Vgl. auch: Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft. Hg. von Walter Schönau/Joachim Pfeiffer. Stuttgart/Weimar 22003, S. 4: „Immer wieder zeigt sich darin [in der Erforschung der Störungen und Blockaden, die zu Schreibblockaden führen; H. K.] die Bedeutung der Ängste und Schuldgefühle, die den Schaffensvorgang begleiten, obwohl er zugleich auch als Versuch ihrer Bewältigung angelegt ist.“ Axel Schmolke legt im Kommentar der Studienausgabe von ‚Abschied von den Eltern‘ knapp die Entstehungsgeschichte des Textes dar (vgl. folgende Ausgabe: Peter Weiss: Abschied von den Eltern. Erzählung. Mit einem Kommentar von Axel Schmolke. Frankfurt a. M. 2001 [= Suhrkamp BasisBibliothek 77], S. 125-155, hier S. 129-144) und hält fest, dass „[a]n Texten […] drei vollständige Fassungen erhalten geblieben [sind]: eine schwedische (vermutlich 1951/52) und zwei deutsche (1953/54 bzw. 1959/60). […] Die publizierte Version unterscheidet sich von den Vorgängern nicht oder kaum in der Motivik und Thematik, eher schon in der Geschichte, hauptsächlich aber in der Schreibweise.“ (ders., Kom-

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im Schreibanlass liegen. Zum kompensatorischen Charakter der künstlerischen Aufarbeitung treten große Ängste und Schuldgefühle hinzu.14 Es scheint, als habe Weiss unbewusst Angst, sich tatsächlich zum Kernproblem, nämlich der eher komplizierten und unglücklichen Eltern-Kind-Beziehung, vorzuarbeiten: „Indem ich mit dem Komplex der Kindheit nie fertig werde, kann ich ja auch nur wieder das selbe mit neuen Worten schreiben. Das bleibt aber sinnlos, ich habe alles gesagt, was ich sagen kann, und ich muss einmal versuchen, es dabei zu belassen und das Stück acceptieren.“ (KJ 33)

Die Akzeptanz des Textes und damit die (zunächst bestmögliche) Lösung dieses inneren Konflikts geschieht letztlich in einer textuellen Mischung aus fiktiver ‚Erzählung‘ und Autobiographie, also durch Objektivierung und Distanzierung einerseits und Nähe zu individuellen, persönlichen Erinnerungen und Selbstreflexion andererseits. Durch den lang andauernden (Arbeits-)Prozess und den großen inneren Konflikt scheinen sich letztlich auch im Ich-Erzähler autobiographische und konstruierende stilisierende Aspekte gleichermaßen zu vereinen. Unterstrichen wird dies durch den Untertitel ‚Erzählung‘, der ausschließt, dass es sich um einen rein autobiographischer Text handelt. Das literarische Ich changiert in der gesamten Erzählung zwischen Gleichsetzung und Nicht-Entsprechung mit dem Autor. Einerseits wird auf diese Weise

mentar, S. 129-130) Vgl. auch die ausführliche Studie Axel Schmolkes zur Genese von ‚Abschied von den Eltern‘: „Das fortwährende Wirken“, insbesondere das Kapitel ‚Textzeugen‘, S. 25-58: Schmolke beschäftigt sich in diesem Teil seiner umfassenden Studie sehr differenziert mit den Entstehungs- und Bearbeitungsprozessen von ‚Abschied von den Eltern‘. – Mit der großen Resonanz und den positiven Kritiken zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ findet Weiss endlich die Anerkennung, die ihm so lange fehlte – und hemmte: „Daß ich dieses Buch [‚Abschied von den Eltern‘; H. K.] überhaupt schreiben konnte, ich hatte den Stoff während der ganzen 50er Jahre mit mir herumgetragen und immer wieder in Ansätzen und Variationen geschrieben, teils auf schwedisch, teils auf deutsch… plötzlich konnte ich es in einem Zug schreiben, im Bewußtsein, daß es irgendwo eine Resonanz gab, eine Anlaufstelle, die für so etwas empfänglich war.“ (MPW 40) 14 Neben dem Tod der Eltern thematisiert Weiss im ‚Kopenhagener Journal‘ sehr häufig die gerade zurückliegende Trennung von Gunilla Palmstierna-Weiss, seine Einsamkeit und die Angst, Gunilla wieder zu verlieren; daneben spricht Weiss auch von den vielen Versuchungen sowie seinen diversen Seitensprüngen, wenn er alleine auf Reisen ist, trotz seiner großen Verlustängste.

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an vielen Stellen die Nähe des Ich-Erzählers zum Autor deutlich. Andererseits wird dadurch betont, dass Autor und literarisches Ich eben nicht generell, sondern lediglich situativ, an ganz bestimmten Stellen, deckungsgleich sind. Eine tatsächliche Entsprechung beider Instanzen, wie sie in einer klassischen Autobiographie vorliegt, ist in ‚Abschied von den Eltern‘ immer dann erkennbar, wenn Autor und Ich-Erzähler „nicht nur formal, sondern auch inhaltlich deckungsgleich sind. […] Der Erzähler [Peter Weiss; H. K.] [reproduziert] ein Ereignis nicht nur mimetisch, sondern [fühlt sich] suggestiv in sein ‚früheres Ich‘ [ein], sodass sich das Erlebte in seiner Erzählgegenwart wieder ereignet. Hierzu dient nicht nur der formale Gebrauch des Präsens, sondern auch ein inhaltliches Gleichsetzen der beiden zeitlichen Ebenen [also Entstehungszeit und erzählte Zeit; H. K.]; […] nur so kann eine Einfühlung in das ‚frühere Ich‘ gelingen.“

15

Die durch die künstlerische Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie und dem eigenen Ich geschaffene, höchst künstlerisch konstruierte Ich-Figur deckt sich also nur mitunter und in besonders intensiv emotional erinnerten Momenten mit dem realen (früheren) Ich. Viel häufiger schafft die Arbeit mit und an dem (früheren) Ich die oben beschriebene, offensichtlich notwendige Distanz. Denn anders können die Gestaltung des literarischen Ich und die gesamte ‚Erzählung‘ nicht gelingen, wie Weiss selbst während des Arbeitsprozesses feststellt: „Die Figur, die ich untersuche, bleibt diffus […]. Er versucht, über sich selbst hinauszugelangen, sich in einer Dunkelheit zu sehen, die unmöglich ist, er versucht, sich als klar umrissene Figur in die Außenwelt zu stellen und zur Fiktion zu machen. Der Schreibende erkennt den Beschriebenen nicht wieder.“ (NB1 41)

Augenscheinlich sind Weiss’ Erinnerungen verfälscht und verzerrt, können also – zumindest zunächst einmal – nur entsprechend verändert, gar verfremdet reproduziert werden. So hält Weiss fest: „Alles, was ich bisher geschrieben habe, ist gefälscht, zurechtgelegt, abgefaßt […].“ (NB 1 39) Hinzu kommt die Diskrepanz zwischen einer „Unmittelbarkeit“ in der Reproduktion der Erinnerungen und ihrer künstlerischen Stilisierung: „Das ist ja überhaupt mein Problem. Einerseits die Absicht, das Erleben so direkt und roh zu lassen, wie möglich, das Unmittelbare unmittelbar wiederzugeben, andererseits die Ab-

15 Robert Best: Erkenntnis, Horror, Klassenlage. Ich-Positionen in Peter Weiss’ ‚Abschied von den Eltern‘. In: PWJ 18 147-160, hier 148.

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sicht, alles zu gestalten, auszuformen, zu verwandeln. Es müsste gelingen, das zu vereinen.“ (KJ 29)

Die Diskrepanz zwischen direkter Wiedergabe und formaler Stilisierung bleibt den ganzen Text hindurch bestehen und lässt sich nicht lösen. Die dadurch entstandene ästhetische Entfremdung der Dokumentation bewirkt eine bildhafte Sprache, in der der Erzähler aus immer neuen, verfremdeten Perspektiven von Menschen und Dingen spricht. Erkennbar werden auch der große Einfluss der Freud’schen Psychoanalyse und die eigenen psychoanalytischen Erfahrungen, beispielsweise in der Verwendung psychoanalytischen Vokabulars.16 Zudem versteht Peter Weiss, wie oben dargelegt, die Kunst als (s)eine Rettung und das assoziative Schreiben, ähnlich wie die Surrealisten, als kreative Selbstbefreiungstechnik. Dabei konstruiert er „von sich im nachhinein das Porträt des surrealistischen Künstlers und Außenseiters als junge[r] Mann. […] Aus der Rückschau betrachtet, wird die Biographie neu gewichtet.“17 Weiss macht die Themen Entfremdung, Einsamkeit und Isolation besonders stark. Die Darstellung als Außenseiter entspricht dabei nicht ganz der Realität, denn Weiss’ „Erinnerung adelt die Einsamkeit und vergißt den Beistand der Freunde und Bekannten.“ 18 Die Darstellung von Einsamkeit und Isolation verfolgt Weiss nicht weniger konsequent in der Collagereihe zu ‚Abschied‘. Noch auf den drei letzten Collagen, die Weiss erst im Jahr 1982 anfertigt, trifft man auf einen Jungen beziehungsweise jungen Mann als zentrale Figur, die auf jedem Bild wie isoliert platziert wurde. Die einzelnen Szenen werden ohne Unterbrechung aneinandergereiht, die semantischen Schnittstellen sind weder formal noch sprachlich gekennzeichnet, sondern bewusst verwischt. Beise beschreibt dies als eine „scheinbar übergangslose Massierung des Gedächtnisflusses zu einem in der Erstausgabe rund 170seitigen Textblock, der – obgleich wohl komponiert – den Eindruck einer kontinuierlichen und häufig sogar assoziativen Gedankenkette macht.“ (AB 212) Folge ist eine starke narrative Verdichtung.19 Weiss erinnert seine Vergangenheit verfremdet und „traumartig“ (AB 212), an manchen Stellen nahezu wie Visio-

16 Peter Weiss unterzog sich 1941 und 1950 klassischen Psychoanalysen in Stockholm bei dem ungarischen Analytiker Lajos Székely (1904-1995). Besonders im ‚Kopenhagener Journal‘ verwendet Weiss typisches Vokabular wie „Verdichtungen“ (KJ 14), „Traummaterial“ (KJ 15) oder „Sammelpunkte“ (KJ 14). 17 Mazenauer, Konstruktion und Wirklichkeit, PWJ 2 49. 18 Ebd., S. 48. 19 Vgl. dazu auch AB 216-217.

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nen. Dennoch gelingt es ihm, „den […] eben nicht dokumentarischen, sondern eher traumartigen, an einen bestimmten Zeitpunkt und Ort gebundenen Erinnerungsprozess als solchen literarisch zu fixieren und in eine reflektierte ‚Textur‘ einzubinden.“ (AB 212) Auch die Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ sind, analog zur textuellen Vorlage, Bilder der zusammengesetzten Erinnerung, „traumartig“ gestaltete Momente verschiedener erinnerter Augenblicke. Jede Collage zeigt verschiedene fixierte Situationen und Stationen sowie Standpunkte aus Kindheit und Jugend, die gebündelt und zu einem einzigen Augenblick gerafft darstellt werden. Die Bilder fassen Erinnerungen und Erfahrungen zusammen, die sich aus Sinneswahrnehmungen, Orten, Gedanken und Gefühlen sowie Erinnerungen an Personen zusammensetzen: „[M]ein Wissen setzte sich zusammen aus bildmäßigen Erfahrungen, aus Erinnerungen an Laute, Stimmen, Geräusche, Bewegungen, Gesten, Rhythmen, aus Abgetastetem und Gebrochenem, aus Einblicken in Räume, Straßen, Höfe, Gärten, Häfen, Arbeitsplätze, aus Schwingungen in der Luft, aus Spielen des Lichts und des Schattens, aus Regungen von Augen, Mündern, Händen.“ (A 90)

Die Collagereihe zu ‚Abschied‘ umfasst insgesamt elf Collagen. Neun Collagen entstanden um 1960 „direkt zum Text“,20 drei letzte Collagen fertigte Weiss 1982, etwa drei Monate vor seinem Tod, an. Eine Collage ist fragmentarisch, also nicht fertiggestellt.21 Es war die Idee von Weiss selbst, nach den zahlreichen Illustrationen eigener und fremder Literatur und nach der Herstellung der Collagereihe zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ auch zu diesem Text Collagen anzufertigen. In ‚Abschied von den Eltern‘ hält Weiss, wie bereits dargelegt, seinen „Erinnerungsprozess“ „literarisch […] in eine[r] reflektierte[n] ‚Textur‘“ (AB 212) fest. Der fortwährende Erzählstrom, die ununterbrochenen Aneinanderreihungen und die Verknüpfung semantischer und formaler Schnittstellen scheinen in den Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ dadurch nachgeahmt zu werden, dass die Collagen, wie auch der ‚literarisch fixierte Erinnerungsprozess‘ mit dem typischen „assoziativen Übergang“ (AB 215) zwischen den einzelnen Themenblöcken wie ein Puzzle zusammengesetzt sind – allerdings ohne dass der Rezipient Brüche oder Schnittstellen zwischen den einzelnen Bildfragmenten erkennen

20 Gunilla Palmstierna-Weiss im Gespräch mit H. K. am 17. September 2014 in Södermalm, Stockholm. 21 Reproduziert in NB 1 56.

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kann. So verschmelzen die einzelnen, zunächst heterogenen Bildfragmente der Collagen zu einem stark homogenen Gesamtbild. Die Collagen bestehen aus äußerst sorgfältig ausgeschnittenen Teilen und sind derart gewissenhaft geklebt, dass selbst bei der genauesten Ansicht der Originale kaum Schnitt- oder Klebestellen zu erkennen sind. Die Reproduktion der Collagen in den jeweiligen Ausgaben vermindert das Charakteristikum des Zusammengefügtseins an diesen Schnittstellen noch weiter: Die Collagen scheinen den stetig fortlaufenden Erzählfluss entsprechend der textuellen Vorgabe nachzuahmen. Der Fokus des Betrachters wird auf ein stark einheitlich wirkendes Gesamtbild gelenkt, also eher auf die Semantik als auf die Materialien oder die Machart der Bilder. Die Collagen dieser Reihe machen, im Vergleich mit den stark disparat wirkenden Collagen zum ‚Kutscher‘, also weniger stark auf ihre Collagenhaftigkeit aufmerksam. Wie auch bei der ‚Erzählung‘ sind der Traum als Motiv und Motivation sowie die Einflüsse der Psychoanalyse sogleich sichtbar. Beide Hauptinstanzen, der Ich-Erzähler und die zentrale Figur der Collagen, scheinen innere Vorgänge und Träume zu benennen und zu visualisieren: „Ein Mann, der zu seinen Träumen steht. […] Nur die innere Stimme. Das lebendige Innere. […] Die innere Welt, ich liefere mich ihr aus. […] Hier bin ich […] hineingeraten, in das Innere der Gedanken, in das Innere des Traumerlebnisses.“ (KJ 13) Dieses Ich meint die zentrale Figur auf allen Collagen, die – bis auf eine Ausnahme22 – die Figur eines Jungen oder eines jungen Mannes ist. Der Ich-Erzähler des Textes und der Jungen in den Collagen stehen beide im Zentrum des jeweiligen Mediums. Erzählendes Ich und Ich-Figur im Bild sind beide „im Innern eines Traums. Nun verstehe ich auch die Sprache dieses Traums. Verstehe seine Formeln, seine Symbole. Jede kleinste Einzelheit hat ihren Sinn.“ (KJ 13-14) Der Traum ist auch bei den Collagen zentrales Motiv und sorgt für die besondere Ästhetik der Collagenreihe, indem Weiss die Collagenhaftigkeit zurückstellt zugunsten einer starken Akzentuierung der Bildsemantik. Die einzelnen Segmente der Collagen, die „Formeln“ und „Symbole“ des Traums, lassen beim Erblicken des zusammengefügten Ganzen eine neue Wirklichkeit entstehen. Sie können als Wirklichkeit erschaffende Traumfragmente verstanden werden. Wirklichkeit ist demnach für Weiss auch im Traum gegeben, da ein Traum, mit Freud gesprochen, auf (verschütteten) Erinnerungen, also tatsächlichen individuellen Erfahrungen, basiert. Die Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ drücken diese innere (Traum-)Wirklichkeit von Peter Weiss aus. Es entstehen gewissermaßen innere

22 Eine Ausnahme innerhalb dieser Collagereihe bildet die ‚Collage II‘, auf der als zentrales Motiv die Figur der Mutter dargestellt ist; vgl. dazu Kapitel ‚‚Collage VIII‘ und ‚Collage II‘: Die Eltern‘, S. 178ff.

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Traumbilder; der Effekt des Traumhaften der Collagen entsteht, wie in den nachfolgenden Einzelanalysen gezeigt wird, auch mit Hilfe von Verfremdung (zum Beispiel durch die Kombination ungewöhnlicher Motive sowie disparater Elemente), Mutationen (besonders merklich bei Räumen, Farben und Objekten), Verschiebung und Verdichtung sowie Aproportionalität (beispielsweise bei unausgewogenen Größenverhältnissen). Denn „auch der Inhalt, die Auswahl der montierten Elemente, deren Anordnung und Betonung, verweist auf Brüche und Verfremdungen.“23 Allen Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ ist zudem gemein, dass sie innere Orte zeigen. Diese inneren Räume respektive inneren Landschaften sind dreidimensional gestaltet und folgen vielfach traditionellen Formen des Bildaufbaus mit Vorder-, Mittel- und Hintergrund. So detailreich der Text ist, so detailreich sind auch die Collagen und die einzelnen Segmente, aus denen das Gesamtbild geklebt wurde. Die Collagen wirken übervoll an Bildinformationen, geradezu „überladen“ (KJ 13): Jede „Einzelheit“ (KJ 26), jede Kleinigkeit scheint wichtig; sie erwecken den Eindruck, als ob mannigfache Deutungsansätze angesichts dieser Detailgenauigkeit möglich sind – und bei genauer Betrachtung bestätigt sich diese Annahme. Darüber hinaus können diverse assoziative Verbindungen zwischen den einzelnen Fragmenten gezogen werden: „So wie jede Einzelheit in diesem Werk vielschichtig ist und sich von Assoziation zu Assoziation weiterleiten lässt“ (KJ 26), so kann sich jede noch so kleine Textstelle auch auf größere Bildausschnitte beziehen und sie deuten, und umgekehrt. Denn „[d]ieses Wirrnis von ineinander hineingreifenden, einander auslöschenden, einander unlesbar machenden Namen gibt dem Material seine Vollendung.“ (KJ 16) Und genau das ist einer der Punkte, der die Ästhetik der Collagen wesentlich ausmacht. Darüber hinaus gilt: Die Rätselhaftigkeit der Collagen ist ohne Prätext nicht zu lösen, die „Wirrnis“ nicht zu entwirren. Die ‚überladenen‘ Bilder mit höchster Detailgenauigkeit und einem „Gewirr von sonderbaren Linien, Flecken, Volymen, Punkten, Formkontrasten, Unregelmässigkeiten und Andeutungen (KJ 24)“ sieht Weiss als deutlich aussagekräftiger und wertvoller als „wahllos [hingeworfene] Materialmengen“ (KJ 24). ‚Innere‘ Traumbilder, wie Weiss sie bevorzugt, sind für ihn reicher, also aussagekräftiger, als die ‚naturalistischen Kopien‘, die nicht mehr sind als „Abklänge aus der Welt“: „Ahne nur noch von fern seinen [eines Traumes; H. K.] unerschöpflichen Reichtum. Einen Reichtum der nirgends mit starken Farben prahlt der sich verbirgt unter erdfarbenen, stein-

23 Bessen, Eine ‚destruktive Gewaltfigur‘, PWJ 8 93.

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farbenen Tönungen, der vom Auge das Erkennen der feinsten Schattierungen verlangt. | Neben diesem Werk, mit seinem Gewirr von sonderbaren Linien, Flecken, Volymen, Punkten, Formkontrasten, Unregelmässigkeiten und Andeutungen verblasst das meiste was heute in der […] Kunst erstrebt wird. Ausser der hervortretenden Verwandtschaft mit Arbeiten von Klee, Wols, Dubuffet, wird das meiste im Vergleich eitel und selbstbetrügerisch. Man wirft wahllos Materialmengen hin, denen man eine Selbstständigkeit zuspricht, der die menschliche Hand nur wie ein Werkzeug unterworfen ist. Eigentlich aber sitzt man hier fest in einem Naturalismus, in einem Kopieren, man bildet das Zersprungene, Zerbröckelnde, Zerrinnende, Zerfallende, Zersprengte, Zerschlissene, Zerfledderte, Zerrissene ab […]. Artifiziell und ästhetisierend errichtet man in den Salons nur Abklänge aus der Welt der Schutthaufen und Gerümpelplätze. Man will herankommen an das Zufällige, das Blinde, das Unbewusste, und dann rahmt man es ein und placiert es auf Sockel […]. Von all dem ist hier nichts zu spüren. Dieses Werk lebt schweigend.“ (KJ 24)

Zusätzlich zu dieser allgemeinen Einschätzung des Zustands der Kunst(-werke) kann man aus diesem Zitat eine Parallele ziehen zur Farbigkeit der Collagen, wenn es heißt: „Einen Reichtum der nirgends mit starken Farben prahlt der sich verbirgt unter erdfarbenen, steinfarbenen Tönungen, der vom Auge das Erkennen der feinsten Schattierungen verlangt.“ Die Collagen zum ‚Abschied‘ sind vornehmlich schwarz, weiß und grau, mit unterschiedlich vielen erdig beige bis gelblichen Fragmenten (übrigens in beiden Zyklen). Seine Werke sind „reich“, da sie sich dem Betrachter nicht durch bunte Materialanhäufungen aufdrängen und „auf einem Sockel placiert“ werden müssen, um zu wirken. Seine Bilder wirken „schweigend“ und treffen als ‚innere‘ Bilder oder als Traumbilder tatsächlich „das Unbewusste“. Ein weiterer Aspekt, der hier mitschwingt, ist „die menschliche Hand als Werkzeug“, also der Prozess der Herstellung: „Ritzt mit der Hand das Gedichtete in die Verdichtungen, und überwindet hier sein schattenhaft kurzes Leben […]. In unbeirrter Folgerichtigkeit gräbt, wühlt, schaufelt, mauert er an seinen Visionen, festigt sie mit seinem plasmaartigen Arbeitsmaterial, kratzt, schabt, schleift an ihnen in unermüdlicher Hingabe. Das gestrichelte Linienspiel seiner Fingernägel, seines Messers, seines Spachtels an den erschaffenen Figuren: Abdrücke seiner Hände in getrocknetem Lehm.“ (KJ 15)

Auch wenn hier der Herstellungsprozess der aus Lehm gefertigten Reliefs und Skulpturen durch die Figur des Briefträgers Cheval beschrieben wird, kann dieser als eine weitere Parallele zum Herstellungsprozess der Collagen verstanden werden. Peter Weiss hinterlässt solche Abdrücke im Text und in den Collagen,

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nur sind seine Werkzeuge andere, nämlich Stift, Schere und Kleber. Die Realität, die Weiss dadurch erschafft, ist eine surreale. Bis hierher lässt sich also festhalten: Weiss’ ‚Bilder des Schreckens‘ sind innere, imaginierte, surreale Bilder, deren Inhalte und formale Charakteristika aus Transformationsprozessen resultieren, die einem Haupt- und drei weiteren Prätexten zugrunde liegen. Es sind Bilder von Empfindungen und Erinnerungen, die einen Realitätsbezug aufweisen und zugleich das Unterbewusstsein thematisieren und/oder bedeuten. Es sind Erinnerungsbilder auch im Sinne einer ‚memoria‘, eines kulturellen Gedächtnisses, was wiederum auf zwei weitere Aspekte verweist: den Bänkelsang und den Mnemosyne-Atlas von Aby Warburg.24 Wie zentrale Motive der zugehörigen Texte, verwendet Weiss auch die meisten Hauptmotive der Collagen transmedial, d. h. Hauptthemen und -motive finden sich sowohl innerzyklisch als auch text- und bild-, also medienübergreifend – und damit nicht zuletzt auch werkübergreifend. Während die Erzählung für sich lesbar und verständlich ist, ist das eigentlich Gemeinte der Collagen, die subjektive Intention Weissʼ, ohne die Vorlage des Textes weniger gut zu verstehen und zu entschlüsseln. Gewiss sind die Collagen auch ohne den Text beschreibbar, in Ansätzen sicherlich auch deutbar. Jedoch durch die Besonderheit der Nachahmung syntaktischer, narrativer und semantischer Strukturen, durch die beschriebene Transformation textueller Vorgaben in eine bildliche Entsprechung, durch den Medienwechsel sowie die Einflüsse der Psychoanalyse, muss die Bildinterpretation um die Zuordnung von zitierten Textstellen und Collage ergänzt werden. Um die für diese Reihe so typische Verrätselung aufzulösen und eine fundierte Deutung zu ermöglichen, ist es nach einer eingehenden Bildbeschreibung nötig, diejenigen Textstellen in ‚Abschied von den Eltern‘ – und den weiteren Prätexten – aufzufinden, bei denen es naheliegt, dass Weiss sie als textuelle Vorgabe herangezogen haben kann, und eine Anbindung nachweisbar ist.

24 Grundsätzliches zum Bänkelsang in: Bänkelsang: Texte - Bilder - Kommentare. Hg. von Wolfgang Braungart. Stuttgart 1985.

Text und Collage bei ‚Abschied von den Eltern‘ | 171

4.2 ZUM VERHÄLTNIS VON ‚ERZÄHLUNG‘ UND COLLAGEN 4.2.1

Psychoanalytisch-symbolhafte Bilder

‚Collage V‘: Bild(er) des Ich-Erzählers Eine der aussagekräftigsten Collagen ist die ‚Collage V‘, die eine Innensicht in einen recht düster wirkenden Raum zeigt, in dessen Vordergrund ein Junge in Rückenlage auf einer Récamière liegt, während im Hintergrund vor zwei großen Fenstern links ein einzelner Mann und rechts eine Männergruppe zu sehen sind. Mittig auf einem Tisch thront ein riesiger Kothaufen mit einem fliegenartigen Insekt obenauf. Gerahmt wird der Raum von Vorhängen, die einen theatralen Rahmen zu bilden scheinen. Zwei Textstellen sind für die Entschlüsselung von Weiss’ Intention zu der ‚Collage V‘ nötig. Die erste der beiden Stellen lässt den Rezipienten Weiss’ Sicht als Erzähler einnehmen: „Ich hielt den Atem an, nur mein Herz hämmerte, und jetzt kam es auf mich zu, von allen Seiten, ich stellte mich tot, wenn nur das Herz nicht so dröhnen würde, ich lag mitten zwischen den kauernden Unwesen, die meine Ermordung planten. Schreien konnte ich nicht, krampfhaft versuchte ich, einen Laut herauszupressen, doch es gelang nicht […].“ (A 81)

Weiss beschreibt an dieser Stelle der Erzählung seine Halluzinationen während eines Fieberkrampfes. Er verarbeitet das traumatische Erlebnis der Erkrankung und seine Hilflosigkeit in einer traumartigen Collage. Die Lage des Jungen im Text spiegelt sich in der Platzierung der Hauptfigur in der Collage wider. Der Junge im Bild nimmt die Position des Ich-Erzählers ein. Er liegt zwar nicht im exakten Mittelpunkt des Bildes, ist aber trotz der Platzierung am unteren Bildrand im Vordergrund, zusätzlich betont durch eine hellere Farbakzentuierung im Vergleich zu den anderen Bildbereichen. Der Junge liegt in seiner Körperhaltung dem Betrachter des Bildes zugewandt, dreht sein Gesicht aber zu den Figuren, Räumlichkeiten und Geschehnissen in das Bild hinein. Ein Arm hängt seitlich von der Récamière herab, auf der er liegt. Sein Unterkörper ist mit Tüchern bedeckt. Der hell strahlende Oberkörper dreht sich mit der Wendung des Kopfes ebenfalls in das Bild hinein. Das Gesicht ist durch die helle Farbwahl und die Vordergründigkeit der Figur gut zu erkennen. Der Junge schaut in Richtung der rechten Bildhälfte und hat dabei den Mund geöffnet, als sei er dabei, etwas zu sagen.

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Abbildung 12: ‚Collage V‘, 1962

Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: HZ 3385.4 „[I]ch lag mitten zwischen den kauernden Unwesen, die meine Ermordung planten. Schreien konnte ich nicht, krampfhaft versuchte ich, einen Laut herauszupressen, doch es gelang nicht […].“ (A 81)

Der Betrachter folgt seinem Blick und sieht über dem Jungen, auf einem Tisch liegend und mit einer dicken Eisenkette befestigt, einen riesigen Kothaufen. Auf diesem sitzt ein fliegenähnliches Insekt, das in seinen Proportionen der überdimensionalen Größe des Kothaufens angepasst ist, während die übrigen Bildelemente sich an den Größenverhältnissen des Jungen orientieren und einen dementsprechend realeren Umfang haben. Links von den Exkrementen sitzt ein älterer Mann auf der äußeren Seite eines Sofas mit überschlagenem Knie und gefalteten Händen. Hier nimmt Weiss explizit Bezug auf Freuds Psychoanalyse. In der alleinigen Betrachtung dieses einzelnen Ausschnittes verbildlicht Weiss den Ablauf einer Analyse, bei der der Patient auf einem Sofa liegend frei assoziiert, während der Psychoanalytiker hinter dem Kopf des Patienten sitzt. Zudem kann in dieser Figur die Vaterinstanz gesehen werden.

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Hinter dem Sofa ist ein Fenster zu erkennen, in dem, die Theorie der Psychoanalyse im Aspekt der Sexualität und Geschlechtlichkeit aus Freuds Sicht aufnehmend, ein Berg als deutlich erkennbares Phallussymbol montiert wurde. Vor dem Mann, am linken unteren Bildrand, ist eine Toilette zu sehen, die den Größenverhältnissen der Figuren entspricht, somit aber der Größe des Kothaufens zuwiderläuft. Durch diese Verfremdung wirkt das Bild trotz ansonsten homogener Gestaltung nicht real.25 Am Kothaufen angelehnt und ein Bein auf diesem abgestellt, schaut ein Mann knapp am Blick des Betrachters vorbei. Rechts neben ihm stehen und sitzen vier weitere ältere Männer. Zwei von ihnen scheinen in eine Diskussion vertieft, die beiden anderen schauen in Richtung des Jungen in die linke Bildhälfte. Einer der Männer steht vor dem rechten Fenster und unterscheidet sich durch das Tragen einer Robe von den anderen Männern der Gruppe, die alle einen Anzug tragen. Im Fenster ist ein Sonnenaufgang oder -untergang zu sehen. Durch die Platzierung des Mannes in der Robe vor dem Himmel impliziert Weiss das Dasein einer höheren Macht: Der Mann erscheint dem Betrachter, wenn nicht wie ein Gott, doch zumindest wie ein Würdenträger der Kirche. Die Männergruppe in der rechten Bildhälfte wird durch den Text als ein Kollegium von Professoren entziffert, die die Theorie aufstellten, „daß eine Fliege Bazillen aus den Malariakulturen eines in der Nähe gelegenen Irrenhauses auf mich übertragen habe.“ (A 82) Die Textstellen ermöglichen eine exakte Einordnung in Weiss’ Biographie, als ein Ereignis in seiner Jugend, denn auch in den ‚Notizbüchern‘ notiert Weiss: „Damals beklopften und behorchten mich bärtige Professoren, und ihrer eigentümlich schwebenden Diagnose war zu entnehmen, daß ich nicht nur von Malaria, sondern auch von einer Gehirnkrankheit angegriffen sei, unter deren Folgen ich der Umnachtung anheimfallen würde.“ (NB2 820)

„Damals“ meint die Zeit in Bremen zwischen den Jahren 1918 und 1929. Zeitlich liegt die Situation also in Weiss’ früher Kindheit. Konsequenterweise könnte der Betrachter nun aber keinen jungen Mann, sondern eben ein Kind auf der Récamière erwarten, wie es bei der hier recht exakten zeitlichen Einordnung logisch erscheinen würde. Dennoch geht die bildliche Darstellung als junger Mann damit konform, denn der abgebildete Jüngling ist nicht weniger hilflos als ein Kind, ganz im Gegenteil: Der Junge ist vom Analytiker auf der rechten Bildhälf-

25 Der Bruch, den die Verfremdung hier bewirkt, kann als Auslöser für Reflexionen mitgedacht werden.

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te abgewandt, die anderen Männer ziehen seine Aufmerksamkeit auf sich. Die Männer scheinen zu diskutieren, man redet über den Jungen, aber nicht mit ihm. Die feste ‚Sitzordnung‘ einer Analyse muss Weiss abändern, was sein Unwohlsein in Anbetracht der Situation zeigt. Weiss illustriert die verschobenen Verhältnisse und seine Machtlosigkeit angesichts der dargestellten und beschriebenen Situation. Die Professoren stehen über dem Jungen und verdeutlichen somit nochmals die Verteilung der Machtverhältnisse. Die unbequeme Stellung des Jungen veranschaulicht das Gefühl des Kontrollverlustes. Niemand schaut ihn an, geschweige denn spricht in seine Richtung. Der Gesichtsausdruck und das Innehalten, das erstickte Öffnen des Mundes lassen das Gefühl der Hilflosigkeit erahnen und veranschaulichen zusätzlich Weiss’ eigene Sprachlosigkeit. Das Hauptthema des Bildes ist die Darstellung eines psychoanalytischen Vorgangs, zu deuten auch unter der Thematik der Religion, die sich in der Collage bildlich auf entgegengesetzten Seiten befindet. Die Bedeutung der Religion, insbesondere nach Freud, wird in den zitierten Textstellen, auf denen die Collage basiert, nicht erwähnt. Für die Erschließung der Bedeutung ist die Untersuchung von Freuds Verständnis von Religion und die Einbeziehung der bereits dargelegten Ergebnisse der Bildanalyse und Bildinterpretation vonnöten. Religiöse Vorstellungen sind nach Freud Illusionen, ein Versuch, Wünsche des Menschen zu 26 erfüllen. Die kindliche Vatersehnsucht, der religiöse Vorstellungen entspringen, ist der Wunsch nach Schutz vor Gefahren. Hier finden sich die bereits aufgedeckten Betrachtungsweisen der Machtverhältnisse, wie Weiss sie als Kind nicht nur in seinen Fieberträumen, sondern als ganz real erfahrbar wahrnimmt. Zugleich setzte sich Weiss durch diese Perspektive mit dem Paradoxon von Gottesfurcht und Übertragung von Wunscherfüllung an den Gott-Vater auseinander. Weiss’ Vater als eindeutige Figur fehlt in der Collage, kann aber stellvertretend in dem religiös konnotierten Mann im rechten Fenster gesehen werden. Ein Hinweis dafür ist die wiederholte künstlerische Auseinandersetzung mit seinem Vater, die Weiss auch mehrfach in anderen Werken vollzieht. Auf die Frage in einem Interview, ob seine künstlerische Energie erst durch die permanente Angst vor den Eltern, durch den Zwang, sich ständig neu beweisen zu müssen, zu definieren, sich abzugrenzen und abzusichern, frei wurde, antwortet Weiss: „In dem Augenblick, in dem ich existieren, überhaupt existieren konnte, ohne ständig betteln zu müssen und ohne ständig in Abhängigkeit zu stehen, wurde die ganze Produktivität in mir frei!“ (MPW 30)

26 Vgl. Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion. In: ders.: Studienausgabe, Band IX. Hg. von Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey. Frankfurt a. M. 1974, S. 135-189.

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In ‚Abschied von den Eltern‘ setzt sich Weiss intensiv mit seinen Eltern auseinander und fertigt neben Collagen, die seinen Vater meinen,27 auch eine Collage der Mutter an.28 Die ist nicht immer und sehr ambivalent und er nutzt sie für seine eigene künstlerische Produktivität: „Ich mache es mir heimisch in dem großen Mangel, in der Krankheit der Enttäuschung, der Machtlosigkeit und des Mißtrauens. Und in der Tiefe leben die ungestillten Wünsche weiter fort. Wenn meine Mutter, herbeigerufen durch meinen Schrei, an mein Bett kam und mich aufrichtete und mich in die Arme schloß, verging das Unheimliche, zu dessen Erscheinung sie selbst beigetragen hat. War sie meine Bedroherin, so war sie gleichzeitig meine Retterin, sie entzog mit der einen Hand und gab mit der anderen, und hielt mich dadurch in ständiger Spannung […].“ (A 83)

Auch diese Textstelle bezieht sich auf die ‚Collage V‘. Weiss formuliert seine bereits oben dargelegte „Machtlosigkeit“ angesichts der Situation. Die „ungestillten Wünsche“ referieren deutlich auf die in der Collage dominante Thematik der Traumdeutung, auf das Auffassen von Träumen als Wunscherfüllung. Die Mutterfigur wird zwiespältig wahrgenommen, nämlich als fürsorgliche und tröstende Mutter, die zu ihrem Kind eilt, und als unheimliche Erscheinung, die das Kind ängstigt. Die stark ambivalente Beziehung zu seiner Mutter drückt sich also besonders deutlich im letzten Satz des Zitates aus. Ambivalenz wird definiert „als gleichzeitige Gegenwärtigkeit widersprüchlicher Empfindungen […] bei einem Konflikt […], in de[m] die positive und negative Komponente gleichzeitig und unauflösbar in einem nicht-dialektischen Gegensatz gegenwärtig und unüberwindlich für das Subjekt sind.“29 Genau dies thematisiert Weiss in der ‚Collage V‘. Im ‚Kopenhagener Journal‘ schildert Weiss in ‚Der grosse Traum des Briefträgers Cheval‘ eine Szene, die sich ebenfalls auf die ‚Collage V‘ bezieht:

27 Zur Darstellung des Vaters bzw. der Vaterinstanz siehe Kapitel ‚‚Collage VIII‘ und ‚Collage II‘: Die Eltern‘, S. 178ff. 28 Vgl. ebd. 29 Bruno Waldvogel: Ambivalenz. In: Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. Hg. von Wolfgang Mertens/Bruno Waldvogel. Stuttgart 32008, S. 56-62, hier S. 56. Nach Eugen Bleuer, auf den der Begriff der Ambivalenz zurückgeführt wird, handelt es sich hier um eine affektive Ambivalenz, die „die Gleichzeitigkeit positiver und negativer Gefühle zu demselben Objekt oder Sachverhalt [bezeichnet].“

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„Und dann, mit einer Wendung des Blicks, die Begegnung mit grossen Figuren. Da stehen sie wartend, lauschend, die Gesichter starr, schwer, zeitlos. Tief drinnen im Gewirr der Gedankenbänder, an das Dunkle, Ungeformte gelehnt […] im erstarrten Augenblick dieser Zusammenballung dieser Gefühle […].“ (KJ 14)

Der erste Satz beschreibt die Wendung des Jungen in das Bild hinein und die Konfrontation mit den „grossen Figuren“, die hinter ihm stehen und nicht mit ihm reden. Die „Gedankenbänder“ meinen die inneren, erträumten Bilder, die er „bannt“ (KJ 14). Das „Dunkle, Ungeformte“ manifestiert sich in der Collage in dem Kothaufen, an den einer der Männer lehnt. Im Traum des Briefträgers definiert Weiss „das Dunkle, Ungeformte“ so, wie es sich auch in der Collage wiederfinden lässt: „Alle seine analen, obszönen Regungen sind in diesem Traum enthalten, in diesem Traum ist das Innere der Gedärme zu spüren, er wühlt in Kotmassen, knetet an den schweren Trauben des Kots, alles fliesst von Kot, windet sich, schlängelt sich, erhärtet sich schliesslich zu trächtigen Säulen […]. Und daraus hervor schossen sich die grossen Phalluspilze, gebogen, aufragend, geil.“ (KJ 17)

Die sehr anschauliche, bildhafte Beschreibung des ‚Wühlens in Kotmassen‘ und das ‚Kneten in Kottrauben‘, das ‚Spüren des Inneren der Gedärme‘ und die scheinbare Eigendynamik der Exkremente verursachen ein Gefühl des Ekels, „eine der heftigsten Empfindungen des menschlichen Wahrnehmungssystems. […] Er [der Ekel; H. K.] ist ein Alarm- und Ausnahmezustand, eine akute Krise der Selbstbehauptung gegen eine unassimilierbare Andersheit, ein Krampf und Kampf, in dem es buchstäblich um Sein oder Nicht-Sein geht.“30 Die transmediale Wiederkehr des Motivs des Kots hat zum einen die Intensivierung der Wahrnehmung durch Verfremdung zum Ziel („Zusammenballung dieser Gefühle“), zum anderen gelingt Weiss durch die bildliche Aproportionalität von Kothaufen und den übrigen Elementen der Collage sowie durch seine sprachlichen anschaulichen Bilder der Ausdruck tiefster innerster Empfindun-

30 Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt a. M. 1999, S. 7. Vgl. weiterführend insbesondere Kapitel ‚I Ekel-Tabu und Omnipräsenz des Ekels in der ästhetischen Theorie‘, S. 39-75, sowie Kapitel ‚VI Psychoanalyse des Stinkens: Libido, Ekel und Kulturentwicklung bei Freud‘, S. 275-333.

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gen.31 Und tatsächlich geht es in der Momentaufnahme der ‚Collage V‘ um „eine akute Krise der Selbstbehauptung gegen eine unassimilierbare Andersheit, ein Krampf und Kampf“, um es mit Winfried Menninghaus zu sagen. Menninghaus stellt die These auf, dass „[d]er verwesende Leichnam […] deshalb nicht nur eines unter vielen anderen übelriechenden und defigurierten Ekelobjekten [ist]. Er ist vielmehr die Chiffre der Bedrohung, die im Ekel auf eine so entschiedene Abwehr mit extremem Ausschlag auf der Skala der Unlust-Affekte stößt.“32 Wenn man sich vor dieser Folie die Figur des Jungen noch einmal betrachtet, erinnert die Figur durch die Gesamtheit aller bisher genannten Einzelaspekte – wie das erstickte Öffnen des Mundes, das hervorgerufene Gefühl der Hilflosigkeit und die unbequeme Position – tatsächlich an eine Leiche. Weiss macht seine ganz eigene Verzweiflung und Sprachlosigkeit intensiv wahrnehmbar und dadurch für den Rezipienten fassbar und nacherlebbar. Unterstützt wird die Theorie der „Funktion defensiver Selbsterhaltung“33 zusätzlich durch das riesige fliegenähnliche Insekt, das in der Collage auf dem Kothaufen sitzt: „Reptilien, Frösche, Schlangen, […] die Auslöser unserer stärksten und unüberwindlichsten Ekelgefühle […], aber auch Spinnen und Insekten erwecken demnach Ekel, weil sie gefährlich sind […].“34 Mit dem Wissen um „[d]ie individuelle Streuung von Ekelauslösern und die Mitarbeit der Assoziation“35 gelangt man bei Weiss über die „Fliege“ zu den „Bazillen“, die die „Fliege“ auf ihn übertragen habe (A 82), wodurch er „nicht nur von Malaria, sondern auch von einer Gehirnkrankheit angegriffen sei, unter deren Folgen [er] der Umnachtung anheimfallen würde“ (NB2 820), und schließlich hin zur „Krankheit der Enttäuschung, der Machtlosigkeit und des Mißtrauens“ (A 83). Darüber hinaus bestätigt sich erneut der Traum als eines der Hauptthemen und Hauptmotive in den Medien Text und Bild bei Peter Weiss. Auch der ‚Traum des Briefträgers Cheval‘ dient hier als Grundlage, also als Prätext, zumal sowohl Kot als auch das Phallussymbol tragende Elemente in diesem Text und im Bild darstellen. Weiss befindet sich innerhalb eines Traumes, der für ihn eine Sicht ins Innere bedeutet:

31 Vgl. zur Verfremdung durch Aproportionalität Kapitel 4.1 ‚Einführende Text- und Bildbeschreibungen‘, S. 155ff. 32 Menninghaus, Ekel, S. 7. Hervorhebung im Original. 33 Ebd., S. 276. 34 Ebd. 35 Ebd.

