Arbeit, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung bei Hegel: Zum Wechselverhältnis von Theorie und Praxis 9783050060361, 9783050058450

Der Arbeitsbegriff Hegels ist mehrdeutig: Er umfasst den Bereich der ökonomischen Arbeit ebenso wie die Arbeit, die den

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Arbeit, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung bei Hegel: Zum Wechselverhältnis von Theorie und Praxis
 9783050060361, 9783050058450

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Maxi Berger Arbeit, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung bei Hegel

Hegel-Jahrbuch Sonderband

Hegel-Forschungen Herausgegeben von Andreas Arndt Myriam Gerhard Jure Zovko

Maxi Berger

Arbeit, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung bei Hegel Zum Wechselverhältnis von Theorie und Praxis

Akademie Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Ernst-Reuter-Stiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2012 Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Maxi Berger, Hannover Einbandgestaltung: hauser lacour Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-05-005845-0 E-Book-ISBN 978-3-05-006036-1

„Diesen ersten Satz, der noch nicht unbedingt etwas bedeuten muss, brauchte ich aus zwei Gründen: erstens, weil man immer einen ersten Satz braucht, und zweitens, weil ich seit Stunden einen zweiten Satz habe, der aber leider nicht als erster Satz taugt. Ich brauchte also nicht nur wie immer einen ersten Satz, was schon kompliziert genug ist, sondern einen, der zu einem ganz bestimmten zweiten Satz hinführt. Nun führt allerdings jeder erste Satz zum zweiten Satz, zumindest erscheint uns das im Normalfall so, aber ich glaube mit einigem Recht vermuten zu dürfen, dass Sie sich noch nie mit der Frage auseinandergesetzt haben, was es bedeutet, die Arbeitslogik auf den Kopf stellen zu müssen: also einen ersten Satz zu finden, der dem zweiten so entspringt, dass er ihm vorangestellt werden kann, auf eine Weise, dass Sie dann glauben, dass es der zweite ist, der logisch dem ersten entspringt. Ich habe – wie gesagt – Stunden damit zugebracht, Arbeitsstunden, nach denen ich aber kein Arbeitsprodukt vorweisen konnte. Ist das korrekt? Kann man all die Stunden als Arbeitsstunden bezeichnen, in denen nicht einmal das Produkt ‚erster Satz‘ hergestellt wurde? Man kann diese Stunden zweifellos im vordergründigen Sinne meines ersten Satzes als ‚Verhängnis‘ bezeichnen, aber nicht als Arbeit. Warum? Nicht deshalb, weil nicht produziert wurde, sondern deshalb, weil man diese Stunden nicht einrechnen kann in der Zeit, die es im gesellschaftlichen Durchschnitt braucht, einen Satz zu schreiben oder schreiben zu lassen, der einigermaßen im Kontext von Ort, Zeit und Anlass funktioniert. Kein Mensch, der eine wichtige und richtige Arbeit hat, kann es sich leisten, einen halben Tag mit nichts anderem zuzubringen als damit, keinen ersten Satz zu schreiben, nur deshalb, weil er eingeladen wurde, ‚ein paar Worte zu sagen‘.“ (Robert Menasse. Arbeit, Freiheit, Wahn.)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ........................................................................................................................ 9 1 Einleitung .................................................................................................................. 11 1.1 Die Begriffe Arbeit und Selbstbestimmung im 20. Jahrhundert ..................... 11 1.2 Zurück zu Hegel: Die Arbeit des Geistes ....................................................... 18 1.3 Gegendarstellung ........................................................................................... 22 1.4 Noch mehr Grundsätzliches zur Darstellung .................................................. 24 1.5 Stand der Forschung ...................................................................................... 27 2 Die Arbeit der Selbstbestimmung in der Logik ......................................................... 42 2.1 Systemprogramm und die Arbeit des Begriffs ............................................... 43 2.2 Objektiver Begriff und begriffene Objektivität ............................................. 56 2.3 Teleologie ....................................................................................................... 62 a) Der subjektive Zweck ........................................................................... 63 b) Das Mittel ............................................................................................. 71 c) Der ausgeführte Zweck ....................................................................... 75 Exkurs zur Kritik der Urteilskraft Kants .................................................. 80 2.4 Resultate: Grenzen des Teleologiebegriffs ..................................................... 86 2.5 Der Tod des Individuums: Leben als unmittelbare Idee ................................. 92 a) Das lebendige Individuum .................................................................... 99 b) Der Lebensprozeß ............................................................................... 102 c) Die Gattung ......................................................................................... 106 2.6 Resultate: Der Begriff absoluter Selbstbestimmung ..................................... 110 3 Selbstbestimmung und Herrschaft in der Phänomenologie ..................................... 116 3.1 Der Begriff des Selbstbewußtseins ............................................................... 118 a) Sinnliche Gewißheit ............................................................................ 122 b) Die Wahrnehmung oder das Ding, und die Täuschung ....................... 125 c) Kraft und Verstand. Erscheinung und übersinnliche Welt ................... 127 d) Selbstbewußtsein ................................................................................. 144 Exkurs: Naturwissenschaftliche Theoriebildung .................................... 149

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Inhaltsverzeichnis

3.2 Selbstbewußtsein und das Problem seiner Realisierung .............................. 156 a) Leben, Individuum und Gattungsvermögen ....................................... 160 b) Herrschaft und Knechtschaft .............................................................. 166 3.3 Resultate. Die unglücklichen Selbstbewußtseine ........................................ 178 4 Gesellschaftliche Selbstbestimmung und Arbeit in den Grundlinien ...................... 184 4.1 Der Begriff des Willens ............................................................................... 187 Exkurs: Der schmale Grat zwischen Apologie und gesellschaftlicher Selbstbestimmung ............................................................................ 195 4.2 Abstraktes Recht .......................................................................................... 202 a) Person und Eigentum ......................................................................... 209 b) Werteigenschaft und Vertrag .............................................................. 215 c) Unrecht und der Wille des Verbrechers ............................................... 221 d) Resultate: Substanz und Bedingungen des abstrakten Rechts ............ 226 4.3 Moralisches Subjekt, sittliches Selbstbewußtsein, aufgeklärtes Individuum 228 4.4 Bedürfnis, Arbeit und gesellschaftliche Anerkennung ................................. 236 a) Die Art des Bedürfnisses .................................................................... 238 b) Rechtspflege, Polizei und Korporation .............................................. 245 4.5 Resultate: Das Scheitern gesellschaftlicher Selbstbestimmung in den Grundlinien ............................................................................................. 254 5 Gegendarstellung: Zu den ökonomischen Bedingungen der Rechtsphilosophie ..... 258 5.1 Einfache Warenzirkulation und Kapital ...................................................... 260 5.2 Die Ware Arbeitskraft .................................................................................. 265 5.3 Arbeits- und Verwertungsprozeß ................................................................. 268 5.4 Methoden der Produktivkraftsteigerung ...................................................... 272 a) Verlängerung des Arbeitstages ............................................................ 273 b) Begriff des relativen Mehrwerts ........................................................ 276 c) Kooperation und Arbeitsteilung .......................................................... 277 d) Maschinerie und große Industrie ........................................................ 282 5.5 Akkumulation .............................................................................................. 284 6 Resultate. Das Scheitern der Selbstbestimmung ..................................................... 290 Literaturverzeichnis ................................................................................................ 301 Erläuterungen der Kurztitel .............................................................................. 301 Bibliographie .................................................................................................... 302 Personenregister ...................................................................................................... 310

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde am 22. Oktober 2010 vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin als Dissertationsschrift angenommen. Obwohl einer publizierten Dissertation die Umstände, mit denen sie entstanden ist, nicht mehr unbedingt anzusehen sind, haben sie die wissenschaftliche Arbeit bedingt. Während der ganzen Zeit hatte ich das Glück, daß mir Menschen zur Seite standen, die die wissenschaftlichen, organisatorischen und persönlichen Umstände beeinflußt und so entscheidend zum Entstehen dieser Arbeit beigetragen haben. Bei diesen Menschen möchte ich mich bedanken. Zu allererst gilt mein Dank Andreas Arndt, der diese Arbeit über die Jahre nicht nur auf eine unkomplizierte und angenehme Weise betreute, sondern auch durch kritische Bemerkungen wie aufmunternde Worte und vor allem auch durch viele Gutachten immer wieder unterstützend eingriff. Frieder Otto Wolf danke ich ebenfalls für seine unkomplizierte Betreuung und für das zweite Gutachten, dessen Hinweise mir eine ganz neue Perspektive auf meine Arbeit eröffnet haben. Meinem ersten philosophischen Lehrer Peter Bulthaup hätte ich diese Arbeit gerne noch vorgelegt, was aber leider nicht mehr möglich ist. Ihm verdanke ich die Einsicht, daß Philosophie gegen ihren Ruf ein Elfenbeinturm mit Schießscharten ist. Den wissenschaftlichen Reflexionsprozeß habe ich nicht nur am Schreibtisch, sondern auch in verschiedenen Kolloquien und Arbeitsgruppen vorantreiben können, darunter das Kolloquium von Günther Mensching. Ihm und den Mitgliedern des Kolloquiums danke ich für die gründliche Lektüre meiner Texte und die intensiven Gespräche darüber. Ebenso möchte ich den Mitgliedern der Arbeitsgruppen des Gesellschaftswissenschaftlichen Instituts danken, die mir die Diskussion meiner Texte auch außerhalb universitärer Zusammenhänge ermöglichten, und deren Anmerkungen immer konstruktiv waren. Michael Städtler, Dirk Meyfeld, Andreas Walter, Tobias Reichardt, Heide Homann, Stephanie Heck, Daniel Völk und Heiko Vollmann haben in mühevoller Kleinarbeit große Teile der Arbeit Korrektur gelesen. Ihnen danke ich für gute Fragen und wertvolle Hinweise. Die Promotion ist über eine lange Zeit hinweg in nebenberuflicher Beschäftigung entstanden und wurde erst in der Abschlußphase durch ein Elsa-Neumann-Stipendium des

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Vorwort

Landes Berlin gefördert. Ich danke daher einerseits der Graduiertenförderung des Landes Berlin, die mir den konzentrierten Abschluß des Projektes ermöglicht hat. Andererseits danke ich meinen Kollegen und Kolleginnen bei der HIS GmbH, die mal mehr, mal weniger Verständnis dafür aufgebracht haben, wenn ich mit meinen Kopf mal wieder ganz woanders war. In diesem Sinne und stellvertretend ist Herr Hartung zu nennen. Walburga Freitag hat mich hingegen in einem wichtigen Moment auf meine Prioritäten hingewiesen und Daniel Völk danke ich, weil er verstanden hat, worum es mir ging. Meinen Freunden bin ich überhaupt für ihre Unterstützung sehr verbunden. Marten Sager und Tom vom Walde ermöglichten mir intensive Schreibphasen auf Mallorca; Leo Šešerko und Sonja Solinar hingegen in Savudrija. Ihnen danke ich für ihre Gastfreundschaft. Man kann sagen, daß die Kernkapitel dieser Arbeit mit Blick auf das Mittelmeer entstanden sind, und dort hatte ich die besten Ideen. Für die moralische Unterstützung danke ich Heide Homann, Ingrid Bulthaup, Adrian Pigors, Oliver Jelinski, Rüdiger Mackenthun und ganz besonders auch Helge Nickele, Dirk Meyfeld, Vanessa Sprengart und Eva Stocker-Auer, die mich in langen Gesprächen überaus geduldig davon überzeugen konnten, daß auch diese Dissertation irgendwann fertig wird. Entscheidend geprägt und unterstützt haben mich natürlich auch meine Eltern. Meinem Vater, der den Abschluß dieser Promotion leider nicht mehr miterlebt hat, und ganz besonders auch meiner Mutter danke ich dafür, daß sie unermüdlich daran geglaubt haben, daß ich meinen Weg gehe. Das war sehr wichtig für mich. Schließlich danke ich Michael für seinen fachlichen Rat, seine moralische Unterstützung und vor allem – für seinen Humor, den er in den letzten Jahren oft unter Beweis stellen mußte. Daß es ihn gibt, macht vieles leichter und alles schöner. Der Druck dieser Arbeit wurde durch die freundliche Unterstützung der Ernst-Reuter-Stiftung ermöglicht.

1 Einleitung

1.1 Die Begriffe Arbeit und Selbstbestimmung im 20. Jahrhundert „Daß etwas unnütz sei, ist dann keine Schande mehr.“1

Der Arbeitsbegriff nimmt eine Schlüsselfunktion für das Verständnis des menschlichen Lebens und Denkens überhaupt ein. Entsprechend lang ist die philosophische Tradition, in der die Frage nach der sittlichen und ökonomischen Stellung von Arbeit gestellt wird. Sie reicht von der Gegenwart bis in die Antike zurück. Aristoteles unterschied zwischen der produktiven Tätigkeit, der poiesis, und der tugendhaften Tätigkeit, der praxis, wobei die poiesis von Bauern, Handwerkern, Tagelöhnern und vor allem Sklaven ausgeübt wurde, während die praxis den Bürgern vorbehalten war. Die praxis war also ein gesellschaftliches Privileg, das aber von Aristoteles als eine naturgegebene Differenz gerechtfertigt wurde. Diese Auffassung kann für die Antike als Modell gelten.2 Mit dem Christentum hielt die Auffassung Einzug, daß der Mensch durch Arbeit einen Dienst an Gott verübt. Körperliche Arbeit wurde so zur allgemeinen Menschenpflicht, doch erhielt sich bis zur Reformation auch die antike Geringschätzung der körperlichen Arbeit gegenüber der geistig-kontemplativen – so z. B. bei Thomas von Aquin in der Trennung der vita activa von der vita contemplativa. Hier rechtfertigte sie die Muße von Rittern und Mönchen. Allerdings ist die körperliche Arbeit bei Thomas nicht mehr – wie vor allem bei Augustinus – bloßes Resultat der Erbsünde und Mittel zum ewigen Heil, sondern sie erfüllt zunehmend selbstbewußte zeitliche Zwecke und Funktionen. Aber ihr Begriff bleibt ambivalent.3 Die Hochschätzung 1 2

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Theodor W. Adorno. „Thesen über Bedürfnis.“ In Gesammelte Schriften Bd. 8 (Soziologische Schriften I). Darmstadt, 1998, 396. Vgl. Aristoteles. Politik, Reinbek, 1994, Zeile 1255b; und Tobias Reichardt, „Grundpositionen der antiken Philosophie zum Thema Arbeit.“ Vortrag gehalten auf dem 5. Symposion zur Philosophie des Mittelalters „Geistige und körperliche Arbeit im Mittelalter.“ Hannover, am 23.02.2012. Vgl. Michael Städtler. „Arbeit als Faktor der Profanierung. Spuren der Reflexion auf reproduktive Tätigkeiten im praktischen und theoretischen Denken Thomas von Aquins“. Vortrag gehalten auf dem 5. Symposion zur Philosophie des Mittelalters „Geistige und körperliche Arbeit im Mittelalter.“ Hannover, am 24.02.2012. Ebenso Charles Le Goff. Für ein anderes Mittelalter. Zeit, Arbeit und Kultur im Europa des 5.– 15. Jahrhunderts. Weingarten, 1987. Le Goff arbeitet eine mentalitätsgeschichtliche Aufwertung der Arbeit seit der Karolingerzeit heraus, verbunden mit der allmählichen Verselbständigung gegenüber platonischem und platonistischem Denken. Neuerdings

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Einleitung

der vita contemplativa fiel endgültig erst der Reformation zum Opfer – Faulheit und Nutzlosigkeit wurden verurteilt, statt dessen sollten alle Menschen nun geistigen und körperlichen Dienst an Gott tun. In diese Wertung wurde nicht nur die Lebensform des geistigen Standes und der Bettelmönche mit ihren freiwilligen Armutsgelübden einbezogen, sondern auch die unfreiwillige Armut. Zwar gab es in der protestantischen Vorstellung auch soziale Rangordnungen, aber diese waren nicht mit einer Rangordnung der körperlichen Arbeiten verbunden. Obwohl der protestantische Arbeitsbegriff bereits viele moderne Momente enthält, bleibt er auf den Zweck des Gottesdienstes bezogen. Das Streben nach materieller Zufriedenheit wird zugestanden, aber nicht als Zweck der Arbeit betrachtet.4 Erst mit der frühen Neuzeit entwickelt sich die Auffassung, daß die Reproduktionsarbeit wie das Gewinnstreben Selbstzweck seien. Reproduktionsarbeit und Selbstbestimmung werden identisch, Selbstbestimmung somit zu einem pragmatischen Begriff. Das Vorhandensein dieser Tradition scheint ein Indiz dafür zu sein, daß etwas im Problem der Arbeit unbewältigt geblieben ist, was die Motivation, dieses Thema vor dem aktuellen geschichtlichen Bewußtsein erneut zu reflektieren, am Leben erhält. Dieses Moment drückt sich in einer Äquivokation im Arbeitsbegriff aus, die ihm wesentlich ist: Allgemein bezeichnet der Begriff der Arbeit den Prozeß der Verwirklichung von menschlichen Zwecken in einem Material – zunächst einmal unabhängig davon, ob diese Zwecke geisteswissenschaftlich, politisch, ökonomisch, naturwissenschaftlich, technisch oder künstlerisch sind, ob die Arbeit geistig oder körperlich ist, und gleich, ob das Material gegenständlich oder intelligibel, ursprünglich oder selbst schon das Produkt eines vorangegangenen Arbeitsprozesses ist. Während das Material vorgefunden wird und damit als Bedingung der Arbeit erscheint, sind die Zwecke nicht vollständig durch das Material bestimmt, sondern die Vorstellung von etwas, das erst noch vergegenständlicht werden soll. In der Antizipation seiner Realisierung ist der Zweck indirekter Ausdruck des menschlichen Vermögens zur Freiheit, und die Arbeit spielt sich damit zwischen den Extremen der Freiheit und der durch das Material vorgegebenen Naturnotwendigkeit ab. Aber auch in einer erweiterten, produktiven Hinsicht gilt die Bestimmung der Arbeit als tätige Verbindung zwischen Freiheit und Notwendigkeit: Arbeit dient der Herstellung von Lebensmitteln und damit der Reproduktion menschlichen Lebens. Von je her erhielten sich die Menschen durch den und im Arbeitsprozeß. Indem die Menschen arbeiteten, entwickelten sie auch Wissen, das sie in Technik um- und zur Erleichterung der Arbeit einsetzen konnten. Arbeit als ökonomisch-technische Tätigkeit ist insofern produktiv. Diese Produktivität ist aber nicht das Werk von isoliert arbeitenden Individuen, sondern

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hat die historische Forschung betont, daß bereits in Augustinischer Zeit ebenso Hochschätzung körperlicher Arbeit formuliert wurde, vor allem. z. B. bei Ambrosius von Mailand (vgl. Verena Postel. Arbeit und Willensfreiheit im Mittelalter. VSWG. Stuttgart, 2009) Es läßt sich sagen, daß das Verhältnis christlichen Denkens zur Arbeit stets ambivalent war, aber sukzessive dessen selbst bewußt wird. Eine geschichtliche Darstellung des Arbeitsbegriffs findet sich bei Werner Conze. „Geschichtliche Grundbegriffe, Stichwort Arbeit.“ In Geschichtliche Grundbegriffe: historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland Bd. 1, hrsg. v. Otto Brunner u. a., 154–215. Stuttgart, 1972.

Die Begriffe Arbeit und Selbstbestimmung im 20. Jahrhundert

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in größeren oder kleineren kooperativ und arbeitsteilig organisierten, gesellschaftlichen Zusammenhängen entstanden, die zudem geschichtlich meist herrschaftlich organisiert waren – z. B. als Sklaverei, Leibeigenschaft oder Zwangsarbeit.5 Das dem Arbeitsbegriff zugrunde liegende Problem besteht also darin, daß Arbeit Ausdruck menschlicher Freiheit ist, aber von Bedingungen abhängt, die deren Realisierung entgegenstehen: der Natur als Material, an dem gearbeitet wird, und der herrschaftlichen Organisation von Arbeit. Produktive Arbeit ist immer auch fremdbestimmte Arbeit. Dieses grundlegende Problem führt auf den Begriff der Selbstbestimmung bzw. den Begriff selbstbestimmter Arbeit, durch den in Abgrenzung gegen die fremdbestimmten Arbeitsverhältnisse die Synthese zwischen praktisch werdender Freiheit und gesellschaftlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen gedacht wird. Arbeit enthält die Äquivokation, philosophischer Begriff, philosophisches Thema und historisch-ökonomisches Phänomen zu sein. Als philosophischer Begriff ist sie ein Ausdruck von Selbstbestimmung, weil darin das Prinzip der Arbeit als Prinzip der Realisierung der Freiheit gedacht wird. Weil der philosophische Begriff aber selbst nicht praktisch ist, liegt in ihm immer auch die Tendenz, von den historischen Zwangsverhältnissen zu abstrahieren. Umgekehrt ist Arbeit als ökonomisches Phänomen zwar produktiv, aber nicht, ohne herrschaftlich organisiert zu sein. Selbstbestimmte Arbeit gehöre zum Menschsein dazu – sagt Hegel, daß sie ein Verhängnis sei, hingegen Robert Menasse, denn: „Was immer durch Arbeit produziert wird, sie vernichtet, was sie versprach.“6 Zwischen dem Begriff selbstbestimmter Arbeit und den ökonomischen Bedingungen der produktiven Arbeit steht die politische Stellungnahme, in der sich das Verständnis von Freiheit mit der ökonomischen Notwendigkeit zu arbeiten, auf unheilvolle Weise vermischt – im 20. Jahrhundert im real existierenden Sozialismus, dem Nationalsozialismus und dem Liberalismus. Der real existierende Sozialismus wurde als Übergangsgesellschaft betrachtet, deren historische Aufgabe im Aufbau einer „kameradschaftlich arbeitenden, kommunistischen Gesellschaft“7 bestand. Das politische Mittel für den Aufbau war die „Diktatur des Proletariats“8, weil dem Proletariat als einziger Klasse das Interesse an der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zugesprochen wurde, während den anderen Klassen – Bourgeoisie und Adel – im Gegenteil ein mehr oder weniger großes Interesse am Erhalt der bürgerlichen Zustände unterstellt wurde. In diesem Zusammenhang diente die Arbeit einerseits dem ökonomischen Zweck, ein Produktivkraftniveau hervorzubringen, welches es ermöglichen sollte, das Privateigentum und die daran gebundene Verteilung der Lebensmittel über Geld durch Gemeineigentum und die Verteilung nach individuellem Bedürfnis abzulösen. Die politische Idee einer kommunistischen Gesellschaft, in der die ökonomischen Interessen herrschaftsfrei koordiniert werden, war mit der Forderung ver5 6 7 8

Einen Überblick über geschichtliche Formen unfreier Arbeit geben Erdem M.. Kabadayi u. Tobias Reichardt (Hg.). Unfreie Arbeit. Hildesheim, 2007. Robert Menasse. „Arbeit, Freiheit und Wahn.“ 11, 21. Nikolai I. Bucharin und Evgenij Preobraschensky. „Das ABC des Kommunismus.“ Hamburg, 1921, 2. Ebd., 10.

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Einleitung

bunden, daß jeder Einzelne seinen ökonomischen wie ideologischen Beitrag zum Aufbau des Sozialismus zu leisten habe. Insofern sollten Arbeit und Selbstbestimmung dasselbe sein, allerdings nicht ohne unmittelbar in ein Zwangsverhältnis umzuschlagen, das sich vor allem gegen die Klassenfeinde richtete. „In der kommunistischen Gesellschaft wird jedes Schmarotzertum verschwinden, d. h. die Existenz von Menschen-Mitessern, die Nichts tun und auf Kosten anderer leben, wird aufhören.“9 Darin, daß die Klassenfeinde nicht als Menschen, sondern „Menschen-Mitesser“ bezeichnet wurden, zeigt sich, daß die Möglichkeit der Aufklärung anderer gesellschaftlicher Gruppierungen nicht in Betracht gezogen wurde. Statt dessen blühte den Klassenfeinden die „Umerziehung“, was spätestens seit Stalin bedeutete, in einem Arbeitslager interniert zu werden. Dort lebten die Häftlinge unter schlechtesten Bedingungen und wurden teilweise bis zum Tode abgearbeitet. Was also als „Umerziehung“ bezeichnet wurde, war tatsächlich ein Gewaltakt. Der Nationalsozialismus verfolgte die Idee einer völkischen Gemeinschaft. Arbeit wurde als zum Wesen des Menschen gehörig betrachtet, aber Mensch im vollen Sinne sollte nur sein, wer arischer Abstammung war. Den Ariern war der Reichsarbeitsdienst vorbehalten, der sie auf die Pflichten einer völkisch-ethischen Gemeinschaft vorbereiten sollte und der zugleich als tugendhaft betrachtet wurde. Die Arbeit von „Juden und Bolschewisten“ wurde dagegen stigmatisiert. „Ariertum bedeutet sittliche Auffassung der Arbeit und dadurch […] Sozialismus, Gemeinsinn, Gemeinnutz vor Eigennutz – Judentum bedeutet egoistische Auffassung der Arbeit und dadurch Mammonismus und Materialismus, das konträre Gegenteil des Sozialismus.“10 In der Auffassung des Nationalsozialismus wurde demnach zwischen der positiven, arischen, kulturschöpfenden Arbeit und der negativen, als parasitär gebrandmarkten Arbeit der Juden und politischen Feinde unterschieden. Daraus zog Hitler dann die Forderung nach der „Entfernung […] aus dem Lande“ 11. Was dieser Euphemismus spätestens seit 1942 tatsächlich bedeutete, ist bekannt: Nicht nur Juden und Kommunisten, sondern auch Homosexuelle, Sinti, Roma, Intellektuelle, Kranke wurden entweder durch Arbeit oder durch Gas in den Konzentrationslagern vernichtet. „Unsere Arbeitslager sind Bollwerke gegen jene jüdisch-materialistische Arbeitsauffassung, die in der Arbeit nur ein Geldgeschäft, in der Arbeitskraft eine Ware sieht.“12 Die Nationalsozialisten vernichteten durch Arbeit Millionen von Menschen in der Überzeugung, daß Arbeit, gemäß der Inschriften auf den Eingangstoren zu den Konzentrationslagern, frei mache.13 9 10

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Nikolai I. Bucharin u. Evgenij Preobraschensky. „Das ABC des Kommunismus.“ 8. Adolf Hitler. „Warum sind wir Antisemiten?“ abgedr. Reginald H. Phleps, Hitlers „grundlegende“ Rede über den Antisemitismus, Fjh. f. Zeitgesch. 16 (1968), 406. Zit. n. Werner Conze, „Geschichtliche Grundbegriffe, Stichwort Arbeit.“ In Geschichtliche Grundbegriffe: historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner u. a., 1:215. Stuttgart, 1972. Adolf Hitler. Rede, 417. Ebenfalls zit. n. Conze. Ebd. Konstantin Hierl. Rede, in: Der Parteitag der Arbeit, 6. bis 13. September 1937 (München 1938), 90. Ebenfalls zit. n. Conze, Geschichtliche Grundbegriffe, 214.

Die Begriffe Arbeit und Selbstbestimmung im 20. Jahrhundert

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Wenn man daraus überhaupt noch Schlüsse ziehen kann, dann vielleicht nur den, daß Arbeit als Prozeß nicht an sich selbstbestimmt, sondern gegen ihren Zweck letztlich gleichgültig ist und sogar zum Mittel industrieller Massenvernichtung werden kann, wenn nur die Bereitschaft dazu kollektiv vorhanden ist.14 Für diese Bereitschaft mag es ideologische, ökonomische, sozialpsychologische Motive geben, die in den entsprechenden Disziplinen erforscht worden sind. Was aber letztendlich unfaßbar daran ist und bleibt, ist die darin praktisch gewordene Gewalt, die jede Affirmation von Arbeit als Inbegriff der Selbstbestimmung ad absurdum führt: „Das Gefühl, das nach Auschwitz gegen jegliche Behauptung von Positivität des Daseins als Salbadern, Unrecht an den Opfern sich sträubt, dagegen, daß aus ihrem Schicksal ein sei’s noch so ausgelaugter Sinn gepreßt wird, hat sein objektives Moment nach Ereignissen, welche die Konstruktion eines Sinnes der Immanenz, der von affirmativ gesetzter Transzendenz ausstrahlt, zum Hohn verurteilen.“15 Der Liberalismus des 20. Jahrhunderts bezieht seine politische Motivation sowohl aus der Abgrenzung gegen den real existierenden Sozialismus als auch gegen den Nationalsozialismus. Beiden wird ein Totalitarismus vorgeworfen, der gegen die Opfer beider Systeme rücksichtslos gewesen sei, wobei dieser Vorwurf gegen die Zwecke und Mittel der beiden Systeme im einzelnen abstrakt bleibt. In den liberalen Theorien wird daher die Freiheit des Individuums und dessen Eigenverantwortlichkeit in den Fokus der politischen Freiheitsidee gestellt. An politischen Forderungen ist damit alles verbunden, was heutzutage zumindest in der westlichen Welt auch politisch anerkannt und institutionalisiert ist: freie Marktwirtschaft mit dem Schutz des Privateigentums, Demokratie, Grundrechte, insgesamt Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit. Planwirtschaft wird generell abgelehnt, nur die Frage, wieviel staatlicher Eingriff zum Erhalt der Marktwirtschaft nötig sei, wird innerhalb des liberalen Spektrums unterschiedlich beurteilt. Mit dem Anspruch der Eigenverantwortlichkeit der Individuen erhält auch der Arbeitsbegriff eine neue Wertung: Die Arbeitswelt

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Vgl. Robert Menasse: „Das mit der Rasse ist ‚typisch für den damaligen Zeitgeist‘, aber so richtig bedrückend ist erst die Tatsache, dass diese Idee, es könne eine Form der Arbeit geben, die in gesellschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen besteht und dabei nicht-entfremdet ist, heute ungebrochen weiterlebt und Grundlage von moderner Arbeitsmarktpolitik ebenso wie von zeitgeistigen individuellen Lebensentwürfen ist. Denn nichts anderes glaubten und glauben heute anständige Sozialisten, die Alternativen ebenso wie moderne Bobos (bourgeoise Bohemiens), aber nichts anderes glaubten eben auch die SS-Komandanten die den Satz ‚Arbeit macht frei‘ über den Toren der Konzentrationslager anbringen ließen.“ Robert Menasse. „Arbeit, Freiheit und Wahn.“ 15. Richard Sennett beschreibt ebenfalls die Gleichgültigkeit der technisch bestimmten Arbeit gegen ihren ethischen Charakter. Die Arbeit wird nach seiner Terminologie vom Animal laborans verrichtet, im Gegensatz zum Homo faber, der reflektiert und urteilt: „Gute Beispiele dafür sind Oppenheimers Gefühl, der Bau der Atombombe sei eine ‚verlockende‘ Aufgabe, und Eichmanns obsessive Bemühungen um eine größtmögliche Effizienz der Gaskammern. Nichts anderes zählt bei dem Versuch, dieses Ziel zu erreichen. Für das Animal laborans ist die Arbeit Selbstzweck.“ Richard Sennett. Handwerk. Berlin 2008, 15 f. Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften Bd. 6 (Negative Dialektik). Darmstadt, 1998, 354 (im folgenden Negative Dialektik).

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Einleitung

wird zur Sphäre der Selbstverwirklichung, der Beruf zum Lebenssinn und zum Ausdruck individueller Freiheit.16 Wenngleich mit der liberalen Idee bestimmte subjektive Rechte und objektive Rechtsgrundsätze formuliert werden, hinter die nicht mehr zurückgegangen werden darf, erscheint mittelbar auch in den liberal organisierten Gesellschaften die Arbeitswelt paradox, da deren Mitglieder sich wesentlich über Arbeit definieren, es aber dank technischen Fortschritts scheinbar immer weniger ‚zu tun‘ gibt. Diejenigen, die einen Arbeitsvertrag haben, arbeiten bis zum burn out, während andere Teile der Bevölkerung durch Arbeitslosigkeit von der Möglichkeit, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, abgeschnitten sind. In der BRD springt der Sozialstaat zwar ein und gewährleistet zumindest eine Grundsicherung. Die Bedingungen, unter denen staatliche Hilfen gewährt werden, haben sich aber in der Bundesrepublik seit dem Ende der Ostblockstaaten massiv verändert. Solange es darum zu tun war, sich gegen das praktisch gewordene Konkurrenzmodell des real existierenden Sozialismus abzugrenzen, war der Sozialstaat ein Mittel, zu beweisen, daß die Kritik am Kapitalismus unsozial zu sein, gegenstandslos ist. Mit dem Ende des real existierende Sozialismus hielt dann nicht nur das Diktum Einzug, daß mit dem politischen Wandel auch die Kritik am etablierten System praktisch widerlegt worden sei, sondern auch die Notwendigkeit, sich durch eine teure Sozialpolitik eine bessere Akzeptanz in der Bevölkerung zu verschaffen. Die Diskussionen um den politischen und ökonomischen Stellenwert von Arbeit in der modernen Gesellschaft verschwanden von der Tagesordnung. Sie wurden ersetzt durch die Tat, also den Umbau des bundesdeutschen Sozialstaates durch die Einführung der sogenannten Hartz-Gesetze, vor allem Hartz IV. Arbeit und vor allem auch Arbeitslosigkeit sollten dadurch günstiger, effizienter organisiert werden, und zwar auf Kosten der Hilfebedürftigen – wohl nicht zuletzt auch, um die Deutsche Einheit als Folge des Untergangs des real existierenden Sozialismus zu finanzieren. Seither bekommen die Hilfeempfänger in bislang nicht gekanntem Ausmaß zu spüren, daß sie für die Hilfeleistungen mit der Einschränkung ihrer Grundrechte bezahlen. Wer einmal ein JobCenter von innen gesehen hat und mit den Organen der staatlichen Arbeitslosenverwaltung konfrontiert wurde, weiß, wie so etwas innerhalb der rechtsstaatlich zumutbaren Grenzen funktioniert. Der naive Gedanke, daß Arbeitslosigkeit auch ein Zustand der Muße und selbstbestimmten Tätigkeit sein könnte, wird heutzutage im Keim erstickt. Aber der Gedanke erscheint nur unter heutigen Bedingungen als naiv: In Antike und Mittelalter war er selbstverständlich. Daß die Muße damals durch offen despotische Herrschaft erkauft war, spricht nicht dagegen, an diese Auffassung zu erinnern, weil das Niveau der Produktivität heute eine Ermäßigung der Arbeitsnot aller unter herrschaftsfreien Bedingungen zugunsten selbstbestimmter Tätigkeiten zuließe. Dennoch werden Selbstbestimmung und gesellschaftliche Aner16

Als wichtige Repräsentanten liberaler Theorien sind u. a. folgende Autoren zu nennen: Friedrich A. Hayek. Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit. München 1981; Karl Popper. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Tübingen, 1992.

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kennung nur dem zugestanden, der das Leben durch eigene Arbeit finanzieren kann. Aber erstens beruht die Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, auf einem Wirtschaftssystem, in dem der Zustand der Vollbeschäftigung nur als Sonderfall denkbar ist, und zweitens haben diejenigen, die einen Arbeitsvertrag haben, normalerweise nicht mehr viel Zeit für Tätigkeiten, die ökonomisch nicht produktiv sind. In der Moderne bleibt die Selbstbestimmung den ökonomischen Zwängen untergeordnet und wird damit in ihr Gegenteil verkehrt. So sehr sich die Vertreter der genannten Lager auf unterschiedliche politische Ideen beziehen, so sehr haben sie doch auch eine, wenngleich nur abstrakte Gemeinsamkeit: Nur wer sich im Sinne des jeweiligen politischen Ziels als nützlich erweist, wird auch als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft behandelt, während diejenigen, die nicht nützlich sind oder ausgegrenzt werden, stigmatisiert und, wo keine rechtsstaatlichen Prinzipien gelten, als Feinde der politischen Idee beseitigt werden. Nur wenn die Menschen sich für den jeweiligen politischen Zweck als nützlich erweisen, haben sie auch eine Existenzberechtigung. Daß etwas unnütz ist, sei eine Schande. Obwohl Hegel bereits zum Beginn der bürgerlichen Epoche lebte, war der Begriff der Selbstbestimmung bei ihm noch anders intendiert, nicht pragmatisch, sondern in dem euphorischen Sinn, daß sich die Menschheit mit der Französischen Revolution zum Rechts- und Bestimmungsgrund geworden sei. Nicht der Mensch diene demnach einem ihm fremden, politischen System, das die Mittel heiligt, sondern das politische System ist die Organisationsform menschlicher Freiheit. Der Begriff der Selbstbestimmung Hegels ist gerade nicht politisch, sondern philosophisch begründet. Darin liegt gleichermaßen eine kritische wie eine apologetische Tendenz, die ihrerseits zu kritisieren ist. Der Blick zurück auf diese Konstellation zwischen kritischer Potenz und apologetischer Tendenz des Hegelschen Begriffs der Selbstbestimmung vermag hoffentlich ein Licht darauf zu werfen, was in den heutigen Lebens- und Arbeitsbedingungen unbewältigt geblieben ist und warum die Vorstellung, daß die gesellschaftliche, ökonomische und moralische Selbstbestimmung ein historisch verwirklichtes Gut sei, noch immer in ihr Gegenteil, die Negation dessen, was Menschheit als Zweck an sich selbst hätte sein können, umgeschlagen ist. Oder mit Hegel gesagt: Das Vorwärtsgehen ist ein Rückgang in den Grund.17

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Vgl. Georg W. F. Hegel. Hauptwerke Bd. 3 (Wissenschaft der Logik; Die objektive Logik; Buch 1. Die Lehre vom Sein (1832). Buch 2. Die Lehre vom Wesen (1813)). Darmstadt, 1999, 57 (im folgenden Lehre vom Sein und vom Wesen). Die Frage nach der Modernität Hegels hat in den letzten Jahren eine Renaissance erlebt. Vgl. z. B. Robert Pippin. Die Verwirklichung der Freiheit. Der Idealismus als Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M./New York, 2005; Johann Kreuzer. Hegels Aktualität: über die Wirklichkeit der Vernunft in postmetaphysischer Zeit. München, 2010. HansChristoph Schmidt am Busch. Hegels Begriff der Arbeit. Berlin, 2002.

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Einleitung

1.2 Zurück zu Hegel: Die Arbeit des Geistes Der Begriff der Selbstbestimmung bzw. der selbstbestimmten Arbeit ist bei Hegel nicht auf die ökonomische oder politische Fragestellung nach der Funktion und dem Wert von Arbeit beschränkt, sondern ein Begriff, der im Zusammenhang seines philosophischen Programms zu bestimmten ist.18 Das Subjekt der Selbstbestimmung ist in seiner konkretesten Gestalt der frei für sich seiende Geist, der sich im Medium des Begriffs ebenso bestimmt wie in der Objektivität der Natur, der Kunst, der Religion oder der Geschichte. Erstens bestimmt er sich in Abgrenzung gegen das, was er nicht ist. Selbstbestimmung ist Negation. Zweitens bestimmt er sich, indem er das Andere umgestaltet, es als sein Medium durcharbeitet und zur Gestalt seiner Selbstbestimmung macht. Der Geist ist insofern Negation der ersten Negation und wird produktiv. Selbstbestimmung ist damit sowohl ein theoretischer wie praktischer Prozeß und es ist in einem dritten Schritt um die Vermittlung der theoretischen und der praktischen Bewegung zu tun. Die Selbstbestimmung des Geistes genügt der Form zweckgerichteter Tätigkeit: Ein Subjekt, der Geist, bezieht sich theoretisch und praktisch auf das von ihm vorgefundene Material, und gestaltet es seinen Zwecken gemäß. Das Material, in dem der Zweck realisiert ist, ist ein ausgeführter Zweck. Es ist damit einerseits durch den Zweck bestimmt und die Relation zwischen Geist und ausgeführtem Zweck reflexiv. Andererseits ist der ausgeführte Zweck vom reinen Zweck auch unterschieden – das Material ist kein Begriff. Die Selbstbestimmung des Geistes ist seine Arbeit. Die Aufgabe des Geistes besteht darin, sich als Wesen und Grund des Systems philosophischer Wissenschaften zu erweisen. Diesem übergeordneten Zweck sind die verschiedenen Sphären des Systems als Momente seiner Erfüllung untergeordnet. Das bedeutet für den Begriff der Arbeit zweierlei: Zum einen ist der Geist Subjekt und Objekt der Arbeit und bezieht sich auf die verschiedenen Gegenstandsbereiche als seine Momente. Damit umfaßt der Arbeitsbegriff Hegels mehr als nur die Arbeit, die zur Reproduktion dient. Arbeit ist bei Hegel ebenso intellektuelle Tätigkeit, Arbeit der geistesgeschichtlichen und der individuellen Bildung der Individuen, künstlerische Arbeit usw.19 Insofern Hegel Arbeit als Reproduktionsarbeit betrachtet, stellt sich für ihn zum anderen die Differenz zwischen der Arbeit des Begriffs und der Reproduktionsarbeit nicht als absolute Differenz dar, sondern sie ist eine Funktion für die Realisierung des Geistes. Reproduktionsarbeit kann damit zwar bezogen auf den terminus ad quem des Systems, den Geist, unterschiedlich entwickelt sein. Sie ist aber in jedem Stadium zugleich selbstbestimmt, weil sie eine Funktion zur Erfüllung des Zwecks ist. 18 19

Vgl. auch Andreas Arndt. „Zu Herkunft und Funktion des Arbeitsbegriffs in Hegels Geistesphilosophie.“ In Die Arbeit der Philosophie. Berlin, 2003, 27, 48. So verwendet Hegel in der Vorrede zur Phänomenologie den Terminus Arbeit, um die Tätigkeit des Negativen (vgl. G. W. F. Hegel. Hauptwerke Bd. 2 (Phänomenologie des Geistes, im folgenden Phänomenologie des Geistes). Darmstadt, 1999, 18), der Weltgeschichte (vgl. ebd., 25) und des Verstandes (vgl. ebd., 27) zu bezeichnen.

Zurück zu Hegel: Die Arbeit des Geistes

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Das damit skizzierte Systemprogramm bedeutet für das Verhältnis von Arbeit und Selbstbestimmung, daß darin die systematische Ineinanderbildung von Ökonomie, Gesellschaft und Moralität in der Sittlichkeit nachweisbar sein muß, mithin, daß der von Hegel in den Grundlinien gezeichnete Gesellschaftsbegriff sich als vernünftig und umgekehrt die Vernunft in diesem Begriff als verwirklicht erweisen lassen muß. 20 Der Begriff der Wirklichkeit ist vom Begriff der Realität bei Hegel zu unterscheiden. Mit Realität wird die Unangemessenheit des Begriffs und seiner Realität, Realität also als empirische, vorgefundene bezeichnet. Mit dem Begriff der Wirklichkeit bezeichnet Hegel hingegen eine empirische Realität, die begrifflich durchgearbeitet und deshalb ihrem Wesen nach vernünftig ist. In den Grundlinen soll von der Wirklichkeit des Sittlichen die Rede sein, also von der historisch gewordenen Wirklichkeit einer vernünftigen Gesellschaftskonstruktion. Es wird in dieser Arbeit noch die Frage zu stellen sein, ob sich mit diesem Programm nicht notwendig die beiden Begriffe Wirklichkeit und Realität bei Hegel vermischen, so daß mit dem Begriff der Gesellschaft zugleich historische Bezüge hergestellt werden, die dem Vernunftbegriff nicht zu integrieren sind. Das Gelingen des Nachweises einer verwirklichten Vernunft ist jedenfalls eine Bedingung dafür, daß Selbstbestimmung nicht nur im Elfenbeinturm der Philosophie stattfindet, sondern auch objektive Gehalte hat: Der Staat der Grundlinien ist der Inbegriff von Selbstbestimmung, weil in ihm Philosophie und Realität in Freiheit vermittelt sein sollen. Diesem emphatischen Programm stehen aber Bestimmungen gegenüber, die Formen der Zwangsarbeit und Knechtschaft (Phänomenologie) bewußtseinstheoretisch aufwerten und an der vernünftigen Begründung dafür, daß das System der Bedürfnis (-befriedigung) nicht die Bedürfnisse aller befriedigen kann, scheitert (Grundlinien). Wie sich der Bruch zwischen philosophischer Theorie und gesellschaftlicher Praxis gegen das Programm Hegels schon im Teleologiekapitel der Wissenschaft der Logik Geltung verschafft und sich als Bruch zwischen Subjektivität und Objektivität schlechthin auch in die weiteren Sphären des philosophischen Systems fortsetzt, soll hier untersucht werden. Dabei werden die früheren Schriften Hegels, insbesondere die Systementwürfe (1801–1806) im Rahmen dieser Arbeit vernachlässigt, erstens, um das Thema einzugrenzen, zweitens, weil die meisten Überlegungen zum Arbeitsbegriff Hegels in der Forschungsliteratur sich schon auf die Frühschriften stützen und dem nicht noch ein weiteres Projekt hinzugefügt werden muß, und drittens, weil die späteren und im Sinne des 20

Vgl. G. W. F. Hegel. Werke Bd. 7 (Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse). Frankfurt a. M., 1995, 24 (im folgenden Grundlinien (Werke)). Auf die Frage, inwieweit der Satz von der vernünftigen Wirklichkeit und der verwirklichten Vernunft aus der Vorrede der Grundlinien im Sinne der preußischen Restauration zu interpretieren ist oder nicht, wird hier nicht weiter eingegangen (vgl. Rudolf Haym. Hegel und seine Zeit. Hildesheim, 1962, 359). Diese Frage hat eine eigene Wirkungsgeschichte (Vgl. z. B. Iring Fetscher. „Vorwort“. In Hegel in der Sicht der neueren Forschung, hrsg. v. Iring Fetscher, Darmstadt, 1973, Kapitel IX.) Walter Jaeschke faßt das Problem wie folgt zusammen: „Zum philosophiehistorischen Traktat wird die ‚Vorrede‘ somit nicht durch ihre angebliche Rechtfertigung des zufällig Bestehenden oder gar der programmatischen Restauration des bereits Vergangenen, sondern vielmehr durch ihren Versuch, die Philosophie aus solchen tagespolitischen Auseinandersetzungen herauszuhalten und auf die apolitische Erkenntnis der Vernunftstruktur der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu verpflichten.“ Walter Jaeschke. Hegel-Handbuch. Stuttgart [u. a.], 2003, 275.

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Einleitung

Systemgedankens avancierteren Schriften für den hier angelegten Problemaufriß geeigneter sind.21 Wenn Selbstbestimmung sich nicht einmal im philosophischen System bruchlos vernünftig denken läßt, dann politisch schon gar nicht. Die Affirmation der Reproduktionsarbeit als Sphäre individueller Selbstverwirklichung und Prüfstein gesellschaftlicher Anerkennung durch den „gesunden Menschenverstand“ erweist darin indirekt ihren ideologischen Charakter. Die Frage nach dem Grund für das Aufbrechen des sittlichen Systems ist aus dem System selbst nicht abzuleiten, sondern ist ein Indiz sowohl für die Selbständigkeit der von Hegel philosophisch abgehandelten Gegenstandsbereiche gegen den Systemgedanken als auch dafür, daß die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen gearbeitet wird, nicht die Verwirklichung der Vernunft bedeuten. Für den Begriff selbstbestimmter Arbeit bedeutet das, daß er auseinanderbricht. Geistige Arbeit und Reproduktionsarbeit sind auf unterschiedliche Gegenstandsbereiche bezogen, die in unterschiedlicher Weise Reflexivität und Autonomie ermöglichen. Es stellt einen Unterschied dar, ob Natur praktisch bearbeitet wird, oder ob über die Gesetzmäßigkeiten der Natur in den Naturwissenschaften reflektiert und experimentiert wird, oder ob sich das Denken in der Philosophie nur noch auf seine eigenen Prinzipien bezieht. Was aber der Bearbeitung der unterschiedlichen Gegenstände als gemeinsamer Grundlage unterstellt bleibt, sind die je historisch gegebenen, gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Arbeit stattfindet. Das Scheitern der Selbstbestimmung des Geistes hat deshalb einen ontologischen Grund, ist aber ebenso auch gesellschaftlich bedingt. Wenn der Systemgedanke Hegels nicht einzulösen ist, dann muß das Einfluß auf die Darstellung in diesem Projekt haben. Wenn der Grund, in den zurückgegangen werden soll, nicht der Geist, sondern die historisch-ökonomischen Bedingungen sind, dann kann die Darstellung nicht der systematischen Anordnung Hegels folgen, sondern muß den Begriff um seine objektiven Bedingungen gruppieren. Gemäß der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften sind diese Sphären, der Begriff des Systems in der Logik, der Naturphilosophie und der Philosophie des Geistes mit den Abteilungen der Phänomenologie und der Rechtsphilosophie, nacheinander angeordnet. In einer anderen Variante erscheint die Phänomenologie des Geistes als Einleitung in die Wissenschaft der Logik. Davon abweichend wird hier vom logischen Begriff der Selbstbestimmung in der Teleologie auf deren materiale und historische Bedingtheit geschlossen. Hegel legt in der Wissenschaft der Logik mit dem Begriff der Teleologie denjenigen Begriff dar, welcher auch der Entwicklung der Arbeitsbegriffe der Phänomenologie und der Grundlinien zugrunde liegt. Darum wird auch im Rahmen dieser Arbeit mit dem Teleologiebegriff der Logik begonnen. Die materialen, praktischen und historischen Bedingungen der Selbstbestimmung werden bei Hegel zum Gegenstand der Phänomenologie des Geistes. Die Synthese des logischen Begriffs der Selbstbestimmung und ihrer material-historischen Bedingtheit wird in den Grundlinien der Philosophie des Rechts thematisch. 21

Einen Überblick über die Entwicklung in den Frühschriften gibt: Charles Taylor. Hegel. Frankfurt a. M., 1983, 81–112.

Zurück zu Hegel: Die Arbeit des Geistes

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Der Begriff von Arbeit, der hier gewonnen werden soll, sperrt sich gegen die Intention der Vermittlung. Einerseits erklärt Hegel Selbstbestimmung als wirklich, andererseits gerät dieser Begriff in Widersprüche zur jeweils verhandelten Gestalt von Objektivität. Diese Widersprüche sollen herausgearbeitet und auf ihren jeweiligen historisch-kritischen Gehalt hin überprüft werden. Es soll nachgewiesen werden, daß Hegel einen Begriff von Selbstbestimmung entwirft, der als Maßstab der Kritik moderner Verhältnisse gilt, der aber – gegen Hegel – gleichzeitig historisch nicht realisiert ist und deshalb keinen adäquaten Gegenstand in der Erfahrung hat – nicht zu Hegels Zeit und auch nicht heute. Der kritische Begriff der Arbeit, der aus der Interpretation und Kritik des Hegelschen Begriffs von Selbstbestimmung zu gewinnen ist, sperrt sich ebenso gegen eine Positivierung, die ideologisch wäre, wie er sich gegen die Resignation vor dem Anspruch an eine selbstbestimmte Praxis sperrt. Die historisch-kritische Interpretation in der hier durchgeführten Kommentierung steht in der Tradition Adornos, dessen Hegel-Kritik oft genug als „pauschal“ verworfen wird.22 Die historisch-kritische Kommentierung ist aber weniger pauschal als andere Interpretationsweisen: Sie grenzt sich gegen positivistische und liberalistische Auslegungsweisen des Selbstbestimmungsbegriffs ebenso ab, wie gegen totalitaristische oder dialektisch-materialistische: Gegen einen totalitaristischen Selbstbestimmungsbegriff wendet sich die historisch-kritische Kommentierung, indem sie sich auf die gegenständlichen Bedingungen der Begriffsbildung kritisch bezieht, und so gar keinen Totalitätsbegriff zuläßt, denn dieser müßte über den gegenständlichen Bedingungen zu stehen kommen. Gegen positivistische oder liberalistische Reduktionen von Selbstbestimmung auf Fragen des praktischen Funktionierens und der individuellen Selbstverwirklichung wendet sie sich ebenso, 23 indem an der Möglichkeit von Selbstbestimmung festgehalten und die Notwendigkeit eines kritischen Maßstabs begründet wird. Auch mit einer dialektisch-materialistischen Vorgehensweise ist die historisch-kritische nicht zu verwechseln. Dialektisch-materialistisch zu argumentieren, hieße, das Bewußtsein aus der Wirklichkeit affirmativ deduzieren zu wollen. Ein kritisches Verfahren müßte aber eben diese Affirmation wiederum hinterfragen.

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Robert Pippin. Die Verwirklichung der Freiheit, 168; aber auch Axel Honneth. „Einleitung“. In Rahel Jaeggi. Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems. Frankfurt a. M./New York, 2005. So z. B. Rudolf Haym. Hegel und seine Zeit. Rahel Jaeggi sieht im Begriff der Selbstbestimmung ein konstruktives Konzept im Sinne einer gelungenen Lebensführung: „Sein eigenes Leben zu führen bedeutet, in seinem Leben Projekte voranzutreiben, die man selbstbestimmt verfolgt, die man sich dabei zu Eigen machen und mit denen man sich affektiv identifizieren kann.“ Rahel Jaeggi. Entfremdung, 239.

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Einleitung

1.3 Gegendarstellung Bereits Hegel beschreibt in den Grundlinien der Philosophie des Recht das Phänomen der Unverhältnismäßigkeit von Reichtum und Armut bzw. Anerkennung durch Arbeit und der Existenz der Arbeitslosen in der bürgerlichen Gesellschaft: „Es kommt hierin zum Vorschein, daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern.“ 24 Während bei Hegel die Erklärung dieses Phänomens noch unzureichend bleibt (was im Laufe dieser Arbeit noch ausgeführt werden muß), führt Marx sie in der Nachfolge Hegels als erster auf ihren ökonomischen Grund zurück. Marx hat die Fabrikarbeit zur Zeit der Industrialisierung vor Augen. Er konstatiert, daß sich der Teil der gesellschaftlichen Produktion, der auf die unmittelbare Reproduktion von Lebens- und Produktionsmitteln geht, im Verhältnis zum Dienstleistungs- und Finanzsektor, aber auch zur staatlichen Organisation und Verwaltung verkleinert. „Es ist eine der zivilisatorischen Seiten des Kapitals, daß es diese Mehrarbeit in einer Weise und unter Bedingungen erzwingt, die der Entwicklung der Produktivkräfte, der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Schöpfung der Elemente für eine höhere Neubildung vorteilhafter sind als unter den früheren Formen der Sklaverei, Leibeigenschaft usw. Es führt so einerseits eine Stufe herbei, wo der Zwang und die Monopolisierung der gesellschaftlichen Entwicklung (einschließlich ihrer materiellen und intellektuellen Vorteile) durch einen Teil der Gesellschaft auf Kosten des anderen wegfällt; andererseits schafft sie die materiellen Mittel und den Keim zu Verhältnissen, die in einer höheren Form der Gesellschaft erlauben, diese Mehrarbeit zu verbinden mit einer größeren Beschränkung der der materiellen Arbeit überhaupt gewidmeten Zeit.“25 Der Grund für dieses Phänomen ist der technische Fortschritt, der bewirkt, daß in kürzerer Zeit und mit weniger Aufwand an Arbeitskraft mehr Produkte hergestellt werden können. Mit dieser Produktivkraftsteigerung geht einher, daß Teile der Bevölkerung gemessen am Zweck der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion technisch überflüssig, also arbeitslos werden. Dem entgegen wirkt eine andere Tendenz, die auf der zentralen Funktion der Arbeit als Wertsubstanz beruht. Arbeit ist nicht nur der Prozeß zur Herstellung von Gebrauchsgütern, sondern auch Prozeß der Vergegenständlichung des Mehrwerts in den Arbeitsprodukten. Im Mehrprodukt ist ein Quantum Arbeit vergegenständlicht, das über die Reproduktionskosten der Arbeitskraft und der Produktionsmittel hinausgeht. Je kleiner diese Reproduktionskosten sind, desto größer ist der in einem Produkt vergegenständlichte Mehrwert. Das Kapitalistische am Kapitalismus ist, daß erstens dieses Mehrprodukt nicht dem Arbeiter, sondern dem Kapitalisten gehört, und zweitens, daß nicht ein24 25

G. W. F. Hegel. Grundlinien (Werke), 390, § 245. Karl Marx. Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie. Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion. Bd. 3. MEW Bd. 25. Berlin, 1962, 827 (im folgenden Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals.)

Gegendarstellung

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mal der willkürlich mit seinem Eigentum umgehen kann, sondern ersteinmal ausführendes Organ des gesamtgesellschaftlichen Zwecks der Produktion und Akkumulation von Mehrwert ist. Der Notwendigkeit, diesen gesellschaftlich produzierten Sachzwang zu erfüllen, werden alle anderen Interessen und Zwecke früher oder später praktisch untergeordnet. Für die Arbeitskräfte, die das Mehrprodukt produzieren müssen, bedeutet das kapitalistische Streben nach Akkumulation, daß ihre Arbeitsverhältnisse ökonomisch effektiv und damit rücksichtslos gegen Gesundheit und Bedürfnisse der Arbeitskräfte organisiert sind. Arbeit ist damit sowohl Bedingung der Möglichkeit der Mehrwertproduktion, als auch der Produktivkraftsteigerung durch Akkumulation von Material und Wissen in den Produktionsmitteln. Gesamtgesellschaftlich ist es deshalb sowohl zweckdienlich, menschliche Arbeit zu ersetzen und den Produktionsprozeß dadurch kostengünstiger zu gestalten, als auch menschliche Arbeitskraft anzuwenden, weil nur Menschen ein Mehrprodukt produzieren können. Auf diese Weise verbirgt sich hinter dem Arbeitsbegriff ein zentraler Begriff in der Analyse der kapitalistischen Produktionsweise. Anders als es Hegel aus seiner philosophischen Perspektive entwickelt hatte, ist nicht die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschheit und deren sittliche Bildung Zweck der kapitalistischen Produktionsweise, sondern die Akkumulation um der Akkumulation willen. Damit rückt das Ziel der Realisierung des Subjektes der Sittlichkeit, die Menschheit in jedem einzelnen Menschen, in unerreichbare Ferne. Um verstehen zu können, daß sich Einzelne den ökonomischen Zwängen nicht entziehen können, ist es entscheidend, den gesamtgesellschaftlichen Charakter der kapitalistischen Produktionsweise zu betonen. Dieser gesamtgesellschaftliche Charakter ist in der gesellschaftlichen Organisation manifest. D. h. daß die juristischen Grundlagen und verwalterischen Institutionen ebenso wie die Organisation der ökonomischen Sphäre insgesamt zweckmäßig im Sinne der Akkumulation um der Akkumulation willen sind – nicht aber im Sinne einer vernünftigen Organisation menschlichen Lebens. Dadurch wird das Handeln der Mitglieder unter Sachzwang gestellt: Wer sich seine Lebensmittel beschaffen will, wer also leben will, muß sich den Bedingungen des Waren- und Arbeitsmarktes anpassen, nicht umgekehrt. Intellektuell bleibt zwar die Möglichkeit der kritischen Reflexion über die Verhältnisse, aber nur unter dem Vorbehalt, daß auch die Kritik unter gesellschaftlichen Bedingungen stattfindet, die sie nicht unbeeinflusst lassen.26 Damit stellt sich für die Gesellschaftskritik das Problem, von welchem Standpunkt aus Kritik überhaupt möglich ist und mit welchem begrifflichen Instrumentarium diese Kritik formuliert werden kann.27 26

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Dieses Phänomen beschreibt auch Michael Heinrich vor dem Hintergrund seiner Kritik an der Wissenschaftstheorie. Vgl. Michael Heinrich. Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition. Münster, 2001, 24. Heinrich ist an der „Kohärenz und Erklärungskraft der entwickelten ökonomischen Theorie von Marx“ (ebd., 25) interessiert, weniger an einer wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchung. Vgl. Frank Kuhne „Mit diesem paradox erscheinenden Resultat der Kritik der politischen Ökonomie stellt sich die Frage nach deren Subjekt und dessen Verhältnis zum Gegenstand der Theorie.“ Frank Kuhne. Begriff und Zitat bei Marx. Lüneburg, 1995, 89.

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Einleitung

Marx zeigt in den drei Bänden des Kapitals die Diskrepanz zwischen dem Anspruch an sittliche Selbstbestimmung und Empirie durch die wissenschaftliche Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse auf, ohne im Kapital mit den moralphilosophischen Begriffen zu operieren, die dieser Kritik unterstellt sind. Weder ist die Kritik der politischen Ökonomie eine Utopie der befreiten Gesellschaft noch eine Revolutionstheorie. In diesem Verhältnis von System und Geschichte, von Selbstbestimmung und Gesellschaftskritik liegt eine Leerstelle,28 die einerseits objektiv notwendig ist, weil Selbstbestimmung und Arbeit in der kapitalistischen Produktionsweise nicht dasselbe sind, andererseits bedarf diese Leerstelle der Begründung, denn der moralische Maßstab ist an die Verhältnisse notwendig anzulegen, kann aber nur rekursiv erschlossen werden durch den Rückgriff auf geistesgeschichtlich frühere Modelle. Die avancierteste Gestalt des Begriffs von Selbstbestimmung liegt in der Philosophie Hegels vor. Erst aus der Perspektive dieses Arguments wird deutlich, was damit gemeint ist, daß der Hegelsche Begriff der Selbstbestimmung Maßstab der Kritik der Verhältnisse ist: Maßstab ist ein Begriff, an dem gemessen die Mängel der Gegenwart zu kritisieren sind. Umgekehrt wird die unkritische Affirmation dieses Begriffs, wie gezeigt, zur Ideologie.29 Das Bewußtsein der Uneingelöstheit des Anspruchs auf Selbstbestimmung ist die Bedingung der Möglichkeit seiner Einlösung. Es bleibt die Aufgabe jedes Einzelnen, sich an dieser Einsicht, die nicht neu, aber modern ist, abzuarbeiten.

1.4 Noch mehr Grundsätzliches zur Darstellung Ein weiteres Problem der Darstellung, das im Vorfeld kurz umrissen werden soll, bezieht sich auf die Frage, warum der Bestimmung des erkenntnistheoretischen Begriffsapparates der Wissenschaft der Logik wie der Phänomenologie des Geistes so viel Raum eingeräumt wird, wenn es nur darum geht, das Verhältnis von Arbeit und Selbstbestimmung zu bestimmen? 28

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Vgl. auch Manfred Riedel: „Hegel hat diese Arbeit hineingestellt in jene Arbeit, in der die Menschheit geschichtlich das, was ist, in das Wissen und in die Freiheit bringt, sich ein Wissen vom Wirklichen im Sichwissen des Wirklichen erarbeitet. Marx weist nun in seiner ‚Phänomenologie des Geistes‘, in den Pariser Manuskripten, nach, daß Hegel nur die ‚geistige Arbeit‘, nicht die wirkliche Arbeit gekannt habe, daß er in seiner teleologisch sich schließenden ‚transzendentalen Geschichte‘ ein imaginäres absolutes Wissen als letzten Träger dieser Arbeit aufgestellt, die wirklichen geschichtlichen Träger aber nicht in den Blick gebracht habe. Marx sucht deshalb Hegels ‚wirkliches Wissen‘ an seinen wirklichen Träger zurückzubinden, dieses Wissen in die kontingente Natur- und Menschengeschichte zurückzustellen.“ Manfred Riedel. Theorie und Praxis im Denken Hegels. Interpretationen zu den Grundstellungen der neuzeitlichen Subjektivität. Stuttgart, 1965, 70. Der hier formulierte Gedanke ist auch in Abgrenzung gegen einen Trend jüngerer Zeit zu verstehen, wonach häufiger das philosophische Bedürfnis nach Rückbesinnung auf religiöse Grundwerte artikuliert wird. Stellvertretend sei hier ein Aufsatz von Olivia Mitscherlich zitiert. „Ziel dieser Neuausrichtung muss es sein, sich des teleologischen Glaubenshorizonts erneut zu versichern, der philosophische Selbsterkenntnis trägt, anstatt sie zu zersetzten.“ (Olivia Mitscherlich. „Teleologische Grundlagen philosophischer Selbsterkenntnis.“ In Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57. Hrsg. v. Andrea Esser u. a. Nr. 2 (2009), 228).

