Doing Culture: Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis [1. Aufl.] 9783839402436

Wie wird Kultur soziale Praxis? Der Band vereint wesentliche und innovative Beiträge, die verschiedene Ansätze wie Pragm

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Doing Culture: Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis [1. Aufl.]
 9783839402436

Table of contents :
Inhalt
Doing Culture: Kultur als Praxis
Theorie sozialer Praktiken
Soziale Praxis zwischen Beharrung und Neuschöpfung. Ein Erkenntnis- und Theorieproblem
Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken. Zugleich ein Kommentar zu Pierre Bourdieu und Judith Butler
Bourdieus Theorie der Praxis – eine ›Theorie sozialer Praktiken‹?
Materialität sozialer Praktiken
Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns
Inmitten der Dinge. Zum Verhältnis von sozialen Praktiken und Artefakten
Regelmäßigkeit und Regelhaftigkeit. Die Abschirmung des technischen Kerns als Leistung der Praxis
Macht sozialer Praktiken
Praxeologie und Faschismus. Gewalt und Gemeinschaft als Elemente eines praxeologischen Faschismusbegriffs
Subversive Praktiken? Cultural Studies und die ›Macht‹ der Globalisierung
Medialität sozialer Praktiken
Kreativität in der Medienrezeption? Zur Praxis der Medienaneignung zwischen Routine und Widerstand
Overdoing Culture. Sketch-Komik, Typenstilisierung und Identitätskonstruktion bei Kaya Yanar
Medienaneignung als blinder Fleck der Systemtheorie
Hybridität sozialer Praktiken
Hybridität und ihre deutschsprachige Rezeption. Zur diskursiven Einverleibung des ›Anderen‹
Postkoloniales Doing Culture. Oder: Kultur als translokale Praxis
Anhang
Autorinnen und Autoren

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Doing Culture

2004-08-16 12-51-15 --- Projekt: T243.sozialtheorie.reuter-hörning / Dokument: FAX ID 01f460679393814|(S.

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Karl H. Hörning, Julia Reuter (Hg.)

Doing Culture Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2004 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: digitron GmbH, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-243-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt Karl H. Hörning und Julia Reuter Doing Culture: Kultur als Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Theorie sozialer Praktiken Karl H. Hörning Soziale Praxis zwischen Beharrung und Neuschöpfung. Ein Erkenntnis- und Theorieproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Andreas Reckwitz Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken. Zugleich ein Kommentar zu Pierre Bourdieu und Judith Butler . . . . 40 Michael Meier Bourdieus Theorie der Praxis – eine ›Theorie sozialer Praktiken‹? . .

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Materialität sozialer Praktiken Stefan Hirschauer Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Matthias Wieser Inmitten der Dinge. Zum Verhältnis von sozialen Praktiken und Artefakten . . . . . . . . . . . 92 Ingo Schulz-Schaeffer Regelmäßigkeit und Regelhaftigkeit. Die Abschirmung des technischen Kerns als Leistung der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

Macht sozialer Praktiken Sven Reichardt Praxeologie und Faschismus. Gewalt und Gemeinschaft als Elemente eines praxeologischen Faschismusbegriffs . . . . . . . . . . 129 Urs Stäheli Subversive Praktiken? Cultural Studies und die ›Macht‹ der Globalisierung . . . . . . . . . . . . . 154

Medialität sozialer Praktiken Udo Göttlich Kreativität in der Medienrezeption? Zur Praxis der Medienaneignung zwischen Routine und Widerstand . . . . . . . . . . . . 169 Helga Kotthoff Overdoing Culture. Sketch-Komik, Typenstilisierung und Identitätskonstruktion bei Kaya Yanar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Norbert Sieprath Medienaneignung als blinder Fleck der Systemtheorie . . . . . . . . . . . . 201

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Hybridität sozialer Praktiken Kien Nghi Ha Hybridität und ihre deutschsprachige Rezeption. Zur diskursiven Einverleibung des ›Anderen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Julia Reuter Postkoloniales Doing Culture. Oder: Kultur als translokale Praxis . . 239

Anhang Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

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Doing Culture: Kultur als Praxis Karl H. Hörning und Julia Reuter

Kultur ist dynamisch; sie ist in action. Immer häufiger richtet sich das Forschungsinteresse nicht auf die Kultur, sondern auf die Vielfalt kulturellen Wandels.1 Treibende Kraft dieses Wandels sind nicht nur ›objektive‹ Prozesse der Differenzierung, Virtualisierung oder Globalisierung. Es ist vor allem das Handeln der Akteure, das Kultur bewegt. Durch die grundsätzliche Kennzeichnung des Menschen als ›Kulturwesen‹, der mit Kultur produktiv umgeht, rückt die Kultur wieder ins Zentrum der Gesellschaftsanalyse. Seit Mitte der 1980er Jahre zeichnet sich in der Soziologie dieser cultural turn ab. Mit dieser ›Wende‹ erlangt Kultur den Status eines grundlegenden Phänomens sozialer Ordnung zurück, das sämtliche Gesellschaftsbereiche durchdringt – Verwandtschaftsbeziehungen und Familienleben, Arbeitsrollen und Organisationen, Kommunikationsformen und Bedeutungen der Sprache, Körpererfahrungen und Geschlechterbeziehungen, nicht zuletzt Arbeits- und Erkenntnisweisen der Wissenschaft. Wichtige Impulse für diese Revitalisierung der Soziologie als Kultursoziologie kamen dabei nicht nur aus den eigenen Reihen, sondern aus disziplinübergreifenden Diskussionszusammenhängen, führend aus der Ethnologie Clifford Geertz’ und den anglo-amerikanischen Cultural Studies. Durch diese Öffnung der Soziologie zu anderen Kulturwissenschaften wurde der Kulturbegriff immer offener, nicht zuletzt, weil unter dem Einfluss der Cultural Studies auch die Erforschung ›vulgärer‹, populärkultureller Gegenstände ›salonfähig‹ wurde. Im Gegensatz zu früheren Ansätzen, die einer Substanzialisierung, Totalisierung und Territorialisierung von Kultur Vorschub leisteten, wird jetzt Kultur als Prozess, als Relation, als Verb verstanden. Der Begriff der Kultur ›in Aktion‹ ist wörtlich zu verstehen, denn es 1 | Vgl. hierzu auch Gebhardt 2001.

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10 | Karl H. Hörning und Julia Reuter sind die Aktionen im Sinne eingelebter Umgangsweisen und regelmäßiger Praktiken der Gesellschaftsmitglieder, die zu dem zentralen Bezugspunkt von Kulturanalysen avancieren. Auch die theoretische Herangehensweise trägt diesem Umstand Rechnung: Statt Kultur als Mentalität, Text oder Bedeutungsgewebe kognitivistisch zu verengen, oder sie als fragloses Werte- und Normensystem strukturalistisch zu vereinnahmen, wird in antimentalistischer und ent-strukturierender Weise von Kultur als Praxis gesprochen. Was zunächst eher als loses Bündel von Ansätzen eine analytische wie empirische Neuausrichtung der Kultursoziologie anstieß, formt sich gegenwärtig zu einem eigenständigen Paradigma, zu einer »Praxiswende« aus (Schatzki/Knorr Cetina/von Savigny 2001), hinter der sich nicht nur eine internationale (Wieder-)Entdeckung praxiszentrierter Ansätze in Philosophie, Soziologie, Geschichts- und Kulturwissenschaften verbirgt. Vielmehr geht es um ein grundsätzliches verändertes Verständnis der zentralen Analyseeinheiten des sozialen Lebens, das am Begriff der Praxis entfaltet wird: Kultur als Praxis bedeutet sowohl ein modifiziertes Verständnis von Kultur als auch ein modifiziertes Verständnis des Handelns, des Akteurs, des Sozialen schlechthin (vgl. Reckwitz 2003). Dem liegt eine theoretische, wir nennen sie ›praxistheoretische‹ Prämisse zugrunde: Ganz gleich, ob der Umgang mit dem Computer im Betrieb oder dem Auto im Alltag, die Rezeption von Fernsehsendungen oder wissenschaftlichen Texten, der Prozess der Identifikation oder Repräsentation von Personen, oder auch nur die Art und Weise, wie üblicherweise Fahrstuhl gefahren, Geschlecht praktiziert oder Wissen gewusst wird – es handelt sich um das Praktizieren von Kultur. Und: Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist keine ›objektive Tatsache‹, sondern eine ›interaktive Sache des Tuns‹. Wir haben diese am Praxisbegriff orientierte empirische wie theoretische Neureflexion von Kultur und Gesellschaft als doing culture bezeichnet. Doing culture steht als Sammelbegriff für das ›Dickicht‹ der pragmatischen Verwendungsweisen von Kultur: doing gender, doing knowledge, doing identity oder doing ethnicity sind nur einige von zahlreichen Beispielen. Doing culture sieht Kultur in ihrem praktischen Vollzug. Es bezeichnet ein Programm, das den praktischen Einsatz statt die vorgefertigten kognitiven Bedeutungsund Sinnstrukturen von Kultur analysiert. Es zielt auf die Pragmatik von Kultur; auf Praxiszusammenhänge, in die das Kulturelle unweigerlich verwickelt ist, in denen es zum Ausdruck kommt, seine Verfestigungen und seinen Wandel erfährt. Die praktischen Verhältnisse des sozialen Lebens lassen Kultur erst zu ihrer Wirkung gelangen. Damit treten Fragen nach der praktischen Hereinnahme, des konkreten Vollzugs und der Reproduktion von Kultur, aber auch Fragen nach ihrer ungleichen Verteilung und Handhabung in den Vordergrund. Kultur als Praxis verbindet das Kulturelle mit dem Sozialen. Wie und

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was wir essen, wie und was wir arbeiten, wie und wen wir heiraten, ist aus dieser Perspektive weder eine rein kulturelle noch eine rein soziale Angelegenheit, schon gar nicht eine körperlicher Bedürfnisse. Sie ist, wie Pierre Bourdieu bereits in den 1970er Jahren für die französische Gesellschaft gezeigt hat, eine kulturelle und soziale Frage, die nach der kulturellen Bedingtheit der sozialen Praxis. Im Praktizieren von Kultur wird Macht und soziale Ungleichheit repräsentiert, in ihr wird sie verwirklicht. Soziale Praxis ist immer schon mit Bewertungen, mit Interpretationen, Selbst- und Fremddeutungen verknüpft, auch wenn diese eher unbemerkt und unreflektiert ›mitlaufen‹. Insofern macht eine Unterscheidung von sozialer und kultureller Praxis ebenso wie die dualistische Gegenüberstellung von sozialer Ungleichheit und kulturellen Unterschieden wenig Sinn. Aber nicht nur die Differenzen entlang unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen, sondern auch die Differenzen innerhalb der Praxis ein und derselben Gruppe oder einzelner Akteure kommen dann in den Blick: eben jene ›Verunreinigungen‹ und Synkretismen von Kultur, die auf einer Vermischung mit der Kontingenz menschlicher Lebenspraxis beruhen. Doing culture ist immer auch doing difference, gleichwohl nicht alle Differenzen als Ungleichheiten praktiziert werden. Es bleiben immer auch Spielräume, dasselbe anders zu machen. Dabei wird die Kontingenz der Praxis unterschiedlich erklärt: Praxistheorien, die im Rahmen der Analysen von kultureller Globalisierung stehen, sehen die Kontingenz der Praxis als Folge einer unberechenbaren Kreolisierung oder Hybridisierung der Lebenswelt. So betonen etwa TheoretikerInnen der Cultural und Postcolonial Studies, dass (populär-)kulturelle Gebrauchs- und Aneignungskontexte entlang der kommunikations-, medien- oder migrationsbedingten Neuartikulation des Globalen und Lokalen stets polyphon, intertextuell und umkämpft sind und damit ebensolche Praktiken hervorbringen. Artefakt- oder körpertheoretische Ansätze dagegen sehen die Kontingenz in der Materialität sozialer Praktiken begründet. Dinge und Körper als Teilelemente oder Träger sozialer Praktiken erscheinen dabei weder ausschließlich als zu bearbeitende Objekte noch als Kräfte eines physischen Zwangs (vgl. Reckwitz 2003: 291). In Gestalt materialisierter »Aktanten« (Latour) oder selbsttätiger »Kommunikationsmedien« (Hirschauer in diesem Band) fordern sie die Wiederholung und Mobilisierung von Praktiken immer auch heraus. Wieder andere führen die Kontingenz der Praxis auf das für das Ausüben einer Praktik notwendige praktische Wissen zurück. Praktisches Wissen, so die These der Pragmatisten, besteht aus unterschiedlichen Wissenskomplexen. Es entspringt keinem gefestigten Fakten- oder Lösungswissen, sondern einem doing knowledge (Hörning in diesem Band), das als ›Wissen-wie‹ oder ›implizites Wissen‹ kreativ und explorativ in der Praxis zum Einsatz kommt.

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12 | Karl H. Hörning und Julia Reuter Was aber bedeutet die Kontingenz der Praxis für die Kultur? Zunächst einmal, dass die Kultur selbst ein translokales, kreatives und exploratives Phänomen ist und keine territorial fixierte Entität, wie moderne (imperialistische) Kulturtheorien behaupten (Reuter in diesem Band). Nichtsdestotrotz ist Kultur immer auch materiale Kultur, aber die Materialität ist keine physikalische oder biologische Größe. Sie ist eine praktisch hergestellte Materialität, die mit anderen Materialitäten und Praktiken netzwerkartig verknüpft ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um die Materialität von Territorien, Dingen oder Körpern handelt. Sie alle sind kulturell geformt. Auch Kultur lässt sich häufig erst im Umgang mit Dingen und Körpern wirklich ›dingfest‹, d.h. sichtbar, aufzeigbar, nachweisbar, nachvollziehbar machen. Interessant sind aus dieser Sicht weniger die Fragen nach der Unterscheidung von Menschen und Dingen, Technik und Gesellschaft oder Natur und Kultur, auch nicht solche nach der Autonomie und Qualität der symbolischen Sinn- und Zeichenmuster. Interessant sind Fragen nach den Einsatz- und Rückwirkungsformen von Kultur im Zuge ihrer lebenspraktischen intersubjektiven wie interobjektiven ›Vereinnahmung‹. Aber auch die historische Genese von kulturellen Sinnmustern und Wissensordnungen sowie ihre Habitualisierung und Materialisierung stehen dann im Vordergrund. Zugleich zeigt jedoch der Blick in die Praxis, dass die kulturellen Ordnungen nicht zwangsläufig ›ordentlich‹ praktiziert werden. Ihr Sinn ist nie vollständig vorgegeben, sondern wird häufig erst durch eine bestimmte körperliche Fertigkeit ›in Gang‹ gesetzt. Damit verschiebt sich stellenweise die Aufmerksamkeit von der Kultur auf die Praxis: Mehr doing, weniger culture wird hier erfragt. Durch diese Priorität der Seite des Vollzugs, der Verkörperung und Ausführung rückt der (kultur-)soziologische Praxisbegriff stellenweise sehr nah an den Performanzbegriff heran. Doch anders als die in den Kultur- und Sprachwissenschaften geführte Performanzdiskussion (vgl. etwa Kertscher/Mersch 2003; Wirth 2003), geht es ihm gerade nicht um die singuläre Aufführung und Präsentation. Nicht jede Hantierung, nicht jedes Tun ist schon Praxis. Erst durch häufiges und regelmäßiges Miteinandertun bilden sich gemeinsame Handlungsgepflogenheiten heraus, die soziale Praktiken ausmachen. Soziologisch interessant ist jenes gemeinsame Ingangsetzen und Ausführen von Handlungsweisen, die in relativ routinisierten Formen verlaufen und eine bestimmte Handlungsnormalität im Alltag begründen (vgl. Hörning 2001: 160f.). Auch wenn doing culture eine Reihe von stilisierten Praktiken umfasst, die als Ritual oder als Konvention repräsentativen oder als Emanzipationsakt subversiven Charakter annehmen, ist der soziologische Praxisbegriff eher unspektakulär: Meistens bezeichnet er Alltagsroutinen, Gepflogenheiten oder habitualisierte Macharten, die gar kein aktives doing vom Einzelnen verlangen.

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Genau darin liegt die eigentliche praxistheoretische Herausforderung von Kulturanalysen: Sie formuliert einerseits die Aufgabe, unmittelbar verständliche und vorhersehbare Praktiken gerade nicht als unmittelbar verständlich und vorhersehbar zu begreifen, sondern die dahinterliegenden kulturellen Formen und Sinnbezüge herauszuarbeiten, die bewirken, dass Praktiken als unmittelbar verständlich und vorhersehbar wahrgenommen werden (vgl. Bourdieu 1987: 108). Andererseits gilt es, in ethnographischer Manier aufzuzeigen, wie kultureller Sinn, wie dieses kulturelle Wissen und Denken im gemeinsamen Handeln tatsächlich praktiziert wird. Wenn auch die Praktiken des Computerbedienens, des Small Talk, des Lesens oder der Geschlechtsdarstellung auf den ersten Blick simpel erscheinen. Manchmal reicht ein falscher Knopfdruck, ein unpassendes Wort oder eine unbeabsichtigte Geste, um den Normallauf der Interaktion zu behindern. Dies ist nicht nur ein empirisches Problem. Es stößt auch ein ›altes‹ Theorie- und Erkenntnisproblem an: Wo ist diese Praxis zu verorten? Ist sie eher als heroische Einzeltat, als theatrale Inszenierung oder als rationale Wahl dem Subjekt zuzuschlagen, oder ist sie als systemerhaltende Kraft, als durchgängige Ausführung von Regeln und Normen aus den objektiven Strukturen heraus zu erklären? Weder noch, so das Credo der praxistheoretischen Diskussion: Praxis ist als Scharnier zwischen dem Subjekt und den Strukturen angelegt und setzt sich damit von zweckorientierten und normorientierten Handlungstheorien gleichermaßen ab. Praxis ist zugleich regelmäßig und regelwidrig, sie ist zugleich wiederholend und wiedererzeugend, sie ist zugleich strategisch und illusorisch. In ihr sind Erfahrungen, Erkenntnisse und Wissen eingelagert, manchmal sogar regelrecht einverleibt. Doch die Erfahrungen, die Erkenntnisse und das Wissen werden in der Praxis immer wieder neu eingebracht, erlebt und mobilisiert. Sie sind keine Objekte, die passiv registriert oder aber intellektualistisch angeeignet werden. Man braucht sich in Bourdieus Worten nur in die »wirkliche, sinnliche Tätigkeit [des Erfahrens, Erkennens und Wissens], also in das praktische Verhältnis zur Welt hineinzuversetzen, in jene beschäftigte und geschäftige Gegenwärtigkeit auf der Welt, durch welche die Welt ihre Gegenwärtigkeit mit ihren Dringlichkeiten aufzwingt […], ohne sich jemals wie ein Schauspiel zu entfalten« (Bourdieu 1987: 97). Praxistheoretische Ansätze betonen also nicht nur das ›In-der-WeltSein‹ kultureller Akteure. Sie reflektieren auch ihr eigenes praktische Verhältnis des Verhaftet- und Eingebundenseins, jene praktische Logik der Theorie, die Aussagen über kulturelle Akteure trifft. Insofern geht der practice turn deutlich über den cultural turn hinaus: Er erweitert nicht bloß den Gegenstand der Kulturanalyse auf potenziell sämtliche Bereiche der Gesellschaft. Er fragt auch nach den Praktiken des Theoretisierens dieser potentiellen Gegenstandsbereiche. Denn je nachdem, welche Praktik des Theoreti-

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14 | Karl H. Hörning und Julia Reuter sierens vorliegt, kann soziale Praxis unterschiedliche Formen annehmen: als individualistische Strategie oder als gesellschaftliche Routine, als bewusste oder als mechanische Aktion, als selbständige Interpretation oder als Regelerfüllen (Reckwitz in diesem Band). Meist sind es nicht die Praktiken selbst, sondern die begrifflichen, theoretischen und methodologischen Gegensätze, die das doing culture so unterschiedlich erscheinen lassen. Gerade die Soziologie hat hierfür prägnante Beispiele: Individuum und Gesellschaft, Handeln und Struktur, Verstehen und Erklären, Mikro- und Makrosoziologie, interpretatives und normatives Paradigma. Sie stehen nicht nur für begriffliche Differenzierungen, sondern auch für zwei unterschiedliche Erkenntnisweisen, die als subjektivistisch oder objektivistisch bezeichnet werden können. Praxistheorien verstehen sich als ›blinder Fleck‹ dieser künstlich geschaffenen Aufteilung erkenntnistheoretischer Grundpositionen in Subjektivismus und Objektivismus. Insofern beinhalten sie eine doppelte ›Logik der Praxis‹: Einerseits verweisen sie auf die handlungslogischen Differenzen im alltäglichen doing culture, andererseits betonen sie die erkenntnislogischen Differenzen im wissenschaftlichen doing culture. Praxistheorien fragen nach den eigenen Bedingungen ihrer theoretischen Erkenntnis. Im Gegensatz zu strukturalistischen Theorien privilegieren sie nicht das ideelle Konstrukt vor der Materialität praktischer Realisierung. Im Gegenteil, die Praxis wird über die Theorie gestellt: Auch Theorie ist primär Praxis. Zum Ausdruck kommt dies in Begriffen des ›praktischen Sinns‹, des ›praktischen Bewusstseins‹, der ›Praxeologie‹ oder auch der ›praktischen Vernunft‹. Sie leiten nicht nur die Arten und Weisen des Erkennens, Denkens und Wissens der Akteure im Alltag, sondern auch die der wissenschaftlichen Praxiswelt an. Die Herausforderung der ›Praxiswende‹ in den Sozial- und Kulturwissenschaften besteht darin, das wissenschaftliche Verhältnis zur Praxis von der praktischen Einbeziehung in die Praxis zu lösen und damit auch die Grenzen der theoretischen Erkenntnis des Wissenschaftlers und der praktischen Erkenntnis des Handelnden herauszuarbeiten (vgl. Schwingel 1993: 41). Der vorliegende Band nimmt diese Herausforderung an, indem er wesentliche und innovative Beiträge zur Logik der Praxistheorie und zur Logik der Alltagspraxis in einer breiten soziologischen Diskussion verortet. Im ersten Teil werden neben zentralen Elementen einer Praxistheorie vor allem die unterschiedlichen Formen und Konsequenzen ihres Theoretisierens hervorgehoben. Hierzu greifen die Beiträge auf zentrale Autoren, wie Pierre Bourdieu, Michel Foucault, Ludwig Wittgenstein oder Judith Butler und ihre Logik der Praxis zurück und nehmen eine differenzierte Kontextualisierung, stellenweise auch eine programmatische Kanonisierung der unterschiedlichen Theorien vor. In den darauffolgenden Kapiteln werden vor allem die grundlegenden Merkmale: Materialität, Macht, Medialität und Hyb-

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ridität sozialer Praxis in den Vordergrund gerückt. Unterschiedliche Praxisformen – Körperpraktiken, Gewaltpraktiken, Praktiken der Medienrezeption – werden der gemeinsamen Frage nach dem Verhältnis von Kultur und Praxis unterworfen. Trotz der unterschiedlichen Theorie- und Anwendungsfelder, in denen die einzelnen Beiträge ihrem Begriff der Praxis Kontur verleihen, stimmen sie darin überein, dass die kulturelle und soziale Ordnung weder ausschließlich in den Strukturen und Institutionen noch in den Köpfen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder, als vielmehr in der sozialen Praxis zu verorten ist. Gleichzeitig eröffnen sie neue Zugänge zu einer Theorie sozialer Praktiken, die die ›Praxiswende‹ in den Sozial- und Kulturwissenschaften nicht nur empirisch, sondern auch theoretisch fundiert. Der Band ist aus einer gleichnamigen Tagung hervorgegangen, die wir am Institut für Soziologie der RWTH Aachen im November 2003 veranstaltet haben. Besonderer Dank gilt Michael Meier, Sebastian Nestler, Norbert Sieprath und Matthias Wieser, die zum Gelingen der Tagung und des Sammelbandes wesentlich beigetragen haben.

Literatur Bourdieu, Pierre (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Gebhardt, Winfried (2001): »Vielfältiges Bemühen. Zum Stand kultursoziologischer Forschung im deutschsprachigen Raum«, in: Soziolgie. Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2, S. 40-52. Hörning Karl H. (2001): Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens, Weilerswist: Velbrück. Kertscher, Jens/Mersch, Dieter (Hg., 2003): Performativität und Praxis. München: Fink. Schatzki, Theodore R./Knorr Cetina, Karin/Savigny, Eike von (Hg., 2001): The Practice Turn in Contemporary Theory, London, New York: Routledge. Reckwitz, Andreas (2003): »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie 32, S. 282-301. Schwingel, Markus, (1993): Analytik der Kämpfe. Hamburg: Argument Verlag. Wirth, Uwe (Hg., 2002): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

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Theorie sozialer Praktiken

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Soziale Praxis zwischen Beharrung und Neuschöpfung. Ein Erkenntnis- und Theorieproblem Karl H. Hörning

Aus der Perspektive der Praxis tritt uns die Wirklichkeit als gemachte entgegen. Es sind soziale Praktiken, die Handlungsnormalitäten begründen: Durch häufiges und regelmäßiges Miteinandertun bilden sich Handlungsgepflogenheiten heraus, die sich zu Handlungsmustern und Handlungsstilen verdichten und damit bestimmte Handlungszüge sozial erwartbar machen. Doch soziale Praxis beruht nicht nur auf gleichförmig aufeinander eingespielten Handlungsroutinen. In zunehmenden Maße treffen soziale Praktiken auf eine von Unbestimmtheiten und Ambivalenzen geprägte soziale und kulturelle Wirklichkeit. Dann greifen die eingeschliffenen, auf Beharrung und Anschlussfähigkeit ausgerichteten Routinen nicht mehr, Alternativen werden herangezogen, Wandel durch Andershandeln stellt sich ein. Soziale Praktiken sind immer beides: Wiederholung und Veränderung. Erst wenn wir die scheinbare Unverträglichkeit zwischen Routine und Kreativität, zwischen Iteration und Innovation auflösen und beide als zwei Seiten einer umfassenden sozialen Praxis begreifen, können wir auch die Bedingungen spezifizieren, unter denen sie in unterschiedlicher Ausprägung hervortreten. Doch dabei haben wir es nicht nur mit einem Theorie-, sondern auch mit einem Erkenntnisproblem zu tun. Theorien sozialer Praktiken interessieren sich für das Hervorbringen von Denken und Wissen im Handeln, weniger für das kognitive Vorwissen und noch weniger für das präsente Bewusstsein der Akteure. Die Fixierung auf das Kognitive übersieht aus ihrer Sicht völlig die implizite Vertrautheit und Könnerschaft, die unserem Alltagshandeln unterliegt und es so weithin

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20 | Karl H. Hörning unthematisch agieren lässt. Dabei sind es nicht nur gemeinsame Fähigkeiten und Fertigkeiten, die sich im fortlaufenden Handlungsfluss ausbilden. Gleichermaßen unauffällig entfalten sich im Zusammenhandeln gemeinsame Kriterien und Maßstäbe ›richtigen‹, passenden, angemessenen Tuns, die dem Handeln Richtung und Anschluss vermitteln. Genau hier liegt die Crux für den soziologischen Erkenntnisprozess, denn wie bringen wir dieses weithin implizite praktische Wissen und Können der Beteiligten zum Vorschein? Theorien sozialer Praktiken zeigen hier Antwortmöglichkeiten auf, auch wenn sie sich häufig zu sehr kulturtheoretisch absichern, indem sie dem Einfluss kollektiv-kultureller Wissensschemata zu viel Raum geben. Zu viel culture, zu wenig doing! Gerade in Zeiten der Zersplitterung und Hybridisierung kultureller Wissensformen wird diese Hintergrundvoraussetzung problematisch. Wir sollten statt dessen ›Praxis‹ selbst als jenen ›Ort‹ ernst nehmen, in dem Verstehen und Einsicht der Akteure hervorgebracht wird und in dem kulturelle Repertoires der Deutung und Bedeutung eingespielt werden. Hierzu bedarf es eines breiten Praxisbegriffs, in dem Kultur als zentrales Medium der Praxis sowohl ihren Ausdruck als auch ihre Wirkung zu entfalten vermag.

Das Wissen über Praxis Soziale Praxis lässt sich nicht leicht begreifen. Ihr ›Ort‹ ist schwierig auszumachen, vor allem nach einer »Praxiswende« (vgl. Schatzki/Knorr Cetina/von Savigny 2001), die uns auffordert, weder die Subjekte und deren Primärerfahrungen zu heroisieren, noch die Strukturen und Kulturen samt ihrer Texte, Regeln und Diskurse zu substanzialisieren. Stattdessen erscheint die Praxis jetzt als Scharnier zwischen Subjekt und Objekt. Für den jungen Marx war Praxis eine revolutionäre Kraft, mit der er die Hoffnung auf die Umwälzung der träg-bornierten gesellschaftlichen Verhältnisse verband. Für Arnold Gehlen und andere Institutionalisten war und ist Praxis eher eine konservierende Kraft, die den Menschen in seiner grundlegenden Schwäche entlastet. Wir aber haben inzwischen gelernt, dass dem, was wir als soziale Praxis beobachten und erfassen, viel Gesellschaftsgeschichte, aber auch viel Eigensinn, viel Gewalt, aber auch viel Poesie eingeschrieben ist. Wie kommen wir ihr nahe? Traditionell gilt Distanz, das Herausgelöstsein aus konkreten Lebenszusammenhängen, als Bedingung von Erkenntnis und Vernunft. Der Pragmatismus und viele, die von ihm gelernt haben, wie Heidegger, Wittgenstein und Bourdieu, weisen dagegen dem Erkennen seinen Ort innerhalb des ›In-der-Welt-Seins-und-Handelns‹ zu. Wir sind alle unausweichlich »in die Welt verwickelt, und deswegen ist, was wir von ihr denken und sa-

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gen, nie frei von Implizitem« (Bourdieu 2001: 18). Für Bourdieu ist es eine »Illusion, dass das Bewusstsein sich selbst durchschaut« (ebd.). Vernunft und Erkennen zeichnen sich danach nicht durch Autonomie aus, sondern werden durch die Einordnung in die Welt begründet. Dort erlebt und erkennt der Akteur Mehrdeutigkeit und Verschiedenheit. Dort bildet sich eine Vernünftigkeit heraus, die an einen steten Prozess der Unterschiedsbildung gebunden bleibt. Denken und Vernünftigkeit sind dann eher tastende Vollzüge im Rahmen konkreter Vielheit und Differenz. Sie entspringen keiner äußeren Quelle, sondern der genuinen Perspektive des praktischen Handelns. Auch Foucault zeigt im Rahmen seiner radikalen Aufklärungskritik, dass Vernunft nicht primär Sache des individuellen Denkvermögens, sondern etwas sehr Gesellschaftlich-Praktisches ist – häufig in Gestalt von Macht, Herrschaftsstrategien und Disziplinierungsprozessen. Nach ihm zeugen nicht nur das Denken, sondern auch das Strafen, das Erziehen, das Organisieren, aber auch das Sich-Beherrschen oder das Sich-Ausleben von ›Vernunft‹. Damit tritt Vernunft in höchst vielfältigen und unterschiedlichen Verflechtungen von ›Rationalitäts‹-Formen auf (vgl. Foucault 1987). Im Gegensatz zu seiner früheren normativen Eindimensionalität eröffnet der späte Foucault Möglichkeiten von Widerspruch und Widerstand – wohl in einem anderen Operationsmodus als den herkömmlichen: Sie sind nur noch innerhalb dieses Geflechts möglich. »Daher findet der Rückgriff auf die Geschichte seinen Sinn in dem Maße, wie die Geschichte zeigt, daß das, was ist, nicht immer gewesen ist. Sie vereinigt zufällige Begegnungen zum Faden einer fragilen und ungewissen Geschichte. So sind die Dinge geformt worden, welche den Eindruck größter Selbstverständlichkeit machen. Was die Vernunft als ihre Notwendigkeit erfährt, oder was vielmehr verschiedene Formen der Rationalität, als ihr notwendiges Sein ausgeben, hat eine Geschichte, die wir vollständig erstellen und aus dem Geflecht der Kontingenzen wiedergewinnen können […]. Diese Formen der Rationalität […] ruhen auf einem Sockel menschlicher Praktiken und menschlicher Geschichte; weil sie gemacht (›faites‹) worden sind, können sie – vorausgesetzt, wir wissen, wie sie gemacht worden sind – aufgelöst (›defaites‹) werden« (Foucault/Raulet 1983: 40).

Mit dieser Präzisierung deutet Foucault Transformationsmöglichkeiten an, bezeichnet Freiheitsgrade, Handlungsräume. Foucault war überzeugt, dass »Verschränkungen zwischen Zwangsmechanismen und Erkenntniselementen« existieren, die Möglichkeiten zur Kritik als »Kunst […] der reflektierten Unfügsamkeit« hervorbringen (Foucault 1992: 31, 15). Dabei könnte ein neuer Typ des Intellektuellen hilfreich sein. Foucault betont in zahlreichen veröffentlichten Gesprächen, dass sich der Intellektuelle für einen langen

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22 | Karl H. Hörning Zeitraum vom 18. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs zum Sachwalter des Allgemeinen, zum ›Repräsentanten des Universalen‹ aufspielen konnte. Erst spät wandelte sich seine Position; heute finden wir eher die Figur des ›spezifischen Intellektuellen‹, als Informatiker, Pharmakologe, Genetiker oder auch Soziologe, der durch seine Einmischung eher Transversalitäts- denn Universalitätseffekte erzielt (vgl. Foucault 2003). Aus dieser Sicht kann der Soziologe zum Übersetzer werden, der an spezifischen Kreuzungspunkten – an denen Anschlüsse, Interferenzen, Kollisionen stattfinden – Beziehungen hervorhebt und implizite Verbindungen aufspürt. Im Medium der Verflechtung tritt nicht nur Vielheit und Heterogenität hervor. Es werden auch die Übergänge und Überlagerungen sichtbar. Es ist also nicht nur Vielfalt und Differenz, die sich dem Soziologen aufdrängt, sondern vielmehr die komplexe Art und konkrete Weise der Übertragung und Schaltung der heterogenen Elemente, die es immer wieder neu zu ›übersetzen‹ gilt. In seinem schönen Buch Kosmopolis entwickelt Stephen Toulmin (1991) die These, dass mit dem 17. Jahrhundert in Europa eine »Politik der Gewissheit« einsetzte, die in der Philosophie und den Wissenschaften die Abwertung des Praktischen, Lokalen, Zeitgebundenen zugunsten der Suche nach allgemeingültigen, zeit- und ortlosen Grundlagen der Erkenntnis mit sich führte. Diese Schwerpunktverschiebung zum ausschließlich Theoretischen ging einher mit dem Ideal einer absoluten Souveränität des Nationalstaats, ein Ideal, das erst nach 1914 zunehmend ins Zwielicht geriet. Zweifel setzten an. Nicht nur die Naturwissenschaftler hoben die Trennung zwischen Beobachter und der von ihm beobachteten Welt mehr und mehr auf, sondern auch die praktische Philosophie gewann zunehmend wieder an Boden. Die Rückkehr zum Zeitgebundenen, zu einer Praxis setzte ein, die immer mehr der theoretischen Überlagerung der Welt zu misstrauen begann. Die »intellektualistische Rationalisierung durch Wissenschaft und wissenschaftlich orientierte Technik« sollte nicht nur durch Bloßstellung »entzaubert« werden (wie noch Weber [1957: 593f.] meinte), sondern eine tiefgreifende anti-cartesianische Umorientierung setzte ein. Wittgenstein empfahl konsequent: »Beginn mit den Praktiken – denk nicht […], sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist« (Wittgenstein 1984: 277). Als das Gemeinsame empfahl er, nach »Sprachspielen«, nach Praxiskonstellationen ähnlichen Sprechens und Tuns zu suchen, diese nicht auf Regelvorgaben, sondern auf gemeinsame Konventionen und »Lebensformen« zurückzuführen (ebd.: 356). Bourdieus Praxisbegriff setzt hier grundsätzlicher an, indem er das Handeln des Akteurs auf einen Habitus zurückführt, der sich dem Akteur von früh an einverleibt und dem er trotz aller Feld- und Weltverschiebungen nicht entkommt. Nehmen wir aber den Bourdieu’schen ›Habitus‹ als

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historisch generierte Rahmung sozialen Handelns, dann eröffnen sich uns die institutionellen und epistemischen Formen, die die konkrete Praxis ermöglichen, befördern, oder auch verhindern. Sie bezeichnen Generierungsmechanismen von jeweils objektiven Möglichkeitshorizonten. Dabei aktualisiert etwa der Habitus permanent die Vergangenheit, lässt aber zugleich seine Genese in Vergessenheit geraten. In dynamischen Gesellschaften müssen wir jedoch bezweifeln, ob sein Wirken immer wieder ein ähnliches Milieu, eine konstante Welt von Situationen hervorbringt, die geeignet sind, die von ihm gestützten Dispositionen zu verstärken. Zwar mag der Alltagsmensch wegen seiner unausweichlichen Verstrickung in die Welt (Bourdieus doxa) mit einer Art ›Betriebsblindheit‹ geschlagen sein, indem sein Tun stets mehr Sinn umfasst, als er aktiv davon weiß (vgl. Bourdieu 1987: 127). Doch ist dieses Wissen prinzipiell nicht unzugänglich. Es besteht aus latenten, in die Handlungspraxis eingelassenen Vorannahmen und Deutungsrepertoires, die unseren Vorstellungen, von dem was passend, richtig, plausibel ist, zugrunde liegen. Nicht der Rückgriff auf ein Regelwissen, um mit Wittgenstein zu sprechen, erklärt uns das gemeinsame Handeln der Akteure. Vielmehr entfaltet sich innerhalb der fortlaufenden sozialen Praktiken auf der Basis eingeschliffener Fähigkeiten des know how ein praktisches Verständnis, ja entwickeln sich gemeinsame Kriterien passenden oder unpassenden Handelns, die vor allem bei Unterscheidungen zur Wirkung kommen. In dieser Fassung sind Praktiken ›regelgeleitet‹, indem sie nicht nur regelmäßig ablaufen, sondern auch impliziten Handlungskriterien folgen. Teilnehmer sozialer Praktiken erleben im Handlungsfluss, ob ihr Handeln passt oder nicht, indem die anderen Teilnehmer ihr Handeln ›beantworten‹, Anschlusshandlungen ansetzen, also stillschweigend mitteilen, dass sie das Handeln für ›korrekt‹ halten.

Das Wissen der Praxis In den fortlaufenden sozialen Praktiken bilden sich nicht nur Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Aufgabenlösung und Situationseinschätzung heraus, sondern es entfalten sich auch unauffällig im Zusammenhandeln mit Anderen gemeinsame Maßstäbe, die dem Handeln Richtung und Anschluss vermitteln. Damit kann sich ein praktisches Wissen herausbilden, wie im entsprechenden Kontext ›normal‹ und ›vernünftig‹ zu handeln ist und wie eventuell weitere Kenntnisse und Ressourcen zu aktivieren und zu kombinieren sind. In den sozialen Praktiken bildet sich so intersubjektiv ein praktisches Wissen heraus, das zwar indirekt auf übergreifende gemeinsame kulturelle Wissens- und Interpretationsschemata verweist, als solches je-

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24 | Karl H. Hörning doch nur in den Praktiken existiert und dort seinen spezifischen Ausdruck findet (vgl. Hörning 1997, 2001: 223-243; Schatzki 1996: 188-232). Setzen wir nun dieses praktische Wissen in Beziehung zu einem ›Rahmungswissen‹, wie es uns Goffman in seiner ›Rahmenanalyse‹ so eindringlich beschreibt (vgl. Goffman 1977), dann öffnen wir die Praxisperspektive hin zur Frage nach der Performanz, der Frage, unter welchen Bedingungen denn nun die Wissens- und Handlungskompetenzen unserer Praktiker im Fluss des alltäglichen Tuns zum Ausdruck kommen. Das Rahmungswissen vermittelt vor allem Interpretationskompetenzen und Situationsdefinitionen. Mit seiner Hilfe rücken die Handelnden das Geschehen in einen kollektiv einsichtigen und übersituativ existierenden Bedeutungsrahmen ein und typisieren und deuten somit die Handlungszusammenhänge, in denen sie sich befinden. »Sie rekurrieren dabei ganz selbstverständlich auf ein zwar individuell erworbenes, aber immer schon kollektiv verfügbares und wirksam unterstelltes implizites Wissen darüber, was ›man‹ wann, wo, mit wem tut, reden und verabreden kann oder nicht kann« (Soeffner 1989: 143ff.). Goffman beschreibt damit alltägliche Bedeutungsrahmungen mit ihren Informationszeichen, Symbolmarkierungen und Anzeigehandlungen, die von den Akteuren stillschweigend ver- und entschlüsselt werden. Gleichzeitig – und das macht das Rahmungswissen so relevant für eine performativ erweiterte Praxisperspektive – werden bestimmte Interpretationen auch gesteuert, indem ich andere dazu bringe, einen bestimmten Bedeutungsrahmen zu verwenden, der meine Absichten und Handlungen sozial normalisiert und mir gleichzeitig erlaubt, mich selbst sichtbar zu präsentieren. Damit wird der wechselseitigen Ausgestaltung und Manipulation normalen Handelns viel theoretischer und empirischer Raum eröffnet. Dann lässt sich auch besser mit der Unterstellung umgehen, dass Praxistheorien die Praxis rechtfertigen, die sie so vorbehaltlos und ohne Bewusstseinsunterstellung beschreiben. In ihrer ›Fetischisierung von Praxis‹ hätten sie keine Möglichkeit, vernünftiges Tun von irrationalem Zwang zu unterscheiden. Die von ihnen herausgearbeitete Normalität fortlaufender sozialer Praktiken unterstelle eine grundsätzliche Zustimmung der Beteiligten zum Bestehenden. Die kritische Leistung, gerade auch der Soziologie, müsse – so Adorno (1969) – aber darin bestehen, die »Abgründe des Vorhandenen« aufzuzeigen und »gegen die Potenzierung und Leistungssteigerung des bloß Zweckrationalen« zu kämpfen. Nicht nur gelingende, sondern auch verfehlte und verformte menschliche Praxis gelte es zu beschreiben, eine Praxis, die praktisch ›sinn-los‹ und somit den Beteiligten unverständlich geworden ist. Hier wirft die Kritik eine zentrale Frage auf. Können äußerlich störungsfrei ablaufende soziale Praktiken vom Beobachter als ›misslungen‹

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oder gar ›sinnentstellt‹ identifiziert werden? Zeigt sich ein ›Leiden‹ an der Wirklichkeit, das sich dem Soziologen soziologisch erschließt? Die klassische Kritische Theorie ›wusste‹, dass die Fakten der Verdinglichung aufgrund des ideologischen Verblendungszusammenhangs selten den ›Betroffenen‹ bewusst werden können – allenfalls als subjektiv erfahrbares physisch-psychisches Leiden. Inzwischen sind wir solchem Wissen ›von außen‹ gegenüber skeptisch geworden, bzw. manche waren es von Anfang an. Vor allem Bourdieu misstraut zutiefst der intellektualistischen Haltung der Sozialwissenschaftler. Sie sind für ihn – wie alle Wissenschaftsfelder, die unter der Existenzbedingung der Muße, der scholé, arbeiten – dem scholastischen Trugschluss verfallen, einem Habitus, der einhellig gebilligten Konventionen frönt und die Voraussetzungen des Denkens im Unbedachten (der doxa) belässt (vgl. Bourdieu 2001: 19). Dieser Habitus ist das Ergebnis kaum bewusster Intellektualisierungsstrategien, die eine scholastische Disposition hervorbringen, die sich »noch in die scheinbar luzidesten Intentionen« einschleicht (Bourdieu 2001: 178). Der »scholastische Blick« (Austin) entspringt einer praxis- und handlungsentlasteten Arbeits- und Lebensweise im akademischen Raum und produziert eine ganz besondere, distanzierte, theoretische Sicht auf die soziale Welt. In seiner Kritik der »scholastischen Vernunft« bezichtigt nun Bourdieu den Soziologen, dass er ständig seine eigene Sicht in die Köpfe der Akteure implantiere und Modelle konstruiere, die er in das Bewusstsein der Akteure verlegt, um hinter ihre Vernunft zu kommen. So werden die sozialen Akteure und ihre Praktiken ständig nach dem Bild der Wissenschaftler geformt und mit den Kategorien des wissenschaftlichen Feldes traktiert.1 Bourdieu plädiert dagegen für eine reflexive Soziologie, die ihre doxa nicht unbedacht generalisiert, sondern sich ständig ihrer doxischen Erfahrung reflexiv zuwendet, um »über die sozialen Bedingungen des Denkens so nachzudenken, daß das Denken eine wirkliche Freiheit gegenüber diesen Bedingungen gewinnt« (Bourdieu 2001: 152). Zu leicht lässt sich die Soziologie ihre Probleme, die sie in Bezug auf die soziale Welt formuliert, von eben dieser Welt vorgeben, was Bourdieu auch gegen die sozialphänomenologischen und interpretativ-interaktionistischen Forschungsperspektiven argumentieren lässt, die den ›subjektiv gemeinten Sinn‹ zu rekonstruieren versuchen und dabei die Primärerfahrung des Akteurs verabsolutieren. Dabei wird die doxa des Alltags, jene alltäglichen, unhinterfragten Denk-, Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata, allzu ungebrochen in die doxa des Wissenschaftlers überführt. Hier gilt es, beide Doxa-Formen aufzuklären. 1 | Bourdieu attackiert besonders die Reduktion auf das bewusste Kalkül (›rational choice‹), ein ›scholastischer Irrationalismus‹, der für ihn auf Webers Definition ›rationalen Handelns‹ zurückgeht (vgl. Bourdieu 1998: 114).

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26 | Karl H. Hörning Das Potenzial zur Selbstaufklärung des Soziologen sieht Bourdieu in der soziologischen Erforschung des intellektuellen Feldes: Es geht darum, das eigene wissenschaftlich Unbewusste bewusst zu machen und so die Fähigkeit zu entwickeln, sich selbstreflexiv zu beobachten. Für die doxa des Alltags selbst sieht Bourdieu dagegen weniger Aufklärungschancen. Da die Handelnden in seiner Praxiskonzeption nie genau wissen, was und warum sie es tun, da sich die Genese ihres Habitus ihrem Blick entzogen hat, sind sie Gefangene einer doxa, die sie ›betriebsblind‹ und täuschungsempfänglich macht. Dieses »Schweigen der Doxa«, eher bekannt als common sense, gilt es aufzubrechen. Bourdieu sieht dazu zwei Wege: Der eine richtet sich auf die Erwartung, dass Zweifel von innen entstehen, wenn die habituellen Strukturen nicht mehr mit den objektiven Strukturen übereinstimmen, aus denen sie hervorgegangen sind. Der andere, von Bourdieu mit zunehmendem Alter selbst verfolgte Weg, kommt von außen, indem Intellektuelle unter den Beherrschten häretische Diskurse anzetteln. Die Wirkung solcher häretischen Diskurse beruht für ihn nicht auf »der Magie einer Macht, die der Sprache selbst […] oder der Person des Sprechers immanent wäre […], sondern auf der Dialektik von autorisierter und autorisierender Sprache« (Bourdieu 1990: 106). Praktiker brauchen demnach Wortführer mit Sprachmacht. Sie allein sind in der Lage, die diffusen, inkohärenten Erfahrungen und Denkformen der Praktiker in eine kohärente Weltsicht zu überführen und diese zum anerkannten Ausdruck zu bringen. Bourdieu vertraut der Kompetenz des ›spezifischen Intellektuellen‹, der sich zum Wortführer bzw. Übersetzer der ›Sprachlosen‹ und ›Verblendeten‹ macht. Einer wirklichen Selbstaufklärung im Sinne einer Selbstverbesserung ihrer Praxis durch diese selbst traut er aber nicht. Hier nehme ich eine andere Position ein: Wir müssen das ›kritische Subjekt‹ nicht voller Ungeduld verabschieden, um uns selbst in dieser Rolle zu gefallen. Eher sehe ich ein ›praktisches Subjekt‹, das sich gemeinsam mit anderen in einer Welt unterschiedlicher Lebensformen einrichtet und ein Vermögen entwickelt, mit Kontingenzen umzugehen. Eine solche praktische Vernunft von Praxis entspringt keiner äußeren Quelle, sondern allein der Perspektive praktischen Handelns. Dabei können Experten, wie Soziologen, eine Rolle spielen – sie nehmen aber neben den ›Experten des Alltags‹ eine untergeordnete Rolle ein. Gegen die ›verarmte‹ Sprache der Theorie wehrt sich ein praktisches Wissen, das auf eine eigene Etymologie, eigene Mitteilungsformen, eigene Auslegungspraktiken pocht. Außerhalb spezieller Interpretationsgemeinschaften und homogener kultureller Lebensformen kann sich das praktische Wissen dabei nicht auf ein eindeutiges Rahmungswissen mit entsprechenden Auslegungsregeln stützen. Wie aber kann ein solches praktisches Wissen mit sich selbst zu Rate gehen, um ›vernünftig‹ zu werden?

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Für eine pragmatistische Fundierung der Praxis In Beantwortung dieser Frage stütze ich mich auf einen breiten Praxisbegriff, der umfassender als der vieler praxis- und alltagstheoretischer Ansätze ist, um so dem ›praktischen Wissen‹ und seinen Entfaltungsmöglichkeiten eher gerecht zu werden. Allzu leicht wird das Wissen der Praktiker auf ein kulturell verfügbares Wissen verkürzt, das sich als so genanntes ›Hintergrundwissen‹ der Praxis unterlegt. Doch praktisches Wissen ist mehr; es geht aus jener konkreten menschlichen Tätigkeit hervor, die wir ›Praxis‹ nennen. ›Praxis‹ steht allgemein für jenes Handeln bzw. jenen gesellschaftlichen Prozess, mit bzw. in dem Menschen sich die Bedingungen ihrer historisch vorgefundenen Wirklichkeit aneignen und sie transformieren. Der Begriff der Praxis gehört zu den voraussetzungsvollen und aufgeladenen Begriffen der neueren Philosophie. Häufig wird er als Gegenbegriff formuliert, ähnlich dem Begriff des ›Alltags‹, der seit Ende der 1960er Jahre in der Soziologie struktur- und systemtheoretischen Ansätzen entgegengesetzt wird. Die Soziologie machte es sich aber sehr viel leichter als die Philosophie, indem sie das Praktische nicht weiter hinterfragte, sondern es lediglich zur Verstärkung des konkreten alltäglichen Tuns einsetzte. Oft ging dabei der Praxisbegriff völlig unter, vor allem weil die Soziologie den Begriff des ›Alltags‹ irrtümlicherweise mit dem der ›Lebenswelt‹ gleichsetzte, der mit der praktischen Bewältigung von Welt wenig gemein hat. Die Philosophie dagegen nahm den Praxisbegriff meist ernst. Aber sie trägt noch heute schwer am antiken Praxisideal. Seit Aristoteles fragt sie sich, ob die Praxis von der Poiesis unterschieden oder mit ihr in eins gesetzt werden soll, oder ob sie nicht vielmehr heute in der Poiesis aufzugehen droht. Die aristotelische Unterscheidung zwischen Praxis als einer auf vernünftige Lebensführung und -gestaltung ausgerichteten Tätigkeit und Poiesis als einer Sache des Herstellens, Bewirkens und Hervorbringens, war und ist sehr einflussreich (vgl. zu Aristoteles z.B. Vigo 1996). So in der Klage Hannah Arendts über die Praxisvergessenheit einer Neuzeit, die dem technisch-produktiven Herstellen, dem Machen, Hervorbringen, Fabrizieren, dem ›homo faber‹, den Primat über alle anderen menschlichen Tätigkeiten einräumt. Arendt kritisiert scharf die Selbstverständlichkeit, mit der gerade im Gefolge von Marx immer mehr Praxis mit Poiesis als ›praktischproduktiver Arbeit‹ gleichgesetzt wird und mit der Herausbildung der ›Arbeitsgesellschaft‹ Arbeit und Produktion zum alleinigen Paradigma des Praktischen aufsteigt. Im Gegensatz zum Herstellen, dessen Zweck außerhalb des eigentlichen Tuns, eben im hergestellten Produkt liegt (und darin an sein Ende kommt), ist Praxis für sie ein Tun, dessen Zweck im Vollzug des Tuns selbst verwirklicht wird, eine »tätig verwirklichte Wirklichkeit« (vgl. Arendt 1981: 287-314). Diese emphatische Gegenüberstellung von

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28 | Karl H. Hörning ›reiner‹ Praxis und ›bloßer‹ Poiesis führt aus soziologischer Sicht jedoch nicht weit, ist sie doch zu sehr normativ aufgeladen. Meine These ist, dass sich ein praktisches Wissen, das zwischen passender, ›guter‹ und nicht geeigneter, ›schlechter‹ Praxis zu unterscheiden weiß, nicht in Distanz zur instrumentellen Welt der gemachten Dinge und technischen Verfahren aufzeigen lässt, sondern nur in der Bewältigung von Problemen, in denen Dinge und Verfahren ihren Einsatz und Gebrauch finden, ›zu Wort melden‹ kann. Die Menschen sind nicht nur in die Welt mit ihren Kulturen, Sprachen und Gesellschaftsgeschichten präreflexiv verstrickt. Sie sind nicht nur eingebunden in ein bereits geknüpftes Netz kulturell vorgeformter Sinnbezüge, das sich ihren Praktiken unterlegt. Der soziale, weil übersubjektiver Charakter ihres ›Lebens-Sinns‹ resultiert gleichermaßen aus einer herstellend-hervorbringenden Praxis, in der ständig neue und kontigente Handlungsbedingungen berücksichtigt und Zielanpassungen vorgenommen werden müssen. Zwecke gehen dem Handeln oft nicht voraus, können in komplexen Praxiszusammenhängen gar nicht im voraus bestimmt werden, sondern ergeben sich erst in konkreter Auseinandersetzung mit den jeweiligen Handlungsbedingungen. Damit lässt sich auch eine scharfe Trennung zwischen einem breiten praktischen Wissen und einem technisch-bewirkenden Können nicht aufrecht erhalten. Unsichere und auch widersprüchliche Situationen müssen gemeistert werden. Hierzu reicht der konventionelle common sense oft nicht aus. Das eingesetzte Kontextwissen muss dann (stillschweigend) auf umfassendere Hintergrundannahmen und Beurteilungskriterien zurückgreifen können, um solche Praktiken auszuführen. Soziale Praktiken sind dann der Ort, das Medium, durch das Verstehen und Einsicht befördert und sich ein komplexes praktisches Wissen entfalten kann (vgl. Hörning 2001: 205-243). Wegen dieses Doppelcharakters von Praxis sollten wir die Praxisperspektive nicht vorschnell allein in kulturtheoretische Zusammenhänge verankern, sonst schlagen wir das Praktische zu leicht jenen kollektiven Wissensordnungen zu, die den eigentlichen Vollzugswirklichkeiten des praktischen Umgangs mit der Welt theoretisch vorgeordnet werden. Die soziale Welt bezieht ihre Gleichförmigkeiten aber nicht allein aus einem kulturellen Reservoir symbolisch-sinnhafter Regeln und Deutungen. Sie besteht gleichermaßen aus aktiven Handlungs- und Gebrauchszusammenhängen, in denen die Akteure gemeinsam Formen ›angemessener‹, ›passender‹ Praxis herauszufinden suchen. Erst in einem solchen Netzwerk sozial eingeschliffener Praktiken werden kulturelle Wissensordnungen zu einem Repertoire, das sich in das praktische Handlungswissen der Akteure einspielt und dabei auch unterschiedliche Formen von Reflexion hervortreibt.2 Um diese Ge2 | Vgl. ausführlich Hörning 2004.

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brauchsperspektive stärker in der praxistheoretischen Diskussion zu verankern, plädiere ich für eine pragmatistische Fundierung der Praxistheorie. Vom pragmatistischen Standpunkt aus ist der Mensch bei der Bewältigung seiner Lebensprobleme immer wieder mit neuen Handlungssituationen konfrontiert, die ihm nicht nur praktisches Wissen und Könnerschaft abfordern, sondern ihn auch zu neuen Situationsdeutungen, aber auch zu Revisionen seiner Absichten und Zielsetzungen veranlassen. ›Sich auf eine bestimmte Sache bzw. Handlungsweise zu verstehen‹, ist nicht nur eine Kompetenz, die eine vertraut-konventionalisierte Sicherheit im Handeln vermittelt, sondern zugleich die Fähigkeit, in Auseinandersetzung mit den Personen und Gegenständen der Handlungswelt kreativ mit den Gegebenheiten umzugehen und diese reflexiv zu bedenken. Um meine Argumentation zu entwickeln, greife ich auf einen umfassenden Begriff des Pragmatismus zurück, der dem Praktischen unbedingten Vorrang in der Erklärung menschlichen Handelns einräumt. Dabei hilft mir die Renaissance pragmatistischen Denkens in der Gegenwartsphilosophie.3 Der Pragmatismus ist eine der großen Denkbewegungen der Moderne. Unter seinem Namen finden sich viele Varianten, sowohl in der Tradition des klassischen Pragmatismus als auch in den Fassungen des Neo-Pragmatismus. Ihr gemeinsamer Nenner ist die Betonung der Praxis, der sie den Primat vor der Theorie zuweisen. Wenn wir die Welt erklären wollen, dann hilft uns das Praktische weiter als die Theorie. Unsere Fähigkeit zu wissen, anzunehmen, zu denken, dass etwas der Fall ist, hängt von den Fähigkeiten zu einem Tun und einem praktischen Wissen-wie ab, auf das die Rekonstruktion des Denkens, des Wissens-dass rekurrieren muss.4 So lehnen Pragmatisten jeglichen Vorrang einer abbildenden, vorstrukturierenden, widerspiegelnden Erkenntnisform – eine ›innere‹ Welt der Ideen, Urteile und Vorstellungen – ab und setzen dagegen einen weiten Begriff von Praxis, der vor allem am tatsächlichen Tun, der Herstellung und Formung, dem Vollzug, Einsatz und Gebrauch orientiert ist. Die entscheidende Umstellung im Pragmatismus liegt in der veränderten Auffassung vom Handeln. Handeln ist kein abgeleitetes Phäno3 | Vgl. hierzu Sandbothe 2000. 4 | Von einem pragmatic turn lässt sich dann sprechen, wenn Handeln nicht als abgeleitetes Phänomen fungiert, nicht als Durchführung von Anleitungen, deren Quellen anderen Feldern entspringt (den Feldern des Bewusstseins, des Denkens, des Systems, der Gesellschaft u.dgl.). Ein so verstandener Pragmatismus, Brandom nennt ihn »Fundamentalpragmatismus«, »steht im Gegensatz zu jenem platonischem Intellektualismus, der praktische Fähigkeiten dadurch zu erklären trachtet, dass er auf ein Verständnis von Prinzipien abhebt – auf eine Art von Wissen-dass, die in jeder Form von Wissen-sie zugrunde liege« (Brandom 2000: 40).

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30 | Karl H. Hörning men, gemäß einer Ausführung eines andernorts erdachten und geschriebenen Drehbuchs, sondern umgekehrt, Handeln ist Teil des ›Praktischen‹, dem der Vorrang gegenüber dem Bewusstsein eingeräumt wird. Zentraler Angriffspunkt ist das teleologische Handlungsmodell, das einen Akteur mit vorgängigen Absichten, Intentionen und Zielen stilisiert, der diese durch sein Handeln zu realisieren sucht. Dewey löst einen derartigen situationsunabhängigen Zweckbegriff auf und ersetzt ihn durch die Konzeption erfahrungsoffener, situationsadäquater Zwecksetzung, der ends in view, der Ziele, die in Sichtweite sind (vgl. Dewey 1995: 110ff., 1998: 223f.). Das von ihm zugrunde gelegte Handlungsmodell nimmt den Begriff der Handlungssituation sehr ernst: Eine Handlungssituation besteht nicht nur aus Bedingungen und Mitteln, die dem Handlungsziel dienlich oder hinderlich sind. Eine Situation ist nicht lediglich der begrenzende oder ermöglichende Rahmen, in dem ich meine vorgefassten Handlungsintentionen und Ziele mehr oder weniger eindeutig realisiere, indem ich situative Bedingungen berücksichtige und situativ verfügbare Mittel einsetze. In einer Situation (ergebnis-)offenen Handelns spielt sich mehr ab. Oft wird die Situation selbst zum Problem: Sie fordert uns heraus, ›macht uns Sorgen‹, ärgert uns, enttäuscht uns, stößt uns ab oder ruft unser Interesse hervor, geht uns an, trifft den Nerv. All diese Äußerungsformen provozieren Reaktionen, seien sie äußerlich noch so unsichtbar und wenig spektakulär. In diesem Wechselspiel verändern sich die Situationen und Kontexte. Sie sind keinesfalls bloße Container, die man mit seinen vorgefassten Handlungsabsichten fest im Blick und Griff halten muss. Im Gegenteil, sie sind selbst Spielfeld eigenständiger ›Akteure‹, zu denen nicht nur ›wir‹ als Handelnde und vom Handeln wissende Personen, sondern auch mitspielende Körper, Artefakte, Tiere und Landschaften gehören. Diese begründen in ihren wechselseitigen Bezügen ein Handlungs- und Verweisungsgefüge, das für den einzelnen Handlungsvollzug den Resonanzboden darstellt. Hier gilt es jedoch aufzupassen: Für sich genommen sind Situationen nicht konstitutiv für das Handeln. Dies ist ein Fehler jeglicher Überbetonung von Situationen und Kontexten, wie sie etwa in kulturrelativistischen und kontextualistischen Strömungen vorzufinden sind, in denen sich die menschlichen Akteure so den Situationen anpassen bzw. von diesen bestimmt werden, dass ihre Handlungen weithin die Situation widerspiegeln. Handlungskontexte ›lösen‹ Handeln nicht ›aus‹, fordern es aber heraus, muten ihm einiges zu und aktivieren Fertigkeiten und Umsicht der Akteure. Handlungen sind dann eher Antworten auf Situationen, die Fragen aufgeworfen haben: Um angemessen antworten zu können, benötigen wir ein gehöriges Maß an Vorverständnis, Vorwissen und praktische Einsicht. Ohne diese bleibt die Situation stumm. Eine solche Sicht bricht grundlegend mit dem klassischen Zweck-Mittel-Handlungsmodell. In diesem stellt die

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Handlungssituation lediglich das Terrain zur Verfügung, auf dem Handlungsziele verfolgt und Handlungsressourcen eingesetzt werden. In ihm lernt man nicht hinzu, in ihm disponiert man nicht um, in ihm erschließt man keine neuen Möglichkeiten. In ihm lässt sich der Handelnde keinesfalls dazu ›verführen‹, seine Zielsetzungen abzuändern oder zu ›verwässern‹. Das rationalistische Zweck-Mittel-Schema verallgemeinert und universalisiert einen spezifischen Ausschnitt menschlicher Handlungsformen, der sich in der Neuzeit historisch besonders in den Vordergrund gedrängt hat. Allzu leicht schiebt es damit andere Handlungsweisen an den Rand oder weist ihnen sogar – wie Weber das tat – einen ›defizienten Handlungsmodus‹ zu. Die pragmatistische Alternative ordnet Intentionalität, Zwecksetzung und Zielbildung nicht der Handlung vor, sondern fasst sie als Phase des Handelns auf, durch die das Handeln innerhalb der entsprechenden situativen Kontexte geleitet und umgeleitet wird. Zwecksetzungen vollziehen sich hiernach nicht in einem mentalen bzw. kognitiven Akt des Wissens und Abwägens vor der eigentlichen Handlung, sondern gehen aus laufenden Handlungszusammenhängen hervor, in denen wir unsere Handlungsfähigkeiten einüben und über die wir uns die Welt erschließen und vertraut machen. Aber in Ablehnung durchschlagender Zwecksetzungen läuft man leicht Gefahr, ›das Kind mit dem Bade auszuschütten‹, d.h. die jeweiligen Zusammenhänge, in denen das Handeln tatsächlich abläuft, überzubetonen. Dann konzentrieren sich etwa in der Soziologie interaktionistische Ansätze allein auf die unmittelbar miteinander agierenden Kommunikationspartner, und alle nicht unmittelbar auf vis à vis-Situationen gründende Sozialverhältnisse geraten aus dem Blick. Wenn wir aber alles aus der Perspektive der je interaktiv miteinander verbundenen Akteure betrachten, fällt die Antwort auf die Frage schwer, wie Handlungen aneinander anschließen und sich verketten und sich derart ein ›objektiver‹, d.h. übersubjektiver Sinn herausbildet. Ähnlich geht es Strömungen der Ethnologie, der Cultural Studies, aber auch neopragmatistischen Ansätzen in ihrer typischen Konzentration auf Kontexte.5 Dann sind es die jeweilig geltenden kontextuellen Rahmungen und Konventionen, die uns die Handlungsursachen aufschließen sollen. Auch der Pragmatismus wird oft mit dieser Sicht eines sich von Situation zu Situation geschickt durchwerkelnden Akteurs gleichgesetzt. ›Pragmatisch handeln‹ heißt dann, sich recht prinzipienlos auf die jeweiligen Erfordernisse des Tages einzulassen, um möglichst unkompliziert, aber wirkungsvoll durch 5 | Vgl. zu diesem Problem der Überbetonung von Kontexten im Erklärungszusammenhang etwa meine Kritik am ›radikalen Kontextualismus‹ der Cultural Studies: Hörning 1999: 91f.

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32 | Karl H. Hörning die Welt zu kommen. Mit dieser Gleichsetzung von Pragmatik und Pragmatismus haben aber Dewey und Mead nicht viel gemein. Für sie braucht es den einzelnen Akteur, der sich aus seinen Erfahrungen und Erwartungen heraus auf die Handlungssituationen einstellt. Es kommt ihnen auf die Fähigkeit und Bereitschaft der Akteure an, sich einer Situation zu ›stellen‹, sich in ihr zu bewähren, d.h. ihr Gelingen bzw. Misslingen zu bedenken und zu beurteilen. Sie wehrten sich gegen die Gleichsetzung des Pragmatismus mit Nutzen- und Effizienzdenken und betonten das experimentelle und offen-erkundende Handeln mit dem Ziel der »Entwicklung konkreter Vernünftigkeit« (Peirce 1976: 277f.). Praktisches Handeln ist für sie mehr als die Bewirkung einer Veränderung in der Welt, sondern ist auch die Art und Weise, wie Menschen ihr Leben miteinander gestalten. Praxis verlangt auch eine genuin praktische Form des Wissens. Ein solches praktisches Wissen lässt sich auf Situationen ein, wird aber zugleich von der Situation und den in ihr konkretisierten Sinn- und Handlungsmöglichkeiten herausgefordert und transformiert, indem es aus Begegnungen und Erfahrungen Schlüsse zieht und Probleme reflektiert. Für die Pragmatisten kommt Bewusstsein ins Spiel, wenn Routinen nicht mehr greifen, wenn Handlungsabläufe irritiert und gestört werden. Erst in dieser Phase der »Distanzerfahrung« (Mead 1983: 162), in der der Handelnde sich fragt, was da passiert ist und das Geschehen zu rekonstruieren beginnt, setzt Reflexion ein, die in Umorientierungen einmünden können. In diesem Handlungsmodell sitzt der ›Stachel des Zweifels‹ im Handeln selbst: Die Handlungsgewohnheiten prallen an den Widerständigkeiten der Welt ab, der Ablauf des Handelns wird unterbrochen, Irritation tritt auf, Denken setzt als »verzögerte Handlung« ein (Dewey 1998: 223). Aus dieser Störung heraus führt nur eine Umstrukturierung der Handlung, bestimmte (präreflexive) Vorannahmen werden thematisch, neue oder andere Aspekte werden herangezogen. Die so entwickelten Lösungen eines Handlungsproblems werden zu Routinen, bis sie selbst wieder Irritationen hervorrufen. Wird dieser Handlungszyklus aber zu eng gesehen, dann wird Reflexivität allzu sehr an individuelles Lösungs- und Bewältigungswissen gekoppelt, das sich in ständigen Handlungsverbesserungen ›auslebt‹.6

6 | Dieser Eindruck wird verstärkt durch den Joas’schen Interpretationsversuch, die Kreativitätsdimension des Handelns herauszuarbeiten, die er bei Dewey und den klassischen Pragmatisten durch den Begriff der »situierten Kreativität« vertreten sieht (vgl. Joas 1992: 196). Doch praktisches Wissen ist mehr als individuelles Lösungs- und Bewältigungswissen.

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Soziale Praxis und die verändernde Kraft der Wiederholung In dem dargestellten Handlungsmodell verankern wir Kreativität im Handeln. Damit suchen wir das Veränderliche, Unbestimmte der sozialen Praktiken nicht in vorgängigen Strebungen oder Fähigkeiten von Subjekten, sondern im Ablauf der Praktiken selbst: in ihrem Gelingen oder Misslingen, in ihrem immer wieder Neu-Ansetzen und den Modifikationen von Vorhandenem. Nicht der Akteur, sondern die Praktiken mit ihren Handlungsabläufen und -problemen sind Ausgangpunkt der Analyse. Wiederholung und Innovation, das Beständig-Gewohnte und das Suchend-Offene, sind zwei Seiten der sozialen Praxis. Soziale Praktiken stützen sich auf Vorhandenes, auf Repertoires. Sie beginnen nie von Grund auf neu. Praktiken sind fraglose Anwendungen von bereits bestehenden Möglichkeiten, sind wiederholte Aneignungen, sind immer wieder erneuerte Realisierungen von bereits Vorhandenem. Aber zur gleichen Zeit sind Praktiken auch produktiv zu denken: als ein eingespieltes In-Gang-Setzen von Verändertem, als neuartige Fortsetzung von Eingelebtem, als andersartige Hervorbringung von Vertrautem. Praktiken sind immer beides: Wiederholung und Neuerschließung. Dieser doppelte praxistheoretische Blick versucht, all die Einseitigkeiten zu vermeiden, die mit den Begriffen von Gewohnheit und Wiederholung verbunden sind. Gewohnheiten können eine eminent beharrende Wirkung haben und tragen zu Stabilität und Wandlungsresistenz bei. Sehen wir nur diese Wirkungen, dann sind wenig inhärente Wandlungstendenzen in den Praktiken selbst auszumachen. Dann muss der Wandel von außen, von Innovatoren, externen Krisen, technischen Umbrüchen, häretischen Interpretationen u.dgl. kommen.7 Für Dewey werden Gewohnheiten nur dann konservativ, wenn sie ständig auf konstante soziale Umwelten treffen, die den Ablauf des Handelns weder stören, unterbrechen, oder gar in ihren Konsequenzen unberechenbar machen. Ist dies nicht der Fall, kommt es zu Neuanpassungen an gewandelte Handlungsumstände, wobei die bisherigen Gewohnheiten Orientierungs- wie Abstoßpunkte darstellen. Gewohnheiten müssen in sich rasch verändernden Umwelten offen bleiben für Transformationsleistungen, sonst sterben sie ab und werden durch neue Formen des Handelns ersetzt. Um sich dagegen als Konvention oder Gewohnheit fortzusetzen, muss eine Handlungspraktik nach neuen Wegen suchen (z.B. mittels »in7 | Doch häretische Konzeptionen laufen oft ins Leere, lassen sich leicht abweisen, wie Berger und Luckmann mit Bezug auf die kognitiven und normativen Immunisierungsstrategien des Alltagswissens beschreiben (Berger/Luckmann 1980: 117, 121ff.).

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34 | Karl H. Hörning vention of tradition« [Hobsbawm 1998], vor allem wenn sie auf Probleme stößt, die sie in ihrer Identität gefährden). So gehört ein bestimmtes Maß an Geschicklichkeit und Kreativität zur Gewohnheit als solcher. Gewohnheiten, denen es an einer solchen Anpassungsfähigkeit mangelt, überleben schwerlich den Wandlungs- und Flexibilisierungsdruck modern-globalisierter Zeiten. Dies wird deutlich in Deweys Fassung des Wissens-wie als eine an Gewohnheiten geknüpfte Fähigkeit, mit Störungen zurecht zu kommen (vgl. Dewey 1922: 176-179). Die »Kreativität der Gewohnheit« besteht in der Fähigkeit, auf gewandelte Handlungsumstände transformatorisch zu antworten (vgl. Hartmann 2003: 147-194). In ausdifferenzierten Gesellschaften mit hoher Arbeitsteilung und weitreichender sozialer Vernetzung bedarf es vielfältiger Fertigkeiten und Fähigkeiten, damit sich etwas wiederholt. Wiederholungen sind dann nicht starr-mechanische, exakte Wiederholungen des Vergangenen, sondern eher die Wieder-Erzeugung eines Zustands in einem anderen Kontext unter einem anderen Vorzeichen: Zu einer anderen Zeit (jetzt und nicht vorhin, heute und nicht gestern) und an einem anderen Ort (hier und nicht dort). Gewohnheiten basieren dann auf einer Kompetenz, sich einer unbestimmten Anzahl von zukünftigen Situationen zu öffnen und dabei erwartbar Ähnliches, wenn auch nicht völlig Identisches hervorzubringen. In solchen Gewohnheiten spiegelt sich dann die verändernde Kraft der Wiederholung: Wiederholung als Zurückkommen auf Dasselbe im Anderen (vgl. Waldenfels 2001). Wäre das Wiederholte völlig identisch, geschähe gar nichts, gäbe es keinen zeitlichen Index. So bringt die Wiederholung die Zeit hervor. Denn wenn sich in einer Handlung etwas wiederholt, dann kehrt es aus einer vergangenen Zeitstelle einer früheren Handlung in die gegenwärtige Handlung zurück. Jede Wiederholung hebt die »Synthesearbeit«, die allen Einmaligkeitsbemühungen zugrunde liegt, wieder auf und lässt die Handlung als ein prozesshaftes Geschehen in Raum und Zeit hervortreten (vgl. Deleuze 1992: 127). Erst die Wiederholung erlaubt uns, von einem ›einmaligen Erlebnis‹, von einer ›unverwechselbaren Erfahrung‹ zu sprechen. Zugleich vermittelt Wiederholung immer auch die Erfahrung der Umwertung, häufig der Abwertung in Form einer ›bloßen‹ Wiederholung, einer ›Reproduktion‹ eines Früheren, ›Genuinen‹, ›Echten‹. Ohne das Wissen des Früheren kann das Gegebene nicht als dessen Wiederkehr erkannt werden. Wiederholung beraubt dem Singulären seine spezifische Identität und übergibt es dem Spiel der Differenzen zwischen den Gliedern einer Reihe von Handlungen. So bringt die Wiederholung, indem sie schon Bekanntes wiederkehren lässt, doch Neues hervor. Denn sie setzt in jedem Fall eine Differenz zu einem Früheren, markiert einen Abstand zwischen den Versionen des wiederkehrend Gleichen, der sonst nicht auffällig bzw. wahr-

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nehmbar wäre. Durch die Zugehörigkeit zu einem Schema, einem Paradigma, einer Praktik verändert sich der Sinn jedes einzelnen der sich wiederholenden Handlungselemente völlig gegenüber dem Sinn, der sich bei isolierter Betrachtung ergibt.8 Je nach Leitinteresse, Standpunkt oder ›Ähnlichkeitserwartung‹ (etwa des testenden Forschers) mag uns das Gleiche als Nicht-Wiederholung oder als Wiederholung des Gleichen erscheinen (vgl. Lobsien 1995: 32). In Zeiten hoher Kontingenzwahrnehmung entwickelt sich ein Gespür für Differenz, was den Einfluss bisher gültiger Konventionen und Normen auf gegenwärtige und zukünftige Handlungen verringert. Indem sich so unser Handlungs- und Unterscheidungsvermögen ausbildet, verändern auch wir uns im Wiederholen, allem voran unser Wissen und Können.

Praktisches Wissen als Prozess Kehren wir so zum Kern sozialer Praxis, den eigentlichen Vollzugswirklichkeiten zurück, dann kommt eine Praxiskompetenz in den Blick, die nicht einem gefestigten Wissensbestand entspringt, sondern einer Praktik des Wissens, einer Praktik des doing knowledge. Diese ›arbeitet‹ gerade in Zeiten offener und kontingenter Handlungsbedingungen sowie vielfältiger und medienvermittelter Wissensformen eher mit vorläufigen Antworten, eher mit Beispielen, als mit fertigen Lösungen. Ein solches Wissen lässt sich nicht auf kognitive Bestände reduzieren, sondern Wissen wird zum sozialen Prozess: einem Prozess des sozialen Lernens, situationsangemessen zu handeln. »Situatives Wissen stellt auf lokale Anwendungskontexte ab – wohlwissend, dass diese lokalen Kontexte ihrerseits von nicht-lokalen Wissensbeständen geprägt sind« (Ahrens/Gerhard 2002: 81). So treten die Orte und Zeiten des Wissens hervor, die physischen, sozialen und kulturellen Umstände, in denen Wissen hervorgebracht und eingesetzt wird. Dieser lokalen und historischen Praxis entspringen ständige Revisionen und Neuansätze, weil das ›Leben‹ immer weniger in festen ›Formen‹ verläuft. Vor allem in Zeiten der Globalisierung wird ein solches Wissen mit den Widersprüchen konfrontiert, die aus den unterschiedlichen Anforderungen und Zumutungen großer, überlokaler, gesellschaftsübergreifender Transformationen resultieren. So reichert sich praktisches Wissen an, bleibt aber – umso weniger es sich auf stabile kulturelle Deutungsmuster verlassen kann – eher un-

8 | Dabei haben wir offensichtlich die Wahl, in einer Handlungskette alles als Wiederkehr einzuordnen oder die Wiederholungen als missglückte Verknüpfung von Singularitäten zu sehen.