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„Seine Gegenwart im Innern dieses Gebildes ist so stark, weil dies Gebilde kein Kunstwerk ist sondern Ausdruck einer Seele. […] Man wird nicht vor ein Kunstwerk gestellt um es zu betrachten, sondern man gelangt tief in das Fantasieinnere eines Menschen hinein. Andere tragen diesen Traum, der ein Leben lang dauert, in die Irrenhäuser, versinken dort in der Dumpfheit ihrer Einkerkerung, diesem Briefträger aber gelang es, seinen Traum zu materialisieren und damit sein Leben zu retten.“ (KJ 17)

Die Rettung der Figur des Briefträgers Cheval durch den ‚materialisierten Traum‘ gilt in gleichem Maße für Weiss selbst, die zumindest tendenzielle autobiographische Wahrhaftigkeit mitgedacht. Die künstlerische, medial übergreifende Auseinandersetzung mit seiner Autobiographie geschieht auch bei Weiss aus der Notwendigkeit heraus, seine geistige Gesundheit, ja fast schon sein (Über-)Leben, auf diese Weise, also durch künstlerische Bearbeitung, zu retten: „Kunst ist eine Technik der Entekelung, der Transformation von Repulsion in Attraktion: sie macht das, was sonst Anlaß zu Ekel und Scham gibt, genießbar, indem sie mittels der eigenen Form dieser Entekelung einen ‚formalen, d.h. ästhetischen Lustgewinn‘ entbindet, der im seelischen Gesamthaushalt eine ‚Befreiung von Spannungen‘ mit sich bringt.“36

Weiss macht im Kern die eigene Rettung zum Thema, indem er Kunst zur Selbstreflexion und -findung nutzt und sich künstlerisch mit seinem Leben und seinen Ängsten und Erfahrungen auseinandersetzt. Diese sind insbesondere bezogen auf das Verhältnis zu seinen Eltern überwiegend negativ konnotiert. Weiss arbeitet nicht nur im und durch den Text das komplizierte Eltern-KindVerhältnis der Kindheit und Jugend auf, sondern bearbeitet die Gefühle der Isolation und des Unverständnisses der Eltern gegenüber ihrem Sohn auch in den Collagen ‚II‘, ‚III‘, ‚IV‘ und ‚VIII‘. ‚Collage VIII‘ und ‚Collage II‘: Die Eltern37 Weiss thematisiert in den Collagen zu ‚Abschied‘ immer wieder das Verhältnis zu seinen Eltern.38 So ist in der ‚Collage VIII‘ eine weibliche Gestalt die zentrale

36 Ebd., S. 326. Eingefügte Zitate nach Menninghaus, Sigmund Freud, Der Dichter und das Phantasieren, S. 223. 37 Teile des Kapitels 4.2.1.2, speziell Teile der Analyse der ‚Collage VIII‘, wurden als Vorstudie bereits publiziert in: Helena Köhler: Zitatcollagen: Zum Verhältnis von Text und Collage bei Peter Weiss. Einführende Überlegungen anhand der Collage ‚VIII‘ zu ‚Abschied von den Eltern‘. In: PWJ 23 41-58.

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Figur, die eine ebenfalls zentrale Figur aus ‚Abschied von den Eltern‘ bedeuten soll, nämlich Weissʼ Mutter Frieda. Abbildung 13: ‚Collage VIII‘, 1962

Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: HZ 3385.1 „Ich habe oft versucht, mich mit der Gestalt meiner Mutter und der Gestalt meines Vaters auseinanderzusetzen, peilend zwischen Aufruhr und Unterwerfung. Nie habe ich das Wesen dieser beiden Portalfiguren meines Lebens fassen und deuten können.“ (A 59)

38 Weiss thematisiert auch in der Reihe zum ‚Kutscher‘ die übermächtige Vaterinstanz, vgl. dazu Kapitel ‚‚Collage III‘: Ein Familienbild‘, S. 106ff.

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Zwei kegelartige Spitzen mit spiralförmigen Einlassungen sind, ähnlich einer weiblichen Brust, auf dem Brustkorb der Gestalt arrangiert. Das primäre weibliche Geschlechtsorgan wird als einschalige Muschel abgebildet, die mit der Mündung zum Betrachter platziert wurde, sodass dieser in die Muschel hineinschauen kann. Die weibliche Gestalt hält die Arme vor dem Oberbauch gekreuzt. Teilweise ist die Figur von Kleidung umgeben und stellenweise bedeckt. Der rechte Arm liegt über dem linken. Die linke Hand ist zur Hälfte in den Falten des Stoffes versenkt, der den Bauch der Figur einhüllt. Vollständig mit Stoff bedeckt sind lediglich die Arme, der obere Bauchbereich und die Beine von den Oberschenkeln bis zu den Fußknöcheln. Die Bereiche des Körpers, die die Gestalt als erwachsene Frau charakterisieren, sind unbedeckt. Die Kleidung verhüllt den rechten Arm und die rechte Schulter. Die Stoffe scheinen zu wehen, als ob ein Windzug sie in Bewegung versetzt. Auch der Stoff um die Beine der Frau wallt ähnlich einem Rock oder Kleid, das sich im Luftzug bewegt. Ebenso wehend umgeben die langen, leicht gewellten Haare den Kopf der Figur. Anstelle eines Kopfes mit Gesicht ist ein Gegenstand auf den Körper montiert, der ein Konglomerat aus organischen und technisch mechanischen Bildfragmenten zu sein scheint. Der Rock verbindet sich auf der rechten unteren Bildseite mit dem Hintergrund oder geht aus diesem hervor, was den Blick des Betrachters auf die Dinge um die Gestalt herum lenkt. Die Gestalt ist barfuß und steht auf Holzdielen. Offensichtlich steht sie in einer kleinen Pfütze. Rechts neben ihr, auf Höhe des Torsos, ist eine fassadenhafte Wand zu erkennen, an der ganz rechts außen eine kleine, runde Wanduhr hängt. Die Wand setzt sich aus diversen Fragmenten wie Steinmauern, Fassadenteilen, kleinen Erkern und Säulen zusammen. Unten rechts ist im Vordergrund ein Stück Stoff zu erkennen, das in einen dunkleren Bildbereich übergeht, der an Geröll oder Fossilien erinnert. Der Stoff wiederum scheint mit dem ‚Rock‘ der Gestalt verbunden. Links unten ist ein ähnlicher ‚Haufen‘ zu erkennen, der wie das Pendant auf der rechten Seite an Geröll, Fossilien oder versteinerte Korallen erinnert. Woraus diese Anhäufungen genau bestehen, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Im linken Bildbereich sind bei dieser Anhäufung im unteren Bereich immerhin kreisrunde Formen zu erkennen, die am ehesten auf fossilienhafte oder korallenartige Versteinerungen hinweisen. Oberhalb der ‚Fassade‘ sind Säulenornamente und stabähnliche Einlassungen in der Wand auszumachen. In die obere rechte Bildecke ist ein Räderwerk montiert, das mit einer Handkurbel offensichtlich zum Laufen gebracht werden kann. Das Räderwerk scheint auf den Fuß einer Tischleuchte platziert zu sein. Links über dem ‚Kopf‘ der zentralen Frauengestalt thront auf einer Wandhalterung ein affen- oder löwenähnliches Tier, das einen flachen Gegenstand in der Hand hält,

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der an eine Harfe erinnert. Am linken oberen Bildrand ist ein Vorhang zu sehen, der sich an der rechten Seite der Collage wiederfindet. Etwas unterhalb des oberen Vorhanges auf der linken Seite ist die Büste einer Frau zu erkennen, deren Unterkörper als Gefäß, ganz ähnlich einer Vase, dargestellt ist. Möglicherweise handelt es sich hierbei um eine Karyatide. Die hoch aufragende Figur wirkt durch das Wechselspiel der beschriebenen inszenierten Bewegungen um die Gestalt herum mit der starren, geradezu wie fixierten Haltung sowohl erhaben und würdevoll als auch übermächtig und dominant. Unterstrichen wird die (über-)mächtige, gebieterische Aura der ‚Frau‘ durch ihre prominente, die Collage beherrschende Platzierung. Der antikische Faltenwurf des Gewands verleiht der Figur einen majestätischen, gravitätischen Ernst, der aber auch eine Aura der Unnahbarkeit bewirkt. Die Darstellung wirkt darüber hinaus sowohl verführerisch lockend als auch abweisend und distanziert. Diese ‚Aura der Ambiguität‘ beruht auf Weissʼ ambivalentem Verhältnis zu seiner Mutter, die auf dieser Collage dargestellt wird. Die Wanduhr und das Räderwerk, das als Uhrwerk gesehen werden kann, verweisen auf Frieda Weissʼ Herkunft aus einer Uhrmacherfamilie. 39 Im Text wird das Aussehen der Eltern nicht genau beschrieben, es bleibt bei der Andeutung körperlicher Merkmale: „Er [der Vater; H. K.] war schmal, zart gebaut, die Mutter groß und stattlich, in einem bis zum Boden reichenden Kleid.“ (A 35) Diese Beschreibung passt zu der hoch aufragenden, stark präsenten Gestalt in der Collage und zu der Andeutung eines Kleides, das im Text und im Bild fast „bis zum Boden“ (A 35) reicht. Mit der hoch aufragenden Gestalt deutet Weiss in der ‚Collage VIII‘ die Machtverhältnisse in seinem Zuhause an. Der Vater war weniger Autoritätsperson als seine Frau. In ‚Abschied von den Eltern‘ wird Frieda Weiss in der Funktion als Mutter und in der Funktion als Ehefrau beschrieben. Nach Åsa Eldh hatte sie das Sagen und erzog ihre Kinder streng und autoritär: „[…] she was very capable of disciplinig her children on her own. But although she was a strong-willed woman, she was also a traditionalist and quite eager to comply with the rules of bourgeois familiy life where the father is expected to be the authoriative figure. In the Weiss family, however, the father was not the authoritarian, and the mother was far from

39 Frieda Weissʼ Vater Gustav Hummel besaß eine Uhrenfabrik in Basel. Peter Weiss wuchs umgeben von Uhren auf. Vgl. dazu den ‚Kommentar‘ von Axel Schmolke in: Weiss, Abschied von den Eltern, S. 162, sowie Åsa Eldhs Studie ‚The Mother in the Work and Life of Peter Weiss‘. New York u. a. 1990.

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being the weak, submissive woman; therefore it was unnatural for them to act in […] traditional roles.“40

Frieda Weiss hatte, wie auch ihr Ehemann, wenig Verständnis für ihren Sohn. „Ich konnte meinen Eltern nicht verständlich machen, daß das Malen und Schreiben eine Arbeit für mich war.“ (A 116) Weiss notiert in den ‚Traumprotokollen und -analysen‘: „Vater und Mutter, zwei Kräfte in mir. Die Gespaltenheit zwischen den Sprachen, zwischen der Malerei und dem Schreiben gründet hier. […] manchmal spüre ich, daß das Verständnis gegeben, aber noch entfernt ist.“ 41 Aus der Sicht des Kindes Peter erscheint die Mutter bedrohlich, gewaltig hünenhaft und überragend, was sowohl im Text als auch in der Collage deutlich wird. Bedeutend ist, dass Weiss von der „Gestalt meiner Mutter“ spricht, nicht von der Mutter als Mensch. Es geht also um die Institution der Mutter, nicht um Frieda Weiss als Person.42 Weiss beschreibt die negativen Gefühle gegenüber seiner Mutter und ihrer Übermacht: „Dann fühlte ich die rasende, ohnmächtige Wut, das Antoben gegen etwas Unangreifbares, gegen etwas unendlich Überlegenes, und dann wird mein Gestammel von einer unsichtbaren Hand erstickt“ (A 64). Wieder erscheint Frieda Weiss im Text als nicht fassbar und konturlos. Sie wirkt riesig und überlegen. Und erneut ist es nicht die Mutter als Person, die für den Sohn ‚fühlbar‘ wird, sondern ihre Erziehung. Die abwertenden Beschreibungen der Mutterinstanz und die gleichzeitige Liebe zur Mutter bedingen die ambigue Darstellung der Mutterfigur, was besonders in der Collage deutlich wird. Weiss kann die „Gestalt meiner Mutter“ im Text kaum durch Attribute präzisieren: „Von meiner Mutter wusste ich, daß sie […] Schauspielerin gewesen war. Die Gewänder in den Koffern stammten aus jener Zeit, und Kästchen waren angefüllt mit Fotografien, auf denen sie als ägyptische Prinzessin, als Äbtissin, Zigeunerin und griechische Priesterin zu sehen war.“ (A 77)

Wie die Frauengestalt auf der Collage bleibt Frieda Weiss für ihren Sohn gesichts- und damit identitätslos.43 Bessen hält es für möglich, dass das ‚Fehlen‘

40 Eldh, The Mother, S. 10. 41 Weiss, Traumprotokolle und -analysen, S. 90. 42 Vgl. dazu Schmolke, Kommentar, S. 143. 43 Ein wenig genauer hingegen sind die Beschreibungen der Mutter in ‚Fluchtpunkt‘ (vgl. F 29-30). Auffällig ist, dass auch an dieser Stelle in ‚Fluchtpunkt‘ sehr ähnliche Attribute der Mutterfigur beschrieben werden wie schon in ‚Abschied‘: Sie sei zum

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des Gesichts eine Hommage an Max Ernst ist, aber nicht als ‚femme sans tête‘, sondern vielmehr als eine ‚femme sans visage‘ oder auch als ‚femme‘ der ‚cent visages‘.44 Allerdings: „[B]ezogen auf die frühe Erfahrung mit der Mutter erlaubt diese Projektion keine Spiegelung. Im Kind kann kein Selbstbild entstehen, durch das es sich annehmen und wertvoll fühlen kann, denn diese Frau hat keinen Blick, kein Lächeln, alle Mimik ist ausgelöscht.“45 Für die bildliche Darstellung der Mutter und die Anreicherung mit identitätsstiftenden Eigenschaften nimmt Weiss die Textstelle auf und schafft durch die Platzierung des metallischen, kronenartigen Gegenstandes auf ihrem Kopf Ähnlichkeiten zwischen seiner Mutter und einer „ägyptischen Prinzessin“. Die wehenden Stoffe wirken ähnlich wie die einer „Zigeunerin“ oder die einer „griechischen Priesterin“. Auch die aufrechte, selbstbewusste Haltung der Frauengestalt erinnert an Letztere. Der theatrale Rahmen und die Holzdielen lassen den Betrachter an eine Bühne denken, was auf den einstigen Beruf der Mutter als „Schauspielerin“ verweist. Dabei bleibt das „Gesicht […] unkenntlich“ (A 99), erlangt aber stellenweise ein unheimliches Eigenleben. Ihr ganzer Körper verwandelt sich in ein unheimliches grauenerregendes Mischwesen: „Da ist das Gesicht meiner Mutter. […] Das Gesicht nahm mich auf und stieß mich von sich. Aus der großen, warmen Masse des Gesichts, mit den dunklen Augen, wurde plötzlich eine Wolfsfratze mit drohenden Zähnen. Aus den heißen, weißen Brüsten züngelten, wo eben noch tropfende Milchdrüsen waren, Schlangenköpfchen hervor. Früher als das Gesicht waren die Hände da. Sie packten mich, rissen mich in die Höhe, schüttelten mich,

Beispiel „einige Jahre lang Schauspielerin gewesen“ (F 31), einmal habe sie eine „Äbtissin“ (F 31) gespielt. Ihr Gesicht wird genauer umschrieben: „Sie war […] eine dominante Erscheinung, mit ihrem hochgewachsenen Körper, ihren dunklen Augen und dem schwarzen Haar.“ (F 29) Zwei Details ergänzen die Mutterfigur, nämlich das „schwarze Haar“ und die am Ende doch unbestimmte Farbe der „dunklen Augen“. Mehr kommt aber nicht hinzu. Während ‚Fluchtpunkt‘ bei anderen Collagen viel eindeutiger und mit viel mehr Passagen als Prätext identifiziert werden kann, hat es für die in ‚Abschied‘ typische Beschreibung und Darstellung der Mutterfigur vielmehr eine unterstützende Funktion. Denn letztlich bleibt Frieda Weiss auch hier ‚gesichtslos‘. Lediglich das Dominante und das Dunkle (schwarze Haare, dunkle Augen) akzentuieren die dunkle Farbgebung der Collage beziehungsweise die unheimliche Wirkung der Mutterimago im Text. 44 Bessen, Eine ‚destruktive Gewaltfigur‘, PWJ 8 91. 45 Ebd., S. 93-94.

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sprangen mir an die Ohren und ins Haar. Alles dröhnte und wogte um die Gestalt meiner Mutter. […] Um die Mutter war alles unbeständig, kochend, wirbelnd.“ (A 65)

Die beschriebene ‚Unkenntlichkeit‘ des Gesichts stellt Weiss im Bild dar, indem er das Gesicht bewusst nicht zeigt und Kopf, Hals sowie Brustbereich durch organische und technoide Gegenstände ersetzt. Die Mutter erscheint in dieser Mischung aus belebtem und unbelebtem Material als unheimlicher, beängstigender ‚Maschinenmensch‘. Auch Bessen stellt fest, dass „[diese Figur] ikonographisch […] an Statuen machtvoller, archaisch-präantiker Göttinnen [erinnert]. Die Zurschaustellung der Vulva, verbunden mit dem Schrecken der Nacktheit, konkurriert mit phallischer Zurschaustellung männlicher Macht früher Kultstatuen. [Die Muschel, H. K.] war angstauslösend, betonte die Macht und Wildheit des Weiblichen, betonte die weibliche Autonomie. Aber nicht nur die Muschel verweist auf Mythisches, auch die […] Spiralen stehen – wenn auch hier metallisch verfremdet – in vorgeschichtlicher Zeit für die weibliche Brust und für Leben und Tod. Auch das metallene Gebilde, […] der zierliche Helm […], erinnert an den kultischen, aus Blumen und Tieren gefertigten Kopfschmuck, den die archaischen „großen Göttinnen der Natur“ trugen.“46

Der ‚Kopfersatz‘ als solcher ist allein organischen Ursprungs; es ist vermutlich der schematische Querschnitt einer Kieme, die in ihrer Form höchstwahrscheinlich gar nicht zufällig an eine Gebärmutter erinnert, scheint es doch Weiss’ Intention zu sein, das weiblich Sexuelle durch eine starke Betonung der Körperlichkeit in den Vordergrund zu stellen. Die Annahme, dass es sich um Kiemen handelt, geht konform mit der Darstellung der Mutterfigur, die im wahrsten Sinne des Wortes auf Wasser fußt: Die Figur steht, wie oben beschrieben, mir ihren bloßen Füßen in einer Pfütze. Die Pfütze ist nicht sehr groß, bedeckt also nicht den gesamten Holzboden, sondern ist dort platziert, wo die Füße sind, und erstreckt sich zur rechten Bildseite hin. Wasser als ambigues Motiv, nämlich als „Symbol des Ursprungs [allen Lebens; H. K.] und des Todes sowie des Unbewussten“,47 steht korrespondierend zur Mutter als ebenfalls ambivalentes Symbol, nämlich als „Symbol des Lebens, der Fruchtbarkeit und der Liebe, aber auch der Zerstörung und des Todes“, als eine „festhaltende und verschlingende Mut-

46 Ebd., S. 93. 47 Daniela Gretz: Wasser. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hg. von Günter Butzer/Joachim Jacob. Stuttgart 22012, S. 475-476, hier S. 475.

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ter, […] das Angsterregende […].“48 Die metallisch spiralhaften Brüste, die wie ‚gepanzert‘ erscheinen, verstärken diese Konnotation,49 zum einen, weil Brüste aus Metall nicht nähren können, zum anderen, weil der Busen auf der Collage mit den Kiemenelementen, die als Hals in den Brustkorb hineinreichen, verbunden ist. Beides verstärkt die Konnotation der Mutter als Leben spendend, nährend und fürsorglich ex negativo. Auch die Muschel, die im Schoß der Mutterfigur arrangiert ist, unterstützt diese Deutung. Zum einen ist sie Ersatz für eine explizite Darstellung der Vagina, wie sie wegen des nackten Unterleibs der Figur eigentlich zu sehen sein müsste. Zum anderen lebt die Muschel als Weichtier im Meer und anderen Gewässern, steht also in direkter Verbindung mit dem Symbol des Wassers und der schematischen Darstellung von Kiemen. Darüber hinaus, und das scheint das Wichtigste an der Wahl dieser Art der Darstellung, ist die Muschel auch als ‚Vagina dentata‘50 gemeint. Die abgebildete Muschel ist verzahnt und ist Teil des mit dem in den Collagen zu den Eltern thematisierten Kastrationskomplexes. Im ‚Kopenhagener Journal‘ notiert Weiss: „Das große Klee-Buch von Grohmann gekauft.“ (KJ 45) Bei der Durchsicht der gemeinten Monographie über Paul Klee von Will Grohmann51 fällt ein Blatt ganz besonders auf: Die Radierung von 1903 mit dem Titel „Weib und Tier“ scheint Weiss, wenn nicht gar als Vorlage seiner Mutter-Collage genommen, doch zumindest bewusst im Hin-

48 Claudia Natterer: Mutter. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hg. von Günter Butzer/Joachim Jacob. Stuttgart 22012, S. 284-285, hier S. 284. 49 Vgl. Till R. Kuhnle: Busen. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hg. von Günter Butzer/Joachim Jacob. Stuttgart 22012, S. 69-71, hier S. 70. 50 Vgl. Stephanie Catani: Vagina. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hg. von Günter Butzer/Joachim Jacob. Stuttgart 22012, S. 460-461, hier S. 460. Weiss schreibt über seine sexuellen Fantasien: „Auch mein Mund sucht sich hinein in die geöffneten, muschelfarbenen Lippen […].“ (A 99) Interessanterweise geht es an dieser Stelle um Potenzstörungen, die Weiss mithilfe eines Arztes zu beseitigen hofft. Weiter schreibt er: „Und dann erlebe ich vielleicht eines Tages, daß es gar keine Einsamkeit gibt, daß diese ganze Kultur der Einsamkeit nur ein Mißverständnis war […]. Max erzählte mir einmal, wie er im Weltkrieg […] Sterbende nach ihrer Mutter hatte schreien hören, Mama, Mama, schrien sie. Da lagen diese fertigen Männer […], und das letzte wonach sie schrien, das war der Schlund aus dem sie gekrochen waren. Man kann nicht leben, wenn man diesen Schlund nicht liebt. O Leben, o große Fotze des Lebens.“ (A 132) 51 Will Grohmann: Paul Klee. Stuttgart 1954. Vgl. Anm. 79 dieser Arbeit.

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terkopf gehabt zu haben.52 Die Klee’schen Symbolfiguren des Weibs für die weibliche Sexualität und Wildheit und die animalische Begierde (des Mannes) erinnern also sowohl thematisch als auch in der Gestaltung und Machart an die Weiss’sche ‚Collage VIII‘. Bei Klee ist, ganz wie bei Weiss auch, eine Frau die zentrale Gestalt, die in ihrer Sexualität stark betont dargestellt wird. Besonders auffällig ist die sehr ähnliche Gestaltung des unteren Bildbereichs: Die korallenartigen Gebilde am unteren Bildrand bei Weiss erscheinen nahezu analog zur Gestaltung desselben Bildbereichs bei Klees ‚Weib und Tier‘. Einzig die Gestaltung des Hintergrunds unterscheidet sich wesentlich: Während Klee seine beiden Figuren auf schwarzem Hintergrund arrangiert, erschafft Weiss für seine Figur einen detailliert ausgestalteten, real wirkenden dreidimensionalen Raum. Frieda Weiss ist als Person, wie gesagt, kaum fassbar. „In der Mutter herrschte das Wilde und Unbändige […]. Alles dröhnte und wogte um die Gestalt von meiner Mutter“ (A 65). Die Bewegung, die Weiss hier sprachlich beschreibt, setzt er bildlich um, indem er Stoffe und Haare bewegt darstellt. Auch die Füße scheinen sich leicht nach vorne zu bewegen. Allerdings bleiben die Hände starr und steif vor dem Körper verschränkt. Weiss erinnert die Hände seiner Mutter als „ein Leben lang uns [Kinder; H. K.] haltend, reinigend, züchtigend“, nicht als (be-)schützend. Als Kind war die Hoffnung darauf noch vorhanden: „Meine Mutter sagte einmal zu mir, Du bist mir fremd gewesen, ich habe dich nie verstehen können. Dies zu hören war schwerer, als ihre Schläge entgegenzunehmen. Das Bedürfnis, von ihr gehalten zu werden, war noch nicht gestorben.“ (A 105) Als Erwachsener hingegen zeigt er retrospektiv und der Darstellung einer ambivalenten Mutterimago treu bleibend die enttäuschte Hoffnung in der ablehnenden, abwehrenden Geste einer „Anti-Mutter“.53 Gleichsam können die so arrangierten Hände auch als Bannung des erwachsenen Peter Weiss verstanden werden, der mit der oftmals zurückweisenden Haltung seiner Mutter in dieser nachträglichen Bearbeitung abschließt. Die Verbindung der Wanduhr mit seiner Mutter thematisiert Weiss auch im Text: „Die Standuhr mit dem Sonnengesicht hatte in meine frühesten Träume hinein getickt“ (A 62). Weiss verknüpft seine Mutter mit etwas Unheimlichem, das ihn bis in seine Träume verfolgt. Die Bedrohung ist für das Kind allgegenwärtig und unausweichlich: „Von unten kam das langsame, schwere Ticken der Standuhr, langsame, schwere Schritte schleppten sich die Treppe hinauf“ (A 81). In der Collage zeigt Weiss die Mutter als unheimliche Bedrohung, da er die Mutterfigur ähnlich einer Standuhr darstellt und entsprechend im Bild positioniert: starr

52 Paul Klee: ‚Weib und Tier‘, Radierung geätzt, 1904. 53 Bessen, Eine ‚destruktive Gewaltfigur‘, PWJ 8 92.

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und unbeweglich wie ein lebloses Objekt, das zugleich wie lebendig in Bewegung versetzt wird. Das verstärkt im Zusammenspiel mit der dunklen Farbgebung der Collage die unheimliche, beklemmende und bedrohliche Wirkung. Zudem kommt diese unheimliche Wirkung „auch zustande, wenn sich lebendige Wesen wie leblose Gegenstände benehmen oder Lebloses als beseelt anmutet.“ 54 Das plötzliche Auftauchen der „Erscheinung meiner Mutter“ (A 79)55 hat auf das Kind eine furchterregende Wirkung: „Schon wollte ich aufstehen, da stand meine Mutter vor mir, nie merkte ich, wie sie ins Zimmer kam, immer erschien sie plötzlich mitten im Zimmer, wie aus dem Boden emporgewachsen, den Raum mit ihrer Allmacht beherrschend“ (A 87-88). Diese Verfolgungsangst, die „paranoid-schizoide Position“56 des Kindes, geht einher mit einer „Inszenierung der widersprüchlichen, erotisierten, inzestuösen und zugleich gefürchteten Mutterimago“.57 Auf eine erotisierende und gleichzeitig inzestuöse Weise beschreibt Weiss seine Mutter im Text: „Ich hatte das Geschlecht meiner Mutter einmal gesehen, als Kind, sie stand vorgebeugt im Hemd, und zwischen ihren schweren Schenkeln klaffte das dunkle, umhaarte Loch.“ (A 131) Das entblößte „Loch“ klafft auseinander wie die Muschel in der Collage, die mit der Öffnung zum Betrachter hin arrangiert wurde. Weiss beschreibt in ‚Abschied von den Eltern‘ an mehreren Stellen Inzestfantasien. An einer Stelle heißt es: „Ich entgehe auf diese Weise der Wiedervereinigung mit der Mutter“ (A 99). Die infantilen Inzestfantasien sind gebunden an Impotenzängste, die nach Weiss aus einer an ihm als Künstler zweifelnden Mutter resultieren. Die Verknüpfung der Mutter mit der Kategorie des ‚Unheimlichen‘ ist unverkennbar: „Wenn meine Mutter, herbeigerufen durch meinen Schrei, an mein Bett kam und mich aufrichtete und mich in die Arme schloß, verging das Unheimliche, zu dessen Erscheinung sie selbst beigetragen hat.“ (A 42) Die gefürchtete, unheimliche Mutter kann mit Freuds Abhandlung über ‚Das Unheim-

54 Josef Rattner/Gerhard Danzer: Literatur und Psychoanalyse. Würzburg 2010, S. 55. 55 Der Bezug zu E. T .A. Hoffmanns ‚Der Sandmann‘ (1817) ist kaum zu übersehen. Das Motiv der Uhr taucht zudem sowohl immer im Zusammenhang mit dem Heim der Familie Weiss auf als auch mit der Vaterfigur, die in einer psychoanalytischen Auslegung mit dem Sandmann gleichgesetzt werden kann (vgl. dazu zum Beispiel A 139). 56 Wolfgang Mertens: Ödipuskomplex. In: Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. Hg. von Wolfgang Mertens/Bruno Waldvogel. Stuttgart 32008, S. 532-544, hier S. 538. 57 Steinlein, Ein surrealistischer ‚Bilddichter‘, S. 85.

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liche‘ gedeutet werden.58 Das Unheimliche konnotiert Freud mit einer angsterregenden Wirkung und mit den Attributen „heimlich, heimisch, vertraut.“ 59 Es kann demnach Heimliches im Sinne von Heimischem sein, das jäh aus der Verborgenheit auftaucht. Das abrupte Einbrechen in die Sphäre des Kindes erzeugt, neben der „Allmacht“ der Mutter, auch bei Weiss ein Gefühl des Grauens. Ein weiteres traumatisierendes Kindheitserlebnis beschreibt Weiss in ‚Abschied von den Eltern‘: „Als meine Pubertät begann, zwang mich meine Mutter wieder über die weiße Opferschale […]. Dieses Mal galt es der Säuberung meines Glieds. Mit Seife, warmem Wasser und Watte versuchte meine Mutter, die Vorhaut meines Glieds zurückzustreifen, ihre eine Hand hielt das Glied, ihre andere Hand schob und drängte unter der allzu engen Haut. Ich war halb ohnmächtig vor Schmerz und Erniedrigung als endlich die Spitze meines Glieds bloßgelegt worden war und meine Mutter den Schleim wegwusch, der sich unter der Vorhaut angesammelt hatte. Später fragte ich sie, was das sei, dieser weiße Schleim, der nachts manchmal aus mir herausrann, ich wußte es wohl, doch ich wollte sie herausfordern, indem ich mich dumm stellte, verhöhnte ich sie […]. Lange noch konnte ich die Empfindung von der Umklammerung ihrer Hand an meinem Glied nicht loswerden.“ (A 84-85)

Die Passage verdeutlicht das ambivalente Verhältnis von Peter und Frieda Weiss. In ihr zeigen sich eine Mutterbindung mit Ablösungsängsten und eine Mutterdrohung gleichermaßen. Das Gefühl der Unselbstständigkeit empfindet Weiss als überaus peinlich, er nimmt die gefühlsmäßige und materielle Abhängigkeit als peinigend wahr. Die Ablehnung der Mutter und durch die Mutter, Schuldgefühle und Versagensängste, Auflehnung und Trotz vermischen sich derart, dass die Mutterfigur nachträglich noch verbildlicht werden muss, um sie zu bannen. Die Inzestfantasien und der Ödipuskomplex – in der ‚Collage VIII‘ auch angedeutet durch die Ähnlichkeit der Mutterfigur mit einer antiken Statue – verweisen darüber hinaus auch auf Weissʼ Vater. „Die böse, verfolgende MutterImago […] bildet oftmals die Matrix für den als kastrierend phantasierten ödipa-

58 Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: ders.: Der Dichter und das Phantasieren. Schriften zur Kunst und Kultur. Hg. von Oliver Jahraus. Stuttgart 2010, S. 187-227. 59 Ebd., S. 189.

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len Vater.“60 Im Text findet sich der ‚bildgewordene‘ Ödipuskomplex in drei Bildern,61 die nebeneinander über dem Bett der Eltern hängen: „[…] über ihnen […] hingen drei Bilder, links ein Gemälde vom Gesicht meines Vaters, der Kopf wie abgeschnitten […], rechts der Kunstdruck vom Bild eines nackten Jünglings, der […] hoch über einer Berglandschaft saß, und in der Mitte das Bild von der nackten Göttin, die, von Schaumflocken umflogen, steif vorgeneigt, ohne je das Gleichgewicht zu verlieren, mit der einen Hand die Brust bedeckend, mit der anderen eine Strähne des langen gewellten Haars vor den Schoß haltend, auf dem Rand einer großen Muschel stand.“ (A 81-82)

Der ‚geköpfte‘ Vater links hängt wie als Pendant zum Bild rechts außen, dem „Jüngling“ gegenüber, der mit dem Ich-Erzähler und Autor selbst gleichgesetzt werden kann. Die „Göttin“ steht zwischen dem Mann und dem Sohn. Dieser scheint als Konkurrent seines Vaters auf den Ödipuskomplex und die Kastrationsangst hinzuweisen. Die „Göttin“ repräsentiert Frieda Weiss. Diese Textstelle kann auch zur Interpretation der ‚Collage VIII‘ herangezogen werden. Denn die „Göttin“ ist „nackt“, ebenso wie – zumindest teilweise – die Mutterfigur auf dem Bild. Auch der Begriff „Göttin“ verweist auf Weissʼ herrische, übermächtig wirkende Mutter und die bildliche Darstellung der Mutterfigur in der Collage. Diese steht ebenso „steif vorgeneigt“ und zugleich sicher wie eine Standuhr, mit der sie assoziiert wird. Analog zueinander sind auch die „langen gewellten Haare“ beider Figuren. Während die „Göttin“ aber mit den Händen ihre Scham bedeckt, verhüllt die Mutterfigur auf Weissʼ Collage ihre Geschlechtsmerkmale nicht. Zudem ist die Muschel bei Weiss nicht hintergründig arrangiert, sondern hervorgehobenes, deutlich wahrnehmbares Symbol für das primäre Geschlechtsorgan seiner Mutter. Die Mutter beherrscht die ‚Collage VIII‘ mit ihrer übermächtigen

60 Mertens, Ödipuskomplex, S. 538f. 61 Der „Kunstdruck“ zeigt Hippolyte Flandrins (1809-1864) ‚Nackter Jüngling‘ (‚Jeune homme nu‘). Im Unterschied zu der Beschreibung von Weiss sitzt der Jüngling auf einer Klippe am Meer, im Hintergrund erheben sich ebenfalls Klippen. Das Bild, das die „Göttin“ zeigt, ist offensichtlich die ‚Geburt der Venus‘ (um 1485) von Sandro Botticelli (1445-1510). Die römische Venus ist gleichbedeutend mit der griechischen Göttin Aphrodite, der „Schaumgeborenen“. Hesiod (ca. 740-670 v. Chr.) überlieferte den Mythos, dass die Göttin der Liebe nach der Kastration des Uranos durch seinen Sohn Kronos aus Schaum (gleichbedeutend mit Sperma) entstand, der sich aus den in das Meer geworfenen Geschlechtsteilen gebildet hatte. Vgl. dazu auch Schmolke, Kommentar, S. 168.

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Präsenz und ihrer unheimlichen, düsteren Wirkung ebenso wie die Mutterinstanz in ‚Abschied von den Eltern‘. Wie übermächtig die Mutter in Weissʼ Augen ist, lässt sich auch anhand einem Vergleich der ‚Collage VIII‘ mit der ‚Collage II‘ feststellen. Abbildung 14: ‚Collage II‘, 1962

Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: HZ 3385.6 „Du bist jetzt alt genug, sagte er [der Vater, H. K.], daß ich einmal mit dir über Berufsfragen sprechen muß. Wie denkst du dir eigentlich deine Zukunft. Ich konnte auf diese quälende Frage nichts antworten. […] Dann ist Schluß mit den Träumereien, dann wirst du dich endlich der Realität des Daseins widmen. Der Realität des Daseins. Die Drohung, hinaus ins Leben treten zu müssen […].“ (A 88)

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Die ‚Collage II‘ erinnert stark an Adolph Menzels ‚Eisenwalzwerk‘. 62 Auf der ‚Collage II‘ ist eine riesige Halle zu sehen, in der überall Rohre, Gerüste, Schienen, Gestelle und Metallverstrebungen angebracht sind und Stangen herumliegen. Die Halle erinnert an eine Fabrik- oder Produktionshalle. Am rechten unteren Bildrand verläuft eine Treppe aus Holz aufwärts aus dem Bild heraus; wohin sie führt, ist für den Betrachter nicht ersichtlich. Links hinter der Treppe ist eine Wand mit einem Rundbogen obenauf erkennbar, die, wie auch die Treppe aus Holz, nicht zu den ansonsten überwiegend metallenen Elementen in der Fabrikhalle zu passen scheint. Eine winzige Figur hockt geduckt und mit dem Rücken zum Betrachter gewandt am unteren Ende dieses Bildelements. Den Hintergrund der gesamten Halle macht ein riesiges Fenster aus, durch das Helligkeit in die Halle dringt. Das Dach der Halle ist nicht genau zu erkennen, da davor Gerüste und Verstrebungen montiert sind. Es ist jedoch zu erahnen, dass das Dach gewölbt ist und ebenfalls Licht hineinlässt, denn an manchen Stellen sind im Dach Elemente zu erkennen, die Glasfenstern ähneln. Teile des Daches sind reich verziert und erinnern an Stuck. Mittig ist ein großes radähnliches Element ins Bild montiert. Es sind kranähnliche Gestelle zu erkennen, allerdings kein Gerät oder keine Maschine als Ganzes. Eine eindeutige Bildmitte ist in dem fast schon chaotischen Arrangement der Gerüste, Stangen und Gestelle nicht direkt auszumachen. Die Bildmitte wird vielmehr durch die beiden Personen gebildet, da sie trotz ihrer relativ geringen Größe in dem riesigen Raum als markante Gegensätze zu dem ansonsten mechanisch dominierten Raum auszumachen sind. Die gesamte Collage wirkt dreidimensional. Oberhalb und mittig arrangiert hängt ein Käfig, der möglicherweise die Funktion eines Fahrstuhls haben kann. Am unteren Bildrand liegen auf dem Holzfußboden, mittig und direkt unter den beiden Figuren, ein aufgebrochenes (Hühner-)Ei und Federn. Außer den beiden zentralen Figuren und der gebückten winzigen Gestalt rechts im Bild gibt es keine weiteren Menschen. Der hier gezeigte Raum meint das Kontor von Weissʼ Vater,63 „dessen ganzes Leben unter dem Zeichen unermüdlicher Arbeit gestanden hatte […].“ (A 59) Weiss beschreibt das Kontor in ‚Abschied von den Eltern‘ ähnlich, wie es in der Collage zu sehen ist, als „eine riesige, funktionalistische Komposition aus Glas und Beton, eingesponnen in ein Netz aus Drähten und Gestängen“ (A 137), das eine „Glaskuppel“ (A 108) hat. Auch bildlich zeigt Weiss in der ‚Collage II‘ dieses „Netz“ und identifiziert zudem das auf der Collage weniger deutlich zu erkennende Dach als „Glaskuppel“ des Kontors. In der Collage scheint alles mit-

62 Adolph Menzel: Eisenwalzwerk, Öl auf Leinwand, 1875. 63 Eugen Weiss war jüdisch-ungarischer Textilkaufmann.

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einander verwoben und verbunden und entspricht damit in der bildlichen Gestaltung der sprachlichen Beschreibung einer „großen, pochenden Maschinerie“ und einem Gebäude, das sich „einige Meter von uns erhob [als] eine riesige, funktionalistische Komposition aus Glas und Beton, eingesponnen in ein Netz aus Drähten und Gestängen.“ (A 116) Der Betrachter des Bildes schaut in den „Schlund der Fabrik“ (A 138). In der ‚Collage II‘ ist Weissʼ Vater durch die Darstellung einer Vaterfigur mit seinem Sohn gemeint, während die Darstellung der Mutter nur diese selbst zeigt, als ob die Mutter in ihrer ‚Allmacht‘ alle verdrängt oder alle vor ihrer ‚Unheimlichkeit‘ fliehen, auch ihr eigener Sohn. Der Vater scheint inmitten der riesigen Halle der ‚Collage II‘ selbst verloren. Das entspricht den im Text bereits dargestellten Machtverhältnissen zwischen einer autoritären Ehefrau und einem schmalen, fast schmächtig wirkenden Mann, der wenig zu sagen hat. Die Mutter ist sowohl im Text als auch im Bild konnotiert mit körperlicher Präsenz, der Vater mit Distanziertheit und Abwesenheit. Auch wenn die Vaterfigur nur ganz klein ist, spielt sie eine wesentliche Rolle in dieser Collage. Bereits kurz nach der Emigration nach England wollen die Eltern ihren Sohn zu einer kaufmännischen Ausbildung bewegen: „Ich hatte meine ersten Auseinandersetzungen mit meinen Eltern, die natürlich nicht wollten, daß ich Maler werde, wovon ich allerdings fest überzeugt war 1933/34! Als mein Vater mich in die Handelsschule steckte, war das sein erster Schritt gegen die Gefahr, mich Künstler werden zu sehen. Sicher war das von ihm nicht böse gemeint. […] Man muß irgendwo eine Sicherheit haben – daß war für meinen Vater sehr wichtig, und deshalb sollte ich eine kaufmännische Ausbildung bekommen, […] so daß ich ihm in seiner Firma in London hätte helfen können.“ (MPW 19)

Das, was Peter Weiss Jahre später so distanziert und verständnisvoll erinnert, klingt in der akuten Situation jedoch ganz anders: „Die scheinbaren Aufgaben. Scheinbare Aktivität. Man bemüht sich an Dingen und weiss, diese Bemühungen sind ganz nutzlos. Meine Zeit in der Fabrik.“ (KJ 28) Weiss wehrt sich gegen die Arbeit im Kontor, nicht zuletzt wegen des seiner Ansicht nach fehlenden künstlerischen Wertes dieser Arbeit: „13. August Versuche mich zu orientieren. Fabrik verlassen, ruinenhaft. […] Das Werk meines Vaters. Das Nutzlose seines Lebenswerks. Aller Lebenswerke. Nein, alle Lebenswerke sind nicht nutzlos.“ (KJ 26) Ganz deutlich spricht Weiss der Arbeit seines Vaters den Wert ab. Seine innere Abwehrhaltung zeigt sich im Bild in einem sich sträubenden Kind.