Noch mehr Grundsätzliches zur Darstellung

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Sowohl der Begriff der Arbeit als auch der der Selbstbestimmung bezeichnen zweckmäßige Relationen, deren Relata das Subjekt auf der einen und das Objekt auf der anderen Seite sind. Um die Relation bestimmen zu können, ist es also unabdingbar, auch die Relata zu bestimmen. In der Wissenschaft der Logik spielt sich die zweckmäßige Relation zwischen den Extremen von Subjektivität und Objektivität ab. Die Teleologie steht zwischen den Begriffen des Mechanismus und Chemismus, in denen der Fokus auf der Bestimmung eines philosophischen Begriffs von Objektivität liegt, und der unmittelbaren Idee, deren Schwerpunkt die Bestimmung der mit der Objektivität vermittelten Subjektivität als Begriff lebendiger Individualität ist. Das Wesen der Begriffe der Wissenschaft der Logik ist es, Begriff dessen zu sein, was als Geist real werden soll oder geworden ist. Es stellt damit das mehr oder weniger konsequent durchgeführte telos der Argumentationen der Phänomenologie und der Grundlinien dar. Außerdem lassen sich an den Begriffen der Logik die grundsätzlichen Funktionen und Wertungen des Subjekt-, Objekt- und Arbeitsbegriffs aufzeigen. In der Phänomenologie des Geistes spielt sich die zweckgerichtete Tätigkeit zwischen dem Selbstbewußtsein und seiner Objektivität ab. Der Begriff des Selbstbewußtseins der Phänomenologie wird wiederum zunächst erkenntnistheoretisch bestimmt als sinnliche Gewißheit, Wahrnehmung und Kraft, und er wird in der dialektischen Auseinandersetzung mit dem Wissen von Objektivität entwickelt, dem sinnlichen Eindruck, dem wahrgenommenen Ding und den kategorial bestimmten Erfahrungen des Verstandes. Erst das in der Auseinandersetzung mit dem Wissen von Objektivität bestimmte Selbstbewußtsein wird zum Subjekt herrschaftlicher Ankerkennung bzw. Unterwerfung und auch der herrschaftlich bestimmte Reproduktionsprozeß kann bei Hegel nur aus der Perspektive des Selbstbewußtseins bestimmt werden. Bei Hegel ist die herrschaftlich organisierte Arbeit ein Stadium der Realisierung des Selbstbewußtseins und die Kritik an dieser Vorstellung kann nur als die Kritik am Begriff dieses Selbstbewußtseins vollzogen werden. In der Phänomenologie des Geistes bestimmt Hegel nicht die Selbstbestimmung des Begriffs, wie in der Logik, sondern die Selbstbestimmung desjenigen Selbstbewußtseins, das in den Begriff der Logik einmündet, das aber gleichsam – und das wird die Kritik der Passagen zur Logik gegen Hegel zu erweisen haben – die Bedingung der Selbstbestimmung des logischen Begriffs bleibt. In den Grundlinien der Philosophie des Rechts werden der Begriff der Selbstbestimmung und der Begriff des sich bestimmenden Vermögens, also des Selbstbewußtseins, in den Kontext ihrer adäquaten gesellschaftlichen Realisierung gestellt. Der Begriff, nach dem diese Realisierung als gesellschaftliche Realisierung zu organisieren ist, ist der Begriff der Idee und damit ein Resultat der Wissenschaft der Logik. Dieser Begriff besagt, daß die Wirklichkeit gut ist, wenn sie nach den theoretischen Erkenntnissen praktisch organisiert ist. Das Vermögen, welches die gesellschaftliche Realität nach dem Maßstab des Begriffs bestimmt, ist der vernünftige Wille. Dieser ist zum einen geschichtlich im Bewußtsein seiner geistigen Kräfte und Taten, er ist das geschichtlich zu sich gekommene Selbstbewußtsein. Zweitens ist er dasjenige Vermögen, welches die Einsicht in den Begriff von Theorie und Praxis hat und es praktisch umsetzen kann. Hier

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Einleitung

wird ebenfalls zu zeigen sein, daß die von Hegel entworfene gesellschaftliche Konzeption entgegen seiner Auffassung nicht die historisch wirkliche ist. Hegel bestimmt das Subjekt der Selbstbestimmung als Geist, der sich in allen Momenten seiner Realisierung gleich bleibt. Dagegen ist zu zeigen, daß der Geist sich in den gesellschaftlichen Bedingungen seiner Realisierung entfremdet, weil es gerade nicht die von ihm gesetzten Bedingungen sind. Wenn dieses hier noch antizipierte Resultat der Interpretation und Kritik Hegels sich bewahrheitet, wenn der Begriff der Selbstbestimmung Hegels an der Wirklichkeit scheitert, dann ist Selbstbestimmung nur in der Reflexion der Wissenschaft der Logik bei sich, während sie als Begriff politischer oder ökonomischer Selbstbestimmung immer auch interessengeleitet und damit tendenziell fremdbestimmt ist. Die Abgrenzung dessen, was in der Wirklichkeit gegen die ideologische Vereinnahmung Ausdruck von Selbstbestimmung ist, setzt einen Begriff voraus, der sich selbst Zweck ist. Selbstbestimmung hat ihren Begriff und damit auch ihre Realität in der Erkenntnistheorie und Moralphilosophie. Sie ist das Modell für Selbstbestimmung, wenngleich die Hegelsche Argumentation ihrerseits ebenso zu kritisieren ist. Dies ist ein Grund, warum der erkenntnistheoretische Begriffsapparat so ausführlich analysiert wird. Umgekehrt bliebe die Selbstbestimmung leer, wenn sie sich nicht auch gesellschaftlich und ökonomisch realisierte. Sie ist ihrem Begriff nach auf etwas verwiesen, in dem sie sich realisiert. Nachzuweisen ist, daß diese Verwiesenheit sich in zweierlei Weise geltend macht: In der Fragilität des Begriffs der Selbstbestimmung in der Wissenschaft der Logik, die dem Absolutheitsanspruch des Begriffs widerspricht. Die Fragilität des Systemanspruchs soll als der negative Ausdruck der Verwiesenheit der Selbstbestimmung auf die Bedingungen seiner Realisierung erwiesen werden. In der Interpretation der Logik werden deshalb die Brüche aufgezeigt, mit denen Hegel operieren muß, um sein Programm einlösen zu können. Es ist aber umgekehrt ebenso die Frage zu stellen, was auf Seiten der Bedingungen der Realisierung der Selbstbestimmung dieser entgegensteht. Wenn also im folgenden nicht nur die Bestimmungen zur Teleologie, zur Herrschaft und zur Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft untersucht werden, sondern darüber hinaus auch immer die Frage beantwortet wird, in welchem Zusammenhang die Begriffe Objektivität und Subjektivität als Relata der zweckmäßigen Vermittlung stehen, dann deshalb, weil es gegen Hegel nötig ist, mit den Relata auch die Gegenstandsbereiche zu wechseln. Entsprechend wird in den Exkursen zu den jeweiligen Kapiteln und in dem Kapitel Gegendarstellung der Versuch unternommen darzustellen, wie die jeweils verhandelten Gegenstände einzelwissenschaftlich verfaßt sind. Auf den philosophischen Begriff der Selbstbestimmung mit seinen erkenntnistheoretischen, natur- und geistphilosophischen Voraussetzungen wird rekurriert, weil dort das Subjekt der Selbstbestimmung nicht nur in den Grenzen einer entfremdeten Wirklichkeit erscheint, sondern im Horizont seiner begrifflichen Möglichkeiten. Auf die Exkurse und die Kritik der politischen Ökonomie wird Bezug genommen, um auf die Bedingungen zu reflektieren, die der Entfaltung dieser Möglichkeiten entgegenstehen.

Stand der Forschung

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1.5 Stand der Forschung Das Spektrum der Forschungsliteratur reicht von gut erschlossenen Materialsammlungen zu sozial-30, rechts31- und wirtschaftsgeschichtlichen Phänomenen des Arbeitsbegriffs, empirischen Untersuchungen32, bis hin zu theoretischen Abhandlungen aus allen politischen Richtungen. Um das Spektrum thematisch einzugrenzen, wird die Darstellung auf die Literatur beschränkt, die in den letzten 50 Jahren ihren Schwerpunkt auf die gesellschaftstheoretischen Aspekte des Arbeitsbegriffs gelegt hat und sich damit im interdisziplinären Spektrum zwischen Philosophie und Soziologie bewegt. Die diskutierten Themen sind thematisch vielfältig und nicht geschlossen aufeinander bezogen. Die gesellschaftstheoretischen Diskussionen um den Arbeitsbegriff sind denkbar heterogen. Trotzdem kann ein gemeinsames Ausgangsproblem formuliert werden: In unserer Gegenwart erscheint die Funktion von Arbeit dadurch paradox, daß es in einer Gesellschaft, deren Mitglieder sich wesentlich über Arbeit definieren, dank technischen Fortschritts scheinbar immer weniger Arbeit gibt. Marx hatte diesen Widerspruch mit der durch die kapitalistischen Mechanismen verbundenen Produktivkraftsteigerung – wie bereits skizziert – als erster erklärt (vgl. S. 22 ff.)33 Schon innerhalb der marxistischen Tradition traten unterschiedliche Interpretationsweisen und Bewertungen dieser Paradoxie auf: In der marxistisch-leninistischen Theorie wurde der soziale Aspekt der Arbeit in der Widerspiegelungstheorie im Rückgriff auf Hegel und die Naturdialektik von Engels34 um einen erkenntnistheoretischen Gehalt erweitert, wonach die 30

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Marie-Elisabeth Hilger. „Sozialgeschichtliche Probleme der Arbeit.“ In Philosophische Probleme von Arbeit und Technik, hrsg. v. Albert Menne. Darmstadt, 1987, 11 ff. Frau Hilger thematisiert vor allem die feministische Sozialgeschichte der Arbeit – ein Aspekt, der bei der hier aufgeworfenen Fragestellung weitestgehend unberücksichtigt bleibt. Vgl. auch Ernst Michel, Sozialgeschichte der industriellen Arbeitswelt, ihrer Krisenformen und Gestaltungsversuche. Frankfurt a. M., 1953. Manfred Brocker, Arbeit und Eigentum: der Paradigmenwechsel in der neuzeitlichen Eigentumstheorie. Darmstadt, 1992. Manfred Brockers Arbeit ist aber nicht auf eine Materialsammlung zu reduzieren: Er geht der These nach, daß mit der Lockeschen Naturrechtsphilosophie das Privateigentum erstmals als unmittelbares Naturrecht erwiesen worden sei. IG Metall Projekt Gute Arbeit (Hg.) Handbuch „Gute Arbeit“. Handlungshilfen und Materialien. Hamburg, 2007. iga – Initiative Gesundheit und Arbeit (Hg.) „Das IGA-Barometer 2007: Wie schätzen Beschäftigte ihre Arbeit ein?“ I.Punkt, Nr. 20 (Januar 2008). Michael Heinrich formuliert den Widerspruch für die heutigen Verhältnisse: „Aber auch einem guten Teil der Unternehmen geht keineswegs die Arbeit aus. Es werden nicht nur massenhaft Überstunden gefahren, inzwischen gibt es in Deutschland eine breite Debatte über Arbeitszeitverlängerung: Angesichts von knapp 5 Millionen offiziell registrierten Arbeitslosen (tatsächlich handelt es sich eher um 6 bis 7 Millionen) wird über die Wiedereinführung der 40 Stunden-Woche, die Kürzung des Jahresurlaubs (alles ohne Lohnausgleich versteht sich) und die Erhöhung des Rentenalters diskutiert – und dies schon immer öfter umgesetzt. Es gibt also auch hier nicht zu wenig Arbeit, sondern zu wenig Arbeitsplätze gemessen an der Zahl derjenigen, die einen Arbeitsplatz suchen. Die Arbeit sei zu teuer, heißt es, es sei einfach kein Geld für die hohen Löhne oder die Lohnnebenkosten da. Aber gleichzeitig waren das Bruttoinlandsprodukt, das Geldvermögen wie auch das Produktivvermögen noch nie so hoch wie heute.“ Michael Heinrich. „Krise der Arbeitsgesellschaft – Krise des Kapitalismus?“ In Losarbeiten – Arbeitslos? Globalisierungskritik und die Krise der Arbeitsgesellschaft. Hrsg. v. Andreas Exner u. a., Münster, 2005, 25–31. Friedrich Engels. „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen.“ In MEW Bd. 20, 444–455. Berlin, 1990, 10.

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Einleitung

Realität nicht begrifflich, sondern in der praktischen Aneignung zum Gegenstand der Erkenntnis wird. In diesem Sinne formuliert z. B. Peter Ruben: „Nicht aus der Voraussetzung des Verstands erwächst die Arbeit, sondern aus der Voraussetzung der Arbeit wird der Verstand erzeugt. Einmal entstanden, gehört der Verstand dann zu den notwendigen Bedingungen der Arbeit. Niemals aber macht er ihr Wesen aus.“35 In derselben Tradition steht auch die Ontologie von Lukács. „Die Tätigkeit des Naturwesens Mensch läßt, auf der Basis des unorganischen und organischen Seins, aus ihnen hervorgegangen, eine eigenartige neue, kompliziertere und komplexere Stufe des Seins entstehen, eben das gesellschaftliche Sein.“36 Er betrachtet Arbeit nicht historisch, sondern als Modell gesellschaftlicher Praxis überhaupt. An diesem Modell will er den Übergang biologischer Lebensprozesse zur gesellschaftlichen Praxis systematisch konstruieren, obwohl dieser Übergang – wenn überhaupt – historisch nachzuzeichnen wäre. In der Tradition des Gothaer Programms und der Sozialdemokratie wurde Arbeit zum Mittel der Menschwerdung und anthropologischen Konstante schlechthin erklärt, ohne die weder ein menschenwürdiges Leben noch kulturelle Entwicklung möglich sei. „Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur, und da nutzbringende Arbeit nur in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft möglich ist, gehört der Ertrag der Arbeit unverkürzt, nach gleichem Rechte, allen Gesellschaftsgliedern.“37 Daraus folgte die politische Forderung nach der Reform der Arbeitsbedingungen und einer gerechten Verteilung des gesellschaftlichen Produkts, nicht aber die Forderung nach der Änderung der Bedingungen, aufgrund derer das Produkt ungleich verteilt ist. Gemeinsam haben diese Interpretationen eins: Anders als in der Kritik der politischen Ökonomie ursprünglich intendiert, wird Arbeit jenseits der historisch-gesellschaftlichen Bedingungen entweder erkenntnistheoretisch oder politisch stilisiert. Damit zusammenhängend sind diese Theorien nicht mit dem durch Marx beschriebenen Konflikt im Arbeitsbegriff befaßt. Sie wirken aber in den aktuellen Diskussionen um den Arbeitsbegriff nach. Die Perspektive verlagerte sich und fand in der These Hannah Arendts Niederschlag, die in der Vita acitva das Ende der Arbeitsgesellschaft proklamierte: „Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?“38 Seither bewegt sich insbesondere die soziologische Diskussion um die Begriffe des Wissens und der Kommunikation als Charakteristika der modernen westlichen Gesellschaften. So konstatiert z. B. Habermas: „[W]as für die arbeitsgesellschaftliche Utopie Voraussetzung oder Randbedingung war, wird heute zum Thema. Und mit diesem 35 36 37 38

Peter Ruben. „Wissenschaft als allgemeine Arbeit. Über Grundfragen der marxistisch-leninistischen Wissenschaftsauffassung.“ In Dialektik und Arbeit der Philosophie. Köln, 1978, 23. Georg Lukács. Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins: die Arbeit. Darmstadt, 1973, 33. Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (Hg.) „Das Gothaer Programm (1875)“, http://www.marxists.org/deutsch/geschichte/deutsch/spd/1875/gotha.htm. (Zugriff: 10.06.2012) Hannah Arendt. Vita activa oder vom tätigen Leben. München [u. a.), 2002, 13. Arendt entwirft einen alternativen Arbeitsbegriff, der den biologischen Lebensprozeß bezeichnet, während sie die Produktion von Artefakten als Herstellen bezeichnet und erst im Handeln die Interaktion zwischen Individuen sieht. Modell des öffentlichen Handels ist ihr dabei die antike Polis, so daß ihr Arbeitsbegriff zwar auf historische Modelle zurückgreift, aber nicht die Gegenwart als historische Bedingung der gegenwärtigen Arbeitswelt untersucht und dadurch eigenartig ahistorisch wird.

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Thema verschieben sich die utopischen Akzente vom Begriff der Arbeit auf den der Kommunikation. Ich spreche nur noch von Akzenten, weil sich mit dem Paradigmenwechsel von der Arbeits- zur Kommunikationsgesellschaft auch die Art der Anknüpfung an die Utopietradition ändert.“39 Produktivkraftsteigerung und wachsende Arbeitslosigkeit, die ökonomischen Verhältnisse, in denen die Menschen von den Arbeitsmitteln und -produkten getrennt sind, und schließlich die These vom Ende der Arbeitsgesellschaft stellen für jene gesellschaftskritischen Entwürfe ein Dilemma dar, die die produktive Arbeit für ein moralisches Element im Leben der Gattung Mensch halten: Ohne die Realisierung des Geistigen in der Natur durch Arbeit könne es keine Selbstbestimmung geben und die Arbeit sei deshalb zwar herrschaftsfrei zu organisieren, gehöre aber unerlässlich zu einem menschenwürdigen Dasein. Ernst Bloch hatte die konkrete Utopie als eine Zukunft beschrieben, in der die Menschheit mit der Natur derart vermittelt ist, daß letztere nicht mehr fremd, sondern zur Heimat wird: „Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und erholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“40 In einem solchen Zustand sei die Arbeit befreit, Arbeit der Muße. Oskar Negt, ganz auf das Diesseits bedacht, beruft sich ebenfalls auf das Ende der Arbeitsgesellschaft, will dabei aber differenzieren: „Der Gesellschaft geht nicht jede Form der Arbeit aus, sondern nur eine ganz bestimmte. Nämlich die, in der für den Warenmarkt produziert wird. Diese Arbeit wird fortwährend enger. Dagegen wächst [...] das, was man Gemeinwesenarbeit nennen könnte.“41 Menschliche Würde sei maßgeblich durch Arbeit vermittelt, so daß die Gemeinwesenarbeit auch für diejenigen ermöglicht werden müsse, die am Erwerbsleben im sogenannten ersten Arbeitsmarkt nicht teilhaben können. Dies zu finanzieren sei die Aufgabe des Sozialstaates. Auch Axel Honneth kann sich eine Gesellschaft ohne Arbeit nicht vorstellen, da sie zum einen im Sinne Hegels Realisierung des Geistes in der Natur sei. Entsprechend ordnet er die handwerkliche oder künstlerische Produktion als zum guten Leben gehörig ein.42 Zum anderen erführen die Individuen ohne die Teilhabe am System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung keine Anerkennung als Teil des sittlichen Zusammenhanges der Gesellschaft. Deshalb könne der „‚normfreien‘ Selbstregulation des Wirtschaftssystems“,43 die im Zeitalter der Globalisierung gesellschaftlich bestimmend sei, die Organisation der Arbeit nicht überlassen werden. 39 40 41

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Jürgen Habermas. „Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien.“ In Die neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt a. M., 1986, 160. Ernst Bloch. Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a. M., 1959, 1628. Oskar Negt. „Menschenwürde und Arbeit.“ Justiz, Nr. 85 (März 2006), 241; vgl. auch Arbeit und menschliche Würde. Göttingen, 2001, 24: „Ich rücke bewusst die moralische und kulturelle Dimension von Arbeit, Arbeitslosigkeit und Gemeinwesen in den Vordergrund und damit die immer noch wesentlich durch Arbeit vermittelte menschliche Würde.“ Axel Honneth. „Arbeit und Anerkennung.“ Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Nr. 3 (2008), 330; zum Begriff der Anerkennung vgl. auch ders. Kampf um Anerkennung. Frankfurt a. M., 2003 und Ludwig Siep. Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Freiburg [u. a.] 1979. Axel Honneth. „Arbeit und Anerkennung.“ 328.

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Während die eben genannten Theorien davon ausgehen, daß die Arbeitswelt in einem normativen Sinne umzugestalten sei, gehen andere Theorien den umgekehrten Weg: Wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse mit den ethischen Grundannahmen unserer Gegenwart nicht mehr übereinstimmen, dann seien nicht die Verhältnisse zu verändern, sondern der Arbeitsbegriff: Severin Müller widmet sich der „Aufgabe der umgreifenden, eigenständig orientierenden Gesamtdeutung von Arbeit“, die gegenwärtig von einem „Schwund, welcher sich mit der Erfahrung des anderen Verlusts verknüpft“, gekennzeichnet sei: „[d]es Zerfalls von Arbeitsmöglichkeiten, bedingt vom fortschreitenden Prozeß technischer Automatisation“.44 Indem die menschliche Arbeit maschinell ersetzt werde, verlören die Menschen „Sinn- und Identitätsangebote“. In ihrer Konzentration auf das Problem der „Deutung“ und sinnstiftenden Funktion von Arbeit kommt sie mit dem Ansatz von Werner Becker überein: Auch er trägt dem Umstand Rechnung, daß das von der Politik proklamierte Ziel der Vollbeschäftigung mit zunehmender Technisierung der Arbeitsprozesse immer unwahrscheinlicher wird, sieht aber das Problem schon durch dessen bloße „Еntdramatisierung“ und eine „Umbewertung“ der Arbeit gelöst. Er stellt fest, daß es in naher Zukunft immer mehr Arbeitslose geben werde, woraus er aber keinen Handlungsbedarf ableitet, denn „[d]iese werden [...] nicht von persönlichen Notlagen betroffen, wie sie den Konzepten der Bedürfnisevidenz zugrunde liegen“.45 Es sei daher ausreichend, den sozialen Status, sofern er durch Arbeit bestimmt werde, neu zu definieren. Ähnlich sieht das Johannes Rohbeck, der seinerseits feststellt, daß Arbeits- und damit verbundene Kommunikationsprozesse immer schneller und komplexer würden und dadurch ein erhöhtes Maß an Flexibilität von den Arbeitnehmern gefordert sei. Die Strukturen der Arbeit lösten sich im Vergleich zu früher auf, was einerseits eine Abwertung der historischen Stellung von Arbeit mit sich bringe, aber andererseits auch das sinnstiftende Moment im gesellschaftlichen Leben konsolidiere, so daß auch er „das differenzierte Verfahren einer doppelten Umwertung der Arbeit“46 fordert, wodurch das sinnstiftende Moment an die neuen Bedingungen angepaßt würde. Ein weiteres zentrales Problem der Untersuchungen zum Arbeitsbegriff ist die Beziehung des Menschen zur Technik im Hinblick auf die Beherrschung der Naturkräfte und die damit verbundenen zerstörerischen Wirkungen der Technik. Dabei zeigt sich die Paradoxie, daß die modernen technischen Möglichkeiten für die Menschheit Erleichterungen bedeuten können, weil die Bewältigung der täglichen Mühen mehr und mehr zur Funktion der Technik wird, andererseits aber dieselben technischen Mittel auch eine Bedrohung für Mensch und Umwelt darstellen, da die gesellschaftliche Organisation der Arbeit und die Gestalt der Technik „wegen ihrer ungeheuren Komplexität für den Men44 45

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Severin Müller. Phänomenologie und philosophische Theorie der Arbeit. Freiburg [u. a.], 1992, 32 ff. Werner Becker. „Über den sozialen Status der Arbeit.“ In Arbeit und Lebenssinn: eine aktuelle Herausforderung in historischer und systematischer Perspektive, hrsg. v. Klaus-Michael Kodalle, 134. Würzburg, 2001. Der Text Beckers stammt aus dem Jahre 2001, also aus einer Zeit vor der Agenda 2010 und den damit einhergehenden Umstrukturierungen des Sozialstaates. Johannes Rohbeck. „Umwertung der Arbeit.“ In Arbeit und Lebenssinn: eine aktuelle Herausforderung in historischer und systematischer Perspektive, hrsg. v. Klaus-Michael Kodalle, Würzburg, 2001, 140; s. a. ders. Technologische Urteilskraft: zu einer Ethik technischen Handelns. Frankfurt a. M., 1993.

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schen nicht mehr beherrschbar [ist], sich gewissermaßen seiner Herrschaft“47 entzieht oder im schlimmsten Falle – dem Krieg – sogar zu seiner Zerstörung eingesetzt wird. Hans Sachsse spricht in diesem Zusammenhang von der „technischen Evolution“ aufgrund derer ein Leben ohne Gewalt und Zerstörung mit den heutigen technischen Mitteln vorstellbar, aber nicht wirklich geworden sei, „der Krieg ist in unserem technischen Zeitalter überlebt“48. Gegen das feindselige gesellschaftliche Klima schlägt er vor, den „Wert“ der Kooperation in der Erziehung zu stärken und dadurch die Fähigkeit des wechselseitigen Vertrauens wieder zu beleben. Richard Sennett, der sich als Kulturmaterialisten bezeichnet, fragt nach dem emanzipierenden Charakter der Artefakte, die er gegen die Erfahrung der Bedrohung durch Technik stellt. Die Menschen könnten von den Artefakten etwas über sich lernen, so „dass also materielle Kultur durchaus ihre Bedeutung hat.“49 Die pragmatische Erfahrung stellt er gegen die Erfahrung der Bedrohung durch die Technik, die von je her als „Büchse der Pandora“, als unbeherrschbare Macht der Technik erscheine. Entscheidend sei dabei, daß die ethische Reflexion den Arbeitsprozessen nicht transzendent, sondern immanent sei. Arbeit, die im Bewußtsein dieser Möglichkeit vollzogen wird, – so seine These – vermag aus dem Schatten Pandoras herauszutreten.50 Parallel zu den eben referierten Positionen haben die Strukturalisten einen ganz anderen Weg beschritten, der mit einem radikalen Perspektivwechsel verbunden war. Vorbereitet wurde dieser Weg von Althusser in seiner Schrift Das Kapital lesen. Er thematisiert dort nicht die ökonomischen Kategorien und deren gesellschaftliche Bedeutung, sondern das Methoden- und Darstellungsproblem im Kapital von Marx. Diese methodische Reflexion bereitet die (sich als kritisch verstehende) Aufhebung des reflexiven Subjekts vor:51 „daß sich ein solcher ‚Terrainwechsel‘, dessen Ausdruck und Wirkung die Veränderung des Blicks ist, selbst nur unter besonderen, sehr komplexen und oft auch dramatischen Umständen vollzogen hat; [...] daß er einen Prozeß in Gang setzt, der von der Sicht des Subjekts nicht nur nicht hervorgebracht wird, sondern den das Subjekt auch nur insoweit nachvollzieht, als es ihn an seinem jeweiligen Ort reflektiert; daß in diesem Prozeß einer wirklichen Transformation der Produktionsmittel der Erkenntnis die Absichten eines ‚konstituierenden Subjekts‘ ebenso irrelevant sind wie bei der Produktion des Sichtbaren die Absichten des Subjekts, etwas zu sehen; daß sich all das in einem kritischen dialektischen Moment der Veränderung einer theoretischen Struktur abspielt, wobei das Subjekt nicht die Rolle spielt, die es zu spielen glaubt, sondern die, 47 48 49 50 51

Albert Menne (Hg.) Philosophische Probleme von Arbeit und Technik. Darmstadt, 1987, 4. Hans Sachsse. Anthropologie der Technik: ein Beitrag zur Stellung des Menschen in der Welt. Braunschweig, 1978, 124. Richard Sennett. Handwerk, 18. Vgl. ebd., 22. Vgl. Bourdieu: „Verzichten wir auf die Illusion, daß das Bewußtsein sich selbst durchschaut, und auf die unter Philosophen gängige Vorstellung von Reflexivität [...] dann müssen wir uns dazu entschließen, im Anschluß an die typisch positivistische Tradition der Kritik der Introspektion einzuräumen, daß diejenige Selbstreflexion am tiefsten eingreift, die das Subjekt der Objektivierung selbst objektiviert.“ Pierre Bourdieu. Meditationen: Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Suhrkamp, 2004, 18.

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welche ihm der Mechanismus des Prozesses diktiert – all das sind Fragen, die hier nicht erörtert werden können.“52 Während in den bisher genannten Ansätzen Arbeit im weitesten Sinne als Subjekt-Objekt-Relation verstanden wurde, verschiebt sich in der Folge der Kritik des philosophischen Subjektbegriffs auch die Bedeutung von Arbeit. Das wird insbesondere bei Foucault deutlich: Der hatte, Althusser folgend, das Subjekt nicht als transzendentale Instanz aufgefaßt, sondern als kulturelle Konstellation. D. h., daß Arbeit selbst in einem kulturellen und historischen Bedeutungskontext beschrieben wird, aber nicht als ökonomischer oder moralischer Begriff. In Die Ordnung der Dinge nehmen dabei neben der Arbeit noch Sprache und Leben eine entscheidende Stellung ein. In Überwachen und Strafen erscheint Arbeit gleichermaßen und wertfrei als Mittel der Disziplinierung und Kultivierung.53 Zwar verweisen die Begriffe der Disziplinierung und der Kultivierung unmittelbar aufeinander, dennoch sind sie unterschiedlich konnotiert: Während Disziplinierung mit Zwang verbunden ist, hat der Begriff der Kultivierung auch eine emanzipative Konnotation. Bei Foucault werden beide Begriffe nicht unterschieden, sondern bleiben gegeneinander indifferent. Das setzt sich folgerichtig darin fort, daß er Macht als Vermögen und Macht als Herrschaft nicht unterscheidet. Folgerichtig ist das insofern, als es ohne Subjekt keinen Moralbegriff als Maßstab der Kritik gibt und ohne einen Maßstab der Kritik sind Macht als Vermögen und Macht als Mittel der Herrschaft ununterscheidbar.54 Trotzdem ist der Hinweis Foucaults auf die Bedeutung der Arbeit als die historischen Subjekte konstituierend zentral. Im Sinne der Bedingtheit der Subjekte durch historisch-gesellschaftliche Arbeitsprozesse zeigt Bourdieu den Zusammenhang von Existenzbedingungen und Habitus als sich verändernden Prozeß auf, der mit der Kapitalisierung von Gesellschaften und der Rationalisierung der Arbeitsprozesse einhergeht, und verdeutlicht die spezifische Gestalt moderner, westlicher Arbeit am Wandel der algerischen Gesellschaft. „Als objektiviertes Erbe einer anderen Zivilisation, ein Erbe akkumulierter Erfahrungen, Techniken der Entlohnung oder Kommerzialisierung, Methoden der Buchführung, der Rechnungsführung oder Organisation, besitzt das durch die Kolonialisierung importiere Wirtschaftssystem die Notwendigkeit eines Kosmos (wie Weber es ausdrückt), in den sich die Arbeiter hineingeworfen sehen, und dessen Regeln sie erlernen müssen, um zu überleben. 52 53

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Louis Althusser u. Etienne Balibar. Das Kapital lesen Bd. I. Reinbek, 1972, 31 f. Michel Foucault. Die Ordnung der Dinge: eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M., 1974. Ders. Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M., 1977. Hinrich Fink-Eitel. Michel Foucault zur Einführung. Hamburg, 1997, 97. Bei Michel Foucault bleibt der Machtbegriff an das zu beschreibende Phänomen gebunden und Moralität wird mit bürgerlichen, auch ideologischen Vorstellungen identifiziert, so z. B. im Gebrauch der Lüste: „Von der ‚Sexualität‘ als einer historisch besonderen Erfahrung zu sprechen setzte auch voraus, daß man über geeignete Instrumente verfügt, um die drei Achsen dieser Erfahrung in ihrem je eigenen Charakter und in ihrem Zusammenhang zu analysieren: die Formierung der Wissen, die sich auf sie beziehen; die Machtsysteme, die ihre Ausübung regeln; und die Formen, in denen sich die Individuen als Subjekte dieser Sexualität (an)erkennen können und müssen. […] [D]ie Analyse der Machtbeziehungen und ihrer Technologien machte es möglich, sie als offene Strategien ins Auge zu fassen, ohne die Macht entweder als Herrschaft konzipieren oder als Trugbild denunzieren zu müssen.“ Michel Foucault. Der Gebrauch der Lüste. Frankfurt a. M., 1986, 10 f.

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Folglich ist die Situation in den meisten Ländern der Dritten Welt auch bei noch so vielen Analogien doch eine ganz andere als jene im Ausgangsstadium des Kapitalismus.“55 Ein weiterer Aspekt, den Bourdieu betont, ist die Prekarisierung nicht nur der Lebenssituation der Arbeitslosen, sondern auch der Beschäftigten.56 An die Theorie Bourdieus knüpfen die gegenwärtigen Praxistheorien an. Es wird der Versuch unternommen, den Status und die Interaktion von Akteuren zu beschreiben, die explizit nicht mehr handlungs- oder erkenntnistheoretisch bestimmt sein sollen. Ihr Status entsteht in der Reaktion auf soziale Praktiken und geht in dieselben als soziale Praxis ein. Diese „Subjektpositionen“ reflektieren also die Praxis nicht begrifflich, sondern reagieren auf sie. Gleichzeitig werden die Praktiken aber auch nicht deterministisch verstanden, sondern so, daß sie in ihrer kulturellen Einbettung für geschichtliche Veränderungen offen bleiben. Dieser Subjektkonstruktion analog werden auch die Objekte nicht statisch gefaßt, sondern als Artefakte. Durch die Ablösung des praxistheoretischen Kulturverständnisses von den traditionellen, in der Terminologie der Praxistheorien: intellektualistischen Theorien durch ein „Forschungsprogramm der materialen Analyse“57 empirischer Vorgänge soll die Subjekt-Objekt-Dichotomie der klassischen Theorien überwunden werden. „Die Praxistheorie steht in ihrem Kulturverständnis sowohl dem Mentalismus als auch dem Textualismus entgegen – beiden (wie auch den Modellen des Homo oeconomicus und des Homo sociologicus) hält sie einen konzeptuellen ‚Intellektualismus‘ vor, eine ‚Intellektualisierung‘ des sozialen Lebens.“58 Von der kritischen Sicht Foucaults und Bourdieus unterscheidet sich der spätere Habermas. Die Hilflosigkeit der Arbeitsutopisten gegenüber den realen gesellschaftlichen Verhältnissen radikalisiert Habermas dahingehend, daß die „[... arbeitsgesellschaftliche, M. B.] Utopie ihren Bezugspunkt in der Realität verloren“ hat: „die strukturbildende und gesellschaftsformierende Kraft der abstrakten Arbeit.“59 Er affirmiert das, was ohnehin gilt: die normfreie Selbstregulation des Marktes. Deren Auswirkungen könnten höchstens sozialstaatlich kompensiert, aber nicht verändert werden.60 Luhmann geht noch einen Schritt weiter und erklärt das Begriffspaar Kapital und Arbeit für ungeeignet, um die Gegenwart damit zu erklären. Sie seien historisch überholt: „In diesem Kontext führt die Fehlsteuerung der gesellschaftlichen Kommunikation durch die Unterscheidung von Kapital und Arbeit dazu, daß irrelevante oder irreführende Folgerungen gezo55 56 57

58 59 60

Pierre Bourdieu. Die zwei Gesichter der Arbeit. Interdependenzen von Zeit- und Wirtschaftsstrukturen am Beispiel einer Ethnologie der algerischen Übergangsgesellschaft. Konstanz, 2000, 26. Pierre Bourdieu. „Prekariat ist überall.“ In Gegenfeuer: Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neo-liberale Invasion, 96–102. Konstanz 1998. Andreas Reckwitz. Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive. Zeitschrift für Soziologie, Jg. 32, Heft 4, August 2003, 284. Vgl. Theodore R. Schatzki. The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change. Penn State, 2002. Ders. „Pippin’s Hegel on Action.“ Inquiry, Oktober 2010. Andreas Reckwitz. Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist-Metternich, 2010. Ebd., 289. Jürgen Habermas. „Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien.“ In Die neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt a. M., 1986, 146. Ebd., 147.

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gen und daß Konflikte angereizt und betrieben werden, die keine Beziehung zu den Großproblemen unserer Gesellschaft haben. Niemand wird bestreiten, daß es Kapital und Arbeit ‚gibt‘. Niemand wird bestreiten, daß die Haupterrungenschaft des ‚Kapitalismus‘‚ daß auch Kapitalinvestitionen (und nicht nur Produktion, Tausch und Konsum) wirtschaftlich kalkuliert werden können, ebenso erfolgreich wie in ihren Auswirkungen problematisch ist. Niemand wird fortbestehende Verteilungsprobleme bestreiten. Niemand wird bestreiten, daß Arbeiter eine organisierte Vertretung ihrer Interessen benötigen. Nur die relative Prominenz dieses Problembereichs in der Beschreibung unseres Gesellschaftssystems steht zur Diskussion.“61 Er fordert eine neue und entwirft eine systemtheoretische Gesellschaftstheorie. Damit gibt er nicht nur wie die Strukturalisten den Subjektbegriff auf, sondern reformuliert auch den Begriff von gesellschaftlicher Objektivität derart, daß dieser wenigstens vordergründig keine Anbindung mehr an die metaphysische und gesellschaftskritische Tradition hat. Die systemtheoretische Objektivität ist keine substantielle mehr, sondern eine relationale. Die analytische Handlungstheorie in den USA der 1970er Jahre hatte es sich in Abgrenzung gegen den Utilitarismus zum Ziel gemacht, die intentionale, vornehmlich sprachanalytische Begründung von Handlungen vorzunehmen. Dieses Programm aufnehmend beschreibt Michael Quante „zwei zentrale Problembereiche“ der Handlungstheorie, die mit den „Etiketten ‚Handlungsbegründung‘ und ‚Handlungserklärung‘“ gekennzeichnet werden können: „Philosophische Probleme, die unsere Praxis der Handlungsbegründung aufwirft, sind die Klärung der Begriffe ‚Zurechenbarkeit‘ oder ‚Absichtlichkeit‘ und die Analyse der Beschreibungsabhängigkeit von Handlungen. Probleme, die durch unsere Praxis der Handlungserklärung entstehen, sind der Status von Handlungsbeschreibungen (Kausalerklärung oder nicht?), der Status von Gründen (Ereignisse?) oder auch der Zusammenhang von Handlungen und Körperbewegungen.“62 Ernst Michael Lange legte in den 1970er Jahren einen Grundstein dieser Auslegungsweise mit seinen Überlegungen zum Prinzip Arbeit. Langes Ziel ist der Nachweis, daß der Arbeitsbegriff hinsichtlich seiner logischen und grammatischen Bezüge kein „abschließend sortierender Ausdruck“63 sei. Den Abstraktionsgrad des Begriffs Arbeit nicht zu reflektieren, sei der Kardinalfehler, weil dadurch Mehrdeutigkeiten entstünden. Im Mittelpunkt steht also nicht das Phänomen Arbeit als ökonomisches, gesellschaftswissenschaftliches oder philosophisches, sondern die Frage, welche handlungstheoretischen Grundbegriffe unterstellt sind und welche Implikationen diese Grundbegriffe – zum Beispiel das Wort Widerspruch64 – haben können, schließlich wie diese verschiedenen 61 62 63 64

Niklas Luhmann. „Kapital und Arbeit. Probleme einer Unterscheidung.“ In Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M., 1988, 171. Michael Quante. Hegels Begriff der Handlung. Stuttgart-Bad Cannstatt, 1993, 12. Ernst Michael Lange. Das Prinzip Arbeit – Drei metakritische Kapitel über Grundbegriffe, Struktur und Darstellung der „Kritik der politischen Ökonomie“ von Karl Marx. Berlin, 1980, 15. Übrigens: Mit dem Begriff Widerspruch ist in dieser Arbeit durchgängig der Begriff des kontradiktorischen Widerspruchs bezeichnet, dessen Gehalt nicht formal-logisch, sondern in der Relation der logischen Bestimmungen und der zu bestimmenden Gegenstände angesiedelt ist. Differenzen in der Verwendung dieses Begriffs sind also nicht durch „Unterbestimmtheit“ zu erklären, sondern durch unterschiedliche Auffassungen über die Interpretation der hier verhandelten Gegen-

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Bedeutungen unabhängig von den Gegenständen, durch die sie konstituiert sind, also rein formell zu unterscheiden sind. Nicht der Gegenstand, sondern die Aussageweisen werden untersucht. Lange sieht im Begriff des gegenständlichen Gattungswesens aus den PhilosophischÖkonomischen Manuskripten den zentralen Begriff Marxscher Theorie, obwohl dieser Text von Marx, anders als von ihm zu Lebzeiten publizierte, im Entwurfsstadium verblieben ist. Unreflektiert bleibt dabei, daß Marx schon in den Philosophisch-Ökonomischen Manuskripten eine Gesellschaftskritik intendiert, die er im Fortschreiten seines Lebenswerkes immer konsequenter formuliert. Die Frage, welche für Marx durchgängig leitend ist, ist die, warum die Realisierung des „gegenständlichen Gattungswesens“ in ihren gesellschaftlichen Lebensbedingungen mißlingt. Auf den Aspekt des Scheiterns und der Kritik geht aber Lange nicht weiter ein. Statt dessen sieht er die konsequente Ausführung dessen, was mit dem „gegenständlichen Gattungswesen“ gemeint sei, in einem kommunistischen Gesellschaftsentwurf, den er aber bei Marx nicht findend in der Fassung von Moses Heß heranzitiert, um hernach festzustellen, daß Marx totalitaristisch und der kommunistische Gesellschaftsentwurf „ein anarchistischer Tagtraum“65 sei. Marx hat keinen Gesellschaftsentwurf formuliert, er hat eine bestehende Gesellschaft kritisiert. Damit ist die Argumentation von Lange eine, die den Kern der Marxschen Kapitalismuskritik, wie sie erst im Kapital ausgeführt ist, nicht trifft. Den Topos des „gegenständlichen Gattungswesens“ aufgreifend, stellt sich HansChristoph Schmidt am Busch mit seiner Schrift Hegels Begriff der Arbeit die Aufgabe, die Aktualität der Hegelschen Philosophie aufzuzeigen, indem er nachweist, daß dieser Begriff „leistungsstark“66 sei. Im Mittelpunkt steht bei ihm deshalb nicht die spezifische Fragestellung Hegels, sondern die Fragestellung, welche neoliberalen Elemente bereits in der Philosophie des Geistes von Hegel vorgedacht sind. Unbesorgt um die 200 Jahre zeitlicher Differenz zu Hegel betont er, daß sich dessen Arbeitsbegriff auch eigne, um den Bereich der Dienstleistungen zu beschreiben.67 Auch Schmidt am Busch reflektiert den Begriff des gegenständlichen Gattungsbegriffs auf Marx bezogen kritisch. Er stellt fest, daß Marx die „dem Konzept des gegenständlichen Gattungswesens zugrunde liegenden normativen Annahmen“68 nicht rechtfertigt. Dieses Konzept beruhe auf gemeinschaftlicher Arbeit, die nach Hegel nur in der Familie real sei, nicht aber in der Gesellschaft. Daraus folgert Schmidt am Busch wiederum, daß „Marx die Gesellschaft als ganze gemäß dem in Hegels Frankfurter Schriften entwickelten Begriff der Liebe denkt.“69 Diese Position sei gegenüber der Philosophie des Geistes kaum als Fortschritt zu bezeichnen. Dem wäre zuzustimmen, wenn Marx den Begriff der Gesellschaft denn tatsächlich gemäß dem Begriff der Liebe in den Frankfurter Schriften Hegels dächte.

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stände. Ernst Michael Lange. Das Prinzip Arbeit, 96, 99. Hans-Christoph Schmidt am Busch. Hegels Begriff der Arbeit. Berlin, 2002, 15. Vgl. ebd. 39. Ebd., 122. Ebd., 123.

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Die jüngste Zusammenführung dieser Argumente dazu stammt von Michael Quante: „Arbeit ist, dies ist eine weitere philosophische Kategorisierung, kein abschließend sortierender Ausdruck. Man kann auf die Aussage, X habe gearbeitet, sinnvoll nachfragen, was X denn getan, welche Handlung er denn durchgeführt habe. Indem Marx ‚arbeiten‘ auf das Hervorbringen von Gegenständen einengt, macht er ‚Arbeit‘ zwar nicht zu einem abschließend sortierenden Handlungsterminus, bei dem man eine solche Nachfrage nicht eher sinnvoll stellen könnte. Aber er reichert den Bedeutungsgehalt von ‚arbeiten‘ an, wobei vieles davon abhängt, was man genauer unter ‚Gegenstand‘ versteht.“ Und die dazugehörige Fußnote: „Bedenkt man, daß Marx im Kapital systematisch zwischen konkreter und abstrakter Arbeit unterscheidet, auf beides dann aber sein Vergegenständlichungsmodell des Handelns anwendet, dann läßt sich erahnen, daß die Nichtbeachtung dieser Differenzen philosophischen Schaden anrichten kann.“70 Der Doppelcharakter der (gegenständlichen) Arbeit ist in der Kritik der politischen Ökonomie nicht Ausdruck von „Unterbestimmtheit“, sondern hat eine konstitutive Funktion zur Erklärung des Kapitalverhältnisses. „Diese zwieschlächtige Natur der in der Ware enthaltenen Arbeit ist zuerst von mir [hier:Karl Marx, M. B.] kritisch nachgewiesen worden. Da dieser Punkt der Springpunkt ist, um den sich das Verständnis der politischen Ökonomie dreht, soll er hier näher beleuchtet werden.“71 Daß die Arbeit konkret wie abstrakt betrachtet werden kann, wäre gleichgültig, wenn dieser Unterschied nicht innerhalb der historisch realen, kapitalistischen Gesellschaft und d. h. unter den Bedingungen von Arbeitsteilung und Privateigentum, konstitutiv würde, so daß die Abstraktion von der konkreten Arbeit Bedingung der Möglichkeit der Vergleichbarkeit aller Arbeiten innerhalb der Gesellschaft darstellt oder: die abstrakte Arbeit ist wertbildend. Umgekehrt bringt nur die konkrete Arbeit Gebrauchswerte hervor. Die handlungstheoretische Verschiebung dieser Bestimmung hin zu der formellen, methodischen Überlegung der analytischen Handlungstheoretiker exekutiert deren kritischen Gehalt. Der politische Denker Marx wird derart als „philosophischer Klassiker“ 72 verwertbar. Ökonomiekritik heute widmet sich der Klärung der Bedingungen, unter denen gewirtschaftet und gearbeitet wird. Die aktuellen Diskussionen beziehen ihren Gegenstand aus der Feststellung, daß die Theorie von Marx zwar maßgeblich für die Kritik der Verhältnisse sei, ihr aber zugleich eine veraltete historische Perspektive zu eigen sei, die des70

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Michael Quante. „Kommentar zu den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten.“ In Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 15:411. Frankfurt a. M., 2009, 241. Zu Hegel äußert er sich in: ders. Hegels Begriff der Handlung. Einen Überblick über die Entwicklung zeitgenössischer Handlungstheorien in der direkten Nachfolge des Deutschen Idealismus und der Gesellschaftstheorie von Marx bis zur Gegenwart gibt Clemens K. Stepina. Handlung als Prinzip der Moderne. Handlungsphilosophische Studien zu Aristoteles, Hegel und Marx. Wien, 2000, 71–104. Einen umfassenden Überblick über die analytische Handlungstheorie gibt die Aufsatzsammlung von Georg Meggle (Hg.) Analytische Handlungstheorie. Frankfurt a. M., 1977. Eine kritische Analyse findet sich bei: Andreas Arndt u. Wolfgang Lefèvre. „Thesen zum Schwerpunktthema: Poiesis, Praxis, Arbeit. Zur Diskussion handlungstheoretischer Grundbegriffe.“ In Arbeit und Philosophie: Symposium über Philosophische Probleme des Arbeitsbegriffs, hrsg. v. Peter Damerow u. a., 21–34. Bochum, 1983. Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 56. Michael Quante. „Kommentar zu den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten.“ 217.

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halb erweitert werden müsse. Entsprechend wenden sich diese Theorien der Erklärung gegenwärtiger Ökonomie und ihrer Ausprägungen als Globalisierung, im Finanzsystem, in der Krise und der informellen Arbeit73 etc. zu. Frieder Otto Wolf bestimmt die Position von Philosophie und Kapitalkritik unter Berücksichtigung der aktuellen historischen Situation wie dem Untergang des real existierenden Sozialismus, andererseits vor dem Hintergrund der Ergebnisse, die die bisherigen Kapital-Lektüren hervorgebracht haben.74 Den Arbeitsbegriff insbesondere diskutiert er in der Auseinandersetzung mit aktuellen Themen wie der „Nachhaltigkeit, Geschlechtergerechtigkeit, Grundsicherung und Demokratie im nationalen wie internationalen Zusammenhang.75 In Ergänzung zu diesen Überlegungen beschäftigt sich dieses Projekt mit der Reflexion auf den Maßstab der Kritik, wie er im Begriff der Selbstbestimmung oder dem Begriff politischer Herrschaft impliziert ist. Wenn gezeigt werden kann, daß es ein moralisches Kriterium gibt, das für jeden einsehbar ist, dann werden instrumentelle von moralisch reflektierten Urteilen unterscheidbar. Dieser Maßstab ist dem Begriff der Selbstbestimmung impliziert: Notwendige Bedingung der Möglichkeit der Selbstbestimmung ist, daß Menschen weder individuell noch strukturell daran gehindert werden. Dem Zusammenhang von politischer Herrschaft und Zeitökonomie widmet sich Moishe Postone in Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Er versteht unter der Aktualisierung der Theorie von Marx, den Mechanismus der kapitalistischen Herrschaft genauer und in Abgrenzung gegen die marxistische Tradition zu fassen: daß der sogenannten Krise der Arbeitsgesellschaft nicht durch Umverteilung der Arbeit begegnet werde, sondern statt dessen die Verarmung großer Teile der Bevölkerung in Kauf genommen werde, sei eine Erscheinungsform der gesellschaftlichen Herrschaft. Herrschaft im Kapitalismus sei allerdings nicht die Herrschaft von Menschen über Menschen, sondern die unpersönliche Herrschaft eines Abstraktums: des dynamisch in der Zeit verlaufenden Prozesses kapitalistischer Akkumulation: „Das heißt, daß Arbeit im Kapitalismus eine einzigartige soziale Funktion besitzt, die nicht mit der Arbeitsaktivität als solcher zusammenfällt. Abstrakte Arbeit vermittelt eine neue Form der gegenseitigen gesellschaftlichen Abhängigkeit.“76 Diese Form der Herrschaft sei an „eine spezifisch historisch abstrakte Form der Zeitlichkeit gebunden, die abstrakte Newtonsche Zeit, die historisch zusammen mit der Warenform entstanden ist.“77 Andreas Arndt greift den Aspekt der Zeitökonomie auf und betrachtet deren strukturelle Bedeutung für die Möglichkeit der Selbstbestimmung: „Für sich betrachtet ist die 73

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Z. B. Elmar Altvater u. Birgit Mahnkopf. Globalisierung der Unsicherheit: Arbeit im Schatten, schmutziges Geld und informelle Politik. Münster, 2002. Zum Zusammenhang von Arbeit, Krise und Globalisierung siehe auch Heinrich, „Krise der Arbeitsgesellschaft – Krise des Kapitalismus?“ 25–31. Vgl. Frieder O. Wolf. Das Kapital neu lesen – Beiträge zur radikalen Philosophie. Hrsg. v. Jan Hoff u. a. Münster, 2006, 12. Frieder O. Wolf, Gerd Peter und Hartmut Neuendorff (Hg.) Arbeit und Freiheit im Widerspruch? Bedingungsloses Grundeinkommen – ein Modell im Meinungsstreit. Hamburg, 2009. Moishe Postone. „Die Kritische Theorie des Kapitalismus überdenken.“ Freiburg, 2004, 5. Vgl. auch ders. Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft: eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx. Freiburg, 2003. Moishe Postone. „Die Kritische Theorie des Kapitalismus überdenken.“ 8.

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Einleitung

Tatsache zunächst trivial, daß die Menschen als endliche Wesen unter der Herrschaft der Zeit stehen und die Zeit, die sie individuell zur Verfügung haben, begrenzt ist. Ein jedes Ding hat nicht nur seine Zeit – wie im Rhythmus der Lebensalter und der Jahreszeiten –, sondern jeder Prozeß, jede Handlung verbraucht auch etwas von der knappen, endlichen Ressource ‚Zeit‘. Wir können nur das tun – einschließlich des Nichtstuns –, wofür wir noch Zeit ‚haben‘, d. h. unser Leben ist eingespannt in den Rahmen, der uns überhaupt zur Verfügung stehenden Zeit.“78 Marx hatte in diesem Zusammenhang einen Interessenkonflikt zwischen Arbeitskraft und Arbeitsanwender festgestellt, der darin liegt, daß die Arbeitskraft gewisse Erholungszeiten benötigt, um arbeiten zu können, während der Arbeitsanwender darauf bedacht ist, die Arbeitskraft möglichst lange und effizient zu nutzen und das auf Kosten der Freizeit. Da das Verhältnis zwischen Arbeitskraft und Arbeitsanwender vertraglich geregelt ist, wird der Interessenkonflikt im Kampf um die Arbeitszeit vermittelt – also historisch. Selbstbestimmung der Arbeitskraft kann innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft – wenn überhaupt – nur in der Freizeit stattfinden, denn innerhalb des Arbeitsprozesses steht die Arbeitskraft einzig dem Produktionszweck des Kapitalisten zur Verfügung. Daß aber die rein formale Betrachtung der Zeitökonomie nicht hinreicht, um die Frage nach der Selbstbestimmung der Arbeitskraft in der bürgerlichen Gesellschaft zu beantworten, hatte Adorno mit seinen Überlegungen zur Kulturindustrie gezeigt. Arndt nimmt diese Bestimmung Adornos auf und führt seinerseits aus, daß die ökonomischen Mechanismen, wie Konkurrenz, Leistungsprinzip etc. in die Freizeitbeschäftigung hinein getragen werden: „daß die angeblich freie Zeit unter den Normen und der Logik der Arbeitswelt steht und diese auch dort noch reproduziert, wo sie scheinbar das andere zur Arbeit intendiert, kommt auch darin zum Ausdruck, daß freie Zeit zunehmend unter den Druck des Leistungsprinzips gerät. Eine ganze Industrie ist damit beschäftigt, freie Zeit durch normierte Angebote – vom wellness-Programm bis zur event-Kultur – zu füllen, die wiederum als Erfüllung rein individueller Bedürfnisse verkauft werden.“79 In der Tradition der Frankfurter Schule steht auch Peter Bulthaup. Er zeigt die konstitutive Funktion der praktischen, vor allem naturwissenschaftlichen Erfahrung und damit auch der Arbeit für die Entwicklung der modernen Wissenschaften auf und faßt das Verhältnis von Arbeit und Nicht-Arbeit als historisch kritisches Verhältnis: Die Wissenschaften als Gestalten der Selbstbestimmung haben die Muße und damit die herrschaftliche Verfügung über das Mehrprodukt zu ihrer Voraussetzung. Umgekehrt ermöglicht erst die praktische Zurichtung der Welt durch die Arbeit und das wissenschaftliche Experiment die Erkenntnis ihrer Prinzipien und Gesetze. „Der Anspruch der Aufklärung, Natur als aus Prinzipien konstituierten Prozeß zu verstehen und sich von der Abhängigkeit von unzuverlässigen Naturgewalten zu emanzipieren, konnte nur realisiert werden 78 79

Andreas Arndt. „Arbeit und Nichtarbeit.“ In Kolleg praktische Philosophie Bd. 4. Recht auf Rechte. Hrsg. v. Franz Josef Wetz. Stuttgart, 2008, 91. Andreas Arndt. „Arbeit und Nichtarbeit.“ 109 f. Vgl. auch Theodor W. Adorno u. Max Horkheimer. Gesammelte Schriften Bd. 3 (Dialektik der Aufklärung: philosophische Fragmente). Darmstadt, 1998, 148 (im folgenden Dialektik der Aufklärung): .„Unweigerlich reproduziert jede einzelne Manifestation der Kulturindustrie die Menschen als das, wozu die ganze sie gemacht hat.“

Stand der Forschung

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in der Konstellation von den Naturgesetzen unterworfenen abstrakten Naturkräften und spezifisch restringierenden Randbedingungen in partikularen Modellen, die aus dem Naturzusammenhang isoliert wurden. Diese Rekonstruktion empirischer Naturerscheinungen aus Prinzipien hatte zwei konträre Konsequenzen: Einmal bewirkte sie die Emanzipation von der Unmittelbarkeit, von der unwirtlichen ersten Natur, indem die Herrschaft über die Prinzipien die über die Erscheinungen und damit über die Lebensbedingungen der Menschen ermöglichte. Andererseits ist diese Herrschaft nur um den Preis der Affirmation dieser Prinzipien zu erlangen und wurde so zur Fortsetzung des Naturprozesses mit anderen Mitteln.“80 Mit der Reflexion auf die Bedingungen von Arbeit grenzt sich Bulthaup gegen andere Vertreter der kritische Theorie ab, so z. B. Herbert Marcuse, dessen Arbeitsbegriff von der Vorstellung geleitet ist, die Trennung von Hand- und Kopfarbeit zu kritisieren. Marcuse verweist daher auf den umfassenden und grundsätzlichen Charakter der Arbeit als Ausdruck menschlichen Tuns überhaupt. Für Marcuse ist Arbeit nicht Emanzipation vom Naturzusammenhang, sondern Realisierung der Freiheit im Naturzusammenhang, denn Geschichte entstehe aus Freiheit: „Daher ist auch jede echte ökonomische Theorie ausdrücklich oder unausdrücklich verkoppelt mit einer sie transzendierenden Ontologie des Menschen, die wenigstens einen Entwurf des geschichtlichen menschlichen Daseins als solchen im Blick hat und auf ihn hin die eigentliche ökonomische Theorie ausrichtet.“81 Ein ähnliches Problem, aber eine andere Lösung hat Alfred Sohn-Rethel. Er will die Trennung von Hand- und Kopfarbeit durch eine materialistische Erkenntniskritik überwinden: „Der Abstraktionsprozeß, der für die Erkenntnisbegriffe des Verstandes die Erklärung enthält, ist der gesamte Gesellschaftsprozeß der Warenproduktion selbst.“82 Diesen ontologischen bzw. anthropologischen Arbeitsbegriffen ist die Reflexion auf den Grund für die Verteilung von Arbeit und Nichtarbeit vorzuhalten. Die Verteilung ist historisch und durch den Zweck der Gesellschaft bestimmt, in der gearbeitet wird. Eine Gesellschaft, die die freie und selbstbestimmte Entfaltung ihrer Individuen verhindert, steht nach Hegel im Widerspruch zur Bestimmung der Individuen, die an selbstbestimmtes gesellschaftliches Handeln gebunden ist. An diesem Begriff gesellschaftlicher Organisation und der historisch-dialektischen Verstrickung in Herrschaftsverhältnisse wird die historisch reale Organisation der Gesellschaft, wie sie von Arndt, Adorno und Bulthaup analysiert wird, zu messen sein. Der Arbeitsbegriff Hegels zeichnet sich dadurch aus, daß er sich nicht nur auf die Bestimmung der ökonomischen Funktion von Arbeit beschränkt: Er bestimmt sie sowohl als ökonomisches Prinzip in der bürgerlichen Gesellschaft (Grundlinien), als herrschaftlich organisierte in der Phänomenologie des Geistes, aber auch als Kategorie der Wissenschaft der Logik. Der Arbeitsbegriff Hegels changiert damit zwischen den Polen der 80 81 82

Peter Bulthaup. „Arbeit und Wissenschaft.“ In Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften. Suhrkamp, 1973, 48. Herbert Marcuse. „Über die philosophischen Grundlagen des wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitsbegriffs.“ In Kultur und Gesellschaft Bd. 1. Frankfurt a. M., 1986, 41. Alfred Sohn-Rethel. „Grundzüge einer geschichtsmaterialistischen Erkenntnistheorie.“ In Materialistische Erkenntniskritik und Vergesellschaftung der Arbeit. Zwei Aufsätze. Berlin, 1971, 33.

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Einleitung

reinen Form der Selbstbestimmung in der Logik und der Bestimmung materieller Reproduktion in der bürgerlichen Gesellschaft. Beides soll vermittelt werden. Entsprechend dreht sich ein weiterer Zweig der Forschung zum Arbeitsbegriff um die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis: Manfred Riedel diskutiert das Problem des „Philosophischwerden[s] der Welt und Weltlichwerden[s] der Philosophie“83 anhand des Lebensbegriffs in der Wissenschaft der Logik und der Schriften von Marx. Die Gemeinsamkeit beider Autoren liege darin, „daß Hegel wie Marx das Lebendige bzw. die Lebendigkeit des Menschen als Subjektivität erfahre“84, allerdings jeweils von entgegengesetzten Standpunkten aus, denn Marx beuge die Subjektivität des Menschen aus der Hegelschen GeistSphäre zurück in den Umkreis des Lebendigen. Ivan Dubský entwickelt ausgehend von dem Marxschen Diktum, daß Hegel das Wesen der Arbeit erkannt habe, die geistesgeschichtlichen Gehalte des Hegelschen Arbeitsbegriffs insbesondere auch vor dem Hintergrund Kants, Fichtes und Schellings. Nur auf dem Gebiet der Arbeit, „konnte er [Hegel, M. B.] von der Identitätsphilosophie zur Bildung neuer Anregungen in derjenigen erkenntnistheoretischen Richtung gelangen, an welche Marx mit dem Axiom anknüpft, welches die Grundlage der Erkenntnis der neuen Epoche der menschlichen Gesellschaft bildet: die Einheit von Theorie und Praxis.“85 Auch Otto Pöggeler kennzeichnet die Frage nach der „Verwirklichung der Philosophie“ als wesentlich durch Marx und Hegel gestellt. Marx‘ Kritik an Hegel sei dadurch intendiert, daß er dessen Idealismus nur als scheinbare Verwirklichung kritisiert und sie daher an das geschichtliche Subjekt zurückbinden wolle. Marx verfalle aber einem ähnlichen Fehler, indem er die „absolute Praxis der Selbstherstellung des Wirklichen“ 86 fordere und damit unhistorisch formuliere wie Hegel. Dennoch sei die Problemstellung „legitim“ 87. Sarah Wagenknecht beleuchtet dieses Problem von seiner methodischen Seite. Sie legt die Vermutung zugrunde, daß ohne das Studium der Wissenschaft der Logik Hegels und der Frühschriften von Marx das Verständnis des ersten Bandes des Kapitals nicht möglich sei. Das Begreifen der Denkform wiederum, das Marx in den Frühschriften entwickele, sei grundlegend für das Verständnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit.88 Peter Ruben geht dagegen über die Methodenreflexion hinaus und beschäftigt sich mit dem philosophischen Arbeitsbegriff: Seine Intention ist die Begründung „einer neuen Position der Wissenschaft zur Gesellschaft“89, wonach sich beide wechselseitig begründen. Sich von Hegel lösend begründet er aus der Kritik der analytischen Philosophie die materialistische Dialektik. Die Analyse 83 84 85

86 87 88

Manfred Riedel. Theorie und Praxis im Denken Hegels. 121. Ebd., 136. Ivan Dubsky. „Hegels Arbeitsbegriff und die idealistische Dialektik.“ In Hegel und die Folgen, hrsg. v. Gerd-Klaus Kaltenbrunner. Freiburg, 1970, 408. Die Darstellung des Arbeitsbegriffs nimmt Dubský in Abgrenzung gegen Scheler, Heidegger und Marcuse vor. Allerdings entgeht ihm im Resultat seiner Darstellung der negative Charakter des Hegelschen Arbeitsbegriffs: „Wenn die Arbeiterklasse zum Erben der deutschen klassischen Philosophie geworden ist, ist es vor allem das Verdienst des letzten Repräsentanten, Hegel, des Philosophen, mit dem wie Engels sagte, die Philosophie endet und die positive Erkenntnis der Welt beginnt, des Philosophen, der die Keime gepflanzt hat, die in der deutschen klassischen Philosophie reifte.“ Ebd., 463. Otto Pöggeler. „Die Verwirklichung der Philosophie. Hegel und Marx.“ In Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. Otto Pöggeler. Freiburg [u. a.], 1973, 394. Ebd., 402. Sahra Wagenknecht. Vom Kopf auf die Füße? Zur Hegelkritik des jungen Marx oder das Problem einer dialektisch-materialistischen Wissenschaftsmethode. Bonn, 1997, 8.

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der Warenform im Kapital dient ihm dabei als das Modell, an dem er den Übergang der analytischen Denkformen zur gesellschaftlichen Wirklichkeit bezeichnen möchte. Einen anderen Zugang zum Arbeitsbegriff wählen einige Vertreter der Frankfurter Schule. Während Herbert Marcuse, wie bereits erwähnt, den Arbeitsbegriff Hegels ontologisiert, um ihn so für eine Kritik der Trennung von Hand- und Kopfarbeit nutzbar zu machen, verweist Adorno in den Drei Studien zu Hegel auf die gesellschaftlichen Gehalte eines verabsolutierten Arbeitsbegriffs: „Denn die Verabsolutierung der Arbeit ist die des Klassenverhältnisses: eine der Arbeit ledige Menschheit wäre der Herrschaft ledig. Das weiß der Geist, ohne es wissen zu dürfen; das ist das ganze Elend der Philosophie.“90 In Abgrenzung gegen die frühe Frankfurter Schule unternimmt Habermas in Arbeit und Interaktion den Versuch, an der Jenenser Geistphilosophie aufzuzeigen, daß dort „nicht der Geist in der absoluten Bewegung der Reflexion seiner selbst, der sich unter anderem auch in Sprache, Arbeit und sittlichem Verhältnis manifestiert“ bestimmt, „sondern erst der dialektische Zusammenhang von sprachlicher Symbolisierung, Arbeit und Interaktion bestimmt den Begriff des Geistes.“91 Andreas Arndt benennt die gemeinsame Ausgangsfrage: „Im Hintergrund dieser Auseinandersetzungen und Interpretationen stand – ausgesprochen oder unausgesprochen – zumeist die Frage, ob Hegel – mit Marx zu sprechen – einen einseitig idealistischen Arbeitsbegriff zugrunde gelegt und deshalb auch die Arbeit des Begriffs oder den Begriff der Reflexion idealistisch bestimmt habe.“92 Arndt weist außerdem darauf hin, daß bei der Beantwortung dieser Frage der Aspekt des Eigentums wenig Beachtung findet. Er kommt zu dem Resultat, daß in der Phänomenologie des Geistes das Eigentum nicht als juristische Form erscheine, sondern als durch die Arbeit des Subjekts angeeignete Natur und die Arbeit selbst als Tätigkeit des Weltgeistes.93 Bei Marx wandele sich dieses Verständnis grundlegend. Er bestimme die bürgerliche Gesellschaft im Bewußtsein ihrer historischen Bedingtheit. Von diesem Spannungsfeld der Begriffe Arbeit und Eigentum, die einmal begrifflich und einmal historisch gefaßt werden, wird auch in diesem Projekt ausgegangen, da das von Arndt aufgezeigte Problem „weitreichende Konsequenzen [hat, M. B.] nicht nur für den Begriff der Arbeit im engeren Sinne, sondern auch für die Arbeit des Begriffs und damit für den Begriff selbst, der auf ein Äußerliches, von ihm nicht Gesetztes angewiesen bliebe“94.