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36 | Karl H. Hörning sicher und widersprüchlich, und wird immer wieder auf eine ›konkrete Vernunft‹ verwiesen, die es zu aktivieren gilt. Wissen erscheint dann als sozialer Prozess, in dessen Verlauf sich immer häufiger unterschiedliche, auch widersprüchliche Wissensregister und Sinnmuster im gleichen Akteur kreuzen. Kulturelle Überlagerungen und Überschneidungen gewinnen im Zuge weltweiter Vernetzung und großer Migrationsbewegungen zunehmend Normalität. Lange Zeit kompatible kulturelle Wissensbestände zersplittern und mischen sich neu, indem sie von den Akteuren mit zunehmender Routine in die alltäglichen Praktiken eingebracht und dem gemeinsamen Handeln unterlegt werden. Ob die Rahmung gelingt, ist eine offene Frage. Doch Globalisierung bringt noch ganz andere Herausforderungen für das praktische Wissen mit sich. Sie erzeugt in der postfordistischen Epoche einen Flexibilisierungsdruck, der die Akteure immer mehr auf sich selbst und eine Kompetenz verweist, mit Unbeständigkeit, Kurzfristigkeit und Vorläufigkeit zu ›leben‹, sie für sich zu nutzen. Diese neue Form der Subjektivierung drängt darauf, jeden zum Experten seiner eigenen Sache und dafür verantwortlich zu machen. Dieses »Regime der Selbstsorge« (Foucault) bringt nun im Zuge seiner historisch gesellschaftlichen Einbettung neue Typen von Akteuren hervor, deren Praktiken ein Doppelspiel treiben: Sie praktizieren gleichzeitig Anpassung und Eigensinn. Ganz im Gegensatz zu Bourdieus Konzeption, in der sich in einem Akteur schwerlich vielgliedrige oder plurale Habitusformen inkorporieren lassen, tritt etwa in der Figur des »reflexiven Mitspielers« ein praktisches Wissen zutage, das mit den Widersprüchen gesellschaftlicher Transformationen auf eine neue Art und Weise umgeht. Sie pendelt zwischen Adaptation an die Verhältnisse und widerspenstige Skepsis. Es ist nicht mehr der ›ichschwache Dummy‹ der alten Kritischen Theorie, der alles hilflos mimetisch wiederholt, was ihm der Kapitalismus vorsetzt. Es ist aber auch nicht mehr der durchgängig spitzfindige Taktiker de Certaus (1988), der die Strategien des ›Machtblocks‹ listenreich unterläuft. Die Figur des ›reflexiven Mitspielers‹ durchschaut etwa als Fernsehrezipient die Konstruktionen und Mechanismen des Mediums und macht dennoch mit, ja hat Spaß am Spiel der Marken, Namen, Personen, Diskurse und Verführungen. Ihm ähnlich ist die Figur des ›zeitjonglierenden Spielers‹, die auch auf ihre skeptische Weise mitmacht, die neuen Kommunikationstechnologien intensiv nutzt, obgleich sie die Zeitprobleme und Zeitkrisen erkennt, die erst durch deren Einsatz entstehen (vgl. Hörning/Ahrens/Gerhard 1997). In diesen Figuren vereint sich beides: Vereinnahmung und Distanz. Sie kennzeichnet kein EntwederOder, sondern die Gleichzeitigkeit von Anpassung und Autonomie, die bestimmte Unentscheidbarkeiten offen lässt. Gegenüber solchen Praktiken bleibt die Rolle des Soziologen als ›Helfer

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zur Selbstaufklärung‹ sehr begrenzt. Eher ist seine Aufgabe darin zu sehen, möglichst ›von innen‹ solchen Formen ›praktischer Rationalität‹ nachzuspüren, einer Rationalität, die keiner äußeren Quelle, sondern allein der Perspektive des Handelns entspringt. ›Von außen‹ bietet sich dem Soziologen meist wenig Möglichkeit, vernünftiges von unvernünftigem Tun zu unterscheiden. Und doch enthält jedes praktische Wissen Maßstäbe von Angemessenheit, Stimmigkeit und Richtigkeit, die bei aller ›Ungenauigkeit‹ eine wichtige Quelle soziologischer Analyse sein können, wenn nur die entsprechend sensible Untersuchungsmethodik eingesetzt wird. Praktisches Wissen zeigt sich nicht nur im Tun, sondern auch im darauf bezogenen Sprechen – im Gewahrwerden, im Vermuten, im Erklären, im Schlussfolgern, im Rechtfertigen, im Kritisieren. Die dabei benutzte Sprache ist unscharf, nicht vertextet, oft fragmentarisch, aber benutzt Worte und Sätze, die in besonderen Praxissituationen genau ›den Punkt treffen‹. Sie greift gern auf Beispiele zurück, auf Analogien, auf Erfahrungen aus vergleichbaren Situationen mit ähnlichen Problemen. So wird im Reden über und Abgleich von Beispielen auch oft das Allgemeine, das ›Regelhafte‹ aufgeführt, für das die einzelnen Fälle Beispiele sein können. Im Prozess dieser Art von immanenter Aufklärung zeigt sich das praktische Wissen imstande, in ein praktisches Denken (ein ›Denken im Handeln‹) überführt zu werden, das die jeweiligen Kontexte zu überschreiten, bisher verdeckte Spielräume ausleuchten und auch Konventionen und Regeln in Frage zu stellen vermag. So kann sich aus praktischer Erkenntnis auch ein kritisches Vermögen ausbilden, das eine kooperativ-praktische Weltbearbeitung zur Grundlage hat, das sich immer wieder an der Widerständigkeit der Welt reibt und dabei Kultur- und Kontingenzsensibilität entwickelt.

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40 | Andreas Reckwitz

Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken. Zugleich ein Kommentar zu Pierre Bourdieu und Judith Butler Andreas Reckwitz

Was eine ›Theorie sozialer Praktiken‹, eine ›Praxistheorie‹ oder ›Praxeologie‹ ausmacht, inwiefern diese den Sozialwissenschaften eine neuartige Perspektive auf Handeln und Sozialität bietet, ist alles andere als eindeutig. Harold Garfinkels Ethnomethodologie, Pierre Bourdieus Theorie der Praxis, Wittgensteins Sprachphilosophie, Michel de Certeaus Analyse der »Kunst des Handelns«, Foucaults Konzepte der Praktiken des Selbst und der Gouvernementalität in seinem Spätwerk, Anthony Giddens’ Strukturierungstheorie, Judith Butlers Theorie der Performativität oder Ansätze aus den science studies wie jener von Bruno Latour – sie alle scheinen in die gemeinsame Richtung einer Theorie sozialer Praktiken zu weisen und gleichzeitig bleiben die konzeptuellen Differenzen augenfällig. In diesem Kontext geht es mir um zweierlei: um einen Beitrag zur ›Identitätsbestimmung‹ der Theorie sozialer Praktiken und um Explorationen ihrer immanenten Differenzen. Ich werde daher zunächst im Sinne einer synthetisierend-programmatischen Skizze auf basale Merkmale einer Theorie sozialer Praktiken eingehen, die sich jenseits der Unterschiede einzelner Autoren herausarbeiten lassen. Elementar ist hier eine anti-rationalistische und anti-intellektualistische Stoßrichtung des praxeologischen Basisvokabulars. Dieses ersetzt den Handlungs- durch den Praktikenbegriff und löst das klassische Problem sozialer Ordnung durch das der Repetitivität der Praxis ab. Gegen diverse traditionelle Sozialtheorien wird nun die Materialität sozialer Praktiken, das heißt ihre Verankerung in Körpern und in Artefakten betont und die ›Logik der Praxis‹ im Sinne eines Verhaltens modelliert, das situations-

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adäquat know how-Wissen zum Einsatz bringt. Es kann hier nicht darum gehen, die Praxistheorie dogmatisch auf bestimme Grundsätze festzulegen, sondern zur Verständigung nach innen und nach außen beizutragen: worüber reden wir, wenn wir über Praxistheorie reden und vor allem: sie betreiben? Versucht man eine solche einheitliche Positionsbestimmung ›der‹ Praxistheorie, stößt man jedoch an Grenzen. Vor allem in einer Hinsicht bieten praxeologische Autoren sehr verschiedenartige, ja konträre Basisvokabulare: in der Frage nach der Routinisiertheit oder der Unberechenbarkeit sozialer Praktiken. Während einige Autoren – prominent Pierre Bourdieu – ihre anti-rationalistische Perspektive gerade mit der Annahme einer veränderungsresistenten Routinisiertheit und Reproduktivität der Praxis begründen, scheint anderen – etwa Autoren der Cultural Studies oder Judith Butler – diametral entgegengesetzt eine in der Praxis eingebaute Tendenz zur Unberechenbarkeit, Widerständigkeit, ›Subversion‹ und Veränderungsoffenheit elementare Voraussetzung ihrer anti-rationalistischen Perspektive auf das Soziale zu liefern. Gewissermaßen scheint es sich in den Praxistheorien wie in den Praktiken selbst zu verhalten: Hinter der Repetitivität lauert die Unberechenbarkeit. Man kann sich jedoch nicht damit begnügen, diese Differenzen lediglich zu konstatieren. Ich werde der Frage nachgehen, welche Gründe der konzeptuellen Unterschiede zu vermuten sind. Das Ergebnis wird sein, dass verschiedene Autoren – dabei geht es hier beispielhaft um Pierre Bourdieu und Judith Butler – zu konträren Grundannahmen bezüglich der Routinisiertheit oder Unberechenbarkeit von Praktiken kommen, indem sie insgeheim sehr unterschiedliche, sehr spezifische kulturelle Praxiskomplexe kurzerhand zum allgemeingültigen Normalfall erklären. Damit ergibt sich das grundsätzliche Problem, inwiefern Praxistheoretiker in ihren Universalitätsanspruch einer Theorie ›der‹ Praktiken nicht teilweise Aussagen über bestimmte, von ihnen analytisch bevorzugte Praktiken verbergen und implizit einer strategie d’universalisation folgen, die sie explizit ablehnen.

Praxistheorie und das sozialtheoretische Feld Was sind Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, die unabhängig von einzelnen Autoren und ihren Besonderheiten das besondere Profil der Praxeologie markieren? Die Charakteristika des praxeologischen Vokabulars werden erst vor der Hintergrundfolie anderer sozialtheoretischer Vokabulare wirklich deutlich (und prinzipiell sollen Sozialtheorien in unserem Kontext nicht mehr und nicht weniger denn als heuristisch-perspektivische »Vokabulare« [Rorty] verstanden werden, mit denen wir über das Soziale

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42 | Andreas Reckwitz reden). Ganz generell geht es der Praxistheorie um eine Neubestimmung des Konzepts des Sozialen und gleichzeitig um eine Neubestimmung des Begriffs des Handelns bzw. Verhaltens. Diese Neujustierung gewinnt ihr Profil vor allem gegen vier alternative Sozialtheorien und deren Verständnis des Sozialen und des Handelns: in erster Linie gegen den homo oeconomicus und den homo sociologicus; auf einer anderen Ebene aber auch gegen mentalistische sowie gegen textualistische Kulturtheorien. Aus praxeologischer Sichtweise betreiben alle diese Ansätze auf verschiedene Weise eine unangemessene begriffliche Rationalisierung und Intellektualisierung des Sozialen. Die beiden klassischen handlungstheoretischen Optionen des homo oeconomicus und des homo sociologicus profilieren den Handlungsbegriff in einer rationalitätstheoretisch aufgeladenen Fassung: Für das Paradigma des homo oeconomicus ist Handeln eine Kette diskreter, jeweils interessen- und nutzenmotivierter Akte, mithin eine Sequenz einzelner ›Handlungen‹; das Soziale stellt sich dann als Aggregation oder als Kontrakt dieser Handlungsakte dar. Für den klassisch soziologischen Ansatz des homo sociologicus, wie man ihn bei Durkheim und Parsons profiliert findet, ist das Soziale demgegenüber auf der Ebene eines normativen Konsenses zu verorten. Handeln präsentiert sich dann per definitionem als Befolgung von Sollens-Regeln, als verpflichtetes Handeln, das sozialen Normen, Werten oder Rollenerwartungen folgt. Gegen homo oeconomicus und homo sociologicus gleichermaßen richtet sich nun seit den 1960er Jahren eine breite sozialtheoretische Bewegung, die man als ›kulturalistisch‹, ›sozialkonstruktivistisch‹ oder ›interpretativ‹ umschreiben kann und in deren weiteren Umkreis auch die praxistheoretischen Autoren einzuordnen sind. Diese interpretative Wende bringt eine Rezentrierung des Begriffs des Sozialen wie des Handelns um den Begriff des Wissens mit sich. Ob in der poststrukturalistischen »Archäologie des Wissens« oder in der ethnomethodologischen Analyse des taken for granted knowledge – Wissen erscheint hier als ein Konglomerat von kontingenten Sinnmustern, die auf kulturspezifische Weise alltägliche Sinnzuschreibungen und somit ein Verstehen ermöglichen wie regulieren, somit als notwendige Bedingung des Handelns wie des Sozialen gelten. Das Soziale ist aus dieser Perspektive auf der Ebene kollektiver Wissensordnungen – Codes, Semantiken, Sinnhorizonte usw. – zu verorten und Handeln eine wissensabhängige Aktivität. Allerdings sind diese sozialkonstruktivistischen Ansätze nicht allesamt Praxistheorien: Es existieren mentalistische und textualistische Varianten der Kulturtheorien, die ihrerseits in die Kritiklinie der Praxistheorien geraten sind. Mentalistische Kulturtheorien wie im klassischen Strukturalismus von Lévi-Strauss oder der Phänomenologie von Schütz verorten Wissenssysteme und damit das Soziale auf der Ebene der immanenten Komplexität mentaler Strukturen und Prozesse im ›Innern‹

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des Geistes, grundsätzlich separiert vom ›äußeren‹ Verhalten. Textualistische Kulturtheorien wie in Foucaults Archäologie des Wissens und in der Semiotik, in Geertz culture as text-Ansatz und später in Luhmanns Kommunikationstheorie machen die Wissensordnungen und das Soziale hingegen genau umgekehrt in den extramentalen Sequenzen von Zeichen, von Diskursformationen, von Symbolen, von kommunikativen Prozessen, insgesamt von ›Texten‹ im weitesten Sinne aus. Aus entgegengesetzten Gründen betreiben sowohl Mentalisten wie Textualisten eine Depotenzierung des Begriffs des Handelns. Es ist die Differenz zu den genannten Sozialtheorien, zum homo oeconomicus und homo sociologicus, zum kulturtheoretischen Mentalismus und Textualismus, die der Praxistheorie ihre Identität verschafft. Das Modell des Sozialen und des Handelns ist hier ein anderes: Der ›Ort‹ des Sozialen lässt sich aus praxeologischer Perspektive in der Repetitivität von wissensabhängigen performances ausmachen. Diese bilden soziale Praktiken. Eine soziale Praktik ist dabei ein routinisiert hervorgebrachter »temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings« (Schatzki 1996: 89), der Zeit und Raum bindet, d.h., der über die Diskontinuität der Zeit und die Verstreutheit räumlicher Orte hinweg immer wieder neu hervorgebracht wird. Dieses ›immer wieder neu Hervorbringen‹ – ein accomplishment im Sinne Garfinkels – basiert auf einem vielschichtigen kollektiven Wissen der Akteure, das nicht zuletzt ein komplexes Können, ein knowing how Wissen umfasst. Wenn das Soziale damit auf der Ebene repetitiver, knowing how-gestützter performances festgemacht wird, verschiebt sich entsprechend das Modell des Handelns: Handeln wird anders als im Textualismus der Zeichen oder im Mentalismus des Geistes zu einem starken, profilierten Begriff. Aber Handeln erscheint keinesfalls als Kette diskreter, punktförmiger Akte, d.h. von Handlungen, die von einem rational nachvollziehbaren Motiv – im Sinne der Zweckrationalität oder der Wertrationalität – angeleitet werden. Stattdessen sieht sich Handeln von vornherein eingebettet in Routinekomplexe repetitiver Praktiken, die von der klassischen Handlungstheorie in den scheinbar unterkomplexen Bereich traditionalen Handelns abgeschoben worden waren. In einer glücklichen Formulierung bringt Anthony Giddens das anders akzentuierte Verständnis sozialer Ordnung der Praxistheorie im Vergleich zur klassischen Konstellation des homo sociologicus auf den Begriff: »The ›problem of order‹ is seen by Parsons […] largely as a problem of compliance: of how individuals come to adhere to the normative demands of the social groups of which they are members. […] The true locus of the ›problem of order‹ (however) is […] of how continuity of form is achieved in the day-to-day conduct of social activity« (Giddens 1979: 217, 216). Wie fabrizieren soziale Praktiken nun diese Kontinuität der Form, die aus praxeologischer Perspektive anstelle der intersubjektiven Koordiniertheit sozia-

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44 | Andreas Reckwitz ler Handlungen den Ort sozialer Geordnetheit markiert? Die Praxistheorien bieten hier zwei aneinander gekoppelte Antworten: die relative Kontinuität der Form von Praktiken wird einerseits durch die kognitive Ordnung eines sozialen Wissens, gleichzeitig durch eine Verankerung der Praktiken in der Materialität der Körper und der Artefakte hervorgebracht.

Die Ordnung sozialer Praktiken Aus der Perspektive der Praxistheorie ist es das praktische Wissen, das die Körper handlungsfähig, das sie erst zu ›Akteuren‹ macht. Das ›Problem‹ der Handlungsfähigkeit reicht tiefer als jenes der doppelten Kontingenz, der normativen Aufeinanderabgestimmtheit von Handlungen ›zwischen‹ mehreren Akteuren. Es betrifft die kognitive Strukturierung von ›Welt‹, die die Handelnden implizit leisten. Mit John Heritage kann man formulieren: »[T]hese considerations generate a cognitive ›problem of order‹ […] which is prior to the more familiar Hobbesian formulation« (Heritage 1984: 77). Das praktische Wissen stellt den Handelnden implizite Kriterien an die Hand, wie dieses kognitive Problem der Ordnung – man könnte auch von einem konstruktivistischen Ordnungsproblem sprechen1 – immer wieder neu zu bearbeiten ist, wie die Kontingenz der Welt sinnhaft zu erfassen ist. Dieses kognitive Ordnungsproblem ist kein bloßes inneres Wahrnehmungsproblem (oder ein Kommunikationsproblem), sondern ein Handlungsproblem: Eine kognitive Strukturierung der Wirklichkeit in einer bestimmten Form praktischen Wissens legt Kriterien angemessenen, gleichförmigen Sichverhaltens nahe. Diese impliziten Kriterien, die nur aus der Beobachterperspektive in die Form eindeutiger ›kultureller Codes‹ gebracht werden können, setzen sich vor allem in drei miteinander verknüpften Formen um: in Schemata des Verstehens und der Interpretation, die den Handelnden routinemäßige Zuschreibungen von Bedeutungen zu Gegenständen der Handlungsumwelt und der darüber hinausreichenden Welt ermöglichen (und erzwingen); in script-förmigen Prozeduren kompetenten Sichverhaltens; schließlich in einem impliziten Sinn für in diesem Rahmen als gewollt und als zu vermeidend voraussetzbares Handeln. Die Akteure oder Subjekte sind nichts anderes als Bündel dieser praktischen Wissensformen, die sich in sozialen Praktiken aktualisieren. Nichts an ihnen kann vorpraktisch vorausgesetzt werden: weder Reflexivität noch Innerlichkeit, weder Interesse noch Begehren. 1 | Niklas Luhmann (1984) hat dieses konstruktivistische Ordnungsproblem – wenn auch in nicht-praxeologischem Rahmen – theoretisch am gründlichsten herausgearbeitet.

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Elementar für die praxeologische Perspektive ist, dass diesen praktischen Wissensformen eine materiale Verankerung zukommt, und zwar in den Körpern, aber auch in den Artefakten. Damit wird sowohl das Problem sozialer Ordnung als auch das Konzept des Handelns materialisiert: relative Kontinuität der Form basiert auf dieser Materialität der Körper und der Artefakte. Die zentrale Bedeutung der Materialität unterscheidet die Praxistheorie schlagend von den anderen Formen der Kulturtheorien (und ebenso von den Paradigmen des homo oeconomcius und homo sociologicus), und gibt zwei nur scheinbaren Banalitäten ihr grundsätzliches Recht: dass Praktiken sich aus Körperbewegungen zusammensetzen und dass Praktiken in der Regel Verhaltensweisen mit Dingen, mit Artefakten bilden, in deren Zusammenhang das praktische Wissen aktiviert wird. Die Körperlichkeit der Praktiken umfasst den Aspekt der Inkorporiertheit ebenso wie den der Performativität: Wissen ist nicht primär als ein mental Gewusstes/Bewusstes, sondern als ein durch körperliche Übung Inkorporiertes zu verstehen, was ihm auch seine relative Beharrungskraft wie seine Offenheit für den faux pas verleiht. Die Körperlichkeit der Praktik bedeutet gleichzeitig, dass ihr Vollzug für die Umwelt wahrnehmbar eine skillful performance darstellt; eine Praktik ist ein Set bestimmter Kriterien genügender Bewegungen, die von der Umwelt als eine solche Praktik perzipiert werden kann und intelligibel ist. Die zweite Dimension der materialen Verankerung von Praktiken betrifft die Artefakte: Nicht nur kompetente Körper sind die Voraussetzung und Träger einer sozialen Praktik, auch die dafür notwendigen Artefakte sind es. Latour (1991) spricht hier treffend von einer Struktur der »Interobjektivität«. Die Verfügbarkeit und der Gebrauch bestimmter Artefakte – man denke etwa an Kommunikationsmedien – ermöglicht die Entstehung und Reproduktion bestimmter sozialer Praktiken, die es ohne diese Artefakte gar nicht gäbe, freilich ohne dass die Artefakte die Art und Weise ihres Gebrauchs determinieren könnten. Einmal entstandene Netzwerke von Körpern und Artefakten in Praktiken gewinnen damit ihre relative Repetivität nicht nur über die sozialisierten Körper, sondern auch über die Stabilität der Dinge.

Reproduktion oder Subversion? Bourdieu und Butler Bis hierher mag es fast so scheinen, als ob die Praxistheorie ein ziemlich einheitliches, in sich geschlossenes Vokabular bieten würde. Dies ist natürlich nicht der Fall – es gibt eine Reihe von theoretischen Differenzen, die ich in meiner bisherigen Darstellung in synthetisierender Absicht schlichtweg übergangen habe. Ich möchte nun die Theoriestrategie wechseln und mich einem besonderen Differenzpunkt widmen: der Differenz nämlich,

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46 | Andreas Reckwitz was das Grundmerkmal der Logik der Praxis ist. Ist es die Routinisiertheit der Praktiken oder ist es die Unberechenbarkeit ihres Vollzugs? Ist es die Wiederholung oder das in jedem Moment potenziell mögliche Unterbrechen der Wiederholung? Bei dieser Frage handelt es sich nicht um ein Randproblem, sondern um ein Kernproblem für die Profilbildung der Praxistheorien. Gleichzeitig scheint seine Behandlung jedoch grundsätzlich aufschlussreich, da sie uns zu der Frage führt: Wie kommt die PraxistheoretikerIn dazu, bestimmte Aussagen über ›die‹ Praxis zu machen? Die Arbeiten von Pierre Bourdieu auf der einen, von Judith Butler auf der anderen Seite liefern hier aufschlussreiche Beispiele für Theorieversionen, die bezüglich der Frage nach der Normalität der Routinisiertheit bzw. der Unberechenbarkeit der Praxis konträre Ansätze liefern: Bourdieu setzt Routinisiertheit und Reproduktivität als Normalfall voraus, Butler betont die Normalität der Subversion, d.h. des Potenzials der ständigen Durchbrechung eingespielter Routinen von performances. Dabei stehen beide jeweils stellvertretend für eine sehr disparate Gruppe von Autoren: Das vorgebliche Kernmerkmal einer scheinbar unendlichen Routinisiertheit der Praxis wird etwa auch in Wittgensteins Philosophie der Sprachspiele – in denen eine ›Abrichtung‹ nach impliziten Regeln erfolgt (vgl. etwa Bloor 2001) –, aber auch bei Autoren der hermeneutischen Tradition wie Michael Oakeshott, Alisdair McIntyre oder Charles Taylor vorausgesetzt. Das vorgebliche Kernmerkmal einer Unberechenbarkeit der Praxis findet sich demgegenüber sowohl in Garfinkels Ethnomethodologie – begründet über die »Kontextualität« des Handelns – als auch bei Autoren der Cultural Studies (vgl. dazu Winter 2001). Interessant scheint dabei zunächst, dass sowohl die Grundthese der Routinisiertheit als auch jene der Unberechenbarkeit in ihrer Gegensätzlichkeit gleichermaßen die Begründung eines dezidiert anti-rationalistischen Vokabulars für sich in Anspruch nehmen: Gegen die Annahme einer Explizitheit von Regeln und Intentionen, die immer auch deren potenzielle reflexive Veränderbarkeit voraussetzt, stellt die Routinisierungsthese die vorrationale, niemals durch Reflexion einholbare Implizitheit des Wissens. Die Unberechenbarkeitsthese opponiert stattdessen gegen die als ebenso rationalistisch wahrgenommene Voraussetzung einer unendlichen, quasimechanischen Regelgeleitetheit, der sie die Opakheit und immanente Widersprüchlichkeit des Wissens sowie die situative Offenheit der Praxis gegenüberstellt. Pierre Bourdieus Grundsatz einer Normalität der Reproduktivität sozialer Praktiken ist wohlbekannt und ebenso häufig kritisiert worden. Bourdieu begründet diese gewissermaßen in die Logik der Praxis eingebaute Tendenz zur routinisierten Wiederholung in der Kombination eines körpertheoretischen und eines schematheoretischen Arguments: Körpertheoretisch erscheint die Einverleibung des Habitus Bedingung der Möglichkeit

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seiner Beharrungskraft und der Persistenz der durch ihn getragenen Praktiken. Da die Dispositionen des Habitus keine bloß mentalen Repräsentationen darstellen, sondern sich inkorporiert in der Hexis ablagern, scheinen sie der situativen Modifizierung entzogen. Der Körper ist abgelagerte Individual- und Kollektivgeschichte, eine Haut, aus der das Subjekt nicht ohne Weiteres heraus kann: »Die körperliche Hexis ist die realisierte, einverleibte, zur dauerhaften Disposition, zur stabilen Art und Weise der Körperhaltung des Redens, Gehens und damit des Fühlens und Denkens gewordene politische Mythologie« (Bourdieu 1980: 129). Bourdieu kombiniert diese körpertheoretische mit einer schematheoretischen Begründung. Die Dispositionen des Habitus lassen sich als kulturelle Codes interpretieren, die unendliche, beliebige Elemente anhand der gleichen Schemata klassifizieren – so wie die gleiche sprachliche Grammatik unendliche viele, variable Sätze hervorbringt, die doch gleichwohl dieser Grammatik entsprechen: »Der Habitus bewirkt, dass die Gesamtheit der Praxisformen eines Akteurs […] als Produkt der Anwendung identischer oder […] austauschbarer Schemata […] systematischen Charakter tragen« (Bourdieu 1979: 278). Der HysteresisEffekt ist für Bourdieu ein schlagendes Exempel für die Beharrungskraft eines Habitus und seiner Praktiken: Selbst wenn sich soziale Felder und Ressourcenausstattung verändert haben, neigen die Akteure – im Extrem Don-Quichotte-haft – dazu, ihre vertrauten Praktiken immer weiter zu reproduzieren.2 Dieser grundsätzlichen Perspektive auf soziale Praxis als Sphäre vorreflexiver Routinisiertheit tritt Judith Butler entgegen. Auch Butler ist im Grundsatz eine Praxistheoretikerin, die ihre Konzeption vor allem in »Gender Trouble« (1990) skizziert. Aber Butler hebt im Gegensatz zu Bourdieu die Normalität einer Unberechenbarkeit sozialer Praktiken (hier vor allem solcher des Geschlechterverhaltens) hervor, die durch herrschende Normen, die von den Subjekten fixe Identitäten fordern, nur verschleiert werden. Es ist ebenso aufschlussreich wie verblüffend, dass Butler diese gegenüber Bourdieu konträre Grundposition letztlich ebenfalls in Kombination eines körpertheoretischen und eines schematheoretischen Arguments jeweils anderer Art begründet. Das körpertheoretische Argument lautet bei Butler, dass Praktiken nichts anderes sind als leibliche Hervorbringungen. Es ist nicht so, dass eine mentale Struktur diesen leiblichen Akten vorausginge; die leiblichen Akte in ihrer Sequenz wirken insofern performativ, als man von ihrer Wiederholung auf einen vorgeblichen Identitätskern des Trägers meint rückschließen zu können – aber dies ist ein reines Zuschreibungs2 | Im seinem Spätwerk, insbesondere in »Meditations pascaliennes«, differenziert Bourdieu seine reproduktionstheoretische Position und berücksichtigt systematisch stärker Fissuren und Ambivalenzen der Praxis (vgl. Bourdieu 1997: 68ff.).

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48 | Andreas Reckwitz produkt: »Akte, Gesten, artikulierte und inszenierte Begehren schaffen die Illusion eines inneren Organisationskerns der […] (I)dentität« (Butler 1990: 200). Letztlich bleiben die Praktiken nichts anderes als die Sequenz von Körperbewegungen, ein leiblicher Stil ohne innere Determinierungen. Entsprechend sind überraschende, verquere Akte nichts besonders Erklärungsbedürftiges: Sie können in dieser leiblichen Sequenz ständig auftauchen – erklärungsbedürftig ist vielmehr eine etwaige Neigung zur identischen Wiederholung, die unter einem bestimmen normativen Regime steht. Das schematheoretische Argument, das Butler – hier zum Poststrukturalismus neigend, so wie Bourdieu zum Strukturalismus – damit verknüpft, besagt, dass die kulturellen Codes (hier vor allem die Geschlechtercodes), in deren Zusammenhang die körperlichen Akte hervorgebracht und gelesen werden können, normalerweise keine eindeutigen, sondern mehrdeutige Anweisungen enthalten: »Die Koexistenz oder Überschneidung dieser diskursiven Anweisungen bringt die Möglichkeit einer vielschichtigen Rekonfiguration und Wieder-Einsetzung hervor« (ebd.: 213). Aus dieser Mehrdeutigkeit der kulturellen Codes kann sich immer eine unberechenbare »Vervielfältigung« der Praktiken jenseits des Routinemodus ergeben (ebd.: 217).

Die historisch-kulturelle Kontextualität sozialer Praktiken Was ist nun von diesen konträren Aussagen zur Routinisiertheit oder Unberechenbarkeit von sozialen Praktiken bei Bourdieu und Butler zu halten? Man könnte eine theoretische Kritik beginnen, die sowohl an Bourdieus Homogenitätsideal des Habitus wie an Butlers Auflösung psychischer Dispositionen in die Sequenzen körperlicher Bewegungen ansetzt. Man könnte auch Bourdieu und Butler gewissermaßen wie zwei Seiten der gleichen Medaille lesen – und das Ziel wäre dann eine Praxistheorie, die systematisch Reproduktion und kulturellen Wandel zu erfassen vermag (ein Projekt, das zweifellos sinnvoll wäre).3 Ich möchte jedoch für einen Moment diese immanent theoretischen Strategien zur Seite legen und an ihrer Stelle die Frage stellen, wie und warum Bourdieu und Butler wohl zu derart konträren Vokabularen zur Analyse sozialer Praktiken gelangen. Grundsätzlicher noch könnte man fragen: wie gelangt man überhaupt zu einem sozialtheoretischen Vokabular mit Allgemeinheitsanspruch, wie ist die soziale Praktik des soziologischen Theoretisierens beschaffen? Ich würde die Vermutung äußern, dass hier eine paradoxe Konstellation am Werke ist: die Theoretiker – hier: die Praxistheoretiker – formulieren ihrem Anspruch 3 | Vgl. einen solchen Syntheseversuch in Reckwitz (2003).

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nach allgemeine Aussagesysteme, das Konzept der Praktiken ist ein universales. Faktisch aber haben sie eine Tendenz, zumindest bestimmte ihrer allgemeinen Annahmen über die Funktionsweise von Praxis aus sehr spezifischen, partikularen, lokal-temporal situierten sozialen Praktiken zu gewinnen und die Aussagen über diese Fälle kurzerhand zu verallgemeinern. Hier ist eine Generalisierungstechnik am Werke, die unter jene rationalistisch-intellektualistischen Verfahrensweisen fällt, die Praxistheoretiker als stratégie d›univeralisation (Bourdieu) ansonsten gerne kritisieren. Und genau diese Generalisierung von Aussagen über die Praxis aus ganz bestimmten, letztlich kontingenten kulturellen Kontexten ist es, die man auch bei Bourdieu wie bei Butler beobachten kann. Pierre Bourdieu erhebt zwar den Anspruch einer allgemeinen Theorie der Praxis, aber er entwickelt sie letztlich anhand zweier besonderer Fälle, die ihm beide ein Argument für eine Tendenz der Habitusreproduktion liefern. Der eine Fall ist das traditionale, kabylische Algerien, jene weitgehend vormoderne Gesellschaft, die er in den 1960er Jahren in Nordafrika antrifft und deren Analyse das erste Kapitel von »Esquisse d’une théorie de la pratique« (1972) ausmacht. Der zweite Fall ist das französische Bürgertum – wobei das Kleinbürgertum eine Art Schrumpfform dieses Bürgertums darstellt –, wie es im Mittelpunkt von »La distinction« (1979) steht. Bourdieu analysiert plausibel, wie sowohl jene am Maßstab der Ehre und des Respekts vor der historischen Tradition orientierte kabylische Gemeinschaft wie auch das an der Reproduktion seines kulturell-sozialen Status, aber mehr noch an einem mit dem Anspruch der Universalität ausgestatteten Modell einer idealen bürgerlichen Persönlichkeit orientierte bürgerliche Milieu tatsächlich eine Neigung zur Reproduktion der gleichen Praktiken besitzen. Dass diese ausgesprochene Tendenz zur Reproduktion besteht, scheint jedoch kein allgemeines Merkmal einer ›Logik der Praxis‹ zu sein, vielmehr hängt sie von den sehr spezifischen kulturellen Codes und dem dadurch ermöglichten know how-Wissen in eben diesen Fällen ab. Ebenso wie sich Praktiken beispielsweise dahingehend unterscheiden können, in welchem Umfang in ihnen der Körper zum Einsatz kommt oder in welchem Umfang sie sich im ›Innern‹ des Mentalen abspielen, so können sie sich auch dahingehend unterscheiden, ob sie eine resolute Reproduktion ihrer selbst oder aber beispielsweise eine Selbsttransformation verlangen. Dies hängt nicht zuletzt davon ab, welche kulturellen Codes in das jeweilige know how-Wissen, das alltägliche Verstehen und die motivational-emotionalen Komplexe eingebaut sind. Sowohl in den alltäglichen Praktiken der kabylischen Ehrgemeinschaft als auch im klassischen Bürgertum wirken nun aber kulturelle Codes, die eine möglichst identische, eine ›konservative‹ Wiederholung von Praktiken, auch gegen alle möglichen Irritationen präferieren. Irritationen von Routi-

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50 | Andreas Reckwitz nen – so könnte man formulieren – treten immer auf, aber die Form der Praktiken gibt vor, wie mit ihnen umzugehen ist, ob sie als Störfaktor oder als willkommener Veränderungsanlass zu interpretieren sind. Die kabylischen und die bürgerlichen Praktiken legen hier eindeutig eine Vermeidungsstragegie fest, eine Vermeidung von ›abweichenden‹ Erfahrungen und Akten. Der sinnhafte Hintergrund ist im ersten Fall ein traditionales Modell zyklischer Geschichte, das die Praktiken letztlich kulturell zu naturalisieren versucht. Im zweiten Fall wirkt ein universalisierendes Modell des bürgerlichen Subjekts als nicht-transzendierbare Größe, etwa in bezug auf seine Bildung und seine Souveränität: Hier ist nichts zu überschreiten, da alles Wünschenswerte, alles Respektable bereits erreicht und nur kunstvoll zu bewahren ist. Bourdieus Strategie der Theoretisierung – im Grunde eine stratégie d’universalisation (Bourdieu 1997: 145), die er selbst als Produkt des »scholastischen Habitus« kritisiert – besteht nun darin, dass er von seinen sehr spezifischen, ja außergewöhnlichen Analysefällen, in denen spezifische kontingente Codes idealer Reproduktion eingebaut sind, auf eine allgemeine Reproduktions- und Vermeidungsnatur »der sozialen Praxis« schließt – und nicht zufällig stößt diese Strategie bei anderen empirischen Fällen, die er eher am Rande behandelt – etwa jenem der postmodernistischen Dienstleistungsklasse des »neuen Kleinbürgertums« (vgl. Bourdieu 1979: 561ff.) – durchaus an Grenzen. Bei Judith Butler stellt es sich genau umgekehrt und doch genau gleich dar. Butler gewinnt ihre allgemeinen Aussagen aus ganz anders gelagerten, spezifischen Praktiken und Codes. Dies ist zunächst schwieriger zu sehen, da sie keine expliziten materialen Analysen betreibt; Butler zu durchschauen erfordert auch dadurch eine gewisse Raffinesse, dass sie einen Praxistypus verallgemeinert, der in der hochmodernen Kultur, in der sich ihre LeserInnen größtenteils befinden, verführerisch vertraut erscheint. Wenn Praktiken in Butlers Darstellung sich nicht auf einen internalisierten Kern abstützen können, sondern nichts weiter als leibliche performances darstellen und wenn diese eine quasi-natürliche Neigung zur Vervielfältigung von Identitäten, zum unberechenbaren Wechsel, zur Abweichung in sich enthalten, dann ist damit aber ein kulturell-historisch hochspezifischer Praxistypus bezeichnet. Woher dieses Modell historisch stammt, macht Butler nur in einer kurzen Textstelle deutlich, in dem sie sich auf Joan Rivières Artikel »Womanliness as a Masquerade« von 1929 bezieht (vgl. Butler 1990: 83f.). Joan Rivières Artikel ist mehr als eine neutrale Analyse von Geschlechterverhalten. Er ist eher ein programmatisches Manifest einer sehr spezifischen und letztlich durchaus einflussreichen kulturellen Bewegung der westlichen Kultur: der ästhetischen Avantgarde. Es ist im – zunächst nur minoritären – Umkreis der ästhetischen Avantgardebewegungen in Europa und den USA zu Beginn des 20. Jahr-

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hunderts, dass kulturelle Codes implementiert werden, die soziale Praktiken auf den paradoxen Anspruch verpflichten, sich selbst zu überschreiten: und dies, ohne dabei einem linearen Entwicklungsmodell zu folgen. Selbstüberschreitung ist hier kein Lernprozess, sondern ein Spiel des Neuen. Irritationen sind in diesem Kontext nicht als geschickt zu umschiffender Störfaktor für die soziale Reproduktion, sondern umgekehrt als immer wieder neuer, freudiger Anlass von Praktiken-Kulturrevolutionen en miniature zu verstehen. Die ästhetischen Avantgarden – und mittlerweile nicht nur sie – prämieren das ›Neue‹ als Quelle des Erlebens, sie prämieren die ›Subversion‹, nicht das Meidungsverhalten, das nun als Merkmal eines vormodernen Subjekts erscheint. Das den avantgardistischen Praktiken zugehörige Subjekt internalisiert möglichst nichts, es hält sich offen für neue, andersartige performances.4 Genau dieses Modell transgressiver Praktiken ist es, das auch in den von Butler favorisierten gender-Bewegungen und darüber hinaus in großen Teilen der hochmodernen höheren Mittelschichts-Kultur, ihrer ökonomischen, kulturellen und privaten Praktiken offenbar zum Einsatz kommt (vgl. etwa Lash 1990; Boltanski/Chiapello 1999). Dies bedeutet wiederum zweierlei: Zum einen laufen auch diese irritativen Überschreitungen nicht auf ein Ende sozialer Praktiken hinaus – die Techniken der irritativen Überschreitung, etwa das Experimentieren mit sexuellem Begehren im Sinne von Butler, sind selbst spezifische soziale Praxisformen. Zum anderen handelt es sich auch bei den transgressiven Praktiken – spiegelverkehrt zu Bourdieu – nicht um ein Modell, dass sich beliebig verallgemeinern ließe. Das bürgerliche Praxismodell mag man aus der normativen Perspektive Butlers kritisieren – aber es funktioniert in seinem Umgang mit Irritationen faktisch anders als das post-avantgardistische. Weder lässt sich die eine noch die andere Form sozialer Praktiken auf ein bloßes Supplement reduzieren. Gerade diese historisch-lokale Kontingenz im sozialen Umgang mit Routinisiertheit oder Unberechenbarkeit, die von Praktik zu Praktik variiert, sollten praxistheoretische Analysen aufzeigen können.

Die (Ent-)Universalisierung der Praxistheorie Es stellt sich damit die grundsätzliche Frage, inwiefern die Praxistheorie als allgemeine Sozialtheorie trotz ihres anti-universalistischen, historisierenden und lokalisierenden Gestus nicht doch regelmäßig allgemeine Voraussetzungen festlegt, die gar nicht als generelle Voraussetzungen in Anspruch 4 | Zu Praxis und Codierung der Avantgarde-Bewegungen vgl. auch Reckwitz 2005, Kap. 3.1, im Vergleich dazu Codierung und Praxis des bürgerlichen Subjekts ebd., Kap. 2.1, 2.3.

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52 | Andreas Reckwitz genommen werden können. Gelegentlich droht die Praxistheorie – wie andere Sozialtheorien auch, aber in ihrem Fall angesichts ihres Anspruchs besonders problematisch – die Form einer transzendental-empirischen Doublette anzunehmen: Besondere empirische Resultate werden kurzerhand rückwirkend als allgemeine, quasi-transzendentale Voraussetzungen eingeführt. Ein Ausweg im fraglichen Fall bestünde darin, die Frage nach Routinisiertheit und Unberechenbarkeit wiederum gut praxeologisch vom Typus der Praktiken und ihren historisch spezifischen kulturellen Codes beantworten zu lassen. Statt allgemein ›die‹ Routinisiertheit oder ›die‹ Unberechenbarkeit von Praktiken vorauszusetzen, ist zu rekonstruieren, wie sich historisch-lokal spezifische Komplexe von Praktiken durch sehr spezifische Mittel auf ein hohes Maß auf Routinisiertheit oder auf ein hohes Maß an Unberechenbarkeit festlegen lassen. Die Techniken eines Vermeidungsverhaltens oder eines Innovationsverhaltens sind praxeologisch zu analysieren. Allgemein kann man feststellen: Die Praxistheorie ist zu Recht angetreten, intellektuelle Universalisierungen klassischer Sozialtheorien zu kritisieren. Gleichzeitig kommt sie im Sinne eines allgemeinen Vokabulars nicht umhin, zumindest bestimmte allgemeine Grundannahmen bezüglich der Praktiken zu formulieren. Diese Annahmen stehen selbst ständig unter der Gefahr der problematischen empirischen Verallgemeinerung (die möglicherweise häufig – so im Falle Butlers – auch ihren Grund in normativen Präferenzen haben). Die Praxistheorie ist stark, wenn sie in ihren allgemeinen begrifflichen Voraussetzungen möglichst dünn ist. Aber das Problem, welche begrifflichen Präsuppositionen sie in Anspruch nimmt und in Anspruch nehmen sollte, wird damit nicht einfacher, sondern umso schwieriger.

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Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken | 53

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Bourdieus Theorie der Praxis – eine ›Theorie sozialer Praktiken‹? | 55

Bourdieus Theorie der Praxis – eine ›Theorie sozialer Praktiken‹? 1 Michael Meier

Innerhalb der kulturtheoretisch orientierten sozialwissenschaftlichen Diskussion, für die Andreas Reckwitz mit seiner Transformation der Kulturtheorien (2000) eine theoriehistorische Systematisierung vorgenommen hat, nimmt gegenwärtig ›Praxis‹ eine prominente Stellung ein. Dabei ist sowohl von ›der Praxis‹ wie auch von ›sozialen Praktiken‹ die Rede. Zu fragen ist, ob es sich bei Praxis und Praktiken lediglich um eine unterschiedliche Wortwahl handelt oder ob ›das Praktische‹ je unterschiedlich verstanden und thematisiert wird. Es hat den Anschein, als träfe Ersteres zu, wenn Reckwitz von »Analyseansätzen« spricht, »die man als ›Theorien sozialer Praktiken‹, ›Praxistheorien‹ oder Versionen einer ›Praxeologie‹ umschreiben kann« (Reckwitz 2003: 282, vgl. auch 2000: 556). Auch Pierre Bourdieus Theorie der Praxis ist hiernach eine Theorie sozialer Praktiken, neben dem Ansatz Charles Taylors sogar die einflussreichste und elaborierteste (vgl. u.a. Reckwitz 2000: 557, 589). Diese Gleichsetzung des Bourdieu’schen Ansatzes mit einer Theorie sozialer Praktiken wird im Folgenden problematisiert. Dabei wird deutlich, dass je unterschiedliche Aspekte von Praxis, je verschiedene Konzeptionen des der Praxis zugrunde liegenden ›praktischen Wissens‹ bzw. ›Praxissinns‹ zum Tragen kommen: Wenn Bourdieu von Praxis spricht, interessiert ihn weniger die Performativität des Handelns, verstanden als routinisierte und repetitive körperliche Ausführung und das praktische Ausführen-Können

1 | Für hilfreiche Anregungen und konstruktiv-kritische Kommentare bedanke ich mich bei Julia Reuter und Karl H. Hörning.

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56 | Michael Meier als solches. Er rückt vielmehr das Zustandekommen der zugrunde liegenden Unterscheidungen und Entscheidungen in den Blick, verstanden als die damit vorgenommenen – durch den Praxissinn ›angeleitete‹ – Stellungnahmen. Während in der Theorie sozialer Praktiken Wissensordnungen in den Hintergrund treten und die Genese von ›praktischem Wissen‹ nicht wirklich thematisiert wird, sind es gerade die Entstehungs- und die Anwendungsbedingungen der Konfigurationen von Schemata, die bei Bourdieu im Rahmen der Dialektik von Feld und Habitus eine zentrale Rolle für Praxis spielen.

Praxis als Kompetenz Die Theorie sozialer Praktiken wird von Reckwitz als Synthese eines Bündels unterschiedlicher Ansätze bezeichnet, die vor allem aus zwei Richtungen kommen: (1) aus der Tradition des Strukturalismus – von Lévi-Strauss über Oevermann und Foucault bis hin zu Bourdieu – und (2) aus der Tradition der interpretativen Sozialtheorie – von Schütz über Goffman und Geertz bis hin zu Taylor.2 Grundlegend für die Entwicklung in beiden Theoriesträngen ist neben der ansatzweisen Überwindung des Subjektivismus-Objektivismus-Dualismus und einer ›Dezentrierung des Subjekts‹ vor allem der Wechsel des Analysegegenstandes: War es ursprünglich jeweils ›das Mentale‹, dem die Aufmerksamkeit galt, so identifiziert Reckwitz neben anderen vor allem zwei Merkmale, die die Theorie sozialer Praktiken ausmachen (vgl. 2000: 572)3: den Aspekt der Körperlichkeit im Sinne körperlicher Verhaltensmuster und den Aspekt kollektiver Wissensordnungen. Dabei werden soziale Praktiken »durchgängig als eine Doppelstruktur von körperlichen Verhaltensmustern und Interpretationsweisen/Sinnmustern beschrieben« (Reckwitz 2000: 558). Sie lassen sich »als ein Zusam2 | Siehe hierzu auch Abbildung 4 in Reckwitz (2000: 190). Daneben bilden auch Wittgensteins Sprachphilosophie und der Pragmatismus Bausteine für eine ›Theorie sozialer Praktiken‹. Reckwitz’ Bedeutungszuschreibung schwankt dabei von Beeinflussung bis zu »eigenständiger Wurzel« (vgl. Reckwitz 1999: 26ff.; 2000: 34ff.). Eine etwas andere ›Strukturierung‹ der zugrunde liegenden ›Diskussionsstränge‹ findet sich in Reckwitz 2003: 282ff. Darüber hinaus lassen sich u.a. auch Garfinkels sowie insgesamt ethnomethodologische, de Certeaus, Giddens’, Butlers und Latours Konzepte und Theorien, ebenso wie solche der Cultural Studies als praxistheoretische Ansätze auffassen (vgl. u.a. ebd. und 2004); entsprechende Anmerkungen und Hinweise auch bereits in Reckwitz (1999; 2000). 3 | Siehe jeweils zusammenfassend für die beiden grundlegenden Theoriestränge Reckwitz (2000: 347-362 und 522-541).

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menhang von routinisierten körperlichen Verhaltensmustern, übersubjektiven Wissensschemata und routinisierten subjektiven Sinnzuschreibungen« (ebd.: 559; vgl. auch 565) begreifen. Damit ergeben sich für die Analyse sozialer Praktiken prinzipiell zwei Zugangsmöglichkeiten: einerseits über die routinisierten körperlichen Verhaltensmuster, andererseits über Wissensordnungen, die auf Praktiken ermöglichend wie verstehend ›wirken‹. Für eine kulturtheoretische Perspektive stand dabei lange Zeit die »Rekonstruktion der kollektiven Wissensordnungen, Deutungsschemata und symbolischen Codes, in die die Akteure eingebettet sind« (Reckwitz 2000: 95; vgl. auch 130f., 138, 544) im Vordergrund. Auch für die Theorie sozialer Praktiken ist diese »Rekonstruktion der Wissensordnungen notwendig« (ebd.: 589). Allerdings verschiebt sich in den neueren Arbeiten von Reckwitz zunehmend der Fokus: Bedeutsamer werden hier die routinisierten körperlichen Verhaltensmuster und körperliche Aktivitäten. Es zeigt sich eine Verlagerung von Wissensordnungen hin zu einer sehr spezifischen Form von Wissen. Dies ist zumindest dann der Fall, wenn der Begriff der Wissensordnung als Sammelbegriff im Sinne »kultureller Schemata« mit Konzepten wie »Deutungsmuster«, »symbolische Codes«, »Habitusschemata«, »symbolische Differenzensysteme« gleichgesetzt wird (vgl. ebd.: 130, 149f.) – und nun kaum noch eine Rolle spielt. Auch der Aspekt der routinisierten körperlichen Verhaltensmuster erfährt eine Umformulierung. Er bildet nun »ein Grundelement der Materialität des Sozialen/Kulturellen« (Reckwitz 2003: 290) mit zwei Bezugspunkten: menschliche Körper und Artefakte (Letztere seien hier vernachlässigt, vgl. hierzu Wieser 2004). Wie definiert, besteht eine Praktik »aus bestimmten routinisierten Bewegungen und Aktivitäten des Körpers« (Reckwitz 2003: 290). Sie ist »immer als eine ›skillful performance‹ von kompetenten Körpern zu verstehen« (ebd.). Neben dieser ›für‹ ein Außen hervorgebrachten »Performativität des Handelns« (ebd.), die den zentralen Ansatzpunkt für die »Rekonstruktion von Praktiken« (ebd.) bildet, gewinnt zwar auch die Inkorporierung von Wissen (als ›nach Innen‹ gerichtetem Aspekt) eine gewisse Relevanz: Implizites Wissen dient hier als Basis von Körperbewegungen. Die bisher eigentlich zentralen Wissensordnungen werden dabei jedoch – wie Intentionalität und Normativität – zu einer Residualkategorie (vgl. ebd.: 291, 294). Gewisse ›Unklarheiten‹ bzw. ›Unentschiedenheiten‹, die anfänglich die Formulierungen der Relation von mentalen Wissensordnungen und körperlichen Aktivitäten kennzeichnen (vgl. Reckwitz 2000: 589-616), lösen sich in den neueren Arbeiten von Reckwitz auf: Ging es dort auch schon um die »Beschreibung einer sozialen Praktik«, so war diese zumindest noch »auf eine Analyse der sich dort jeweils ausdrückenden Wissensordnungen angewiesen« (ebd.: 589; Hervorh. M.M.) – auch wenn »[d]ie als ›mental‹ be-

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58 | Michael Meier schriebenen Wissensordnungen […] ausschließlich insofern [existieren], als sie sich in sichtbaren Verhaltensweisen niederschlagen« (ebd.: 596). Grundlegend für die Praktiken der Theorie sozialer Praktiken ist ein »praktisches Wissen, ein Können im Sinne eines ›know how‹ und eines praktischen Verstehens«, das »ein Wissen im Sinne eines interpretativen Verstehens […] ein i.e.S. methodisches Wissen […] ein motivational-emotionales Wissen« (Reckwitz 2003: 292 und ähnlich 2004) beinhaltet. Wissensordnungen mögen zwar dafür den Hintergrund bilden – ›wirklich‹ handlungsrelevant aber ist das praktische Wissen, wobei sich der Ausdruck praktisch auf ein Können bezieht, das es zu rekonstruieren gilt.4 Unberücksichtigt und unthematisiert bleibt dabei jedoch die Entstehung von Wissen und Wissensordnungen als grundlegendem Element des Erklärens von Praxis. Eine Rückkopplung an bestimmte soziale Strukturen (und ihre gegenseitige Bedingtheit) wird hierfür explizit abgelehnt (vgl. Reckwitz 2000: 157ff.). Wissensordnungen werden zwar als lokal und historisch-spezifisch betrachtet, ihre ebenso lokal-historisch spezifische Genese scheint aber nicht interessant. So finden sich lediglich Andeutungen, dass Wissensordnungen bestimmte ›Entstehungsbedingungen‹ zugrunde liegen. Etwa dann, wenn »[d]er Besitz individueller Eigeninteressen […] als das soziale Produkt von modernen Marktbedingungen« (Reckwitz 2003: 296; Hervorh. M.M.) oder wenn »[r]eflexive Subjekte« als »so jeweils je anders hervorgebracht« (ebd.) verstanden werden. Diese Bedingungen werden aber kaum Gegenstand der praxistheoretischen Analyse. Die Existenz unterschiedlicher Wissensordnungen wird zwar im Hinblick auf ihre Entstehung und der Konsequenzen erwähnt, aber nicht vertieft oder problematisiert.5 Eine Theorie sozialer Praktiken, die bei der Beschäftigung mit routinisierten körperlichen Verhaltensmustern das zugrunde liegende Wissen bzw. Wissensordnungen lediglich voraussetzt oder beschreibt, vernachlässigt jedoch wesentliche Aspekte von Praxis. Neben der Performativität als (sichtbarer) Körperlichkeit sind es nach Reckwitz vor allem die Momente der Routinisiertheit und Muster, die eine soziale Praktik ausmachen und ›an denen‹ man eine soziale Praktik er4 | Dass es bei Reckwitz – auch wenn weiterhin Performativität als grundlegend angesehen wird – wieder zu einer tendenziell stärkeren Betonung von Wissensordnungen kommt (vgl. 2004) deutet darauf hin, dass der Komplex ›des Wissens‹ grundlegenden Klärungsbedarf aufweist. 5 | Siehe hierzu ›bürgerliche Praktiken‹ im Unterschied zu ›aristokratischen‹ und die Thematisierung der ›losen Kopplung‹ unterschiedlicher Wissensordnungen als Unberechenbarkeitsaspekt (vgl. Reckwitz 2003: 293ff.). Lediglich angedeutet wird der Aspekt, die »Bedingungen genauer [zu] spezifizieren, unter denen eine Reproduktion bzw. eine Modifikation von Praktiken wahrscheinlich wird« (ebd.: 297).

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kennt. Der Begriff der Routinisiertheit lässt sich dabei noch kombinieren mit denen der Repetitivität und Reproduktion: Die vielfältigen Beschreibungsmöglichkeiten sozialer Praktiken lesen sich dann von »regelmäßigen, routinisierten Handlungsformen« (Reckwitz 1999: 31), über »repetitiven, routinisiert hervorgebrachten Verhaltensmustern« (Reckwitz 2000: 560) bis hin zu »Handeln […] als ein routinisierter Strom der Reproduktion typisierter Praktiken« (Reckwitz 2003: 294; vgl. auch ebd.: 289 und 2004). Damit wird eine soziale Praktik gesetzt als die gewohnheitsmäßige und gleichartige Hervorbringung von gleichförmigen körperlichen Aktivitäten »über zeitliche […] und räumliche Grenzen hinweg« (Reckwitz 2003: 289). Sie wird zumindest (auch als Begründung für die Geordnetheit der Sozialwelt) als ›Normalfall‹ deklariert (vgl. Reckwitz 2000: 617ff.; 2003: 294). Warum dies so sein sollte wird allerdings nicht spezifiziert. Diese Engführung ist aber insofern problematisch, als dass die Routinisiertheit neben der Unberechenbarkeit und Offenheit für Reckwitz eine Seite der ›Logik der Praxis‹ darstellt. Es ist diese Ambivalenz von Routinisiertheit und Unberechenbarkeit, die einzelne praxistheoretische Ansätze voneinander unterscheidet und die als offene Frage der Theorie sozialer Praktiken weiter zu bearbeiten ist (vgl. Reckwitz 2003: 297 und in diesem Band).6 Doch Praktiken – ob routinisiert oder repetitiv, unberechenbar oder innovativ – sind nicht ohne Wissen und Wissensordnungen zu denken. Hieraus ergeben sich eine Reihe von Fragen, die im Rahmen der Theorie sozialer Praktiken nicht genügend berücksichtigt werden: Welches Wissen führt zu routinisierten Praktiken und blockiert innovative, welches ermöglicht Unberechenbarkeit und Kreativität? Wie kommt dieses Wissen zustande?7 Und schließlich: Welche sozialen Bedingungen sind jeweils im Moment der Ausführung von sozialen Praktiken wirksam? Neben den Entstehungsbedingungen müssen auch die Anwendungsbedingungen, die Aktualisierungsmodalitäten von Wissen und Wissensordnungen thematisiert werde. Vor allem geht es darum, die Entstehungsbedingungen in Bezug auf die Anwendungsbedingungen zu bringen; kurz: Welches wie entstandene Wis6 | Es finden sich noch weitere Differenzen zwischen den einzelnen unter der Bezeichnung ›Theorie sozialer Praktiken‹ zusammengefassten Konzepte, Ansätze und Theorien, die Reckwitz zugunsten der Gemeinsamkeiten vernachlässigt. Ob diese »zahllosen mehr oder minder subtilen Differenzen« (Reckwitz 2003: 284), die mitunter im jeweiligen Theoriekontext grundlegende Aspekte der Erklärung von Praxis und des Sozialen darstellen, in eine gemeinsame Theorie integriert werden können, muss hier offen bleiben. 7 | Dabei wäre noch zu konkretisieren, ab wann es sich denn bei solchen Innovationen um ›soziale Praktiken‹ im bisher verstandenen Sinne handelt und auch, was genau denn Routinisiertheit und Unberechenbarkeit jeweils sind.

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60 | Michael Meier sen wirkt unter welchen Bedingungen in welcher Form handlungs- bzw. praxisrelevant? Es ist gerade dieser Aspekt von Entstehungsbedingungen und Anwendungsbedingungen, der in Bourdieus Theorie der Praxis eine große Rolle spielt. Deshalb gilt es Bourdieus Praxistheorie nicht vorschnell in eine allgemeine Theorie sozialer Praktiken aufgehen zu lassen.

Praxis als Stellungnahme Bourdieus Anliegen seiner praxeologischen Theorie der Praxis8 ist die Grundlegung eines alternativen Verständnisses von Praxis – dies unter anderem im Hinblick auf die Überwindung des Dualismus zwischen Subjektivismus und Objektivismus,9 also solchen Erkenntnisweisen, die im weitesten Sinne ihren Ausgangspunkt im (voraussetzungslosen) ›subjektiven Sinn‹ der ›Individuen‹ bzw. im ›objektiven Sinn‹ bestimmter Gesetzmäßigkeiten bei der Erklärung von menschlichem Handeln haben. Was wird im Rahmen dieser Ansätze als grundlegend für den Vollzug von Praxis angesehen? Gemäß des Subjektivismus agiert das Subjekt entsprechend seines subjektiven Verständnisses, d.h. es agiert unabhängig, individualistisch, oder auch bewusst zweck- und zielgerichtet. Demgegenüber betont der Objektivismus, dass das Individuum in handlungsdeterminierenden Strukturen, Werten und Normen ›gefangen‹ ist. Handeln findet dann entsprechend ›vorgesehener‹ Regeln statt.10 Problematisch daran ist für Bourdieu, dass beide Erkenntnisweisen ihre Theorie, ihr Modell der beobachteten Praxis zum Prinzip der praktizierten Praxis machen, damit die Logik der Theorie zur Logik der Praxis erklären.11 Im Gegensatz zum Modell des determinier8 | Siehe dazu grundlegend u.a. Bourdieu 1979, 1982; 1993; 2001; diverse Beiträge in 1992 und 1998; Bourdieu/Wacquant 1996. Darüber hinaus sind es letztlich erst die Untersuchungen diverser Felder, die Bourdieus Sozialtheorie nachvollziehbar machen. 9 | Siehe hierzu u.a. Bourdieu 1992b: 50; 1992e: 137; 1993: 49. 10 | Diese pauschale Formulierung soll hier für die weitere Argumentation ausreichen. Zu Bourdieus Abgrenzung von einer (subjektivistischen) phänomenologischen Erkenntnisweise siehe u.a. 1979: 147ff.; 1983: 50ff. 11 | Dieses ›Verwechseln‹ resultiert u.a. daher, dass der Theoretiker die Zeit hat, sich zeit-enthoben und praxis-entlastet mit der Praxis auseinanderzusetzen; siehe zu dieser Problematik insgesamt u.a. Bourdieu 1979: 217ff.; 1993: 148ff.; 1992c: 80; v.a. 2001 – im Untertitel: Zur Kritik der scholastischen Vernunft; Bourdieu/Wacquant 1996: 101.

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ten, mechanischen Agierens und des bewusst zielgerichtet handelnden Akteurs, verfügt die Praxis aber über ihre eigene Logik, eine »praktische Logik«, die dadurch gekennzeichnet ist, »nicht weiter als bis zu jenem Punkt logisch zu sein, ab dem die Logik nicht mehr praktisch wäre« (Bourdieu 1992d: 103; vgl. auch 1979: 296, 1989: 397, 1993: 26ff.). Grundlegend für diese praktische Logik ist der praktische bzw. soziale, der ›Spiel‹- bzw. ›Praxissinn‹. Resultat dieses Praxissinns ist, dass ›Verhalten‹ objektiv auf ein Ziel ausgerichtet ist bzw. als solches interpretiert werden kann, »ohne notwendigerweise das Ergebnis einer bewußten Strategie noch mechanischer Determination zu sein« (Bourdieu 1992e: 115). Es handelt sich um eine »Regelhaftigkeit ohne bewußtes Befolgen von Regeln« (Bourdieu 2001: 176). Produkt des praktischen Sinns sind also (Handlungs-)Strategien – ohne strategische Absicht.12 Was ›konkret‹ ist nun das, wofür der Praxissinn ›verantwortlich‹ ist, worauf zielt er ab, in welchem Sinne führt er zu sinnhafter Praxis? »Der praktische Sinn [leitet] ›Entscheidungen‹« (Bourdieu 1993: 122). Er ist das »Gespür für das Spiel« (Bourdieu 1998b: 42), das »Gespür für Plazierung« (Bourdieu 2001: 274)13. Er ist der »Sinn für Vereinbares und Unvereinbares« (Bourdieu 1993: 29). Das bedeutet, »daß der Sinn für eine Praxis notwendig distinktiv, differentiell ist« (Bourdieu 1989: 404; vgl. auch 1992c: 86, 1992d: 102, 2001: 237, 271). Genau hier liegt ein (grundlegendes) Missverständnis der Rezeption von Bourdieus Praxisbegriff verborgen. Es geht Bourdieu nicht um die routinisierte Ausführung einer bestimmten Praktik als repetitive Körperaktivitäten und Verhaltensmuster als solche. Es geht ihm vielmehr um die routinierte Auswahl (im nicht-intentionalen Sinne) einer Praktik, jene Entscheidung für eine (Handlungs-)Strategie. Bourdieu interessiert an der Ausführung einer Praktik weniger, wie die Praktik 12 | Siehe hierzu u.a. auch Bourdieu 1979: 165, 1992a: 37, 1992c: 79, 1992d: 99ff., 101, 1993: 95ff., 1998d: 167f., 2001: 234ff.; als Konsequenz hieraus kennzeichnet Bourdieu seine Theorie der Praxis auch als »Ökonomie der Praxis« bzw. »Wissenschaft von der Ökonomie der Praxisformen« – »Ökonomie« im Sinne »den Praktiken innewohnende Vernunft« (Bourdieu 1993: 95); siehe hierzu u.a. auch 1982: 169, 1983: 184, 1993: 95, 1998d: 162, 1997a; Bourdieu/Wacquant 1996: 151f. Bei der »ökonomischen Ökonomie« handelt es sich dann um eine mögliche »Ökonomie der Praktiken«. Das ökonomische Vokabular Bourdieus – Strategie, Interesse, Profit, Investition und Kapital – führt dann zu Missverständnissen, wenn ein ökonomistisch verkürztes Verständnis zugrunde gelegt wird, und nicht die jeweils von ihm gefassten Erweiterungen. Siehe grundlegend zum Kapitalkonzept bei Bourdieu: 1983. 13 | Bourdieu verweist in diesem Zusammenhang mehrfach auf Goffmans sense of one’s place (u.a. 2001: 236), versteht ihn als »Art gesellschaftlicher Orientierungssinn« (1982: 728).

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62 | Michael Meier als solche, sondern wie (und wann und warum) sie im Unterschied zu anderen praktiziert wird. Die Aufmerksamkeit gilt also (jeweils ›angemessenen‹) Stellungnahmen im Raum der möglichen Stellungnahmen – wobei Praktiken lediglich eine Form von Stellungnahmen darstellen. Wie entsteht nun dieser Sinn für diese Praxis? »Gegenstand der Erkenntnisweise schließlich, die wir praxeologische nennen wollen, ist nicht allein das von der objektivistischen Erkenntnisweise entworfene System der objektiven Relationen, sondern des weiteren die dialektischen Beziehungen zwischen diesen objektiven Strukturen und den strukturierten Dispositionen, die diese zu aktualisieren und reproduzieren trachten; ist mit anderen Worten der doppelte Prozeß der Interiorisierung der Exteriorität und der Exteriorisierung der Interiorität« (Bourdieu 1979: 147), es gilt also »die Theorie der Praxis, oder, genauer gesagt, die Theorie des Erzeugungsmodus der Praxisformen zu entwerfen« (ebd.: 164).14

Zentraler Gegenstand Bourdieus praxeologischer Theorie der Praxis ist also die Relation von bestimmten objektiven sowie einverleibten Strukturen – die ihren Ausdruck eben im Praxissinn findet. Dabei handelt es sich grundlegend um die Dialektik von Feld und Habitus, denn »[d]as Handeln des praktischen Sinns stellt eine Art notwendiger Koinzidenz zwischen einem Habitus und einem Feld (oder einer Position in einem Feld) dar« (Bourdieu 2001: 183). Praxis findet immer in sozialen Feldern15 statt, wobei Felder als objektive Strukturen zu verstehen sind, als »Ding gewordene Geschichte« (Bourdieu 1985b: 69). Auch wenn jedes Feld ›anders‹ ist, gibt es doch einige invariante Eigenschaften: Grundlegend für ein Feld ist, dass es in ihm im weitesten Sinne um die Konvertierung von Kapital geht. So ist jedes Feld unter anderem gekennzeichnet durch bestimmte Interessenobjekte, also das, ›was‹ auf dem Spiel16 steht, worum gespielt wird, sowie Einsätze, also ›womit‹ 14 | Es kann hier lediglich darauf hingewiesen werden, dass Bourdieu im Laufe der Zeit dazu übergegangen ist, diese »Theorie der Erzeugungsmodus der Praxisformen« als »allgemeine Theorie der Ökonomie der Felder« (Bourdieu/Wacqaunt 1996: 150) zu fassen. Allerdings blieb es bei Ankündigungen, diese ›Theorie der Felder‹ systematisch auszuformulieren (1992a: 47; 1999: 292; 2001: 327). 15 | Siehe zum Feldkonzept u.a. Bourdieu/Wacquant 1996: 124-175; Bourdieu 1993a; 1999: 288-295. Beim »sozialen Raum« handelt es sich dann um ein (nationales) Konglomerat von Feldern; zum sozialen Raum siehe u.a. Bourdieu 1982: 171-276; 1985a; 1998a; 1998b. 16 | Bourdieu verwendet häufig zur Veranschaulichung des Feldkonzepts die Spielmetapher (vgl. u.a. Bourdieu/Wacquant 1996: 127ff.) – verweist aber gleichzeitig auch auf die Grenzen dieser Metapher (vgl. ebd.; auch Bourdieu 1992c: 85).

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gespielt wird, was die einzelnen Spieler in das Spiel mit einbringen. Darüber hinaus verfügt jedes Feld im weitesten Sinne über eine bestimmte Art der Strukturierung17, angefangen von Zugangsmodalitäten über ›Regelungen‹ der Konvertierung (inklusive Interessenobjekten und Einsätzen selbst) bis hin zu den Positionen der Mitspieler, die von der Verfügung über die im Feld relevanten Einsätze und Interessenobjekte abhängen.18 Grundlegend für ein Feld ist weiterhin, dass es Akteure gibt, die ›in ihm‹ aktiv werden. Diese Aktivität hängt eng mit dem zusammen, was Bourdieu unter illusio versteht: Ein Interesse an der Teilnahme am Feld, das vor allem ein Interesse an bestimmten Objekten ist. Und ein Interesse an Strategien des Agierens, des Kapitaleinsatzes und »der praktischen Beherrschung der Regeln, die in ihm [dem Feld; M.M.] gelten« (Bourdieu/Wacquant 1996: 149). Worauf beruht nun diese illusio, diese »Tatsache, daß man vom Spiel erfaßt, vom Spiel gefangen ist, daß man glaubt, daß das Spiel den Einsatz wert ist« (Bourdieu 1998c: 140f.) – dieses Spiel, ein anderes aber nicht? Grundlegend hierfür ist als »einverleibte Struktur« der Habitus. Dieser lässt sich als ein System von dauerhaften Dispositionen im Sinne von unbewussten Wahrnehmungs-, Denk-, Bewertungs- und Handlungsschemata beschreiben, das Praxisformen generiert.19 Dieses System ist allerdings weniger ›verantwortlich‹ für konkrete Praktiken, als für die Grenzziehung, die als Rahmen für mögliches (›vorstellbares‹) Handeln verstanden werden muss, »als Anschauungs- und Wertungskategorien bzw. als Klassifizierungsprinzipien so gut wie als Organisationsprinzip des Handelns« (Bourdieu 1992a: 31).20 Dabei lässt sich der Habitus nur aus seiner Geschichte 17 | Dabei kann es sich um vollkommen implizite, wie auch um in unterschiedlichen Graden institutionalisierte Strukturierungen handeln. 18 | Die Betrachtung des Zustand eines Feldes ist dabei immer nur als Momentaufnahme zu verstehen, da sämtliche Strukturierungsmomente permanent ›auf dem Spiel stehen‹. In diesem Sinne beinhaltet eine Feldrekonstruktion neben der Feldbeschreibung auch die umfassende historische Analyse der Feldgenese (und darüber hinaus die Bestimmung der Relation des Feldes zu anderen Feldern). Das Feld als ›Ding gewordene Geschichte‹ bedeutet also nicht Stillstand und Unveränderbarkeit – im Gegenteil, sein Zustand stellt immer lediglich den aktuellen Stand von ›Auseinandersetzungen‹ dar. Es wäre zu zeigen, dass sich in Feldrekonstruktionen ungleichheits-, macht-, kultur- und differenzierungstheoretische Perspektiven zusammenführen lassen. 19 | Siehe hierzu u.a. Bourdieu 1979: 165, 169f., 1992d: 100, 1992e: 144, 1993: 98ff.; Bourdieu/Wacquant 1996: 154. ›Unbewusst‹ meint dabei »außerhalb absichtlicher Kontrolle« (Bourdieu 1982: 727), aber auch, dass die Geschichte der Entstehung vergessen ist (vgl. Bourdieu 1993: 105). 20 | Damit ist der Habitus gerade nicht die Verdichtung des ›praktischen Wis-

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64 | Michael Meier heraus verstehen: Er ist »Leib gewordene […] Geschichte« (Bourdieu 1985b: 69),21 denn »als strukturierende und strukturierte Struktur aktiviert [er] in den Praktiken und im Denken praktische Schemata, die aus der – über den historischen Sozialisationsprozeß ontogenetisch vermittelten – Inkorporierung von sozialen Strukturen hervorgegangen sind« (Bourdieu/Wacquant 1996: 173; vgl. auch Bourdieu 1985b: 69). Dabei dürfen soziale Strukturen nicht auf Sozialstruktur reduziert werden. Sie sind eher allgemein als jene oben angedeuteten Strukturierungen zu verstehen, die Felder kennzeichnen. Im Laufe des Sozialisationsprozesses erfährt der Akteur bestimmte Strukturierungen als ›den Einsatz wert‹, er entwickelt bestimmte Interessen – und bleibt gleichzeitig anderen Felder gegenüber indifferent. Bewegt sich der Akteur nun (dauerhaft) in Feldern, können deren Strukturierungen durch Inkorporierung den Status von etwas vollkommen ›Natürlichem‹ erreichen (vgl. Bourdieu 1993: 254), lernt der Akteur die ›praktische Beherrschung‹ eben dieses Spiels. Treffen diese inkorporierten Strukturen auf objektive Strukturen, auf deren Grundlage sie sich gebildet haben und für die sie ›passen‹, ›läuft‹ das Spiel nahezu wie von selbst. Der Akteur »fühlt sich in der Welt zu Hause, weil die Welt in Form des Habitus auch in ihm zu Hause ist« (Bourdieu 2001: 183). Genau in diesem Zusammentreffen manifestiert sich der Praxissinn. Dabei wirkt ein Habitus erst im Verhältnis zu einem bestimmten Feld (vgl. u.a. Bourdieu 1992e: 115f.; 2001: 191; Bourdieu/Wacquant 1996: 168). Die einzelnen Felder bleiben nur so lange relevant, wie es Akteure gibt, die über entsprechende Habitus verfügen, die dazu führen, dass ein bestimmtes Interesse existiert (vgl. u.a. Bourdieu 2001: 193) und Praxis stattfindet. Durch diese Praxisformen22 – orientiert an und angeleitet von den sens‹ (vgl. Reckwitz 2003: 297), wenn dieses als Grundlage des konkreten AusführenKönnens verstanden wird. Vom Habitus angeleitete Praxis entspricht gerade nicht repetitiven und typisierten Routinekomplexen von ›Praktiken‹, sondern (angemessenen) ›Strategien‹. 21 | Körperlichkeit spielt bei Bourdieu vor allem im Sinne dieser Einverleibung, als Inkorporierung von Strukturen und der damit verbundenen Entwicklung von Dispositionen eine Rolle (vgl. u.a. Bourdieu 1979: 189ff., 1992d: 102, 1993: 107, 126ff., 2001: 177ff., 234). 22 | Dabei ›schafft‹ der Habitus nicht eigentlich individuelle Praxisformen, sondern kollektive (vgl. Bourdieu 1979: 82, 1982: 729, 1993: 101f.), denn identische oder zumindest ähnliche Erzeugungsbedingungen generieren identische bzw. ähnliche Habitusformen – was sich ›in und anhand der Praxis‹ zeigt. Die vor allem in Die feinen Unterschiede (1982) resümierten Ergebnisse sind u.a. so zu lesen: als Identifikation unterschiedlicher Praxisformen und Aufzeigen der Entsprechung der Unterschiede in den Entstehungsbedingungen der zugrunde liegenden Habitusformen.