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Dennoch arbeitet Peter Weiss wegen der ausbleibenden Erfolge mit seiner Kunst und auf Drängen des Vaters hin einige Zeit nach der Übersiedlung nach Schweden 1939 im Kontor mit: „Du kannst so nicht weiterleben, sagte mein Vater, du kannst mir nicht länger zur Last liegen, du kannst in der Situation, in der wir uns befinden, dich nicht länger deinen Träumereien hingeben, die Welt ist nicht so wie du glaubst, du kannst darinnen nie mit deinen Bildern und Gedichten existieren.“ (A 117) Weiss fühlte sich in der Textilfabrik ständig als Außenseiter, er „blieb […] Fremdkörper in der großen, pochenden […] Maschinerie.“ (A 137) Das Gefühl, ein „Fremdkörper“ im Kontor des Vaters zu sein, nicht dorthin- und dazuzugehören, zeigt sich in der ‚Collage II‘ in den Größenverhältnissen und Proportionen des Rauminnern zu den beiden Personen, die sehr klein im unteren Bildbereich zu sehen sind. Ein älterer Mann hält mit dem rechten Arm, sich mit seiner linken Hand abstützend, einen Jungen vor seinem Oberkörper fest. Der Unterkörper des Mannes ist nicht zu sehen. Der Mann hält den Jungen hoch. Der Junge streckt Hände und Füße aus, als ob er wieder in die Sicherheit des Armes heruntergenommen werden möchte. Die Proportionen der Bildelemente laufen sich nicht zuwider, auch der Mann und der Junge passen von den Größenverhältnissen zueinander. Trotz der Größe des Raumes und der dadurch auffälligen ‚Winzigkeit‘ der abgebildeten Personen fallen Letztere besonders auf, denn sie sind die einzigen Lebewesen in dem mechanischen Wirrwarr. Der Mann und der Junge werden somit durch ihre menschlichen, zu den starren, künstlichen Formen des gesamten Raumes stark kontrastierenden weichen und natürlichen Formen umso mehr betont. Denn diese beiden Elemente beinhalten die Hauptaussage der Collage. Der Junge auf der Collage meint Peter Weiss, der Mann seinen Vater. Wie bereits gezeigt wurde, hatte Frieda Weiss die Rolle der autoritären Mutter und Ehefrau inne. Frieda Weiss ist die treibende Kraft, auch wenn es darum geht, Peter zu einer in ihren Augen vernünftigen Ausbildung zu drängen: „Dicht trat sie an mich heran und ihre Worte fielen wie Steine auf mich herab, du mußt büffeln und wieder büffeln, du hast noch ein paar Jahre, dann wirst du ins Leben hinaustreten und dazu mußt du etwas können, sonst gehst du zugrunde. […] Du darfst mir keine Schande machen. […] wenn du nichts kannst, dann fällt das auf mich zurück […].“ (A 88)

Doch die Mutter übt nicht nur Druck auf ihren Sohn aus, sondern auch auf ihren Mann, damit dieser wiederum Druck auf den Sohn ausübt: „Meine Beziehung in die mein Vater im Heim zu mir trat war eine erzwungene. Auf das Drängen der Mutter hin machte er sich zuweilen zu einer züchtigenden Instanz, die seinem

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zurückhaltenden Wesen nicht entsprach. […] Endlich kam er ins Zimmer gestürzt, lief auf mich zu, packte mich, und legte mich über sein Knie. Da er nicht stark war, taten seine Schläge nicht weh. Qualvoll bis zum Brechreiz war nur die demütigende Gemeinschaft in der wir uns befanden. […] Nur an den Sonntagen, an denen ich meinen Vater manchmal in sein Kontor begleitete, entstanden Ansätze von Möglichkeiten einer anderen Zusammengehörigkeit. Es waren Ansätze, denen es nie gegeben war, sich weiter zu entwickeln.“ (A 106-107)

Dies entspricht auch der Darstellung in der Collage, die den Vater und Ehemann Eugen Weiss nicht als großen und damit furchteinflößend und stark wirkenden Mann zeigt, sondern ebenfalls, wie den Jungen auch, als in der und durch die Umgebung körperlich klein wirkenden Mann, der zudem charakterlich als „ein weicher, eigentlich ein musischer Mensch“ (MPW 22) beschrieben wird. Während der Charakter und die Erscheinung des Vaters im Text und im Bild recht gut geschildert werden, gibt es im gesamten Text lediglich eine einzige Beschreibung des Gesichts des Vaters – und auch da bleibt, wie schon bei der Mutterfigur, das Gesicht unkenntlich: „Ich erinnerte mich an meinen Vater, so wie ich ihn zuletzt gesehen hatte, unter einer Decke auf dem Sofa im Wohnzimmer liegend, nach der Beerdigung meiner Mutter, sein Gesicht grau und undeutlich, von Tränen verwischt, sein Mund den Namen der Verstorbenen stammelnd und flüsternd. Ich stand gefroren, spürte den kalten Wind, hörte Pfiffe und Dampfstöße vom Bahndamm her, und vor mir war ein Leben völlig abgeschlossen, […] vor mir lag der Leichnam eines Mannes in der Fremde, nicht mehr erreichbar, in einem Schuppen am Eisenbahndamm […].“ (A 60)

Weiss schreibt mit großer Distanziertheit nicht über den vor ihm liegenden Leichnam seines Vaters, sondern über den „Leichnam eines Mannes“ [Hervorhebung H. K.]. Der Vater bleibt ihm ewig und sogar über den Tod hinaus fremd und nicht zugänglich. Das Unkenntliche geht konform mit der Unkenntnis des Kindes über den Vater: „Mein Vater ist Präsident, sagte er [der Nachbarsjunge Friederle; H. K.], was ist dein Vater. Ich wußte es nicht.“ (A 71) An anderer Stelle thematisiert Weiss erneut diese Unwissenheit: „Von meinem Vater wusste ich nichts. Der stärkste Eindruck seines Wesens war seine Abwesenheit.“ (A 77) Einmal charakterisiert Weiss die Vaterfigur über den Vergleich mit der Figur des Fritz W: „Fritz W, der Hausherr, war in allem ein Gegensatz meines Vaters, er war kraftvoll, lebhaft, seine Sprache witzig und drastisch, er war kameradschaftlich im Umgang mit seinen Kindern und intim und vital in seiner Annäherung an meine Mutter, die in seiner Gegenwart aufblühte.“ (A 83) Der Vater hingegen ist

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„ungreifbar, in sich verschlossen.“ (A 106) Zur Distanziertheit zwischen Vater und Sohn findet sich eine weitere Stelle, an der der Ich-Erzähler über das „Leben dieses Mannes“ nachdenkt: „[…] und im Leben dieses Mannes hatte es Kontorräume und Fabriken, viele Reisen und Hotelzimmer gegeben, im Leben dieses Mannes hatte es immer große Wohnungen, große Häuser gegeben, mit vielen Zimmern voller Möbel, es hat im Leben dieses Mannes immer die Frau gegeben, die ihn erwartete im gemeinsamen Heim, und es hat die Kinder im Leben dieses Mannes gegeben, die Kinder, denen er immer auswich, und mit denen er nie sprechen konnte, aber wenn er außer Haus war, konnte er vielleicht Zärtlichkeit für seine Kinder empfinden, […] und immer trug er ihre Bilder bei sich, und sicher betrachtete er diese abgegriffenen, zerknitterten Bilder, […] und sicher glaubte er, daß er bei seiner Rückkehr Vertrauen finden würde, doch wenn er zurückkam gab es immer nur Enttäuschungen und die Unmöglichkeit gegenseitigen Verstehens.“ (A 60)

Auffällig ist, dass die Kinder an letzter Stelle, nach der Arbeit, den Wohnstätten und der Ehefrau, genannt werden. Der Ich-Erzähler entwickelt eine Strategie, sich zumindest imaginativ der Aufmerksamkeit und Liebe seines Vaters trotz aller Ablehnung zu vergewissern und sich dadurch zu trösten: Er denkt sich (aus), dass sein Vater seine Kinder „sicher“ vermisst, wenn er „außer Haus war“. Diese Wunschvorstellungen und die damit verbundenen Hoffnungen auf eine weniger distanzierte Vater-Kind-Beziehung erfüllen sich aber nie, der Vater bleibt nicht greifbar und auf großer Distanz. Und trotz dieser „Abwesenheit“ und trotz seines nicht fassbaren Wesens hat der in der textuellen Vorgabe und in der bildlichen Entsprechung körperlich kleine Mann große Macht über sein Kind. Auch wenn die Vaterfigur auf der Collage sein Kind von hinten ‚anzuschubsen‘ und von sich wegzuschieben scheint – sein Gesicht spiegelt deutlichen Unmut –, gehorcht der Vater seiner Frau und treibt seinen Sohn an: „Du bist jetzt alt genug, sagte er [der Vater; H. K.], daß ich einmal mit dir über Berufsfragen sprechen muß. Wie denkst du dir eigentlich deine Zukunft. Ich konnte auf diese quälende Frage nichts antworten. […] Ich schlage vor, daß du in die Handelsschule eintrittst und dann in mein Kontor kommst. […] Zum studieren fehlt dir jede Ausdauer. […] Leben war Ernst, Mühe, Verantwortung. […] Dann ist Schluß mit den Träumereien, dann wirst du dich endlich der Realität des Daseins widmen. Der Realität des Daseins. Die Drohung, hinaus ins Leben treten zu müssen […].“ (A 88)

Diese „Drohung, hinaus ins Leben treten zu müssen“, manifestiert sich im Bild in dem angedeuteten Schubsen des Jungen in den Raum hinein. Auf dem Bild

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erscheint der Knabe noch zu jung, um über die „Realität des Daseins“ zu sinnieren, und somit wehrt er sich stark. Diese Darstellung korrespondiert mit dem Hühnerei, aus dem offensichtlich gerade ein Küken geschlüpft ist. Ein Küken ist wie auch ein Kind zu jung, um auf diese Weise eigenverantwortlich ins Leben zu treten. Auch im Text wehrt sich der Ich-Erzähler, analog zur Kind-Figur im Bild, gegen das Drängen der Eltern, einen (‚richtigen‘) Beruf zu erlernen und nicht die Zeit mit Malen und Schreiben zu verschwenden. Peter Weiss fängt also im Kontor des Vaters an, voller Schuldgefühle ob der finanziellen und materiellen Abhängigkeit von den Eltern. Weiss schämt sich zudem dem Vater gegenüber, von dem er Geld angenommen hat, und er bekommt noch mehr Schuldgefühle, als er beginnt, die Arbeit der Angestellten zu reflektieren, denn diese leisten gute Arbeit als fleißige Angestellte: „Ich habe mich mit meiner Untätigkeit nicht abgefunden.“64 Weiss’ Empfinden ist zwiegespalten, er pendelt ständig zwischen gewollter Aufmerksamkeit und Lob sowie ungewollter, aber notwendiger finanzieller Abhängigkeit, zwischen dem Wunsch, seinen Eltern zu beweisen, dass er es alleine schaffen kann, und dem Wusch nach Verständnis und Freiheit in Lebensgestaltung und Berufswahl. Weiss’ Erinnerungen an seinen Vater im Text sind bestimmt von Unwissenheit, Distanziertheit und enttäuschten Erwartungen. Besonders deutlich wird das neben der Umständlichkeit der Beschreibungen durch die generelle Unkenntlichkeit des Gesichts. In der Collage hingegen gelingt es Weiss, der Vaterfigur ein Gesicht zu geben. Dieses Gesicht ist weder distanziert noch kühl oder wütend und geprägt von Unmut und Unwillen. In dem bildlichen nachträglichen Abschluss mit dem Verhältnis zu der eigenen Vaterfigur zeigt sich das, was Weiss sich eigentlich von seinem Vater erhofft hat: Nähe, Verständnis und Unterstützung. Die Erinnerungen an den Vater erscheinen daneben untrennbar mit dem Motiv von Gleisen, Bahnhöfen, Güterzügen verbunden zu sein. ‚Abschied von den Eltern‘ setzt ein mit der Beschreibung des Ich-Erzählers, wie er sich auf den Weg nach Gent macht, wo sein Vater verstarb und aufgebahrt wurde: „Ich ging die Straße am Bahndamm entlang, auf das Hospital zu, in dessen Kapelle mein Vater aufgebahrt lag. Auf den Gleisen, hinter den kahlen, gestutzten Bäumen, rangierten die Güterzüge. Die Wagen rollten und klirrten oben auf dem Bahndamm, als ich vor der Kapelle stand […].“ (A 59)

64 Weiss, Das Pariser Manuskript, S. 67.

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Und ganz klar hat die Kontorhalle der ‚Collage II‘ auch Ähnlichkeit mit einer Bahnhofshalle. Ein anderes Detail ist aber noch aufschlussreicher: Rechts unten im Bild ist eine Treppe aus Holz zu sehen, die nicht zu den ansonsten überwiegend metallenen Elementen in der Fabrikhalle zu passen scheint. Weiss beschreibt in ‚Abschied‘, wie er „treppauf, treppab, durch Hallen und Korridore“ (A 59) lief. Im Bild ist die Treppe zu sehen, die, aus Holz gemacht, folglich im so starken Kontrast zu der metallischen, mechanischen Umgebung steht und die dadurch eine weitere Dimension ins Spiel bringt: nämlich die häusliche, private. Hier vermischen sich die Motive des Arbeits- und des Privatlebens, das Arbeitsumfeld und das Häusliche. Die ‚Collage II‘ zeigt einen bestimmten Ort, nämlich einen ‚autobiographischen Innenraum‘, wie es auch besonders bei der ‚Collage IV‘ und der ‚Collage A‘ auffällt. Die Kategorie des Raumes – innen sowie außen – spielt bei Weiss eine signifikante Rolle, wie in den anschließenden Analysen gezeigt wird. Zwischenfazit Schon mehrfach wurde die für Weiss große Bedeutung der Freud’schen Psychoanalyse angesprochen, die ihm auf vielfältige Art und Weise wichtig war und sich in seinem Œuvre und besonders in der ‚Collage V‘ spiegelt. Das Interesse an der Psychoanalyse nach Freud geht zum einen auf Weissʼ Freundschaft mit dem Arzt und Psychologen Max Hodann zurück: „Die Auseinandersetzungen mit ihm [Max Hodann, H. K.] waren sehr lehrreich, es gab viele Anstöße, daß ich damals Freud, Jung und andere Psychologen gelesen habe.“ (MPW 39) Ebenso wurde in Schweden vermehrt psychoanalytische Literatur geschrieben, die Weiss in seinem eigenen Werk beeinflusst. Darüber hinaus lehnt sich Weiss in seiner Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse auch an den Surrealismus an, war dieser doch stark „beeinflusst von der Psychoanalyse S. Freuds.“ 65 Nach Freud sind Dichter gegenüber Neurotikern und Psychotikern im Vorteil, die den Bezug zur Realität verloren haben, denn Dichter können durch Kunst in die Realität zurückfinden und sich so selbst heilen: „Den Rückweg zur Realität findet der Künstler aber auf folgende Art: Er ist ja nicht der einzige, der ein Phantasieleben führt. Das Zwischenreich der Phantasie ist durch allgemein menschliche Übereinkunft gebilligt, und jeder Entbehrende erwartet von daher Linderung und Trost. Aber den Nichtkünstlern ist der Bezug von Lustgewinn aus den Quellen der

65 Klaus Hübner: Surrealismus. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hg. von Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moennighoff. Stuttgart 3

2007, S. 743.

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Phantasie sehr eingeschränkt. Die Unerbittlichkeit ihrer Verdrängungen nötigt sie, sich mit den spärlichen Tagträumen, die noch bewusst werden dürfen, zu begnügen. Wenn einer ein rechter Künstler ist, dann verfügt er über mehr. Er versteht es erstens, seine Tagträume so zu bearbeiten, dass sie das allzu Persönliche, welches Fremde anstößt, verlieren und für die anderen mitgenießbar werden. Er weiß sie auch soweit zu mildern, dass sie ihre Herkunft aus den verpönten Quellen nicht leicht verraten.“66

‚Abschied von den Eltern‘ kann, einer psychoanalytischen Auslegung folgend, als ein Versuch der eigenen Rettung und Heilung verstanden werden.67 Josef Rattner kommt zu dem Schluss, dass „[d]er Prozess des Dichtens […] der Gesetzmäßigkeit [folgt], die für das Phantasieren aufgestellt wurde. Ein aktuelles Ereignis rührt Kindheitsreminiszenzen im Dichter auf, die er in Wunscherfüllung umarbeitet.“68 Die ‚Erzählung‘ beginnt mit dem Tod des Vaters als „aktuelles Ereignis“, das als „Traumerreger“69 Weissʼ Erinnerungen und Reflexionen auslöst. Das Leitmotiv des Traumes als Ganzes kann im Sinne einer Allegoriedeutung verstanden werden. Grundannahme für die folgenden Überlegungen ist, dass die Collagen, wie oben dargestellt, als innere Traumbilder verstanden werden können.70 Wenn der Traum in einzelne Traumelemente zerlegt wird, ist dies analog zur Isolation einzelner Bildfragmente aus dem Gesamtbild heraus. Es ergibt sich eine Zergliederung dieser Traum-Bild-Fragmente in „(a) [einen] unentstellt[n] Teil vom Ganzen, (b) eine Anspielung, (c) [eine] symbolische Darstellung, (d) [eine] plastische Wortdarstellung […], (e) [einen] Gegensatz, (f) [eine] historisierende Darstellung der latenten Trauminhalte […] und (g) eingefügte fertige Tagesphantasien.“71 Die einzelnen Fragmente können so über eine reine Beschreibung hinaus individuell kontextualisiert werden: Den einzelnen Bildfragmenten kann man Textstellen zuordnen, die sie kontextualisieren und deutbar machen. Die Summe aller Fragmente ergibt ein homogenes Ganzes, oder anders gesagt: Das Bild als Gesamtansicht entsteht durch die Summe aller einzelnen Fragmente. So wie eine Kette von Gedanken eine Deutung des Traumes ermöglicht, so ermöglicht die nachweisbare Anbindung an die textuelle Vorlage die Deutung der Collagen. Im Unterschied zu einer vorrangig psychoanalyti-

66 Sigmund Freud: Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse, 1917, Band XI. Frankfurt a. M. 1999, S. 392. 67 Vgl. Kapitel 4.1 ‚Einführende Text- und Bildbeschreibungen‘, S. 155ff. 68 Rattner/Danzer: Literatur und Psychoanalyse, S. 29. 69 Freud, Traumdeutung, S. 289. 70 Vgl. Kapitel 4.1 ‚Einführende Text- und Bildbeschreibungen‘, S. 155ff. 71 Mertens, Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe, S. 764f.

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schen Interpretation, die die freie Assoziation mit einbezieht, ist für eine Interpretation der Collagen aber eine nachweisbare Anbindung an den Prätext unabdingbar. Denn die Collagen sind auch ohne Vorlage des Prätextes zwar beschreibbar, aber kaum zu deuten. Eine Erklärung dafür mag darin liegen, dass die Collagen ohne die Textvorlage, wie bereits dargelegt, zunächst einmal als reine Trauminhalte verstanden werden können, die als solche also bisher weder bearbeitet noch reflektiert wurden, also ohne weitere Erläuterung oder Deutung einzig den Inhalt zeigen. In einem nächsten Schritt kommt die ‚Erzählung‘ hinzu als Analogie der Traumgedanken. Denn durch das Zuordnen der einzelnen Textstellen zu bestimmten Traum-Bild-Fragmenten leistet der Leser im Prinzip Traumarbeit: Er entschlüsselt durch die Auflösung von Verschiebungen und Verdichtungen die Traumgedanken, gelangt auf diesem Wege also zu einer Deutung. Der Rezipienten, der Text und Bild nebeneinanderlegt und in Beziehung zu- und miteinander bringt, scheint die manifesten Gedanken in (mögliche) latente (Traum-)Inhalte zu verwandeln und die Traumarbeit, die Weiss auf seinem Weg vom Text hin zur Bildcollage zurücklegt, nachzuvollziehen:72 „Traumgedanken und Trauminhalt liegen vor uns wie zwei Darstellungen desselben Inhaltes in zwei verschiedenen Sprachen, oder besser gesagt, der Trauminhalt erscheint uns als eine Übertragung der Traumgedanken in eine andere Ausdrucksweise […]. Der Trauminhalt ist gleichsam einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache der 73

Traumgedanken zu übertragen sind.“

Auf dieser Grundlage können die Verrätselungen der Collagen auch als Folge von Verdichtung, Verschiebung und Symbolisierung verstanden werden. Die ‚Fremdartigkeit‘ der Bilder, die „Wirrnis“, ist eine Folge von Entstellungen, die am ursprünglichen Sinn (genau genommen an der ‚Erzählung‘ selbst als Prätext, als textuelle Vorlage) vorgenommen worden sind, entsprechend der Beziehung vom manifesten Trauminhalt als erinnerter Traum und von latenten Traumge-

72 Bei dieser These ist zu beachten, dass die Verdichtungsquote als unbestimmbar gilt; man kann also nie sicher sein, ob der Traum, hier: die Collage als Traum(-bild), vollständig beziehungsweise richtig gedeutet wurde. Dennoch sehe ich, wie im Fließtext dargelegt, sehr starke Parallelen in den Verfahrensweisen, die unbedingt in Betracht gezogen werden müssen und die eine wichtige Basis für die Einzelanalysen zu dieser Collagereihe bilden. Und dass Verschiebung und Verdichtung auch außerhalb der Psychoanalyse beliebte Mittel der Gestaltung beziehungsweise Verfremdung sind, ist hinlänglich bekannt. 73 Freud, Die Traumdeutung, S. 284.

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danken als versteckter Sinn zum einen und unbewussten Wünschen zum anderen.74 Die Traumarbeit muss rückgängig gemacht werden, um vom manifesten Trauminhalt zu den latenten Traumgedanken zu gelangen, Verdichtungen aufzulösen, Verschiebungen wieder zurechtzurücken und Symbolisierungen zu entschlüsseln. Der unbearbeitete, unreflektierte Trauminhalt wird in „eine Bilderschrift“75 übersetzt, indem einzelne Zeichen in die Sprache der Traumgedanken übertragen werden. Bei der Bildung von Assoziationsketten basieren alle Gedankenverbindungen auf den im Traum gegebenen Gedanken und deren Verbindungen. Besonders bei der Analyse und Interpretation der ‚Collage V‘ zeigt sich, dass Weiss sich eng an Freud orientiert. Die ‚Collage V‘ zeigt zum Beispiel eine ‚Sammelperson‘.76 In dieser einen Person sind mehrere Charakteristika zweier Personen zu einem ‚Traumbild‘ vereint.77 Die Aufgabe des Rezipienten von Text und Collage ist hier, die Verdichtung zu zerlegen. Weiss arbeitet zudem mit dem Element des „mittlere[n] Gemeinsame[n]“,78 das auf zwei Erlebnisse gleichzeitig verweist und deren Verbindung durch Assoziation zu suchen ist. Dies schafft Weiss, indem er seinen Rezipienten auf andere, eigene Texte verweist und diese in den Collagen zitiert. Durch die Schaffung solcher „Knotenpunkt[e]“79 treffen zahlreiche Gedankenstränge und viele Traumgedanken aufeinander. Auch überdeterminierte Elemente, also Elemente, die mehrfach in Traumgedanken vertreten sind, finden sich in Text und Bild wieder. Die Darstellung der Mutterimago mit starken sexuellen Motiven in der ‚Collage VIII‘ ist im Kontext der sexuellen und politischen Revolutionen der 1960erJahre revolutionär; der Text bleibt dabei aber an vielen Stellen trivial und schlicht. Viele der hier zitierten Textstellen sind anspruchslos: Sie sind weder ironisch gestaltet noch symbolisch bedeutsam oder mit anderen stilistischen Mitteln bearbeitet und bleiben durch ihre Obszönität sprachlich und stilistisch banal. Die literarisch fixierte naive Fantasie eines Jungen beschreibt auf drastische Art und Weise die Mutter als erstes Sexualobjekt. Das kindliche Bewusstsein des Autors kann diese ihm in der Erinnerung auch nach Jahrzehnten noch peinlichen

74 Vgl. dazu ebd., S. 284ff. 75 Ebd., S. 284. 76 Vgl. ebd., S. 299. 77 Vgl. dazu Kapitel ‚‚Collage V‘: Bild(er) des Ich-Erzählers‘, S. 171ff. Die Figur im linken Bildbereich der ‚Collage V‘ vereint offensichtlich zugleich die Darstellung der Instanz des Vaters und der eines Psychoanalytikers. 78 Vgl. Freud, Die Traumdeutung, S. 289. 79 Ebd., S. 239.

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Vorfälle nicht anders beschreiben als obszön. Eine literarische Bearbeitung ist Weiss nicht möglich, die Textstellen sind flach und primitiv. Die Mutterfigur in der Collage hingegen wird in eine kulturelle Atmosphäre eingebettet und von Kultur (Architektur, Theater, Bücher) geradezu umstellt. Die Gegenüberstellung mit der ‚Collage II‘ verdeutlicht, was Weiss sich eigentlich von seinem Vater erhofft hat: Nähe, Verständnis und Unterstützung. Im bildlich dargestellten Kontor des Vaters wirkt dieser im Vergleich zur übergroßen Mutter als kleiner und „weicher […] Mensch“ (MPW 22). Das ambivalente Mutter-Sohn-Verhältnis, das heißt die Unterscheidung zwischen der positiv konnotierten Mutter als solcher und der negativ konnotierten Mutter als Institution, kann Weiss in der Collage deutlicher und gekonnter herausarbeiten. Im Text kann er die Institution der Mutter nicht anders darstellen als banal und fast schon pornographisch; in der Collage kann Weiss im Nachhinein das leisten, was ihm im Text nicht möglich ist: das Bannen der Mutterfigur und die retrospektive sowie wiederholte Auseinandersetzung mit der Beziehung zu seiner Mutter durch die Illustration des Ambivalenzkonflikts,80 der sich bildlich in einer Mischung aus Anmut und Dominanz manifestiert. Die Collagen werden somit an einer Stelle erforderlich, an der Weiss an seine medialen Grenzen stößt, was den Medienwechsel notwendig macht. Die besondere Ästhetik der Collagen entsteht überdies durch die Ambivalenz zwischen enger Textgebundenheit und einem autonomeren Konstruktionsprinzip. 4.2.2 Räume und Theater, Städte und Landschaften ‚Collage IV‘ und ‚Collage A‘: ‚Lebensgeschichtlicher Innenraum‘ Weiss’ Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ zeigen, wie bereits beschrieben und wie es auch in der Analyse der ‚Collage II‘ mit dem „Kontor“ unter einer „Glaskuppel“ mitschwingt, einen Raum, einen Ort oder eine Landschaft. Die Signifikanz von (Dach-)Zimmern wurde bereits mehrfach erwähnt. Einteilen kann man die Räume in Innen- und Außenräume; allen gemein ist ein konkreter, nachweisbarer lebensgeschichtlicher oder autobiographischer Bezug. Zunächst wird der Raum auf der ‚Collage IV‘ analysiert. Die Ergebnisse der Bildanalyse und der Analyse des Text-Collage-Verhältnisses werden zeigen, dass dieser eine Raum das Wohnzimmer des Weiss’schen Elternhauses meint, repräsentativ für all diejenigen Häuser, die die Familie in ‚Abschied von den Eltern‘ und die die Familie Weiss auf den Stationen ihrer Flucht bewohnt.

80 Vgl. dazu Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie und verwandte Schriften, 4. Auflage. Frankfurt a. M. 1974, S. 25 und S. 143.

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Die ‚Collage IV‘ zeigt einen dunklen und düster wirkenden Raum, in dem insgesamt vier Figuren – drei Erwachsene und ein Kind – zu sehen sind, sowie ein Arm, der sich von rechts unten in das Bild ‚schiebt‘. Dem Betrachter der ‚Collage IV‘ wird die Innenansicht eines Raumes präsentiert, der gänzlich zugestellt ist mit Möbeln und mannigfachen Einrichtungsgegenständen. Zwei Schergen malträtieren auf der linken Bildseite einen Dritten, während der geisterhaft wirkende Arm von rechts unten in das Bild hineinragt und das Kind das Geschehen von einem Balkon aus in einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen beobachtet. Abbildung 15: ‚Collage IV‘, 1962

Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.Nr.: HZ 3385.7 „Am nächsten Tag traf ich im Elternhaus ein […]. In den folgenden Tagen vollzog sich die Auflösung der Familie.“ (A 59)

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Zentral im Raum steht auf einem kleinen, niedrigen Tisch mit einer rechteckigen Tischplatte, ähnlich einem Beistelltisch mit einer zweiten Ablagefläche unterhalb der oberen Tischplatte, eine Lampe, deren Lampenschirm fehlt und die den Blick somit freigibt auf eine große, helle Glühbirne. Der Lampenfuß ist reich verziert und erinnert stark an eine Vase oder Karaffe. Dieser Eindruck wird sowohl durch den vorhandenen Henkel als auch durch den Ausguss intensiviert. Vom unteren Ablageboden des Beistelltisches hängt schlaff ein Tigerfell herab; der Kopf des Tigers liegt auf dem Fußboden. Rechts daneben scheint noch ein Stück Stoff vom Beistelltisch herabzuhängen. Ganz vorne am unteren Bildrand liegt ein bekleideter Mann mit auf dem Oberkörper verschränkten Händen, leicht im Unterkörper verdreht; trotz augenscheinlich fehlender Verletzung ist der Mann der Lage nach und aufgrund der weißen Augen bewusstlos oder tot. Im unteren Bildbereich sind einige Schnittstellen gut zu erkennen. Im oberen Bereich dieser Collage sind die Schnittstellen deutlich besser verborgen – wahrscheinlich, weil Weiss einen schon gegebenen Raum als Hintergrund für seine Arrangements gewählt und diesen nur vereinzelt um weitere Fragmente ergänzt hat. Der untere Bereich, besonders der Boden des Zimmers, scheint zu wesentlichen Teilen ganz neu arrangiert und gestaltet. Rechts vom Tischchen steht eine Sofa an der Mitte der Zimmerwand zwischen einer großen Pflanze in der hinteren Ecke des Raumes und dem Balkon, auf dem das Kind steht; die Bank ist gepolstert und mit Schnitzereien reich geschmückt. Auf der Bank sind rundherum Kissen drapiert und die Rückwand ist im oberen Bereich mit besticktem Stoff verziert. Die Armstützen, deren Enden Gesichter darstellen, sehen gepolstert aus. Rechts des Sofas steht eine hölzerne, kunstvoll geschnitzte Säule. Obenauf steht eine Vase mit sechs unterschiedlich großen Pfauenfedern. Links davon, über dem Sofa, hängt ein opulenter Spiegel schräg in den Raum hinein. Der Rahmen ist, wie das übrige Interieur, prunkvoll und aufwändig gestaltet. In die Verschnörkelungen des Rahmens sind oben drei Figuren eingepasst, die an den antiken Gott Zeus und zwei ihm zugewandte Diener erinnern. Im unteren Teil des Rahmens ist ein Portrait eingearbeitet. Im Spiegel selbst sieht man das auf der linken Seite angebrachte Fenster, das oben mit schweren Vorhängen, die mindestens zweireihig aufgehangen wurden, zu großen Teilen verhangen ist. Lediglich ein kleiner Bereich des Fensters ist nicht von den Gardinen bedeckt. Man kann jedoch nicht nach draußen schauen, denn die Sicht ist versperrt durch eine aufwändige, kleinteilige Bleiverglasung. Das Fenster ist mit einer Vertäfelung gerahmt, die auf beiden Seiten mit einem Kapitell in Form einer ionischen Säule abschließt. Die Vertäfelung erinnert mit den kannelierten Schäften und durch das flache Hervortreten aus der Wand heraus an Pilaster. Die gesamte Zimmerdecke ist ebenfalls prachtvoll verziert, vertäfelt und

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in Stuck gearbeitet. Rechts des Fensters, in der hinteren, im Dunkeln liegenden Ecke des Raumes, ist eine weitere Vase zu erkennen, in der vier Pfauenfedern stecken. Links daneben steht in der dunkeln Zimmerecke eine üppige Pflanze, die hoch bis zur Zimmerdecke ragt. Die Blätter der Pflanze reichen mit ihren großen, länglichen Blättern in den Raum hinein. Unterhalb dieser Pflanze, die eine Palme81 zu sein scheint, fast verborgen durch die dunkle Farbgebung an dieser Stelle des Bildes und nahezu verdeckt von der davor platzierten Lampe mit der hellen, auffällig arrangierten Glühbirne, steht ein Pfau mit aufgeschlagenem Rad. Worauf er steht, ist durch einen Schatten nicht genau erkennbar. Auf einem Sims unterhalb des Spiegels liegt ein Buch, dessen Buchrücken zu sehen ist. Links außen auf dem Sims steht eine Büste mit dem Gesicht eines Mannes mit Schnurrbart, Brille und Zylinder; auf die Mitte des Simses wurde ein hoher, schmaler Gegenstand platziert, der einem Kerzenhalter ähnelt. Das Übervolle dieses Raumes scheint die Sicht in diesen hinein fast zu verhindern; als Betrachter fühlt man sich durch die vielen Gegenstände mit den unzähligen, pompösen Verzierungen und Details im ungehinderten Blick gestört und ist irritiert: Die Augen springen von einem Detail zum nächsten. Einzig die Farbgebung lenkt – dank deutlich hellerer Akzente – letztlich den Blick auf die Hauptmotive des Bildes: die Personen, vor denen der so markant ausstaffierte Raum überraschenderweise zurücktritt. Eine dieser Figuren in der ‚Collage IV‘ ist ein Kind, das im oberen Drittel des rechten Bildrandes auf einem Balkon steht. Links vom Balkon hängt eine Gardine herab. In der speziellen Komposition wird durch Anordnung und Gestaltung von Innenraum, Balkon und Figuren der Eindruck erweckt, es werde ein Theaterstück aufgeführt. Die Brüstung des Balkons besteht aus vier vertikalen Streben und einem horizontalen Geländer und wurde ohne jede Verzierung oder Schnörkel angefertigt, wodurch sich ein starker Kontrast zum übrigen, üppig ausstaffierten Raum ergibt. Durch diese Diskrepanz wirkt der Balkon streng geometrisch und hebt sich von den anderen Bildelementen ab. Verstärkt wird dieser Effekt durch die bräunlich bis rote Färbung des Balkonelementes, die dem Schwarz-weiß des Raumes gegenübersteht. Allerdings spiegelt sich die Farbgebung des Balkons in der Dreiergruppe gegenüber, die – bis auf bereits beschriebene kleinere Abweichungen – eine ganz ähnliche Ockerfärbung aufweist. Verstärkt wird diese Bezugnahme durch Farbgebung der sich gegenüberliegenden Bildbereiche dadurch, dass das Kind auf die

81 „In der christlichen Kunst erscheint sie [die Palme; H. K.] […] als Zeichen für den ewigen Sieg Christi und seiner hll. Zeugen, die auch nach der Apokalypse des Johannes Palmenzweige in den Händen halten.“ (Jutta Seibert: Herders Lexikon der christlichen Kunst. Themen, Gestalten, Symbole. Freiburg 2002, S. 243)

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Männergruppe zu blicken scheint. Das Kind scheint wie erstarrt nach einer schnellen Bewegung, als ob es an den Rand der Balkonbrüstung gerannt sei, um zu sehen, was in dem Raum vor sich geht. Die Lippen sind halb geöffnet, und wieder wirkt es, als ob es in der Bewegung oder im Ausruf erstarrt sei. Das Gesicht ist zur Bildmitte und damit in den Raum hinein gewendet. Ob es ein Junge oder ein Mädchen ist, lässt sich kaum beurteilen. Es trägt ein Nachtgewand, ähnlich einem Nachthemd, und etwa schulterlange Haare, was zunächst für die Figur eines Mädchens spricht. Aber das Gesicht ist nicht eindeutig weiblich. Das Kind hält sich mit beiden Händen an der Balkonbrüstung fest, und sein Gesicht zeigt Erstaunen, Betroffenheit und Entsetzen zugleich. Der Blick des Betrachters folgt dem Blick des Kindes und sieht eine Gruppe von drei Männern auf der linken Bildseite: Vor dem Fenster steht eine Streckbank. Darauf sieht man einen der Männer, halb sitzend, halb liegend, der mit schmerzverzerrtem Gesicht und weit aufgerissenen Augen, aber leerem Blick in Richtung des Betrachters sieht. Mit einem Arm stützt er sich auf der Streckbank ab. Das Gesicht des Mannes ist schwarz-weiß mit einem sehr hellen Bereich in der rechten Gesichtshälfte, wodurch der Kopf in einem starken Kontrast zu seinem Körper steht, der den gleichen erdigen Ockerton aufweist wie die Streckbank und auch die beiden anderen Männer, die neben dem Gefolterten stehen oder sich über ihn beugen. Diejenige der beiden Personen, die sich über den Mann auf dem Tisch beugt, hält diesen mit beiden Armen fest umschlungen und schaut den Betrachter der Collage direkt an. Sein Gesicht spiegelt eine, angesichts der dargestellten Foltersituation, beunruhigend ruhige Abgeklärtheit und eine unbeirrte Entschlossenheit. Auf dem Kopf trägt der Mann eine Schirmmütze. Ob der Oberkörper bekleidet ist oder der Mann nackt dort steht, lässt sich nicht erkennen. Auch seine Beine sind nur vage hinter der Streckbank zu erkennen. Der dritte Mann, der ganz rechts in dieser Dreierkonstellation steht, hält die Füße des Gefolterten hoch und blickt hinterlistig lächelnd zu seinem Opfer auf dem Tisch. Er trägt einen engen kurzen Chiton, der über beiden Schultern befestigt ist, und Sandalen. Auch dieser Mann hat ein schwarz-weißes Gesicht, was die Vermutung nahelegt, dass die Streckbank nebst den drei Figuren als Ganzes von Weiss ausgesucht und verwendet wurde. Allerdings scheint es, als wären die Gesichter des Gefolterten und der Figur rechts außen von Weiss durch in die Situation passende Köpfe mit entsprechender Mimik ersetzt worden. Von der letzten Figur sieht der Betrachter bloß einen milchig weißen Arm, der geisterhaft von rechts unten in den Raum hineinragt. Der Arm und die Finger sind lang ausgestreckt, als ob die Figur nach etwas greift. Durch die geschickte Positionierung des Armes entsteht beim Betrachter der Eindruck, es könne auch sein eigener Arm sein, der hier mitten in das Geschehen weist. Wer diese Figur

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aber tatsächlich sein und was sie bedeuten soll, bleibt zunächst noch unklar. Hinter dem Arm sind Stoffe zu erkennen, die ebenfalls an eine textile Wandverkleidung erinnern, wodurch der Eindruck für den Betrachter verstärkt wird, einer Aufführung auf einer Theaterbühne beizuwohnen – zeigt der Arm doch mitten in den Raum hinein, weist wie einladend mitten ins Geschehen, ebenso wie der Blick des Kindes uns dorthin leitet. Dieser in der ‚Collage IV‘ gestaltete Innenraum als solcher meint das Elternhaus des Ich-Erzählers, denn „im Leben dieses Mannes [des Vaters; H. K.] hatte es immer große Wohnungen, große Häuser gegeben, mit vielen Zimmern voller Möbel, es hat im Leben dieses Mannes immer die Frau gegeben, die ihn erwartete im gemeinsamen Heim, und es hat die Kinder im Leben dieses Mannes gegeben […]. Es hat im Leben dieses Mannes ein unablässiges Mühen um die Erhaltung von Heim und Familie gegeben, unter Sorgen und Krankheiten hat er, gemeinsam mit seiner Frau, sich am Besitz des Heims festgeklammert, ohne je ein Glück unter diesem Besitz zu erfahren. Dieser Mann, der jetzt verloren vor mir lag, hatte nie davon abgelassen, an das Ideal des bestehenden Heims zu glauben […].“ (A 60)

Der Ich-Erzähler wählt mit den Worten „dieser Mann“ und „die Frau“ oder „seine Frau“ eine stark distanzierende Formulierung, die verdeutlicht, dass zwar eine wahrnehmbare Verbindung zwischen Vater und Mutter besteht, wohl aber nicht zwischen diesen beiden und ihren Kindern. Auch das „gemeinsame Heim“ bleibt damit vorrangig das Heim des Mannes und der Frau, nicht das der Kinder. Das „unablässige“, fast schon besessene Bemühen um das „Ideal des bestehenden Heims“ soll wenigstens den äußeren Schein wahren: „Dies war der Anfang von der Auflösung der Familie. […] Das neue Leben in der Fremde begann. Viele Jahre noch wurde die äußere Struktur der Familie im mühsam bewahrten Heim zusammengehalten.“ (A 102) Ulrike Weymann stellt fest, dass die Eltern von Peter Weiss „[d]en durch das Exil erzwungenen Ortsveränderungen […] und der damit verbundenen Gefahr der Entwurzelung […] entgegen[wirken], indem sie sich zumindest die räumliche Anordnung des Mobiliars der ehemaligen Wohnung an den verschiedenen Zufluchtsorten bewahren, um damit ihre bürgerlichfamiliäre Identität zu sichern.“82

82 Weymann, Zur Semantik räumlicher Strukturen in Literatur und Film, PWG 51.

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„Dies“ als „Anfang vom Ende“ meint den Unfalltod von Margit Weiss.83 Die Eltern lassen die Kinder mit diesem Ereignis alleine und konzentrieren sich auf sich selbst: „In der Tiefe des Flurs sah ich meine Mutter stehen. […] Von draußen war das Bremsen eines Automobils zu hören, gleich darauf die eiligen Schritte meines Vaters […], er lief an uns [Kindern; H. K.] vorüber […].“84 (A 99) Kurz nach dem Tod beginnt die Emigration der Familie und „[d]as Heim wurde von meinen Eltern aufrecht erhalten, doch auch ihr Sterben hatte begonnen, auch ihr Sterben hatte mit dem Tod meiner Schwester begonnen. Mit dem Tod meiner Schwester begannen meine Versuche, mich aus der Vergangenheit zu befreien.“ (A 103) Während sich das Ich „befreien“ möchte, erscheint das zwanghafte Aufrechterhalten des Heims durch die Eltern in Anbetracht der vielen notwendigen Umzüge der Familie wie ein hilfloser Versuch, zumindest am Heim und am Häuslichen, am Bekannten und am eigenen Zuhause in der Fremde festzuhalten. Dieses Heim wird um jeden Preis an jedem Ort im Exil wieder aufgebaut, bis nach dem Tod beider Eltern „[noch] irgendwo […] sein letztes großes Haus [stand], über und über mit Teppichen, Möbeln, Topfgewächsen und Bildern gefüllt, ein Heim das nicht mehr atmete, ein Heim das er durch die Jahre der Emigration hindurch, durch ständige Übersiedlungen, Anpassungsschwierigkeiten und den Krieg hindurch, gerettet hatte.“ (A 60-61)

Das Wohnhaus dient den Eltern als Nachweis ihrer bürgerlichen Zugehörigkeit, ohne dass sie jedoch „ein Glück unter diesem Besitz […] erfahren“. Der IchErzähler beschreibt das ‚Unglück‘ genauer: „Die Trauer galt der Erkenntnis eines gänzlich mißglückten Versuchs von Zusammenleben, in dem die Mitglieder einer Familie ein paar Jahrzehnte beieinander ausgeharrt hatten. Die Trauer galt dem Zuspät […].“ (A 59) Die Kinder treten vor deren Festklammern am Heim in den Hintergrund, wie es auch Weiss selbst erlebt hat: „Wir Kinder waren eigentlich uns selbst überlassen, denn wir waren so viele. […] Ich als Ältester stand abseits, von Anfang an.“ (MPW 15)85

83 Vgl. ebenso die Kapitel 2.1.1 ‚Peter Weiss als Künstler verschiedener Medien‘, S. 29ff., 2.2.1 ‚Das bildkünstlerische Werk‘, S. 52ff., und ‚‚Collage III‘: Schiffbruch im Dachboden‘, S. 242ff. 84 Vgl. dazu auch die Analyse der ‚Collage III‘ in Kapitel ‚‚Collage III‘: Schiffbruch im Dachboden‘, S. 242. 85 Insgesamt waren es sechs Kinder: Peter Weiss hatte zwei Stiefbrüder aus erster Ehe der Mutter und drei leibliche Geschwister.