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Peter Ruben. „Wissenschaft als allgemeine Arbeit.“ 5. Vgl. auch Peter Furth (Hg.) Arbeit und Reflexion: zur materialistischen Theorie der Dialektik: Perspektiven der Hegelschen Logik. Köln, 1980. Ders. „Das ‚Arbeitskonzept‘ in der marxistischen Erkenntnistheorie.“ In Kant oder Hegel? Über Formen der Begründung in der Philosophie, hrsg. v. Dieter Henrich. Stuttgart, 1983. Theodor W. Adorno. „Drei Studien zu Hegel.“ In Gesammelte Schriften Bd. 5. Darmstadt, 1998, 272. Jürgen Habermas. „Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser Philosophie des Geistes.“ In Technik und Wissenschaft als Ideologie. Frankfurt a. M., 1968, 10. Andreas Arndt. „Begriff der Arbeit und Arbeit des Begriffs.“ In Die Arbeit der Philosophie. Berlin, 2003, 93 f. Den Arbeitsbegriff der Phänomenologie untersucht auch Sok-Zin Lim. Der Begriff der Arbeit bei Hegel. Versuch einer Interpretation der Phänomenologie des Geistes. Bonn, 1966. Andreas Arndt. „Begriff der Arbeit und Arbeit des Begriffs.“ 104.

2 Die Arbeit der Selbstbestimmung in der Logik

„Bedarf jedoch der Geist, in dem, was er ist, dessen, was er nicht ist, so ist der Rekurs auf Arbeit nicht länger, was die Apologeten der Sparte Philosophie als ihre letzte Weisheit wiederholen: eine µετάβασις εἰς ἄλλο γένος.“1

Der Begriff der Selbstbestimmung ist bei Hegel vor dem Hintergrund seines philosophischen Programms zu erklären. Dieses Programm wird seinem Begriffe nach in der Wissenschaft der Logik bestimmt, wobei für den Begriff der Selbstbestimmung genauer die Kapitel zur Teleologie und zur unmittelbaren Idee einschlägig sind. Im Kapitel Systemprogramm und die Arbeit des Begriffs soll zunächst kurz erläutert werden, welche philosophiegeschichtlichen Probleme das Programm Hegels lösen soll und zwar am Modell des philosophischen Verhältnisses von Natur und Freiheit bei Kant. Hegel transformiert das Verhältnis von Natur- und Freiheitsbegriffen in der Lehre vom Begriff in das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität. Unter dem Titel Fehler: Referenz nicht gefundenwird deshalb in einem zweiten Schritt der Objektbegriff Hegels bestimmt, ohne den die Konstruktion der Teleologie unverständlich bliebe. Subjektivität und Objektivität werden in der Lehre vom Begriff auf zweierlei Weise aufeinander bezogen: Zum einen als sich in der äußeren Objektivität bestimmender Begriff äußerer Zweckmäßigkeit in der Teleologie und zum anderen als sich im Organismus bestimmender Begriff innerer Zweckmäßigkeit in Leben als unmittelbare Idee. Der äußeren Zweckmäßigkeit gilt das Kapitel zur Teleologie, der inneren Zweckmäßigkeit gilt das Kapitel Der Tod des Individuums: Leben als unmittelbare Idee. Als Leitfaden der Interpretation dieser Passagen aus der Lehre vom Begriff gilt es, den Systemanspruch Hegels ernst zu nehmen. Hegel denkt den Begriff der Selbstbestimmung in der Lehre vom Begriff absolut, nicht in dem Sinne, gar keine Bedingungen zu haben, aber in dem Sinne, alle Bedingungen aus sich hervorbringen zu können. Indem die Argumentation Hegels kommentierend nachvollzogen wird, sollen die Grenzen der Begründbarkeit eines solchen Begriffs aufgezeigt werden. Das Mißlingen der Durchführung des Begriffs absoluter Selbstbestimmung wäre der negative Ausdruck seiner Bedingtheit. 1

Theodor W. Adorno. Negative Dialektik, 199.

Systemprogramm und die Arbeit des Begriffs

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2.1 Systemprogramm und die Arbeit des Begriffs Das Programm der Wissenschaft der Logik ist die Entwicklung des Begriffs reiner Wissenschaft aus dem „frey für sich seyenden Denken“. Das Denken vermag aber den Begriff reiner Wissenschaft nicht ausschließlich aus sich zu begründen, denn dann wäre die Wissenschaft Wissenschaft von nichts, sondern sie ist auf einen zu erkennenden Gegenstand verwiesen. Dieser Gegenstand ist vom Denken zu unterscheiden, so daß die Differenz von Denken und Gegenstand für die Durchführung der Wissenschaft der Logik konstitutiv ist. Ebensowenig kann aber der Gegenstand vom Denken absolut unterschieden sein, denn dann wäre er undenkbar. Der Gegenstand des Denkens stellt sich deshalb für die Philosophie Hegels zunächst als der Widerspruch dar, als vom Denken unterschiedener selbständig und als gedachter Gegenstand unselbständig gegen das Denken zu sein. „Das Object ist daher der absolute Widersp ruc h der vollkommenen Selbständigkeit des Mannichfaltigen, und der ebenso vollkommenen Unselbständigkeit derselben.“2 Was ein Gegenstand ist, läßt sich erst im Resultat des Erkenntnisprozesses angeben.3 Der erste Gegenstand der Wissenschaft der Logik ist der Begriff reiner Wissenschaft, wie er im Resultat der systematischen Reflexion des konkreten Wissens der Phänomenologie des Geistes bestimmt wurde. Diesen reinen Begriff der Wissenschaft bezeichnet Hegel mit dem absoluten Wissen, das also zugleich das Resultat des Erkenntnisprozesses der Phänomenologie des Geistes und den Anfang der Wissenschaft der Logik darstellt. Als das Resultat der Erfahrungen des erscheinenden Bewußtseins sind das erscheinende Wissen und das Denken miteinander vermittelt, so daß deren Differenz zwar aufgehoben, aber zugleich auch im Resultat bewahrt ist. Gleichzeitig soll das absolute Wissen aber auch den logischen Ursprung der wissenschaftlichen Entwicklung begründen, und darf deshalb nichts – also auch nicht seine Begründung durch die Erfahrung des Bewußtseins der Phänomenologie – voraussetzen. Das absolute Wissen wird deshalb in das reine Sein überführt, das abgetrennt von seiner Begründung absolut unvermittelt ist. „Das Sein ist das unbestimmte Unmittelbare; es ist frei von der Bestimmtheit gegen das Wesen sowie noch von jeder, die es innerhalb seiner selbst erhalten kann. Dies reflexionslose Sein ist das Sein, wie es unmittelbar nur an ihm selber ist.“4 Im Anfang der Wissenschaft der Logik erscheint der Gegenstand des Denkens, hier das reine Sein, nicht mehr als vom Denken unmittelbar vorgefunden und damit gegen es selbständiger Gegenstand der Erkenntnis, sondern als ein vom Denken durchwirktes, 2 3

4

Georg W. F. Hegel. Hauptwerke Bd. 6 (Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse). Darmstadt, 1999, § 194 (im folgenden Enzyklopädie). Vgl. Hegel: „Das Begreiffen eines Gegenstandes besteht in der That in nichts anderem, als daß Ich denselben sich zu eigen macht, ihn durchdringt, und ihn in seine eigene Form, d. i. in die Allgemeinheit, welche unmittelbar Bestimmtheit, oder Bestimmtheit, welche unmittelbar Allgemeinheit ist, bringt.“ Hauptwerke Bd. 3 (Wissenschaft der Logik; Die objektive Logik; Buch 1. Die Lehre vom Sein (1832). Buch 2. Die Lehre vom Wesen (1813)). Darmstadt, 1999, 18 (im folgenden Lehre vom Sein und vom Wesen). Ebd., 68.

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Die Arbeit der Selbstbestimmung in der Logik

das durch das Denken erst im Begriff konstituiert wird. Für das Denken ist also die Selbständigkeit des Gegenstandes der Reflexion nicht manifest, sondern relational bestimmt: der Gegenstand des Denkens ist sein Begriff. Was außerhalb der Relation von Denken und Begriff des Gegenstandes liegt, ist für das Denken nicht bestimmbar. Zugleich nötigt aber das Problem des Anfangs der reinen Wissenschaft nicht nur dazu, auf die Phänomenologie, die Wissenschaft von der Erfahrung des Bewußtseins, zu rekurrieren, sondern verweist darüber hinaus auch auf die in der Phänomenologie zitierten Modelle philosophischer Reflexion, die dem System Hegels geistesgeschichtlich vorangegangen sind. Anders als die Gestalten des erscheinenden Geistes der Phänomenologie ist die Entwicklung in der Philosophiegeschichte dem System Hegels auch heteronom. Es ist zu fragen, inwieweit die philosophiegeschichtliche Entwicklung Indiz der Selbständigkeit der Gegenstände des Denkens ist. Ein Modell für Begriffe, die dem System Hegels vorausgesetzt sind, liefert Kant mit dem Verhältnis von Natur- und Freiheitsbegriffen. Kant schließt von der Wirklichkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnis auf die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt. Bei ihm steht daher nicht die logische Reflexionsbestimmung am Anfang, sondern die naturwissenschaftliche Erkenntnis, in der die partikulare Vermittlung von Gegenstand und Denken innerhalb eines bestimmten Gegenstandsbereichs gelungen ist. „Der Zeit nach geht also keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an.“5 Der naturwissenschaftliche Gegenstand, unabhängig von seinen je eigenen Inhalten, ist das Objekt. Die Übereinstimmung von Objekt und Denken ist nur unter der Bedingung möglich,6 daß sie vor aller bestimmten Erfahrung als Synthesis der Formen des subjektiven Erkennens – Kategorien und Anschauung – widerspruchsfrei gedacht werden kann, denn wenn es nicht mal möglich ist, die Begriffe, die dem Erkennen vorausgesetzt sind, in ihrer Relation zueinander zu begründen, dann ist die Bildung eines wahren Urteils über Bestimmtes erst recht nicht möglich. Der Gegenstand der Erkenntnis wird unmittelbar als roher Stoff sinnlicher Eindrücke angeschaut, wobei die Anschauungen bereits der transzendentalen Einheit der Apperzeption oder dem „Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können“7 subsumiert sein müssen, weil die sinnlichen Eindrücke andernfalls keinen Ort hätten. Oder anders gesagt: Die sinnlichen Eindrücke sind notwendig die Eindrücke eines Subjekts. Aber erst durch die bestimmte Beziehung der Sinneseindrücke auf die Formen der Anschauung – Raum und Zeit – und die Verstandesbegriffe werden die Erscheinungen als Objekt konstituiert. „Objekt aber ist das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist.“8 Damit zeichnet sich die Substantialität des Objekts vor den Subjekten einerseits durch die Aktualität von deren Empfindungen aus, die aber zufällig sind, andererseits durch die Quantität und Modalität der Erkenntnisurteile, die als notwendig allgemeine von allen erkennenden Subjekten ohne Unterschied eingesehen werden können 5 6 7 8

Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft. Hamburg, 1998, B1. Vgl. ebd., B 82 ff. Ebd., B 131 f. Ebd., B 137.

Systemprogramm und die Arbeit des Begriffs

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müssen und daher in die distributive Einheit des Erfahrungsgebrauchs des Verstandes eingehen. „Auf solche Weise sind synthetische Urteile a priori möglich, wenn wir die formalen Bedingungen der Anschauung a priori, die Synthesis der Einbildungskraft, und die notwendige Einheit derselben in einer transzendentalen Apperzeption, auf ein mögliches Erfahrungserkenntnis überhaupt beziehen, und sagen: die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori.“9

Damit ist das Objekt aber nur subjektiv bestimmt, was es außerhalb des Denkens ist, kann gar nicht ausgedrückt werden. Wenn die notwendig allgemeine Erfahrung keine bloße Projektion der Subjekte auf die Natur sein soll, sondern der Erfahrung auf der Seite des Gegenstandes etwas entsprechen soll, dann ist die Existenz eines außersubjektiven Korrelats der Erscheinungen als eine weitere Bedingung der Möglichkeit von Objektivität neben der transzendentalen Einheit der Apperzeption, den Verstandesbegriffen und den reinen Anschauungsformen anzunehmen. Weil die Existenz dieses objektiven Korrelats aber nicht dingfest gemacht werden kann, muß sie als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis erschlossen werden. Die ontologische Bestimmung des Objekts wird damit – paradox – zu einem Vernunftbegriff, dem Ding an sich. Die Unmittelbarkeit des Objekts erweist sich so vielmehr als absolut vermittelt, so daß die Differenz von Denken und Gegenstand zwar gedacht sein soll, aber der Grund dieser Differenz auf eine bloße Definition der Existenz des Seienden reduziert wird. Damit sind Begriff und objektives Korrelat in den transzendentallogischen Zusammenhang subjektiver Erfahrung integriert. Kant muß aber ebenso den Unterschied zwischen dem Begriff und seinem objektiven Korrelat als Differenz ihrer jeweiligen Funktion erhalten, um eine Verwechslung von Begriff und Objekt zu vermeiden. Danach sind die Verstandesbegriffe konstitutive Erkenntnisprinzipien für die Gegenstände möglicher Erfahrung, während die Vernunftbegriffe als regulative Prinzipien kein Korrelat in der Erfahrung haben, sondern spekulativ sind. Sie begründen nicht die objektive Realität der empirischen Erfahrung, sondern deren logische Einheit. Die Vernunft fordert die absolute Vollständigkeit der Zusammensetzung, Teilung und Entstehung des gegebenen Ganzen aller Erscheinungen.10 Ohne die Differenz zwischen objektiver Erfahrung und subjektiver Spekulation, zwischen konstitutiven und regulativen Begriffen, die unabhängig von den Wahrnehmungen nur auf die logische Verfassung der Verstandesbegriffe geht, wäre das Ding an sich nur eine Verdoppelung des Objektbegriffs, die von diesem deshalb ununterscheidbar bliebe. So soll aber das Objekt als Verstandesbegriff vom Ding an sich als Vernunftbegriff unterschieden sein. Weil aber diese Unterscheidung nicht substantiell, sondern selbst eine Reflexionsbestimmung ist, wird diese Differenz an einigen Stellen auch undeutlich: „Daß Raum und Zeit nur Formen der sinnlichen Anschauung, also nur Bedingungen der Existenz der Dinge als Erscheinungen sind, daß wir ferner keine Verstandesbegriffe, mithin auch 9 10

Vgl. Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft. B 610 u. B 197. Ebd., B 443 ff.

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Die Arbeit der Selbstbestimmung in der Logik gar keine Elemente zur Erkenntnis der Dinge haben, als sofern diesen Begriffen korrespondierende Anschauung gegeben werden kann, folglich wir von keinem Gegenstande als Dinge an sich selbst, sondern nur sofern es Objekt der sinnlichen Anschauung ist, d. i. als Erscheinung, Erkenntnis haben können, wird im analytischen Teile der Kritik bewiesen; woraus denn freilich die Einschränkung aller nur möglichen spekulativen Erkenntnis der Vernunft auf bloße Gegenstände der Erfahrung folgt. Gleichwohl wird, welches wohl gemerkt werden muß, doch dabei immer vorbehalten, daß wir eben dieselben Gegenstände auch als Dinge an sich selbst, wenn gleich nicht erkennen, doch wenigstens denken können. Denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint [kursiv von M.B.].“11

Gegen die Intention Kants schlägt das differente Verhältnis von konstitutiven und regulativen Erkenntnisprinzipien in dieser Formulierung dennoch in die Ununterscheidbarkeit ihrer Gegenstandsbereiche um: Die Spekulation der Vernunft wird ebenso auf die Gegenstände möglicher Erfahrung bezogen wie der Verstand, und das Ding an sich stellt nicht nur die regulative Bedingung eines objektiven Korrelats der Erscheinungen dar, sondern wird zu dem, was da erscheint, Hypostase einer regulativen Idee. Die Differenzierung von Verstandes- und Vernunftbegriff mißlingt, weil dem Ding an sich bei Kant real nichts Bestimmtes entspricht, die Relation zum Objekt also unbestimmt bleibt, so daß sie sich in dieser Konstruktion einerseits als absolut ununterschieden erweisen, weil beide Begriffe wie ihre Differenz als transzendentallogische Bedingungen objektiver Erfahrung dasselbe sind, und andererseits auch als absolut Unterschiedene, deren Relation widerspruchsfrei nicht zu denken ist. Das Objekt ist aber nicht nur immanent bestimmt, sondern auch extensional durch die Beziehung auf andere Objekte. Dieser Zusammenhang ist innerhalb des Bereichs der Verstandeserfahrung durch die Kategorien Kausalität und Wechselwirkung konstituiert und enthält darüber hinaus die Forderung nach Vollständigkeit: „Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe aller Bedingungen desselben gegeben: nun sind uns Gegenstände der Sinne als bedingt gegeben, folglich usw.“12 Aber die kausale Reihe der Ursachen einer Erscheinung führt nicht auf eine erste Ursache, sondern nur auf die vorangegangene Ursache, die wiederum durch die vorangegangene bedingt ist usw. – kurzum führt die kausale Reihe der Ursachen einer Erscheinung auf einen unendlichen Regreß, so daß die Bedingung der Vollständigkeit nicht durch den Verstand erfüllt werden kann, sondern analog zum Ding an sich eines Vernunftschlusses bedarf, durch den der unendliche Regreß abgebrochen und ein Anfang der Reihe als notwendige Bedingung der Einheit des Erfahrungsganzen erschlossen wird. Dieser Anfang liegt außerhalb der Zeitreihe und hat seinen logischen Grund in der transzendentalen Freiheit, dem Vermögen, „einen Zustand von selbst anzufangen, deren Kausalität also nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmte“13. Über die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung in 11 12 13

Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft. B XXXV ff. Vgl. auch die Ausführungen zum transzendentalen Ideal, insbesondere ebd., B 605–611. Außerdem S. 60 dieser Arbeit. Ebd., A 497. Ebd., A 533.

Systemprogramm und die Arbeit des Begriffs

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der Zeit wird so ein Vermögen erschlossen, das nur durch die Negation der Zeitreihe gedacht werden kann. Aber auch die Bestimmung der Freiheit gerät gegen die Intention Kants in einen Widerspruch zu ihrer Funktion, denn abgesehen davon, daß die Vernunftforderung nach der ersten Ursache einer Erscheinung die Forderung nach der Vollständigkeit einer Zeitreihe ist, muß der spekulative Schluß, in dem die Negation der Zeitreihe auf den Begriff ihrer ersten Ursache führt, der Form des inneren Sinnes genügen, und kann deshalb selbst nur in der Zeit gedacht werden, so daß die spezifische Differenz von zeitlichen und nichtzeitlichen Ursachen der Erscheinung nicht streng durchzuhalten ist. Gleiches gilt damit auch für die Unterscheidung von regulativen und konstitutiven Begriffen. Die Einheit des Gegenstandes, wie sie durch das Vernunftprinzip gefordert ist, erweist sich als unabdingbar für dessen Erkenntnis und müßte demnach konstitutiv sein, liegt aber als regulatives Prinzip jenseits des Gegenstandes, dessen Einheit sie begründen soll. Im Gegensatz zum Ding an sich, das das andere des Denkens repräsentiert, ohne von jenem unterscheidbar zu sein, zerfällt der Erkenntnisgegenstand bei dem Versuch, seine Einheit zu begründen, in die Momente der objektiven Konstitution und der subjektiven logischen Ordnung. Damit argumentiert Kant, der die Trennung der Naturbegriffe vom Freiheitsbegriff vehement verteidigt, wider die bessere Einsicht, daß diese Begriffe auch notwendig aufeinander verwiesen sind. Er selbst erschließt den Begriff des Dings an sich und mit ihm die spezifische Differenz von Objektivität und Subjektivität aus dem Nachweis der Unzulänglichkeit der subjektiven Bestimmungen des Objekts, also über die Negation der Einheit der Subjektivität. Umgekehrt wird der Begriff der Kausalität aus Freiheit und damit die Bedingung der Einheit beider Relata aus dem Nachweis der Unzulänglichkeit des Naturbegriffs erschlossen. Die Einheit ist also nicht ohne Differenz zu haben, sowenig wie die Differenz ohne Einheit zu denken ist. Tatsächlich wird auf diese Weise eine Differenz von Subjektivität und Objektivität gesetzt, aber im Unterschied zu der Differenz von Ding an sich und Objekt beinhaltet sie keine Hypostasierung regulativer Begriffe, sondern folgt aus einer Negation, die dem Denken immanent bleibt. Beide Begriffe sind deshalb nur über die Negation ihres jeweils anderen zu bestimmen. Darin liegt der Ausgangspunkt der Überlegungen Hegels.14 Danach läßt sich die absolute Unterscheidung von regulativen und konstitutiven Prinzipien überwinden, wenn gezeigt werden kann, daß den Objekten die Prinzipien ihrer Erkennbarkeit nicht jenseitig, sondern immanent sind. Dazu bedarf es zunächst des Nachweises, daß die Selbständigkeit des unmittelbaren Objekts Schein ist, dessen wahrer Begriff bei Kant zwar angelegt, aber nicht durchgeführt worden ist. Die Begründung dafür ist zunächst stichhaltig: Die Konstellation von Natur- und Freiheitsbegriffen hat 14

Vgl. auch Herbert Schnädelbach: „Man kann Hegels WL als die spekulative Wiederholung der Kantischen ‚Transzendentalen Logik‘ verstehen, wobei wieder die Beseitigung des Dinges an sich alle wesentlichen Transformationen erklärt. Ist der Gegensatz von Bewußtsein und Gegenstand, Subjektivität und Objektivität, Denken und Anschauung spekulativ überbrückt, besteht kein Grund mehr, noch zwischen Transzendentaler Logik und Metaphysik zu unterscheiden, denn die angeblich bloß subjektiven Bestimmungen des Denkens sind dann ja zugleich als die Gedanken erweisbar, ‚welche dafür galten, die Wesenheiten der Dinge auszudrucken.‘“ Herbert Schnädelbach. Hegel zur Einführung. Hamburg, 2001, 91 f.

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ihren Ort im Denken. Beide können durch die ihnen korrespondierenden Gegenstandsbereiche – die Naturwissenschaft und das ethische Gemeinwesen – sicher unterschieden werden, weil beide Gegenstände durch ihre jeweiligen Existenzgründe unterschieden sind. Die Naturwissenschaften korrespondieren als Gegenstandsbereich dem Naturbegriff Kants, weil sie das, was Natur empirisch ist, in notwendig allgemeinen Urteilen beschreiben. Diese Urteile haben deshalb nicht, wie bei Kant, erkenntnistheoretische Gehalte, sondern es sind Urteile über bestimmte Naturzusammenhänge. Das ethische Gemeinwesen ist Kants Versuch, den kategorischen Imperativ als Ausdruck der Freiheit praktisch umzusetzen und kann insofern als der dem Freiheitsbegriff korrespondierende Gegenstandsbereich bezeichnet werden. Während die Begriffe geistige Produktionen vernunftbegabter Subjekte sind, können die Gegenstände dieser Begriffe nicht nur subjektive Produktionen sein. Sie bedürfen einer sachlichen Grundlage. Z. B. existiert das Salz, weil es das Produkt einer Säure-Base-Reaktion ist, oder der bestimmte Mensch existiert durch seine Eltern. Allerdings kann auf diese Weise immer nur der Existenzgrund eines bestimmten Objekts angegeben werden, aber niemals der Existenzgrund von Natur überhaupt. Allerdings gelingt es – wie an Kant gezeigt – seit der Säkularisierung des Denkens und damit der Kritik eines absoluten göttlichen Grundes nicht mehr, den außersubjektiven Existenzgrund der Gegenstände positiv zu fassen, weil er nur durch die Erfahrung des Subjekts hindurch erschlossen werden kann. Der Versuch, die Differenz von Natur und Freiheit zu begründen, fällt deshalb mit dem Subjekt, das diese Differenz denkt, auch in Eins, während der Existenzgrund als dem Denken absolut Jenseitiger nicht bestimmbar, also für das Denken so gut wie nichts ist. Aus diesem Problem der Begründung einer vom Subjekt unabhängigen Objektivität zieht Hegel die Konsequenz, daß das selbständige Objekt mit seinem Begriff kommensurabel und dadurch prinzipiell dem Systemanspruch des Denkens subsumierbar ist.15 Die aus der Subsumtion des Objekts unter das Denken resultierende Einheit des Begriffs gilt überzeitlich und überräumlich, während der zu subsumierende Gegenstand zunächst erscheint, also in Raum und Zeit angeschaut wird, so daß seine Übereinstimmung mit der Einheit des Denkens erst herzustellen ist. Die Einheit von Begriff und Gegenstand ist wahr und muß von je her gedacht werden können, aber daß dem so ist, muß geistesgeschichtlich erst zu Bewußtsein gebracht werden, so daß die jeweils vorherrschenden Erscheinungsweisen des Bewußtseins ein Moment von Vorläufigkeit an sich haben, noch nicht wahr, sondern lediglich gewiß sind. Die Differenz von Wahrheit und Gewißheit bzw. unmittelbarem Wissen und sinnlicher Gewißheit widerspricht dem Begriff der geforderten Einheit, so daß die Aufgabe gestellt ist, diese Einheit zu begründen. Eben dieses Programm beansprucht Hegel für die Phänomenologie des Geistes.16 Die 15

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Vgl.: „Der Gegenstand, wie er ohne das Denken und den Begriff ist, ist eine Vorstellung oder auch ein Nahmen; die Denk- und Begriffsbestimmungen sind es, in denen er ist, was er ist.“ Georg W. F. Hegel. Hauptwerke Bd. 4 (Wissenschaft der Logik; Bd. 2. Die subjektive Logik oder die Lehre vom Begriff). Darmstadt, 1999, 244 (im folgenden Lehre vom Begriff). Hegels Einordnung der Phänomenologie des Geistes in sein wissenschaftliches Programm ist uneindeutig. Sie sollte einerseits die Einleitung in die Philosophie und damit in das System der Wis-

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erste Gestalt des Gegenstandes, die sich dem Bewußtsein darbietet, ist deshalb nicht die Einheit des Denkens mit seinem Gegenstand, sondern die unmittelbare, sinnlich gewisse Erscheinung, so daß das Verhältnis von Begriff und Gegenstand zunächst als das differente Verhältnis des unmittelbaren Wissens zum Wissen des Unmittelbaren erscheint. „Das Wissen, welches zuerst oder unmittelbar unser Gegenstand ist, kann kein anderes seyn als dasjenige, welches selbst unmittelbares Wissen, Wissen des Unmittelbaren oder Seyenden ist. Wir haben uns ebenso unmittelbar oder aufnehmend zu verhalten, also nichts an ihm, wie es sich darbietet, zu verändern und von dem Auffassen das Begreiffen abzuhalten.“17

Die Gestalten des unmittelbaren Wissens liegen zunächst unsystematisch und zufällig vor und ihre chronologische Abfolge verläuft progressiv wie regressiv ins Unbestimmte. Damit aus den Erfahrungen des Bewußtseins dennoch eine Einheit aller Vorstellungen mit dem Begriff resultieren kann, ist unterstellt, daß die Vorstellungen oder zumindest deren kategoriale Form historisch vollständig vorliegen und zwar mindestens zur Gegenwart Hegels. Hegel stand unter dem Eindruck der Französischen Revolution, welche er als diejenige Revolution begriff, die die Vernunft als Bestimmungsgrund der Wirk-

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senschaften darstellen, andererseits erhält sie im Spätwerk Hegels, der Enzyklopädie (ab 1816) eine integrierte Stellung. Sie erscheint dort nicht mehr in der Funktion, die historischen Gestalten des erscheinenden Wissens für das System des Wissens aufzubereiten und das System dadurch vorzubereiten, sondern vielmehr als Durchführung des subjektiven Geistes. Je nachdem, aus welcher werkgeschichtlichen Perspektive die Forschung die Stellung der Phänomenologie betrachtet, ergeben sich unterschiedliche Interpretationen. „Das wichtigste Ergebnis dieses Systemumbaus ist, daß die PhG ihren Status als erster, einleitender Systemteil verliert; für die geplante Neuauflage der PhG kündigt Hegel selbst in seinem letzten Lebensjahr die Streichung des ursprünglichen Untertitels ‚System der Wissenschaft, Erster Theil‘ an. Da aber von ihm sonst keine wesentlichen Veränderungen des Textes geplant waren, hat er uns die Stellung der PhG im Gesamtsystem als bis heute ungeklärtes Problem hinterlassen.“ Herbert Schnädelbach. Hegel zur Einführung, 78 f. Ähnlich Walter Jaeschke „Für Hegel selber wie auch für die gegenwärtige Forschung bildet die Phänomenologie hingegen die Frucht der Systementwicklung der Jenaer Jahre. Dennoch hat sie eine eigentümliche Stellung in der Entwicklungsgeschichte der Hegelschen Philosophie überhaupt: Sie ist gleichsam ein ‚erratischer Block‘, der sich nicht als Moment in die lineare Systementwicklung integrieren läßt. Man kann die Entwicklung des Hegelschen Denkens – der Logik wie auch der Natur- und Geistesphilosophie – im Übergang von Jena nach Bamberg und Nürnberg rekonstruieren, ohne die Phänomenologie auch nur zu erwähnen. Doch dies macht sie keineswegs überflüssig; es unterstreicht vielmehr ihre Eigenständigkeit und ihren außergewöhnlichen Rang.“ Walter Jaeschke. Hegel-Handbuch, 175. Im Zusammenhang mit dem Problem des Verhältnisses von Arbeit und Selbstbestimmung wird das Verhältnis von Phänomenologie und Logik durch die Frage bestimmt: Womit muss der Anfang in der Wissenschaft gemacht werden? Hegel selbst beantwortet diese Frage mit der Erklärung, daß die Wissenschaft der Logik der logische Anfang des Systems ist und die Phänomenologie die Vermittlung dieses Anfangs, womit die Frage nach dem Anfang eine widersprüchliche Antwort erhält, da es zwei Anfänge gibt. Indem aber Hegel den Anfang in der Zeit mehr und mehr dem Absolutheitsanspruch des Systems unterordnet, verliert der Weg des Wissens an Bedeutung. In dieser Argumentation mit der Logik zu beginnen folgt dem Plan, den Absolutheitsanspruch Hegels, der in seinem Spätwerk auf den Begriff gebracht ist, Schritt für Schritt als bedingt zu erweisen, so durch die Vermittlung der Phänomenologie und die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Selbstbestimmung wirklich sein soll. Es wird so darauf hingewiesen, dass der Widerspruch nicht nur idealistisch zu lösen ist. Vgl. auch Hans-Georg Bensch. Perspektiven des Bewußtseins: Hegels Anfang der Phänomenologie des Geistes. Würzburg, 2005, 84 ff. Zu den rezeptions- und werkgeschichtlichen Problemen vgl. ebenfalls W. Jaeschke. Hegel-Handbuch. Otto Pöggeler (Hg.) Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. Freiburg [u. a.], 1973, 223. Hegel. Hauptwerke Bd. 2 (Phänomenologie des Geistes). Darmstadt, 1999, 63 (im folgenden Phänomenologie des Geistes).

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lichkeit in die Welt gesetzt habe.18 „Es ist übrigens nicht schwer, zu sehen, daß unsre Zeit eine Zeit der Geburt und des Uebergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseyns und Vorstellens gebrochen, und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zu versenken, und in der Arbeit seiner Umgestaltung.“19 Geistesgeschichte wäre mit der Französischen Revolution somit zumindest begrifflich an ihr Ende gelangt und die geschichtlichen Vorstellungen eigentlich ungeschichtlich. Die Vorstellungen können so in deren Begriff, den Begriff des absoluten Wissens und den Anfang der Wissenschaft der Logik transformiert werden. „Die Logik ist die reine Wissenschaft, d. i. das reine Wissen in dem ganzen Umfange seiner Entwicklung. Diese Idee aber hat sich in jenem Resultate [der Phänomenologie des Geistes, M. B.] dahin bestimmt, die zur Wahrheit gewordene Gewißheit zu seyn, die Gewißheit, die nach der einen Seite dem Gegenstande nicht mehr gegenüber ist, sondern ihn innerlich gemacht hat, ihn als sich selbst weiß, – und die auf der andern Seite das Wissen von sich als von einem, das dem Gegenständlichen gegenüber und nur dessen Vernichtung sey, aufgegeben, dieser Subjectivität entäußert und Einheit mit seiner Entäußerung ist.“20

Das Gelingen dieses Programms ist durch eine Einschränkung des Gegenstandsbereichs der Phänomenologie bedingt, die zugleich als Konsequenz aus den Problemen der Relation von Natur- und Freiheitsbegriffen in der philosophischen Tradition, z. B. Kants begründet wird: Der Gegenstandsbereich sowohl der phänomenologischen als auch der logischen Wissenschaft wird explizit als der der Reflexion vorgebildet: „Untersuchen wir nun die Wahrheit des Wissens, so scheint es, wir untersuchen, was es a n s i c h ist. Allein in dieser Untersuchung ist es u n s e r Gegenstand, es ist fü r u n s ; und das a n s i c h desselben, welches sich ergäbe, wäre so vielmehr sein S e yn fü r u n s ; was wir als sein Wesen behaupten würden, vielmehr nicht seine Wahrheit, sondern nur unser Wissen von ihm. Das Wesen oder der Maßstab fiele in uns, und dasjenige, was mit ihm verglichen, und über welches durch diese Vergleichung entschieden werden sollte, hätte ihn nicht nothwendig anzuerkennen. Aber die Natur des Gegenstandes, den wir untersuchen, überhebt dieser Trennung oder dieses Scheins von Trennung und Voraussetzung. Das Bewußtseyn gibt seinen Maßstab an ihm selbst, und die Untersuchung wird dadurch eine Vergleichung seiner mit sich selbst seyn; denn die Unterscheidung, welche so eben gemacht worden ist, fällt in es.“21

Untersucht wird also nicht, was die Gegenstände an sich sind – dann wäre die Phänomenologie Wissenschaft von der Natur, der Kunst, der Geschichte usw., sondern unter18

19 20 21

Vgl. Joachim Ritter: „Der jugendliche Enthusiasmus für die Revolution, der bei Hegel am Anfang des philosophischen Weges steht, geht in seine Philosophie selbst ein und wirkt in ihrer ausgereiften Gestalt lebendig fort. Seine Philosophie bleibt in dem genauen Sinn Philosophie der Revolution, daß sie von ihr ausgeht und bis zuletzt aus ihr lebt. Es gibt nichts in Hegels geistiger Entwicklung, was sie mehr kennzeichnet als dieses positive Verhältnis zur Revolution; es bestimmt ihr Ende wie ihren Anfang.“ Hegel und die französische Revolution. Köln, 1957, 28. „Daß sich Hegel am Ende seines Lebens dieses Stehens an einer Linie bewußt wurde und schon über sie hinweg in die Zukunft blickte, die ihm nun nicht mehr die ‚Morgenröte einer schönen Zeit‘ war, sondern die von der Geschichte in Frage gestellte Stellung der Philosophie enthüllte, wissen wir aus der eigentümlichen Altersresignation seiner letzten Berliner Jahre.“ Manfred Riedel. Theorie und Praxis im Denken Hegels, 214. Hegel. Phänomenologie des Geistes, 14. Hegel. Lehre vom Sein und vom Wesen, 55. Hegel. Phänomenologie des Geistes, 58 f.

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sucht wird das Wissen von den Gegenständen als Wissen. Dadurch werden die Relata als prinzipiell gleichwertige, nämlich als Vorstellungen des Bewußtseins behandelt. Zugleich werden die Differenzen von Wissen und Gegenstand in der Phänomenologie mit den verhandelten Bewußtseinsgestalten zitiert, um schließlich im absoluten Wissen, dem Resultat der Phänomenologie, aufgehoben zu werden. In der Logik wird das absolute Wissen dann in den Begriff des reinen Seins überführt, in dem von den Differenzen ebenso abstrahiert wird, wie vom Prozeß der Vermittlung von Wissen und Gewußtem. In der Logik werden die Differenzen durch die Reflexion dann aus dem Denken gesetzt. So werden die Differenzen in der Phänomenologie als vorgefundene organisiert, während sie in der Logik durch die absolute Produktivität des Begriffs entwickelt werden sollen. Beide Bewegungen sind notwendig aufeinander verwiesen, weil einerseits durch die Phänomenologie das Verhältnis des zeitlichen Anfangs im unmittelbaren Wissen zum logischen Anfang im reinen Sein vermittelt wird und damit der Anfang in der Wissenschaft der Logik erst eine Begründung erfährt. Zum anderen resultiert aus dieser Vermittlung ein Begriff, der seine Voraussetzungen so gründlich eingeholt hat, daß er sie auch wieder aus sich hervorbringen muß, wenn er nicht leer sein soll. D. h. aber auch, daß die Differenz von Denken und Gegenstand in der Genesis des Anfangs reiner Wissenschaft konstitutiv bleibt, so daß der Hiatus von Naturbegriffen und Freiheit, der sich bei Kant als unüberwindbar erwiesen hatte, erneut aufzubrechen droht. Absoluter Grund und gemeinsamer Ursprung der reinen Wissenschaft kann der Anfang der Logik deshalb nur sein, wenn er seines voraussetzungsvollen Ballastes entledigt wird: „Hier ist das Seyn das Anfangende, als durch Vermittlung und zwar durch sie, welche zugleich Aufheben ihrer selbst ist, entstanden, dargestellt; mit der Voraussetzung des reinen Wissens als Resultats des endlichen Wissens, des Bewußtseyns. Soll aber keine Voraussetzung gemacht, der Anfang selbst u n mi t t e l b a r genommen werden, so bestimmt er sich nur dadurch, daß es der Anfang der Logik, des Denkens für sich, seyn soll. Nur der Entschluß, den man auch für eine Willkühr ansehen kann, nemlich daß man das D e n ke n a l s s o l c h e s betrachten wolle, ist vorhanden. So muß der Anfang a b s o l u t e r oder was hier gleichbedeutend ist, abstracter Anfang seyn; er darf so n i c h t s v o r a u s s e t z e n , muß durch nichts vermittelt seyn, noch einen Grund haben; er soll vielmehr selbst Grund der ganzen Wissenschaft seyn. Er muß daher schlechthin ein Unmittelbares seyn, oder vielmehr nur das U n mi t t e l b a r e selbst.“22

Hegel beansprucht die absolute Produktivität des Systems für die Logik nachzuweisen und damit den vor Erschaffung der Welt, selbständig gegen Subjekte und Natur gegebenen Logos. Das Programm der Lehre vom Sein ist durch den Nachweis bestimmt, daß die das Sein charakterisierenden Bestimmungen der Qualität, Quantität und des Maßes zwar nicht reflektierend, aber an sich reflexiv verfaßt sind und sich der Reflexion damit schon als ihr adäquater Erkenntnisgegenstand darbieten. Das reine Sein am Anfang der Logik ist der Begriff der Einheit von Sein und Reflexion, die von ihrer Begründung im endlichen Wissen der Phänomenologie abgetrennt und auf diese Weise selbst reflexionswie bestimmungslos ist. „Das Seyn ist das unbestimmte Unmittelbare; es ist frey von der Bestimmtheit gegen das Wesen, sowie noch von jeder, die es innerhalb seiner selbst 22

Hegel. Lehre vom Sein und vom Wesen, 56.

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erhalten kann. Diß reflexionslose Seyn, ist das Seyn, wie es unmittelbar nur an ihm selber ist.“23 Aus dem Widerspruch im Sein, so gut wie nichts zu sein, erschließt sich das Argumentationsziel der Logik, nämlich dem Sein eine Bestimmung zu verschaffen. Das Prinzip dieser Bestimmung ist der Widerspruch selbst, sofern er in der dialektischen Bewegung der Negation der Negation vermittelt wird: Sein ohne weitere Bestimmung ist so gut wie Nichts – das ist die erste Negation –, aber beide sind ohne Angabe eines bestimmten Unterschiedes vielmehr auch dasselbe – das ist die Negation der ersten Negation. Gemäß Hegel ist das Resultat dieser doppelten Negation nicht Nichts, sondern Dasein, in dem Sein und Nichts als differente Momente aufgehoben sind. Zugleich bleibt aber dieses positive Resultat ungenügend, denn nach wie vor kann die Differenz beider Momente nicht bestimmt werden, sondern erweist sich vielmehr als eine logische Prämisse, die notwendig ist, um die Bewegung fortsetzen zu können. Dieser kalkulierte Mangel an Bestimmung ist das movens der gesamten Logik, so daß die Bewegung vermittelt über die Stufen der Qualität, Quantität und des Maßes implizit dem Zweck folgt, das Sein zu bestimmen. Behauptet wird damit, daß die Bewegung aus eigener Kraft im Wesen mündet und darin mit dem logisch antizipierten Ziel ihrer Entwicklung zusammengeht. Tatsächlich bleibt aber die widersprüchliche Einheit von Sein und Nichts der Sache nach auch gleichgültig dagegen, ob sie ist oder nicht, und vor allem auch dagegen, ob der Widerspruch gelöst wird oder nicht. Damit erweist sich der Übergang des Seins ins Dasein als ein Problem, das Hegel nur als unwesentlich verstanden wissen will: „Daß das Ganze, die Einheit des Seyns und des Nichts, in der einseitigen Bestimmtheit des Seyns sey, ist eine äusserliche Reflexion; in der Negation aber, im Etwas und Andern u. s. f. wird sie dazu kommen, als gese tz te zu seyn.“24 Er selbst merkt also an, daß die Bewegung nicht rein aus dem Begriff der Einheit von Sein und Nichts folgt, sondern im Hinblick auf das Argumentationsziel der Lehre vom Sein begründet ist. Es stellt allerdings ein Problem dar, die Bestimmung des rein logisch antizipierten Argumentationsziels vor seiner Entfaltung in der Logik anzugeben. Angegeben werden muß es aber, wenn davon der Fortschritt der Bewegung abhängt. Dieses Dilemma könnte nur umgangen werden, wenn das Argumentationsziel gegen das Postulat der Voraussetzungslosigkeit des Anfangs der Wissenschaft der Logik zugleich durch die Erinnerung an die im absoluten Wissen aufgehobenen endlichen Gestalten des Wissens der Phänomenologie des Geistes bestimmt wird. Das Argumentationsziel kann deshalb nicht allein progressiv, sondern muß auch regressiv aus der Erinnerung bestimmt werden. Die Erfahrung der Einheit der progressiven und der regressiven Zeitreihe ist dem Begriff aber äußerlich, denn in ihm vergeht das Sein nur zeitlos.25 Mit der Antizipation eines Zwecks, der nicht rein logisch, sondern auch zeitlich bestimmt ist, müßte ein Moment von Spontaneität zugestanden werden, das darin liegt, durch eine Begründung die Zeitreihe mit den logischen Bedingungen verknüpfen zu 23 24 25

Hegel. Lehre vom Sein und vom Wesen, 68. Ebd., 97. Ebd., #241. „[D]enn das Wesen ist das vergangene, aber zeitlos vergangene Seyn.“

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können. Spontaneität ist das Vermögen von Subjekten, die als vernunftbegabte Sinnenwesen beides in sich vereinigen. Deshalb entspricht die Ablösung der Unmittelbarkeit von der Vermittlung im Übergang der Phänomenologie zur Logik in einer Hinsicht dem asymmetrischen Verhältnis zwischen dem Geltungsbereich von wissenschaftlichen Urteilen, die, einmal erschlossen, notwendig allgemein und damit unabhängig von den Bedingungen in Raum und Zeit gelten, und dem Prozeß ihrer Erforschung, der an subjektive, historische und gesellschaftliche Bedingungen geknüpft ist, aber im wissenschaftlichen Resultat erlischt.26 Damit ist der Widerspruch und dessen Vermittlung nur denkbar, insofern er in das Bewußtsein eines Subjekts fällt, das das Ziel der logischen Bewegung klar vor Augen hat und zugleich erinnert, antizipiert und synthetisiert, weil der Widerspruch andernfalls so statisch wie folgenlos bliebe. Dagegen beansprucht Hegel im Resultat der Logik die Spontaneität zugleich dem systematischen Anspruch zu subsumieren, indem der Gegenstand der Reflexion – das Sein – und die ihrem Inhalt habhaft gewordene Reflexion in einer absoluten Einheit zusammengeführt werden. Obgleich das der Sache nach bereits im Übergang vom Sein zum Wesen unterstellt ist, wird die Funktion der Spontaneität erst im Übergang der Lehre vom Wesen zur Lehre vom Begriff explizit mit dem Freiheitsbegriff erwiesen.27 Danach steht die Reflexion der Sphäre ihrer existierenden Voraussetzungen, die sich auf der Stufe der Wirklichkeit als Notwendigkeit darstellen, nicht wie bei Kant abstrakt gegenüber, so daß die Freiheit sich im Grunde nur durch den Verzicht auf ihre Objektivierung erhalten kann, sondern geht in den Bedingungen nur mit sich selbst zusammen, so daß daraus ein vermittelter Freiheitsbegriff resultiert, der frei gegen seine Bedingungen – Subjekt wie Natur – ist, weil diese in ihm aufgehoben worden sind.28 Durch diese Vereinnahmung werden das Subjekt und sein Vermögen, die Spontaneität, in ihrem Gehalt beschädigt, weil sie – wesentlich Nichtfunktionen – in beiden Fällen zur notwendigen Funktion degradiert werden. Einzig im Scheitern Kants, die Freiheit auf die Naturbegriffe zurückzubeziehen, drückt sich das Wesen der Spontaneität aus: Sie ist nur in der Negation des Seienden wirklich. 26

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28

Vgl. auch Peter Bulthaup. „Arbeit und Wissenschaft.” 46. „Das artistische Verhältnis zum Gegenstand ist das Wesen der experimentellen Arbeit, aber es ist es nur als in deren Ziel, der normativen Methode, verschwindendes Wesen. Im Resultat ist der Prozeß, der zu ihm führte, nicht aufgehoben, sondern ohne Rest verschwunden, in genauer Analogie zur Mathematik, deren Ergebnisse, sind sie einmal bewiesen, von da an in alle Ewigkeit gelten, als seien es platonische Ideen, so daß mit ihnen operiert werden kann, ohne daß derjenige, der mit ihnen operiert, sich der Geltung der Ergebnisse dadurch versichern müßte, daß er selber sie von neuem beweist.“ Vgl. Hegel: „Die Nothwendigkeit wird nicht dadurch zur F r e y h e i t , daß sie verschwindet, sondern daß nur ihre noch i n n e r e Identität m a n i f e s t i r t wird, – eine Manifestation, welche die identische Bewegung des Unterschiedenen in sich selbst, die Reflexion des Scheins als Scheins in sich ist.“ (Lehre vom Begriff, 408 f.) Und: „Dies ist die Verklärung der Notwendigkeit zur Freiheit, und diese Freiheit ist nicht bloß die Freiheit der abstrakten Negation, sondern vielmehr konkrete und positive Freiheit.“ (Enzyklopädie Bd. 1, 303 Zusatz.) Diese Formulierung, wonach die Freiheit der Reflexion eine Verklärung darstelle, ist unfreiwillig verräterisch. Verklärt wird die Tatsache, daß die abstrakt negierende Freiheit in der Gegenwart die einzig praktizierbare ist, solange die Gegenwart nicht vernünftig organisiert ist. Um sie als positive Freiheit in die Existenz treten zu lassen, mangelt es an der Vollständigkeit ihrer Bedingungen, was noch darzustellen ist. „Der Begriff zeigt sich obenhin betrachtet, als die Einheit des S e yn s und We s e n s .“ Hegel. Lehre vom Begriff, 29.

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Hegel sieht sich, bereits vor der eigentlich logischen Entwicklung, im Anfang der Wissenschaften genötigt, von den endlichen Subjekten und der Geschichte ihres Wissens zu abstrahieren, weil sie nicht nur der Grund für den systematischen Anspruch, sondern auch für dessen Scheitern sind. Die Bedingung des Zusammenschlusses von Anfang und Ende, Sein und Wesen, Freiheit und Notwendigkeit ist, daß diese Begriffe nicht spezifisch, d. h. ihrem Existenzgrund nach, unterschieden sind, sondern als kommensurable Begriffe vorgebildet wurden. Insofern aber das logische System eine Bewegung begreift, durch die Gleiches mit Gleichem verbunden wird, nämlich Reflexionsbegriffe, droht ihm die Bestimmungslosigkeit. Soll die Entwicklung nicht „in ein ruhiges Resultat“29 zusammensinken, so ist sie überhaupt nur zwischen Ungleichen denkbar. Wenn aber Subjektivität und Objektivität prinzipiell unterschieden sind, dann ist ihre Übereinstimmung nicht nach einem methodisch geregelten Verfahren auf ewig herzustellen, sondern setzt immer auch ein artistisches Moment im denkenden und handelnden Subjekt voraus. Für das Vorhaben, ein geschlossenes und damit absolut unbedingtes System zu begründen, ist das aber fatal, weil es mit dem Subjekt auf ein Unabdingbares verwiesen ist. Durch die Verabsolutierung des logischen Anfangs kann deshalb nicht darüber hinweggetäuscht werden, daß es ohne die Subjekte, die denken, und die Geschichte, in der sie Wissen akkumuliert haben, kein Bewußtsein vom logischen Ursprung des Wissens gäbe. Subjekt und Geschichte sind deshalb keine hinreichenden, aber doch notwendige Bedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis. Dem entspricht, daß Hegel die Ablösung des Anfangs selbst als den „Entschluß, den man auch für eine Willkühr ansehen kann“, offenlegt, nämlich desjenigen Subjektes, das ihn aus den ungelösten Aporien der Geistesgeschichte rechtfertigt. Das Programm der Logik, die Entwicklung des Begriffs reiner Wissenschaft aus dem frei für sich seienden Denken, steht deshalb auch schief zu seiner Begründung: „Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reiches vollbringen. Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres freyen in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseyns, ist die Geschichte, nach der Seite ihrer begriffnen Organisation aber die Wissenschaft des erscheinenden Wissens; beyde zusammen, die begriffne Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewißheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wäre; nur – aus dem Kelche dieses Geisterreiches/ schäumt ihm seine Unendlichkeit.“30

Wenn der Widerspruch im Verhältnis von Denken und Objekt bei Kant nicht nur auf die inkonsequente Durchführung seines systematischen Anspruchs zurückzuführen ist, sondern selbst in seiner avancierteren Konstruktion, als Reflexionsbegriff und Moment des Systems Hegels, seine zentrifugalen Spuren hinterläßt, dann bleibt nur, ihn als Konstante von Inkonsistenzen des Denkens ernstzunehmen. Insofern sich objektive Widersprüche gegen die Theorie als Bruch im System behaupten, verweisen sie negativ auf die sie bedingende Synthesis – entweder progressiv als Aufgabe oder rekursiv zu ihrer Recht29 30

Hegel. Lehre vom Sein und vom Wesen, 93. Hegel. Phänomenologie des Geistes, 433 f.

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fertigung. Damit fallen aber gegen Hegels Programm die systematische Organisation der Wissenschaft und die geschichtliche Organisation des Reichs der Geister auseinander und der Begriff ist nicht nur als die Bedingung der Erkenntnis des Objektes anzusehen, sondern ebenso durch die Erkenntnis des Objektes bedingt. Die Arbeit der geschichtlichen Annäherung der Wirklichkeit an die Idee des realisierten Begriffs ist als Prozeß der theoretischen und tätigen Vermittlung für beide, System wie Geschichte, konstitutiv.31 Hegels Programm speist sich aus der Kritik der ungelösten Aporien seiner Vorgänger. Für diese Aporien läßt sich ein gemeinsames Ausgangsproblem formulieren: An jedes Argument muß der Maßstab der Widerspruchsfreiheit angelegt werden, wenn es wahr sein soll, und jede Argumentation muß vollständig sein. Mit diesen beiden Bedingungen wohnt der Philosophie eine Tendenz zum System inne, weil das Ganze philosophischer Erkenntnis nur im System widerspruchsfrei vermittelt sein kann. Es war Hegel, der diesen Anspruch am deutlichsten formuliert und vor allem auch durchgeführt hat. Vor diesem Hintergrund stellt sich deshalb der Systemanspruch Hegels als terminus ad quem nicht nur der Wissenschaft der Logik, sondern auch für die Phänomenologie des Geistes und die Grundlinien der Philosophie des Rechts dar. In der Interpretation Hegels in den folgenden Kapiteln wird der Systemanspruch zugrunde gelegt, um aufzuzeigen, an welchen Stellen das System fragil bleibt. Dieser Interpretationsanspruch ist aus der Argumentation Hegels selbst begründet und von dem Problem, wie das System Hegels werkgeschichtlich zu rekonstruieren ist, zu unterscheiden. Gleichzeitig ist aber bereits angedeutet worden, daß die Durchführung des Systemprogramms entscheidend durch das Dilemma bestimmt ist, einerseits die Unabhängigkeit des Begriffenen vom Unbegriffenen nachzuweisen, dieses Unbegriffene aber gleichzeitig den Inhalt, das zu Begreifende, darstellt und damit auch zitiert werden muß. Die Philosophie Hegels tendiert dazu, über die Gegenstände, die sie bestimmen will, und die Menschen, die sie bestimmen, hinwegzuschreiten – den Begriff als Selbstzweck und Menschen und Gegenstände als akzidentell zu betrachten. In den folgenden Kapiteln zur Interpretation des Teleologie- und Lebensbegriffs aus der Lehre vom Begriff soll zweierlei analysiert werden: Erstens soll die Argumentation Hegels nachvollzogen werden, denn eine Kritik an Hegel, die nicht hinter ihm zurück bleiben will, kann nur darin bestehen, „daß sein Standpunkt zuerst als wesentlich und 31

Aus der Perspektive der Marxschen Auseinandersetzung mit dem Arbeitsbegriff der Phänomenologie des Geistes bestimmt Andreas Arndt den Arbeitsbegriff als den Vermittlungsprozeß zwischen Materialismus und Idealismus: „Der Idealismus besteht darin, von den realen Voraussetzungen des ‚Setzens‘ zu abstrahieren, während der Materialismus vom Setzen abstrahiert und nur das Gesetztsein des Menschen durch die Gegenstände anerkennt. Dieser Materialismus ist derjenige, den Marx auch als ‚anschauenden‘ Materialismus bezeichnet und welchen Feuerbach überwunden habe. Beide, Idealismus und Materialismus, sind somit Abstraktionen von dem realen Prozeß der Vermittlung im menschlichen Naturverhältnis. Dieses ist Einheit von ‚Setzen‘ (Umformen) der bestimmten Gegenstände und deren Vorausgesetztseins; diese Einheit realisiert sich in der menschlichen Arbeit.“ Andreas Arndt. „ … wie halten wir es nun mit der hegel’schen Dialektik? – Marx’ Lektüre der Phänomenologie 1844.“ In Hegels „Phänomenologie des Geistes“ heute, hrsg. v. Andreas Arndt u. Ernst Müller. Berlin, 2004, 254 f.

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nothwendig anerkannt werde“32, um zweitens diesen Standpunkt dann daraufhin zu untersuchen, wie die verhandelten Gegenstände im Sinne des Argumentationsziels konstruiert und damit auch von ihrem originären, nicht-philosophischen Gehalt entfernt werden. Der logische Begriff ist nicht gegenstandslos, sondern hat sein Modell am Vermittlungsprozeß der Logik selbst. Dieses Modell bleibt darüber hinaus auf das Zitat von naturwissenschaftlichen und praktischen Voraussetzungen verwiesen, welche die Tendenz zum System zugleich unterlaufen. Die Gegenüberstellung des philosophischen Modells von Selbstbestimmung (des Begriffs) und der zitierten Praxis ist kein postmodernes Programm, welches den Wahrheitsbegriff auflösen wollte. Vielmehr soll durch diese Gegenüberstellung verdeutlicht werden, wo Begriff und Erfahrung nicht übereinstimmen; so kann entlang der Bruchkanten die Grenze philosophischer Reflexion markiert werden. Nur durch deren Überschreiten ist an den historisch-kritischen Grund des Scheiterns der Selbstbestimmung zu rühren. Dieses Verfahren stützt sich also vielmehr auf den Wahrheitsbegriff und bewegt sich zwischen der Affirmation des Denkens und der Verweigerung positiver Konzepte.

2.2 Objektiver Begriff und begriffene Objektivität „Die Hegelsche Logik ist der Klassenkampf Gottes mit sich selbst.“33

Das, was Hegel als die Begriffe der Subjektivität und Objektivität ausweist, unterscheidet sich wesentlich von dem, was in der kanonischen Tradition darunter verstanden wurde. Ohne allzusehr ins Detail gehen zu können, ist es nötig, den Hegelschen Begriff im Rahmen seiner eigenen Aussagen gegen überkommene Vorstellungen abzugrenzen und an den einschlägigen Bestimmungen des Mechanismus und des Chemismus zu skizzieren, wie Hegel jeweils mit den Objekten und Subjekten verfährt. Die Teleologie ist die unmittelbare Vorstufe der Idee, für die als terminus ad quem der Wissenschaft der Logik die Einheit von Subjektivität und Objektivität begründet sein soll. Die Teleologie changiert deshalb als zweckmäßige Relation zwischen den beiden zu sich selbst gekommenen Sphären des Begriffs. Die Subjektivität ist der in den Begriffs-, Urteils- und Schlußformen entwickelte Begriff des reflektierenden Prinzips überhaupt und die Objektivität der im Mechanismus und Chemismus entwickelte Begriff des Gegenstandes der Reflexion. Dabei sind beide nicht mehr als zwei gegeneinander selbständige Gegenstandsbereiche aufeinander bezogen, deren Relation damit in der Terminologie Hegels endlich und unfrei wäre. Indem das Wesen aus dem zweiten Band der Wissenschaft der Logik in den Begriff des dritten Bandes übergeht, gehe vielmehr das Reich der Notwendigkeit in das 32 33

Hegel. Lehre vom Begriff, 15. Hans-Jürgen Krahl. „Bemerkungen zum Verhältnis von Kapital und Hegelscher Wesenslogik.“ In Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels, hrsg. v. Negt Oskar. Frankfurt a. M., 1971, 149.

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Reich der Freiheit über. Diese Freiheit resultiere aus der Erkenntnis, daß noch die Endlichkeit der Objektivität eine Funktion des Begriffs sei: „Die objective Logik, welche das Seyn und Wesen betrachtet, macht daher eigentlich die genetische Exposition des Begriffes aus. Näher ist die Substanz schon das reale Wesen, oder das Wesen, in so fern es mit dem Seyn vereinigt und in Wirklichkeit getreten ist. Der Begriff hat daher die Substanz zu seiner unmittelbaren Voraussetzung, sie ist das an sich, was er als manifestirtes ist. Die dialektische Bewegung der Substanz durch die Causalität und Wechselwirkung hindurch ist daher die unmittelbare Genesis des Begriffes, durch welche sein Werden dargestellt wird. Aber sein Werden hat, wie das Werden überall, die Bedeutung, daß es die Reflexion des Übergehenden in seinen Grund ist, und daß das zunächst anscheinend Andere, in welches das erstere übergegangen, dessen Wahrheit ausmacht. So ist der Begriff die Wahrheit der Substanz, und indem die bestimmte Verhältnißweise der Substanz die Nothwendigkeit ist, zeigt sich die Freyheit als die Wahrheit der Nothwendigkeit, und als die Verhältnißweise des Begriffs.“34

Hegel zufolge sind die endlichen Relationen mit dem Wesen überwunden worden, so daß einerseits die Subjektivität als schlechthin reflexives Prinzip bestimmt ist, während die Objektivität nicht mehr absolut von ihr unterschieden, sondern formal mit der Subjektivität übereinstimmt: Die Objektivität ist der Begriff der Totalität aller Einzelobjekte, die Subjektivität ist der diesen Begriff von Totalität umfassende und reflektierende Begriff. Diese ist für sich Totalität, jene an sich.35 Damit gibt es bei Hegel mehrere Totalitäten, was irritierend ist, weil der Begriff des Totalen den Plural logisch ausschließt. Als Totalitäten sind Objektivität und Subjektivität nicht unterschieden; das ermöglicht ihre Vermittlung.36 Während Kant von der Wirklichkeit einzelwissenschaftlicher Erkenntnis auf die Bedingung der Möglichkeit dieser Erkenntnis geschlossen hatte und damit von dem in der Anschauung vorliegenden Einzelobjekt auf dessen logische Voraussetzungen, erhebt Hegel den Anspruch, den Grund nicht des Einzelobjektes, sondern der Objektivität überhaupt aus dem Denken zu begründen. 37 Anders als Kant läßt Hegel damit der Objektivität nicht länger den Vorrang eines zeitlich ersten, rezipierten Gegenstandes zukommen, noch wird es als Einzelobjekt, Entität, Substanz etc. bestimmt. Hegel verweist die Objektivität statt dessen auf den Rang einer Reflexi-

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Hegel. Lehre vom Begriff, 12. Ebd. Vgl. ebd., 16. Vgl. auch Ludwig Siep: „So ist die Natur wirklich als zweckmäßige Wechselwirkung von Systemen bei der Selbstdifferenzierung und Selbstorganisation von Organismen des Mikro- und Makrokosmos. Die Gesamtbestimmung der Natur ist aber ihre Selbstreflexion und bewußte Reproduktion im Erkennen und Wollen. So könnte man ‚Wirklichkeit‘, wenn man den Hegelschen Begriff in nicht-Hegelschen Ausdrücken umreißen will, als das stufenweise Erreichen einer inneren Bestimmung durch Differenzierungen und Integration bezeichnen, die dem Ganzen und seinen Teilen durchsichtig wird. Höchste Form dieser Durchsichtigkeit ist das systematische Begreifen und kategoriale Rekonstruieren des Prozesses.“ Ludwig Siep. „Hegel über Moralität und Wirklichkeit. Prolegomena zu einer Auseinandersetzung zwischen Hegel und der Realismusdebatte der modernen Metaethik.“ Hrsg. v. Walter Jaeschke und Ludwig Siep. Hegel-Studien 42 (2007): 11–30, 21. Hegel. Lehre vom Sein und vom Wesen, 24.

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onsbestimmung, in der die Probleme der metaphysischen Tradition verhandelt werden: „Vors erste unterscheidet sich daher das Object nicht in Materie und Form, deren jene das selbständige Allgemeine des Objects, diese aber das Besondere und Einzelne seyn würde; ein solcher abstracter Unterschied von Einzelnheit und Allgemeinheit ist nach seinem Begriffe an ihm nicht vorhanden; wenn es als Materie betrachtet wird, so muß es als an sich selbst geformte Materie genommen werden. Eben so kann es als Ding mit Eigenschaften, als Ganzes aus Theilen bestehend, als Substanz mit Accidenzen und nach den andern Verhältnissen der Reflexion bestimmt werden; aber diese Verhältnisse sind überhaupt schon im Begriffe untergegangen; das Object hat daher nicht Eigenschaften noch Accidenzen, denn solche sind vom Dinge oder der Substanz trennbar; im Object ist aber die Besonderheit schlechthin in die Totalität reflektirt.“38

Die Seite der Gegenständlichkeit des Objekts, Materie, Substanz, Ding von vielen Eigenschaften zu sein, ist bereits in der Lehre vom Wesen mit dem Ergebnis abgehandelt worden, daß diese gegenüber dem Begriff Momente und daher unwesentlich sind, daß das Objekt bloße Erscheinung sei. Der Existenzgrund des Objekts ist außerhalb seiner Bestimmung durch den Begriff undenkbar; es ist vielmehr nur, sofern es bestimmt worden ist. Existenz- und Bestimmungsgrund des Objektes fallen somit in Eins – das Denken. 39 Was bleibt, ist der in seiner materiellen Selbständigkeit negierte und zugleich in der Totalität des Schlusses als Moment aufgehobene Erkenntnisgegenstand überhaupt, der ist, weil er gedacht wird. Die Selbständigkeit des Objekts wird deshalb hier nicht als manifeste sinnliche Erfahrung gefaßt, sondern nur noch als widersprüchliche Relation des Erkenntnisgegenstandes auf seinen Begriff: „Das Object ist daher der absolute Widerspruch der vollkommenen Selbständigkeit des Mannichfaltigen, und der eben so vollkommenen Unselbständigkeit derselben.“40 Sofern das Objekt bestimmt und damit von anderem unterschieden worden ist, wird es als Eins begreifbar und ist damit der Einheit des Begriffs subsumiert, also gegen diesen unselbständig, während es als unbestimmtes gerade keiner begrifflichen Einheit subsumiert ist und sich deshalb in der Diversität unbegriffener Mannigfaltigkeit verliert. Diese Mannigfaltigkeit ist das andere zur Einheit des Begriffs, so daß das Objekt in seiner Unmittelbarkeit ein Moment von Selbständigkeit gegen diesen bewahrt. Die Formierung der unbestimmten Mannigfaltigkeit zur Einheit des Begriffs der Objektivität ist Gegenstand des Mechanismuskapitels. Die Bestimmung des Einzelobjekts erfolgt dort durch die mechanische Abgrenzung gegen andere Einzelobjekte 38 39

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Hegel. Lehre vom Begriff, 134. Vgl. auch die Bestimmung zu Erscheinung und Ding an sich in der Lehre vom Wesen und der Erscheinung in der Phänomenologie: „Die Existenz hat in diesem Dinge ihre Vollständigkeit erreicht, nemlich in Einem an sich seyendes Seyn oder selbstständiges Bestehen, und unwesentliche Existenz zu seyn; die Wahrheit der Existenz ist daher, ihr Ansichseyn in der Unwesentlichkeit, oder ihr Bestehen in einem andern und zwar dem absolut andern, oder zu ihrer Grundlage ihre Nichtigkeit zu haben. Sie ist daher Erscheinung.“ Hegel. Lehre vom Sein und vom Wesen , 337. Und: „Es heißt darum E rs c h e i n u n g ¸ denn Schein nennen wir das S e yn , das unmittelbar an ihm selbst ein N i c h t s e y n ist. Es ist aber nicht nur ein Schein, sondern Erscheinung, ein Ga n z e s d e s S c h e i n s .“ Hegel. Phänomenologie des Geistes, 88. Hegel. Enzyklopädie, § 194.