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durch geschichtliche Strukturen strukturierten Schemata des Habitus – werden wiederum bestimmte Strukturen und damit Geschichte, Felder geschaffen. Der Habitus ist Vermittler zwischen Struktur und Praxis, »Praxis [ist] der Ort der Dialektik […] von Strukturen und Habitusformen« (Bourdieu 1993: 98, vgl. auch 1992e: 115f.) – Struktur ist Praxis. 23 Dabei geht es Bourdieu mit dem Konzept des Habitus darum, Zusammenhänge, oder genauer: Wahrscheinlichkeiten der Homologien zwischen Positionen und Positionierungen gerade nicht mechanisch zu denken und erklären, sondern eben mit dem Habitus als »Vermittlungsglied« (Bourdieu 1997b: 31; Anmerkungen zu Die feinen Unterschiede finden sich in Bourdieu 1992f; 1997b). Und selbst dort, wo Bourdieu von Reproduktion des sozialen Raums spricht, ist diese »immer nur eine statistische, d.h. daß die Klasse (im logischen Sinne) fortbesteht, ohne daß die Gesamtheit ihrer Einzelmitglieder reproduziert wird« (1991: 82) Eine Reduktion der nach Bourdieu relevanten Entstehungsbedingungen auf »eine soziale Kapitalstruktur« (Reckwitz 2000: 309) ist insgesamt nicht nachvollziehbar. 23 | Die Problematik, den Habitus für etwas ›verantwortlich‹ zu machen, wofür er dem Bourdieu’schen Verständnis nach nicht Grundlage ist, wird verschärft durch die routinisierte Praxis der repetitiven Reproduktion eines weiteren Missverständnisses im Rahmen der Bourdieu-Rezeption (siehe hierzu exemplarisch für Vertreter einer praxistheoretischen Perspektive de Certeau 1988: 112-129; Hörning 2001: 167179; Reckwitz 2000: 308-346, v.a. 339ff., 617ff., 2003: 297, 2004), der Interpretation des Habitus lediglich als Reproduktionsmechanismus, was sich in den Vorwürfen der Determiniertheit, Starrheit und Zirkularität äußert. Diese lassen sich allerdings auf eine selektive, theoriekontext-isolierte Lesart zurückführen. Folgende Aspekte sollen andeuten, was gegen diese Vorwürfe spricht: (1) Der Habitus ist nicht ›abgeschlossen‹, sondern etwas Erworbenes und »[i]n Abhängigkeit von neuen Erfahrungen ändern sich die Habitus unaufhörlich« (Bourdieu 2001: 207; vgl. zu ›flexiblen Habitus‹ auch ebd.: 126). Felder wandeln sich permanent und die sich jeweils so ergebenden Anwendungsbedingungen sind gleichzeitig auch immer als Entstehungsbedingungen zu verstehen, die den Habitus prägen. (2) Der Habitus führt »nicht einfach in bestimmter Weise zu einem bestimmten Handeln« (ebd.: 191), sondern ist Grundlage für Improvisation, Erfindungskunst und Kreativität (vgl. Bourdieu 1979: 169f., 179, 1992c: 84, 1992d: 101, 104, 1993: 104; Bourdieu/Wacquant 1996: 154), »ein und derselbe Habitus [verleitet] je nach Zustand des Feldes zu höchst unterschiedlichen Praktiken und Stellungnahmen« (Bourdieu 1989: 406). Bis zu einem gewissen Punkt mögen häretische Strategien sinnvoll sein – um dann in orthodoxe ›umzuschlagen‹. (3) Der Habitus ist ein Produktionsprinzip von Praxis (vgl. Bourdieu 1989: 397, 1992c: 87; Bourdieu/Wacquant 1996: 165f.) – neben der Möglichkeit zu bewussten, norm- oder regelorientierten Entscheidungen. Das Verhältnis unterschiedlicher Produktionsprinzipien wäre als ein historisches, sich veränderndes Ergebnis zu verstehen. (4) Und schließlich: Dass die Schemata des Habitus unbewusst wirken, heißt

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Wozu Bourdieu? Die Schwierigkeiten, die sich für eine Theorie sozialer Praktiken mit dem Bezug auf bzw. der Abgrenzung von Bourdieus Habitus-Konzept ergeben,24 versperren letztlich den Blick auf ein anderes Bourdieu’sches Konzept, das für eine Theorie sozialer Praktiken von großer Bedeutung ist: das Konzept des inkorporierten kulturellen Kapitals. Begreift man inkorporiertes kulturelles Kapital als Gesamtheit sämtlichen (impliziten wie expliziten) Wissens – Handlungs- wie Bedeutungswissen, Schemata, Regeln und Skripte, genauso wie Werte und Normen und auch Fähigkeiten, Kompetenzen und Fertigkeiten –, dann lässt sich implizites praktisches Wissen als ein Können, als Kompetenz, als Fertigkeit eben als ein bestimmter Komplex des inkorporierten kulturellen Kapitals interpretieren.25 Natürlich wäre auch hier dieser Komplex einerseits näher zu bestimmen und andererseits das Verhältnis der verschiedenen Komplexe des inkorporierten kulturellen Kapitals untereinander zu analysieren, etwa das Verhältnis zwischen implizitem praktischen Wissen und den Schemata des Habitus. Dabei könnte sich eine Sichtweise als fruchtbar erweisen, nach der eine Theorie sozialer Praktiken dort an Praxis ansetzt, wo Bourdieus praxeologische Theorie der Praxis aufhört. Aber auch hier ist das Zusammenspiel von Kapital, Feld und Habitus, sind die Entstehungsbedingungen, eben jene Erwerbsmodalitäten von Kapital, und Anwendungsbedingungen zwingend integriert zu thematisieren – zumindest dann, wenn das Erkenntnisinteresse einer Theorie sozialer Praktiken dem Bourdieus entspricht. Dies ist aber nicht unbedingt zu erwarten, wenn »Praxistheorien […] einen quasi-ethnologischen Blick auf die Mikrolo-

nicht, dass sie nicht bewusst gemacht werden könnten (vgl. Bourdieu 1989: 407; dies entgegen dem Verständnis der Nicht-Explizierbarkeit des praktischen Wissens; vgl. Reckwitz 2003: 292, 297) einer Theorie sozialer Praktiken). Im Gegenteil, hierin sieht Bourdieu eine grundlegende Aufgabe der Soziologie. 24 | Wenn sie also den Habitus für das Ausführen-Können und die Performativität des Ausführens ›verantwortlich‹ macht und ihn darüber hinaus als reproduktiv und determinierend versteht. 25 | Es wäre zu konkretisieren, dass auch der Habitus – als System von Schemata – letztlich als ein Bereich des inkorporierten kulturellen Kapitals zu verstehen ist (das Verständnis als Inkorporierung legt dies bereits nahe). Dass es sich prinzipiell um zwei verschiedene Komplexe von ›Wissen‹ handelt, deutet sich bei Reckwitz an, wenn er für die Theorie sozialer Praktiken davon ausgeht, dass »alle diese Wissensformen einer Praktik […] jene ›symbolischen Ordnungen‹« (Reckwitz 2003: 292) verarbeiten.

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gik des Sozialen an[leiten]« (Reckwitz 2003: 298; Hervorh. M.M.).26 Ein solches Selbstverständnis lässt nicht erkennen, wie Differenzierungsprozesse sowie Ungleichheits- und Machtverhältnisse – grundlegende Aspekte der Soziologie Bourdieus – in den Blick genommen werden können.

Literatur Bourdieu, Pierre (1979): Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1983): »Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital«, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten. Sonderheft 2 der Zeitschrift ›Soziale Welt‹, Göttingen: Schwartz. Bourdieu, Pierre (1985a): »Sozialer Raum und ›Klassen‹«, in: ders., Sozialer Raum und ›Klassen‹. Leçon sur la Leçon. 2 Vorlesungen, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 7-46. Bourdieu, Pierre (1985b): »Leçon sur la Leçon«, in: ders., Sozialer Raum und ›Klassen‹. Leçon sur la Leçon. 2 Vorlesungen, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 47-81. Bourdieu, Pierre (1989): »Antwort auf einige Einwände«, in: Klaus Eder (Hg.), Klassenlage, Lebensstil und kulturelle Praxis. Beiträge zur Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieus Klassentheorie, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 395-410. Bourdieu, Pierre (1991): »Das Feld der Macht und die technokratische Herrschaft«, in: ders., Die Intellektuellen und die Macht, Hamburg: VSAVerlag, S. 67-100. Bourdieu, Pierre (1992): Rede und Antwort, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1992a): »Fieldwork in Philosophy«, in: ders., Rede und Antwort, S. 15-49. Bourdieu, Pierre (1992b): »Bezugspunkte«, in: ders., Rede und Antwort, S. 50-75. Bourdieu, Pierre (1992c): »Von der Regel zu den Strategien«, in: ders., Rede und Antwort, S. 79-98. Bourdieu, Pierre (1992d): »Die Kodifizierung«, in: ders., Rede und Antwort, S. 99-110. 26 | Es ist zu vermuten, dass eine so orientierte Praxistheorie entsprechend den kulturalistischen Wendungen der Sozialstrukturanalyse in Richtung einer ›bunten Vielfaltsforschung‹ tendiert (siehe für diese Formulierung im Zusammenhang mit der deutschen Sozialstrukturanalyse Geißler 1996).

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68 | Michael Meier Bourdieu, Pierre (1992e): »Das Interesse des Soziologen«, in: ders., Rede und Antwort, S. 111-118 Bourdieu, Pierre (1992f): »Sozialer Raum und symbolische Macht«, in: ders., Rede und Antwort, S. 135-154. Bourdieu, Pierre (1993): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1993a): »Über einige Eigenschaften von Feldern«, in: ders., Soziologische Fragen, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 107-114. Bourdieu, Pierre (1997a): »Für einen anderen Begriff der Ökonomie«, in: ders., Der Tote packt den Lebenden, Hamburg: VSA-Verlag, S. 79-100. Bourdieu, Pierre (1997b): »Die feinen Unterschiede«, in: ders.: Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg: VSA-Verlag, S. 31-47. Bourdieu, Pierre (1998): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag. Bourdieu, Pierre (1998a): »Sozialer Raum, symbolischer Raum«, in: ders., Praktische Vernunft, S. 11-27. Bourdieu, Pierre (1998b): »Das neue Kapital«, in: ders., Praktische Vernunft, S. 33-47. Bourdieu, Pierre (1998c): »Ist interessenfreies Handeln möglich?«, in: ders., Praktische Vernunft, S. 137-157. Bourdieu, Pierre (1998d): »Die Ökonomie der symbolischen Güter«, in: ders., Praktische Vernunft, S. 159-200. Bourdieu, Pierre (1999): Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (2001): Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre/Loïc J.D. Wacquant (1996): »Die Ziele der reflexiven Anthropologie«, in: dies., Reflexive Anthropologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 95-249. Certeau, Michel de (1988): Kunst des Handelns, Berlin: Merve. Geißler, Rainer (1996): »Kein Abschied von Klasse und Schicht. Ideologische Gefahren der deutschen Sozialstrukturanalyse«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 68: 319-338. Hörning, Karl H. (2001): Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens, Weilerswist: Velbrück. Reckwitz, Andreas (1999): »Praxis – Autopoiesis – Text. Drei Versionen des cultural turn in der Sozialtheorie«, in: ders./Andreas Sievert (Hg.), Interpretation, Konstruktion, Kultur. Ein Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften, Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 19-49. Reckwitz, Andreas (2000): Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist: Velbrück.

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Reckwitz, Andreas (2003): »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie 32, S. 282-301. Reckwitz, Andreas (2004): »Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken. Zugleich ein Kommentar zu Pierre Bourdieu und Judith Butler« (in diesem Band). Wieser, Matthias (2004): »Inmitten der Dinge. Zum Verhältnis von sozialen Praktiken und Artefakten« (in diesem Band).

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Materialität sozialer Praktiken

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Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns Stefan Hirschauer

Wenn von doing culture die Rede ist, so wird damit ein Konzept aufgegriffen, das Harold Garfinkel und Harvey Sacks in den 1960er Jahren in die ethnomethodologische Analyse von Alltagspraktiken einführten. Das Präfix doing stand für eine Heuristik, mit der sich kompakte soziale Tatsachen temporalisieren und als praktische Vollzugswirklichkeiten dekomponieren lassen. Doing gender (West/Zimmerman 1987), doing mind (Coulter 1989) – oder doing being ordinary (Sacks 1984) – was ist dafür zu tun, um einfach ›ganz normal‹ zu erscheinen? Verglichen mit dem ›Handeln‹ der europäischen Handlungstheorie ging es beim doing um einen gewissermaßen ›tiefergelegten‹ Begriff: nicht um eine mit Intentionen verknüpfte Aktivität, auch nicht um ein kommunikatives Attributionsphänomen, sondern um eine elementare Praxis vor der symbolischen Kondensierung von ›Handlungen‹. Eine Handlung ist ein Atom, eine analytische Einheit, eine Praktik nur die empirische Spezifikation eines »nexus of doings and sayings« (Schatzki 1996: 89). Eine Handlung muss in Gang gesetzt werden, sie verlangt nach einem Impuls und einem Sinnstiftungszentrum. Daher fragt man nach ihr mit Warum- und Wozu-Fragen. Eine Praxis dagegen läuft immer schon, die Frage ist nur, was sie am Laufen hält und wie ›man‹ oder ›Leute‹ sie praktizieren: Wie wird es gemacht und wie ist es zu tun? Nach einer Handlung fragt man am besten die Akteure, eben weil ihre Sinnstiftung im Zentrum steht, Praktiken haben eine andere Empirizität: Sie sind in ihrer Situiertheit vollständig öffentlich und beobachtbar. Wegen dieses relativen Desinteresses der Ethnomethodologie an einem Ursprung des Handelns in einem personalen Komplex aus Motiven, Inten-

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74 | Stefan Hirschauer tionen und Selbstbeobachtung konnten die menschlichen Akteure etwas zurücktreten. Ihre Aktivitäten wurden einfach als ein Tun betrachtet, das Dinge geschehen macht oder geschehen lässt. Kehrseite dieser Abwendung vom Subjekt war eine Öffnung für andere Entitäten, die an sozialen Prozessen teilnehmen können. In der von Sacks begründeten Konversationsanalyse war dies eine »Konversationsmaschine«, ein mechanisches Regelsystem, das sprachliche Äußerungen über Zugzwänge steuert und menschliche Sprecher als ihre Nutzer und ihre Rädchen zugleich hat. Allerdings fungierte die Konversationsmaschine nur als Metapher, weil in Gesprächspraktiken andere Entitäten als Menschen eher im Hintergrund des Geschehens blieben. Dies war anders in den studies of work (Garfinkel 1986), der Untersuchung von Arbeitsprozessen in oft hochtechnisierten Feldern, besonders in den Naturwissenschaften (etwa: Lynch 1993). Erst in diesen Studien konnte eine nicht-sinnhafte Dimension von Praktiken in den Vordergrund treten: ihre Materialität. Innerhalb der Science Studies war es aber besonders die Actor Network Theory (ANT) von Bruno Latour und Michel Callon (z.B. Latour 1987, 1998), die darauf insistierte, dass menschlichen Akteuren in der Technozivilisation mächtige nicht-menschliche Agenten zur Seite zu stellen sind. Für die Frage nach der Materialität von Praktiken hat dieser Ansatz allerdings zwei Schwächen: Zum einen hat sich die ANT ganz auf die Rolle von technischen Artefakten konzentriert, dabei aber ein anderes kulturelles Objekt vernachlässigt: den Körper. Der theoriesystematische Grund dafür ist, dass der Körper nicht in die Leitunterscheidung von Humans und NonHumans passt. Wo sollte man ihn verorten? Die zweite Schwäche des Ansatzes ist, dass seine Leitunterscheidung eben akteurzentriert bleibt. Er ist ein Gegendiskurs zur Handlungstheorie, der an den Themen des Ursprungs und der Agency, des Handlungspotenzials festhält. Das Design von Technologien als bevorzugtem Ort, an dem Agency in sie eingebaut wird, ist ein theoriestrategisches Äquivalent zu einem bevorzugten Ort der Sinnstiftung im Handlungssubjekt: Die Invention tritt gewissermaßen an die Stelle der Intention. Die ANT denkt Praxis von ihren energetischen Einheiten her. Sie fragt nach ihren diversen Trägern und Beiträgern und mündet dementsprechend in erhitzte Debatten über deren ontologische Eigenschaften (Collins/Yearley 1992; Bloor 1999). Statt dieser kontributorischen Perspektive lässt sich aber auch eine partizipatorische Perspektive auf jene Entitäten einnehmen, die an Praxis teilhaben und in ihre Dynamik verwickelt sind: Menschen und andere Lebewesen, Körper und Textdokumente, Artefakte und Settings. Sie erlaubt, jede Reifikation von Akteuren zu vermeiden. Artefakte (u.a.) sind nicht Akteure, sondern Partizipanden sozialer Prozesse. Dieser Begriffsvorschlag bezeichnet hier nicht wie im Symbolischen Interaktionismus den Kreis der situativ

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Dazugehörigen (»participant«) oder wie in der politischen Theorie die Teilhaber am demokratischen Prozess (»Partizipation«), sondern alle Entitäten, die auf eine für sie spezifische Weise in den Vollzug von Praktiken involviert sind. Die Rede von Partizipanden liegt dabei ›auf der linguistischen Linie‹ der Rede von doing culture. Das englische doing ist nämlich, grammatisch gesehen, ein Partizip Präsens. Es gehört zu den sog. infiniten Verbformen, die anders als finite Formen in Person und Numerus unbestimmt sind. Infiniten Verben ist der Akteur egal: Etwas bleibt ›rauchend‹ – ob als Mensch, als Colt, als Schlot oder als Vulkan. Ich möchte, diese Indifferenz nutzend, nach den Partizipanden einer Praktik fragen, und zwar besonders nach dem Körper. Warum aber ›Praktiken und ihre Körper‹, warum nicht ›Der Körper und die Praxis‹? Zwei Akzente seien damit gesetzt. Zum Ersten ein wenig Distanz zu phänomenologischen Thematisierungen des Körpers, die eine anthropologische Sicht auf das Soziale nehmen, es gewissermaßen ›aus der Mitte des Leibes heraus‹ betrachten. Stattdessen möchte ich von Praktiken und ihren Körpern in einem ähnlich dezentrierenden Sinne sprechen, in dem Goffman einmal meinte, ihm ginge es »nicht um Menschen und ihre Situationen, sondern eher um Situationen und ihre Menschen« (Goffman 1971: 9). Zum Zweiten ist der Plural ernst zu nehmen: Er steht für den Stand der Dinge einer Geschichte und Ethnologie des Körpers, die diesen Singular gründlich erschüttert hat. Der Körper ist immer eine Konstruktion je spezifischer Diskurse. Er existiert aber auch relativ zu je spezifischen Praktiken – als »Multiple Bodies« wie Annemarie Mol (2002) sagt. Der Körper ist also nicht aprioristisch vorauszusetzen, er ist aber auch nicht bloß als Resultat von Diskursen und Praktiken zu verorten, er steckt vielmehr in den Praktiken. Diesen Gedanken möchte ich an drei empirischen Fällen durchspielen, mit denen ich mich in den letzten Jahren beschäftigt habe. Sie stammen aus den Gender Studies, der Techniksoziologie und der Medizinsoziologie.1 Meine konstruktive Absicht besteht in der Demonstration der neuen analytischen Beschreibungsmöglichkeiten, die die Offenheit des Praxisbegriffs bietet. Meine dekonstruktive Absicht besteht darin, die synthetisierende Theoretisierung von Praktiken maximal mit heterogenen Gegenstandsbezügen zu belasten.

1 | Ausführliche Darstellungen dieser empirischen Fälle finden sich in Hirschauer 1991, 1994, 1999.

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Körper als Kommunikationsmedien Bei allen Fallbeispielen ist der Körper zunächst auf eine bestimmte Weise lebensweltlich thematisch. Bei den Praktiken der Geschlechtsdifferenzierung ist er es insofern, als diese unserem Alltagswissen als körperlich fundiert gelten. Mit dieser Alltagstheorie brechend, haben ethnologische und historische Studien gezeigt, dass körperliche Merkmale extrem deutungsoffene Phänomene sind. So zeigte Thomas Laqueur (1992), dass die Menschen Europas über fast 2000 Jahre nur eine und nicht zwei Sorten Genitalien hatten: Das weibliche galt nur als eine nach innen gestülpte Variante des männlichen. Soziologische Studien zum Geschlechtswechsel machten deutlich, dass die Geschlechtstitel nicht einfach auf den Geschlechtsmerkmalen beruhen (wie es in der Geburtssituation erscheint), sondern dass umgekehrt einen Anspruch auf bestimmte Körperteile hat, wer als Frau oder Mann gilt. Die Genitalien, so Harold Garfinkel (1967), sind wie die Wörter einer Sprache als Zeichen im Kontext einer ganzen moralischen Ordnung zu verstehen. Erzeugt wird diese Zeichenhaftigkeit in kontingenten kulturellen Praktiken, darunter die medizinisch-juristische Geburtsregistrierung und die Konventionen der schamhaften Bedeckung, die bestimmte Körperzonen als Blöße konstituieren und so mit Sinn aufladen. Solche zeichentheoretischen Argumente wirken in ihrer Abwendung von unserem biologischen Alltagswissen zunächst recht ›körperfeindlich‹. Laqueurs Wissensgeschichte oder Judith Butlers Diskursanalyse (1991, 1995) entwickeln einen Textbegriff des Körpers, der diesen in einen Strom von Zeichen auflöst – in Klassifikationen, Beschreibungen, Interpretationen, die z.B. die Inferiorität von Frauen oder die Heterosexualität ›auf den Körper schreiben‹. Diese AutorInnen demonstrieren eine unabweisbare Sozialität des Körpers als immer schon sprachlich durchdrungenem Objekt, aber sie interessieren sich nicht für die Körperlichkeit des Sozialen. Die in Sprache fundierten Kulturwissenschaften wehren die Herausforderung ab, die der Körper für sie bedeutet. Die soziologischen Studien zum Geschlechtswechsel haben in dieser Hinsicht einen anderen Weg eingeschlagen. Die Transsexualität scheint den Körper ja zunächst als Objekt von gestalterischen Praktiken zu kennen: Er wird chirurgisch und hormonell bearbeitet, kosmetisch und sportlich gestaltet und ist in diesem Sinne ein kulturelles Artefakt. Die Gesellschaft schreibt sich ihm ein, so wie sie es durch Ernährung und Fasten, Disziplinierung und Arbeit in jeden Körper tut.2 Die Pointe der soziologischen 2 | Diese Modellvorstellung des Körpers als Angriffspunkt der Vergesellschaftung und Produkt von Inskriptionen wurde in den 1970er Jahren besonders von Foucault (1976) und Bourdieu (1976) entwickelt. Sie ist durch zwei Aspekte gekenn-

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Studien liegt darin, dass nicht primär diese materiellen Einschreibungen zu einem neuen Geschlecht verhelfen, sondern ein anderer Gebrauch des Körpers. Er muss nicht primär technisch bearbeitet, sondern kommunikativ eingesetzt werden. Soll ein Geschlecht sozial gültig sein, führt nichts an seiner Verkörperung vorbei. Verkörperung, Embodiment, Performance – das bedeutet zunächst eine Verpflichtung auf ein vorrangiges Zeichensystem. Das Geschlecht wird im Normalfall weder erfragt noch mitgeteilt, sondern dargestellt. Seine primäre soziale Existenzweise liegt in bildlichen Symbolisierungen, in »gender displays« (Goffman 1979). Und über das, was sich zeigt, braucht man nicht zu sprechen. Verkörperung meint pantomimische Symbolisierung, eine dezidiert nicht-diskursive Praktik. Texttheorien des Kulturellen haben mit diesem Umstand einige Schwierigkeiten. Körperzentrierte Visualisierungen fallen etwa in der Kommunikationstheorie Niklas Luhmanns (1984) in das ›Loch‹ zwischen den Systemtypen der Kommunikation und des wahrnehmenden Bewusstseins. Auch in Butlers Diskurstheorie ist die kulturwissenschaftliche Geringschätzung des Körpers bereits tief angelegt. Helga Kotthoff (2002: 5) hat erst kürzlich erneut auf den Konstruktionsfehler hingewiesen: Butlers Begriff des Performativen bestimmt die Theatralität des Alltagshandelns nach dem Modell von Austins Sprechakttheorie. Diese kann das Handeln ohne Körper konzipieren, weil dieser beim Sprechen eine vergleichsweise triviale Rolle spielt. Gerade das Geschlecht wird aber nicht primär in isolierten Sprechakten konstituiert (›ich erkläre Euch zu Mann und Frau‹), sondern im praktischen Einsatz spezifischer Gesten, Gesichter, Gangarten und Kleidungsstücke. Dieser kontinuierliche Gebrauch von Zeichensystemen sozialisiert den Körper nun mittels einer Einprägung von kulturellen Verhaltenscodes. Darstellungen sind kommunikative Praktiken, die mit einer materiellen Formung des sie vollziehenden Körpers einhergehen. Umgekehrt ist aber auch der Bestand der Codes von ihrem körperlichen Gebrauch abhängig. Nicht synthetische Bilder oder Benimmbücher, sondern verkörperte Darstellunzeichnet: Zum einen wird die Sozialität des Körpers stärker an die Körperlichkeit des Sozialen gebunden, die in der Arbeit liegt, die der Körper tut, bevor sie in ihm ihre historischen Spuren hinterlässt. Zur symbolischen tritt also eine materielle Konstruktion des Körpers. Zum zweiten wird eine (fragwürdige) Leibeigenschaft von Gesellschaftsmitgliedern postuliert: dass Individuen nicht autonom über ihren Körper verfügen, führt hier nicht auf den phänomenologischen Gedanken, dass sie ihr Leib sind, sondern auf den, dass er ihnen nicht allein gehört. Wenn Individuen Leib sind, dann nicht ihr eigener. Der Habitus ist ein gesellschaftlicher Körper: mit Haut und Haaren gehört er der Gesellschaft.

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78 | Stefan Hirschauer gen selbst sind die primäre Erscheinungsform kultureller Verhaltenslimitierungen: Sie zeigen, ›was geht‹ und ›was nicht geht‹. Menschliches Verhalten ist jene Form kultureller Selbstrepräsentation, die sich durch Körper artikuliert – und nicht durch Photographien, Schriftstücke, Statistiken oder Artefakte. Der kontinuierliche Gebrauch bestimmter Darstellungen macht den Körper also zu ihrem Kommunikationsmedium. Den Akteuren beschert diese Formierung ihres Körpers einerseits ein Trägheitsmoment: Ein Körper, der lange in der Darstellung des einen Geschlechts gebraucht wurde, benötigt Jahre des Trainings, um für die Darstellung des anderen tauglich zu sein. Andererseits wird ein sozialisierter Körper zu einem fleischlichen Gedächtnis, das Akteure von einem mentalen Wissen über das Frau- oder Mannsein entlastet, das bei der mühelosen Durchführung von Darstellungen hinderlich wäre. Sie müssen wissen, wie etwas zu tun ist, aber ohne gleichzeitig zu wissen, wie sie es tun. Schon Garfinkel zeigte, dass das Hauptproblem der transsexuellen ›Agnes‹ in ihrem Überschuss an explizitem Wissen lag: Agnes war ›die Frau, die zuviel wusste‹, ihr fehlte es an Selbstvergessenheit. Sie handelte, anstatt ihr Geschlecht geschehen zu lassen. Sie versuchte zu wissen, anstatt andere wissen zu lassen. Der Fall der Geschlechtsdarstellung entfaltet insofern einige der Wissensarten, die Praxistheorien oft nur in negative Begriffe fassen: ›implizites‹, ›tacit‹ oder ›nicht-propositionales‹ Wissen. Die Hervorbringung von Darstellungen ist an ein praktisches Wissen gebunden, das in körperlichen Routinen verankert ist, in »Fertigkeiten« (Schütz/Luckmann 1979: 140), einem stummen »knowing how« (Ryle 1969). Ihrem Publikum verschaffen Darstellungen dagegen ein explizites Wissen von sozialer Wirklichkeit, das allerdings ebenfalls nicht propositional, sondern visuell verfasst ist. Auf kognitives Wissen bezogen, sind Verkörperungen also mit einem paradoxen Effekt verbunden: Sie erfordern ein weitgehendes Vergessen vom Darsteller und bewerkstelligen ein Erinnern für das Publikum. Ziehen wir ein Zwischenfazit: In den Praktiken der Geschlechtsdarstellung, die Personen ein bestimmtes Selbst verleihen, ist der Körper vor allem ein Kommunikationsmedium. Eine Handlungstheorie der Geschlechtsdarstellung würde das Wissen vom Akteur verlangen, eine Praxistheorie verlangt vom Akteur ein Vergessen und das Wissen von seinem Körper.

Selbsttätige Körper, abgemeldete Personen Schon bei der Betrachtung des Körpers in symbolischer Interaktion kommen mit Kleidungsstücken und anderen Darstellungsaccessoires bestimmte Artefakte ins Spiel. Dieser Aspekt wird noch virulenter, wenn wir uns ei-

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nem Fall zuwenden, bei dem es um die Handhabung eines technischen Artefakts geht: der Praxis des Fahrstuhlfahrens. Auch hier ist der Körper auf spezifische Weise thematisch. Er wird auf den ersten Blick nicht wirklich gebraucht, stellt eher ein Problem: Wir benutzen den Fahrstuhl, weil wir einen Körper haben, der unseren gesteigerten Mobilitätsabsichten zu unterwerfen ist. Auf den zweiten Blick zeigen sich jedoch noch weitere Relevanzen des Körpers. Die erste liegt im Verhältnis von individuellem Nutzer und Artefakt. Zunächst geht es hier um ein einfaches Substitutionsverhältnis: Verglichen mit dem Treppensteigen besteht das Fahrstuhlfahren darin, dass wir eine alte ›Körpertechnik‹ – im Sinne von Marcel Mauss (1978) an eine ›instrumentelle Technik‹ delegieren. Das Artefakt handelt für uns oder mit uns. Zum einen besteht die Praxis des Fahrstuhlfahrens aus spezifischen Handhabungen des Artefakts: normierten, die ihm erst die Bedeutung eines Beförderungsmittels geben, oder eher freien Formen des Gebrauchs, die ihn z.B. als Mülleimer oder Sportgerät behandeln. Zum anderen besteht die Praxis aus der technischen Konditionierung von Handlungen durch das Artefakt: vielfältigen Anpassungen des Körpers, der Wahrnehmung und des Verhaltens an die soziotechnischen »Skripte« (Akrich 1992), die in seiner materiellen Struktur liegen. So verlangt etwa eine automatische Tür beim Besteigen des Fahrstuhls eine bestimmte Körpertechnik und ein Timing, bei dem die Motorik des Körpers auf die einer Fortbewegungsmaschine abzustimmen ist. ›Sachtechnik‹ und ›Körpertechnik‹ amalgamieren in der Praxis. Diese Verschränkungen finden sich aber nicht nur im Verhältnis des Artefakts zum individuellen Nutzer. Technologien konstituieren auch Interaktionsmuster, die ihren spezifischen Gelegenheitsstrukturen entsprechen. Nehmen wir wieder das Einsteigen. Die Mobilisierung wartender Körper ist hier ein Navigationsproblem – Goffman meinte: weniger ein interpersonelles als ein »intervehikulares« Problem (1974: 39): das der Kollisionsvermeidung. Allerdings sind diese Körper durch Zusammenstöße nicht nur deshalb verwundbar, weil sie keine Knautschzone haben, sondern auch, weil sie als Symbol und Container von Personen kulturell intakt gehalten werden müssen: Zusammen mit einem Fahrwerk würde auch ein Gesicht entgleisen. Die Interaktionsordnung sieht für das Einsteigen daher ›Reihenpositionen‹ vor, z.B. haben Aussteiger Vorfahrt vor Einsteigern, es gilt ein Überholverbot, und eine gewisse Priorität der ›länger Wartenden‹. Vor diesem Hintergrund ist nun aber eine Tür, die nur einen durchlässt, auch eine Gelegenheit, anderen den Vortritt zu lassen und so rituelle Gewinne zu erzielen. Solche Höflichkeitsgesten gelten typischerweise Personen, die durch die Funktionsweise des Artefakts als Nutzer behindert und insofern zu Unpersonen gemacht werden: etwa Kinder und Zwergwüchsige (durch die

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80 | Stefan Hirschauer Höhe der Knöpfe) oder Senioren (durch das Schließtempo der Tür). Diese Höflichkeiten sind interaktive Kompensationen von Diskriminierungen durch das dem Artefakt eingeschriebene Nutzer-Skript. Auch der Körper als Kommunikationsmedium begegnet uns im Fahrstuhl wieder. Er ist etwa in seiner Stehordnung relevant, die Regeln der Distanzmaximierung und der Äquidistanz vorsieht. Begründet ist sie in den kommunikativen Effekten, die enge oder ungleiche Abstände haben würden: Schon die bloße Platzierung von Körpern ist kommunikativ, insofern sie Beziehungszeichen absondert. Ferner werden die Körper in einem Spannungsverhältnis zwischen Zu- und Abwendung gehalten. Weder bietet man sich das Gesicht, noch dreht man dieses zur Wand. Der Körper wird zwischen zwei entgegengesetzten kulturellen Bedeutungen seines Rückens gehalten: als ›kalte Schulter‹, mit der man andere kränken könnte (indem man ihnen die Kenntnisnahme durch Anblicken verweigert) und als ›Nacken‹, in dem man selbst verwundbar wäre (nämlich für ihre indiskreten Blicke). Dieselbe Ambivalenz findet sich auch beim Auseinanderrücken, wenn jemand aussteigt. Man geht auf Distanz, aber nicht auf die gleiche Distanz zurück wie zu Anfang, und man geht nicht gleich auf Distanz, sondern mit einer leichten Verzögerung, als hätte man es nicht eilig dabei. Offenbar kann man Körper nicht einfach voneinander entfernen, ohne sich ›zu nahe zu treten‹. Für die Stehordnung scheinen die Körper als Kommunikationsmedium also noch eine komplexe Botschaft vermitteln zu können. Betrachten wir die Blickordnung, scheinen die Körper dagegen nur noch Probleme zu bereiten. Angesichts der schwachen Kontaktmotivation von Fahrstuhlfahrern ist das zentrale Problem der Blickkontakt. Zu seiner Vermeidung gibt es ein Navigationssystem mit zwei Komponenten. Die erste liegt in der Organisation des Raumes: Man vermeidet schon gegenüberliegende Stehplätze und richtet in Abhängigkeit von der Körpergröße und -ausrichtung Blickkorridore ein, die die Blicke wie Flugzeuge aneinander vorbeisteuern. Die zweite Komponente besteht in Techniken, die die Gleichzeitigkeit des Taxierens vermeiden. Blicke lassen sich etwa sequenzieren, indem man sie in die Nutzungsoperationen einklinkt. Wer z.B. den Fahrstuhl betritt, sieht sich dem versammelten Interesse aller Insassen ausgesetzt und räumt ihnen durch das ›Einziehen‹ des eigenen Blicks auch Blicklizenzen ein. Diese Regeln der Interaktionsordnung setzen aber Platz voraus. Sie versagen bei Überfüllung des Fahrstuhls. Diese besteht interaktiv darin, dass die zuletzt Zusteigenden mangels Platz mit ihrem Körper auch ihren Blick nicht mehr drehen können. Es kommt zu einem Gegenverkehr der Blicke – ja, zu regelrechten Geisterfahrern. Spätestens bei dieser bedrohlichen Verengung des Blickfelds kommt der Fahrstuhl seinen Nutzern mit einer besonderen Vorrichtung zu Hilfe: der Stockwerkanzeige über dem Eingang,

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die die suchenden Blicke auffängt. Allerdings wird diese Nutzung der Anzeige mit dem Verstreichen der Sekunden in einen Widerspruch verwickelt, weil sich die Blicke im Versuch, sich nicht zu begegnen, hier in einem Fokus treffen. Der ›subjektiv gemeinte Sinn‹ des Anzeigenblicks als Distanzsignal wird in dem Maße unterlaufen, wie sich sein Gebrauch durch immer mehr Personen zu jenem Muster visueller Orientierung aufaddiert, das wir öffentlichen Aufführungen entgegenbringen. Die kollektive Aufmerksamkeit wird aber bei weitem nicht durch den Unterhaltungswert des Ereignisses gedeckt. Daher steuern die Fahrstuhlfahrer dem nicht-intendierten Vergemeinschaftungseffekt ihrer distanzsuchenden Blicke dadurch entgegen, dass sie ihren Blick um so intensiver als einsames und rationales Informationsverhalten darstellen. Sie studieren die Anzeige mit einer Geschäftigkeit, die in keinem Verhältnis zu ihrem tatsächlichen Informationsbedarf steht. Die Teilnehmer stellen in einer konzertierten Anstrengung dar, dass sie durch die peinliche Kontrolle der Stockwerkanzeige ihren rechtzeitigen Ausstieg sichern ›müssen‹. Wolfgang Schivelbusch (1977) hat in seiner schönen Geschichte der Eisenbahnfahrt gezeigt, dass dieses Verkehrsmittel die Reisenden dazu zwang, einen ›Panoramablick‹ zu entwickeln, der sich darauf einstellt, in die Ferne zu schweifen, um eine schnell bewegte Landschaft aufnehmen zu können. Eben so ist auch der Fahrstuhl ein Vehikel der Einübung einer spezifischen Form urbaner Wahrnehmung: Er befördert die Entwicklung eines kurzsichtigen Kabinenblicks, der weder erlebt noch kommuniziert. Diese Körpertechnik ist zum Bestandteil unserer ›Coolness‹ geworden. Das zentrale Bezugsproblem der Praxis des Fahrstuhlfahrens ist die Aufrechterhaltung der wechselseitigen Unbekanntheit von Personen. Fahrstuhlfahrer versuchen wie andere Passanten an öffentlichen Orten, es erfolgreich zu vermeiden, andere kennen zu lernen. Sie sollen Fremde bleiben. Fremdheit zeigt sich im Fahrstuhl als eine Leistung der Darstellung von Indifferenz. In anderen Verkehrsmitteln greifen solche Darstellungen auf Formen des »Selbstengagements« (Goffman) zurück: das Zeitunglesen in der U-Bahn, die Beobachtung entfernt sitzender Mitfahrer. Genau in dieser Hinsicht fehlen dem Fahrstuhlfahrer aber die kommunikativen Mittel. Ihm bleibt eben nur, den Blick, den die Bekanntschaftsvermeidung auf die Etagenanzeige fixiert, ›geschäftig‹ wirken zu lassen. Das spezifische Interaktionsproblem des Fahrstuhlfahrens ist also die Kopplung von Distanzwahrung und Beschäftigungslosigkeit: nichts zu tun zu haben, mit dem man sich versichern könnte, dass man nichts miteinander zu tun hat. Beschwörungsbedürftig ist dies, weil die Feststellung von Anwesenheit im Fahrstuhl nicht allein durch eine menschliche Auswahl relevanter Teilnehmer vorgenommen wird. (›Wer zählt dazu, wer nicht?‹). Der Fahrstuhl partizipiert mit seinen Wänden vielmehr an der Definition von Anwesen-

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82 | Stefan Hirschauer heit: Er drängt seinen Insassen unabweisbar auf, wer ›dazugehört‹. Angesichts dieser Anwesenheitsnötigung bleibt den Insassen nur, sich zu verkriechen: Die Aufrechterhaltung von Fremdheit verlangt hier einen Rückzug aus der Präsenz. Konfrontiert mit der subjektlosen Aufdringlichkeit, in die sie der Fahrstuhl stürzt, verschwören sich die Fahrstuhlfahrer darin, sich gegenseitig als nicht anwesend zu behandeln. Die körperliche Nähe wirkt zwar als drängender Gesprächsappell – als würde ständig das Telefon klingeln – aber alle tun so, als seien sie ›nicht da‹. Dies verweist auf eine über die Teilnehmerbegrenzung hinausgehende vertikale Dimension, auf der Anwesenheit hergestellt, gesteigert und reduziert werden kann. Anwesenheit zeigt sich im Fahrstuhl selbst als eine Praxis: doing presence/doing absence – eine komplexe Variable aus perzeptiver Spannung, wechselseitiger Beachtung, Ansprechbarkeit und Aktivitätsniveau. Fahrstuhlfahrer versuchen, sich als Partizipanden aus der sozialen Situation abzumelden, indem sie der wechselseitigen Wahrnehmung die Reziprozität und der Anwesenheit die Präsenz nehmen. Sie ziehen die Ansprechbarkeitsschwellen hoch und reduzieren die gegenseitige Beachtung auf das Minimum einer Sicherheitsmaßnahme. Diese Partizipationsminimierung stellt erhebliche Anforderungen an jenen Partizipanden, der die Fahrstuhlfahrer auf den ersten Blick da sein lässt: ihren Körper. Für die Absentierungsanstrengung werden alle seine kontrollierbaren Äußerungen zurückgenommen – Bewegungen, Gestik, Mimik, Geräusche – und den Blicken das Licht abgedreht: regungslos, ausdruckslos, tonlos und teilnahmslos. Man kann diese habituelle Anforderung als »Inaktivität« bezeichnen, denn diese innere Haltung besteht in einem laufenden Spannungsverhältnis zu möglichen Aktivitäten. Soziologische Handlungstheorien kennen dies von Unterlassungen (vgl. Geser 1986), einer Klasse von negativen Aktivitäten, deren Exemplare durch einen Kontrast zu Intentionen und Erwartungen bestimmbar werden. Der praktische Vollzug des Unterlassens erfordert aber weniger ein Spannungsverhältnis zu solchen mentalen Phänomenen, sondern zu einer in den kultivierten Körper eingelassenen Produktivität, Nervosität, Unruhe und Wachsamkeit. Verglichen mit anderen Kommunikationsmedien lässt sich der Körper nicht einfach abschalten, er bleibt zumindest in einem stand by-Modus, der den Intentionen seines Bewohners zuwiderlaufen kann. Vor allem das kommunikativ sozialisierte Auge entfaltet im sozialen Leerlauf des Fahrstuhls ein nur schwer zu zügelndes Eigenleben, eine überschiessende Aktivität, die die Personen in Interaktionen verwickelt. Wie Hunde ihre Besitzer an der Leine hinter sich her zerren, drohen die Körper ihre Inhaber ins Gespräch zu ziehen. Insofern wird das Subjekt der Handlungstheorie im Fahrstuhl nicht nur eingezwängt in Interaktionsregeln, die ihm Entscheidungssouveränität

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rauben, sondern auch in die Aktivitäten zweier selbsttätiger Artefakte: ein technischer Automat, der einsperrt (aber fortbewegt), und ein fleischlicher, der antreibt (aber auch beschwerlich da sein lässt – und darin ja auch Anlass zum Fahrstuhlfahren gab). Fassen wir zusammen: In der Praxis des Fahrstuhlfahrens kommt es zu einer wechselseitigen Verschränkung von Partizipanden. So wie sich die Motorik des Körpers auf die Motorik einer Fortbewegungsmaschine abzustimmen hat, so müssen interaktionsunwillige Personen mit der Automatik umgehen, mit der ihre Körper Interaktionen in Gang setzen. Ist der Körper in der Geschlechtsdarstellung ein intensiv gebrauchtes Kommunikationsmedium, so stellt er im Fahrstuhl das drängende Problem, wie sich seine kommunikative Selbsttätigkeit unterdrücken lässt.

Die praktische Konstitution von Körpern Der Körper ›in Interaktion‹ und der mit Artefakten ›interagierende‹ Körper sind kein gänzlich ungewöhnlicher Gegenstand für eine soziologische Betrachtung. In meinem dritten Fallbeispiel ist der Körper allerdings nicht nur alltagsweltlich thematisch, er ist vielmehr massiv »besetzt« von einem anderen wissenschaftlichen Wissen. In der Chirurgie erscheint er als ein gegebenes Objekt des Wissens und der Behandlung, dem sich professionelle Handlungen widmen. Die soziologische Beobachtung hat hier zu zeigen, wie die Körper der Chirurgie in ihren Praktiken erst konstituiert werden. Zunächst einmal muss der Körper des Patienten in chirurgischer Praxis als Körper hergestellt werden, im Sinne eines bloß körperlichen Objektes. Die so genannte ›Einleitung‹ der Patienten beginnt als eine zweischichtige Arbeit. Ein geschäftiges Hantieren am Körper und an Geräten wird von beständigem Reden begleitet. Schwestern und Anästhesisten sprechen mit den Patienten bzw. auf sie ein, indem sie fragen, beruhigen, erläutern, bitten und ankündigen: »jetzt piekst es, nich wegziehn bitte!« Diese Berührungsetikette ermöglicht eine sanfte aber bestimmte ›Ausquartierung‹ der Person des Patienten aus seinem Körper. Nach der letzten Aufforderung, tief einzuatmen, verschwindet die Schicht beruhigenden Redens, und es bleiben die kühlen Handgriffe. Sie können nun mit erhöhtem Tempo und vermehrter Effizienz durchgeführt werden. Es ereignet sich eine Art Gestaltswitch: Sobald die Patienten (als Personen) ›weg‹ sind, bricht das Reden ab, der Anästhesist presst die Atemmaske auf das Gesicht, ruckt mit einem Handgriff den Kopf zurück in den Nacken, wackelt an der Kinnlade, schiebt das hakenförmige Laryngoskop in den Rachen und den Tubusschlauch hinterher, so dass sein Ende seitlich aus dem Mundwinkel wieder herausragt.

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84 | Stefan Hirschauer Der Tubus wird auf den Wangen festgeklebt, das Hemd ausgezogen, die Beine festgeschnallt, ein Katheter gesetzt, Elektroden befestigt, der weggekippte Kopf wieder aufgerichtet. Anschließend wird dieser Körper auf das Operationsgebiet reduziert. Grüne Papiertücher und blaue Laken schaffen Ausschnitte und Desinfektionsmittel verfremdende orange Überzüge, unter denen auch die Körpergestalt verschwindet. Schließlich werden große Laken quer zum Körper über die Brust gespannt. Für die Chirurgen ist hinter der Sichtblende mit dem Kopf auch die Person des Patienten endgültig verschwunden. Die Vorbereitung einer Operation besteht aus einer praktischen Abstraktion, die einen Körper überhaupt erst aus seiner Verquickung mit Personen und Mikroben herauslöst. Mit der Ausquartierung der Patientenperson wird auch eine Ausklinkung des Körpers aus Interaktionsritualen möglich, die verschiedene Körperteile (wie Gesicht, Rücken oder Genitalien) differenziell wertschätzen und z.B. für Identitätszuschreibungen einsetzen oder schamhaft bedecken. Diese »rituelle Segmentierung« des Körpers (Goffman 1974: 67) wird im Operationssaal zuerst durch die beschriebene differenzlose Gleichbehandlung ersetzt – schamfreie Entblößung, optische Reduktion und Desinfektion – dann jedoch durch eine anatomische Segmentierung. Sie kennt z.B. ›lebenswichtige‹ und ›verzichtbare‹ Körperteile, Differenzen des Gewebematerials und die Regionen jener Subdisziplinen der Chirurgie, die den vom Patienten verlassenen Körper mit ihren eigenen territorialen Grenzen überzogen haben. Nach der ›Verkörperlichung‹ der Patienten werden sie mit jenem singulären menschlichen Körper bekannt gemacht, den der Anatomieatlas zeigt. Die optische Reduktion durch Textilien erweist sich als Teil eines Ziel-Vorgangs, der nun instrumentell fortgesetzt wird. Ein Organ wird von verschiedenen Seiten eingekreist, Häute und Gewebeschichten durchtrennt und auseinander gespreizt. Die Präparation ist eine endlose Abfolge von Schnitten und Ansichten: Es muss etwas zu sehen sein, um schneiden zu können, und es wird geschnitten, um mehr sehen zu können. Das Ziel ist die Freilegung von bestimmten Organen, bis sie so isoliert vor Augen liegen, wie sie der Anatomieatlas zeichnet. Die dort in sauberer Trennung abgebildeten Organe müssen im dichten und verwachsenen Fleisch des Patientenkörpers erst mit dem Messer isoliert werden. Chirurgen nennen dies die ›Darstellung‹ von Organen oder auch ›Anatomie herstellen‹. Chirurgiestudenten pauken den Körper der Anatomie, Knochen für Knochen und Nerv für Nerv, dies freilich zunächst nur an toten Ersatzobjekten: Büchern und Leichen, die beide anders aussehen als ein lebender Körper. Anatomisches Wissen wird daher wesentlich in der Praxis des Operierens erworben. In Operationen wird der Gebrauch des Anatomieatlas im

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unübersichtlichen Gelände des Fleisches gelernt. Hier wird anatomisches Wissen über das Sichtbare in anatomisches Sehen umgesetzt, und anatomisches Können der geschickten Sichtbarmachung wiederum in vermehrtes anatomisches Wissen. Im Prozess des Operierens werden aber auch die anatomischen Bilder erzeugt – in Kooperation von Chirurgen und Zeichnern. Daher repräsentieren die Bilder nicht nur die Körper, sondern auch die sie konstituierenden Praktiken. Z.B. zeigen sich in ihnen die Hauptinstrumente des Sehens: Bilder des menschlichen Körpers, die auf der Arbeit des Skalpells basieren, sind typischerweise ›schärfer‹ als etwa Röntgen- oder Ultraschallaufnahmen. Anatomische Bilder dokumentieren aber nicht nur Ergebnisse von Sektionsarbeiten, sie bilden zugleich ein idealisiertes Muster für weitere Sektionsarbeiten. Der Anatomieatlas zeichnet ein normatives Bild des menschlichen Körpers, das nicht nur die chirurgische Praxis, sondern auch ihr Objekt reguliert. Operationen sind Lektionen für Assistenten und für den Patientenkörper. Zum einen werden ihm mit der Narkotisierung die Arbeitsbedingungen der Sektion diktiert. Er bekommt eine leichenähnliche Handhabbarkeit und Gefügigkeit. Zum anderen ist seine Gelehrigkeit gegenüber dem anatomischen Wissen gefordert. Der imaginäre anatomische Körper wird in ihm gesucht und an ihm geschaffen. Man ›blättert durch‹ den dreidimensionalen Patientenkörper, um die flächige Struktur wechselnder anatomischer Bilder zu finden. Schnitt für Schnitt bringt man ihm die gehörige Anatomie des idealen Körpers bei. Man beseitigt die Idiosynkrasien seiner ›Erkrankung‹ und arbeitet auf dem Weg dahin mit der Praxis der Darstellung und Präparation aus dem rohen Ausgangsmaterial die Strukturen des anatomischen Körpers heraus. In diesem Sinn sind plastische Operationen Operationen par excellence, in denen die anatomische Perspektive zu ihrem vollen Recht kommt. Nicht nur die Veränderung der anatomischen Geographie ist ›plastisch‹, auch die normalisierende ›Reparatur‹ von Organen ist es und auch schon die ›Darstellung‹ des Operationsgebietes. Der normative Körper des Anatomieatlas ist das Ergebnis einer skulpturellen Praxis. Insofern gibt es (mindestens) drei Körper, die die chirurgische Praxis erzeugt: das verkörperlichte Objekt, das ihren Patienten gehört, das ›instandgesetzte‹ Ergebnis ihrer therapeutischen Arbeit, und die idealisierte Repräsentation ihres Gegenstands. Es gibt aber auch zwei außerordentliche Körper, die die chirurgische Praxis erfordert. Da ist zum einen ein mit Apparaten verschalteter Patientenkörper. Die Narkotisierung ist eine »kontrollierte Vergiftung« (Anästhesistin). Sie überwältigt verschiedene Widerstände und Lebenskräfte des Körpers. Das Bewusstsein und die Schmerzempfindung werden chemisch ausgeschaltet, die Widerstandsreaktion der Muskeln auf Schmerzen unterbunden, die Eigenatmung blockiert. Auf der anderen Seite wird der Patientenkörper durch die Anästhesisten am Leben er-

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86 | Stefan Hirschauer halten und in seiner Widerstandskraft gegen die chirurgische Invasion gestärkt, sportlich ausgedrückt: in seinen Nehmerqualitäten. Die geschwächte Selbstversorgung des Körpers und die Selbstrepräsentationen, die ihm bei Bewusstsein möglich sind, werden (in einer reduzierten Form) als Lebensfunktionen und Lebenszeichen von den Anästhesisten substituiert. Was der Patientenkörper an Wachsamkeit und Spannung verliert, gewinnt der Körper der im Operationssaal Arbeitenden. Sie werden darin durch die technische Ausstattung des Operationssaals unterstützt. Im Gegensatz zur optischen Reduktion des Operationsgebietes unter den Tüchern schafft sie eine groteske Ausdehnung des Patientenkörpers in den Raum hinter dem Vorhang. Die Muskeln und Gelenke, die den Patienten bewegen und halten, befinden sich jetzt in den Rädern des Fahrgestells, den Kippvorrichtungen an Kopfteil und Beinteil des Tisches, den Scharnieren der Armablage und dem Hebemechanismus des Bocks. Die im Körper zirkulierenden Flüssigkeiten werden außen aufgefangen oder von außen zugeführt: der Harn entleert sich durch den Katheter in eine zweite Blase unter dem linken Arm, der Magen durch eine Sonde in der Nase in einen Behälter am Boden, das Blut in ein Sammelgefäß zu Füßen des Kopfes und wird, wenn sich das Gefäß zu sehr auffüllt, aus Konserven durch eine Kanüle am Hals in den Körper zurückgeleitet. Über dem Patientenkörper hängt ein Beutel mit Wasser, das über sein linkes Handgelenk in ihn tropft. Die Lunge des Patienten steht schräg hinter seinem Kopf und holt saugend und klappend für ihn Luft. Und auch sein Herzschlag blinkt und piept, technisch verstärkt, aus dem Beatmungsgerät. Die Anästhesisten bilden ein Relais in einem System von Überwachungen, in dem sie eine Maschine, die Körperfunktionen kontrolliert, kontrollieren, aber auch von ihr und von den Chirurgen alarmiert werden und umgekehrt die Chirurgen alarmieren. Ihre Doppelaufgabe besteht darin, einerseits dem Patientenkörper das Leben zu erhalten und seinen funktionellen Zusammenhang gegen die operativen Zerteilungen aufrechtzuerhalten, andererseits für die Chirurgen so viele Lebensäußerungen als möglich zu beseitigen, weil sie die Zergliederung behindern. Die narkotische Disziplinierung des Patientenkörpers ist auch für die Chirurgen eine Handhabungserleichterung, die Zeit und Redeaufwand spart. Vor allem kommt sie einer ruhigen Schnittführung zugute. Ein Zappeln würde diese unmöglich machen und lautes Geschrei die ohnehin gespannten Nerven der Chirurgen überbeanspruchen. Aber auch gegen verbleibende Lebensäußerungen wie Hicksen, Zucken und Pressen schreiten die Anästhesisten zur Tat. Hatten unsere Fahrstuhlfahrer noch an der Inhibierung der kommunikativen Selbsttätigkeit ihrer Körper gearbeitet, so stiftet die Anästhesie eine technische Substitution kommunikativer Akte und unterdrückt noch die nicht-

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kommunikative Selbsttätigkeit des Körpers, mit der er sich seiner Zergliederung widersetzt. Auf der anderen Seite erfordert die chirurgische Praxis neben diesem funktionalen Patientenkörper auch einen spezifischen Chirurgenkörper. Im Operationsgebiet halten sich bisweilen bis zu acht Hände auf, die sich dort auf engstem Raum über-, unter- und nebeneinander abwechseln und ergänzen, indem sie etwas dehnen, halten, schneiden und absaugen. Für das Funktionieren einer operativen Einheit gibt es vier Sorten von Händen: leitende, assistierende, instrumentierende und laufende, die als einzige unsteril sind. Die assistierenden Hände sorgen mit Haken und ständiger Blutstillung vor allem für eine gute Sicht, während die instrumentierenden den leitenden laufend Gerätschaften in den Griff zu reichen haben, die sie z.T. von den laufenden Händen geliefert bekommen. Der Kreislauf des Chirurgenkörpers besteht aus Befehlssignalen und Handreichungen, bei denen etwa Nahtmaterial von der unsterilen in die sterile Zone des Operationssaals transportiert wird, indem instrumentierende und laufende Hände als Scharniere zwischen beiden fungieren. Der Chirurgenkörper erscheint als ein funktionell ausgedehnter und apparativ aufgerüsteter Megaorganismus, dem zahlreiche ausführende Organe einverleibt werden. Da er mehreren Personen gehört, müssen seine Augen und Hände gestisch und verbal koordiniert werden: »Kann mal jemand hier festhalten«. Die strenge Hierarchie vereinfacht dies: träumende oder gelangweilt schweifende Augen werden mit Anschnauzern wieder auf das Operationsgeschehen ausgerichtet: »Nein SO! – sonst isser futsch«. Bei der chirurgischen Hierarchie geht es aber nicht nur um die Unterordnung bestimmter Personen, sondern auch um die Unterordnung der Grenzen von Personen unter das Funktionieren dieses Körpers. Der Operateur kann kommentarlos nach der Hand der Assistenten wie nach einem zu justierenden Werkzeug greifen oder seine blutbespritzte Stirn einfach an der Schulter der neben ihm stehenden Schwester trocknen, ohne dass eine Entschuldigung nötig wäre. Das dichtgedrängte Stehen schafft auch eine affektive Einheit. Anspannung und Entspannung wirken sofort ›ansteckend‹ und ein plötzlich ausbrechender Ärger verbreitet sich schnell über alle Organe. Dafür bietet die hierarchische Struktur des Chirurgenkörpers auch eine nervliche Arbeitsteilung. Sorgt der Operateur vor allem für eine Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeit und die Abstimmung der Spannungskurven, so stellen duldsame Schwestern, murrende Assistenten und verständige Anästhesisten die Nerven des Chirurgenkörpers bereit. Die chirurgische Praxis verlangt eine so dichte Kooperation, dass man ihre menschlichen Partizipanden triftiger als Teil eines Korpus begreift. Wenn es soziologisch Sinn macht, Organisationen als kollektive Akteure zu

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88 | Stefan Hirschauer betrachten, dann macht es hier spezifischen Sinn, ein Operationsteam als kollektiven Körper mit ›corporate identity‹ zu beschreiben. So wie eine Körperschaft als eine ›juristische Person‹ behandelt wird, so verhält sich das Operationsteam als ein ›chirurgischer Körper‹, dessen Glieder – gewissermaßen Durkheim beim Wort nehmend – in ›organischer Solidarität‹ absorbiert sind. Eine konzeptuelle Trennung individueller Körper macht in der Chirurgie so wenig Sinn wie bei einem siamesischen Zwilling. Es braucht eben erst Chirurgie, um diesen Zwilling zu trennen. Die Chirurgie bringt also zwei Sorten von Körpern hervor. Solche, die ihre Praxis erfordert, und solche, die ihre Praxis repräsentiert. Die anatomischen Bilder sind in chirurgischer Arbeit konstituiert und zeigen einen ganz anderen Körper als etwa jenen, den die Radiologie durchleuchtet oder jenen, den die Praxis der Auskultation erhorcht (Lachmund 1997). Die spezifische Leistung der Chirurgie liegt – mit einem Begriff von Karin Knorr Cetina (2002: 45) – in einer Rekonfiguration: Einerseits löst sie die alltagsweltlichen Kopplungen von Personen und Körpern auf, indem sie die Personen absentiert und die Körper abstrahiert, andererseits stiftet sie neue Verknüpfungen von Körpern mit Apparaten, die ihre analytische und therapeutische Leistungsfähigkeit steigern. Wo der Fahrstuhl seine Nutzer nur in eine peinliche Gemengelage mit Körpern und Artefakten stürzt, sorgt die Praxis der Chirurgie für eine straff organisierte und hocheffiziente Zusammenschaltung ihrer Partizipanden mit dem Ziel einer gewaltigen Steigerung operativer Macht.

Schluss Ich habe die Praxis der Geschlechtsdarstellung, die des Fahrstuhlfahrens und die des chirurgischen Eingriffs miteinander konfrontiert. Der Körper tauchte dabei in sehr verschiedenen Positionen auf: als ein selbsttätiges Kommunikationsmedium in symbolischer Interaktion, als ein mit Artefakten interagierender Partizipand, dessen Signalgebung Personen bei der Absentierung behindert, als Resultat disziplinärer Praktiken der Repräsentation und als agierender Korpus mit mehreren personalen Gliedern. Was kann ein solches Nebeneinander zeigen? Zum ersten sollte diese Konfrontation heterogener Fälle demonstrieren, welche systematischen Optionen die Offenheit des Praxisbegriffs für die Entdeckung unterschiedlicher Partizipanden sozialer Prozesse eröffnet. Löst man sich von einer akteurzentrierten Perspektive, gewinnt man völlig neue Beschreibungsmöglichkeiten für soziale Phänomene, deren Entfaltung auch ein je eigenes Theoriepotenzial bereithält. Ein wesentlicher theoriestrategischer Vorzug der Rede von Praktiken besteht dabei darin, einer-

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seits nicht nur eine Beschränkung auf Menschen, sondern überhaupt jede Reifikation von »Aktanten« zu vermeiden, sie aber auch andererseits als unvermeidlich eingeschlossen in den Vollzug sozialer Phänomene zu betrachten: Personen, Artefakte und Körper mögen Umwelt sozialer Systeme sein, sozialen Praktiken sind sie inhärent. Denn Praktiken verknüpfen und verschränken, was die Kommunikation ontologisch differenziert. Auf dieser Basis lassen sich eine Reihe von theoretischen Anschlussfragen stellen, etwa die Frage, was für Komponenten eine Praktik jeweils involviert: Wie viel Bewusstseinsbeteiligung, wie viel Körpereinsatz, wie viel Technik, wie viel Schriftkommunikation mobilisiert sie? Eine weitere offene Frage liegt darin, was für spezifische Beiträge Praktiken von ihren unterschiedlichen Partizipanden verlangen und gewinnen: vom Körper besondere Fertigkeiten und Haltungen, von Dingen spezifische Passungen und Tauglichkeiten, von Personen die Mobilisierung von jeweils gefragtem Wissen und die Entwicklung von angemessenen Motiven und Emotionen. In einer Praktik sind eben je spezifische Subjektpositionen vorgesehen, die für ihren Vollzug einzunehmen sind. Dabei unterscheiden sich sowohl die Beiträge der Partizipanden – etwa die verlässliche Repetitivität von Artefakten und die biegsame Materialität körperlicher Routinen – als auch die Anschlussstellen im Zeitverlauf: Praktiken rekrutieren etwa Personen über Sozialisationswege, Artefakte über industrielle Entwicklung und Fertigung, Körper über Training und Übung – freilich mit einer allgemeinen Anforderung: »to become practiced«. Ein zweiter, weniger konstruktiver Sinn der Gegenüberstellung sollte darin liegen, zu zeigen, dass schon ein höchst beschränktes Spektrum von drei empirischen Fällen eine Herausforderung für die theoretische Frage nach dem Verhältnis von Körper und Praxis darstellt. In der Antinomie ›Theorie der Praxis‹ teilt die Praxis ihren Gegenbegriff mit der ›Empirie‹. Der praxeological turn besteht auch in einer Zuwendung zu den Phänomenen. Kulturelle Praktiken sind die Eingeborenen in der großen Population von Aktivitäten, d.h. sie brauchen unsere Theorien nicht, um glücklich und zufrieden zu leben. Anders als die Praxis, die die frühe Soziologie ihrer Aufklärung bedürftig fand, lassen uns die Praktiken allein mit unserem seltsamen Faible zu ihrer Erforschung. Die darin liegende Chance für die Wissenschaft vom Sozialen ist eine Neubestimmung dessen, was ›Theorie‹ heißen soll. Eine Theorie der Praktiken muss sich auf andere Weise ins Verhältnis zu ihrem Gegenstand setzen als Formen soziologischer Theorie, die sich empirischem Stress entziehen und ihre Vokabularien als maximal deklinationsfähig behaupten – bis hin zum grammatischen Unsinn. Theorien der Praxis können gelassen auf ihre empirische Relativierung eingestellt sein. Sie geben damit etwas von dem preis, was ›Theorie‹ in der Soziologie bedeutete, aber sie gewinnen dafür etwas anderes: dass sie überhaupt

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90 | Stefan Hirschauer Schritt halten können mit der Raffinesse und dem Reichtum an Varianz, mit der kulturelle Praktiken unseren Gegenstand erfinden.

Literatur Akrich, Madeleine (1992): »The De-Scription of Technical Objects«, in: Wiebe Bijker/John Law (Hg.), Shaping Technology/Building Society. Studies in Sociotechnical Change, Cambridge/MA, London: MIT Press, S. 205-224. Bloor, David (1999): »Anti-Latour«, in: Studies in History and Philosophy of Science 1, S. 81-112 Bourdieu, Pierre (1976): Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Butler, Judith (1995): Körper von Gewicht, Berlin: Akademie Verlag. Coulter, Jeff (1989): Mind in Action, Cambridge: Polity Press. Collins, Harry/Yearley, Steve (1992): »Epistemological Chicken«, in: Andrew Pickering (Hg.), Science as Practice and Culture, Chicago: University of Chicago Press, S. 301-326. Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Garfinkel, Harold (1967): »Passing and the Managed Achievement of Sex Status in an Intersexed Person«, in: Studies in Ethnomethodology. Englewood Cliffs: Prentice Hall, S. 116-185. Garfinkel, Harold (1986): Ethnomethodological Studies of Work, London, New York: Routledge. Geser, Hans (1986): »Elemente zu einer Theorie des Unterlassens«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 38, S. 643-669. Goffman, Erving (1971): Interaktionsrituale, Frankfurt/Main: Suhrkamp Goffman, Erving (1974): Das Individuum im öffentlichen Austausch, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Goffman, Erving (1979): Gender Advertisement, Cambridge/MA, London: Harvard University Press. Hirschauer, Stefan (1991): »The Manufacture of Bodies in Surgery«, in: Social Studies of Science 21, S. 279-320. Hirschauer, Stefan (1994): »Die soziale Fortpflanzung der Zweigeschlechtlichkeit«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 46, S. 668-692.

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Inmitten der Dinge. Zum Verhältnis von sozialen Praktiken und Artefakten Matthias Wieser

Auch wenn die Soziologie als Wissenschaft vom Sozialen, verstanden als Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung der Menschen, definiert wird, hat sie sich seit ihrer Entstehung immer auch mit den Dingen1 beschäftigt. Insbesondere für die Gründerväter der Soziologie war Technik ein zentrales Thema bei der Analyse von Gesellschaft. Die Dinge traten entweder als materielle Basis, die den Überbau determiniert (Marx), als »versachlichte Sozialform« (Durkheim) oder als Ausdruck einer »technischen Rationalität« (Weber) in Erscheinung. Mit der Etablierung als eigenständige Disziplin trat jedoch zunehmend eine »Sachvergessenheit der Soziologie« (Rammert 2004) ein und verdrängte die Dinge an den Rand der Sozialtheorie in die speziellen Soziologien wie etwa die Industriesoziologie. Wenn die Dinge überhaupt thematisiert wurden, dann in den von den Klassikern vorgegebenen Bahnen von Technik- oder Sozialdeterminismus oder als Kritik ihrer ›Rationalität‹ und nicht ihrer materiellen Erscheinungsformen. Erst unter dem Einfluss eines ›postmodernen Zeitgeistes‹ gerät die Frage nach der Rolle der Dinge bei der Generierung, Stabilisierung und Reproduktion von sozialer Ordnung und Sozialität wieder in den Blick. Be1 | Wenn im Folgenden von ›Dingen‹ die Rede ist, wird ein breites Verständnis zugrunde gelegt, das Konsumgüter, Technologien, Landschaften vereint. Primär kommt aber das Ding als Technik in den Blick. Daneben wird auch der Begriff ›Artefakt‹ verwendet, da dieser sowohl auf das Künstliche als auch das Faktische verweist, und den ›gemachten‹ (facere) Charakter betont.

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sonders die jüngere Technik- und Wissenschaftssoziologie, aber auch die neuere Konsumforschung, stellt das »social life of things« (Appadurai 1988) ins Zentrum ihres Interesses und wirft erneut die Frage nach dem Stand der Dinge im Sozialen und Kultur(en) auf. Unterstützt wird dieser »turn to things« (Preda 1999) dabei durch eine zeitgleich geführte praxistheoretische Diskussion, die in den Sozialwissenschaften neuerdings als performative oder practice turn proklamiert wird (vgl. Schatzki et al. 2001; Wirth 2002).2 Letzterer wird v.a. von Andreas Reckwitz (2000, 2003) in einer analytischhistorischen Methode zu einer Theorie sozialer Praktiken strukturiert und synthetisiert.3 Unter jenem Label vereint er so verschiedene Theorien und Ansätze wie Bourdieus Theorie der Praxis, Giddens’ Strukturierungstheorie, Garfinkels Ethnomethodologie, die Cultural Studies als auch die Akteur-Netzwerk Theorie. Die von ihm konstatierten Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken sind (1) die implizite Logik der Praxis, welche auf praktisches Wissen und Können zurückgeführt wird, (2) die Materialität von Praktiken in Körpern und Artefakten und (3) Routine und Subversion als »zwei Seiten der ›Logik der Praxis‹« (Reckwitz 2003: 294). Im Folgenden soll es primär um eine Seite eines der Grundelemente sozialer Praktiken gehen: um die Materialität sozialer Praktiken in Artefakten und Dingen. In Anlehnung an Reckwitz (2003: 298) werden hierzu zwei einschlägige Ansätze diskutiert: Karl H. Hörnings kultursoziologische Arbeiten zur Technik und Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie.4 Hierbei handelt es sich, so die These, um zwei unterschiedliche Versionen des »turn to things« (Preda 1999): jene, welche die Praktiken mit Artefakten und jene, welche die Praktiken der Artefakte betonen. Dabei stellt sich die Frage, ob diese Differenzen bloß »praxeologische Ambivalenzen« (Reckwitz 2003: 297) sind, oder ob es sich um zwei verschiedene Praxistheorien handelt, die in einem programmatisch-synthetisierenden Ansatz zu verschwinden drohen.

2 | Während in der sprachphilosophischen Diskussion der Begriff der Performanz in Anlehnung an Austin zentral ist, wird in der soziologischen Diskussion der Begriff der Praxis bevorzugt. Bei allen Differenzen im Detail geht es in beiden Diskussionen um eine Neubestimmung der ›alten Frage‹ nach der Beziehung von Handlung und Struktur, Wissen und ›Handeln‹ bzw. Regelwissen und Anwendung, Schema und Gebrauch. 3 | Für den angloamerikanischen Raum ist es Theodore R. Schatzki (1996, 2002), der jene Ansätze in eine Diskussion um social practices verwickelt. 4 | Im weiteren Verlauf des Textes mit ANT abgekürzt. Neben Bruno Latour sind v.a. Michel Callon, John Law und Madeleine Akrich als Exponenten der ANT zu nennen.

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Die Praxis der Dinge Beeinflusst von der anti-positivistischen Wende in der Wissenschaftsphilosophie (vgl. Kuhn 1973) und der Soziologie wissenschaftlichen Wissens (vgl. Bloor 1976) rückten Anfang der 1980er Jahre die so genannten science studies die Praktiken der (Natur-)Wissenschaftler und deren Dinge ins Zentrum des Interesses. Relativ unabhängig voneinander entstanden in dieser Zeit verschiedene Untersuchungen, die sich konkret mit dem praktischen Forschungshandeln beschäftigten. Bruno Latour und Steve Woolgar (1979), aber auch Karin Knorr Cetina (1984) spürten das Laboratory Life und seine Fabrikation von Erkenntnis auf, während Harold Garfinkel und seine Schüler (1981) Ethnomethodological Studies of Scientific Work betrieben. Für sie alle stand »nicht mehr das Wissen, sondern die Praxis, nicht mehr die Theorie, sondern das Experiment« (Heintz 1993: 541) im Mittelpunkt der Untersuchung von Wissenschaft. Aus ihren praktischen Einsichten entwickelten sich jedoch unterschiedliche ›Theorien‹, von denen die ANT (vgl. Callon/Latour 1981), der empirische Konstruktivismus (vgl. Knorr Cetina 1989), das reflexivity-Programm (vgl. Woolgar 1988) und die Ethnomethodologie (vgl. Lynch 1985) zu nennen sind. Insbesondere Latour sucht als Wissenschaftssoziologe in seinen Werken nach Laboratory Life und Science in Action immer wieder die Nähe zur Techniksoziologe, gerade weil er den Technologien und Objekten, etwa Boyles Vakuum-Pumpe und Pasteurs Labor, aber auch mundanen Gegenständen wie Türschließer, Schüsselanhänger und Overhead-Projektoren (vgl. Latour 1988, 1991, 1998) statt der wissenschaftlichen Theorie besondere Aufmerksamkeit schenkt. In der Tradition der Soziologie wissenschaftlichen Wissens und der Laborstudien sieht er Wissen, Fakten, Natur, Technologien, Labore und ihre Objekte als sozial durchsetzte Entitäten an. Da es ihm aber darum geht, aufzuzeigen, dass die Dinge, Fakten und Artefakte ein zentraler Teil von Gesellschaft sind, will er der rein sozialen Erklärung der Soziologie wissenschaftlichen Wissens nicht folgen. Eine solche Position würde die Argumentation der ›Realisten‹ einfach umdrehen, und statt Natur das Soziale und die Gesellschaft zum alles erklärenden Prinzip erheben (vgl. Latour/Callon 1992). Im Sinne von Michel Serres’ (1982) Bildern und Figuren der »NordWest-Passage« und »Hermes«, positioniert er sich bewusst zwischen den Polen von Natur und Gesellschaft/Kultur. Sowohl Soziales vom Natürlichen als auch den Umkehrschluss, das Natürliche vom Sozialen her zu erklären, lehnt er ab (vgl. z.B. Latour/Callon 1992). Er erweitert damit das Symmetriepostulat der Wissenschaftssoziologie, angefangen von wissenschaftlichen und sozialen Institutionen (Merton) über wahre und falsche Ergebnisse (Bloor) bis hin zur Symmetrie menschlicher und nicht-menschlicher Entitä-

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ten. Latours Grundsatz der ANT von verallgemeinerter Symmetrie bedeutet, dass keine Dichotomie a priori feststeht, sondern ein in der Praxis umkämpfter Prozess zwischen verschiedenen, auch nicht-menschlichen, Akteuren ist.5 Damit beide Entitäten, die am sozialen Gewebe arbeiten, erfasst werden, entlehnt er der Semiotik den Begriff des Aktanten. Ein Aktant ist »something that acts or to which activity is granted by others« (Latour 1996a: 373). Das Besondere an Aktanten, die auch als »Hybride«, »QuasiObjekte«6 oder »Monstren« bezeichnet werden (Latour 2002), ist, dass sie als menschliche und nicht-menschliche Mischwesen heterogene Netze knüpfen. Sie leisten Vermittlungs- oder Übersetzungsarbeit.7 Durch den Prozess der Vermittlung werden Handlungsziele von menschlichen Akteuren umdefiniert und durch die Assoziation mit nicht-menschlichen Entitäten verschoben. Aber auch die Funktionen der nicht-menschlichen Entitäten werden durch die menschlichen Akteure umdefiniert und verschoben. An dieser Stelle sollten wir uns Latours ›Handlungsmodell‹ genauer anschauen. Seine vielfältigen Beispiele und »Gedankenexperimente«, wie sie Schulz-Schaeffer (2000: 105) nennt, laufen meist nach dem gleichen Schema ab. Eine beliebige Handlung, meist ganz klassisch im Sinne von menschlich und intentional, gerät ins Stocken. Damit das Ziel dennoch erreicht wird, wird das Handlungsprogramm an ein Objekt delegiert. Dieser Übersetzungsprozess ist letztlich einer von Zeichen in Materie. So wird etwa die Anweisung ›an der Schule langsam vorbei fahren‹ in den Beton der ›schlafenden Gendarmen‹ gegossen, so dass die Rückübersetzung nun primär wohl eher ›Schonen Sie ihre Stoßdämpfer‹ lautet (vgl. Latour 1996b: 9). Dabei ist eine Handlung nicht auf eine Entität, ob menschlich oder nicht-menschlich, reduzierbar. Sie ist zusammengesetzt und verteilt. ›Han5 | Dieses Postulat ist v.a. methodologisch zu verstehen, um Technik und Objekte überhaupt beobachtbar zu machen. 6 | Latour entlehnt den Begriff des »Quasi-Objekts« Serres’ »Philosophie der Präpositionen«. Überhaupt könnte man die ANT als eine ›Übersetzung‹ der Philosophie von Serres ansehen, auch wenn dieser damit einige Probleme zu haben scheint (vgl. Serres/Latour 1995). 7 | Dabei versteht Latour unter einer Vermittlung keine Übermittlung im Sinne des klassischen Sender/Empfänger-Modells. Genauso ist eine Übersetzung nie eine 1:1-Übertragung zweier von einander unabhängig bestehender Sprachen, sondern »eine Verschiebung oder Versetzung, eine Abweichung, Erfindung und Vermittlung, die Schöpfung einer Verbindung, die in dieser Form vorher nicht da war und in einem bestimmten Maße zwei Elemente oder Agenten modifiziert« (Latour 1998: 34). Übersetzung beinhaltet eben traductore und traditore – übersetzen und betrügen (vgl. Law 1999: 1).

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96 | Matthias Wieser deln‹ ist ein Vermögen eines ganzen Ensembles von Aktanten (vgl. Latour 1998: 40).8 So lässt sich etwa der Gebrauch von Schusswaffen weder auf den ›freien Willen‹ des Akteurs noch auf die ›Macht‹ oder ›Funktion‹ der Waffe herunterbrechen. Es ist nicht die Waffe, die den Menschen zum Mörder und auch nicht allein der Mensch, der die Waffe zum Tötungsinstrument macht. Handeln tut der Hybrid oder Aktant »Waffen-Bürger« oder »Bürger-Waffe« (vgl. Latour 1998: 31-37). Da wir inmitten der Dinge leben, nehmen diese an unseren Handlungen teil. Das Besondere an ihnen ist, dass sie Handlungen bzw. Interaktionen rahmen. Bekommt man in einem Hotel den Zimmerschlüssel mit einem schweren Anhänger ausgehändigt, dann ›spielt‹ das Ding mit dem in den Anhänger ›eingeschriebenen‹ Wissen an Situationen und ihren Praktiken mit (vgl. Latour 1991). Latour (2001) spricht auch von gerahmten Handlungen, was im wahrsten Sinne des Wortes auf Wände, Tische und Türen zutrifft. Für Latour prägen sie unsere Praktiken. Entsprechend muss für ihn die Intersubjektivität durch die Interobjektivität ergänzt werden. Erst durch die Vermittlung der Dinge sind menschliche Interaktionen delokalisiert, was sie von denen anderer Primaten unterscheidet. Erst durch das Mitwirken der Dinge sind Interaktionen über Räume und Zeiten hinweg möglich: »Jedes Mal, wenn eine Interaktion in der Zeit andauert und sich im Raum ausweitet, dann heißt das, dass man sie mit einem nicht-menschlichen Akteur geteilt hat« (Latour 2001: 248). Die Arbeit der Lokalisierung und Globalisierung wird erst durch ein Ensemble von zwischengeschalteten Dingen möglich. Sie sind das vergessene Bindeglied zwischen Handlung und Struktur, zwischen Mikro- und Makroebene. Zwischen ihnen besteht keine Kluft. Es existieren lediglich Relationen. Handlung ist Vermittlung, und Akteure sind Aktanten, die in Assoziationen zueinander treten. Demnach ist ›Handeln‹ die Fähigkeit, die aus der Verbindung der Aktanten im Netzwerk entsteht.