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Auch der erwachsene Ich-Erzähler betrauert immer noch den „mißglückten Versuch von Zusammenleben“, wobei das „Zuspät“ im Vordergrund steht: Nach dem Tod der Eltern und der endgültigen Auflösung der Familie ist ein neuer „Versuch“ nicht mehr möglich. An einer einzigen Stelle empfindet der IchErzähler Verständnis für das Verhalten seiner Eltern: „Da sah ich meine Eltern voller Mitgefühl und Mitleid. Sie hatten uns alles gegeben, was sie uns geben konnten, sie hatten uns Kleider und Nahrung und ein gepflegtes Heim gegeben, sie hatten uns ihre Sicherheit und ihre Ordnung gegeben, und sie verstanden nicht, daß wir ihnen nicht dafür dankten.“ (A 103)

Trotz des nachträglichen Bewusstwerdens dieses kurzen Moments des Verständnisses ist dieses letztlich doch nur bis zu einem gewissen Grad möglich, denn der Zusammenhalt der Familie soll über den Erhalt des Besitzes gelingen, wobei die Kinder übergangen werden. Es mangelt den Kindern an Zuneigung, Nähe, Verständnis und Anerkennung. Der Ich-Erzähler nimmt es sogar so wahr, als sei auch er bloßes Interieur: „Auch ich war als Teil des repräsentativen Ganzen gedacht. […] Das Stück, daß ich in diesem Heim war, war geputzt und hergerichtet worden, der Schmutz […] war immer wieder abgewischt worden.“ (A 122) Wie ein Möbelstück wird das Kind „geputzt“ und „abgewischt“, wenn es sich schmutzig gemacht hat, es wird „hergerichtet“. Hier sind Ich-Erzähler und Autor gleichzusetzen: Nach einem kurzen Ausbruch aus dem Heim der Familie während der Zeit in England86 freundet sich der Ich-Erzähler mit der Figur des Jaques’ und Peter Weiss mit dem realen Jaques Ayschmann 87 an. Dadurch fassen Ich-Erzähler und Weiss den Mut, gegen die Eltern zu rebellieren, kehren aber reumütig nach Hause zurück, als Jaques (Ayschmann) plötzlich aus London verschwindet: „Nach Jacques Verschwinden wurde ich wieder zu einem Möbel im gemeinsamen Haushalt, ich stand an meinem vorgeschriebenen Platz […].“ (A 122) Neben dieser für den Ich-Erzähler, also auch für Peter Weiss, alltäglichen Situation im Elternhaus zeigt die ‚Collage IV‘ auch einzelne, im Text genauer be-

86 Vgl. MPW 22: „In England ging ich meine eigenen Wege und unternahm immer wieder Befreiungsversuche. […] Ich versuchte immer wieder auszubrechen. […] Ich hatte mich von der Familie abgespalten, lebte längst in einer völlig anderen Welt. Ich hatte überhaupt keine Beziehung mehr zu dieser bürgerlichen Welt, die von meinen Eltern vertreten wurde. Ich gehörte dem Bürgertum überhaupt nicht mehr an.“ 87 Vgl. MPW 22f. sowie Kapitel 2.1.1 ‚Peter Weiss als Künstler verschiedener Medien‘, S. 29ff.

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schriebene Erinnerungen an ganz bestimmte Gegenstände und Situationen: „[U]nd plötzlich war mit jedem Ding eine Fülle von Erinnerungen verbunden.“ (A 62) In der Erinnerung an „[d]as erste Haus“ (A 63) „ahnt“ der Erzähler „Briefmarken, […] mit dem Gesicht eines Königs mit gezwirbeltem Schnurrbart […].“ (A 63) Dieses Gesicht mit „gezwirbeltem Schnurrbart“ findet sich mit der Büste, auf die ein Männergesicht geklebt wurde, auf dem Kaminsims rechts in der Collage wieder. Nur trägt der „König“ auf dem Bild statt einer Krone einen Zylinder. Kurz danach erinnert der Ich-Erzähler „die Kante eines Kachelofens und die Lehne eines Sofas“ (A 63) sowie einen „Spiegel“ (A 62) und „mürb[e] Samtgardinen“, hinter denen „ich mich […] im Dunkeln verkroc[h]“ (A 62). Wie im Text zeigt die Collage einen „Spiegel“ und einen Kaminsims – wenn auch nicht exakt die „Kante eines Kachelofens“, zumal der Blick durch das Sofa verstellt ist auf das, was genau unter dem Sims ist: Kachelofen oder Wand. Wie im Text gibt es im Bild schwere „Gardinen“. Ob die Eigenschaft „mürbe“ auch auf die Gardinen der Collage zutrifft, lässt sich jedoch nicht feststellen. Und wie sich das Ich im Text erinnert, so steht das Kind auf dem Balkon, das gleichgesetzt werden kann sowohl mit dem Ich-Erzähler als auch mit Peter Weiss selbst, erstarrt in einer Mischung aus Staunen, Entsetzen und Trauer. Denn was es sieht, ist die „Auflösung der Familie“, die schon sehr früh begann und sich dann die meiste Zeit über weiter und weiter vollzog, der „Neid“ und die „Habgier“ zwischen den Geschwistern, wo eigentlich (Zusammen-)Halt, Nähe und Verständnis herrschen sollten. Zwischen der Männergruppe und dem Kind auf dem Balkon steht der Tisch mit dem herabhängenden Tigerfell. Symbolisch steht der Tiger als „Sinnbild von Wildheit und Kraft“,88 aber „auch [als] ein Beispiel von großer Mutterliebe“.89 Die Dominanz der Mutter sowie der Zusammenhang zwischen ihr und dem Motiv der Standuhr wurden bereits ausführlich dargelegt. Auch in dieser Collage wird das erneut thematisiert, denn im ganzen Haus und damit auch im dargestellten Raum herrschte die Mutter und gab den Takt vor: „Nach diesem Versuch [als Volontär in einem Warenhaus zu arbeiten, der rasch scheiterte; H. K.] trat ich in Streik. Doch trotz meines Streiks war ich den Gesetzen des Hauses unterworfen. Nachdem die Standuhr unten im Flur Sieben geschlagen hatte, begann der Tag.“ (A 116) Und dies soll nach der mehrmaligen Rückkehr ins Elternhaus nicht das letzte Mal bleiben. Der Erfolg als Maler blieb aus, sodass Weiss,

88 Hildegard Kretschmer: Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst. Stuttgart 2014, S. 427-428, hier S. 427. 89 Ebd.

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„[u]nfähig, aus eigener Kraft zu leben, […] in das Heim der Eltern zurückkehren [musste]. Mein Vater hatte seine Fabrik, mit Maschinen und Kapital, in das neue Land überführt, und unter den Händen der Mutter war im Innern des neuen Hauses die vertraute Wohnstätte hervorgewachsen. […] Meine Bilder, die ich meiner Mutter anvertraut hatte, waren nicht mehr vorhanden. […] Sie hatte das Heim gerettet, die Bilder, Ausdruck einer Krankheit, mußten geopfert werden.“ (A 136)

Peter Weiss hat keine andere Möglichkeit, als zu seinen Eltern zurückzukehren. Die Ausstattung dieses Heims ist Weiss ebenso vertraut wie das vorherige, ist doch „unter den Händen der Mutter […] die vertraute Wohnstätte hervorgewachsen“. Weiss fügt sich also wieder einmal unter den Regeln der Eltern in das Haus ein. Allerdings erlebt Weiss die Rückkehr Ende des Jahres 1938 als besonders einschneidend, denn die Mutter hat alle Bilder, die Weiss ihr „anvertraut“ hatte, zerstört. Weiss berichtet dazu in einem Interview: „[E]inige wichtige Werke wurden von meiner Mutter zerstört. […] Aus Angst. Denn sie hatte den Hausstand und die Möbel einzupacken, die nach Schweden transportiert werden sollten, und zwar unter Bewachung der SS, die sich jedes Stück ansahen. In der Furcht, die Bilder, die sie von mir im Haus hatte, könnten den Unwillen der SS-Behörden erregen, hat sie diese Bilder zerschlagen und verbrannt. […] Ich habe selbst sehr stark dieser Auslegung nachgehangen, daß meine Mutter etwas zerstört, was sie seit langem schon zerstören wollte, weil es überhaupt nicht in ihr Leben paßte, weil es ihr Leben gefährdete […]. Sie waren ihr unheimlich gewesen, haben sie gestört. Aber gleichzeitig – das habe ich erst sehr viel später nachvollziehen können – hat meine Mutter unter einem fürchterlichen Druck gestanden.“ (MPW 31)

Zwischen dieser Aussage aus dem Jahr 1979 und der Arbeit an ‚Abschied von den Eltern‘ sowie der Herstellung der zugehörigen Collagen gegen Ende der 1950er-Jahre hat sich die Sicht auf die Zerstörung der Bilder gewandelt und wurde um einen Aspekt ergänzt. Die Ansicht, dass die Mutter endlich das „zerstören“ konnte, „was sie seit langem schon zerstören wollte“, in der Hoffnung, ihren Sohn davon abbringen zu können, Maler sein zu wollen, ist geblieben. Hinzugekommen ist das Verständnis für die Umstände der Flucht vor dem Naziregime, für die Situation der großen Bedrohung für Leib und Leben und damit auch für das Festklammern am gesamten Hausstand. In ‚Abschied‘ aber ist diese Sicht auf die Dinge noch nicht gegeben, sodass die ‚zerstörerische, vernichtende Mutterimago‘ im Vordergrund steht: „Mit dieser Vernichtung hatte sie sich von der Drohung befreit, die diese Bilder auf die Geordnetheit und Behütetheit ihres Heims ausgeübt hatten.“ (A 136)

Text und Collage bei ‚Abschied von den Eltern‘ | 211

Die Mutterfigur ist symbolisch dargestellt durch den Tiger, das „Symbol der […] Fürsorge […].“90 Allerdings ist wenig Fürsorge in der Mutterfigur erkennbar, sowohl im Text als auch in den Collagen, die die Mutter thematisieren. Diese Mutterfigur ist alles andere als gefüllt mit „Fürsorge“, und entsprechend hängt der Tiger als leere Hülle vom Tisch herab. Im Zimmer stehen zwei Vasen mit Pfauenfedern sowie ein Pfau mit aufgeschlagenem Rad. Weiss erinnert sich an seinen „ersten Schultag“: „In einem Garten tänzelte ein Pfau und öffnete seinen schillernden Federfächer, und es war der erste Schultag. […] Doch vorm Schultor floh ich zurück, ich lief zurück […] am Pfau […] vorüber […].“ (A 72) Diesen Pfau bringt Weiss nun aus „einem Garten“ heraus in den Innenraum der Collage hinein, denn die Bedeutung geht deutlich weiter als nur die Darstellung an ein einschneidendes Erlebnis in seiner Kindheit. Sowohl Pfauenfedern als auch der Pfau selbst sind hier nicht nur analoge Motive, sondern auch ambivalent deutbar. Sie sind zum einen ein „negatives Symbol von Lastern, insbesondere der Eitelkeit und des Hochmuts“91 und werden „allgemein häufig weiblichen Personen beigefügt.“92 So bezieht sich der Pfau auf die Mutterfigur und damit auch auf die von ihr maßgeblich bestimmten Verhältnisse im bürgerlichen Haus der Weiss’schen Familie. Zum anderen gilt der Pfau „[w]egen seiner radförmigen Schwanzfedern […] als Sonnensymbol“93 und als „Sinnbild der Unsterblichkeit und des ewigen Lebens.“ 94 Dadurch holt Weiss auch seine früh verstorbene Schwester Margit mit in die Collage, denn in Vorbereitung ihrer Beerdigung „[fragte] der Pfarrer […] nach etwas Bezeichnendem, nach einer Formel, die Margits Wesen zusammenfassen könne, und ich vernahm das Wort Sonnenschein. Sie war unser aller Sonnenschein […].“ (A 102) Pfau und Pfauenfedern meinen also zwei Dinge, die das Leben von Peter Weiss durchweg bestimmen: die Allmacht und Dominanz der Mutter, und die ständige Präsenz der verstorbenen Schwester. Eine weitere Erklärung findet sich in der Figur am Spiegel, die an Zeus erinnert. Bezeichnenderweise ist sie genau zwischen den Vasen mit den Pfauenfedern platziert. Diese sind ihrerseits Attribute für die Göttin Hera, Wächterin über

90 Victor Andrés Feretti: Tiger. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hg. von Günter Butzer/Joachim Jacob. Stuttgart 22012, S. 446. 91 Seibert, Lexikon der christlichen Kunst, S. 252. 92 Kretschmer, Lexikon der Symbole, S. 319. 93 Ebd., S. 318. 94 Seibert, Lexikon der christlichen Kunst, S. 252.

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die eheliche Sexualität, Schutzgöttin der Ehe und Symbol der Fruchtbarkeit, womit auch auf diese Weise der Bezug zur Mutter hergestellt wird. 95 Das Haus in der Marcusallee in Bremen, in dem die Familie lebte, als Peter Weiss den „ersten Schultag“ hatte, sucht er noch einmal auf: „Vor einigen Jahren konfrontierte ich mich mit dem Haus [in der Marcusallee; H. K.], das wir, zur Zeit meines Eintritts in die Schule, bezogen hatten. […] Die Stämme der Bäume […] waren stark und hoch geworden, die Äste langten weitauseinander und schlossen ihr Blattwerk zu einem dichten Dach zusammen.“ (A 70)

Während eines späteren Besuchs in Bremen hält Weiss eine weitere Erinnerung an die Marcusallee in seinen Notizbüchern fest: „Das erste Mal im Wald des bösen Märchen, im sumpfigen Dickicht draußen im Bremer Vorort Horn, am Ende der Marcus-Allee […].“ (NB2 820) Dieser Eintrag stammt nicht aus der Zeit der Arbeit an ‚Abschied von den Eltern‘ und den Collagen, sondern vom 10. September 1970, zeigt dadurch aber die lebenslange sowie unauflösbare motivische Verbindung des Elternhauses mit Motiven wie „Wald“, „Dickicht“ und „Blattwerk“, das ein „dichtes Dach“ bildet. Im Bild sieht man gleich neben der linken Vase mit den Pfauenfedern und über dem Pfau ein palmenartiges deckenhohes Gewächs, dessen ‚dichtes Blätterwerk‘ ein „Dach“ über dem Tier bildet. Der Pfau als exotisches Tier und eine Pflanze wie aus dem Dschungel lassen Weiss „[d]as Leben im Villenvorort […] erinner[n] als ein Leben im Dschungel, […] bedroht durch Tropenkrankheiten, die Bewußtsein und damit Identität rauben wollen.“96 Denn unmittelbar an die gerade zitierte Erinnerung an die „MarcusAllee“ notiert Weiss im Notizbuch: „Damals beklopften und behorchten mich bärtige Professoren, und ihrer eigentümlich schwebenden Diagnose war zu entnehmen, daß ich nicht nur von Malaria, sondern auch von einer Gehirnerkrankung angegriffen sei […].“ (NB2 820) Weiss stellt einen Querverweis her zur ‚Collage V‘, in der er das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertsein ausführlich darstellt.97 Und da dieser Raum stellvertretend für alle Häuser steht, die Peter Weiss in Kindheit und Jugend mit seiner Familie bewohnt hat, ist nicht nur im Haus in der Marcusallee das präsent, was mit diesen Symbolen gemeint ist,

95 Vgl. Kapitel ‚‚Collage VIII‘ und ‚Collage II‘: Die Eltern‘, S. 178ff. 96 Vgl. Karl Heinz Götze: Der Ort der frühen Bilder. Peter Weiss und Bremen. Eine Spurensuche. In: Ders. in Zusammenarbeit mit Petra Göllner: Hinter jedem Wort die Gefahr des Verstummens. Sprachproblematik und literarische Tradition in der ‚Ästhetik des Widerstands‘ von Peter Weiss. Stuttgart 1988, S. 173-196, hier S. 179. 97 Vgl. ‚‚Collage V‘: Bild(er) des Ich-Erzählers‘, S. 171ff.

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also der Tod der Schwester Margit und die dominante Mutter. Das in den Raum hineinragende Dach der „Dschungel“-Pflanze überschattet das Leben von Peter Weiss. Beide Aspekte im Symbol des Pfaus, also die Eltern, die einerseits den Erhalt ihres luxuriösen, bürgerlichen Heims vor die Bedürfnisse ihrer Kinder stellen, und andererseits der Tod von Margit mit seinen für die Familie als Ganzes und für Peter Weiss noch einmal ganz eindrücklichen Folgen und Auswirkungen fordern eine lebenslange Auseinandersetzung heraus. Wenn nun aber alle Wohnorte der Familie Weiss gemeint sind, so fällt auf, dass trotz der Überfülle des Raumes etwas sehr Wichtiges fehlt: die Bücher, die in der ‚Erzählung‘ das Haus der Familie füllen.98 In der ‚Collage IV‘ ist nur ein einziges Buch auf dem Kaminsims zu sehen. Es gibt ebenso wenig ein Regal, in das man überhaupt welche stellen könnte. Das ist auffällig, da Peter Weiss immer wieder darauf hindeutet, dass es im Haus seiner Eltern jederzeit eine Menge Bücher gab: „Es gab immer Bücher bei uns zu Hause, große Bücherregale, auf denen die Modernen, von Wedekind bis Thomas Mann alles an damals zeitgenössischer Literatur, greifbar stand […].“ (MPW 12) Allerdings waren viele der Bücher für ihn tabu: „Wir durften nicht alle Bücher lesen. […] – diese Bücher, die nun absolut verboten waren, […] haben mich natürlich umso mehr interessiert.“ (MPW 14) Indem Weiss die vielen Bücher in seiner bildlichen Darstellung gänzlich weglässt, betont er das Tabu, das die Eltern ausgesprochen hatten. Das Zimmer steht also für alle Zimmer und Wohnhäuser der Familie Weiss und zeigt vereinzelte erinnerte Momente und Gegenstände des Ich-Erzählers aus Kindheit und Jugend. Mitgedacht, dass Weiss in dieser Collage etwas aufführt oder vorführt in einem Zimmer, das er wie eine Guckkastenbühne oder einen Schaukasten arrangiert hat, wird dadurch die Form der Anbindung der Collage an den Prätext bis hierher also eher eine allgemeine Zustandsbeschreibung mit der Funktion eines rahmenbildenden Bühnenbildes beschrieben; die Kulisse wird ausgestattet mit erinnerten Gegenständen und dient als allgemeiner Bezugsrahmen der Collage: das Heim der Kindheit und Jugend als Bühne für die eigentliche Handlung, das eigentlich Gezeigte oder Aufgeführte: Die „Auflösung der Familie […].“ (A 59) Die auf der Collage festgehaltene Szene nämlich und die Figuren sowie der in die Collage hineingreifende Arm können eindeutig bestimmten Figuren des Textes und einem im Text genau benannten Ereignis zugeordnet werden. Dafür bildet der „Mann, der jetzt verloren vor mir lag“, den ersten konkreten Textbezug, soll er doch Peter Weiss’ Vater bedeuten, mit dessen Tod die ‚Erzählung‘ einsetzt.

98 Auch in Interviews zum Beispiel berichtet Weiss immer wieder von den vielen Büchern in seinem Elternhaus; vgl. dazu auch MPW 14.

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Es kann neben einer Szene, in der der Vater nach der Beerdigung seiner Frau trauernd und apathisch auf dem Sofa liegt (vgl. A 60), auch generell der verstorbene Vater des Ich-Erzählers gemeint sein, mit dessen Tod die Erzählung einsetzt: „Vor mir lag der Leichnam eines Mannes […].“ (A 60) Nach dem Tod des Vaters reist der Ich-Erzähler zu seinem „Elternhaus […], wo mich meine Stiefbrüder und deren Frauen, mein Bruder und seine Frau, meine Schwester und ihr Mann zur Beerdigung, Testamentsvollstreckung und Verteilung des Inventars erwarteten. In den folgenden Tagen vollzog sich die Auflösung der Familie. Eine Schändung und Zerstampfung fand statt, voll von Untertönen des Neids und der Habgier […].“ (A 61)

Die anderen Mitglieder der Familie werden in ihrer Funktion als Bruder, Schwester oder Ehepartner bezeichnet, nicht aber mit Namen genannt. Auch hier fehlt bewusst die Bindung zwischen Erzähler und seinen Verwandten. Auch gibt es keine weiteren Beschreibungen des Aussehens der Geschwister und des Schwagers oder der Schwägerin, sondern einzig eine Beschreibung ihres Verhaltens bei der Haushaltsauflösung, das einer „Plünderung“ (A 62) gleichkommt: „Wir zogen und schoben an den Stühlen, Sofas und Tischen herum, gewaltsam brachten wir die Ordnung auseinander, die immer unangreifbar gewesen war, und bald glich das Haus einem Möbellager […]. [D]ie Frauen liefen auf und ab zwischen Dachboden und Keller […], und wir Geschwister hockten zwischen den Bruchstücken des zerstörten Heims […].“ (A 62)

Ob unter den „Frauen“, die die Sachen zusammenraffen, auch die „Schwester“ des Ich-Erzählers ist, oder ob die „Schwester“ bei den „Geschwister[n] hock[t]“, wird nicht deutlich. Klar wird aber, dass die Ordnung des Heims gewaltsam zerstört wird, als ob die Kinder sich ein letztes Mal gegen das bürgerliche Heim und die Eltern auflehnen. „Die nackten Glühbirnen strahlen scharf in allen Zimmern“ (A 62), als die Geschwister das Haus plündern, in gleicher Weise wie die Glühbirne als Mittelpunkt der Collage große Teile des Raumes ausleuchtet. Die Gesichter aller beteiligten Figuren bleiben unbeschrieben. Ganz anders verhält es sich in der Collage, in der Weiss bei besagter Dreiergruppe, die die „Geschwister“ darstellen kann, ganz eindeutig und unmissverständlich durch die Differenzen der Farbgebung einen starken Gesichtsausdruck mit charakterisierender Funktion schafft. „Neid“ und „Habgier“ zeigen sich ebenso wie Abgeklärtheit und Entsetzen. Wodurch das Entsetzen tatsächlich ausgelöst wird, erschließt sich dem Betrachter nicht eindeutig. Natürlich ist es einerseits die Situation, in der

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sich der malträtierte Mann befindet. Andererseits kann das Entsetzen auch hervorgerufen oder verstärkt worden sein durch die unheimliche geisterhafte Hand, die in das Bild hineinragt. Die bildliche Darstellung dieser Hand geht konform mit einer Stelle im Text, in der es heißt: „Da war mir, als öffnete sich die Tür und meine Mutter erschiene, fassungslos in das geisterhafte Treiben ihrer Kinder starrend.“ (A 62) Wo sich der Ich-Erzähler befindet, als er diese Aussage macht – als Kind oben auf dem Balkon oder als einer der Männer auf der linken Bildseite –, ist nicht eindeutig festzustellen. Wahrscheinlich ist, dass der Ich-Erzähler in zwei Figuren gleichzeitig zu sehen ist: als Kind, das sich in der Erinnerung zurückgesetzt fühlt an den Ort und in das Haus, in dem es aufgewachsen ist, mit all den zugehörigen Erinnerungen, und als Erwachsener auf dem Foltertisch, der nach dem Tod der Eltern mit seinen Geschwistern dieses Haus zerstört. Denn möglicherweise spiegelt das Entsetzen auch die Erkenntnis, „daß dieses Heim, aus dem wir ausgestoßen worden waren, doch eine Sicherheit für uns verkörpert hatte, und daß mit seinem Aufhören das letzte Symbol unserer Zusammengehörigkeit verschwand“ (A 62). In einem letzten Akt, aufgeführt und festgehalten in der ‚Collage IV‘, verschwindet auch die letzte „Zusammengehörigkeit“. Und ganz deutlich wird erneut die Macht der Mutter über ihre Kinder, selbst über ihren eigenen Tod hinaus. Alle Häuser der Kindheit und Jugend scheinen hier symbolisch vereint, auch wenn Weiss sich an einige Häuser nur schwach erinnert: „Das erste Haus weist große blinde Flecken auf […].“ (A 63) Die Dinge, die Weiss erinnert, reichen für diesen übervollen Raum, der das bürgerliche Heim darstellen soll und in dem „das Dumpfe, das Eingeschlossene [herrschte], und meine Sinne waren gefangen. Hier draußen öffneten sich meine Sinne, und als ich in die Laube trat, trat ich ein in ein Reich, das nur mir gehörte, mein selbstgewähltes Exil.“ (A 64) Weiss flüchtet sich in den Garten, aus dem Haus heraus, das ihm „fremd [bleibt], in seinem Innern finde ich mich nicht zurecht, doch den Garten nehme ich an mich […].“ (A 64) Der Ich-Erzähler nimmt den dargestellten Innenraum – ersatzweise für alle Häuser der Eltern – wahr als „[d]as Haus, in dem alle Beziehungen mißlingen. Die Beziehungen der Familie, die Kinderfreundschaften, die ersten Liebschaften, die Beziehungen in der Schule. Es ist das Haus des Grauens, des Unheimlichen, das Haus der Krankheit, der Unterdrückung und des Unterdrückens.“99 Der auf der ‚Collage IV‘ gezeigte Raum steht mit seinem Schrecken, Grauen und ‚Misslingen‘ repräsentativ für alle in ‚Abschied‘ erinnerten Häuser. Weiss findet im Garten, außerhalb des Hauses, sein erstes selbst gewähl-

99 Vgl. Götze, Ort der frühen Bilder, S. 189.

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tes Exil. Später flüchtet er in sein Zimmer unter dem Dach. 100 Eine Textstelle changiert in ihrer Zuordnung zwischen ‚Collage IV‘ und ‚A‘. In dieser heißt es über das „letzte Zimmer“ von Peter Weiss vor seiner Flucht aus Prag: „[D]ieses letzte Zimmer eines Lebens, […] und vor dem Sofa stand ein ovaler Tisch mit geschwungenen Beinen, und auf dem Tisch stand eine violette Kristallvase, und an der Wand hing ein Spiegel mit verziertem Goldrahmen, und in dem Spiegel war das Fenster zu sehen […].“ (A 134) Wie auch im Text gibt es in der ‚Collage IV‘ ein Sofa, davor der kleine Beistelltisch – allerdings ohne „geschwungene Beine“ und mit einer Lampe ohne Schirm statt einer „Vase“. Im Raum gibt es allerdings mehrere Vasen und einen besonders auffälligen großen Spiegel, bei dem man sich gut vorstellen kann, dass der Rahmen „goldverziert“ ist. Es gibt aber in der ‚Collage A‘ ebenso diverse Anbindungen an den Text und an die betreffende Textstelle. Dieses Zimmer auf der Collage zeigt alle Dachzimmer, die der IchErzähler in ‚Abschied von den Eltern‘ bewohnt hat. Die ‚Collage A‘ ist zweigeteilt. Der obere Bildbereich gibt den Blick frei in eine Studierstube in ganz traditioneller Machart. Hier ist die für diese Reihe typische stark homogene Gestaltung zu erkennen, wenn der Raum als solcher nicht sogar von Weiss aus einem einzigen Ursprungsfragment übernommen wurde. Anders als bei den meisten anderen Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ ist, dass alle Proportionen stimmig sind und es keine irritierenden oder surrealen Elemente gibt. Und dennoch wirkt die gesamte Collage surreal, und zwar durch den unteren Bildbereich, dessen Übergang ein großer, gelbgoldener Löwe in zentraler Position markiert. Im unteren Bereich ist die Collage außergewöhnlich heterogen: Es sind klare Übergänge zwischen den einzelnen, großflächigen Fragmenten zu erkennen. Die ‚Collage A‘ unterscheidet sich von den meisten übrigen Collagen dieser Reihe durch die Art des Zusammenfügens der einzelnen Ursprungssegmente. Diese Trennung der Collage in ein Oben und Unten geschieht ziemlich exakt in der Bildmitte. In der Mitte des Zimmers im oberen Bereich der Collage steht ein Schreibtisch mit einem Schreibgerät und zwei Papierstapeln darauf. Davor liegt ein Teppich. Auf der rechten Seite des beschriebenen Tisches steht eine Leiter, die zu einer kleinen Luke in der Holzdecke führt. Der Raum ist nicht besonders hoch. In der rechten Zimmerecke ist eine schmale Tür zu sehen. An den mit Holz vertäfelten Wänden hängen neun Bilder in rechteckigem und ein Bild in ovalem Format, die zum Teil Portraits und Landschaftsaufnahmen zeigen, zum Teil auch Schrift. Diese ist aber nicht genau zu erkennen. Möglicherweise ist das

100 Vgl. Kapitel ‚‚Collage III‘: Schiffbruch im Dachboden‘, S. 242ff.

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ovale Bild auch ein Spiegel, in dem sich das Schriftbild von der gegenüberliegenden linken Zimmerwand spiegelt. Abbildung 16: ‚Collage A‘, 1982

Quelle: Peter Weiss: Fluchtpunkt. Roman. Mit vier Collagen von Peter Weiss. Frankfurt a. M. 1983, S. 55. „Wieder hatte ich ein Zimmer, das ich im Dachgeschoß des Hauses meiner Eltern bewohnte. […] Immer diese Zimmer oben unter dem Dach: Oberhalb des bürgerlichen Heims haust der Einsiedler, […] abgeschieden von der bürgerlichen Welt, die von meinen Eltern repräsentiert […] wurde […]!“ (MPW 33)

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Links befindet sich ein offensichtlich mit Blei verziertes Flügelfenster, dessen rechter Flügel in das Zimmer hinein geöffnet ist. Es gibt keine Gardinen, dafür aber eine säulenähnliche Verzierung mit Holz um das Fenster herum. Im vorderen Bereich des Zimmers steht ganz links im Bild ein Stuhl aus Holz mit Sitzgeflecht, leicht schräg dem Raum ab- und dem Betrachter zugewandt. Rechts steht auch ein Stuhl, allerdings mit einer auffälligen Konstruktion: Der Stuhl hat eine dreieckige Sitzfläche und drei Beine, ebenso dreieckig angeordnet und unten mit drei Streben verstärkt. Als ‚Lehne‘ dient bloß eine einzelne Holzstrebe, die aber, wie alle anderen Teile des Stuhls auch, mit Schnitzereien verziert ist. Ob man auf diesem Stuhl tatsächlich sitzen könnte, kann man nicht genau sagen. Der Stuhl ist in Richtung der rechten Zimmerwand gedreht, an der eine Reihe hochgemauerter Steine zu erkennen ist. Davor wiederum lässt sich ein Fliesenspiegel erahnen. Ob dieser vielleicht Teil eines Ofens ist, bleibt unklar, denn der Bereich daneben ist verdeckt durch eine Hauswand. Es wirkt, als ob man durch ein Loch in der Hauswand in diese Kammer hineinschaut. Der Raum ist zentralperspektivisch gestaltet: Der Betrachter blickt tief in das Zimmer hinein. Und dennoch wirkt dieses Bild deutlich zweidimensionaler als die anderen Collagen zum ‚Abschied‘. Denn als großen Kontrast zum oberen räumlichen Teil hat Weiss den unteren Bildteil gestaltet: Ganz vorne im Bild, fast genau mittig, liegt ein großer Löwe, den Kopf dem Betrachter der Collage zugewandt. Links vom Löwenkopf aus gehen mehrere Linien fluchtpunktartig Richtung Kopf einer flach am Boden liegenden Person. Ob es ein Mann oder eine Frau oder ein Kind ist, lässt sich nicht feststellen. Diese drei Elemente, also Löwe, Linien und Figur am Boden, markieren den Übergang von und die Trennung zwischen dem Oben und dem Unten der Collage. Unter der liegenden Person reichen zwei sich kreuzende Seile nach unten zu einer weiteren Person. Diese Person ist ein männliches Kind oder männlicher Jugendlicher, der in der linken Hand ein leicht zerknülltes Blatt Papier hält und mit der rechten Hand etwas vom Boden aufliest. Rechts neben dem knienden Jungen steht ein weiterer Stuhl, der durch deutliche Schnittstellen und ein auffälliges heterogenes Nebeneinander der einzelnen Bildsegmente abgegrenzt ist. Der Stuhl ist, wie die beiden anderen auch, aus Holz und hat eine runde Sitzfläche, auf der ein Buch liegt. Verstärkt sind die Stuhlbeine durch ein ebenfalls hölzernes Dreieck. Der Stuhl steht mit vom Betrachter abgewandter Sitzfläche in den Raum hinein und wirft einen markanten Schatten auf den Holzfußboden. Ganz rechts im Bild ragt ein Bein in die Collage hinein, vom Löwen getrennt durch ein weiteres Seil, das, wie straff gezogen, diagonal zum Bildrand arrangiert wurde. Am Fuß trägt die Figur eine Sandale mit Riemchen, die bis zur Mitte des Schienbeins gebunden sind. Von der Ferse des Fußes aus geht ein viertes

Text und Collage bei ‚Abschied von den Eltern‘ | 219

Seil gerade in Richtung der rechten unteren Bildecke. Am oberen Beinansatz ist noch ein Teil der Hüfte samt Kleidung zu erkennen. Die Muskulatur legt nahe, dass es sich um das Bein eines Mannes handelt. Der Löwe, die liegende sowie die sich bückende Figur, der vordere Stuhl und das Bein bilden einen stark heterogenen Bildbereich. Die Linien und Seile scheinen den Blick des Betrachters zu leiten, und zwar gegen den Uhrzeigersinn einmal im Kreis herum: vom Löwen in der Mitte nach links unten zum Liegenden, weiter abwärts zum Knienden, nach rechts zum Stuhl und zum Bein, und abschließend wieder gen Dachzimmer. Diese Collage ist eine der drei letzten Collagen aus dem Jahr 1982, die Peter Weiss kurz vor seinem Tod hergestellt hat. Das Dachzimmer als Rückzugsort des Ich-Erzählers spielt eine sehr wichtige Rolle im Text, findet sich aber bei den 1959 hergestellten Collagen lediglich in Ansätzen und vagen Andeutungen in der ‚Collage III‘ (siehe unten). So erscheint es Weiss ein Bedürfnis, sich mehr als zwanzig Jahre später noch einmal mit dem Ort seines selbst gewählten Exils auseinanderzusetzen. Dabei verschiebt sich der kindliche Ort des Exils als solcher recht schnell, nachdem er aus dem Elternhaus hinein ins Freie geflüchtet war, erneut ins Innere des Hauses, diesmal aber in seinen eigenen Raum: „Mein Exil, das ich in der Gartenlaube gefunden hatte, setzte sich auf diesem Dachboden fort.“ (A 76) Nur in diesem Zimmer konnte er frei sein, ungestört spielen und später malen. „[…] und als ich in mein Zimmer trat, war es ein Raum, in dem ich mich einnisten konnte, in einem vertrauten Revier.“ (F 20) Auch Auguste, Hausangestellte der Familie Weiss, sanfte, verständnisvolle Gegenfigur zur übermächtigen Mutterimago und Vertraute des Kindes Peter Weiss, wohnt bezeichnenderweise in einer „Dachkammer“ (A 76). Für die erste eigene Ausstellung mietet Peter Weiss auch seinen „ersten eigenen Wohnort“: „Ich mietete diese kleine ‚Wohnung‘, campierte auch da. Das war mein erster eigener Wohnort, ganz primitiv, unheizbar, zwei leere Kammern. […] Damit hatte ich meine erste Ausstellung. Alles, was ich an Bildern besaß, hatte ich dahin geschafft und an die Wände gehängt. Es kam überhaupt niemand.“ (MPW 24) Nicht einmal die Eltern betreten zu diesem wichtigen Ereignis das Reich ihres Sohnes. Dennoch empfand Weiss „[d]iese Ausstellung [als] […] Selbstbestätigung […].“ (MPW 24) Während niemand die Ausstellung besuchte, „saßen [wir] [Jaques, Ruth und Peter Weiss; H. K.] auf dem Boden herum, hatten nicht einmal Stühle […].“ (MPW 24) Im Bild sind nun gleich drei Stühle vorhanden, als ob die Anzahl der vorhandenen Stühle proportional zum Erfolg als Maler/Künstler ist. Zu einem Stockholmer Zimmer notiert Weiss im ‚Kopenhagener Journal‘:

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„Am 8 November 1940 […] kam ich nach Stockholm. Vom Bahnhof fuhr ich zu Schedins Pension […], wo Max Bernsdorf […] ein Zimmer für mich bestellt hatte. Es war ein grosses Eckzimmer, mit zwei Fenstern. Die Einrichtung bestand aus einem Bett […], einem ovalen Tisch […], einem Lehnsessel und mehreren Stühlen […].“ (KJ 126-127)

Und wieder beschreibt Weiss sein Zimmer und benennt die Anzahl der Stühle. Deutlich wird auch, dass Peter Weiss während aller Stationen des Exils und in der Zeit danach ein Zimmer bewohnt, das oben im Haus ist. In Warnsdorf, Böhmen, „befand sich [mein Zimmer] in der Wohnung der Hausbesitzer, im obersten Stockwerk der Villa.“ (A 123)101 Auch das Zimmer auf der ‚Collage A‘ liegt oben, und zwar im oberen Teil des Bildes, denn der Raum als solcher liegt aufgrund der Deckenhöhe und der Leiter offenbar direkt unter dem Dachstuhl. In Prag „[gab] man [Weiss’ Eltern; H. K.] […] mir ein Probejahr [in der Malklasse Willi Nowaks in Prag; H. K.], nach dessen Abschluß ich beweisen sollte, ob ich der Berufung des Malers würdig war. […] ich suchte nach einem Raum, der mich aufnehmen konnte, und in dem ich mich finden konnte […]. Da stehe ich vor fremden Türen, […] und ich erwarte, daß sie mir ein Zimmer geben. Diese […] Frauen […] öffneten mir die Türen zu den Zimmern […] und immer ragt irgendwo der große Nagel aus der Wand, an dem man sich erhängt. Bis ich endlich ein Zimmer finde, mit eigenem Eingang […]. Dieser Raum entspricht mir […]. [M]eine eigentlichen Leistungen gingen in der Abgeschiedenheit meines Zimmers vor sich […].“ (A 128-129)

101 Vgl. Kapitel 2.1.1 ‚Peter Weiss als Künstler verschiedener Medien‘, S. 29ff., und MPW 25: „Mir wurde eine Dachkammer zur Verfügung gestellt, von der eine Zeichnung vorhanden ist, ‚Mein Atelier I, Warnsdorf/Böhmen‘ (1936). […] in der Dachkammer hauste ich mit meinem Grammophon, meinen Platten, meiner Malerei und meinen Lieblingsbüchern. Hier fing das Schreiben wieder an und wurde gleichzeitig mit der Malerei betrieben.“ Es besteht eine unübersehbare Ähnlichkeit zwischen dem Bild des Ateliers, wie es Peter Weiss in ‚Mein Atelier I, Warnsdorf/Böhmen‘ (1935) darstellt, und dem Bild ‚Meine Bude, Bern‘ von Paul Klee aus dem Jahr 1986. Besonders auffällig ist, dass Weiss mit dieser Interieurszene ein ganz traditionelles Motiv aufgreift und in sehr klassischer traditioneller Machart anfertigt. Grund hierfür scheint zum einen die Malweise von Weiss in den 1930erJahren zu sein (siehe Kapitel Peter Weiss als Maler‘, S. 52ff.), zum anderen die starke Orientierung an Klees Zeichnung zu dieser Zeit.

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Das Zimmer auf der Collage hat ebenfalls einen „eigenen Eingang“. Das Motiv des „Nagels, an dem man sich erhängt“, spielt an auf die lange Zeit des Misserfolgs als Maler. Das Gefühl der Ungehörigkeit, der „Proletarier“, von der „bürgerlichen Welt“ abgegrenzt, entspricht der „Abgeschiedenheit des Zimmers“. Als Peter Weiss in Schweden im Jahr 1939/40 ankommt, „[…] hatte ich [wieder] ein Zimmer, das ich im Dachgeschoß des Hauses meiner Eltern bewohnte. Dort malte ich. Immer diese Zimmer oben unter dem Dach: Oberhalb des bürgerlichen Heims haust der Einsiedler, der Proletarier, völlig für sich im ‚Proletariat der Kunst‘ und abgeschieden von der bürgerlichen Welt, die von meinen Eltern repräsentiert […] wurde […]! Siehe ‚Die Maschinen greifen die Menschheit an‘: Ganz oben steht der Maler an der Staffelei. Das heißt: die Malerei ging unaufhörlich weiter.“ (MPW 33)

In seinem „Zimmer im Dachgeschoss“ schafft sich Weiss einen Ort der Zuflucht und des Rückzugs. Dieses Zimmer steht allem entgegen, was die Räume der Eltern „repräsentieren“: die „bürgerliche Welt“ mit allen Forderungen und Regeln der Eltern, um es auf eine kurze Formel zu bringen. In ‚Abschied von den Eltern‘ berichtet der Ich-Erzähler von einem vor seiner Tür liegenden Löwen, als sei es eine völlig selbstverständliche Gegebenheit: „[…] da erhob ich mich aus dem Bett […], öffnete die Tür, sprang über den großen gelben Löwen der vor meiner Tür lag […].“ (A 81) Der Löwe ist hier nicht Raubtier, sondern bietet Schutz; wie ein Wächter des Schutzraumes des Ich-Erzählers liegt auch der große Löwe mitten im Bild. Mit diesem Symbol verweist Weiss auf seine Schwester: Der Dachboden als Raum der Produktivität steht in direkter Verbindung mit dem Tod der Schwester, der den ganzen Prozess der Produktivität erst ausgelöst hat.102 Gemeint ist mit Margit zugleich auch die Peron, die ihm am nächsten stand und Halt bot innerhalb der Familie. Der Löwe, der als positives „Sonnensymbol“ aufgrund „seiner gelblichen Farbe, der strahlenförmigen Mähne und der großen Kraft“103 gilt, korrespondiert mit den Ergebnissen zu den Ausführungen zur ‚Collage IV‘ und der dort erläuterten Bedeutung des Zitats: „Sie [Margit; H. K.] war unser aller Sonnenschein […].“ (A 102)104 Die Schwester beschützt ihn, ihr Tod ist seine Quelle der Produktivität. Die Produktivität, die sich in Weiss’ Dachbodenzimmer(n) entlädt, wird im Zimmer auf der ‚Collage A‘ ebenfalls

102 Vgl. Anm. 22, S. 37, Kapitel 2.1.1 ‚Peter Weiss als Künstler verschiedener Medien‘, S. 29ff., und Kapitel 2.2.1 ‚Das bildkünstlerische Werk‘, S. 52ff. 103 Kretschmer: Löwe. In: Lexikon der Symbole, S. 266-269, hier S. 267. 104 Vgl. Kapitel ‚‚‚Collage IV‘ und ‚Collage A‘: ‚Lebensgeschichtlicher Innenraum‘‘, S. 201ff.

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symbolisiert durch den Griffel, der auf dem Schreibtisch zu erkennen ist. Der Griffel als Symbol der „künstlerischen Kreativität“ 105 unterstreicht die Bedeutung des Dachzimmers für Weiss. Weiss, der bisher „tief in bürgerlicher Ordnung gelebt“ (F 12) hatte, zieht aus dem Elternhaus aus, um selbstständig für sich zu sorgen und, noch viel wichtiger, um sich in Ruhe auf das Malen konzentrieren zu können – besonders, da im Hause der Eltern eine permanente Bedrohung gegen die Bilder besteht. „In der Flemminggatan war ich Herr über eine eigene Wohnung. Auch hier malte ich anfangs.“ (KJ 49) Die Möglichkeit, im eigenen Zimmer zu malen, steht für Weiss immer im Vordergrund: „1 Oktober. [1960; H. K.] Ein bevorstehendes Umziehen von einem Zimmer zum andern. […] Es galt, von einem grösseren in ein kleineres Zimmer zu übersiedeln, im kleineren Zimmer schienen mir die Lichtverhältnisse zum Malen besser. […] Es ging hier nur ums Malen. Da waren die Staffelei, das Malmaterial, die Bilder. […] Das Malen und Schreiben lief natürlich nebeneinander, und ineinander verwoben, her. In diesem Raum kam ein natürliches Ausdrucksbedürfnis zur Sprache.“ (KJ 48)

Während Weiss im Kontor des Vaters mitarbeitet, bleibt ihm allerdings nur wenig Zeit um zu Malen: „[…] am Fenster meines Zimmers. An den schrägen grauen Wänden des Zimmers lehnten die wenigen Bilder, die ich meinen freien Stunden abgewonnen hatte.“ (A 112) Alle seine Bilder positioniert Weiss in jedem Zimmer, das er bewohnt, rings um sich herum und überall im Raum: „Ich […] stellte meine Bilder an den Wänden und Stühlen auf. […] Das Aufstellen der Bilder ringsum war eine Festung und Sicherung des Daseins.“ (F 21-22). Durch die ‚aufgestellten Bilder‘ grenzt sich Weiss gegenüber seinen Eltern ab, er fühlt sich sicher und er vergewissert sich seiner selbst, indem er alle seine Bilder ständig vor Augen hat. „Im Überblicken meines Besitzes suchte ich nach Widerstandskraft gegen die Fremde, die außerhalb des Zimmers lag. Ich schlug ein Lager auf und befestigte das Lager mit meinem Eigentum.“ (F 54-55) Die Befestigung gleicht einer „Festung“: „Mein Zimmer glich einer Festung. Die Wände hatte ich angefüllt mit Bildern von Masken und Dämonen, und mit meinen eigenen Zeichnungen, die mit schreienden Figuren den Eintretenden zurückschreckten. Ich fühlte die Sprengkraft, die in mir lag, und ich wußte,

105 Günter Butzer/Gerhard Kurz: Griffel/Feder/Bleistift. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hg. von Günter Butzer/Joachim Jacob. Stuttgart 22012, S. 166-168, hier S. 166.