Objektiver Begriff und begriffene Objektivität

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– in Anlehnung an die Vorstellung naturkausaler Wechselwirkung z. B. durch Druck oder Stoß. Die Bestimmung gegen anderes hat zunächst die Gestalt eines unendlichen Regresses: ‚Objekt A ist nicht Objekt B, nicht Objekt C usw.‘ Wenn aber angegeben werden soll, was das Objekt ist, dann muß seine Bestimmung auch vollständig sein, und die Abgrenzung des Einzelobjekts gegen unbestimmt viele andere erweist sich als ungenügend. Das Objekt muß vielmehr gegen die Totalität aller Einzelobjekte abgegrenzt werden, so daß analog der dritten Antinomie Kants vom unendlichen Regreß der Objekte auf die Vollständigkeit der Bestimmung geschlossen wird. Der Begriff des mechanischen Objekts ist damit der Begriff der Totalität seiner Bestimmungsmomente: „Das Product des formalen Mechanismus ist das Object überhaupt, eine gleichgültige Totalität, an welcher die Bestimmtheit als gesetzte ist.“ 41 Es ergibt sich aber das Problem, daß das mechanische Objekt als Einzelobjekt nicht intensional, also durch die immanente Bestimmtheit seiner Substanz ausgezeichnet wäre, sondern im Gegenteil ist es extensional durch die Totalität aller mechanischen Objekte bestimmt. Es ist eine materiell entkernte, begriffliche Hülle. In der chemischen Reaktion treten die mechanischen Objekte zueinander in eine Relation, in der ihre jeweilige Bestimmung als Einzelobjekt sich realisiert und bestätigt. Gleichzeitig müssen die zwei voneinander unterschiedenen Objekte eine Affinität zueinander haben, um miteinander reagieren zu können. Diese Affinität haben sie aber nicht als unterschiedene, sondern als gleichartige, also als durch den Begriff bestimmte, so daß sich in der chemischen Reaktion eines Objekts mit einem anderen der Begriff beider, durch die Totalität aller Bestimmungsmomente gesetzt zu sein, als deren Identität realisiert. Die extensionale Bestimmung der Objekte wird in ihre intensionale Bestimmung zurückübersetzt und die begriffliche Hülle so mit einer Substanz ausgestattet: durch die Totalität aller mechanischen Objekte bestimmt zu sein. Der Begriff ist ein ruhiges Resultat, ein Neutrum, weil der Widerspruch, aus dem die Kraft der Bewegung sich speiste, aufgehoben worden ist. Die Objektivität selbst wird durch diese Vermittlung zum Neutrum, das gegen das Prinzip seiner Bestimmung, den Widerspruch, auch gleichgültig ist. „Was das nähere Verhältnis betrifft, so ist das mechanische Object als unmittelbare Totalität gegen sein Bestimmtseyn, und damit dagegen, ein Bestimmendes zu seyn, gleichgültig.“ Das chemische Modell, welches dieser Argumentation zugrunde liegt, ist die SäureBase-Reaktion, in der die Vermengung einer sauren wäßrigen Lösung und einer alkalischen wäßrigen Lösung eine Neutralisationsreaktion provoziert. Das bedeutet aber nicht – wie Hegel meint –, daß aus der einzelnen chemischen Reaktion die Totalität des Gegenstandsbereichs der Chemie resultierte; vielmehr entstehen dort die Verbindungen Wasser und Salz.42 41 42

Hegel. Lehre vom Sein und vom Wesen, 218. Dem Problem des Verhältnisses von logischen Begriff und chemischem Modell widmen sich die Arbeiten von Ulrich Ruschig. Hegels Logik und die Chemie: fortlaufender Kommentar zum „realen Mass“. Bonn, 1997. Außerdem Peter Bulthaup. „Systematische Kategorien und historische Entwicklung einer Naturwissenschaft – dargestellt an der Chemie als Modell.“ In Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften, 59–75. Lüneburg, 1973. Der Chemismus wird

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Das bestimmende Prinzip der chemischen Reaktion, die im Begriff der Subjektivität zusammengefaßte dialektische Bewegung der Objektivität, tritt als Begriff von dieser zurück: Beide Begriffe sind als Totalität bestimmt, wobei die Objektivität dagegen, durch den Begriff bestimmt zu werden, gleichgültig bleibt. Die Objektivität ist der sich passiv verhaltende Begriff der Wirklichkeit, die Subjektivität hingegen ist das aktive Prinzip der Reflexion, das den Begriff der Wirklichkeit als Gegenstand der Reflexion in sich aufgehoben hat. Einerseits geht der Begriff der Subjektivität auf diese Weise aus der Sphäre der Objektivität als Begriff der Einheit von Subjektivität und Objektivität hervor, andererseits bleiben beide aber auch noch unvermittelt, weil die Objektivität gegen ihr Bestimmtsein durch den Begriff gleichgültig bleibt. Das Beispiel für diejenige Objektivität, die gegen ihr Bestimmtsein durch das Ganze nicht mehr gleichgültig ist, ist der Organismus. Die Teile des Organismus stellen Teilfunktionen in einem Gesamtzusammenhang dar. Wenn sie abgetrennt werden, verlieren sie diese Funktion und sterben ab. Die Subjektivität wird zum Zweck, sich in der Objektivität zu verwirklichen, um das Stadium der Gleichgültigkeit der Objektivität zu überwinden. Dieser Begriff von Objektivität hat eine philosophische Entsprechung im Begriff des transzendentalen Objekts der Kritik der reinen Vernunft und eine gegenständliche Entsprechung in den Naturwissenschaften, Physik und Chemie. Bei Kant wird das All der Realität als Bedingung der Möglichkeit der vollständigen Bestimmung einer Erscheinung erschlossen, so daß die Bestimmung auf der „Einschränkung dieses All der Realität [beruht, M. B.], indem Einiges derselben dem Dinge beigelegt, das übrige aber ausgeschlossen wird“.43 Die Hypostasierung dieses Begriffs von Realität in der Vorstellung Gottes, „als ein einiges, einfaches, allgenugsames, ewiges usw.“ Urwesen, ist nach Kant einerseits unzulässig. Weil aber andererseits die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt zugleich auch Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung seien, werde „die distributive Einheit des Erfahrungsgebrauchs des Verstandes in die kollektive Einheit eines Erfahrungsganzen“ verwandelt oder: Die kollektive Einheit des Erfahrungsganzen ist von dem Begriff der höchsten Realität gar nicht zu unterscheiden. Der Schluß auf die allumfassende Realität hat sein Vorbild im ontologischen Gottesbeweis des Anselm von Canterbury, wo er allerdings nicht der Begründung der Objektivität der Erfahrung dient, sondern eben dem Beweis der Existenz Gottes: Weil Gott das ist, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, muß sein Begriff immer zugleich mit der Existenz verbunden gedacht werden, denn sonst wäre dieser Gedanke größer als der Begriff Gottes ohne Existenz.44 In der cartesischen Variante können die vernunftbegabten Sinnenwesen die Vorstellungen des Vollkommenen nicht aus sich selbst haben, da sie als mangelhafte und endliche Wesen unvollkommen sind. Die

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darüber hinaus von Hegel nicht nur als Begriff naturwissenschaftlicher Prozesse verstanden, sondern ebenso als Begriff der Liebe etc. Vgl. Lehre vom Begriff, 148 f. Alle Zitate zum transzendentalen Ideal aus Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 605–611. Vgl. Anselm von Canterbury. Proslogion. Stuttgart/Bad Canstatt, 1962.

Objektiver Begriff und begriffene Objektivität

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Idee der Vollkommenheit muß ihnen deshalb von Gott gegeben sein, der deshalb existieren muß.45 Kant konstruierte hingegen mit dem transzendentalen Objekt den Begriff einer vollständigen Objektivität. Das Denken muß die Totalität der Natur wollen, weil diese nur dann den subjektiven Formen des Denkens, der Vernunftforderung nach Vollständigkeit und dem darin implizierten Systemanspruch, adäquat ist. Sowohl im ontologischen Gottesbeweis als auch in dessen säkularisierter Fassung bei Kant kann diese Entsprechung von Natur und Denken nur dadurch begründet werden, daß ihnen derselbe Ursprung in Gott zugesprochen wird. Hegel schließt nicht von der Existenz objektiver Erkenntnis auf deren Bedingungen, sondern versucht dieses Problem zu lösen, in dem er umgekehrt aus dem logischen Ursprung des Denkens das Verhältnis von Objektivität und Subjektivität entwickelt. 46 Dieser Ursprung liege im Begriff, der zwar seiner logischen Struktur nach dem Gottesbegriff entspricht, diesen aber zugleich säkularisiert, weil er nicht dem Nachweis der Existenz Gottes dient, sondern der Lösung der Probleme der Ontologie und Metaphysik. In der Naturwissenschaft sind das System und die Ordnung des Gegenstandsbereiches das Resultat der Forschung, durch die das untersuchte empirische Material nach Prinzipien geordnet wird, die notwendig und allgemein gelten. Im Periodensystem der Elemente ist es den Chemikern zu Beginn des 19. Jahrhunderts beispielsweise gelungen, bestimmte Verwandtschaften unter den bis dato bekannten chemischen Elementen aufzufinden, die es ermöglichten, die Elemente schematisch nach Gruppen und Affinitäten (zunächst hinsichtlich ihres Atomgewichts, erst später hinsichtlich der Kernladungszahl) geordnet darzustellen. Die Art der Darstellung der chemischen Elemente im Periodensystem ließ Rückschlüsse auf Lücken in der Darstellung und die Eigenschaften der so als fehlend erkannten Elemente zu. So schloß Mendelejew auf die Elemente Gallium, Scandium und Germanium, bevor diese chemisch nachgewiesen werden konnten. Dies ist ein Modell dafür, wie die Chemie als Gegenstandsbereich geschichtlich konstruiert wurde. Einmal erkannt, ist das Periodensystem die systematische Abbildung der chemischen Elemente auf ihren Gegenstandsbereich. Zugleich hat aber dieses System seinen Ursprung nicht ausschließlich im Denken – wie Hegel behauptet hatte – sondern auch in der zu erkennenden Materie und der Geschichte ihrer Erforschung, in der das Wissen über Generationen angehäuft wurde. Diese kollektive Erfahrung ist ein Konstituens der Chemie als Wissenschaft. Tatsächlich bleiben die chemischen Elemente selbst gegen diesen Prozeß gleichgültig.

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Vgl. René Descartes. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Hamburg 1994. Hegel selbst bringt den ontologischen Gottesbeweis mit seinem Objektivitätsbegriff in Verbindung: Lehre vom Begriff, 127 ff.

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Die Arbeit der Selbstbestimmung in der Logik

2.3 Teleologie Der Teleologie kommt nun in der Wissenschaft der Logik die prominente Stellung zu, die Relation der Sphären von Subjektivität und Objektivität, und damit die Idee als terminus ad quem der Logik, im Elemente des Gedankens vorzubereiten.47 Nur wenn Hegel der Nachweis gelingt, daß die Übereinstimmung von Reflexion und Gegenstand aus der Reflexion dialektisch hervorgebracht werden kann, kann das System des Geistes gedanklich abgeschlossen werden. Die Vollendung der Entwicklung des Gedankens in der Idee ist der Begriff der entwickelten Wahrheit, der, mit Kant gesprochen, theoretisch die Möglichkeit der Orientierung in der Welt eröffnet oder mit Hegel gesprochen, die logische Grundlage ist, auf der sich die vernünftige Konstitution der Wirklichkeit erweisen läßt. Als bloße Möglichkeit entbehrt der Begriff der Wahrheit aber auch der Wirklichkeit und muß sich diese deshalb erst verschaffen. „Dieses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist. Man kann sich deswegen ausdrücken, daß dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist.“48 Vor diesem Hintergrund, einerseits der Begriff der Einheit von Objektivität und Subjektivität zu sein, und andererseits die Forderung der Realisierung dieser Einheit zu enthalten, ist es verlockend, die entwickelte Idee auch als sittlichen Maßstab zur Gestaltung der Wirklichkeit zu betrachten. Mit den Stufen der Idee – dem Leben, dem Erkennen des Wahren und Guten und schließlich der absoluten Idee – ist eine Vorstellung von Totalität bezeichnet, die anders als politische Gemeinschaften nicht durch technisch-praktische Interessen korrumpiert ist, sondern einen überzeitlichen und allgemeingültigen Begriff von Selbstbestimmung konstituiert, dessen einziger Inhalt die Vermittlung von Natur, Individuum und Reflexion ist. Gleichzeitig ist diese Maßgabe bei Hegel nur um den Preis der Negation derjenigen Subjekte zu haben, die einzig der Selbstbestimmung fähig wären. „In der Begattung erstirbt die Unmittelbarkeit der lebendigen Individualität; der Tod dieses Lebens ist das Hervorgehen des Geistes.“49 In dieser widersprüchlichen Implikation der Idee tritt deren eigene Bedingt47

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Sich auf das System der Sittlichkeit beziehend, stellt Ivan Dubský die Thematik des Verhältnisses von Objektivität und Subjektivität in den Zusammenhang mit Kant, Fichte und Schelling. Er zeigt auf, in welcher Weise die Versuche der genannten Deutschen Idealisten gescheitert sind und wie der Arbeitsbegriff Hegels deren Probleme löst. Vgl. „Hegels Arbeitsbegriff und die idealistische Dialektik.“ 442–463 ff. Hegel. Lehre vom Sein und vom Wesen, 34. Vgl. auch Herbert Schnädelbach: „Was Anaxagoras nur andeutete [daß der Nous, der Gedanke das Prinzip der Welt ist, M. B.], hat die jüdisch-christliche Tradition als das ewige Wesen Gottes geglaubt und gedacht – unabhängig von den Mysterien der Weltschöpfung und der Inkarnation –, und deswegen kann sich Hegel hier einer theologischen Ausdrucksweise bedienen, ohne Theologie zu betreiben, denn der Inhalt der ‚geoffenbarten Religion‘ ist ja für ihn ohnehin nichts anderes als das, was die absolute Philosophie denkend begreift [...]“ Hegel zur Einführung, 90. Hegel. Lehre vom Begriff, 191. Auch wenn in der Negation der Individualität zugunsten des Begriffs ein totalitäres Moment liegt, erschöpft sich der Gedanke Hegels nicht darin, sondern kann auch nach der Seite, den Begriff des Gattungsmerkmals vernunftbegabter Sinnenwesen zu begründen, und damit moralisch interpretiert werden. Die Idee selbst bleibt gegen ihre Implikationen gleichgültig, so daß die kritische Hegelinterpretation gegen diese Gleichgültigkeit die Differenzen herausarbeiten muß. „In zahlreichen populären Darstellungen erschien er [Hegel, M. B.] als typi-

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heit zu Tage. Daß Hegel diese Bedingtheit zu vermeiden sucht, indem er die empirischen Subjekte dialektisch auflöst, folgt notwendig aus seinem Programm, ein geschlossenes System begründen zu wollen. D. h. aber zugleich, daß die Argumentation selbst einem Zweck folgt, selbst teleologisch und die Teleologie damit ein konstitutiver Begriff für die Umsetzung seines Programms ist. Systemimmanent wird das darin reflektiert, daß der Teleologie die systematische Funktion als Bindeglied von Subjektivität und Objektivität überhaupt zugewiesen wird, die sich aber gegen ihre materialen Implikationen gleichgültig verhält. Dagegen wird zu zeigen sein, daß die Teleologie nicht zu denken ist, ohne mit ihren materialen Bedingungen in Konflikt zu geraten.

a) Der subjektive Zweck Aristoteles hatte, anders als Hegel, den zweckgerichteten Prozeß nicht als Bindeglied der Sphären des Begriffs betrachtet, sondern ontologisch argumentiert. „Man könnte fragen, wie es kommt, daß einiges sowohl durch Kunst wie auch von ungefähr (spontan) entsteht, z. B. Gesundheit, anderes nicht, z. B. ein Haus. Der Grund liegt darin, daß die Materie, welche beim Hervorbringen und Entstehen dessen, was durch Kunst entsteht, den Anfang des Entstehens bildet und in welcher ein Teil des Dinges selbst vorhanden ist, teilweise so beschaffen ist, daß sie sich aus sich selbst bewegen kann, teilweise nicht, und die erstere wieder teils fähig ist, sich auf diese bestimmte Weise zu bewegen, teils unfähig. […] Wo nun also die Materie solche Beschaffenheit hat, wie z. B. die Steine, da ist es auch nicht möglich, daß es auf diese bestimmte Weise bewegt werde, außer durch ein anderes […]. Deshalb kann das eine nicht entstehen ohne einen Künstler, das andere aber kann ohne ihn entstehen; denn es wird durch anderes, das ebenfalls die Kunst nicht besitzt, oder durch einen Teil. (b) Aus dem Gesagten ist auch klar, daß alles gewissermaßen aus Gleichnamigem entsteht, wie das, was durch die Natur entsteht […]. Es ist daher so wie bei den Beweisschlüssen das Prinzip von allem das Wesen; denn wie aus dem Was die Schlüsse hervorgehen, so hier die Entstehungen. (c) Auf ähnliche Weise verhält es sich auch mit dem durch die Natur Entstehenden. Denn der Same bringt (etwas) in der Weise hervor wie (der Künstler) das Kunstwerk.“50

Aristoteles reflektiert auf die Bestimmtheit von Einzeldingen. Erst deren Analyse bringt zu Bewußtsein, daß sie die Einheit von Form und Materie sind, ohne daß das eine im anderen aufgeht, oder abzuleiten wäre. Diese beiden Momente können deshalb nur in einem wirkursächlichen, zielgerichteten Prozeß miteinander verbunden gedacht werden. Ein Modell für die zweckgerichtete Tätigkeit ist die handwerkliche Tätigkeit: Ein Handwerker realisiert seinem Zweck gemäß eine bestimmte Form durch ein Werkzeug in einem Material. So entsteht z. B. ein Tisch, indem der Vorstellung eines Tisches ge-

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scher Exponent eines ‚deutschen Denkens‘, das zur Staatsvergötzung und schließlich zum faschistischen Totalitarismus geführt habe. Und ungeachtet Stalins notorischer Hegelfeindschaft wurde auch die sowjetische bürokratische Herrschaftsordnung als Folge oder doch als Ausdruck des Hegelschen Denkens hingestellt. Hegel – so schien es eine geraume Zeit in Deutschland – war das Opfer einer undifferenzierten Entnazifizierung und des kalten Krieges geworden.“ Hans-Georg Gadamer. „Die verkehrte Welt.“ In Hegel in der Sicht der neueren Forschung, hrsg. v. Iring Fetscher. Darmstadt, 1973, VII. Aristoteles. Metaphysik, Bücher VII–XIV. 3. Hamburg, 1991, 1034 a.

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mäß durch eine Säge und anderes Werkzeug das Holz so bearbeitet wird, das im Resultat tatsächlich ein Tisch entsteht. Für die Existenz des Tisches nennt Aristoteles vier Ursachen: die Form-, End-, Wirk- und Stoffursache. Der Zweckbegriff, in dem das, was realisiert werden soll, antizipiert wird, ist die Formursache; die Stoffursache ist das Material, in dem der Zweck realisiert wird, der realisierte Zweck ist die Endursache und die Wirkursache ist das tätige Prinzip. Die handwerkliche Tätigkeit ist also reflexiv und irreflexiv zugleich. Reflexiv ist sie, in der Beziehung des Zwecks, der dem Prozeß als Begriff dessen, was zu realisieren ist, vorausgesetzt ist, zum Resultat der Tätigkeit, der tatsächlichen Realisierung. Zugleich unterscheidet sich aber das Resultat, das Artefakt auch vom Zweck, denn es ist im Unterschied zu diesem materialisiert. Die Reflexivität der handwerklichen Tätigkeit ist, in der Terminologie Hegels gesagt, deshalb nicht absolut, sondern bleibt auf das Material der Bearbeitung verwiesen. Die an sich seiende Reflexivität handwerklicher Tätigkeit hat ihren Grund also nicht im Material, sondern im Handwerker, der als willensbegabtes Subjekt den Zweck ebenso antizipiert wie ausführt. Aristoteles hatte keinen Begriff von der Reflexivität handwerklicher Tätigkeit,51 weil er keinen modernen Subjekt- oder Willensbegriff hatte. Die Wirkursache bleibt uneindeutig. Ein solcher Subjektbegriff unterstellt die Vorstellung der Einheit und Gleichheit aller Menschen als Mitglieder der Gattung vernunftbegabter Sinnenwesen. Aristoteles hatte hingegen eine Gesellschaft vor Augen, in der die Menschen nicht nur hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Stellung als Bürger, Handwerker, Sklaven usw. unterschieden waren, sondern dieser gesellschaftliche Zustand wurde darüber hinaus von Aristoteles auch als naturgegebene Ordnung betrachtet.52 Entsprechend war die gesellschaftliche Hierarchie und die Benachteiligung der produktiven Arbeiter für ihn kein moralisches Problem. Als Folge davon unterscheidet Aristoteles auch die Arbeiten, die in den jeweiligen Ständen verrichtet werden. Während die produktive Tätigkeit, die poiesis, Werke hervorbringt, die von der Tätigkeit unterschieden ist – also irreflexiv ist, haben die Bürger die Fähigkeit des Handelns, der praxis, das zu einem glücklichen und tugendhaften Leben führt.53 51

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Andreas Arndt hebt hervor, daß die Reflexivität handwerklicher Tätigkeit und die Reflexivität des Denkens die Möglichkeit eröffnen, beides aufeinander zu beziehen. Andreas Arndt. „Arbeit und Leben.“ In Hegel-Jahrbuch 2006, hrsg. v. Andreas Arndt. Berlin, 2006, 315. Manfred Riedel betont im Zusammenhang mit Aristoteles die geschichtsphilosophische Bedeutung der Philosophie Hegels, in der die Geschichtlichkeit des Denkens zum ersten Mal als ein Konstituens der Philosophie erkannt wurde: „Während für Aristoteles im Sein der Naturwelt und an der Bewegung der Himmelswelt das Denken des Denkens als theoria des Göttlichen sich manifestierte, wendet sich das Auge des Geistes bei Hegel zur Menschenwelt und an die Pragmata der Geschichte, die – im ausdrücklichen Gegensatz zum geschichtslosen Denken der Antike – den Vorrang vor dem Sein der Natur erhalten. Die prinzipielle Unterscheidung Hegels von der philosophischen Tradition besteht vor allem in dieser veränderten Richtung seines philosophischen Denkens.“ Theorie und Praxis im Denken Hegels, 58. Vgl. nochmal Manfred Riedel: „Während Hegel das Tun der Arbeit auf dem Grunde des Freiheitsbegriffs thematisierte und darin die Pragmata der Geschichte auf den onto-theologischen Sinn von Sein bezog, hatte die antike Philosophie das ‚Moment der Befreiung‘ im praktischen Tun und seine Bedeutung für das Sein des Menschen eben deshalb nicht in den Blick nehmen können, weil die antike Welt die Arbeit ausschloß an einen von Natur aus seienden Stand von Menschen, die für sich nicht Mensch, sondern arbeitende Tiere waren und als instrumentum vocale vom Tier als instrumentum semivocale und vom toten Arbeitswerkzeug als instrumentum mutum unterschieden

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Der Grund dieser Zweiteilung ist letztlich ökonomisch, denn die praxis setzt Muße voraus, d. h. die Freistellung der Bürger von der Reproduktionsarbeit. „Dies kommt aber nicht denen zu, die arbeiten, sondern denen, die müßig sind. Denn wer arbeitet, arbeitet für ein Ziel, das er noch nicht erreicht hat, das wahre Glück aber ist selbst Ziel und bringt, wie alle übereinstimmen, nicht Schmerz, sondern Lust.“54 Das gesellschaftliche Mehrprodukt, von dem die Bürger leben, wird durch die Sklaven, Handwerker und Tagelöhner produziert.55 Im ökonomischen Sinne ist die praxis Luxus, weil sie keine Lebensmittel produziert und die Muße ist nach Aristoteles der „Zweck von allem. [...] Denn wenn auch beides sein muß, so ist doch die Muße der Arbeit vorzuziehen und deren Ziel, und das ist die Frage, mit welcher Art Tätigkeit man die Muße auszufüllen hat.“56 Muße ist aber nicht nur die Bedingung dafür, sich dem seligen und glücklich machenden Leben zu widmen, sondern auch die Bedingung, unter der sich der Geist als Wissen von sich und seinen Gegenständen entwickeln kann. „Bei dem Fortschritt in der Erfindung von Künsten, teils für die notwendigen Bedürfnisse, teils für die (angenehmere) Lebensführung, halten wir die letzteren immer für weiser als die ersteren, weil ihr Wissen nicht auf den Nutzen gerichtet ist. Als daher schon alles Derartige (Lebensnotwendige) erworben war, da wurden die Wissenschaften gefunden, die sich weder auf das Angenehme, noch auf die notwendigen Bedürfnisse des Lebens beziehen, und zwar zuerst in den Gegenden, wo man Muße hatte. Deshalb bildeten sich in Ägypten zuerst die mathematischen Künste (Wissenschaften) aus, weil dort dem Stande der Priester Muße gelassen war. Welcher Unterschied nun zwischen Kunst und Wissenschaft und dem übrigen Gleichartigen besteht, ist in der Ethik erklärt.“57

Obgleich also die Irreflexivität bis in die gesellschaftliche Praxis hinein begründbar ist, steht in der metaphysischen Reflexion das Problem des Substanzbegriffs im Vordergrund: Eine Substanz kann nur aus einer Substanz entstehen. Deshalb muß der Prozeß zweckgerichteter Tätigkeit reflexiv, Grund seiner selbst sein. Für die handwerkliche Tätigkeit trifft das nur teilweise zu, denn das Artefakt ist zwar Realisierung des Zwecks, aber es hat seinen Grund nicht ausschließlich in diesem, sondern ebenso in der Tätigkeit und dem tätigen Prinzip bzw. Subjekt. Das Artefakt ist davon materiell ebenso unterschieden. Das adäquate Modell des reflexiven Entstehungsprozesses ist der Arterhaltungsprozeß, in dem aber umgekehrt Form-, Stoff-, Wirk- und Endursachen nicht einzeln aufgewiesen werden können. Das ist wiederum nur im Modell handwerklicher Tätigkeit möglich. Neben den beiden ontologischen Modellen des Arterhaltungsprozes54 55

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und auf das unfreie Sein bloßer Lebendigkeit und das unlebendige Sein bloßer Dinglichkeit reduziert wurden.“ Theorie und Praxis im Denken Hegels, 71. Aristoteles. Politik. Reinbek, 1994, 1338a 1–7. Vgl. ebd., 1253b f. Clemens K. Stepina sieht den Grund für die Differenzierung der Begriffe von poiesis und praxis in einer Apologie von Herrschaft. Er analysiert dabei auch den Begriff ästhetischer Tätigkeit in der antiken Tragödie und kommt zu dem Resultat, daß „das künstlerische Schaffen, mustergültig das theatrale Handeln […] hierfür Legitimations- und Propagandainstrument“ gewesen sei (Handlung als Prinzip der Moderne. Handlungsphilosophische Studien zu Aristoteles, Hegel und Marx. Wien, 2000). In Ergänzung zu den Ausführungen Stepinas wäre zu fragen, ob in den Tragödien auch ein Moment ästhetischer Selbstbestimmung steckt, welches die politische Funktion karikiert. Aristoteles. Politik, 1337b. Aristoteles. Metaphysik. Bücher I–VI, 98 1a.

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ses und der handwerklichen Tätigkeit erfüllt das unbewegt Bewegende bei Aristoteles die Funktion, die Einheit aller Einzelsubstanzen in einer Naturordnung kosmologisch zu begründen. In ihm läuft alles Entstehen und Vergehen zusammen. Was bei Aristoteles ontologisch nebeneinander liegen bleibt – der reflexive Prozeß der Arterhaltung und der irreflexive Prozeß handwerklicher Tätigkeit und deren Ursprung im unbewegt Bewegenden – soll in der Teleologie Hegels zusammengeführt werden, so daß der Begriff einerseits gegen die ontologischen Modelle indifferent wird, andererseits aber auch auf diese verwiesen ist, um nicht gegenstandslos zu bleiben. „Die vormalige Metaphysik ist mit diesen Begriffen, wie mit ihren andern verfahren; sie hat theils eine Weltvorstellung vorausgesetzt, und sich bemüht, zu zeigen, daß der eine oder der andere Begriff auf sie passe, und der entgegengesetzte mangelhaft sey, weil sie sich nicht aus ihm erklären lasse; theils hat sie dabey den Begriff der mechanischen Ursache und des Zwecks nicht untersucht, welcher an und für sich Wahrheit habe.“58

Bei der Interpretation der Teleologie Hegels ist besonderes Augenmerk darauf zu richten, wie die Begriffe Objektivität und Subjektivität dem Programm der Wissenschaft der Logik angepaßt werden. Während bei der handwerklichen Tätigkeit der Handwerker das Subjekt und das Ziel der Tätigkeit der fertiggestellte Tisch ist, ist im Falle der Wissenschaft der Logik der sich selbst bestimmende Begriff zugleich Subjekt und telos der Bewegung. Weil Hegel den Prozeß nicht als gegenständlichen, sondern hinsichtlich seiner logischen Struktur betrachtet, ergeben sich wiederum Besonderheiten in der Bestimmung von Subjekt und Objekt, die zugleich auf die Argumente „der alten Metaphysik“ verwiesen bleiben. Der subjektive Zweck ist das Prinzip der Selbstbestimmung „als wesentliches Streben und Trieb sich aeusserlich zu setzen.“59 Er ist gegen die Objektivität, aus der er erschlossen wurde, zugleich selbständig und unselbständig. Als selbständig erweist er sich dadurch, daß er sich als die sich von sich abstoßende Negation selbst vollzieht:. Als unselbständig erweist der subjektive Zweck sich, weil Selbstbestimmung, die sich nicht an einem von ihr unterschiedenen Material objektiviert, unbestimmt bleibt und damit so gut wie nichts ist.60 Das heißt aber dialektisch gewendet nichts anderes, als daß seine Bestimmung die ist, unbestimmt oder „absolute Reflexion der Form in sich“ zu sein. Der subjektive Zweck kann nicht bei sich bleiben, sondern muß sich auf die Objektivität einmal als Ziel seiner Realisierung und einmal als das diesem Ziel zugrundeliegende Material beziehen: „Insofern nun der Zweck diese totale R e f l e x i o n der Objectivität in s i c h , und zwar u n mi tt e l b a r ist, so ist e r s t l i c h die Selbstbestimmung oder die Besonderheit als e i n fa c h e Refle58 59 60

Hegel. Lehre vom Begriff, 236 f. Ebd., 160. Manfred Riedel erläutert den Negationsbegriff bei Hegel mit dem Hinweis darauf, daß er privativ ist: „Die Negation ist nicht, wie in der klassischen Ontologie, Mangel am Seienden, sondern Mangel der Subjektivität an Sein, und indem sie diesen Mangel aufhebt, zugleich Negation des Seienden. Das Subjekt wird als die ‚Totalität‘ des Seienden beschrieben, als eine am Seienden sich bewährende und realisierende Seinsmacht, die in ihrem Sein-Können über es als seine Gegenständlichkeit verfügt und an ihm nur sich selber zur Darstellung bringt.“ Theorie und Praxis im Denken Hegels, 37.

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xion in sich von der c o n c r e t e n Form unterschieden, und ist ein bestimmter I nh a l t . Der Zweck ist hienach e n d l i c h , ob er gleich seiner Form nach unendliche Subjectivität ist.“61

Als Inhalt der zweckgerichteten Tätigkeit ist die Objektivität mit der reflektierenden Bewegung bereits vermittelt, indem der subjektive Zweck die realisierte Einheit von Subjektivität und Objektivität, Bewegung und Inhalt der Bewegung antizipiert. Als Material seiner Realisierung findet der subjektive Zweck die Objektivität hingegen als seine von ihm unterschiedene Voraussetzung vor: „Zweytens weil seine Bestimmtheit die Form objectiver Gleichgültigkeit hat, hat sie die Gestalt einer V or a u s s e t z u n g , und seine Endlichkeit besteht nach dieser Seite darin, daß er eine o bj e c t i ve , mechanische und chemische W e l t vor sich hat, auf welche sich seine Thätigkeit, als auf ein V o rh a nd e n e s bezieht, seine selbstbestimmende Thätigkeit ist so in ihrer Identität unmittelbar s i c h s e l b s t ä u ß e r l i c h und so sehr als Reflexion in sich, so sehr Reflexion nach Aussen. Insofern hat er noch eine wahrhaft a u s s e r w e l t l i c h e Existenz, insofern ihm nemlich jene Objectivität gegenübersteht, so wie diese dagegen als ein mechanisches und chemisches, noch nicht vom Zweck bestimmtes und durchdrungenes Ganzes ihm gegenübersteht.“62

Die Vermittlung der beiden gegensätzlichen Pole, des subjektiven Zwecks und der vorhandenen Objektivität, nimmt die Gestalt zweckgerichteter Tätigkeit an und wird so dargestellt, daß die logische Funktion der Objektivität für die Realisierung des subjektiven Zwecks dargelegt wird. Dadurch wird der Zusammenhang beider Relata begründet, so daß die Objektivität nicht länger als Unvermitteltes erscheint: „Die Bewegung des Zwecks kann daher nun so ausgedrückt werden, daß sie darauf gehe, seine Voraussetzung aufzuheben, das ist, die Unmittelbarkeit des Objects, und es zu setzen als durch den Begriff bestimmt. Dieses negative Verhalten gegen das Object ist ebensosehr ein negatives gegen sich selbst, ein Aufheben der Subjectivität des Zwecks. Positiv ist es die Realisation des Zwecks, nemlich die Vereinigung des objectiven Seyns mit demselben, so daß dasselbe, welches als Moment des Zwecks unmittelbar die mit ihm identische Bestimmtheit ist, als äusserliche sey, und umgekehrt das Objective als Voraussetzung vielmehr als durch Begriff bestimmt, gesetzt werde.“63

Damit überträgt Hegel den traditionellen Begriff zweckgerichteter Tätigkeit wiederum auf die dialektische Bewegung der Negation der Negation. Die Vermittlung des subjektiven Zwecks mit der vorhandenen Objektivität erfüllt zwei gegensätzliche Bedingungen: Zum einen ist sie die Relation von Gleichen, des Begriffs der Subjektivität und des Begriffs der Objektivität. Darin, Begriff zu sein, sind beide nicht nur vergleichbar, sondern bereits als Reflexion und Inhalt der Reflexion aufeinander bezogen. Das ist die Bedingung dafür, daß die verwirklichte Einheit beider aus dem teleologischen Prozeß resultieren kann. Zum anderen muß auch der Unterschied der Relata bestimmt werden, weil der subjektive Zweck sich nur in einem von ihm unterschiedenen Material, also der Objektivität als der vorausgesetzten und gegen ihre Funktion gleichgültigen Materie, realisieren kann. Oder: Der Begriff der Einheit von Subjektivität und Objektivität läßt sich nur in Abgrenzung gegen deren Unterschiedenheit begründen, während der Unterschied beider nur in Abgrenzung gegen die Gleichheit 61 62 63

Hegel. Lehre vom Begriff, 161. Ebd. Ebd., 161 f.

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beider Begriffe bestimmbar ist. Die Differenz von Subjektivität und Objektivität wird selbst als notwendige Funktion der Argumentation bestimmt, d. h. sie wird als movens der logischen Bewegung anerkannt, hat aber außerhalb dieser Funktion kein Bestehen. So ist die Objektivität, die im subjektiven Zweck vorgestellt wird, ist von der Objektivität, die das Material der Realisierung darstellt, zwar der Funktion nach, aber nicht substantiell unterschieden. Wäre die Differenz über diese systematische Funktion hinaus in einem ontologischen Korrelat begründet, also Ausdruck der Differenz der Gegenstandsbereiche des subjektiven Zwecks und des Materials seiner Realisierung wie es beispielsweise im Modell handwerklicher Tätigkeit der Fall ist, dann wäre die Übereinstimmung beider nicht notwendig herzuleiten. Statt dessen bliebe das Können des Handwerkers, seine technischen Fähigkeiten und Erfahrungen, die Unwägbarkeiten und Probleme seiner Arbeit zu lösen, ein Konstituens der teleologischen Tätigkeit. Die Verbindung zwischen Zweck und Material wäre das Produkt einer artistischen Konstruktion und die Objektivität, die Inhalt des subjektiven Zwecks ist, wäre als vorgestellte von der Objektivität als Stoffursache durch ihre Materialität unterschieden. Innerhalb des Begriffs dagegen kann die Begründung der Differenz der Objektivität als Inhalt des subjektiven Zwecks und der Objektivität als Stoffursache nur relational sein: Als Stoffursache ist sie durch einfache Negation gegen den Zweck bestimmt, als vorgestellter Inhalt des subjektiven Zwecks wird sie durch eine doppelte Negation im Begriff des Zwecks aufgehoben. Logisch faßt Hegel das Verhältnis von Zweck, Mittel und ausgeführtem Zweck damit als das Verhältnis von logischen Schlüssen der Subjektivität, in welchem der Zweck analog zur Prämisse, das Mittel zum medius terminus und der ausgeführte Zweck zum Schlußsatz verfaßt sind. Die Schlußformen hatte Hegel bereits zu Beginn der Lehre vom Begriff mit dem Ergebnis abgehandelt, daß sie sich wechselseitig ergänzen und zu einem System von Schlüssen zusammengehen. „Der Verstand wird als das Vermögen des bestimmten Begriffes genommen, welcher durch die Abstraction und Form der Allgemeinheit für sich festgehalten wird. In der Vernunft aber sind die bestimmten Begriffe in ihrer Totalität und Einheit gesetzt. Der Schluß ist daher nicht nur vernünftig, sondern Alles Vernünftige ist ein Schluß.“64 Wenn es Hegel gelingt zu zeigen, daß der Begriff des subjektiven Zwecks sich in den Begriff des Mittels übersetzt und der Begriff des Mittels in den der Objektivität, dann ist auch der Begriff der Objektivität nichts anderes als ein subjektiver Zweck, der ausgeführt ist. Auf diese Weise schlössen sich die einzelnen Termini zu einem systematischen Ganzen zusammen, in dem die Selbständigkeit der Relata in die Funktion von Momenten verwandelt ist.65 64 65

Hegel. Lehre vom Begriff, 90. Vgl. dazu die Erläuterung von Georg Sans, der den Schlußformen in der Lehre vom Begriff eine eigene Untersuchung widmet und sie in den Grundzügen wie folgt bestimmt: „Im Unterschied zur traditionellen Logik deutet Hegel den Schluss nicht als die Ableitung eines Urteils aus einem oder mehreren anderen, sondern als die Vermittlung zweier Begriffe durch einen dritten. Der mittlere Term des Schlusses tritt bildlich gesprochen an die Stelle der Kopula des Urteils. Er gibt den Grund an, aus dem er gerechtfertigt ist, das Subjekt und das Prädikat des Schlusssatzes aufeinander zu beziehen.“ Georg Sans. Die Realisierung des Begriffs: eine Untersuchung zu Hegels Schlusslehre. Berlin, 2004, 31. Und: „Im Prinzip dient die Entwicklung des Schlusses also der Klärung der Frage, welche Bedeutung ein Begriff annehmen muss, um als der mittlere Term fungieren und die Konklusion begründen zu können. Vereinfacht gesagt muss Hegel zeigen, dass es sich um einen Begriff handelt, von dem feststeht, dass allen unter ihn fallenden Gegenständen alle in ihm enthaltenen Merkmale zukommen.“ Ebd., 33.

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Bei Hegel sind die Momente der Teleologie als Momente eines Schlusses unterschieden, also im Hinblick auf das telos der Bewegung. Dieses telos ist die Realisierung des Begriffs in der absoluten Idee. Die Objektivität, die im subjektiven Zweck vorgestellt wird, ist von der Objektivität, die Stoffursache ist, durch das logische Nacheinander der Momente unterschieden. An sich sind sie aber ununterschieden. Das bringt, bei Licht betrachtet, einige Verwirrung mit sich, denn Stein des Anstoßes für die teleologische Tätigkeit ist der Widerspruch, daß der subjektive Zweck so gut wie unbestimmt ist, wenn er sich nicht realisiert. Die Objektivität als Stoffursache findet der subjektive Zweck als von sich unterschieden vor. Der Unterschied ist die Bedingung dafür, daß der subjektive Zweck durch die Objektivität bestimmt werden kann. Bedingung der Möglichkeit seiner Bestimmung ist der Unterschied, aber der Unterschied ist nicht spezifisch, sondern relational, als Negation der Negation bestimmt. Damit sind die jeweils verhandelten Begriffe kaum gegeneinander zu fixieren. Vom Standpunkt der Wissenschaft der Logik läßt sich demnach zwar die Notwendigkeit begründen, daß das Denken nicht bei sich bleiben kann, weil es sonst bestimmungslos bliebe. Das Unterfangen aber, das Andere des Denkens ausschließlich relational zu fassen und mit ihm den Unterschied als logische Funktion, ist unzureichend, was sich in der substantiellen Ununterschiedenheit von Grund und Folge Geltung verschafft. Nur wenn angegeben werden kann, was die Differenz außerhalb ihrer logischen Funktion begründet, können die einzelnen Begriffsmomente sicher voneinander unterschieden werden, weil dann die eine logische Differenz durch spezifische Differenzen in den jeweils ontologisch korrespondierenden Gegenstandsbereichen bestimmt wird. Für einen Handwerker stellt es durchaus einen Unterschied dar, ob er einen Tisch aus Holz oder aus Wasser bauen soll. Aus der Reflexion lassen sich keine bestimmten Differenzen setzen, sondern nur die Notwendigkeit einer Differenz überhaupt. Für die weitere Interpretation der Argumentation Hegels ist deshalb die Frage zu stellen, wie die Objektivität bestimmt ist und ob dieser Bestimmung spezifische Differenzen folgen. Hegels Argumentation widmet sich dem Problem der causa efficiens. Damit sich im teleologischen Prozeß tatsächlich nur der Begriff und nicht etwas anderes realisiert, muß Hegel darüber hinaus auch die Wirkursache in den Begriff integrieren. Traditionell ist die Wirkursache dem zweckmäßigen Prozeß äußerlich, z. B. als göttlicher Wille, als unbewegter Beweger oder als Wille eines tätigen oder autonomen Subjekts, der sich nur in Handlungen objektivieren kann. Der Wille ist bei Kant z. B. das Vermögen, durch seine Vorstellung Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen sein zu können, wobei der Bestimmungsgrund nicht notwendig vernünftig oder reflexiv ist, sondern als Willkür auch die Befriedigung heteronomer Bedürfnisse bezweckt. Damit ist dem Willen eine Tendenz zu eigen, die die intendierte Reinheit der logischen Begriffe Hegels konterkarierte. Hegel beansprucht deshalb gegen diese Tradition den Fortgang der Argumentation immanent begründen zu können, obgleich auch ihm das nur in der Abgrenzung gegen traditionelle Vorstellungen gelingt. Der subjektive Zweck ist Formursache, die zu ihrem Inhalt, der Realität der vorgestellten Form, im Gegensatz steht. Dieses Moment des Uneingeholten beinhalte zugleich den Trieb zur Realisierung, so daß der dem

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Die Arbeit der Selbstbestimmung in der Logik

subjektiven Zweck immanente Gegensatz von möglicher und vollzogener Realisierung unmittelbar seine eigene Vermittlung veranlasse. Damit ist der subjektive Zweck nicht nur Form-, sondern auch Wirkursache. Schließlich fallen beide Funktionen in den Begriff des subjektiven Zwecks, so daß dieser Grund seiner selbst ist. „Diß Abstossen ist der der E n t s c h l u ß überhaupt, die Beziehung der negativen Einheit auf sich, wodurch sie a u s s c h li e s s e n d e Einzelnheit ist aber durch diß Au s s c h l i e s s e n e n t s c h l i e ß t sie sich, oder schließt sich a u f , weil es S e l b s t b e s t i m m e n , Setzen s e i n e r s e l b s t ist.“66

Ziel und Durchführung der Argumentation Hegels beruhen auf der Kritik der Widersprüche, die frühere Teleologiebegriffe aufwarfen und die in der Argumentation des Aristoteles nur ein mögliches Modell haben.67 In der Wissenschaft der Logik beruft sich Hegel damit negativ auf die Tradition des Teleologiebegriffs, der in seinen Wurzeln auf der praktischen Erfahrung einer Differenz beruht, die erst im Resultat einer abstrahierenden Reflexion als Funktion erscheint. Logisch bleibt das Argument Hegels damit auf den Willen, als Vermögen Entschlüsse zu fassen, verwiesen, weil der Gegenstand der bestimmten Negation dieser unterstellt bleibt. Oder anders formuliert: Mit dem subjektiven Zweck will Hegel die Aporien der Tradition vermeiden, die dadurch entstehen, daß die causa efficiens als eine dem zweckmäßigen Prozeß äußerliche Ursache gedacht wird. In der Hegelschen Fassung des subjektiven Zwecks wird die traditionelle bestimmt negiert, aber als das, was negiert wird, bleibt die traditionelle Fassung der Negation zugleich auch unterstellt. Dennoch ist die unbedingte Produktivität des subjektiven Zwecks eine Bedingung der Durchführbarkeit des Programms der Logik, weil der Wille nur als funktionales Moment oder movens notwendig vernünftig ist. Er wird dadurch aber auch gleichgültig gegen bestimmte Willensinhalte, die in jedem auch noch so heiklen Fall als Ausgestaltung des Geistes gerechtfertigt werden können. Als moralisches Beurteilungskriterium ist der subjektive Zweck daher untauglich. Beispiele dafür folgen in der Interpretation der Herr-Knecht-Thematik und der Grundlinien der Philosophie des Rechts. Die Erfahrung praktischer Arbeit ist aber nicht deckungsgleich mit dem Begriff teleologischer Selbstbestimmung. Obgleich Arbeit der Möglichkeit nach ein Moment der Erfahrung der Selbstbestimmung der vernunftbegabten Gattung sein könnte, ist sie geschichtlich stets die Erfahrung von Heteronomie gewesen – eine Tatsache gegen die der logische Begriff sich verschließt und so ewig um sich selbst kreist. Wissenschaftlicher Fortschritt, die Erkenntnis von zuvor Unbekanntem, setzt dagegen praktische und widersprüchliche Erfahrungen voraus, nach deren Erklärung die Subjekte streben. Im Begriff und damit jenseits der Praxis kann der wissenschaftliche Fortschritt weder durch Erfahrung noch durch den Willen eines Subjektes begründet sein. Dem Begriff ist der Zugang zum unerkannten Objekt, das nur Gegenstand von praktischer Erfahrung sein kann, verstellt.

66 67

Hegel. Lehre vom Begriff, 162. Ebd., 154 ff.

Teleologie

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b) Das Mittel Der subjektive Zweck ist das Prinzip der Selbstbestimmung des Begriffs in der Objektivität. Die Einheit beider Begriffe sei nicht prästabiliert, sondern durch den Vermittlungsprozeß herzuleiten. Die Möglichkeit der Vermittlung sei aber bereits darin angelegt, daß der subjektive Zweck reine Tätigkeit ist, in der das Ziel seiner Tätigkeit antizipiert wird. Veranlaßt werde die Tätigkeit aber erst durch die Diskrepanz von Möglichkeit und Wirklichkeit, also dadurch, daß der subjektive Zweck noch nicht objektiviert ist. Bislang ist die Relation von Begriff und Objektivität nur zweistellig bestimmt worden, denn es gibt nur zwei Relata: den Begriff der Subjektivität und den Begriff der Objektivität. Der Schluß auf die vermittelte Einheit von Subjektivität und Objektivität im ausgeführten Zweck ist aber als Trilogie bestimmt: das Mittel ist als die Mitte dieser Trilogie von Schlüssen bestimmt, in der es den medius terminus gibt. Entsprechend begründet Hegel die Funktion des Mittels nicht aus den durch die Beschaffenheit des zugrundeliegenden Materials folgenden technischen Anforderungen, sondern aus der Stellung des Begriffs zum terminus ad quem, der absoluten Idee. Im Mittel setzt der Zweck sich unmittelbar; es ist erst die einfache Negation; noch nicht der ausgeführte Zweck. Als die Mitte zwischen den Extremen des subjektiven Zwecks und der Objektivität wird mit ihm die Realisierung in einem ersten Schritt vollzogen, aber noch nicht vollendet, wodurch das Mittel selbst noch endlich und damit gleichgültig dagegen ist, ein Moment der Einheit von Subjektivität und Objektivität zu sein. Weil die Bestimmung des Zwecks durch das Mittel dem Zweck äußerlich ist, wird er sich selbst äußerlich. „Die Endlichkeit des Zweckes besteht sonach darin, daß sein Bestimmen überhaupt sich selbst äusserlich ist, somit sein erstes, wie wir gesehen, in ein Setzen und in ein Voraussetzen zerfällt; die N e g a t i o n dieses Bestimmens ist daher auch nur nach einer Seite schon Reflexion in sich, nach der andern ist sie vielmehr nur e r s t e Negation; – oder: die Reflexion-in-sich ist selbst auch sich aeusserlich und Reflexion nach Aussen.“68

Die Funktion des Mittels in der zweckgerichteten Tätigkeit hängt davon ab, ob es auf den subjektiven Zweck oder die Objektivität bezogen wird. Für den subjektiven Zweck fungiert es als unmittelbares Objekt, in dem der subjektive Zweck sich eine Bestimmung gibt, nämlich die „Allgemeinheit des Daseyns, welches die subjective Einzelnheit des Zweckes noch entbehrt“69. Gegenüber der Objektivität fungiert es als das Bestimmende, das also verändernd in die Objektivität eingreift. Das Mittel ist selbst ein mechanisches Objekt oder Werkzeug, das gegen seine Funktion gleichgültig bleibt. Es vollzieht den Prozeß nicht selbständig, sondern wird durch den subjektiven Zweck bestimmt. Insofern ist der Zweck das Subjekt und das Mittel sein Objekt und zwar sein zweckmäßiges Objekt: „Die Beziehung des Objects auf den Zweck ist eine Prämisse, oder die unmittelbare Beziehung, welche in Ansehung des Zwecks, wie gezeigt, R e f l e x i o n i n s i c h s e l b s t ist, das 68 69

Hegel. Lehre vom Begriff, 163. Ebd., 163.

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Die Arbeit der Selbstbestimmung in der Logik Mittel ist inhärirendes Prädicat; seine Objectivität ist unter die Zweckbestimmung, welche ihrer Concretion willen, Allgemeinheit ist, subsumirt.“70

Die Unterordnung des Mittels unter den Zweck reproduziert sich dann in der Unterordnung der unmittelbaren Objektivität unter das Mittel. Das Werkzeug wirkt im Sinne des subjektiven Zwecks formend auf die Objektivität ein. Aber das Mittel kann nicht nur als Objekt bestimmt sein, sondern muß seiner durch den subjektiven Zweck an es herangetragenen Zweckmäßigkeit auch entsprechen. Es wird nicht nur durch den subjektiven Zweck bewegt, sondern hat diese Bewegung auch an sich, insofern es auf die unmittelbare Objektivität einwirkt. Das Mittel ist deshalb nicht nur Werkzeug, sondern auch zweckgerichtete Tätigkeit. Damit sind Mittel und Zweck auch formkongruent: Sie sind durch die Form absoluter Reflexion bestimmt. Ihre Inhalte müssen aber auch unterschieden sein, wenn sie einander bestimmen können sollen: „Im subjectiven Zweck ist die negative Beziehung auf sich selbst, noch identisch mit der Bestimmtheit als solcher, dem Inhalt und der Aeusserlichkeit. In der beginnenden Objectivirung des Zweckes aber, einem Anderswerden des einfachen Begriffes treten jene Momente aus einander, oder umgekehrt besteht hierin diß Anderswerden, oder die Aeusserlichkeit selbst.“71 Die Differenz soll darin liegen, daß das Mittel nicht der Grund der Tätigkeit ist, sondern nur das Werkzeug bzw. der Akt der Realisierung des ihm äußerlichen subjektiven Zwecks. Dagegen ist der subjektive Zweck Grund seiner selbst, für sich die Einheit von Wirk- und Formursache. Das Mittel bleibt gleichgültig dagegen; es ist nur an sich. Die Tätigkeit bleibt damit der Hoheit des Zwecks unterstellt; dieser bestimmt die Bearbeitung des Objekts. „Seine Unselbständigkeit [die des Mittels, M. B.] besteht eben darin, daß es nur a n s i c h die Totalität des Begriffs ist; dieser aber ist das Fürsichseyn. Das Object hat daher gegen den Zweck den Character, machtlos zu seyn, und ihm zu dienen; er ist dessen Subjectivität oder Seele, die an ihm ihre äußerliche Seite hat.“72

Mit diesen Bestimmungen ist der Begriff des Mittels in Analogie zum Modell handwerklicher Tätigkeit bestimmt, in dem der konkrete Zweck durch Arbeit und Werkzeug in einem Material verwirklicht wird. Aber darin geht die Bestimmung des Mittels nicht auf, denn es ist „schlechthin durchdringlich, und dieser Mittheilung empfänglich, weil es an sich identisch mit ihm [dem subjektiven Zweck, M. B.] ist.“73 Ein Mittel, das einer Mitteilung empfänglich und an sich identisch mit dem subjektiven Zweck ist, ist nicht das Werkzeug als Artefakt, sondern die Arbeitskraft, das instrumentum vocale. Sie kann die Mitteilung des Zwecks als Mitteilung des Auftraggebers nur deshalb annehmen, weil sie das Moment des Fürsichseins der Möglichkeit nach ebenso an sich hat wie der Zweck. Der Begriff des Mittels wird dadurch äquivok. Ihm ist nicht nur das Modell handwerklicher Tätigkeit unterstellt, sondern auch das Modell des herrschaftlich organisierten Arbeitsprozesses, in dem der Zweck herrschaftlich bestimmt und von den abhän70 71 72 73

Hegel. Lehre vom Begriff, 163. Ebd., 164. Ebd. Ebd.

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gigen Arbeitskräften ausgeführt wird. Als vernunftbegabte Sinnenwesen haben beide – Herrscher wie Beherrschte – dasselbe Vermögen und denselben Anspruch auf Selbstbestimmung, aber der Herrscher hat seine gesellschaftliche Vormachtstellung gegenüber den Beherrschten gewaltsam durchgesetzt, während der an sich freie Wille des Beherrschten die Bedingung dafür ist, daß er sich den heteronomen Zwecken des Herrschers unterwerfen kann. Nur indem jener sie zu seinen eigenen Zwecken macht, kann er im Sinne der Herrschaft handeln. Die Unterordnung des Mittels unter den subjektiven Zweck verweist so auf einen Willen, der mit dem Entschluß des subjektiven Zwecks nicht identisch ist. Hegel hatte die Hierarchie zwischen subjektivem Zweck und Mittel logisch begründet, also durch das Argument, daß der subjektive Zweck der Ursprung und Anfang des Prozesses, das bestimmende Fürsichsein ist, während das Mittel, das dieser Bestimmung folgend auf das zu bearbeitende Material einwirkt, vermittelt ist. Aus den Bestimmungen Hegels folgt aber nur die Identität der Begriffe subjektiver Zweck und Mittel: Der Zweck ist für sich, aber weil er noch nicht realisiert ist, ist er nur der Möglichkeit nach für sich. Das Mittel ist an sich zweckmäßig, vermag aber diese Zweckmäßigkeit nur auszuführen, weil es der Möglichkeit nach auch für sich ist, weil es den subjektiven Zweck annehmen kann. Der Unterschied zwischen beiden Bestimmungen ist durch die logische Abfolge bestimmt, folgt aber nicht aus dem Begriff im eigentlichen Sinne, denn danach sind beide der Möglichkeit nach Fürsichseiende. Die Begründung der Priorität des subjektiven Zwecks gegenüber dem Mittel ist insofern problematisch. Der verdoppelte und zum Mittel degradierte Begriff erhielte erst durch die Adaption der geschichtlich realen Differenz zwischen Herrscher und Beherrschten eine inhaltliche Begründung, die aber nicht logisch, sondern geschichtlich wäre. Gegen solche Inhalte muß die Teleologie um der Reinheit der logischen Bewegung willen gleichgültig bleiben. Umgekehrt stellt die Endlichkeit des subjektiven Zwecks dessen Mangel dar, denn als der Inbegriff desjenigen Prinzips, das wesentliches Streben ist, sich äußerlich zu setzen, muß der subjektive Zweck sein Fürsichsein in der Objektivität realisieren. Gerade weil dessen Selbstbestimmung der Objektivität jenseitig ist, ist ihre Ausführung durch das Mittel bedingt. „Der Zweck bedarf eines Mittels zu seiner Ausführung, weil er endlich ist.“74 Die logische Priorität des subjektiven Zwecks hängt somit vom Mittel ab, denn ohne es bliebe der Zweck entweder gegenstandslos oder er müßte sich selbst mit der unmittelbaren Objektivität einlassen. Das Mittel ist dagegen bereits das Resultat einer zweckmäßigen Bestimmung und damit gegenüber dem subjektiven Zweck der bereits realisierte Ausdruck der Vernunft: „Das Werkzeug erhält sich, während die unmittelbaren Genüsse vergehen und vergessen werden. An seinen Werkzeugen besitzt der Mensch die Macht über die äußerliche Natur, wenn er auch nach seinen Zwecken ihr vielmehr unterworfen ist.“75 Aus der Begründung der logischen Priorität des subjektiven Zwecks resultiert so zunächst das Gegenteil: die Priorität des Mittels gegenüber den Zwecken: „Daß der Zweck 74 75

Hegel. Lehre vom Begriff, 163. Ebd. 166.

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sich […] in die mittelbare Beziehung mit dem Object setzt, und zwischen sich und dasselbe ein anderes Object einschiebt“ ist die „List der Vernunft“.76 Ein Modell dieser List sind Kooperation und gesellschaftliche Arbeitsteilung. In der wechselseitigen Beziehung aller Teilarbeiten aufeinander werden die in Raum und Zeit beschränkten Fähigkeiten der Einzelsubjekte transzendiert, so daß kooperative Arbeitsprozesse um ein vielfaches produktiver sind, als die Summe der Einzelarbeiten. Ein Beispiel dafür wäre der Bau der ägyptischen Pyramiden. Aber auch technische Erfindungen, die die Produktivkraft der Arbeit verbessern, sind in gewisser Hinsicht Resultat kooperativer Arbeitsprozesse: Die Dampfmaschine ersetzt nicht nur die zuvor durch Menschen und Tiere geleistete Arbeit eins zu eins, sondern ist um ein Vielfaches produktiver. Die Erfindung der Dampfmaschine durch Herrn Watt wäre nicht ohne die physikalischen, chemischen und technischen Errungenschaften seiner Zeit möglich gewesen, die ein historisch spätes Resultat sind und ihrerseits sowohl diachrome als auch synchrone Arbeitsteilung in den Wissenschaften voraussetzen. Hinter dieser List verbirgt sich aber zugleich auch ein Gewaltakt, „insofern der Zweck als von ganz anderer Natur erscheint, als das Object, und die beyden Objecte eben so gegen einander selbständige Totalitäten sind“.77 Darin liegt ein Zugeständnis nicht an die Teleologie, sondern an die Selbständigkeit der Objektivität, die aus der bloßen Relationalität des logischen Verhältnisses nicht folgt, sondern Gegenstand praktischer Erfahrungen ist. Gegenüber der Aktivität des subjektiven Zwecks war die Objektivität gleichgültig geblieben, so daß von den Objekten kein Widerstand gegen den subjektiven Zweck zu erwarten ist. Nach Hegel ist die einzige Bestimmung des Objektes die, seinen logischen Zweck zu erfüllen. Die Ausübung von Gewalt setzt auf der einen Seite einen praktischen Willen voraus, auf der anderen Seite aber ein Material, das den Erfolg des Arbeitsprozesses nicht schon garantiert und insofern tatsächlich „als von ganz anderer Natur erscheint“ als der Zweck. Im Falle des Materials wird die Gewalt, in der sich der zur Formierung des Materials notwendige Kraftaufwand ausdrückt, zum Indikator für dessen Selbständigkeit. Im Falle der Unterwerfung des Willens eines Subjekts ist die Gewalt nicht der unmittelbare Ausdruck der Andersartigkeit der Willen, sondern der negative Ausdruck der Gleichartigkeit zweier an sich vernünftiger Willen, die erst durch die Unterwerfung des einen durch den anderen Willen die Ungleichheit gewaltsam herstellen. Sklaven, Knechte, Lohn- und Zwangsarbeiter sind durch persönlich oder gesellschaftlich ausgeübte Gewalt zum Mittel degradiert worden und die Aktualisierung ihres Gattungsvermögens wird ihnen nur in dem Maße zugestanden, als sie für die Produktion von Mehrprodukt notwendig ist. Dieses Mehrprodukt ist dann die ökonomische Bedin76

77

Hegel. Lehre vom Begriff, 166. In den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte erhält dieser Ausdruck eine problematische Konnotation: Die List der Vernunft sei die List der allgemeinen Idee, die die „Leidenschaften des Besonderen“ aneinander abkämpfen läßt, während sich das Allgemeine „unangegriffen und unbeschädigt“ im Hintergrund hält. „Das Partikuläre ist meistens zu gering gegen das Allgemeine, die Individuen werden aufgeopfert und preisgegeben. Die Idee bezahlt den Tribut des Daseins und der Vergänglichkeit nicht aus sich, sondern aus den Leidenschaften der Individuen.“ G. W. F. Hegel. Werke Bd. 12. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Frankfurt a. M., 1995, 49. Hegel. Lehre vom Begriff, 165 f.

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gung der moralischen und technischen Emanzipation vom Naturzusammenhang, so daß sich in der List der Vernunft geschichtlich zweierlei ausdrückt: Freiheit und Herrschaft. Die durch Herrschaft ermöglichte Freiheit vom Reproduktionszwang wirkt auf diejenigen zurück, die in den Genuß des Mehrprodukts kommen. Diese Freiheit ist nicht Ausdruck von Selbstbestimmung, sondern von Willkür, weil sie historisch auf einem gesicherten Privileg für Wenige beruht, das nur durch die Preisgabe der Teilhabe aller Menschen an der Idee der Gattung, dem terminus ad quem der Teleologie, durchzusetzen ist. „Indem der Zweck endlich ist, hat er ferner einen endlichen Inhalt; hienach ist er nicht ein absolutes, oder schlechthin an und für sich ein Vernün ftige s.“78 Das dem Gattungsvermögen adäquate Mittel seiner Aktualisierung wäre die herrschaftsfreie Organisation von Kooperation und Arbeitsteilung in der Ökonomie und den Wissenschaften. Aber nur eine Wissenschaft, die auf die geschichtlichen Voraussetzungen des erreichten Reproduktionsniveaus reflektiert, könnte darstellen, daß der kulturelle Prozeß bisher nur der Weg der instrumentellen, nicht der der autonomen Vernunft war. Diese Einsicht ist notwendig, wenn der Zweck nicht die Mittel heiligen oder die Mittel gar zum Zweck werden sollen.79

c) Der ausgeführte Zweck Der subjektive Zweck ist durch den Widerspruch gekennzeichnet, einerseits das Prinzip absoluter Selbstbestimmung zu sein, andererseits aber dieses Prinzip nur bezogen auf die Objektivität realisieren zu können. Damit ist das absolute Prinzip mangelhaft, mithin endlich. In der direkten Konfrontation des subjektiven Zwecks mit der Objektivität würde der Mangel objektiv, objektiviert werden soll aber das Fürsichsein des subjektiven Zwecks. Deshalb muß zwischen den subjektiven Zweck und die Objektivität ein Mittel eingeschoben werden, das einerseits gegen die Relata selbständig ist, andererseits aber auch beide in sich vereinigt, so daß in ihm der ursprüngliche Mangel des subjektiven Zwecks behoben wird. Durch das Mittel ist sowohl gewährleistet, daß der subjektive Zweck im teleologischen Prozeß nicht beschädigt wird, da er sich nicht selbst mit der Objektivität einlassen muß, als auch daß die Objektivität dem subjektiven Zweck gemäß geformt wird. Da Zweck und Objektivität im Mittel zugleich nur auf eine endliche Weise vermittelt sind und sich deshalb äußerlich bleiben, handelt es sich dabei nur um die erste Prämisse des teleologischen Schlusses. Ziel der Teleologie muß es aber sein, die Endlichkeit der Relation aufzuheben und damit die Einheit von Subjektivität und Objektivität zu erweisen, was nur möglich ist, wenn mit der zweiten Prämisse des Schlusses, der Beziehung des Mittels auf die unmittelbare Objektivität, gezeigt werden kann, daß der Zweck in der Objektivität nicht mit einem Anderen, sondern nur mit sich selbst zusammengeht. 78 79

Hegel. Lehre vom Begriff, 166. Vgl. dazu auch Walter Jaeschke, „Die List der Vernunft.“ 90 f.