Die Dinge der Praxis Soweit wie die ANT geht eine dezidiert praxistheoretische Techniksoziologie nicht. Sie argumentiert gewissermaßen ›seitenverkehrt‹: Nicht die Praktiken der Dinge, sondern die Praktiken mit den Dingen stehen im Vordergrund. Während bei Bruno Latour den Dingen selbst Handlungspotenzial zugeschrieben wird, haben sie in der kulturtheoretischen Perspektive von 8 | So ist z.B. ›Fliegen‹ eine Handlung, die auf »Flughäfen und Maschinen, Startrampen und Ticketschaltern« (Latour 1998: 40), Konstrukteuren, Piloten, Fluggesellschaft, Bodenpersonal und Passagiere verteilt ist.

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Karl H. Hörning (2001) ›lediglich‹ Irritations- und Herausforderungspotenzial. Hörnings Studien stellen den kulturellen Nutzungs- und Bedeutungskontext von Technik im Alltag in den Mittelpunkt. Statt die Beziehung von Technik und Kultur als strikt voneinander geschiedene Welten zu fassen, stellt er sie aus der Perspektive der Alltagswelt als komplex und verwickelt dar. Dadurch wird die »Teilnehmer- und Praxisperspektive der Handelnden« (2001: 32) in den Mittelpunkt gerückt und Alltag primär als alltägliche Umgangspraxis verstanden. Um deutlich zu machen, dass die technischen Dinge in diesen alltäglichen Praktiken eine große Rolle spielen, nimmt Hörning eine Kulturperspektive ein, die Technik als Ausdruck und Träger sozialer Sinnbezüge als auch Mittel und Mittler von Kultur ansieht (vgl. Hörning/Dollhausen 1997: 30). Theoretischer Ausgangspunkt ist eine zweifache Abgrenzung: einerseits gegenüber materialistisch-deterministischen und andererseits gegenüber textualistischen Perspektiven. Die Dinge sollen weder als alles beherrschende und bestimmende Entitäten des Sozialen verstanden werden, noch – völlig ihrer Materialität beraubt – lediglich als Zeichen und Text fungieren. Hörning (2001: 158) interessiert mehr das Weben als das Gewebe. Er deutet die Dinge in Anlehnung an die Wittgenstein’sche (1984: 262) ›Gebrauchstheorie‹: »Es ist erst die Gebrauchspraxis, die einer Sache Bedeutung verleiht, sie in Zeit- und Raumstrukturen einbettet, ihr eine bestimmte ›Position‹, einen bestimmten ›Wert‹ im Handlungsgefüge zuerteilt« (Hörning 1999: 90-91).

Diese Perspektive lässt ihn den »Mythos der getrennten Welten« (vgl. Hörning 2001: 32) überwinden, der das sie verbindende oder besser vermittelnde Glied übersieht: »das In-Gang-Setzen und Ausführen von Handlungsweisen […], die in relativ routinisierten Formen verlaufen. […] Durch häufiges Miteinandertun bilden sich gemeinsame Handlungsgepflogenheiten heraus, die sich zu kollektiven Handlungsmustern und Handlungsstilen verdichten und so bestimmte Handlungszüge sozial erwartbar werden lassen« (ebd.: 160).

Besonderes Augenmerk widmet er der von Unbestimmtheiten und Ambivalenzen geprägte[n] Situativität und der impliziten Logik sozialer Praktiken, die er mit Bourdieu und Giddens als ontologisch grundlegender ansieht als intentionales Handeln. »Praktiken sind« für ihn »immer beides: Wiederholung und Neuerschließung« (ebd.: 163). Allerdings tendiert Hörning in sei-

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98 | Matthias Wieser nen Experten des Alltags und Metamorphosen der Dinge zur Betonung der Neuerschließung. Auch Wiederholung versteht er nicht als identische Wiederholung, sondern eher im poststrukturalistischen Sinn als analoge Wiederholung, d.h. als Verschiebung, als »ständig[es] Wieder- und Neu-Hervorbringen[]« (ebd.: 158, vgl. auch Hörning 2004a: 140, 144). Die Dinge produzieren Bedeutungen, aber sie provozieren sie auch (vgl. ebd. 2001: 67-113). Technik wird dann selbst zum Parasiten, der soziale Praktiken und nicht bloß die Kommunikation irritiert (vgl. Bardmann et al. 1992). Auch wenn der Deutungsspielraum dabei nie völlig beliebig ist, ist er gleichzeitig nie vollständig vorgegeben. Dadurch kommen zwei Seiten des Umgangs mit den Dingen in den Blick: einerseits die bedeutungsstrukturierende und handlungsorientierende Wirkung der Dinge, und andererseits die bedeutungsunterminierende und desorientierende (vgl. Hörning 2001: 95). »Die Macht der Dinge« verortet Hörning (ebd.: 157-184) demnach jenseits der Determinismen der ›Macht der Maschine‹ und der ›Macht des Individuums‹ und dessen Bedeutungszuweisungen. Inspiriert durch das Foucault’sche Machtmodell sieht er Technik als »ein Medium der Macht, das entweder zu stören oder zu glätten, Ordnungen zu stärken oder zu irritieren vermag« (ebd.: 182). Solange die Dinge funktionieren und in Routinehandlungen eingebunden sind, werden sie trivial, ja geradezu ›unsichtbar‹ (vgl. ebd.: 178). Jedoch darf die widerspenstige Seite der Dinge nicht unberücksichtigt bleiben. Denn »Technik als Kontingenzformel« (ebd.: 178-180) macht auf die unterschiedlichen Auswirkungen der Dinge in verschiedenen Kontexten aufmerksam: Sie führen auch zu unterschiedlichen Zeit- und Raumimplikationen. Die soziokulturelle Rahmung steht in einem komplexen Wechselverhältnis zu den sozialen Praktiken, in welche die Dinge verwickelt werden. Dadurch werden sowohl die Dinge als auch die Praktiken und letztlich die Rahmen modifiziert und ständig aktualisiert. Materielle Kultur ist dann keine Substanz, sondern ein höchst dynamischer Prozess. Erst im Umgang werden Teile der technischen, semiotischen und auch sozialen Einschreibungen relevant, aber auch unterlaufen. Eine praxistheoretische Techniksoziologie weiß, dass viel Gesellschaft in den Dingen steckt. Sie interessiert sich jedoch mehr für die Verwendung in der Gesellschaft (vgl. ebd.: 207208) und will den starren Blick der Techniksoziologie auf die Technikgenese abwenden, die Hörning v.a. mit sozialkonstruktivistischen Ansätzen (vgl. Bijker et al. 1987) wie auch der ANT verbindet. Hörnings Ansatz geht es um den Umgang mit den Dingen. Eine (Eigen-) Aktivität der Dinge wird zwar angedeutet, aber nur im Hinblick auf kommunikative Praxis, »als aktive ›Schaltstelle‹ im Kommunikationsprozeß«

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(Hörning 2001: 100). Die ›Aktivität‹ wird eindeutig auf der Seite der PraktikerInnen gesehen, aber eben nicht individualistisch, sondern als übersubjektive und implizite Praxis.

Konvergenzen und Differenzen Betrachtet man die beiden skizzierten Artefakttheorien, lassen sich gewisse Konvergenzen erkennen. Beide argumentieren gegen eine essenzielle Unterscheidung von Natur und Kultur, Technik und Gesellschaft oder Mensch und Maschine. Stattdessen stellen sie die komplexe Verschlungenheit von Subjekt und Objekt heraus. Dabei wählen sie eine ähnliche Diskussionsverortung. Beide grenzen sich gegen einen Technik-, wie auch Sozial- und Kulturdeterminismus ab9, um sich stattdessen zwischen Determinismen aber auch Relativismen (im Sinne von Beliebigkeit) zu platzieren.10 Allerdings ist der jeweilige Zugang ein anderer. Während Hörning seine Argumentation von der Seite des Akteurs aufbaut und klassische Handlungstheorien mit Verweis auf das knowing how und implizite Wissen des Akteurs relativiert, ist Latour radikaler. Er rückt die Objektvergessenheit des Handlungs- und Akteursbegriffs in den Vordergrund. Er stellt das ›heimliche‹ Mit-Handeln der Dinge heraus. Die impliziten Kompetenzen, Handlungsressourcen, Wissensrepertoires von Akteuren, die Hörnings Ansicht nach sozialen Praktiken zugrunde liegen (vgl. Hörning 2001: 221-243), stehen bei Latour nicht zur Debatte, sondern die von Aktanten, und hier v.a. von nicht-menschlichen Aktanten. Die Differenz liegt bereits in der Grundthese Latours begründet: »Wir sind soziotechnische Tiere, und jede menschliche Interaktion ist eine soziotechnische Interaktion« (Latour 1998: 81). Genau das bezweifeln Praxistheoretiker wie Hörning. Das grundlegende Anliegen von Latour ist es, den Subjekt/Objekt-Dualismus abzulehnen, während Praxistheoretiker ihn zumindest für eine nützliche (analytische) Unterscheidung halten. Hörnings Argumentation zielt zwar auch auf ein Unterlaufen der »konventionellen Subjekt-Objekt-Spaltung« ab und stellt die »Aufeinanderbezogenheit von Nutzern und Dingen« besonders heraus (Hörning 2001: 13, 14). Gleichzeitig hält er aber »Unterschiede zwischen Technik und sozia9 | Hörning (2001: 19-31, 206-216, 157-160) spricht von Technikdeterminismus, Sozialkonstruktivismus und Kulturalismus und Latour (2002: 13) von den »drei unterschiedlichen Repertoires der Kritik«: Naturalisierung (die Welt der Fakten, Changeux), Sozialisierung (Macht, Bourdieu) und Dekonstruktion (Diskurs, Derrida). 10 | Letzteres verbindet Hörning mit medientheoretischen Ansätzen zur Technik und Latour mit Baudrillard und Lyotard.

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100 | Matthias Wieser ler Praxis« aufrecht (ebd.: 11). Die Dinge sind bei Hörning eher Material und Ressource für vielfältige soziale Praktiken, aber keine ›wirklichen‹ Mitspieler. Stattdessen geht Latour soweit zu sagen, dass das soziale Band nur durch das Mitwirken der Objekte hält (vgl. Latour 2002: 149). Sozialität, die dauerhaft ist, unabhängig von Zeit und Raum, wird erst durch Artefakte gewährleistet. Hörning sieht in der Latour’schen Losung »technology is society made durable« (Latour 1991) nicht eine Neuformulierung von Sozialität, sondern eine Neuformulierung der Kompensationsthese, die Technik lediglich als ausgleichende Kompensation, als ›Prothese‹ für menschliche Mängel und Schwächen ansieht (vgl. Hörning 2001: 210). Demgegenüber entwickelt er eine Kontingenzthese, die Technik als Produzent und Provokateur von Kontingenzen erfasst und rückt damit auch empirisch einen anderen Phänomenbereich in den Vordergrund. Während Latour sich für technology in the making interessiert und die verschränkten sozialen und technischen Relationen, die in einer black box stecken, sichtbar macht, konzentriert sich Hörning auf das kontingente ›Handeln‹ mit ready made technology. In Anlehnung an de Certeau (1988) geht es Hörning um die Kunst des Handelns, die Produktivität der Konsumenten, der Rezipienten, der Nutzer, die als Experten des Alltags in Erscheinung treten. Ihm geht es um die Aneignungsweisen, die Fertigkeiten, das Umfunktionieren, den Gebrauch der Dinge im Alltag. In diesen Praktiken wird die Technik gewissermaßen wieder neu gemacht. Diese Seite bleibt in der Tat in Latours ›Gedankenexperimenten‹ unterbelichtet. Latour ist v.a. daran interessiert, wieviel Geschichte in einem Ding steckt.11 Dagegen 11 | Latours Beispiele haben den Charakter einer ›Entzauberung der Dinge‹ durch historische, wenn auch kontingente, Beschreibungen des Entstehens eines Netzwerkes. Allerdings geht Hörnings Kritik (2001: 211), dass Latour danach lediglich Anschlusshandeln nahe legen würde, zu weit. Etwa wenn Latour die Übersetzungsprozesse beschreibt, die in einem ›schlafenden Gendarmen‹ (Staßenbelagschwellen) verborgen sind, beschreibt er knapp auch potenzielle praktische Konsequenzen: »Es ist schwierig, irgendwo klar zu trennen zwischen Moral der Autofahrer, der Psychologie des Rasers, den Reflexen der Verkehrsteilnehmer, der Beschriftung und Aufstellung der Verkehrszeichen, der Strapazierfähigkeit der Stoßdämpfer, dem Lauf des Regenwassers, der Politik der Bürgermeister, dem Leiden der Väter, dem erratischen Verhalten der Schüler und den Erlassen des Verkehrsministeriums. Um einige Eltern zu beruhigen, nimmt der Bürgermeister den Ärger von Fernfahrern, Feuerwehrleuten, Busfahrern und Verkehrsrowdys in Kauf, die nun mitten in der Nacht wütend herumhupen, um sich für diese künstliche Querrinne zu rächen, wodurch die erbosten Eltern geweckt werden, welche nun wiederum von der Stadtverwaltung verlangen, daß die erst kürzlich angebrachten Bremskissen mit großem Kostenaufwand wieder entfernt werden […]« (Latour 1996b: 10).

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deutet Hörning die Geschichte, die in die Dinge eingegangen ist, nur an, weist ihr aber keinen besonderen Stellenwert im Umgang mit den Dingen zu. Dies erklärt auch ihre sehr unterschiedliche Auswahl von Beispielen. Die Radikalität des Latour’schen Ansatzes, die generelle Verteiltheit von ›Handlungen‹, wird gerade an trivialsten Dingen wie dem Schlüsselanhänger und Türschließer aufgezeigt – wohl auch, weil bei solchen Dingen nicht viel ›Handlungsspielraum‹ für den menschlichen Akteur bleibt (vgl. Latour 1988, 1991). Hörning (2001) hingegen greift gerne auf den Computer zurück, weil sich an der ›Offenheit‹ des Computers die Kreativität des Nutzers ganz gut thematisieren lässt. Problematisch dabei ist, dass nur komplexe Dinge wie Informations- und Kommunikationstechnologien als ›Mitspieler‹ in sozialen Praktiken anerkannt werden. Latour hingegen hat das gegenteilige Problem, dass letztlich alles hybrid ist. Jedes Ding wird potenziell zum Medium. Während Latour eine methodologische Symmetrie von menschlichen Akteuren und Artefakten einfordert und mit einer ontologischen Symmetrie verbindet, halten Praxistheoretiker wie Hörning an der klassischen Ontologie fest und sehen Symmetrie und Asymmetrie als Leistung der Praxis an. In den sozialen Praktiken wird Symmetrie und Asymmetrie hergestellt. Dafür muss man nicht eine neue Ontologie einfordern und den Subjekt/Objekt-Dualismus als Illusion der Moderne ansehen wie Latour (vgl. hierzu auch Braun 2000; Preda 2000).

Zwei Praxistheorien? Der Unterschied beider Artefakttheorien lässt sich nicht nur am Beispiel des modifizierten Verständnis von sozialer Praxis und Artefakten, sondern auch vor dem Hintergrund zweier unterschiedlicher Stränge der Praxistheorien aufzeigen. Folgt man Bertram (2003: 213-218), so kann man zwischen Praktizismus und Praxis-Überschuss-Theorien unterscheiden. Während ersterer eher in der analytischen Philosophie zu verorten ist und seinen Ausgang mit der Sprachphilosophie des späten Wittgensteins nimmt, ist zweiter eng mit dem Poststrukturalismus verbunden und hat v.a. Foucault und Deleuze als Referenzpunkt(e). Der Praktizismus sieht Praktiken als das Fundament von Gehalten an. Praktiken konstituieren erst Gehalte, d.h. Bedeutung. Praxis-Überschuss-Theorien hingegen sehen Praxis als Subversion und Veränderung von Gehalten an, da sie davon ausgehen, dass Praktiken immer einen Überschuss haben, der über die sie prägenden bzw. von ihnen geprägten Gehalten hinausgeht. Somit steht die performative Dimension von Praxis in ihrer Materialität, Ereignishaftigkeit und Präsenz im Vordergrund.

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102 | Matthias Wieser In diesem Sinne ließe sich Hörning der ersten Kategorie, Latour der zweiten zuordnen. Hörning geht es um die Umgangsweisen mit den Dingen, in denen sie erst ihre Bedeutung erhalten. Erst ihre Verwicklung in soziale Praktiken macht sie zu Teilnehmern am Sozialen und sozialer (Un-) Ordnung. Dabei können die gleichen Dinge in verschiedene soziale Praktiken verwickelt werden, wie z.B. der Computer in Spiel-, Lern- und Wissenschaftspraktiken. Zum anderen können diese ›Verwicklungen‹ aber auch aufgrund unterschiedlicher Formen ›praktischen Wissens‹ innerhalb der Praktiken variieren. Dagegen hebt Latour die performative Dimension von Praktiken in ihrer Materialität und Ereignishaftigkeit hervor, etwa das Ereignis »der Entdeckung/Erfindung/Konstruktion des Milchsäureferments durch Pasteur im Jahre 1857« (Latour 1996b: 87). Dieses liegt innerhalb der Assoziation verschiedener heterogener Entitäten, wie »Pasteur, die naturwissenschaftliche Fakultät von Lille, Liebig, die Käsereien, die Laborausrüstungen, die Bierhefe, den Zucker und schließlich das Ferment« (ebd.: 106). Doch das Ereignis geht nicht in dem Netzwerk auf, in dem jede Entität durch ihre Relation zu den anderen im Netz definiert wird. Es besteht ein Überschuss, da einerseits nicht-menschliche Entitäten in einer Praktik in Assoziation zu menschlichen Entitäten treten und andererseits jedem Element »irgendein radikales und einzigartiges Vermögen zur Neuerung« (ebd.: 107) inhärent ist. Jedes Element der Relation wird durch das Ereignis, die Vermittlung umgestaltet. Veränderung ist damit bei Latour in Praktiken bzw. in jeder Assoziation angelegt. Schatzki (2002) macht eine ähnliche Unterscheidung wie Bertram. Er nennt die (poststrukturalistischen) Praxis-Überschuss-Theorien theories of arrangement, zu deren VetreterInnen er auch explizit Latour und Callon zählt. Die Differenz des ANT Ansatzes zu seinem Verständnis von sozialen Praktiken sieht Schatzki darin, dass er eine kontextualistische und humanistische Argumentation verfolge, während Latour und Callon eine nominalistische und posthumanistische Argumentation führen. Die ANT als posthumanistisch zu bezeichnen, liegt auf der Hand, schließlich geht es ihr um die Auflösung der Unterscheidung von Subjekt und Objekt. ›Handlungen‹, ›Interaktionen‹ oder ›Praktiken‹ bestehen im »Austausch zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren« (Latour 2001: 250). Abgelehnt wird sowohl eine ontologische als auch eine methodisch-analytische Unterscheidung von Subjekt und Objekt (oder Technik und Gesellschaft), da beide letztlich Effekte von Netzwerkverbindungen darstellen. Hörning bleibt grundsätzlich ›humanistisch‹, was u.a. an seiner Sympathie für den ›reflexiven Mitspieler‹ deutlich wird (vgl. Hörning 2004b). Er sieht zwar Subjekt und Objekt in sozialen Praktiken aufs engste miteinander

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verwickelt und stellt ihre essenzialistische Fassung in Frage, lehnt ihre Differenz aber nicht ab. Ähnlich Schatzki hält er gegen posthumanistische Ansätze wie die ANT »the integrity, unique richness, and significance of human agency« (Schatzki 2002: xv, vgl. auch 190-210) hoch, wenn er auf die vielfältigen Finten, Taktiken und den Eigensinn der Experten des Alltags verweist und die von der ANT konstruierten Dinge als zu ›hart‹ kritisiert (vgl. v.a. Hörning 2001: 205-243). Darüber hinaus ist seine Argumentation kontextualistisch angelegt. Einerseits bettet er seine Theorie sozialer Praktiken in die Zeitdiagnose der Spätmoderne mit ihren Kennzeichen von Individualisierung, Enttraditionalisierung und Reflexivität ein (vgl. Beck/Giddens/Lash 1996). Andererseits macht er auf die kulturelle Rahmung sozialer Praktiken aufmerksam (vgl. Hörning 2001: 184ff., 2004a: 147-150). Je nach Kontext wird in der Praxis kulturelles Wissensrepertoire abgerufen und verändert, so dass es zu einer ständigen Neubestimmung praktischen Wissens kommt. Die ANT hingegen kann man als nominalistisch bezeichnen (vgl. Schatzki 2002: xiv, 65-70). Der Charakter und Wandel des Sozialen oder besser des Kosmos, wird allein durch die unterschiedlich partikularen Entitäten und ihren Verbindungen erklärt. Die Relationen zwischen den Entitäten formen und verändern das Netzwerk. Dass etwas außerhalb dieser Netzwerke existiert wie etwa Macht, Sozialstrukturen oder Systeme, gibt es laut ANT nicht; wenn überhaupt, dann als Effekte der Assoziationen. Ein Netzwerk hat kein außen, denn entweder gibt es eine Verbindung zwischen zwei Elementen oder nicht (vgl. Latour 1996a). Da jedes Element in einem Netzwerk in sich selbst wiederum ein Netzwerk sein kann, was durch blackboxing unsichtbar gemacht wurde, besteht Kontext für die ANT letztlich in weiteren Netzwerken (vgl. Schatzki 2002: 67).12 Zwar handelt es sich bei der ANT um eine Praxistheorie, doch unterscheidet sie sich deutlich von einer Theorie sozialer Praktiken. Beide stehen in einer unterschiedlichen Tradition, führen eine unterschiedliche Diskussion und nehmen eine unterschiedliche Perspektive ein. Eine Theorie sozialer Praktiken ist stark, wenn sie in Wettbewerb und Diskussion mit der ANT tritt, wie Preda (2000) und Schatzki (2002) zeigen. Doch eine sinnvolle Verknüpfung sollte nicht auf eine Vereinnahmung der einen durch die andere, bei der beide verlieren würden, hinauslaufen. Der ANT wird bei einer Einverleibung in ein kanonisierendes Programm, wie es Reckwitz (2003)

12 | Diese nominalistische Herangehensweise wurde schon des Öfteren an Latours Laborstudien v.a. aus kulturtheoretischer Sicht kritisiert (vgl. Martin 1998; Michael 2000).

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104 | Matthias Wieser anzustreben versucht, der progressive Stachel genommen.13 Auf der anderen Seite tut eine Theorie sozialer Praktiken gut daran, die Kritik an der Objektvergessenheit stärker zu berücksichtigen und nicht bloß höchst komplexe Artefakte als Teilnehmer an sozialen Praktiken ernstzunehmen. Nicht zuletzt liegt eine Ursache der Differenzen wohl im Selbstverständnis der Autoren begründet, denn Latour ist nicht ›bloß‹ Soziologe, sondern auch Philosoph in den metaphysischen Bahnen Whiteheads, während Hörning mit gutem Recht (genuin) Soziologe bleibt. Oder inhaltlich formuliert, bleibt die Frage bestehen: »Is an agent primarily because he or she inhabits a body that carries knowledges, skills, values, and all the rest? Or is an agent an agent because he or she inhabits a set of elements (including, of course, a body) that stretches out into the network of materials, somatic and otherwise, that surrounds each other« (Law 1992: 4).

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13 | Man sollte die Kritik an Reckwitz nicht überziehen, da seine ursprüngliche Diskussion von Latour durchaus differenzierter und zurückhaltender war als in seinem programmatischen Aufriss (vgl. Reckwitz 2002 mit 2003).

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Regelmäßigkeit und Regelhaftigkeit. Die Abschirmung des technischen Kerns als Leistung der Praxis Ingo Schulz-Schaeffer

Der gemeinsame Nenner praxistheoretischer Ansätze besteht darin, dass sie sich für Regelmäßigkeiten sozialen Handelns interessieren, die nicht Ausdruck einer bewusst regelhaften Handlungsorientierung sind. Praxistheorie ist die Theorie jener sozialen Mechanismen, die Akteure in die Lage versetzen und dazu bringen, »unabsichtlich und ohne bewußte Befolgung einer ausdrücklich als solcher postulierten Regel sinnvolle und geregelte Praktiken hervorzubringen« (Bourdieu 1992: 99; vgl. ders. 1979: 215). Es ist die Theorie der inkorporierten und impliziten Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, die die Akteure in einer ihnen selbstverständlichen, routinisierten und nicht weiter reflektionsbedürftigen Weise befähigt, auf die praktischen Anforderungen der Handlungsfelder, auf die diese Schemata bezogen sind, angemessen zu reagieren. Mit der praxistheoretischen Herangehensweise verbindet sich deshalb eine doppelte Regelskepsis: Zum einen ein Vorbehalt gegen sozialwissenschaftliche Erklärungen, die auf regelhaften Beschreibungen der Regelmäßigkeiten des sozialen Geschehens beruhen, also gegen das Vorgehen, »die soziale Welt in der Sprache der Regel zu beschreiben und so zu tun, als habe man die sozialen Praktiken erklärt, wenn man die explizite Regel benannt hatte, nach der sie angeblich hervorgebracht werden« (Bourdieu 1992: 99). Zum anderen eine deutliche Skepsis gegen die Annahme, dass dort, wo in der sozialen Welt selbst explizite Regeln geltend gemacht werden, es die Befolgung dieser Regeln ist, die die beobachteten Regelmäßigkeiten des Handelns hervorbringen – verbunden mit der Vermutung, dass

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es auch in diesem Fall eher die implizite Logik des praktischen Wissens und Könnens ist, die das Geschehen tatsächlich strukturiert. Vor diesem Hintergrund soll es im Folgenden um die Frage des Verhältnisses der impliziten Logik der Praxis und der expliziten Logik der Befolgung kodifizierter Regeln gehen. Dazu werde ich in einem ersten Schritt kurz auf die bei Bourdieu aus der Regelskepsis geborene praxistheoretische Erklärung von Regelmäßigkeiten des Handelns eingehen (2). Ich werde dann auf eine charakteristische Eigenschaft der impliziten Logik der Praxis hinweisen: auf den Umstand, dass es sich um eine Logik des Unscharfen und Ungefähren handelt. Dieser Umstand führt zu der Folgerung, dass es Situationen geben kann, in denen es im Interesse der Erwartungssicherheit sinnvoll oder erforderlich sein kann, von habituell hervorgebrachtem auf regelgeleitetes Verhalten umzustellen (3). Anschließend soll betrachtet werden, unter welchen Bedingungen explizite Regeln die Chance besitzen, verhaltenswirksam zu werden (4). Die Mechanismen, die hier von Bedeutung sind, konstituieren das, was ich als den technischen Kern eines Regel-Wirkungs-Zusammenhangs bezeichne. Die Wirksamkeit expliziter Regeln hängt dennoch nicht allein von diesem technischen Kern ab, sondern gleichzeitig davon, in welchem Ausmaß es gelingt, ihn gegenüber externen Einflüssen abzuschirmen. Und das, so wird sich zeigen, ist nichtreduzierbar eine Leistung praktischen Wissens und Könnens (5). Abschließend werden einige verallgemeinernde Folgerungen aus diesen Befunden für das Verhältnis zwischen den regelhaften Abläufen regelgeleiteten Verhaltens und den Regelmäßigkeiten praktischen Handelns gezogen (6).

Regelskepsis Besonders deutlich ausgeprägt finden sich beide Formen der Regelskepsis in der Praxistheorie Pierre Bourdieus. Die Ablehnung regelhafter Beschreibungen zur Erklärung der Regelmäßigkeiten des sozialen Geschehens bildet geradezu die Negativfolie für die Ausarbeitung seiner Praxistheorie. Diese, von ihm als »Objektivismus« (Bourdieu 1987: 51), »Juridismus« (ebd.: 75) oder auch als »legalistische[r] Formalismus« (Bourdieu 1979: 207) bezeichnete Vorgehensweise galt es, so Bourdieu, »zu bekämpfen […], um jene Theorie entwickeln zu können« (Bourdieu 1992: 110). Der Objektivismus, das ist Bourdieus Kernargument, begeht »eine(n) der unheilsvollsten Fehlschlüsse in den Humanwissenschaften« (Bourdieu 1992: 81): Den Fehlschluss, die theoretische Sicht auf die Dinge in die Dinge selbst zu projizieren (vgl. Bourdieu 1981: 305; 1987: 148). Er unterstellt, dass die explizierten Regeln, die die beobachteten Regelmäßigkeiten der Praktiken beschreiben, zugleich auch die Erzeugungsgrundlage dieser Prak-

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110 | Ingo Schulz-Schaeffer tiken sei (Bourdieu 1987: 28, 71). Dass dies ganz und gar nicht der Fall ist, ist eine der zentralen Aussagen des Habitusbegriffs. Denn »[a]ls einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte« (ebd.: 105) beruhen die Dispositionen des Habitus eben gerade nicht auf einem bewussten Regelwissen, sondern auf der stillschweigenden Selbstverständlichkeit derjenigen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, die den jeweiligen Habitus bilden. Deren Wirksamkeit wird auch nicht schon dadurch außer Kraft gesetzt, dass die Akteure selbst explizite, regelhafte Vorstellungen ihrer Praxis entwickeln. Jedenfalls dann nicht, wenn diese offiziellen Vorstellungen Formen der Objektivierung jener Wahrnehmungsund Handlungsschemata sind. Praktisch wirksam werden dann nicht die Regeln in ihrer expliziten Form, sondern die Dispositionen, die sich in diesen Regeln ausdrücken und wiederfinden (vgl. Bourdieu 1987: 198). Damit ist die zweite Form von Regelskepsis bereits angesprochen, die Vermutung, dass die expliziten Regeln, die die Beteiligten selbst ihrem Verhalten zu Grunde liegen sehen, ebenfalls nicht das Erzeugungsprinzip der Regelmäßigkeiten ihrer Praktiken bilden. Die Begründung für diese Regelskepsis sieht Bourdieu darin, dass die Akteure, wenn sie »gegenüber ihrer Praxis eine Perspektive einzunehmen, die nicht mehr die der Aktion ist« (ebd.: 208), den gleichen Fehlschluss begehen, der dem Juridismus des Beobachters zu Grunde liegt: Die »Quasi-Theoretisierungen und Kodifizierungen« (ebd.: 213), die die Akteure in ihren offiziellen Diskursen perpetuieren, »verschleiern, selbst noch in ihren eigenen Augen, die Wahrheit ihrer praktischen Beherrschung als einer gelehrten Ignoranz (docta ignorantia), d.h. als eines praktischen Erkenntnismodus, der die Kenntnis seiner eigenen Prinzipien gerade nicht einschließt« (ebd.: 209). In diesem Sinne ist der offizielle Diskurs über die geltenden Regeln und die »allgemein gebilligten Vorstellungen« (Bourdieu 1987: 199) ein »Diskurs des betrogenen Betrügers« (Bourdieu 1979: 210). Er verleitet die Beteiligten und die Beobachter gleichermaßen, die Wirksamkeit expliziter Regeln bei der Hervorbringung der Regelmäßigkeiten des sozialen Lebens massiv zu überschätzen. Die Aufdeckung dieser beiderseitigen Fehlwahrnehmung führt dementsprechend zu den genannten beiden Formen der Regelskepsis.

Kodifizierung und Kalkulierbarkeit Nun besitzen die im Modus praktischen Wissens und Könnens hervorgebrachten Handlungsformen allerdings eine Eigenschaft, die sich in bestimmten Situationen als problematisch oder gar hinderlich erweisen kann: das Merkmal der Unbestimmtheit und Unberechenbarkeit. »Der Habitus«, so Bourdieu (1992: 101), »ist aufs engste mit dem Unscharfen und Verschwom-

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menen verbunden. Als eine schöpferische Spontaneität, die sich in der unvorhergesehenen Konfrontation mit unaufhörlich neuen Situationen geltend macht, gehorcht er einer Logik des Unscharfen, Ungefähren.« Man dürfe deshalb »in den Hervorbringungen des Habitus nicht nach mehr Logik suchen, als sie aufweisen: Die Logik der Praktik besteht darin, nicht weiter als bis zu jenem Punkt logisch zu sein, ab dem die Logik nicht mehr praktisch wäre« (ebd.: 102f.). Weil sich aber erst in der jeweils neuen Situation entscheidet, was es heißt, die Logik der Praktik praktisch werden zu lassen, was also die jeweils situationsangemessenen Hervorbringungen des Habitus sind, erweist sich die im praktischen Wissen und Können begründete Handlungskompetenz stets erst im Nachhinein. Sie wird erst als eine »retrospektive[] Notwendigkeit« (Bourdieu 1987: 106) sichtbar, nämlich als ein Handeln, »von dem es heißen wird, daß ›es nicht anders zu machen war‹« (Bourdieu 1979: 225). Jetzt ließe sich einwenden, dass dies eine sehr einseitige Betrachtung praktischen Wissens und Könnens sei, die ergänzt werden müsse, um den Aspekt der Routinisierung, auf deren Grundlage die Praktiken dann eben doch prognostizierbar würden. Diesen Gesichtspunkt greift Bourdieu auf, indem er feststellt: »Daß man nun bestimmte Praktiken […] voraussagen kann, gründet darin, daß Akteure mit dem entsprechenden Habitus sich auf eine ganz bestimmte Weise verhalten. Doch deshalb«, so fährt er einschränkend fort, »beruht diese Tendenz, auf regelmäßige Weise zu handeln, und die dann, ist das Prinzip einmal explizit ausgebildet, zur Basis einer Prognose werden kann […], nicht auf einer Regel oder einem ausdrücklich formulierten Gesetz« (Bourdieu 1992: 100f.). Mit anderen Worten: Die Basis der Prognose und das Erzeugungsprinzip der Regelmäßigkeit, die sie vorhersagen will, sind nicht identisch. Denn die Basis der Prognose ist die explizite Regel, welche die Regelmäßigkeit der Praxis nachträglich beschreibt, das Erzeugungsprinzip der Regelmäßigkeit dagegen ist ein praktisches Wissen und Können, das eben nicht eine explizite Regel exekutiert. Die derart gewonnene Prognose ist also eine höchst trügerische, weil sie einfach nur eine in der Vergangenheit beobachtete Regelmäßigkeit in die Zukunft verlängert. Sie kann sich schnell als falsch erweisen, wenn in der neuen Situation die Abweichung von der bisherigen Regelmäßigkeit das Handeln das ist, von dem es heißen wird, dass es nicht anders zu machen war. Es bleibt also dabei, dass »die vom Habitus erzeugten Verhaltensweisen […] nicht die bestechende Regelmäßigkeit des von einem normativen Prinzip« oder einer sonstigen expliziten Regel »geleiteten Verhaltens aus[weisen]«. Dies führt zu der Überlegung, dass es Situationen geben kann, in denen es sinnvoll oder gar notwendig ist, von habituell hervorgebrachtem auf regelgeleitetes, kodifiziertes Verhalten umzustellen, weil die Erwar-

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112 | Ingo Schulz-Schaeffer tungssicherheit des vom praktischen Wissen und Können gesteuerten Verhaltens dort nicht ausreicht. Das »Moment an Unbestimmtheit, Offenheit und Unsicherheit« des Habitus ließe sich etwa als Argument dafür werten, »dass man sich in kritischen, gefährlichen Situationen nicht vollständig ihm überlassen darf. Als allgemeine Gesetzmäßigkeit ließe sich formulieren, dass die Praktik ihrer Tendenz nach um so stärker kodifiziert ist, je gefährlicher die Situation ist. […] Je gewaltträchtiger eine Situation ist, um so notwendiger ist es, durch Formgebung zu entschärfen; um so ratsamer ist es, das den Improvisationen des Habitus überlassene Verhalten durch ein Verhalten zu ersetzen, das durch ein systematisch gestiftetes, wenn nicht sogar kodifiziertes Ritual geregelt wird. Man braucht nur an die Sprache der Diplomatie oder die protokollarischen Regeln zu denken, die Vorrangigkeiten und Schicklichkeiten bei offiziellen Anlässen festlegen.« Ein anderes Beispiel ist der Straßenverkehr: »Wie im Zusammenhang mit dem Fahrverhalten zu sehen ist, erbringt das Aufstellen von Verkehrsregeln kollektive Vorteile der Klärung und Vereinheitlichung. Man weiß, woran man sich halten kann; man kann verlässlich prognostizieren, dass bei Kreuzungen alle von links kommenden Autos halten müssen. Die Kodifizierung mindert das Moment an Mehrdeutigkeit und Unschärfe besonders in Interaktionen. Sie erweist sich in all den Situationen als unabdingbar und wirksam, wo die Risiken des Zusammenstoßes, des Konflikts, des Unfalls und der Zufall […] besonders hoch sind.« »Die Kodifizierung stellt einen grundlegenden Wandel dar, eine Veränderung des ontologischen Status, die sich vollzieht, sobald durch die Kodifizierung, eine juridische Tätigkeit, von in praktischem Zustand beherrschten […] Schemata zu einem Kode, einer Grammatik übergegangen wird.« »Kodieren heißt, mit dem Verschwommenen, Vagen, mit den unzulänglich gezogenen Grenzen und unscharfen Trennlinien Schluss zu machen […]. Kodifiziert werden die Dinge klarer, einfacher, mitteilbarer.« Und zugleich bringt die Kodifizierung »kollektive[] Vorteile in Gestalt von Kalkulierbarkeit und Vorhersehbarkeit […] mit sich.« Wie soll man nun aus der praxistheoretischen Perspektive auf solche Überlegungen reagieren, die für bestimmte Situationen dem explizit regelgeleiteten Verhalten den Vorrang und Vorteil gegenüber dem praktischen Wissen und Können einräumt bzw. zumisst? Der spontane praxistheoretische Reflex ist vermutlich der, mit Regelskepsis zu reagieren. So, wie es Bourdieu (1998: 143ff.) beispielsweise gegen den Utilitarismus geltend macht, könnte man argumentieren, dass die »Reduktion auf das bewusste Kalkül« (ebd.: 144) auch hier eine irreführende Fehlwahrnehmung eines tatsächlich vielmehr auf dem »vorbewussten Einverständnis« des »praktischen Sinns«, des »Sinns für das Spiel« beruhenden Wirkungszusammenhanges darstellt. Doch dieser Einwand greift zu kurz. Denn die angeführten Überlegungen entstammen keiner Forschungsrich-

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tung, der man Praxisvergessenheit vorhalten könnte. Sie stammen vielmehr sämtlich von Bourdieu selbst (1992: 101, 104, 103, 106, 107). Mit Bourdieu lässt sich also eine praxistheoretische Perspektive einnehmen, die zwei diametral entgegengesetzte Sichtweisen auf die Wirkungsweise und Wirksamkeit expliziter Regeln beinhaltet. Aus der regelskeptischen Perspektive sind explizite Regeln »Formen der Objektivierung der Wahrnehmungs- und Handlungsschemata« (Bourdieu 1987: 198), die nur als Ausdrucksformen der inkorporierten Dispositionen der Akteure wirksam werden, also kein eigenständiges Erzeugungsprinzip regelmäßigen Handelns sind. Auf dieser Sichtweise der expliziten Regel liegt in der Praxistheorie Bourdieus das Hauptgewicht. Zugleich erkennt er im Problem der Prognostizierbarkeit die Kehrseite einer Praxis, deren Regelhaftigkeit man sich stets erst retrospektiv versichern kann. Hier kommt – als Resultat der praxistheoretischen Analyse dieser Praxis – die andere Sichtweise auf explizite Regeln zum Tragen: Die Kodifizierung als Grundlage eines regelgeleiteten Handelns, das sich seiner verlässlichen Prognostizierbarkeit wegen in bestimmten Situationen gegenüber der impliziten Logik der Praxis durchsetzt.

Bedingungen der Wirksamkeit expliziter Regeln Bourdieus Kriterien für Situationen, in denen Kodifizierungen wirksam und erforderlich sind, sind allerdings einerseits zu eng, andererseits zu weit gefasst. Die spezifische Gefährlichkeit der Situation ist ein zu enges Kriterium. Denn es lassen sich eine Vielzahl von Situationen benennen, die verhaltenswirksam explizit reguliert sind, ohne im Normalfall ein entsprechendes Gefährdungspotenzial zu besitzen: Man denke nur an die explizite Regelung von Ladenöffnungszeiten. Der Vorteil, als Kunde im Vorhinein zu wissen, wann man Einlass erhält und die Chance, bedient zu werden, ist evident, auch wenn die misslingende Handlungskoordination in diesem Fall normalerweise nicht besonders gefahrenträchtig ist. Umgekehrt ist die besondere Zufallsträchtigkeit ein zu weit gefasstes Kriterium. Denn die Fähigkeit des Umgangs mit Unerwartetem ist praxistheoretisch gesprochen ja gerade eine besondere Stärke der impliziten Logik der Praxis. Es scheint mir deshalb sinnvoller, bei der spezifischen Differenz zwischen praktischem Wissen und Können und regelgeleitetem Handeln anzusetzen: der Differenz zwischen einer notwendig retrospektiven Orientierung einerseits und einer auf Prognostizierbarkeit zukünftiger Ereignisse gerichteten prospektiven Orientierung andererseits (vgl. Schulz-Schaeffer 1999: 414ff.). Ausgehend von dieser Differenz beruht die Chance, dass explizite Regeln erfolgreich verhaltenswirksam werden, erstens darauf, dass

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114 | Ingo Schulz-Schaeffer die an der Regel selbst ablesbaren Folgen der Regelbefolgung oder -verletzung tatsächlich hinreichend zuverlässig eintreten. Sie beruht zweitens darauf, dass diese Folgen von den Adressaten der Regel in einer Weise als erwünscht oder unerwünscht angesehen werden, die dazu führt, dass »das Interesse an ihrer Einhaltung stärker ist als das, sie zu missachten« (Bourdieu 1992: 99). Drittens schließlich beruht sie darauf, dass die Adressaten wissen, was es heißt, der betreffenden Regel zu folgen.

Regel-Wirkungs-Zusammenhänge Regeln werden nicht schon dadurch wirksam, dass sie explizit formuliert werden – also nicht durch den Prozess der Kodifizierung allein –, sondern erst durch die Einrichtung von Regel-Wirkungs-Zusammenhängen. Solche Zusammenhänge von Regelorientierung und prognostizierbaren Wirkungen entstehen entweder dadurch, dass das regelgeleitete Verhalten selbst diese Wirkungen produziert. Oder aber die Wirkungen sind das Werk einer, die Regelbefolgung überwachenden externen Instanz. Beispiele für RegelWirkungs-Zusammenhänge der letztgenannten Art sind die Rechtsvorschrift in Verbindung mit dem staatlichen Sanktionsapparat, die soziale Norm in Verbindung mit der Billigung oder Missbilligung durch eine relevante Bezugsgruppe oder die Lernanweisung in Verbindung mit der Erfolgskontrolle durch den Lehrer. In allen Fällen geht es um die extern kontrollierte Orientierung an Sollensvorschriften, weshalb man von normativen Regel-Wirkungs-Zusammenhängen sprechen kann. Dagegen konstituieren Regel-Wirkungs-Zusammenhänge der erstgenannten Art den Bereich des Technischen: Hier sind die Regeln Anweisungen zum Hervorbringen von Ereignisketten mit bestimmten, im Vorhinein bekannten Wirkungen. Die Wirkungen werden also durch die Regelbefolgung selbst produziert. Bei normativen Regel-Wirkungs-Zusammenhängen sind die Regelbefolgung und die Herstellung der Regelfolgen typischerweise zwei unterschiedliche Aktivitäten. Die Verbindung beider Aktivitäten besteht darin, dass dem Adressaten der Regel bestimmte extern produzierte Wirkungen von einer Kontrollinstanz als Folgen seines Tuns gutgeschrieben bzw. aufgebürdet werden. Bei technischen Regel-Wirkungs-Zusammenhängen verhält es sich mit Blick auf den ersten, tendenziell aber auch mit Blick auf den zweiten Gesichtspunkt genau umgekehrt: Hier werden die fraglichen Wirkungen durch die Aktivität der Regelbefolgung selbst produziert.1 Aber

1 | Vgl. zu dieser Differenz Habermas 1969: 63; ähnlich Linde 1972: 70; 1982: 23 und, in der Beschreibungssprache der symmetrischen Anthropologie, Latour 1991: 111; 1992: 127; dazu insgesamt Schulz-Schaeffer 2000: 295ff.

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nicht notwendigerweise sind diejenigen, die die Regeln befolgen, zugleich auch diejenigen, die von den Wirkungen profitieren oder sie zu erleiden haben. Vielmehr finden wir hier vielfältige Formen von Delegation – von stellvertretend für andere erfolgender Erzeugung von Wirkungen. Entscheidend sind dabei zwei Typen der Delegation (jeweils betrachtet aus der Perspektive dessen, der von den Wirkungen profitiert): die Delegation der Regelbefolgung an andere Akteure, die sich als Experten der Regelbefolgung der jeweiligen Art auszeichnen, und die Delegation an dingliche Arrangements, also an sachtechnische Artefakte, denen die Regel als Algorithmus mechanisch oder informationstechnisch eingeprägt ist.

Interessen- und Durchsetzungskalküle Als zweite Bedingung dafür, dass explizite Regeln erfolgreich verhaltenswirksam werden, hatte ich das Interesse der Adressaten der Regel an der Realisierung oder Vermeidung der voraussehbaren Wirkungen ihres Regelgehorsams oder -ungehorsams benannt. Es reicht nicht aus, dass sichergestellt ist, dass die Wirkungen, wie sie sich auf der Grundlage des Regelwissens vorhersagen lassen, auch tatsächlich hinreichend zuverlässig eintreten. Eine zusätzliche Bedingung ist vielmehr, dass dieses Wissen über die zukünftigen Wirkungen gegenwärtigen Handelns oder Unterlassens Gegenstand eines rational zielgerichteten Handlungskalküls wird. Es lautet in seiner Grundform: Das Interesse an der Einhaltung der Regel ist dann größer als das gegenteilige Interesse, wenn die Vorteile des Regelgehorsams in Gestalt erwünschter Wirkungen die Nachteile des durch die Regel vorgeschriebenen Verhaltens überwiegen oder, wenn umgekehrt, die Nachteile des Regelungehorsams in Gestalt unerwünschter Wirkungen die Vorteile überwiegen, die aus einer Handlungsalternative resultieren, welche die Missachtung der Regel voraussetzt. Aus der Perspektive der Etablierung und Durchsetzung regelgeleiteter Zusammenhänge führt dieses Interessenkalkül zu einem darauf aufbauenden Durchsetzungskalkül, das darin besteht, die Wirkungen eines Regel-Wirkungs-Zusammenhangs so einzurichten, dass die Kalküle der Adressaten der Regel zugunsten der Regelbefolgung ausgehen. Dies alles ist bekannt und in der Sozialforschung schon vielfach expliziert worden. Man muss keine besondere Präferenz für zweckrationale Handlungserklärungen und Theorien rationaler Wahl haben, um die empirische Relevanz solcher Kalküle herauszustellen. Auch Bourdieu geht ganz selbstverständlich von der Wirksamkeit von Kalkülen dieser Art aus, wenn er argumentiert, dass ein Regelzusammenhang, wie der der Straßenverkehrsordnung, oder der des Sprachcodes, sich deshalb »ohne größere Dis-

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116 | Ingo Schulz-Schaeffer kussion wie von selbst aufzwingt […], weil er mit wenigen Ausnahmen zwischen relativ arbiträren Möglichkeiten entscheidet […] und weil von keiner Seite größere Interessen im Spiel sind« (Bourdieu 1992: 107). Hinzuzufügen ist, dass die Kalküle derer, die mit Blick auf die zu erwartenden Wirkungen über ihre Orientierung an der Regel entscheiden, und die derer, die mit Blick auf die angestrebte Regelhaftigkeit eines Zusammenhangs über die Art der implementierten Wirkungen entscheiden, in der eben skizzierten unmittelbaren Weise nur dort greifen, wo die von der Regel prognostizierte Wirkung direkt auf die Adressaten der Regel zurückfällt. Dies ist, wie oben erwähnt, nur bei normativen Regel-WirkungsZusammenhängen der Normalfall. Im Fall technischer Regel-WirkungsZusammenhänge ist die Situation komplizierter. Unter der Bedingung der Ausdifferenzierung der Bereitstellung und der Nutzung technischer Wirkungen finden wir hier verschiedene, vermittelt (etwa über Nutzungsentgelte) aufeinander bezogene Interessen- bzw. Durchsetzungskalküle. Dieser Umstand bildet ein Einfallstor für andere als an der rein technischen Wirksamkeit orientierte Faktoren der Entscheidung über Technikentwicklung und -nutzung.

Situationsähnlichkeit Schließlich hatte ich noch eine dritte Bedingung dafür, dass explizite Regeln erfolgreich verhaltenswirksam werden, angesprochen: die Bedingung, dass die Adressaten wissen, was es heißt, der betreffenden Regel zu folgen. Diese Bedingung, das ist seit dem späten Wittgenstein (1984: 287-290, 344f.) geläufig, ist nicht bereits dadurch erfüllt, dass die Adressaten die Regel kennen. In der Fassung Bourdieus lautet das Wittgenstein-Argument: »Es ist von Bedeutung, dass jeder Versuch […] eine Praxis/Praktik auf der gehorsamen Erfüllung einer explizit formulierten Regel zu begründen, sich an der Frage nach den Regeln stößt, die die angemessenste Art und Weise […] der Anwendung der Regel oder, wie man so schön sagt, der praktischen Umsetzung eines Repertoires an Vorschriften oder Techniken bestimmen, mit anderen Worten an der Frage nach der Kunst der Ausführung/ Ausübung, worein sich, unausweichlich, der Habitus wieder einschleicht« (Bourdieu 1979: 203f.). Hat also im Endeffekt doch die Praxis das letzte Wort? Ist es nur vordergründig so, dass die Regelmäßigkeiten bestimmter Ereignisabläufe das Werk regelgeleiteten Verhaltens sind? Wäre dies so, dann würde das Funktionieren von Regel-Wirkungs-Zusammenhängen, das sich zumindest im Bereich der vorhersehbaren Erzeugung technischer Wirkungen als empirischer Tatbestand kaum leugnen lässt, zu einem unerklärlichen Phänomen.

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Andererseits lässt sich aber auch am Wittgenstein-Argument nicht rütteln. Dessen empirische Relevanz hat sich beispielsweise am Scheitern der Begriffsjurisprudenz des 19. Jahrhunderts eindrucksvoll erwiesen, dem Versuch, ein rechtliches Regelsystem aufzustellen, dessen Regeln angewandt werden können, ohne ausgelegt werden zu müssen (vgl. Krawietz 1972). Erforderlich ist deshalb eine Betrachtungsweise, die dem Wittgenstein-Argument Rechnung trägt und gleichzeitig erklärt, wie es möglich ist, expliziten Regeln in einer zielgerichtet prospektiven Weise zu folgen, also in einem Erkenntnismodus, der nicht der des stillschweigenden praktischen Wissens und Könnens ist. Der entscheidende Ausgangspunkt hierfür ist die Betrachtung der jeweiligen Situation, in der sich die Frage nach der richtigen Art und Weise der Anwendung der Regel stellt. Grundlage der praxistheoretischen Argumentation ist, dass praktisches Wissen und Können ein Erfordernis der »unvorhergesehenen Konfrontation mit unaufhörlich neuen Situationen« (vgl. oben) ist, für die explizite Regeln keine vollständigen Verhaltensanweisungen zu geben vermögen, weil sich das Unvorhersehbare eben nicht vorhersehen und deshalb auch nicht im Vorhinein explizit regeln lässt. In dieser Beobachtung liegt – umgekehrt gewendet – zugleich aber auch der Schlüssel zur Lösung des Problems: Was es heißt, einer Regel zu folgen, lässt sich um so eindeutiger und vollständiger an der Regel selbst ablesen, je ähnlicher diejenige Situation, in der sich die Frage nach der Art und Weise ihrer Anwendung stellt, derjenigen Situation ist, deren Bedingungen die Regelvorschrift berücksichtigt. Aus der Tatsache, dass sich die mit der Aufstellung expliziter Regeln verbundenen Regulierungsabsichten und -zwecke stets nur auf Vorhergesehenes richten können, also nur auf diejenigen Umstände, die bei der Regelformulierung bewusst oder beiläufig im Blick waren, ergibt sich, dass jede solche Regel explizit oder implizit auf eine ideale oder zumindest typische Situation ihrer Anwendung bezogen ist: auf die Situation, in der die Regel ihr Höchstmaß an Vollständigkeit und Eindeutigkeit besitzt. Die Möglichkeit einer direkten Anwendung expliziter Regeln steigt und die Notwendigkeit, bezüglich der Frage ihrer Anwendbarkeit auf praktisches Wissen und Können rekurrieren zu müssen, sinkt dementsprechend in dem Maße, in dem die aktuelle Situation jener typischen Situation ähnlich ist. Der betreffende Regel-Wirkungs-Zusammenhang wird in der aktuellen Situation mithin in dem Maße wirksam, in dem er einen in der typischen Situation erfolgreichen Ablauf reproduziert. Die Frage nach der Wirksamkeit von Regel-Wirkungs-Zusammenhängen stellt sich damit nun als Frage danach, wie eine solche Ähnlichkeit zwischen der typischen und der aktuellen Situation entsteht. Diesbezüglich sind zwei Vorgehensweisen zu beobachten: Die eine besteht darin, Situa-

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118 | Ingo Schulz-Schaeffer tionsähnlichkeit gezielt herzustellen, die andere darin, autoritative Deutungen zu etablieren, die festlegen, wann und unter welchen Bedingungen eine Situation als eine Ausprägung der typischen Situation zu gelten hat. Die Herstellung von Situationsähnlichkeit ist insbesondere bei technischen Regel-Wirkungs-Zusammenhängen bedeutsam und neben der Einrichtung des Regel-Wirkungs-Zusammenhangs selbst sicherlich die wichtigste Leistung der Produzenten technischer Wirkungen. Wie dies geschieht, ist von Latour am Beispiel des Milzbrand-Impfstoffs prägnant beschrieben worden. Die typische Situation, in welcher der von Pasteur entwickelte Wirkstoff seine gegen Milzbrand immunisierende Wirkung zuverlässig prognostizierbar entfaltet, ist die des Labors, in dem der Impfstoff entwickelt und erfolgreich getestet wurde. Die Antwort auf die Frage, wie es gelingt, diesen Erfolg in den Viehställen auf dem Lande zu wiederholen, lautet Latours Analyse zufolge: »only by extending the laboratory itself. Pasteur cannot just hand out a few flasks of vaccine to farmers and say: ›OK, it works in my lab, get by with that.‹ If he were to do that, it would not work. The vaccination can work only on the condition that the farm […] be in some crucial respects transformed according to the prescriptions of Pasteur’s laboratory« (Latour 1983: 150f.). Wie erfolgreich die menschlichen oder nichtmenschlichen Produzenten technischer Wirkungen zur Herstellung von Situationsähnlichkeit beitragen, lässt sich am Alltagsbeispiel der automobilen Fortbewegung gut illustrieren: Man nimmt den Fahrersitz ein, lässt den Motor an und sieht sich dann, egal ob man eine neue oder eine bekannte Wegstrecke zurückzulegen trachtet, normalerweise einer Situation gegenüber, die denen der früheren Benutzung hochgradig ähnlich ist: Eine Situation, in der einige wenige Entscheidungsalternativen im Vordergrund stehen: Erhöhung, Verringerung oder Beibehaltung der Geschwindigkeit, Veränderung oder Beibehaltung der Fahrtrichtung usw. Im Fall normativer Regel-Wirkungs-Zusammenhänge geschieht die Erzeugung von Situationsähnlichkeit primär auf dem Wege der autoritativen Deutung von Situationen. In den Vorschriften des staatlichen Rechts erfolgt dies dadurch, dass im Text des Gesetzes die typischen Merkmale des jeweiligen Tatbestandes benannt werden, auf den sich das Ge- oder Verbot richtet. Die Verfügbarkeit einer solchen autoritativen Vorgabe hat dabei die Wirkung, dass der Rechtsanwender nicht sofort auf sein praktisches Wissen und Können verwiesen ist, sondern den fraglichen Vorgang zunächst auf Ähnlichkeit mit diesen typischen Tatbestandsmerkmalen hin betrachten kann.

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Die Abschirmung des technischen Kerns als Leistung der Praxis Zusammenfassend kann also festgehalten werden: Explizite Regeln werden als Mittel prospektiver Handlungsorientierung wirksam, wenn (1) die selbstsanktionierenden Effekte der Regelbefolgung oder die externen Sanktionsinstanzen hinreichend zuverlässig dafür sorgen, dass die Wirkungen so eintreffen, wie auf der Grundlage der Regel vorausgesagt; wenn (2) die Durchsetzungskalküle so auf die Interessenkalküle der Beteiligten bezogen sind, dass diese sich von den zu erwartenden Wirkungen zu Regeltreue motivieren lassen; und wenn (3) die technisch erzeugte oder autoritativ festgelegte Situationsähnlichkeit dafür sorgt, dass es hinreichend Gelegenheiten gibt, die Regeln unproblematisch und ohne größeren Interpretationsbedarf anzuwenden. Diese drei Faktoren konstituieren zusammengenommen das, was ich mit einem Begriff von Thompson (1967: 19ff.) als den technischen Kern eines Regel-Wirkungs-Zusammenhangs bezeichnen möchte. Die Überlegungen des vorangegangenen Abschnitts lassen sich mithin dahingehend zusammenfassen, dass Kodifizierungen dann die Chance haben, verhaltenswirksam zu werden, wenn es gelingt, technische Kerne dieser Art zu etablieren. Thompson geht es mit dem Konzept des technischen Kerns um eine Synthese zweier konkurrierender organisationstheoretischer Perspektiven: der Betrachtung der Organisation als eines Instruments rational geplanter Zielerreichung einerseits und dem Verständnis der Organisation als eines ungeplant evolutionären Zusammenhangs von Elementen andererseits, der durch spontane Anpassung an die unvorhergesehenen und unkontrollierbaren Ereignissen der Umwelt überlebt und sich entwickelt (vgl. ebd.: 4-8). Sein Synthesevorschlag lautet, beide Aspekte als wesentlich für die rational zielverfolgende Organisation zu betrachten. Diese ist demnach einerseits bestrebt, zum Zweck planbarer Zielerreichung einen Bereich kontrollierter Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu etablieren, den technischen Kern eben. In einer Umwelt, die sie in unvorhersehbarer Weise mit externen Anforderungen konfrontiert, muss sie andererseits dafür sorgen, dass diese externen Faktoren nicht störend auf den technischen Kern durchschlagen. Die Organisation muss also in der Lage sein, adaptiv und flexibel auf Umweltanforderungen zu reagieren, und zwar in einer Weise, die den technischen Kern gegen Turbulenzen der Umwelt abpuffert. Die Effizienz der Organisation mit Blick auf die Zielerreichung gründet mithin nicht allein in der Effizienz des technischen Kerns, sondern ebenso in der Fähigkeit, unerwartete Ereignisse in der Organisationsumwelt, durch flexiblen und adaptiven Umgang mit ihnen vom technischen Kern fernzuhalten (vgl. ebd.: 19ff.).

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120 | Ingo Schulz-Schaeffer Was Thompson hier beschreibt, lässt sich allgemeiner fassen als das Zusammenwirken eines Bereichs regelgeleiteten Verhaltens und eines ihn umgebenden Bereichs praktischen Wissens und Könnens, verbunden mit der These, dass die Wirksamkeit des ersten Bereichs, des technischen Kerns, nicht allein auf der Einrichtung regelgeleiteter Abläufe beruht, sondern ebenso darauf, dass der umgebende Bereich praktischen Wissens und Könnens ihn gegen die unvorhersehbaren Anforderungen neuer Situationen abschirmt. Damit löst sich nun auch das im vorigen Abschnitt benannte Paradox auf, wie es gleichzeitig möglich ist, das Wittgenstein-Argument vom unendlichen Regelregress anzuerkennen, und dem empirischen Tatbestand des Funktionierens von Regel-Wirkungs-Zusammenhängen Rechnung zu tragen. Für sich genommen, ist der Verweis auf die technische Herstellung oder autoritative Erzeugung von Situationsähnlichkeit als Lösung für das Anwendungsproblem expliziter Regeln nicht vollständig befriedigend. Bestimmte Probleme der Anwendbarkeit einer Regel werden auf diese Weise zwar gelöst. Die Frage nach dem richtigen Umgang mit einem RegelWirkungs-Zusammenhang, der die Situationsähnlichkeit herstellt oder definiert, stellt sich im Zweifelsfall dennoch. Denn die Häufung von Festlegungen auf Festlegungen, so das Wittgenstein-Argument, führt eben nie zu einem Ende. Man nimmt beispielsweise wieder den Fahrersitz des Autos ein, lässt den Motor an und sieht sich mit Blick auf Fragen der Veränderung von Fahrtrichtung und -geschwindigkeit einer Situation unproblematischer Anwendbarkeit der einschlägigen Benutzungsregeln gegenüber. Aber nun stellt sich das Problem, in eine Parklücke ein- bzw. aus ihr auszuparken. Auch für diesen Zweck wird in der Fahrschule Regelwissen vermittelt. Aber nun ist jede Parklücke anders, mal kürzer, mal länger, mal breiter mal schmaler usw. Trotz aller Bemühungen um die technische Herstellung von Situationsähnlichkeit ist die Situation in gewissem Umfang also stets eine neue Situation. Um den technischen Regel-Wirkungs-Zusammenhang wirksam zum Zuge kommen zu lassen, hilft weiteres Regelwissen also nur begrenzt weiter. Man muss das Ein- oder Ausparken vielmehr im Gefühl haben, als inkorporiertes praktisches Wissen und Können im Umgang mit je neuen Situationen besitzen, um nicht endlos hin- und herzurangieren. Gleiches gilt entsprechend für die autoritative Erzeugung von Situationsähnlichkeit, wie sie bei normativen Regel-Wirkungs-Zusammenhängen im Vordergrund steht. So definiert beispielsweise der ehemalige § 847, Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches die Situationen, in denen jemand Schmerzensgeld einklagen kann, wie folgt: »Im Falle der Verletzung des Körpers oder der Gesundheit sowie im Falle der Freiheitsentziehung kann der Verletzte auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist,

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eine billige Entschädigung in Geld verlangen.« Sofern eine entsprechende Situation vorliegt, ist die Angelegenheit also relativ eindeutig. Müssten dann aber nicht auch andere immaterielle Schädigungen als Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit behandelt werden, für die Schmerzensgeld beansprucht werden kann: die nicht autorisierte Bezugnahme auf Personen zu Werbezwecken etwa oder das Mobbing am Arbeitsplatz? Auch diese Fragen werden nicht durch die Anwendung von Regeln beantwortbar, sondern durch Verweis auf gemeinsame Praktiken, nämlich auf die richterliche Spruchpraxis und die Praxis der rechtswissenschaftlichen Gesetzesauslegung. Und die sich in diesen Praktiken herausbildende Regelmäßigkeit der Beurteilung entsprechender Fälle bejaht diese Fragen (vgl. Wesel 1979: 88f.).2 Das gleiche Zusammenspiel von explizit regelgeleitetem Handeln und handlungspraktischen Dispositionen bildet auch im Bereich der Interessenund Durchsetzungskalküle, also der zweiten von mir benannten Bedingung der Verhaltenswirksamkeit von Kodifizierungen, den Rahmen. Die Feststellung, dass es im Umgang mit Regel-Wirkungs-Zusammenhängen zweckbezogene Interessenkalküle sind, durch die das Wissen über zukünftig zu erwartende Wirkungen für das gegenwärtige Handeln relevant wird, steht nicht in unüberbrückbarem Widerspruch zu der praxistheoretischen Beobachtung, wonach »[s]oziale Akteure, die den Sinn für das Spiel besitzen und die Unzahl der praktischen Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata inkorporiert haben, die […] als Prinzipien der Wahrnehmung und Gliederung der Welt [fungieren], […] die Ziele ihrer Praxis nicht als Zwecke zu setzen [brauchen]« (Bourdieu 1998: 144). Vielmehr bewirken die praktischen Dispositionen, dass aus dem unermesslichen Raum möglicher Wünsche und Ziele der größte Teil von vornherein als undenkbar oder nicht wünschenswert ausgeschieden wird bzw. gar nicht erst in den Horizont des Wahrnehmbaren gelangt (Bourdieu 1987: 100). Und dies ist die Voraussetzung dafür, dass die verbleibenden Interessen und Ziele um so eindeutiger identifizierbar werden und den Handlungskalkülen um so berechenbarer zu Grunde gelegt werden können. Auch in dieser Hinsicht haben die praktischen Denk- und Wahrnehmungsschemata mit Blick auf den technischen Kern von Regel-Wirkungs-Zusammenhängen die Funktion der Abschir2 | Zu ergänzen ist, dass in einer Neufassung (vom 19.07.2002) des Ausgleichs für immaterielle Schäden im jetzigen § 253, Abs. 2 des BGB dieser extensiven Auslegung des Begriffs »Freiheitsentziehung« in der Rechtspraxis dadurch Rechnung getragen wird, dass sich an seiner Stelle nun die allgemeinere Formulierung »Verletzung der Freiheit« findet. Auf eine eigenständige Kodifizierung eines Schadensausgleichs für die Verletzung von Persönlichkeitsrechten ist allerdings verzichtet worden. Manches überlässt man eben besser der Praxis, als es explizit zu regulieren.

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122 | Ingo Schulz-Schaeffer mung gegen unvorhersehbare Störungen. In diesem Fall geht es dabei um die Abschirmung gegen Störungen, die sich aus plötzlichen Veränderungen der Interessen der Adressaten expliziter Regeln ergeben würden, die dann gegebenenfalls die Durchsetzungskalküle unwirksam machen und damit auch den Regel-Wirkungs-Zusammenhang selbst gefährden würden. Insgesamt lässt sich also ganz im Sinne des Wittgenstein-Arguments festhalten, dass Regel-Wirkungs-Zusammenhänge als Ressourcen prospektiven Handelns nur unter der Bedingung wirksam werden können, dass zugleich alle jene Gepflogenheiten der Praxis als selbstverständlich vorausgesetzt werden können, die die verbleibende Uneindeutigkeit und Unvollständigkeit stillschweigend beseitigt, die jede explizite Regel aufweist, sobald sie auf eine Situation trifft, deren Eintreten bei ihrer Formulierung nicht berücksichtigt wurde. Es ist mithin nur deshalb möglich, einen bestimmten Ausschnitt des Handelns explizit zu regeln, weil alles übrige Handeln, das in der einen oder anderen Weise mit dem reglementierten Ausschnitt zusammenhängt, der abgestimmten Improvisation gemeinsamer Dispositionen überlassen werden kann. Dabei ist wichtig zu betonen, dass dieses Ergebnis nicht identisch ist mit der regelskeptischen Position innerhalb der Praxistheorie, wonach Regelmäßigkeiten des sozialen Leben nur scheinbar regelgeleitet zu Stande kommen, tatsächlich aber der impliziten Logik der Praxis folgen. Innerhalb des technischen Kerns von Regel-Wirkungs-Zusammenhängen ist die Orientierung an expliziten Regeln das Erzeugungsprinzip des geregelten Ablaufs und genau dies konstituiert die spezifische Differenz solcher Arrangements zu den Regelmäßigkeiten gemeinsamer Praktiken: die Möglichkeit, mit Blick auf zukünftig zu erwartende Wirkungen zu handeln. Zugleich wird diese Möglichkeit stets erkauft durch eine Abhängigkeit von allen jenen Praktiken, die den technischen Kern abschirmen. Und in dem Maße, in dem dies der Fall ist, steht und fällt die Wirksamkeit prospektiven Handelns weiterhin mit den immer erst im Rückblick erkennbaren Regelmäßigkeiten gemeinsamer Praktiken.

Ausblick Die voranstehenden Überlegungen verdeutlichen, dass sich auch im Rahmen des praxistheoretischen Paradigmas eine Position vertreten lässt, derzufolge explizite Regeln eigenständig verhaltenswirksam werden können. Abschließend soll überlegt werden, wie diese Position sich mit der grundlegenden Regelskepsis vereinbaren lässt, die, wie eingangs dargestellt, für die Entwicklung des praxistheoretischen Gedankens zunächst von so zentraler

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Bedeutung war. Eine brauchbare Antwort ergibt sich meiner Meinung nach, wenn man die Situation, in der die Regelmäßigkeiten des Handelns ausschließlich aus der »abgestimmten Improvisation der gemeinsamen Dispositionen« (Bourdieu 1979: 215) resultiert, und die Situation, in der die Regelhaftigkeit des Handelns ausschließlich dem an Regel-Wirkungs-Zusammenhängen orientierten rationalen Kalkül entspringt, als die beiden idealtypischen Pole eines Kontinuums betrachtet. Und es spricht vieles dafür, dass in der empirischen Realität keiner dieser beiden Pole jemals ganz erreicht wird. Für den Bereich des regelorientierten Handelns gilt dies bereits aufgrund des Erfordernisses der handlungspraktischen Abschirmung des technischen Kerns. Aber auch in anderer Hinsicht werden die kodifiziert objektivierten Regel-Wirkungs-Zusammenhänge vielfältig ergänzt oder überlagert durch Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, die sie dann zugleich zu Ausdrucksformen des Habitus im »opus operatum« (Bourdieu 1987: 98) machen. So betont schon Weber, dass die prospektive Handlungsorientierung, die ein staatlich garantiertes und sanktioniertes Recht ermöglicht, keineswegs zwangsläufig zur Folge hat, »dass etwa diejenigen, welche sich der Ordnung […] fügen, dies vorwiegend oder auch nur überhaupt um deswillen tun, weil ein Zwangsapparat […] dafür zur Verfügung steht. Davon ist«, so Weber, »keine Rede« (Weber 1972: 183). Vielmehr gelte: »Die breiten Schichten der Beteiligten verhalten sich der Rechtsordnung entsprechend, entweder weil die Umwelt dies billigt und das Gegenteil nicht billigt, oder nur aus dumpfer Gewohnheit an die als Sitte eingelebten Regelmäßigkeiten des Lebens« (ebd.: 182). Letzteres aber bedeutet im Sinne der Bourdieu’schen Dialektik von einverleibter und objektivierter Geschichte, dass die Rechtsordnung dann als das in Worten objektivierte Gegenstück inkorporierter Dispositionen vermittels dieser Dispositionen wirksam wird (vgl. Bourdieu 1987: 98, 106f., 198f.). Ein bekanntes Beispiel für solche Überlagerungen der prospektiven Regelorientierung durch Praxisschemata aus dem Bereich technischer Regel-Wirkungs-Zusammenhänge ist die so genannte Qwerty-Tastatur der Schreibmaschine und jetzt des Computers. Als Qwerty-Tastatur wird die spezifische Buchstabenanordnung auf der Tastatur dieser Schreibgeräte bezeichnet, die sich seit den frühen Tagen der Remington-Schreibmaschine bis heute mit nur kleinen Veränderungen in der ursprünglichen Form erhalten hat. Ginge es allein nach der expliziten Logik der Einrichtung möglichst wirksamer Regel-Wirkungs-Zusammenhänge, dann hätte diese Buchstabenanordnung längst einer ergonomischeren Anordnung, etwa der des »Dvorak Simplified Keyboard« weichen müssen (vgl. Diamond 1997). Tat-

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124 | Ingo Schulz-Schaeffer sächlich aber wirkt sie als das gegenständlich objektivierte Gegenstück des inkorporierten Maschineschreiben-Könnens bis heute fort.3 Auf der anderen Seite ist es aber auch hochgradig unwahrscheinlich, dass es regelmäßige Handlungspraktiken geben kann, die nicht zugleich auch in einem gewissen Umfang in regelgeleitetes Handeln umschlagen. Offensichtlich neigen bereits die am stärksten durch gemeinsame Praktiken geregelten Gesellschaften oder gesellschaftlichen Bereiche dazu, die Regelmäßigkeiten ihrer Praktiken auf dem Wege der sekundären Interpretation als regelhaft zu explizieren. Und wenn auch diese Regeln als nachträgliche Rationalisierung gemeinsamer Praktiken auf die Welt kommen, so heißt dies keineswegs, dass sie nur als solche in der Welt bleiben. »Die Illusion des Juridismus«, so Bourdieu (1992: 110), »drängt sich nicht nur dem Forscher auf. Sie wirkt in der Realität selbst. Und so muß eine adäquate Theorie der Praktik sie auch berücksichtigen.« Mit anderen Worten: Die Beschreibung, die die Regelmäßigkeiten einer gemeinsamen Praxis regelhaft abbildet, ist zunächst in der Tat nichts anderes als deren sekundäre Interpretation und nachträgliche Rationalisierung. Sobald allerdings das explizierte Wissen um diese Regelhaftigkeit handlungswirksam wird, kommt etwas Neues hinzu: Nun gibt es Akteure, die aufgrund dieser Regel und nicht allein aufgrund eingelebter Gewohnheit handeln. Und in dem Maß, in dem das der Fall ist, wird die Regel dann doch zum Erzeugungsprinzip der Praxis, die sie zuerst nur nachträglich rationalisiert hatte, und aus der anfänglichen Illusion wird empirische Realität. Die Berechtigung der regelskeptischen Annahmen der Praxistheorie im Verhältnis zur Berechtigung der gegenteiligen Annahme einer eigenständigen Verhaltenswirksamkeit expliziter Regeln ergibt sich mithin nur im Zusammenhang mit der Beantwortung der Frage, wo auf dem Kontinuum zwischen den beiden Polen der jeweils betrachtete empirische Fall anzusiedeln ist. In jedem Fall aber ist die plausibelste Anfangshypothese die, mit einem gewissen Maß an eigenständiger Wirksamkeit expliziter Regeln auch dort zu rechnen, wo diese zunächst nur nachträgliche Rationalisierungen zu sein scheinen, und umgekehrt die Wirksamkeit praktischen Wissens und Könnens in einem gewissen Umfang auch dort in Rechnung zu stellen, wo man auf zweckbezogen eingerichtete Regel-Wirkungs-Zusammenhänge trifft.

3 | Zur symbolischen Überlagerung von Techniknutzung vgl. Schulz-Schaeffer 2002: 48ff.

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126 | Ingo Schulz-Schaeffer (Hg.), Bourdieus Theorie der Praxis. Erklärungskraft – Anwendung – Perspektiven, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 47-65. Thompson, James D. (1967): Organizations in Action. Social Science Bases of Administrative Theory, NewYork: McGraw. Weber, Max (1972): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5., revidierte Aufl., Tübingen: Mohr. Wesel, Uwe (1979): »hM«, in: Kursbuch 56: Unser Rechtsstaat, Berlin: Kursbuch/Rotbuch-Verlag, S. 88-109. Wittgenstein, Ludwig (1984): »Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914-1916, Philosophische Untersuchungen«, in: ders., Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 225-580.

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Macht sozialer Praktiken

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) T03_00 resp 3.p 60679394814

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) vakat 128.p 60679394870

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Praxeologie und Faschismus. Gewalt und Gemeinschaft als Elemente eines praxeologischen Faschismusbegriffs 1 Sven Reichardt

Am Beispiel der italienischen squadre d’azione und der deutschen SA wird im Folgenden ein Baustein zu einer praxeologischen Bestimmung faschistischer Bewegungen entwickelt. Unter Praxeologie wird hierbei eine »Theorie sozialer Praktiken« (Bourdieu) verstanden, die die körperlichen Verhaltensroutinen, kollektiven Sinnmuster und subjektiven Sinnzuschreibungen der historischen Akteure und die Verankerung ihrer Symbole zum zentralen Gegenstand ihrer Analyse und Theoriebildung macht. Die Muster gleichförmigen und identifizierbaren Verhaltens, diese »doings und sayings« im Sinne Theodore Schatzkis sind es, die den Kern der »practice theory« bezeichnen. Soziale Praktiken werden hier als »embodied, materially mediated arrays of human activity« verstanden, die um ein gemeinsam geteiltes praktisches Wissen und Können der historischen Akteure organisiert sind (Schatzki 1996: 89, 2001: 2). Mit dem Anwendungsbeispiel faschistischer Bewegungen soll die Leistungskraft des praxeologischen Ansatzes veranschaulicht werden. Denn eine klare Unterscheidung von Theorie und historiographischer Umsetzung 1 | Erste Fassungen des vorliegenden Textes habe ich sowohl in unterschiedlichen historischen Forschungskolloquien in Freiburg, Göttingen, Köln und Konstanz als auch auf dem 44. Deutschen Historikertag in Halle vorgetragen. Ich möchte mich für die Anregungen und kritischen Kommentare der Teilnehmer dieser Veranstaltungen recht herzlich bedanken. Die Herausgeber dieses Bandes haben darüber hinaus wertvolle Überarbeitungen und Kürzungen vorgeschlagen.