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daß ich mein Leben dem Ausdruck dieser Sprengkraft widmen mußte, aber zuhause sah man meine Versuche als Verwirrungen an […].“ (A 95)

Der Ich-Erzähler erinnert sich an „[d]ieses Lauschen, dieses Tasten und Suchen, dieses Verborgensein oben auf dem dumpfen Dachboden.“ (A 79) Ganz ähnlich tastet und sucht der Junge am unteren linken Bildrand nach etwas. Möglicherweise sucht der Junge auf dem Bild wie auch der Ich-Erzähler als Kind nach irgendetwas, das die vielen fehlenden Informationen über seine Eltern und über deren Eltern ergänzt: „Aus den Bruchstücken, die ich auf dem Dachboden fand, fügte ich mir eine Familiengeschichte zusammen.“ (A 77-78) Doch die „Bruchstücke“ bieten erneut nur das an Informationen, was der Junge bereits weiß: Vom Vater findet er eine Uniform, einen Säbel und weitere Utensilien aus dessen Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg; von der Mutter findet er alte Kostüme aus ihrer Zeit als Schauspielerin, die auch für die Darstellung der Mutterfigur in der ‚Collage VIII‘ herangezogen wurden. (Vgl. A 76-77)106 Möglicherweise wird er aber doch fündig: Er findet, sinnbildlich gesprochen, neue Bilder: „In der Flemminggatan war ich Herr über eine eigene Wohnung. Auch hier malte ich anfangs. Es war aber schon ein zersplittertes Malen, ein Malen von Widerständen überlagert. […] Ich malte nicht wie ich fühlte, sondern wie die modernen Kunstrichtungen es aus mir herausintrigierten.“ (KJ 49) Dieses „zersplitterte Malen“ zeigt sich in der ‚Collage A‘ im unteren Teil der Collage, in dem die einzelnen Segmente wie „zersplittert“ nebeneinander aufgereiht stehen und sich nicht zu einem homogenen Gesamtbild wie bei den anderen Collagen dieser Reihe ineinanderfügen. Dies kann als symbolische Darstellung gedeutet werden für die Suche nach einer neuen Form des Ausdrucks: Es kann die Erinnerung an die Zeit des künstlerischen Umbruchs dargestellt sein, als sich der Maler und der Autor Weiss entscheidend entwickeln und die Art der Bilder, wie er sie bisher geschaffen hat, ihm in der Form nicht mehr genügen oder entsprechen.107 Zudem stellt diese Collage durch Betonung ihrer eben nicht homogenen Machart, die besonders im Vergleich mit den übrigen Collagen dieser Reihe auffällt, eine Verbindung her zu der ausgeprägt heterogenen Collagereihe zum ‚Schatten‘.108 Mit dieser späten Collage knüpft Weiss also an verschiedene Stationen seiner unterschiedlichen Schaffensperioden an und verweist auf besondere Stadien und Wendepunkte in seinem künstlerischen Wirken und der eigenen Entwicklung.

106 Vgl. Kapitel ‚‚Collage VIII‘ und ‚Collage II‘: Die Eltern‘, S. 178ff. 107 Vgl. dazu Kapitel ‚Peter Weiss als Maler‘, S. 52ff. 108 Vgl. dazu Kapitel 3.1 ‚Einführende Text- und Bildbeschreibungen‘, S. 79ff.

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Die Collage knüpft auch unübersehbar an Dürers ‚Der heilige Hieronymus im Gehäus‘ an,109 das eindeutige Vorlage war für die ‚Collage A‘. Zwar fehlt bei Weiss das Pendant zur Figur des heiligen Hieronymus, ebenso ist der Löwe das einzige Tier. Aber die allgemeine Raumeinteilung ähnelt fast schon überdeutlich derjenigen bei Dürer. Fenster und Schreibtisch sind quasi analog arrangiert, ebenso finden sich einzelne zentrale Motive wie der Griffel und der Schreibtisch bei Weiss wieder. Auch der Löwe liegt in beiden Bildern an gleicher Stelle, nämlich vorne im Bild, vor dem Schreibtisch auf dem Fußboden, mit dem Kopf zur linken Seite und dem Betrachter des Bildes zugewandt. Selbst die Lage des Löwenschwanzes ist auf beiden Bildern nahezu identisch. Weiss erweitert sein Bild allerdings im oberen Bereich um die rechte Außenwand, um den Eindruck eines zum Zwecke der Innensicht geöffneten Hauses zu bewirken, und um den gesamten unteren Bildbereich. Und während Dürers Kupferstich den angesehenen Gelehrten in seiner Studierstube zeigt, lässt Weiss diese Figur bewusst weg. Die beschriebenen Linien, die sich durch Weiss’ Collage ziehen und die die Blickrichtung des Betrachters lenken, können als atypische oder konträre Fluchtpunkte verstanden werden, da sie trotz ihrer geraden Linien eben nicht geradlinig auf einen Punkt zulaufen; so wird die ebenfalls wenig geradlinige Entwicklung des Künstlers Peter Weiss nachgeahmt. Sein lebenslanges Suchen nach einer geeigneten Form des künstlerischen Ausdrucks und das Suchen nach Zugehörigkeit seit früher Kindheit mitgedacht, schwingt auch in dieser Collage der Wunsch nach Aufarbeitung und Bewältigung der eigenen Kindheit und Jugend mit. Und nach Abschluss des gut zehnjährigen Schreib- und Arbeitsprozesses am ‚Textur‘-Projekt (das im Bild möglicherweise als fertiges Buch auf einem der Stühle liegt, den die Linien als ‚Fluchtpunkte‘, ähnlich wie der Kreis des Lebens, umkreisen?) setzt Weiss die Arbeit an diesem Thema in seiner nächsten Veröffentlichung mit dem bezeichnenden Titel „Fluchtpunkt“ fort. Ein „Fluchtpunkt“ von Weiss war – wie oben bereits ausführlich dargelegt wurde – ein konkret zu bestimmender Ort, nämlich das Dachzimmer. Selbst die Linien in der ‚Collage IV‘ führen letztendlich wieder hinauf zum Dachzimmer als seinem Ort der Zuflucht. Zunächst war der Dachboden der Ort des spielenden Kindes, nicht der des Malers, der dort oben Ruhe suchte vor der im übrigen Haus omnipräsenten Mutterfigur in seiner eigenen, sich selbst geschaffenen Welt: „[d]ieses Nachsinnen und Fantasieren, dieses erwartungsvolle Lauschen, diese Spannung ging den heimlichen Spielen voraus, die das eigentliche Ziel meines Aufenthalts auf dem Dachboden waren.“ (A 79) Weiss sucht, wie auch der Ich-Erzähler in ‚Abschied

109 Albrecht Dürer: Der heilige Hieronymus im Gehäus, Kupferstich, 1514.

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von den Eltern‘, einerseits einen Raum als Zufluchtsort und als Ort der Selbstverwirklichung und -vergewisserung, andererseits einen Ort des ‚Überblickens‘, als einer der „Orte, von denen aus Orientierung möglich ist.“110 ‚Collage VI‘ und ‚Collage I‘: ‚Autobiographische Außenwelt(en)‘ Als Pendant zu den ‚lebensgeschichtlichen Innenräumen‘ gibt es Collagen, die ‚autobiographische Außenwelten‘ darstellen. In der ‚Collage VI‘ beispielsweise vertieft Weiss den Aspekt des Suchens ikonographisch als eine archäologische Erforschung der Kindheit. Mit der ‚Collage VI‘ schafft Weiss eine Vedute, eine wirklichkeitsgetreue Darstellung eines Stadtbildes. Drei nahezu exakt gleich große, horizontale Ebenen teilen das Bild ein in ein Unten, eine Mitte und ein Oben. In einer fast schon parallelperspektivischen Abbildung sieht der Betrachter auf diese Weise ein detailgetreues Stadtpanorama: Er blickt auf einen Vorplatz im unteren Bildbereich mit einem grabenden Jungen in Matrosenanzug als zentrale Figur dieser Ebene. Dahinter bildet eine Fassadenfront die mittlere Bildebene, und in der oberen Ebene ist hinter rauchenden Schloten der Himmel zu erkennen. Die mittlere Ebene wird dominiert von einem Baptisterium – ganz offensichtlich dem Baptisterium von Pisa – das auf der linken Bildseite prominent platziert wurde.

110 Karl Heinz Götze: Der Ort der frühen Bilder. Peter Weiss und Bremen. Eine Spurensuche. In: Ders. in Zusammenarbeit mit Petra Göllner: Hinter jedem Wort die Gefahr des Verstummens. Sprachproblematik und literarische Tradition in der ‚Ästhetik des Widerstands‘ von Peter Weiss. Stuttgart 1988, S. 173-196, hier S. 177.

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Abbildung 17: ‚Collage VI‘, 1962

Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: HZ 3385.2 „[A]s Kind hat man ihn schon da schaufeln, schaben und schleifen gesehen, als Erwachsener sieht man ihn immer noch schaufeln, schaben und schleifen […].“ (KJ 18)

Die Gebäudereihen im Hintergrund erinnern mit ihren rauchenden Schornsteinen und in ihrer Architektur an Fabriken, die eine Tiefenperspektive verhindern. Unterstützt wird der Eindruck der Fabrikkulisse durch einen hoch aufragenden, dicken Schornstein, der wie ein Kontrapunkt zum Baptisterium in der rechten Bildseite der mittleren Ebene weit in den Himmel ragt. Das Bild strahlt zum einen Einsamkeit aus: Obwohl insgesamt zehn Personen auf der ‚Collage VI‘ zu sehen sind, wirkt besonders der Junge im Vordergrund allein, isoliert und verlassen, und das, obwohl er in Relation die größte aller abgebildeten Figuren ist. Der weitläufige Platz bietet Raum für viel mehr Menschen als die zehn Abgebildeten. Die Figuren verlieren sich in der Weite des Raumes und wirken seltsam statisch, obwohl sie fast alle in Bewegung sind. Denn die Dynamik und die Bewegung der Figuren wirken nicht angesichts der Größe des Platzes, sie verlieren sich, mit der Folge, dass die Figuren in ihrer Bewegung starr erscheinen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die überkorrekte und geradlinig konstruierte Architekturkulisse. Zudem ist die Weite des Vorplatzes durch die eindrucksvolle Größe und Durchgängigkeit der Architekturkulisse ganz klar begrenzt. Dem Baptisterium links und dem großen Schorn-

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stein rechts kommen in der gesamten mittleren Ebene durch die jeweilige runde Form eine Sonderrolle zu. Beide Elemente wirken durch die Art und den Ort der Platzierung als Verbindung zum unteren und oberen Bildbereich. Rechts im Bild bildet eine halbrunde Brücke aus Backsteinen einen Übergang. Beide, also Baptisterium wie auch Schornstein, tragen aber auch, wie schon die Gebäudefront im Hintergrund, durch ihre Monumentalität zum Eindruck der Einsamkeit bei. Die fast einheitliche Farbgebung in Grautönen ohne allzu markante Tönungen unterstreicht die einsame, fast schon triste Atmosphäre. Nur der Junge und einige weitere kleinere Elemente sind leicht gelblich gefärbt, was aber wahrscheinlich der Herkunft der Fragmente geschuldet ist. Weiss schreibt ‚Abschied von den Eltern‘ zur Erkundung des Ichs, als Verarbeitung seiner Kindheit und als Möglichkeit der Loslösung von seinen Eltern. Der Beginn dieses Vorhabens ist das Hauptmotiv der ‚Collage VI‘. Zu verstehen ist diese Darstellung als eine archäologische Erforschung der Kindheit, die mit dem Tod des Vaters beginnt.111 Im Bild werden mehrere Zeit- und Handlungsebenen des Prätextes zusammengeführt, die alle auf das Hauptthema der Collage hinweisen. Auch in der zentralen Figur des Jungen sind zwei Ichs aus zwei verschiedenen Stadien und Zeiten vereint: „Die ‚Retextualisierung‘ enthüllt außerdem ihre Zusammengesetztheit aus zwei IchStadien: aus dem Ich der zwanziger Jahre in der Bremer Grünenstraße und Marcusallee mit dem Kontrast zwischen proletarischem und großbürgerlichem Milieu, und aus dem Ich der fünfziger Jahre, der Zeit der Arbeit am ‚Abschied‘-Projekt. Beides wird Anfang der 112

sechziger Jahre ins Bild transformiert.“

Vor einem autobiographischen Hintergrund – die Kindheit in Bremen und das Ich während der Zeit des Schreibprozesses in den 1950er-Jahren – ist diese Suche zugleich auch Selbsterforschung: „Freud vergleicht die Topologie des Unbewußten mit der Archäologie der Stadt Rom. Wer gräbt, findet Schicht um Schicht die Spuren früherer Epochen. Während aber die Archäologie nur Trümmer zutage fördert, kann das Graben im Unbewußten ganz unzerstörte

111 Zum Tod des Vaters als Auslöser, als „Traumerreger“ (Freud, Die Traumdeutung, S. 289) vgl. insbesondere Kapitel 4.2.1 ‚ Psychoanalytisch-symbolhafte Bilder‘, S. 171ff., sowie Kapitel 4.1 ‚Einführende Text- und Bildbeschreibungen‘, S. 155ff. 112 Schmolke, Das fortwährende Wirken, S. 421.

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Momente des Kindheitserlebens zutage fördern, die im Wachzustand nicht möglich sind.“

113

Diesen Weg der Selbsterforschung scheint Weiss gehen zu wollen, indem er Erinnerung um Erinnerung aus seinem Unterbewusstsein ausgräbt. 114 Wichtig für die Entschlüsselung der ‚Collage VI‘ sind die ‚Traumprotokolle und -analysen‘. Diese Traumnotate haben dieselben zentralen Themen und Motive wie ‚Abschied von den Eltern‘ und die zugehörige Collagereihe. Beide Texte sind motivisch eng verwandt, an vielen Stellen sogar nachweisbar miteinander verflochten oder vollständig analog. Ein Grund liegt in der zeitlich parallelen Arbeit an den Texten: Während Weiss zum einen seine Träume protokolliert, beginnt er die Arbeit am ‚Textur‘-Projekt. Allein schon dadurch kann sich also die Bezugnahme der Texte aufeinander erklären. Zudem gilt, wie bereits dargestellt wurde, die Psychoanalyse, der sich Weiss zu der Zeit unterzieht, als Basis und Schreibanlass für beides.115 Doch auch nach dem fast schon erzwungenen Abschluss der Arbeit an ‚Abschied von den Eltern‘116 und der erfolgreichen Publikation kehren zentrale Themen und Motive text- und medienübergreifend immer wieder, was sich beispielsweise in sich anschließenden Texten wie ‚Fluchtpunkt‘ als eine Fortsetzung von ‚Abschied von den Eltern‘, aber auch in der erneuten Herstellung dreier Collagen im Jahr 1982 widerspiegelt. Bestimmte Themen und Motive kehren immer und immer wieder – und ganz so wie den kleinen Jungen im Matrosenanzug auf der Collage, der mit einer Schaufel den Boden aufgräbt, „[hat man ihn] als Kind […] schon da schaufeln, schaben und schleifen gesehen, als Erwachsener sieht man ihn immer noch schaufeln, schaben und schleifen […].“ (KJ 18) Schauplatz der ikonographischen Suche und Aufarbeitung ist ein großer Vorplatz vor einer Reihe von Gebäuden. Im Vordergrund steht mittig ein kleiner Junge, der mit einer Schaufel ein Loch in den ansonsten gepflasterten Boden

113 Götze, Ort der frühen Bilder, S. 176f. 114 Vgl. dazu Kapitel 4.2.1 ‚ Psychoanalytisch-symbolhafte Bilder‘, S. 171ff. Vgl. weiterführend auch Gustav Landgren: Rauswühlen, rauskratzen aus einer Masse von Schutt. Zum Verhältnis von Stadt und Erinnerung im Werk von Peter Weiss. Bielefeld 2016. Zum Aspekt der Erinnerung vgl. auch Bigler, Gesten des Vergessens und Erinnerns, PWJ 24 87-88. 115 Zum Schreibanlass vgl. auch Kapitel 4.1 ‚Einführende Text- und Bildbeschreibungen‘, S. 155ff. 116 Vgl. zur Textgenese von ‚Abschied von den Eltern‘ Kapitel 4.1 ‚Einführende Textund Bildbeschreibungen‘, S. 155ff.

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gräbt. Der Junge, bekleidet mit einem Matrosenanzug, blickt in einer Mischung aus Konzentration und Versonnenheit auf seine Schaufel, die er mit beiden Händen festhält, und steht mit beiden Füßen im bereits ausgehobenen Loch. Rechts hinter ihm liegt ein Steinhaufen. Dahinter ist eine kleine Rundbrücke aus Backsteinen zu sehen. Links vom Jungen, ganz vorne am unteren Bildrand, liegen lose verteilt einige Blätter Papier. Hinter der Grabungsstelle ist, teils gepflastert, ein Vorplatz. Leicht links der Bildmitte ist ein großer Turm mit einem kuppelartigen Dach mit einer Spitze obenauf, die in eine Wolke ragt. Der Turm ist rundum reich verziert und erinnert an einen sakralen Bau oder an ein Baptisterium. Hinter dem Baptisterium stehen, sich über die gesamte Breite der Collage erstreckend, fabrikähnliche Gebäude mit insgesamt drei rauchenden Schornsteinen: zwei schmalen im linken Bildbereich und einem breiten im rechten Teil der Collage. Der Rauch aller drei Schornsteine zieht nach rechts ab, was dem Bild trotz der gleichmäßigen Gestaltung des Himmels eine gewisse Dynamik verleiht. Der Himmel scheint bewölkt, einige einzelne Wolken setzen sich vom recht einheitlich gestalteten Himmel ab. Rechts des Turmdachs sind winzige Vögel im Himmel zu erkennen. Die Gebäude, die im Bild fast exakt auf der mittleren horizontalen Achse arrangiert wurden, sind in ihrer Gesamtkomposition stark geometrisch und der Größe nach angeordnet; auch jedes Gebäude für sich ist geradlinig strukturiert. Links staffeln sich mehrere kleinere Gebäude der Größe nach vor einer langen und rahmenbildenden Halle, während im rechten Bereich eine längliche Halle vor einem ebenfalls sehr symmetrischen, rechteckigen Gebäude steht. Es ragen vier weitere Dächer oder Aufbauten in den oberen Bildbereich hinein, über den gesamten ‚Gebäudeblock‘ hinaus. Neben dem Jungen im Matrosenanzug gibt es noch zehn andere Figuren in der Collage, alle weiter im Hintergrund und dadurch kleiner als die zentrale Jungenfigur. Links schiebt ein Mann einen anderen, der in einem Rollstuhl sitzt, auf die Gebäudefront zu. In Blickrichtung dieser beiden Männer steht ein älterer Mann, bekleidet mit einem knielangen Mantel und Hut, mit einem geschlossenen Regenschirm in seiner rechten Hand. Auf Höhe des Kopfes des Rollstuhlschiebenden ist eine Frauenfigur zu erkennen, die ein bodenlanges Kleid trägt und auf den ausgestreckten Armen etwas vor sich trägt. Auf einer Bank, die offenbar Teil des Turmfußes ist und diesen auf der linken Seite umgibt, sitzt ein Mann, ebenfalls mit Hut, ein Bein über das andere geschlagen, und schaut nach links aus dem Bild heraus. Rechts laufen zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, hinter einem Spielreifen her. Hinter den Kindern, vor der vorderen langen Halle, gehen zwei Männer nebeneinander. In diese Halle geht ein Mann über eine Treppe hinein, die auf der im Schatten liegenden kurzen Gebäudeseite liegt.

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Auch diese Collage kann durch die nachweisbare Anbindung an Textstellen aus ‚Abschied‘ und aus dem ‚Kopenhagener Journal‘ konkret mit dem IchErzähler und mit autobiographischen Begebenheiten aus dem Leben von Peter Weiss verknüpft werden. Das Gebäude erinnert nämlich zum einen an die Beschreibungen des Kontors mit dem Kuppeldach und den rauchenden Schornsteinen, zum anderen erinnert die Darstellung an die Architektur eines Bahnhofsgebäudes. So, wie es im Text heißt, dass „das Meer der Dächer mit den rauchenden Schornsteinen [dalag]“ (A 69), so liegt die Gebäudefront mit den qualmenden Schornsteinen quer über den Horizont der ‚Collage VI‘. In ‚Abschied von den Eltern‘ sind Hafenviertel, Industriegebiete, Bahndämme und Gleise wichtige Motive, die sich auch in der ‚Collage VI‘ wiederfinden. Im Text allerdings erwähnt der Ich-Erzähler diese Motive oft wie scheinbar nebenbei oder als Hintergrund eines bestimmten Schauplatzes. Kurz nach Beginn der ‚Erzählung‘ taucht das Bahnhof-Motiv das erste Mal auf: „Ich ging die Straße am Bahndamm entlang, auf das Hospital zu, in dessen Kapelle mein Vater aufgebahrt lag. Auf den Gleisen […] rangierten die Güterzüge […]. Die Wagen rollten und klirrten oben auf dem Bahndamm, als ich vor der Kapelle stand […].“ (A 59) Viele Erinnerungen an die Kindheit und Jugend, an die Orte aus diesen Zeiten und an die Eltern sind auf diese oder auf ähnliche Art und Weise mit dem Motiv der Gleise beziehungsweise eines Bahnhofs verbunden; die Geräusche der Züge – und auch Fabriklärm – bilden durch den gesamten Text einen Bezugsrahmen, ein latentes Hintergrundrauschen. Bezeichnenderweise beginnt ‚Abschied von den Eltern‘ mit dem Tod des Vaters und markiert damit den Beginn der (textuellen) Aufarbeitung der Kindheit und Jugend; die ‚Collage VI‘ dient symbolisch als ikonographisches Äquivalent. Denn wie im Text die Motive Bahnhof/Gleise sowie Industrie- und Hafengebiete samt der Geräusche, die diese Orte produzieren,117 regelmäßig vorkommen, bilden besonders Bahnhofs- oder Fabrikgebäude den Rahmen, oder besser: die Einfassung für die ‚Collage VI‘. Wie in der ‚Erzählung‘ und wie in anderen Collagen dieser Reihe gibt es also auch in dieser Collage einen Rahmen, ein Bühnenbild, hergestellt für die Inszenierung der im Vordergrund festgehaltenen Szene. Die zentrale Figur des Jungen lässt sich durch mehrere Textstellen als Peter Weiss selbst identifizieren; besonders deutlich gelingt die Identifikation über den Ich-Erzähler im „Matrosenan-

117 Vgl. zum Verhältnis von Sprache und Geräusch die Studie von Markus Huss: Motståndes akustik. Språk och (o)ljud hos Peter Weiss 1946-1960. Södertörn 2014.

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zug“ (A 83), „wie er [Peter Weiss; H. K.] auf vielen Fotos seiner Kindheit zu sehen ist.“118 Im Text gibt es mehrere Stellen, die das Ausstaffieren des kindlichen IchErzählers thematisieren: „Ich nahm die Mütze ab, es war eine Matrosenmütze, mit goldenen Buchstaben auf dem Stirnband.“ (A 71) An anderer Stelle schreibt Weiss: „Ich hatte meinen dunkelblauen Matrosenanzug an, mit dem dickgeknoteten Schlips, auch weiße Kniestrümpfe, und schwarze Schnürstiefel.“ (A 83) Auch bei der ersten Begegnung mit dem Nachbarsjungen Friederle heißt es: „Da fragte er [der Nachbarsjunge Friederle; H. K.] schon wieder, was steht denn da auf deiner Mütze. Ich nahm die Mütze ab, es war eine Matrosenmütze, mit goldenen Buchstaben auf dem Stirnband. Was steht da, fragte er noch einmal. Ich wußte es nicht.“ (A 71) Was auf der Mütze stand, bleibt offen. Was aber deutlich wird, ist die allgegenwärtige Unwissenheit des Kindes, die einhergeht mit dem Unverständnis des Kindes für die Regeln der Eltern. Auch wird erkennbar, wie stark die Eltern von Peter Weiss den Druck empfanden, sich ihrer Stellung in der Gesellschaft zu vergewissern. Friederle war der „Sohn des Finanzpräsidenten“, der in einer Villa neben dem Haus der Familie Weiss lebte (vgl. NB2 820),119 dem eine derartige Kostümierung offensichtlich fremd war. Der Matrosenanzug engt den jungen Ich-Erzähler ein; er steht symbolisch für das von den Eltern straff geschnürte bürgerliche Korsett. Der Junge sucht nach Antworten auf seine Fragen und beginnt analog dazu auf der Collage mit der Suche. Die strengen Regeln der Eltern erklären sich dem Kind (noch) nicht, sind wohl aber seit frühester Kindheit an deutlich spürbar. Auch auf die bereits beschriebenen Schuldgefühle den Eltern gegenüber und auf den Druck, den diese auf den Sohn ausüben, referiert die Darstellung. Peter Weiss traut sich als Schuljunge mit einem schlechten Zeugnis nicht nach Hause. Die Textstelle „Als ich schließlich doch nachhause kam, weil ich nicht die Kühnheit hatte, mich als Schiffsjunge nach Amerika anheuern zu lassen“, verdeutlicht noch einmal den Protest gegen die Zwänge und den Druck, ausgeübt durch die Eltern. Den Matrosenanzug trägt Weiss zumindest schon. „In typischer Weise sind assoziiert: Elternrolle – Autoritäten – autoritäre Erziehung – autoritäre Gesellschaft – Diktatur.“120

118 Schmolke, Das fortwährende Wirken, S. 422. Vgl. die Abbildung in Dwars, Und dennoch Hoffnung, S. 97. 119 Vgl. NB2 820 und die Wort- und Sacherläuterungen in ‚Abschied von den Eltern‘ in der Ausgabe der Suhrkamp BasisBibliothek, S. 166: Friederles Vater war Oberfinanzpräsident Dr. Friedrich Carl. 120 Siehe Nachwort in: Weiss, Füreinander sind wir Chiffren, S. 154.

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Aus dieser Kostümierung resultiert eine spürbare Andersartigkeit, die Abgrenzung zu anderen Kindern ist dem Jungen sehr bewusst. Während eines Besuchs „bei einer befreundeten Familie“ (A 83) „hatte [ich] meinen dunkelblauen Matrosenanzug an, mit dem dickgeknoteten Schlips, auch weiße Kniestrümpfe, und schwarze Schnürstiefel. Es war Hochsommer.“ (A 83) Währenddessen spielten die Kinder von „Gastgeber Fritz W“ (A 83) nackt im Garten. An diesem Tag griffen die Eltern des Ich-Erzählers einmal nicht ein, als auch die Weiss’schen Kinder letztlich nackt waren und unbefangen spielten: „Ein einziges Mal in meiner Kindheit erlebte ich eine Ahnung von körperlicher Freiheit.“ (A 83) Wie zum Interieur der Eltern gehörend, wurden die Kinder ebenso ausstaffiert wie das bürgerliche Heim und vorgeführt als ‚gut gekleidete‘ Kinder im Sinne der Weiss’schen Eltern und von deren Wunsch nach Selbstvergewisserung der bürgerlichen Herkunft – ohne Rücksicht zu nehmen auf die Bedürfnisse der Kinder.121 „Und so gab man mir eine Uniform, ein Halstuch, ein Hemd […].“ (A 85) Nach außen lehnt sich der junge Ich-Erzähler gegen die Eltern noch ebenso wenig auf wie sein Äquivalent auf der Collage, dabei rebelliert alles in ihm: „Mucki war mein frühestes Abbild, in seinem bösartigen Gesichtsausdruck zeigte sich, was in meiner eigenen Erscheinung so wohlgebändigt war, in ihm tobte sich meine erstickte Angriffswut aus, Mucki der Abenteurer und Gewalttäter, das war ich viel mehr, als der sorgfältig gekämmte Knabe in der Spitzenbluse beim Sonntagsspaziergang.“ (A 91)

Die Geschichten des „kleinen Mucki“ findet der Ich-Erzähler in einem „Pappband“ in der Grünenstraße in Bremen (vgl. A 91). Dort lebte die Familie Weiss von 1918 bis zu ihrem Umzug nach Berlin 1929. Die Aufarbeitung und die Spurensuche beginnen demnach in der frühesten Kindheit von Weiss. Als Bildhintergrund erscheinen das „Industriegebiet“122 und „das Hafenviertel um die Grünenstraße“ mit den „eng aneinandergerückte[n] Fabriken, Lagerhäuser[n], hohe[n] Schornsteine[n]“,123 wie Karl-Heinz Götze festhält. Später zieht die Fami-

121 „Auch ich war als Teil des repräsentativen Ganzen gedacht. […] Das Stück, das ich in diesem Heim war, war geputzt und hergerichtet worden, der Schmutz […] war immer wieder abgewischt worden.“ (A 122); vgl. dazu Kapitel ‚‚‚Collage IV‘ und ‚Collage A‘: ‚Lebensgeschichtlicher Innenraum‘, S. 201ff. 122 Götze, Ort der frühen Bilder, S. 178. 123 Ebd., S. 181. Götze zeigt in diesem Beitrag den engen Zusammenhang zwischen den leitenden Motiven der Industrie beziehungsweise des Hafens und des Jahrmarktes beziehungsweise des Zirkus mit Weiss’ Kindheit in Bremen. Als Untermauerung führt Götze die Bilder ‚Der Hausierer‘, ‚Jahrmarkt am Stadtrand‘, ‚Jahrmarktsle-

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lie Weiss in die Marcusallee, eine der „besten Bremer Wohngegenden“,124 in ein „Haus, […] ganz hochherrschaftlich“ mit „fast bremisch-patrizische[n] Elemente[n]“ (MPW 13). Doch auf der Collage ist wenig vom Grün der Parks und von den großen Villengärten des zweiten Wohnortes in Bremen zu sehen, ganz im Gegenteil: Es dominiert die industrielle Atmosphäre der Grünenstraße. Nur ein „schmaler Steg [führt] ins Dunkel des Rickmerspark“ (NB2 820), in den neuen, noblen Wohnort. An diesen erinnert sich Weiss aber nur mit Schaudern als „sumpfigen Dickicht“ (NB2 820). Zu eng ist die Assoziation vom Haus in der Marcusallee mit einem „Leben im Dschungel, […] bedroht durch Tropenkrankheiten, die Bewußtsein und damit Identität rauben wollen“,125 und an das Elternhaus, das repräsentativ für alle Regeln, Zwänge und Einengungen steht.126 Denn die Grundlage zur Spurensuche und Aufarbeitung, deren Beginn also festgelegt werden kann in die Zeit der Grünenstraße, ist auch die Suche nach dem eigenen Ich, nach einer eigenen Position und einem eigenen Leben, außerhalb des Elternhauses und deren Regeln und Zugriffen. Der Blick scheint aber von der Marcusallee zu kommen, denn wie Schmolke richtig zeigt, sieht der Ich-Erzähler in ‚En glasdörr‘ Fabrikschlote, die sich am Horizont erheben.127 Der Ich-Erzähler in ‚Abschied von den Eltern‘ „lief auf der weißen, staubigen Allee zurück, […] über den Steg der von der Allee aus über den Bach in den Park führte“ (A 72) Schmolke ist auch zuzustimmen, wenn er feststellt, dass der „Steg“ „[i]n Wirklichkeit eine gewölbte Steinbrücke [war], wie sie auf der Collage mit dem grabenden Jungen […] zu sehen ist.“128 Diese Annahme Schmolkes bestätigt sich nämlich im Gespräch mit einem Zeitzeugen: „Diese ‚Dammbrücke‘ […] war nach mündlicher Auskunft […] eine gewölbte Backsteinbrücke […].“129 Auch die spielenden Kinder rechts identifiziert Schmolke: „Zur Grünenstraße steht in Abwechselnd: ‚Anfangs sah ich die Strasse durchs Gitter des Gartentors. Ich […]

ben‘, ‚Zirkus‘, ‚Jahrmarktsgruppe‘, ‚Musikanten Parade‘ an. Er legt dar, wie Bremen zur Kulisse wird für ‚Abschied von den Eltern‘ (vgl. besonders S. 185ff.), gleichsam wie hier gezeigt wird, wie die Grünenstraße in Bremen zur Kulisse wird für die ‚Collage VI‘. 124 Götze, Der Ort der frühen Bilder, S. 178. 125 Ebd., S. 179. 126 Vgl. Kapitel ‚‚Collage IV‘ und ‚Collage A‘: ‚Lebensgeschichtlicher Innenraum‘, S. 201ff. 127 Vgl. Schmolke, Das fortwährende Wirken, S. 703, Anm. 1: ‚En glasdörr‘ meint die erste, nicht veröffentlichte Fassung von ‚Abschied von den Eltern‘. 128 Vgl. Schmolke, Kommentar, S. 166. 129 Schmolke, Das fortwährende Wirken, S. 422 (Hervorhebung im Original).

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sah die Kinder in Rudeln vorbeilaufen, diese Kinder hatten ein anderes Leben als ich, sie lebten in der Offenheit der Strassenschluch[t], sie jagten Reifen und Bälle vor sich her‘.“130 Rechts im Bild zeigt sich im Motiv der beiden laufenden Kinder also die „Kindheit in den 1920er Jahren: Fabrikschlot mit Rauchfahne, die spielenden Kinder mit dem Reifen im Milieu der Grünenstraße, die gewölbte Steinbrücke der Marcusallee als Verbindung zwischen Wohnsitzen und Zeitabschnitten“.131 Die verstreuten Blätter scheinen auf die früheren Versuche der Aufarbeitung und der Suche hinzuweisen. So heißt es auch im Traum vom „25. Okt[ober 1950]“, dass „mein Malermaterial verstreut und einige Zeichnungen […] ausgebreitet lagen.“132 Diese Traumnotizen entstehen im Jahr 1950, also zeitgleich mit dem Beginn der Arbeit am ‚Textur‘-Projekt; dieses Projekt der Suche und Aufarbeitung wird rund zehn Jahre dauern, bis ‚Abschied von den Eltern‘ letztlich veröffentlicht wird.133 Das Material, der Stoff, und die ersten Aufzeichnungen sind aber gleichsam lose und zerstreut wie die am Boden liegenden unsortierten Blätter; das Ich, also der Junge, kann ihrer noch nicht habhaft werden: „Seine ‚Befangenheit‘ am Anfang dieser Befreiungsbestrebungen dokumentieren die Ende Oktober und Anfang November 1950 aufgezeichneten und analysierten Träume sowie das kurz darauf verfasste ‚Pariser Manuskript‘, in das einige der Traumbilder und -inhalte übernommen sind […]. Die Texte entstehen im Zuge der Psychoanalyse, die Weiss anläßlich seiner neuerlichen Krisensituation durchmacht […]. Die Schwerpunkte der Traumnotate sind: Beziehung zu den Eltern, Krise in der Partnerschaft [zu der Zeit noch liiert mit der dänischen Künstlerin LeKlint; H. K.], Krise in der Arbeit.“

134

Auf den erneuten Bezug auf die Elterninstanzen wurde oben bereits hingewiesen. Ein Bildbereich macht die Bezugnahme besonders deutlich: In der ‚Collage VI‘ sind links, wie als Pendant zu den Kindern auf der rechten Bildseite, ältere Menschen zu sehen. Mit einer der Figuren, nämlich mit dem Mann im Rollstuhl als „Admiral[,] ein alter kranker Mann“,135 sind die Eltern gemeint: „Der Admi-

130 Ebd. (Hervorhebung im Original). 131 Schmolke, Das fortwährende Wirken, S. 422. 132 Weiss, Traumprotokolle und -analysen, S. 86. 133 Zum ausführlichen Entstehungsprozess von ‚Abschied von den Eltern‘ vgl. Schmolke, Das fortwährende Wirken, sowie Kapitel 4.1 ‚Einführende Text- und Bildbeschreibungen‘, S. 155ff. 134 Schmolke, Das fortwährende Wirken, S. 413 (Hervorhebung im Original). 135 Weiss, Traumprotokolle und -analysen, S. 79.

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ral, das sind Vater und Mutter in einer Person.“136 So weisen die Traumnotate besonders deutliche semantische und motivische Parallelen zu ‚Abschied‘ und zu der ‚Collage VI‘ auf, zumal der Admiral „in der Sprache meines Vaters [antwortet]“.137 Im Traumprotokoll vom „23. Okt[ober 1950]“ beschreibt Weiss „Steinplatten“, mit denen der Boden des „Palast des Admirals“ ausgelegt ist. 138 Auch in der ‚Collage VI‘ sind Teile des Vorplatzes mit „Steinplatten“ ausgelegt. Weiss beschreibt „lang[e] Fassaden des Palastes“,139 die mit der bildlichen Darstellung der sich über das ganze Bild erstreckenden Gebäudereihen übereinstimmen. Im Traumnotat vom „23. Okt[ober 1950]“ heißt es: „Dann sehe ich an der Rückseite des Palastes ein längliches Flügelgebäude, wie ein Auswuchs, einem Bahnhof oder einem Theatergebäude ähnlich.“140 Und ganz ähnlich dem „länglichen Gebäude“, das „einem Bahnhof […] ähnelt“, ist auf der Collage auf der rechten Bildseite ein entsprechendes Gebäude zu identifizieren. Auch ein „Theatergebäude“ kann gemeint sein: „Ja, es ist mein Theater, dort wo mein Stück gespielt wird.“141 Und wie schon bei den übrigen Collagen spielt auch hier das Theater eine besondere Rolle. Abermals erschafft Weiss mit der ‚Collage VI‘ eine Schaubühne, deren Kulisse das eigene Leben bildet, ausgeschmückt mit kleineren Details aus einzelnen Szenen und bestimmten Situationen daraus. Rechts mit den Kindern ist die Zeit der frühen Kindheit Grundlage für die Kulisse, links meint den Beginn der Aufarbeitung, also die Zeit ab 1950, und das suchende Ich steht als zentrale Figur genau dazwischen. Doch noch hat die Aufarbeitung nur begonnen, selbst zum Zeitpunkt der Herstellung der Collagen ist sie nicht abgeschlossen: „Aber ich sehe: mein eigenes Theater […] hängt ja noch fest an dem bürgerlichen Palast.“142 Diese Textstelle führt den Rezipienten zu einer anderen Collage der Reihe, der ‚Collage I‘.

136 Auf diesen Aspekt weist auch Schmolke hin: „Das fortwährende Wirken von einer Situation zur andern“, S. 414. 137 Weiss, Traumprotokolle und -analysen, S. 80. 138 Ebd., S. 79. 139 Ebd., S. 80. 140 Ebd. 141 Ebd. 142 Ebd., S. 81.