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Die Arbeit der Selbstbestimmung in der Logik „Der in seinem Mittel thätige Zweck muß daher nicht a l s e i n ä u s s e r l i c h e s das unmittelbare Object bestimmen, somit dieses durch sich selbst zur Einheit des Begriffes zusammengehen; oder jene äusserliche Thätigkeit des Zwecks durch sein Mittel muß sich als V e r m i t t l u n g bestimmen und selbst aufheben.“80

Im Produkt der teleologischen Tätigkeit sind zwei unterschiedene Begriffe, der subjektive Zweck als Form- und Wirkursache und die Objektivität als Stoffursache, in einer Einheit aufgehoben worden. Diese Einheit kann aber nicht aus der Beschaffenheit des Produktes als mechanischem Objekt erklärt werden. „Diese Einheit, welche aus der specifischen Natur des Objects nicht begriffen werden kann, und dem bestimmten Inhalte nach ein anderer ist, als der eigenthümliche Inhalt des Objects, ist für sich selbst nicht eine mechanische Bestimmtheit, aber sie ist am Objecte noch mechanisch.“81 Grund der Einheit ist vielmehr der subjektive Zweck, der sich durch die Vermittlung des Mittels in der Objektivität seine Bestimmung gegeben hat. Im teleologischen Produkt ist die Objektivität damit sowohl Darstellung des Zwecks, also mit diesem identisch, weil der Zweck darin nur zu sich selbst gekommen ist. Zugleich ist die Objektivität, in der der Zweck zu sich selbst kommt, aber auch ein von diesem unterschiedenes Korrelat, über das der Zweck deshalb nicht vollständig verfügt. Insofern der Zweck in der Objektivität nur mit sich selbst zusammengeht, ist die teleologische Bewegung reflexiv; insofern er sich in einem von ihm unterschiedenen Korrelat realisiert, ist die Bewegung irreflexiv: Die Vermittlung von subjektivem Zweck und Objektivität ist daher nur teilweise eingeholt worden. Damit dieser unvermittelte Rest mit dem subjektiven Zweck vermittelt werden kann, ist wiederum ein Mittel erfordert. Dieses Mittel ist seinerseits das Produkt eines ihm vorausgesetzten teleologischen Prozesses, somit nicht nur Mittel sondern ebenfalls teleologisches Produkt. Die Existenz des teleologischen Produktes setzt somit ein Mittel voraus, wobei auch dieses nächste Mittel nur durch die Vermittlung eines Mittels zustande gekommen sein kann usw. Also wird der Bestimmungsgrund des teleologischen Produktes rekursiv als Reihe der Vermittlung erschlossen. Dieser unendliche Regreß der Mittel verläuft sich ins Unbestimmte, da er weder materiell begrenzt wird, also z. B. durch eine Stoffursache wie Grund und Boden,82 noch spekulativ wie in der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft, wo der Schluß der reinen Vernunft auf eine erste Ursache den unendlichen Regreß der Reihe der Ursachen einer Erscheinung abbricht. Darin drückt sich in der dritten Antinomie die Freiheit des Subjektes aus, die anders als bei Hegel als Wirkursache gegen die Naturkausalität selbständig bleibt. Der teleologische Regreß der Wissenschaft der Logik ist dagegen ein Regreß 80 81 82

Hegel. Lehre vom Begriff, 165. Ebd., 167. „Arbeit ist also nicht die einzige Quelle der von ihr produzierten Gebrauchswerte, des stofflichen Reichtums. Die Arbeit ist sein Vater, wie William Petty sagt, und die Erde seine Mutter.“ Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals. 58; und „Die Zweckmäßigkeit des ursprünglichen Produktionsmittels, das zugleich erster Arbeitsgegenstand ist, der Erde, ist aber nicht aus der Subjektivität ableitbar, was sich mindestens in den Abwanderungen von Menschen aus unfruchtbaren Gebieten zeigt. Die absolute Vermittlung von Subjekt und Objekt hat prinzipiell keine Grundlage.“ Michael Städtler. Die Freiheit der Reflexion. Zum Zusammenhang der praktischen mit der theoretischen Philosophie bei Hegel, Thomas von Aquin und Aristoteles. Berlin, 2003, 88.

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von Reflexionsbegriffen, der in seinen Unterscheidungen bei sich bleibt und daher prinzipiell unbegrenzt ist. Aus demselben Grunde liegt in der Begründung der Vermittlung von Zweck und Objektivität nicht nur eine regressive, sondern gleichzeitig und unmittelbar auch eine progressive Tendenz, denn die Begründung des teleologischen Produktes fällt nicht nur in bereits durchlaufene Vermittlungsschritte, sondern ist zugleich das erst noch zu begründende Resultat des teleologischen Prozesses. Während die regressive Begründung auf die Bedingungen des teleologischen Produkts in der Zeit gehen, bezeichnet die progressive Tendenz eine logische Voraussetzung, nämlich die Antizipation des Zwecks des Prozesses. Antizipation und Regreß bedingen sich bei Hegel nicht nur wechselseitig, sondern fallen ununterschieden in einer Einheit zusammen: „Damit ist der une nd liche P rog re ß der Vermittlun g gesetzt.“83 In dieser Bestimmung liegt der Widerspruch, daß aus dem zeitlichen und damit linearen Verlauf das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Mittel und ausgeführtem Zweck als Ursache und Wirkung nicht folgt. Die Wechselseitigkeit ist vielmehr das Kennzeichen eines reflexives Prozesses. Derselbe Prozeß kann aber nicht zugleich irreflexiv und reflexiv sein. „Oder umgekehrt, da die Prämissen den Sch lußsa tz schon voraussetzen, so kann dieser, wie er durch jene nur unmittelbare Prämissen ist, nur unvollkommen seyn.“84 Das Problem der Ununterscheidbarkeit der Reihen setzt sich bis in die Relata, das Mittel und das Produkt fort. Das teleologische Produkt ist das Resultat eines Vermittlungsprozesses, das aber für einen anderen Zweck ebenso zum Mittel werden kann. Umgekehrt ist das Mittel auch Produkt zweckgerichteter Tätigkeit. Ein und dasselbe Objekt kann damit zwei verschiedene Funktionen erfüllen, je nachdem, in welcher Relation es betrachtet wird. In der Wissenschaft der Logik sind die Funktionen damit gegen die Objekte, welche funktionieren, austauschbar. „Der Schlußsatz oder das P r o d u c t des zweckmässigen Thuns, ist nichts als ein durch einen ihm äusserlichen Zweck bestimmtes Object; e s i s t s o m i t d a s s e l b e wa s d a s M i t t e l . Es ist daher in solchem Product selbst nur ein M i t t e l , nicht ein a u s g e fü h r t e r Z w e c k herausgekommen; oder: der Zweck hat in ihm keine Objectivität wahrhaft erreicht. – Es ist daher ganz gleichgültig, ein durch den äussern Zweck bestimmtes Object als ausgeführten Zweck, oder nur als Mittel zu betrachten; es ist diß eine relative, dem Objecte selbst äusserliche, nicht objective Bestimmung.“85

Nach Hegel liegt der Grund für die Gleichgültigkeit der Objekte gegen die Funktion in der noch nicht vollständig in den Begriff aufgehobenen Differenz von subjektivem Zweck und Objektivität. Die Organisation des teleologischen Produktes habe sich zwar auf dieser Stufe der Argumentation als zweckmäßig erwiesen, aber die Verknüpfung der Teile untereinander bleibe noch mechanisch. „Sie [die Objekte, in denen der Zweck ausgeführt ist, M. B.] sind nicht positiv mit dem Zwecke vereinigt, weil sie die Selbstbestimmung nur äusserlich an ihnen haben, und sind nur relative Zwecke, oder wesentlich 83 84 85

Hegel. Lehre vom Begriff, 168. Ebd. Ebd.

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auch nur Mittel.“86 Diese letzte Äußerlichkeit wird erst mit dem Übergang ins Leben aufgehoben. Es ist nocheinmal die Frage aufzuwerfen, wie die Objektivität bestimmt ist, weil davon abhängt, ob sie mit dem subjektiven Zweck zusammengehen kann oder nicht. Sie muß in einer Weise verfaßt sein, in der sie begrifflich und nicht-begrifflich bestimmt ist. Das Setzen des Unterschiedes von Zweck und Objektivität wurde im Subjectiven Zweck aus der Notwendigkeit begründet, den Zweck in einem von ihm unterschiedenen Korrelat zu verwirklichen, weil er als reiner Begriff leer bliebe. Dieses Korrelat ist die Objektivität, die zum einen das Resultat der Bestimmung des Objektbegriffs aus den vorgängigen Passagen der Logik ist, zum anderen das Resultat der Kritik an den traditionellen Grundproblemen des Objektbegriffs: den Verhältnissen von Form und Materie, von Erscheinung und Grund der Erscheinung im Einzelobjekt und schließlich dem des Einzelobjekts zur Totalität des Gegenstandbereiches.87 In der Lehre vom Sein hatte Hegel die kategoriale Verfassung des Seins bestimmt, in der Lehre vom Wesen verhandelt er das Problem der Bestimmung des Einzelobjektes mit dem Begriff der Erscheinung, in den die Momente Ding an sich, Form und Materie ebenso eingehen wie die Bestimmung der Freiheit des Begriffs, die nicht wie die Freiheit Kants abstrakte Negation bleibt, sondern sich dadurch verwirklicht, daß sie in den Bedingungen ihrer Realisierung mit sich zusammengeht.88 In der Lehre vom Begriff tritt an die Stelle der Konstellation von Erscheinung und Ding an sich die Konstellation von Einzelobjekt und Totalität der Objektivität im Mechanismus und Chemismus. Der so begründete Objektbegriff ist nicht nur Entität, Substanz oder Ding von vielen Eigenschaften, noch ist er nur Natur, Kosmos, Welt; er ist vielmehr die Einheit all dieser Momente und damit der Begriff, in dem die systematischen Probleme der Bestimmung von Objektivität überhaupt reflektiert werden. Als Reflexionsbestimmung erhält er seine Substanz einzig durch die vollständige Vermittlung seiner Momente Form, Materie, Erscheinung, Ding an sich, Einzelobjekt und Totalität mit dem Begriff, während er außerhalb dieser Vermittlung nichts ist. In der Teleologie erscheint dieser entwickelte Begriff von Objektivität dann zunächst als gegebene Voraussetzung des Tuns des subjektiven Zwecks; die Relation der Objektivität zur Subjektivität wird untersucht. Zunächst setzt der subjektive Zweck seine Differenz zur vorgefundenen Objektivität, dann macht er sie zu seinem Mittel und bearbeitet sie, um schließlich nachzuweisen, daß jedes Objekt nicht nur das Moment des Vorausgesetztseins an sich hat, sondern auch das Moment des Produziertseins – nämlich in dem 86

87 88

Hegel. Lehre vom Begriff, 169. Aus der Perspektive handwerklicher Tätigkeit stellt sich das Verhältnis von Mittel und Arbeitsprodukt nicht als gleichgültiges dar. Im Gegenteil ist die Affinität von Material und Zweck eine notwendige Bedingung für das Gelingen des Arbeitsprozesses: „Aus einem und demselben Stoffe kann Verschiedenes entstehen durch die bewegende Ursache, z. B. aus Holz sowohl eine Kiste wie eine Bettstelle. Manches Verschiedene dagegen verlangt notwendig einen verschiedenen Stoff; eine Säge z. B. kann nicht aus Holz gemacht werden, und das hängt nicht von der bewegenden Ursache ab; denn sie kann nie eine Säge aus Wolle oder Holz machen.“ Aristoteles. Metaphysik, Bücher VII–XIV, 1044a. Austauschbar sind Mittel und ausgeführter Zweck nur in einem reflexiven Prozeß wie dem der Arterhaltung. Vgl. S. 56 ff. in dieser Arbeit. Vgl. S. 53 in dieser Arbeit.

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Sinne, in der Wissenschaft der Logik schon reflektiert worden zu sein. Voraussetzung und Produkt, Regreß und Progreß sind im Mittel ununterscheidbar, Objektivität kann deshalb schlechthin als Mittel des Begriffs der Subjektivität betrachtet werden und ist dieser damit systematisch unterstellt. Entsprechend widerstandslos kann das Verhältnis von subjektivem Zweck und Objektivität im Sinne des Begriffs modifiziert werden: „Dadurch ist [die] Bestimmung des Objects zum Mittel schlechthin eine unmittelbare. Es bedarf für den subjectiven Zweck daher keiner Gewalt, oder sonstigen Bekräftigung gegen dasselbe, als der Bekräftigung seiner selbst, um es zum Mittel zu machen; der E n t s c h lu ß , Aufschluß, diese Bestimmung seiner selbst ist die n u r g e s e t z t e Aeusserlichkeit des Objects, welches darin unmittelbar als dem Zweck unterworfen ist, und keine andere Bestimmung gegen ihn hat, als die der Nichtigkeit des An- und Fürsichseyns.“89

Um die Ausführung des Zwecks zu vollenden, wird deshalb nicht die Objektivität schlechthin negiert, sondern die endliche Relation von Objektivität und subjektivem Zweck. Durch einfache Negation wurde der Unterschied zwischen beiden Momenten gesetzt, weil aber nicht die Bestimmung der Objektivität Zweck der Bewegung war, sondern die Bestimmung der Objektivität nur der Bestimmung der Subjektivität diente, kann die erste Negation aufgehoben werden, um die zweite, die Reflexivität des Verhältnisses, hervorgehen zu lassen. Es ergibt so sich ein positives Resultat, die unmittelbare Idee: „Das zweyte Aufheben der Objectivität durch die Objectivität ist hievon so verschieden, daß jenes [die erste Negation, M. B.] als das erste, der Zweck in objectiver U n mi t t e l b a r ke i t ist, dieses [die Negation der Negation, M. B.] daher nicht nur das Aufheben von einer ersten Unmittelbarkeit, sondern von beydem, dem Objectiven als einem nur gesetzten, und dem Unmittelbaren. Die Negativität kehrt auf diese Weise so in sich selbst zurück, daß sie eben so Wiederherstellen der Objectivität, aber als einer mit ihr identischen, und darin äusserlichen ist. Durch Letzteres bleibt diß Product wie vorhin, auch Mittel; durch ersteres ist es die mit dem Begriffe identische Objectivität, der realisierte Zweck, in dem die Seite, Mittel zu seyn, die Realität des Zwecks selbst ist.“90

Die Objektivität ist mit dem Zweck als dessen Funktion vermittelt. D. h. sowohl, daß sie mit dem Zweck in Einheit, als auch von ihm unterschieden ist. Außerhalb dieser Funkti89 90

Hegel. Lehre vom Begriff, 170. Ebd. Obwohl der Teleologiebegriff als negierende Bewegung gefaßt ist, soll die Negation im Resultat aufgehoben und damit zu einem positiven Resultat verkehrt werden. Andreas Arndt hat darauf hingewiesen, daß Hegel das destruktive Wesen der Arbeit, die das zu bearbeitende Material immer auch zerstört, im System der Sittlichkeit konsequenter faßt, als er dies in der Wissenschaft der Logik tut. Demnach sei die konsequente Gestalt der Vernichtung des Objektes die allgemeine Arbeit des Krieges: „sie gehe ‚nicht auf ein Product, sondern zerschlägt es unmittelbar, und macht die Leerheit der Bestimmtheiten eintreten‘ [zit. n. Gesammelte Werke (GW). Bd. 5. 329, M. B.]; sie sei ‚Arbeit ohne Zweck, ohne Bedürfniß, und ohne Beziehung auf die praktische Empfindung, ohne Subjectivität; […] mit ihr selbst hört ihr Zweck auf, und ihr Product.‘ [zit. n. ebd., 330 f., M. B.] Die ‚absolute Arbeit‘, so berichtet Hegels Biograph Karl Rosenkranz aus der nicht erhaltenen Fortsetzung des Systems der Sittlichkeit, sei ‚der Tod‘. [Karl Rosenkranz. Hegels Leben. 132., M. B.]“ Andreas Arndt. „Arbeit und Nicht-Arbeit.“ 15. Im Zusammenhang mit der Frage, inwieweit Hegels ökonomischer Arbeitsbegriff eine Auseinandersetzung mit Fichtes Überlegungen darstellt, verdeutlicht Arndt, daß das produktive Moment der Arbeit im Werkzeug liegt. Andreas Arndt. „Die gesellschaftliche Form der Arbeit: Negativität und Widerspruch in Hegels Ökonomie.“ In Die Arbeit der Philosophie. Berlin, 2003, 58 f.

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Die Arbeit der Selbstbestimmung in der Logik

on für die Subjektivität ist die Objektivität irrelevant; sie ist Voraussetzung nur in dem Maße, wie es für die Realisierung des subjektiven Zwecks notwendig ist. „Der Begriff b e s t i m mt s i c h nemlich, seine Bestimmtheit ist die äusserliche Gleichgültigkeit, die unmittelbar in dem Entschlusse als a u fg e h o b e n e , nemlich als in n e r li c h e , s u b j e c t i v e , und zugleich als v o r a u s g e s e t z t e s O b j e c t bestimmt ist. Sein weiteres Hinausgehen aus sich, welches nemlich als u n mi t t e l b a r e Mittheilung und Subsumtion des vorausgesetzten Objects unter ihn, erschien, ist zugleich Aufheben jener innerlichen, i n d e n B e g r i f f e i n ge s c h l o s s e n e n , d. i. als aufgehoben gesetzten Bestimmtheit der Aeusserlichkeit, und zugleich der Voraussetzung eines Objects; somit ist dieses anscheinend erste Aufheben der gleichgültigen Objectivität auch schon das zweyte, eine durch die Vermittlung hindurch gegangene Reflexion-in-sich, und der ausgeführte Zweck.“91

Nach Hegel kann der Zweck sich im Gegenstand nur ausführen, weil der Gegenstand in den Prozeß schon als ausgeführter Zweck eingeht. Die zweckgerichtete Tätigkeit ist reflexiv konstruiert, so daß Voraussetzung und Resultat schon von jeher miteinander kompatibel waren. „Diese Reflexion aber, daß der Zweck in dem Mittel erreicht, und im erfüllten Zwecke das Mittel und die Vermittlung erhalten ist, ist das letzte Resultat der äusserliche n Zwec kb ez iehung, worin sie selbst sich aufgehoben und das sie als ihre Wahrheit dargestellt hat.“92 Der Zweck, dessen Inhalt, der Entschluß zur Tätigkeit, die Tätigkeit selbst, das Werkzeug und die Objektivität, sind zu Bestimmungsmomenten der Einheit von Subjektivität und Objektivität, der Idee geworden: „Diese Identität ist einerseits der einfache Begriff, und eben so u n mi t t e l b a r e Objectivität, aber andererseits gleich wesentlich V e r mi t t l u n g , und nur durch sie, als sich selbst aufhebende Vermittlung, jene einfache Unmittelbarkeit; so ist er wesentlich diß, als fürsichseyende Identität von seiner a n s i c h s e ye n d e n Objectivität unterschieden zu seyn, und dadurch Aeusserlichkeit zu haben, aber in dieser äusserlichen Totalität die selbstbestimmende Identität derselben zu seyn. So ist der Begriff nun die I d e e .“93

Exkurs zur Kritik der Urteilskraft Kants Der subjektive Zweck hat als Fürsichsein notwendig das Moment der Voraussetzungslosigkeit an ihm, weil mit ihm der Ursprung zweckgerichteter Tätigkeit bestimmt wird. Ohne initiierende Ursache kann kein Prozeß gedacht werden. Gleichzeitig ist dem voraussetzungslosen Anfang der teleologischen Tätigkeit aber auch die Vermittlung durch die irreflexive Reihe der Mittel vorausgesetzt. Das erste Setzen des subjektiven Zwecks in der Objektivität, die dadurch zum Mittel wird, ist als Schluß der einfachen Negation bestimmt worden. Dieser Schluß ist aber durch einen vorgängigen Begründungsprozeß innerhalb der Wissenschaft der Logik bedingt, der zwar bereits vollzogen worden ist, aber erst mit dem Begriff des teleologischen Produktes rückwirkend reflektiert und eingeholt wird. Grund und Begründetes, subjektiver und ausgeführter Zweck verkehren 91 92 93

Hegel. Lehre vom Begriff, 170. Ebd., 171 f. Ebd., 172.

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sich dadurch. Der einzige Gegenstand, die einzige Objektivität, für die die Verkehrung von Mittel und Zweck denkbar ist, ist die Logik selbst: Der subjektive Zweck geht aus dem Mechanismus und Chemismus hervor und wird mit der Objektivität teleologisch vermittelt. Bedingung der Möglichkeit der teleologischen Vermittlung ist aber, daß der Begriff der Objektivität schon vor der Teleologie so bestimmt wurde, daß sie mit dem Zweck vermittelbar ist. Es ist der Nachweis vorausgesetzt, daß die Wahrheit der Objektivität ihr Begriff ist, nicht das gegenständlich bestimmte Einzelobjekt. Wenn Hegel also vom Begriff des ausgeführten Zwecks ausgehend die frühere Argumentation der Logik als Voraussetzung der Ausführung des Zweckbegriffs reflektiert, dann erweist sich diese vorgängige Argumentation als an sich zweckmäßig, obwohl dieser Aspekt in den entsprechenden Kapiteln des Schlusses oder des Mechanismus und Chemismus gar nicht reflektiert wurde. Wenn also die vorgängigen Kapitel zweckmäßig sind, dann ist der subjektive Zweck, mit dem das Teleologiekapitel eröffnet wird, selbst schon ein ausgeführter Zweck, weil er das Resultat einer zweckmäßigen Begründung ist. Damit ist das einzige Objekt für die Teleologie die Teleologie. Weder ist die handwerkliche Tätigkeit ein adäquates Objekt, weil sie endlich bleibt. Die handwerkliche Tätigkeit ist mitunter die notwendige Bedingung des Lebens, aber nicht seine hinreichende Bedingung. Noch gibt es eine transzendentalphilosophische Entsprechung, welche den Absolutheitsanspruch in dieser Konsequenz durchführt. Hegel zieht mit dieser Konstruktion die Konsequenzen aus den Problemen eines endlichen Teleologiebegriffs, wie sie z. B. an den Kritiken Kants aufzuzeigen sind. Der Widerspruch zwischen der regressiven und der progressiven Reihe der Begründung des Produkts bleibt hier offen: In der Kritik der reinen Vernunft beruhte die Begründung eines Objektes auf der Reihe seiner Ursachen. Die formale Bedingung aller Kausalreihen ist die Zeit als Form der inneren Anschauung, so daß in der Begründung eines Objektes Zeit und Kausalität koinzidieren. Damit ist die Kritik der reinen Vernunft eng an einem Erfahrungsbegriff ausgerichtet, der ein historisches Korrelat hat. Anders als Hegel unterscheidet Kant die Reihe der naturkausalen Bedingungen einer Erscheinung nach der Bewegungsrichtung in antecedentia und in consequentia, weil eine Erscheinung durch gegebene Bedingungen, aber nicht durch Folgen bestimmt ist. Gemäß der transzendentalen Idee der Vernunft wird für die Reihe in antecedentia Vollständigkeit der Bedingungen gefordert: „Die Zeit ist an sich selbst eine Reihe (und die formale Bedingung aller Reihen), und daher sind in ihr, in Ansehung einer gegebenen Gegenwart, die antecedentia als Bedingungen (das Vergangene) von den consequentibus (dem Künftigen) a priori zu unterscheiden. Folglich geht die transzendentale Idee, der absoluten Totalität der Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten, nur auf alle vergangene Zeit. Es wird nach der Idee der Vernunft die ganze verlaufende Zeit als Bedingung des gegebenen Augenblicks notwendig als gegeben gedacht.“94

Das Objekt ist durch seine Ursachen nur dann vollständig bestimmt, wenn deren Reihe ebenfalls vollständig gegeben ist. Diese Bedingung führte – wie bereits ausgeführt95 – 94 95

Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 438 f. Siehe S. 46 ff. dieser Arbeit.

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Die Arbeit der Selbstbestimmung in der Logik

notwendig auf den Begriff des Naturganzen als Bedingung der Möglichkeit der Objektivität von Erkenntnis und in der dritten Antinomie dann auf den Freiheitsbegriff als erste Ursache, die nicht aus der Reihe in antecedentia folgt. Die erste Ursache, da sie nicht durch andere Ursachen bedingt sein soll, ist frei, eine Kausalreihe selbst zu initiieren: „Dagegen verstehe ich unter Freiheit, im kosmologischen Verstande, das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, deren Kausalität also nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmte. Die Freiheit ist in dieser Bedeutung eine reine transzendentale Idee, die erstlich nichts von der Erfahrung Entlehntes enthält, zweitens deren Gegenstand auch in keiner Erfahrung bestimmt gegeben werden kann, weil es ein allgemeines Gesetz, selbst der Möglichkeit aller Erfahrung, ist, daß alles, was geschieht, eine Ursache, mithin auch die Kausalität der Ursache, die selbst geschehen, oder entstanden, wiederum eine Ursache haben müsse; wodurch denn das ganze Feld der Erfahrung, so weit es sich erstrecken mag, in einen Inbegriff bloßer Natur verwandelt wird. Da aber auf solche Weise keine absolute Totalität der Bedingungen im Kausalverhältnisse herauszubekommen ist, so schafft sich die Vernunft die Idee von einer Spontaneität, die von selbst anheben könne zu handeln, ohne, daß eine andere Ursache vorangeschickt werden dürfe, sie wiederum nach dem Gesetze der Kausalverknüpfung zur Handlung zu bestimmen.“96

Naturgesetze sind nicht ohne Erfahrung denkbar. Sie sind daher an die Bedingungen von Raum und Zeit gebunden, während der negative Freiheitsbegriff im Gegensatz dazu kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, jedenfalls keiner sinnlichen. Trotz dieser radikalen Unterscheidung beider Gegenstandsbereiche setzen sich aber beide auch wechselseitig voraus: Über den Mangel der Naturkausalität, unvollständig zu sein, wird die Kausalität aus Freiheit erst erschlossen; umgekehrt bliebe die Kausalität aus Freiheit ohne Naturkausalität unwirklich, denn sie kann sich nicht in sich selbst verwirklichen, sondern nur in einem anderen, der Natur. Das Problem, daß der Hiatus zwischen Naturbegriffen und Freiheitsbegriff überwunden werden muß, aber nicht überwunden werden kann, handelt Kant gleich mehrmals mit unterschiedlichen Schwerpunkten ab: in der Kritik der reinen Vernunft, der Kritik der praktischen Vernunft und schließlich in der Kritik der Urteilskraft, wobei die Urteilskraft das Verbindungsmittel der reinen und der praktischen Vernunft darstellt. In ihr sollen die offenen Probleme der beiden vorangegangenen Kritiken gelöst werden. Die Naturgesetze sind durch die Kategorien Kausalität und Wechselwirkung bestimmt, die Kausalität aus Freiheit durch das Prinzip der Zweckmäßigkeit. Das Prinzip der Kausalität aus Freiheit, die Zweckmäßigkeit, unterliegt aber ebenso dem Grundsatz der Vollständigkeit wie die Naturkausalität. Wenn für beide Grundsätze Vollständigkeit gefordert wird, dann müsste die Naturordnung durchgängig zweckmäßig bestimmt sein und zwar in der Hinordnung auf den Endzweck der Vernunft. Damit geriete aber das Prinzip der kausalen Naturordnung mit dem der teleologischen in einen Widerstreit, denn entweder ist die Naturordnung ein in sich reflexives System von Zwecken, oder eine irreflexive Verkettung von Ursachen und Wirkungen, deren systematische Einheit niemals vollständig gegeben sein kann. Um diesen Widerstreit zu vermitteln, unterschei96

Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 561.

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det Kant beide Prinzipien ihrem ontologischen Rang nach: Das teleologische Prinzip ist eine regulative Idee, die logisch zwingend ist, weil ohne Kausalität aus Freiheit die Naturordnung unvollständig bliebe. Das naturkausale Prinzip bestimmt hingegen die Erfahrung und ist damit konstitutiv: „D. i. die Natur wird durch diesen Begriff so vorgestellt, als ob ein Verstand den Grund der Einheit des Mannigfaltigen ihrer empirischen Gesetze enthalte. Die Zweckmäßigkeit der Natur ist also ein besonderer Begriff a priori, der lediglich in der reflectirenden Urtheilskraft seinen Ursprung hat. Denn den Naturproducten kann man so etwas als Beziehung der Natur an ihnen auf Zwecke nicht beilegen, sondern diesen Begriff nur brauchen, um über sie in Ansehung der Verknüpfung der Erscheinungen in ihr, die nach empirischen Gesetzen gegeben ist, zu reflectiren.“97 Aber dabei bleibt es nicht, denn das regulative Prinzip bliebe gegenstandslos, wenn es nicht ein Korrelat in der Erfahrung hätte. Deshalb muß Kant zeigen, daß Zweckmäßigkeit nicht nur ein regulativer, sondern ein verwirklichter Begriff ist. Teleologie und Naturkausalität müssen auf den Endzweck einer systematischen Naturordnung hin miteinander vermittelt werden. Dieser Endzweck kann nicht in der Erreichung der Glückseligkeit liegen, denn die Glückseligkeit bezieht sich auf die Materie aller Zwecke und ihre Realisierung ist eine Naturnotwendigkeit. Ebensowenig kann die Freiheit Endzweck sein, weil sie der Natur transzendent ist. Kant bestimmt deshalb den formal subjektiven Zweck der Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt zum Endzweck: „Die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit) ist die Kultur. Also kann nur die Kultur der letzte Zweck sein, den man der Natur in Ansehung der Menschengattung beizulegen Ursache hat (nicht seine eigene Glückseligkeit auf Erden, oder wohl gar bloß das vornehmste Werkzeug zu sein, Ordnung und Einhelligkeit in der vernunftlosen Natur außer ihm zu stiften).“98

Die Vermittlung der regulativen Vorstellung einer teleologischen Weltordnung mit dem Begriff der Naturkausalität verweist auf die Zeit als Form des Vermittlungsprozesses. Ihre objektive Entsprechung hat die Zeit in der geschichtlichen Entwicklung – der Kultur, so daß der Hiatus bei Kant in gedoppelter Gestalt auftritt – einmal im transzendenten Verhältnis der Naturbegriffe zum Freiheitsbegriff; dieses Verhältnis ist regulativ, und einmal in dem regulativen Verhältnis zu seinem geschichtlichen Korrelat in der Kultur. Kant ordnet den Endzweck nicht den Menschen als Subjekt zu, sondern redet vom Endzweck der Natur. Darin liegt ein Gegenstandswechsel. War der Gegenstand des kategorischen Imperativs noch das Kollektiv vernünftiger Wesen und die Natur die Materie der Glückseligkeit, so wird hier die Natur zum Gegenstand kultureller Entwicklung und das Kollektiv der praktisch begabten Sinnenwesen zum Mittel. Dem Naturzweck sind Zucht und Ordnung die adäquaten Mittel zur Nivellierung individualistischer Umtriebe der ihm subsumierten Individuen. Der Grund kultureller Entwicklung liegt nach Kant in der Ungleichheit der Menschen, die um die beste gesell97 98

I. Kant. Kritik der Urteilskraft, XXVIII. Ebd., 300.

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Die Arbeit der Selbstbestimmung in der Logik

schaftliche und ökonomische Stellung konkurrierten und Krieg führten. Ohne Konkurrenz und Krieg gäbe es danach keinen zivilisatorischen Fortschritt und ohne Herrschaft kein Ideal der Kultur. 99 „[A]ber das glänzende Elend ist doch mit der Entwickelung der Naturanlagen in der Menschengattung verbunden, und der Zweck der Natur selbst, wenn es gleich nicht unser Zweck ist, wir doch hierbei erreicht.“ 100 Freiheit ist das Vermögen zur Sittlichkeit. Das Sittengesetz kann aber nur dann als Maßstab moralischer Kritik fungieren, wenn es nicht durch technisch-praktische Interessen korrumpiert wird. Das hatte Kant in der Kritik der praktischen Vernunft bewiesen. Wird sie mit der Natur als Endzweck kultureller Entwicklung verwechselt, büßt sie auch ihr kritisches Potential ein und die Phänomene geschichtlicher Willkür – das „glänzende“ Elend – erscheint unmittelbar als sein Gegenteil, als Ausdruck einer vernünftig eingerichteten Natur. Die Kritik dieser Apologie müßte die Verhältnisse selbst als unvernünftige erweisen – sie wäre dann Gesellschaftskritik nicht Transzendentalphilosophie. Aber diesen Weg geht Hegel mit seiner Kantkritik nicht und kann ihn auch nicht gehen, weil sich für ihn – auch historisch bedingt – die Aufgabe stellt, die kantischen Antinomien zu vermitteln anstatt das Programm der Vermittlung selbst auf den Prüfstand zu stellen. Er zielt vielmehr darauf ab, daß Kant die Teleologie als regulatives Prinzip bestimmt und damit den Nachweis schuldig bleibt, daß Natur objektiv zweckmäßig verfaßt ist, nämlich insofern sie das Produkt zweckgerichteter Tätigkeit ist. Nur wenn Naturbegriffe und Freiheitsbegriff, Teleologie und Kultur, schließlich die Kausalreihe in antecedentia und in consequentia systematisch aufeinander bezogen werden, sei der Hiatus überwindbar. Als Momente des Systems verlieren die Relata ihre Widerspenstigkeit. Dieser Schritt hin zur Idee des Systems der Wissenschaft der Logik ist bei Kant zwar nicht ausgeführt, aber er klingt an. „[D]ie Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori.“101 Der Schritt zu Hegels Lösungsansatz ist dann nicht mehr groß: Wenn die Natur ohnehin nur dann Gegenstand möglicher Erfahrung ist, wenn sie den Formen der Anschauung und des Begriffs subsumiert ist, dann ist sie als Gegenstand möglicher Erfahrung auch schon zweckmäßig verfaßt. Als System und damit als Einheit von Subjektivität und Objektivität kann Hegel das Verhältnis von Naturbegriffen und Freiheitsbegriff nur bestimmen, indem er von dem geschichtlichen Korrelat des Verhältnisses, der Kultur, wenigstens in der Wissenschaft der Logik abstrahiert. Er operiert mit den Begriffen dieser Prozesse. Dadurch kann er die spezifische Differenz zwischen den Relata nivellieren.

99

100 101

Ausführlichere Erläuterungen zu dieser Passage aus der Kritik der Urteilskraft finden sich in: Maxi Berger. „Leben und leben lassen oder von der Amoralität teleologischer Urteile.“ In Hegel-Jahrbuch 2007, hrsg. v. Andreas Arndt, 356–362. Berlin, 2007. I. Kant. Kritik der Urteilskraft, 301. I. Kant. Kritik der reinen Vernunft, B 197.

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„Aber die Zweckbeziehung ist darum nicht ein reflectirendes Urtheilen, das die äusserlichen Objecte nur nach einer Einheit betrachtet, als ob ein Verstand sie zum Behuf unsers Erkenntnißvermögens gegeben hätte, sondern sie ist das an und fürsichseyende Wahre, das objectiv urtheilt, und die äusserliche Objectivität absolut bestimmt. Die Zweckbeziehung ist dadurch mehr als Urtheil; sie ist der Schluß des selbständigen freyen Begriffs, der sich durch die Objectivität mit sich selbst zusammenschließt.“102

Indem Hegel die spezifische Differenz in den Begriff dieser Differenz überführt, sind auch die Zeitreihen nur noch funktional unterschieden, oder, wo es der begrifflichen Entwicklung zu Gute kommt, auch gar nicht. Das Modell, welches der Teleologie Hegels zugrunde liegt und dem Anspruch des in sich geschlossenen Begriffs entspricht, ist deshalb nicht die Kultur, sondern das System der Logik selbst, weil hier die Äußerlichkeit des Verhältnisses von Zweck und Objektivität nicht durch die Selbständigkeit der jeweils korrespondierenden Gegenstandsbereiche begründet ist, sondern durch die Notwendigkeit, die Begriffe voneinander zu unterscheiden. Die Differenz ist somit eine systematische Funktion und das Verhältnis reflexiv. Dadurch bleibt der „Progreß der Vermittlung“ als rein logischer Schluß auch unscharf. Es wird nicht offenbart, daß der Teleologie die Mittel ihrer Realisierung nicht nur in der Logik gegeben sind, sondern auch geschichtlich. Wird die so transportierte spezifische Differenz einmal zugestanden, wirkt sie bedingend auf die Teleologie zurück und die Bedingungen, unter denen der Zweck realisiert wird, müssen in die Reflexion einbezogen werden. Wenn aber diese Bedingungen auch das Resultat eines zivilisatorischen Entwicklungsprozesses sind, dann ist nicht nur der Begriff der Objektivität als Bedingung in den Vermittlungsprozeß mit einzubeziehen, sondern der geschichtliche Prozeß selbst.103 D. h. erstens, daß die Objektivität, in der Zwecke realisiert werden sollen, nicht an sich vernünftig ist, und zweitens, daß deshalb das Gelingen der Selbstbestimmung nicht garantiert ist, sondern wesentlich von den Bedingungen abhängt, unter denen sie sich realisiert.

102 103

Hegel. Lehre vom Begriff, 159. Ein Modell dafür liefert der kapitalistische Produktionsprozeß: „Man hat gesehen, wie Geld in Kapital verwandelt, durch Kapital Mehrwert und aus Mehrwert mehr Kapital gemacht wird. Indes setzt die Akkumulation des Kapitals den Mehrwert, der Mehrwert die kapitalistische Produktion, diese aber das Vorhandensein größerer Massen von Kapital und Arbeitskraft in den Händen von Warenproduzenten voraus. Diese ganze Bewegung scheint sich also in einem fehlerhaften Kreislauf herumzudrehn, aus dem wir nur hinauskommen, indem wir eine der kapitalistischen Akkumulation vorausgehende ‚ursprüngliche‘ Akkumulation […] unterstellen, eine Akkumulation, welche nicht das Resultat der kapitalistischen Produktionsweise ist, sondern ihr Ausgangspunkt.“ Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 741. Auf die reflexive Struktur der kapitalistischen Produktionsweise verweisen auch Hans-Jürgen Krahl. „Bemerkungen zum Verhältnis von Kapital und Hegelscher Wesenslogik.“ In Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels, hrsg. v. Negt Oskar, 141–154. Frankfurt a. M., 1971; Frank Kuhne. Begriff und Zitat, 82 ff.

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Die Arbeit der Selbstbestimmung in der Logik

2.4 Resultate: Grenzen des Teleologiebegriffs Kant hatte mit der 3. Antinomie gezeigt, daß der Ursprung der irreflexiven Bewegung aus dem Regreß nicht bruchlos zu ermitteln ist, sondern in dem Vermögen der Subjekte, auf diese erste Ursache spekulativ schließen zu können, gegen den Regreß selbständig bleibt. Dieses Vermögen ist die Freiheit im negativen Verstande. Sie ist von der Natur als spekulativem Totalitätsbegriff der Vernunft absolut unterschieden, nicht ihrer Materie nach, denn auch die Freiheit kann sich nur in der kategorial verfaßten Natur verwirklichen, aber ihrer Ursache nach: Freiheit ist die nicht kategoriale Ursache von Erscheinungen. Als Nicht-Kategorie ist sie ein Vernunft- und kein Verstandesbegriff. Die Differenz zwischen Natur und Freiheit ist die Bedingung dafür, daß die Erkenntnisrelation nicht tautologisch ist. Die Naturursache ist aber ebensowenig positiv bestimmbar wie die Freiheit im negativen Verstande, wie am Begriff des Ding an sich (S. 43 ff.) und der Urteilskraft (S. 80 ff.) gezeigt wurde. Wenn aber die Differenz beider nicht bestimmbar ist, dann sind sie ununterschieden. Hegel zieht daraus seine Schlüsse, so daß bei ihm die teleologische Bewegung im Resultat der Entwicklung als in sich geschlossen erscheint. Die reflexive Bewegung des sich bestimmenden Zwecks ist mit der irreflexiven Bewegung des unendlichen Regresses der Mittel im ausgeführten Zweck, der Mittel ist, und dem Mittel, das ebenso ausgeführter Zweck ist, zusammengegangen. Als Subjekt der Selbstbestimmung ist der Zweck bei Hegel nicht nur der Bestimmungs-, sondern mit der Argumentation der Teleologie auch der Existenzgrund der teleologischen Bewegung. Das Objekt ist dagegen Mittel und ausgeführter Zweck. Das, was bei Kant die unbekannte Ursache der Erscheinungen war, wird bei Hegel zur Konstruktion der Logik. Hegel vermittelt die kantische Aporie durch den Verweis auf Arbeit: Die unbekannte Ursache der Erscheinungen kann erkannt werden, wenn und weil in der Welt Arbeit realisiert worden ist: praktische Arbeit oder auch Erkenntnisarbeit. Umgekehrt zeigt Hegel, wie sich der Begriff durch Arbeit an einem Material vergegenständlicht. Einerseits deutet Hegel damit an, daß die Lösung der erkenntnistheoretischen Probleme praktisch ist. Sie verweisen damit auf etwas, das nicht ausschließlich erkenntnistheoretisch zu lösen ist. Indem Hegel aber das Material dieser Arbeit, den auszuführenden Begriff der Wissenschaft der Logik, mit dem Zweck, dem ausgeführten Begriff der Wissenschaft der Logik, zusammenschließt, wird die praktische Arbeit erkenntnistheoretisch bestimmt und eingeholt und die Bewegung somit reflexiv. Bedingung der Möglichkeit dafür, die Kompatibilität der endlichen Bewegung, wie sie sich im unendlichen Regreß des Setzens der Mittel realisiert, und der reflexiven Bewegung des subjektiven Zwecks zu sich im ausgeführten Zweck zu erschließen, ist die Tilgung der in der Differenz liegenden Eigenart einerseits der Reflexion, die sich selbst bestimmt, und andererseits der Objektivität, die Inhalt des subjektiven Zwecks ist, aber ebenso als Stoffursache die Bedingungen der Realisierung des subjektiven Zwecks vorgibt, und darin auch gegen den Zweck selbständig bleibt: Die Teleologie bliebe sowohl von einer endlichen Bedingung abhängig, wenn das Subjekt endlich und willensbegabt

Resultate: Grenzen des Teleologiebegriffs

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bestimmt, als auch, wenn die Objektivität materiell bestimmt wäre. Die beiden Funktionen der Objektivität, causa formalis und causa materialis zu sein, werden auch in der Logik ihrer Funktion nach unterschieden, aber nicht ihrem Gegenstandsbereich nach, mit der durchaus gewollten Konsequenz, daß das Mittel und der ausgeführte Zweck ununterscheidbar werden, so daß Hegel sie in den Begriff der Idee transferieren kann. Diesen Schluß der prinzipiellen Übereinstimmung der Begriffe hatte Hegel in der Lehre vom Sein, der Lehre vom Wesen bzw. den Passagen zum Schluß, Mechanismus und Chemismus bereits vorbereitet. In der Teleologie war deshalb nicht (mehr) die Vermittlung von Einzelobjekten mit dem Begriff Gegenstand, sondern die Vermittlung der Relationen von Gegenstandsbereichen. Auf diese Weise beansprucht Hegel gezeigt zu haben, daß die Objektivität keine Bedingungen hat, die nicht durch und im Begriff vollständig reproduzierbar wären. Außerhalb der Idee gibt es nichts Wesentliches; sie ist der Begriff des in sich abgeschlossenen und entwickelten logischen Systems. „Indem sich aber das Resultat ergeben hat, daß die Idee die Einheit des Begriffs und der Objectivität, das Wahre, ist, so ist sie nicht nur als ein Z i e l zu betrachten, dem sich anzunähern sey, das aber selbst immer eine Art von J e n s e i t s bleibe, sondern daß alles Wirkliche nur insofern i s t , als es die Idee in sich hat und sie ausdrückt. Der Gegenstand, die objective und subjective Welt überhaupt s o ll e n mit der Idee nicht bloß c o n gr u i r e n , sondern sie sind selbst die Congruenz des Begriffs und der Realität; diejenige Realität, welche dem Begriff nicht entspricht, ist blosse E r s c h e i nu n g , das Subjective, Zufällige, Willkührliche, das nicht die Wahrheit ist.“104

Obgleich diese in sich geschlossene Bewegung der Idee noch die Notwendigkeit der Differenz der Momente reflektiert und damit behauptet wird, sie als Funktion in die Idee integriert zu haben, erweist die Kritik an dieser Argumentation Hegels einen unreflektierten Rest, der dem Systemanspruch nicht subsumierbar ist und ihm damit zugleich bedingend unterstellt bleibt: der Wille und die geschichtlich ausgeübte Gewalt, ohne die nicht einmal die Äquivokationen im Mittel erklärbar wären. Dies drückt sich negativ darin aus, daß Mittel und Zweck funktionale Bestimmungen sind, die gegen den Gehalt der Begriffe, deren Funktionen sie bezeichnen, gleichgültig sind. Aus dieser Gleichgültigkeit resultieren Abstraktionen, Mehrdeutigkeiten im Begriff oder es werden Übergänge als notwendig behauptet, die unbewiesen bleiben. Das gilt für das teleologische Verhältnis von Subjektivität und Objektivität ebenso, wie für den Begriff des Mittels, der sich zum Subjekt und dessen Arbeitsbedingungen ebenso uneindeutig verhält wie zur Natur als ursprünglichem Reproduktionsmittel. Hegel konnte zwar zeigen, daß der subjektive Zweck überhaupt einer Differenz zur Objektivität bedarf, weil er andernfalls leer und unbestimmt bliebe. Diese Differenz, die durch den Schluß der Negation der Negation des Zweckbegriffs begründet wird, bleibt aber uneindeutig gegen den Objektbegriff, der als Inhalt des Zweckbegriffs und als Stoffursache zwei unterschiedene Funktionen erfüllen muß, ohne daß der Differenz in den Funktionen eine gegenständliche Differenz entspräche. Der Teleologiebegriff Hegels hat sein Gegenmodell in den praktischen Erfahrungen der Menschen, die sich von je her an 104

Hegel. Lehre vom Begriff, 174.

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Gegenständlichem abgearbeitet haben, das sie als Stoffursache vorgefunden haben. In der Praxis sind die Objekte substantiell bestimmt, d. h. sie sind keine Totalität, sondern Einzeldinge, und keine reinen Begriffe, sondern materielle Grundlage zweckgerichteter Tätigkeit. Der Begriff des Mittels steht zwischen dem subjektiven und dem objektiven Zweck. Die Relation auf den subjektiven Zweck ist hierarchisch bestimmt: Das Mittel ist einerseits Objekt oder Werkzeug und andererseits zweckgerichtete Tätigkeit. Es wird als Funktion des subjektiven Zwecks durch den subjektiven Zweck erschlossen, unter dessen Hoheit es deshalb auch wirkt. Das Mittel soll einerseits die Selbständigkeit des subjektiven Zwecks gegenüber der Objektivität gewährleisten; während es andererseits gegenüber der Objektivität als das formende Prinzip auftritt. Indem es durch diese Bestimmungen zugleich den Mangel des subjektiven Zwecks behebt, noch nicht realisiert zu sein, ist es dem subjektiven Zweck nicht nur subsumiert, sondern vollkommener als dieser, weil es sowohl zweckmäßig als auch objektiv ist. Der subjektive Zweck soll also logisch vorrangig sein, das Mittel als Realisation des Zwecks hat den ontologischen Vorrang. Weil aber das Mittel nicht materiell, sondern selbst nur als Schlußform bestimmt ist, ist seine ontologische Vollkommenheit in der Tat nur eine logische Vollkommenheit. Eine Hierarchie zwischen zwei Gleichartigen, dem subjektiven Zweck, der logisch bestimmt ist, und dem Mittel, das von dieser logischen Bestimmung des Zweckes nicht unterscheidbar ist, ist nicht aufrechtzuerhalten. Analog ist das Verhältnis von Mittel und ausgeführtem Zweck zu beurteilen. Hier ist die Zuordnung der Funktionen zur Objektivität nicht nur unfreiwillig uneindeutig, sondern wird selbst zur Funktion: Indem Hegel zeigt, daß Mittel und ausgeführter Zweck ihrem substantiellen Gehalt nach dasselbe sind, nämlich Schlußformen, schafft er die Voraussetzung dafür, daß die Einheit von Subjektivität und Objektivität in der Idee hergestellt werden kann. Schließlich irritiert auch die doppelte Bestimmung des Mittels als Werkzeug und zweckgerichtete Tätigkeit. Es muß gegensätzliche Anforderungen erfüllen, indem es den subjektiven Zweck sowohl aneignen können muß, damit es gemäß seinem Inhalt auf die Objektivität einwirken kann; gleichzeitig muß es gegen diesen ebenso selbständig sein, damit der subjektive Zweck während des Vermittlungsprozesses als absolut Selbständiges unangetastet bleibt. Diese Anforderung können aber Werkzeug und zweckgerichtete Tätigkeit allein nicht erfüllen, sondern das kann nur ein Mittel, das die zweckgerichtete Tätigkeit selbständig initiiert. Es muß den Entschluß, dem subjektiven Zweck gemäß tätig zu werden, selbst fällen und gegen diesen gleichzeitig substantiell, z. B. als körperliches Wesen, eigenständig sein: Diesen Bestimmungen entspricht die Arbeitskraft, die aber in der Wissenschaft der Logik keine Erwähnung findet, weil sie keine ableitbare Kategorie, sondern dem Arbeitsprozeß empirisch unterstellt ist. Hegels Idee schwebt hingegen über der Welt und ist doch zugleich durch sie bestimmt. Teleologie ist immanent nicht nur auf den Begriff des Gegenstandes verwiesen, sondern vielmehr auf den historisch vorgefundenen und durch die Einzelwissenschaften konstituierten Gegenstand dieses Begriffs. Ohne diesen Gegenstand mitzudenken, bleibt

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die Konstruktion der logischen Begriffe an den benannten Stellen mysteriös, weil sie zwar zitiert, aber nicht abgeleitet sind. Subjekte, Objekte und Herrschaft erweisen sich darin als konstitutiv für die philosophischen Erfahrungen, auch wenn sie diese nicht determinieren. Sie sind der Rest, der im Begriff der Teleologie nicht aufgeht. Kritisch gegen Hegel gewendet hat der Teleologiebegriff andere Implikationen: Hegel hatte behauptet, daß sich der Zweck in der teleologischen Bewegung selbst bestimmt, weil er in allen Stadien des Prozesses mit sich identisch bleibt. Das Arbeitsmittel ist ebenso Ausdruck seiner Selbstbestimmung wie der ausgeführte Zweck, weil diese nicht nur vom subjektiven Zweck unterschieden sind, sondern weil sie Mittel seiner Realisierung sind. In die teleologische Bewegung geht die Erfahrung des herrschaftlich organisierten Arbeitsprozesses ein, in dem der subjektive Zweck weder mit sich identisch bleibt, noch selbstbestimmt ist. Aristoteles hatte die Sklaverei als ökonomische Bedingung der Muße und des tugendhaften Lebens bestimmt. Das bedeutet, daß die Sklaven ein Mehrprodukt produzieren, von dem nicht nur sie, sondern auch ihr Herr leben kann. Dieses Produkt gehört ihnen nicht, so wenig wie ihr Wille selbstbestimmt ist. Sie führen das Kommando ihres Herren aus. Der Herr hat hingegen zwei Zwecke: Erstens den technisch-praktischen Zweck, über das Mehrprodukt der Sklaven verfügen zu können und Herrscher zu sein, zweitens den, auf der Grundlage des Mehrprodukts ein müßiges Leben führen zu können. Nur indem er herrscht und herrschen will, verfügt er über die ökonomischen Bedingungen, auf deren Grundlage er ein tugendhaftes Leben führen kann. Aber selbst in einem herrschaftsfrei und gesellschaftlich organisierten Arbeitsprozeß sind technisch-praktische von selbstbestimmten Zwecken noch zu unterscheiden, denn die produktive, im weitesten Sinne der Reproduktion dienende Arbeit hat ihren Zweck in der Naturbearbeitung, so daß ihr Zweck durch die Bedürfnisse bestimmt wird und die Bearbeitung durch die Gegebenheiten der Natur als Material der Bearbeitung. Hier ist Arbeit in beiden Fällen Ausdruck von Fremdbestimmung, nicht von Selbstbestimmung. Es ist deshalb umgekehrt auch kein Zufall, daß der konsequent durchgeführte Begriff von Selbstbestimmung in der Wissenschaft der Logik sich nur auf sich selbst bezieht. Zwar kann Hegel den Begriff absoluter Selbstbestimmung nicht bestimmen, ohne die Verlaufsform und Konstituentien praktischer Arbeit wenigstens indirekt heranzuziehen. Das bedeutet aber umgekehrt nicht, daß absolute Selbstbestimmung historische Realität hätte. Darin liegt sowohl ihre kritische Potenz gegenüber der Praxis, als auch ihr mystifizierendes Moment. Die Kritik an Hegel hatte ergeben, daß der Begriff der Selbstbestimmung des Begriffs gegen seinen eigenen Absolutheitsanspruch mit dem individuellen Willen, dem technischen Stand der Produktivkräfte und der geschichtlich schon als Arbeitsprodukt vorgefundenen Natur auf Bedingungen verwiesen bleibt, die er nicht einzuholen vermag. Das bedeutet, daß die Selbstbestimmung auf die Erfahrung der herrschaftlich organisierten Arbeit verwiesen bleibt, die umgekehrt auf den Begriff der Wissenschaft der Logik zurückwirkt. In der Kritik der Teleologie erweist sich die absolute Selbstbestimmung im Kern als ein endlicher Begriff, der den Anspruch auf Selbstbestimmung nur vermittelt

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über die Fremdbestimmung realisieren kann, ohne daß diese Fremdbestimmung wie Hegel behauptet, in der Bewegung aufgehoben werden könnte. Was passiert aber mit dem Anspruch auf absolute Selbstbestimmung, wenn sie sich als bedingt erweist, wenn die Teleologie nicht ohne die Erfahrungen fremdbestimmter Arbeit denkbar ist? Indem sich der Zweck im Mittel setzt und das Mittel stellvertretend die Arbeit an der Objektivität verrichten läßt, spaltet der Zweck sich in das fürsichseiende Moment des subjektiven Zwecks, in dem er den Inhalt des zweckmäßigen Prozesses für sich bestimmt, und in ein ansichseiendes Moment, in dem er wirkt. Obwohl Hegel durch die Trennung von subjektivem Zweck und Arbeitsmittel gewährleisten will, daß der subjektive Zweck sich rein erhalten kann, wirkt diese Spaltung des Zwecks auf dessen Inhalt zurück: Die Realisierung des Fürsichseins des subjektiven Zwecks ist von etwas anderem abhängig, sie ist durch das Mittel und die erfolgreiche Naturbearbeitung bedingt. Vor der adäquaten Realisierung im ausgeführten Zweck ist der subjektive Zweck damit mangelhaft und dadurch endlich. Inhalt des subjektiven Zwecks ist zwar zunächst seine Selbstbestimmung, aber damit er sich realisieren kann, muß er die Verfügung über Arbeitsmittel bezwecken, d. h. die Verfügung über Produktionsmittel und Arbeitskraft. Damit ist ihm aber nicht seine Realisierung der Zweck, sondern die Mittel dazu: Das eine Mittel ist die Bearbeitung des Stoffes, in dem er sich realisiert, der eben nicht an sich zweckmäßig, sondern zweckfrei, mitunter sogar zweckwidrig ist. Das zeigt sich spätestens, wenn das Artefakt mißlingt, wenn der Tisch zusammenbricht o. ä. Das andere Mittel ist die Arbeitskraft, welche sich deshalb statt seiner an der Natur abarbeitet. Der eine Zweck absoluter Selbstbestimmung zerfällt in eine Vielzahl endlicher und technisch praktischer Zwecke, die rein begrifflich kaum zu bändigen sind. Die Realisierung des autonomen Zwecks der absoluten Selbstbestimmung ist nur vermittelt über die technisch-praktischen Zwecke denkbar – logisch, weil er sonst bestimmungslos bliebe, ontologisch, weil die Objekte den Zwecken gemäß geformt werden müssen, wenn sich die Zwecke darin realisieren können sollen. Die Realisierung der technisch-praktischen Zwecke ist aber nicht in gleicher Weise von der Realisierung des absoluten Zwecks abhängig wie umgekehrt. Das bedeutet, daß der selbstbestimmte Zweck vor seiner Realisierung in der Objektivität utopisch ist, gleichzeitig aber Selbstbestimmung nicht absolut, sondern nur partiell zu verwirklichen ist, in einzelnen Handlungen oder organisatorischen Zusammenhängen. Diese Konsequenz läßt vom Prinzip der Teleologie nur den in sich brüchigen Begriff absoluter Selbstbestimmung der Unterordnung der Mittel unter den Zweck. Vom Standpunkt der Wissenschaft der Logik und dem Begriff absoluter Selbstbestimmung ist es irrelevant, ob mit dem Arbeitsmittel über Boden, Werkzeuge oder Subjekte verfügt wird, deren Arbeitskraft ausgenutzt wird. Die von Hegel provozierte Verwechslung der Gegenstandsbereiche ist im Falle der Degradierung von Menschen zu Mitteln der Herrschaft des subjektiven Zwecks das Gegenteil von Selbstbestimmung: Sie ist unmoralisch. Sie wären als Zweck an sich selbst zu behandeln. Ein adäquater Begriff von Selbstbestimmung müßte diese Inadäquanz reflektieren, die darin liegt, daß Selbstbestimmung noch in ihrem absoluten Anspruch auf Bedingungen verwiesen ist, die in den

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Begriff von Selbstbestimmung nicht aufgehoben werden und können und daher als Bedingungen der Selbstbestimmungen zu berücksichtigen sind. In der Praxis sind den Funktionen Zweck und Mittel eindeutig die Objekte bzw. Subjekte zugeordnet. Aber gerade die sichere, weil detaillierte Unterscheidung kann das kategoriale Prinzip Hegels aus sich heraus nicht leisten. Umgekehrt wird Selbstbestimmung erst durch die Spaltung des Zweckbegriffs in autonome und heteronome Zwecke zum Maßstab der Kritik, weil in der Dualität der Zwecke erst den vernunftbegabten Sinnenwesen Rechnung getragen wird, indem sie als Subjekte der Selbstbestimmung in die Reflexion einbezogen werden. Das Prinzip der Koordination von selbstbestimmten und technisch-praktischen Zwecken kann weder aus einem reinen Prinzip wie der Teleologie abgeleitet werden, weil dieses interesselos ist, noch kann es bloß mechanistisch erklärt werden, weil es zur Selbstbestimmung der Freiheit des Willens bedarf. Nur ein vernunft- und willenbegabtes Sinnenwesen, das beide Zwecke in sich vereinigt, kann sich entschließen, sie zu koordinieren. Die Koordination selbstbestimmter und fremdbestimmter Inhalte findet in den geschichtlichen Taten von Individuen statt; es ist dies ihre Arbeit. In der Sphäre der äußeren Zweckmäßigkeit der Wissenschaft der Logik mündet die Vermittlung des Mittels in den unendlichen Regreß, dessen Immaterialität die Voraussetzung darstellt, die irreflexive Bewegung des Regresses in die reflexive Bewegung innerer Zweckmäßigkeit zu überführen. Wird aber der unendliche Progreß der Mittel als Geschichte der Vermittlung von emanzipativen und regressiven Zwecken vorgestellt, dann geht er nicht in die innere Zweckmäßigkeit der Idee über, sondern stellt die arbiträre Bedingung der Realisierung der Selbstbestimmung dar: die Geschichte der Akkumulation von Wissen und Produktionsmitteln, auf deren Grundlage eine selbstbestimmte Gesellschaft überhaupt erst etabliert werden kann. Die Einheit von Subjektivität und Natur ist nicht einmal im Element der Wissenschaft der Logik rein zu denken, weil die Widersprüche, die mit der Logik vermittelt werden sollten, erneut aufbrechen. Negativ verweist das immer wieder auf Bedingungen des Systems, die diesem transzendent bleiben. Die Erde als ursprüngliches Produktionsmittel und als Arbeitsgegenstand läßt sich ebensowenig aus dem Begriff herleiten wie die Subjekte, die herrschen oder beherrscht werden. Sie sind jedem zweckgerichteten Prozeß vorausgesetzt. Darin, daß Hegel diese Voraussetzungen gegen die historischen Tatsachen in den Begriff zu integrieren versucht, erweist sich seine Argumentation selbst als teleologisch, weil sie willentlich von den Gegenständen abstrahiert, über die in letzter Instanz verhandelt wird. Die Durchführung des Programms der Logik bedarf selbst des Entschlusses zu diesem Umgang mit den Gegenständen. Gegen den Entschluß aus dem Anfang der Wissenschaft, die Logik als ursprünglich und unabhängig vom Willen und Selbstbewußtsein der Phänomenologie zu betrachten (s. S. 51 dieser Arbeit), ist dem Programm der Logik damit insgesamt ein subjektiver Wille unterstellt, der der Durchführung des Programms schon vorausgesetzt ist und nicht abgeleitet werden kann. Auch hier erweist sich also das Subjekt als konstitutiv und der Begriff der absoluten Selbstbestimmung als endlicher Begriff.

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2.5 Der Tod des Individuums: Leben als unmittelbare Idee „[M]an spricht heutigentages übrigens gerade da am meisten vom Leben und vom Übergehen ins Leben, wo man in dem totesten Stoffe und in den totesten Gedanken versiert […]“105 „Einzig das ganz bewußt gemachte Grauen vor der Vernichtung setzt das rechte Verhältnis zu den Toten [...]“106

Hegel verortet den Gegenstandsbereich der Wissenschaft der Logik jenseits der Welt, als Gedanke Gottes vor deren Erschaffung. Damit wäre die Darstellung dieses Gedankens autonom. Als reiner Gedanke bliebe er aber leer, so daß auch er die Negation der Negation und mit ihr sein Anderes, seinen Gegenstand in sich trägt. Ein dieser Konstellation adäquater Gegenstand muß deshalb einerseits selbst autonom bestimmt, andererseits aber auch vom reinen Gedanken unterschieden sein. Damit unterscheidet sich der Begriff in der Wissenschaft der Logik von sich und nimmt die Gestalt der jeweils verhandelten Kategorien – Subjekt, Objekt, Teleologie, Idee – an. Diese Begriffe sind ihrerseits nicht leer, sondern adaptieren geistesgeschichtlich bestimmte Gehalte. Der Begriff des Gegenstandes ist von diesen philosophiegeschichtlichen Gehalten noch unterschieden, die geistesgeschichtlich bestimmten Gehalte sind das Problem, dessen Lösung der Begriff des Gegenstandes darstellen soll. Deshalb stellen die philosophiegeschichtlich ungelösten Probleme den Gehalt der Wissenschaft der Logik dar. Vor diesem Hintergrund läßt sich das Programm der Logik auch als der Versuch charakterisieren, Ontologie, Metaphysik und formelle Logik miteinander zu vermitteln,107 und damit gleichzeitig zu zeigen, wie die äußere Zweckmäßigkeit, die ihr Vorbild am Arbeitsprozeß hat, in die innere Zweckmäßigkeit, die ihr Vorbild am Leben hat, übergeht. Die erste Bedingung für dieses Programm ist die Identifikation der metaphysischen und der subjektiven Begründungslinie: Nicht das „Ich denke“, sondern der Begriff wird zum treibenden Subjekt der Entwicklung erklärt. Die ontologische Begründungslinie der Logik leistet den Nachweis, daß die Objektivität als begriffslose Materialität undenkbar ist, ohne deshalb aber umgekehrt unmittelbar mit dem Begriff identisch zu sein; sie ist die Substanz der Bewegung, und daß ihre Wahrheit im Begriff liegt, ist erst nachzuweisen. Diese Begründung ist aber insofern einseitig, als mit ihr nur die Objektivität bestimmt ist, nicht aber deren Existenzgrund. Ohne die Erkenntnis und begriffliche Reproduktion des Existenzgrundes wird die Wirklichkeit gespalten in ihren Begriff einerseits und andererseits dessen ontologisches Korrelat, das jenseits und unabhängig vom Be105 106 107

Hegel. Grundlinien, § 211 Anmerkung. Theodor W. Adorno u. Max Horkheimer. Dialektik der Aufklärung, 243. Vgl. auch Herbert Marcuse: „Die traditionelle Unterscheidung zwischen formaler Logik und allgemeiner Metaphysik (Ontologie) wird für den transzendentalen Idealismus gegenstandslos, der die Formen des Seins als die Resultate der Tätigkeit des menschlichen Verstandes begreift. Die Prinzipien des Denkens werden dadurch zugleich zu Prinzipien der Gegenstände des Denkens (der Erscheinungen).“ Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie. Bd. 13. Neuwied [u. a.], 1968, 66. Ebenso Manfred Riedel. Theorie und Praxis im Denken Hegels, 9 ff.