2004-08-16 12-51-26 --- Projekt: T243.sozialtheorie.reuter-hörning / Dokument: FAX ID 01f460679393814|(S. 129-153) T03_01 reichardt.p 60679394918

130 | Sven Reichardt ist für praxeologische Ansätze wenig wünschenswert, wollen die Überlegungen nicht auf der Ebene hochtrabender Einleitungen stehen bleiben. Stattdessen wird der Ansatz in engster Verbindung und aus Problemen bei der Beschäftigung mit empirischer Forschung entwickelt. Der Praxisbegriff akzentuiert mithin neben der Historizität und Materialität des Sozialen auch die Bedeutung der Empirie (vgl. Bonnell/Hunt 1999: 25; Bourdieu 1996: 82). Es geht darum, auf der Grundlage routinisierter und damit oft symbolisch-ritualisierter Handlungsmuster einen faschistischen Habitus im Sinne Bourdieus zu bestimmen. Dieser dient als Operator zwischen den sozialen und Organisationsstrukturen auf der einen Seite und den politischen Handlungen auf der anderen Seite. Er generiert die Denk-, Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata der faschistischen Akteure, die wiederum die Faschisten zu bestimmten Praxisstrategien anleiteten. Unter »Habitus« versteht Bourdieu weder die Ebene eines voluntaristischen Denkens oder spontanen Handelns noch eine getreue Befolgung von Normen und Regelkodices. Er beinhaltet eine »praktische Vernunft« (Bourdieu), hier das Erfahrungswissen der faschistischen Akteure, das auf ihrem praktischem Handeln und Verhalten gründete (vgl. Bourdieu 1993: 97-121, 1976: 139-202, 1991: 125-158; Giddens 1992: 51-90; Reichardt 1997: 73-75; Müller 2002; Schneider 1998: 217-227; Welskopp 1997). Vom praxeologischen Ansatz ausgehend (I. Abschnitt) rückt das politische Handeln der faschistischen Kampfbünde in den Mittelpunkt der Analyse. Da Handeln bei diesen paramilitärischen Organisationen zuerst gewaltsame Aktion bedeutete, sind die Ausführungen des II. Abschnitts auf die durch Gewalttätigkeit geprägten Verhaltensregeln, die Organisationskultur und den Lebensstil beider Kampfbünde fokussiert. Hierzu wird die Bedeutung von Kameradschaft, Treue und Tatgemeinschaft in den körperlichen Verhaltensroutinen und dem darauf bezogenen subjektiven Rezeptwissen der faschistischen Straßenkämpfer aufgezeigt. Gleichzeitig wird die Subkultur der Gewalt, die sich durch die routinisierte Gewaltpraxis herausbildete, in ihren Grundzügen geschildert. In der subjektiven Wissensordnung wurde diese durch eine prekäre Praxis gegründete Subkultur durch charismatische Vergemeinschaftung abgesichert und stabilisiert. Daran anschließend wird im III. Teil der Blickwinkel geöffnet und die historiographische Praxis einer Theorie verlassen. Nunmehr wird danach gefragt, inwieweit durch einen praxeologischen Ansatz eine Sozial- und Kulturgeschichte des Faschismus integriert werden kann.

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Praxeologische Theorie Die Praxistheorie ist eine Kulturtheorie, die Kultur weder uniform, kohärent noch statisch begreift und stattdessen – mit bezug auf John Dewey, Pierre Bourdieu, Erving Goffman und Anthony Giddens – unter Kultur primär körperbezogene Handlungen versteht, die Machtbeziehungen, praktisches Wissen und historischen Wandel zum Ausdruck bringen. In der aktuellen Diskussion wird die praxistheoretische Wende von PhilosophInnen, SoziologInnen und HistorikerInnen wie etwa Richard Biernacki, Karl H. Hörning, Lynn Hunt, Hans Joas, Karin Knorr Cetina, Andreas Reckwitz, Theodore Schatzki oder William H. Sewell vertreten (Schatzki/Knorr Cetina/Savigny 2001; Bonnell/Hunt 1999a; Reckwitz 2000; Joas 1992; Ebrecht/Hillebrandt 2002). Soziale Praktiken bezeichnen routinisierte Formen von Handlungen, die eine subjektiv wahrgenommene Handlungsnormalität begründen. Diese Mischung aus Routine und Reflexion, aus Repetitivität und kultureller Innovativität bezeichnet die Verwicklung menschlicher Handlungen in der sozialen Praxis. Die Handlungen changieren zwischen repetitivem Entfalten und produktiver Kreativität, zwischen Wiederholung und Neuerschließung, die die zwei Seiten der Logik der Praxis bezeichnen. Dabei interessieren sich Praxistheorien, wie Karl H. Hörning betont, »für das Hervorbringen des Denkens im Handeln und weniger für das kognitive Vorwissen um die Welt und ihre Dinge« (Hörning 1997: 34; vgl. Biernacki 2000: 290). Im Handeln vollzieht sich insofern nicht einfach das, was vorab gedacht und entschieden wurde. Das Handeln hat seine eigenen, sich aus dem Handlungsfluss ergebenden Gründe. Das klassische ZweckMittel-Vokabular und rational-choice-Vorstellungen verkürzen Handlungen auf zielgerichtetes Handeln, ohne das Erfahrungswissen und das praktische Können der Akteure angemessen zu berücksichtigen. Hans Joas verweist in diesem Zusammenhang auf Deweys klassische Konzeption einer reziproken Beziehung zwischen Handlungszielen und Handlungsmitteln: »Das heißt, dass er [Dewey, S.R.] nicht von klaren Zielen des Handelns als Regelfall ausgeht, auf die sich dann die Mittelwahl bloß noch auszurichten hat. Vielmehr seien Handlungsziele meist relativ unbestimmt und werden erst durch die Entscheidung über zu verwendende Mittel spezifiziert« (Joas 1992: 227).

Zudem könne sich dadurch, dass bestimmte Mittel zur Verfügung stehen, der Spielraum der möglichen Zielsetzung erweitern: »Die Dimension der Mittel ist damit nicht neutral gegenüber der Dimension der Ziele« (ebd.; vgl. dazu Visalberghi 1953). Kulturtheorien, die die Welt als Text interpretieren und den Menschen

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132 | Sven Reichardt im Kanon von Symbolen und Bedeutungen eingeschlossen sehen, verkürzen nach praxeologischem Verständnis die Zweideutigkeiten der Kultur, die Ambivalenz kultureller Normen und die kreativen Aneignungsweisen kultureller Normangebote. In diesen Theorien sind es die Sinn- und Symbolkomponenten einer als System verstandenen Kultur, die das Handeln vorstrukturieren und aus dem Universum zwar unterschiedlicher, aber ausschließlich symbolischer Systeme ableiten. Diese als System von Zeichen verstandene Kultur entwirft ein tendenziell statisches Kulturkonzept (vgl. Biernacki 2000: 290-293; Sewell 1999: 45-47; Suny 2002: 1484; Lüdtke 2003: 290). Zwar erhält die Welt ihre Gleichförmigkeit über sinnhafte Wissensordnungen und im weitesten Sinn über symbolische Ordnungen, aber diese sind weder subjektunabhängig noch widerspruchsfrei. Die historischen Akteure gehen nicht in diskursiven Codierungen, Texten, Symbolen oder kommunikativen Sequenzen auf (vgl. Seigel 1999). Die Subjekte konstituieren sich nach praxistheoretischem Grundverständnis auch nicht durch anthropologische Grundkonstanten. Anders als die Vertreter der Alltagsgeschichte, die von einer grundsätzlichen Eigensinnigkeit der historischen Akteure ausgehen (Lüdtke 1991: 18, 50; 1993: 26; 2003: 281), wird die Eigensinnigkeit des Subjekts in der Praxistheorie sehr wohl anerkannt, aber nicht nur in seinen Facetten beschrieben, sondern in seiner Genese erklärt. Die Kreativität, Widerspenstigkeit oder Unberechenbarkeit der Akteure erklärt sich nämlich aus der Praxis selbst. Denn einerseits kann keine soziale Praxis eine Antwort auf alle Möglichkeiten des sozialen Feldes, in dem sie stattfindet, bereithalten. Zum anderen bündelt jedes Subjekt Wissensformen aus unterschiedlichen sozialen Feldern. Die Akteure haben, wie Andreas Reckwitz hervorhebt, »gleichzeitig unterschiedliche, heterogene, möglicherweise auch einander widersprechende Formen praktischen Wissens inkorporiert« (Reckwitz 2003: 296). Diese bringen sie in ihrer Lebenspraxis zum Einsatz. Es sind eben diese sozialen Praktiken, die die Eigenschaften des Subjekts, wie etwa seine Innerlichkeit oder Konstanz, produzieren. Subjekte existieren nur innerhalb des Vollzugs sozialer Praktiken und sind daher treffender als historische Akteure bezeichnet. Zweifellos enthält auch nach einem praxeologischen Verständnis das Handeln symbolische Schemata und Elemente von Intentionalität, die jedoch primär als tätigkeitsbezogenes und körperlich inkorporiertes Wissen verstanden werden (ebd.: 288f., 291f., 294-297; Biernacki 2000: 297). In der Praxeologie geht es nicht nur um die widerspenstigen Aneignungsstrategien der ›einfachen Leute‹, sondern auch um die Repetitivität ihrer Handlungen, die die Strukturiertheit der Lebensvollzüge thematisiert.2

2 | In einem sehr anregenden jüngeren Aufsatz von Alf Lüdtke (2003: 281)

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Im Unterschied zur kulturhistorischen Diskursanalyse wiederum betont der praxeologische Ansatz, dass erst der Gebrauch diskursiver Aussagesysteme klären kann, welche Bedeutung dem Diskurs im Wissen der Teilnehmer zukommt. Anders als die textualistischen Ansätze der Kulturtheorie geht das Soziale hier nicht in Zeichensystemen und Repräsentationen auf. Vielmehr gründet sich das Soziale auf dem Zusammenspiel von körperlichen Verhaltensroutinen und praktischem Können auf der einen Seite und dem individuellen Aneignen dieser Praktiken auf der anderen Seite. Das ›Soziale‹ einer Praktik liegt dabei in der Repetitivität von Aktivitäten (Schatzki 2001: 3). Diskurse werden nicht praxisenthoben verstanden, sondern als Kriterien im Sinne eines sozial ›angemessenen‹ Praktizierens. Der subjektiv wahrgenommene praktische Nutzwert und pragmatische Sinn, der funktionierende Gebrauch von Symbolen verleiht der Kultur ihre Handlungskraft. Die Praxeologie interessiert sich primär dafür, wie Kultur arbeitet und gesellschaftlich wirkt, weshalb hier die Metaphern eines »tool kit«, eines »know how« oder körperliche Repertoires verwandt werden; und eben nicht die alten Umschreibungen der Kultur als Lesen und Decodieren von Zeichen (Biernacki 2000: 300, 305-310; Reckwitz 2003: 287-293; Sewell 1999: 44; vgl. Swidler 1986). Die Praxistheorie betont sowohl die Körperlichkeit der Praktiken als auch die Bedeutung der Materialität der Dinge und Artefakte für soziale Praktiken. Stefan Hirschauer hat dabei die Verwobenheit von Praktiken und Körpern, die sich sowohl in der Sozialität des Körpers als auch in der Körperlichkeit des Sozialen ausdrückt, überzeugend beschrieben: »Der Körper ist weder apriorisch vorauszusetzen, noch ist er bloß als Resultat von Diskursen und Praktiken zu verorten, er steckt vielmehr in den Praktiken« (Hirschauer in diesem Band). Es ist also der Prozess des Gebrauchs von Körpern und Artefakten in sozialen Praktiken, mit dem sich der praxeologische Zugang beschäftigt (vgl. Joas 1992: 245-269; Schatzki 2001: 7-10; Bonnell/Hunt 1999b: 11; Lüdtke 2003: 280). Die Praxeologie bezeichnet, ähnlich wie schon bei E. P. Thompson oder der deutschen Alltagsgeschichte (vgl. Thompson 1987: 7-13; Lindenberger 1988: 176-178; Lüdtke 1989; 2003: 278-279; Ulbricht 2003: 81; Biernacki 1999: 65-70; Suny 2002: 1477-1482), eine erfahrungsorientierte Gesellschaftsgeschichte, die nicht nur die durch Aufmerksamkeit ausgezeichneten Erlebnisse des Menschen thematisiert, sondern ebenso das durch Handeln strukturierte routinisierte Erfahrungswissen der historischen Akteure. Es geht um das Einwirken der Erfahrungen auf Erwartungsstrukturen, auf

wird ausdrücklich betont, dass in der Alltagsgeschichte »keine emphatische SubjektFigur« vorausgesetzt wird. Ähnlich auch schon Lüdtke 1993.

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134 | Sven Reichardt die sich die Akteure in ihren Entscheidungsprozessen beziehen (vgl. Beckert 1997: 409-411). Dabei wird sowohl die Deutung der Lebenserfahrungen durch die historischen Akteure in ihrer kreativen wie repetitiven Qualität untersucht, als auch die Einbettung ihrer Erfahrungen in Handlungsmuster und Prozeduren. In sozialtheoretischer Hinsicht vermittelt der praxistheoretische Ansatz zwischen Struktur und Handeln, indem er die konkreten Praktiken handlungsfähiger Akteure in den Mittelpunkt seiner Analyse rückt. Die Routinisierung von Handlungen strukturiert die soziale Praxis. In Giddens Worten geht es um die handlungsbezogene »Strukturiertheit von Strukturen«: »Die Stabilität institutioneller Formen existiert nicht trotz oder außerhalb der Begegnungen des Alltagslebens, sondern sie ist gerade in diese Begegnungen einbegriffen« (Giddens 1992: 121; vgl. Schatzki 2001: 3). William Sewell bezeichnet in ähnlicher Weise einen wechselseitigen Zusammenhang, wenn er betont: »practice implies system«, um dann fortzufahren: »But it is equally true that the system has no existence apart from the succession of practices that instantiate, reproduce, or – most interestingly – transform it. Hence system implies practice. System and practice constitute an indissoluble duality or dialectic« (Sewell 1999: 47).

Die Praxeologie als akteursorientierte Institutionenanalyse bezieht mit ihrer Betonung von Handlungssituationen mikrohistorische Kontexte in die Analyse explizit mit ein. Dabei geht es sowohl um den Nachvollzug einer »Mikrologik des Sozialen« (Reckwitz 2003: 298), wie auch um eine Klärung derjenigen »Beziehungsgefüge, in denen die Mitglieder von Institutionen sich bewegen« (Welskopp 2002: 8; vgl. Bonnell/Hunt 1999b: 7f.; Suny 2002: 1486f.). Das gewohnheitsmäßige Handeln in sozialen Netzwerken kann etwa zum Gegenstand einer mikrohistorischen Analyse ihrer Koordinationsund Kooperationschancen werden. Dabei steht der relationale Charakter von mehr oder weniger institutionalisierten Akteurskonstellationen im Mittelpunkt, der sowohl die individuelle Bedeutung der Zugehörigkeit zu einer Gruppe als auch das Netz von interpersonellen Beziehungen untersucht. Kulturelle Praktiken gehen aber nicht in Interaktionsmodi auf, sondern werden als in gesellschaftliche Zusammenhänge eingebettete Praktiken verstanden. Von daher ist der Begriff der Erklärung für eine Praxeologie zentral, die auf Körperlichkeit, praktische Evidenz und Wandlungsprozesse setzt. Die Logik einer Praktik kann nicht allein aus ihrem Mikrokosmos heraus verstanden werden, sondern offenbart sich in ihrer gesellschaftlichen Kontextualisierung und Einbettung. So bezieht sich die situative Einbindung der Akteure auf einen institutionellen Kontext, und ihre Interaktionen sind (auch) als Aneignungsprozesse dieser Kontexte zu verstehen.

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Die soziale Dimension ist durch die Einbettung der Akteure und ihrer Handlungen in institutionelle Beziehungsgefüge und situative Kontexte gegeben, wobei allerdings Institutionen und Kollektive nicht, wie noch in der klassischen Sozialgeschichte, als klassifikatorische Einheiten begriffen werden, die sich »aus dem kleinsten gemeinsamen Nenner einer von möglichst vielen Individuen geteilten Durchschnittseigenschaft« herleiten (Welskopp 2002: 7). Diese ergeben sich aus praxeologischer Perspektive vielmehr aus dem relationalen Beziehungscharakter sozialen Handelns (vgl. Joas 1992: 235f.; Welskopp 1994; Kocka 2003: 26). Im Unterschied zur klassischen Sozialgeschichte wird Kultur nicht in einem kausalen Erklärungsmodus aus der Materialität des Sozialen abgeleitet. Vielmehr wird die Verwobenheit von Materialität und Deutung in den Handlungen der historischen Akteure herausgearbeitet. Victoria Bonnell und Lynn Hunt haben dies pointiert formuliert: »Historians and sociologists no longer assume […] that causal explanation automatically traces everything cultural or mental back or down to its more fundamental components in the material world of economics and social relations. The focus on practice, narrative, and embodiment – whether of whole culture, social groups, or individual selves – is meant to bypass that dilemma and restore a sense of social embeddedness without reducing everything to its social determinants« (Bonnell/Hunt 1999b: 26).

Schließlich wird Kultur im praxeologischen Ansatz mit der Bedeutung von Macht verklammert, da unter Kultur keine homogene, stabile oder fest gefügte Einheit verstanden wird. Der »Kampf um Bedeutungen« (Grossberg/ Nelson/Treichler 1992), der Konflikt um den Sinn und Wert von kulturellen Traditionen, Erfahrungen und Praktiken steht im Zentrum des praxeologischen Interesses. Kultureller Konsens ist schwer herzustellen, er ist die Ausnahme, nicht aber die Regel gesellschaftlichen Lebens. Kulturelle Praktiken sind variabel, umstritten, veränderlich und unabgeschlossen, insofern sie Produkte von Machtkämpfen um Bedeutungen und Werte sind (Sewell 1999: 52-58; Hörning/Winter 1999: 8; Bonnell/Hunt 1999b: 10; Suny 2002: 1485; Lüdtke 1991; 2003: 284-286).

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Gemeinschaft und Gewalt: Faschistische Kampfbünde als ein Baustein zu einer praxeologischen Faschismusdeutung 3 Die maßgeblichen Handlungen und Rituale der faschistischen Kampfbünde bestanden in Gewalt und Vergemeinschaftung, wobei von besonderem Interesse ist, dass beide eng miteinander verzahnt waren. Schon Ernst Fraenkel bezeichnete in seinem erst kürzlich veröffentlichten Urdoppelstaat von 1938 den »totalen Gemeinschaftsbegriff« als das »Kernstück der nationalsozialistischen Gesellschaftslehre«, um dann fortzufahren, dass die »SA der Kampfzeit die ideale Erscheinungsform der soziologischen Kategorie des Bundes« gewesen sei (Fraenkel 1999a: 452). Fraenkel knüpft damit vor allem an Hermann Schmalenbachs Konzeption an. Der dem Kreis um Stefan George nahestehende Schmalenbach hatte 1922 einen Aufsatz publiziert, in dem eine umfassende Bestimmung der soziologischen Kategorie des »Bundes« vorgenommen wurde. Die Kategorie des Bundes stehe demzufolge zwischen Tönnies’ Kategorien der »Gemeinschaft« und »Gesellschaft«. Mit der Gemeinschaft habe der Bund die enge Verbindung und den intimen Zusammenhang gemein, mit der Gesellschaft die bewusst erstrebte Verbundenheit als eine in bestimmten Werten und geistigen Zielen begründete Einheit (vgl. Schmalenbach 1922; vgl. Behrendt 1932; Bernsdorf 1969). Ernst Fraenkel kann mit Bezug auf die seiner Meinung nach »wertvollsten« zeitgenössischen soziologischen Arbeiten aus NS-Provenienz zeigen, dass es nicht ein Erlebnis idealistischer Natur war, das die Kampfbünde zusammenschweißte, sondern die »konkrete Notwendigkeit des Kampfes« Es geht, so Fraenkel weiter, also nicht um die »Existenz gemeinsamer Vorstellungen«, sondern darum, dass die Mitglieder »aufgrund emotionaler Erlebnisse zusammenfinden« (Fraenkel 1999a: 453f.). Im Jahre 1960 formulierte Fraenkel nochmals pointierter, dass der »Faszismus« »keine eigenständige Wertordnung« habe. Dem »utopischen Messiasglauben des Kommunismus« habe er ein »Vakuum gegenübergestellt«. Die Faschisten seien »vollendete Zyniker«, ihnen fehle die »Vorliebe des Kommunismus« für Geschichtsphilosophie. Das »faszistische Dogma« bestünde lediglich in »Zersetzungsgemeinschaften« (ebd. 1999b: 604-606). Tatsächlich waren für die faschistischen Kampfbünde die personalen und gefühlsbetonten Intimbeziehungen durch face-to-face-Kontakte der Bundesmitglieder untereinander, die weitgehende Abschließung gegen Nichtmitglieder und die Unterordnung unter die Führungsinstanzen zent3 | Vgl. als weiterführende Lektüre zu diesem Abschnitt Reichardt 2002, S. 390-534.

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ral. Das Zusammengehörigkeitsgefühl, um eine Formulierung Schmalenbachs aufzugreifen, hatte »sich zur Erfahrung eines objektiven Zusammenhanges verdichtet« (Schmalenbach 1922: 73f.). Schon 1930 hieß es in einer Denkschrift des preußischen Innenministeriums, dass die nationalsozialistische Bewegung als eine Mischform aus politischer Partei und politischem Bund zu verstehen sei, denn »sie erfasst ihre Mitglieder […] viel enger [als die herkömmlichen Parteien, S.R.] und nicht nur in der einen Richtung der Willensbildung bei Wahlen und Abstimmungen, sondern sozusagen in allen Lebensbeziehungen. Damit erhält sie sozusagen ihren Doppelcharakter als politische Partei und als politischer Bund« (Mauerer/Wengst 1977: 98).

Gerade die hohe Dichte und Dauer der Einbindung in die Organisation führte aber, anders als Fraenkel behauptete, zu der Ausbildung einer bestimmten ›Wertordnung‹, da sich die Mitglieder mit den kulturellen Symbolen ihrer Gruppe identifizierten und diesbezüglich eine hohe Konformitätsbereitschaft aufwiesen. Die Wirkung der Interaktionsrituale auf das Denken und die Emotionen der Gruppenmitglieder war besonders groß. Die politische Werteordnung war hierbei quasi eingelassen in die Organisationspraxis der Faschisten und ist ohne den Bezug zu ihr nicht zu verstehen. In ihren auf dem Typus des ›kämpfenden Faschisten‹ aufbauenden körperlichen Verhaltensroutinen und in ihrer organisatorischen Praxis wurden Gewalterror und Propaganda unmittelbar im Leitbild des »soldatischen Nationalismus« und eines ebenso männerzentrierten wie antibürgerlichen Kameradschaftskults ineinander verwoben. Es war nicht die innere Kohärenz der Ideologie oder die intellektuelle Stringenz ihrer Programmatik, wie Zeev Sternhell (1999) meint, sondern die wechselseitige Durchdringung von politischer Idee und Aktion, die Angepasstheit von politischer Einstellung und praktischem Wissen, die dem Faschismus seine Anziehungskraft verschaffte. Den Faschisten ging es nicht um ideologische Erklärungen, sondern um Rechtfertigungen. Es ging nicht um politische Diagnosen, sondern um Denunziationen. Es wirkten hier, um ein Wort von Ernst Bloch aufzugreifen, Haltungen stärker als reine Lehren (vgl. Bloch 1985: 106).4 4 | Es reichte den Faschisten schon der Schein von Kohärenz, Klarheit und Konsistenz, der etwa in der emotionalen Entschiedenheit und dem Glauben an einen Führer zum Ausdruck kam. Es war typisch für den Faschismus, dass Programme durch Personen ersetzt wurden. Gleichwohl war der Faschismus eminent politisch, aber eben nicht im eigentlichen Sinne eine ideologiezentrierte Bewegung. Kameradschaft, Charisma, Volksgemeinschaft, Antisozialismus und Antibürgerlichkeit, Ras-

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138 | Sven Reichardt Der Kameradschaftskult manifestierte sich in nicht unerheblichen wechselseitigen materiellen Hilfeleistungen innerhalb der squadra und des SA-Sturms. Dies rief wiederum emotionale Reaktionen und Verpflichtungsgefühle gegenüber der squadra beziehungsweise dem SA-Sturm hervor. Seine Dankbarkeit bekundete man durch Einsatzwillen und Gewaltbereitschaft. Die beschworene Kameradschaftlichkeit fungierte hier also, im Sinne Viktor Turners, als »Antistruktur«, bei der der individuellen Not eine kollektive Hilfe entgegengesetzt wurde. Diese dadurch untermauerten Verpflichtungs- und Treuegefühle verschafften den Kampfbünden ihren sozialen Zusammenhalt und hierarchisierten sie (vgl. Kühne 1998: 171, 175-178, 180f.). Anders als in »totalen Institutionen« (vgl. Goffman 1973), verfügte man im faschistischen Kampfbund über weniger wirksame Sanktions- und Disziplinierungsmechanismen, da dieser ein Freiwilligenverband war. Da die Möglichkeiten zur physischen Erzwingung der Loyalität begrenzt waren, kam es hier darauf an, eine exklusive und ungeteilte Loyalität durch freiwillige Zustimmung und aktive Hingabe zu erzielen. Symbolische Verpflichtung und moralische Verbindlichkeit waren für die faschistischen greedy institutions (Coser 1974: 1-8) die entscheidenden Bindungsmechanismen. Der emotionale Zusammenhalt trat an die Stelle einer durch Strafgewalt erzielten Kohäsion. Gefolgschaftstreue und Kameradschaft, wie auch die informelle und klientelistische Strukturierung waren für die squadre und die SA gleichermaßen ausschlaggebend. Die Hierarchisierung der Kampfbünde durch das ›Ethos der Treue‹, die freiwillige Hingabe an den Führer spielte dabei als Möglichkeit zur moralischen Sanktionierung eine wesentliche Rolle. Diese zeigt sich an den internen Strafzumessungen. Die Betroffenen und Geächteten wurden vor den Kameraden nämlich oft als ›unrein‹, ›unwürdig‹ oder ›treulos‹ verunglimpft. Die Organisationen arbeiteten in einem erheblichen Ausmaß mit dem Entzug kameradschaftlicher Solidarität und moralischer Ächtung (vgl. Horn 1972: 292; Sauer 1962: 844; Chiurco 1929: 491). Sogar im offiziellen Disziplinarkatalog der SA-Führung trat bezeichnenderweise Kameradenprügel als die schwerste Strafe auf, aus der sich der Sturmführer heraushalten sollte. Es hieß:

sismus und Radikalnationalismus bezeichnen selbstverständlich allesamt hochpolitische Elemente. Ihr kohärenter Zusammenhang war jedoch weniger wichtig als die Eingelassenheit der einzelnen politischen Vorstellungen in lebensweltliche Zusammenhänge.

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Praxeologie und Faschismus | 139 »Wenn […] Kameraden persönliche Rache an einem Missetäter nehmen, so hat das mit dienstlichen Maßnahmen nichts zu tun. Dienstlich darf weder dazu aufgefordert, noch nahegelegt werden. Jede Einmischung eines Vorgesetzten (auch ein Verbot [sic!]) ist vielmehr streng zu vermeiden.«5

Der Gruppendruck ging keineswegs spurlos an den Mitgliedern vorbei. So baten gefangene SA-Männer ihre »Sturmkameraden« immer wieder darum, dass diese sie besuchen sollten. Ein SA-Mann schrieb nach einem Besuch seiner »Sturmkameraden« in einem Privatbrief: »Heut habe ich Besuch gehabt, wenn dann die 10 Minuten um sind und der Besuch weg geht, dann wird mir so weh u. elend ums Herz, als wenn ich brechen muß […] Hoffentlich ist es mir bald vergönnt, unter Euch zu verweilen.«6

Ein anderer bat: »[I]ch bitte Dich, komm mit meiner Mutter her […]. In Zukunft bitte ich Dich, schick mir nicht immer meine Mutter her. Die weint dann immer + meine Stimmung ist dann auch hin. Erzähle ihr, wenn sie Dich fragt, daß ich jetzt blos [sic] noch alle vier Wochen Sprecherlaubnis habe [tatsächlich war es alle 10 Tage, S.R.] oder sonst was. Vor allem sehne ich mich nach Euch Kameraden.«7

Die homosozialen Bindungen in einer als Ersatzfamilie vorgestellten Gemeinschaft verbanden Geborgenheit mit Konformitätsdruck und Kontrolle. Die seit 1929 eingerichteten »Sozial-Helfer« innerhalb jedes SA-Sturms, die laut SA-Anordnung »so etwas wie eine sorgende Mutter darstellen«, verdeutlichen dies. Sie hatten die Aufgabe, die sozialen Verhältnisse der einzelnen Sturmmitglieder genau zu kennen und »alle freudigen und traurigen Ereignisse, die die Sturmmitglieder privat (familiär) betreffen«, dem Sturmführer zu melden und zugleich dafür zu sorgen, dass der, wie es hieß, »ganze St[urm] eine unzertrennliche Familie darstellt.«8 5 | SA-Befehl Nr. 7 (Staf.) vom 7.11.1926 (»Disziplin«), in: Bundesarchiv Berlin (BArch) (ehemaliger Bestand des Bundesarchivs Koblenz), Sammlung Schumacher, Ordner 403, ohne Blattzählung. 6 | Brief Kurt P. an Sturm 33 vom 29.8.1932, in: BArch (ehemaliger Bestand des Bundesarchivs Koblenz) NS 26/323, ohne Blattzählung. 7 | Brief Karl D. an Willi R. vom 21.3.1932, in: BArch (ehemaliger Bestand des Bundesarchivs Koblenz) NS 26/323, ohne Blattzählung. 8 | Schreiben des SA-Führers Ober-West, von Ulrich, an die Standarte F. I, Köln, vom 17. 1. 1929, in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz BerlinDahlem, I. Hauptabteilung, Rep. 77, Tit. 4043, Bd. 309, Blatt 284-287, hier: Blatt 287.

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140 | Sven Reichardt Auch die Trinkgelage in der lärmenden Männerkameraderie der Sturmlokale, die Vergabe von Spitznamen, die meist auf Trinkfestigkeit (»Mollenkönig« oder »Schnapsdrossel«), Sexualität (»Klöten-Karl«) oder Gewaltbereitschaft (»Schießmüller«, »Kaiman«, »Der Teufel«) anspielten, unterstrichen eine emotionalisierte Nähe zueinander. Bestimmte Initiationsrituale beim Eintritt festigten die Bindung. Nicht nur, dass man seinen alten Namen abgab und die neue Identität durch die Uniformierung und den neu verliehenen Spitznamen markierte: Dem Neuling wurden im Squadrismus die Verhaltensregeln vorgetragen, und sein Eintritt wurde durch eine Vereidigungszeremonie bestätigt, bei der der Novize seine Hände entweder auf das Heiligtum der squadra, die wimpelartige Fahne (gagliardetto) oder ein anderes symbolisches Objekt legen musste. Die Eidesformel war nicht einheitlich, aber sie bezog sich immer auf den unbedingten Gehorsam gegenüber Befehlen, die absolute Verschwiegenheit hinsichtlich interner Angelegenheiten und den Schwur, sich ganz und gar dem Vaterland zu widmen. Durch solche und ähnliche Rituale verstärkte man zweifellos die Aufgabe der alten und das Erreichen einer neuen Identität. Man integrierte das Individuum in seine neue soziale Bezugsgruppe, wobei das Gemeinschaftsgefühl zu einer peer group symbolisch signalisiert und mit einem emotionalen Pathos ausgestattet wurde (vgl. Reichardt 2002: 406-475). Der toskanische Squadrist Mario Piazzesi etwa vermerkte in seinem Tagebuch, dass das gegenseitige Duzen innerhalb seiner 30köpfigen squadra die Klassenschranken zwischen den einzelnen Mitgliedern abgeschwächt habe. Er selbst komme sich dadurch vor, »als würden wir uns schon tausend Jahre kennen« (Piazzesi 1980: 85; vgl. Gentile 1989: 33; Suzzi Valli 1995: 82). Der Vorteil des von Schmalenbach konzipierten Bundbegriffes besteht also darin, dass er den Haltungen und Willensbekundungen der Mitglieder Beachtung schenkt und seine Begriffsbildung von der Organisationspraxis ausgehend aufbaut. Das persönliche Erleben der Kampfbundmitglieder, das durch Riten und Verpflichtungsgefühle gestiftete Zusammengehörigkeitsgefühl sowie seine Herleitung aus Handlung, Aktion und Tat können Ausgangsbasis einer praxeologischen Analyse sein. Die Wirkungsweise der Kleingruppendynamik in den Kampfbünden, die Bedeutung des ständigen gegenseitigen Wahrnehmens und Kontrollierens, die affektiven Bindungen zwischen den Kampfbundmitgliedern, ihre Hierarchisierung über Ehr- und Treuebegriffe sowie ihre Verfestigung durch Rituale und Zeremonien schufen einen gewaltbestimmten Lebensstil, in dem politische Inhalte des Faschismus mit bestimmten sozialen Erfahrungen verklammert wurden. Der soldatisch-nationalistische Kameradschaftskult konstituierte sich überhaupt erst durch die Gewaltausübung gegen die als unmenschliche Bestien vorgestellten ›Marxisten‹ und individualistisch-materialistischen ›bürgerlichen Spießer‹.

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Aus praxeologischer Perspektive wird deutlich, dass in dieser engen Verbindung von Gemeinschaft und Gewalt die politischen Werthaltungen der faschistischen Faustkämpfer eingelassen waren. Einerseits wurde in den faschistischen Kampfbünden die Gewalt durch ihre Routinisierung zu einem Wert an sich, weil sich die sinnstiftenden Elemente durch die Wiederholung der Gewalttat einstellten. Die permanente Gewaltausübung, die bündische Organisationsstruktur und die ständige Emotionalisierung verdichteten sich zu einer strukturbildenden Kraft, die das Handeln der Kampfbündler zunehmend bestimmte. In diesem eigendynamischen Prozess wurden die kollektiven Gewalthandlungen gewissermaßen eingekörpert, selbstbezogen und verfestigten sich zu einem Habitus. Es war die Gewalt selbst, welche Gemeinsamkeit herstellte (vgl. Sofsky 2002: 22-27, 34; von Trotha 1997). Andererseits musste aber – gerade weil die Gewaltroutine den bewussten Sinnbezug und das Sinnverstehen entbehrlich zu machen drohte – immer wieder die Aura des außergewöhnlichen Willensmenschen, des charismatisch über soziale Belange und Interessen Erhabenen, des idealistischen Opfertums für die Nation überhöht und zelebriert werden. Dies manifestierte sich zum einen im »Gruppencharisma« (Elias) der faschistischen Bewegung (vgl. Naegeler/Morgenstern 2002: 76-80) und zum anderen in einem Typus von charismatischem Führertum, das nicht allein durch repressive Autorität und Despotie herrschte, sondern der beständigen populistischen Akklamation von unten bedurfte. Gehorsam in der Gefolgschaft wurde in dieser charismatischen Gemeinde als eine Pflicht verstanden, wobei die freiwillige Unterordnung gerade als ein Kennzeichen ihres Charismas galt.9 Der Führer wiederum wies sich hier durch die demonstrative Gewalt als mutiger und geschickter Kämpfer aus – Gewalt war Teil der Selbstdarstellung und zugleich soziale Auszeichnung. Nach außen, gegenüber der Gesellschaft, konnte gewalttätiges Handeln als symbolisches Kapital im politischen Feld eingesetzt werden (Reichardt 2002: 476-505).10 Die faschistischen Kampfbünde waren Gewaltorganisationen, und eben dieser Primat der Gewalt war es, der die oben beschriebene kameradschaftliche Komplizenschaft erzeugte und den Charakter der Kampfbünde als »totale Organisationen« (Arendt) prägte. Denn ihre persönliche Schuld an den Gewaltverbrechen konnten die Kampfbundmänner subjektiv durch die rest9 | Charisma verweist hier auf ein Prinzip kameradschaftlicher Hierarchiebildung, die auf dem Glauben an die außeralltäglichen Qualitäten der Bewegung wie auch des Führers basierte. 10 | Stefan Breuer hat diese Überlegungen weitergeführt und die faschistischen Parteien als »charismatische Patronageparteien mit paramilitärischem Charakter« bezeichnet (Breuer 2003: 367).

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142 | Sven Reichardt lose Verschreibung an den Führer überwinden, während zugleich das Leben in der faschistischen Gewaltwelt immer normaler wurde und sich die Abschnürung von der Außenwelt immer intensiver gestaltete. Hier zeigt sich, wie die Strukturmerkmale der innerparteilichen Herrschaftstechnik der faschistischen Bewegungen, die Martin Broszat (1970) herausgearbeitet hat, nämlich die permanente Agitation, die utopistisch und aus negativen Ressentiments zusammengesetzte politische Haltung und der charismatische Führerkult, in der politischen Praxis ineinandergriffen und sich wechselseitig ergänzten. Das Gewaltelement prägte hierbei die propagandistische Mobilisierung ebenso wie die utopistischen Fernziele, während die bündische Praxis den Charakter als charismatische Bewegung heraushob.

Praxeologische Vermittlung einer Sozial- und Kulturgeschichte der faschistischen Bewegungen Durch einen über Handlungen und soziale Praktiken bestimmten Zugang bietet sich die Chance, zwei getrennt voneinander operierende Richtungen der Faschismusforschung miteinander zu verbinden: die sozialgeschichtlichen Studien über den Aufstieg des Faschismus einerseits und die kulturgeschichtlich orientierte Politikgeschichte zu Einstellungsmodi und faschistischen Wertmustern andererseits (vgl. Eatwell 1992; Paxton 1998; Mann 2004). Praxeologisch gewendet, besteht in der Tat kein notwendiger Gegensatz zwischen einem sozialhistorischen Zugang, der nach den Rekrutierungsgruppen und dem sozialen Unterbau der Bewegungen fragt, und einem hermeneutischen Zugriff, der im kulturgeschichtlichen Sinn nach den spezifischen Denkmustern der Faschisten fragt. Die Analyse von körperlichen Verhaltensroutinen zeigt auf, dass es mehr die verschworene Gruppenmentalität und weniger eine ausgeformte und kohärente Ideologie war, die die Leidenschaft nach Einheitlichkeit dieser militanten Tatgemeinschaften begründete. Ganz in diesem Sinn formulierte Wolfgang Schieder in bezug auf den italienischen Faschismus: »Das politische Selbstverständnis des Faschismus in Italien entsprang nicht einer in sich geschlossenen Ideologie, es ergab sich vielmehr aufgrund einer einheitlichen politischen Praxis. Diese Praxis bestand in allererster Linie in kollektiver Gewaltausübung« (Schieder 2003: 206).

Zwar war die politische Ästhetisierung von Gewalt und die Politisierung der Gewaltsymbole – die vom Totenkult um ›Märtyrer‹ bis zum kämpferischen Männlichkeitsbild reichte – ein Kennzeichen der faschistischen wie auch der kommunistischen Kampfbünde. Aber anders als die Kommunisten ach-

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teten die Faschisten mehr auf eine einheitliche Ausdrucksseite der Politik (Mitziehen bei Gewaltaktionen, einheitlicher Lebensstil und Einsatzbereitschaft für die Bewegung), während die Kommunisten stärker auf eine einheitliche Inhaltsseite der Politik abhoben und sich eine ideologische Kunstwelt konstruierten. Der gewaltbestimmte Lebensstil der Kampfbündler strukturierte die faschistischen Gesamtbewegungen zu Mischorganisationen mit teils bündischer, teils paramilitärischer und teils parteimäßiger Struktur. Durch den hohen Anteil von jungen Kampfbundmännern, die in etwa die Hälfte aller Faschisten ausmachten; durch die Spannung zwischen paramilitärischem Lebensstil und Kult der Gewalt auf der einen Seite und der auf Wahlen bezogenen parlamentarischen Machteroberungsstrategie auf der anderen Seite entstanden innerhalb der gesamten Bewegungen polykratische Machtverhältnisse. Dies schuf eine innere Labilität der Faschismen, die wiederum durch die Figur des charismatischen Führers, die zunehmende Militarisierung und Hierarchisierung, das erlösende Versprechen auf baldigen Erfolg, das ständige In-Schwung-Halten der Bewegungen und den gewaltsamen Aktivismus überdeckt werden musste. In sozialhistorischer Hinsicht macht der praxeologische Ansatz deutlich, dass eine Klassifikation nach der sozialen Zugehörigkeit der Kampfbündler zu einer bestimmten sozialen Gruppe nur wenig aussagt. Zwar sind in der SA beispielsweise Handwerker oft überrepräsentiert, aber diese Berufsgruppen waren natürlich nur zu einem Bruchteil tatsächlich Mitglieder der faschistischen Kampfbünde. Weder wurden alle Handwerker noch alle Arbeitslosen zu Faschisten – ganz im Gegenteil. Eine bloße Gegenüberstellung von materiellen und statusmäßigen Interessen einzelner sozialer Gruppen mit der faschistischen Bewegung greift mithin zu kurz. Soziale Kontexte sind keine kausalen Ursachen, sie erklären nicht, sondern schaffen Gelegenheiten. Jenseits der mit Skepsis zu beurteilenden Auffassung, dass aus erfahrungsfernen und starren Sozialstrukturdaten überhaupt Annahmen über politische Einstellungen ›abgeleitet‹ werden können, wählt der praxeologische Ansatz einen akteurssensiblen Zugang: »Die Aufmerksamkeit gilt einem kollektiven Handeln, das nicht aus vorfindbaren psychischen Dispositionen oder gesellschaftlichen Problemlagen abgeleitet werden kann, sondern in dessen Verlauf sich die Akteure erst zu dem bilden, was sie für die Bewegung darstellen« (Joas 1992: 304).

Der an sozialen Praktiken orientierte Ansatz geht von der Selbstdeutung und den darin zum Ausdruck kommenden typischen sozialen Erfahrungen der Kampfbündler aus, ohne von vornherein unüberbrückbare Unterschie-

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144 | Sven Reichardt de zwischen dem bürgerlichen Profil des aus Studenten, Kriegsoffizieren und Söhnen von Agrariern zusammengesetzten Squadrismus und dem kleinbürgerlich-proletarischen SA-Verband vorauszusetzen. Dabei zeigt sich, dass die Erfahrung, sich auf einer absteigenden »sozialen Flugbahn« (Bourdieu) zu befinden und/oder relative Deprivation zu befürchten, den Anreiz zum Beitritt und Mitmachen in den faschistischen Kampfbünden verstärkte – und diese Gelegenheit nahm sowohl der italienische Akademiker wahr, der sich einem überfüllten Arbeitsmarkt gegenübersah, als auch der SA-Arbeiter, der von der massiven Jugendarbeitslosigkeit betroffen war. Eine Zukunft voller Unsicherheiten und gegenwärtige Erwartungsenttäuschungen waren es, die diese jungen Männer umtrieb, die sich soeben im Berufsleben etablieren wollten, Heiratspläne schmiedeten oder Haushaltsgründungen anvisierten (vgl. Reichardt 2002, S. 273-345). So unterschiedlich die soziale Flughöhe auch war: Das Gefühl, zu einer verlorenen Generation zu gehören und die dagegen inszenierte heroische Männlichkeitskonstruktion sowie der Wille, das Reich der daran schuldigen Demokraten und Sozialisten zu zerschlagen, prägten das Selbstverständnis der faschistischen Faustkämpfer. Es gehörte zum generationellen Stil dieser Männer, die Gewissens- und Sittlichkeitskultur der Vorkriegszeit umzukrempeln. Der Gestus des männlich Unbedingten und entschlossenen Draufgängertums wurde hier in Szene gesetzt. Das Jugendbild des Faschismus war durch die Aufnahme einer heroisch stilisierten Weltkriegserfahrung wesentlich brutalisierter und integrierte eine Ästhetik des Todes und Tötens, die der Jugendbewegung des 19. Jahrhunderts fremd gewesen war. Zudem wurden in ihrem gewaltdurchtränkten Durchsetzungswillen die drückenden psychosozialen Problemlagen einer »überflüssigen Generation« (Peukert) politisch verarbeitet (Peukert 1985; Reichardt 2002: 273-389; Gründel 1932; Herbert 1996; Lehen 1994; Wildt 2002). Der innere Kitt, die Inklusion innerhalb der faschistischen Gemeinschaften lebte von der Exklusion und dem emphatisch betonten Abschluss von der Außenwelt. Der Gestus der Antibürgerlichkeit war hierbei, neben der antikommunistischen Gewalttat, von zentraler Bedeutung. »Alles was sonst noch im Lande herumläuft, steht gegen uns: Die Satten, die Feigen, die Schwächlinge und Spießer mögen hinter dem Ofenschirm Schutz suchen«, hieß es im März 1932 bei Ernst Röhm. »Wir greifen an«, fuhr er fort: »Wir werden kämpfen und überall den Glauben wecken, daß nur ein neues Deutschland unseres Volkes Rettung ist« (Röhm 1932). Bürgerlichkeit wurde ständig als eine Frage der Körperhaltung und des angeblichen Mangels an Charakter bezeichnet. Dies deckte sich bis zur Ununterscheidbarkeit mit den politischen Einstellungen der Squadristen, die gegen die »Jämmerlichkeit« der »biederen Leute« des Bürgertums zu Felde zogen. »Kleine Gnome« (piccoli gnomi) nannte Raffaello Riccardi die Mitglieder der borghesia.

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Seine »pagine squadriste« habe er geschrieben, um sie vielen Bürgern »kraftvoll ins Gesicht oder besser noch auf den Rücken zu peitschen«. Denn diese seien Opportunisten mit einem unfehlbaren Instinkt für ein ruhiges Leben, sie »stinken eine Meile weit nach Feigheit und Unredlichkeit« (Riccardi 1939: 197). Mit dieser auf körperliche Merkmale und psychische Haltungen reduzierten Sicht auf die soziale Welt, in der eine radikale Komplexitätsreduktion von sozialen Prozessen und Kontingenzen der Moderne zum Ausdruck kam, wurde eine berufsübergreifende gemeinsame soziale Erfahrung verarbeitet. Ähnlich wie Alfred Vierkandt in den 1930er Jahren in seinen Studien zum Gemeinschaftsbegriff analysierte, waren es in den faschistischen Kampfbünden die Bezüge auf die Gruppe als Ganzes und ihre Gruppenideale, die die Gruppe als solche konstituierten. Der personalistische, durch Affekte und Engagement hierarchisierte Kameradschaftsgedanke war das Regulativ ihres Handelns (vgl. Stölting 1986: 343-363). Die Rebellen des Faschismus setzten gegen die bürgerliche Gesellschaft immer dieselben Werte in Szene: Den Willen zur Gewalt, den gläubigen Enthusiasmus in Erwartung einer nationalen Palingenese und einen männerbündischen Kult von Kameradschaft im Kleinen beziehungsweise eine idealistisch vorgestellten Volksgemeinschaft im Großen. Die faschistischen Kampfbünde praktizierten damit etwas, was die papierenen Visionen und Sehnsüchte vieler Rechtsintellektueller zum Ausdruck brachte, die natürliche Gemeinschaft als Gegenbegriff zum »selbstsüchtigen, rational kalkulierenden Individuum« (ebd.: 347). Dies bedeutete erstens die emphatische Einordnung des Individuums in einen Kameradschaftskult, der eine diffamierende Kritik an der als individualisiert, materialistisch und von Interessenkonflikten durchzogenen Zivilgesellschaft meinte. Wie Stefan Breuer anhand des soziologischen Gemeinschaftsdiskurses in der Weimarer Republik verdeutlicht hat, war hierbei die Einheit des Gefühls und nicht der Erkennntis das entscheidende Prinzip der bündischen Vergemeinschaftung. Die zeitgenössischen Wissenschaftler von Max Hildebert Boehm über Hans Freyer und Gunther Ipsen bis hin zu Franz Wilhelm Jerusalem und Reinhard Höhn verstanden unter Gemeinschaft keine aus der vormodernen Tradition stammende nostalgische oder romantische Kategorie, sondern eine durch »Kürwillen« herstellbare moderne Form bündischer Gesellung, die »natürliche« Bindungen in sich aufgenommen habe (Breuer 2002: 366-369). Die Idee der Herstellbarkeit von Gemeinschaft wurde auch in den Arbeitswissenschaften und in der so genannten »Führungsschulungsbewegung« von Johann Plenge, Karl Arnhold oder Götz Briefs unter dem Stichwort der »Werksgemeinschaften« diskutiert, in die Vorstellungen von Frontkameradschaft und Volksgemeinschaft einflossen (Trischler 1990). Auch in der Rechtswissenschaft spielten

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146 | Sven Reichardt Treue und Gemeinschaft einerseits als aus der Tradition entwachsene Elemente (»Glutwärme germanischer Treue«) und andererseits als Wertesystem (Ehre, Gewissen, Vertrauen) eine gewisse Rolle – etwa im Arbeitsrecht, Mietrecht, Schuldrecht oder im Reichserbhofgesetz (Stolleis 1994: 95-125; Kroeschell 1995). Diese Verbindung aus freiwilligem Beitrag des Einzelnen in bezug auf das Gruppenideal, die die Selbstopferung gewissermaßen als Bedingung des allgemeinen Glücks begriff, wurde von der SA in der Praxis des gewaltsamen Kampfes verkörpert. Zweitens war mit der Absage an individuelle Freiheiten die freiwillige Eingliederung in eine Gemeinschaft gemeint, die durch die Treue der Gefolgschaft und das Charisma ihrer integrierten Führer sowohl integriert als auch hierarchisiert wurde. Hans Ulrich Gumbrecht hat dies als »Paradoxie der wechselseitigen Unterordnung« von Führer und Gefolgschaft beschrieben: »Nach allgemein herrschender Meinung muß der wahre Führer das Kollektiv, aus dem er hervorgegangen ist, verkörpern. Ohne derartige Wurzeln kann er kein Führer sein – doch zugleich ist er einsamer und weiter von der Masse entfernt als jeder andere« (Gumbrecht 2003: 425-432).

Diese Isoliertheit war eine Bedingung des politischen Charismas. Der politische Führer bedurfte zugleich der ständigen Bewährung und Bestätigung seiner außerwerktäglichen Eigenschaften durch die Gefolgschaft. Der Führer stand dadurch paradoxerweise in einem zugleich rigiden wie losen Machtverhältnis zu seiner Gefolgschaft, da sich sein Charisma nur durch die Interaktion, den Glauben und die Anerkennung durch die Gefolgschaft bewährte (vgl. Schreiner 1998: hier v.a. S. 124-155; Wehler 2003: 551-558; Raab/Tänzler 1999: 62f.). Drittens war Gewalt das verbindende Element der Kameraderie. »Blut kittet aneinander« umschrieb Goebbels 1934 diesen Mechanismus der Komplizenschaft (Goebbels 1934: 126; ähnlich Banchelli 1923: 22). Die Bluttaten schufen eine neue soziale Gemeinschaft, wobei die Solidarität der Kämpfer auf der gemeinsamen Erfahrung des Quälens und Tötens beruhte – man verschwor sich mit dem Blut des Opfers. Die Blutschuld verteilte sich auf viele Schultern – sie wurde individuell erträglich und zugleich zum sozialen Kitt. Gewalt war aber nicht nur ein Mittel zur Integration nach innen, sondern zugleich auch der Propaganda nach außen, wobei die Gewalt durch ihre Ästhetisierung für die Kampfbündler zu einem Element ihrer charismatischen Erhabenheit und zu einem symbolischen Kapital wurde (vgl. Sofsky 2002: 30, 161f.). Diese Werteordnung im Alltagsleben des Einzelnen und im internen Organisationsleben des Kampfbundes erfahrbar zu machen, einzulösen

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und umzusetzen – ihm also scheinbare Evidenz, subjektive Sinnhaftigkeit und alltagspraktische Relevanz zu verschaffen – machten Erfolg und Durchschlagskraft der faschistischen Kampfbünde aus. Im Verlauf ihres kollektiven Handelns innerhalb der Kampfbünde definierten die faschistischen Akteure die Probleme, auf die sich bezogen. Sie erzeugten Motive, veränderten ihre Identitäten, formten soziale Beziehungen und neue Gemeinschaften, produzierten affektiv besetzte Symbole und symbolische Bindungen von biographiestrukturierender Kraft (Joas 1992: 304).

Fazit Rückt man die strukturbildende Kraft routinisierter Handlungsmuster in den Blick, lässt sich von einem faschistischen Habitus im Sinne Bourdieus sprechen, der die Faschisten zu bestimmten Praxisstrategien anleitete. Entgegen einer strukturalistischen Vorstellung von der Angepasstheit des Habitus an das soziale Feld, zeigte dabei die praxeologische Rekonstruktion der Aktivitäten jener Kampfbündler, dass das im Habitus inkorporierte praktische Wissen keineswegs in sich homogen und auch nicht widerspruchsfrei in solchen Handlungsformen umzusetzen ist, die den jeweiligen sozialen Feldern angepasst sind. Dem Beitrag ging es vielmehr um das »Rezeptwissen« (Kießling 1988) oder die »praktische Erkenntnisweise« (Bourdieu 1993: 122) der faschistischen Kampfbündler hinsichtlich der Wirkungsmächtigkeit ihrer Gewalt, wobei Verhalten und situatives Sinnverstehen als untrennbar miteinander verknüpfte Elemente untersucht wurden. Ihre Verhaltensroutinen wurden durch praktisches Verstehen, durch im Alltag bewährtes praktisches Wissen und Können zusammengehalten. Dieser aus Erfahrung gewonnene »SpielSinn« (Bourdieu 1993: 122) der Akteure war untrennbar mit der aktiven Teilnahme an sozialen Feldern verbunden. Er ist das Produkt vom Handeln und Ausdruck vom subjektiven Sinn der Akteure eines sozialen Feldes. Über die »praktische Matrix«, so Bourdieu, verfügen die Akteure jedoch nur »in praxi«, und können sich diese nicht theoretisch aneignen. Das Meistern einer Praxis enthält noch keine Erkenntnis seiner theoretischen Grundlagen (ebd.: 188). Das Wissen der Straßenkämpfer um die Macht und Propagandawirkung ihrer Gewalt ist also nicht mit einem theoretischen Wissen zu verwechseln, das die Akteure selbst hätten diskursiv formulieren können. Vielmehr wussten die faschistischen Faustkämpfer zwar, dass ihr gewaltsames Handeln in mehrfacher Hinsicht als soziale Klassifikation und kollektive Repräsentation funktioniert (physisch, kommunikativ, ästhetisch, symbolisch). Dementsprechend bewerteten sie die Gewaltausübung als einen notwendigen Schritt, ja als begrüßenswerte Distinktionsstrategie ge-

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148 | Sven Reichardt genüber ihrer Umwelt. Gleichwohl bezeichnet dies kein theoretisches Wissen, da von ihnen nicht alle Regeln, Ressourcen, Bedingungen und Konsequenzen der Funktionstüchtigkeit ihrer Gewaltpraxis überblickt wurden. Das Beispiel verdeutlicht, dass der Faschismus weder allein von seiner sozialen oder organisatorischen Struktur noch durch seine ideologische Ausrichtung gekennzeichnet werden kann. Der Streit innerhalb der NSForschung zwischen den so genannten Strukturalisten auf der einen Seite und den Intentionalisten auf der anderen erweist sich, praxeologisch betrachtet, als Scheinalternative. Vielmehr kommt es darauf an, den Faschismus anhand der Wechselwirkungen und der gegenseitigen Verflochtenheit von (erstens) politischen Einstellungen, (zweitens) lebensweltlicher Erfahrung und (drittens) gruppenspezifischen Symbol- und Regelsystemen zu analysieren.

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154 | Urs Stäheli

Subversive Praktiken? Cultural Studies und die ›Macht‹ der Globalisierung Urs Stäheli

Der Begriff diskursiver Praktiken strahlt eine eigentümliche Anziehungskraft auf die anglo-amerikanischen Cultural Studies aus. Es scheint fast, als ob auf diese Weise zu retten wäre, was ansonsten als verloren gelten müsste: die Möglichkeit politischer Kritik, mehr noch der Subversion kultureller und sozialer Strukturen. Diese politisch-normative Aufladung des Praktiken-Begriffs findet sich nicht nur in den inzwischen klassischen Medienanalysen der Cultural Studies, sondern nicht zuletzt in deren Beiträgen zur Globalisierungsdiskussion. Das Lokale wird zum Ort von widerständigen und vergnügsamen Praktiken, die sich der Logik globaler, vereinheitlichender Regimes gegenüberstellen. Das Politische scheint somit gerettet, indem es trotz einer häufig als ökonomisch verstandenen Globalisierung seine Nische in den lokalen Alltagswelten findet. Ich möchte im Folgenden dieser Faszination der Cultural Studies durch den Praktikenbegriff nachgehen. Dabei stehen zweierlei Fragen im Vordergrund. Erstens soll skizziert werden, auf welche Weise in den Cultural Studies der Praktikenbegriff normativ aufgeladen wird. Zweitens möchte ich aufzeigen, dass dieses Praktiken-Modell auch die globalisierungstheoretischen Arbeiten der Cultural Studies prägt und zu höchst problematischen theoretischen und politischen Konsequenzen führt.

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Das Interesse der Cultural Studies am Praktiken-Begriff Der Praktikenbegriff übernimmt in den Cultural Studies eine begriffliche Stellung, die ihn mit der gegenwärtigen programmatischen Konstatierung eines »practical turn« verbindet (Reckwitz 2003). Mit dem Praktikenbegriff wird gleichermaßen ein Befreiungsschlag gegen problematische handlungstheoretische wie auch strukturtheoretische Kategorien beabsichtigt. Schematisch und vereinfacht gesprochen befanden sich die Cultural Studies Anfang der 1980er Jahre im Dilemma, wie sich die beiden Pole von Kulturalismus und Strukturalismus miteinander vereinigen lassen (Hall 1980) – wie sich also kreative und produktive Handlungsfähigkeit, die meist im Subjekt verankert wurde, mit einer strukturalistischen Kritik des Subjekts vereinbaren lässt. Die Analyse von Populärkultur sollte die Rezipienten im Gegensatz zum Strukturfunktionalismus der Soziologie nicht mehr als ›cultural dopes‹ konzipieren, sondern deren Handlungsfähigkeit in den Vordergrund rücken. Gleichzeitig galt es aber auch, eine nostalgische und letztlich essenzialistische Kulturauffassung zu vermeiden, welche die Populärkultur als authentischen Ausdruck der unterdrückten Gruppen missversteht. Kurz, auch die Cultural Studies erhoffen sich vom Praktiken-Begriff ein Mittel, das einen Weg zwischen strukturalistischen und handlungstheoretischen Modellen bahnen soll. Im Unterschied aber zu anderen Vertretern eines practical turn – man denke etwa an ethnomethodologische und postWittgenstein’sche Praktikenbegriffe – ist für die Cultural Studies die Entscheidung für den Praktikenbegriff auch mit einer politischen Programmatik verbunden. Auf dem Spiel steht für die Cultural Studies, die sich immer auch als radikal-demokratisches Projekt verstanden haben, nicht nur eine abstrakte akademische Diskussion, sondern auch ein politisches Problem: Wie lässt sich politische Handlungsfähigkeit unter Bedingungen der (post-) strukturalistischen Kritik des Subjekts retten? Mit dem klassischen handlungstheoretischen Vokabular des humanistischen Marxismus ließ sich diese Problemstellung nicht abarbeiten, da der Klassenbegriff selbst in die Krise geraten war und kein handlungsfähiges Klassensubjekt mehr gefunden werden konnte. Genausowenig konnte der strukturalistische Marxismus von Althusser als Lösung dienen, da dessen Ideologiemodell letztlich zu funktionalistisch gebaut war. Scheiternde Anrufungsprozesse oder die Subversion von Anrufung war mit diesem Modell kaum oder nur mit großem Begriffsaufwand zu denken. Der Praktikenbegriff übernahm in diesem theoriepolitischen Vakuum eine wichtige Aufgabe, indem er eine vielversprechende, kritische Zwischenposition offerierte. Während bei Althusser das ideologisch angerufene Subjekt fraglos etwa der religiösen Anrufung folgt und sich niederkniet, beginnen sich die Cultural Studies für die Praktik des Niederkniens zu interessieren: Dieses Nieder-

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156 | Urs Stäheli knien wird nicht nur als eine Wiederholung der Direktiven eines ideologischen Staatsapparats verstanden, sondern als kreativer Aneignungsprozess, der eine partikulare Ausgestaltung der Aufforderung niederzuknien ermöglicht. In den Cultural Studies werden Praktiken in erster Linie als diskursive Praktiken oder »signifying practices« gedacht – es geht um Praktiken, mit denen Bedeutung hergestellt wird und nicht einfach vorgegebene Normen wiederholt werden: »Meaning is produced by the practice, the ›work‹ of representation. It is constructed through signifying – i.e. meaning-producing – practices« (Hall 1997: 28).1 Dadurch ergeben sich neue theoretische und politische Möglichkeiten, da nun keineswegs von Anfang an der Verlauf des Anrufungsprozesses feststeht. Bedeutung wird nicht nur von oben durch die »Ideologischen Staatsapparate« oder gesellschaftliche Normen geschaffen, sondern durch eine Vielzahl unterschiedlicher Lektüre- und Subjektivierungspraktiken. Für die Cultural Studies werden nun genau diese Spielräume der Aneignung, der subversiven Wiederholung und der alltäglichen Taktiken interessant – da auf dem Terrain der Populärkultur um die Definition sozialer und kultureller Identitäten gekämpft wird. Eine wichtige Inspirationsquelle für den Praktikenbegriff der Cultural Studies sind sicherlich die Arbeiten von Michel Foucault und sein Begriff der Mikro-Macht. Michel Foucault hat in seinen Analysen von Macht-Wissens-Konfigurationen die Verschränkung von diskursiven Praktiken und Subjektivierungsprozessen in den Mittelpunkt gestellt. Gerade der Anspruch, eine Mikro-Analytik von Machtverhältnissen zu entwerfen, erfordert für Foucault, Macht nicht als ein Prozess von oben zu denken (juridische Macht), sondern das breite Spektrum von Disziplinierungs- und Regierungspraktiken zu analysieren – eine Vielfalt, die allenfalls nachträglich als von einer hegemonialen Logik (einer nicht-intentionalen Strategie im Foucault’schen Sinne) durchdrungen beobachtet, nicht aber von einer übergeordneten Logik abgeleitet werden kann. Für die Cultural Studies hat sich ein an Foucault orientierter Begriff diskursiver Praktiken aus drei Gründen als höchst attraktiv erwiesen: (1)

Der Praktikenbegriff erlaubt es, auf ein immer schon gegebenes, handlungsfähiges Subjekt zu verzichten, ohne eine strukturalistische

1 | Aus einer Foucault’schen Perspektive wird dann auch diese Konzentration auf die Sinndimension von Praktiken scharf kritisiert – zumal Hall und andere Vertreter der Cultural Studies sich auf Foucault als Referenz für den Praktikenbegriff beziehen: »In short, Hall does not treat Foucault seriously, using him only up to the point where he might frighten the children – that is, up to the point where he might disturb the obviousness of culture as meaning« (Kendall/Wickham 1999: 119).

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Position einzunehmen. Praktiken lassen sich nicht auf die Instantiierung einer vorgegebenen Struktur reduzieren (langue/parole) – vielmehr geraten nun die Praktiken und Techniken der Subjektivierung in den Vordergrund. Der Praktikenbegriff verweist auf die Bedeutung von Mikro-Praktiken, die in den klassischen marxistischen und soziologischen Machtanalysen ausgeblendet worden sind.2 Mit der Betonung von Praktiken als diskursive oder signifikatorische Praktiken wird die performative Bedeutung von Praktiken hervorgehoben. Dadurch wird es möglich, den Umgang mit Medienprodukten als »signifying practices« zu verstehen – als Praktiken also, die aktiv am Prozess der Bedeutungsproduktion beteiligt sind.

Diese drei Vorteile des Begriffs diskursiver Praktiken – Subjektkritik, Mikro-Analytik und die Performativität von diskursiven Praktiken – werden für die Cultural Studies interessant, um so unterschiedlichste Formen von politisch-kulturellen Identitäts-Kämpfen zu analysieren.3 Die Cultural Studies interessieren sich dabei insbesondere für die Lektüre- und Decodierungspraktiken, mit denen Identitätskonstruktionen geschaffen und auch verändert werden können. Der Rezeptionsprozess wird als produktiver und kreativer Aneignungsprozess beschrieben, in dem hegemoniale Bedeutungen reartikuliert werden können. Betont wird die prinzipielle Offenheit jeder Rezeptionssituation4 und damit auch die ständig gegenwärtige Möglichkeit, subversive Lektüren zu entwickeln. Wie aber kommt es zur Widerständigkeit oder sogar Subversivität von 2 | Wichtige Ausnahmen sind hier einige Vertreter der australischen Cultural Studies wie Tony Bennett, die das Instrumentarium der Cultural Studies über die üblichen Mikro-Kontexte ausweiten und z.B. für die Analyse von public policy- Prozessen verwenden (Bennett/Carter 2001) – und dafür auch prompt von der eigenen Gemeinde kritisiert werden (Hartley 2003: 112). 3 | Obgleich die Cultural Studies in Anlehnung an die Anthropologie einen weiten Kulturbegriff vertreten (im Sinne von Raymond Williams’ Definition von Kultur als »whole way of life«), konzentrieren sich die meisten Analysen auf den Bereich massenmedial vermittelter Kultur. Damit findet eine Verschiebung von den für Foucault charakteristischen Macht-Wissens-Konfigurationen statt, die häufig exemplarisch an institutionellen Machtknotenpunkten wie dem Gefängnis oder der Schule untersucht worden sind. 4 | John Fiske (1987, 2001: 85ff.) begründet diese Offenheit semiotisch durch die notwendige Polysemie populärkultureller Produkte. Erst ihre Polysemie macht es möglich, dass sie von einer Vielzahl sozialer und kultureller Gruppen rezipiert werden.

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158 | Urs Stäheli Rezeptionspraktiken? An dieser Stelle findet eine grundlegende Verschiebung des Foucault’schen Begriffs diskursiver Praktiken statt – und es ist auch genau hier, dass der Begriff der Mikro-Praktik normativ-politisch aufgeladen wird. Für Foucault erfüllt der Begriff der Mikro-Praktiken zwar eine kritische analytische Funktion, bezeichnet aber keineswegs a priori den Ort der Subversivität. Mit dem Begriff der Mikro-Praktiken lässt sich zeigen, auf welche Weise Machtverhältnisse auf einer Vielzahl von Macht-WissensPraktiken beruhen. Diskursive Praktiken sind daher alles andere als von Anfang an subversiv, sondern mit diesem Begriff wird deutlich, warum Machtverhältnisse gerade durch ihre Fundierung auf einer Vielzahl unterschiedlicher Formen von Mikro-Praktiken so gut funktionieren. Die Mikro-Macht ist keineswegs eine weniger mächtige Form der Macht als die mit dem Leviathan verbundene juridische Macht, sondern sie durchdringt gleichsam die Poren des gesamten ›Gesellschaftskörpers‹, um eine Metapher von Foucault aufzunehmen, und wird dadurch zu einem höchst effizienten Machtmodus. Damit wird nicht behauptet, dass sich bei Foucault für widerständige Praktiken kein Platz findet, aber sie werden nicht auf dualistische Weise dem Funktionieren von Machtverhältnissen gegenübergestellt.5 Während die frühen Cultural Studies noch deutlich von der Foucault’schen Erbschaft beeinflusst waren – man denke nur an die Arbeiten von Stuart Hall – haben die späteren Generationen der Cultural Studies das Praktiken-Verständnis grundlegender verändert als es auf den ersten Blick scheinen mag. Zu nennen sind hier insbesondere die Arbeiten von John Fiske, die auf exemplarische Weise das widerständige Potenzial von Alltagspraktiken hervorheben. Hatte Stuart Hall (1988) in seinen frühen Arbeiten noch gefragt, wie der Thatcherismus als konservative populäre Kultur – als »people’s capitalism« – funktioniert und welche Mikro-Praktiken diese diskursive Formation zu ihrer Aufrechterhaltung einsetzt, so interessiert sich Fiske in erster Linie dafür, wie sich durch die Praktiken der Lektüre und Zuschauens hegemoniale Bedeutungen untergraben lassen. Fiske geht davon aus, dass massenmediale Produkte, wenn sie populär sein sollen, stets polysemisch sind und sich daher auf unterschiedliche Weisen decodieren lassen. Während die hegemoniale kapitalistische Kultur die Bedeutung 5 | So wendet sich Foucault (1983: 115) explizit gegen die Zweiteilung der Macht in Herrschende und Beherrschte: »Die Macht kommt von unten, d.h. sie beruht nicht auf der allgemeinen Matrix einer globalen Zweiteilung, die Beherrscher und Beherrschte einander entgegensetzt und von oben nach unten auf immer beschränktere Gruppen und bis in die letzten Tiefen des Gesellschaftskörpers ausstrahlt.« Vgl. Stäheli/Tellmann (2002: 253) für eine Kritik an einer Foucault-Lektüre, die mit der klassischen Mikro/Makro-Unterscheidung arbeitet.

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aber homogenisiert, wird die Polysemie erst durch die Unterdrückten verwirklicht: »Die Erfahrungen der Unterdrückten sind vielfältig und zerstreut, während die der Herrschenden zentralisiert und eher singulär sind« (Fiske 2000: 153). Die Fähigkeit zur Polysemie ist also direkt mit der sozialen Position des Empfängers verknüpft: Der hegemonial positionierte Leser wird die Zeitung im Sinne der Macher lesen, der oppositionelle Leser dagegen das Polysemiepotenzial des Textes aktivieren, um auf diese Weise der hegemonialen Codierung ein Schnippchen zu schlagen. Der Rezipient wird zum subversiven Trickster – wobei von vornherein ausgeschlossen ist, dass der hegemoniale Leser sich selbst an der Polysemie des Textes erfreut. Denn dann würde er, so die zirkuläre Logik von Fiskes Argument, per definitionem bereits zum Widerstand gehören. Damit ist auch von Anfang an die für Hall noch interessierende Frage nach konservativen Mikro-Praktiken ausgeklammert. Es sind diese Taktiken subversiver Decodierung, welche Fiske mit dem Praktikenbegriff zu erfassen versucht: »These popular forces transform the cultural commodity into a cultural resource, pluralize the meanings and pleasures it offers, evade or resist its disciplinary efforts, fracture its homogeneity and coherence, raid or poach upon its terrain« (Fiske 1987: 28). Der verdinglichten Logik der Kulturindustrie stehen die Mikropraktiken der Lektüre und Aneignung gegenüber. Indem Fiske Mikro-Praktiken mit Heterogenität gleichsetzt, kann er diese als politisch subversive dem homogenen Machtblock gegenüberstellen. Unbeantwortet bleibt dabei jedoch die Frage, warum Heterogenität notwendigerweise anti-hegemonial sein muss und wodurch der hegemoniale Block seine Homogenität gewinnt. Eine derartige Gegenüberstellung von Homogenität und Heterogenität, von ›oben‹ und ›unten‹ lässt sich nicht problemlos mit Foucault durchführen. In einem Interview Anfang der 1990er Jahre betont Fiske (1993), dass er dazu zwar an Foucault anknüpfe, diesen aber wesentlich weiter entwickeln wolle: »I’m working much more now with notions of discourse, with Foucauldian ideas of knowledge and power, but taking it further than Foucault does, a lot further, by trying to see how there are alternative bottom-up power systems, that contest and clash with the much more homogenous top-down one.«6 Fiske möchte also das Widerstandspotenzial stärken, indem er zwischen einer ›Macht von unten‹ und einer ›Macht von oben‹ unterscheidet und gerade in der Macht von unten die Möglichkeit – mehr noch, die Notwendigkeit – zum Widerstand festmacht. Damit wird die Foucault’sche Machtanalytik freilich gerade ihrer Pointe beraubt, welche versucht, die klassische Opposition zwischen einem homogenen, hegemonialen Machtblock und widerständigen, heterogenen Mächten zu vermeiden, 6 | http://www.let.uu.nl/~Eggo.Mueller/personal/onderzoek/interview-fiske.htm

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160 | Urs Stäheli da diese blind für die Heterogenität von nicht zuletzt auch hegemonialen Machtverhältnissen macht. Wichtiger als Foucaults Machtanalytik wird für Fiske Michel de Certeaus (1988) Versuch, die Praktiken des Alltags zu beschreiben. Am ambivalenten Verhältnis von de Certeau zu Foucault wird deutlich (Schaub 2002), wodurch sich Fiskes Praktikenbegriff von jenem Foucaults unterscheidet. Dieses Verhältnis wirft dann auch Licht auf das uns hier interessierende Problem, wie es dazu kommen konnte, dass der Praktiken-Begriff plötzlich mit Subversionshoffnungen aufgeladen wird. Gegen Foucault betont de Certeau, dass »die untergründigen Formen ans Licht zu bringen [seien], welche die zersplitterte, taktische und bastelnde Kreativität von Gruppen und Individuen annimmt, die heute von der ›Überwachung‹ betroffen sind« (de Certeau 1988: 16). Die Taktiken der Leute und ihre Kreativität werden den Disziplinierungsstrategien, welche Foucault analysiert, entgegengestellt, um auf diese Weise einen Raum des Widerstands zu eröffnen. Denn die Taktiken des Alltags führen für de Certeau zu einer regelrechten Aushöhlung und Vampirisierung der Disziplinartechniken (ebd.: 111). Der allgegenwärtigen Subversivität von Alltags-Taktiken der Leute wird nun ein machtvoller hegemonialer Power-Bloc gegenübergestellt.7 So spricht Fiske (1989) z.B. von einer »finanziellen Ökonomie«, die durch Profitmotive der Produzenten getrieben ist, und einer »kulturellen Ökonomie«, in welcher das Publikum zum Produzenten seiner eigenen Bedeutungen wird. In anderen Kontexten wird ein hegemonialer-patriarchalischer-ökonomischer Machtblock der widerständigen Schaffung von neuer Bedeutung im Rezeptionsprozess gegenübergestellt. Die Konsequenz der vermeintlichen Weiterführung von Foucault ist die Einführung einer Dichotomie, welche die poststrukturalistische Diskurstheorie eigentlich für überwunden hielt: Die Unterscheidung zwischen Mikro- und Makro. Foucaults vielleicht missverständlicher Begriff der Mikro-Analytik führt hier zu einer einfachen Gegenüberstellung von widerständigen Mikro-Praktiken und den MakroPraktiken der Machtapparate. Warum ist diese Gegenüberstellung problematisch? Das Problem liegt nicht daran, dass eine Analytik entwickelt wird, welche sich für die Risse und Brüche des Sozialen interessiert – welche den Dislokationen des Sozialen nachgeht. Ganz im Gegenteil – gerade darin besteht eine Stärke der Cultural Studies. Sie drohen aber diese Stärke vorschnell zu verspielen, indem den unterschiedlichen Logiken der Heterogenisierung und Homogenisierung, des Widerstands und der Macht unterschiedliche Gesellschaftssphären zugesprochen werden. Bereits bei de Certeau entfaltet der Begriff 7 | Die Darstellung der Mikro/Makro-Problematik in den Cultural Studies beruht auf Stäheli (2003).

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der Alltagspraktiken nur dadurch seine Dynamik, dass er einer homogenen Macht gegenübergestellt wird. Die Praktiken des Wohnungseinrichtens etwa eignen sich die Wohnung kreativ an, deren Vermietung aber einer ökonomischen Logik unterliegt. Die Praktik des Vermietens interessiert de Certeau jedoch nicht – obwohl auch hier, oft zu Ungunsten der Mieter, jener Variationsreichtum, welcher die Alltagspraktiken ausmacht, beobachtet werden kann. Problematisch wird das Praktikenkonzept der Cultural Studies also dadurch, dass es das Verhältnis von Subversion und Macht als Aneignungsverhältnis denkt: ein homogener Machtblock wird durch die Mikro-Praktiken des Alltags angeeignet und dadurch ›heterogenisiert‹. Dies setzt aber voraus, dass es überhaupt eine homogene Instanz gibt, die gleichsam von außen unterwandert werden kann. Selbst wenn manchmal auch der Machtblock mit dem Praktikenbegriff beschrieben wird (›hegemoniale Praktiken‹), so ist dessen Einheitlichkeit und Identität immer schon verbürgt – sei es durch die Kapitallogik, einen westlichen Universalismus oder einen anderen vereinheitlichenden Mechanismus. Genau diese Zweiteilung wird mit der Mikro-/Makro-Begrifflichkeit zum Ausdruck gebracht. Die Mikro-Praktiken des Alltags führen zur kritischen und subversiven Aneignung, während auf der Makro-Ebene sich ungestört hegemoniale Logiken entfalten. Dies wird besonders in der bereits erwähnten Annahme von Fiske (1989) deutlich, die von zwei voneinander unabhängigen Kreisläufen ausgeht: einen kulturindustriellen, ökonomischen Kreislauf, der einer eigenständigen Logik folgt, und einem kulturellen Kreislauf, in demdie subversive Lektüre der kulturindustriellen Produkte stattfindet. Die Abriegelung der beiden Kreisläufe voneinander sichert jedoch nicht nur dass es im Rezeptionskreislauf zu Widerstand kommen kann, sondern – und darin liegt die Problematik – dass der Produktionskreislauf vor Heterogenität grundbegrifflich geschützt wird.8

Subversion und Globalisierung Eine derartige implizite – und bei Fiske auch explizite Wiedereinführung einer eigentlich überkommenen soziologischen Kategorie – entfaltet in der Globalisierungsdebatte ihre problematischen Effekte auf besonders deutliche Weise. Die begriffliche Operation, welche die globalisierungstheoreti8 | Vgl. auch die Kritik von Oliver Marchart (2000), der ebenfalls vor den theoretischen und politischen Konsequenzen warnt, welche mit der Fokussierung auf Mikro-Politik einhergehen. Allerdings schlägt Marchart vor, an der Mikro/Makro-Unterscheidung festzuhalten, um auf diese Weise wieder die ›Makro-Aspekte‹ von Politik in den Blick zu rücken.