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Abbildung 18: ‚Collage I‘, 1962

Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: HZ 3385.3 „Aber ich sehe: mein eigenes Theater, in dem sich meine Arbeit abspielt, hängt ja noch fest an dem bürgerlichen Palast.“143

Diese Collage zeigt zwar keine Außenwelt, sondern einen geschlossenen Innenraum. Deshalb scheint sie zunächst eher zum vorherigen Kapitel der ‚autobiographischen Außenwelten‘ zu passen. Aber über das Motiv des Theaters und die Darstellung der beginnenden Aufarbeitung ist die Einbindung der ‚Collage I‘ an dieser Stelle angezeigt. Die ‚Collage I‘ gibt den Blick frei auf ein imposantes Theater, in dessen Mittelpunkt ein junger Mann steht. Der Betrachter befindet sich offensichtlich an der seitlichen Rückseite der Bühne beziehungsweise am Parados, also am seitlichen Zugangsweg zur Bühne. Auf der Bühne steht ein junger, dandyhafter Mann. Er ist bekleidet mit einem geöffneten Frack. Sein Hemd ist anscheinend

143 Weiss, Traumprotokolle und -analysen, S. 81.

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unter dem Hemdkragen abgerissen, sodass nur der Hals bedeckt ist und sein bloßer Oberkörper mit ausgeprägter Muskulatur zu sehen ist. Seine rechte Hand hat der Mann in einer lässig wirkenden Geste zur Hälfte in die Hosentasche gesteckt, seine andere Hand hängt nicht weniger lässig an seiner linken Seite herab. Mit dieser Hand hält er ein Tuch fest, das wie von einem Windhauch bewegt zu sein scheint. Sein linkes Bein steckt in einer Anzughose und am linken Fuß trägt er einen Schuh. Das rechte Bein, wie schon der Oberkörper auffallend muskulös, ist unbedeckt, und er ist barfuß. Zusammen mit dem jungen Mann befinden sich, neben mehreren hoch aufragenden Säulen auf der linken Seite der Collage, drei antikisch anmutende Frauengestalten in diesem Bereich. Im rechten Bildteil der ‚Collage I‘ sieht man das Halbrund von sechs schmuck verzierten Zuschauerrängen und eine den Zuschauerraum überdachende Glaskuppel. Auf den Rängen befinden sich zahlreiche Menschen. Auf dem Parkett gibt es für die Besucher des Theaters, im Gegensatz zu den zahlreichen Rängen, keine Sitzplätze, sondern besteht durchweg aus Steinen. Diese erinnern an die Felsformationen der schottischen Insel Staffa. Auffällig ist, dass die Bühne eckig ist. Dadurch grenzt sie sich deutlich vom Zuschauerbereich ab. Unterstützt wird die Begrenzung einerseits durch das Grau des ‚Stein-Parketts‘, denn der gesamte Bühnenbereich ist in gelblich ockerfarbenem Couleur gehalten. Die Ränge, die sich rechts an das graue steinige Parkett anschließen, und die Glaskuppel des Theaters sind wiederum beige bis erdfarben, sodass sich trotz der in Form und Farbe markierten Trennung von Bühne und Zuschauerbereich ein homogenes Gesamtbild ergibt. Andererseits befinden sich sechs raumhohe Säulen auf der Bühne, deren Anordnung ebenfalls wie eine Begrenzung wirkt und den Blick des Betrachters verstellt. Durch die Säulen hindurch sieht man vereinzelt die grauen Steine des Parketts. Das Dach der Bühne befindet sich auf gleicher Höhe wie die Glaskuppel rechts im Bild, ist aber steinern. Es wurde aus diversen einzelnen Fragmenten und Teilen von Rundbögen zusammengesetzt – anders als das Glasdach des Zuschauerraumes, das aus einem einzigen Fragment besteht. Bühnenbereich und Zuschauerraum haben also nicht dasselbe Dach; die Trennung der beiden Bildbereiche vollzieht sich also mittig über die gesamte Länge des Bildes. Dennoch wirkt das Theater in der Gesamtansicht durch die Technik der homogenen Zusammenfügung separater Bildelemente keineswegs uneinheitlich. Die Säulen und Rundbögen entstammen verschiedenen Epochen und weisen drei Stile auf: Eine dorische Säule befindet sich ziemlich genau in der Mitte der Collage. Sechs Säulen mit korinthischem Kapitell wurden auf die gleiche Anzahl umgedrehter Säulen mit ionischem Kapitell montiert und auf diese Weise jeweils zu einer zusammengefügt. Eine Säule mit ionischem Kapitell ragt mittig vom

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Bühnenboden auf; die obere Hälfte fehlt. Eine achte Säule ist hinter der dorischen auszumachen, allerdings verdeckt ein wehendes Stück Stoff den oberen Bereich vollständig. Daher ist nicht zu erkennen, ob die Säule vollständig ist. In der Collage weht nicht nur das eine Stück Stoff, das die achte Säule verdeckt. Als ob der Bühnenvorhang in einzelne Teile geschnitten wurde, schweben und flattern im Bereich der Bühne mehrere Tücher hinter und zwischen den Säulen, wie von einem Windhauch aus der linken Richtung kommend, über die Szenerie auf der Bühne. Ein Stoffstück weht geisterhaft über den Kopf des Mannes hinweg. Ein weiteres liegt am Boden in der linken unteren Bildecke und lenkt den Blick des Betrachters dorthin. Die Bühne bildet eine umgedrehte Kassettendecke, deren Kassetten wir Sarkophage erscheinen. In der vorderen Vertiefung einer dieser umgekehrt angeordneten Kassetten steht der junge Mann, in der mittleren liegt eine Frau. Die Frau hat die Hände hinter dem Kopf verschränkt und die Augen geschlossen. Die Haltung und das leichte Lächeln in ihrem Gesicht lassen sie friedlich wirken. In der hinteren Vertiefung steht eine nackte Frau. Sie hat ihren Kopf in den Nacken gelegt und hält sich ihre rechte Hand vor die Augen. Die linke Hand liegt auf ihrem Haupt. Die Figur ähnelt durch ihre Pose und ihre helle Haut, die an weißen Marmor erinnert, sehr einer antiken Statue. Das Stück Stoff, das über der zentralen Figur schwebt, befindet sich auf einer Bilddiagonalen mit der Frauengestalt, die im mittleren ‚Grab‘ liegt, und der zentralen Figur des jungen Mannes, die ein Stück Stoff in der Hand hält. Die ‚Sarkophage‘ haben einen befremdlichen Effekt auf den Betrachter. Befremdlich und damit verfremdend wirkt auch der zerteilte, flatternde Vorhang, der an den halbhohen Vorhang bei Brecht denken lässt. Ziel des halbhohen Vorhangs ist es, die Illusion einer realen Szene zu durchbrechen und einen verfremdenden Effekt zu erzielen. Auch diese Bühne, ja das ganze Theater, ist in der Gesamtansicht verfremdet: Das doppelte, zweiteilige Dach, die den Blick versperrenden Säulen, die Sarkophage statt eines Bühnenbodens, die wie von Geisterhand bewegten Stoffe, die theatralischen, dramatischen Posen der antikisch anmutenden Frauengestalten, die Zuschauer, die sich auf den Rängen mehr um sich selbst zu kümmern scheinen als um das Geschehen auf der Bühne, und die an herabgestürzten Schutt erinnernden Steinformationen ergeben ein Theater, oder dank der antiken Verweise besser: einen Tempel nach der Katastrophe. Es ist erneut ein bildlicher Verweis auf die ganz persönliche Katastrophe. Und über die gespenstische Wirkung des durch die Luft flatternden Stück Stoffes, der in einem Grab liegenden Frau und des Ichs als zentraler Figur gelangt man über die hermeneutische Spur zum Tod seiner Schwester Margit und damit letztlich zu Weiss selbst. Der antike ‚Theater-Tempel‘ wird zum Schauplatz für

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„das Drama des Inneren“:144 Das Glasdach des Zuschauerraums wird zur „Glaskuppel“ (A 108) des Kontors, die Trennung von Bühne und Zuschauerraum deutet das Gefühl des Außenseiters und die kritische Betrachtung der eigenen Geschichte an, das zerstörte Theater mit den antiken Verweisen allgemein meint die Kritik an der Gesellschaft und am Bildungsbürgertum sowie die individuelle und gesellschaftliche Befreiung. Ein junger Mann als typische zentrale Figur des Bildes, umgeben von Kultur und Zerstörung, kennzeichnet den Beginn und Prozess der Aufarbeitung. Wie auch die anderen Bühnen, die Weiss in den Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ gestaltet, vereint auch diese folglich wesentliche Aspekte, die allen Collagen dieser Reihe gemeinsam sind. All diese Rückschlüsse summieren sich in dem Zitat „Aber ich sehe: mein eigenes Theater, in dem sich meine Arbeit abspielt, hängt ja noch fest an dem bürgerlichen Palast“145 in Zusammenspiel mit der ‚Collage I‘. Da aber das Ich ‚noch festhängt‘, ist eine weitere bildliche Darstellung für Weiss nötig, und der Rezipient muss vom jungen Erwachsenen der ‚Collage I‘ wieder zum kindlichen Ich in der ‚Collage VI‘ zurückkehren – und damit zum Beginn der Aufarbeitung, der auch den Beginn des Ablösungsprozesses markiert. Denn der zeitliche Beginn der Suche und der Aufarbeitung der Beginn seiner „Reise“, um es mit Weiss selbst zu sagen, lässt sich durch eine Textstelle recht genau festlegen, auf die sich die ‚Collage VI‘ bezieht: „Der Bahnhof hinter dem Palast, wo sich mein Theater befand, der Bahnhof, der die Reise andeutet, die Veränderung. Auch den Tod. Etwas stirbt immer, etwas wird geboren.“146 Der Tod des Vaters bedeutet für Weiss den Beginn seiner „Reise“ durch seine Kindheit und Jugend, während der er die „Reisen“ der diversen Exilstationen und mithin die Konsequenzen der Emigration aufarbeitet. Auffällig ist, dass der Beginn der Suche und der Aufarbeitung dieses schwierigen Themenkomplexes in einer Collage Ausdruck findet, die nichts von der großen Emotionalität widerspiegelt, die zu vermuten wäre. Ganz im Gegenteil: Die Collage wirkt ganz ruhig und still durch eine klare Gliederung, den organisierten, fast schon strikten Bildaufbau, die gute Übersichtlichkeit und die richtigen Proportionen der Größenverhältnisse. Die strikte Architektur des Vorplatzes und der Gebäude, deren Anordnung und die wenigen Figuren im Bild bewirken eine eigenartige Stille und Starrheit: Die gesamte Collage scheint sich jeder stärkeren Emotionalität zu verweigern. Auch die Geräusche der Stadt und des Bahnhofs, die Weiss in der ‚Erzählung‘ oft als Hintergrundrauschen verwendet,

144 Schmolke, Das fortwährende Wirken, S. 423. 145 Weiss, Traumprotokolle und -analysen, S. 81. 146 Ebd., S. 91.

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scheinen im Bild zu verstummen. Angemessen und ausgewogen in ihren Verhältnissen sind die Figuren in ihren Bewegungen wie erstarrt, sodass Weiss auf eine ganz sachliche, unaufgeregte Art und Weise einen eigentlich höchst emotionalen Zeitpunkt darstellt. Die einheitliche Farbgebung trägt zu der beschriebenen Wirkung noch bei. Anders als die Darstellung der übergroßen, durch organisch technoide Kombinationen surrealen Mutterfigur, die viele starke Emotionen bildgewaltig zum Ausdruck bringt, und anders als der winzige Junge, der sich verängstigt im Wirrwarr einer riesigen Fabrikhalle an den abweisenden Arm seines (ebenfalls winzigen) Vaters klammert, sind in dieser Collage ganz unaufgeregt zwei Ich-Stadien fixiert, die mit dem fast gleichzeitigen Tod des Vaters und der Mutter von den Eltern Abschied nehmen. Dabei steht der Junge ganz allein. Denn „der Abschied von den Eltern, diese letzte sich selbst vergewissernde Geste der Kommunikation mit ihnen, kann nur im Nachhinein erfolgen. Bezeichnenderweise ist sie einseitig und geht allein vom Erzähler aus.“147 Der Junge steht also scheinbar ruhig und äußerlich angepasst vor seiner Aufgabe, er ist ordentlich gekleidet und eingefügt in seine Umwelt; der Junge erscheint wie eine Version desjenigen Sohnes, den sich die Eltern immer gewünscht haben. Und dennoch zerstört er den Vorplatz in höchster Konzentration auf sein Tun, indem er durch sein Graben den Vorplatz und damit die Ordnung zerstört. Und so führt Weiss den Betrachter des Bildes durch mehrere Zeitebenen und Ich-Stadien zurück zum Beginn des ‚Textur‘-Projekts, als er sinnbildlich beginnt, Dinge einzureißen. Zwischenfazit Alle Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ zeigen einen Raum, einen Ort oder eine Landschaft. Unterscheiden kann man dabei zwischen ‚Innenräumen‘ und ‚Außenwelten‘. Besonders ausgearbeitet tritt der ‚autobiographische Innenraum‘ in gleich drei Collagen zutage, nämlich in der ‚Collage IV‘, der ‚Collage III‘ und der ‚Collage A‘. Diese Innenräume können durch die Zuordnung der zugehörigen Textstellen als tatsächlich existente Räume identifiziert werden: Die Ergebnisse der Bildanalyse und der Analyse des Text-Collage-Verhältnisses haben gezeigt, dass der Raum der ‚Collage IV‘ das Wohnzimmer des Weiss’schen Elternhauses meint. Es steht repräsentativ für all diejenigen Häuser, die die Familie in ‚Abschied von den Eltern‘ und analog die Familie Weiss auf den Stationen ihrer Flucht bewohnt. Die Kategorie des Raumes und konkret das Dachzimmer sowie das Haus als Ganzes sind für Weiss also keine singulären Randmotive,

147 Best, Erkenntnis, Horror, Klassenlagen, PWJ 18 148.

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sondern „für die Gedanken, Erinnerungen und Träume des Menschen […] groß[e] Integrationsmächte […].“148 Und so, wie die ‚Collage IV‘ das Wohnzimmer und das Wohnhaus der Familie Weiss meint und wie die ‚Collage II‘ das Kontor von Eugen Weiss darstellen soll, so meint die ‚Collage A‘ symbolisch und stellvertretend die Räume auf und unter dem Dach, die der Ich-Erzähler in ‚Abschied‘ bewohnt. Mit der Untersuchung wird ersichtlich: Sie meinen die Dachzimmer von Peter Weiss selbst: „Die Erinnerung, aber auch die Identität der Figuren, ist an Räume gebunden […].“ 149 Die ‚Collage A‘ ist anders in ihrer Machart, was höchstwahrscheinlich mit ihrem Entstehungszeitpunkt zusammenhängt: Sie ist eine der drei letzten Collagen aus dem Jahr 1982, die Peter Weiss kurz vor seinem Tod hergestellt hat. Das Dachzimmer als Rückzugsort und Ort des selbst gewählten Exils (des IchErzählers und des Autors) spielt in der ‚Erzählung‘ eine wichtige Rolle, bildlich aber erst mit dieser Collage. Die Collage meint das Dachzimmer als Zufluchtsort und Ort der Selbstverwirklichung und -verge-wisserung. In ihr schwingt der Wunsch nach Aufarbeitung und Bewältigung der eigenen Kindheit und Jugend mit. Dieses Zimmer steht zudem allem entgegen, was die Räume der Eltern „repräsentieren“: die „bürgerliche Welt“ mit allen Forderungen und Regeln. Denn der Dachboden ist auch Raum der künstlerischen Produktivität. ‚Autobiographische Außenwelten‘ stellt Weiss zum Beispiel mit dem Stadtbild auf der ‚Collage VI‘ her. Er fixiert den Beginn der Aufarbeitung seiner Kindheit und zeigt sich in trister Atmosphäre vor einer Fabrikkulisse. Die wenigen Personen in der Collage und die Monumentalität der Gebäudefront tragen zum Eindruck einer großen Einsamkeit bei. Die ‚Traumprotokolle und -analysen‘, so haben die Analysen gezeigt, sind ein weiterer, wichtiger Prätext – wie auch die Vorstadien zu ‚Abschied von den Eltern‘. Der Nachweis der Anbindung an diese Texte erfordert weitreichende Recherchen. Durch den Bezug auf die Vorstadien zu ‚Abschied‘ zeigt sich im „Industriegebiet“ mit den „eng aneinandergerückte[n] Fabriken, Lagerhäuser[n], hohe[n] Schornsteine[n]“ die kindliche Lebenswelt von Peter Weiss. Ebenfalls finden seine Eltern Eingang in die ‚Collage VI‘. Über einzelne Elemente, beispielsweise mit der Abbildung des Baptisteriums von Pisa, schafft Weiss Anklänge an die Architektur der Romanik des 12. Jahrhunderts. Rechts neben der Abbildung des Baptisteriums erinnert das Gebäude an Sakralbauten aus der Hochrenaissance, wie die Dominikanerkirche Santa Maria delle Grazie in Mailand. In der Gesamtansicht und im Zusammenspiel von

148 Gaston Bachelard: Die Poetik des Raumes. Frankfurt a. M. 1975, S. 38. 149 Weymann, Zur Semantik räumlicher Strukturen in Literatur und Film, PWG 51.

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Monumentalität und Isolierung erinnert die Collage an die imaginierten Architekturen von Piranesi. Einen noch viel demonstrativeren Rückgriff auf die Kunstgeschichte unternimmt Weiss mit der ‚Collage I‘. Nahezu sämtliche Collagen sind bühnenartig aufgebaut, denn so kann Autobiographisches im Bild, oder besser: auf der Bühne, distanzierend und stilisierend zur Schau gestellt werden. Weiss verweist zudem auch auf seine bildungsbürgerliche Herkunft. Mit der ‚Collage I‘ greift er motivisch bis in die Antike zurück und übt Kritik an der Gesellschaft und am Bildungsbürgertum. Der auch hier leitmotivische Jüngling ist aber nicht nur umgeben von Kultur, sondern auch von Zerstörung. Das kennzeichnet in einem weiteren Bild den Beginn und Prozess der Aufarbeitung. 4.2.3 Schiffbruch, Apokalypse und Wiedergeburt ‚Collage III‘: Schiffbruch im Dachboden Die ‚Collage III‘ zeigt einen zentralperspektivisch gestalteten Innenraum. Der Raum als solcher ist zweigeteilt: In einem bühnenähnlich gestalteten Vordergrund steht ein Junge, der mit einem Matrosenanzug bekleidet ist und durch ein Fernglas aus dem Bild herausschaut; der Junge ist dem Betrachter komplett zugewandt. Er ist die zentrale Figur dieser Collage. Im Hintergrund des Raumes ist eine Sturmflut dargestellt, in der Boote zu kentern drohen und Schiffbrüchige um ihr Leben kämpfen. Der collagierte Raum hat drei Wände und eine hölzerne Decke. Es fehlt die rechte Zimmerwand, weshalb augenscheinlich die Flut in das Zimmer einbrechen konnte. Hinter dem Jungen eröffnet sich eine apokalyptische Szene voller Schrecken und Todesdrohung: In dem Raum toben hohe Wellen, in denen viele Menschen in Seenot geraten sind. Fast mittig im Bild und jeweils seitlich begrenzt von zwei deckenhohen Stützbalken aus Holz, treibt ein Holzboot auf dem aufgepeitschten Wasser, in dem sich sechs Männer befinden. Die Männer versuchen, andere aus den tosenden Wellen zu retten, indem sie sich bemühen, sie ins Boot zu ziehen. Überall in den Fluten sind weitere Menschen, die sich ebenfalls vor dem Ertrinken retten wollen. Rechts hinter dem Holzboot ragt die Spitze eines Mastes eines schon fast vollständig gesunkenen Schiffs hervor. An der Stelle, an der das Schiff gesunken ist, drängen sich noch mehr Schiffbrüchige in den Wellen.

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Abbildung 19: ‚Collage III‘, 1962

Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: HZ 3385.5 „Hoch oben über unserem Heim bereitete ich Tod und Zerstörung um mich aus.“ (A 80)

Der Junge steht im Vordergrund der Collage mit beiden Beinen fest auf dem Boden, der aus Holzplanken ist. Links hinter dem Jungen sieht man eine Kanone, die zwischen zwei Holzrädern steht. Das rechte der beiden Räder ist zerbrochen. Nicht eindeutig ist, ob die Räder tatsächlich zur Tragevorrichtung der Kanone gehören oder möglicherweise ein defektes Steuerrad eines Schiffes darstellen sollen. Im vorderen Bildbereich, auf der linken unteren Seite der Collage, liegen vier Leichen; einer davon fehlt der Kopf. Auffällig ist, dass diese vier Körper unverhältnismäßig klein sind im Vergleich zu der zentralen Jungenfigur. Allerdings ist die Größe dieser vier Körper proportional zu weiteren Figuren im vorderen Bildbereich auf der gegenüberliegenden Seite. Dort sind felsenartige Formationen zu erkennen, in denen zur Bildmitte hin ein säulenähnliches Element collagiert wurde. Es handelt sich sehr wahrscheinlich um den viereckigen Sockel einer Säule, dessen eine Seite mit einem Fantasiewesen, das an einen Adler erinnert, und dessen andere Seite mit einem Löwenkopf, ähnlich einem Türklopfer, verziert ist. Rechts daneben türmt sich eine felsige Berglandschaft, an der mehre-

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re Männer hochklettern, um über den Rand auf die Flut im Zimmer zu blicken. Ein Mann, der gerade im Begriff ist, die Felsen zu erklimmen, trägt einen Federschmuck wie ein Indianerhäuptling. Andere Männerfiguren sehen in ihren Pluderhosen und mit dem Fes, einer Kopfbedeckung in Form eines Kegelstumpfs, aus wie Soldaten aus dem Orient. Fast alle der Männer sind mit Gewehren bewaffnet, die einen auffällig langen Lauf haben. Am Fuß des Gebirges liegt ein Mann reglos und mit geschlossenen Augen auf der Seite. Der Schatten der Felsen hüllt den leblosen Körper in Dunkelheit. Zwei weitere Männer stehen rechts vor dem Felsen und beobachten ihre Kameraden beim Aufstieg. Über ihnen, auf einem kleinen Plateau, steht ein Soldat, der dem Anschein nach der Befehlshaber ist, gibt er doch ganz offensichtlich Anweisungen, indem er mit seinem ausgestreckten Zeigefinger in Richtung Bildmitte seinen Soldaten den Weg, oder besser: die Marschrichtung über die Felsen weist. In der rechten oberen Bildecke übersieht man ein Element dieses Bildes fast völlig, da der Betrachter abgelenkt wird vom großen Detailreichtum der Collage und dem Schrecken der gezeigten Szene. Zusätzlich scheint dieser Bereich fast schon getarnt durch einen direkt angrenzenden Balken sowie die offene rechte Außenwand des Collageraumes, die die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zieht. Das Fragment ganz rechts außen zeigt eine schmale Gasse, in die der Betrachter durch eine starke Tiefenperspektive weit hineinschaut. In dieser schmalen Gasse, eingeengt zwischen zwei sehr hohen, glatten Steinwänden, fährt eine Kutsche. Links neben der Kutsche und rechts davor sieht man jeweils eine Person. Dieser Bereich ist nicht in das Gesamtgeschehen der Collage integriert und wirkt seltsam leblos und starr im Vergleich mit den übrigen Bildinhalten. Zwei runde Holzpfähle, die die Holzdecke des collagierten Raumes stützen, markieren den Übergang zum Hintergrund des Bildes. Links im Bild ist ein weiter Stützbalken zu erkennen. Zwischen den beiden vorderen Balken steht der Junge mit dem Fernglas und schaut aus dem Bild heraus. Er sieht also nicht die vielen in Seenot geratenen Menschen hinter und auch nicht die sich formierenden Soldaten neben sich. Er steht mit dem Rücken zu der apokalyptischen Szene und schaut auch nicht zur Seite, als ob er sich von allem drohenden und bereits hereingebrochenen Unheil demonstrativ abgewandt hat. Die Darstellung eines Innenraumes, in dem eine Sturmflut tobt, während winzige kopflose Leichen neben kriegerischen Indianern und orientalischen Soldaten liegen, lässt einen sehr surrealen Eindruck entstehen. Und doch kann auch dieser Raum durch eine nachweisbare textuelle und enge autobiographische Anbindung als real existierender Raum, als ‚lebensgeschichtlicher Innenraum‘, identifiziert werden. Dieser Raum meint ebenfalls das Dachzimmer des Ich-

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Erzählers. Die Motive des Suchens und des Überblickens, wie sie uns bereits bei der Analyse der ‚Collage IV‘ und der ‚Collage II‘ begegnet sind, klingen also erneut an. Wesentliche Frage für die Interpretation des Bildes wird im Folgenden immer wieder sein, warum der Junge zum einen so isoliert vor der dargestellten Katastrophe platziert wurde, warum er diese Katastrophe derart starr ignoriert und einzig aus dem Bild heraus blickt. Die ‚Collage III‘ beinhaltet mehrere Handlungs-, Zeit- und Deutungsebenen, sodass mehrere Erklärungen dafür möglich sind. Eines der Hauptmotive ist in dieser Collage das (Kriegs-)Spiel des jungen Ich-Erzählers, der sich in seiner Dachkammer in imaginierte Welten flüchtet. Anders als bei der ‚Collage VI‘ und der ‚Collage A‘ steht das Zimmer diesmal nicht als Ort der Zuflucht und der künstlerischen Produktivität im Vordergrund. Der Raum zeigt vielmehr den Ort des selbst gewählten Exils der kindlichen Flucht und einen Ort des „Tastens und Suchens“ (A 79) sowie der Selbstbeobachtung, wie zunächst gezeigt wird. Denn anhand der Kleidung – wieder trägt die zentrale Knabenfigur einen matrosenähnlichen Anzug – entspricht die Figur zum einen sowohl dem Ich-Erzähler als auch Peter Weiss, zum anderen kann dadurch die frühe Kindheit in Bremen als Zeitebene identifiziert werden. Weitere Belege lassen sich sowohl im Text als auch in früheren Werken von Weiss finden. So heißt es in ‚Abschied‘, dass es „[v]on Augustes Zimmer [einer „Dachkammer“ (vgl. A 76); H. K.] […] nur ein paar Schritte zum Dachboden [waren], einem großen, von Holzpfeilern getragenen Raum […].“ (A 76) Einen „von Holzpfeilern getragenen Raum“ zeigt auch die ‚Collage III‘. Der IchErzähler flüchtet sich, analog zum kindlichen Peter Weiss, in sein Zimmer unter dem Dach, um sich „mitten in der Geborgenheit […] hinter meinen Bildern und Büchern [zu] verbarrikadier[en].“ (F 12)150 Wie bereits einführend dargelegt,151

150 Zum Motiv der Dachkammer und zur Flucht ins selbst gewählte Exil unter dem Dach bzw. in der Gartenlaube vgl. Kapitel ‚‚‚Collage IV‘ und ‚Collage A‘: ‚Lebensgeschichtlicher Innenraum‘, S. 201ff., sowie die einführenden Überlegungen zum Text-Collage-Verhältnis bei ‚Abschied von den Eltern‘ in Kapitel 4.1 ‚Einführende Text- und Bildbeschreibungen‘, S. 155ff. 151 In Kapitel 4.1 ‚‚Abschied von den Eltern‘: Einführende Text- und Bildbeschreibungen‘, S. 118ff., habe ich bereits festgestellt, dass Weiss „[i]n ‚Abschied von den Eltern‘ […] [beschreibt], wie er sich schon als Kind in selbst gewählte Exile flüchtet – bevorzugt in seine jeweiligen Kinderzimmer (die auffälligerweise immer unter dem Dach waren; auch als er älter wird und die Familie wiederholt umzieht, liegt sein Raum im Dachgeschoss beziehungsweise auf dem Dachboden) und, in früherer Kindheit, auch in die Gartenlaube, die sich im Garten des Hauses in der Bremer

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setzt Weiss sein Exil, das er zunächst in der Gartenlaube gefunden hatte, auf dem Dachboden fort. (vgl. A 76) Die Bücher, die der Ich-Erzähler im Text als Teil seiner Abwehr und Abkehr von der Realität beschreibt, zeigen sich in der Collage hingegen nicht als solche, sondern als motivisch aufbereitete Darstellung der kindlichen Lektüre, konkret als Schiffbruchszenerie im Bildhintergrund: Er „las […] von heldenmütigen Kapitänen, die auf der Kommandobrücke ihres sinkenden Schiffes verharrten und sich mit dem Wrack in die Tiefe des Ozeanes reißen ließen […], ich las […] von Truppen, die bei nächtlichen Regengüssen aus den Schützengräben hervorstürmen […].“ (A 94) Der junge Ich-Erzähler liest von einer „Insel, auf die sich die Schiffsbrüchigen des Pacific gerettet haben […].“ (A 95) Und in seinem Matrosenanzug steht auch die Jungenfigur wie ein „Kapitän“ in der Collage, der als Einziger den Fluten entkam – allerdings auf sicherem Boden, geschützt vor den Wassermassen, die hinter ihm toben, auf einer „Insel“ aus Holzplanken. Dass der Junge auch ein „heldenmütiger Kapitän“ ist, der „auf der Kommandobrücke verharrt“ und sich bald „mit dem Wrack in die Tiefe des Ozean reißen“ lässt, zeigt die Collage nicht; vielmehr scheint der Boden sehr sicher der Flut standzuhalten. Im ‚Kopenhagener Journal‘ heißt es: „Ich hätte auch hineingerissen werden können, war aber sonderbarerweise noch verschont geblieben. Andere sanken auf Schiffen […]. Sonderbarerweise war ich nicht dabei. […] Ich lebte in einem Zimmer, das von Geschützen noch nicht eingerichtet war. Ich las Bücher.“ (KJ 111) Wie auch an anderer Stelle dienen Bücher als Schutz, ebenso wie das eigene Zimmer unterm Dach. Auffallend ist, dass auch hier keine Bücher gezeigt werden, wo sie doch wieder explizit genannt werden. Der Junge verharrt also in seiner Position, ist demnach vielmehr Beobachter als Betroffener, was demzufolge verstanden werden kann als Darstellung einer sicheren Entfernung vor der Katastrophe. Ein „sinkendes Schiff“, von dem nur noch der Mast aus den Wellen ragt, ist hingegen rechts hinter der Jungenfigur zu

Grünenstraße befand. Sowohl oben im Haus als auch draußen in der Laube erschafft Weiss Traumwelten. Er entzieht sich auf diese Weise zumindest zeitweilig dem Zugriff der Eltern und entflieht der Realität; die Spiele in seiner Kindheit sind immer mit Träumereien und Flucht verbunden: ‚Erfüllt von der Gewißheit, völlig abgeschieden und von allen vergessen zu sein, schlich ich mich zu meiner Landschaft [gemeint ist eine Art Kriegsszenerie, die Weiss in seinem Zimmer im Dachgeschoss erschafft, um damit zu spielen; H. K.], die ich […] erbaut hatte.‘ (A 79) Wie sehr diese Flucht nötig ist, zeigt folgende Stelle sehr eindringlich: ‚[…] und immer tiefer halluzinierte ich mich in die Nacht hinein, […] und alles sank von mir ab, der Druck der Schule, die Drohungen und Ermahnungen, und nur wie eine ferne, ewige Brandung vernahm ich noch die Forderungen der Welt.‘ (A 87).

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sehen. Als eine Sammelperson in seinen Funktionen als Spielleiter, „höchste[r] Befehlshaber“ (A 75) und „Kapitän“ steht die Figur des Jungen also nicht in, sondern über und vor der gesamten Szenerie, denn „mir oblag die Verantwortung.“ (A 75) Dies bestätigt sich auch in der Annahme, dass Ich-Erzähler, Autor und Künstler Peter Weiss in dem Befehlshaber der Soldaten zu erkennen sind: Der „Befehlshaber“ leitet seine Soldaten an, ebenso wie Weiss es seinen eigenen Beschreibungen nach mit seinen Zinnfiguren in seinem Dachzimmer gemacht hat, wie gleich im Folgenden noch gezeigt wird. Auch die Figur in der rechten unteren Bildecke kann als bildliches Pendant zum literarischen Spielleiter gesehen werden. Als eigentlichen Grund für die Flucht auf den Dachboden nennt Weiss nicht explizit die Flucht vor den Eltern und der Realität, sondern geht den Weg über eine zeitweilige Realitätsflucht, die ihm „heimliche Spiele“ ermöglicht: „Dieses Nachsinnen und Fantasieren, dieses erwartungsvolle Lauschen, diese Spannung ging den heimlichen Spielen voraus, die das eigentliche Ziel meines Aufenthalts auf dem Dachboden waren. Erfüllt von der Gewißheit, völlig abgeschieden und von allen vergessen zu sein, schlich ich mich zu meiner Landschaft, die ich […] erbaut hatte.“ (A 79)

Diese „Landschaft“ meint die im Spiel entworfene Kriegsszenerie. Erneut wird die Überlegung bestätigt, dass der Junge in seiner beobachtenden Position mit seinem durch das Fernrohr stark intensivierten „spähenden Blick“ als Spielgestalter nicht in das Geschehen involviert ist, also weder zu den Soldaten noch zu den Ertrinkenden zählen kann. Zudem ist er „von allen vergessen“: Die Jungenfigur beachtet weder die Leichen vor ihm noch die Figuren neben und hinter ihm und die Katstrophe um ihn herum. Auch ihn selbst beachtet überhaupt niemand; er steht völlig isoliert da, während die Soldaten vor und neben ihm sich zum Angriff vorbereiten und hinter ihm jeder einzelne Schiffbrüchige verzweifelt versucht, sein eigenes Leben oder das seines Nächsten zu retten. Diese bildliche Darstellung der Isolation entspricht der Wahrnehmung des jungen Peter Weiss, wie sie nun schon mehrfach als wichtiges Thema der Collagen und der Prätexte herausgearbeitet wurde: Jeder in der Familie Weiss, insbesondere aber die Eltern, beschäftigt sich ausschließlich mit seiner ganz persönlichen Situation, mit der ganz persönlichen Katastrophe (nämlich der Exilsituation und dem Tod der Tochter) – oder aber drangsaliert ihn, Peter Weiss, wodurch er zur Flucht auf den Dachboden getrieben wird. Die bildliche Darstellung der Isolation, die Flucht vor den Eltern und der Figur der Mutter können eine Erklärung dafür sein, weshalb der Junge gänzlich isoliert im Bild steht und vor allem: warum er die Katastrophe um sich herum derart ignoriert und starr sowie teilnahmslos einzig aus

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dem Bild herausschaut. Der Junge beobachtet ganz genau und sehr wachsam, ob jemand in ‚seine‘ Welt, die er als Schutzraum in seinem Dachzimmer erschaffen hat, in störender Absicht eindringen möchte. Folgende Textstelle beschreibt ein vom Ich-Erzähler geschaffenes „Schlachtfeld“ (A 79), das die bildliche Entsprechung im vorderen Bereich der ‚Collage III‘ findet: Es war, „als befände ich mich selbst als Beobachter in dieser Landschaft, und meinem spähenden Blick zeigten sich Hügel, Waldungen, Gräben und Schluchten, und Schützengräben voller Soldaten, und aufgefahrenen Kanonen […], alles wartete auf die Entladung.“ (A 79) Das „Warten auf die Entladung“ entspricht der erstarrten Momentaufnahme, die das Bild zeigt. „Hügel, Waldungen, Gräben und Schluchten“ beziehen sich auf die eingangs beschriebene felsige Berglandschaft rechts im Bild, an der die „Soldaten“ emporklettern. Die Figuren in der rechten unteren Bildecke verbildlichen dieses ‚Beobachten der Landschaft‘ ebenfalls. Auch in ‚Fluchtpunkt‘ berichtet der Ich-Erzähler vom Spielen im Dachzimmer: „Wenn ich auf dem Dachboden vor meinen […] mit Zinnsoldaten bevölkerten Landschaften lag, war das Bildhafte schon da, die gebannte, einmalige Situation […].“ (F 28) Durch diese Textstelle bezieht Weiss einen wesentlichen Aspekt aus der ‚Laokoon-Rede‘ mit ein, in der es heißt: „Am Anfang waren die Bilder. Im Traum waren die Gegenstände und Ereignisse, die sich in ihm regten, losgelöst von der Tätigkeit des Benennens. Dies war ein Bereich, in denen die Mühen der Verständigung vergangen waren, der Träumende hatte sich aus allen Sprachgebieten entfernt und ging nur noch mit sich selbst um. Er sah vor sich, was er zu sagen nicht mehr imstande war.“ (L 178)

Während die Sprache einen Bezug zum Außen darstellt und ermöglicht, ist das Bild selbstbezogen und ermöglicht den subjektiven Ausdruck.152 Hier liegt also eine weitere mögliche Erklärung für den expliziten Blick aus dem Bild heraus – und darüber hinaus ganz allgemein für die Notwendigkeit einer nachträglichen Bearbeitung und einer künstlerischen Auseinandersetzung: Es ist das „Tasten und Suchen“ als eine Suche nach sich selbst, als eine Form der Selbstbeobachtung, durchgespielt in den verschiedenen Medien und den sich daraus ergebenden unterschiedlichen Herangehensweisen. Der Ich-Erzähler erschafft mit seinem Kriegsschauplatz im Vordergrund und mit der sintflutartigen Katstrophe im Hintergrund einen „Orkan der Vernich-

152 Vgl. dazu auch Weymann, Zur Semantik räumlicher Strukturen in Literatur und Film, PWG 63.

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tung“ (A 81) um sich herum. Die Sintflut und der „Ozean“ (vgl. A 95), also Wasser generell als zentrales Motiv, finden sich an mehreren Stellen in Weiss’ Texten, die sehr wahrscheinlich an diese Collage angebunden sind. Der IchErzähler in ‚Fluchtpunkt‘ berichtet zum Beispiel vom Ursprung der Wassermetapher, nämlich, dass er „zuhause [war] in Hafengegenden […].“ (F 9) Auch Weiss selbst erzählt von der Nähe des eigenen Wohnortes zum Wasser und der späteren motivischen Aufnahme: „Wir wohnten in einer Gegend gleich am Hafen […], diese ganzen atmosphärischen Ereignisse einer Hafenstadt waren grundlegend [als spätere (bild)künstlerische Motive; H. K.].“ (MPW 11) Das Wassermotiv vermischt sich auch mit den Erinnerungen an Bücher und Bilder, die der Ich-Erzähler als Kind gelesen und gesehen hat. Der Ich-Erzähler erinnert sich bruchstückhaft an einzelne Szenen und Bilder: „Da ist ein Strom […] und ein Indianer, bereit, sich auf das herannahende Kanu zu werfen […]. Da ist ein Zimmer, mit einem Schrank, einem Bett, und verschlossenen Fensterläden, […] einer lauscht hier in diesem […] Zimmer, und plant etwas, und ist voller Erwartung. Da ist die Insel, auf die sich die Schiffbrüchigen des Pacific gerettet haben […].“ (A 9495)

In ‚Fluchtpunkt‘ heißt es zum Motiv des „Stroms“ ganz ähnlich und passend zur Collage: „[…] der Strom ist zu einem Meer geworden“ (F 24). Das „Kanu“ wird im Bild nun zu einem „Boot“, und der „Indianer“ findet sich in besagter Soldatenfigur wieder. Auch die „Insel“ gibt es, allerdings in abgewandelter Form als eine Schiffsbrücke aus Holzplanken für den jungen „Kapitän“. Auch der „höchste Befehlshaber“ steht sicher auf seinem Felsplateau, und der Spielleiter steht als Beobachter außerhalb jeder Gefahr. Der Junge blickt der Gefahr, die sich um ihn herum auftut, aber nicht ins Auge, sondern dreht ihr demonstrativ den Rücken zu. Dennoch blickt er einer großen Bedrohung entgegen, nämlich dem Eindringen der Mutter in seinen Schutzraum, die jederzeit plötzlich und unheimlich auftaucht, die trügerische Ruhe zerstört und das Spiel des Jungen unterbindet: „Besser als die Ungewißheit waren diese klar gezeigten Schrecklichkeiten und Grausamkeiten. Es war besser, ganz nah vor der Gefahr zu stehen und ihr in die Augen zu blicken, es war besser, zu sehen, daß es sie wirklich gab, als qualvoll allein im Dunkeln zu liegen und sie nur zu ahnen.“ (A 92) Der Ich-Erzähler konfrontiert sich mit all seinen persönlichen „Schrecklichkeiten und Grausamkeiten“, die sich in der Bedrohung durch die Mutterfigur manifestieren, ganz direkt, wie auch die Jungenfigur im Bild. Die ist zwar umgeben von im Spiel entworfenen allgemein menschlichen Katastrophen und Kriegsschauplätzen. Der Junge blickt aber einzig durch sein Fernglas, um in jeder Kleinigkeit und in größter

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Entfernung die unmittelbar ihn bedrohende Gefahr zu erkennen, anstatt sie blind, in der Schummrigkeit einer Dachkammer, nur „zu ahnen“. Das ergänzt die Erklärungen, weshalb der Junge auf der ‚Collage III‘ aus dem Bild herausschaut und weder sein Spiel überwacht noch auf die Katastrophe blickt. „Dies ist wie ein Bild aus einem alten Märchenbuch, etwas Versunkenes steigt aus dem Bild auf, und etwas Erwartungsvolles. Das Abgeschiedene und Geheimnisvolle, das Verstecktsein mit mir selbst, mit meinen Spielen, das ist noch vorhanden und regt sich in dieser Stunde […]. Ich war mein eigener Herr, ich schuf mir selbst die Welt. Doch irgendwo lag die Vorahnung des Rufs, des Rufs der gleich erklingen, der […] auf mich zurollen würde. Irgendwo lag immer die Erwartung dieses Rufs. […] Und dann fühle ich die rasende, ohnmächtige Wut, das Antoben gegen etwas Unangreifbares, gegen etwas unendlich Überlegenes. […] Da ist das Gesicht meiner Mutter.“ (A 64-65)

Mit der „Erwartung dieses Rufs“ schafft Weiss zwei weitere Verbindungen. Erneut stellt er über den „Ruf“ eine Verbindung her zu seiner ‚Laokoon-Rede‘: „Es ist die Sekunde des Einbruchs, der Forderung. Sie versetzt ihn in äußerste Spannung und Erwartung. […] Er antwortet mit seinem Verstummen. Er verhält sich reglos. Er liegt versteckt […], während die Stimme näherkommt und nach ihm sucht. Nur selten ertönt ein Ruf, dem er Folge leistet.“ (L 173)

Analog zum Text steht auch der Junge in der ‚Collage III‘ wie „reglos“ vor der von ihm selbst erschaffenen phantastischen Schreckensszenerie. Der im Bild fixierte Moment der Katastrophe führt zu einer „äußersten Spannung“, er evoziert in der Erstarrung, „während die Stimme näherkommt und nach ihm sucht“, eine „Erwartung“. Diese wird nicht enttäuscht, denn „der Ruf ertönt“. Die zweite Verbindung, die Weiss an dieser Stelle herstellt, ist eine weitere zur Mutterfigur: „Wenn meine Mutter, herbeigerufen durch meinen Schrei, an mein Bett kam und mich aufrichtete und mich in die Arme schloß, verging das Unheimliche, zu dessen Erscheinung sie selbst beigetragen hat.“ (A 83) Wie schon die bisherigen Analysen der Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ immer wieder gezeigt haben, ist die Figur der Mutter stark ambivalent, und die „Erscheinung meiner Mutter“ (A 79) ist immer auch mit der Kategorie des Unheimlichen konnotiert.153 (vgl. A 83) Während der Ich-Erzähler oben in seinem Dachzimmer Zuflucht, also „nach Befreiung“ (A 80) sucht, kommt „von unten […]

153 Vgl. dazu insbesondere die Ausführungen zur Mutterimago in Kapitel ‚‚Collage VIII‘ und ‚Collage II‘: Die Eltern‘, S. 178ff.

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das langsame, schwere Ticken der Standuhr“ (A 81), und damit die Bedrohung durch die übermächtige Mutter. Indem Weiss die Figur des Jungen als Suchenden darstellt, der jeden Moment das bedrohliche unheimliche Erscheinen seiner Mutter erwartet, kann die ‚Collage III‘ durch dieses (Selbst-) Bildnis der Jungenfigur verstanden werden als teilweises Pendant zur ‚Collage VIII‘ und als Ergänzung zur Darstellung der Mutterfigur. Durch die Identifizierung des Raumes auf der ‚Collage III‘ als Dachzimmer mit autobiographischem Hintergrund verbindet Weiss diese Collage geschickt auch mit der ‚Collage A‘ und der dortigen Funktion des Dachzimmers. „Aber auch die Anordnung der den Einzelnen zugehörigen Räume spielt in der Erinnerung der Ich-Figur eine tragende Rolle: Die Topographie des Hauses verweist auf die Stellung der einzelnen Familienmitglieder innerhalb des hierarchischen Gefüges ihres Zusammenlebens. Der autobiographische Erzähler, der sich früh mit dem Künstlerdasein anstelle des von den Eltern eingeforderten bürgerlichen Lebens identifiziert, wählt sich den Dachboden als Zufluchtsort vor den Erwartungen der Eltern.“

154

Schon in früheren Werken von Weiss finden sich das Thema des Schiffbruchs, das Motiv des Wassers und das der Schlacht.155 Bereits erste Kinderzeichnungen156 belegen neben „einer frühen Begeisterung für alles Maritime sogleich die Provenienz eines paradigmatischen Schwerpunktes […], der sowohl sein bildkünstlerisches als auch literarisches Werk durchgängig bestimmt“,157 wie Anja Schnabel feststellt. Und wenn man an dieser Stelle die hermeneutische Spur verlässt, der wir bis hierher meisthin gefolgt sind, findet man ein traditionelles kunstgeschichtliches Motiv, nämlich das des Schiffbruchs. Daneben fungiert ein weltberühmtes Gemälde aus diesem Genre als Vorbild für die ‚Collage III‘ und für zwei weitere Collagen: Théodore Géricaults ‚Das Floß der Medusa‘.158

154 Weymann, Zur Semantik räumlicher Strukturen in Literatur und Film, S. 52. 155 Siehe Abbildung in MPW 104: 1934 malt Weiss ein Boot auf den Umschlag zu ‚Günter an Beatrice‘. 156 Siehe Abbildungen in MPW 97. 157 Schnabel, Todesvorstellungen und Todesdarstellungen, S. 352. 158 Théodore Géricault: Das Floß der Medusa, 1819, 491 x 716 cm, Paris, Musée de Louvre. Anja Schnabel untersucht sehr detailreich die Bedeutung von Géricaults ‚Floß der Medusa‘ für Peter Weiss in: Dies., Todesvorstellungen und Todesdarstellungen, insbesondere in Kapitel C II.4 ‚Géricaults ‚Das Floß der Medusa‘‘, S. 402442. Ebenso analysiert Jochen Vogt in ‚Ugolino trifft Medusa. Nochmals über das ‚Hadesbild‘ in der ‚Ästhetik des Widerstands‘ (in: Ein Riss geht durch den Autor.