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griff existiert. Die Relation von Begriff und Gegenstand wäre so nur in einer Hinsicht wahr, in einer anderen bliebe sie aber unbestimmt.108 Das käme einem Rückfall in die kantischen Antinomien und die Dichotomie von Objekt und Ding an sich gleich. Daher muß Hegel durch die metaphysisch-praktische Begründung außerdem zeigen, daß der Bestimmungsgrund auch der Existenzgrund ist. D. h. daß im Begriff die Wahrheit der Objektivität nicht nur erkannt wird, sondern die Objektivität auch aus dem Begriff hervorgebracht wird. Existenzgrund eines Objektes ist somit nicht seine naturkausale Ursache sondern der Begriff. Mit dieser Bestimmung wäre der Begriff in der Idee absolut auf sich selbst bezogen – der von Hegel angekündigte Gottesgedanke.109 Entsprechend erstreckt sich die Vermittlung von Ontologie, Metaphysik und Logik über die gesamte Wissenschaft der Logik, so daß in der Teleologie der subjektive Zweck die Objektivität als Voraussetzung seiner Tätigkeit vorfindet, weil aber deren abgehandelte Gestalten bereits Funktionen geworden sind, findet er sich auf ewig in dieser bestätigt. Mit dieser Idee soll dann im Sinne der Logik eine qualitativ neue Stufe erreicht sein – eine, in der die Wahrheit im Begriff der Idee zu sich selbst gekommen ist und sich als Begriff des Lebens, Erkennens und selbstbestimmten Handelns reflektiert. Mit Hegel drückt sich die darin liegende Selbständigkeit des Begriffs gegenüber den zitierten Gegenstandsbereichen darin aus, daß der Begriff der Einheit von Begriff und Objektivität innerhalb der Wissenschaft der Logik noch formell bleibt. Zwar hat die logische Bewegung die Vermittlung der Begriffe von Subjektivität und Objektivität zum Gegenstand. Sie ist also keine methodische Wissenschaft, sondern eine, die auf einen Gegenstand immanent bezogen ist. Umgekehrt ist aber die Logik auch keine Einzelwissenschaft. Die Entwicklung des Begriffs findet nicht in besonderen Gegenstandsbereichen statt, sondern innerhalb des Begriffs dieser Gegenstandsbereiche – der Objektivität. Im Resultat der Wissenschaft der Logik, der Idee, ist dem Programm nach die Einheit von Begriff und Objektivität hergeleitet worden. Diese Einheit ist der „härteste Gegensatz“ , weil die beiden Elemente der Erkenntnis darin ebenso erhalten bleiben. „Die I d e n t i t ä t der Idee mit sich selbst ist eins mit dem P ro c e s s e , der Gedanke, der die Wirklichkeit von dem Scheine der zwecklosen Veränderlichkeit befreyt und zur I d e e verklärt [sic! M. B.], muß diese Wahrheit der Wirklichkeit nicht als die todte Ruhe, als ein blosses B i l d , matt, ohne Trieb und Bewegung, als einen Genius oder Zahl oder einen abstracten Gedanken vorstellen; die Idee hat um der Freyheit willen, die der Begriff in ihr erreicht, auch den h ä r t e s t e n G e g e n s a t z in sich; ihre Ruhe besteht in der Sicherheit und Gewißheit, womit sie ihn ewig erzeugt und ewig überwindet und in ihm mit sich selbst zusammengeht.“110 108

109 110

„Wenn die G e d a n k e n etwas bloß s u b j e c t i v e s und zufälliges sind, so haben sie allerdings keinen weitern Werth, aber sie stehen den zeitlichen und zufälligen Wi r k l i c h k e i t e n darin nicht nach, welche ebenfalls keinen weitern Werth als den von Zufälligkeiten und Erscheinungen haben. Wenn dagegen umgekehrt die Idee darum den Werth der Wahrheit nicht haben soll, weil sie in Ansehung der Erscheinungen t r a n s c e n d en t , weil ihr kein congruirender Gegenstand in der Sinnenwelt gegeben werden könne, so ist diß ein sonderbarer Mißverstand, indem der Idee deßwegen objective Gültigkeit abgesprochen wird, weil ihr dasjenige fehle, was die Erscheinung, das u n wa h r e S e yn der objectiven Welt, ausmacht.“ Hegel. Lehre vom Begriff, 74. Vgl. Hegel. Lehre vom Begriff, 20. Ebd., 177.

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Aus dem Trieb, diesen härtesten Gegensatz zu vermitteln, oder ihn, wie Hegel sagt, zur Idee zu verklären, bringt die logische Idee dann ihre Gegenstände mit dem Übergang von der Wissenschaft der Logik zur Naturphilosophie und Philosophie des Geistes als reelle Gegenstände, als Natur und Geist hervor und verläßt damit auch das einheimische Reich des Gedankens. Vor dem Hintergrund der Kritik am Teleologiebegriff Hegels, wonach der Zweck seine Bedingungen als Subjekte, Objekte und in der Herrschaft vorfindet, ohne sie restlos aufheben zu können, bleibt bei der Idee umgekehrt die Frage, inwieweit mit der Verknüpfung der metaphysischen, praktischen und ontologischen Begründung der Idee auch die darin implizierten Gegenstandsbereiche verknüpft und reproduziert werden: Naturwissenschaft, Biologie und Geisteswissenschaft. Im Übergang von der Teleologie zum Leben wird das Problem deshalb eklatant, weil der Gegenstandswechsel hier besonders deutlich wird. Immerhin changiert dieser Übergang zwischen der streng begrifflichen Ebene, auf deren Grundlage der ausgeführte Zweck in die innere Zweckmäßigkeit notwendig übergeht, und der Ebene der implizierten Gegenstandsbereiche, wonach aus dem Artefakt als Resultat des Arbeitsprozesses der lebendige Organismus hervorgehen soll. Hier würde die notwendige Bedingung menschlichen Lebens, die Naturbearbeitung als Mittel der Reproduktion, anstelle der geschlechtlichen Fortpflanzung zum hinreichenden Grund des Lebens. Bei Aristoteles werden die Ursachen der Artefakte von denen des Lebens ontologisch unterschieden. Die Ursache des Artefakts ist die handwerkliche Tätigkeit, während das Leben aus anderem Leben entsteht. Dadurch subsistiert der Gattungsprozeß in sich, nicht aber die handwerkliche Tätigkeit. Über die Ernährung der Menschen stehen beide Formen der zweckgerichteten Prozesse miteinander in Verbindung, ohne aber dasselbe zu sein: Die Produktion von Lebens- und Produktionsmitteln ist eine notwendige Bedingung der Reproduktion der lebendigen Individuen, sie ist aber nicht deren hinreichender Grund. Mithin ist Arbeit eine notwendige Bedingung menschlichen Lebens. Ähnlich schließt Kant von der Existenz lebendiger Kreaturen auf das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft, ohne daß die Lebewesen die hinreichenden Gründe der reflektierenden Urteilskraft wären: Das Prinzip der Urteilskraft hat seinen Grund in der Vernunft, die sich zugleich Subjekt und Objekt ihrer Kritik ist. Umgekehrt ist aber die Urteilskraft auf den Prozeß kultureller Entwicklung verwiesen, weil nur im geschichtlichen Prozeß die Angemessenheit der Natur für das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft hervorgebracht werden kann. Zweckmäßigkeit als Form der Natur kann nur als spekulativer Begriff gedacht werden, weil er mit der eigentlichen Bestimmung der Natur durch Kausalität und Wechselwirkung nicht vereinbar ist. Die Realisierung der Zweckmäßigkeit findet im kulturellen Prozeß als unendliche historische Annäherung an die regulative Idee statt. Der Begriff der Zweckmäßigkeit ist bei Kant eine Maxime der reflektierenden Urteilskraft,111 diejenige Maxime, die Natur als System zu denken, indem zur Mannigfaltigkeit der Naturgesetze Begriffe gefunden werden. Bei Kant wird also 111

Vgl. Kant. Kritik der Urteilskraft, 262.

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vom Leben auf das regulative Prinzip seiner Erklärung und von diesem Prinzip wiederum auf den Prozeß der geschichtlichen Annäherung von regulativem Prinzip und Natur geschlossen. Hegel verkehrt die von Kant vorgegebene Abfolge von Leben, regulativem Prinzip und Kultur: Nicht weil es Leben gibt, ist auf die Teleologie als bestimmendes Prinzip zu schließen, sondern weil es zweckmäßig verfaßte Begriffe gibt, kann das Leben überhaupt erst erklärt werden. Die Komplexität der Aufgabe, die sich in den einleitenden Kapiteln zur Idee stellt, ist damit umrissen: Sie muß den kategorischen Übergang der äußeren in die innere Zweckmäßigkeit einerseits vermitteln, andererseits den darin angelegten ontologischen Übergang des Artefakts in das lebendige Individuum. Der Übergang als Übergang des Begriffs als letzten Resultats der äußeren Zweckmäßigkeit, des ausgeführten Zwecks, der zugleich Mittel ist, zu dem ersten Begriff des Ideenkapitels, der Seele, erfolgt ohne Umwege, denn systematisch findet zwischen beiden Begriffen weiter keine Entwicklung statt. Was aber zwischen dem letzten Resultat der Objektivität und dem ersten Begriff der Idee didaktisch steht, sind wiederum die beiden Einleitungen, einmal zur Idee überhaupt und dann zum Leben im Besonderen. Innerhalb dieser Einleitungen rechtfertigt Hegel den Übergang nocheinmal geistesgeschichtlich und programmatisch. Diese Konstruktion ist für den Übergang von der Teleologie zur Idee ebenso maßgeblich wie vielschichtig; maßgeblich, weil die Abgrenzung gegen die in der Geistesgeschichte vertretenen Gestalten des Lebensbegriffs für einen Begriff konstitutiv sind, dessen Material diese Kritik darstellt, und vielschichtig, weil darin die drei Argumentationsebenen – der Logik, der geisteswissenschaftlichen Reflexion und der korrespondierenden Gegenstandsbereiche – miteinander verwoben sind. Das logische Argument des Übergangs ist bereits dargestellt worden: Der subjektive Zweck findet die Objektivität als Voraussetzung seiner Tätigkeit vor und setzt sie als sein Mittel. Beide sind sich äußerlich und ihre Relation daher endlich. Gleichzeitig wird aber dadurch die Äußerlichkeit der Objektivität relativ, weil sie vom subjektiven Zweck als dessen einfache Negation unterschieden ist. Die Objektivität konnte nur als Mittel gesetzt werden, weil sie vorher schon ein durch einen anderen Zweck gesetztes Produkt war. Daß die zweckmäßige Relation einzig durch den Zweck bestimmt ist, heißt also, daß dieser erstens das Subjekt der Entwicklung ist, und zweitens, daß die Objektivität vollständig durch den Zweck bestimmt wird. Außerhalb dieser Relation ist die Objektivität funktionslos und was keine Funktion hat, ist für den Begriff auch nicht darstellbar. Das Verhältnis ist als ein dem Begriff immanentes nicht mehr endlich, sondern ursprünglich und reflexiv, der Begriff des sich selbst reproduzierenden Lebens, unmittelbare Idee. Aber: Der Begriff des Lebens lebt nicht. Das, was vom Leben bleibt, wenn man es als logischen Begriff betrachtet, bestimmt Hegel zunächst negativ. Als unmittelbare Vorstellung stellt das Leben ein unbegreifliches Geheimnis dar: Es erscheint einerseits als ein objektiv Seiendes, andererseits kann aber dieses Phänomen als objektiv Seiendes gerade nicht erklären werden, weil der Begriff einer sich selbst organisierenden und reproduzierenden Materie im Widerspruch zur Bestimmung der Ma-

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terie als passivem Gegenstand der Reflexion und dem Begriff als Form dieser Erkenntnis steht. „Am Leben, an dieser Einheit seines Begriffs in der Aeusserlichkeit der Objectivität, in der absoluten Vielheit der atomistischen Materie, gehen dem Denken, das sich an die Bestimmungen der Reflexionsverhältnisse und des formalen Begriffes hält, schlechthin alle seine Gedanken aus; die Allgegenwart des Einfachen in der vielfachen Aeusserlichkeit ist für die Reflexion ein absoluter Widerspruch, und, insofern sie dieselbe zugleich aus der Wahrnehmung des Lebens auffassen, hiemit die Wirklichkeit dieser Idee zugeben muß, ein u nb e g r e i f l i c h e s Ge h e i m n i ß , weil sie den Begriff nicht erfaßt und den Begriff nicht als die Substanz des Lebens.“112

Die Vermittlung dieses Widerspruchs obliege der Idee. Auch wendet Hegel sich gegen die Vorstellung, der logische Begriff des Lebens sei psychologisch oder anthropologisch zu bestimmen. Das Leben als Kategorie der Logik ist ausdrücklich keine Gestalt des erscheinenden Geistes oder der Biologie, noch ist es psychologisch oder anthropologisch bestimmt. Das Leben als biologischer Organismus, als Naturphänomen oder als Subjekt, welches den Begriff des Lebens betrachtet, sind Gegenstände von Einzelwissenschaften, der Biologie, der Anthropologie oder der Phänomenologie des Geistes. Das Leben als unmittelbare Idee ist bestimmt als „die höchste Stuffe, welche von ihrer Aeusserlichkeit dadurch erreicht wird, daß sie in sich gegangen ist, und sich in Subjectivität aufhebt.“113 Das Leben als Naturphänomen ist dagegen begrenzt und endlich und längst durch den Begriff negiert und aufgehoben worden, während das Subjekt der Phänomenologie das Leben entweder als seinen Körper betrachtet – „[...] das Leben als solches also ist für den Geist theils Mittel, so stellt er es sich gegenüber [...]“114; oder als ein anderes Subjekt, das von ihm unterschieden ist und auf das es sich bezieht, oder es betrachtet das Leben mit interesselosem Wohlgefallen – als das Ideal der Schönheit. „Das Leben hat in beyden Fällen, wie es n a t ü r l i c h e s und wie es mit dem Ge i s t e in Beziehung steht, eine B e s t i mm t h e i t s e i n e r Ae u s s e r l i c h k e i t , dort durch seine Voraussetzungen, welches andere Gestaltungen der Natur sind, hier aber durch die Zwecke und Thätigkeit des Geistes. Die Idee des Lebens für sich, ist frey von jener vorausgesetzten und bedingenden Objectivität, so wie von der Beziehung auf diese Subjectivität.“115

In der Wissenschaft der Logik wird das Leben als reiner Begriff betrachtet, in dem das unbegreifliche Geheimnis, der Widerspruch des Lebens systematisch gelüftet werden soll. Die Momente der unmittelbaren Idee sind dann aber doch am biologischen Leben orientiert: Sie durchläuft die Bestimmungen, lebendiges Individuum, Lebensprozeß und 112

113 114 115

Hegel. Lehre vom Begriff, 181. Vgl. auch: „Eben so ist hier auch der Begriff nicht als Actus des selbstbewußten Verstandes, nicht der s u b j e c t i v e V e r s t a n d zu betrachten, sondern der Begriff an und für sich, welcher ebensowohl eine S t u f f e d e r N a t u r als des Ge i s t e s ausmacht. Das Leben oder die organische Natur ist diese Stuffe der Natur, auf welcher der Begriff hervortritt, aber als blinder, sich selbst nicht fassender, d. h. nicht denkender Begriff; als solcher kommt er nur dem Geiste zu. Von jener ungeistigen aber sowohl als von dieser geistigen Gestalt des Begriffs ist seine logische Form unabhängig; es ist hierüber schon in der E i n l e i t u n g die nöthige Vorerinnerung gemacht worden; es ist diß eine Bedeutung, welche nicht erst innerhalb der Lo g i k zu rechtfertigen ist, sondern mit der man vor derselben im Reinen seyn muß.“ Ebd., 20. Ebd., 180. Ebd. Ebd., 181.

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Gattungswesen zu sein. Das Leben ist das unmittelbare Mittel und damit sowohl der Reflexionsbegriff des Lebens, dessen Modell biologisch ist, andererseits aber auch der Reflexionsbegriff, in dem äußere und innere Zweckmäßigkeit auf das telos der absoluten Idee bezogen sind. Die Herleitung des begrifflichen Gehalts der unmittelbaren Idee bezieht Hegel wie dargestellt aus der Kritik an Kant. Aus dieser Kritik folgt die Bestimmung des Lebensbegriffs als Lösung des Problems der Vermittlung von Natur und Freiheit, Mechanismus und Teleologie. So entwirft Hegel in der äußeren Zweckmäßigkeit den Schluß der reflektierenden Urteilskraft. Über die Kantische Urteilskraft hinaus ist der Schluß Hegels nicht nur subjektive Maxime oder regulatives Prinzip, sondern konstitutiv, weil er über die Natur übergreift. Das Leben ist damit der ontologisch selbständige Begriff. „Der Begriff ist als Zweck allerdings ein o b j e c t i ve s U r t h e i l , worin die eine Bestimmung das Subject, nämlich der concrete Begriff als durch sich selbst bestimmt, die andere aber nicht nur ein Prädicat, sondern die äusserliche Objectivität ist. Aber die Zweckbeziehung ist darum nicht ein r e f l e c t i e r e n d e s Urtheilen, das die äusserlichen Objecte nur nach einer Einheit betrachtet, a l s o b ein Verstand sie z u m B e h u f u n s e r e s E r k e n n tn i ßv e r mö g e n s gegeben hätte, sondern sie ist das an und für sich seyende Wahre, das o b j e c t i v urtheilt und die äusserliche Objectivität absolut bestimmt. Die Zweckbeziehung ist dadurch mehr als U r th e i l , sie ist der S c h l u ß des selbständigen freyen Begriffs, der sich durch die Objectivität mit sich selbst zusammenschließt.“116

Außerdem erfolgt innerhalb der Einleitungen eine sprachliche Variation des Resultats der Objektivität: Der ausgeführte Zweck wird zur „Totalität in ihrem Gesetztsein“ 117, zur unmittelbaren Idee, die Einheit von Begriff und Objektivität ist, zum Begriff, der zugleich Subjekt ist, schließlich Leben und Seele. Die Bestimmung der Identität von Begriff und Subjekt, selbst wiederum Bestandteil der Einleitung zum Leben, erfolgt nicht zum ersten Mal in der Logik, sondern ist vielmehr eine programmatische Voraussetzung, die der Logik unterstellt ist.118 „Der Begriff, indem er wahrhaft seine Realität erreicht hat, ist diß absolute Urtheil, dessen S u b j e c t als die sich auf sich beziehende negative Einheit sich von seiner Objectivität unterscheidet und das An-und-Fürsichseyn derselben ist, aber wesentlich sich durch sich selbst auf sie bezieht, daher S e lb s t z w e c k und T r i e b ist; die Objectivität aber hat das Subject eben darum nicht unmittelbar an ihm, es wäre so nur die in sie verlorne Totalität des Objects als solchen; sondern sie ist die Realisation des Zwecks, eine durch die Thätigkeit des Zweckes g e s e t z t e Objectivität, welche als G e s e t z t s e yn ihr Bestehen und ihre Form nur als durchdrungen von ihrem Subject hat.“119

Der Zweck als causa formalis und finalis und das Subjekt als causa efficiens sind ontologisch, also im Modell handwerklicher Tätigkeit unterschieden. Der Begriff ist die Form und der Gegenstand des erkennenden Subjektes, das Subjekt ist aber die spontane 116 117 118

119

Hegel. Lehre vom Begriff, 159. Ebd., 172. Vgl. auch die Einleitung in die Hegel. Lehre vom Begriff: „Der Begriff, insofern er zu einer solchen Existenz gediehen ist, welche selbst frei ist, ist nichts anderes als Ich oder das reine Selbstbewußtsein.“ Ebd., 17. Ebd., 176.

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und willensbegabte Ursache des Begriffs. Beide sind ihrerseits noch auf die causa materialis verwiesen. Eine systematische Ableitung des Begriffs und seiner Bestimmungsmomente erfordert aber eine identische Ursache für den Begriff als Resultat der Entwicklung. Daher ist die Identifikation von Begriff und Subjekt die Bedingung der Möglichkeit dafür, dem Begriff der unmittelbaren Idee als Leben Merkmale zuzuschreiben, die ein Begriff an sich nicht hat, sehr wohl aber lebende Subjekte: Selbstzweck und Trieb zu sein. Hegel erklärt also die Bedingung der Möglichkeit zum Grund und kann erst durch diese in die Einleitung zum Leben verschobene Vorbereitung des Lebenskapitels die Seele aus dem Begriff des ausgeführten Zwecks entwickeln, weil durch die erneute Zusammenführung des Subjekts mit dem Begriff die Vorstellung von Lebendigkeit mit dem Begriff objektiver Zwecke überhaupt erst verknüpft wird (Vgl. S. 69 f.). Tatsächlich zeigt also auch die Kritik der Einleitungen zur Idee und zum Leben, daß der Gegenstand der doppelten Negation dieser nicht nur logisch, sondern auch reell unterstellt bleibt und damit dem bruchlosen Übergang vom Artefakt zum Leben im Wege steht. Das drückt sich darin aus, daß die Gegenstandsbereiche der Anthropologie, der Biologie, des Geistes zitiert und abgegrenzt werden. Für den Fortgang der Begründung ist diese Abgrenzung der Teleologie gegen die Gegenstandbereiche und die philosophischen Vorgänger Hegels – insbesondere Aristoteles und Kant – konstitutiv, weil ohne diese Kritik die Kategorien Hegels gegenstandslos wären. Bei Aristoteles und Kant wird das Verhältnis zum realen Modell – Leben und Arbeit – reflektiert. Indem sich Hegel auf diese Autoren bezieht, bezieht er sich auch auf deren Modelle. Auf der Seite der Begründung der metaphysisch-praktischen Entwicklung beziehen die Begriffe ihren Gehalt aus der Kritik geistesgeschichtlicher Begriffe und die sind nicht identisch mit den Objekten Hegels, die nach den geistesgeschichtlichen Termini nur benannt sind. Auf diese Weise koinzidieren in der Logik logische und historisch-kritische Bestimmungen. Aber im Gegensatz zur historischen Geisteswissenschaft werden die Eigenarten der Objekte dem Begriff geopfert. Es kann sonst zwar einen Übergang zwischen den Kategorien geben, aber nicht zwischen den Modellen Arbeit und Leben. Damit sind auf der Seite der ontologischen Begründung des Verhältnisses von Begriff und Objektivität einzelwissenschaftliche Modelle und praktische Erfahrungen impliziert, deren logische Verlaufsform überhaupt erst begründet und dargestellt werden kann. Der verbleibende Rest von Eigenständigkeit der Objekte macht die Rechtfertigung des Übergangs von der Teleologie zur Unmittelbaren Idee nötig. Mit der Doppeldeutigkeit seiner Termini, die als Begriffe der Wissenschaft der Logik scheinbar ohne Modelle auskommen, während die Modelle gleichzeitig über die geistesgeschichtliche Reflexion in die Logik transportiert werden, arbeitet Hegel. Der Begriff des Lebens ist an den Momenten des biologischen Lebensprozesses orientiert. Er ist derjenige Begriff, in dem der Prozeß einer organischen Einzelheit und gleichzeitig am Modell lebendiger Individualität entwickelt wird. Für die hier gestellte Frage nach dem Begriff der Selbstbestimmung ist dieses Kapitel der Wissenschaft der Logik hinsichtlich seines terminus ad quem von Interesse; des Übergangs vom Leben zum Erkennen. Obwohl Hegel bereits an mehreren Stellen verdeutlicht hat, daß er die

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Identität von Begriff und Subjekt unterstellt – ja, es sogar eine Voraussetzung der Wissenschaft der Logik ist, kommt er dennoch nicht umhin, im Leben den Begriff lebendiger Individualität durchzuführen und so eine Voraussetzung seines Programms einzuholen. Das Erkennen des Wahren und Guten ist keiner subjektiven Erfahrung mehr zugänglich, sondern es handelt sich im Gegenteil um Begriffe, die erst nach dem Tod der Subjekte, welche Erfahrungen machen können, systematisch gedacht werden können. Die darin liegenden Implikationen sollen aufgezeigt werden, so daß der Begriff des Lebens selbst nur im Hinblick auf die moralische Konnotation kommentiert wird, während Probleme der Biologie hier unberücksichtigt bleiben. Der Lebensbegriff der Phänomenologie des Geistes wird hingegen noch Gegenstand im entsprechenden Abschnitt sein.

a) Das lebendige Individuum Das lebendige Individuum ist zunächst dadurch bestimmt, daß es eine Seele hat, d. h. ein belebendes Prinzip, wodurch es sich aus eigener Kraft organisiert und bestimmt. Dieses Prinzip ist jedem wirklichen Lebensprozeß logisch vorausgesetzt und daher zunächst nur der Begriff eines schöpferischen Prinzips. Das Leben ist Akt der Spontaneität, ursprünglich und kann deshalb aus nicht anderem abgeleitet werden. Seine Bestimmung als unmittelbare Idee muß sich in der Entwicklung erst als wahr erweisen: „Um dieser Unmittelbarkeit willen ist die erste negative Beziehung der Idee in sich selbst S e l b st b e s t i m m u n g ihrer als B e g r i ff – das Setzen a n s i c h , welches erst als Rückkehr in sich F ü r - s i c h - s e yn ist: das schöpferische V o r au s s e t z e n.“120

Darin, daß die Seele als Voraussetzung eingeführt wird, deren Relevanz erst zu beweisen ist, liegt, daß auch der Zusammenhang zu den vorangegangen Begriffen erst noch zu erweisen ist. Damit beruht die Ableitung des Lebens aus dem objektiven Zweck auf einer Voraussetzung, die durch die begriffliche Entwicklung nicht direkt eingeholt worden ist. Statt dessen wird der Übergang von der äußeren zur inneren Zweckmäßigkeit auf drei Ebenen geleistet: Erstens systematisch als notwendiger Übergang logischer Kategorien, zweitens durch die Kritik des Teleologiebegriffs Kants und schließlich drittens durch das Zitat des Programms der Logik. Damit ist das Zitat des Subjektbegriffs verbunden, als desjenigen Inhalts der begrifflichen Entwicklung, der die Entwicklung der logischen Idee mit ihren Stufen des Lebens, des Erkennens des Wahren und Guten und schließlich der absoluten Idee überhaupt erst bestimmt. Die Seele als das schöpferische Prinzip ist auf die Objektivität als dasjenige bezogen, dem sie logisch vorausgesetzt ist und das sie aus sich hervorbringt. Dadurch verliert sich der Begriff nicht in der Objektivität, wie im Mechanismus und Chemismus, sondern bewahrt ihr gegenüber seine Selbständigkeit. Da die Seele aber gleichzeitig immateriell ist, ist sie weder außerhalb noch innerhalb dieser Objektivität als separates Moment 120

Hegel. Lehre vom Begriff, 182.

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dingfest zu machen, sondern sie wirkt unmittelbar in der Objektivität des lebendigen Individuums: „Dem Inhalte nach ist diese Objectivität die Totalität des Begriffes, die aber dessen Subjectivität oder negative Einheit sich gegenüberstehen hat, welche die wahrhafte Centralität ausmacht, nemlich seine freye Einheit mit sich selbst. Dieses S u b j e c t ist die Idee in der Form der E i n z e l n h e i t ; als einfache, aber negative Identität mit sich; das l e b e n d i g e I nd i v i d u u m .“121

Die freie Einheit von Begriff und Objektivität ist das lebendige Individuum. In ihm sind Leib und Seele unterschieden. Indem die Seele unmittelbar in der Leiblichkeit des Individuums wirkt, ist der Leib einerseits Mittel und Werkzeug der Seele, andererseits aber auch die Mitte des Schlusses, indem die Seele sich über die Objektivität des Körpers mit sich vermittelt. Anders als in der äußeren Zweckmäßigkeit steht der Organismus hier von vornherein als der Seele unterstelltes Material zur Verfügung; er ist Mittel und ausgeführter Zweck zugleich. Damit gehorcht der Organismus nicht den Gesetzen des Mechanismus und Chemismus oder den abstrakten Bestimmungen von Ganzem und Teilen etc., sondern der Organismus ist der ausgeführte Zweck, dessen Teile durch eine bestimmte Funktion auf den Organismus als ihre Einheit bezogen sind.122 Umgekehrt verlieren die Körperteile aber diese Funktion auch wieder, sobald sie vom Organismus getrennt werden. Sie unterliegen dann wieder den mechanischen und chemischen Kräften der gemeinen Objektivität. „Diese Objectivität des Lebendigen ist O r g a n i s mu s ; sie ist das M i t t e l u n d We r k z e u g des Zwecks, vollkommen zweckmässig, da der Begriff ihre Substanz ausmacht; aber eben deswegen ist diß Mittel und Werkzeug selbst der ausgeführte Zweck, in welchem der subjective Zweck insofern unmittelbar mit sich selbst zusammen geschlossen ist.“123

Weil das Leben nicht als gegen den Organismus selbständige Instanz, sondern in jedem einzelnen Körperteil unmittelbar wirkt, hat jedes einzelne spezifische Moment innerhalb des Organismus den Trieb, die anderen Teile des Organismus zum Mittel seiner Hervorbringung, so wie sich zum Mittel der Hervorbringung für die anderen Teile zu machen. Dieser Prozeß der lebendigen Individualität ist der Prozeß innerer Zweckmäßigkeit, in 121 122

123

Hegel. Lehre vom Begriff, 183. Manfred Riedel verweist auf den technischen Charakter, den das Leben als Resultat der Teleologie annimmt: „Innerhalb des von Natur aus Seienden ist es vor allem das Lebendige, welches die Idee als den Zweck seines Seins in sich enthält. Der Zusammenhang mit der klassisch-metaphysischen Konzeption von ‚Idee‘ und ‚Kunst‘ wird vor allem in der ‚Logik‘ deutlich. Wenn man die unter dem Abschnitt: Die Idee befaßte Hegelsche Analyse des Lebens im Hinblick auf das vorangehende Kapitel: Teleologie liest, bemerkt man den unzweideutig ‚technischen‘ Sinn, der mit der Kategorie der Idee verbunden ist, so etwa, wenn den Mitteln und Werkzeugen der Arbeit als den Organen des Tuns die Organe der leiblichen Lebendigkeit korrespondieren und die technische Macht der menschlichen Subjektivität über die zum Mittel ‚gemachte‘ Natur auf die Macht des lebendigen Subjectum über ihre ebenso zum Mittel ‚idealisierte‘ Leiblichkeit verweist. Im Unterschied zu Kants kritischer Beschränkung der technischen Naturerfahrung auf eine menschliche ‚Analogie‘ im ‚technischen Gebrauche der Vernunft‘ und ihrer Abgrenzung von der ‚theoretischen‘ […] denkt Hegel das Natursein des Lebendigen in den Grundworten des technisch-teleologischen Herstellungsbereichs, und zwar nicht, wie Kant, als Prinzipien einer nur ‚reflektierenden‘, sondern einer ausdrücklich als ‚bestimmend‘ gefaßten Beurteilung.“ Theorie und Praxis im Denken Hegels, 48. Hegel. Lehre vom Begriff, 184.

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dem die Objektivität nicht als äußerliches Produkt belassen wird, sondern das Produkt des Prozesses zugleich das Produzierende ist: Der Organismus reproduziert sich. In diesen ersten beiden Stadien der Entwicklung der Seele und des Verhältnisses der Seele zur Objektivität als Organismus wird der Lebensprozeß des Individuums als logische Kategorie betrachtet, als innerlich Zweckmäßiges. Durch diese Bestimmung wird an die äußere Zweckmäßigkeit angeknüpft. Weil aber das Lebendige auch Wirklichkeit der Idee ist, muß sich am Organismus selbst die Wirklichkeit innerer Zweckmäßigkeit aufzeigen lassen. Logische Form und ontologische Bestimmung sind Momente des Begriffs, worin sie aber auch unterschieden bleiben. Umgekehrt ist es aber bei einem Begriff, der unmittelbar die Wirklichkeit der Idee sein soll, zugleich auch schwierig, die spezifische Unterscheidung beider Momente im dialektischen Prozeß aufzuzeigen. Hegel führt die körperliche Gliederung im Organismus als ontologische Bestimmung zur begrifflichen Einteilung ein, so daß der Organismus auch allgemeine Bestimmung und Einzelnes ist. Die ontologische und die begriffliche Bestimmung fallen im Individuum zusammen. Als unmittelbarer Ausdruck des Lebendigen ist der Organismus innerhalb seiner nicht nur im Sinne der organisch aufeinander verwiesenen Körperteile und Organe gegliedert, sondern auch begrifflich als Allgemeines, Besonderes und Einzelnes, oder Gattung, Art und Exemplar. Das lebendige Individuum hat seine allgemeine Bestimmung in seinem Gattungsmerkmal, Sinnenwesen zu sein. In diesem Stadium der Argumentation ist das Gattungsmerkmal die formale Bestimmung Allgemeines zu sein, da es sich nur erst um dasjenige leibliche Wesensmerkmal handelt, das das Individuum mit anderen Organismen vergleichbar macht. Es ist aber noch nicht die durch Reproduktion der Individuen realisierte Gattung. Es geht zunächst um die Konstitution des Individuums bzw. des Exemplars. Der Organismus ist also seiner allgemeinen Bestimmung nach sensibel. Damit ist zugleich die körperliche Eigenschaft der Rezeptivität des Organismus bezeichnet, also die Fähigkeit, durch Äußerliches affiziert zu werden und die Affektion vollständig in sich aufzunehmen und im Selbstgefühl verarbeiten zu können. Die Besonderung des Sinnenwesens, begrifflich das Setzen des einfachen Unterschiedes, vollzieht sich in der Irritabilität, der Reizbarkeit des Individuums durch Anderes und der Selbsterhaltung gegen diesen Reiz. In der Irritabilität bezieht sich also das lebendige Individuum auf das Äußerliche als auf eine ihm vorausgesetzte Objektivität, gegen die es sich zugleich erhält. In der Besonderung des Sinnenwesens liegt neben dieser organischen Bestimmung auch die begriffliche des Setzens des Artunterschiedes innerhalb der Klasse der Sinnenwesen. Diese formelle Einteilung der lebendigen Individuen nach Gattung und Arten ermöglicht die biologische Ein- und Zuordnung der Organismen. Die Gattung der Sinnenwesen wird in Arten wie Pferde, Elefanten etc. gegliedert. Das Selbstgefühl des Individuums entsteht gegen den Reiz durch Anderes, über das vermittelt es sich auf sich zurückbezieht. Es wird dadurch Einzelnes, reproduziertes Individuum. Diese Reproduktion ist einerseits theoretisch, „insofern nemlich die Negativität als einfaches Moment der Sensibilität ist, das in derselben betrachtet wurde, und wel-

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ches das Gefühl ausmacht“124, andererseits ist es eine reelle Reflexion, indem sich die Einheit des Begriffs als negative Einheit im Organismus verwirklicht. Während Sensibilität und Irritabilität formelle Bestimmungen sind, wird der Organismus mit der Reproduktion konkretes Leben, das auch Gefühl und Widerstandskraft hat. Die Bestimmung der organischen Reproduktion ist schon auf die Reproduktion durch Ernährung, also das Einverleiben von Anderem verwiesen „Mit der Reproduction als dem Moment der Einzelnheit, setzt sich das Lebendige als w i r k l i c h e Individualität, ein sich auf sich beziehendes Fürsichseyn; ist aber zugleich reelle B e z i e h u n g n a c h Au s s e n ; die Reflexion der B e s o n d e r h e i t oder Irritabilität g e g e n e i n An d e r e s , gegen die o b j e c t i v e Welt. Der innerhalb des Individuum eingeschlossene Proceß des Lebens geht in die Beziehung zur vorausgesetzten Objectivität als solcher dadurch über, daß das Individuum, indem es sich als s u b j e c t i v e Totalität setzt, auch das Moment s e i n e r B e s t i m m t h e i t als B e z i e h u n g auf die Aeusserlichkeit, zur To t a l i t ä t wird.“125

b) Der Lebensprozeß Die Seele als vorausgesetztes Prinzip des Lebens ist mit den Bestimmungen des lebendigen Individuums gesetzt und stellt sich gegen die äußere Welt. Das Individuum hat das Bedürfnis, sich in der äußeren Welt zu realisieren. Damit sei es an- und für sich Seyendes, das individuierte Sinnenwesen und somit Subjekt. „Das Individuum ist als Subject zunächst erst der B e g r i f f der Idee des Lebens; sein subjectiver Prozeß in sich, in welchem es aus sich selbst zehrt, und die unmittelbare Objectivität, welche es als natürliches Mittel, seinem Begriff gemäß setzt, ist vermittelt durch den Proceß, der sich auf die vollständig gesetzte Aeusserlichkeit, auf die g l e i c h g ü l t i g neben ihm stehende objective Totalität bezieht.“126

Traditionell wird das Sinnenwesen, dessen Fürsichsein ontologisch als Reflexivität des Organismus von den vernünftigen Sinnenwesen, deren Reflexivität begrifflich ist, unterschieden. Weil bei Hegel das Subjekt eigentlich der Begriff des Lebens ist, dessen Moment das Individuum ist, wird ein Exemplar, das individuierte Gattungswesen, mit dem Subjekt in eins gesetzt. Ontologisch betrachtet müßte man dann Tiere als Subjekte fassen, die sich zweckgerichtet an der Welt abarbeiten. Darüber hinaus bezeichnet Hegel die Ideen des Lebendigen, in einfacher Einheit von Idee und Objektivität zu sein, als gut – also versieht er sie mit einem moralischen Akzidenz. Beides sind Anzeichen dafür, daß Hegel das Leben bereits vom terminus ad quem, der absoluten Idee her bestimmt. Dieses Bedürfnis, mit dem der Lebensprozeß beginnt, resultiert aus dem absoluten Widerspruch, wodurch das Individuum bestimmt ist: Das Individuum betrachtet sich als selbständiges Subjekt, das seine Selbständigkeit gegen die es umgebende Welt noch nicht realisiert hat. Aus der Diskrepanz zwischen dieser Selbstgewißheit und dem Bestehen der äußeren Welt entsteht das Bedürfnis, die unmittelbare Objektivität als Mittel sei124 125 126

Hegel. Lehre vom Begriff, 186. Ebd. Ebd., 187.

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ner Reproduktion zu setzen. Indem aber das Individuum sein Bedürfnis auf die Objektivität richtet, ist es mit sich nicht mehr identisch, sondern hat seine Bestimmung in einem Anderen. Umgekehrt verliert es sich aber auch nicht in diesem Anderen, sondern bleibt gerade in seinem Trieb, das Andere aufheben zu wollen, mit sich identisch. „Dadurch hat seine Selbstbestimmung die Form von objectiver Aeusserlichkeit, und da es zugleich identisch mit sich ist, ist es der absolute Widersp ruc h.“127 Nach der Seite seiner unmittelbaren Gestaltung im Organismus, ist das lebendige Individuum gut. Weil es aber in der Unterscheidung von derjenigen Objektivität, in der es nicht realisiert ist, das Gefühl seiner Ungleichheit mit sich selbst hat, empfindet es seine Entzweiung zugleich im Schmerz. Im lebendigen Individuum ist der begriffliche Widerspruch auf diese Weise zugleich wirklich: „Wenn man sagt, daß der Widerspruch nicht denkbar sey, so ist er vielmehr im Schmerz des Lebendigen sogar eine wirkliche Existenz. Diese Diremtion des Lebendigen in sich ist Gefühl, indem sie in die einfache Allgemeinheit des Begriffs, in die Sensibilität aufgenommen ist. Von dem Schmerz fängt das Bedürfniß und der Trieb an, die den Uebergang ausmachen, daß das Individuum wie es als Negation seiner für sich ist, so auch als Identität für sich werde, – eine Identität, welche nur als die Negation jener Negation ist.“128

Das Wiederherstellen der Sichselbstgleichheit des Subjekts ist als Negation der Negation des widerspruchsvollen Verhältnisses zur objektiven Welt bestimmt. Während sich das Subjekt seiner gewiß ist, ist die objektive Welt gegen den immanenten Zweck gleichgültig und ohnmächtig, so Hegel, da es dieser an der Freiheit des immanenten Begriffs mangelt, da sie also nicht belebt ist. Die Bestimmung der Gleichgültigkeit der Objektivität gegen den Begriff realisiert sich in der Teleologie mit der Austauschbarkeit der Funktionen, Mittel oder ausgeführter Zweck zu sein. „Die Gleichgültigkeit der objectiven Welt gegen die Bestimmtheit und damit gegen den Zweck, macht ihre äusserliche Fähigkeit aus, dem Subject angemessen zu seyn; welche Specificationen sie sonst an ihr habe, ihre mechanische Bestimmbarkeit, der Mangel an der Freyheit des immanenten Begriffs macht ihre Ohnmacht aus, sich gegen das Lebendige zu erhalten.“129

Darin liegt für das Subjekt die Möglichkeit, die Objektivität vollständig zu assimilieren und ihrer eigenen Leiblichkeit unterzuordnen. Während die Assimilation im biologischen Leben als Prozeß der Ernährung sich sowohl auf belebte als auch unbelebte Naturen bezieht, betrifft sie als logische Kategorie das Verhältnis lebendiger Individuen zur Objektivität schlechthin. Deshalb erscheint die Objektivität hier nur als mechanisch und chemisch bestimmte und sie erscheint nicht in Einzelobjekten, sondern als Totalität: Objektivität schlechthin würde sich das Subjekt andere lebendige Naturen einverleiben wollen – also z. B. ein Tier ein anderes Tier oder ein Mensch ein Schnitzel (das ja auch erst aus dem Schwein herauszupräparieren ist) –, so hätte es kein ohnmächtiges, sondern ein Aktives und Widerständiges vor sich, das sich gegen seine Tötung wehrt. Das Verhältnis lebendiger Individuen untereinander ist aber in der Logik dem Gattungsprozeß 127 128 129

Hegel. Lehre vom Begriff, 187. Ebd., 188. Vgl. Manfred Riedel. Theorie und Praxis im Denken Hegels, 113 f. Hegel. Lehre vom Begriff, 188.

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vorbehalten. Es wird also auch als Prozeß unter Artgenossen aufgefaßt, nicht als Assimilationsverhältnis. Die Wirkung des Objekts auf das Lebendige unterscheidet sich von der Wirkung, die es auf ein anderes mechanisches oder chemisches Objekt hätte: Seine Wirkung ist nicht naturkausal determiniert, sondern das Lebendige wird durch die Objektivität erregt. In der Erregung des Bedürfnisses ist ein Moment der Unabhängigkeit gegenüber der erregenden Ursache enthalten, denn das Individuum wird zwar von vielen Objekten sinnlich affiziert, aber nicht jedes affizierende Objekt erregt das Bedürfnis des Individuums. Das hier verhandelte Bedürfnis ist zudem abstrakt, indem es einzig die Realisierung der Gewißheit des Individuums bezweckt, alle Realität zu sein. Es ist nicht das Verlangen nach etwas Bestimmtem. 130 Zunächst wirkt aber das Subjekt auf das Objekt einerseits im Sinne äußerer Zweckmäßigkeit: „Das Subject übt nun, insofern es in seinem Bedürfniß bestimmt sich auf das Aeusserliche bezieht, und damit selbst Aeusserliches oder Werkzeug ist, Gewalt über das Object aus.“131 Das Werkzeug der Bearbeitung ist der eigene Körper und die Bearbeitung gilt einem Objekt, das seiner Bestimmung, der Reproduktion des Organismus zu dienen, grundsätzlich schon gemäß ist. Obwohl das Gelingen der Reproduktion unter diesen Voraussetzungen nicht ernsthaft in Frage zu stellen ist, sieht sich das Individuum gezwungen, Gewalt auf das Objekt seiner Begierde auszuüben, also auf ein Objekt, das seiner Bestimmung nach ohnehin gleichgültig und ohnmächtig gegen das Bestimmtwerden durch das Subjekt ist. Diese Tätigkeit am Objekt wird dann „unmittelbar abgebrochen und die Aeusserlichkeit in Innerlichkeit verwandelt“132, so daß der Prozeß hier als Reproduktion innerhalb des Organismus fortgesetzt wird. D. h., daß das Subjekt dem Objekt seine eigentümliche Beschaffenheit nimmt, es statt dessen mit seiner eigenen Substanz zusammenschließt und es dadurch zum Mittel macht. Oder: Es verzehrt es. Diese Assimilation ist das zweite Moment der Reproduktion des Individuums, also die Übersetzung des äußeren Verhältnisses zur Objektivität in ein inneres Verhältnis. „Diese ihre Verwandlung in die lebendige Individualität macht die Rückkehr dieser letztern in sich selbst aus, so daß die Production, welche als solche das Uebergehen in ein

130

131 132

„Hegel hat den Begriff der ‚Praxis‘ deshalb in das empirische Verhältnis zwischen Natur und Mensch hineinnehmen können, weil er einmal das geschichtliche Phänomen der seinsbemächtigenden Technik in seiner Beziehung zur Stellung des Menschen gegenüber dem Seienden philosophisch thematisiert und zum anderen das für das lebendige Sein des Menschen grundlegende natürliche Phänomen der Begierde als ihm immanente, ‚negierende‘ Tätigkeit begreift, somit ‚Begierde‘ und ‚praktisches Verhalten‘ in Beziehung setzt. Diese Beziehung wiederum ist davon abhängig, daß Hegel das Phänomen der Begierde weder im engeren Sinne psychologisch, als ‚Streben nach dem Lustvollen‘, noch rationalistisch bestimmte, wie etwa noch Kant ‚Begierde‘ definierte. Vielmehr faßt Hegel Begierde überhaupt nicht als Bewegung der ‚Seele‘, ihre strebende Verhaltung (Lust) oder Selbstbestimmung (Wille), sondern primär als Moment des Erhaltungsprozesses der Lebendigkeit und als Ursprungsort ihres praktischen Verhaltens.“ Manfred Riedel. Theorie und Praxis im Denken Hegels, 113 f. Die Frage nach dem Ursprung des Praktischen ist für Riedel eines der zentralen Probleme. Hegel. Lehre vom Begriff, 188. Ebd.

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Anderes seyn würde, zur Reproduction wird, in der das Lebendige, sich für sich identisch mit sich setzt.“133 Obwohl innerhalb der Logik nicht das Leben in der Natur oder des Geistes verhandelt wird, ist die Konstruktion des Lebens auf das telos menschlichen Lebens, auf das telos des Geistes ausgerichtet: Das Leben ist unmittelbare Idee, so daß es aus der Teleologie abgeleitet worden ist und weiterhin die Idee des Erkennens aus ihm abzuleiten ist. Indem die Teleologie in das Leben eingegangen ist, trägt dieses die Form der vernünftigen Naturbearbeitung ebenso in sich wie es deren Resultate äußerlich vorfindet: Die Objektivität ist reflektiert und bearbeitet, oder mit den Termini der Teleologie Mittel und ausgeführter Zweck, und die Lebewesen, die sich durch die äußere Welt reproduzieren wollen, sind Zwecke setzende Subjekte. Zwar werden im Leben Subjektivität und Objektivität nicht hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen und handwerklichen Bedingungen als äußerliche bestimmt, denn dann wäre das Werkzeug, welches im Lebensprozeß auf die äußeren Objekte einwirkt, nicht der Körper selbst, sondern ein von ihm unterschiedenes Artefakt. Aber der Prozeß des Einwirkens des Organismus auf die Objektivität wird als äußere Zweckmäßigkeit bestimmt, die unmittelbar abbreche und in die innerliche übergehe. Die Form zweckgerichteter Tätigkeit setzt eine zwecksetzende Subjektivität voraus in deren Analogie Prozesse eines lebendigen Individuums als zweckmäßige erklärt werden können. Wenn Hegel also das Individuum ohne weitere Zwischenschritte mit dem Subjekt identifiziert, so geschieht das nicht nur im Hinblick auf den terminus ad quem, sondern ist auch durch den Argumentationsgang selbst bestimmt: Äußere und innere Zweckmäßigkeit sind das tertium comparationis von ausgeführtem Zweck und Leben oder Artefakt und Organismus. Die Voraussetzung vom Anfang des Kapitels wäre somit eingeholt worden. Damit beruht das Argument der vollständigen Assimilation der Objektivität auf derselben Voraussetzung, die schon in der äußeren Zweckmäßigkeit kritisiert wurde, nämlich dem Nachweis, daß die Objektivität mit der Teleologie durch den subjektiven Zweck bedingungslos hervorgebracht und dadurch selbst Totalitätsbegriff geworden sei. Dadurch habe sie zwar noch das Moment des Endlichen und Äußerlichen an sich, aber gleichzeitig so, daß diese Äußerlichkeit unter dem Vorbehalt der Zweckmäßigkeit für das lebendige Individuum steht. Die äußere Welt, mit der es die lebendigen Individuen hier also zu tun haben, ist nicht sinnlos, sondern absolut verwertbar. Die derart begründete Reflexivität der Objektivität ist nur durch die Abstraktion seines empirischen Korrelats herzustellen, daß aber als zu negierender Gegenstand dem Schluß ebenso unterstellt bleibt und zwar als empirischer. Damit kann aber eine vollständige Assimilation prinzipiell nicht gelingen. Einige Dinge eignen sich aufgrund ihrer physikalischen und chemischen Eigenschaften zur Bedürfnisbefriedigung, andere hingegen nicht. Giftigkeit kann hier z. B. ein Indikator sein. Deshalb ist die praktische Erfahrung des Mißlingens der Bedürfnisbefriedigung des Subjekts für deren Verhältnis zur Objektivität konstitutiv, z. B. als Erfahrung darüber, welche Dinge zum Verzehr geeignet sind oder nicht, wie sie 133

Hegel. Lehre vom Begriff, 189.

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zuzubereiten, zu kultivieren, anzupflanzen etc. sind. Die Welt, an der sich die empirischen Individuen abmühen, liegt nicht als Totalität, sondern in einzelnen Objekten vor und ist noch in ihrer naturkausalen Passivität widerspenstig gegen die Zwecke der Individuen. Zwar ist die Abstraktion von diesen praktischen Erfahrungen vom Standpunkt der Wissenschaft der Logik aus für die Behauptung der vollständigen Assimilierbarkeit von Objektivität nötig. Aber weder ist die Objektivität als Totalitätsbegriff, noch deren vollständige Assimilierbarkeit ein Gegenstand möglicher Erfahrung. Das zeigt sich an den bisher kritisierten Passagen der Wissenschaft der Logik, wo die Begriffe anders konstituiert werden als die durch sie bezeichneten Subjekte oder Objekte, weil letztere einem logischen Zweck untergeordnet werden.134 Das stellt dann in der Tat ein Moment der Gewalt gegenüber diesen Gegenständen und Subjekten dar.

c) Die Gattung Im lebendigen Individuum war dessen allgemeines Gattungsmerkmal, Sinnenwesen zu sein, schon angelegt. Diese zunächst abstrakte Bestimmung beinhaltet die Bestimmung des individuellen Lebens und das Verinnerlichen der äußeren Objektivität im Lebensprozeß. Gegen den Schmerz, im Anderen mit sich nicht identisch zu sein, hat es sich durch die innerliche und äußerliche Reproduktion als die über alle Prozesse übergreifende Macht des Lebens gesetzt und darin sein Selbstgefühl für sich bestätigt. In diesem Prozeß hat das lebendige Individuum sich deshalb ebenso als Individuum reproduziert, wie als reelles allgemeines Leben, das zugleich Gattungswesen ist. Die Objektivität als Totalität läge nur vor, wenn der Geist, der erst noch begründet werden soll, als realisierte Einheit von Subjektivität und Objektivität schon begründet worden wäre. Das Resultat ist der Produktion vorausgesetzt, das Argument Hegels vom terminus ad quem aus begründet. „Das lebendige Individuum, zuerst aus dem allgemeinen Begriff des Lebens abgeschieden, ist eine Voraussetzung, die noch nicht durch sich selbst bewährt ist. Durch den Proceß mit der zugleich damit vorausgesetzten Welt hat es sich selbst gesetzt, fü r s i c h als die negative Einheit seines Andersseyns, als die Grundlage seiner selbst; es ist so die Wirklichkeit der Idee, so daß das Individuum nun aus der Wi r k l i c h k e i t sich hervorbringt, wie es vorher nur aus dem B e g r i f fe hervorging, und daß seine Entstehung, die ein V o r au s s e t z e n war, nun seine Production wird.“135

Die Seele, das Prinzip des Lebens, ist die Quelle von Spontaneität. Sie konnte deshalb in einer Hinsicht nur vorausgesetzt werden, obwohl sie zugleich auch das Resultat der Teleologie sein sollte. In dieser Formulierung Hegels liegt, daß die Seele nicht unmittelbar aus der äußeren Zweckmäßigkeit folgt. Vielmehr geht aus der äußeren Zweckmäßigkeit der Begriff des objektiven Zwecks hervor, in dem Mittel und ausgeführter Zweck unun134

135

Also die Teleologie, die sich gegen ihre Voraussetzungen absolut setzt und der Lebensbegriff, der aus der Teleologie abgeleitet wird, schließlich der soeben dargestellte Umgang Hegels mit dem Begriff der Objektivität, der als Körper und Reproduktionsmittel der lebendigen Individualität unterstellt ist. Hegel. Lehre vom Begriff, 189 f.

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terscheidbar sind. Ein Modell objektiver Zweckmäßigkeit könnte auch das System gesellschaftlicher Arbeitsteilung sein. Ein solches System ist schon ein ausgeführter Zweck, weil es die Versorgung der arbeitsteilig Produzierenden leistet, und es ist ein Mittel für die Produzenten, um sich reproduzieren zu können. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung ist ein Modell äußerer Zweckmäßigkeit, weil es auf Voraussetzungen beruht, die beständig von Neuem eingeholt werden müssen: Die Menschen müssen ihre Lebensbedingungen beständig reproduzieren. Gesellschaft als objektiver Zweck wäre die notwendige Bedingung der Idee der Selbstbestimmung, aber nicht deren hinreichender Grund. Hegel braucht aber einen hinreichenden Übergang der logischen Kategorien Teleologie und Leben. Der Begriff des Lebens als die unmittelbare Gestalt der Idee ist daher auch vom terminus ad quem her zu bestimmen, als derjenige Begriff, in dem Subjekt, Objekt und Vermittlungsprozeß ontologisch zusammenfallen, während Gesellschaft der logischen Bewegung unterstellt bleibt, aber hier nicht vermittelt wird, weil sie historisch bestimmt ist und damit außerhalb des Systems der logischen Idee anzusiedeln ist. Das lebendige Individuum hat sich die äußere Welt im Prozeß der Reproduktion zu eigen gemacht. Seine Bestimmung ist damit vollständig und es tritt nicht mehr sich selbst oder der Objektivität als äußerer gegenüber, sondern es sucht seine Bestätigung als Gattungswesen in einem anderen Gattungswesen. In diesem steht ihm ein anderes Individuum gegenüber, in dem es seine Gewißheit nicht wie in der Objektivität deshalb findet, weil es das Anderssein in sich aufgehoben hätte, sondern weil die Gewißheit in dem anderen Individuum ebenso wirklich ist wie in ihm selbst. Als Gattungswesen sind beide Individuen identisch, als Organismen sind sie auch voneinander unterschieden, so daß sich dieses Verhältnis wiederum als widersprüchliches darstellt. „[D]as Lebendige ist somit wieder Trieb“136, sich mit dem anderen Individuum identisch zu setzen. Diese Identität liegt nicht in einer gegen die Individuen unabhängigen allgemeinen Gattung vor, sondern ist unmittelbar im Verhältnis der Individuen zueinander gegeben. Die Gattung ist im geschlechtlichen Verhältnis zweier Individuen an sich, noch nicht für sich. Der subjektive Trieb der Individuen, ihre Gattungszugehörigkeit zu realisieren, realisiert sich in der gegenseitigen Befriedigung der „Spannung ihres Verlangens“. In dieser Befriedigung bleiben beide Individuen als selbständige bestehen, und – die Logik macht es möglich – ganz ohne biologische Geschlechterdifferenz entsteht aus dieser wechselseitigen Befriedigung „der Keim eines lebendigen Individuums“137. In diesem neuen Individuum setzt sich 136 137

Hegel. Lehre vom Begriff, 190. Ebd. In den analogen Passagen der Enzyklopädie korrigiert Hegel dieses Versäumnis. Vgl. Enzyklopädie, § 220. Frauen sind nach Hegel in den Kreis der Familie gebannt und die höchste geistige Form, die sie erreichen können, ist die Liebe. Kultur, Wissenschaft usw. sind die Tätigkeitsbereiche des Mannes. Daß der Gattungsprozeß in der Logik ohne solche Differenz auskommt, konterkariert in gewisser Weise die Bestimmung des Geschlechterverhältnisses in der bürgerlichen Gesellschaft, da es offensichtlich vom Standpunkt der Logik aus nicht notwendig ist. Gegen diese abstrakte Bestimmung ist die Bestimmung Hobbes erhellend, weil er die Geschlechterdifferenz nicht moralisch oder ontologisch rechtfertigt, sondern den autoritären Charakter dieses Verhältnisses beschreibt: „Und wenn einige die Herrschaft nur dem Manne als dem hervorragenderen Geschlecht zugeschrieben haben, so verrechnen sie sich damit. Denn zwischen Mann und Frau besteht nicht immer ein solcher Unterschied an Stärke und Klugheit, als daß ohne Krieg entschieden werden könnte, wem das Recht zusteht. Im Staat wird dieser Streit durch das bürgerliche Gesetz entschie-

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das Leben, indem es in diesem alle Eigenschaften und gegliederten Unterschiede verwirklicht, die es selbst charakterisieren. Leben setzt neues Leben. Aber diese Gattungsallgemeinheit bleibt noch mit den Individuen verbunden, die sie setzt. Die Gattung ist noch nicht in ihrer logischen Allgemeinheit realisiert. Durch die Anbindung an die Individuen setzt sich zwar der Prozeß der Gattung über die Generationen als „Fortpflan zung der lebenden Geschlechter“138 fort, bleibt aber an die Individuen gebunden und damit ein Prozeß, der sich ins schlecht Unendliche fortsetzt. Das stellte für die Sinnenwesen weiter kein theoretisches Problem dar, für die Idee aber schon, denn aus dem unendlichen Progreß folgt der terminus ad quem, das Hervorgehen des Geistes nicht. Als ontologische bzw. biologische Tatsache ist mit der Fortpflanzung das Leben beschrieben, denn für die Sinnenwesen ist die Gattung nicht. Der Begriff ist den Sinnenwesen ontologisch betrachtet äußerlich. Selbstbewußtsein haben nur die Menschen, also diejenigen Sinnenwesen, die den Begriff auch denken können. Das Leben ist nicht für sich, sondern entweder für die selbstbewußten Subjekte oder, im Sinne der Logik, für den Begriff. Der Prozeß der Fortpflanzung als logisch bestimmter hat zum Resultat, daß die Individuen neues Leben hervorbringen und in diesem neuen Leben die Wahrheit ihres Begriffes realisieren, nämlich die wirkliche Gestaltung der Idee und zugleich deren Gestalter zu sein. Einerseits fällt dieses Resultat im Prozeß der Fortpflanzung in die Form der Wirklichkeit zurück. Dieser erreicht wieder nur ein einzelnes Individuum, nicht die Gattung. Aber gleichzeitig ist es ein anderes Exemplar derselben Gattung. Der Begriff erhält sich somit in den wechselnden Individuen. Insofern erreicht der Begriff in diesem Prozeß eine höhere Form.139 Der Lebensprozeß hat aber nicht nur die Seite der Erzeugung, sondern auch die des Sterbens der Individuen an sich. Im Tod heben diese „ihre gleichgültige, unmittelbare Existenz ineinander“ auf. Im Tod der Individuen wird die erste Negation der Gattung, ihre Erzeugung als Individuen, negiert. Der Begriff der Gattung kommt als Allgemeines zu sich zurück. Er ist das Bleibende im Wechsel von Entstehen und Vergehen der besonderen Individuen, deren Wesen. In diesem Verlassen der ontologischen Bestimmung der Idee liegt die Rückkehr zur metaphysischen Bestimmung oder der Fortgang zum Begriff der Idee, die sich zu sich als Idee verhält:

138 139

den, und meistens, aber nicht immer, fällt die Entscheidung zugunsten des Vaters aus, da die Staaten meistens von Familienvätern, nicht von Familienmüttern errichtet wurden.“ Thomas Hobbes. Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Hrsg. v. Iring Fetscher. Frankfurt a. M., 1984, 156. In der Logik hat die Geschlechterdifferenz keine Funktion, weil sie empirische und keine begrifflichen Gründe hat. Hegel. Lehre vom Begriff, 191. „Da das vergleichende Subjekt nicht zu den verglichenen Dingen gehört, ist sein Vermögen zu vergleichen dem Verglichenen transzendent, es kann nicht aus dem Verglichenen resultieren, denn sonst müßten die Verglichenen sich untereinander selbst zu vergleichen vermögen, was den Hai, der sich mit dem Jaguar vergleichen sollte, vor für ihn unlösbare Problem stellte, obwohl beide, Hai und Jaguar, gleichermaßen Raubtiere sind, woraus folgt, daß auch ein tertium comparationis noch kein Vermögen des Vergleichs ist.“ Peter Bulthaup. „Zweckmäßigkeit, absoluter Zweck, Begriff. Kritik der Hegelschen Deduktion des Begriffs.“ In Mit und gegen Hegel. Von der Gegenstandslosigkeit der absoluten Reflexion zur Begriffslosigkeit der Gegenwart, hrsg. v. Andreas Knahl u. a. Lüneburg, 2000, 184.

Der Tod des Individuums: Leben als unmittelbare Idee

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„In der Begattung erstirbt die Unmittelbarkeit der lebendigen Individualität; der Tod dieses Lebens ist das Hervorgehen des Geistes. Die Idee, die als Gattung a n s i c h ist, ist f ü r s i c h , indem sie ihre Besonderheit, welche die lebendigen Geschlechter ausmachte, aufgehoben, und damit sich eine R e a l i t ä t gegeben hat, welche s e l b s t e i n fa c h e Al l g e me i n h e i t ist; so ist sie die Idee, welche s i c h z u s i c h a l s Id e e v e r h ä l t , das Allgemeine, das die Allgemeinheit zu seiner Bestimmtheit und Daseyn hat – die I d e e d e s E r k e n n e n s . “140

Der Stoffwechsel des lebendigen Individuums in sich und innerhalb seiner Gattung mündet in einer Allgemeinheit, die diesem Individuum zugleich transzendent ist. Der Übergang von der Reproduktion der Individuen und der schlecht unendlichen Fortpflanzung der Geschlechter über den Tod der Individuen in die Allgemeinheit der Gattung wird von Hegel darüber begründet, daß sich die Gattung im Tode der Individuen erhalte. Darin liegt die Gleichstellung von Individuum und Begriff, wodurch Hegel zugleich die Voraussetzung einholt, daß der Begriff das Subjekt ist: Subjekt wie Objekt seien gegen den Begriff und dessen Zweck gleichgültig. Während die Objekte nur eine Affinität für den Begriff haben, insofern sie naturwissenschaftlich erkannt und produziert worden sind, haben die Individuen als sich ausführende Zwecke zwar eine Affinität für den Begriff, aber gerade deswegen ist ihre Existenz nicht gleichgültig, sondern konstitutiv für die Gattung. Der Gattungsbegriff hat sein ontologisches Korrelat positiv in der Fortpflanzung als auch negativ im Tod der Individuen. Solange aber die Individualität der Produktion wie der Negation des Begriffs unterstellt bleibt, bleibt die Idee des Lebens in dem Widerspruch befangen, sich selbst transzendierende Individualität zu sein. Hegel braucht ein ontologisches Korrelat des Begriffs. Dieses Korrelat muß der Idee als Totalität entsprechen, also selbst Totalität sein. Insofern ist der Gattungsbegriff dem Begriff des Begriffs adäquat. Dem entspricht, daß die Begriffe der Logik notwendig allgemein gelten und damit unabhängig von der Meinung der Individuen. Andererseits sind die Individuen Träger der Idee. Verschwinden sie in toto, dann mit ihnen auch die Gattung. Im Tod wird die Bewegung des Lebens nicht aufgehoben, sondern beendet, weil mit ihm das Subjekt, welches die Bewegung denkt und betreibt, negiert wird. Die Stellung des Begriffs zum Tode kann zweierlei Form annehmen: 1. Entweder hat sie die Gestalt der Negation der Negation wie sie in der Wissenschaft der Logik durchgeführt wird. Der Tod wird dann als Abstraktion von der Existenz der Sinnenwesen interpretiert, als begriffliches Moment der logischen Entwicklung. Dann ließe sich die Fortsetzung der Bewegung denken, so daß mit dem Begriff die intellektuellen Momente des Erkennens und Wollens weiterentwickelt werden. Die Inhalte des Erkennens und Wollens stammen aus der Erinnerung an die bereits aufgehobenen Gestalten des Begriffs, so daß auch der Tod nur als erinnerter erscheint. Aber eine Bewegung, die ihre ursprüngliche Bedingung negiert, wird zur Hybris.141 Oder zweitens, das Subjekt bleibt der Bewegung des Begriffs als dessen Existenzbedingung unterstellt, 140 141

Hegel. Lehre vom Begriff, 191. In den antiken Tragödien und Epen wurde die Hybris, die Anmaßung der Heroen, den Göttern gleich zu sein, von den Göttern gerächt, indem die Heroen auf ewig an ihre Bedürftigkeit erinnert wurden, so z. B. Tantalos, der die Allwissenheit der Götter prüfen wollte, indem er ihnen seinen eigenen Sohn als Mahl vorsetzte. Die Götter bemerkten das und ließen Tantalos zur Strafe in einem Teich stehen, ohne ihn jemals trinken zu lassen. Homer. Odyssee. Stuttgart, 1976, Verse 582–592.