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162 | Urs Stäheli sche Erweiterung ermöglicht, ist einfach, muss man doch nur die Unterscheidung zwischen dem Lokalen und Globalen mit jener von Mikro- und Makro-Praktiken verbinden. Nun wird das Lokale dem Globalen gegenübergestellt. Wurde zuvor der Rezipient von massenmedialen Produkten zu seinem eigenen Bedeutungsproduzenten, so entstehen nun auf der Ebene des Lokalen neue Bedeutungen – Bedeutungen, die häufig unvorhersehbar sind. Besonders deutlich wird dies in Analysen von globalen Medienprodukten, bei denen nun eigensinnige ›lokale‹ Lesarten untersucht und mit der Uniformität des Globalen kontrastiert werden. Ganz ähnlich wie zuvor die Mikro-Praktiken der Rezeption werden nun die lokalen Praktiken subversiv und widerständig, da sie nicht einfach der globalen Bedeutung folgen, sondern diese auf partikulare Weise artikulieren.9 Auf der Ebene des Lokalen finden nun also Re-Artikulationen statt, subversive Lektüren und Resignifikationsprozesse – und damit wird das Lokale auch zum Ort des Widerstands gegen das Globale. Das Lokale wird etwa bei Arif Dirlik »the site of resistance to capital, and the location for imagining alternative possibilities for the future« (Dirlik 1997: 22). Eine kritische Analyse muss für Dirlik der Autonomie des Lokalen Rechnung tragen und zeigen, auf welche Weise globale Prozesse das Lokale manipulieren und vereinnahmen. Selbst in der differenzierteren Argumentation von Stuart Hall (1991) wird das Lokale zu einer Reaktion oder Antwort (»response«) auf Globalisierungsprozesse – und auch Stuart Hall sieht die Möglichkeit des Widerstands gegen Globalisierung in erster Linie auf der Ebene des Lokalen verankert. Die politischen Konsequenzen aus dieser Position sind deutlich: die Möglichkeit linker Kritik befindet sich auf der Ebene des Lokalen – mehr noch, das Lokale muss in seiner Autonomie bestärkt werden, um dem Globalen etwas gegenüberstellen zu können. Auf den ersten Blick mag eine solche Fokussierung auf eine Vielfalt mikropolitischer Praktiken wie eine Erweiterung des Politischen in die alltägliche Lebenswelt der als Akteure verstandenen Subjekte erscheinen. Gleichzeitig findet aber auch eine Entpolitisierung der als Makro-Ebene konzipierten abstrakten hegemonialen Logiken statt. Dies haben Michael Hardt und Antonio Negri (2000) besonders deutlich hervorgehoben. Den Cultural Studies wird vorgeworfen, das Lokale zu romantisieren – und zu übersehen, auf welche Weise Lokalität produziert wird. Es sei, so Hardt/Negri, auf alle Fälle falsch, zu denken »that we can (re)establish local identities that are in some sense outside and protected against the global flows of capital and Empire« (Hardt/Negri 2000: 45). Ich möchte hier keineswegs für eine Übernahme des Empire-Konzepts argumentieren – dennoch scheint mir die Kritik an der lokal/global-Unterschei9 | Der folgende Abschnitt beruht auf Stäheli (2003).

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dung äußerst wichtig. Sie zeigt, dass das Festhalten an einem Ort jenseits des Globalen zu einer gefährlichen politischen Romantik führt, welche politische Handlungsfähigkeit von vornherein auf lokale Identitätskämpfe beschränkt und sich gleichsam stets in einer reagierenden Haltung gegenüber den anderswo vermuteten globalen Prozessen befindet. Was in den globalisierungstheoretischen Analysen der Cultural Studies eigentümlich dunkel bleibt, sind auch gerade diese Prozesse und damit auch die Kategorie des Globalen. Das Lokale wird, so z.B. in den Worten von Ien Ang (1998), das Spezifische und Konkrete, während das Globale dem abstrakten Universalen entspricht. Es ist unschwer zu erkennen, dass hier die traditionsreiche philosophische Opposition zwischen dem Partikularen und dem Universalen übernommen wird. Statt aber nun zu fragen, auf welche Weise das Universale und Partikulare miteinander verstrickt sind, wird das Partikulare einfach dem Universalen gegenübergestellt, um sich ganz dessen Konkretheit und Vielfältigkeit widmen zu können. Immer wird das Globale dabei als eigenständige Instanz bestimmt, auf welche die lokalen Praktiken reagieren oder die in den lokalen Praktiken ihren Ausdruck finden. Die Konzentration auf die Subversivität lokaler Praktiken führt auf diese Weise dazu, dass das Lokale und Globale auf problematische Weise miteinander verbunden werden: sei es mit Hilfe eines Ausdrucksmodells, das an das bereits von Althusser kritisierte Modell der expressiven Totalität gemahnt. Oder sei es mit Hilfe von kausalen Modellen, welche das Lokale immer schon als Reaktion auf das Globale verstehen. Zwar wird diese Reaktion nun nicht einfach mechanistisch interpretiert, sondern gerade in der Reaktionsweise die Möglichkeit widerständiger Praktiken verortet. Dennoch bleibt aber vorausgesetzt, dass es dieses abstrakte und universale Globale gibt und dass dieses nur durch die lokale Aneignung unterminiert werden kann. Es wird deutlich, dass die Annahme der Widerständigkeit des Lokalen mit einem hohen Preis erkauft wird: dem Phantom des Globalen, das überall seine Wirkungen entfaltet, aber dennoch nirgends zu fassen ist. Das Globale bleibt auf eigentümliche Weise unanalysierbar, da es der Cultural Studies- Forscher immer mit dem Reich konkreter Praktiken zu tun hat – und ihm daher das analytische Werkzeug fehlt, um das Globale analysieren zu können. Indem der Praktikenbegriff weitgehend dem Lokalen zugeordnet wird, wird die Analyse blind für jene durchaus widersprüchlichen diskursiven Praktiken, mit denen ein globales Imaginäres erst geschaffen wird. Erinnern wir uns – der Praktikenbegriff wurde durch seine Betonung von Subjektivierungsweisen, seiner Entwicklung einer Mikroanalytik und die Analyse von Performativität für die Cultural Studies interessant. Wäre eine Konsequenz dessen nicht gerade die Analyse jener diskursiven Mikropraktiken, mit denen das Globale als Welthorizont geschaffen wird? Dies beinhaltete

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164 | Urs Stäheli eine Ausweitung des Praktikenbegriffs auf jene Bereiche, die ansonsten zu schnell einer vermeintlich homogenisierenden und abstrakten Logik des Globalen geopfert werden. Allerdings ist eine derartige Ausweitung nicht einfach durch die Anwendung des Praktikenkonzepts auf bisher unberührte Gebiete zu erreichen. Vielmehr müssen damit auch die in den Praktikenbegriff eingebauten Subversionsgarantien aufgegeben werden. Wenn man nicht von Anfang an immer schon weiß, dass Widerstand auf der Ebene des Lokalen stattfindet und Homogenisierung auf der Ebene des Globalen, dann könnte sich nicht nur die Zuteilung von Widerstand und Hegemonie vertauschen. Mit der bloßen Behauptung, dass das Globale selbst widerständig sei, ist letztlich nichts gewonnen, kehrt man doch nur das Argument der Cultural Studies um. Vielmehr müsste in den Blick geraten, wie die Unterscheidung zwischen dem Lokalen und Globalen konstruiert wird – und welchen diskursiven Kämpfen die Konstruktion dieser Unterscheidung unterliegt. Statt also die Konsequenzen des Praktikenbegriffs auf die eine Hälfte des Sozialen zu beschränken, gilt es, den zumindest in Foucaults Analytik sozialer Praktiken implizierten Postfoundationalism ernst zu nehmen – d.h., sich nicht mit einer vorgefertigten Kompartimentalisierung des Sozialen in Mikro und Makro oder Lokal und Global zufriedenzugeben. Dann erst könnte sichtbar werden, dass sich das Globale nicht mit überkommenen Totalitätsbegriffen denken lässt – sondern dass dieses selbst prekären Praktiken und Paradoxien unterliegt: seien es den bereits erwähnten Kämpfen um die Artikulation der Unterscheidung zwischen Lokal und Global, seien es aber auch den Aporien im so konstruierten Globalen. Auf den ersten Blick mag diese Analysestrategie als eine Depolitisierung des Praktikenbegriffs erscheinen, kann doch nun nicht mehr davon ausgegangen werden, dass man immer schon weiss, welche kulturellen Praktiken zu den widerständigen und subversiven gehören werden. Eine derartige politische Gewissheit übersieht aber ihre eigenen Möglichkeitsbedingungen – mit fatalen Konsequenzen: Die Konstruktion einer Unterscheidung zwischen dem Lokalen und Globalen wird naturalisiert und damit als immer schon Gegebene jeglicher Politisierung entzogen. Gibt man dagegen die Subversionsgarantien im Konzept der Mikro-Praktiken auf, könnten jene Unentscheidbarkeiten sichtbar werden, welche ansonsten von der Annahme einer homogenisierenden Logik des Globalen verdeckt werden.

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Medialität sozialer Praktiken

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) T04_00 resp 4.p 60679394990

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) vakat 168.p 60679395022

Kreativität in der Medienrezeption? | 169

Kreativität in der Medienrezeption? Zur Praxis der Medienaneignung zwischen Routine und Widerstand Udo Göttlich

In diesem Beitrag verfolge ich eine praxistheoretische Einordnung rezeptionstheoretischer Frage- und Problemstellungen. Eine solche Perspektive ist in der Medien- und Kommunikationswissenschaft bislang nicht verfolgt worden. Praxistheoretische Überlegungen zur Rezeption und Aneignung sind eher von Seiten der Cultural Studies bekannt. Den Hintergrund meiner Ausführungen bildet eine handlungstheoretische Rekonstruktion der Rezeptionsforschung, wie sie Hans Joas (1992) mit seiner Konzeption einer »Kreativität des Handelns« angelegt hat.1 Dieser, aus dem Pragmatismus erwachsende Zugriff birgt für die Rezeptionsforschung Konsequenzen, die in einer handlungstheoretischen Kritik bisheriger Analysen von Rezeptionsund Aneignungspraktiken münden. Diese dient als Einstieg zu weiterführenden praxistheoretischen Überlegungen, die an der Analyse von Rezeptionsmodalitäten ansetzen. Die Rekonstruktion bisheriger handlungstheoretischer Positionen in der Rezeptionsforschung zielt auf eine Konstitutionstheorie der Handlung, die im Rahmen situativer Handlungsvollzüge verortet ist und sich zwischen der Relation von Perspektive und Modus des Wahrnehmenden zum Wahrgenommenen ansiedelt. Dieser Zusammenhang lässt sich insbesondere anhand des kommunikativen Austauschs im Rahmen der Aneignung von Neuem analytisch festmachen und inhaltlich verfolgen. Das in diesen Kontexten beobachtbare Aushandeln von Situationsdefinitionen durch Rezi1 | Vgl. auch Göttlich 2001.

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170 | Udo Göttlich pienten stellt eine handlungspraktische Reaktion zur Herstellung von Orientierungs- und Handlungssicherheit hinsichtlich der Rolle und Stellung des Wahrgenommenen dar, die in der dominanten Forschungstradition bislang unter intentionalen Gesichtspunkten eher einseitig behandelt wurde. Als praxistheoretisch fasse ich zunächst relativ unspezifisch jene theoretischen Überlegungen in der Medien- und Kommunikationswissenschaft auf, die sich selbst als interpretativ, pragmatisch, konstruktivistisch oder kulturwissenschaftlich bezeichnen und im letzten Jahrzehnt im unterschiedlichen Ausmaß eine handlungstheoretische Fundierung der Medienrezeption und -aneignung mitangestoßen haben.2 Da die Rezeptionsforschung an der Nahtstelle von Handlung, Semiotik und Textualismus operiert, ist im Unterschied zu bestehenden praxistheoretischen Positionen – wie etwa dem Habituskonzept Bourdieus – eine stärkere Engführung auf handlungstheoretische Grundfragen notwendig. Es geht darum, die in Rezeptionsmodalitäten eingeschlossen liegenden handlungspraktischen Probleme zwischen Routine und Widerstand theoretisch zu fundieren. Diese Fundierung wiederum ist erst als Ergebnis eines rekonstruktiven, am Kreativitätsbegriff orientierten Zugriff auf die Handlungstheorie zu leisten.3 Die auf eine praxistheoretische Wende in der Rezeptionsforschung hinweisenden Entwicklungsschritte werde ich nach einer einleitenden Hinführung auf die dazugehörenden Motive im dritten und vierten Abschnitt anhand einer handlungstheoretischen Kritik des Aktivitätsbegriffs im Nutzenansatz bzw. des Uses and Gratifications-Ansatzes und der Cultural Studies exemplarisch vertiefen. Die Gründe, warum diese »Wende« in den beiden theoretischen Richtungen jeweils nur eingeschränkt vollzogen wurde, sollen hierbei aber weniger interessieren als die präsentierten Lösungen, die es für eine handlungstheoretische Einbindung zu reformulieren gilt. Im fünften Abschnitt werde ich anhand zweier Beispiele zur Nutzungsweise von Daily Soaps, Daily Talks und der Sendung Big Brother der sich in Rezeptionsmodalitäten zeigenden Routine und Widerstand nachgehen und die Diskussion der praxistheoretischen Herausforderung für die Rezeptionsforschung im sechsten Abschnitt abschließen.

2 | Vgl. u.a. Morley (1992); Ang (1999); Krotz (2001); Weiß (2001). 3 | Dies ist im Rahmen dieses Beitrags nicht zu leisten, weshalb die Problemstellung und Darlegung der Fluchtpunkte genügen muss. Vgl. ausführlich Göttlich (2004): Kreativität in der Medienaneignung. Zur handlungstheoretischen Kritik der Wirkungs- und Rezeptionsforschung, unveröff. Ms., 380S.

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Kreativität in der Medienrezeption? | 171

Zur handlungstheoretischen Wende in der Rezeptionsforschung Eine praxistheoretische Ausrichtung und Fortentwicklung der Rezeptionsforschung ist ohne eine notwendige (nachholende) handlungstheoretische Fundierung kaum zu bewältigen. Ziel ist es, die für je verschiedene Sendeformen je unterschiedlichen Formen der Teilhabe, Nutzung sowie Wahrnehmung des medialen Geschehens zu erfassen und dabei ihre zwischen Routine und Widerstand gelegene Ausprägung als Ausdruck der Kreativität des Handelns zu analysieren. Es handelt sich um eine Fragestellung, die nicht allein die ›konstruktiven‹ Aktivitäten des Publikums in den Mittelpunkt stellt, sondern an dem Problem der selbstreflexiven Steuerung unseres Verhaltens interessiert ist und utilitaristisch verkürzte Handlungsvorstellungen zurückweist. Im Gegensatz zur Soziologie des Alltags fehlt der Rezeptionsforschung bislang aber eine umfassende handlungstheoretische Durchdringung des kommunikationswissenschaftlichen Feldes, die auch als Vorstufe praxeologischer Zugriffe gewertet werden kann. Die Rolle, die die Praxistheorie bereits in der Alltags- oder Techniksoziologie spielt, lässt sich insbesondere bei jenen Fragestellungen verfolgen, in denen eine handlungstheoretische Fundierung des Forschungsgebietes längst nicht mehr in Frage steht. Für die Rezeptionsforschung ist eine solche Selbstverständlichkeit jedoch nicht gegeben, zumal diese unter den starken Nachwirkungen der Wirkungsforschung mit ihren Annahmen zur Rationalität der Handlung steht.4 Andererseits gehört es auch für diese Forschungsrichtung mittlerweile zu einem Allgemeinplatz, dass sich die Mediennutzung als aktiver Prozess bzw. als Publikumsaktivität beschreiben und begreifen lässt, die in der Interaktion zwischen Rezipient und Medienangebot angesiedelt ist. Aber diese Aktivitäts-Auffassung ist weder ausreichend handlungs- noch überhaupt praxistheoretisch fundiert. So hat Jäckel (1995) aus soziologischer Perspektive darauf aufmerksam gemacht, dass der Interaktionsbegriff in der Medien- und Kommunikationswissenschaft an den Stellen Verwendung findet, in denen offensichtlich kein wechselseitiger Austausch über den gemeinten Sinn stattfindet. Im soziologischen Sinne geht es daher strenggenommen nicht um Interaktion, was der Begriffsverwendung in der Kommunikationswissenschaft bislang jedoch keinen Abbruch getan hat. So steht Interaktion »als Oberbegriff für Aktivitäten« und »als Teil der Publikumsaktivität«, ohne dass eine »Interaktion im soziologischen Sinne« stattfindet (vgl. ebd.: 468ff.). Deutlich wird diese Verwendung auch anhand eines Ver4 | Das gilt erstaunlicherweise gerade für die Stellen, in denen die Wirkungsforschung psychologisch argumentiert.

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172 | Udo Göttlich gleichs des Aktivitätsbegriffs im Uses and Gratifications-Ansatz mit dem der Cultural Studies.5

Theoretische Landmarken I: Der Zuschauer im Fokus der traditionellen Wirkungsforschung sowie interaktionistischer Modelle der Medienrezeption Eine erste Hinwendung zu der für unsere Perspektive wichtigen aktivitätsorientierten Ausrichtung der Rezeptionsforschung deutete sich bereits in den späten 1950er Jahren mit der Umformulierung der wirkungstheoretischen Ausgangsfrage »What do the media do to people« zu der Frage »What do the people do with the media« im Uses and Gratifications-Ansatz an. Hier wurde die Perspektive der klassischen Wirkungsforschung (StimulusResponse Ansatz) erstmals umgestellt – wenn auch bis heute nicht grundsätzlich verworfen (vgl. Renckstorf 1989). Es war aber ein erster Ausgangspunkt für eine Reorientierung innerhalb der empirisch-analytischen Forschungsrichtung gegeben, die weiterführende handlungstheoretische Überlegungen, wenn auch konzentriert auf das utilitaristische Handlungsverständnis, einschloss. In den folgenden Jahrzehnten wurden diese Überlegungen mit einer Reihe rezeptionstheoretischer Modelle weiter vertieft. Gegenstände einer solchen Einbindung der Aktivitätsvorstellungen waren u.a. die »subjektiven Relevanzsetzungen«, das »interpretations- und deutungsfähige Vorwissen«, die »Motivbildung« und die »Zukunftsorientierung« der Rezipienten bei der Hinwendung zu Medienangeboten (vgl. Holzer 1994: 36f.). Die damit verbundenen Fragen der Wirklichkeitskonstruktion und der Sinn- und Bedeutungszuweisung durch die Rezipienten wurden jedoch lediglich marginal angeschnitten. Die in dieser Perspektive unzweifelhaft vorhandenen handlungstheoretischen Aspekte der Erklärung von Auswahl- und Entscheidungsprozessen lösten sich weithin in einen verhaltenstheoretischen Reduktionismus auf (vgl. ebd.: 27). Eine praxistheoretische Durchdringung der Mediennutzung setzt offenbar mehr voraus, als eine interaktionistische, auf individuelle Präferenzen bezogene Beschreibung leisten kann. Um diese Erweiterung und ihre methodische Zulässigkeit geht bis heute der ›Streit‹ zwischen Wirkungsund Rezeptionsforschung in der Analyse und Beschreibung von ›Rezeptionsmodalitäten‹.6 Die Überführung der interaktionistischen Motive der 5 | Die in den beiden Forschungsrichtungen feststellbaren Differenzierungen können in diesem Rahmen nicht grundlegend behandelt werden. 6 | Bei diesem Begriff ist im Übrigen – je nach Perspektive – nicht leicht zu unterscheiden, was er umschließt. Praxistheoretisch jedenfalls lässt er sich als kom-

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Kreativität in der Medienrezeption? | 173

Medienzuwendung in die praxistheoretische Analyse der Alltagsbewältigung bezeichnet dabei die Problemstellung, der sich die Cultural Studies mit ihren spezifischen Methoden zur Erfassung des aktiven Zuschauers im Kontext der ethnographischen Zuschauerforschung (ethnographic audience studies) zugewandt haben.7

Theoretische Landmarken II: Der Zuschauer im Fokus der Cultural Studies und der ethnographischen Zuschauerforschung In der internationalen Rezeption sind die Cultural Studies mit ihren auf widerständige Lesarten und Praktiken bezogenen Deutungen des Umgangs von Rezipienten mit der Populärkultur als herausragendes Beispiel für die Öffnung der Medienwissenschaft zu praxistheoretischen Fragen hervorgetreten. Den Ausgangspunkt der Cultural Studies-Perspektive bildet das von Stuart Hall bereits zu Beginn der siebziger Jahre formulierte und vielfach behandelte und besprochene »Encoding/Decoding«-Modell (Hall 1999 [1973]). Die möglichen Dekodierungsweisen oder Lesarten von Texten hatte Hall in dem theoretischen Konzept des Encoding/Decoding-Modells einzugrenzen gesucht.8 Dazu unterschied er zwischen drei Lesarten von ›Texten‹: a) eine dominante Lesart des Textes bzw. der Medienbotschaft, die wesentlich vom Text vorstrukturiert wird: die Vorzugs-Lesart (»preferred reading«), b) eine vermittelnde, ausgehandelte Lesart (»negotiated reading«), die wesentlich durch die soziale Position des Zuschauers mitstrukturiert wird, c) die oppositionelle Lesart (»oppositional reading«), die auf subversive Lesarten von Texten verweist. Mit dem letzten Punkt war angedeutet, dass Medienangebote auch entgegen ihren manifesten oder latenten Bedeutungsgehalten dekodiert werden können, wobei diese (erstmalige) Annahme der Widerständigkeit noch durch die Vorstellung der Text-Polysemie gestärkt und weiter differenziert wurde. Das als kulturelles Kreislaufmodell konzipierte Rezeptionsmodell ist im Rahmen zahlreicher Studien angewandt und überprüft worden und hat dabei eine Reihe von Reformulierungen wie Präzisierungen erfahren. Diese erfolgten u.a. vor dem Hintergrund der Frage, inwiefern die von der Schichplexe – routinisierte oder widerständige – Handlungsweise fassen, mit der die Medienzuwendung und Aneignung erfolgt. Aus wirkungstheoretischer Perspektive wird der Begriff hingegen die Momente der Auswahl, Aufnahme und Wirkung wie etwa Eskapismus umschließen. 7 | Die Arbeiten von David Morley (1986), Ien Ang (1991) und John Fiske (1987) stellen hierzu erste wichtige Zugänge dar. 8 | Den Bezugspunkt bildete die Theorie der Bewusstseins-Systeme des britischen Soziologen Parkins (1971).

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174 | Udo Göttlich tungssoziologie thematisierten Strukturen des Alltagslebens die Dekodierung anleiten und somit wahrnehmungs- und handlungsformierend wirken, oder ob auch andere, wie »interpretative Gemeinschaften« und deren Alltagspraktiken entspringende Besonderheiten mit einzubeziehen sind (Lull 1990).9 Entscheidend ist, dass sich die mit spezifischen Positionen verbundenen unterschiedlichen Rezeptionsweisen nicht in Anlehnung an das Habituskonzept unmittelbar praxistheoretisch umformulieren lassen, sondern eines handlungstheoretischen, am Kreativitätsbegriff orientierten Übersetzungsschritts bedürfen. Den Ort hierfür bilden die Rezeptionsmodalitäten. So wurde aus der Perspektive des Polysemiekonzepts deutlich, dass der »Kampf« um Bedeutungen ein äußerst wechselvolles Handlungsfeld von Widerstand und Unterordnung, Opposition und Komplizenschaft, Affirmation und Kritik ist, das sich nicht nur unter dem Einfluss und der Kontrolle sozialer Machtstrukturen vollzieht, sondern auch auf der semiologischen und schließlich diskursiven Ebene angesiedelt ist. Die Vorstellung der Polysemie sprachlicher Zeichen und Texte deutet darauf hin, dass die Lesarten über sozio-strukturelle Variablen hinaus durch geschlechtstypische, ethnische und kulturelle Aspekte beeinflusst und hierüber wieder an gesellschaftliche Strukturierungen zurückgebunden sind.

Fernsehunterhaltung und Rezeptionsmodalitäten: Medienaneignung zwischen Routine und Widerstand Aus handlungstheoretischer Sicht kann im Sinne des Symbolischen Interaktionismus soziale Wirklichkeit als Konstrukt des sozialen Handelns begriffen werden. Insofern kommt auch der Mediennutzung Bedeutung für diese Konstruktionsleistung zu. Zugleich gilt es aber, die gesellschaftlichen, kulturellen und symbolischen Strukturierungen zu berücksichtigen, die die Stellung der Medien und der Medienangebote im Netz der Alltagskommunikation mitbestimmen. Sollen aber Gebrauchs- und Nutzungsweisen von Medien als Ausdruck spezifischer Alltagspraktiken verstanden werden, die durch den gesellschaftlichen Medienumgang mitbestimmt sind, muss die Analyse über das Ensemble interaktionistisch gedachter Formen der Medienwahrnehmung hinausgeführt und die Kreativität des Handelns miteingeschlossen werden. Die Erweiterung der Handlungstheorie durch den kreativen Charakter der 9 | Das Konzept der »interpretativen Gemeinschaft« stellt wiederum nur ein Modell unter weiteren dar, mit denen Wahrnehmung und Rezeption neu zu fassen gesucht wurde.

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Kreativität in der Medienrezeption? | 175

Handlung zeichnet sich dadurch aus, dass sowohl funktionalistische als auch Theorien rationalen Handelns in einem Situationsmodell aufgehoben werden, das auch die Selektion als konstitutiven Akt für Handlungen begreift. Der Kreativitätsbegriff versucht eine Antwort auf das Problem zu geben, wie Handlungssituationen im Modus fundamentaler Unsicherheit bewältigt werden können. Dies ist allein deshalb von Bedeutung, da die in funktionalistischen Theorien behauptete Regelhaftigkeit und Normorientierung der Handlung in der Konfrontation mit Neuem und Unerwartetem verloren geht, was in Rezeptionssituationen recht häufig der Fall ist. Die Frage bzw. das Problem von Routine und Widerstand stellt sich aus praxistheoretischer Sicht insbesondere in Situationen des Neuen, die eingeübte Handlungsweisen nicht nur herausfordern, sondern auch zu eigenständigen und möglicherweise widerständigen Rezeptionsmodi führen können, auf die insbesondere die Cultural Studies aufmerksam gemacht haben. Widerständigkeit in der Rezeption kann sich zum Beispiel gegen die Absicht der Produktionsseite richten, nur ein spezifisches Zielgruppenpublikum anzusprechen. So kann eine unerwartete Zielgruppe zum Hauptinteressenten eines Programms werden. Widerständigkeit kann aber auch in einer gegen den dominanten Inhalt gerichteten Deutungspraxis liegen10, die schließlich auch zum Abbruch des Rezeptionsinteresses führen kann. Beispiele für diese und weitere Praktiken, die auf eine Wechselwirkung von Produktionsseite und Publikum verweisen, liefert John Tulloch (1999) in seiner Studie zur Serie »A Country Practice«. Die Studie zeigt, wie die auf der Produktionsseite gehegten Auffassungen über mögliche Zuschauerreaktionen die Entwicklung von Soap-Geschichten mitbestimmten. Die kulturelle Rolle von Medien ist dann als das Resultat von Handlungen zu fassen, das selbst wiederum handlungs- und bedeutungsformierend wirkt. Praxistheoretisch von Interesse an dieser Wechselwirkung ist die Frage, wie in widerständiger Reaktion auf etwas Neues zugleich auch Neues entsteht. Ein solcher Prozess bietet nur ein Beispiel für die vielfältigen, sich in der Rezeption und Aneignung stellenden Praxisprobleme. Aber es sind auch mögliche Einschränkungen zu bedenken, die in einer Überbetonung des Widerständigen, d.h. von widerständigen Lesarten liegen können. Diese Einschränkung wird gerade dadurch verstärkt, dass Alltagsroutinen in den Analysen der Cultural-Studies bislang kaum interessierten und die als widerständig ausgewiesenen Umgangsweisen vielfach ein einseitiges Bild der Publikumsaktivität zeichneten. Auch der habitualisierte Umgang stellt einen aktiven Umgang mit Medien dar und bildet häufig ei10 | Diese Position trifft sich am offensichtlichsten mit dem Widerstandsbegriff bei Fiske (1987).

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176 | Udo Göttlich ne Voraussetzung für die Aufnahme von neuen, bis dahin ungewohnten oder unbekannten Angeboten. So gründet Medienrezeption zu überwiegenden Teilen in Routinen und Habitualisierungen, die eingeübte Praxisformen stützen. Ob und wie sich die Medienaneignung und Medienrezeption zwischen Routine und Widerstand abspielt, scheint mir im Hinblick auf die ausstehende Beschreibung und Analyse von Rezeptionsmodalitäten als Ausdruck spezifischer Praxisformen der Medienaneignung daher als eine noch offene Frage. Das handlungstheoretische Problem lässt sich vor allem an der Zuwendung zu unterschiedlichen Genres im Rahmen von so genannten Medienmenüs verfolgen und diskutieren. In den Blickpunkt tritt dabei die wechselseitige Bezugnahme auf unterschiedliche Genres bzw. Formate, deren handlungspragmatischen Voraussetzungen trotz der geschilderten Anstrengungen in der Rezeptionsforschung bislang weitestgehend im Dunkeln liegen. Einer der Gründe hierfür besteht darin, dass Analysen zur Rezeption einzelner Genres oder Formate bislang überwiegen, da diese aus der Perspektive der Wirkungsforschung auch methodisch handhabbarer sind. Im Rahmen einer umfangreichen Studie haben wir erste Schritte zur Analyse von Medienmenüs unternommen, indem wir der Frage nach dem Zusammenspiel von Daily Soaps, Daily Talks sowie der Sendung Big Brother nachgegangen sind (vgl. Göttlich et al. 2001). Die Analyse dieses Zusammenhangs war vielversprechend, da diese drei Genres zum Untersuchungszeitpunkt einen zentralen Bezugspunkt in der Mediensozialisation Jugendlicher bildeten. In ihnen werden alltägliche Situationen mit unterschiedlichen formalen Mitteln und thematischen Setzungen dargestellt. Die Tatsache, dass die Sendung Big Brother zum Zeitpunkt der durchgeführten Untersuchung zudem ein vollkommen neues Fernsehangebot11 bildete, verstärkte zudem die Frage nach möglichen unterschiedlichen Aneignungspraktiken. Hinsichtlich der von den jugendlichen Rezipienten zu leistenden Einordnung dieser unterschiedlichen Angebotsformen ist zunächst von einer Herausforderung ihrer habitualisierten Rezeptions- und Aneignungsweise auszugehen. Die Aneignung eines neu hinzutretenden Genres – was mit der Sendung Big Brother im Jahr 2000 der Fall war12 –, ist nicht allein an11 | Als so genannte Real Life Soap lässt sich Big Brother dem von Brunsdon et al. (2001) vorgeschlagenen Konzept des factual entertainment zuordnen. 12 | Die Daily Soaps und Daily Talks finden hingegen seit 1992 ihre Verbreitung im deutschen Fernsehen und stellten mit ihrer starken Verbreitung seit 1995 ein dominantes Medienangebot im Programm der öffentlich-rechtlichen und privaten Anbieter dar.

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hand der Abarbeitung von vorgängig gesetzten Verhaltens- und Handlungsweisen zu erklären, wie es in der Wirkungsforschung aber auch dem Uses and Gratifications-Approach geschieht. Die bisherigen Routinen der Rezeption und Aneignung wurden durch das neue Angebot deutlich herausgefordert.13 Verdeutlichen lässt sich dies anhand von beispielhaften Auszügen aus Gruppendiskussionen. Wie die Verläufe der Diskussionen zeigen, entwickeln Jugendliche aus dem Vergleich mit verwandten Formaten wie Daily Soaps und Daily Talks eine erste Einordnung des neuen Formats und gleichen diese im Rahmen ihrer Alltagskommunikation ständig ab. Aufgrund des genrespezifischen Inszenierungscharakters alltäglicher Situationen geht es dabei vor allem um das Verhältnis von Fiktionalität und Wahrhaftigkeit bzw. Inszenierung und Authentizität und damit um die Frage nach dem Realitätsgehalt des dargestellten Alltags. Erst in zweiter Linie werden die thematisch-inhaltlichen Aspekte in diesen Genres als Lösungsangebote für eigene Alltagskonflikte relevant.14 Vor diesem Hintergrund lassen sich eine fiktions- von einer realitätsorientierten Lesart und eine habitualisierte von einer sporadischen Rezeption unterscheiden (vgl. Göttlich et al. 2001: 82), mit denen unterschiedliche Bedeutungsschichten erschlossen werden. Zur Diskussion des Problemzusammenhangs wähle ich aus einer Reihe ähnlich gelagerter Beispiele zwei exemplarische Sequenzen aus Gruppendiskussionen mit Schülern zu Rezeption und Aneignung von Daily Soaps, Daily Talks und der Sendung Big Brother aus. Der erste Interviewauszug stammt aus einer Gruppendiskussion, die mit 13- und 14-jährigen Mädchen und Jungen eines Gymnasiums einer Großstadt im Westen der Bundesrepublik geführt wurde. Insgesamt bestand die Gruppe aus 7 Personen. Auffällig ist, dass trotz der negativen Einschätzungen der Sendung Big Brother zu Beginn der Gesprächssequenz, keine grundsätzliche Ablehnung, sondern eine Auseinandersetzung über den ›Reiz‹ des neuen Formats erfolgt. Der Vergleich und die im Vergleich

13 | Die Kreativität der Handlung wird dadurch wirksam – hierauf hat Kurt Imhof in seiner Kritik der Handlungstheorie verwiesen –, »wenn die kognitiven Gewissheiten und normativen Überzeugungen – ihrer Fraglosigkeit enthoben – keine Distinktionskraft zur Unterscheidung von Deutungsalternativen mehr besitzen« (Imhof 2002: 212). 14 | Diese Frage zielt auf das mit der Medienaneignung im Zusammenhang stehende Problem des Beitrags unterschiedlicher Genre für die Lebensbewältigung Jugendlicher. Gegenüber der im vorliegenden Fall verfolgten Frage handelt es sich um eine sozialisationstheoretische Engführung von Ergebnissen der Rezeptionsforschung.

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178 | Udo Göttlich aktualisierten Lesarten spielen für die Einordnung und Deutung eine entscheidende Rolle: Junge I: Also ´ne Soap, die ist ja von Anfang so ausgelegt, wenn man die guckt, die versucht, nicht krankhaft realistisch zu sein. Wenn man die guckt, ist das klar, das ist eine Geschichte. So, und wenn man sich jetzt eine Talkshow ansieht, ja, dann kommen die Leute da rein, fangen an zu diskutieren, das soll jetzt echt sein, und wahrscheinlich werden die aber sowieso dafür bezahlt irgend ´ne komische Meinung da zu haben. (w): Eben. Junge I: Und da werden die Leute so unterschiedlich bezahlt, dass sie nach Möglichkeit möglichst heftig in die Wolle geraten oder, dass die sich dann anfangen sollen zu kloppen und das natürlich die Leute dann toll finden. Mädchen I: Ich finde ja aber irgendwie, das Deutsche Fernsehen steigert sich in solche reellen Shows immer mehr rein. Erst waren es die Daily Soaps, dann kamen die Talkshows und jetzt Big Brother. Ich weiß nicht, ob das noch krasser geht. Ich finde, Big Brother schon ziemlich krass in solchen Sachen. Junge I: Big Brother ist irgendwo scheiße. Ich habe das einmal nur geguckt. Ich finde das erst mal überhaupt, ich weiß nicht, totale Spannerei irgendwie, da irgendwelchen anderen Leuten beim Leben zuzugucken, aber die sitzen dann den ganzen Tag auf dem Sofa und unterhalten sich, was sie irgendwann in ihrem Leben gemacht haben, wie sie mal eine Freundin gekriegt haben. Dann sieht man die schlafen, ´ne Viertelstunde lang sieht man die schlafen! Mein Gott, das kann ich aber selber, eine Kamera in mein Zimmer bauen, mich schlafen gucken (Lachen). […] Mädchen I: Für mich ist auch der Reiz dabei, wenn man diese Typen sieht, die da von dieser Kamera beobachtet werden, dass sie auch genau wissen und in dieses Spiel eingestiegen sind, dass man sich immer überlegt, wie wäre das denn, wenn ich denn mal dabei wäre, und sich das dann dabei vorstellt. Und das ist vielleicht auch der Reiz daran.

Dass der ›Reiz‹ des Angebots offensichtlich im Spiel und dem Spielregelkatalog besteht, den man auf sein eigenes Verhalten anlegt und dann danach fragt, wie man sich selber verhalten würde, kann als Hinweis auf die Wirksamkeit des performativen Rahmens der Inszenierung dieses Programmangebots gedeutet werden. Der Begriff des Performativen weist darauf hin, dass an die Stelle eines referenziellen Verständnisses von Medienbotschaften ein auf die Ereignishaftigkeit und den Aufführungscharakter von Handlungen basierendes Verständnis dieser Genres zur Anwendung kommt. So beobachten und bewerten die Rezipienten die Fähigkeit der Kandidaten, die Format-Rahmung für ihre jeweiligen Handlungsziele möglichst geschickt einzusetzen und für ihre Selbstinszenierung – auf der das Sendekonzept beruht – zu nutzen. Die Bandbreite an Reaktions- und Handlungsmöglichkeiten macht das Spiel der Kandidaten miteinander aus, wird dann aber durch die Rezipienten auf das mögliche Verhalten in Alltagssituationen bezogen. In diesem

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Kontext sind die Rezipienten »Produzenten und Rezipienten« von Einordnungen, die auf der selbstreflexiven Steuerung des Handelns in Situationen als Ausdruck ihrer Kreativität ruhen. In der Aneignung erarbeiten sie subjektive Interpretationen über Sachverhalte und Werte, wobei sie sich zugleich in einem Diskurs mit ihrer Peer Group über die Genres befinden, in der die Sachhaltigkeit ihrer Evaluation überhaupt erst erfahren wird.15 Diese Aneignungspraxis verweist auf einen kreativen Umgang mit Medienformaten und -angeboten, der noch nicht zwangsläufig als eine Praxisform, sondern zunächst – je nach Genre – an habitualisierten oder sporadischen Umgangsweisen sowie einer realitäts- und fiktionsorientierten Lesart gebunden ist. Sie äußert sich in unterschiedlichen Rezeptionsmodalitäten, deren Kombination und der in der Kombination zum Ausdruck kommenden Aneignungsweisen, die wiederum in der Gruppe kommuniziert werden. Der folgende exemplarische Auszug verdeutlicht hierzu, wie die Einschätzung der Genres und ihre Bewertung aus einem Vergleich der unterschiedlichen Unterhaltungsformate und ihrer inszenatorischen und dramaturgischen Regeln gewonnen wird. Während es für die Soaps selbstverständlich ist, dass es sich um eine Inszenierung nach Drehbuch handelt, wird der inszenatorische Charakter der Sendung Big Brother im Gespräch zwar angemerkt, aber die Darstellungen gerade als ›nicht gespielt‹ im Sinne von nicht-fiktional – aber darum nicht gleich auch realistisch – bewertet. Die Gesprächsgruppe setzte sich aus 12 Mädchen im Alter von 13 bis und 17 Jahren einer Gesamtschule aus einer Großstadt im Osten Nordrhein-Westfalens zusammen. Frage: Also, im Moment is’ Big Brother interessant?! (Zustimmung) Mädchen II (17 Jahre): (lachend) Auf jeden Fall, ja! Mädchen III (15 Jahre): Für alle Leute auch. Frage: Was is’ denn da anders als in den Soaps? (): [Ja, da gibt’s keine Drehbücher. .. Ja. Mädchen III (15 Jahre): Ja, in den Soaps, da is’ das] auf Drehbuch, und bei Big Brother is’ das so, äh, -das is’ das normale [Leben. Mädchen I (13 Jahre): Die denken] sich das nich’, äh, die haben das nich’ vorher ausgedacht. [Die reden einfach nur. Mädchen III (15 Jahre): Nee, die tun einfach, was sie wollen.] Mädchen III (15 Jahre): Und dass die Kameras dabei sind. (): Ja, aber … Mädchen IV (14 Jahre): Die langweiligen Szenen werden dann rausgeschnitten; oder die interessanten, weil manchmal is’ halt auch ziemlich langweilig. Dann sitzense dann [nur und trinken Kaffee und … 15 | Vgl. auch Imhof 2002: 211.

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180 | Udo Göttlich Mädchen III (15 Jahre): Zum Beispiel … ja, genau, wenn die zum Beispiel streiten oder so, dann zeigense das meistens. Sonst wenn die da jetz’ so sitzen … Mädchen V (14 Jahre): Ich find’, da merkt man das doch eben, dass es das richtige normale Leben is’, und nicht, dass das normale Leben gespielt wird irgendwie. Weil dann kommt es ja total übertrieben rüber. Und die im Big-Brother-Haus sind ja einfach so, wie sie sind. Is’ ja einfach so. Und bei den Daily Soaps is’ das irgendwie … Mädchen I (13 Jahre): (zustimmend) Mhm. Bei den Soaps, da, wenn die sich da streiten, dann weiß man, dass das nur gespielt is’. Und wenn man Big Brother guckt, dann weiß man, dass das nich’ gespielt is’, [dass es ernst is’. Mädchen II (17 Jahre): Ja, das is’ wesentlich interessanter.]

Bei den drei im Gespräch behandelten Fernsehformaten überwiegt mit der Reduzierung der Themen auf den Nahbereich interpersonaler Beziehungen für die Rezipienten offensichtlich eine Konvergenz, die sich mit den von Jugendlichen präferierten Themen wie Liebe, Partnerschaft, Freundschaft, Musik, aber auch Schule trifft. Die Genres bieten das Rohmaterial zur Verständigung über mediale Konstruktionen von Alltag und Alltäglichkeit, von dem ausgehend die jugendlichen Rezipienten nicht nur zu einer Selbstauslegung im Sinne einer Verortung ihrer eigenen momentanen Situation, sondern auch zu kritischen Bewertungen gelangen können, die ihnen Einblick in ihre Situation gewähren oder auch zur Erfahrungsverarbeitung beitragen.

Alltagspraktische Herausforderungen medialer Performanz Die in beiden Gruppendiskussionsauszügen zum Ausdruck kommenden Rezeptions- und Aneignungsweisen sind im Wesentlichen Ergebnisse einer »Rezeptions-Bricolage«, die ein jüngeres Phänomen in der Medienaneignung darstellt (vgl. Göttlich et al. 2001: 325). Die von den Jugendlichen angestellten und unterschiedlich weit ausgeführten thematisch-inhaltlichen Vergleiche sowie die wechselseitig hergestellten Genre- und Alltagsbezüge lassen sich im Rahmen von Rezeptionsmodalitäten verorten. In ihnen kommt es zu einer Überprüfung des Wahrgenommenen anhand von Kriterien, die sich aus den unterschiedlichen Zugängen einer fiktions- bzw. realitätsorientierten Rezeptionsweise ergeben, wobei im Rahmen von Medienmenüs (mit ihren Genreverschränkungen) die Ebenen durch wechselseitige Vergleiche auseinander gehalten oder aufeinander bezogen werden. Die Kenntnisse der ›Performanzen‹ im Unterhaltungsangebot bilden eine weitere Ressource für den Umgang mit neuen Formen der Alltagsdarstellung und Alltagsdramatisierung. Entscheidend ist, dass die Jugendlichen neben

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Kreativität in der Medienrezeption? | 181

dem grundsätzlichen Inszenierungscharakter auch die Risse bzw. Brüche in den Inszenierungen erkennen und entsprechend für ihre Bewertung als fiktionaler oder authentischer Situationsschilderung heranziehen. Einen zusätzlichen Bezugspunkt bildet die eigene alltagspraktische Erfahrung, die auf die wahrgenommenen Situationen und Lösungen in jenen Sendungen, in denen zusehends auch ›Alltagsmenschen‹ (als KandidatInnen der hier behandelten Sendungen) in unterschiedlichen Alltagssituationen auftreten, angewandt wird. Die dargestellten Probleme und Konflikte der Sendungen liefern im Gegenzug durchaus auch Modelle zur Bewältigung eigener alltäglicher Probleme – und sei es im Sinne einer negativen Abgrenzung durch die Rezipienten, worin Momente des Widerstands zum Ausdruck kommen können. Routine und Widerstand verweisen in diesem Fall eng aufeinander. Demnach lohnt es sich kaum, Widerstand gegenüber einzelnen Medienangeboten auszuweisen, wenn die praxistheoretische Herausforderung darin besteht, die Entstehung kultureller Hegemonie – als ein Problem kritischer Medienforschung in der Tradition der Cultural Studies – im Zusammenspiel der Genres und im Prozess der Mediatisierung zu erschließen. Dazu braucht es einer theoretischen Hinwendung zu Routine und Widerstand, die auch in den Praxistheorien noch keineswegs vollzogen ist. Ohne ›Umweg‹ über die Kreativität der Handlung wird sich dieser Zusammenhang nicht aufklären lassen.

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182 | Udo Göttlich Göttlich, Udo/Krotz, Friedrich/Paus-Haase, Ingrid (Hg., 2001): Daily Soaps und Daily Talks im Alltag von Jugendlichen, Schriftenreihe Medienforschung der Landesanstalt für Rundfunk Nordrhein-Westfalen Bd. 38, Opladen: Leske + Budrich. Hall, Stuart (1999): »Kodieren, Decodieren«, in: Roger Bromley/Udo Göttlich/Carsten Winter (Hg.), Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung, Lüneburg: zu Klampen, S. 92-110. Holzer, Horst (1994): Medienkommunikation. Einführung in handlungs- und gesellschaftstheoretische Konzeptionen, 2. Aufl., Opladen: Westdeutscher Verlag. Imhof, Kurt (2002): »Unsicherheit und Kreativität – Zwei Kernprobleme der Handlungstheorie«, in: Klaus Neumann-Braun (Hg.): Medienkultur und Kulturkritik, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 200-215. Jäckel, Michael (1995): »Interaktion. Soziologische Anmerkungen zu einem Begriff«, in: Rundfunk und Fernsehen 43, S. 463-476. Joas, Hans (1992): Die Kreativität des Handelns, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Krotz, Friedrich (2001): Die Mediatisierung kommunikativen Handelns. Der Wandel von Alltag und sozialen Beziehungen, Kultur und Gesellschaft durch die Medien, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Lull, James (1990): Inside Family Viewing. Ethnographic Research on Television´s Audiences, London, New York: Routledge. Morley, David (1986): Family Television. Cultural Power and Domestic Leisure, London, New York: Routledge. Morley, David (1992): Television, Audiences & Cultural Studies, London, New York: Routledge. Morley, David (1996): »Medienpublika aus der Sicht der Cultural Studies«, in: Uwe Hasebrink/Friedrich Krotz (Hg.), Die Zuschauer als Fernsehregisseure, Baden-Baden: Nomos, S. 37-51. Parkin, Frank (1971): Class Inequality and Political Order. Social Stratification in Capitalist and Communist Societies, London: MacGibbon & Kee. Renckstorf, Karsten (1989): »Mediennutzung als soziales Handeln. Zur Entwicklung einer handlungstheoretischen Perspektive der empirischen (Massen-)Kommunikationsforschung«, in: Max Kaase/Winfried Schulz (Hg.), Massenkommunikation. Theorien, Methoden, Befunde, Sonderheft 30 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 314-336. Renckstorf, Karsten/Wester, Fred (1992): »Die handlungstheoretische Perspektive empirischer (Massen) Kommunikationsforschung«, in: Communications 17, S. 177-195. Tulloch, John (1999): »The Implied Audience in Soap Opera Production. Everyday Rhetorical Strategies Among Television Professionals«, in:

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Kreativität in der Medienrezeption? | 183

Pertti Alasuutari (Hg.), Rethinking the Media Audience, London et al.: Sage, S. 151-178. Weiß, Ralph (2000): »Praktischer Sinn, soziale Identität und Fern-Sehen. Ein Konzept für die Analyse der Einbettung kulturellen Handelns in die Alltagswelt«, in: Medien & Kommunikationswissenschaft 48, S. 42-62. Weiß, Ralph (2001): Fern-Sehen im Alltag. Zur Sozialpsychologie der Medienrezeption, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

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184 | Helga Kotthoff

Overdoing Culture. Sketch-Komik, Typenstilisierung und Identitätskonstruktion bei Kaya Yanar Helga Kotthoff

Im Folgenden gehe ich der Frage nach, in welcher Hinsicht der Komiker Kaya Yanar und seine Show »Was guckst Du« (SAT 1) für das Bezugsfeld von Sprach- und Kulturwissenschaft interessant sind. In den Medien wird Kaya Yanar vor allem als ein Comedian vorgestellt und rezipiert, der die Lebenssituation in der deutschen Einwanderungsgesellschaft als brauchbares Thema für Komik und Humor entdeckt hat. Obwohl seine Scherze in der Regel auf Ethnizität anspielen, werden sie von der Presse und einer (tendenziell) jugendlichen Fangemeinde goutiert: Mit Kaya Yanar lachen angeblich alle (Pahlke-Grygier 2003), fragen sich aber doch: Ist das politisch korrekt? In zahlreichen Rezensionen seiner Show und in Interviews wird betont, dass vor allem seine ausländischen Figuren als Sympathieträger inszeniert würden und er bezüglich der Zielscheiben seiner Scherze insgesamt das Prinzip verfolge: Jeder kriegt was ab. Yanars Lachkultur basiert auf einem Spiel mit ethnischen Stereotypen, Habitus-Wissen und lebensweltlichen Alltagsbezügen. Daneben sind die klassischen humoristischen Strategien, wie z.B. das Sprachspiel und das Witz-Format, von herausragender Relevanz für die Sendung. Die um Yanars Protagonisten herum entfaltete Komik lebt davon, dass sich hyperstilisierte Fremde auf typisch deutsche Alltagsszenarien beziehen. Die Figuren sind nicht nur so überzeichnet, dass ein Spiel mit Stereotypenwissen entsteht, sondern sie sind auch mitten im deutschen massenkulturellen Geschehen platziert. Doing culture heisst hier: doing it in Germany.

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Overdoing Culture | 185

Ich gehe zuerst auf soziolinguistische Beobachtungen und Analysen zu deutsch-türkischen Jugendgruppen ein. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive ist die Sendung deshalb interessant, weil verschiedene Varietäten ausländischer LernerInnen des Deutschen gut getroffen und soziostilistisch ausgebeutet werden. Die Sendung trägt dazu bei, dass einige Besonderheiten von »Kanak Sprak« oder »broken German« möglicherweise Merkmale einer neuen jugendsprachlichen Prestige-Varietät werden. Dann streife ich Potenziale und Probleme, die mit dem Konzept doing culture (z.B. in der Ethnomethodologie und in der interpretativen Soziolinguistik) verbunden sind. Danach widme ich mich dem witzähnlichen Sketch-Format der Sendung »Was guckst Du«, auch den stilistischen Verfahren der Überzeichnung der Protagonisten und ihrer Welten. Ich stelle eine exemplarische Detailanalyse zum Text-Bild-Zusammenhang eines Sketches an. Obwohl die Potenzen des Sketches grundsätzlich im Theatralen liegen, bleibt eine strukturelle Nähe zum Witz erhalten. Von Interesse für die Kulturwissenschaften ist auch die öffentliche Identitätspolitik des Kaya Yanar, die mitreflektiert, dass es beim Humoristischen nicht egal ist, aus wessen Mund die Witze kommen. Durch die Selbstethnisierung Yanars erfährt seine Komik Legitimierung und bettet sich in die Kreation einer mehrkulturellen Ingroup ein, die sich ethnisches Scherzen selbstbewusst erlaubt.

Kanak Sprak – Selbstethnisierung mit steigendem Symbolwert? Unter bestimmten Voraussetzungen kann man in den Sketchen und auch in anderen Formaten von Kaya Yanars Sendung overdoing culture entdecken. Ein Stichwort von Kien Nghi Ha (2004) aufgreifend, kann man sich fragen, ob wir im Medienverbund dieser Sendung ›konsumierbarem Widerstand‹ gegen die Selbstverständlichkeit einer deutschen Hegemonialkultur begegnen. Es ist wohl kein Zufall, dass just in dem Augenblick die so genannte Ethno-Comedy boomt, in dem SoziologInnen diagnostizieren, dass sich in der Fremdwahrnehmung der türkischen Bevölkerungsgruppe in Deutschland, aber auch in ihrer Selbstwahrnehmung sowie ihrer Wahrnehmung durch andere sprachlich-kulturelle Minderheiten ein Wandel zu erkennen gibt (Steuten/Strasser 2003). Dieser Wandel betrifft den Übergang vom Selbst- und Fremdbild eines benachteiligten und sozial diskriminierten Arbeitsproletariats mit geringem Prestige zu einer selbstbewussten ›Minderheit‹, die in diesem Land auch in Zukunft leben will – ohne sich an die

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186 | Helga Kotthoff deutsche Bevölkerung völlig anzupassen – und die in einem Geflecht von Einwanderergruppen zu einer Art Leitethnie zu werden scheint (Dirim/ Auer i.E.; Keim/Cindark 2003). Die türkische Bevölkerungsgruppe hat sich seit den 1960er Jahren ausdifferenziert und mit dem Übergang zur zweiten Generation der zweisprachig in Deutschland aufgewachsenen TürkInnen bis zur inzwischen dritten Generation vom sozialen Prototyp des Gastarbeiters entfernt. Das Bild des Gastarbeiters, das in den 1970er Jahren den Diskurs bestimmte, war in erster Linie sozial, nicht (nur) ethnisch geprägt. Als seinen typischen Vertreter bezeichnen Dirim und Auer den Türken »Ali«, dessen Rolle Günter Wallraff für seine Reporter-Tätigkeit als undercover-Journalist erfunden, selbst gespielt und später im Buch Ganz unten (1985) porträtiert hat: die Rolle des einfachen und ungebildeten, aber moralisch integren Malochers in der Fabrik, der als Arbeitskraft ausgebeutet und als Türke von den Deutschen ausgegrenzt wird. An diesem Modell habe sich der liberale Diskurs in der Bundesrepublik orientiert. Jetzt halte dieses Modell der Realität nicht mehr stand; es sei zwar auch noch heute in Medienberichten über die erste Generation der türkischen Einwanderer anzutreffen, aber für die jüngeren Generationen scheine es nicht mehr zu passen. Dagegen beschreiben Auer und Dirim die heutige Lage so: Die explizite Thematisierung des (ethnisch unspezifizierten) Gastarbeiters als Objekt der (kapitalistischen) Ausbeutung weicht der Anerkennung einer ethnisch-kulturellen Differenz, die nur implizit an soziale Milieus gebunden bleibt. Sie nennen drei Beispiele dafür, wie die selbstbewusste Ethnisierung vonstatten geht und diskutieren Widersprüche, in denen sie sich verfängt: (1) Der sog. Oriental HipHop (Gruppen wie Cartel, Karakan, Da Crime Posse), der junge TürkInnen als Käufer ansprechen soll. Hier kündige sich bereits der Status der Türken/des Türkischen als Leitethnie/-sprache für einen subkulturellen Diskurs an. Zugleich wird das Türkische als adäquate Ausdrucksform der (bilingualen!) Deutschlandtürken reklamiert. (2) Der türkischstämmige, in Deutschland aufgewachsene Schriftsteller Feridun Zaimoglu. Er publizierte (1995) unter dem Titel Kanak Sprak – 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft eine Reihe von so genannten Interviews mit TürkInnen in Deutschland, die mit dem Oriental HipHop nicht nur deshalb verwandt sind, weil Zaimoglu seinen InterviewpartnerInnen sprachliche Verwandtschaft mit dem »Free-Style-Sermon im Rap« bescheinigt (ebd.: 13), sondern weil Print- und Funkmedien ebenso begierig auf das Buch reagierten wie auf den Oriental HipHop. (3) Der Boom der ethnischen Comedies, die den Prototyp des ›Kanaken‹ aufgreifen und karikieren. Mit Kaya Yanars Sendung erreichte ein Kunstprodukt der selbstbewussten Ethnisierung die breite Öffentlichkeit. Verschiedene Figuren in »Was guckst Du?!« sprechen nichtmuttersprachliche Varietäten des Deutschen. ^

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SoziolinguistInnen interessieren sich für den Wert symbolischer Ausdrucksmittel. Bis vor kurzem war gebrochenes Deutsch noch wertlos auf dem deutschen Markt der Symbole, nur hinderlich für den Schul- und Berufserfolg. Das scheint sich in den letzten 10 Jahren geändert zu haben (Androutsopoulos 2001; Auer 2002; Kallmeyer/Keim 2003; Birken-Silverman 2003). Verschiedene Studien zeigen, dass Code-mixing und Stilisierungen von ›broken german‹ derzeit unter Jugendlichen in informellen Kontexten oft praktiziert werden. Gebrochenes Deutsch wird so zur sekundären Indexikalisierung, zu einem Verfahren der selbstbewussten Stilisierung einer gemischtkulturellen Identität. Damit darf aber nicht ausgeblendet werden, dass es bis heute auch Jugendliche gibt, die zwar in Deutschland die Schule durchlaufen haben, aber dennoch nicht zu einer vollen Kompetenz in der Beherrschung des Deutschen gelangen konnten. Für sie stellt defizitäres Deutsch nach wie vor eine primäre Indexikalisierung dar. Es gibt demnach Unterschiede in der ›Handhabbarkeit‹ und ›Gradierbarkeit‹ aktiv hervorgebrachter, kulturspezifischer Deutungs- und Orientierungsrahmen zur Bewältigung des Alltags.

›Doing X‹ – gradierbare Salienz Hauptsächlich Ethnomethodologen sprechen von »doing X«. Weitgehend in Übereinstimmung mit der Phänomenologie des Alltags von Alfred Schütz und auch mit Erving Goffmans (1971, 1974, 1977, 1981) Analysen von Interaktionsordnungen, widmete sich Harold Garfinkel (1976) den tagtäglichen Selbstverständlichkeiten, der Rekonstruktion der sozialen Wirklichkeit aus der Praxis der Mitglieder einer bestimmten Kultur. Es ging ihm um den Nachvollzug allgemeiner Prinzipien der Sinngebung und des Verstehens, die wir als Laien unreflektiert einsetzen, um handelnd im Miteinander mit unserem Leben zurechtzukommen. Das rekonstruktive Forschungsprogramm will hinter den unauffälligen, trivialen Routineabläufen, beispielsweise des höflichen Umgangs miteinander oder der differenten Inszenierung von Männlichkeit und Weiblichkeit, das Funktionieren weitgehend übereinstimmender Ethno-Methoden der Sinngebung zeigen. Garfinkels Brechungsexperimente veranschaulichten, wie sehr es die Leute irritierte, wenn die übliche Indexikalität der Kommunikation in Frage gestellt wurde. Während sich Goffman und Garfinkel beschreibend und interpretierend in Ethnographien des Alltagslebens vorwagten, bemühten sich Vertreter der Konversationsanalyse um das Festklopfen rigoroser Methoden der Aufzeichnung und Transkription alltäglicher Gesprächsszenen. Vor allem Schegloff (1987) profilierte sich mit seinem Plädoyer dafür, nur das für relevant zu erachten, woran sich nachweisbar in einem Gesprächsdatum auch

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188 | Helga Kotthoff die Teilnehmer orientieren. Und diese Orientierung soll in der zu analysierenden Situation sichtbar oder hörbar sein. Einige in dieser Richtung geschulte SoziologInnen und SprachwissenschaftlerInnen widmeten sich später der Analyse interkultureller Kommunikation. Auch in dieser, von John Gumperz (1982) stark geprägten Forschungstradition, ging es um Frage, was geschieht, wenn Interagierende in ihrem taken for granted nicht übereinstimmen. Dieses taken for granted verweist auf Kultur als Interaktionsrahmen. In der interkulturellen Begegnung gilt die idealisierte Annahme gleicher Interpretation bestimmter Kommunikationsweisen weniger stark. Irritationen in der Interaktion rütteln an der Idealisierung der Reziprozität der Perspektiven. Im Zentrum stehen hier nicht die Lexik oder Grammatik verschiedener Sprachen, sondern Kommunikationsweisen, die kulturell geformt sind, als normal und vertraut erlebt werden und insofern auch eine Folie für das ›Wir-Gefühl‹ darstellen können. Diskurslinguistische Studien zur interkulturellen Kommunikation haben vielfältig gezeigt, dass andersartige Diskursstrategien, so subtil sie auch ausfallen mögen, einen Nährboden dafür liefern können, den Gesprächspartner nicht zu diesem ›Wir‹ zu zählen, sondern zu den Anderen (Kotthoff 2003). In gemischtkulturellen Subkulturen kann natürlich Gemeinsamkeit zelebriert werden, auch eine Gemeinsamkeit vor der Folie betonter ethnischer Differenz. In diesem Fall werden zwei oder mehrere Identitäten gleichermaßen relevant gesetzt. Dies versucht auch die Ethno-Comedy. In der Forschung zur interkulturellen Kommunikation wird seit einiger Zeit debattiert, wie die Kulturhaftigkeit oder Kulturgeprägtheit von Handlungen analytisch zum Anschlag gebracht werden kann. Das Konzept doing culture beinhaltet eine gradierbare Salienz von Kulturgeprägtheit. Kulturhaftigkeit ist einerseits immer gegeben, andererseits kann die besondere Relevanz von Kultur bzw. Kulturunterschieden in den Vordergrund der Interaktion gebracht werden. Die immer mitlaufende Form von doing culture ist forschungsstrategisch wesentlich schwerer analysierbar als die herausgehobene Form, denn sie ist ähnlich mehrdeutig wie das Konzept des doing gender (Hirschauer 1994; Kotthoff 2002). Hier wie dort kann overdoing aus der Forschungsperspektive besser gezeigt werden als doing, da doing nicht unbedingt einer besonderen Kontur bedarf. Es kann im Hintergrund bleiben und muss von den Handelnden nicht bemerkt werden. In der Sendung »Was guckst Du!?« wird Kulturalität als Ressource des Agierens der Figuren zugespitzt. Kulturhaftigkeit wird als Spezifikum inszeniert, thematisiert und als komisch dramatisiert. In der Komik wird essenzialistischen Konzepten von Kultur der Boden entzogen. Der Blick ist auf Macharten von Ethnizität gerichtet.

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Der Sketch als kulturelle Performance In der Sendung »Was guckst Du!?« dominieren solche kommunikativen Handlungen, die als Sketch bezeichnet werden und deren Bedeutung für den »kommunikativen Haushalt« (Luckmann 1986; Günthner/Knoblauch 1995) unserer Gesellschaft weiterhin zunimmt. Der Sketch ist eine performance, eine Darstellung durch Körper und Stimme vor Publikum und beinhaltet das Zusammenspiel vieler Faktoren. Für die Analyse verbinde ich Goffmans Alltagsdramatologie mit der Gesprächsanalyse. Von Hape Kerkelings diversen Fernsehproduktionen über Maren Kroymann, Hella von Sinnen, die »Wochenshow« mit den Nachfolgesendungen um Markus Maria Profitlich und Anke Engelke bis hin zu Kaya Yanar arbeiten verschiedene Komik-Sendungen im deutschen Fernsehen mit dem Sketch, bzw. einer Aneinanderreihung thematisch schwach verbundener Sketche, zwischen denen Stand-up Comedians oder Anchor-men oder -women an das Publikum gerichtete andere Teile der Sendung realisieren, wie z.B. Ansprachen, Collagen von Szenen mit versteckter Kamera, Einblendungen anderer Medienproduktionen mit Komisierungsabsicht oder Verballhornungen ausländischer Pressemitteilungen, An- und Abmoderationen. Der Sketch kommt unseren Zapp-Gewohnheiten entgegen. Auch wenn man sich nur kurz in einen Kanal hineinbegibt und auf einen Sketch stößt, hat man eine gute Chance, eine kurze, geschlossene Sinneinheit mitzubekommen. In dieser Hinsicht ist er der Werbung, die ihn umgibt, ähnlich. Der Sketch ähnelt auch dem Witz, diesem transkulturellen Prototypen des monologischen Standardhumors. Der verbale Text realisiert häufig eine Pointenstruktur; die Pointe weist aber beim Sketch über das Verbale hinaus ins Theatrale, wird oft theatral realisiert. Die Pointe des Sketches muss nicht unbedingt den für den Witz so zentralen Überraschungseffekt haben. Sie kann vorbereitet werden, langsam zugespitzt werden, und es darf mehrere Pointen geben. Es gibt auch pointenfreie Sketche, deren Komik nur an der Typen- und Situationskomisierung aufgehängt ist. Witze und Sketche sind einerseits durch und durch kulturverflochten, weil sie mit kulturellen Wissensbeständen und Relevanzstrukturen arbeiten. Andrerseits sind die Macharten des Genres kulturübergreifend bekannt und strukturell ähnlich bis gleich. Auch für die Witz-Erzählung sind Typenstilisierungen und Evokationen stereotyper Lebensweltausschnitte der im Witz handelnden Figuren zentral (Kotthoff 1998). Selbst schriftlich präsentierte Witze arbeiten mit direkter Redewiedergabe und darin z.B. mit Dialektismen und Regionalismen, schicht-, geschlechts-, alters-, stimmungsgebundenen Stilisierungsverfahren, die den Typus der im Witz agierenden Figuren evozieren und auch den Kontext der Handlungen. Wenn sich beispielsweise der Witz um bayerische

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190 | Helga Kotthoff Omas dreht, dann sollten die ErzählerInnen tunlichst die Rede der Oma auf bayerisch wiedergeben, sie sollten die Oma etwas stereotyp Bayerisches tun lassen, wie z.B. eine »Weißwurscht« verspeisen und sich die Dirndlschürze glatt streichen, auch wenn dies für die Pointe keinerlei Rolle spielt. Dies evoziert vor dem inneren Auge die richtigen Bilder und gehört somit zu den narrativen Involvierungsstrategien. Neben der häufig anzutreffenden Dreierstruktur im Witz (vgl. Sacks 1974), bei der die Pointe im dritten Teil erwartet wird und sich um ein Trigger-Element herum entfaltet, auf das die HörerInnen niemals selbst gekommen wären, lebt die Witz-Erzählung eben auch von der Hyperstilisierung der Charaktere und ihrer Lebenswelten. Die Lebenswelten werden nicht geschildert, wie in anderen Erzählungen, sondern über stereotype Details evoziert. Insofern hat der Witz immer ein konservatives Moment. Details gehören grundsätzlich zu den evokativen Techniken, die in Narrationen Plastizität erzeugen (vgl. Tannen 1988). Der Typisierungsgrad dieser lebensweltlichen Details ist generell hoch, denn Witze leben davon, dass die Szene schnell erkannt werden kann und keine Nachfragen nötig macht. Mit der Auswahl kann Komik erzeugt werden. Also tragen Naturfreunde im Witz Birkenstocksandalen, Mütter kochen Kartoffeln, der ältere Chef fährt im Witz mit einem Mercedes vor, der jüngere mit BMW oder Maserati, Schweizer besteigen Berge und trinken nachher Ovomaltine, türkische Familien lässt man bei Aldi einkaufen; bei den Mantafahrerwitzen beispielsweise stand das Auto gleich insgesamt als Index für ein soziales Milieu, das die Umgangssprache auf den Nenner »Proll« brachte, dessen misslingender Aufstieg diese Witze im Detail zelebrierten. Sie lebten von Detail-Überspitzung, die in Richtung Karikatur oder zumindest Parodie geht. Alle Details sind im Witz als Kontextualisierungsverfahren vielsagend und im Sketch auch. Sie tragen bei zur Mikro-Ökologie der Szene. (Über-)Treffende Details und Redeweisen der Protagonisten rufen bereits Lacher hervor, bevor die Pointe erreicht ist (vgl. Kotthoff 1998). Sie haben ein eigenes Komikpotenzial. ErzählerIn und Publikum arbeiten manchmal zusammen an treffenden Redeweisen der Witzfiguren. Die hohe Relevanz von Typen- und Szenenstilisierung gilt noch mehr für den Sketch. Sie wird bildlich hergestellt, aber auch durch Sprechstilistik (Sandig/Selting 1997).

Typen- und Szenenstilisierung als Beispiel für »Overdoing Culture« Polizeistation (Polizist 1 [Po], Polizist 2 [He] Yanar als Pole [Ya], Publikum [Pu]) 1 Po: ihr nAme?

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Overdoing Culture | 191 2 Ya: olschEwski.(-) rOman. 3 Po: nationalitÄt? 4 Ya: pOllä. ((blickt den Polizisten böse an)) 5 Pu: hahahaha 6 Po: und, (-) warum möchten sie Anzeige erstatten? 7 Ya: chat man mir geklaut meine Auto. 8 Pu: hahahahahahaha 9 Po: hehe ((hält sich die Hand vor den Mund, prustet los)) 10Ya: was lOss? ((schaut den P. sehr böse an)) 11Po: hehehe tschuldigung. es ist nur, 12 he (-) ein pOle, dem man das Auto geklaut hat,he= 13Pu: hahahaha ((Ya blickt ihn böse an)) 14Po: =egAl. haben sie schon irgendwelche hinweise 15 auf den tÄter? 16Ya: nein. 17Po: haben sie schon mal bei ihren bekannten in 18 pOlen nachgefragt? ((grinst)) 19 ˚vielleicht ham dIE ja-˚ 20Pu: hohohohoho 21Po: =naja.(-) waren denn in dem wagen noch 22 irgendwelche persönlichen besItztümer? 23Ya: persönliche wAs? 24Po: naja, sachen die Ihnen gehören.(-) tasche, hut, 25 n brEcheisen [((prustet los)) 26Pu: [hahahahahahaha 27Ya: JETZT HAB ICH ABER GENUG.(-)((zieht den P. zu sich heran)) 28 WILLST DU DAMIT SAGEN, DASS JEDDE POLLE IST 29 EINE DIEB? 30Po: schon gUt. tut mir leid. die: (h) dummen 31 vorurteile. (h) sie wIssen schon. 32 hIEr (h), sie müssen noch einmal unterschreiben. 33Ya: Also ((tastet sich ab, hat keinen Kulli)) 34Po: nEhmen sie meinen. ((unterschreibt)) 35Ya: auf wIEdersehen. 36Po: ((räuspert sich)) 37Pl: WAS? 38Po: ach ehm, nichts. 39Po: bin nochmal kurz wEg. mir n neuen kUlli kaufen. 40 (-) wo is n mein portemonnAIe? (-) ((tastet sich ab))= 41Pu: hahahaha 42Po: und meine schrEIbmaschine? ((blickt umher)) 43Pu: hahahahaha 44Po: heinz. hast dU? 45He: nee ((sitzt nackt am Schreibtisch))

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192 | Helga Kotthoff Wir haben hier einen Dialog mit einer auf eine Pointe hin zugeschnittenen Struktur. Die Szene kann man unmittelbar als typische Befragung eines Anzeige-Erstatters durch einen Polizisten durchschauen. Dieser ist Pole (Ya) und spricht gebrochenes Deutsch und zwar mit genau den Merkmalen, die Lerner des Deutschen mit slawischen Erstsprachen in der Tat aufweisen. Ya vertauscht in Zeile 7 das Subjekt und den ersten Teil der Prädikatsklammer, das finite Verb. Das Objekt wandert hinter den zweiten Teil der Klammer, das Partizip. Slawische Sprachen haben seltener Prädikatsklammern, Subjekte können getilgt werden und nur morphologisch repräsentiert sein, Objekte sind oft in Endposition. Die Sprache hat keinen Genus, und Genusfehler sind bei Lernern des Deutschen sehr häufig. Auch die Kopula-Tilgung in Zeile 10 ist typisch für das Deutsch von Sprechern slawischer Sprachen. Die Übergeneralisierung des Femininums (jedde polle) z.B. in Zeile 28 ist in der Lernersprache ebenfalls hochfrequent. Auch ohne linguistische Kenntnisse kommt einem das gebrochene Deutsch des Herrn sofort gut getroffen vor. Und das ist es in der Tat. Vor dem inneren Auge wird der stereotype Witz-Pole plastisch. Diesem gekonnten Übertreffen von Typizität wohnt ein Komik-Moment inne, das man sich mit Henri Bergsons Idee erklären kann, komisch sei das Mechanische im Lebendigen (1900). Komisch ist somit die übermäßige mimetische Annäherung an etwas Anderes. Auch phonetisch ist die Lernersprache gut getroffen: Ya rollt das r (alveolar-apikales r), spricht alle Vokale kurz und offen, lässt die typisch deutsche Unterscheidung von gespannten, geschlossenen und ungespannten, offenen, kurzen Vokalen, die zum Schwa werden können, wegfallen. Aus Pole wird Pollä. Aus dem laryngalen Hauch h wird ein velarer Frikativ ch (in der internationalen phonetischen Umschrift: x). »Xat man mir geklaut meine Auto.« Das postvokalische r in »mir« ist nicht als Schwa-a vokalisiert wie im deutschen Standard, das alveolare deutsche l wird palatal, das Schwa-e wird zum offenen und ungespannten ä, und aus dem geschlossenen und gespannten o: wird das kurze o. Stimmhaftes s (in der Umschrift z) am Silbenanfang wird stimmlos: Wiedersehen. Der polnische Akzent ist ausgezeichnet getroffen. Wie beim Witz wird ein Skript aufgebaut. Wie beim Witz muss dieses nur kohärent, nicht aber realistisch sein; es kontextualisiert Erwartungen. Dieser Sketch verlässt sich auf den Wissensbestand, dass Polen im öffentlichen Bewusstsein im Zusammenhang mit Autodiebstahl mehr auf der Täter- als auf der Opferseite verortet werden. Die Reaktionen des Polizisten sind insofern plausibel, auch sein Kichern. Der Polizist agiert (stereo-)typ. Zunächst wickelt er die übliche Frageroutine ab. Dann kämpft der deutsche Beamte ob der unerwarteten Täter-Opfer-Konstellation mit dem Lachreiz. Das könnte man als Aufbauphase des Witzes bezeichnen.

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Neben der Dreierstruktur von Anfang, Hauptteil und Schlusspointe gibt es eine weitere im Hauptteil, die dadurch zustande kommt, dass dem Polizisten noch zweimal Frechheiten gegen den Polen herausrutschen, die witzig sind. 17Po: haben sie schon mal bei ihren bekannten in 18 pOlen nachgefragt?= 25 n brEcheisen [((prustet los))

Der Pole setzt sich vehement gegen die Unterstellungen zur Wehr. Er spricht mit Aufregungs- und Empörungsprosodie. Diese Phase der Eskalation macht die Kernphase des Witzes aus, die Dramatisierung. Sie neigt sich dann einem guten Ende zu (so der falsche Eindruck). Der Polizist entschuldigt sich für seine dummen Vorurteile. Es ist bei dem Genre aber klar, dass es kein solches Ende geben kann, denn nun muss die Pointe kommen. Ein völlig nebensächliches Element, der Kuli für die Unterschrift unter das Protokoll, wird zum Trigger für die Pointe (vgl. Kotthoff 1998). Das Portemonnaie ist weg und bizarrerweise auch die Schreibmaschine. In der letzten Einstellung sieht man den Kollegen nackt am Schreibtisch sitzen. Soviel zur verbalen und paraverbalen Dreierstruktur des Witzes. Die Vorurteile, die der Polizist zwar hegt, gegen die er aber auch wacker ankämpft, stellen sich am Schluss als viel zu schwach heraus. Der Pole ist so clever, dass er auch noch die Polizei beklauen konnte – und zwar in völlig unrealistischem Maße. Schreibt der Sketch die Stereotypisierung von Polen fort? Stereotypisierung liegt nicht nur auf der verbalen Ebene, sondern in der Performanz der Gesamtszene. Dazu gehört die Choreographie der sozialen Situation, die Raum- und Typengestaltung, z.B. die Gestaltung des Äußeren der beiden Hauptprotagonisten. Was der Witz benennen oder andeuten muss, kann der Sketch zeigen. Die Potenzen des Sketches liegen grundsätzlich im Theatralen. Auch die Pointe ist hier theatral. In der letzten Kameraeinstellung sieht man den Kollegen nackt hinter seinem Schreibtisch sitzen. Zur Raumgestaltung: Die Szene spielt in einer Amtsstube mit einer Theke, die den Arbeitsbereich der Polizisten abtrennt; die Topfpflanze Ficus Benjaminis dient als stereotyper Versuch, Gemütlichkeit in das triste Ambiente zu bringen. Eine riesige Uhr an der Wand indexikalisiert, dass Polizisten auf Dienstzeiten achten, die Schreibmaschine (!), dass die deutsche Polizei kommunikationstechnisch nicht auf der Höhe der Zeit ist. Auf einem Plakat steht: Schieben Sie Einbrechern den Riegel vor. Dies hängt hier bei der Polizei, die man ja auch ohne Einbruch bequem bestehlen kann – in schönster Mittäterschaft. Die Situationskomik spitzt sich dadurch zu. Solche Situationselemente sind immer indexikalisch. Man muss diese Indexikalität aber im Alltag nicht samt und sonders relevant setzen. In der media-

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194 | Helga Kotthoff len Darbietung muss man das. In Goffmans (1981) Terminologie gesprochen: die rituelle, sozialindikative Ausstattung von Raum und Person wird hyperrituell: Es wird eine herausgehobene Indexikalität hergestellt. Es liegt nahe, dass der Stereotypus des deutschen Polizisten als ein aufgeräumter, braunhaariger, nicht unsympathischer Bursche dargestellt wird (der Schauspieler spielt in der Sendung immer den Deutschen), der mit seinen Vorurteilen kämpft und damit hereinfällt. Dieser Polizist erlaubt sich ein paar Frechheiten, die den Polen in Empörung versetzen. Das ist wiederum für die Pointe funktional, in der das schlechte Gewissen des Polizisten ad absurdum geführt wird und die Botschaft transportiert: Die deutsche Polizei ist naiv. Zur Protagonistengestaltung: Die Figurenstilisierung ist ein Frühwarnsystem ihrer Identität – und erst recht die Hyperstilisierung. Der Pole ist blond und unmodern gekleidet. Die Frisur wird im Studentenmilieu »Vokuhila« genannt (Vorne kurz, hinten lang), und gilt als ›Proll‹-Frisur der 1980er Jahre, dazu passt der Oberlippenbart; die bunte Windjacke indexikalisiert einen um Modernität bemühten Typus, der einfach nicht mitkriegt, wie lange dieser Zug schon abgefahren ist. Die Kombination mit der billigen Krawatte stilisiert nach Meinung meines Seminars einen Proleten-Stereotypus, nach meiner Meinung einen osteuropäischen Stereotypus. Nicht jeder muss in solchen Verweisen dasselbe identifizieren. Wie werden die beiden Rollen gespielt? Fast wie Schülertheater: Sehr plakativ, platt, überdeutlich. Jede Emotion spiegelt sich jeweils stark auf dem Gesicht. Vor allem der Pole schaut die ganze Zeit so böse, dass es schon putzig wirkt. Sein Blick ist die ganze Zeit über lauernd. Es geht überhaupt nicht darum, den Schauspieler hinter der Rolle zu vergessen, wie etwa beim Spielfilm. Die Distanz zwischen Schauspieler und Figur wird aufrechterhalten. Dadurch wird der Blick auf die Machart der Figur gelenkt, vor allem der Hauptfigur. Eine Doppelrahmung entsteht. Es ist typisch für Comedy und andere Genres der Komik, auf Subtilität zu verzichten. Gestik, Mimik, Blick und Körpergestaltung werden gekonnt überzeichnet – oft gleichgerichtet. In der Schnelligkeit muss alles sofort erkannt werden können. Komik braucht Redundanz in der Kontextualisierung. Die Hyperstilisierung geht immer in die gleiche Richtung. Aber in spezifischen Überzeichnungen liegt auch das Individuelle der Figuren. Das Stereotyp wird so deutlich als Stereotyp gerahmt, dass eine Meta-Ebene entsteht. Man lacht nicht über den Italiener, sondern über die Witzfigur des Italieners, des Deutschen usw.