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Das Boot, das Weiss mittig in seiner ‚Collage III‘ platziert, wird von zwei Balken gerahmt und dadurch geschickt akzentuiert. Durch diesen Bildausschnitt lenkt Weiss die Konzentration des Betrachters auf das in Seenot geratene Holzboot, und dieses Motiv führt ganz eindeutig zu Géricaults Meisterwerk. Den unteren Bildrand von Weiss’ Collage säumen Leichen, ganz ähnlich wie die Darstellung auf dem ‚Floß der Medusa‘: Das Meer ist in beiden Bildern aufgewühlt, und die Schiffbrüchigen befinden sich in einem zeiterstarrten Zustand zwischen Hoffnungslosigkeit und Rettung. In Anlehnung an Géricaults Bild ist der Betrachter der ‚Collage III‘ durch die Wahl der Perspektive nicht nur ganz nah am Geschehen, sondern fühlt sich nahezu selbst involviert. Intensiviert wird diese starke Einbindung des Betrachters bei Weiss dadurch, dass die Figur des Jungen den Betrachter des Bildes geradezu anzustarren scheint. Es wird eine Rezeptionssituation geschaffen, die sehr glaubhaft simuliert, man säße als Betrachter nicht nur in der ersten Reihe eines Theaters, sondern mit auf den Holzplanken des Bühnenbodens. Man wird geradezu gezwungen, hinzuschauen und sich immerzu zu fragen, warum der Junge auf der Bühne sich derart radikal vom Schiffbruch und den Soldaten abkehrt: Warum wirkt diese Spannung zwischen menschlicher Katastrophe und bewusster Abkehr derart beklemmend und verstörend auf den Betrachter? Was genau passiert eigentlich im Hintergrund? Für was steht die apokalyptische Flut? Mögliche Antworten auf diese Fragen ließ Weiss über dreißig Jahre lang offen. Die Antwort auf die Frage: Was kann in diesem schrecklichen Moment der Sintflut, der als Bühnenbild eingefroren wurde, das Interesse mehr bannen als die Katastrophe im Hintergrund? liefert, wie gezeigt, die hermeneutische Spur von 1962 mit der Veranschaulichung des kindlichen Spiels, der Darstellung des Kapitäns, Befehlshabers und Spielleiters und der Bedrohung durch die Mutterfigur. Die Bedrohung durch die Figur der Mutter ist durch eine entsprechende textuelle Anbindung sowie eine Gleichsetzung von Ich-Erzähler und Jungenfigur sehr subjektiv: Es sind „ganz klar gezeigt[e] Schrecklichkeiten und Grausamkeiten“ (A 92), nach denen der Junge im Vordergrund bewusst Ausschau hält, wohingegen über den Hintergrund der ‚Collage III‘ weitestgehend „Ungewißheit“ herrscht. Die Antwort auf die Frage, was da eigentlich im Hintergrund aus welchem Grund geschieht, gibt Weiss erst mit der ‚Collage C‘, die er 1982 anfertigt.

Transmediale Inszenierungen im Werk von Peter Weiss. Hg. von Margit Bircken/Dieter Mersch/Hans-Christian Stillmark. Bielefeld 2009, S. 69-126) „Bilder und Beschreibungen des Schmerzes“ (ebd., S. 69) und geht der Frage nach, wie „Weiss das Gemälde in seinen Roman [übersetzt].“ (ders., S. 73).

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‚Collage C‘: Von persönlichen und politischen Katastrophen Die ‚Collage C‘ aus dem Jahr 1982 ist eine düster wirkende Landschaftsdarstellung: Weiss collagiert eine dämmrige Szenerie an einem Strand. Das dunkle aufgewühlte Meer bildet die vertikale Mitte des Bildes. Im oberen Teil der Collage ist ein dunkler Himmel zu erkennen. Ein großer, runder, gänzlich schwarzer Himmelskörper, der umgeben ist von einem hell leuchtenden Schein, ist das Element in diesem oberen Bildbereich, das am meisten heraussticht. Abbildung 20: ‚Collage C‘, 1982

Quelle: Peter Weiss: Fluchtpunkt. Roman. Mit vier Collagen von Peter Weiss. Frankfurt a. M. 1983, S. 159.

Offensichtlich handelt es sich um die Darstellung einer totalen Sonnenfinsternis mit deutlicher Sonnenkorona. Um die dunkle Sonne herum muten einige hellere Elemente wie vereinzelte Wolken an, die wie Dunst am Himmel zu wabern scheinen. Die verdunkelte Sonne wirft einen leichten Schein, der an den Seiten klar begrenzt ist, in einem steilen und nur leicht nach rechts geneigten Winkel über die aufgewühlte See. Folgt der Betrachter dem Strahl, erblickt er am äußeren rechten Rand der Collage den hellen Schein einer zweiten, am Horizont aufoder untergehenden Sonne. Während der obere Bildbereich großflächig mit einigen wenigen, aber gleichwohl eindrucksvoll wirkenden Bildelementen arrangiert wurde, ist der untere Bildteil deutlich detaillierter ausgearbeitet. Das Motiv der Apokalypse, das mit der Darstellung der Sonnenfinsternis im oberen Teil beina-

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he unumstößlich mitschwingt, findet im unteren Teil der dargestellten Szene dann auch tatsächlich seine Entsprechung. Auf dem Boden liegen insgesamt dreizehn Menschen; bis auf einige wenige scheinen alle tot. Aus einem Erdloch greift rechts mittig im Bild eine leuchtend weiße Hand heraus, die durch das helle Weiß in starkem Kontrast zur ansonsten durchgängigen dunklen Farbgebung der ‚Collage C‘ auffällt. Das umfassende Dunkel der Collage schafft eine intensiv düstere, gar finstere Wirkung, die durch bewusst eingesetzte Schwarz-Weiß-Kontraste noch intensiviert wird. Auch zwei Leichen – eine von ihnen mit blutiger, klaffender Fleischwunde in der Brust – sind relativ hell, als ob sie im Licht der Sonnenkorona gespensterhaft leuchten. Gesäumt wird der untere Bildausschnitt im rechten Bereich von einer Palme, die mit ihren Wedeln in das Bild hineinragt; links begrenzt eine Überdachung den unteren Collagebereich, der aus Schilf gefertigt zu sein scheint. Unter diesem ‚Schilfdach‘ befinden sich zwei Menschen: Einer liegt, vollständig bekleidet, aber barfuß, mit dem Rücken zum Betrachter. Sein Kopf ruht auf den Armen. Ob er tot ist oder lediglich schläft, lässt sich nicht feststellen. Neben dem Liegenden sitzt ein Mann mit gehetztem, ängstlich panischem Gesichtsausdruck. Er hat beide Beine lang ausgestreckt, das rechte ist angehoben und wie zum Tritt ausholend leicht angewinkelt. Die Figur hat den linken Arm ausgestreckt, als ob sie etwas greifen oder abwehren möchte. Nah vor dem die Hand ausstreckenden Mann fliegt eine große schwarze Fledermaus, die in Kombination mit der beschriebenen düsteren Farbgestaltung und daraus resultierenden unheimlichen Wirkung der Collage von Weiss stark an Goya erinnert.159 Möglicherweise streckt der Mann die Hand nach der Fledermaus aus, oder er will sie mit Hand und Fuß vertreiben oder sich vor ihrem steilen Anflug schützen. Neben dieser Fledermaus gibt es noch fünf weitere, die die Szene am Strand überfliegen. Aufgrund der Kleinteiligkeit und der geringen Größe kann nicht genau festgestellt werden, ob das Tier, das auf dem Oberschenkel einer weiteren Figur in der rechten unteren Bildecke sitzt, eine siebte Fledermaus ist. Die Figur, auf der das fledermausähnliche Wesen sitzt, das in Richtung des Bildbetrachters blickt, ist ein Mann, der in halbsitzender Position das linke Bein aufgestellt hat; der Kopf ist rückwärts geneigt und das Gesicht nach oben gewandt. Die Augen des Mannes sind geschlossen, der Mund ist geöffnet. Der Körper der Figur ist zur Hälfte mit Tüchern verhüllt. Der Oberkörper ist ab Höhe des Bauchnabels unbedeckt, und die rechte Hand liegt leicht abgestützt auf seinem Bauch. Die insgesamt schlaffe, kraftlos wirkende Haltung und

159 Francisco de Goya: ‚Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer‘, Radierung, um 1797-1799.

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das Gesicht mit dem geöffneten Mund und den geschlossenen Augen sprechen tendenziell eher für die Darstellung einer Leiche, doch wiederum ist nicht zu sagen, ob die Figur wirklich tot oder doch (noch) lebendig ist. Hinter der Figur auf dem Boden liegen eine Flinte oder ein Gewehr mit Schulterriemen. Auf dem Lauf liegt ein Hut mit Krempe; der Lauf des Gewehres zeigt in Richtung der halbsitzenden leblosen Figur rechts unten. Der Kolben liegt direkt an dem Loch im Boden, aus dem die geisterhaft weiße Hand ragt. Rechts neben dem Gewehr liegt ein gefüllter rundlicher Beutel, der oben mit einem Band verschlossen wurde. Er erinnert an einen Beutel für einen Wanderer, könnte als Jagdtasche aber auch zur Ausstattung eines Jägers gehören, was wiederum zu Gewehr und Hut passen würde. Oder aber der Beutel gehört einer weiteren Figur, die rechts neben dem Loch im Boden liegt. Diese Figur ist vollständig bekleidet und liegt flach auf dem Bauch, die Arme unter den Kopf gelegt. Die Beine und Füße der Figur sind unter einer Decke verborgen und ragen bis an den Rand des Loches. Ob schlafend oder tot – erneut kann keine eindeutige Aussage getroffen werden. Was aber mit jeder erschlafften, verwundeten, tatsächlich toten oder apathischen Figur deutlich wird, ist die unfassbare Trost- und Hoffnungslosigkeit, die die Collage auf ganz eindringliche Art und Weise vermittelt, ganz so, wie es in der Offenbarung des Johannes heißt: „Und ich sah, daß es das sechste Siegel auftat, und siehe, da ward ein großes Erdbeben, und die Sonne ward schwarz […], der Mond ward wie Blut; und die Sterne des Himmels fielen […].“160 Ähnlich wie hier beschrieben, zeigt sich die „Sonne“ auf Weiss’ Collage „schwarz“, und am „Himmel“ sind keine „Sterne“ zu sehen. Die Fledermaus als „Dämmerungsund Nachttier“161 und als „Inkarnation des Teufels“162 unterstreicht diese Deutung. Da helfen auch die Zeichen der Heilsgeschichte, die mit in die Katastrophe hineingezogen werden, zunächst wenig: Die Palme als „Zeichen für den ewigen Sieg Christi und seiner hll. Zeugen, die auch nach der Apokalypse des Johannes Palmzweige in den Händen halten“,163 ragt nur am Rande ins Bild. Unter diesem Blickwinkel ist es aber möglich, dass der Mann, der die Hand ausstreckt, nicht etwa etwas oder jemanden abwehren möchte, sondern gen Palmwedel zeigt oder sich neigt, um, sinnbildlich gesprochen, nach der Hoffnung zu greifen. 164

160 Die Offenbarung des Johannes 6,12.13. 161 Gerd Heinz-Mohr: Lexikon der Symbole. Bilder und Zeichen der christlichen Kunst. Freiburg 2000, S. 110. 162 Ebd. 163 Seibert, Herders Lexikon, S. 243. 164 Weiss Beschäftigung mit dem Motiv des Ufers (und damit einhergehend mit dem Motiv des Wassers und des Schiffbruchs) beginnt schon, wie zuvor bereits bespro-

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Auch bei dieser Collage gibt es anschauliche Hinweise auf eine Anlehnung an Géricaults ‚Floß der Medusa‘. Nicht nur bilden die Körper, die den unteren Bildrand säumen, eine ähnliche kompositorische Stütze wie bei Géricault. Auch die unter dem Schilfdach sitzende Figur auf der ‚Collage C‘, die den linken Arm ausstreckt, als ob sie etwas greifen (die Hoffnung?) oder abwehren (die Fledermaus als Zeichen der Apokalypse?) möchte, erinnert durch diese Geste an Weiss’ paradigmatisches Vorbild, denn gleich mehrere von dessen Figuren strecken in ähnlicher Manier ihre Hände aus. In Géricaults ‚Floß der Medusa‘ gibt es zwei Gruppen von Überlebenden: Diejenigen, die „aus ihrer psychisch gefestigten Haltung der Todeserwartung erwachen und sich ‚zu einem Keil […] gegen die Welt der Vernichtung‘ formieren“,165 und diejenigen, die „von einer Rettung völlig unberührt“166 bleiben. Grundsätzlich gibt es große Ähnlichkeiten zwischen den beiden Bildern in den Figuren, in der Bildeinteilung, in der generellen Motivik und in der Wirkung. Durch die Geste und die Bewegung von Hand und Fuß erscheint die Weiss’sche Figur angelehnt an die Gruppe der Hoffenden bei Géricault. In der ‚Ästhetik des Widerstands‘ gibt es am Ende des ersten Bandes und zu Beginn des zweiten Bandes eine ausführliche „Géricault-Erzählung […]. Es handelt sich um die minutiöse Nacherzählung dieser Geschichte […].“167 Die Beschreibungen zum ‚Floß der Medusa‘ in der ‚Ästhetik des Widerstands‘ sind „[m]it solcher Greifbarkeit […] geschildert, daß der Lesende sich mitten zwischen den Gestrandeten dünkte“168 – exakt so, wie der Sehende sich mitten in das Geschehen des Bildes von Géricault wie auch in die ‚Collage III‘ von Weiss hineinversetzt fühlt. Denn „[d]adurch, dass Weiss Géricaults Gemälde ‚Das Floß der Medusa‘ [in der ‚Ästhetik des Widerstands; H. K.] ausführlich beschreibt und erläutert, es

chen, in früher Kindheit. Sie zeigt sich nicht nur in (Verbindung mit) Literatur, sondern auch autonom, zum Beispiel mit dem Bild ‚Am Strand I‘, das vom Motiv her wie eine Vorstudie zu Teilen der ‚Collage C‘ wirkt. Schmolke leitet über das Motiv der „physischen Geburt“ (vgl. Schmolke, Das fortwährende Wirken, S. 95-104, hier S. 98) den positiv konnotierten Standort am Ufer in Verbindung mit dem Motiv der (Wieder)Geburt her: „Am Rand des Teichs hatte meine Mutter mich gefunden, zwischen Schilf […].“ (A 63). 165 Anja Schnabel: Stillgestellte Todes-Augenblicke bei Peter Weiss. In: PWJ 14 123138, hier 127. 166 Ebd. 167 Dieterle, Erzählte Bilder, S. 144. 168 Weiss, Ästhetik des Widerstands, Band 2, S. 11 (zitiert nach Dieterle, Ebd., S. 144145).

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gewissermaßen erzählend nachzeichnet, lässt er es vor dem […] Auge des Lesers neu entstehen.“169 Die ‚Collage III‘ und die ‚Collage C‘‚ entstanden zeitnah nach der abgeschlossenen Arbeit an der ‚Ästhetik des Widerstands‘, und Themen und Motive daraus wirken hier ganz offensichtlich noch stark nach. Denn „[a]nalog zu der bereits […] erläuterten Meer- und Schiffsmetaphorik versinnbildlicht die Gestalt des Schiffbrüchigen aktuelles Zeitgeschehen und politische Gefährdung. Für die Gegenwart des Ich-Erzählers, also September 1938, bedeutet dies konkret den durch Nazideutschland evozierten europäischen Zusammenbruch sowie den drohenden Zweiten Weltkrieg.“170 Gemeint ist hier zwar der Ich-Erzähler aus der ‚Ästhetik des Widerstands‘, Gleiches gilt aber nicht weniger für den Ich-Erzähler in ‚Abschied von den Eltern‘ und für die hier besprochenen bildlichen Äquivalente. Und durch die hier gezeigten Zusammenhänge zwischen den frühesten bildkünstlerischen Arbeiten von Peter Weiss, seinen bedeutungsvollen Collagen, seiner monumentalen ‚Ästhetik des Widerstands‘ und einer der drei späten Collagen als letzte Arbeit überhaupt sowie durch die stringente transmediale Orientierung an bestimmten paradigmatischen Vorbildern, kommt man über diesen ‚Umweg‘ zu einem Typ Collage, der innerhalb der Collagereihe zu ‚Abschied von den Eltern‘ eine besondere Rolle einnimmt. Mit der ‚Collage C‘ wird die Anbindung an ein weiteres zentrales Werk von Weiss, nämlich an die ‚Ästhetik des Widerstands‘, nachweisbar. Dadurch ergeben sich neue Deutungsmöglichkeiten, weg von der bisher sehr stark persönlichen, autobiographischen Spur hin zu einem bildlichen Verweis auf sein gesamtes Lebenswerk, dessen später Teil viel mehr politisch gefärbt ist, als es noch die 1962 hergestellten Collagen sind. Es ist also schlüssig, dass die ‚Collage C‘ auf die Apokalypse anspielt und die große Katastrophe des 20. Jahrhunderts, den Zweiten Weltkrieg, meint. Denn seit jeher waren „[i]n Zeiten, in denen man aufgrund von politischen […] Wirren […] den Weltuntergang erwartete, […] die Visionen des Johannes besonders aktuell und fanden vermehrt bildliche Darstellung.“171 Anhand der ‚Collage C‘ lässt sich der lebenslange und werkübergreifende Medienwechsel bei gleichzeitiger Beibehaltung des Motivs anschaulich verdeutlichen: von ersten Bildern (Kinderzeichnungen) zum Text (‚Abschied von den Eltern‘), zum Bild (Collagereihe zu ‚Abschied‘), zum erzählten Bild im Erzähltext (‚Ästhetik des Widerstands‘), letztlich zurück zum Bild (die drei letzten Col-

169 Schnabel, Todesvorstellungen und Todesdarstellungen, Anmerkung 480, S. 404. 170 Ebd., Anmerkung 485, S. 406. 171 Seibert, Herders Lexikon, S. 27.

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lagen). Nachvollziehbar wird ein „Verstehens- oder Aneignungsprozeß“,172 also ein „Werdegang“173 wie bei einem Bildungsroman. Zudem setzt Weiss verschiedene Situationen parallel und wechselt die Perspektiven und die Zeit- und Handlungsebenen. Mit der Bezugnahme auf Géricault sieht auch Bernard Dieterle bei Weiss „eine doppelte Aufhebung der historischen Distanz […]: Zum einen versetzt die […] Reproduktion […] den Betrachter in die Lage derer, die sich […] im Louvre im Jahre 1819 […] etwas von der Authentizität des Bildes zu entziffern [bemühten]; zum anderen wird das Abgebildete auf die vom Erzähler und seinen Kampfgefährten erlebte Situation eines historischen Zusammenbruchs bezogen […]: ‚So wie wir es selbst taten, hoben sich die gemalten Figuren von der Vernichtung ab, lagen, knieten, krochen über Berge von Leichen.‘ Das Gemälde wird allegorisch ausgelegt […], allein aus dem Blickwinkel einer evolutionären Weltanschauung betrachtet. So läßt Géricaults winkender Afrikaner, vielleicht zum Verkauf als Sklave auf die Medusa verladen […], den Gedanken aufkommen an die Befreiung der Unterdrückten. Hier deutet sich schon an, daß für Peter Weiss der von Géricualt gewählte Augenblick mit demjenigen zusammenfällt, den er in seiner Lessing-Rede Laokoons älterem Sohn zugewiesen hat. Am äußersten Punkt der Verzweiflung, im Augenblick vor der vollkommenen Vernichtung zeigt sich der Künstler anhand einer Gestalt, die aus der tödlichen Resignation herausbricht, ein Hoffnungsfanal, eine pa174

thetische Geste der Mitteilung […].“

Fast alle Collagen zeigen, wie eingangs bereits angeführt, in starken pathetischen Gesten Motive des Schmerzes. Weiss differenziert die Funktion der Medien Wort und Bild: „Bilder begnügen sich mit Schmerz. Worte wollen vom Ursprung des Schmerzes wissen.“ (L 182) Und auch in den ‚Notizbüchern‘ notiert Weiss, wie bereits beschrieben: „[…] die intellektuelle Tätigkeit der Wortverarbeitung contra emotionelle Hingabe an Bildsprache.“ (NB1 54) Die Gestik in den Collagen ist stark expressiv als Ausdruck von Schmerz, Angst, Verzweiflung und Ohnmachtsgefühlen. Die Worte sind das „Medium kritischer Reflexion“,175 wenn der Erzähler

172 Dieterle, Erzählte Bilder, S. 147. 173 Ebd. (Hervorhebung im Original). 174 ÄdW I 345, zitiert nach: Dieterle, Erzählte Bilder, S. 144 (Hervorhebung im Original). 175 Hofmann, Der ältere Sohn des Laokoon, PWJ 1 43.

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„über die bildliche und schriftliche Verarbeitung von Erfahrungen und Erlebnissen [artikuliert]. […] Dabei ergibt sich, daß Bilder als das geeignete Medium zur Artikulation und Darstellung von Schmerz angesehen werden, weil die Intensität des Ausdrucks durch keine kausale Einbindung und keine relativierende Reflexion über die Entstehungsbedingungen des Schmerzes geschmälert wird.“176

Die Collagen sind Bilder des Schmerzes, festgehaltene Augenblicke, erstarrt im Schmerz. In vielen Collagen findet man die expressive Gestik der Ich-Figuren als Ausdruck von Schmerz, Angst, Verzweiflung und Ohnmachtsgefühlen und die Ikonographie des Schreis.177 Dadurch verknüpft Weiss die bildliche Darstellung des Schreis mit dem literarischen Schrei des Laokoon und dessen Funktion als Selbstbehauptung im Prozess der Selbstfindung, wie Bernard Dieterle feststellt. Der Schrei referiert auf den Schrei des Laokoon und somit auf Weiss’ Laokoon-Paradigma bei Weiss und seine Medientheorie. Die Rolle des älteren Sohnes des Laokoon beschreibt Dieterle dabei folgendermaßen: „Die beiden [Laokoon und der jüngere Sohn; H. K.] hätten ‚ihre Stimme aufgegeben‘, während der ältere Sohn durch seine Gesten bekundet, ‚daß er des Sprechens, des Sichmitteilens noch fähig ist […]. Mit seiner nach außen gewandten Haltung gibt er seine Absicht kund, der Umschnürung zu entfliehen.“

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Der Schrei des Laokoon wird zum Schrei der Selbstbehauptung, um sodann in der Konfrontation mit den Bildern in einem Prozess der Selbstfindung über den Ich-Erzähler zur Figur des Kindes auf dem Dachboden zu werden. Beobachtend steht vorne der Junge mit dem Fernglas, den Blick vorausgerichtet, im Hintergrund die große Projektionsfläche seiner Kindheit. Weiss zeigt seinen Prozess der Selbstfindung und Selbstbehauptung und die Suche nach der Möglichkeit der eigenen ‚Rettung‘. Das Kind in der Collage sieht sich nicht nur der Drohung des „Rufes“ durch die Mutter ausgesetzt, son-

176 Ebd. 177 Dies wird nicht nur erkennbar anhand besagter Figur in der ‚Collage C‘, sondern auch in den Collagen ‚IV‘, ‚V‘ und ‚VII‘ zu ‚Abschied von den Eltern‘: an den starr ausgestreckten und erhobenen Armen der Ich-Figuren in den Collagen ‚IV‘ und ‚VII‘, und an der knienden Ich-Figur in der ‚Collage VII‘ und an der Ikonographie des Schreis in den Collagen ‚V‘, ‚VI‘ und ‚VII‘. Auch die Collagen ‚III‘, ‚IV‘ und ‚VI‘ zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ sind darunter zu fassen. 178 Dieterle, Erzählte Bilder, S. 142 (vgl. L 180).

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dern steht gar vor dem Zusammenbruch einer Welt, in der er sich schon immer als Außenseiter gefühlt hat. Das erklärt zum einen die isolierte Stellung, zum anderen die Abkehr von dem, was die Welt zerstört. Der Junge in der Collage verharrt in völliger Erstarrung, hinter sich den Untergang der Kultur. Die ‚Collage C‘ schafft ein später, politischer Peter Weiss, der er noch nicht war, als er ‚Abschied von den Eltern‘ schrieb und kurz drauf die ersten Bilder der zugehörigen Collagereihe anfertigte. Durch die ‚Collage C‘ äußert sich der Künstler Weiss, der nie politischer war als mit der ‚Ästhetik des Widerstands‘. Mit den Analogien zu Géricaults ‚Floß der Medusa‘ und zum Schrei des Laokoon über die pathetische Bildern des Schmerzes wirken Text und Collage „ein ‚gefährlicher Angriff […] auf die etablierte Gesellschaft‘“.179 Und dennoch ist das Politische hier insgesamt weniger wichtig, denn die Rückkehr zum Psychologischen, wie mir auch Gunilla Palmstierna-Weiss in unserem Gespräch bestätigte, bestimmt die wesentliche Funktion der ‚Collage C‘. Weiss beginnt hier den Bogen zu spannen für eine lebenslange und medial übergreifende Orientierung am ‚Floß der Medusa‘. Die Orientierung und Bezugnahme wird sein gesamtes Œuvre umfassen. Immer wieder verknüpft Weiss dabei auf unnachahmliche Weise sein Frühwerk mit den letzten Arbeiten vor seinem Tod. Als multimedialer Künstler greift Weiss ganz zuletzt noch einmal alle Motive auf, die er wieder und wieder in allen Medien bearbeitet hat. Das, was Weiss in der ‚Ästhetik des Widerstands‘ erzählend nachzeichnet, lässt er in den beiden Collagen ‚III‘ und ‚C‘ im Augenblick höchster Not und entsetzlichen Unheils erstarren. Das Holzboot in der ‚Collage III‘ gerät in Schräglage, und die tosenden Fluten vernichten und töten. Die ‚Collage C‘ kann als Fortsetzung oder (Nach-)Folge zur ‚Collage III‘ verstanden werden. Denn in beiden Bildern liegt letztlich sinnbildlich dieselbe Hoffnung, dass das Holzboot in der ‚Collage III‘ nicht kentert, und die Männer auf diesem Boot können vielleicht sogar noch andere Schiffbrüchige retten. Die Darstellung von Schiffbrüchigen und das Motiv des Schiffbruchs dienen als Reflexionsfläche für „allegorisch[e] (Wieder-)Geburten als Wegmarken im persönlichen Emanzipationsprozeß“,180 denn Weiss selbst schreibt: „Etwas stirbt immer, etwas wird geboren.“181 Das Wasser führt, um in der religiös konnotierten Metaphorik zu bleiben, über den Aspekt der Taufe zur Reinigung und Wiedergeburt und damit zu einem zentralen Zeichen der Hoffnung. Die Flut als

179 Ebd., S. 143. 180 Schmolke, Das fortwährende Wirken, S. 74. 181 Weiss, Traumprotokolle und -analysen, S. 91.

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„Symbol der göttl[ichen] Strafe […] und der bedrohten Ordnung“ 182 geht einher mit einem „Symbol der Gewalt und bedrohten Ordnung“ und einer „Ambivalenz von Neubeginn bzw. notwendiger Zerstörung und Furcht vor dem Verlust der Ordnung.“183 Um das wieder konkret auf den Text und die Collagen zurückzuführen, lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass der Abschied von den Eltern sich entsprechend dieser beschriebenen Ambivalenz vollzieht, und zwar in mehreren Schritten, wie auch Axel Schmolke es darstellt: „Der Abschied ist zunächst ein definitiver: der Tod der Eltern. Ihm geht mit dem Aufbruch aus dem Elternhaus ein weniger endgültiger voraus. Dieser äußere Abschied erweist sich indessen als Folge einer inneren Wandlung: als Abschied von den verinnerlichten Normen und Zwängen der Eltern, die freilich auch gesellschaftliche sind. Eine solche Loslösung aus dem Bannkreis der ‚Portalfiguren‘ bedeutet aber auch einen Abschied vom früheren Leben. Daher steht das Abschiedsmotiv als Todesmotiv auch metaphorisch für innere Vorgänge wie das Absterben des alten Ichs. Auf diese Weise ist die (Wieder) Geburt als Ankunft im neuen Leben mit dem Tod als Abschied aus dem alten oppositionell verknüpft. Doch hat sich dieser Abschied mit dem Verlassen des Elternhauses noch längst nicht endgültig vollzogen. Wie […] gezeigt, nimmt selbst noch das erzählende Ich Abschied von den Eltern, just mit Hilfe seines Erzählaktes. Dergestalt involviert das Kernmotiv noch die Narration und Schreibweise: es treibt die Erzählung und selbst noch den Erzählvorgang voran.“

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Erneut wird die Annahme bestätigt, dass Weiss durch die Herstellung der Collagen nachträglich und lebenslang Themen bearbeitet, wenn das Schreiben dazu nicht ausreicht. Die dadurch möglich gewordene eigene ‚Rettung‘ korreliert mit den beschriebenen ‚Zeichen der Hoffnung‘. Möglicherweise streckt der Mann unter dem Schilfdach auf der ‚Collage C‘ seine Hand tatsächlich gen Palme – und damit dem Zeichen der Heilsgeschichte, folglich der Rettung entgegen.

182 Carsten Würmann: Flut/Dammbruch. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hg. von Günter Butzer/Joachim Jacob. Stuttgart 22012, S. 129-130, hier S. 129. Vgl. auch die biblische Sintflut in Gen 6-8; 1. Mose 6ff. 183 Ebd. 184 Schmolke, Das fortwährende Wirken, S. 73.

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‚Collage VII‘: Schiffbruch und Sintflut In einer weiteren Collage aus der Reihe zu ‚Abschied von den Eltern‘, nämlich in der ‚Collage VII‘, arbeitet Weiss mit den Themen Wasser, Flut und Schiffbruch. Er ist mit dieser Darstellung wieder deutlich näher an seiner Autobiographie und den Vorgaben des Prätextes als beispielsweise mit der ‚Collage C‘. Abbildung 21: ‚Collage VII‘, 1962

Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: HZ 3385.8 „Die Bilder, die ich in der Bibel fand […] bildeten die Vorbereitungen zu neuen Visionen, die sich mit meinen zerstörerischen Spielen vermengten.“ (A 94)

Die ‚Collage VII‘ gliedert sich trotz ihrer homogenen Machart in ein Oben, eine Mitte und ein Unten, die einem klassischen Vorder-, Mittel- und Hintergrund nicht unähnlich sind. Das Bild ist nicht nur sehr homogen, sondern besonders

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auffällig ist der Detailreichtum, durch den das ganze Bild fast schon überladen wirkt. Die ‚Collage VII‘ ist ein Bild des Grauens und der Zerstörung: Sintflutartig reißen tosende Wassermassen Ufer und Brücken mit sich. Erstaunlicherweise ist ein Boot auf der linken Bildseite noch nicht gekentert. Gen Heck liegt ein Kind: der Körper verdreht, die ausgestreckten Arme krampfhaft erstarrt, die Augen geschlossen. Am Bug des Bootes sitzt ein in Ketten gelegter, gottähnlich inszenierter älterer Mann. Seine Haltung ist aufrecht, fast starr, und erinnert an eine Statue. Seine Hände sind im Schoß fest zusammengelegt. Er beobachtet traurig eine Szene auf der rechten Seite der Collage: Auf gleicher Höhe mit dem Boot ragt ein Steg in die tosenden Stromschnellen. Auf dem Steg liegen sich ein Mann und eine Frau in den Armen. Der Mann schaut energisch, während die Frau sich offensichtlich verzweifelt und ängstlich an den Mann klammert. Hinter den beiden Figuren ragen Flügel hervor. Es lässt sich nicht feststellen, zu wem die Flügel gehören: zu nur einer der Figuren oder zu beiden Figuren als verbindendes Element. Links neben dem Paar sieht man einen nackten Mann in leicht gebückter Haltung, der den Mann seitlich zu umfassen scheint. Diese Haltung kann sowohl unterstützend gemeint sein als auch schutzsuchend. Der Kopf des Nackten ist durch den einen Flügel verdeckt. Der Blick des Mannes geht in Richtung Bildvordergrund, also nach unten. Dort sieht man einen weiteren Mann in der Rückansicht, der sich kopfüber in die brausende Flut stürzt. Rechts neben ihm stürzt sich ein Tiger auf eine am Boden liegende Frau, was an Salvador Dalís ‚Traum, verursacht durch den Flug einer Biene um einen Granatapfel, eine Sekunde vor dem Aufwachen‘ erinnert.185 Links kämpft eine Dreiergruppe gegeneinander. Unterhalb des Stegs kniet in sich zusammengesunken ein Kind, anscheinend ein Junge. Er fasst sich mit seiner linken Hand an sein Auge, als ob er eine Träne wegwischt. Im oberen Bildbereich wirkt die Collage besonders durch farbliche Kontraste und sichtbare Schnittstellen weniger homogen. Die beiden Fragmente, die die Grundlage für den oberen Bereich bilden, zeigen ein Motiv auf zweierlei Art und Weise. Links auf einem beigen Element sieht man die Stille nach dem Sturm: Schiffe treiben in ruhiger werdenden Wellen, und der Himmel klart auf. Auf dieses Fragment, also in den Himmel, wurden fünf unregelmäßig ausgeschnittene, etwa gleich große Fragmente von ganz ähnlicher Farbe geklebt. Alle zeigen menschliche Knochen. Rechts, in einem schwarz-weißen Fragment, tobt noch ein Sturm, und Blitze treffen auf havarierte oder gekenterte Schiffe. Der Küsten-

185 Salvador Dalí: Traum, verursacht durch den Flug einer Biene um einen Granatapfel, eine Sekunde vor dem Aufwachen, Öl auf Holz 1944.

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streifen im rechten Element scheint zerstört. Dieses Element schließt sich durch die gleiche Farbgestaltung sowie ähnliche Motivik und Machart einheitlicher an den unteren Teil der Collage an. Drei weitere Bildbereiche stechen aufgrund farblicher Kontraste aus dem einheitlichen Schwarz-Weiß heraus: das Boot mit dem liegenden Kind (der mit im Boot sitzende Mann ist schwarz-weiß), das Kind am rechten Bildrand und der Tiger in der rechten unteren Bildecke. Die Herleitung der Herkunft der Wassermetapher führt den Rezipienten wieder nah an die hermeneutische Spur: „Wir wohnten in einer Gegend gleich am Hafen, am Weserdeich, und die frühen Eindrücke dieser Industriegebiete, […] Hafenkais, Schiffe, das Tuten von den Sirenen, diese ganzen atmosphärischen Ereignisse einer Hafenstadt waren grundlegend, sie wurden während der ersten Jahre sehr stark […] aufgenommen und kam[en] dann in den visuellen Eindrücken der ersten Bilder wieder vor: die Szenerien stammten ursprünglich aus Bremen.“ (MPW 11)

Auch über die durch Farbakzente gesetzte Betonung des Kindes gelingt die Anbindung an den Ich-Erzähler von ‚Abschied von den Eltern‘, da ein Junge als zentrale Figur in üblicher Manier leitmotivisch in der Collage eingesetzt wird: „Ich schilderte Jaques meine Visionen von apokalyptischen Landschaften mit Feuersbrünsten, fliehenden Tieren, Ertrinkenden und vergehenden Städten, meine Visionen von Gekreuzigten und Gegeißelten, von schrecklichen Fratzen und verführerischen Frauengesichtern.“ (A 118-119) Die „Ertrinkenden“ könnten durch die reglosen Figuren im Bild dargestellt sein: die Frau unter dem Tiger, das Kind im Boot, vielleicht auch diejenige Figur aus der kämpfenden Dreiergruppe, die ohnmächtig oder tot rücklings auf einer Bank liegt. Doch bei genauerem Hinsehen scheint keine der Figuren tatsächlich ertrunken zu sein: Es ist wahrscheinlicher, dass das Kind mit dem Kopf auf das Boot aufgeschlagen ist, als eine Flutwelle das Boot durchrüttelte; die Frau wurde eher vom Tiger getötet, und der Mann aus der Dreiergruppe wurde dem Anschein nach von der Figur über ihm erwürgt. Eine weitere Differenz sind die im Text beschriebenen „Feuersbrünste“, die im Bild nicht zu sehen sind – dafür aber Blitze. Lediglich die „vergehenden Städte“ finden ihre Entsprechung in den durch die Fluten zerstörten Uferbereichen. Die Motive der Collage können also erneut autobiographisch hergeleitet und gedeutet werden: „[D]a lagen die Schiffe im Hafen“ (A 69), schreibt der IchErzähler – und das bezieht sich nach dem gleichen Muster wie bei der ‚Collage III‘ auch auf die Kindheit des Autors. Die bildliche Darstellung „große[r] Schlachten“ (A 80) und der „Visionen meiner untergehenden Welt“ (A 80) erin-

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nert mit dem zentralen Motiv des Wassers und der Flut an die mit der ‚Collage III‘ thematisierten Kriegsspiele auf dem Dachboden.186 Weiss variiert das Thema in der ‚Collage VII‘: „Nach jedem Orkan der Vernichtung […] betrachtete ich eingehend von allen Seiten die entstandenen Situationen […], sah Soldaten in grausamem Ringkampf übereinanderliegen […].“ (A 80) Die „Situationen“ sind Weltuntergangsphantasien, „riesenhaft[e] Alpträume, in denen Menschen in stählernen Schiffen aufeinander losschossen, entweder über dem Wasser, […] oder unterm Wasser […].“ (KJ 110) Mit den „in grausamen Ringkampf [übereinanderliegenden Soldaten]“ kann die in der linken unteren Bildecke kämpfende Dreiergruppe gemeint sein. Eine weitere Textstelle, die sich auf den Themenbereich des Krieges bezieht, ist die Beschreibung, wie sich der junge Ich-Erzähler in einer Situation fühlt, in der er ein „Bild der indischen Gefangenen sah, von Soldaten vor Kanonenmündungen gebunden“: Er „fühlte etwas von dem unfaßbaren Grauen“ (A 94). Und das Gefühl des „unfaßbaren Grauen[s]“ bewirkt auch die ‚Collage VII‘ mit ihren Darstellungen von Zerstörung und Gewalttätigkeit, Trauer, Verzweiflung und Hilflosigkeit. Explizite Kriegsszenen werden zwar, anders als in der ‚Erzählung‘, in dieser Collage nicht gezeigt, sind wohl aber gemeint: „Wäre ich nicht plötzlich vor eine einschneidende Veränderung gestellt worden, so wäre ich von der Flut der Kolonnen mitgerissen worden in meinem Untergang.“ (A 97) Weiss meint die Zeit der Machtübernahme Hitlers und den Zweiten Weltkrieg und stellt die „Flut der Kolonnen“ in der ‚Collage VII‘ symbolisch mit dem Motiv der Flut dar. Neben der Flucht ins Exil kommt eine zweite persönliche Katstrophe ins Bild: der Tod der Schwester Margit: 187 Nach dem Unfalltod, so beschreibt es der Ich-Erzähler, „gab [es] kein nachhause mehr. Die Fahrt ins Ungewisse hatte begonnen. Wie Schiffbrüchige in einem Boot trieben wir durch das sanft rauschende Meer der Stadt.“ (K 101) Und tatsächlich gibt es im Bild eine Entsprechung: Der Junge, der reglos im Boot liegt, meint zum einen den Tod der Schwester, zum anderen die Hilflosigkeit der Geschwister nach Margits Tod. Im Bild sind ebenso alle „Schiffsmodelle“ (A 66) zerstört, die im Text kurz zuvor noch bewundernd beschrieben werden: „Hinter den rötlich glänzenden Scheiben erkenne ich geschnitzte Göttergestalten und kunstvolle Schiffsmodelle, Schreine mit ziselierten, silbernen Schlössern, Kästchen mit Muscheln und Perlen besetzt.“ (A 66) Weiss bleibt mit den „Muscheln“ und „Perlen“ ganz im Mo-

186 Vgl. Kapitel ‚‚Collage III‘: Schiffbruch im Dachboden‘, S. 242ff. 187 Vgl. dazu die Kapitel 2.1.1 ‚Peter Weiss als Künstler verschiedener Medien‘, S. 29ff., 2.2.1 ‚Das bildkünstlerische Werk‘, S. 52ff., und ‚‚‚Collage IV‘ und ‚Collage A‘: ‚Lebensgeschichtlicher Innenraum‘‘, S. 201ff.

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tivkreis Wasser – Flut – Schiffe. Er zeigt aber zerstörte „Schiffsmodelle“ und gesteht schönen, harmlosen Dingen wie „Muscheln“ oder „Perlen“ keinen Raum im Bild zu. Der Fokus liegt auf gewalttätigen, verheerenden Szenen. Ein Grund dafür liegt in einer der Funktionen der Collage, dem Verweis auf die persönlichen Katastrophen des Ich-Erzählers – und damit auf denen von Weiss selbst. Nicht allzu häufig gibt es, wie bis hierher deutlich wurde, präzise bildliche Entsprechungen der textuellen Vorgaben. Auch über Formulierungen wie „apokalyptische Landschaften“, „Visionen“ oder „Gekreuzigt[e]“ schwingen weitere freie, assoziative Verweise mit: Auch auf die Textstellen, aus denen diese Formulierungen hier beispielhaft herangezogen wurden, bezieht sich die ‚Collage VII‘. Und da in den Textstellen nicht zu überlesende biblische Anklänge mitschwingen, findet die Darstellung eines visionären „Inferno[s]“ (A 95) eine bildliche Entsprechung in der Gesamtansicht der Collage, die sich nah am Text orientiert: „Die Bilder die ich in der Bibel fand, alle diese Bilder von Verfolgungen und Torturen, von Ausbeutungen, Brandschatzungen und Morden, von Verleumdungen und Bußen, bildeten die Vorbereitungen zu neuen Visionen, die sich mit meinen zerstörerischen Spielen vermengten. Ich las von stählernen Kriegsschiffen, die von Granaten zerfetzt wurden, von Torpedos, die aus dem Unterseeboot […] auf die feindliche Bordwand zusteuerten, einen verräterischen Schaumstreifen auf der Wasseroberfläche hinterlassend, ich las von blutigen Leibern der Verwundeten, […] von Truppen, die […] hervorstürmten, um einander beim Nahkampf […] zu zerfleischen […].“ (A 94)

Die Collage vereint vorgefundene Bilder, Leseerfahrungen und Träume des IchErzählers. Alle drei Quellen einen gewalttätige, zerstörerische Bilder und Motive, die sich in der ‚Collage VII‘ summieren. Religiöse Bezüge sieht auch Anja Schnabel, und zwar in der Darstellung eines Engels und der „Göttergestal[t]“ in Ketten.188 Der ‚Gott‘ sitzt wie erstarrt und dem Schicksal ergeben oder unbetei-

188 Schnabel, Todesvorstellungen und Todesdarstellungen, S. 71. Schnabel erarbeitet einen ausführlichen Vergleich von Weiss’ ‚Das große Welttheater‘ mit seinen paradigmatischen Vorbildern wie ‚Das Floß der Medusa‘ von Géricault oder ‚Das Jüngste Gericht‘ von Hieronymus Bosch. Dabei nimmt sie auch die Collagen von Weiss in den Blick und zeigt ikonographische Zusammenhänge zwischen einzelnen Collagen und anderen Werken, darunter ‚Das große Welttheater‘. So verweist sie exemplarisch auf eine Dreiergruppe, wie sie u. a. in den Collagen ‚IV‘ und ‚VII‘ der ‚Abschied‘-Reihe vorkommt. Diese Dreiergruppe, so zeigt Schnabel, gibt es bereits im ‚Welttheater‘. Auch Frauengestalten, die an Rembrandt erinnern, finden sich mit

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ligt inmitten der Fluten, als sei er gelähmt durch das „Gefühl der Ohnmacht […] angesichts der todesdrohenden Erhabenheit der Wassermassen“. 189 Auch sieht Schnabel eine Hommage an die Schwester in der Figur des weinenden Knaben, ein Selbstbildnis des Autors, der Frau am Boden und den Engelsflügeln. 190 In dieser speziellen Kontextualisierung könnten mit dem Paar auf dem Steg die Eltern von Peter Weiss gemeint sein. Sicher ist: „Die im Jahre 1937 [in ‚Das große Welttheater‘; H. K.] skizzierten, zum Teil aufgrund persönlicher Erfahrungen entstandenen Bildmotive […] kristallisieren sich in den folgenden Jahren zu eigenen Themenkomplexen heraus.“191 In dem frühen Bild von 1937 sieht Schnabel „bereits keimhaft enthalten“, was „bis zu seinem Lebensende künstlerisch motivierend[e] Stoffe“ sein werden.192 Und während in ‚Das große Welttheater‘ die zentrale Figur des Jungen den Blick noch zum Betrachter wendet, so Schnabel weiter, hat sich hier eine Entwicklung vollzogen: Völlig in sich gekehrt, die ganz private Apokalypse über sich ergehen lassend und offen trauernd, gibt es kein „schmerzhaftes Abwenden“193 wie noch im Bild ‚Das große Welttheater‘ von 1937. Hier agiert aber noch nicht der politische Peter Weiss, wie beispielsweise in der ‚Collage C‘: „Er moralisiert nicht […], will dem Leser zwar das Grauenhafte vor Augen führen, ihn aber weder warnen noch zu sinnvoller Lebensgestaltung anregen. Weiss’ Interesse ist rein individualistischer Natur. Die eigene Angst soll verarbeitet, nicht die Gesellschaft belehrt werden.“194 Damit kommt man wieder auf die autobiographischen Bezüge zurück. Ein weiterer Bezug ist die Beschreibung der „Gardinen“ (A 101) in seinem Eltern-

„Madonnafiguren“ (S. 71) im ‚Welttheater‘ und in der ‚Collage VII‘, hier gestürzt durch den Tiger. Schnabels Ausführungen sind ausgerichtet auf ihre These, dass „[d]er Verlust der Schwester […] bei ihm [Weiss; H. K.] eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod [evoziert].“ (S. 67) Schnabel nimmt stringent Bezug auf das Todesmotiv mit dem „Charakteristikum des stillgestellten Todes-Augenblicks“, einer Todeserwartung und einem „zeitlose[n] Kontinuum unendlicher Todesqualen“ (dies., Stillgestellte Todes-Augenblicke bei Peter Weiss, PWJ 14 123). Schnabel spricht von einer Faszination der Ambivalenz zwischen der „lustvollen Darstellung des Schrecklichen“ und der „traumatischen Erfahrung des Todes“ (dies., Todesvorstellungen und Todesdarstellungen, S. 54). 189 Gretz, Wasser, S. 475. 190 Vgl. Schnabel, Todesvorstellungen und Todesdarstellungen, S. 66ff. 191 Ebd., S. 80. 192 Vgl. ebd., Anm. 200, S. 80. 193 Ebd., S. 67. 194 Ebd., S. 55.