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Die Arbeit der Selbstbestimmung in der Logik

dann ist die logische Idee aber nicht mehr absolut. Das Subjekt bleibt erhalten, als eines, das in Relation zu der logischen Bewegung als ihrem Gegenstand steht, ohne sich in dieser aufzulösen. Tatsächlich folgt aus dem Tod nur für den Fall ein Fortgang, wenn er Moment einer übergeordneten Instanz ist. Oder: Die Gattung muß schon vor dem Übergang vom Leben zum Erkennen als die vernunftbegabter Sinnenwesen vorgebildet sein, weil der Tod das absolute Nichts der Organismen ist, aus dem nichts folgt. Das dem Prozeß selbst Transzendente kann in diesem Falle nicht der Begriff sein, da dieser seine Existenz negiert. Es ist das die Wissenschaft der Logik denkende, selbstbewußte Subjekt. Auch in diesem Fall ist die Bedingung kein hinreichender Grund. Der Gattungsprozeß ist die Bedingung der Möglichkeit, das in den einzelnen Sinnenwesen liegende Gattungsmerkmal zu realisieren, weil dieses nur als Kollektivvermögen, nicht aber als Einzelvermögen seinem Begriff adäquat ist. Daß dieses Gattungsmerkmal, das im Leben bislang nur als Sensibilität bestimmt wurde, als Kollektivvermögen in der Vernunftbegabung liegt, geht aus dem Prozeß des Lebens, also dem Lebensprozeß des Körpers, nicht hervor. Die Idee des Erkennens folgt aus dem Gattungsprozeß nur in der Hinordnung auf den terminus ad quem, die absolute Idee. Umgekehrt stellen aber die absolute Idee und die sie denkenden Subjekte nicht nur das Argumentationsziel dar, sondern ebenso dessen Voraussetzung: Wenn Zweckmäßigkeit nur in der Welt ist, weil sie dort realisiert wurde, dann sind die denkenden Subjekte auch die historische Bedingung der Begriffe äußerer und innerer Zweckmäßigkeit. Die hier referierte Gestalt des Aufhebens unterscheidet sich spezifisch von den bisherigen, weil der aufzuhebende Begriff ein besonderer ist, nämlich Subjekt-Objekt, Idee. Im Leben hat die Entwicklung einen Stand erreicht, auf dem Subjektivität und Objektivität organisch aufeinander verwiesen sind. Das hatte Hegel gezeigt. Nicht nur die Teile des Organismus verlieren ihre Funktion, wenn sie getrennt werden, sondern umgekehrt verliert auch die Seele ihr Sein, wenn die Individualität stirbt. Das Fortschrittliche im Begriff des Lebens ist zugleich seine unüberwindbare Schranke: Erkennen ohne Erkennendes ist nicht. Die Wahrheit des Todes ist nicht das Erkennen der Idee, die Erlösung im Begriff, sondern das Ende des Selbstbewußtseins, das die logische Bewegung denkt.142

2.6 Resultate: Der Begriff absoluter Selbstbestimmung In der Wissenschaft der Logik stellt das Ende des lebendigen Individuums den Anfang des Erkennens dar. Der Fortgang der Bewegung bis zur absoluten Idee sei hier nur kurz angedeutet: Das Leben geht in das Erkennen über, die frei für sich seiende Idee. Mit der Idee werden die Kantischen Begriffe der analytischen und synthetischen Verstandeser142

Manfred Spieker teilt den Lebensbegriff Hegels: „Das andere Leben wird seiner Bestimmung vollkommen gerecht und geht, indem es wird, was es immer schon war, ein in seine Wahrheit. Der Ort solcher wahrhaften Geltung ist das Denken. Hegel spitzt die Verbindung von Denken und Leben so weit zu, daß schließlich das Leben selbst zur logischen Idee wird.“ Michael Spieker. Wahres Leben denken. Über Sein, Leben und Wahrheit in Hegels Wissenschaft der Logik. Hamburg, 2009, 13. Er stellt sich die Aufgabe gegen kritische Positionen wie die hier vertretene zu zeigen, „wie die Logik die ihr gestellte Aufgabe löst und wie das Leben darin seinen Ort hat.“ Ebd., 14.

Resultate: Der Begriff absoluter Selbstbestimmung

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kenntnis referiert. Die Funktion der Verstandeserkenntnis ist es, Beweise zu führen, und die Begriffe mit Notwendigkeit zu begründen. Letztlich bleibt aber das Erkennen theoretisch und den Objekten gegenüber äußerlich, weil es nicht die Notwendigkeit der Existenz der Objekte aus dem Erkennen setzt. Aber die Notwendigkeit der Vermittlung von theoretischem Erkennen und Objektivität soll sein, ist Zweck des Erkennens. Das theoretische Erkennen formuliert darin seine praktische Relevanz, weil es die Realisierung der subjektiven Idee als absoluten Zweck, das Gute als Ziel der Selbstbestimmung des Begriffs formuliert. Das Gute ist die Einheit der theoretischen und der praktischen Idee. Von der Teleologie unterscheidet sich das Gute, weil es keinen endlichen Zweck mehr hat, nicht mehr am Modell handwerklicher Tätigkeit orientiert ist, sondern am Modell der Sittlichkeit. Oder: der absolute Zweck der Selbstbestimmung ist nicht an sich, sondern für sich und die Objektivität stellt keine Voraussetzung mehr dar, sondern ist das Produkt der Idee. Das Gute ist also der Maßstab der Gestaltung der Welt. Der Mangel des Guten liegt aber darin, noch nicht ausgeführt zu sein. Das Sollen wird aufgehoben, indem die theoretische mit der praktischen Idee vermittelt wird: Die theoretische Idee weiß sich als Auffassen, für sich unbestimmte Identität des Begriffs mit sich, dessen Erfüllung in einer vorgefundenen Objektivität liegt. Die bestimmte Objektivität ist ihr das wahrhaft Wirkliche. Der praktischen Idee gilt sie hingegen als Nichtiges, das seine wahrhafte Bestimmung durch die Idee erst erhalten soll. Das Gute setzt sich in der Welt und dieses Setzen bestätigt die vorausgesetzte Erkenntnis, daß die Objektivität die wahrhafte Wirklichkeit ist.143 Wissen und gutes Handeln sind wechselseitig aufeinander verwiesen. Es entsteht so ein ewiges Vollbringen des schon Vollbrachten, eine objektive Welt, deren innerer Grund der Begriff ist – die absolute Idee: „Die absolute Idee, wie sie sich ergeben hat, ist die Identität der theoretischen und der praktischen, welche jede für sich noch einseitig, die Idee selbst nur als ein gesuchtes Jenseits und unerreichtes Ziel in sich hat; – jede daher eine S yn t h e s e d e s S t r e b e n s ist, die Idee sowohl in sich hat als auch n i c h t hat, von einem zum andern übergeht, aber beyde Gedanken nicht zusammenbringt, sondern in deren Widerspruche stehen bleibt. Die absolute Idee als der vernünftige Begriff, der in seiner Realität nur mit sich selbst zusammengeht, ist um dieser Unmittelbarkeit seiner objectiven Identität willen einerseits die Rückkehr zum Le b e n ; aber sie hat diese Form ihrer Unmittelbarkeit ebensosehr aufgehoben, und den höchsten Gegensatz in sich. Der Begriff ist nicht nur S e e l e , sondern freyer subjectiver Begriff, der für sich ist und daher die P e r s ö n l i c h k e i t hat, – der praktische, an und für sich bestimmte, objective Begriff, der als Person undurchdringliche, atome Subjectivität ist, – der aber ebensosehr nicht ausschliessende Einzelnheit, sondern für sich A l l g e m e i n h e i t und E r k e n n e n ist, und in seinem Andern s e i n e e i g e n e Objectivität zum Gegenstande hat. Alles Uebrige ist Irrthum, Trübheit, Meynung, Streben, Willkühr und Vergänglichkeit; die absolute Idee allein ist S e y n , unvergängliches Le b e n , s i c h w i s s e n d e W a h r h e i t , und ist a l l e Wa h r h e i t .“144

Der Kern des Moralischen sei daher überindividuell, Gegenstand menschlichen Wollens überhaupt. Die absolute Idee ist die Idee, daß das, was als wahr erkannt worden ist, auch als Gutes gewollt und realisiert werden müsse, und diese Einsicht begründet dann den 143 144

Vgl. Hegel. Lehre vom Begriff, 230. Ebd., 236.

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Die Arbeit der Selbstbestimmung in der Logik

Übergang aus der Wissenschaft der Logik in die Naturphilosophie und wird ebenso der Maßstab zur Gestaltung der Grundlinien sein. Hegel bezeichnet die absolute Idee als das Selbstbestimmen des Begriffs, welches als absolute Negativität urteilt und setzt. „Die Momente der speculativen Methode sind a. der Anfang, der das S eyn oder Unmittel bare ist; für sich aus dem einfachen Grunde, weil er der Anfang ist. Von der speculativen Idee aus aber ist es ihr Selb stbestimmen , welches als die absolute Negativität oder Bewegung des Begriffs urtheilt und sich als das Negative seiner selbst setzt.“145 Damit ist die Idee der Selbstbestimmung Hegels formuliert: Der absolute Begriff reproduziert sich und seine Bedingungen teleologisch und ist überindividuell. Der Zweck der Selbstbestimmung ist das Gute, die Einheit von theoretischem und praktischem Erkennen, aber Zweck der Selbstbestimmung ist nicht das gute Leben der Individuen, sondern der Begriff des Systems. Nun ist die Frage nach dem wechselseitigen Bedingungsverhältnis von Teleologie, Leben und absoluter Idee zu stellen: In der Wissenschaft der Logik erscheint die Teleologie und mit ihr die Arbeit des Begriffs als Ursache des Lebens, während in der Phänomenologie des Geistes gerade umgekehrt die Arbeitsverhältnisse aus der Notwendigkeit der Reproduktion des Lebens begründet werden. Daß das Leben aus der Teleologie folgt, entspricht nicht der biologischen Erfahrung, sondern der Idee, die Begriffe der Subjektivität und Objektivität miteinander zu vermitteln. Die Frage nach dem Leben in der Logik ist die Frage, wie der Begriff, der das Prinzip des Lebens beschreibt, mit den anderen Kategorien, hier insbesondere mit Kausalität und Wechselwirkung, zusammenstimmt und die Antwort lautet: als durchs Denken produzierter Begriff. Insofern ist das Modell der Teleologie tatsächlich einzig die Logik. Entsprechend weist Hegel an den Stadien, die das Leben durchläuft – Individuum, Lebensprozeß und Gattung – nach, wie die Gestalten des Begriffs darin ihr Wesen, Begriff zu sein, herausstellen. Damit ist die Selbstbestimmung des Begriffs der Begriff selbstbestimmter Tätigkeit, weil noch ihr Modell und ihr Subjekt als aus dem Begriff reproduziert gedacht werden.146 Gleichzeitig ist aber weder der Lebensbegriff, noch der Begriff der Selbstbestimmung Gegenstand historisch-praktischer Erfahrung, weil es keine realisierte Totalität des Begriffs gibt – nicht einmal im System Hegels. Einerseits ist das noch an den Grundlinien, also an dem Versuch Hegels, die Vernunft gesellschaftlicher Wirklichkeit zu bestimmen, nachzuweisen, andererseits ist bereits aufgezeigt worden, worin die absolute Idee entgegen ihrem Absolutheitsanspruch doch auf Bedingungen verwiesen bleibt, ohne sie in die Bewegung restlos integrieren zu können. Der Begriff absoluter Selbstbestimmung muß schei145 146

Hegel. Enzyklopädie, § 238. Vgl. Andreas Arndt. „Die Arbeit der Philosophie.“ 131. „Nach dieser Auffassung ließe sich die Philosophie als der Versuch verstehen, das Allgemeine der Erkenntnisarbeit zu reflektieren, d. h. die Erkenntnismittel nicht nur hinsichtlich ihres allgemeinen Charakters für die besonderen Verfahrensweisen und Erkenntnisgegenstände zum Thema zu machen, wie in der Selbstreflexion der besonderen Wissenschaften, sondern für die Erkenntnis überhaupt. Hiermit ließe sich auch das scheinbare Paradoxon auflösen, daß Philosophie Wissenschaftsform hat, ohne wie die besonderen Wissenschaften einen besonderen Gegenstand vorweisen zu können.“ Oder: Philosophie hat sich selbst und die Kritik ihrer eigenen Geschichte zum Gegenstand.

Resultate: Der Begriff absoluter Selbstbestimmung

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tern, weil er in sich nicht durchgängig systematisch bestimmbar ist. Es gibt keine absolute Selbstbestimmung, sondern nur eine, die auch praktisch bestimmt ist. Trotzdem ist der Selbstbestimmungsbegriff Hegels auch nicht gänzlich zu verwerfen. Zwar sind vor dem Hintergrund der Kritik am Selbstbestimmungsbegriff Hegels Objektivität und Subjektivität nicht erlöst worden, aber es ist eine Analogie zwischen dem Organismus und dem Denken aufgezeigt worden: Dem Organismus und dem Denken liegt dasselbe teleologische Prinzip zugrunde, aber das darzustellen ist nicht möglich, ohne die Arbeit der Darstellung, ohne die Arbeit des Geistes. Nur als Arbeitsprodukt des Geistes erscheint das Leben als ein Resultat, während es vom Standpunkt der Natur oder des erscheinenden Geistes als Voraussetzung und Bedingung von Arbeit erscheint. Auch wenn objektive Zwecke weder von selbst noch aus einer logischen Ableitung heraus zu Organismen werden, so kann das Leben doch in Analogie zur zweckgerichteten Tätigkeit erklärt werden: Weil es Artefakte gibt, weil die Menschen schon Zwecke in der Welt verwirklicht haben, können Lebensprozesse als zweckmäßige Prozesse gedacht werden. Daß es sich dabei nur um eine Analogie handeln kann, bedeutet umgekehrt, daß die Zuschreibung der Zweckmäßigkeit auf das Lebensprinzip problematisch ist.147 Mit den Argumenten Hegels läßt sich darüber hinaus noch sagen, daß das Leben teleologischer Tätigkeit nicht nur analog ist, sondern nur gedacht werden kann, sofern es wissenschaftlich erklärt ist, d. h. selbst schon durch den Begriff angeeignet worden ist. Dieser Schluß auf die Analogie beider Modelle wäre aber in Abgrenzung gegen Hegel nicht progressiv, sondern im Sinne Kants rekursiv: Von der Existenz objektiver Zwecke wird auf den zugrundeliegenden Begriff geschlossen. Hegel aber argumentiert nicht rekursiv, sondern beansprucht den Begriff des Lebens aus dem Begriff zweckmäßiger Tätigkeit abzuleiten. Daß die vier Ursachen sich im Prozeß handwerklicher Tätigkeit gegenständlich unterscheiden lassen, weil der Handwerker offensichtlich etwas anderes ist als sein Werkzeug und sein Arbeitsprodukt, ist für Hegel das Zeichen der Endlichkeit äußerer Zweckmäßigkeit. Die vier Ursachen bleiben so der Ausdruck von einer der Objektivität äußerlichen Reflexion. Indem er aber diese äußere Reflexion setzt, werden die in der äußeren Zweckmäßigkeit selbständig vorliegenden Ursachen in der Einheit der unmittelbaren Idee innerlich reproduziert. Die Idee wird schon in ihrer unmittelbaren Gestalt des Lebens zu einem selbständig und unbedingt existierenden objektiven Zweck. Die Idee mit ihren Stadien des Lebens, des Erkennens des Wahren und Guten und der absoluten Idee ist der Begriff des Geistes und damit die Form der denkenden und praktischen Aneignung der Wirklichkeit durch die vernunftbegabten Subjekte. Aber gegen die 147

In der Differenz zwischen einer Naturordnung, die nur in Analogie zur Teleologie gedacht wird, und einer, die die Teleologie als konstitutiv für die Natur erachtet, bleibt das als ob der reflektierenden Urteilskraft Kants erhalten. Eine teleologisch gedachte Naturordnung kann nur regulative Geltung haben und ist konstitutiv nur dort, wo von Menschenhand Zwecke verwirklicht worden sind. Daß die belebte Natur als zweckmäßig erscheint, liegt auch daran, daß sie dort, wo sie unzweckmäßig ist, abstirbt. Der Tod ist die absolute Negation des Lebens und erscheint deshalb nicht (Nach dem Tod erscheint unbelebte Materie). Streng genommen sind mit dieser Differenz bestimmte Verfahren der Naturbestimmung ausgeschlossen, Evolutionstheorien ebenso wie kreationistische, denn beide beruhen auf dem Grundgedanken, die Naturordnung als zweckmäßige zu erklären – einmal dient die Natur und einmal dient Gott als Subjekt der Tätigkeit.

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Subjekte, deren Begriff sie darstellt, ist sie transzendent, ja sogar gleichgültig: Die Idee ist Gedanke Gottes vor Erschaffung der Welt, deren Geschlossenheit noch die Individualität der denkenden Subjekte subsumiert wird. Fragil ist die Stellung der Subjekte in der gesamten Wissenschaft der Logik. Andererseits hatte Hegel aber stets auch betont, daß das Subjekt nicht nichts, sondern Moment des Begriffs oder daß der Begriff ihre Wahrheit ist. Auch der Subjektbegriff läßt nur diejenigen seiner Bestimmungen gelten, die mit dem Systemprogramm kompatibel sind, so daß mit der Idee diejenige Bestimmung der Subjekte gesetzt und negiert (im Falle des Todes der Individuen kann von Aufheben nicht die Rede sein) wird, die sie zu Individuen macht. Erkennen und moralisches Handeln kommen ohne Subjekte und deren Entscheidung, gut oder schlecht zu handeln, aus – sagt Hegel. Darin, daß die Individuen als Grund des Scheiterns der Selbstbestimmung des Begriffs ausgemacht und eliminiert werden, liegt zugleich eine moralische Bewertung von Individualität schlechthin: Obgleich Verkörperung der Selbstbestimmung, ist Individualität nicht die Existenzbedingung des Begriffs, sondern absolut verwertbar. Daß diese Bestimmung auch für die praktische Philosophie Hegels bestimmend ist, wird an den Stellen deutlich, wo es um die Rechtfertigung der gesellschaftlichen Stellung der Unterprivilegierten geht: im Herr-Knecht-Verhältnis ebenso wie in der bürgerlichen Gesellschaft. Der kategorische Imperativ Kants, daß die Menschen Zweck an sich selbst und vor allem auch Urheber eines Reichs der Zwecke sein sollen, bleibt – gegen Hegel – ein unvergänglicher Gehalt. Wenn es absolute Selbstbestimmung nicht geben kann, sondern auch das Modell philosophischer Selbstbestimmung auf endliche Bedingungen verwiesen ist, dann ist das Gelingen der Selbstbestimmung dadurch bedingt, daß die Welt – ihre gegenständlichen Bedingungen – ihr stets von Neuem gemäß gemacht werden muß. Darin ist der Freiheitsbegriff Hegels wiederzufinden, der dem Anspruch nach nicht wie bei Kant jenseits der Verhältnisse ein Abstraktum bleibt, sondern die Verhältnisse sich gemäß macht. Aber dieser Freiheitsbegriff benennt auch, was den Menschen auferlegt ist, wenn sie zu sich kommen wollen: nicht weniger, als Wissen und Technik so zu nutzen, daß die Realität tatsächlich vernünftig wird. Gleichzeitig ist dieser Begriff von Selbstbestimmung historisch voraussetzungsvoll: Er setzt akkumuliertes Wissen und Technik voraus und vor allem auch die Entscheidung jedes Einzelnen und der jeweiligen Gesellschaften, sich dieser Aufgabe zu stellen. Die Frage nach dem Verhältnis von Teleologie, Leben und Selbstbestimmung ist damit auf das Selbstbewußtsein verwiesen. In der Phänomenologie des Geistes erscheint dem sich aus der Erscheinung herausarbeitenden Selbstbewußtsein das Leben als vorgefundene Bedingung seines Tuns. Damit betrachtet Hegel in der Phänomenologie die andere Seite des Problems: nicht die Seite des logischen Prinzips der Teleologie, sondern die Relation des Bewußtseins auf das Leben und damit zugleich den historisch kritischen Prozeß der Bildung desjenigen Selbstbewußtseins, das die Wissenschaft der Logik denkt. Es findet das Leben vor, der Lebensprozeß geschieht dem Bewußtsein, ohne daß es darauf Einfluß hätte. Aus der Bedrohung des Lebens folgt das Bewußtsein der End-

Resultate: Der Begriff absoluter Selbstbestimmung

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lichkeit und die herrschaftliche Organisation der Reproduktion. Arbeit erscheint also als der Prozeß der Vermittlung des Lebens und damit als Resultat und nicht als Voraussetzung wie in der Logik. In der Logik wird die Idee eines Gattungsbegriffs formuliert, der unabhängig von ökonomischen Zwängen gedacht ist. Die Versorgung derjenigen, die die absolute Idee denken, wird als Bedingung gedacht, die in der Vorbereitung der Wissenschaft der Logik, also der Phänomenologie des Geistes als Herrschaft und Knechtschaft vermittelt wird und eine Gestalt der Entwicklung des Selbstbewußtseins ist. Die Selbstbestimmung des Selbstbewußtseins verlangt zuerst nach der Bestimmung des Lebens, dann erst nach der Organisation der Reproduktion dieses Lebens. Aber im Anfang der Wissenschaft hatte Hegel die Vermittlung des Anfangs vom Anfang abgetrennt, weil dieser zugleich ursprünglich sein sollte. Insofern ist das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft für die Logik nicht bestimmend. In der Logik wird die Idee der Selbstbestimmung formuliert, in der die innere und die äußere Zweckmäßigkeit zusammengegangen sind. Darin liegt die Vorstellung, daß Arbeit selbstbestimmt und Selbstbestimmung Arbeit ist. Die selbstbestimmte Reproduktion von Individuen folgt aus dem logischen Begriff der Selbstbestimmung als dessen Realisierung erst in der bürgerlichen Gesellschaft der Grundlinien. Umgekehrt hatte die Kritik an der Argumentation Hegels gezeigt, daß die Idee unfreiwillig Momente des Herrschafts-Knechtschaftsverhältnisses an sich hat. Es ist nun zu zeigen, daß das Herrschafts-Knechtschaftsverhältnis seinerseits Momente der absoluten Idee an sich hat.

3 Selbstbestimmung und Herrschaft in der Phänomenologie

„Die Erde sei verflucht und im Schweiß deines Angesichts sollst du dein Brot essen! Arbeiten heißt die Welt vernichten oder fluchen.“1

In der Phänomenologie des Geistes hat der Begriff der Selbstbestimmung einen anderen Gegenstand als in der Wissenschaft der Logik. Zwar haben beide dasselbe telos, die Begründung der Einheit des Systems, deren wissenschaftliches Prinzip der dialektische Schluß ist, und dem die grundsätzliche Überlegung zugrunde liegt, daß noch das Bewußtsein der Differenz von Subjektivität und Objektivität in das Denken fällt. Während aber die phänomenologische Selbstbestimmung Selbstbestimmung des Selbstbewußtseins ist, das in seiner letzten Gestalt absolutes Wissen und den Anfang der Wissenschaft der Logik darstellt, gilt die logische Selbstbestimmung dem Begriff des Begriffs. Hegel zufolge unterscheiden sich damit die jeweiligen Subjekte in der Zeit – das Subjekt der Phänomenologie ist noch kein logischer Begriff, sondern will es erst werden. Es hat einerseits die Potenz zum Begriff, weil es das Vermögen zur Reflexion ist und der Begriff sein Medium, andererseits ist sein Gegenstand nicht der logische Begriff, sondern die Gestalten des erscheinenden Wissens, also des Wissens von sich selbst und denjenigen Gegenständen, gegen die es sich abgrenzt und bestimmt. Die Phänomenologie ist die „Wissenschaft der Erfahrung, die das Bewußtseyn macht.“2 Hegel bezeichnet den Weg dieser Wissenschaft selbst als die „Arbeit des Verstandes“ und als die „Arbeit des Negativen“3. Anders als bei Hegel wird aber der Selbstbestimmungsbegriff der Phänomenologie im Zusammenhang dieser Arbeit nicht als aufzuhebende Voraussetzung der Wissenschaft der Logik oder Bestimmungsmoment der Enzyklopädie dargestellt, sondern als Resultat der Kritik am Begriff absoluter Selbstbestimmung in der Lehre vom Begriff. Einerseits wird von Hegel in der Lehre vom Begriff der Begriff der Selbstbestimmung bestimmt, der nur dort absolut auf sich bezogen ist: Das Modell dieser Selbstbestimmung ist, wie zuvor gezeigt, die Wissenschaft der Logik selbst. Das bedeutet umgekehrt aber ebenso, daß sie – wenn überhaupt – dann nur im Medium der Wissenschaft der Logik ihrem Begriff adäquat ist, während sie in allen anderen Bereichen nicht der Begriff, 1 2 3

Hegel. Werke Bd. 2 (Jenaer Schriften 1801–1807). Frankfurt a. M., 1995, 547. Hegel. Phänomenologie des Geistes, 29. Ebd., 18, 27.

Selbstbestimmung und Herrschaft in der Phänomenologie

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sondern die Objektivierung von Selbstbestimmung ist: Produktive Arbeit ist kein Gegenstand der Selbstbestimmung des Begriffs, sondern wird erst im Herrschaftskapitel der Phänomenologie und der bürgerlichen Gesellschaft der Grundlinien thematisch. Die Kritik der absoluten Selbstbestimmung hatte aber gegen Hegels Intention gezeigt, daß die Teleologie auf das Modell des herrschaftlich organisierten Arbeitsprozesses verwiesen bleibt. Darüber hinaus konnte sie im Leben nur um den Preis der Negation von Individualität durchgeführt werden. Daß der Begriff absoluter Selbstbestimmung nur durch die Negation von Individualität durchgeführt werden kann, bedeutet, daß dieser Begriff einem Selbstbewußtsein transzendent ist, daß sich noch in der Auseinandersetzung mit dem Wissen um seine Existenz- und Reflexionsbedingungen befindet, also einem fremdbestimmten Selbstbewußtsein. Wenn also mit der Kritik an der Lehre vom Begriff zur Bestimmung des erscheinenden Bewußtseins übergegangen wird, dann folgt dieser Schritt der Überlegung, es nicht im Medium absoluter Selbstbestimmung zu bestimmen, sondern dort, wo es sich im Medium der Fremdbestimmung bewegt. Das Selbstbewußtsein der Phänomenologie ist in dieser Hinsicht das Negativ zur absoluten Selbstbestimmung des logischen Begriffs, und es ist zugleich auch dessen Bedingung, weil es die Individualität ist, die die Bewegung der Logik denkt. Hegel bestimmt das Selbstbewußtsein zwar in der Phänomenologie als erscheinendes im Medium der Fremdbestimmung, aber mit dem Ziel zu zeigen, daß die Fremdbestimmung ein notwendiges Moment der Selbstbestimmung ist. Der Nachweis, den er dafür erbringen muß, ist zu zeigen, daß das Selbstbewußtsein die einzelnen Gestalten seiner phänomenologischen Reflexion als Momente der Selbstbestimmung aus sich setzt und sich damit als ihr Grund erweist. Wenn dieser Nachweis gelingt, dann ist jeder Gestalt des erscheinenden Geistes die Absolution erteilt, weil ohne sie das Selbstbewußtsein nicht zu sich selbst käme. Auch der Herrschaftsbegriff und die das Herrschaftsverhältnis konstituierende Gewalt werden auf diese Weise als vernünftige Erscheinungen gerechtfertigt.4Um diesen Herrschaftsbegriff zu kritisieren, ist es deshalb nötig zu zeigen, daß nicht das avancierte, seiner Tendenz nach ebenfalls zur Verabsolutierung neigende Selbstbewußtsein das Herrschaftsverhältnis setzt, sondern daß das Herrschaftsverhältnis eine historische Organisationsform der Reproduktion ist, die technisch-praktischen Zwecken genügt, aber nicht selbstbestimmt ist. Die Kritik am Herrschaftsbegriff Hegels erfolgt also über die Kritik des Begriffs des Selbstbewußtseins. Es ist deshalb in einem ersten Kapitel, Der Begriff des Selbstbewußtseins, nötig, über die Stufen des Bewußt4

Deshalb stellt auch die Bewegung des teleologischen Prozesses in den verschiedenen Stadien der Phänomenologie für Hegel kein Scheitern dar, sondern eine dialektische Verarbeitung des erscheinenden Wissen. Vgl. Ludwig Siep: „Der Begriff wird zu Beginn des Selbstbewusstseinskapitels exponiert. Die Bewegung macht wiederum einen teleologischen Prozess aus, der in der Phänomenologie über verschiedene Stationen des Scheiterns und der dadurch ausgelösten dialektischen Erfahrungen zur realisierten Anerkennung im Geist, letztlich im absoluten Wissen führt.“ Ludwig Siep. Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie: Unters. zu Hegels Jenaer Philosophie d. Geistes. Freiburg [u. a.] 1979, 108. Einen einführenden Kommentar zur Phänomenologie hat Siep unter folgendem Titel veröffentlicht: Der Weg der „Phänomenologie des Geistes“: ein einführender Kommentar zu Hegels „Differenzschrift“ und zur „Phänomenologie des Geistes“. Frankfurt a. M., 2000.

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Selbstbestimmung und Herrschaft in der Phänomenologie

seins, also der Sinnlichen Gewißheit, der Wahrnehmung und der Kraft, den Begriff des Selbstbewußtseins nachzuvollziehen. In Kraft und Verstand will Hegel den Nachweis der Gleichartigkeit der Gesetze des Selbstbewußtseins und der Naturwissenschaft führen. Im Anschluß an die Betrachtung von Kraft und Verstand wird in einem kurzen Exkurs: Naturwissenschaftliche Theoriebildung, eine historisch-kritische Darstellung des Prozesses naturwissenschaftlicher Theoriebildung am Modell der Planetenbewegung angeschlossen, durch die verdeutlicht werden soll, daß der Prozeß in den Naturwissenschaften anderen Gesetzen und Zwecken folgt, als der Vermittlungsprozeß des Selbstbewußtseins der Phänomenologie. Aus der Einheit des Selbstbewußtseins, die aus Kraft und Verstand resultiert, setzt Hegel den Begriff des Lebens und konstituiert damit dasjenige Individuum, das im Herrschaft-Knechtschaftskapitel daran geht, seine eigenen Existenz- und Reflexionsbedingungen zu vermitteln. Im Kapitel Selbstbewußtsein und das Problem seiner Realisierung ist zu sehen, wie die Realisierung des Selbstbewußtseins als Bestimmungsgrund über den Kampf auf Leben, Tod und Herrschaft vermittelt in der Naturbearbeitung mündet.5

3.1 Der Begriff des Selbstbewußtseins Der Gegenstand der Wissenschaft der Logik ist die Kritik des Begriffs reiner Wissenschaft aus dem „frey für sich seyenden Denken“6. Das in den logischen Kategorien dargestellte Verhältnis von Begriff und Gegenstand des Begriffs ist weder einzelwissenschaftlich noch rein logisch gefaßt, sondern vielmehr durch den Gedanken der Vermittlung von Metaphysik und Logik bestimmt. Das Resultat dieser Kritik ist der Begriff der absoluten Idee, der somit auch als der Begriff der absoluten Wissenschaft zu verstehen ist. Obgleich die Wissenschaft der Logik damit den logischen Vorrang vor den Einzelwissenschaften hat, hat sie ihrerseits ebenso Bedingungen. Sie ist keine creatio ex nihilo, sondern bildet sich am und in Negation des einzelwissenschaftlichen Wissens. Diese Begriffsbildung geht geschichtlich vor sich, muß sich aber als Bedingung der Wissenschaft der Logik und der Begründung des Anfangs der reinen Wissenschaft zugleich systematisch auf diese beziehen lassen. In diesem Spannungsfeld geschichtlicher und systematischer Bestimmung bewegt sich die Phänomenologie des Geistes. Das Verhältnis der Inkompatibilität von geschichtlicher und systematischer Bestimmung des Wissens wird in der Einleitung der Phänomenologie exponiert. Dieses Ver5

6

Vgl. Otto Pöggeler, der sich auf Rosenkranz beziehend, erörtert, ob und inwiefern sich die Phänomenologie in die systematische Arbeit einfügt: „Hegel nehme, so sagt er, in der Phän. ein Moment des Systems, das Bewußtsein, aus dem System heraus und handele es aus pädagogischen Gründen vorweg ab. In der Phän. von 1807 habe Hegel aber nicht nur die Stufen des ‚Bewußtseins‘ im engeren Wortsinn dargestellt […] sondern auch gezeigt, wie das Bewußtsein sich wiedererkennt in Natur, Sittlichkeit, Bildung, Moralität, Religion.“ Otto Pöggler. Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, 177. Hegel. Lehre vom Sein und vom Wesen, 54.

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hältnis wird von Hegel teleologisch bestimmt, indem das Resultat der Phänomenologie – die systematische Übereinstimmung des Wissens mit dem Gewußten im absoluten Wissen – als Maßstab der Entwicklung bereits antizipiert wird. Dadurch ist das absolute Wissen der zu realisierende Zweck der Phänomenologie und damit zugleich Maßstab der Kritik auf jeder Stufe der Argumentation. Andererseits hat aber der Begriff des absoluten Wissens die Entwicklung der gesamten Phänomenologie ebenso zu seiner Voraussetzung. Deshalb ist der Maßstab der Entwicklung und damit das absolute Wissen vor der Erreichung des Zwecks unvollständig bestimmt. Es gilt jeweils nur in dem Maße, in dem es auch erkannt wurde, und diese Erkenntnis ist wiederum durch die Erkenntnis der Gegenstände des Wissens bestimmt. Damit ist das absolute Wissen als terminus ad quem vom absoluten Wissen als ausgeführter Zweck und Maßstab der Kritik auch unterschieden. Als terminus ad quem wird der Begriff des absoluten Wissens vorausgesetzt, während er als Resultat ausgeführter Zweck ist. Der Maßstab der Kritik unterliegt damit selbst einer Entwicklung: „Indem es also an seinem Gegenstande sein Wissen diesem nicht entsprechend findet, hält auch der Gegenstand selbst nicht aus; oder der Maßstab der Prüffung ändert sich, wenn dasjenige, dessen Maßstab er seyn sollte, in der Prüffung nicht besteht; und die Prüffung ist nicht nur eine Prüffung des Wissens, sondern auch ihres Maßstabes.“7

Das Subjekt, welches in der Wissenschaft der Logik mit dem Begriff identifiziert wurde, hat in der Phänomenologie des Geistes eine Eigenständigkeit gegenüber dem unmittelbaren Wissen, denn am Anfang der Phänomenologie des Geistes, wo die Relata einander noch nicht angemessen sind, kann die Einheit von Maßstab, Resultat und Weg des Wissens nicht die Einheit des Systems selbst sein wie in der Logik, weil sie im Bewußtsein nur antizipiert wird. Noch kann sie nur Begriff des Wissens sein, denn auch diesen wird es erst im Resultat der Phänomenologie geben. Sie hat deshalb auch ihren Ort nur im antizipierenden Subjekt und ist gleichzeitig von diesem als dessen Begriff unterschieden. Anders als in der Logik wird das Bewußtsein und mit ihm das Subjekt als Konstituendum des Prozesses eingeführt. Ihm ist es darum zu tun, die Diskrepanz von Gewißheit und Wahrheit aufzuheben. Dem Bewußtsein erscheint die Stellung des Wissens zum Gegenstand ambivalent: Insofern es seinen Gegenstand vorfindet, steht es ihm als selbständigen und damit gleichwertigen Ding gegenüber. Weil aber der Gegenstand für das Bewußtsein nur ist, insofern er für und durch das Bewußtsein erklärbar ist, ist dieses Verhältnis ebenso asymmetrisch. Der Gegenstand ist an sich, aber nicht für sich, sondern für uns, die erkennenden Subjekte, während die erkennenden Subjekte sowohl an-, als auch für sich sind: Sie sind zugleich an sich Erkenntnisvermögen, Erkenntnisgegenstand und Begriff, und erkennen sich zugleich auch als solche. Noch die Differenz von Subjektivität und Objektivität fällt in das Bewußtsein, so daß sich nun das Verhältnis von Subjekt, Objekt, Mittel und ausgeführter Zweck als Abgleich des Wissens mit sich selbst darstellt. 7

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 60.

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Selbstbestimmung und Herrschaft in der Phänomenologie „Untersuchen wir nun die Wahrheit des Wissens, so scheint es, wir untersuchen, was es a n s i c h ist. Allein in dieser Untersuchung ist es u n s e r Gegenstand, es ist f ü r u n s ; und das an s i c h desselben, welches sich ergäbe, wäre so vielmehr sein Seyn fü r u ns ; was wir als sein Wesen behaupten würden, wäre vielmehr nicht seine Wahrheit, sondern nur unser Wissen von ihm. Das Wesen oder der Maßstab fiele in uns, und dasjenige, was mit ihm verglichen, und über welches durch diese Vergleichung entschieden werden sollte, hätte ihn nicht nothwendig anzuerkennen./ Aber die Natur des Gegenstandes, den wir untersuchen, überhebt dieser Trennung oder dieses Scheins von Trennung und Voraussetzung. Das Bewußtseyn gibt seinen Maßstab an ihm selbst, und die Untersuchung wird dadurch eine Vergleichung seiner mit sich selbst seyn; denn die Unterscheidung, welche so eben gemacht worden ist, fällt in es. Es ist in ihm eines fü r e i n a nd e r e s , oder es hat überhaupt die Bestimmtheit des Moments des Wissens an ihm; zugleich ist ihm diß andere nicht nur f ü r e s , sondern auch außer dieser Beziehung oder a n s i c h ; das Moment der Wahrheit. An dem also, was das Bewußtseyn innerhalb seiner für das a n s i c h oder das W a h r e erklärt, haben wir den Maßstab, den es selbst aufstellt, sein Wissen daran zu messen. Nennen wir das Wi s s e n den B e g r i f f , das Wesen oder das W a h r e aber, das Seyende oder den Ge g e n s t a n d , so besteht die Prüffung darin, zuzusehen, ob der Begriff dem Gegenstande entspricht. Nennen wir aber d a s We s e n oder das a n s i c h d e s G e g e n s t a n d e s d e n B e g r i f f , und verstehen dagegen unter dem G e g e n s t a n d e , ihn als Ge g e n s t a n d , nemlich wie er fü r e i n a n d e r e s ist, so besteht die Prüffung darin, daß wir zusehen, ob der Gegenstand seinem Begriff entspricht. Man sieht wohl, daß beydes dasselbe ist; das wesentliche aber ist, diß für die ganze Untersuchung festzuhalten, daß diese beyden Momente, B e g r i f f u n d G e g e n s t a n d , f ü r e i n a nd e r e s , und a n s i c h s e l b s t seyn, in das Wissen, das wir untersuchen, selbst fallen, und hiemit wir nicht nöthig haben, Maßstäbe mitzubringen, und u n s e r e Einfälle und Gedanken bey der Untersuchung zu appliciren; dadurch, daß wir diese weglassen, erreichen wir es, die Sache, wie sie an und fü r s i c h selbst ist, zu betrachten.“8

Zwischen den Extremen des unmittelbaren und des absoluten Wissens stehen im Verlaufe der Phänomenologie diejenigen Erkenntniskräfte, die traditionell als nicht-intellektuelle behandelt wurden, wie die Sinnesempfindungen und Wahrnehmungen, und deren Inhalte, also diverse geistesgeschichtlich bestimmte Vorstellungen. Schließlich steht zwischen ihnen die praktische Erfahrung der Subjekte mit der Objektivität, die in der Phänomenologie zumindest indirekt in den Vorstellungen erscheinen, die die praktische Selbstbestimmung des Geistes zum Gegenstand haben. Solange die Vorstellungen von der Objektivität nicht deckungsgleich mit deren Begriff sind, sind sie nur gewiß, aber noch nicht wahr. D. h. für die Vorstellung, daß sie zwar ein notwendiges Moment des Begriffs, aber der Begriff nicht notwendig ein Moment der Vorstellung ist, weil diese dem Kriterium der Wahrheit, der widerspruchsfreien Übereinstimmung von Denken und Gegenstand, nicht notwendig genügt. Indem die Vorstellungen eine Gewißheit von der Objektivität vermitteln, bleibt es unsicher, ob der Begriff mit dem Gegenstand übereinstimmt, so daß sich Vorstellungen von der Objektivität auch als falsch erweisen können.9 Gegenstand der Phänomenologie des Geistes ist damit nicht der rein aus dem Begriff begründete Begriff reiner Wissenschaft wie in der Logik. Noch ist sie in erster Linie Ein8 9

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 58 f. Zum Erfahrungsbegriff vgl. auch Robert Pippin. „The ‚logic of experience‘ as ‚absolute knowledge‘ in Hegel’s Phenomenology of Spirit.“ In Hegel’s Phenomenology of Spirit. A Critical Guide, hrsg. v. Dean Moyar u. Michael Quante, 210–227. Cambridge, 2008. Pippin arbeitet die handlungstheoretischen Implikationen des Erfahrungsbegriffs heraus.

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zelwissenschaft, also Wissenschaft der Natur, Kunst, Religion, Geschichte oder des Rechts, sondern sie ist die Wissenschaft des erscheinenden Geistes, mithin zunächst eine Erkenntnistheorie, welche die objektiven Gehalte der Vorstellungen zitiert, aber sie nicht um ihrer selbst willen untersucht. Damit wird vom Leben und der die Subjekte umgebenden Objektivität, sofern sie deren Erfahrung und Handeln bestimmt, ohne unmittelbar selbst durch sie bestimmt zu sein, im Programm der Phänomenologie abstrahiert. Gleichzeitig wird aber im Gegensatz zur traditionellen Erkenntnistheorie der Versuch unternommen, die Form des Denkens nicht unabhängig von den gedachten Gegenständen zu entwickeln, sondern das System des Wissens am Wissen von den Einzelgegenständen als Erfahrung des Bewußtseins zu entwickeln. Die Gemeinsamkeit des Systems des erscheinenden Wissens als Begriff und der jeweils untersuchten einzelwissenschaftlichen Vorstellungen als Gegenstand des Begriffes liegt darin, Wissen zu sein. Verhandelt werden somit geistesgeschichtlich bestimmende Vorstellungen in ihrer Relation auf das System des Wissens, so daß in der Phänomenologie des Geistes die Wahrheit traditioneller Vorstellungen überprüft wird, indem deren Kompatibilität mit dem und Funktion für das System des Wissens entwickelt wird. Obwohl Hegel deshalb zwar schon zwischen Gewißheit und Wahrheit unterscheidet, bildet er den Gegenstandsbereich der Phänomenologie des Geistes so vor, daß die geistesgeschichtlich relevanten Gestalten nur in ihrer jeweils avanciertesten Gestalt verhandelt werden.10 Das geschichtliche und subjektive Ringen, das auch von historischen Zufällen abhängig war und ist, und in dem Irrwege und Fehlschlüsse vorkommen, bleibt außen vor. Fehlerhaftigkeit gibt es in der Phänomenologie nicht als Irrtum eines denkenden Subjektes, sondern nur als Unvollkommenheit der Vorstellung gegenüber dem Begriff des absoluten Wissens. D. h. alle verhandelten Gestalten sind ein notwendiges Moment der Entwicklung, die notwendig zum Ziel führt. Zugleich bleibt die Abstraktion von der unsystematischen Seite des erscheinenden Wissens der Phänomenologie als sachliches Problem unterstellt, was sich unter anderem in der Didaktik der Phänomenologie niederschlägt. Weder richtet sich die Darstellung eindeutig nach der historischen Abfolge der Gestalten des Wissens, noch ist es uneingeschränkt möglich, die Phänomenologie systematisch aufzuschlüsseln.11 10

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„Daß die Produktionen des Geistes in der Phänomenologie vor allem als fertige Gestaltungen und nicht in ihrem geschichtlichen Werden präsent sind, erklärt auch, weshalb die Gestaltungen des Geistes in ihr mit geschichtlichem Material gesättigt sind – zuweilen in einer schwer durchschaubaren, extremen Verdichtung –, daß aber der Gang der Phänomenologie insgesamt sich nicht schlüssig als geschichtliche Abfolge (auch nicht als eine logisch gereinigte) begreifen läßt.“ Andreas Arndt. „Begriff der Arbeit und Arbeit des Begriffs.“ 99 f. Andreas Arndt betont, daß die Phänomenologie ihre Begriffe nicht historisch konstituiere, sondern, daß es um ihre interne Reproduktion gehe. „Die Einsicht, welche die Phänomenologie vermittelt, ist die in die Geschichtlichkeit des sich selbst erfassenden Geistes, aber nicht in die Geschichte des Geistes. Letztere wäre die Geschichte des Weltgeistes als Weltgeschichte, dessen Vollendung Voraussetzung dafür ist, daß er als ‚selbstbewußter Geist seine Vollendung‘ erreicht.“ Andreas Arndt. „ … wie halten wir es nun mit der hegel’schen Dialektik? – Marx’ Lektüre der Phänomenologie 1844.“ In Hegels „Phänomenologie des Geistes“ heute, hrsg. v. Andreas Arndt und Ernst Müller. Berlin, 2004, 253. Inwieweit allerdings die in sich geschlossene Reproduktion der Geschichte aus dem Denken gelingen kann, bleibt zu hinterfragen. Wenn das Programm Hegels scheitert, dann wäre zumindest im Resultat der Kritik an der Phänomenologie der Einfluß der

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a) Sinnliche Gewißheit Die Zweideutigkeit der Stellung der Objektivität zum Wissen als An-Sich-Seiendes und als Für-Anderes-Seiendes bleibt widersprüchlich, wenn sie nicht vermittelt wird. Deshalb beansprucht Hegel mit den ersten drei Kapiteln der Phänomenologie: 1. Sinnliche Gewißheit, 2. Die Wahrnehmung, das Ding und die Täuschung, 3. Kraft und Verstand, Erscheinung und übersinnliche Welt, nachzuweisen, daß Objektivität einzig begrifflich bestimmbar ist, während das objektive Korrelat für das Bewußtsein unerreichbar ist – ein Argument, das in der Diskussion zur Logik schon Gegenstand war, im Sinne Hegels aber hier umgekehrt (und letztendlich) zur Vorbereitung der Logik dient. Gelingt der Nachweis, dann bleibt von der Selbständigkeit der Objektivität deren funktionales Moment als Gewußtes, während es als ontologische Substanz in dieser Funktion, im Wissen aufgehoben wird. Wenn aber die Objektivität durch das Wissen konstituiert wird, dann ist auch das Wissen nicht länger der unveränderliche Kontrapunkt des Gewußten, sondern die Objekte verändern umgekehrt auch das rezipierende und begreifende Vermögen: Sinnlichkeit wird Wahrnehmung, Wahrnehmung Verstand und der Verstand zum Selbstbewußtsein.12 Dasjenige Vermögen, welches diesen Prozeß denkt, ist dasselbe Selbstbewußtsein, das aus dem Prozeß auch resultieren soll. Weil es am Anfang der Phänomenologie noch nicht weiß, was es eigentlich ist, kann nicht mehr darüber gesagt werden, als daß es vorausgesetzt ist. Jegliche Bestimmung des Selbstbewußtseins erscheint deshalb als Resultat seiner eigenen Produktion, während es als logische Voraussetzung nicht erscheint.13 Am Anfang der Phänomenologie des Geistes sind das Wissen und sein Gegenstand unbestimmt und leer, unmittelbares Wissen und Wissen des Unmittelbaren. Am Anfang steht damit die Relation von Relata überhaupt, d. h. es ist nur gewiß, daß sie sind, nicht aber, was sie sind. Sie sind aber als Vorstellungen eines anschauenden Bewußtseins, so daß die Sinnesempfindung einen ersten Hinweis auf die Realität des Gegenstandes gibt: Die Dinge bewirken eine aktuell empfundene Affektion. Ob diese Auffassung des Verhältnisses von Affektion und Gegenstand konsistent zu denken ist, ist zu klären.

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geschichtlichen Gehalte auf die Entwicklung der Gestalten des erscheinenden Geistes erneut zu reflektieren. Entsprechend verweist Andreas Arndt auf die Interpretation der Phänomenologie durch den frühen Marx. Die ersten zwei Kapitel der Phänomenologie des Geistes werden im Rahmen dieses Themas nur hinsichtlich ihrer vorbereitenden Funktion für den Begriff des Selbstbewußtseins abgehandelt. Eine ausführliche Darstellung und Interpretation dieser Passagen und ihres historischen Kontextes ist bei Hans-Georg Bensch. Perspektiven des Bewußtseins zu finden. Die Abhandlung der sinnlichen Gewißheit führt im einzelnen über folgende Begriffe: unmittelbares Wissen, Sprache, Meinung, Umkehrung, das Ganze als Unmittelbares, das Tun des Eigens. Diese Begriffe werden hier nur ihrem argumentativen Prinzip nach abgehandelt. Es mag deshalb verwirren, wenn in der Darstellung dieses Wechselverhältnis nicht an jeder Stelle reflektiert wird. Das liegt zum einen daran, daß die Darstellung dieses Problems in der Zeit organisiert ist und daher nur als Nacheinander darstellbar ist. Andererseits wird auch in der Kritik der Phänomenologie die Darstellung ihrer Argumentation vorausgesetzt und in dieser Argumentation soll das Selbstbewußtsein noch seine eigene logische Priorität aus sich zu setzen; es soll absolutes Wissen werden. Deshalb ist auch in dieser Hinsicht die Kritik an der Darstellung Hegels dieser Darstellung nicht immanent.

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Der sinnlich gewisse, aber unbestimmte Gegenstand ist das Diese, das in Raum und Zeit oder im Hier und Jetzt gegeben ist. Das Diese verändert sich in der Zeit: Schon Heraklit hatte die sinnliche Gewißheit problematisiert, indem er feststellte, daß man nicht zwei Mal in denselben Fluß steigen oder eine vergängliche Substanz, die ihrer Beschaffenheit nach dieselbe bleibt, berühren kann, „sondern infolge der ungestümen Schnelligkeit der Umwandlung zerstreut er [der Gegenstand, M. B.] sich und vereinigt sich wieder … und kommt und geht.“14 Während aber bei Heraklit das Objekt als Grund eines sinnlichen Eindrucks und der sinnliche Eindruck selbst naiv ununterschieden bleiben, gibt Hegel einen Grund für die Indifferenz an: Das Diese weist verschiedene Seiten im Raume auf: oben, unten, hinten, vorn… Seinem Inhalt nach zerfällt es also in eine Mannigfaltigkeit von Sinneseindrücken, die als Sinneseindrücke nicht eindeutig einem bestimmten Objekt zugeordnet werden können. Trotzdem lassen sich die Sinneseindrücke hinsichtlich ihrer Form unterscheiden, als in Raum und Zeit gegebene oder als Diese und Jetzt. Mit Kant zu reden – Diese und Jetzt sind die Formen der Anschauung, die, a priori gegeben, Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung sind. Nur Anschauungen, die den Formen derselben subsumiert sind, können überhaupt Gegenstand möglicher Erfahrung sein. Hegel gelangt zu demselben Resultat: Das Diese als Inhalt der Affektion wird auf räumliche und zeitliche Verhältnisse bezogen. Aber auch diese Verhältnisse sind beständigen Veränderungen unterworfen: Einen Moment später oder einen halben Meter weiter rechts entsteht schon ein anderer Eindruck als zuvor. Wenn die mannigfaltigen Eindrücke einem Objekt zugeordnet oder auf das affizierte Subjekt bezogen werden sollen, müssen sie als Zusammengehörige begriffen werden. Die Synthese der Mannigfaltigkeit in Raum und Zeit ist aber bereits eine Vermittlung, die über den Zustand des bloßen Affiziert-Seins hinausgeht. Die Identifikation des Diese als eines Gegenstandes setzt eine Synthese voraus, durch die es über die Unmittelbarkeit im Moment der Affektion schon hinaus war.15 Oder anders formuliert: Aus der sinnlichen Gewißheit läßt sich unmittelbar die Identität eines Gegenstandes nicht erweisen. Sie ist nur ein negati14 15

Wilhelm Capelle (Hg.). Die Vorsokratiker. Stuttgart, 1968, 133. In der Deduktion A der Kritik der reinen Vernunft analysiert Kant den Vorgang dieser Vermittlung und ordnet ihm drei Phasen zu: „Diese ist nun der Grund einer dreifachen Synthesis, die notwendigerweise in allem Erkenntnis vorkommt: nämlich, der Apprehension der Vorstellungen, als Modifikationen des Gemüts in der Anschauung, der Reproduktion derselben in der Einbildung und ihrer Rekognition im Begriffe. Diese geben nun eine Leitung auf drei subjektive Erkenntnisquellen, welche selbst den Verstand und, durch diesen, alle Erfahrung, als ein empirisches Produkt des Verstandes möglich machen.“ Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 97 f. Die erste Bedingung der Möglichkeit der Objektivität von Erfahrung sind nach Kant die reinen Verstandesbegriffe oder Kategorien, die unabhängig von den Bedingungen in Raum und Zeit gelten. Eine Anschauung kann den reinen Verstandesbegriffen nur dann widerspruchsfrei subsumiert werden, wenn sie ebenfalls unabhängig von Raum und Zeit gilt und damit objektiv ist. A priori gelten die Kategorien, wenn sie als logische Voraussetzung aller Erfahrung vor aller bestimmten empirischen Erfahrung gegeben sind. Gleichzeitig müssen sie aber auch auf die Erfahrung bezogen werden, weil sie sonst leer blieben. Diese Relation auf die Erfahrung kann aus den Kategorien selbst nicht begründet werden, ohne deren Apriorität zu tangieren. Ebensowenig kann diese Relation aus den Anschauungen begründet werden, da diese bloß rezeptiv sind. Vielmehr bedarf es der produktiven und reproduktiven Einbildungskraft, um Anschauung und Begriff aufeinander zu beziehen. Nur wenn diese Relation vor aller Erfahrung widerspruchsfrei begründet werden kann, ist auch wirkliche Erfahrung möglich.

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ves Kriterium für die Realität des Gegenstandes, Negation eines affirmativen Urteils und damit widersprüchlich. So wie die Identität des zu erkennenden Gegenstandes ist auch die Identität des erkennenden Subjekts für die sinnliche Gewißheit vorausgesetzt. Sinneseindrücke sind immer Eindrücke eines Subjektes, ohne dieses Subjekt sind sie nicht.16 Für das eine Ich ist das Diese ein Baum, für das andere Ich ist es ein Haus usw., je nachdem, welchen Sinneseindruck ein empfindendes Subjekt jeweils gerade hat. Die Identität des Subjekts resultiert damit nicht aus der sinnlichen Erfahrung, sondern ist dieser logisch vorausgesetzt. Gleichzeitig werden sich die Subjekte ihrer Identität aber nur in Abgrenzung gegen Anderes bewußt, in diesem Fall gegen den Gegenstand und den sinnlichen Eindruck. Damit ist das sinnliche Bewußtsein auch Resultat der Vermittlung mit dem sinnlichen Eindruck und damit das Gegenteil seiner selbst: Nicht unmittelbar gegeben, sondern vielmehr Negation der Unmittelbarkeit. „Die sinnliche Gewißheit erfährt also, daß ihr Wesen, weder in dem Gegenstande, noch in dem Ich, und die Unmittelbarkeit weder eine Unmittelbarkeit des einen noch des andern ist, denn an beyden ist das was Ich meyne, vielmehr ein unwesentliches, und der Gegenstand und Ich sind allgemeine, in welchen dasjenige Itzt und Hier und Ich, das ich meyne, nicht bestehen bleibt, oder i s t . Wir kommen hiedurch dahin, das Ga n z e der sinnlichen Gewißheit selbst als ihr We s e n zu setzen, nicht mehr nur ein Moment derselben, wie in den beyden Fällen geschehen ist, worin zuerst der dem Ich entgegengesetzte Gegenstand, dann Ich ihre Realität seyn sollte. Es ist also nur die g a n z e sinnliche Gewißheit selbst, welche an ihr als U n mi t t e l b a r k e i t festhält, und hiedurch alle Entgegensetzung, die im vorherigen statt fand, aus sich ausschließt.“17

In der sinnlichen Gewißheit macht das Bewußtsein also die Erfahrung, daß das unmittelbare Wissen und das Wissen des Unmittelbaren als sinnliche Gewißheit spekulative Begriffe sind, weil sie nur durch die Negation von Vermittlung erschlossen werden können. Der Gegenstand an sich ist nicht greifbar, weil jedem Versuch ihn aufzuzeigen die Vermittlung unterstellt bleibt. Im Umkehrschluß heißt das aber auch, daß es nichts gibt, das unbestimmt wäre. Unmittelbares Wissen ohne weitere Bestimmung ist ebenso ein Unding wie das Wissen des Unmittelbaren. Im Resultat der sinnlichen Gewißheit haben sich die Begriffe vom unmittelbaren Wissen und dem Wissen des Unmittelbaren also gewandelt. Entgegen der ursprünglichen Annahme, die sinnliche Gewißheit sei wahr, haben sich das Diese und Jetzt als Momente erwiesen, durch die die Affektion zwar geordnet wird. Sie sind aber nicht die Affektion selbst, sowenig wie die Affektion schon der Gegenstand ist. Die sinnliche Gewißheit ist nicht das absolute Wissen, sondern nur ein Moment davon und insofern unwahr. Indem die Sinnliche Gewißheit nun aus der Perspektive dieser Erfahrung betrachtet wird, geht sie in Die Wahrnehmung und das Ding und die Täuschung über.18 16 17 18

Vgl. Hegel. Phänomenologie des Geistes, 66. Ebd., 67. Religionsgeschichtliche Motive der Sinnlichen Gewißheit untersucht Brady Bowman, wobei er in der Sinnlichen Gewißheit die Kritik Hegels am Substanzbegriff Spinozas sieht und die werkgeschichtliche Entwicklung dieses Begriffs im Vergleich von Phänomenologie und dem frühen Hegelgedicht Eleusis nachvollzieht. Vgl. Brady Bowman. „Die unterste Schule der Weisheit. Hegels Eingang in die Phänomenologie im Fokus eines religionsgeschichtlichen Motivs.“ In Hegels

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b) Die Wahrnehmung oder das Ding, und die Täuschung Das Ding vieler Eigenschaften wird wahrgenommen, wobei die Wahrnehmung und das Ding zunächst nur im Rahmen der bisherigen Entwicklung bestimmt sind. Dabei erscheint der Gegenstand dem wahrnehmenden Bewußtsein nun als feste und vorgefundene Voraussetzung seiner Wahrnehmung, weil er gleichgültig dagegen ist, ob er wahrgenommen wird oder nicht. Er erscheint damit als das Bestimmende, während sich die Wahrnehmung gegen den Gegenstand rezipierend verhält. Sie nimmt sich als affiziertes, passives, nicht als produktives Vermögen wahr. Der Gegenstand der Wahrnehmung ist durch drei Momente bestimmt: Zunächst ist in ihm die Mannigfaltigkeit der Sinneseindrücke im Hier und Jetzt als Mannigfaltigkeit der Eigenschaften aufgehoben, aber zugleich so, daß die vielen Akzidenzien auf die Einheit des Dings bezogen sind. Das Ding ist die Einheit vieler Eigenschaften, die gleichgültig nebeneinander stehen. Das Salz ist kubisch und weiß und scharf usw. Aber das Ding kann nicht zugleich und in derselben Hinsicht kubisch, weiß und scharf sein, sondern die Eigenschaften müssen ebenso als einander ausschließende bestimmt werden. Oder, um zu sagen, was kubisch ist, muß auch antizipiert werden, was es nicht ist: weiß und scharf etc. Durch diese Negation werden die Eigenschaften erst zu bestimmten Eigenschaften, was wiederum die Voraussetzung dafür ist, daß das Ding, an dem die Eigenschaften sind, bestimmbar wird. Der Begriff des Gegenstandes der Wahrnehmung erschöpft sich also nicht in einem der genannten Momente des gleichgültigen nebeneinander Bestehens der Eigenschaften, ihrer negativen Beziehung aufeinander und schließlich der Konstitution des Dinges insgesamt durch die beiden vorhergehenden Momente. Der Begriff des Gegenstandes ist vielmehr durch die vollständige Vermittlung aller Momente dieser Bewegung bestimmt.19 Ebenso widersprüchlich stellt sich das Ding in der Wahrnehmung des Bewußtseins dar: Insofern es den Geschmack des Salzes wahrnimmt, erfaßt es die anderen Eigenschaften des Dings nicht und auch nicht das Medium als Einheit; insofern die Wahrneh-

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„Phänomenologie des Geistes“ heute, hrsg. v. Andreas Arndt und Ernst Müller, 11–38. Berlin, 2004. Falko Schmieder stellt die Sinnliche Gewißheit einerseits der Feuerbachs zur Seite, um zu zeigen, wo dessen Hegelkritik greift und wo sie zu kritisieren ist. Danach liege in der Argumentation Feuerbachs eine Positivierung der sinnlichen Gewißheit, die kulturindustrielle Anklänge aufweise, da sie ein Reflex auf die technische Entwicklung der Fotografie darstelle: „Resümierend läßt sich feststellen, daß Feuerbachs Fixierung der Anschauung nicht nur eine theoretische Position markiert, sondern als theoretischer Reflex auf eine medientechnisch basierte Gestalt des Volksgeistes zu begreifen ist, die für die Konstitution des vorwissenschaftlichen Bewußtseins von kaum zu unterschätzender Bedeutung ist. Sie ist also nicht nur als eine Position anzusehen, die mit Hegels Philosophie letztlich nicht kritisch fertig geworden ist, sondern ihr Pochen auf Unmittelbarkeit erliegt zugleich auch einem objektiven Schein der sich aus den Formeigentümlichkeiten des neuen, Hegel noch nicht bekannten Mediums Fotografie ergibt.“ Falko Schmieder. „Hegels Kritik und Feuerbachs Rehabilitierung der sinnlichen Gewißheit in fotografietheoretischer Sicht.“ In Hegels „Phänomenologie des Geistes“ heute, hrsg. v. Andreas Arndt und Ernst Müller. Berlin, 2004, 57. Hegel argumentiert analog zum Mechanismus und Chemismus in der Lehre vom Begriff, allerdings mit dem Unterschied, daß nicht die Objekte physikalisch bzw. chemisch aufeinander einwirken, sondern die Wahrnehmung sich die Relation von Substanz und Akzidenz vergegenwärtigt. (Vgl. Kapitel 2.2 zum Objektbegriff.)

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mung das Ding als kubisch, salzig und weiß wahrnimmt, reflektiert es die Bestimmtheit der Eigenschaft nicht und insofern es die Vermittlung der Momente des Dinges wahrnimmt, bezieht es sich nicht mehr auf das Ding, sondern auf seine eigene Reflexion. Das Bewußtsein schreibt sich diese Widersprüche im Gegenstand seiner Wahrnehmung und der Wahrnehmung zunächst selbst zu, weil es das Ding als Voraussetzung seines Tuns betrachtet hatte und es daher schadlos gehalten werden sollte. Wenn aber die Bestimmung des Dings durch den Reflexionsprozeß nicht nur eine Projektion des Bewußtseins auf den Gegenstand der Reflexion sein soll, dann muß dem Ding seine Bestimmung auch zukommen. Die Widersprüche existieren also nicht nur im Bewußtsein, sondern konstituieren das Ding ontologisch. Es ist selbst Einheit und Vielheit, ausschließendes Eins und bestimmte Materie, und die Einheit von beidem. Wenn aber der Widerspruch das Wesen des Dinges ist, dann ist es an sich unbestimmt. Was es ist, kann so nur angegeben werden, indem es gegen andere Dinge abgegrenzt wird: Das Salz ist nicht Pfeffer oder Zucker usw. Die Menge der Dinge, gegen die das zu bestimmende negativ zu bestimmen ist, ist unendlich, so daß der Prozeß der Abgrenzung niemals abgeschlossen werden kann. Das zu bestimmende Ding kann deshalb niemals vollständig bestimmt werden. Es verliert sich in der unendlichen Mannigfaltigkeit der Dinge und löst sich auf. Die Auflösung des Dinges vieler Eigenschaften mündet aber nicht im Nichts, sondern wird durch denselben Prozeß, in dem es in seiner Selbständigkeit negiert wurde, auch bestimmt. Denn dieser Prozeß der doppelten Negation wird in und durch die Wahrnehmung vollzogen und hat damit im wahrnehmenden Bewußtsein seinen Ort. Zwar wird das Ding als selbständiger Gegenstand negiert und aufgehoben, weil es nicht widerspruchsfrei bestimmt werden kann, aber das den Prozeß dieser Negation nachvollziehende und den Gegenstand negierende Vermögen wird dadurch selbst nicht negiert. „Es fällt hiemit das letzte I n s o fe r n hinweg, welches das für sich seyn, und das seyn für anderes trennte; der Gegenstand ist vielmehr i n e i n e r u n d d e r s e l b e n Rü c ks i c h t d a s Ge g e n t h e i l s e i n e r s e l b s t , fü r s i c h i n s o fe r n e r fü r a n d e r e s , und f ü r a nd e r e s i n s o f e r n e r f ü r s i c h i s t . Er ist für sich, in sich reflectirt, Eins; aber diß für sich, in sich reflectirt, Eins seyn ist mit seinem Gegentheile dem S e yn fü r e i n a n d e r e s in einer Einheit, und darum nur als aufgehobenes gesetzt; oder diß fü r s i c h s e yn eben so u n w e s e n t l i c h , als dasjenige, was allein das unwesentliche seyn sollte, nemlich das Verhältniß zu anderem.“20

Anders gesagt bedeutet dieses Resultat der Wahrnehmung, daß der Widerspruch nicht am Seienden ist, sondern ein Problem der Reflexion auf diesen Gegenstand. Das reflektierende Vermögen fordert einen widerspruchsfreien Begriff des Gegenstandes, aber andererseits hat das Kriterium der Widerspruchsfreiheit nur dann einen Gegenstand, wenn der Widerspruch auch Bestand hat. Das radikal pragmatische Argument des Aristoteles für die Geltung des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch, daß es nicht gleich gut ist, in einen Brunnen zu springen oder nicht in einen Brunnen zu springen, geht im Kern darauf, daß die konsistente Verfassung der Welt Bedingung der Möglichkeit praktischer Orientierung ist.21 Hegel, der an dieser Stelle von Praxis und Empirie abstrahierend, 20 21

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 79. Vgl. Aristoteles. Metaphysik, Bücher I–VI, 1008b.