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Über den Sketch hinaus Jede Figur hat eine Biografie, die man von Sendung zu Sendung verfolgen kann. Dadurch entsteht Hintergrundwissen, mit dem die Sendung arbeitet. Der Realitätsbezug der Figuren ist unterschiedlich. Russische Wahrsagerinnen verkörpern genauso wenig wie türkische Fahrlehrer die Prototypen von Russinnen und Türken, die im bundesdeutschen Alltag dominante Rollen spielen. Sie sind eher Witzfiguren, die sich dafür eignen, um sich herum vielfältige Szenen zu entwickeln. So sitzen bei dem Fahrlehrer immer mehrere verschleierte Frauen auf dem Rücksitz des Kleinwagens, die lautstark Wünsche äußern (z.B. ein Eis zu essen), denen der deutsche Fahrschüler nachkommen muss. Auf dem Dach sind immer so viele Koffer verstaut, als sei die Fahrschule permanent auf der alljährlichen Türkeireise der typischen, in Deutschland lebenden, türkischen Familie. Bei taxifahrenden Indern, griechischen Restaurantbesitzern, mackerhaften jungen Türken und deutschen Polizisten ist der Realitätsbezug stärker. Was als Handlung entfaltet wird, muss zwar an Typisierungswissen angebunden werden können, gehorcht aber auch den Gesetzen des Genres Sketch. Der Grundgedanke konstruktivistischer Identitätskonzepte (z.B. Harré 1998) besteht darin, dass uns personale Identitäten nicht einfach innewohnen, sondern kommunikativ hergestellt werden. Wir platzieren uns in Interaktionen mit anderen, positionieren uns und werden positioniert, stellen bestimmte Facetten von uns heraus und werden unter bestimmten Perspektiven wahrgenommen. Welche Facetten seiner Identität stellt Kaya Yanar in der sekundären Textwelt (um seine Sendung herum) heraus? Welche werden von der Presse betont? Immer wieder wird vorgebracht, dass er selbst einen türkischen Vater und eine arabische Mutter habe, somit in drei Kulturen aufgewachsen sei (vgl. Pahlke-Grygier 2003). Sein Humor sei deshalb authentisch. »Er nimmt sich das Recht eines Menschen, der trikulturell aufgewachsen ist: Er darf sich über alles lustig machen, ohne dabei nur eine Sekunde fremdenfeindlich zu wirken« (Stuttgarter Zeitung nach Pahlke-Grygier 2003). Eine lebensweltlich verankerte Authentisierung gehört offensichtlich zu dem Bedingungsgefüge eines Humors, dessen Grundlage overdoing culture ist. Yanar meint dazu: »Meine Art von Humor ist anders. Bei den Imitationen, in die ich schlüpfe, bemühe ich mich schon um Authentizität. Natürlich spiele ich mit Klischees, sonst wäre das nicht lustig, aber das Ganze ist noch mal so authentisch, weil ich ja selbst halb Araber, halb Türke bin. Und ich reize halt keine Figur aus, sondern springe von einer Rolle in die nächste. Es wird ständig gewechselt zwischen Italienern, Arabern, Deut-

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196 | Helga Kotthoff schen, Indern, und das ergibt dann so ein lustiges Konglomerat« (Yanar, in: Subway Magazin 2001).

In den Sekundärtexten1 wird oft herausgestellt, dass er sich seiner vielschichtigen Wurzeln immer treu bleibe (www.filmstar.de 2003). Yanar erzählt selbst häufig die Geschichte, wie er zum ersten Mal vor jungen Türken aufgetreten sei, die in dem Frankfurter Stadtteil, in dem er aufgewachsen ist, gefürchtet wurden. Er habe vor ihnen die Figur seines »Hakan« inszeniert, in der er Züge dieser jungen türkischen Männer untergebracht habe. Nach anfänglichem Staunen hätten sie dann irgendwann angefangen zu lachen. Der Bann war gebrochen. Sie hätten seine Komik akzeptiert. Der Sender und Kaya Yanar gehen von einer hohen Akzeptanz der Comedy vor allem unter jungen AusländerInnen in Deutschland aus. Meine Beobachtungen des Publikums bei seiner Tournee bestätigen das. Sogar noch in den Wiederholungen der beiden ersten Staffeln erreichte »Was guckst Du?!« in der SAT.1-Zielgruppe von 14- bis 29-Jährigen einen Marktanteil von mehr als 25 Prozent. Zu seiner Akzeptanz trägt sicher auch die von ihm selbst oft angeführte breite Streuung der Zielscheiben bei. Yanar auf die Frage eines Interviewers, ob sich seine ausländischen Zuschauer nicht »verarscht« fühlen würden: »Ich würde sagen: liebevoll verarscht – aber die merken, dass ich mir nicht eine Minderheit vornehme, sondern dass bei mir alle ihr Fett abkriegen, inklusive der Deutschen und mir selbst. Somit stelle ich wieder das politisch korrekte Gleichgewicht her« (www.doktor-zuckerbrot.de).

Zu seiner Akzeptanz gehört ebenfalls, dass er auffällig viel Selbstironie betreibt, nicht nur als Ironisierung seiner türkisch-arabischen Identität, sondern auch anderer Facetten seiner Person. Diese drehen sich beispielsweise um seine Zeit als Schüler, um Geschwisterstreit, Haustiere, Angstattacken beim Zahnarzt, Faibles und Fehltritte. Der Komiker macht, wie alle ProfiKomiker, auch in den Sekundär- und Tertiärtexten Identitätsarbeit, indem er sich z.B. in Interviews als komisch ausweist. Damit authentisiert er auch seine öffentliche Rolle als Komiker. Das Verhältnis von ingroup und outgroup spielt auch in der Rezeption von Kaya Yanars Show eine Rolle. Die unablässige Erwähnung, er habe einen türkischen Vater und eine arabische Mutter erteilt den Berechtigungsausweis für ethnische Scherze. Ethnizität ist damit nicht nur in den Sketchen relevant, sondern auch im weiteren Kontext der Sendung. Die Tatsache, dass er ›gewagte Komik‹ macht, bedingt, dass alle ganz 1 | Siehe dazu Fiske 1987 und Androutsopoulos 2003.

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genau hinschauen und hinhören, welche Haltung er in der Sendung und in anderen Kontexten verkörpert. Die Rezeption der Sendung in den bundesdeutschen Medien und in Chat-Gruppen im Internet lässt sich nicht einfach auf den Nenner bringen: da macht einer Ausländerwitze. Klasse. Über die Sendung, in und mit der Sendung findet die Konstitution einer mehrkulturellen Ingroup statt, die ethnisches Scherzen für sich austestet. Im Sat.1-Forum (www.sat1.de) schreibt z.B. Da Killer am 21. 5. 2003: »Ok jetzt kommt mal nen Witz. Was heisst Elise im Wunderland auf Türkisch? Fatima im Aldi. *löl*« Enrica dazu: »Scheiße, war der schlecht … Je ne peux pas le croire …!« In den Chats um die Sendung herum werden viele ethnische Witze erzählt. Alle Witze dieser Art erhalten kritische Kommentare, interessant ist aber, dass sie überhaupt erzählt werden. Enrica gibt sich mit dem Switch ins Französische als weltläufig zu erkennen. Sie unterstreicht ihre Mehrsprachigkeit und ihr Niveau. Die Ethno-Comedy bewitzelt Gegebenheiten und Stereotypen der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft aus der Perspektive der Zugewanderten. Gleichzeitig gibt sie der Lust am ethnischen Scherz Auftrieb und schraubt die Relevanz von Ethnizität hoch. Mit diesem Widerspruch muss sie wohl leben. Ethnisches Scherzen ist nicht per se ein Ausschlussverfahren, kann aber durchaus für ein solches funktionalisiert werden. Während Kaya Yanar zu Beginn seiner Fernseh-Karriere überall bescheinigt wurde, sein Auftritt sei »von der ersten bis zur letzten Minute Unterhaltung der Güteklasse auf höchstem Niveau« gewesen (Osnabrücker Zeitung, zitiert nach Qantara.de 2003), hörte man im Zuge seines Erfolgs häufiger kritischere Töne (vgl. z.B. Hip Hop Network 11, 2003). Auch ich stellte fest, dass sich Yanar auf der Ebene der Themen zunehmend dem deutschen Karneval mit seiner Vorliebe für Anal- und Sexualscherze annäherte. Yanar bedient sich dabei eines Repertoires, das schon Legman (1961) als sicheren Themenschatz der internationalen Witzkiste darstellte. Weder genaue Alltagsbeobachtung noch Subtilität sind dabei von Nöten. Es ist schwer, für Komik Gütekriterien aufzustellen. Der Genuss von Komik speist sich aus unterschiedlichen Quellen, die auch situativ nicht gleich gewichtet sind. Irgendwie gehört immer dazu, dass die Parodie von Typen und Situationen gut getroffen sein sollte, dass das Thema die Rezipienten interessieren muss, dass die Machart des Komischen ihnen ebenso zusagen muss wie die Verteilung der Spitzen. Kaya Yanar ist mit der freundlichen Bewitzelung kultureller Gruppen und Individuen in Deutschland eine thematische Neuausrichtung der massenmedialen Komik gelungen.

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198 | Helga Kotthoff

Transkriptionskonventionen (-) kurze Pause (- -) längere Pause (weniger als eine halbe Sekunde) (1.0) Pausen von einer Sekunde und länger (?was soll das?) unsicheres Textverständnis (? ?) unverständliche Stelle ..[…. ..[…. der Text in den untereinanderstehenden Klammern überlappt sich ..[[… Mehrfachüberlappung verschiedener Sprecher/innen = ununterbrochenes Sprechen trotz Hörermeldung - Konstruktionsabbruch hahaha lautes Lachen hehehe schwaches Lachen hohoho dunkles Lachen, den Vokalen der Umgebung angepasst (.h) hörbares Ein- oder Ausatmen (h) integrierter Lachlaut : Lautlängung ? steigende Intonation , kontinuierliche bis leicht steigende Intonation . fallende Intonation ; leicht fallende Intonation blabla leiser gesprochen als Umgebung bla sehr leise der is dOOf Großgeschriebenes trägt den Satzakzent COME ON Emphaseintonation (lauter und höher) höhere Tonlage des innerhalb der spitzen Klammern stehenden Textes ↓ hoher Ansatz bei einem einzelnen Wort Tonsprung nach oben, Tonabfall noch im Wort) ↑ Tonsprung nach unten tieferes Tonhöhenregister innerhalb der spitzen Klammern ((liest)) Kommentar zum Nonverbalen rallentando, Verlangsamung, Kommentar vor oder unter der Zeile, Reichweite in eckigen Klammern

Literatur Androutsopoulos, Jannis K. (2001): »Ultra korregd Alder! Zur medialen Stilisierung und Aneignung von ›Türkendeutsch‹«, in: Deutsche Sprache 29, S. 321-339.

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Overdoing Culture | 199

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Medienaneignung als blinder Fleck der Systemtheorie Norbert Sieprath

Medienaneignung als soziale Praxis zu analysieren, hat in der systemtheoretischen Medienkonzeption bislang noch keinen Ausdruck gefunden. Zu verschieden erscheinen praxistheoretische und systemtheoretische Ansätze, als dass wechselseitige Anregungen aufgenommen würden.1 Dabei lassen sich Praktiken der Medienaneignung und die damit verbundene Ausbildung von Interpretationsgemeinschaften, etwa sog. »Fankulturen«, als eigener Systemtyp beschreiben, der in Luhmanns Typologie (Interaktion, Organisation und Gesellschaft) jedoch keine Entsprechung findet. Es handelt sich hier um einen blinden Fleck der Systemtheorie, denn mit der Perspektive der Medienaneignung als soziale Praxis wird die Rolle der Medien als Kristallisationspunkte kultureller Differenzierung deutlich. Will die Systemtheorie ihren Universalitätsanspruch aufrechterhalten, muss sie diese identitätsbildenden Aneignungsweisen in ihren Begriffsapparat einbauen. Vor allem die zeitgenössischen Medienanalysen der Cultural Studies, die auf praxistheoretischen und poststrukturialistischen Annahmen beruhen, können hier wichtige Ergänzungen liefern. Obwohl Cultural Studies und Systemtheorie auf den ersten Blick eher widersprüchlich argumentieren2, lassen sich im Hinblick auf die post1 | Dies wird jedoch nicht als Problem wahrgenommen, denn man hat sich daran gewöhnt, dass Theoriezweige ›ihr eigenes Süppchen kochen‹, was auch schon Luhmann selbst Anlass zur Klage gab: »Bei der Begrenztheit der akademischen Zitationszirkel kann es nicht ausbleiben, daß zahlreiche Möglichkeiten wechselseitiger Befruchtung ungenutzt bleiben« (Luhmann 1995a: 15). 2 | So ist etwa die Innen-Außen-Differenz, welche die Praxistheorie überwinden möchte, für die Systemtheorie konstitutiv (vgl. Reckwitz 1997).

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202 | Norbert Sieprath strukturalistischen und praxistheoretischen ›Wurzeln‹ der Cultural Studies Kommensurabilitäten mit systemtheoretischen Grundannahmen aufzeigen: etwa die Instabilität sozialen Sinns oder der Emergenzcharakter des Sozialen. Im zweiten Teil gilt zu klären, wie Luhmanns Theorierahmen im Allgemeinen und seine Konzeption der Medien im Besonderen gebaut sind, warum soziale Aneignungspraktiken dort nicht vorkommen und wie der Theorierahmen zu modifizieren wäre, um diese Aspekte sozialer Wirklichkeit einzufügen. Schließlich wird in einem dritten Teil neben der Aneignung des Medieninhalts auch die Aneignung der Medien als technische Artefakte in den Blick gerückt. Während eine Theorie sozialer Praktiken die Rolle von Technik in sinnhafte soziale Prozesse einzubinden vermag, geht diese Perspektive mit der rigorosen Abgrenzung von sozialen Sinnsystemen und materieller Umwelt verloren. Es ist zu überlegen, wie die sinngenerierende und -verarbeitende Rolle der Technik bei der Herausbildung von sozialen Systemen in die Systemtheorie eingebaut werden kann. Die Frage stellt sich umso drängender, als die Technik dem Menschen zunehmend als ›intelligente Technik‹ bzw. ›intelligentes Medium‹ gegenübertritt.

Zur Kommensurabilität von Cultural Studies und Systemtheorie Sowohl die Cultural Studies als auch die Systemtheorie lehnen das simplifizierende Sender-Empfänger-Modell einer Informationsübertragung in der Kommunikation ab, das die traditionelle Medienwirkungsforschung beherrscht. Demgegenüber berücksichtigen beide Ansätze den symbolischen Gehalt kommunikativer Reize. In den Cultural Studies ist die Bedeutungsproduktion von der Einbettung in soziale Kontexte abhängig. Die Relevanz des sozialen Kontextes lässt sich theoretisch aus »der aktuell dominanten poststrukturalistischen Schwerpunktsetzung« (Göttlich 1999: 191) der Cultural Studies ableiten. Mit dem Strukturalismus teilt der Poststrukturalismus die Auffassung, dass sich die Bedeutung eines Zeichens nicht aus einem Bezug zur Wirklichkeit, sondern aus der Differenz zu allen anderen Zeichen ergibt. Doch im Gegensatz zum Strukturalismus ist der Strukturbegriff im Poststrukturalismus azentrisch, d.h. symbolische Strukturen setzen aus sich heraus keine abgrenzbaren und identifizierbaren Bedeutungen. Die Suche nach fixierten Bedeutungen und starren Strukturen wird deshalb aufgegeben. Jede Benutzung von sprachlichen Zeichen impliziert mehr sinnhafte Verweise, als von einem Sprecher überhaupt beabsichtigt werden kann, mit der medientheoretischen Konsequenz, dass sich nichts abschließend sagen lässt. Der in der Kommunikation erzeugte Sinn ist somit instabil. Die Sprache konstruiert

2004-08-16 12-51-33 --- Projekt: T243.sozialtheorie.reuter-hörning / Dokument: FAX ID 01f460679393814|(S. 201-218) T04_03 sieprath.p 60679395134

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sich ihre eigene soziale Wirklichkeit, unabhängig von den Intentionen der Subjekte (vgl. Wenzel 2000: 136ff.). Der Radikale Kontextualismus der Cultural Studies ergibt sich aus dieser »Bedeutungskontingenz« (Ang 1999: 91). Auch in der Systemtheorie lassen sich sozial produzierte Bedeutungen nicht auf individuelle Intentionen zurückführen. An die Stelle von Sprache und rezipierendem Subjekt tritt das Begriffspaar vom sozialen und psychischen System. Beide Systemarten haben ihre spezifischen Operationsweisen, die einen direkten Kontakt zwischen diesen unmöglich machen. Während sich psychische Systeme über kognitive Operationen konstituieren, ist Kommunikation die Operationsbasis sozialer Systeme. Diese setzen die Aktivitäten der psychischen Systeme zwar voraus, folgen aber einem eigenlogischen Geschehen. Kommunikation ist eine sinnhafte Aneinanderkettung von mitgeteilten Informationen. Was als Information gilt, ist dabei weder objektiv gegeben, noch kann sie vom ›Sender‹ kontrolliert werden, sondern ergibt sich erst aus dem Kommunikationszusammenhang. Beide Systemarten sind füreinander Umwelt, d.h. die Kommunikation kann die Gedanken des an ihr beteiligten ›Bewusstseins‹ nicht determinieren.3 Da jedes System autonom operiert, konstruiert es auch seine eigene Wirklichkeit. Was ein System mit einer Information anfängt, ist von seinen historischen Strukturen abhängig. Weil die Bedeutungen, die der Rezipient der Kommunikation zuschreibt, nie unabhängig von der eigenen Erfahrungsgeschichte sein können, muss die Produktion von Bedeutungen aus systemtheoretischer Perspektive immer als kontingenter Prozess aufgefasst werden (vgl. Luhmann 1995b: 26ff; 1995c:37ff.). Zum Verständnis der Parallelen zwischen Systemtheorie und Cultural Studies ist die idealtypische Unterscheidung kulturwissenschaftlicher Paradigmen »Praxis – Autopoiesis – Text« (1999) von Andreas Reckwitz hilfreich. Bekanntlich hat Luhmann (vgl. 1996a) in seiner überarbeiteten Fassung der Systemtheorie das Autopoiesis-Konzept aufgegriffen, geht über den ursprünglichen Ansatz bei Maturana (vgl. 1982) aber hinaus, indem er neben biologischen auch psychische und soziale Systeme als autopoietisch versteht.4 Das Soziale stellt sich im wörtlichen Sinne aus eigenen Elemen3 | Luhmann setzt das psychische System weitgehend mit dem ›Bewusstsein‹ gleich. Mit der Konzentration auf Gedanken als Operationseinheiten fallen Unbewusstes, Emotionen und dergleichen heraus. 4 | Im Unterschied zu Theorien der Selbstorganisation werden nicht nur die Strukturen vom System selbst hergestellt, sondern auch die Elemente: »Als autopoietisch wollen wir Systeme bezeichnen, die die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und reproduzieren. Alles, was solche Systeme als Einheit verwenden: ihre Elemente, ihre Prozesse, ihre Strukturen und

2004-08-16 12-51-33 --- Projekt: T243.sozialtheorie.reuter-hörning / Dokument: FAX ID 01f460679393814|(S. 201-218) T04_03 sieprath.p 60679395134

204 | Norbert Sieprath ten (Kommunikation) selbst her, bildet somit eine emergente Ebene. Parallel hierzu kann der dem Text-Paradigma zuzuordnende Poststrukturalismus als »eine emergente Sequenz von Zeichen, die sich selber reproduziert« (Reckwitz 1999: 41) verstanden werden. So wie das Kommunikationsmodell von Luhmann auf de Saussure rekurriert (vgl. Krämer 1998: 77f.), so beziehen sich die Kommunikationsmodelle in den Cultural Studies, von Halls Codierungs-/Decodierungs-Modell (vgl. 1999) bis zur Diskursanalyse bei Fiske (vgl. 1994), letztendlich auf die autonome Reproduktion von Zeichenketten. Der Emergenzcharakter des Sozialen findet sich auch im Praxis-Paradigma. Soziales Handeln lässt sich hier nicht auf die Intentionen oder die Eigenschaften einzelner Individuen zurückführen. Einzelne Handlungen erlangen ihren Sinn erst durch die Einbettung in eine übersubjektive soziale Praktik, ohne dass dieser Sinn reflektiert werden muss. Er verbleibt für gewöhnlich in einem vorbewussten Stadium und liegt den Akteuren als »implizites Wissen« zugrunde (vgl. Hörning 2001: 162). Die praxistheoretische Auffassung von Emergenz unterscheidet sich jedoch von jener der beiden anderen Paradigmen: »Praktiken bilden […] eine emergente Ebene des Sozialen, die sich jedoch nicht ›in der Umwelt‹ ihrer körperlich mentalen Träger befindet« (Reckwitz 2003: 289). Das Textparadigma steht vor dem Problem, übersubjektive Sinnprozesse erklären zu müssen, ohne dabei auf mentale Träger zu rekurrieren. Dies hat ihnen den Vorwurf der »Illusion der autonomen Sinnmuster« (Reckwitz 2000: 175) eingebracht. Dagegen konzipiert Luhmann parallel zum Kommunikationsgeschehen auch Bewusstseinsprozesse als emergente Sinnsysteme.5 Die Emergenz sozialer Systeme basiert auf der Intransparenz der psychischen Systeme. Aufgrund der Kontingenz des Handelns sind soziale Situationen so komplex, dass eine Ausbildung sozialer Erwartungsstrukturen erforderlich wird. Die Vorstellung einer emergenten Systemebene des Sozialen betont nun, dass sich selbst, wird durch eben solche Einheiten im System erst bestimmt. Oder anders gesagt: es gibt weder Input von Einheit in das System, noch Output von Einheit aus dem System. Das heißt nicht, daß keine Beziehungen zur Umwelt bestehen, aber diese Beziehungen liegen auf anderen Realitätsebenen als die Autopoiesis selbst« (Luhmann 1995d: 58). 5 | Grundsätzlich nimmt das Phänomen der Emergenz in der Allgemeinen Systemtheorie eine zentrale Rolle ein Biologische Systeme setzen physikalische Materie notwendig voraus, lassen sich jedoch nicht hinreichend durch physikalische Eigenschaften erklären. Ebenso erweist sich die psychische Ebene als emergent, insofern sie ohne Organismen nicht existieren könnte, aber das Bewusstsein lässt sich nicht auf biologische Abläufe reduzieren. Schließlich bilden die sozialen Systeme eine emergente Ebene auf der Basis psychischer Prozesse.

2004-08-16 12-51-33 --- Projekt: T243.sozialtheorie.reuter-hörning / Dokument: FAX ID 01f460679393814|(S. 201-218) T04_03 sieprath.p 60679395134

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in der Kommunikation verfestigter ›objektiver‹ Sinn auf ›subjektiven‹ Sinnprozessen beruht, sich von diesen jedoch nur gemäß einer selbsthergestellten Offenheit irritieren lässt. Zwar können auch soziale Systeme ohne physikalische Materie und komplexe Organismen nicht existieren, doch nur den psychischen Systemen wird ein Irritationspotenzial auf soziale Systeme zugestanden (vgl. Luhmann 1996a: 153ff. et passim). Mit anderen Worten: Materielle Artefakte und der Körper sind für Luhmann uninteressant. Dahingegen schließt das Emergenzverständnis einer Theorie sozialer Praktiken nicht aus, dass die Materialität konstitutiv für soziale Praktiken ist. Neben der Emergenz ist Rekursivität sowohl in der Praxistheorie als auch in der Systemtheorie eine zentrale Figur. Für Luhmann sind »[k]ommunikative Systeme […] nur als rekursive Systeme möglich« (1997: 74). Da Kommunikation nicht von zeitlicher Dauer ist, können soziale Systeme nur bestehen, wenn Kommunikation immer wieder an Kommunikation anschließt, mit anderen Worten: die Autopoiesis fortgesetzt wird. Gerade weil Anschlüsse immer nur systemintern möglich sind, schließt sich das System von seiner Umwelt ab. Dabei wird das Spektrum potenzieller Anschlüsse durch die aktuellen Operationen sowohl ermöglicht als auch eingeschränkt. Einerseits ist die Herausbildung von Strukturen für ein System insofern wichtig, als es andernfalls immer wieder von vorne anfangen müsste und somit keine Eigenkomplexität aufbauen könnte. Andererseits sind Strukturen nichts Statisches, sondern permanent im Fluss. Ihre Wiederverwendung mag nahe liegen, doch letztendlich sind soziale Vorgänge evolutionäre Prozesse, in denen stets Variationen bestehender Strukturen möglich sind (vgl. Luhmann 1997: 430f.). Auch soziale Praktiken fangen nicht immer wieder von vorne an. Im Gegenteil, häufig sind es gerade die Routinen und selbstverständlichen Gepflogenheiten, die in einer Theorie sozialer Praktiken thematisch gemacht werden. Dabei wird Routinehandeln aber nicht als eine Wiederholung des Gleichen, sondern als Neuaneignung von bereits Vorhandenem verstanden (vgl. Hörning 1999a: 36). »Mit ›Rekursivität‹ ist dabei jener rückbezügliche Umlauf gemeint, in dem das Ergebnis gestrigen Handelns als Teil eines Verweisungsgefüges zur Vorgabe heutigen Handelns wird, auf das das morgige Handeln an anderer Stelle rekurriert« (Hörning 1999b: 95). Auch Anthony Giddens (1988) hat das rekursive Verhältnis von Handeln und Struktur betont. In verschiedenen Handlungskontexten beziehen sich Akteure auf Regeln und Ressourcen und reproduzieren damit die Strukturen sozialer Systeme. In Giddens’ Theorie der Strukturierung stellen diese Strukturmomente sozialer Systeme jedoch keine eigenständige Realität dar, sondern sind in der Form von »Erinnerungsspuren« und in sozialen Praktiken verwirklicht. Die sozialen Strukturen werden im Handeln nicht einfach vollzogen; vielmehr fungieren sie als Medium des Handelns. Auch

2004-08-16 12-51-33 --- Projekt: T243.sozialtheorie.reuter-hörning / Dokument: FAX ID 01f460679393814|(S. 201-218) T04_03 sieprath.p 60679395134

206 | Norbert Sieprath wenn der Handelnde sich über die Gründe seines Handelns nicht voll bewusst ist, verfügt er doch über ein ›praktisches Bewusstsein‹, das es ihm erlaubt, den Handlungsstrom reflexiv zu steuern. Dem Akteur treten somit zwar immer die unbeabsichtigten Folgen des Handelns in Form von verfestigten Strukturen entgegen, doch in dem Reproduktionsprozess können sich Strukturen permanent verändern (vgl. Giddens 1988: 77ff.). In der spätmodernen Gesellschaft nimmt die Kontingenz möglichen Handelns zu, mit der Konsequenz, dass soziale Praktiken variabler und situationsabhängiger werden. Während auf der einen Seite versucht wird, durch Normierungen, Formalisierungen und Ideologisierung soziale Praktiken zu stabilisieren, bietet die Alltagspraxis durch ihre potenzielle Unbestimmtheit immer auch Spielräume des Manövrierens und des Widerstands (vgl. Hörning 2001: 23f.). Auch in den Cultural Studies steht die Betonung des subversiven Moments von sozialer Praxis im Vordergrund. In Anlehnung an Michel de Certeaus »Kunst des Handelns« haben die Cultural Studies in zahlreichen empirischen Studien gezeigt, dass sich populäre Praktiken nur scheinbar den Mechanismen der Disziplinierung anpassen; vielmehr spielen sie mit diesen. Das Funktionieren einer Gesellschaft lässt sich dann aber nicht auf einen Haupttypus von Prozeduren reduzieren. Neben herausragenden Praktiken, die normative Institutionen organisieren, gibt es in einer Gesellschaft zahlreiche andere Praktiken, die klein und minoritär bleiben. Bei der Aneignung populärer Kultur handelt es sich um solche mikrobenhaften Operationen, die sich im Inneren der technokratischen Strukturen verbreiten, und deren Funktionsweise durch eine Vielzahl von Taktiken unterlaufen (vgl. de Certeau 1988: 15f, 109f.). John Fiske hat dieses Konzept widerständiger Praktiken auf die Aneignung der Populärkultur zugeschnitten. Für ihn ist Populärkultur immer eine Kultur des Konflikts, wobei die Unterdrückten soziale Bedeutungen erzeugen, die in ihrem Interesse liegen.6 Die Kontrolle über die Bedeutungen im alltäglichen Leben wird insbesondere durch Gespräche mit signifikanten Anderen gewonnen, die dem Rezipienten helfen, Interpretationsrahmen für das Rezipierte zu finden, die 6 | Die Siege in diesem Kampf bringen eine populäre Lust hervor, die immer gesellschaftlich und politisch ist. Die Unterdrückung der Menschen besteht darin, dass sie die Ressourcen der Populärkultur nicht selbst herstellen können. Aus der ökonomischen Abhängigkeit von der Kulturindustrie kann aber nicht auf die kulturelle Funktion der Populärkultur geschlossen werden. Während die Macht der Kulturindustrie ökonomischer Art ist, ist die Macht der ›Leute‹ (people) semiotischer Art. Semiotischer Widerstand rührt vom Wunsch der Unterdrückten, selbst Kontrolle über die Bedeutungen in ihrem Leben auszuüben, was ihnen aber durch die herrschaftlichen Bedingungen verweigert wird (vgl. Fiske 2000a: 15ff.).

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eine Einbindung in das Alltagsleben erlauben. Solche Gesprächskulturen sind weit davon entfernt, sich zentralisieren und ideologisch kontrollieren zu lassen. Gespräche über mediale Inhalte erzeugen die Bedeutungen, die in einem bestimmten Publikum zirkulieren. Dies nimmt Einfluss auf weitere Rezeptionen, auch wenn der Rezipient sich einen Text alleine aneignet, denn er kann dies in dem Wissen tun, dass auch andere Gruppenmitglieder diesen Text rezipieren. Die Alltagsgespräche erzeugen gemeinsame Bedeutungen und sind damit gemeinschaftsbildend (vgl. Fiske 1987: 78ff.). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass soziale Praktiken wie soziale Systeme Emergenz aufweisen, sich also nicht auf Begriffe wie Intention, Individuum u.dgl. zurückführen lassen. Beide Theoriemodelle stellen zudem kontingente rekursive Prozesse in den Vordergrund, womit sowohl Stabilität als auch Wandel erklärbar sind. Sind nun diese Parallelen ausreichend, um die widerständigen Praktiken, mit denen sich die Cultural Studies vornehmlich beschäftigen, auch mit dem systemtheoretischen Begriffsapparat erfassen zu können?

Aneignungspraktiken in der Systemtheorie Luhmann betrachtet die Massenmedien als ein Funktionssystem der Gesellschaft. Wie jedes Funktionssystem verfügen die Massenmedien über einen binären Code (hier: Information/Nicht-Information), der es erlaubt, dass die Massenmedien sich unter rekursiver Bezugnahme auf ausschließlich eigene Operationen von ihrer Umwelt abgrenzen.7 Ihre Funktion für die Gesellschaft besteht in der Erzeugung einer gemeinsamen Hintergrundrealität: Die Massenmedien setzen – ähnlich wie es der agenda setting-Ansatz sieht – die gesellschaftlichen Themen fest, auf die sich die weitere Kommunikation beziehen kann. Ob ein solcher Anschluss als affirmativ oder widerständig anzusehen ist, bleibt durch die Hintergrundrealität allerdings offen. Nur die Massenmedien verfügen über die ökonomischen und professionellen Möglichkeiten, eine solche Hintergrundrealität herzustellen. Die Bedeutungszuschreibung durch einen Beobachter bleibt jedoch kontingent. Luhmann unterscheidet dabei drei Programmbereiche: 1) Nachrichten/Berichte, 2) Werbung und 3) Unterhaltung, wobei letzterer Punkt 7 | Der zweiwertige Code ermöglicht die Fortsetzung der Autopoiesis einer systemspezifischen Kommunikation. In der Wissenschaft beispielsweise finden nur solche Beiträge Anschluss, die sich an dem Code wahr/unwahr orientieren. Will man die aktive Rolle des Akteurs hervorstreichen, lassen sich die teilsystemischen Codes als situationsdefinierende Fiktionen betrachten, die durch wechselseitige Unterstellungen real handlungsrelevant werden (vgl. Schimank 2003: 268f.).

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208 | Norbert Sieprath hier interessieren soll. Da Identitäten in der modernen Gesellschaft nicht mehr durch die soziale Herkunft ›vorgegeben‹ werden, stellt sich dem Individuum die Aufgabe, diese selbst herzustellen. Dazu kann es auf Unterhaltungsangebote zurückgreifen, die zum Vergleich mit Identitäten fiktiver oder pseudorealer Personen einladen (vgl. Luhmann 1996b: 36ff.). Die Systemtheorie stimmt mit den Cultural Studies nun darin überein, dass Bedeutungen den medialen Botschaften nicht inhärent sind, sondern erst in der Anschlusskommunikation bzw. der sozialen Aneignungspraxis erzeugt werden. Doch sind Anschlusskommunikation und Aneignungspraxis vergleichbar? Für Luhmann sind drei mögliche soziale Anschlüsse denkbar. Zum einen schließen die Massenmedien an ihre eigene Kommunikation an. Populärkultur zitiert sich selbst (z.B. die Simpsons), Prominente werden von den Medien selbst zu solchen gemacht (z.B. Big Brother, Casting-Shows), und die Medienkritik wird auch noch selbst erledigt (z.B. Kalkofes Mattscheibe, TV Total).8 Zweitens schließen andere Funktionssysteme an mediale Kommunikation an. So ist es etwa für die Politik und die Wirtschaft unumgänglich, die Massenmedien zu beobachten, da die Rezipienten zugleich auch Wähler bzw. Konsumenten sind, welche in ihren Entscheidungen auf ein entsprechendes Image achten. Schließlich wird in alltäglichen Interaktionen an die Medienbotschaften angeschlossen. Am Arbeitsplatz und in der Freizeit werden aktuelle politische Themen, Sport oder Populärkultur zum kommunikativen Aufhänger, um Informiertheit sowie geschmackliche Vorlieben einzubringen (vgl. Schmidt 1996: 45ff.; Wehner 2000: 110ff.). Nun dienen Medienaneignungspraktiken offensichtlich nicht der Reproduktion gesellschaftlicher Funktionssysteme. Aber auch mit Interaktionssystemen kommen sie nicht zur Deckung. Mit dem Interaktionsbegriff kommen weder die Gemeinschaftsbildung, die durch gemeinsame Aneignungspraktiken in Gang gesetzt wird, noch die Rückwirkung der darin ausgebildeten Routinen auf individuelle Rezeptionsweisen in den Blick. Der Prozess der Identitätsbildung durch Medienrezeption ist bei Luhmann zu individuell gedacht. Der soziale Einfluss geht über die Thematisierung medialer Inhalte in Interaktionen hinaus. Identitätsbildung durch Medienaneignung ist gewöhnlich keine isolierte Angelegenheit. Vielmehr steht die personale Identität in Zusammenhang mit der Identität einer Gruppe, in der sich die Medienaneignung vollzieht, den sog. »Interpretationsgemeinschaften« (vgl. Mikos 1994b: 104). Zur Bildung solcher Interpretationsgemeinschaften, etwa bei der Rezeption von Fernsehsendungen, kommt es 8 | In den Cultural Studies ist dieses Phänomen unter dem Begriff der Intertextualität (vgl. Fiske 1987: 115f.) sowie der Hyperrealität (vgl. Baudrillard 1978) bekannt.

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aufgrund des »Zusammenhang[s] zwischen den soziophatischen Funktionen und der Polysemie des Fernsehtextes« (Jurga 1999: 53). Im Gegensatz zur isolierter Rezeption kann durch den kommunikativen Austausch mit anderen aus der Mehrdeutigkeit einer Fernseherzählung erfolgreicher eine kohärente Interpretation konstruiert werden, da die De- und Umcodierung der intertextuellen Bezüge erleichtert wird. Durch gemeinsame Raster und Codes nehmen die Interpretationsgemeinschaften sowohl auf die Auswahl aus dem Medienangebot als auch auf die Interpretation von Inhalten Einfluss. Dabei bleiben Interpretationsgemeinschaften sozialen Kontexten verhaftet, wie z.B. familiären Beziehungen, subkulturellen Gruppen oder Fangemeinden. Die Medienaneignung in einer Interpretationsgemeinschaft kann in Abgrenzung zu dominanten Aneignungsweisen erfolgen, vor allem in subkulturellen Kontexten. Aber auch in Fangemeinden ist es durch einen taktischen Umgang mit Texten üblich, Bedeutungen zu generieren, die konträr zu den Intentionen der Produzenten populärkultureller Produkte stehen. Fans erweisen sich oft als kreative Bricoleure, die populäre Texte spielerisch umcodieren, indem sie einzelne Teile nach taktischen Gesichtspunkten in ihren nicht-medialen Alltag integrieren (vgl. Mikos 1994a: 114ff., 1994b: 118ff; siehe auch Göttlich in diesem Band). Interpretationsgemeinschaften können sich aus bereits bestehenden Sozialzusammenhängen wie Familie oder Freundeskreis bilden. Andererseits können aus einer ähnlichen Umgangsweise mit einem Medium auch neue Sozialwelten entstehen. Neben der Massenkultur bilden sich so Spezialkulturen aus, die sich über gemeinsame Aneignungspraktiken, Bedeutungen und Sinnvorstellungen integrieren. In diesen spezialisierten Sozialwelten wird eine Wirklichkeit im Sinne von Berger und Luckmann (1997) sozial konstruiert, die durch Medien vermittelt wählbar wird (vgl. Winter/Eckert 1990: 15f.).9 Die sich durch gleiche Arten der Medienaneignung definierenden Sozialwelten sind in ihrer Funktion vergleichbar mit vormodernen ›Stämmen‹. Doch im Gegensatz zu diesen sind die postmodernen ›Stämme‹ vorgestellte Gemeinschaften, die nur aufgrund symbolisch bezeugter Verpflichtung ihrer Mitglieder bestehen. Da ihre Existenz an ihre Attraktivität gekoppelt ist, müssen die postmodernen ›Stämme‹ um die knappe Ressource der öffentlichen Aufmerksamkeit kämpfen (vgl. Bauman 1995: 234). Aus der Perspektive der Medienfans geht es weniger um öffentliche Auf9 | Insbesondere das Kino hat zur Ausbildung von spezialisierten Sozialwelten entscheidend beigetragen. Viele Fanclubs gruppieren sich um einen Star, einen einzelnen Film oder ein bestimmtes Genre, wobei besonders die Stars Individualitätsmuster zur Spezialisierung der persönlichen Identität anbieten. Aber auch die Videotechnologie hat durch ihre dezentrale Verfügbarkeit der Differenzierung von spezialisierten Sozialwelten einen weiteren Schub gegeben (vgl. ebd.: 82ff, 108ff.).

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210 | Norbert Sieprath merksamkeit, als um die Möglichkeit, sich ein kulturelles Zuhause zu gestalten. Die Aneignung von Medien zeigt sich dabei als Ausdruck eines Verlangens nach Gemeinschaft in einer Welt, in der alles kontingent ist (vgl. Winter 1995: 216f.). Zentraler Bestandteil einer solchen »kulturellen Heimat« ist das »kulturelle Kapital« der Fans. Es wird durch eine intensive und produktive Beschäftigung mit der Populärkultur erworben und umschließt neben einem »Insider-Wissen« eine so genannte »Genrekompetenz« (Fiske 2000b: 67).10 Während die Medienanalysen der Cultural Studies die Ausbildung neuer Sozialwelten, Identitäten und Kapitalsorten innerhalb der Fan- und Spezialkulturen betont, finden sie in der Systemtheorie keine angemessene Berücksichtigung: »Das Luhmannsche Gesellschaftsmodell funktional differenzierter Gesellschaften erweist sich gegenüber solchen Identitäten als erstaunlich blind. Die Systemtypologie von Interaktion, Organisation und funktional differenzierten Subsystemen der Gesellschaft bietet diesen fremden Begriffen keine Heimat« (Stäheli 2000: 323).

Die funktionale Differenzierung wird begleitet von einer kulturellen Differenzierung, die sich zunehmend abkoppelt (vgl. Esser 2000: 111). Im Verlauf der »Mediatisierung« (Krotz 2001) der Gesellschaft spielen »Medien eine bedeutende Rolle als Kristallisationspunkte kultureller Differenzierung« (Winter 2000: 162). Offensichtlich hat die Identitätsbildung in der mediatisierten Gesellschaft neuartige Rekursionszusammenhänge emergieren lassen, die sich im Rahmen der Systemtheorie anhand der drei Systemarten Interaktion, Organisation und Gesellschaft nicht erfassen lassen. Hier ist folglich eine Erweiterung durch einen Typus nötig, der zwischen der Flüchtigkeit der Interaktion und der festen formalen Einbindung der Organisation liegt. Tyrell hat schon früh den Begriff der »Gruppe« als Zwischen10 | Kulturelles Kapital lässt sich nach Bourdieu als Wissen inkorporieren, in Form von kulturellen Gütern objektivieren oder z.B. in anerkannten Titeln institutionalisieren. Damit bezieht sich der Begriff bei Bourdieu auf gesellschaftlich anerkanntes, hochkulturelles Kapital, das sich in soziales Kapital und ökonomisches Kapital transformieren lässt (vgl. Bourdieu 1983: 185ff.). Fiske erweitert Bourdieus Modell um die Formen des populären kulturellen Kapitals, die vor allem durch das Fantum erworben werden. Dieses populärkulturelle Kapital kann jedoch gewöhnlich nicht in die ökonomische Kapitalform überführt werden. Der Wert des populärkulturellen Kapitals bemisst sich nur durch die Achtung, die einem von den anderen Fans entgegengebracht wird. Zur Akkumulation des populärkulturellen Kapitals ist die Anhäufung von Wissen genauso unerlässlich, wie in der offiziellen Kultur (vgl. Fiske 1997: 56ff.).

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typus vorgeschlagen. Obwohl Gruppen relativ interaktionsnah strukturiert sind, bestehen sie auch bei Abwesenheit der Mitglieder weiter (vgl. Tyrell 1983: 78ff.). Der rekursive Zusammenhang von gruppeninterner Kommunikation und darauf aufbauenden systemischen Strukturen wird jedoch erst mit der autopoietischen Konzeption von Gruppen eingeholt. Gruppen konstruieren über ihre Kommunikation einen Identitätskern, der den Anschluss weiterer Kommunikation ermöglicht. Diese Gruppenidentität wird durch die Differenz Ingroup/Outgroup gefestigt und fungiert als Medium, das den Verlauf der Gruppenkommunikation strukturiert (vgl. Fuhse 2001: 6ff.). Ob der Begriff der »identitätsbildenden Gruppe« geeignet ist, um Interpretationsgemeinschaften, Fan- und Spezialkulturen in die Systemtheorie einzubinden, soll an dieser Stelle offen bleiben. Es geht vielmehr darum, die systemtheoretische um eine praxistheoretische Beschreibungsformel gemeinschaftlicher Aneignung medialer Inhalte als emergenter, rekursiver Reproduktionszusammenhang zu ergänzen.

Die Bedeutung der Materialität der Medientechnik Ein weiterer blinder Fleck der Systemtheorie Luhmanns stellt die Materialität der Medien dar. Um es direkt auf den Punkt zu bringen: »[Die] Materialität der Medien spielt in Luhmanns Denken nicht die geringste Rolle« (Werber 2000: 324). Natürlich würde Luhmann nicht abstreiten, dass die Gesellschaft ohne die Evolution der Kommunikationsmedien eine ganz andere wäre. Er interessiert sich jedoch weniger dafür, ob Sätze in Stein gehauen oder in einen Computer eingetippt werden, als für die Veränderungen des kommunikativen Anschlussgeschehens. Damit steht er in direktem Gegensatz zur Theorie sozialer Praktiken, für die »die Objektwelt immer schon an der Formung der Sozialwelt teil hatte« (Hörning 1999a: 45). Viele soziale Praktiken setzen das Vorhandensein bestimmter Artefakte zu ihrer Reproduktion voraus. Durch deren sinnhaften Gebrauch werden sie zum unverzichtbaren Bestandteil einer sozialen Praktik. Damit wird die Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt in Frage gestellt (vgl. Reckwitz 2003: 291). Hörnings Kritik einer Materialitätsvergessenheit an der poststrukturalistischen Ausrichtung der Cultural Studies lässt sich auch auf die Systemtheorie ausdehnen, da ihr Kommunikationsbegriff dem Text-Paradigma recht nahe kommt. Mit der Textanalogie verschwindet die Wirkkraft der Objekte. Es ist aber nicht nur die Sprache, die als Medium kontingenter Bedeutungszuschreibungen fungiert. Auch der Umgang mit neuen technischen Artefakten erzeugt Kontingenzen (vgl. Hörning 1999b: 93f.). Dabei gilt jedoch keinesfalls als geklärt, welchen Status den Artefakten im Theo-

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212 | Norbert Sieprath riedesign sozialer Praktiken zugewiesen werden soll. Die Positionen schwanken zwischen Artefakten als Objekte des Gebrauchs durch menschliche Subjekte und Artefakte als eigenmächtige nicht-humane Aktanten (vgl. Reckwitz 2003: 298; siehe auch Wieser in diesem Band). Hörning verweist auf den möglichen kreativen Umgang mit dem Computer, dessen Nutzungsweise dem Gerät nicht eingeschrieben ist. Die Aneignungspraktiken sind weder technisch determiniert, noch können in jedem Fall die ›Interpretationsgemeinschaften‹ der Cultural Studies einen bestimmten Gebrauch entlang gemeinsamer Regeln vorgeben. Die Kontingenz steckt in den sozialen Aneignungspraktiken, ohne dass dies zu absoluter Beliebigkeit führen würde (vgl. Hörning 1999b: 106ff.). Technik lässt sich als Ressource umso wirkungsvoller einsetzen, je stärker die Nutzung zugeschriebenen Regeln folgt. Dem reflektierenden Bewusstsein stehen Regelabweichungen jedoch immer offen, was erst durch die Gepflogenheiten gemeinsamer Praktiken eingeschränkt wird. In den sozialen Praktiken zeigt sich der rekursive Bezug auf die materielle Technik, deren Gebrauchsweise sowohl Medium als auch Ergebnis sozialen Handelns ist (vgl. SchulzSchaeffer 2000: 17ff.). Auf der anderen Seite wird die Kontingenz nicht im Gebrauch der Dinge, sondern in diesen selbst gesehen, mit der Konsequenz, dass nichtmenschlichen Artefakten einen Akteursstatus in einem gemeinsamen Beziehungsnetzwerk zugestanden werden muss. Die sog. Akteur-NetzwerkTheorie versucht durch ihre eigene Theoriesprache, eine Symmetrie zwischen Menschen und Artefakten als Netzwerk herzustellen. Menschliche wie nicht-menschliche Aktanten folgen Skripts, wodurch soziale Praktiken aufrechterhalten werden (vgl. ebd.: 104ff.). Beispielsweise lassen sich schwere Schlüsselanhänger, die sich gewöhnlich an den Zimmerschlüsseln von Hotels befinden, als nicht-menschliche Aktanten auffassen. Sie ›übersetzen‹ die Aufforderung des Hoteliers, den Schlüssel abzugeben. Aufgrund ihrer Sperrigkeit veranlassen sie die Gäste schon aus Eigeninteresse die Schlüssel im Hotel zu lassen, was viel erfolgreicher ist als moralische Aufforderungen. Solche materiellen Artefakte fungieren als Aktanten eines Netzwerkes, denn ohne die Rolle, die sie einnehmen, wäre etwa die Praktik des Schlüsselabgebens so nicht aufrechtzuerhalten (vgl. Latour 1996: 53ff.). Mit der Einbeziehung der materiellen Artefakte in die Sozialtheorie versucht Latour, den Gegensatz von Struktur und Handeln aufzuheben. Zwischen der Interaktion und der Gesellschaft liegt keine Mikro-Makro-Grenze. Was die menschliche Gesellschaft vielmehr im Gegensatz zu den Primaten auszeichnet, ist eine Erweiterung intersubjektiver durch interobjektive Interaktionsbeziehungen. In diesem Sinne beschränkt Latour Interaktion also nicht auf den face-to-face-Kontakt, sondern sie übergreift mittels materieller Artefakte Raum- und Zeitgrenzen (vgl. Latour 2001: 237ff.). Eine Beteili-

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gung technischer Artefakte an sozialen Systemen ist für Luhmann ausgeschlossen, auch wenn soziale Strukturen und technische Abläufe voneinander abhängig sind. In der Systemtheorie wird dies als ›strukturelle Kopplung‹ von System und Umwelt bezeichnet (vgl. Luhmann 1997: 532). Vor allem lässt sich die Technik nach Luhmann nicht in Interaktionssysteme einbinden, denn diese basieren auf der Anwesenheit von Personen, die sich reflexiv wahrnehmen können (vgl. Luhmann 1972: 52ff.). Dies schließt aber nicht zwangsläufig aus, dass die Systemtheorie Anregungen aus der Praxistheorie aufnimmt, etwa eine »Sozialität mit Objekten« (Knorr Cetina 1998). Die materielle Welt findet Luhmanns Sozialtheorie keine Berücksichtigung, da er von der Prämisse ausgeht, dass soziale Systeme Handeln nur selbstreflexiven psychischen Systemen zuschreiben können. Diese Einschränkung auf psychische Systeme ist jedoch keineswegs zwingend, gerade weil Handeln eine Zurechnung in der Kommunikation darstellt, deren Ursachen, wie etwa Motive, sich der Beobachtung entziehen. Dem ›Handelnden‹ wird unterstellt, dass er die Varianz von Handlungsoptionen selbstständig reduziert (vgl. Luhmann 1981: 62). Man muss nicht so weit gehen wie Latour, und jedem technischen Artefakt, das über die Fähigkeit verfügt, etwas zu bewirken, das Potenzial zum Handeln zusprechen. Avancierte Computertechnologien wie Roboter oder adaptionsfähige Softwareprogramme (Agenten) verfügen aber zweifelsfrei über die Möglichkeit zu kontingentem Handeln. Da in der Kommunikation mit ›intelligenter‹ Computertechnologie keine wechselseitige reflexive Wahrnehmung stattfindet, sollte man hier den Begriff Interaktion vermeiden und stattdessen von ›Interaktivität‹ sprechen (vgl. Rammert/Schulz-Schaeffer 2002: 16ff.). Auch wenn Computerprogramme vorgeschriebenen Regeln folgen, lassen sich ihre Ergebnisse nicht vorauszusehen. Ihre Operationsweise ist demnach durch »virtuelle Kontingenz« (Esposito 2002: 303) bestimmt. Ähnlich wie die Situation der »doppelten Kontingenz« zwischen Ego und Alter (vgl. Luhmann 1996a: 154ff.), ermöglicht auch das Zusammentreffen von menschlichen und nicht-menschlichen Sinnverarbeitungsinstanzen die Herausbildung von Kommunikationssystemen. Avancierte Computertechnologie kann allerdings nur in eingeschränktem Maße Sinn verarbeiten, was man als »Proto-Sinn« bezeichnen könnte (vgl. Lorentzen 2002: 106f.). Praxistheoretische Ansätze betonen die konstitutive Rolle des Materiellen in sozialen Praktiken. Auch wenn diese Perspektive mehr über den Zusammenhang von Sachtechnik und Gesellschaft als die systemtheoretische Konzeption der strukturellen Kopplung von sozialen Systemen und ihrer materiellen Umwelt (vgl. Schulz-Schaeffer 2000: 70; siehe auch Hirschauer in diesem Band) beizutragen weiß, lässt sie sich teilweise in die Systemtheorie integrieren. Würde man jedoch den potenziell kontingenten Gebrauch

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214 | Norbert Sieprath jeglichen materiellen Artefakts als Partizipationsfähigkeit an sozialen Systemen auffassen, so würde der Systembegriff zu sehr an Tiefenschärfe verlieren. Mit der Beschränkung auf sinnverarbeitungsfähige ›Aktanten‹ als Zuschreibungsinstanzen für Handeln kann die Systemtheorie jedoch von der Praxistheorie profitieren und einen weiteren blinden Fleck erhellen.

Fazit Systemtheorie wie Praxistheorie stimmen darin überein, Sozialität als ein emergentes Phänomen der Sinnproduktion aufzufassen. Dieses Sinngeschehen bildet temporäre Strukturen aus, die in einem rekursiven Prozess anschließende Handlungen bzw. Kommunikation ermöglichen wie einschränken, womit diese permanent auch wieder modifiziert werden. In diesen rekursiven Prozessen werden stets Kontingenzen erzeugt und verarbeitet. Medienaneignung ist in unterschiedliche soziale Praktiken eingebunden, die sich als Ursache wie auch als Wirkung der Bedeutungskontingenz verstehen lassen. Diese von den Cultural Studies beschriebenen Interpretationsgemeinschaften fordern die Systemtheorie heraus, da die damit einhergehende Identitätsbildung als sozialer Prozess durch den Begriff des Interaktionssystems nicht angemessen erfasst wird. Mit der zunehmenden kulturellen Differenzierung emergieren rekursive soziale Prozesse, die sich über Identitätsproduktion kristallisieren und eine relative Stabilität aufweisen. So wie ›oberhalb‹ der Interaktionsebene eine weitere Systemebene zwischen Interaktion und Organisation einzuziehen ist, muss auch ›unterhalb‹ der Interaktionsebene die Systemtheorie um einen zusätzlichen Kommunikationstypus ergänzt werden. Praxistheoretische Ansätze haben darauf hingewiesen, dass auch technische Artefakte an sozialen Reproduktionsprozessen beteiligt sind. Zumindest eingeschränkt sinnverarbeitungskompetenten Technologien kann die Partizipationsfähigkeit an sozialen Systemen zugestanden werden. Dass Handeln in der Systemtheorie auf sozialen Zuschreibungsprozessen und nicht auf ontologischen Prämissen beruht, macht die Systemtheorie für eine Erweiterung der Handlungsträgerschaft ausbaufähig.

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Hybridität sozialer Praktiken

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) T05_00 resp 5.p 60679395166

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) vakat 220.p 60679395182

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Hybridität und ihre deutschsprachige Rezeption. Zur diskursiven Einverleibung des ›Anderen‹ Kien Nghi Ha

Seit Ende der 1990er Jahre sind Cultural und Postcolonial Studies vornehmlich in ihrer anglo-amerikanischen Ausformung im deutschsprachigen Raum auch über die ›angestammten‹ Fachgrenzen hinaus bekannt und im Zuge dessen verstärkt aufgegriffen worden. Nach einer rasanten Popularisierungsphase sind zentrale Termini aus den Cultural und Postcolonial Studies im heutigen akademischen Diskursfeld über Migration, Globalisierung, interkulturelle Kommunikation, Ethnizität und kulturelle Identität kaum noch wegzudenken. Vor allem die Idee der Hybridität ist im Rahmen des Trends zur Neuausrichtung der Geistes- und Sozialwissenschaften, dem cultural turn, zum neuen Schlüssel- und Modebegriff avanciert. »Innerhalb philosophischer, soziologischer, medien- und auch kunstwissenschaftlicher Diskurse wird zunehmend von Prozessen der Hybridisierung gesprochen. Hybridisierung kann sich dabei auf Materialien und Medien, Symbolsysteme und Codes, Lebensstile und Wertsysteme beziehen. Auffallend ist: Nicht trennscharfe Distinktionen und Definitionen sind derzeit entscheidend, sondern Vermischungen« (Schneider 2000: 175), die die »Hybridisierung als Signatur der Zeit« (ebd.) erscheinen lässt. Auch auf der alltagsweltlichen Ebene hat ein universalisiertes Verständnis von Hybridität eine bemerkenswerte Begriffskarriere ermöglicht: Während der Begriff ›hybrid‹ – der außerhalb der Biologie bis dato extrem ungebräuchlich war – heute als Schlagwort im Feuilleton fungiert, bedient sich die Marketingsprache seiner, um Produkte wie das zukunftsfähige Hybridauto, grenzenlose Crossover-Musik oder auch genetische Hybridisierung mit einem kulturellen Mehrwert und innovativen Image aufzuladen: »Hybrid meint: ein

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222 | Kien Nghi Ha Produkt ist effizienter, schneller und multifunktionaler verwendbar. Hybrid referiert auf ökonomische Sachverhalte, codiert Marktchancen« (ebd.).1 Dieser Beitrag problematisiert analoge Tendenzen in der sozialwissenschaftlichen Rezeption von Hybridität im deutschsprachigen Raum. Ausgehend von der Beobachtung, dass Hybridität nicht selten ohne ihre grundlegenden historischen und politischen Kontexte als Modell ›kultureller Vermischung‹ vorgestellt und euphorisch als neuartiger Vergesellschaftungsmodus zelebriert wird, wird hier die These vertreten, dass diese Konzeption von Hybridität den zugrundeliegenden Problemstellungen und Intentionen des postkolonialen Diskurses zuwiderläuft. Bei dieser Bedeutungsverschiebung postkolonialer Terminologien handelt es sich weniger um ein Phänomen des lost in transition, das immer dann auftreten kann, wenn ein Diskurs in einen anderen übersetzt wird. Vielmehr ist von einer Missrepräsentation bei dieser Form der Aneignung postkolonialer Kritik auszugehen. Durch die diskursive Einverleibung des ›Anderen‹ drohen historische Kontexte und politische Positionierungen verlorenzugehen, die für das kritische Potenzial des postkolonialen Diskurses wesentlich sind. Nicht zuletzt verweist die einseitige Rezeptionsweise auch auf bestehende Machtverhältnisse und Zugangsbeschränkungen für Marginalisierte, deren Perspektiven in den dominanten Diskursen wie in der Gesellschaft wenig Geltung besitzen. Angesichts dieser konstatierten Situation erscheint es sinnvoll, den Hybriditätsbegriff kritisch zu durchleuchten und lokale Übertragungen im Hinblick auf problematische Verkürzungen, Auslassungen und Funktionalisierungen zu diskutieren.

Hybridität als Strategie kultureller Subversion bei Homi Bhabha Der Begriff der Hybridität ist in den Sozial- und Kulturwissenschaften vor allem durch die Arbeiten von Homi Bhabha (2000) eingeführt worden. Bei Bhabha finden sich zwei Bedeutungsebenen dieses Begriffes wieder: 1. Hybridität als eine Praxis der kulturellen Subversion im kolonialen Diskurs; 2. Hybridität als Bestandteil einer postkolonialen Kulturtheorie.2 Bei der 1 | Für eine kulturgeschichtliche Spurensuche und Analyse postmoderner Hybriditätskonzepte im Rahmen spätkapitalistischer Verwertungsprozesse siehe Ha (2004). 2 | In «Die Verortung der Kultur» (Bhabha 2000) wird der historisch-politische Bedeutungskontext in Aufsätzen wie »Die Frage des Anderen: Stereotyp, Diskriminierung und der Diskurs des Kolonialismus« und »Von Mimikry und Menschen: Die Ambivalenz des kolonialen Diskurses« erörtert, während Arbeiten »Wie

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Analyse kolonialer Diskurse sind zwei Annahmen für Bhabha entscheidend: Erstens geht er von einer grundsätzlichen Ambivalenz kolonialer Diskurse aus; zweitens behauptet Bhabha, dass der Kolonialismus keine totale Machtasymmetrie durchsetzen konnte (vgl. Ha 1999: 126-136). Die Ambivalenz kolonialer Autorität produziert vielmehr eine kulturelle Hybridität, in der das Doppel aus Abspaltung und Identifikation auf beiden Seiten der undefinierbaren und instabilen Grenzlinie eingeschrieben ist. Das paradoxe Ergebnis ist, dass der koloniale Diskurs sich selbst in Frage stellt, indem er »unreine Vermischungen« erschafft, die zwar nicht mit der Kolonialmacht identisch, aber ihr zum Verwechseln ähnlich sind (vgl. Bhabha 2000: 159171). »Wenn wir ein derartiges ›Überschreiten‹ aufzeigen, so geschieht dies nicht nur, um die fröhliche Macht des Signifikanten zu feiern. Hybridität ist das Zeichen der Produktivität der kolonialen Macht, ihrer flottierenden Kräfte und Fixpunkte […] Hybridität ist die Umwertung des Ausgangspunktes kolonialer Identitätsstiftung durch Wiederholung der diskriminatorischen Identitätseffekte […] Sie entthront die mimetischen oder narzisstischen Forderungen der kolonialen Macht, führt ihre Identifikationen aber in Strategien der Subversion wieder ein, die den Blick des Diskriminierten zurück auf das Auge der Macht richten« (ebd.: 165).

Diskursive Ähnlichkeit entsteht durch Verschiebung, Dezentrierung, Umkehrung oder auch nur unpassenden Gebrauch dominanter Symbole und Repräsentationen im Diskurs der Marginalisierten. In dieser Wiederholung und gleichzeitigen Entstellung dominanter Diskurse entsteht eine subversive Differenz, in der hegemoniale Zeichen und Bedeutungen umgedeutet, verunreinigt, hybridisiert werden. Bhabhas historische Beispiele für widerspenstige Vereinnahmungen und den Missbrauch dominanter Diskurse durch kolonialisierte Akteure beziehen sich etwa auf christliche Missionierungspraktiken in Indien, die lokal durchaus unerwünschte und unvorhersehbare Folgen für die koloniale Autorität hatten. Ein Problem war, dass die lokale Bevölkerung koloniale Zeichen indigenisierte und der europäischen Kultur entwendete. Strategien der Entstellung dominanter Symbole und Bilder erhalten ihre subversive Kraft, indem sie koloniale Diskurse in marginalisierte Kontexte übersetzen und dabei verfremden. Hybridisierung wird bei Bhabha nicht als harmonische und ästhetische Form »kultureller Vermischung« gedacht, sondern bezeichnet eine Möglichkeit, das kulturelle Feld gegen hegemoniale Kräfte für Marginalisierte zu instrumentalisieren, wodurch der koloniale Rahmen das Neue in die Welt kommt: Postmoderner Raum, postkoloniale Zeiten und die Prozesse kultureller Übersetzung« stärker kulturtheoretisch orientiert sind.

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224 | Kien Nghi Ha überschritten und neue Assoziationen und Bedeutungen geschaffen werden, die Eindeutigkeit in Zwiespalt verwandelt. Ein klassisches Beispiel ist Shakespeares »Der Sturm« (1611). Prospero als Kolonialherr und Caliban als kolonialisierter Knecht tragen hier stellvertretend den kolonialen Diskurs aus. Caliban sagt, genauer Shakespeare als personifizierte Kolonialkultur lässt den Kolonialisierten sagen: »Ihr lehrtet Sprache mir, und mein Gewinn ist, dass ich weiss zu fluchen. Hol’ die Pest Euch fürs Lehren Eurer Sprache« (Shakespeare 1975: 611). Diese Beschreibung der kolonialen Situation hat wie keine andere Meistererzählung zu unzähligen Adaptionen und postkolonialen Gegen-Narrationen inspiriert. Hybridität ist nach Bhabha ein Prozess, der dualistische wie statische Unterscheidungen wie das Eigene/ das Andere, innen/aussen, hoch/niedrig usw. unterläuft und ihre Konstrukthaftigkeit bloßlegt. »Meine Auffassung, wie ich sie in meinen Schriften zum postkolonialen Diskurs an Begriffen wie Nachahmung, Hybridität und falsche Höflichkeit dargelegt habe, ist, dass dieser Schwellen-Moment der Identifikation eine subversive Strategie subalternen Handlungsspielraums hervorbringt, der seine Autorität schafft, durch wiederholtes ›Auftrennen‹ und aufrührerisches Neuverknüpfen« (Bhabha 1996a: 353).

Die Existenz eines subalternen Handlungsraums, der nicht als authentisch begriffen wird, setzt bei Bhabha die Unmöglichkeit totaler Herrschaft voraus. Selbst im Kolonialismus mit seiner offenen und brutalen Unterdrückung konnte der Kolonisierende den Kolonisierten nie gänzlich besitzen, beherrschen oder zum Schweigen bringen. Es gab immer Momente von Eigensinn und Widerstand kolonisierter Subjekte, die sich artikulierten und nicht durch die dominante Macht gebrochen werden konnten. Folgt man dem Ansatz einer kulturellen Selbstermächtigungspraxis, ergibt sich eine zusätzliche Lesart für Frantz Fanons berühmte Allegorie »schwarze Haut, weiße Masken«. Dieses koloniale Phänomen ist ein hybrides Zeichen, das nicht mehr zwangsläufig als internalisierter Rassismus interpretiert werden muss. Hybride »Kultur als Überlebensstrategie« (ebd.: 346) öffnet neue Räume und Möglichkeiten der Aneignung, in denen Camouflage und Mimikry als kultureller Widerstand für Unterlegene verfügbar sind. »Wenn wir die Wirkung der kolonialen Macht in der Produktion von Hybridisierung sehen statt in der lautstarken Ausübung der kolonialistischen Autorität oder der stillschweigenden Unterdrückung einheimischer Traditionen, so hat das eine wichtige Veränderung der Perspektive zur Folge. Die Ambivalenz am Ursprung der traditionellen Diskurse über Autorität ermöglicht eine Form der Subversion, die auf der Unentscheidbarkeit beruht, die die diskursiven Bedingungen der Beherrschung in die Ausgangsbasis der Intervention verwandelt« (Bhabha 2000: 166).

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Für Bhabha ist Widerstand nicht notwendigerweise ein Akt, der sich außerhalb kolonialer Diskurse abspielt. Widerstand kann auch daraus entstehen, dass die koloniale Autorität durch ihren Überschuss, der in eine unheimliche Ähnlichkeit des Kolonisierten mit dem Kolonisierenden einmündet, erschüttert wird. In diesem Sinne ist kulturelle Hybridität bei Bhabha ein diskursiver Machteffekt, bei dem das Minoritäre erst durch die Anwesenheit des Dominanten erzeugt wird. Bhabha konzipiert kulturelle Hybridität als Modus politischer Artikulation, deren verstörende Effekte durch koloniale Ambivalenz hervorgebracht werden. »In my own work I have developed the concept of hybridity to describe the construction of cultural authority within conditions of political antagonism or inequity. Strategies of hybridization reveal an estranging movement in the ›authoritative‹, even authoritarian inscriptions of the cultural sign. At the point at which the precept attempts to objectify itself as a generalized knowledge or a normalizing, hegemonic practice, the hybrid strategy or discourse opens up a space of negotiation where power is unequal but its articulation may be equivocal« (Bhabha 1996b: 58).

Hybridität als jene unheimliche Ähnlichkeit, die im kolonialen Diskurs als Überlagerungsphänomen kultureller Differenzen entsteht, konfrontiert den dominanten Diskurs mit seiner Gegenstimme, die nicht mit eindeutiger Sicherheit als die authentische Stimme des fremden, unterlegenen Anderen identifiziert werden kann. Diese Uneindeutigkeit verweist auf die grundlegende Arbeitsweise von Kultur, die jede Vorstellung von Homogenität, Authentizität und Essenzialismus als unmöglich zurückweist. Der Nimbus kultureller Abgeschlossenheit und Überlegenheit hat daher außer der ideologischen keine weiteren Grundlagen.

Enthistorisierung und postmoderne Rekonfiguration postkolonialer Diskurse Obwohl Bhabha in seinem einflussreichen Buch »The Location of Culture« (1994) seine Theorie der Hybridität im Rahmen post-/kolonialer Diskurse und Praktiken situiert, wird dieser vielschichtig angelegte Hybriditätsbegriff in einem beachtenswerten Teil der deutschsprachigen Rezeption mit Vorliebe zu einem postmodernen third space-Ansatz verkürzt. Bereits zum Auftakt wurde diese Richtung in der Einleitung des weitverbreiteten Sammelbandes »Hybride Kulturen« eingeschlagen, der laut Rückcover »erstmals Texte der maßgeblichen anglo-amerikanischen Theoretiker in deutscher Sprache« vorlegte und daher einen besonderen Status genießt. Anstatt postkoloniale Kritik als Anstoß für die Revision kolonialer Geschichtsbilder

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226 | Kien Nghi Ha zunehmen, die sich nicht zuletzt der Mittel der Verharmlosung und Relativierung bedienen,3 bestätigen die Herausgeber dominante Geschichtsrituale durch die Behauptung: »Eine koloniale Vergangenheit im großen Stil hatte Deutschland nicht gehabt« (Bronfen/Marius 1997: 8). Obwohl diese enthistorisierende Perspektive die Irrelevanz kolonialer Verhältnisse in Form einer Tatsachenbeschreibung attestiert, ist sie doch strategisch motiviert, um den postkolonialen Blick auf die hierzulande wirklich interessierenden Themenfelder umzulenken: »Erst in dieser Rekonfiguration wird die Debatte für den deutschen Sprachraum wirklich interessant, weil sie nun die genannten realgeschichtlichen Phänomene der postmodernen Welt – Massenmigration, globale Zirkulation von Waren, Dienstleistungen, Zeichen und Informationen – soziologisch und kulturtheoretisch untersucht« (ebd.: 9).

Die damit verbundene Privilegierung der postmodernen Kondition und die Entthematisierung kolonialer Beziehungen entspricht dabei durchaus den gesellschaftlich dominanten Koordinaten – obwohl die koloniale Präsenz etwa in der deutschen Arbeitsmigrationspolitik gesellschaftliche Praxis geblieben ist (vgl. Ha 2003b). Durch diese entproblematisierende Geschichtsnarration wird »die eigene koloniale Geschichte mit einem Satz fortgewischt« (Terkessidis 1997: 55). Diese Adaption muss um so mehr überraschen, als darin eine Negation zum Ausdruck kommt, die die Beweggründe des postkolonialen Projektes in einem entscheidenden Punkt umkehrt. Denn der Begriff »›Post‹kolonial bezieht sich weder auf eine vergangene historische Periode, noch beinhaltet der Begriff eine regionale ›Dritte-Welt‹-Beschränkung; vielmehr wird zum Ausgangspunkt von Kritik eine historische Erfahrung – die des Kolonialismus –, deren Fortwirken sich in der Auseinandersetzung um westlich geprägte sozio-kulturelle Hegemonie und Interpretationsmuster niederschlägt« (Küster 1998: 179; vgl. auch Ha 1999: 84).

Daher ist es problematisch, die Bedeutung kolonialer Dominanz wie üblich anhand von scheinbar objektiven ökonomischen, demographischen und geopolitischen Kennziffern zu messen. Solche Vorgehensweisen lassen die Wirkungsmächtigkeit und die Nachhaltigkeit kolonialer Denkweisen im

3 | Vgl. für eine eurozentrische und bagatellisierende Historiographie deutscher Kolonialgeschichte exemplarisch Görtemaker 1989: 345-358. Vgl. Kommentar in Ha 2003b: Fn. 9.

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ideologischen und kulturellen Bereich außer Acht.4 Zudem reproduziert dieser Reduktionismus eine Machtstruktur, die auf den Ausschluss subalterner Subjekte und ihrer Perspektiven aus der Wissensproduktion hinausläuft. Dass der deutsche Kolonialismus in der BRD als unbedeutende Randfrage behandelt wird, während er etwa für die Herero eine axiomatische Erfahrung war, liegt nicht in der Ereignisgeschichte begründet. Vielmehr spiegeln Diskursformationen die Durchsetzungsmöglichkeiten unterschiedlicher Betroffenheiten und Interessen und das heißt auch immer Machtfragen wider, die nicht über den Dingen stehen, sondern im sozialen und historischen Prozess verortet sind. Wie stark kulturelle Positionierungen in der lokalen Kontextualisierung postkolonialer Kritik eingeschrieben sind, lässt sich exemplarisch im Werbetext auf dem Buchrücken von »Hybride Kulturen« ablesen: »Deutschland hatte kaum Kolonien, die heute das öffentliche Klima mitbeeinflussen und beleben könnten.« In dieser Formulierung klingt zum einem so etwas wie ein Bedauern an, dass koloniale Ressourcen nicht zur gesellschaftlichen Belebung zur Verfügung stehen; zum anderen wird im Werbetext auch der Wunsch artikuliert, Kolonien als Quelle von Produktivität und ›die Fremden‹ als ›Chance‹ nutzen zu wollen. Auch als kulturelles ›Missverständnis‹ sind solche Formulierungen signifikant und keineswegs beliebig. Ob ›die Fremden‹ sich als Fremde begreifen und als Chance für die deutsche Gesellschaft instrumentalisiert werden wollen, bleibt zudem dahingestellt. Eine andere eurozentrierte Perspektive findet sich bei Claus Leggewie, der den »Grund für die Überzeugungskraft des amerikanischen Traums […] [in seiner] hybride[n] Mischung aus allen möglichen Kulturen der Welt« sieht: »Faktisch zeichnete eher Kreolisierung, verstanden als kulturelle Überlappung und Vermischung, die Amerikanisierung aus, und eben diese spezifische Genese der ›ersten neuen Nation‹ (Seymour M. Lipset) erklärt die stupende weltweite Anschlussfähigkeit […] in anderen Gesellschaften, die, historisch gesehen, allesamt Herkunftsnationen der Vereinigten Staaten von Amerika sind« (Leggewie 2000: 886). Dieses Bild funktioniert allerdings nur, wenn man das prä-europäische Amerika als ›menschenleeres Land‹ konstruiert sowie die Genozide, die Zwangsmigrationen und die rassistische Ausschließung asiatischer EinwanderInnen als nicht wesentlich einschätzt. Die von Bronfen und Marius gewählte Rezeptionsstrategie der Rekonfi-

4 | Wenn wir etwa der Auffassung von Wehler (1985) folgen, der die Idee der Kolonialisierung als »ideologischen Konsensus« (S. 112-155) in der deutschen Gesellschaft beschreibt und den »Kolonialrausch« (S. 464-485) als massenwirksame Sozialpathologie klassifiziert, dann ergeben sich ganz andere Geschichtszugänge.