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haus über ein nun bekanntes Motiv: Sie sehen aus „wie dunkle Segel“ (A 101). An anderer Stelle beschreibt er im gleichen Motivkreis, wie er „nur wie eine ferne, ewige Brandung […] noch die Forderungen der Welt [vernahm].“ (A 87) Mit den „Forderungen der Welt“ und über das mit der Mutterimago konnotierte „Grauen“ (A 81) stellt Weiss eine Verbindung zur Figur der Mutter und zu Frieda Weiss selbst her, wie sie bereits in den Untersuchungen zu ‚Collage III‘, ‚Collage IV‘ und ‚Collage VIII‘ nachgewiesen wurde.195 ‚Collage B‘: Das letzte Bild Die ‚Collage B‘ – eine der Collagen aus dem Jahr 1982 – gibt den Blick frei in eine Szenerie der Zerstörung: Fassaden ragen ruinenhaft im Hintergrund auf, überall scheint es zu rauchen und scheint Dampf aufzusteigen. Schutt und Geröll häufen sich am Boden. Ein Löwe streunt durch die fast menschenleere Kulisse. Es gibt nur zwei Figuren in dem Bild, die wie die letzten verzweifelten Überlebenden wirken – sofern sie denn noch leben. Denn zumindest die eine Figur, ein kleines Kind links unten im Bild, hängt erschlafft über einem Zaun und hat die Augen geschlossen. Als ob der Betrachter des Bildes in einem zerstörten Haus ohne Außenwand steht, blickt man auf die Momentaufnahme eines kürzlich zerstörten Straßenzuges. Die Szene wird von einer Glaskonstruktion überdacht, die aus mehreren einzelnen Fragmenten besteht. Metallstreben halten das teils halbrunde, teils gerade Dach. Im rechten oberen Teil der Collage ist ein Bereich nicht überdacht. Wie beschrieben, sind zwei Personen im Vordergrund am unteren Bildrand auszumachen: ein Kind links unten und ein junger Mann rechts. Das Kind – wahrscheinlich ein Junge – hängt, auf den Unterarmen abgestützt, über einem Zaun aus breiten, hölzernen Latten. Es hat die Augen geschlossen, beide Hände hängen schlaff herab, und der Kopf ruht auf seinem linken Arm.

195 Vgl. die Kapitel ‚‚Collage VIII‘ und ‚Collage II‘: Die Eltern‘, S. 178ff., ‚‚‚Collage IV‘ und ‚Collage A‘: ‚Lebensgeschichtlicher Innenraum‘‘, S. 201ff., und ‚‚Collage III‘: Schiffbruch im Dachboden‘, S. 242ff.

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Abbildung 22: ‚Collage B‘, 1982

Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: HZ 3385.9 „Mein äußeres Leben geht zum Teufel, um von innen umgebaut zu werden.“196

Der Junge hat lockige Haare, die nach rechts in ein Konglomerat aus schwarzweißen haarähnlichen Strukturen und beigefarbenen Stoffen übergehen, die über wellenähnliche und runde Formen miteinander verbunden scheinen. Dennoch sind die haarähnlichen Strukturen links und die Stoffe rechts durch eine deutlich erkennbare Schnittstelle und die unterschiedliche Farbgebung optisch voneinander abgetrennt. Die Stoffe wallen sich weiter nach rechts in Richtung junger Mann und legen sich fließend um seinen Oberkörper und die Beine. Ein Bein bleibt dabei unbedeckt und man sieht, dass der Jüngling eine schwarze Hose trägt, aber keine Schuhe oder Socken. Auch der Oberkörper ist unbekleidet. Er hat eine Hand zur Faust geschlossen und stützt seinen Kopf darauf ab. Der ande196 Weiss, Traumprotokolle und -analysen, S. 85.

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re Arm ist hinter seinem Rücken verschränkt. Durch Gestik und Mimik – er hat einen auffallend traurigen Gesichtsausdruck – wirkt die ganze Figur sehr leidend und nachdenklich. Im Hintergrund des Mannes ragen ruinenhafte Hauswände empor und verhindern eine Sicht auf das Dahinter. Ein Gewirr aus metallenem Schrott, Geröll und Schutt türmt sich vor den Resten der Häuserfronten. Links hinter dem Kind führt ein Weg in das Bild hinein. Dieser Bereich besteht aus mehreren einzelnen, rechteckigen Elementen aus unterschiedlichen Herkunftskontexten. Durch das direkte Neben- und Aneinander ergibt sich ein in sich geschlossenes Bild eines Weges. Am linken Bildrand sieht man einen Kamin. Geröllähnliche Strukturen scheinen Kaminfeuer und Rauch nachzuahmen. Umrahmt ist der Kamin mit einer reich verzierten, steinernen Umfassung. Darin eingelassen sind kleine Säulen, und auf dem Kaminsims kann man einen regalähnlichen Aufbau erkennen. Auf dem Kaminsims stehen drei abgetrennte Hände. Die Gesten erinnern an Zeichen der Gebärdensprache. Die erste Hand zeigt zwei, die mittlere drei und die hintere vier Finger. Aus dem ausgestreckten Zeige- und Mittelfinger der vorderen Hand steigt Rauch empor. Folgt man diesem, erblickt man eine Glühbirne oder Lampe, wie von einer nicht sichtbaren Decke in das Bild hängend. Das Leuchtmittel ist vor den zahlreichen Metallverstrebungen des Glasdaches kaum auszumachen. Den Kamin, das Dach, die Lampe und den Weg zusammengenommen, kann es sich hier auch um die Darstellung eines zerstörten Raumes im linken Bereich der Collage handeln. Der Weg erscheint dann nämlich eher wie der Fußboden eines Raumes, dessen Wände fehlen. Der Kamin erinnert in diesem Kontext stark an eine analoge Darstellung in der ‚Collage IV‘, die das Wohnzimmer des Ich-Erzählers und des Autors meint.197 Starke autobiographische Bezüge gibt es zudem mit dem Löwen, der am Ende des Raumes/Weges steht. Das Tier in diesem Bild steht seitlich zum Betrachter und blickt durch eine leichte Drehung des Kopfes in Richtung des Jünglings. Hinter dem Löwen erblickt man einen hochgewachsenen Baum mit schmaler Krone. Trotz Unschärfe sind noch weitere Bäume in diesem Bereich auszumachen. In ‚Fluchtpunkt‘, das als Fortsetzung zu ‚Abschied von den Eltern‘ gelesen werden kann, beschreibt der Ich-Erzähler seine „Suche nach Wegen [in Stockholm; H. K.], die wir damals […] gingen“ (F 159). Dabei „[stößt er] hier und da […] auf einen Torgang, einen Hof, eine Ufermauer, die wie fossile Reste im heutigen Stadtbild liegen.“ (F 159) Auch die Stadt auf der ‚Collage B‘ liegt in Ruinen; die bröckeligen, nackten Hauswände wirken wie die „fossile[n] Reste“,

197 Vgl. Kapitel ‚‚‚Collage IV‘ und ‚Collage A‘: ‚Lebensgeschichtlicher Innenraum‘‘, S. 201ff.

Text und Collage bei ‚Abschied von den Eltern‘ | 271

die der Ich-Erzähler vorfindet. Auch der „Torgang“ findet mit dem Glasdach und dem Weg in die Collage hinein seine Entsprechung links in der Collage. Der IchErzähler setzt mit der Beschreibung seiner Beobachtungen fort: „Ich gehe durch eine Stadt, in der ich seit zwanzig Jahren ansässig bin und an deren Entwicklung ich teilgenommen habe. Ich gehe durch den gesteigerten Verkehr, die aufgerissenen Straßen entlang, vorbei an den gläsernen Hochhäusern, im Lärm der Rammklötze und Preßluftbohrer, im Rasseln der Zementmischer. Vom Bahnhof aus blicke ich über die Neubauten, die Gerüste, die Überbrückungen und erweiterten Straßenzüge. […] Nur das eiserne Gerüst des Fahrstuhls […] steht noch wie ein altertümliches Denkmal vor den leuchtenden Blöcken der neuerrichteten Geschäftshäuser.“ (F 159)

Mit „einer Stadt“ ist Stockholm gemeint. Weiss beschreibt die Veränderungen im Stadtbild. Er benutzt auch in der zitierten Textstelle das bekannte Motiv des Bahnhofs. Im Bild findet sich aber keine bildliche Entsprechung (mehr). Auffällig ist, dass Weiss besonders den Abbruch bildlich umsetzt, während die im Text beschriebenen Neubauten in der Collage nicht gezeigt werden. Abriss und Umgestaltung als „Entwicklung“, an der Weiss selbst „teilgenommen ha[t]“, sind ihm wichtiger zu zeigen als die Darstellung des Endergebnisses. Denn mit der Darstellung des Abrisses meint er die Entwicklung des Ichs in gleich dreierlei Hinsicht: textuell, bildlich und, die ersten beiden Aspekte umfassend, autobiographisch. Das Ergebnis der Veränderungen ist folglich nicht relevant, denn sie selbst sind der eigentliche zentrale Punkt: „Und so wie im Innern der Stadt, unter riesigen Atemzügen, die engen Höfen und Gassen zersprengt werden und die Straßen […] Türme und Mauern niederreißen, […] dicke Staubwolken steigen auf und Wohnklötze wuchern […] und vermehren sich zu neuen einförmigen Klotzreihen […]. Eine Stadt des Fortschritts, […] sich selbst erneuernd, der Vernichtung des Krieges entgangen.“ (F 160)

Über den Hinweis, dass sich die Stadt und damit seine neue Heimat „selbst erneuert“ und der „Vernichtung des Krieges entgangen“ ist, gelingt wieder der Nachweis des autobiographischen Bezuges zu Weiss selbst. Eine weitere Verbindung zu Weiss’ Biographie gelingt über den Löwen. Denn der Löwe wird, wie an dieser Stelle summierend festgestellt werden kann, in der innerzyklischen Wiederholung der bildlichen Darstellung als ständiger Begleiter des IchErzählers und des (kindlichen) Autors inszeniert. Kind und Jüngling können auch hier mit dem Ich-Erzähler gleichgesetzt werden: „Befremdet sehe ich meine Erscheinung auf einem Bild, […] vor zwanzig Jahren aufgenommen […].“ (F

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159) Der Ich-Erzähler aus ‚Fluchtpunkt‘ und der Autor selbst blicken mit der ‚Collage B‘ noch einmal zurück, ähnlich wie es eben auch in und mit dem Text ‚Fluchtpunkt‘ geschieht. In der Collage sieht man den Ich-Erzähler zwei Mal: einmal als Kind, einmal als junger Mann. Gemeint sind damit zwei verschiedene Zeiten und Entwicklungsstadien: „Verschwunden sind diese altmodischen, lächerlich wirkenden Gestalten, die wir damals so selbstverständlich zur Schau trugen. Tausendfach verändert sind unsere Gedanken, Empfindungen, Erwägungen, […] zwanzig Jahre später, nicht mehr überprüfbar, denn der einzige Zeuge, der mich widerlegen könnte, mein damaliges Ich, ist verwittert […].“ (F 159)

Die beschriebene, auffällige Schnittstelle zwischen den beiden Figuren als Äquivalent der beiden Ichs markiert diesen zeitlichen Abstand und die ‚Veränderung‘. Die optisch verlängerten Haare des Kindes sehen aus wie „verwittert“. Und nimmt man werkübergreifend die Darstellung der dandyhaften Figur aus der ‚Collage I‘ hinzu, hat man das andere (zeitliche) Stadium des Ichs. Der Jüngling von ‚Collage I‘, der in seiner Gestik und lediglich halb bekleidet zu den „lächerlich wirkenden Gestalten“ gezählt werden könnte und dem jungen Mann auf der ‚Collage B‘ frappierend ähnelt, könnte folglich die gleiche Figur sein wie in der ‚Collage B‘, die Weiss rund zwanzig Jahre später und mit Rückblick auf das damalige Ich anfertigt. In der späten Collage steht die Figur nicht mehr so stolz auf seiner Bühne des Lebens, sondern starrt verzweifelt vor sich hin angesichts der Zerstörung um ihn herum. Und während es zur ‚Collage I‘ noch heißt: „Aber ich sehe: mein eigenes Theater […] hängt ja noch fest an dem bürgerlichen Palast,“198 ist hier eine große Veränderung eingetreten: Der „Palast“ ist nicht mehr erkennbar, alles ist zerstört. Auch das „Theater“ des Ich liegt in Schutt und Asche. Zu zwei verschiedenen Zeiten nimmt Weiss sich und das Ich im Bild unterschiedlich wahr: im ‚lebensgeschichtlichen Innenraum‘ auf der ‚Collage I‘ mehr mit dem Fokus bei und auf sich selbst, also in der Innensicht. Mit der ‚Collage B‘ lenkt er den Blick mehr auf das Außen und seine Umgebung. Letztere wirkt wie eine große Rückschau oder besser: Gesamtschau. Denn dieses Bild nimmt noch einmal die zentralen Bilder und Motive der gesamten Reihe auf und bündelt sie zu einem letzten, fulminanten Abschluss der Bilderreihe: die leitmotivisch eingesetzte Jungenfigur, inszeniert in einem theaterähnlichen Schauplatz, der Löwe als Wächter und als Symbol für Weiss’ Schwester Margit und deren

198 Weiss, Traumprotokolle und -analysen, S. 81.

Text und Collage bei ‚Abschied von den Eltern‘ | 273

Tod, das Glasdach stellvertretend für das Kontor des Vaters, die bildliche Darstellung des (zerstörten) Heims (hergeleitet über den Kamin im linken Bildbereich) und die Säulen, die Weiss auch in anderen Collagen verwendet. Er schafft so sichtbare Verbindungen zwischen Werken, die in ihrer Entstehungszeit weit auseinanderliegen. Mit der ‚Collage B‘ spannt Weiss noch einmal den Bogen zurück bis zu seinem Elternhaus, in dem er als Kind gelebt hat. Er beginnt also noch einmal ganz von vorne mit der Betrachtung der eigenen Biographie, berücksichtigt aber zugleich die neue (spätere) Sichtweise. Diesen Aspekt findet man auch im letzten Bild in einem Seitenwechsel: Der Kamin ist hier links im Bild, während er in der ‚Collage IV‘ noch auf der rechten Seite der Collage war. Die ‚Collage B‘ steht als Abschluss der Reihe sinnbildlich für mehrere Aspekte: den Prozess des Abschieds von den Eltern, die große Katastrophe des 20. Jahrhunderts und die persönlichen Schwierigkeiten sowohl im beruflichen Werdegang wie auch im Privaten: „Mein äußeres Leben geht zum Teufel, um von innen umgebaut zu werden.“199 Die Außenansicht einer zerstörten Stadt meint die Innensicht des Autors. Durch den Aufbau und vergleichbare Motive erinnert die ‚Collage B‘, wie beschrieben, stark an die ‚Collage I‘: Das jeweilige Entstehungsjahr mitgedacht, wirkt die ‚Collage B‘ wie das Nachher-Bild von ‚Collage I‘. Auf diese Weise entfernt sich der späte Künstler Weiss von ‚Abschied von den Eltern‘, indem er die ‚Collage B‘ primär an ‚Fluchtpunkt‘ anbindet; er inszeniert einen Abschluss oder Weitergang. Als letztes Bild der Reihe thematisiert es nachträglich Veränderung, indem es Entwicklung im Rückblick darstellt. Kurz nach der Herstellung der letzten drei Collagen stirbt Peter Weiss am 10. Mai 1982. Und so, wie Weiss mit der ‚Collage B‘ ein letztes Mal das Ich in einem theaterähnlichen Schauplatz inszeniert und mit dem letzten Bild den Fokus auf Veränderung lenkt, bleibt über nun vertraute Motivik eine letzte Textstelle anzubinden: „Der Bahnhof hinter dem Palast, wo sich mein Theater befand, der Bahnhof, der die Reise andeutet, die Veränderung. Auch den Tod.“ 200 Zwischenfazit Die Symbolisierung des Autobiographischen in ‚Collage III‘ und ‚Collage C‘ steht exemplarisch für die Moderne und für Weiss. Das Autobiographische ist das Medium des Schiffbruchs aller Utopien in der Moderne. Gestärkt wird diese Annahme zusätzlich, wenn man den Blick auf die gesamten Reihe zu ‚Abschied von den Eltern‘ richtet: Dadurch ergibt sich eine Verknüpfung mit der literari-

199 Ebd., S. 85. 200 Weiss, Traumprotokolle und -analysen, S. 91.

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schen und bildlichen Darstellung eines Jungen im Matrosenanzug in den Collagen ‚III‘ und ‚IV‘. Mit dem Motiv des Schiffbruchs nimmt Weiss ein traditionelles kunstgeschichtliches Motiv auf, und ein konkretes Gemälde aus diesem Genre dient Weiss als Vorbild für die ‚Collage III‘ sowie für zwei weitere Collagen: Théodore Géricaults ‚Das Floß der Medusa‘. Weitere tendenzielle Einflüsse von Goya und Füssli finden sich über die Thematisierung von Träumen, Visionen und Grauen in den Collagen wieder.201 Abermals wird die Annahme bestätigt, dass Weiss durch die Herstellung der Collagen Themen bearbeitet, wenn das Schreiben dazu nicht ausreicht. So ist die ‚Collage VII‘ in der Summe ein autobiographisch-subjektives Bild des persönlichen Grauens und der Zerstörung. Über das Motiv der Wiedergeburt richtet Weiss bildlich die Rettung als Möglichkeit des Neubeginns ein. Motivisch ähnlich arbeitet Weiss auch mit den drei nachträglich hergestellten Collagen. Mit diesen Bildern kehrt Weiss bildlich zurück zu seinen Anfängen um 1960, zum Psychologischen – und damit zum Autobiographisch-Subjektiven, auch wenn die ‚Collage C‘ als Ergebnis des späten Künstlers Weiss in Teilen eine sehr politische Arbeit ist. Als multimedialer Künstler greift Weiss auch ganz zuletzt noch einmal alle Motive auf, die er wieder und wieder in allen Medien bearbeitet hat. In der ‚Collage VII‘ vereinen sich vorgefundene Bilder, Leseerfahrungen und Träume des Ich-Erzählers. Alle drei Quellen eint eine motivische Gewalttätigkeit und Zerstörung, und es zeigt sich in der ‚Collage VII‘ ein visionäres „Inferno“ (A 95) mit autobiographischen Bezügen. Diese offenbaren sich ebenso in der Hommage an die Schwester, in der Darstellung der Eltern und im Selbstbildnis des Autors. Mit der ‚Collage B‘ spannt Weiss noch einmal den Bogen zurück bis zu seiner Kindheit, indem er das Elternhaus thematisiert, in dem er als Kind gelebt hat. Er beginnt also noch einmal ganz von vorne mit der Betrachtung der eigenen Biographie, berücksichtigt aber zugleich die neue (spätere) Sichtweise. Als letztes Bild der Reihe thematisiert es nachträglich Veränderung, indem es Entwicklung im Rückblick darstellt. Der späte Künstler Weiss entfernt sich von ‚Ab-

201 In diesem Zusammenhang sei auf den Aufsatz ‚Apokalypse und Utopie‘ von Wolfgang Braungart verwiesen. Braungart zieht u. a. Albrecht Dürer, Pieter Breughel, Lyonel Feininger und Hieronymus Bosch für seine Ausführungen heran (Apokalypse und Utopie. In: Poesie der Apokalypse. Hg. von Gerhard R. Kaiser. Würzburg 1991, S. 63-102, hier insbesondere S. 97-102). Diese Künstler sind, wie in Kapitel 2.1.1 ‚Peter Weiss als Künstler verschiedener Medien‘, S. 29ff., benannt, wesentliche Vorbilder für Peter Weiss.

Text und Collage bei ‚Abschied von den Eltern‘ | 275

schied von den Eltern‘, indem er die ‚Collage B‘ primär an ‚Fluchtpunkt‘ anbindet; er schafft einen Abschluss.

4.2.4 Das Text-Collage-Verhältnis bei ‚Abschied von den Eltern‘: Ein kurzes Resümee Die Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ können trotz der nachweisbaren sprachlichen Anbindung an den Prätext offener, das heißt assoziativer gedeutet werden. Die Collagen gehen über die Anbindung an das reine Textmaterial hinaus. Die Ambivalenz von enger Textgebundenheit und freiem Konstruktionsprinzip entsteht die besondere Ästhetik der Collagen. Wie in den einführenden Überlegungen schon vermutet, lässt sich nach den Analysen feststellen, dass zumindest teilweise intermediale Systemreferenzen vorliegen, also Bezugnahmen auf ein „semiotisches System“ oder auf „Subsysteme […], etwa bestimmte Genres oder Textsorten“.202 So dienen weitere Texte von Weiss als zusätzliche Prätexte. Diese Collagetypen weisen oft über den eigentlichen Bezugstext hinaus. Die Collagen zu ‚Abschied‘ werden vielfach an Stellen erforderlich, an denen Weiss an seine medialen Grenzen stößt und ein Medienwechsel notwendig wird. Die Bilder sind stark subjektiv-autobiographisch, und an den meisten Stellen können Ich-Erzähler, zentrale Jungenfigur und Autor gleichgesetzt werden. Alle Räume gleichen einem Theater, oder eher: einer Guckkastenbühne; autobiographische Details finden sich als (Teile der) Kulissen wieder. Die Reihe ist gekennzeichnet durch die bildliche Darstellung vom Beginn und vom Prozess der Aufarbeitung der eigenen Biographie. Weiss kritisiert das Bildungsbürgertum, aus dem er selbst stammt. Zugleich nutzt er diese Herkunft und sein umfangreiches Wissen für motivische Anleihen aus der Kunstgeschichte von der Antike bis in die Klassische Moderne und die Kunst der Gegenwart. Der Schiffbruch mit den Konnotationen Wasser – Flut – Matrose ist eines der zentralen Motive bei Weiss. Die Motivik der Apokalypse und der Wiedergeburt tritt besonders ausgeprägt in den drei 1982 hergestellten Bildern zutage. Weiss denkt dabei Utopie und Apokalypse zusammen: „Etwas stirbt immer, etwas wird geboren.“203 Damit kommen die „beiden Auslegungsmöglichkeiten der

202 Rajewsky, Intermedialität, S. 205. 203 Weiss, Traumprotokolle und -analysen, S. 91.

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Apokalypse als ‚Apokalypse‘ (Katastrophe) oder als ‚Utopie‘ (neues Reich)“204 zusammen. Dies geschieht insgesamt weniger im Text, sondern vorrangig bildkünstlerisch. Wolfgang Braungart ist zuzustimmen, wenn er davon ausgeht, dass „die Inversion der literarischen Utopie zur modernen Apokalypse (als Erzählung vom katastrophalen Ende) eine wesentliche Möglichkeit in der Geschichte der Utopie und in der biblischen Apokalypse selbst schon angelegt ist.“205

204 Braungart, Apokalypse und Utopie, S. 64. 205 Ebd., S. 65.

5

Fazit

Weiss ist und bleibt lebenslang Künstler verschiedener Medien. Mit einer höchst modernen Technik der Bildfindung entstehen Mitte des 20. Jahrhunderts 22 Collagen, die in Technik, Machart und einem bemerkenswerten Text-Bild-Verhält– nis einen Wendepunkt in der künstlerischen Entwicklung von Peter Weiss markieren. Einen wesentlichen Teil trägt die außergewöhnliche Anbindung der Collagen an ihre jeweiligen Bezugstexte bei. Die Anbindungen der Collagen an den entsprechenden Text zu plausibilisieren, gelingt zum einen durch Identifikation bildlicher Entsprechungen von im Text benannten Dingen und Motiven, zum anderen über Analogien von textuellen und bildlichen Charakteristika. Dabei gibt es spezifische Unterschiede in der rein quantitativen Bindung der jeweiligen Collagen an den Prätext und die Bindung ist unterschiedlich sicher. Auch die quantitative Dichte, die Häufigkeit der Bezüge und die Streubreite der Prätexte sind sowohl innerhalb einer Reihe als auch zwischen den beiden Reihen verschieden. Die einzelnen Bildelemente der Collagen zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ veranschaulichen den Text eher, während die einzelnen Bildelemente der Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ den Text eher deuten. Durch die eingangs beschriebenen Unterschiede in den qualitativen Markierungen und quantitativen Modifizierungen wäre es denkbar, dass sich zwei Arten von Collagen unterscheiden lassen. Manche Collagen sowie einzelne Fragmente dienen, wie beschrieben, weitgehend einer Veranschaulichung (die auch weiterhin zu trennen ist von der Illustration als Veranschaulichung mit erklärender und/oder schmückender Funktion) einzelner, oftmals zusammenhängender Textstellen. Diese Collagen kann man als ästhetisch illustrativ bezeichnen, denn sie sind intentional und ordnen sich dem Text oftmals unter. Und anders als ein Emblem enthalten die Collagen von Weiss weder eine ‚inscriptio‘ noch eine ‚subscriptio‘; sie grenzen sich somit klar von der Kategorie des Emblems ab, zumal die Collagen nicht in den jeweiligen Text eingebunden werden, sondern für sich

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stehend auf einer eigenen Seite abgebildet oder beigefügt werden. Manche Collagen sind, so haben die Analysen gezeigt, trotz nachweisbarer Anbindung weniger intentional und ordnen sich dem Text anscheinend nicht (generell) unter. Diese Collagen kann man als eher ästhetisch autonom bezeichnen, da oftmals eine ästhetische Autonomie dem Text gegenüber besteht, die über die Anbindung an das reine Textmaterial hinausgeht; diese Collagen können offener gedeutet werden. Dies geht konform mit der zumindest teilweise vorliegenden intermedialen Systemreferenz, die sich auch dadurch ergibt, dass weitere Texte von Weiss als zusätzliche Prätexte nachgewiesen werden konnten, wie es insbesondere bei den Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ der Fall ist. Dieser Aspekt unterstützt eine Unterteilung in ästhetisch autonome und ästhetisch illustrative Collagen. Eine Klassifikation in ästhetisch illustrative und ästhetisch autonome Collagen ist demzufolge möglich – allerdings würde eine alleinige Reduktion auf diese Einteilung Wesentliches außer Acht lassen und die Collagen ungerechtfertigter Weise auf nur diese eine Sichtweise beschränken. Denn Weiss fertigt mit den Collagen zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ eine Gesamtschau an, die über die reine Transformation formaler, syntaktischer und narrativer Strukturen sowie semantische Übertragungen in bildliche Entsprechungen hinausgeht. In den Collagen werden gezeigt: der Ich-Erzäh– ler, seine Realitätsflucht in die ‚erdachten Bilder‘, seine Auseinandersetzung mit der Welt in all ihren (kleinsten) Bestandteilen und seine eigene Position in der Gesellschaft und unter den Bewohnern des Gutes als Repräsentanten der bürgerlichen Gesellschaft. Denn die „typischen Repräsentanten [der […] Gesellschaft] (Arzt, Hauptmann, Schneider, Kleinfamilie, Dienstpersonal)“ 1 übernehmen Funktionen, die der Text nicht leistet: Sie veranschaulichen, analysieren und charakterisieren Figuren. Text und Collagen stehen – und das ist zentral – wechselseitig erhellend zueinander. Weiss holt Gegenständlichkeit und real Sichtbares ins Bild, und diese bildliche Entsprechung von äußerlich Wahrnehmbaren ermöglicht die Figurencharakterisierung durch die ‚Kutscher‘-Collagen. Kulissen- bzw. theaterhafte Darstellungen dominieren in den Collagen zum 'Abschied‘. Weiss zeigt Fantasievorstellungen und Surreales in einem ‚Theater des Inneren‘ und der Psyche. Er schafft eine Selbstcharakterisierung durch die Darstellung innerer Fantasien bei den ‚Abschied‘-Collagen. Die Sprache in ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ ist, trotz der mikroskopischen Formulierungen, oft wenig konkret. Aus diesem Grund muss Weiss sich auch im Prozess der Transformation textueller Vorgaben in ein Bild mehr-

1

Esselborn, Die experimentelle Prosa, S. 38.

Fazit | 279

mals für ein Detail entscheiden, welches der Text offenlässt. Aber gerade diese Umständlichkeit der Sprache ermöglicht im Medium Bild größtmögliche Genauigkeit, was im Bild letztlich in den und durch die Mikroskop-Fragmente besonders deutlich wird. Die sprachliche Aneinanderreihung und Aufzählung sämtlicher Einzelheiten spiegelt sich in den Collagen, anders als bei den miteinander verwobenen Bildelementen der Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘, durch das klare Aneinander- und Nebeneinanderreihen vieler einzelner Fragmente. Die sprachlichen Beschreibungen bleiben oberflächlich, flach und umständlich und wirken dadurch zweidimensional, was der Gestaltung der Collagen zum ‚Schatten‘ entspricht. Die Ausschnitttechnik der Collagen ahmt die Sichtweise des IchErzählers nach: „Wahrgenommen werden immer nur einzelne, kleine Realitätsfragmente, die sich nicht zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen wollen.“2 Diese Dekonstruktion aus dem Inhalt heraus findet sich auch in den Collagen. Sie greifen mit einer extremen Perspektivierung und Geometrisierung sowie geometrischen Formensprache ein klassisches Formproblem der Moderne auf. Indem die Collagen auf ihre Collagenhaftigkeit aufmerksam machen, lenken sie das Augenmerk auf die Technik der Bildfindung und Machart, und darüber hinaus auf die sprachlichen Charakteristika des Prätextes. Die Struktur der Collagen trägt durch diese ‚Spiegelung‘ also dazu bei, dass formale, syntaktische und narrative Merkmale des Textes besonders fokussiert werden. Weiss’ Collagereihe zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ leistet zweierlei: formal einen Anschluss an die künstlerische Moderne in ganz persönlicher, moderner avantgardistischer Art und Weise, und inhaltlich eine Figurendarstellung und -charak- terisierung mit ergänzender und/oder illustrierender Funktion zum Text. Die Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ sind eher ästhetisch autonom. Die Collagen gehen über die Anbindung an das reine Textmaterial hinaus und können offener, assoziativer gedeutet werden. Zudem lassen sich Anbindungen an weitere Prätexte nachweisen. Für die Deutung der Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘ und die Erfassung der Kontexte, in denen sie zu verstehen sind, führt Weiss den Rezipienten zu einer Assoziationskette, die seinen assoziativen Schreibprozess imitiert. In den Collagen sind, wie auch im Text, keine Schnittstellen zu erkennen, alles scheint miteinander verwoben. Der Rezipient muss die zitierten Textstellen identifizieren und einzelnen Bildelementen zuordnen. Die Textstellen, die sich auf eine Collage oder mehrere Collagen beziehen, können dabei durchaus weit auseinanderliegen.

2

Tabah, Modernität im ‚Kutscher‘, S. 41.

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Die Reihe besteht aus sehr subjektiven Bildern mit starken autobiographischen Bezügen. Durch die Anbindung an seine eigenen Erfahrungen bewirkt Weiss in den Bildern eine hohe Emotionalität. Das und die homogene Gestaltung, also dass die Collagen eben nicht auf ihre Collagenhaftigkeit aufmerksam machen, rücken die Darstellung semantischer Aspekte mehr in den Vordergrund als die Darstellung formaler Aspekte, wie es bei den Bildern zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ der Fall ist. Die Collagen sind Bilder der Erinnerung: Als Narration erzählen sie (s)eine Geschichte.3 Dabei inszeniert Weiss bis auf eine Ausnahme in ‚Collage VIII‘ einen Jungen leitmotivisch in theaterhaften Kulissen. Neben diesen ‚Guckkastenbühnen‘ stellt Weiss Räume mit autobiographischen Bezügen her. Bei der Gestaltung nutzt er klassische Interieurszenen des 19. Jahrhunderts als Folie und projiziert seine eigene Familiengeschichte in diese Räume: Weissʼ Vater kämpft um den Erhalt der Familie und des Heims, das die Kinder nach dem Tod des Vaters untereinander aufteilen. Die Auflösung der Familie geschieht letztlich durch die Auflösung der Räume, des gesamten Heims und damit der ganzen Familie. Die Zerstörung der Ordnung und Sicherheit verweist daneben auf die Flucht vor dem Nationalsozialismus. Die Flucht der Familie aus Deutschland heraus bedeutet die Fortsetzung des Exils im elterlichen Haus als eine Flucht vor dem Draußen in das elterliche Haus hinein, aber zugleich die Flucht vor den Eltern und dem von ihnen ausgeübten Druck im Innern des Hauses nach oben in das Dachzimmer. Besonders die Deutung und die Rezeption des Textes verändern sich durch die Collagen. Nachträglich angefertigte Collagen dienen – speziell bei ‚Abschied von den Eltern‘ – in ihrer bildlichen Fixierung der Erinnerung und Aufarbeitung. Weiss schafft durch die Collagen im Nachhinein eine Deutung seiner Erzählungen, indem er die Themen und Motive darstellt, die ihm in seinem Prozess der Verarbeitung der Kindheit und im Kontext der Aufarbeitung besonders wichtig erscheinen. Der Rezipient, der die Collagen beim Lesen neben den Text legt, liest ihn mit einer von Weiss durch die Collagen gewollten Fokussierung auf für ihn relevante Themen, nicht Dargestelltes wird weniger relevant. Diese Absicht der Konzentration auf bestimmte Textinhalte und Motive bei der Anfertigung der Collagen ist zwar reihenübergreifend feststellbar, gilt aber im besonderen Maße für die Collagen zu ‚Abschied von den Eltern‘. Indem Weiss in beiden Zyklen sprachliche und syntaktische Besonderheiten in bildliche Entsprechungen transformiert, erzielt er einen genauen Blick des Re-

3

Weiterführend lohnt sich eine Untersuchung unter den Aspekten Wilhelm Voßkamps zu: ‚Ein anderes Selbst‘. Bild und Bildung im deutschen Roman des 18. und 19. Jahrhunderts. Göttingen 2004.

Fazit | 281

zipienten auf die Besonderheit der sprachlichen und narrativen Strukturen des Textes. Das gilt primär für die Collagen zu ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘. Die jeweiligen Collagezyklen weisen in sich keine Abfolge auf, sind also keine Bildergeschichte für sich, sondern thematisieren einzelne Inhalte des Prätextes und stellen manche davon besonders heraus. Zum Teil verweisen die Collagen innerzyklisch untereinander auf sich. Das geschieht durch die Verwendung gleicher oder ähnlicher Motive und/oder durch die Machart. Bei der Transformation textueller Vorgaben in bildliche Entsprechungen können, wie in den Untersuchungen deutlich wurde, einige Schwierigkeiten auftauchen. Gibt es in der textuellen Vorlage keine eindeutige Aussage, muss man in der bildlichen Entsprechung dieses Detail entweder gänzlich weglassen oder man muss sich auf eine Darstellung festlegen. Zudem können Absichten des Autors und zentrale Motive der Textvorlage ausschlaggebend dafür sein, welche Textstellen während der Transformation wegfallen oder besonders akzentuiert werden. Formale, narrative und syntaktische Transformationsprozesse sowie semantische Übertragungen textueller Vorgaben in bildliche Entsprechungen erfordern Bewegung, einen Austausch zwischen den Medien Sprache und Bild. Neben diesen beiden Medien gibt es bei Weiss erkennbar Einflüsse des Mediums Film: Die jeweiligen Erzählperspektiven können als Kameraeinstellungen verstanden werden, die inhaltlich assoziative und formale Verbindung semantisch autarker Absätze als Schnitt- und Montagetechnik. Weiss bleibt lebenslang ein multimedialer Künstler. Trotz der Rückkehr zur deutschen Sprache mit ‚Der Schatten des Körpers des Kutschers‘ und der ersten „Versuch[e] des Schreibens“ (K 15) auf Deutsch, trotz seiner Hinwendung zum Medium Wort, ist Weiss als bildender Künstler für die Publikation des ‚Kutschers‘ tätig. Und dieses Mal ist er nicht auf der Suche nach einer geeigneten Form des Ausdrucks, sondern er findet sie – und schafft bezeichnenderweise in der ab 1960 einsetzenden „Arbeitsperiode als Schriftsteller“ (MPW 40) einen, wenn nicht gar den bildkünstlerischen Höhepunkt.

6

Literatur

6.1 SIGLEN AB AF

Beise, Arnd: Peter Weiss. Stuttgart 2002. Weiss, Peter: Avantgarde Film. Aus dem Schwedischen übersetzt und herausgegeben von Beat Mazenauer. Frankfurt a. M. 1995. (schwedischer Originaltitel: Avantegardefilm, 1956) B Siegfried Unseld – Peter Weiss. Der Briefwechsel. Hg. von Rainer Gerlach. Frankfurt a. M. 2007. FC Weiss, Peter: Füreinander sind wir Chiffren. Das Pariser Manuskript. Hg. und übersetzt von Axel Schmolke. Berlin 2008. NB1 Weiss, Peter: Notizbücher 1960-1971. Erster Band. Frankfurt a. M. 1982 NB2 Weiss, Peter: Notizbücher 1960-1971. Zweiter Band. Frankfurt a. M. 1982. KJ Weiss, Peter: Das Kopenhagener Journal. Kritische Ausgabe. Hg. von Rainer Gerlach/Jürgen Schutte. Göttingen 2006. LW Palmstierna-Weiss, Gunilla/Schutte, Jürgen (Hg.): Peter Weiss. Leben und Werk. (= Peter Weiss. Leben und Werk. Eine Ausstellung. Akademie der Künste, Berlin 24. Febr. bis 28. Apr. 1991). Frankfurt a. M. 1991. MPW Kunstsammlung Museum Bochum (Hg.): Der Maler Peter Weiss. Bilder ∙ Zeichnungen ∙ Collagen ∙ Filme. März 1980-27. April 1980. Bochum 1980. PW Gerlach, Rainer (Hg.): Peter Weiss. Frankfurt a. M. 1984. PWG Müllender, Yannick/Schutte, Jürgen/Weymann, Ulrike (Hg.): Peter Weiss. Grenzgänger zwischen den Künsten. Bild – Collage – Text – Film. Frankfurt a. M. 2007. PWJ 1 Koch, Rainer/Rector, Martin (Hg.): Peter Weiss Jahrbuch. Band 1. Opladen 1992.

284 | Vom Text zum Bild

PWJ 2 Koch, Rainer/Rector, Martin (Hg.): Peter Weiss Jahrbuch. Band 2. Opladen 1993. (https://doi.org/10.1007/978-3-663-11034-7) PWJ 5 Koch, Rainer/Rector, Martin (Hg.): Peter Weiss Jahrbuch. Band 5. Opladen 1996. PWJ 8 Beise, Arnd/Rector, Martin/Vogt, Jochen (Hg.): Peter Weiss Jahrbuch für Literatur, Kunst und Politik im 20. Jahrhundert. Band 8. St. Ingbert 1999. PWJ 14 Beise, Arnd/Rector, Martin/Vogt, Jochen (Hg.): Peter Weiss Jahrbuch für Literatur, Kunst und Politik im 20. Jahrhundert. Band 14. St. Ingbert 2005. PWJ17 Beise, Arnd/Hofmann, Michael (Hg.): Peter Weiss Jahrbuch für Literatur, Kunst und Politik im 20. und 21. Jahrhundert. Band 17. St. Ingbert 2008. PWJ 18 Beise, Arnd./Hofmann, Michael (Hg.): Peter Weiss Jahrbuch für Literatur, Kunst und Politik im 20. und 21. Jahrhundert. Band 18. St. Ingbert 2009. PWJ 23 Beise, Arnd./Hofmann, Michael (Hg.): Peter Weiss Jahrbuch für Literatur, Kunst und Politik im 20. und 21. Jahrhundert. Band 23. St. Ingbert 2014. PWJ 24 Beise, Arnd./Hofmann, Michael (Hg.): Peter Weiss Jahrbuch für Literatur, Kunst und Politik im 20. und 21. Jahrhundert. Band 24. St. Ingbert 2015. W2 Weiss, Peter: Werke in sechs Bänden. Hg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Gunilla Palmstierna-Weiss. Band 2: Prosa 2, Frankfurt a. M. 1991. WW Wolff, Rudolf: Peter Weiss. Werk und Wirkung. Bonn 1987.

6.2 QUELLEN Brecht, Bertolt: Kriegsfibel. Hg. von Ruth Berlau. Berlin 1955. Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus 1924. Deutsch von Ruth Henry. Reinbek 1986 Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984. Hg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland. Stuttgart 1999. Ernst, Max: La Femme 100 Têtes. New York 1981 (1929). Ernst, Max: Une Semaine de Bonté. Dover 1978 (1933).

Literatur | 285

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286 | Vom Text zum Bild

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Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur März 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Götz Großklaus

Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9

Elisabeth Bronfen

Hollywood und das Projekt Amerika Essays zum kulturellen Imaginären einer Nation Januar 2018, 300 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4025-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4025-4

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Literaturwissenschaft Yves Bizeul, Stephanie Wodianka (Hg.)

Mythos und Tabula rasa Narrationen und Denkformen der totalen Auslöschung und des absoluten Neuanfangs März 2018, 178 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3984-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3984-5

Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.)

Kurz & Knapp Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2017, 398 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3556-0 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3556-4

Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8. Jahrgang, 2017, Heft 2: Vielfältige Konzepte – Konzepte der Vielfalt. Zur Theorie von Interkulturalität 2017, 204 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3818-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3818-3

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