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228 | Kien Nghi Ha guration ist kein Einzelfall. Obwohl der postkoloniale Diskurs sich grundlegend auf koloniale Verhältnisse bezieht und koloniale Präsenzen in der Gegenwart untersucht, wird diese Fragestellung zum Teil vollständig ausgeblendet. Dieses zentrale Machtaxiom der Moderne ist beispielsweise auch beim Leiter des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft kein Thema. Zwar interessiert sich Bernd Wagner (2001) in seinem Text über Globalisierung und Hybridisierung für Kreolisierungsprozesse in der Karibik, verliert aber in seiner betont kulturalistischen und ästhetisierenden Deutung, die politische und ökonomische Machtverhältnisse weitestgehend ausblendet, kein Wort über ihre Kolonialgeschichte. Der immanente Kontext von Deportation, Ausbeutung und Gewalt gegen schwarze und indigene Menschen, die der Kreolisierung vorausgingen und sie prägten, bleibt verborgen. Infolge der Enthistorisierung und Postmodernisierung des Hybriditätskonzepts werden zentrale Begrifflichkeiten wie ›Kreolisierung‹ oder ›Bastardisierung‹ viel zu selten im Rahmen kolonialer Prozesse und rassentheoretischer Diskurse aufgearbeitet. Dieses Defizit wiegt um so schwerer, als die Hybridisierung ihrem historischen Ausgangspunkt nach zunächst als ›rassische Bastardisierung‹ in Erscheinung trat. Gerade in Deutschland konnten die sozialdarwinistischen Rassenhygieniker mit ihren Pathologisierungsdiskursen gegen ›Rassenmischlinge und -bastarde‹ insbesondere während des Nationalsozialismus eine bisher unerreichte Gestaltungsmacht erlangen.5 Da diese Kontexte nicht interessieren, wird Kreolisierung oft als harmonische kulturelle Begegnung konstruiert, die als »Metapher für Mischung afrikanischer und europäischer Sprache, Abstammung und kultureller Gebräuche« (Wagner 2001: 18) steht. Entsprechend fällt Wagners Definition aus: »Hybridisierung meint die Vermischung verschiedener kultureller Stile, Formen und Traditionen, aus der etwas Neues entsteht, eine ›globale Melange‹« (ebd.: 17). Angesichts der historischen Kontexte wäre es aber sinnvoller, Hybridität nicht als normativen, sondern als kritisch-analytischen Begriff zu verwenden.

5 | Ausführlich Ha 2003a. Siehe auch Young (1995) und Stoler (1995). Da das Hybride in kolonialen Diskursen als »Rassenvermischung« vorgestellt wurde, ist es fragwürdig »ausgerechnet das Kriterium der »›Mischehen‹ jeder Art […] [zur] Gretchenfrage des Multikulturalismus« (Leggewie 2000: 888) zu erheben – zumal diese Thematik auch mit Problemen globaler Ungleichheiten, mit Verfügungsmöglichkeiten über weibliche Sexualität aus Trikontgesellschaften und mit exotisierendem Differenzkonsum verbunden ist.

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Postmodernisierter Multikulturalismus und versteckter Kulturessenzialismus Da Hybridität im Anschluss an Bhabhas einflussreiche third space-Metapher primär als Raum zwischen den Kulturen rezipiert wird, wird der offene und dialogische Kulturaustausch sowie seine Dynamik in der globalisierten Weltgesellschaft betont. Kulturentwicklung scheint in eine postmoderne Konstellation eingetreten zu sein, in der das herrschaftslose Crossover zum Strukturprinzip gehört. Begriffe wie transnationale Grenzüberschreitung, kulturelle Grenz- und Zwischenräume, Deterritorialisierung, Synkretismus, multiple Identitäten, Inter- und Transkulturalität bilden in diesem Kontext nur die geläufigsten Stichwörter bzw. Denkmodelle, die mittlerweile auch im deutschsprachigen Wissenschaftsdiskurs Einzug gehalten haben. Im Kontrast zur fortgeschrittenen Terminologie wirken konkrete Beschreibungen von Hybridkulturen zuweilen recht banal. Zu den üblichen Verdächtigen gehört Salman Rushdie, der für viele den »hybriden, postkolonialen Künstler zwischen verschiedenen Kulturen« (ebd.: 21) verkörpert und dessen Romane oft als grenzüberschreitende Visionen gelesen werden (vgl. Wicker 2000: 206f., 213). Sein »Liebeslieb für Bastarde« (Rushdie 1992: 459) gehört zu den am häufigsten zitierten Beschreibungen kultureller Hybridität. Es ist signifikant, dass Wagner ausgerechnet jene Passagen aus Rushdies Roman »Der Boden unter den Füßen« (1999) als kulturelle Hybridisierung vorstellt, die eher an eine Aneinanderreihung multikultureller Stereotypen erinnern. Hybridisierung entsteht anscheinend, wenn »ethnisch-nationale Eigenschaften« sich eklektisch verbinden, wenn in Rushdies Worten »die Trommeln Afrikas […] [d]ie polnischen Tänze, die italienischen Hochzeiten, die Sorbas-zithernden Griechen,die trunkenen Rhythmen der Salsa-Heiligen. […] die Sexyness der kubanischen Blechbläser, die faszinierenden Rhythmen der brasilianischen Trommeln« (zit. nach Wagner 2001: 21) miteinander verschmelzen. In anderen Diskursen wurden Rushdie und weitere postkoloniale Metropolen-Intellektuelle mit dem Vorwurf konfrontiert, die Bedürfnisse eines ethnographischen Tourismus zu bedienen (vgl. Schmidt-Haberkamp 2000). Wenn solche Klischees als Grundlage für die neuen ›hybriden Vermischungen‹ genommen werden, dann wirken sie nicht hybrid, sondern allenfalls ethnisierend und exotisierend. Offensichtlich greifen solche Wahrnehmungen, der modernisierten Terminologie zum Trotz, immer noch auf ein Denken zurück, in der multikulturelle Pluralität als ethnisch-kulturelles Abgrenzungsmodell funktioniert. Denn die Vermischung setzt – wie nicht nur Wagner meint6 – die

6 | Vgl. zur Konzeption von Hybridität als Bikulturalität etwa Robertson

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230 | Kien Nghi Ha »Betonung des Eigenen und Originären« (Wagner 2001: 23) voraus. Eine solche Wahrnehmungsweise kann binäre Kultur- und Identitätsschemata verfestigen, da die Kategorien des ›Eigenen‹ und des ›Anderen‹ nicht hinterfragt werden. In einem solchen Modell wird kulturelle Differenz nicht im Selbst lokalisiert, sondern als äußerliche Differenz gesehen, die sich an ethnischen, nationalen und religiösen Grenzziehungen orientiert. Die Betonung von Authentizität und ethnisch-national aufgeladenen Kultureigenheiten als Voraussetzung für Hybridisierung führt zu einem modernisierten Multikulturalismus. Der Fokus ist dann nicht mehr auf das Nebeneinander, sondern auf die gegenseitige Befruchtung homogener Kultureinheiten gerichtet. Diese Sichtweise setzt allerdings statische und abgrenzbare Kulturen voraus. So glaubt Peter Stachel von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Hybridität folgendermaßen charakterisieren zu können: »Positiv besetzt sei in Zusammenhang mit der postkolonialen Theorie hingegen der Schlüsselbegriff der Hybridität. Nicht Abgrenzung, nicht Assimilation, sondern eine wechselseitige Durchdringung unterschiedlicher Kulturen sei damit angesprochen, vorausgesetzt sei allerdings die Existenz mehr oder weniger stabiler Kulturen« (zit. nach Ernst 2001: 2). Wenn Hybridität als reine Vermischungen ganzer Kulturen gedacht wird, dann missdeutet man Bhabha gründlich, der sich des öfteren vehement gegen essenzialistische Modelle kultureller Diversität und multikulturellen Exotismus ausgesprochen hat. Sein Third Space thematisiert eine Perspektive, die »den Weg zur Konzeptualisierung einer internationalen Kultur weisen könnte, die nicht auf die Exotik des Multikulturalismus oder der Diversität der Kulturen, sondern auf der Einschreibung und Artikulation der Hybridität von Kultur beruht. Dabei sollten wir immer daran denken, dass es das ›inter‹ – das Entscheidende am Übersetzen und Verhandeln, am Raum da-zwischen – ist, das den Hauptteil kultureller Bedeutung in sich trägt. Dadurch wird es uns möglich, Schritt für Schritt nationale, anti-nationale Geschichten des ›Volkes‹ ins Auge zu fassen. Und indem wir diesen Dritten Raum erkunden, können wir der Politik der Polarität entkommen und zu den anderen unserer selbst werden« (Bhabha 2000: 58).

(2000: 370f.). Tradierte Kulturmodelle sind auch häufig im Diskurs über Interkulturalität präsent: etwa bei Schoen (1999).

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Kulturkonsum, Missrepräsentation und Vereinnahmung des Anderen Nichtsdestotrotz ist im deutschen Kontext ein Hybriditätsverständnis populär, das das Lob der kulturellen Vermischung in den Mittelpunkt stellt. Dabei kommt es zu einer Entthematisierung gesellschaftlicher Machtverhältnisse, die durch die Betonung der ästhetischen und konsumtiven Aspekte kultureller Hybridisierung ersetzt werden (vgl. Terkessidis 1999; Steyerl 2000, 2003). So wird im gesamten Text von Wagner nur einmal im Nebensatz die Ausgrenzung und Diskriminierung von MigrantInnen angedeutet, obwohl diese Erfahrungen für die Betroffenen elementar sind. Stattdessen konzentriert sich sein Interesse auf den Spaßfaktor migrantischer HipHop-Subkulturen, die als die »heutigen Zentren der Hybridisierung« (Wagner 2001: 19) angesehen werden. »Die Volkskultur der Vorstädte holt sich aus der Massenkultur, was ihr gefällt, setzt diese Elemente anders zusammen und gibt sie in Gestalt von trickreichen Kombinationen und witzigen Einfällen an die riesige Maschine unserer gemeinsamen populären Kultur zurück« (Heinz Bude zit. nach Wagner 2001: 19). Die Inszenierung von Hybridität im Bild eines bunten Völkerfestes und lustigen Kulturkonsumbetriebs, in dem sich jeder frei und kreativ im Rahmen seiner ethnisch-kulturellen Ressourcen, Grenzen und Kompetenzen einbringt, erinnert an jene grenzenlose Party, die eine »Utopie in Metaphern des Feierns Ausdruck verleihen [soll] […] ich würde hier nicht so sehr an das Modell ›Multikulti-Gartenfest‹ denken, auf dem Folklore dargeboten wird und in der das politische Subjekt durch den Anderen seine Korrektheit genießen kann, sondern eher an eine Club-Nacht, in der nationale und (sub-)kulturelle Differenzen […] produktiv eingesetzt werden« (Bronfen/Marius 1997: 12).

Wir lernen, dass Hybridität uns zwar bereichert und anregt, aber uns nicht in unserer Substanz bedroht. Das Interesse an den neuen Migrationskulturen beruht auf einem klassischen Missverständnis, denn es unterstellt, dass die junge MigrantInnen und andere Deutsche »Rückhalt in einer Herkunft und Spaß am Konsum« (Heinz Bude zit. nach Wagner 2001: 19) suchen, obwohl sich gerade migrantische Kulturschaffende der zweiten und dritten Generation explizit gegen ethnisierende Zuschreibungen wehren und durchaus politische Ansprüche erheben (vgl. etwa Ayata 1999). Es stellt sich daher die grundsätzliche Frage, warum die Perspektiven der Betroffenen ignoriert und sie zu unterhaltsamen Exoten reduziert werden. Offensichtlich wird Hybridität zunehmend als eine begehrenswerte Ressource konstruiert, die nicht den Marginalisierten alleine überlassen werden kann. Rekurrierend auf Rushdies »Mischmasch, ein bisschen von diesem

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232 | Kien Nghi Ha und ein bisschen von jenem« (Rushdie 1992: 458) wird Hybridität gern als »Auflösung und Zerstörung von Tradition beschrieben, die permanente Mischung und Verbindung, die kreative Praxis von Fusion und Collage, und in Operationen wie diesen überträgt sich die einst ganz marginale Erfahrung von Migranten in eine universale Standarderfahrung« (Leggewie 2000: 885). Diese Universalisierung hat Helga Bilden, die sich selbst als feministische Sozialwissenschaftlerin versteht, am eigenen Beispiel lokalisiert: »Vielleicht gefällt mir das Konzept der Hybridität so gut, weil es meine eigene bürgerlich-kleinbäuerlich gemischte Herkunft und meine gemischte Geschlechtsidentität positiv aufnimmt? Heute […] fühle ich mich nicht ›identitätsgestört‹, sondern ›richtig‹, in meiner Nichtübereinstimmung bekräftigt, theoretisch legitimiert – und schadenfreudig. Es geht mir wie Stuart Hall, dem schwarzen britischen Soziologen karibischer Herkunft« (Bilden 1999: 9).

Hybridität scheint somit auch für Weiße ein Mittel zu sein, die eigenen Herkünfte aufzuwerten und sich selbst in Schwarzen Positionen zu verorten, um durch aneigbare Differenzen die Möglichkeiten und Grenzen der Selbstdefinition zu erweitern. Der Wunsch, sich selbst als hybrid zu entdecken und in hybriden Kulturen zu leben, geht mit einem Verständnis beliebiger Differenzen und positiver Selbstinszenierungen einher, in der die Gefahren der Überidentifikation und Vereinnahmung des Anderen immanent sind. Im Gegensatz zur Position von rassistisch Marginalisierten stellen universale Hybriditätsformen einen wähl- wie abwählbaren Lebensstil dar, der auf der Entscheidungsfreiheit basiert, die Differenz zu oder die Identität mit der Dominanzkultur (Rommelspacher 1995) zu betonen. Karnevaleske Identitätsspiele beruhen auf einer Rhetorik maskenhafter Blackness, die nicht die realen Folgen Schwarzer Gesellschaftspositionen zu ertragen braucht. Für Mitglieder der Dominanzgesellschaft hat die Entdeckung der eigenen Hybridität neben spielerischen auch entlastende Funktionen. Der Verweis auf die eigene Hybridität hat den angenehmen Effekt, sich als authentisches Subjekt des Zeitgeistes zu erfahren und die gesellschaftlich zugeschriebene Whiteness (Frankenberg 1993) zu verleugnen, die auch ungewollt Privilegien ermöglicht. Wenn wir heute alle so hybrid sind, wer ist dann noch »weiß«, wer »schwarz«, wer rassistisch unterdrückt und wer nicht? Eine Umgangsweise, die eher den gesellschaftlichen Prioritäten gerecht wird, hat Wolfgang Riedel vorgeschlagen: Statt Hybriditätsdiskurse zu entwerfen, sollten Mitglieder der Dominanzgesellschaft sich vorrangig mit institutionalisierten Diskriminierungen auseinandersetzen (vgl. Riedel 2002: 249). In der kulturalistischen Perspektive werden individualistische Handlungsräume stark betont und positiv konnotiert. Anscheinend lösen Hybri-

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ditätskonzepte, die mit grenzenlosen Identitätsspielräumen für das Individuum und offenen Kulturentwicklungen für die Gesellschaft assoziiert werden, eine große Faszination aus. Selbst eine ansonsten kritische Sozialwissenschaftlerin wie Helga Bilden greift die Idee der Identitätsdiffussion nahezu obsessiv auf. In einem einzigen Absatz betont sie die Vision, statische Identitäten aufzulösen, insgesamt 19mal mit den Adjektiven »lustvoll«, »spielerisch« und »kreativ« (Bilden 1999: 6f.). Identitätsprozesse per se zu einem postmodernen Gesamtkunstwerk zu erklären, macht misstrauisch, wenn Macht, Marginalisierung und Dominanz nicht länger als präsent oder beschränkend erachtet werden. Merkwürdig ausgeblendet bleibt bei dieser Euphorie die Frage, wer überhaupt die Möglichkeit für anerkannte Identitätsinszenierungen hat und welche Bedeutungen und Kontexte sie für die jeweiligen Akteure haben. Während Identitätsspiele für Mitglieder der Dominanzgesellschaft eher den Charakter lustgewinnender Experimente annehmen, werden sie von Marginalisierten erheblich ambivalenter und riskanter erlebt. Hybridisierung kann wie jede kulturelle Identitätsentwicklung auch eine schmerzliche Erfahrung sein, die aus der Notwendigkeit entstanden ist, in deklassierten Gesellschaftspositionen zu überleben und Strategien im Umgang mit Ausgrenzungen zu entwickeln. Ob hybride Identitäten eher in ihren zwanghaften und/oder befreienden Momenten erlebt werden, hängt wesentlich von der Subjektposition in den Gesellschaftsstrukturen ab, deren Zugänge und Ausschließungen durch die Überschneidungen von Gender, Ethnizität und Klasse permanent neu konstituiert werden (vgl. Bromley 2000: 194-197).

Postkoloniale Differenzen: Kosmopolitismus und Marginalität Sicherlich hängen die Rezeptionsprobleme in Deutschland nicht nur mit lokalen Bedingungen zusammen. Zwar ist es kein Zufall, dass im hiesigen Kontext ein Trend existiert, der bevorzugt jene Aspekte der Hybridität betont, die innerhalb des postkolonialen Diskurses Gegenstand der Kritik sind.7 Aber auch im postkolonialen Diskurs wird der Hybriditätsbegriff teilweise in einer »affirmativen und unkritischen Weise verwendet« (Bromley 2000: 194), in der sich die Differenz zwischen marginalisierten Subjekten und postkolonialen Metropolen-Intellektuellen reproduziert. So fühlten sich viele nicht repräsentiert, als sich der kürzlich verstorbene Edward Said von seiner Position aus für einen fröhlichen Identitätswechsel aussprach:

7 | Vgl. etwa die kritischen Beiträge in Werbner/Modood (1997).

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234 | Kien Nghi Ha »Die Funktion von Menschen wie mir, die tatsächlich vielen Kulturen angehören, muss sein, immer wieder zu betonen, dass es keine Notwendigkeit gibt, sich für die eine oder andere Kultur zu entscheiden. Ich bezeichne mich weder als Araber oder Orientalen, noch als Westler oder Amerikaner. Anstelle des ›oder‹ setze ich das ›und‹ […] wir müssen eine neue Art Begeisterung erzeugen, die einen Identitätswechsel zur Sehnsucht und nicht zu einer dramatischen Erfahrung macht« (Said 1999: 40f.).

Postkoloniale Kritiker des postkolonialen Diskurses8 problematisieren solche Positionen als elitären Kosmopolitismus, der aus einer privilegierten Position heraus die Notwendigkeit von Empowerment durch Identitätspolitik negiert. Sie weisen darauf hin, dass bestimmte soziale und kulturelle Voraussetzungen vorliegen müssen, um Identität nicht als letztes Mittel zur Verteidigung der persönlichen Integrität nutzen zu müssen. Obwohl Said Bindestrich-Identitäten befürwortet, was eine harmonisierende und essenzialistische Position sein kann, haben Migrierte – je stärker sie rassistisch marginalisiert werden – nicht die Möglichkeit, sich mit Dominanzkulturen zu identifizieren. Statt Fragen der kulturellen Zugehörigkeit fordern marxistische Kritiker wie Aijaz Ahmad (1994) und Arif Dirlik (1997), die drängenden materiellen Probleme grundsätzlich stärker zu berücksichtigen. Im Unterschied zu Beobachtern, die den mangelhaften »gesellschaftskritischen Impetus« und die »difference sells«-Haltung beim Theorieimport der Cultural Studies monieren (Löchel 1999), wäre es sicherlich irreführend, die hier diskutierte Rezeptionstendenz von Hybridität als entpolitisierend zu bezeichnen. Zum einen ist auch die vermeintliche »Entpolitisierung« höchst politisch, zum anderen enthalten die vorgestellten Rezeptionsansätze explizit oder implizit politische Zielvorstellungen. Nur unterscheiden sich diese von den zentralen Forderungen postkolonialer Kritik. Vielleicht erinnerte Robert Young gerade deshalb auf dem deutschen Anglistentag so eindringlich an die politischen Verpflichtungen postkolonialer Diskurse. Young, der als Referenzautor und als Herausgeber des »Oxford Literary Review« und der »Interventions« nicht ohne weiteres ignoriert werden kann, sprach in einer für den deutschen Wissenschaftsdiskurs ungewohnten Deutlichkeit: »Postcolonial critique is therefore a form of activist writing that looks back to the political commitment of the anti-colonial liberation movements and draws its inspiration from them whilst recognizing that they often operated under conditions very different from those that exist in the present. Its orientation will change according to the political priorities of the moment, but its source in the revolutionary activism of the past gives it a constant basis and inspiration: it too is dedicated to changing those who 8 | Besonders prominent: Ahmad (1994) und Dirlik (1997).

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Hybridität und ihre deutschsprachige Rezeption | 235 were formerly the object of history into history’s new subjects. Postcolonial critique focuses on forces of oppression and coercive domination that operate in the contemporary world: the politics of anti-colonialism and neo-colonialism, race, gender, nationalism, class and ethnicities define its terrain« (Young 2000: 241).

Auch wenn anti-koloniale Bewegungen und gegen-hegemoniale Aktivitäten hinsichtlich ihrer Fehler und repressiven Auswirkungen selbstkritisch zu hinterfragen sind, bleibt festzuhalten, dass der postkoloniale Diskurs ein politisches Projekt ist, das nicht ohne die selbstreflexive Auseinandersetzung mit den multiplen Facetten gegenwärtiger Machtdimensionen gedacht werden kann.

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Postkoloniales Doing Culture. Oder: Kultur als translokale Praxis Julia Reuter

In der gegenwärtigen sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskussion findet sich immer häufiger die Kritik an einer einseitigen Fassung des Begriffs ›Kultur‹ als ein kollektives Sinnsystem, als ein symbolischer Code oder als ein tragender Wert- und Normkomplex (vgl. Hörning 1999, 2004; Reckwitz 2000). Statt Kultur in ›einzigartigen‹, durch mentale, ethnische, territoriale oder nationale Faktoren klar voneinander abgrenzbaren Sinn- und Bedeutungsstrukturen zu verorten, richtet sich der Blick auf die vielfältigen Praktiken inmitten und zwischen Akteuren, Territorien und Orten, in denen kulturelle Ordnungen gelebt, repräsentiert und in Beziehung gesetzt werden. Als expressiv-symbolischer Aspekt jedes Verhaltens wird weniger nach einem ›ursprünglichen‹ Was als vielmehr nach dem kontextspezifischen Wie von kultureller Realität gefragt. Eine solche ›Praxiswende‹, die auch unter dem Stichwort doing culture gefasst werden kann, stellt zunächst einmal fest, dass Kulturen an keine natürlichen oder geographischen Orte gebunden sind und bewegt sich damit weg von der klassischen, soziologischen Idee distinkter, kulturell-homogener Entitäten. Es geht ihr um die praktische Vereinnahmung, die Wirkkraft und Reproduktion von Kultur, vor allem aber ihre unterschiedlichen Verflechtungen über Raum und Zeit hinweg. Insbesondere in Anbetracht postkolonialer Kritik an eindimensionalen Analysen kultureller Globalisierung gewinnt die Betrachtungsweise von Kultur als grenzüberschreitender Praxis an Bedeutung. Mit Blick auf einen durch Migration und Medien durchsetzten Alltag sensibilisieren postkoloniale Kulturtheorien für die vielfältigen Verflechtungszusammenhänge zwischen globalen Fremdeinflüssen und lokalen (Gebrauchs-)Praktiken. Im Vordergrund steht die Durchdringung

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240 | Julia Reuter und Rekonfiguration des Globalen und Lokalen sowohl auf der Makroebene von gesellschaftlicher Integrations- und Organisationspraktiken als auch auf der Mikroebene von Interaktions- und Kommunikationspraktiken. Diese so genannten translokalen Praxisformen stellen den globalen und enträumlichten Strömen eine kontextgenerierende Kraft ortsbezogener, nicht ortsgebundener kultureller Wissensproduktion gegenüber (vgl. Reuter/Bucakli 2004). Dabei ist der Begriff Praxis keinesfalls gleichbedeutend mit dem intentionalen Handeln einzelner (kosmopolitischer) Akteure. Er schließt jenes Handeln ein, das eine bestimmte Handlungsnormalität im Sinne eines routinisierten, regelmäßigen Miteinandertuns im Alltag begründet (vgl. Hörning 2004). Gleichzeitig fungiert der Begriff der Praxis im postkolonialen Kontext als eine politische Analysekategorie: Einerseits, um zu zeigen, wie ›tief‹ kolonialistische Denkweisen tatsächlich in einer Gesellschaft ›sitzen‹, aber auch umgekehrt, um zu zeigen, wie unbestimmt und ambivalent die Situativität sozialer Praxis gegenüber den vorherrschenden gesellschaftlichen bzw. politisch-ökonomischen Strukturvorgaben sein kann. Ausgehend von der postkolonialen Definition von Kultur als translokaler sozialer Praxis grenzt sich der Beitrag von einem latenten (eurozentrischen) Objektivismus moderner Kulturtheorien ab. Daran anschließend stellt er die Frage, welche Vorstellung von kultureller Identität und Differenz, vor allem aber, welches Globalisierungsverständnis mit dieser Definition verbunden ist. Wenn Kultur als beständige Praxis und damit als beständige interpretative Arbeit zwischen dem Globalen und dem Lokalen verstanden wird, präsentiert sich kulturelle Identität trotz oder gerade wegen politischer Homogenisierungs- und Lokalisierungsversuche als unabgeschlossene und bricolage-förmige Kombination unterschiedlicher Komplexe von Praktiken. Das Phänomen der Migration bildet hierfür ein eindrucksvolles Beispiel, denn es offenbart nicht nur auf der Ebene von Interaktion, Gemeinschaft und Gesellschaft kulturelle Hybridbildungen. Es legt auch ein politisches Vokabular der Kultur nahe, das sowohl die Kultur- und Migrationssoziologie als auch die Entwicklungssoziologie vor neue Aufgaben stellt.

Postkoloniale Kultur und translokale Praxis Gegenwärtig kommen in einer Reihe von Forschungsfeldern der Sozialund Kulturwissenschaften praxistheoretische Denkfiguren zum Einsatz – ohne dass bislang der Entwurf einer umfassenden Verknüpfung vorliegt. Neben der Wissenschafts- und Technikforschung im Anschluß an Bruno Latour oder Karin Knorr Cetina und derjenigen Ansätze der Geschlechterforschung, die unter dem Sammelbegriff des doing gender gefasst werden

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können, gewinnt ein praxistheoretisches Kulturmodell vor allem in der neueren Globalisierungsdiskussion zunehmend an Bedeutung. Trotz der größtenteils unabhängig voneinander geführten Diskussion um praxeologische Denkfiguren stimmen die AutorInnen weithin überein, dass sich kulturelle Bedeutungen in sozial eingespielten Praktiken ausdrücken, die nicht reflexiv gelernt oder gelehrt, sondern durch wiederholtes gemeinsames Handeln erworben und verinnerlicht, oder auch erprobt und transformiert werden. Entgegen solcher Kulturtheorien, die Kultur als geistiges, ideelles Phänomen – etwa in Form kognitiv-geistiger Schemata (Schütz) oder aber als ein System von Ideen und Weltbildern (Weber), als ein mentales knowing that betrachten, verorten »Theorien sozialer Praktiken« die Kultur in einem praktischen Wissen und Können, einem knowing how, in einem Konglomerat an Alltagstechniken, einem praktischen Verstehen im Sinne eines »Sich auf etwas verstehen« (vgl. Reckwitz 2003: 289). Neben Praktiken des Regierens, des Organisierens oder Praktiken der Geschlechtsdarstellung können dies auch Praktiken des Sprechens, des Gehens, des Lesens oder des Glaubens sein, wie Michel de Certeau (1988) eindrucksvoll gezeigt hat. Insbesondere in den eng miteinander verflochtenen zeitgenössischen Cultural und Postcolonial Studies findet sich ein postmoderner Sinn für die produktiven und kreativen Artikulationen des Kulturellen auf der Ebene sozialer Praxis. Auch wenn sie um die Verobjektivierung des Kulturellen in Nationen, Traditionen, Wertvorstellungen und Territorien nur allzu gut wissen, zielen ihre Studien auf die Frage ab, wie diese tatsächlich gelebt und erfahren werden, wie kulturelle Deutungen praktiziert und verkörpert werden (vgl. Hall 1999a: 25). Ausgangspunkt ist die durch Poststrukturalismus und Postmodernismus inspirierte Kritik an einer westlichen Hegemonie, an modernen Institutionen, Wertesystemen und Wissensformen. Steht die Moderne für einen Ethos der Ordnung, für klare Trennung durch feste Grenzen und die Vorstellung separater Einzelkulturen (vgl. Nederveen Pieterse 1999b: 178), rücken postkoloniale TheoretikerInnen diejenigen kulturellen Effekte in den Vordergrund, die von den modernen Kosmologien nicht toleriert werden: Eben jene kreativen Brüche und Überlappungen, in denen die angeblich voneinander geschiedenen kulturellen Entitäten in einem verschwiegenen, gemeinsamen Prozess produziert werden (vgl. Terkessidis 2002: 38). Sie setzen sich damit nicht nur von einem anthropologischen, homogenisierenden Kulturmodell ab, das einem Kollektiv als Ganzem zugeordnet ist. Sie setzen sich vor allem von dem damit zusammenhängenden Verständnis kultureller Differenzen ab. Kulturelle Unterschiede werden nicht mehr in oppositioneller und exklusiver Weise gegenübergestellt, gemäß der Vorstellung, dass sich hier das kulturell ›Eigene‹ und dort das kulturell ›Fremde‹ unabhängig voneinander befindet. Kulturelle Unterschiede werden vielmehr als Ausdruck von Wech-

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242 | Julia Reuter selwirkungs- und Dependenzverhältnissen gefasst, deren Ausdifferenzierung und Konturierung im Zeitalter der Globalisierung über ein globales Referenzsystem verläuft. Nicht nur Medien und Waren, sondern auch Konzepte wie Menschenrechte, Demokratie oder Feminismus stellen einen Bezug zwischen verschiedensten Personengruppen her und ermöglichen und/ oder erzwingen es, die eigene Position vor dem Hintergrund vieler anderer zu spiegeln und zu relativieren (vgl. Breidenbach/Zukrigl 2000: 36). Kulturanalysen sollen daher nicht wie bisher das Eigene und das Fremde lediglich unterscheiden oder miteinander vergleichen. Sie sollen lernen, das Eigene im Fremden und das Fremde im Eigenen zu entdecken.1 Die Welt gleicht dann weniger einem Mosaik, dessen Steinchen die einzelnen Kulturen sind. Sie gleicht vielmehr einer Kulturmelange im Sinne einer wechselseitigen kulturellen Durchdringung globaler und lokaler Sinnbezüge, die nicht nur in multinationalen Konzernstrukturen und ebensolcher sozialen und politischen Institutionen, sondern auch in den alltäglichen Praktiken (re-)produziert und mobilisiert werden. Doing culture ist hier vor allem ein doing mixed culture, denn die Praktiken liegen nicht entweder in ›der‹ einen oder ›der‹ anderen Kultur, sie gehen durch sie hindurch und beziehen sie aufeinander. Im Anschluss an zentrale Konzepte der postkolonialen Theorie und ihre berühmten VertreterInnen, Eward Said, Homi Bhabha und Gaayatari Spivak, liegen inzwischen eine Reihe kulturtheoretischer Studien zur Produktion und Mobilisierung einer solchen grenzüberschreitenden Praxis vor.2 Sie lenken den Blick auf jene Praktiken, in denen kulturelle Elemente aus unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Kontexten zugleich verarbeitet und vermischt werden. Ulf Hannerz (1987) hat diesen Prozess »Kreolisierung« genannt. Jan Nerderveen Pieterse (1999) spricht von »Hybridisierung«. Beide Autoren verweisen auf eine globale transkulturelle Osmose und Wechselseitigkeit, in der kulturelle Regeln und Grenzen handelnd überschritten werden. Allerdings sind die Begriffe der Kreolisierung und Hybridisierung ungeeignet, um die raum-zeitliche Dimension kultureller Verflechtungszusammenhänge deutlich zu machen. Denn das Hybride konstituiert sich im Vollzug kultureller Praxis, die trotz ihres grenzüberschreitenden Charakters an eine bestimmte Form der Lokalität gebunden bleibt. Die Lokalität der Praxis ist dabei keine Lokalität im Sinne kartogra1 | Vgl. hierzu auch die Kritik an der Soziologie des Fremden als Differenztheorie (Reuter 2002). 2 | Vgl. hierzu exemplarisch Anja Peleikis’ (2001) Studie zur Produktion von Lokalität in einem multi-konfessionellen Dorf im Libanon oder Günter Müllers (1995) Ethnographie der translokalen Bau- und Lebenspraktiken türkischer Migranten im Heimatdorf.

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phisch definierter Territorien. Es handelt sich vielmehr um eine Form der Lokalität, die zu einem großen Teil auf trans- oder supra-lokaler Ebene gestaltet wird (Robertson 1999: 193). In der gegenwärtigen Forschungsliteratur benutzt man hierfür den Begriff der »Translokalität«, der auf die neue Bedeutung von lokaler Praxis vor dem Hintergrund globaler Strukturen verweist. Translokalität steht für die ›gefiltere (Wieder-)Einbettung‹ einer bereits deterritorialisierten Lokalität im Zeitalter der Globalisierung. Wenn postkoloniale Theoretiker von Kultur als translokaler Praxis sprechen, dann betonen sie nicht nur die Pragmatik von Kultur. Sie identifizieren als den eigentlichen Ort der Kultur geradewegs den Ort der Grenzüberschreitung und nicht die Abgrenzung von anderen Kulturen (vgl. Hetzel 2002: 10). Ein solches Kulturkonzept untergräbt den Nationalismus und Separatismus objektivistischer Kulturtheorien. Ihrer Auffassung nach sind solche Vorstellungen von Kultur als Nation oder ›ganzer Lebensweise‹ das Ergebnis der Artikulation von Kultur im Kontext der kolonialisierenden und imperialistischen Strukturen des modernen Europas (vgl. Grossberg 1999: 53). Sie privilegieren stattdessen ein Kulturverständnis, dessen pragmatische Leistung in der Anschluss- und Übergangsfähigkeit zwischen dem Eigenen und dem Fremden besteht, auch wenn die Anschlüsse und Übergänge weniger auf einem gleichberechtigten Austausch denn auf Kämpfen zwischen konkurrierenden Praktiken und ungleichen Beziehungen beruhen. Dennoch wird die freiwillige wie unfreiwillige Mobilität und Entgrenzung des Kulturbegriffs von Cultural und Postcolonial Studies grundsätzlich begrüßt. Gemäß der Vorstellung, dass unser Kulturverständnis immer auch ein Wirkfaktor in unserem Kulturleben ist, wird ein Vokabular der Kultur entwickelt, das darauf bedacht ist, prinzipiell offen für neue Verbindungen und weitere Integrationsschritte zu sein (vgl. Welsch 1997: 75ff.). Dabei richten postkoloniale Theorien den Blick auf solche Akteure, die die neuen Verbindungen und Konfigurationen des Lokalen und Globalen regelrecht verkörpern: Migranten und hier vor allem Migranten der sogenannten ›Dritten Welt‹, die durch die schmerzliche Erfahrung der Ausbeutung und Marginalisierung kolonialisierter Länder geprägt sind.3 Indem sie Wege und Verbindungen des kulturellen Austauschs vor dem Hintergrund postkolonialer Macht- und Herrschaftsstrukturen analysieren, schaffen postkoloniale Studien nicht nur eine Plattform für die neue Artikulation 3 | Als Menschen, die nach Simmel (1908) »heute kommen und morgen bleiben«, verkörpern Migranten ›idealtypisch‹ jene Gruppe, die permanent den Alltag der Globalisierung ›leben‹ – weil ihr Aufenthalt ›Hier‹ von einer Solidarität und Verbundenheit innerhalb des ›Dort‹ ausgeht, weil sie sich häufig selbst als ›Zwischenweltler‹ empfinden oder weil ihre Gruppenbildungs- und/oder Vergesellschaftungspraxis nicht mehr an Territorialität oder physische Nähe gebunden ist.

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244 | Julia Reuter des Kulturellen zwischen ›dem Westen‹ und ›dem Osten‹, zwischen ›dem Norden‹ und ›dem Süden‹ oder ganz allgemein, zwischen ›dem Eigenen‹ und ›dem Fremden‹. Sie entkräften auch jene Konzepte ›authentischer Identität‹, die auf der territorialen und kulturellen Verbindung von Moderne und Europa gründen und in der Entwicklungssoziologie als Entwicklungsländersoziologie lange Zeit für die Unterscheidung ›traditionaler‹, ›unterentwickelter‹ und ›moderner‹, ›zivilisierter‹ Gesellschaften konstitutiv war. Dabei stellte bereits das Konzept der ›Dritten Welt‹ oder des ›Westens‹ ein Konstrukt dar, dessen offensichtliche Identität ein Produkt ideologisch getränkter Diskurse war (vgl. Wolff 1993: 166). Ganz im Sinne des Dependenztheorems argumentieren gegenwärtige postkoloniale Kulturanalysen aus der Position des Marginalisierten, des Außenseiters, dass die vermeintlich voneinander getrennten Kulturen und Geschichten immer schon durch eine lange Geschichte machtvoller Beziehungen aneinandergebunden sind. Zum Ausdruck komme dies in einer Vielzahl an translokalen Praktiken, von denen kreolisierte Sprechweisen in ehemaligen Kolonien zu den auffälligsten zählen. Sie führen nicht so sehr zu einer Sichtbarmachung oder Potenzierung kultureller Differenzen im Sinne einander fremder kultureller Sinnsysteme, sondern unterlaufen geradewegs die in der Moderne privilegierte Perspektive territorial fixierter, nationalstaatlich überformter Kulturen (vgl. Nassehi 1999: 351). Denn die translokalen Praktiken lassen Selbst und Ort, Identität und Raum, soziale Schließung und Territorium auseinandertreten. Insofern öffnet ein praxistheoretisches Kulturverständnis nicht nur den Blick für neue kulturelle Formen diesseits und jenseits territorialer Grenzen. Es dient auch der Aufdeckung jener alten Praktiken, die das nationale oder ethnische ›Innen‹ und ›Außen‹ einer Gemeinschaft aufrechterhalten. In der Vorstellung von Kultur als translokaler Praxis kommen jedoch zwei sehr unterschiedliche normative Implikationen eines postkolonialen Praxisbegriffs zum Vorschein. In der Absicht, Nachwirkungen und Effekte kolonialer Beziehungen bis in die Gegenwart aufzuspüren, arbeiten sich postkoloniale Theorien an den subtilen ›Erblasten‹ kolonialistischer Machtausübung ab. Trotz der politischen Unabhängigkeit ehemals Kolonisierter, reklamieren sie, dass die Macht des Westens in Produktionspraktiken, Regierungspraktiken, Wissenschaftspraktiken, ja selbst in Widerstandspraktiken weiterhin eingelassen ist. Praxis steht hier im Verdacht, ›Komplize der Struktur‹ zu sein und bestätigt damit stellenweise einen kulturalistischen ›Konservatismus‹ von Praxistheorien. Praktiken dienen dann als Beweis für die Beharrungskraft der inkorporierten und damit niemals rationalistisch einholbaren machtdurchtränkten Wissensbestände (vgl. Reckwitz 2003: 297). Umgekehrt weist aber gerade der Blick ins Feld auf ein ›anarchisches‹,

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›widerspenstiges‹ und ›eigensinniges‹ Element der Praxis hin. Vor allem zeitgenössische Diaspora-Studien in der Tradition der Cultural Studies führen mit Vorliebe solche Beispiele an, in denen die kreativen Finten der Migranten sichtbar werden, die diese einsetzen, um die global zirkulierenden Waren, Medien und Ideen in ihren lokalen Alltag zu integrieren. In ihrer Sympathie für ›widerspenstige Kulturen‹ liefern sie genügend empirisches Material, um den darauf gründenden praxistheoretischen Überlegungen eher die Tendenz eines kulturellen ›Anarchismus‹ zu verleihen. Die Betonung liegt dann auf der potenziellen Veränderbarkeit und Kontingenz sozialer Praxis (vgl. ebd). So konsumieren indische Migranten in der Londoner Vor-Ort-Diaspora westliche Seifenopern nicht allein wegen der Verlockungen der Konsumindustrie. Sie nutzen sie auch, um ihre eigenen religiösen und moralischen Traditionen in der Diaspora auszuhandeln (vgl. Gillespie 1995). Umgekehrt greifen indianische Bauern im mexikanischen Chiapas auf globale Kommunikationsmedien zurück, um ihre Rechte als Indigene im eigenen Land einzuklagen.4 Die Betonung der kreativen und subversiven Kompetenzen und praktischen Fähigkeiten, die selbst in den scheinbar trivialsten Alltagstechniken und entlegensten Winkeln der Erde vorhanden sind, stellen den ›mächtigen‹ Kräften kolonialer Wissensbestände und Abhängigkeitsstrukturen einen unberechenbaren praktischen (Eigen-)Sinn kultureller Akteure gegenüber. Dabei wird die Unberechenbarkeit jedoch nicht mit einer vorausgesetzten Autonomie oder Individualität des Subjekts begründet. Sie ergibt sich vielmehr aus der praktischen Notwendigkeit, mit verschiedenartigen Verhaltensroutinen und deren heterogenen Sinngehalten im Zeitalter globaler Verflechtungen umzugehen (vgl. Reckwitz 2003: 296).

Doing Culture: Identität, Differenz, Globalisierung revisited Wie wirkt sich nun eine solche Perspektive, die Kultur als translokale soziale Praxis in den Vordergrund rückt, auf das Verständnis kultureller Differenzen aus? Oder anders gefragt: Wie wirkt sich eine praxistheoretische Kulturperspektive unter globalen Bedingungen auf das Verständnis kultureller Identitäten und Gemeinschaften aus und welche theoretischen und gesellschaftspolitischen Anschlüsse provoziert sie? Widmen wir uns zu4 | Als informationelle Guerillabewegung gelang es so den »Zapatisten«, mit der Welt und mit der mexikanischen Gesellschaft zu kommunizieren und eine lokale, schwache Gruppe von Aufständischen in die erste Reihe der Weltpolitik zu befördern (vgl. Castells 2002: 87).

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246 | Julia Reuter nächst der Frage nach dem praxistheoretischen Verständnis kultureller Identität. Für die Praxistheorie im allgemeinen sind Subjekte in allen ihren Merkmalen Produkte historisch und kulturell spezifischer Praktiken, und sie existieren nur innerhalb des Vollzugs sozialer Praktiken. Das Subjekt besitzt keinen ›authentischen Kern‹, geschweige denn eine angeborene kulturelle Disposition – es ist vielmehr ein »Kreuzungspunkt unterschiedlicher Verhaltens-/Wissenskomplexe sozialer Praktiken, ein mehr oder minder loses Bündel von praktischen Wissensformen« (ebd.).5 Angesichts der Heterogenität solcher Wissensformen wird in postkolonialen Theorien die Sozialfigur eines sich am Horizont abzeichnenden, hybridisierten »homo globalis« (Rademacher 1999: 256) eingeführt. Kulturelle Formen und Identitäten werden immer dann »als hybrid bezeichnet, wenn die Bestandteile der Mischung aus verschiedenen kulturellen Kontexten stammen« (Nederveen Pieterse 1999a: 116). Dies beinhaltet mehrere Implikationen. Zum einen markiert der Begriff der hybriden Identität eine theoretische Position, die wie Stuart Hall zeigt, die Vorstellung von ursprünglicher oder einheitlicher Identität ›über Bord wirft‹, um statt dessen Identität als Differenz zu denken. Neben dem Aspekt der Vermischung erfüllt der Begriff der Hybridität dabei eine kritische Funktion, bei dem das Vorführen von Unreinheit mit dem Ziel der Zersetzung hegemonialer Diskurse im Vordergrund steht (vgl. Ha 1999: 132). Untrennbar damit verbunden ist die politische Haltung, einerseits marginalisierten ›nicht-westlichen‹ Akteuren überhaupt Gehör zu verschaffen, andererseits ältere Formulierungen von Marginalität als Ohnmacht oder Handlungsunfähigkeit durch ein anspruchsvolles Konzept zu ersetzen, das die Handlungsfähigkeit und Kreativität lokaler Akteure betont. Zwar werden kulturelle Identitäten immer nur innerhalb des ›Spiels‹ von Geschichte, Kultur und Macht produziert. Nichtsdestotrotz entwickeln sie einen – wie Bourdieu sagen würde – ›Sinn für das Spiel‹, in dem sie die Identität durch Transformation und Differenz ständig aufs Neue produzieren und reproduzieren (vgl. Hall 1994: 41). Darüber hinaus markiert die Rede von der hybriden Identität aber auch eine tatsächliche historische Erfahrung – die ›Verstörung‹ des Subjekts durch koloniale Verhältnisse, Migrations- und Immigrationserfahrungen oder Redefinition politisch-administrativer territorialer Grenzen. Migranten haben, wie Stuart Hall aus eigenen Erfahrungen weiß, ihre Identitätsentwicklung nie ganz abgeschlossen, weil sie gezwungen sind, mit den Kulturen, in denen sie leben, zurechtzukommen, ohne sich einfach zu assimilieren (vgl. 5 | Ganz ähnlich argumentiert Hetzel in seinem kulturphilosophischen Essay, wenn er betont, dass das Individiduum seiner kulturellen Praxis nicht vorausgeht, sondern sich erst im Vollzug kultureller Praxis konstituiert (vgl. Hetzel 2002: 11).

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Hall 1999b: 435). Wenngleich eine solche ›Verstörung‹ des Subjekts, die die meisten der postkolonialen Autoren selbst erlebt haben, subversives und kreatives Potenzial beinhalten kann, wird oft vergessen, dass nur wenige Mitglieder so genannter ›Randgruppen‹ in bestimmten Positionen – zu denen die Autoren als anerkannte Literatur- oder Kulturwissenschaftler allesamt gehören – den ›Luxus‹ einer solchen Verstörung überhaupt ›genießen‹ können (vgl. Lossau 2002: 58). Ohne die vorgängige Verfügung über ökonomisches und kulturelles Kapital ist jedoch eine produktive Artikulation ›zerissener‹, ›dezentrierter‹ Identität schwierig (Rademacher 1999: 263). So ist das Interesse für die soziale Praxis nicht mit einer egozentrierten Akteurslogik zu verwechseln. Zudem bleibt die tatsächliche Repräsentation hybrider Identität etwa in der populären Medien- und Konsumkultur meist weit hinter dem wissenschaftlichen Anspruch zurück. Unter dem vielfach gebrauchten wie missbrauchten Begriff des ›kulturellen Dialogs‹ wird der ›Andere‹ aus der Perspektive des Zentrums auf eine für die ›Differenzkonsummaschine‹ des Massenkonsums zurechtgestutzte Klischee-Fremdheit beschränkt, die nicht frei von einem ›rassistischen Exotismus‹ ist. Egal ob Kaffeewerbung, Musikvideo oder Modelabels – stets bringen die in ihnen repräsentierten Fremden ›uns‹ Rhythmus, Natürlichkeit, Kraft und Lebensfreude näher (vgl. Terkessidis 2002: 34). Selbst die Repräsentation von Hybridität in der Wissenschaftskultur ist alles andere als unproblematisch. Häufig wird auch hier mit einem klischeehaften, weil entpolitisierten Konzept der Hybridität gearbeitet. Nicht die ambivalenten und riskanten, bisweilen sogar traumatischen Formen von Hybridität, sondern die lustvollen und spielerischen Identitätsdiffusionen stehen dann im Vordergrund, so dass Kien Nghi Ha (2004) etwa in der deutschsprachigen Rezeption von Hybridität von einer Missrepräsentation spricht. Hinter der gefeierten ›hybriden Mischung‹ verbirgt sich ein Kampf, der unter den Bedingungen von Ausbeutung, Unterdrückung, Sprachlosigkeit und inneren Widersprüchen stattfindet. Wie das Beispiel des in der deutschen Presse vieldiskutierten Kopftuchstreits gezeigt hat, können dabei ›neue‹ Grenzziehungen etwa zwischen genießbaren und ungenießbaren Fremden entstehen. Im Fall indigener Bewegungen in Lateinamerika können aber auch ›alte‹ Grenzziehungen dazu benutzt werden, um sich als differente Gruppe besser zu organisieren und zu repräsentieren. Eng mit der Frage der Bildung kultureller Identitäten verschränkt ist die Frage nach ihrer dauerhaften Konstituierung und Perpetuierung. Denn obwohl die Vorstellung hybrider Identitäten das Bild unabgeschlossener Identitäten ›im Übergang‹ evoziert, handelt es sich hierbei keinesfalls nur um transitorische Phänomene. Hybride Identitäten bilden eine eigene soziale Wirklichkeit mit eigenen sozialen Praktiken und Praxisstilen, angefangen

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248 | Julia Reuter von hybriden Arbeitsformen und Freizeitaktivitäten bis hin zu hybriden Bau-, Wohn- und Esspraktiken. In postkolonialen Theorien finden sich bereits erste Vorschläge, von der konkreten translokalen Praxis einzelner Akteursgruppen auf die ›Ordnung des Sozialen‹ zurückzuschließen. Wissenschaftliche Konzepte, wie das der »transnationalen sozialen Räume« von Ludger Pries (1999) oder das der »Diaspora« von James Clifford (1994) überführen die mikrosoziologisch aufgespürten Praktiken in eine gesellschaftstheoretische Perspektive. Kultur als translokale soziale Praxis bedeutet dabei nicht nur eine neue Form von Identität und Gemeinschaft; es bedeutet auch eine neue Form von Eingliederung, von sozialer Integration. Zum Ausdruck kommt dies in so genannten ›Diaspora-Lebensstilen‹ mit eigenen Orientierungs- und Distinktionsmustern, einem neuen System von Zugehörigkeiten und neuartigen Lebens- und Erwerbsverläufen. Diese werden durch globale Vernetzungstechniken, Interaktions- und Wirtschaftsnetzwerke (Mitfahrzentralen, Call-Center, Nahrungsmittelindustrie, Musik-Medienangebote für Migranten), aber auch durch politische Konflikte in Emigrationsländern und bürgerliche, politische, soziale und kulturelle Rechte von Personen(gruppen) in den Immigrationsländern auf Dauer gestützt. Solche translokalen Gemeinschaften zeigen, dass Kulturanalysen gut daran tun, über die lokale Gemeinschaft, über das Dorf, über die Stadt, ja sogar über den Staat hinauszudenken. Natürlich bleiben lokale Erfahrungen und Bindungen real und wichtig, gerade dann, wenn man nicht nur das DiasporaBewusstsein, sondern die tatsächliche soziale Praxis translokaler Gemeinschaften betrachtet – aber das Lokale ist kontingent. Es ist immer schon von Vorstellungen, Ideen und Gegebenheiten durchdrungen, die anderswo herkommen und oftmals durch die Massenmedien transportiert werden (vgl. Appadurai 1999: 23). Trotz der im Detail zu treffenden analytischen Differenzierung zwischen diasporischen und transnationalen Räumen, stimmen die Konzepte im Grundsatz überein, dass sich kulturelle Gemeinschaften nicht mehr nur über face-to-face-Beziehungen, über physische Nähe und eine Form der Alltäglichkeit im Hier und Jetzt definieren. Stattdessen lenken sie den Blick auf raumübergreifende Beziehungsformen, auf transnationale Allianzen und neue, zumeist medial gestützte Netzwerke. Hier fungieren translokale Praktiken gewissermaßen als Seismograph für die Herausbildung neuer Sozialräume zwischen ›Hier‹ und ›Dort‹ im Zeitalter der Globalisierung. Obwohl sich hybride Identitäten auf den ersten Blick gegen die nationalstaatlichen Projekte der Konstruktion nationaler, oder zumindest kulturell einheitlicher Subjekte behaupten (vgl. Berking 2000: 53), bleibt der Nationalstaat eine wichtige Gestaltungskraft bei der Herausbildung translokaler Räume. Entweder weil er die Migranten durch Steuer- und Eigentumsvorteile, Reisefreiheiten und Kredite weiterhin an sich bindet. Oder umgekehrt,

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indem Diasporabewohner den Prozess des nation-building im Herkunftsland erst richtig vorantreiben – durch ihr soziales oder politisches Engagement – oder einfach nur durch ihre regelmäßigen Geldüberweisungen, die der lokalen Ökonomie zu Gute kommen. Sie werden damit selbst zu wichtigen Entwicklungsmotoren.6 Welche Auswirkungen hat nun eine praxistheoretische translokale Kulturperspektive auf das Globalisierungsverständnis selbst? Werden hier kulturelle Differenzen anders betrachtet als in alternativen kulturalistischen Ansätzen? Jan Nederveen Pieterses (1999b) Gegenüberstellung der drei vorherrschenden Paradigmen kultureller Differenz ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Er unterscheidet den kulturellen Differenzialismus, die kulturelle Konvergenz und die kulturelle Hybridisierung. Während der kulturelle Differenzialismus im Sinne Samuel Huntingtons (1993) anhaltende kulturelle Differenzen unterstellt, die per se als Ursache für Rivalitäten und Konflikte betrachtet werden7, steht das Szenario der kulturellen Konvergenz für eine wachsende globale Interdependenz, die zu einer zunehmenden kulturellen Angleichung führt. Einige Kurzformeln für diese Tendenz, welche die Kulturimperialismusthese variieren, lauten »McDonaldisierung«, »Coca-Kolonisierung«, »Amerikanisierung« bzw. »Verwestlichung« der Welt. Praxistheoretische Kulturanalysen sehen dagegen Prozesse der kulturellen Hybridisierung als kennzeichnend für die globalisierte soziale Welt. Anders als die Differenzialismus- bzw. Konvergenzthesen betonen sie, dass der kulturelle Wandel einer wesentlich komplexeren und bisweilen konfliktreichen Dynamik folgt.8 Dabei sind die Kräfteverhältnisse alles andere als eindeutig. Auch wenn Strukturen und Institutionen westlichen Ursprungs dominieren, lassen sich, wie Joana Breidenbach und Ina Zukrigl (2000) aus einer ethnographischen Perspektive anschaulich zeigen, immer mehr Beispiele für die nachhaltige Beeinflussung des Westens durch andere Regio-

6 | Vgl. hierzu auch Henkel (2003). 7 | Samuel Huntington (1993) geht in seinem »Clash of Civilizations« davon aus, dass Konflikte an den Verwerfungslinien von Kulturen als tektonische Platten modellierte Kulturkreise entstünden. In sich, so ist impliziert, seien Kulturen homogene, separierte, distinkte, ganzheitliche und territorial gebundene Einheiten. 8 | Postkoloniale TheoretikerInnen zählen daher auch zu den zentralen Diskursakteuren, die den cultural turn in der Globalisierungsdiskussion forcieren. Entgegen der in den 1980er Jahren dominierende These ökonomischer Hyperglobalisierung und dem erwarteten Effekt der vermeintlichen Vernichtung des Lokalen betonen sie die mit der Aneignung globaler Zeichen und Symbole verbundene Herausbildung neuer Lokalitäten (vgl. Bucakli/Reuter 2004).

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250 | Julia Reuter nen in so unterschiedlichen Bereichen wie Küche, Musik, Literatur oder spirituelle Lebensformen anführen. Globalisierung ist kein kulturelles ›Nullsummenspiel‹, das in einer einheitlichen Globalkultur oder einem Krieg der Kulturen einmündet. Das Globalisierungsverständnis, das mit dem Begriff der Kultur als translokaler Praxis verbunden wird, steht für die Gleichzeitigkeit und wechselseitige Durchdringung dessen, was traditionellerweise als das Globale und das Lokale bezeichnet wurde, und folgt damit Robertsons (1999) Idee der Globalisierung als Glokalisierung. Gleichzeitig ist es diese omnipräsente Gleichzeitigkeit des Globalen und Lokalen, die die kulturelle Praxis mehr denn je herausfordert. Nie zuvor standen dem Menschen so viele Ausdrucksmöglichkeiten seiner kulturellen Identität zur Verfügung, nie zuvor besaßen wir so viel Kenntnis über alternative Lebens- und Umgangsformen, Werte und Weltbilder, nie zuvor kamen wir mit einer so großen Zahl an unterschiedlichen Medien, Waren und Menschen in Berührung. Globalisierung treibt eine Ausdifferenzierung und Relativierung von Kultur im Angesicht des Anderen voran. Wenn postkoloniale TheoretikerInnen von Kultur als translokaler Praxis sprechen, dann geht es ihnen strenggenommen nicht um die Kultur, sondern um die (unvorhersehbare) Komplexität kulturellen Wandels. Sie räumen zwar ein, dass der kulturelle Wandel von realen (Macht-)Beziehungen geprägt ist, streichen aber gleichzeitig heraus, dass diese Beziehungen niemals unvermeidlich sind. Die Suche nach Ursprüngen oder determinierenden Momenten garantiert noch lange nicht die Wirkungen von Kultur. Sie zeigt lediglich die vielfältigen Verwicklungen auf, die Kultur in ihrer aktuellen Erscheinungsweise prägt.9 Im Gegensatz zur kolonialistischen Idee eines linearen, ›fortschrittlichen‹ kulturellen Wandels, sehen postkoloniale Kulturanalysen im kulturellen Wandel einen höchst widersprüchlichen, manchmal sogar retardierenden oder rückläufigen Prozess. Kulturelle Traditionen und ›ursprüngliche‹ Identitäten werden in ihm ebenso bestätigt und erneuert wie angegriffen und unterwandert. Kultureller Wandel wird als Vermischung zwar (an-)erkannt, durch die Einbettung in größere Zusammenhänge zwischen Medien, Migration und Globalisierung bleibt seine Richtung jedoch offen. 9 | Eine Frau zu sein bedeutet, bestimmte Erfahrungen zu haben, schwarz zu sein bedeutet, afrikanische Vorfahren zu haben. Aber die Tatsache, dass wir männlich und weiblich, schwarz und weiß sehen, ist Ergebnis von Machtapparaten, die diese bestimmten Dualitäten und Wahrnehmungsweisen als »ursprüngliche« und »unverfälschte Wahrheit« geschaffen haben (vgl. Grossberg 1999: 64ff.). Es gibt diese Beziehungen zwischen Geschlecht, Ethnizität und Kultur. Aber es gibt keine »ursprüngliche Berechtigung« für ihre Wirkung.

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Gesellschaftspolitische Anschlüsse Neben den theoretischen Konsequenzen für die Begriffe der kulturellen Identität, Differenz und Globalisierung lassen sich auch gesellschaftspolitische Rückschlüsse aus der Verknüpfung von praxistheoretischer und postkolonialer Kulturperspektive ziehen. Eine erste betrifft die Migrationspolitik und entsprechend die soziale Arbeit mit Immigranten. Angesichts translokaler sozialer Gemeinschaften, die im Zeitalter globaler Migrationsströme zunehmen, ist zu fragen, wie Schul- und Ausbildungssysteme auf die sozial-kulturellen Grenzlagen reagieren können. Grundsätzlich verändert sich der Horizont für Erziehung und Bildung. Es kann nicht mehr darum gehen, dass im Curriculum der Schule andere Kulturen lediglich als Folie dienen, um die Einzigartigkeit der eigenen Kultur herauszustellen. Es gilt stattdessen, neue Repräsentationen des Anderen, neue transnationale Loyalitäten und Solidaritäten etwa im Sprach- oder Geschichtsunterricht zu entwickeln, wie sie in der Umwelt- oder Friedenserziehung längst Fuß gefasst haben (vgl. Wulf 2002). Gleichzeitig müssen Problemfelder, Problemgruppen und Problemlösungsressourcen neu vermessen werden. Wenn die Fähigkeit zur sozialräumlichen Ambiguitätstoleranz von immer größerer Bedeutung für die Bewältigung von Lebenssituationen wird, können Migranten nicht nur als Problemgruppen, sondern auch als Problemlösungsgruppen wahrgenommen werden (vgl. Pries 2001). Denn sie wissen häufig sehr gut, wie unterschiedliche Kapitalien über große Entfernungen hinweg mobilisiert werden können, wie man trotz fehlender Sprach- und Landeskenntnisse sich schnell in neuen Umgebungen ›zurechtfindet‹ oder auch nur, wie man beim regelmäßigen Pendeln viel Geld sparen kann. Eine weitere Konsequenz betrifft das, was gemeinhin unter Entwicklungspolitik und Entwicklungshilfe verstanden wurde. Neben der grundsätzlichen Relativierung eines unidirektionalen Entwicklungsdenkens und dessen kulturellen Implikationen betont eine globalisierungstheoretisch eingebettete Praxistheorie solche Konzepte alternativer Entwicklung, die auf die Beteiligung von sozialen Akteuren eingehen. So gewinnt in der gegenwärtigen entwicklungstheoretischen Diskussion um gesellschaftliche Nachhaltigkeit der Begriff des Empowerment zunehmend an Bedeutung. Entgegen der technischen Implementierung externen Wissens wird eine selbstorganisierte und zivilgesellschaftlich eingebundene Reorientierung von Entwicklung beleuchtet. Wie Hans-Dieter Evers, Markus Kaiser und Christine Müller (2003) am Beispiel so genannter »Communities of practice« in der Entwicklungszusammenarbeit verdeutlichen, werden gerade die praktischen Wissensbestände der Akteure vor Ort in die Projektabläufe miteinbezogen. Hier lässt sich mit einem spezifischen know how, etwa einem ›informellen Gesprächführenkönnen‹ oder ›lokalen Solidarisierungskompe-

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252 | Julia Reuter tenzen‹, häufig mehr erreichen als durch vorschriftsmäßiges Faktenwissen. Auch wenn die Entwicklungsarbeit weiterhin bestimmte Ziele verfolgt, die Entwicklung, sollte ihre Umsetzung aus Sicht einer praxistheoretischen Kulturperspektive eher in dynamischen und bisweilen auch widersprüchlichen Handlungskontexten als in streng formalen oder gar moralischen Vorgaben gesucht werden. Nicht zuletzt sind postkoloniale Kulturanalysen Botschafter der humanistischen Potenziale von Praxistheorien. Es geht ihnen um eine ganz grundsätzliche anthropologische Reflexion im Angesicht des Anderen, die bereits Edward Said (1978) als eigentliche Botschaft seiner einflussreichen Orientalismuskritik vermittelte: Der Andere besitzt ebenso wie wir reichhaltige praktische Kompetenzen. Und: Wer ihn verstehen will, muss zuallerst lernen, jeden Überlegenheitsanspruch abzulegen, der sich in den unhinterfragten Seh- und Erkenntnisgewohnheiten eingenistet hat. Dies kann, wie die »Writing-culture-Debatte« (Clifford/Marcus 1986) in der Ethnologie gezeigt hat, zu einer völligen Neubestimmung der fachlichen Identität führen. So ist die Definition von Kultur als translokaler Praxis nicht nur eine inhaltliche Variation der Kulturtheorie. Sie ist auch eine Aufforderung, uns auf die Grenzen des Eigenen und des Fremden nicht als Trennungs-, sondern als Verbindungslinien einzulassen.

Literatur Appadurai, Arjun (1999): »Globale ethnische Räume«, in: Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, S. 11-41. Beck, Ulrich (Hg., 1999): Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Berking, Helmuth (2000): »›Homes away from home‹: Zum Spannungsverhältnis von Diaspora und Nationalstaat«, in: Berliner Journal für Soziologie 10, S. 49-61. Breidenbach, Joana/Zukrigl, Ina (2000): Tanz der Kulturen. Kulturelle Identität in einer globalisierten Welt, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Castells, Manuel (2002): Das Informationszeitalter, Bd. II: Die Macht der Identität, Opladen: Leske + Budrich. De Certeau, Michel (1988): Kunst des Handelns, Berlin: Merve. Clifford, James/Marcus, George E. (1986): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley/CA: University of California Press. Clifford, James (1994): »Diasporas«, in: Cultural Anthropology 3, S. 302-338. Evers, Hans-Dieter/Kaiser, Markus/Müller, Christine (2003): »Entwicklung durch Wissen – eine neue globale Wissensarchitektur«, in: Soziale Welt 54, S. 49-70.

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Postkoloniales Doing Culture | 253

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254 | Julia Reuter Peleikis, Anja (2001): »Lokalität im Libanon im Spannungsfeld zwischen konfessioneller Koexistenz, transnationaler Migration und kriegsbedingter Vertreibung«, in: Alexander Horstmann/Günter Schlee (Hg.), Integration durch Verschiedenheit. Lokale und globale Formen interkultureller Kommunikation, Bielefeld: transcript, S. 73-95. Pries, Ludger (1999): »Transnationale soziale Räume. Theoretisch-empirische Skizze am Beispiel der Arbeitswanderungen Mexiko – USA«, in: Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, S. 55-86. Pries, Ludger (2001): »Migration und Integration in Zeiten der Transnationalisierung oder: Warum braucht Deutschland eine ›Kulturrevolution?‹«, in: Zeitschrift für Migration und soziale Arbeit 1, S. 14-19. Rademacher, Claudia (1999): »Ein ›Liebeslied für Bastarde‹?«, in: dies./ Markus Schroer/Peter Wiechens (Hg.), Spiel ohne Grenzen? Ambivalenzen der Globalisierung, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 255-269. Reckwitz, Andreas (2000): Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist: Velbrück. Reckwitz, Andreas (2003): »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie 32, S. 282-301. Reuter, Julia (2002): Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden, Bielefeld: transcript. Reuter, Julia/Bucakli, Özkan (2004): »Glokalisierungspraktiken in der Migration«, in: Thomas Angermüller/Raj Kollmorgen/Joerg Meyer (Hg.), Reflexive Repräsentationen. Diskurs, Macht, Praxis im globalen Kapitalismus, Münster/Hamburg: LIT Verlag (i.E.). Robertson, Roland (1999): »Glokalisierung: Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit«, in: Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, S. 192-221. Said, Edward W. (1978): Orientalism: Western Conceptions of the Orient, New York: Vintage. Simmel, Georg, [1908] (1958): »Exkurs über den Fremden«, in: ders., Soziologie, 4. Aufl., Berlin. Duncker & Humblot, S. 509-513. Terkessidis, Mark (2002): »Der lange Abschied von der Fremdheit. Kulturelle Globalisierung und Migration«, in: Politik und Zeitgeschichte 12, S. 31-38. Welsch, Wolfgang (1997): »Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen«, in: Irmela Schneider/Christian W. Thomsen (Hg.), Hybridkultur. Medien Netze Künste, Köln: Wienand Verlag, S. 67- 90. Wolff, Janet (1993): »The Global and the Specific: Reconciling Conflicting Theories of Culture«, in: Anthony D. King (Hg.), Culture, Globalization and the World-System, Houndsmill/Basingstoke/London: Macmillan, S. 161-175.

2004-08-16 12-51-41 --- Projekt: T243.sozialtheorie.reuter-hörning / Dokument: FAX ID 01f460679393814|(S. 239-255) T05_02 reuter.p 60679395238

Postkoloniales Doing Culture | 255

Wulf, Christoph (2002): »Globalisierung und kulturelle Vielfalt. Der Andere und die Notwendigkeit anthropologischer Reflexion«, in: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie 2, S. 19-39.

2004-08-16 12-51-41 --- Projekt: T243.sozialtheorie.reuter-hörning / Dokument: FAX ID 01f460679393814|(S. 239-255) T05_02 reuter.p 60679395238

2004-08-16 12-51-41 --- Projekt: T243.sozialtheorie.reuter-hörning / Dokument: FAX ID 01f460679393814|(S. 256

) vakat 256.p 60679395294

Anhang

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) T06_00 anhang.p 60679395350

2004-08-16 12-51-41 --- Projekt: T243.sozialtheorie.reuter-hörning / Dokument: FAX ID 01f460679393814|(S. 258

) vakat 258.p 60679395382

Autorinnen und Autoren | 259

Autorinnen und Autoren

Udo Göttlich (*1961), Dr. phil., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft der TH Karlsruhe. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Medien-, Kommunikations- und Kultursoziologie, Cultural Studies, Soziologische Theorien, Rezeptionsforschung und Fernsehnutzung. Wichtige Publikationen: Diversifikation in der Unterhaltungsproduktion. Köln: von Halem (Hg. mit Mike Friedrichsen 2004); Populäre Kultur als repräsentative Kultur. Die Herausforderung der Cultural Studies. Köln: von Halem (Hg. mit Clemens Albrecht und Winfried Gebhard 2002). Kien Nghi Ha (*1972), Dipl. Pol., ist Stipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung und promoviert zum Thema »Hybridität und kulturelle Selbstrepräsentation von MigrantInnen«. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Postcolonial Studies, Migration, Rassismus. Wichtige Publikationen: Ethnizität und Migration. Münster: Westfälisches Dampfboot (1999); Sprechakte – SprachAttakken: Rassismus, Konstruktion kultureller Differenz und Hybridität am Beispiel einer TV-Talkshow mit Feridun Zaimoglu, in: Margrit Fröhlich/Astrid Messerschmidt (Hg.): Migration als biografische und expressive Ressource, Frankfurt/Main: Brandes & Apsel, S. 123-149 (2003). Stefan Hirschauer (*1960), Dr. rer. soc., ist Professor für Soziologie und Gender Studies an der LMU München. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Gender Studies, Science Studies, Wissenssoziologie, Qualitative Methoden. Wichtige Publikationen: Die soziale Konstruktion der Transsexualität. Frankfurt/Main: Suhrkamp (1993, 1999); Die Befremdung der eigenen Kultur. Frankfurt/Main: Suhrkamp (mit Klaus Amann 1997). Karl H. Hörning (*1938), Dr. rer. pol., ist Professor für Soziologie an der RWTH Aachen. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Soziologische

2004-08-16 12-51-41 --- Projekt: T243.sozialtheorie.reuter-hörning / Dokument: FAX ID 01f460679393814|(S. 259-261) T06_01 autoren.p 60679395438

260 | Autorinnen und Autoren Theorien, Kultursoziologie, Techniksoziologie. Wichtige Publikationen: Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens. Weilerswist: Velbrück (2001); Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Frankfurt/Main: Suhrkamp (Hg. mit Rainer Winter 1999). Helga Kotthoff (*1953), Dr. phil., ist Professorin für Deutsche Sprache und ihre Didaktik an der PH Freiburg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Interaktionsanalyse, Soziolinguistik und interkulturelle Kommunikation, insb. Scherzkommunikation. Wichtige Publikationen: Das Gelächter der Geschlechter. Frankfurt/Main: Fischer (1988). Zweite, überarbeite Auflage: Universitätsverlag Konstanz (1996); Spaß Verstehen. Zur Pragmatik von konversationellem Humor. Tübingen: Niemeyer (1998). Michael Meier (*1971), M.A., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der RWTH Aachen. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Sozialtheorie Pierre Bourdieus, Bildungssoziologie, Soziologie sozialer Ungleichheit. Promotionsvorhaben zum Thema »Wem gehört die Bildung? Feldrekonstruktionen mit Pierre Bourdieu«. Sven Reichardt (*1967), Dr. phil., ist Juniorprofessor für Deutsche Zeitgeschichte an der Universität Konstanz. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Gewalt, Faschismus, moderne Diktaturen und sozialen Bewegungen im 19. und 20. Jahrhundert, Theorien in Geschichts- und Sozialwissenschaften. Wichtige Publikationen: Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA. Köln: Böhlau (2002); Zivilgesellschaft als Geschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften (Hg. mit Ralph Jessen und Ansgar Klein 2004). Andreas Reckwitz (*1970) Dr. phil., vertritt z.Zt. eine Professur für Soziologie an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Sozialtheorie, Kulturanalyse, Historische Soziologie. Publikationen: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist: Velbrück (2000); Struktur. Zur sozialwissenschaftlichen Analyse von Regeln und Regelmäßigkeiten. Opladen. Westdeutscher Verlag (1997). Julia Reuter (*1975), Dr. phil., ist Juniorprofessorin für Soziologie an der Universität Trier. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Soziologie des Fremden, Kultursoziologie, Körpersoziologie. Wichtige Publikationen: Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden. Bielefeld: transcript (2002); Körperinszenierungen. Zur Materialität des Per-

2004-08-16 12-51-42 --- Projekt: T243.sozialtheorie.reuter-hörning / Dokument: FAX ID 01f460679393814|(S. 259-261) T06_01 autoren.p 60679395438

Autorinnen und Autoren | 261

formativen bei Erving Goffman und Judith Butler. Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, 254: 102-115 (2004). Ingo Schulz-Schaeffer (*1963), Dr. rer. soc., ist Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Soziologie der TU Berlin. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Wissenschafts- und Technikforschung, Innovationsforschung, Handlungstheorie, Sozionik. Wichtige Publikationen: Sozialtheorie der Technik, Frankfurt/Main, New York: Campus (2002); Innovation durch Konzeptübertragung. Der Rückgriff auf Bekanntes bei der Erzeugung technischer Neuerungen am Beispiel der Multiagentensystem-Forschung. Zeitschrift für Soziologie, 31: 232-251 (2002); Wissenschaft in der Wissensgesellschaft. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag (Hg. mit Stefan Böschen 2003). Norbert Sieprath (*1972), M.A., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der RWTH Aachen. Publikationen: Informatisierung der Arbeits- und Alltagswelt. Soziologische Revue, 27: 45-57 (mit Karl H. Hörning 2004); Rationalität und Entscheidung, in: Theodor M. Bardmann/Alexander Lamprecht (Hg.): Systemisches Management – multimedial, Heidelberg: Carl-Auer-Systeme, 1 CD-ROM (2003). Promotionsvorhaben zum Thema »Luhmanns Systemebenendifferenzierung«. Urs Stäheli (*1966), Ph.D., ist SNF-Förderungsprofessor für Soziologie an der Universität Bern; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorien, Mediensoziologie, Kultursoziologie der Ökonomie (Börsenspekulationsdiskurse). Wichtige Publikationen: Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie, Weilerswist: Velbrück (2000); Poststrukturalistische Soziologien, Bielefeld: transcript (2000); Inclusion/Exclusion and Socio-Cultural Identities. Soziale Systeme, 8 (Hg. mit Rudolf Stichweh 2002). Matthias Wieser (*1978), M.A. (GB), ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der RWTH Aachen. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Kultursoziologie, Wissenschaftstheorie, Techniksoziologie. Promotionsvorhaben zum Thema »Soziologie der Objekte und Artefakte«.

2004-08-16 12-51-42 --- Projekt: T243.sozialtheorie.reuter-hörning / Dokument: FAX ID 01f460679393814|(S. 259-261) T06_01 autoren.p 60679395438

Weitere Titel dieser Reihe:

Christian Schulte, Rainer Stollmann (Hg.) Der Maulwurf kennt kein System Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge Dezember 2004, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-273-2

Jan Kruse Arbeit und Ambivalenz Die Professionalisierung Sozialer und Informatisierter Arbeit Juli 2004, 370 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-230-9

Hannelore Bublitz In der Zerstreuung organisiert Paradoxien und Phantasmen der Massenkultur

Dominique Schirmer Soziologie und Lebensstilforschung in der Volksrepublik China Perspektiven einer Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels

November 2004, ca. 150 Seiten, kart., ca. 14,80 €, ISBN: 3-89942-195-7

Juni 2004, 248 Seiten, kart., 29,00 €, ISBN: 3-89942-258-9

Johannes Glückler Reputationsnetze Zur Internationalisierung von Unternehmensberatern. Eine relationale Theorie

Gabriele Klein (Hg.) Bewegung Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte

Oktober 2004, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-265-1

Frankfurter Arbeitskreis für politische Theorie & Philosophie (Hg.) Autonomie und Heteronomie der Politik Politisches Denken zwischen Post-Marxismus und Poststrukturalismus

Juni 2004, 306 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-199-X

Peter Fuchs Theorie als Lehrgedicht Systemtheoretische Essays I. hg. von Marie-Christin Fuchs Juni 2004, 212 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-200-7

Oktober 2004, ca. 220 Seiten, kart., ca. 24,00 €, ISBN: 3-89942-262-7

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

2004-08-16 12-51-42 --- Projekt: T243.sozialtheorie.reuter-hörning / Dokument: FAX ID 01f460679393814|(S. 262-264) anzeige sozialtheorie august 04.p 60679395478

Weitere Titel dieser Reihe: Sabine Kampmann, Alexandra Karentzos, Thomas Küpper (Hg.) Gender Studies und Systemtheorie Studien zu einem Theorietransfer Mai 2004, 212 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 3-89942-197-3

Barbara Zielke Kognition und soziale Praxis Der Soziale Konstruktionismus und die Perspektiven einer postkognitivistischen Psychologie April 2004, 376 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-198-1

Gabriele Klocke Über die Gleichheit vor dem Wort Sprachkultur im geschlossenen Strafvollzug April 2004, 350 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-201-5

Bettina Heintz, Martina Merz, Christina Schumacher Wissenschaft, die Grenzen schafft Geschlechterkonstellationen im disziplinären Vergleich April 2004, 320 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-196-5

Sven Lewandowski Sexualität in den Zeiten funktionaler Differenzierung Eine systemtheoretische Analyse März 2004, 340 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-210-4

Sandra Beaufaÿs Wie werden Wissenschaftler gemacht? Beobachtungen zur wechselseitigen Konstitution von Geschlecht und Wissenschaft 2003, 300 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-157-4

Peter Fuchs Der Eigen-Sinn des Bewußtseins Die Person – die Psyche – die Signatur 2003, 122 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN: 3-89942-163-9

Martin Ludwig Hofmann Monopole der Gewalt Mafiose Macht, staatliche Souveränität und die Wiederkehr normativer Theorie 2003, 274 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-170-1

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2004-08-16 12-51-42 --- Projekt: T243.sozialtheorie.reuter-hörning / Dokument: FAX ID 01f460679393814|(S. 262-264) anzeige sozialtheorie august 04.p 60679395478

Weitere Titel dieser Reihe: Christian Papilloud Bourdieu lesen Einführung in eine Soziologie des Unterschieds. Mit einem Nachwort von Loïc Wacquant 2003, 122 Seiten, kart., 13,80 €, ISBN: 3-89942-102-7

Julia Reuter Ordnungen des Anderen Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden 2002, 314 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-933127-84-X

Theresa Wobbe (Hg.) Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2003, 312 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-118-3

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

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