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Ordnung in das Wissen von der konsistenten Verfassung der Welt bringen will, erklärt umgekehrt das Wissen von der Ordnung der Welt zur Bedingung praktischer Orientierung. Beide Momente – die ontologische Verfassung der Welt und das metaphysische Wissen von ihr – sind notwendig aufeinander bezogen. Bei Hegel gelangt die Vermittlung formal immer zum gleichen Resultat, nämlich daß der Widerspruch die Form der Reflexion schlechthin ist. In dieser widersprüchlichen Bewegung wird der Gegenstand als Moment des Inhaltes aufgehoben. Darin verschränkt Hegel die traditionellen Bestimmungen der adaequatio rei et intellectus und des determinatio est negatio. In der Diskrepanz des Kriteriums der Entwicklung und den konstatierten Widersprüchen liegt das movens der Bewegung und damit auch die Substanz des reflektierenden Vermögens selbst. Das Bewußtsein konstituiert die Dinge und ist als dieses Resultat der Wahrnehmung – Verstand.

c) Kraft und Verstand. Erscheinung und übersinnliche Welt In Kraft und Verstand, Erscheinung und übersinnliche Welt soll der Verstand vermittelt über die Begriffe der Kraft, des Gesetzes und des Unterschiedes, der keiner ist, zum Selbstbewußtsein weiter entwickelt werden. In diesem ersten Begriff des Selbstbewußtseins wird von moralischen, gesellschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Inhalten abstrahiert. Vielmehr geht es Hegel darum zu zeigen, wie das Selbstbewußtsein sich in der Auseinandersetzung des Verstandes mit der Natur als Vermögen konstituiert. Als Vermögen sind Verstand und Selbstbewußtsein in der Phänomenologie des Geistes der Form nach unterschieden: Der Verstand erkennt nur, was von ihm unterschieden ist. Das Selbstbewußtsein gelangt dagegen vermittelt über das andere zur Erkenntnis seiner selbst. Damit bezieht (sich) der Verstand irreflexiv auf die Gegenstände der Erfahrung – Er ist das Vermögen naturwissenschaftlicher Erkenntnis; das Selbstbewußtsein ist vermittelt über die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse reflexiv – In ihm sind also die metaphysischen Begriffe, die Ausdruck der Reflexion des Selbstbewußtseins auf sich sind, und die einzelwissenschaftliche Begriffe, die aus der Verstandestätigkeit resultieren, systematisch aufeinander bezogen. Dem traditionellen Verständnis nach – damit ist die Metaphysik vor Hegel gemeint – setzt die systematische Transformation des einzelwissenschaftlichen Wissens in das System der Philosophie einen Gegenstandswechsel voraus, von der Betrachtung der Dingwelt hin zur Betrachtung des erkennenden und wissenden Vermögens und seiner Begriffe. Zwar sind beide Gegenstandsbereiche als erkannte wesensgleich, so wie auch die erkennenden Vermögen Verstand und Selbstbewußtsein; wenn aber das System des Wissens nicht tautologisch sein soll, dann müssen die Gegenstandsbereiche auch spezifisch voneinander unterschieden sein. Wollte Hegel also nur die Vermögen ineinander überführen, bliebe die Transformation formal; sollen aber darüber hinaus Begriff und Gegenstand ineinander überführt werden, ohne einen logischen Fehler zu begehen, dann muß der Gegenstandswechsel durch die Exposition der Begriffe Kraft, Gesetz und übersinnli-

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che Welt notwendig begründet werden. Die Bedingung dieser Begründung ist der Nachweis der Wesensgleichheit von Begriff und Gegenstand. Oder, mit Kant gesagt, eine Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung ist die Affinität beider Gegenstandsbereiche, also derjenigen Gegenstandsbereiche, die der philosophischen bzw. der naturwissenschaftlichen Erkenntnis korrespondieren. Nur wenn es prinzipiell möglich ist, daß die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen unter die Form der reinen Verstandeserkenntnis zu subsumieren ist, ist auch Erfahrung möglich. Die Affinität ist deshalb für jede mögliche und wirkliche Erkenntnis logisch vorausgesetzt, muß also gegeben sein, bevor und damit Erkenntnis überhaupt denkbar ist. Während aber die Erscheinungen zufällig und mannigfaltig gegeben sind, sind die Formen der reinen Verstandeserkenntnis notwendig allgemein. Damit sind beide Gegenstände gerade nicht wesensgleich und das Gelingen der widerspruchsfreien und notwendigen Subsumtion der Erscheinungen unter die reinen Verstandesbegriffe ist a priori nicht bestimmbar, sondern muß durch den Erkenntnisprozeß erst geleistet werden. D. h., es bedarf nicht nur der Subsumtion der gegeben Mannigfaltigkeit der Erscheinungen unter die reinen Verstandesbegriffe, sondern umgekehrt müssen zu der Mannigfaltigkeit allgemeine Begriffe auch erst gefunden werden. Subsumtion und Reflexion oder bestimmende und reflektierende Urteilskraft sind wechselseitig aufeinander verwiesen. Weil aber der Versuch der reflektierenden Urteilskraft, zu einem gegebenen Besonderen ein Allgemeines zu finden, auch mißlingen kann, ist in der Konstruktion Kants die apriorische Affinität nur im Resultat der notwendig allgemeinen Erfahrung bewiesen. Dieses Problem wird bei Kant nur unzureichend reflektiert.22 Bei Hegel findet sich die Differenz zwischen beiden Gegenstandsbereichen in dem Begriffspaar Ansichsein und Fürsichsein. Gegenüber dem traditionellen Verständnis wird diese Differenz aber entscheidend modifiziert. Die Wahrnehmung wurde als diejenige Gestalt des Bewußtseins abgehandelt, der der Gegenstand mehr ist als ein sinnlicher Eindruck, nämlich ein objektiv gegebenes Ding. Er wird als Ansichsein vorgefunden und ist das, was die Erfahrung bestimmt. Mit dieser Voraussetzung zitiert Hegel die traditionelle Vorstellung von Objektivität, um sie zugleich zu widerlegen, denn das wahrnehmende Bewußtsein kam zu dem umgekehrten Resultat, daß es selbst durch seine Reflexion die Dinge erst konstituiert. Das Ding ist Ansichsein nur insofern es für ein Anderes, das Bewußtsein, ansich ist. Die Relation des Gegenstandes auf das Bewußtsein ist also für die Erkenntnis der Objektivität konstitutiv. Diese Erfahrung ist im ersten Begriff von Kraft und Verstand, dem absolut Allgemeinen, aufgehoben, d. h. sowohl negiert als auch erhalten: „Das Resultat war das unbedingt allgemeine, zunächst in dem negativen und abstracten Sinne, daß das Bewußtseyn seine einseitigen Begriffe negirte, und sie abstrahirte, nemlich sie aufgab. Das Resultat hat aber an sich die positive Bedeutung, daß darin die Einheit, d e s f ü r s i c h s e yn s und d e s f ü r e i n a n d e r e s s e yn s , oder der absolute Gegensatz unmittelbar als dassel22

Vgl. auch Maxi Berger. „Zwischen Religionskritik und aufgeklärter Gesellschaft. Zur Konstruktion bürgerlicher Gegenwart.“ In Kants „Ethisches Gemeinwesen“. Die Religionsschrift zwischen Vernunftkritik und praktischer Philosophie, hrsg. v. Michael Städtler, 183–195. Berlin, 2005.

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be Wesen gesetzt ist. Es scheint zunächst nur die Form der Momente zu einander zu betreffen; aber das für sich seyn und das für anderes seyn ist eben sowohl der I n h a l t , weil der Gegensatz in seiner Wahrheit keine andere Natur haben kann, als die sich im Resultate ergeben hat, daß nehmlich der in der Wahrnehmung für wahr gehaltene Inhalt, in der That nur der Form angehört, und in ihre Einheit sich auflöst. Dieser Inhalt ist zugleich allgemein; es kann keinen andern Inhalt geben, der durch seine besondere Beschaffenheit sich dem entzöge, in diese unbedingte Allgemeinheit zurückzugehen. Ein solcher Inhalt wäre irgend eine bestimmte Weise für sich zu seyn, und zu anderem sich zu verhalten. Allein f ü r s i c h z u s e yn , und z u a n d e r e m s i c h z u v e r h a l t e n ü b e r h a u p t , macht seine N a t u r We s e n , deren Wahrheit ist, unbedingt allgemeines zu seyn; und das Resultat ist schlechthin allgemein.“23

Das Ansichsein als Inhalt ist als Einheit von Vielem bestimmt, das zugleich für ein anderes ist, den Verstand, also diejenige Instanz, welche die Vielheit zur Einheit synthetisiert. Der Verstand verhält sich zu anderem, dem Ansichsein, und hat die Potenz zur Selbstbezüglichkeit, ohne aber sein für sich sein schon entwickelt zu haben. Für sich ist erst das Selbstbewußtsein. Im unbedingt Allgemeinen, das der Gegenstand des Verstandes ist, fallen An-Sich-Sein und Für-Ein-Anderes-Sein zusammen, weil es schon das Resultat der Reflexion, nicht mehr sinnliche Gewißheit oder Wahrnehmung, sondern Verstandesbegriff ist. Die Vorstellung, daß das Ding der Wahrnehmung als selbständiges vorgebe, wie über es zu reflektieren sei, wurde negiert. Bewahrt wurde dagegen die Erfahrung der sinnlichen Gewißheit und der Wahrnehmung. Auch Kant bestimmt die Objektivität bereits als Einheit von Anschauung und Begriff, aber im Unterschied zu Hegel bleibt dieser Begriff des Objekts der passive Gegenstand, der durch das aktive Vermögen, den Verstand erkannt wird. Subjekt und Objekt sind dadurch auch subjektimmanent unterscheidbar. Hegel tilgt diese Differenz im Begriff des unbedingt Allgemeinen: Der Gegenstand des Verstandes ist „für sich“ und verhält sich „zu and ere m“24 Er trägt die dem Verstand eigentümlichen Bestimmungsmomente, denn in der ersten Formulierung, für sich zu sein, wird dem absolut Allgemeinen die Potenz zur Selbstbezüglichkeit zugesprochen, in der zweiten, sich zu anderem zu verhalten, wird ihm zugesprochen, ein aktives Prinzip zu sein. Diese Transformation des Objektbegriffs von einem passiven in ein aktives Prinzip ist einerseits plausibel, wenn davon ausgegangen wird, daß der Gegenstand des Verstandes nicht gegenständlich, sondern Wissen von Gegenständlichem ist. Andererseits ist das Wissen kein Vermögen, sondern ein Begriff und deshalb passiv.25 23 24 25

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 83. Ebd., 83. Das Problem der Zuordnung von Potenz und Aktion bzw. von Passivität und Aktivität findet sich schon bei Aristoteles in De Anima. In der von Horst Seidel übersetzten und im Meiner Verlag 1995 erschienenen Ausgabe weist Seidel in der Einleitung darauf hin, daß Hegels idealisierende Interpretation des Aristotelischen Textes bis in die Übersetzung hinein nachvollziehbar ist: „Die Übersetzung verändert den Textsinn zu Hegels eigener Auffassung des Geistes, welcher Passivität und Aktivität in sich enthält und in denkender Bewegung verbindet.“ Nachdem Seidel die Fehler in der Übersetzung durch Hegel aufgezeigt hat, schließt er: „Dadurch erhält der Text einen ganz veränderten (nunmehr hegelschen) Sinn: Der Geist wird zum Subjekt, der Wirken und Erleiden als zwei Seiten hat und das Gemeinsame beider ist. Tatsächlich stellt jedoch Aristoteles Geist (nous) und Objekt einander gegenüber und fragt nach einem gemeinsamen Merkmal beider (das bei den Vorsokratikern die gemeinsamen Stoffelemente waren, für Aristoteles hingegen das Intelligibel-sein beider).“ Horst Seidel. „Einleitung des Herausgebers.“ In Über die Seele, Aristoteles. Hamburg, 1995, XLVII f.

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So war gemäß den bisherigen Bestimmungen nicht das Ding oder gar der ihm zugehörige Gegenstandsbereich das bzw. der sich zu anderem verhielt, sondern gerade umgekehrt hatte sich das Bewußtsein zu den Dingen verhalten. Zwar gibt es aktive Erkenntnisgegenstände, nämlich solche, auf die das Kriterium der Belebtheit zutrifft, aber gegen die spezifische Differenz von belebter und unbelebter Natur bleibt das unbedingt Allgemeine in Kraft und Verstand indifferent. Zugleich ist die Erschleichung der Aktivität des Erkenntnisgegenstandes eigentlich das Axiom,26 auf dessen Grundlage der Begriff des Selbstbewußtseins als systematische Einheit von Naturwissenschaft und Leben aus dem Verhältnis von Kraft und Verstand begründet wird. Denn nur aus einem indifferenten Begriff lassen sich unterschiedliche Gegenstandsbereiche wie die Natur, das Leben und das Selbstbewußtsein ableiten. Auch das Problem der Begründung der Affinität beider Gegenstandsbereiche wäre damit gelöst, da sie demselben Begriff entspringen. Mit dem unbedingt Allgemeinen wäre die Phänomenologie aber auch an ihr Ende gelangt, denn aus der Identität folgt weiter nichts. Aber dieses Resultat – so Hegel – sei nur für uns geworden, noch nicht für den Verstand, der diese Wesensgleichheit bislang noch nicht durchschaut hat. Ihm ist die Relation von Begriff und Gegenstand als einzelwissenschaftliche weiterhin transzendent. „Der Verstand hat damit zwar seine eigene Unwahrheit und die Unwahrheit des Gegenstandes aufgehoben, und was ihm dadurch geworden, ist der Begriff des Wahren; als an sich seyen des Wahres, das noch nicht Begriff ist, oder das des f ü r s i c h s e yn s des Bewußtseyns entbehrt, und das der Verstand, ohne sich darin zu wissen, gewähren läßt. Dieses treibt sein Wesen für sich selbst; so daß das Bewußtseyn keinen Antheil an seiner freyen Realisirung hat, sondern ihr nur zusieht, und sie rein auffaßt. W i r haben hiemit noch vors erste an seine Stelle zu treten, und der Begriff zu seyn, welcher das ausbildet, was in dem Resultate enthalten ist; an diesem ausgebildeten Gegenstande, der dem Bewußtseyn als ein seyendes sich darbietet, wird es sich erst zum begreiffenden Bewußtseyn.“27

Während also die Differenz zwischen Objekt und Subjekt im unbedingt Allgemeinen im an sich seienden Wissen aufgehoben worden ist, wird sie im Verhältnis von Verstandeserkenntnis und Selbstbewußtsein erneut eröffnet: Der Verstand muß an sich werden, was er für uns bereits ist. Mit der Formulierung dieses telos setzt Hegel einen Kontrapunkt zum Begriff des unbedingt Allgemeinen, dem das bisher entwickelte Resultat gemäß werden muß. Daraus ergibt sich überhaupt nur die Notwendigkeit, die Argumentation der Phänomenologie fortzusetzen. Hegel stellt also in Kraft und Verstand erstens die Frage, wie sich aus dem Wissen von der Objektivität das Selbstbewußtsein systematisch entwickelt, und zweitens, wie die Objektivität notwendig auf das Selbstbewußtsein bezogen werden kann, ohne daß ein solches System bloß tautologisch wird. Dieses Ziel soll durch eine teleologische 26

27

Ein Axiom in den Naturwissenschaften bezeichnet ein erstes Prinzip, von dem alle weiteren Prinzipien abgeleitet werden. Ein Beispiel sind die Newtonschen Gesetze der Mechanik. Obgleich sie aber erste Prinzipien sind, ist die Erkenntnis ihres logischen Ranges und der damit verbundenen Setzung ein historisches Resultat. Insofern konstruiert Hegel in Kraft und Verstand das philosophische System in Analogie zur naturwissenschaftlichen Theoriebildung. Hegel. Phänomenologie des Geistes, 82 f.

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Konstruktion erreicht werden, die in der Differenz der Perspektive auf die Erfahrung „für uns“ bzw. „an sich“ und für den Verstand angelegt ist. Dadurch bekommt die Erfahrung des Verstandes eine Richtung und ein Ziel, nämlich zu zeigen, daß der Verstand im Selbstbewußtsein nicht nur die Wesensgleichheit der Objektivität erkennt, sondern auch, daß für ihn dasselbe ist, was „für uns“ ist. Den terminus ad quem von Kraft und Verstand formuliert Hegel zu Beginn des nachfolgenden Selbstbewußtseinkapitels: „In den bisherigen Weisen der Gewißheit ist dem Bewußtseyn das Wahre, etwas anderes, als es selbst. Der Begriff dieses Wahren verschwindet aber in der Erfahrung von ihm; wie der Gegenstand unmittelbar an sich war, das Seyende der sinnlichen Gewißheit, das concrete Ding der Wahrnehmung, die Krafft des Verstandes, so erweist er sich vielmehr nicht in Wahrheit zu seyn, sondern diß Ansich ergibt sich als eine Weise, wie er nur für ein anderes ist; der Begriff von ihm hebt sich an dem wirklichen Gegenstande auf, oder die erste unmittelbare Vorstellung in der Erfahrung, und die Gewißheit ging in der Wahrheit verloren.“28

Ohne die Affinität des Objekts erhielte sich der Hiatus Kants, ohne den Nachweis, daß das Selbstbewußtsein aus dem Prozeß ableitbar ist ebenso, und ohne den Kontrapunkt des „Für uns“ bliebe die Bewegung ziellos. Hegel erschließt im Gegensatz zu Kant den gemeinsamen Ursprung des Verstandes und der Naturgesetze im Selbstbewußtsein, um den Hiatus zwischen den beiden Gegenstandsbereichen und dem damit verbundenen Moment der Zufälligkeit im Erkenntnisprozeß, wie sie bei Kant bestimmend blieb, zu umgehen. Trotz der darin verborgenen Erschleichung spricht für dieses Vorgehen die historische Tatsache, daß zur Gegenwart Hegels sowohl einzelwissenschaftliche als auch philosophische Begriffe vorliegen, d. h. daß das Problem ihrer Erkennbarkeit obsolet ist. Diesen historischen Befund wendet Hegel systematisch, indem er die Konstellation selbst wendet: Die Affinität von Subjektivität und Objektivität sei schon dadurch bewiesen, daß es Erkenntnis historisch gibt, so daß das Problem der a priorischen Begründung der Affinität von Begriff und Gegenstand sich gar nicht stelle. Weil allein diese Feststellung auch auf eine empiristische Vorgehensweise führen könnte, deren Aporien Hegel ebenso vermeiden will, muß er außerdem zeigen, daß der historische Weg zugleich der systematische ist. Entsprechend soll in den ersten drei Kapiteln der Phänomenologie die systematische Begründung dafür geben werden, wie diese beiden konstitutiven Momente zusammenhängen: In den historisch vorliegenden naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ist die Stellung des Verstandes zu den Objekten nicht mehr naiv. Indem Objektivität angeschaut und begriffen wird, ist sie mehr als Kants Objekt. Als erkannte ist die Objektivität der Form des Begriffes schon subsumiert und ihre Affinität zum Erkennenden bewiesen. Objektivität ist Resultat der Verstandestätigkeit, zweite Natur. Das Ausgangsproblem der Transformation der Naturerkenntnis in die Selbsterkenntnis ist damit bereits zu Beginn von Kraft und Verstand soweit entschärft, daß nicht mehr die unterschiedenen Gegenstandsbereiche – Natur und Begriff – in das System des Wissens überführt werden müssen – deren Affinität sei erwiesen –, sondern nur die irreflexive Form der Verstandeserkenntnis in die reflexive Form des Selbstbewußtseins. 28

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 103.

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In der systematischen Begründung historischer Bedingungen ist aber wiederum das Problem der Indifferenz von System und historischen Bedingungen angelegt. Die Differenz zwischen der rekursiv zu erschließenden historischen Reihe der Bedingungen des Systems und dem progressiv zu entwickelnden System selbst ist bei Hegel im Momentverhältnis von Verstandeserfahrung und Selbstbewußtsein zwar aufgehoben, aber die geschichtlichen Bedingungen werden nicht als geschichtliche Bedingungen reflektiert, sondern nur soweit sie bereits in das System integriert sind. Die Perspektive auf eine geistesgeschichtliche Entwicklung, ob diese nun historisch oder systematisch gefaßt wird, kann hier noch nicht geklärt werden, eröffnet sich erst als Aufgabe des systematisch entwickelten Begriffs des Selbstbewußtseins. Selbstbewußtsein ist historisch aber ebensowenig naiv wie sein Gegenstand. Das Vorgehen Hegels ist deshalb programmatisch und problematisch zugleich und stellt einen zentralen Gegenstand der sachlichen Auseinandersetzung mit Hegel seit Feuerbach und Marx dar. Kraft als Urteilskraft, Erscheinung und deren unbekannte Ursache Der Begriff der Kraft wird im Vermittlungsprozeß, wie er sich für den Verstand darstellt, konstituiert.29 Der Verstand unterscheidet im unbedingt Allgemeinen die Momente des Inhalts, einerseits allgemeines Medium vieler bestehender Materien, ein Sein für anderes zu sein, und der Form, in sich reflektiertes Eins, Fürsichsein zu sein. Als Inhalt ist es passiv, als Form aktives Prinzip. Diese Momente sind einander nicht mehr äußerlich, sondern Momente am absolut Allgemeinen. Deshalb vollzieht sich am absolut Allgemeinen zunächst dieselbe Bewegung wie an der Wahrnehmung, allerdings mit dem Unterschied, daß dieser Prozeß nicht mehr dem Ding zugeschrieben wird, sondern am Bewußtsein stattfindet. Dieser Prozeß heißt Kraft: „Diese Bewegung ist aber dasjenige, was K r a f f t genannt wird; das eine Moment derselben, nemlich sie als Ausbreitung der selbstständigen Materien in ihrem Seyn ist ihre A e u ß e r u n g ; sie aber als das Verschwundenseyn derselben ist die in sich aus ihrer A e u ß e r u n g z u r ü c k g e d r ä n g t e , o d e r d i e e i g e n t l i c h e K r a f f t .“30

Die beiden Momente der Kraft, die Vielheit der Materien und ihr Aufgehobensein, sind wechselseitig aufeinander bezogen. In der Vielheit der Materien muß sich die Kraft äu29

30

Kant. Kritik der Urteilskraft, XXIV; Kant. Kritik der reinen Vernunft, A 49 ff. Gegenstand der Phänomenologie des Geistes ist die Kritik geistesgeschichtlich relevanter Vorstellungen. Entsprechend vielfältig sind die Bezüge, die sich zu anderen Autoren herstellen lassen. Auch der Kraftbegriff hat viele physikalische und philosophische Implikationen, die aber im Rahmen dieser Arbeit nicht alle aufgeschlüsselt werden sollen. Trotzdem ist es ein der Hegelschen Philosophie immanentes Problem, daß die Unterschiede der verhandelten Begriffe unklar werden – und daß in Kraft und Verstand sogar programmatisch, da hier der terminus ad quem die Kraft als Gleichnamiges ist. Um die Lektüre zu erleichtern, wird durch die Zwischenüberschriften ein Kontrapunkt zum Kraftbegriff gesetzt, durch den auf dessen jeweils verhandelte Bedeutung in der Terminologie Kants verwiesen wird, ohne diese aber explizit zu erläutern. Kants Terminologie ist dafür insofern geeignet, als in ihr die Differenzen der Begriffe gerade überbetont werden. Die These, daß mit Kraft und Verstand insbesondere die Erkenntnistheorie Kants bearbeitet wird, findet sich auch bei HansGeorg Gadamer. „Die verkehrte Welt.“ 72 f. Darüber hinaus sieht er „die platonische und die christliche Position“ ebenso verhandelt wie „die der modernen Naturwissenschaft.“ Ebd., 79. Hegel. Phänomenologie des Geistes, 84.

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ßern, weil sie darin ihre Realität hat, gleichzeitig bleibt sie aber in der Äußerung auch bei sich selbst. Der Begriff der Kraft wird also nicht nur durch seine Momente konstituiert, sondern ist auch der Begriff, an dem sich beide Bewegungen der Äußerung und des In-Sich-Zurückgehens vollziehen. „Es erhellt, im allgemeinen, daß diese Bewegung nichts anderes ist, als die Bewegung des Wahrnehmens“31, deren Modell die Urteilskraft bei Kant ist. Sie ist das Vermögen, zu einem gegebenen Besonderen ein Allgemeines zu finden, aber auch umgekehrt zu einem gegebenen Allgemeinen ein Besonderes. Beide Bewegungen sind Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, denn ohne die bestimmende Urteilskraft könnten Erscheinungen nicht unter die Form des Begriffes subsumiert werden, aber umgekehrt könnten ohne die reflektierende Urteilskraft zu den Erscheinungen auch keine Begriffe gefunden werden. Diese Bewegung des Wahrnehmens ist auf etwas verwiesen, das wahrgenommen wird, das „substantiirte Extrem“.32 Dieselbe Bewegung vollzieht sich deshalb noch mal, da sie aber nicht die Wahrnehmung, sondern das Wahrgenommene betrifft, in einer Weise, in der die Unterschiede „ganz vom Gedanken frey gelassen und als die Substanz dieser Unterschiede gesetzt werden, d. h. ein mal , sie als diese ganze Krafft wesentlich an und für sic h ble ibe nd , und dann, ihre Unte rsch ied e a ls substantiell, oder als für sich bestehende Momente.“33 Beide Kräfte, die des Wahrnehmens und des Wahrgenommenen, verhalten sich zueinander wesentlich als Bewegung. Die Bewegung ist zwar nur durch die Antipoden möglich, zwischen denen die Bewegung stattfindet, aber zugleich so, daß sie in der Bewegung selbst zu dem werden, was sie zunächst nicht waren. So ist die Äußerung der Kraft als Eins notwendig und hat damit selbst das an sich, was als das andere Wesen gesetzt war. Ebenso notwendig geht auch die Vielheit der Materien in die Einheit des Begriffes zurück und ist deshalb auch Medium. Die Wahrheit des Prozesses ist also weder nur die sich äußernde Kraft, noch nur die in sich zurückgekehrte Kraft, „sondern ihr Wesen ist diß schlechthin, jedes nur durchs andere, und was jede so durchs andre ist, unmittelbar nicht mehr zu seyn, indem sie es ist.“34 In diesem Spiel der Kräfte veranlassen sich beide Momente wechselseitig zu ihrer jeweiligen Bewegung, in der die Wahrnehmung zum Wahrgenommenen und das Wahrgenommene zur Wahrnehmung wird. Hegel nennt dieses wechselseitige sich zur Bewegung veranlassen sollizitieren. Ein Beispiel für die Bewegung des Sollizitierens ist die optische Wahrnehmung eines Ölgemäldes: Technisch betrachtet besteht ein Ölgemälde aus Leinwand, die auf einen Holzrahmen gezogen ist und auf der zweidimensional Ölfarbe aufgetragen ist. Das kann der Betrachter sehen und fühlen. Und doch bleibt es nicht bei dieser technischen Betrachtung, sondern im Kopf des Betrachters fügen sich die verschiedenen Farben und Formen zu einem Bild zusammen, so daß er meint, z. B. eine dreidimensionale Landschaft vor sich zu sehen. Die Landschaft wäre ohne die wahrnehmende Synthese des 31 32 33 34

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 84. Ebd., 85. Ebd., 84. Ebd., 87.

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Betrachters ebensowenig wie die wahrnehmende Synthese ohne ihr substantiiertes Extrem, also die besondere Anordnung der Farben auf der Leinwand. Beides ist notwendig aufeinander verwiesen und wird erst in der Synthese zu dem spezifischen Gegenstand des Gemäldes. Allerdings bleibt bei diesem Beispiel die Gegenständlichkeit von Leinwand und Farbe unterstellt und das im Unterschied zur Kraftbewegung bei Hegel. Das Sein der Kräfte ist ein Gesetztsein durch die jeweils andere Kraft; gegen diese Setzung verschwindet ihre Selbständigkeit. Da beide Kräfte sich jeweils nur durch und gegen die jeweils andere Kraft bestimmen können, sind sie vollständig nur in dem Moment bestimmt, wo sie als identische zusammenfallen und nur eine Kraft sind. Die Identität der Kräfte ist die Mitte, in der die Momente der Wirklichkeit aufgehoben sind. „Die Wahrheit der Krafft bleibt also nur der G e d a n ke derselben; und haltungslos stürzen die Momente ihrer Wirklichkeit, ihre Substanzen und ihre Bewegung in eine ununterschiedene Einheit zusammen, welche nicht die in sich zurückgedrängte Krafft ist, denn diese ist selbst nur ein solches Moment, sondern diese Einheit ist i h r B e g r i ff , a l s B e g r i f f . Die Realisirung der Krafft ist also zugleich Verlust der Realität; sie ist darin vielmehr ein ganz anderes geworden, nemlich diese Al l g e me i n h e i t , welche der Verstand zuerst oder unmittelbar als ihr Wesen erkennt, und welche sich auch als ihr Wesen an ihrer seynsollenden Realität an den wirklichen Substanzen erweist.“35

Die Bewegung der Kraft, wie sie bisher dargestellt worden ist, erweist den Gegenstand der Erkenntnis als Begriff, in dem Substanz und Wahrnehmung aufgehoben worden sind. Damit liegt für den Verstand die Realität des Erkannten nicht mehr unmittelbar vor, denn wie die Erfahrungen der sinnlichen Gewißheit und der Wahrnehmung zeigten, ist sie nichts Festes, sondern verflüchtigt sich bei dem Versuch, sie als das Wesen zu nehmen. Objektiv, d. h. notwendig und allgemein geordnet ist die Realität nur dort, wo ihre Gesetzmäßigkeit erkannt und zu einem Begriff zusammengefaßt wurde – als naturwissenschaftlich begründetes Objekt. Für den Verstand ist im Spiel der Kräfte das wahre Wesen der Dinge geworden, ihre durch die Reflexion konstituierte Erscheinung. „Die Mitte, welche die beyden Extreme, den Verstand und das Innere, zusammenschließt, ist das entwickelte S e y n der Krafft, das für den Verstand selbst nunmehr ein V e r s c h wi n d e n ist. Es heißt darum E r s c h e i n u n g ; denn Schein nennen wir das S e yn , das unmittelbar an ihm selbst ein N i c ht s e yn ist. Es ist aber nicht nur ein Schein, sondern Erscheinung, ein G a n z e s des Scheins.“36

Die Erscheinung ist das Resultat der Vermittlung der Erkenntnis der objektiven Momente der Reflexion mit den subjektiven, wobei die Vermittlung die Form eines Schlusses hat, bei dem die Prämisse, also die Realität, mit der Konklusion, also dem Begriff der Realität, der Grund mit dem Begründeten zusammenfällt. Dadurch droht die Bewegung der Kraft tautologisch zu werden, es sei denn, ihr ist ein Grund unterstellt, der von der Erscheinung selbst unterschieden ist. Vor seiner Bestimmung erscheint dieser Grund der Erscheinung als Jenseitiges, als dasjenige, was in den bisherigen Bestimmungen nicht aufgehoben ist. Dieser Grund ist zunächst unbestimmt. 35 36

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 87. Ebd., 88.

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Hegel stellt den Begriff des Jenseits der Erscheinung analog zum Ding an sich bzw. dem transzendentalen Objekt bei Kant dar, und es ist deshalb nicht unpolemisch, wenn Hegel feststellt, daß das Jenseits der Erscheinung auch zu irrationalen Spekulationen Anlaß bietet: „[…] damit also in diesem so ganz Leeren, welches auch das Heilige genannt wird, doch etwas sey, es mit Träumereyen, Erscheinungen, die das Bewußtseyn sich selbst erzeugt, zu erfüllen; es müßte sich gefallen lassen, daß so schlecht mit ihm umgegangen wird, denn es wäre keines bessern würdig, indem Träumereyen selbst noch besser sind, als seine Leerheit.“37 Wenn Grund und Begründetes, hier: Realität und Begriff der Realität, durch ihren Grund voneinander unterschieden sein sollen, dann kann dieser Unterschied nur im Unterschied von Existenz und Bestimmung der Realität liegen. Eine solche Dualität von Existenz- und Bestimmungsgrund widerspricht aber dem Prinzip der Einheit des Verstandes. Deshalb muß der Widerspruch vermittelt werden, daß Realität und Begriff unterschieden sein sollen, ohne daß dieser Unterschied die Einheit des Verstandes zerrüttet. Hegel schließt – als avancierter Denker seiner Zeit – mythologische und religiöse Begründungen für die Einheit des Naturganzen aus und grenzt sich damit entscheidend von seinen Vorgängern ab. Noch der Vernunftkritiker Kant sah sich gezwungen, den letzten einheitsstiftenden Grund der Natur durch das Postulat einer göttlichen Instanz zu begründen, wenngleich er dieser nur eine regulative, keine objektive Funktion zukommen ließ. Hegel konstatiert dagegen das Scheitern der Versuche einer affirmativen Begründung des Naturganzen. Er weist den „Erscheinungen und Träumereyen“ nach, Konstruktionen des Bewußtseins zu sein, um dieses Resultat konsequenter als Kant zur Lösung zu erklären. Der erste Grund der Einheit von Begriff und Realität ist die Subjektivität als Vermögen von selbstbewußten Sinnenwesen. Weil diese aber zugleich auch endliche Wesen sind, kann das Selbstbewußtsein nicht naiv als Letztbegründung herangezogen werden. Die Menschen sind – anders als ihr göttlicher alter ego – nicht absolut und haben die Welt nicht ursprünglich erschaffen. Sie ist ihrem Wirken als gegeben vorausgesetzt. Das Verhältnis der Menschen zur Natur ist eines der wissenschaftlichen und technisch-praktischen Aneignung. Wenn also das Selbstbewußtsein die metaphysische Funktion Gottes als Einheit stiftendes Prinzip ersetzen soll, dann muß gezeigt werden, wie die Natur durch das menschliche Wirken reproduziert wird, und wie in der reproduzierten, zweiten Natur Existenz- und Bestimmungsgrund zwar hinsichtlich ihrer Bestimmung, nicht aber ihrer Existenz unterschieden sind. Ein solches Selbstbewußtsein wäre historisch geworden und bliebe doch in allem nur bei sich selbst. Grund und Begründetes stehen per Definition zueinander in einem notwendigen Verhältnis. Soll also der jenseitige Grund die Erscheinung notwendig begründen, kann er 37

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 90. Es handelt sich um eine der wenigen Stellen im späteren Werk Hegels, wo Irrationalität, Einbildungskraft, Vorstellung überhaupt erwähnt werden. Vgl. Michael Städtler. „Von der Geistlosigkeit des Rechtszustandes. Hegels Vermittlung transzendenter und säkularer Momente der Rechtsbegründung“. Vortrag gehalten auf dem Intern. Hegelkongreß, Leuven, 13.09 2008. Dirk Meyfeld, „‚Dieses Volk ist in der Weltgeschichte für diese Epoche das Herrschende‘ – Zur Problematischen Kategorie des Volksgeistes in der Rechtslehre.“ In Hegel-Jahrbuch 2009 – Hegels Politische Philosophie. Zweiter Teil, hrsg. v. Andreas Arndt u. a., 21-27. Berlin, 2009.

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keine mythologische Projektion sein, weil er dann mit dem bislang entwickelten nur in einem zufälligen Zusammenhang stünde. Die notwendige Begründung kann nur das Resultat der Vermittlung der vorangegangenen Begriffe sein: Das Jenseits ist durch die Negation der Erscheinung erschlossen worden, also nicht leer, sondern übersinnlich. Das Übersinnliche ist das Sinnliche, wie es in Wahrheit ist: Begriff des Sinnlichen. Im Übersinnlichen sind aber noch keine bestimmten Unterschiede entwickelt worden. D. h. zum einen, daß das Verhältnis des Sollizitierens und das des Inhalts jedes für sich die absolute Verkehrung und Verwechslung der jeweiligen Relata ist: Das Sollizitierende wird Sollizitiertes, das Sollizitierte wird Sollizitierendes, das allgemeine Medium ist negative Einheit sowie umgekehrt, weil sie ohne Unterschied nicht gegeneinander abzugrenzen, sondern dasselbe sind. Zum anderen gehen Form und Inhalt, Sollizitierendes und Sollizitiertes im Übersinnlichen zusammen und es bleibt daher nur der einfache Unterschied zwischen dem Innern der Dinge und dem Verstand bzw. zwischen Begriff und Gegenstand überhaupt. Dieser einfache Unterschied ist das Gesetz der Kraft. Kraft und Kategorie: Kausalität und Wechselwirkung als Relation empirischer Naturgesetze38 Hegel betrachtet es als erwiesen, daß der Verstand das Objekt nun als Erscheinung begreift, in der die Differenz von Realität und Begriff der Realität aufgehoben worden ist. Auf dieser Stufe der Argumentation stellt sich für den Verstand das Problem des Verhältnisses des Begriffs der Realität, der sie unabhängig von der konkreten Ausprägung und Erscheinung überhaupt als gesetzmäßige faßt, zu deren empirischen Korrelaten, den Naturgesetzen. Das Gesetz der Kraft ist das einfache Abbild der wahrgenommenen Welt, dieser einerseits jenseitig, andererseits aber ebenso ihr Begriff und damit in ihr gegenwärtig. Umgekehrt geht aber die wahrgenommene Welt nicht vollständig im Gesetz auf. Die wirklichen Gesetze haben nicht nur eine Gestalt, sondern erscheinen in vielen verschiedenen Weisen. Diese Vielheit der wirklichen Gesetze widerspricht erneut dem Prinzip der Einheit des Verstandes, der sie daher auf einen identischen Grund zurückzuführen versucht. Nach Hegel beschreiben die empirischen Gesetze die Wirklichkeit als gesetzmäßige, also das Prinzip der Bewegung der Planeten oder das Verhältnis von positiver und negativer Elektrizität usw. Die Begründung dieser gesetzmäßigen Wirklichkeit führt dazu, daß bestimmte Phänomene denselben naturwissenschaftlichen Gründen zugeordnet werden können. So stehen z. B. die Gesetze, wonach ein Stein auf der Erde nach unten fällt, und die Planeten sich ellipsenförmig um die Sonne bewegen, als empirische Gesetze unvermittelt nebeneinander. Erst mit dem Begriff der Gravitation ist ein gemeinsamer Grund für beide Gesetze gefunden. Daß sich die naturwissenschaftlichen Phänomene nach Gründen zusammenfassen lassen, bezeichnet Hegel als Prozeß der Attraktion, die solange fortgesetzt wird, bis am Ende ein identischer Grund gefunden ist, der Begriff des Gesetzes selbst. 38

Kant. Kritik der Urteilskraft, XXXIII.

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„Die Vereinigung aller Gesetze in der a l l g e m e i n e n At t r a c t i o n drückt keinen Inhalt weiter aus, als eben den b l o ß e n B e g r i f f d e s G e s e t z e s s e l b s t , der darin als seyend gesetzt ist. Die allgemeine Attraction sagt nur diß, daß Al l e s e i n e n b e s t ä n d i g e n U n t e r s c h i e d zu Anderem hat.“39

Der Auffassung Hegels gemäß werden in der allgemeinen Attraktion die bestimmten Sachverhalte sukzessive in einem Begriff zusammengezogen, so daß der Begriff des Gesetzes oder die einfache Kraft über die wirklichen Gesetze hinausgeht: Er ist nicht Gravitation, Elektrizität usw., sondern der einfache Prozeß des Setzens des Unterschiedes und der damit verbundenen inneren Notwendigkeit, diesen Unterschied auch wieder aufzuheben. Hegel will durch die Attraktion den Begriff des einfachen Gesetzes oder des Gesetzes überhaupt begründen, indem die Gesetze ihre Bestimmtheit und ihren Wahrnehmungsgehalt verloren haben. Hegel arbeitet hier mit einer Äquivokation im Kraftbegriff, der einerseits den Kraftbegriff der Physik seiner Gegenwart unterstellt – genannt werden Gravitation, Elektrizität, Magnetismus. Zugleich dienen die physikalischen Kräfte nur als Beispiel für naturwissenschaftlich begründete Begriffe überhaupt, für die Kraft des Verstandes als das Prinzip naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Die Vermischung von Modell und Prinzip bewirkt einerseits, daß Hegel das Modell analog dem Denken als dialektischen Abstraktionsprozeß beschreiben kann. Andererseits braucht das Prinzip ein Modell, wenn es nicht gegenstandslos sein soll. Anders als von Hegel argumentiert folgt aber in der Physik aus dem Gesetz der Gravitation nicht die Bestimmungslosigkeit dieses Gesetzes. Gravitation ist kein einfaches Gesetz. Dieser Begriff bleibt empirisches Naturgesetz insofern er auf bestimmte Fälle von Schwerkraft anzuwenden ist. Aber während die Bewegungsgesetze der Schwerkraft vor dem Beweis des Gravitationsbegriffes nur beschreibbar, nur von komparativer Allgemeinheit waren, gelten sie mit dem Gesetz der Gravitation notwendig und allgemein. Der Begriff der Gravitation ist nicht rein intellektuell. Zwar ist das Gesetz der Gravitation nicht anzuschauen, aber es bestimmt Anschauung. Außerdem ist zu fragen, wie das Gesetz auf einen bestimmten Sachverhalt bezogen wird, und ob diese Beziehung wirklich durch Attraktion erklärbar ist. Die einfache Kraft oder der Grund der wirklichen Gesetze ist nicht per se auf einen bestimmten Sachverhalt bezogen, sowenig wie umgekehrt die bestimmten Sachverhalte mit ihrem Grund identisch sind. Die Vielheit der wirklichen Gesetze muß deshalb dem Grund erst subsumiert werden, bzw. muß der Grund der wirklichen Gesetze erst gefunden werden. Die Relation zwischen der einfachen Kraft und dem wirklichen Gesetz wird durch einen Versuchsaufbau konstruiert und ist damit nicht Gegenstand einer unmittelbar gegebenen Erfahrung, sondern Artefakt. Z. B. fallen Feder und Bleikugel mit derselben Masse nur in einem luftleeren Raum gleich schnell, weil der Luftwiderstand als weiterer Kraftfaktor ausgeschlossen ist. Dann ist aber die naturwissenschaftliche Theoriebildung auch kein Abstraktions- sondern ein Arbeitsprozeß. Das Gesetz und die dem Gesetz korrespondierenden Sachverhalte stehen sich also als äußerliche gegenüber: 39

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 92.

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Selbstbestimmung und Herrschaft in der Phänomenologie „Das Gesetz ist dadurch auf eine gedoppelte Weise vorhanden, das einemal als Gesetz, an dem die Unterschiede als selbstständige Momente ausgedrückt sind; das anderemal in der Form des e i n fa c h e n in sich zurückgegangenseyns, welche wieder K r a ft genannt werden kann, aber so daß sie nicht die zurückgedrängte, sondern die Kraft überhaupt oder als der Begriff der Krafft ist, eine Abstraction, welche die Unterschiede dessen, was attrahirt und attrahirt wird, selbst in sich zieht.“40

Die Vereinigung der Bewegungsgesetze der Wirklichkeit mit den ihnen zugeordneten Gründen in demselben Prinzip kann nur dann funktionieren, wenn sie auf denselben Ursprung zurückzuführen sind. Aber die beiden Seiten des Gesetzes, Begriff und Sein, bleiben sich äußerlich: Die einfache Kraft ist der Grund eines empirischen Gesetzes, z. B. ist die Gravitation der Grund für die Fallbewegung. Im Begriff der Gravitation gehen zwei spekulative Funktionen zusammen, die Begründung der Existenz der Bewegung und die begriffliche Bestimmung des physikalischen Phänomens in der Formulierung des entsprechenden Gesetzes. Einerseits ist die begriffliche Bestimmung der Gravitation im Unterschied zur Fallbewegung kein Gegenstand der sinnlichen Erfahrung. Sie ist auf eine Spekulation zurückzuführen, die der Kraft des Verstandes geschuldet ist. Als Kräfte haben der Verstand und das Gesetz denselben Ursprung, das reflektierende Subjekt. Wenn aber andererseits die Gravitation keine Projektion auf die Natur sein soll, sondern der objektive Grund gewisser Erscheinungen, dann muß die Existenz der Gravitation auch von ihrer Bestimmung als spekulativer Begriff oder Gesetz unterschieden sein, denn die der Naturwissenschaft korrespondierende Wirklichkeit hat ihren Ursprung nicht im Subjekt oder der Kraft des Verstandes: Ein Indiz dafür ist, daß die Gesetze des Verstandes notwendig allgemein gelten, während die Existenz der Erscheinungen zufällig ist. Als Ausdruck der Objektivität bestimmter naturwissenschaftlicher Begriffe wird sie also entweder vorgefunden „oder ihre Existenz ist durch andere Kräffte, d. h. ihre Nothwendigkeit ist eine äußere.“41 Die Äußerlichkeit zwischen Begriff und Sein erscheint dreifach: Es gibt keine Notwendigkeit der Existenz des Naturgesetzes, es gibt keine Notwendigkeit der Existenz der Erscheinungen und es gibt keine Notwendigkeit des bestimmten Unterschiedes zwischen Gesetz und Erscheinung. Hegel hatte zwar gezeigt, daß die Relation von Sein und Begriff nur als Moment des Begriffs denkbar ist. Innerhalb des Begriffs fungiert das Sein als Inhalt des Begriffs, der außerhalb des Begriffs nicht beschreibbar und deshalb so gut wie nichts ist. Aber Hegel dokumentiert selbst, daß die Gegenständlichkeit nicht in ihrer Funktion aufgeht: Wäre sie einzig durch die Negation des Begriffs bestimmt, also als Nicht-Begriff, wie Hegel es intendiert, dann wäre Seiendes nur relational, aber nicht intentional vom Begriff unterschieden. Ohne spezifische Differenz, also eine, die ontologisch begründet ist, bleibt das Problem, daß die Objektivität unbestimmt ist. Etwas, das ist, ohne bestimmt zu sein, ist ein Widerspruch. Dieser Widerspruch ist innerhalb des Begriffs nicht zu lösen; vielmehr kann das objektive Korrelat des Begriffes nur negativ erfaßt werden – nämlich als eben dieser Widerspruch. Wenn darüber hinaus dennoch von Gegenständen die Rede 40 41

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 93. Ebd.

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sein soll, die aber aus dem Begriff nicht ableitbar sind, dann bleibt nur, diese zu zitieren. Deshalb zeugt die Illustration des Arguments durch Beispiele aus der Physik auch davon, daß die Objektivität im Begriff nicht vollständig aufgeht: „So ist, zum Beyspiel, die e i n fa c h e Electricität, d i e K r a ft ; der Ausdruck des Unterschieds aber fällt in d a s G e s e t z ; dieser Unterschied ist positive und negative Electricität. Bey der Bewegung des Falles ist die K r a ft das einfache, die S c h we r e , welche das G e s e t z hat, daß die Größen der unterschiedenen Momente der Bewegung, der verflossenen Z e i t , und des durchlauffenden R a u ms , sich wie Wurzel und Quadrat zu einander verhalten. Die Electricität selbst ist nicht der Unterschied an sich oder in ihrem Wesen das Doppelwesen von positiver und negativer Electricität; daher man zu sagen pflegt, sie h ab e das Gesetz, auf diese Weise z u s e yn , auch wohl, s i e h a b e d i e Ei g e n s c h a f ft , so sich zu äußern.“42

Kraft als System: Natur, Freiheit, Heautonomie und Cultur43 Die Äußerlichkeit zwischen Begriff und Sein widerspricht dem Prinzip der Einheit des Verstandes und muß deshalb erklärt werden. Indem aber der Verstand erklärend nachvollzieht, daß beide notwendig aufeinander verwiesen sind, verschwindet ihre Differenz und er erkennt sie als sich adäquat. Die erklärende Bewegung vermittelt also die Differenz. Der Verstand ist das Subjekt dieser Erklärung, während das Seiende gegen die Erklärung gleichgültig bleibt, zumal weder die Differenz noch die Vermittlung Attribute des Seins sind, sondern durch den Verstand festgestellte Relationen. Gegenstand der Erklärung ist also zunächst der Verstand selbst. „Diese Nothwendigkeit, die nur im Worte liegt, ist hiemit die Hererzählung der Momente, die den Kreis derselben ausmachen; sie werden zwar unterschieden, ihr Unterschied aber zugleich, kein Unterschied der Sache selbst zu seyn, ausgedrückt, und daher selbst sogleich wieder aufgehoben; diese Bewegung heißt E r k l ä r e n .“44

Indem sich der Verstand in der Bewegung des Erklärens auf die von ihm begründeten Begriffe bezieht, konstituiert er sich als Reflexion. Diese Reflexion ist nicht unabhängig von den reflektierten Begriffen zu denken, sondern vielmehr als deren Wesen. Die reflektierten Begriffe werden also in der Reflexion zugleich negiert und aufbewahrt. Damit ist – im Unterschied zum Verstand bei Kant – die Reflexion nicht die gegenstandslose Form eines Vermögens, sondern ein Vermögen, das sich in der Auseinandersetzung mit bestimmten Inhalten herausgebildet hat. So wird die Vermittlung durch die Erkenntnis des Hiatus von Gesetz und Sein veranlaßt, die nicht reflexiv, sondern irreflexiv ist. 42 43 44

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 93. Vgl. Kant. Kritik der Urteilskraft, XXXVII u. 391. Hegel. Phänomenologie des Geistes, 94 f. Hegel beabsichtigt mit dem Prozeß des Erklärens diejenige Bewegung aufzuzeigen, wodurch die Diversität der Wirklichkeit und der sie bestimmenden Gesetze in der Einheit des Begriffs aufgehoben wird. Aber diese Bewegung kann nicht nur tautologisch sein, sondern muß auch etwas an der Wirklichkeit erklären, sonst wäre sie eine Erklärung von nichts. Irreführend ist daher das Beispiel Gadamers: „die Tautologie des Erklärens läßt sich etwa am Beispiel der Lautgesetze demonstrieren. Man spricht da von den Gesetzen der Lautverschiebung, die den Lautwandel einer Sprache ‚erklären‘. Aber die Gesetze sind natürlich nichts anderes als das, was sie erklären. Sie haben nicht eine Spur von anderem Anspruch.“ Hans-Georg Gadamer. „Die verkehrte Welt.“ 83.

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Selbstbestimmung und Herrschaft in der Phänomenologie

Durch die erklärende Vermittlung werden der Hiatus und die irreflexive Relation getilgt, so daß das Wesen der reflektierten Begriffe, Verstandesbegriffe zu sein, hervortritt. Der Prozeß der Vermittlung ist also reflexiv, insofern Kraft und Gesetz hier erkenntnistheoretische und keine naturwissenschaftlichen Begriffe sind. Die Entwicklung des Untersuchungsgegenstandes, also des Begriffs und der Erfahrung des Verstandes mit dem Begriff, sei damit soweit gediehen, daß der absolute (Gegenstands-)Wechsel vollzogen worden sei, indem der Verstand die Natur nicht mehr als Fremdes betrachtet, sondern als sein eigenes Produkt. Diese reflexive Bewegung ist aber abstrakt, weil die Erklärung der Sache selbst ihr noch äußerlich ist. „Mit dem Erklären also ist der Wandel und Wechsel, der vorhin außer dem Innern nur an der Erscheinung war, in das Uebersinnliche selbst eingedrungen; unser Bewußtseyn ist aber aus dem Innern als Gegenstande auf die andere Seite in den Verstand herübergegangen, und hat in ihm den Wechsel.“45

Um zu zeigen, wie die Bewegung des Erklärens die Sache selbst erfaßt, greift Hegel auf ein bereits für den Verstand vorhandenes Resultat zurück: Das Ding ist keine unmittelbare Realität, sondern wurde im Resultat der Vermittlung des Spiels der Kräfte Begriff: „Die Realisirung der Krafft [hier in der Bedeutung der Erscheinung, M. B.] ist also zugleich Verlust der Realität; sie ist darin vielmehr ein ganz Anderes geworden […]“46 Die Einzelwissenschaft erklärt keine Sinneseindrücke, sondern kritisiert und konstruiert Begriffe, die die Objektivität notwendig und allgemeingültig beschreiben sollen. Den absoluten Wechsel hat deshalb nicht nur die Reflexion, sondern auch dessen Gegenstand an sich. Der Wechsel ist vielmehr das gemeinsame Dritte von Reflexion und Sein, denn einerseits bestimmt sich die Reflexion nur über die Negation des Seins, andererseits hatte sich umgekehrt am Sein gezeigt, daß seine Wahrheit nur begrifflich gefaßt werden kann und damit das an ihm negiert wird, was es eigentlich sein soll – seine Unmittelbarkeit. Reflexion und Sein sind aber nicht nur in einem gemeinsamen Dritten affin, sondern darüber hinaus wechselseitig aufeinander verwiesen, weil beide ihren Unterschied und damit ihre Bestimmung nur in Abgrenzung gegen das jeweils andere Moment haben. Schließlich ist diese Relation asymmetrisch, denn das Wechselverhältnis von Verstand und Erscheinung fällt nicht in das Sein sondern in den Verstand. Für den Verstand ist die Erscheinung das Moment des Negierten, während umgekehrt für die Erscheinung der Verstand das Wesen ist. Beide Relata sind dadurch demselben Grund, der Reflexion, oder in der Terminologie Hegels: der Kraft zugeordnet worden, so daß mit der Erklärung nicht nur der Verstand, sondern auch die Sache selbst erklärt wird. „Dieser Wechsel ist so noch nicht ein Wechsel der Sache selbst, sondern stellt sich vielmehr eben dadurch als reiner Wechsel dar, daß der Inhalt der Momente des Wechsels derselbe bleibt. Indem aber der Begriff als Begriff des Verstandes dasselbe ist, was das I n n r e der Dinge, s o wi r d d i e s e r W e c h s e l a l s G e s e t z d e s I n n e r n für ihn. Er e r f ä h r t also, daß es G e s e t z d e r E r s c h e i n u n g s e l b s t ist, daß Unterschiede werden, die keine Unterschiede sind; oder daß das Gl e i c h n a m i g e sich von sich selbst a b s t ö ß t ; und eben so daß die Unterschiede nur 45 46

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 95. Ebd., 87. Vgl. S. 133 dieser Arbeit.

Der Begriff des Selbstbewußtseins

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solche sind, die in Wahrheit keine sind, und sich aufheben; oder daß das U n g l e i c h n a m i g e sich a n z i e h t . – Ein z w e yt e s Ge s e t z , dessen Inhalt demjenigen, was vorher Gesetz genannt wurde, nemlich dem beständigen sich gleichbleibenden Unterschiede entgegengesetzt ist; denn diß neue drückt vielmehr das U n g l e i c h w e r d e n d e s Gl e i c h e n , das G l e i c h w e r d e n d e s U n g l e i c h e n aus. Der Begriff muthet der Gedankenlosigkeit zu, beyde Gesetze zusammenzubringen, und ihrer Entgegensetzung bewußt zu werden.“47

Das Verhältnis von Begriff, Sein und Verstand wird als das Verhältnis des ersten und des zweiten Gesetzes gefaßt: Das erste Gesetz war das der irreflexiven Beziehung des Verstandes auf die wahrgenommene Natur als einfacher Unterschied, erste Negation oder das ruhige Reich der Gesetze, in dem das Wesen des Wahrgenommenen als Begriff aufgehoben wurde. Dieses erste Gesetz beschrieb die Wirklichkeit, die ihm aber zugleich auch äußerlich blieb. Das zweite Gesetz ist das der Negation des ersten Gesetzes. Diese zweite Negation bedeutet nicht, daß das erste Gesetz nichtig würde, denn dann wäre das zweite Gesetz ein Gesetz von Nichts. Es bedeutet nur, daß das erste Gesetz in seiner Selbständigkeit negiert und damit als Bestimmungsmoment des zweiten Gesetzes in diesem aufgehoben wird. Oder: die irreflexive Beziehung des Verstandes auf das Sein bleibt als der Inhalt des zweiten Gesetzes erhalten, aber so, daß die Unterschiede dem zweiten Gesetz nicht mehr äußerlich werden, sondern an ihm sind und deshalb Unterschiede sind, die in der Tat keine sind. Dieses zweite Gesetz, wonach das Ungleiche gleich und das Gleiche ungleich wird, beinhalte für alle in Kraft und Verstand durchgeführten Begriffe – Erscheinung, Gesetz, Begriff des Gesetzes und Unterschied – den Nachweis, daß sie ihren Grund und Ursprung in der Kraft des Verstandes haben und deshalb Gleichnamige sind. „So hat die übersinnliche Welt, welche die verkehrte ist, über die andere zugleich übergriffen, und sie an sich selbst; sie ist für sich die verkehrte, d. h. die verkehrte ihrer selbst; sie ist sie selbst, und ihre entgegengesetzte in einer Einheit. Nur so ist sie der U n t e r s c h i e d als i n n e r e r , oder Unterschied a n s i c h s e l b s t , oder ist als U n e n d l i ch ke i t .“48

Der Begriff der Unendlichkeit oder des Gleichnamigen stellt die Einheit aller Begriffe als Begriffe dar, weil er aus der wissenschaftlichen Erklärung und der systematischen Subsumtion der sinnlichen Erfahrung unter das Gesetz der übersinnlichen resultiert.49 Der Sache nach steht hinter dieser Erklärung der historisch-kritische und technisch-kulturelle Prozeß der Erkenntnis und praktischen Aneignung der Natur. Die Dialektik der naturwissenschaftlichen Aufklärung war – anders als in der Reflexion der Phänomenologie des Geistes – kein rein systematischer Weg, sondern durch die technische Umsetzung der theoretischen Resultate und die Akkumulation von Wissen und Technik bedingt. Zudem war der geschichtliche Prozeß nicht nur progressiv, sondern auch mit Irrwegen und Rückschritten verbunden, was bei einem Prozeß, der durch Menschen vorangetrieben wird und sich in einem Material realisiert, dessen zentrifugale Tendenzen dem Systemgedanken Hindernisse in den Weg stellen, auch nicht anders sein kann. Da Hegel aber sowohl den Begriff der Erklä47 48 49

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 96. Ebd., 99. Vgl. den Hinweis Hans-Georg Gadamers: „Das Gleichnamige ist – scholastisch gesehen – die Gattung.“ Hans-Georg Gadamer „Die verkehrte Welt.“ 85.

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Selbstbestimmung und Herrschaft in der Phänomenologie

rung, als auch den des Objektes systematisch einholt, ist die von ihm bezeichnete Unendlichkeit und der diesen Begriff begründende Reflexionsprozeß der Phänomenologie von der historisch-kritischen Entwicklung in den Einzelwissenschaften ebenso abgeschnitten. Das ist die Bedingung der Möglichkeit eines autonomen Systems, d. h. eines Systems, das sich aus sich selbst reproduziert und absolut ist. Deshalb können Objekt und Erfahrung nur Gegenstand möglicher Erfahrung sein, wenn sie innerhalb der Phänomenologie durch das reflektierende Vermögen (re-)produziert und damit gleichermaßen axiomatisiert werden: So wurde schon der Begriff des unbedingt Allgemeinen, von dem die Entwicklung in Kraft und Verstand ausging, der Sache nach als historisches Resultat gesetzt, um rekursiv auf die systematischen Bedingungen seiner Erkennbarkeit zu schließen. Die Darstellung suggerierte dagegen, daß es nicht Resultat einer historischen Genese, sondern das Resultat des metaphysischen Problems der Vermittlung der sinnlichen Gewißheit und der Wahrnehmung des Dings ist. Das ist einerseits nicht anders zu lösen, weil die historisch erste Erkenntnis kein Gegenstand des kollektiven Gedächtnisses ist. Andererseits tritt der historisch-kritische Erkenntnisprozeß bei Hegel mit dem Begriff des Erklärens in Erscheinung, um aber auch dort sogleich systematisch integriert zu werden. Der historisch-kritische Prozeß wie seine Resultate erscheinen dadurch ausschließlich als systematische Begriffe und die chronologische Reihenfolge wird in Kraft und Verstand verkehrt.50 Damit wird in der Unendlichkeit der Widerspruch, daß die übersinnliche Welt in ihrem sinnlichen Korrelat bei sich selbst bleibt, eklatant. Entweder wird der Begriff der Unendlichkeit tatsächlich rein aus dem Begriff abgeleitet. Dann ergibt sich daraus das Problem, daß er von der historischen Erfahrung abgeschnitten ist und damit vom Gegenstand seiner Begriffe. Oder aber die historisch-kritische Erfahrung geht doch in den Begriff dieser Unendlichkeit ein, dann bleibt notwendig ein unreflektierter Rest, den das System sich nicht einverleiben kann. Hegel braucht beide Momente, so daß der uneingeholte Rest sich schließlich doch in der Art und Weise Geltung verschafft, wie Hegel das Unendliche mit Inhalt füllt: Was zunächst nur als Beispiel des Gesetzesbegriffs eingeführt worden war – die Gegenstände der Mechanik, Elektrizität, des Magnetismus (vgl. S. 137 dieses Kapitels) – kehrt hier als die substantielle Bestimmung des Unendlichen wieder. Das Unendliche kann nicht nur die Einheit aller Begriffe überhaupt sein, deren Bedeutung anhand von Beispielen illustriert wird, die außerhalb dieser Einheit in den Naturwissenschaften angesiedelt sind, denn dann bliebe es leer. Vielmehr beinhaltet es diese substantiell bestimmten, naturwissenschaftlichen Begriffe. Letztere sind damit aber zugleich und in derselben Hinsicht Momente des metaphysischen Systems und verlieren ihre Eigenständigkeit. Sie erscheinen deshalb in verkehrter Weise, nicht als vom metaphysischen System unterschiedene Naturgesetze, sondern als philosophische Begriffe, die deshalb auch nicht naturwissenschaftlich bestimmt sind, sondern formal dialektisch durch die bestimmte Negation ihres Gegenbegriffs: 50

Entsprechend verdeutlicht Hans-Georg Bensch die historisch-kritische Implikation des Gleichnamigen durch einen philosophiegeschichtlichen Exkurs. Vgl. Hans Bensch. Perspektiven des Bewußtseins, 155–173.

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„Nach dem Gesetze dieser verkehrten Welt ist also das Gleichnamige der ersten das ungleiche seiner selbst, und das Ungleiche derselben ist eben so ihm selbst ungleich, oder es wird sich gleich. An bestimmten Momenten wird diß sich so ergeben, daß was im Gesetze der ersten süß, in diesem verkehrten Ansich sauer; was in jenem schwartz, in diesem weiß ist. Was im Gesetz der erstern, am Magnete Nordpol, ist in seinem andern übersinnlichen Ansich, (in der Erde nemlich), Südpol; was aber dort Südpol, ist hier Nordpol. Ebenso was im ersten Gesetze der Electricität Sauerstoffpol ist, wird in seinem andern übersinnlichen Wesen Wasserstoffpol; und umgekehrt, was dort der Wasserstoffpol ist, wird hier der Sauerstoffpol.“51

Die Schwierigkeit bei der Lektüre dieser Passage der Phänomenologie ist darauf zurückzuführen, daß Hegel versucht, das Prinzip der Bestimmung philosophischer Begriffe auf die physikalischen Begriffe abzubilden. Die philosophische Beweisführung folgt dem indirekten Beweis durch Negation der Negation, weil der Gegenstand dieser Beweisführung reflexiv ist. Sie beansprucht a priori synthetisch zu sein. In der Naturwissenschaft werden dagegen Begriff und Erfahrung einander notwendig und allgemein zugeordnet, so daß die Beweisführung nicht ausschließlich negativ und a priori sein kann, sondern sich auch auf den Gegenstand beziehen muß. Das würde aber bedeuten, daß sich die Differenz der Gegenstandsbereiche in der Differenz der Urteile über die Gegenstände erhält und das Programm der Begründung ihrer Einheit mißlänge. Das Prinzip der Bestimmung des Gleichnamigen muß also auch das Prinzip der Bestimmung der Erscheinungen sein und tatsächlich hatte Hegel den absoluten Wechsel als das gemeinsame Dritte beider Relata bestimmt (Vgl. das Zitat zur Fußnote 2 auf S. 116). Der absolute Wechsel und die Verkehrung von Begriff und Erscheinung im Denken ist das Prinzip des Erkennens: Was für unmittelbar gewiß gehalten wird, verkehrt sich im Resultat der Erkenntnis in sein Gegenteil; es ist Vermitteltes. Es ist deshalb nur konsequent, daß Nord- und Südpol, süß und sauer, Wasser- und Sauerstoffpol durch Negation bestimmt werden: Sie sind nicht ihr Gegenteil, aber was dieses Gegenteil ist, kann ebensowenig angegeben werden, wie das, was sie an sich selbst sind.52 Die verkehrte Welt wird zum Inbegriff der Realität, der relational und damit zugleich unbestimmt ist. „Es ist der reine Wechsel, oder die E ntgegen setzu ng in sich selbst, der W iderspruc h z u denken .“53 Unbegründet bleibt der Wechsel der Stellung des Systems zu den physikalischen Begriffen. Während sie zunächst als Beispiel zitiert wurden, tauchen sie hier unvermittelt als substantieller Bestandteil des Systems wieder auf. Das Argument des Übergreifens der übersinnlichen Welt auf die sinnliche durch die doppelte Negation erklärt zwar den Prozeß der philosophischen Theoriebildung, nicht aber die historisch-kritische Erfahrung, die diesen Prozeß bedingt. Dieser bleibt der wissenschaftlichen Reflexion von je her auch vorausgesetzt. Deshalb ist der von Hegel in Kraft und Verstand vollzogene Gegenstandswechsel nicht vermittelbar. Er folgt nicht aus der Argumentation. Das Residuum, das Gleichnamige, das zugleich der absolute Widerspruch ist, enthält dagegen keine 51 52

53

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 97. Diese Differenz zwischen der Dialektik Hegels und den Konstitutionsmomenten naturwissenschaftlicher Erfahrung entgeht Gadamer, wenn er formuliert: „Nordpol und Südpol, positive und negative Elektrizität veranschaulichen lediglich die Umkehrbarkeit dieser Verhältnisse, also ihren dialektischen Charakter.“ Hans-Georg Gadamer, „Die verkehrte Welt.“ 88. Hegel. Phänomenologie des Geistes, 98.

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spezifisch unterschiedenen Gegenstandsbereiche mehr, weil der Verstand sich und seinen Gegenstand als Wissen systematisch reproduziert hat. Diese von Hegel konstruierte Einheit von verstandes- und naturwissenschaftlichen Bestimmungen im System des Wissens hat keinen Gegenstand in der historischen Erfahrung. Zwar ist der Begriff der Einheit des Wissens und mit ihm die des Gegenstandsbereichs notwendig zu denken als movens historisch-kritischer Erfahrung, denn nur gemessen am Kriterium der Widerspruchsfreiheit lassen sich Widersprüche kritisieren. Andererseits bleibt diese Vorstellung eines in sich geschlossenen Systems aber auch gegenstandslos: Naturwissenschaftliche Systeme sind prinzipiell unabschließbar, nur auf ihren Gegenstandsbereich bezogen gültig, von anderen Gegenstandsbereichen aber spezifisch unterschieden und sie sind auch nicht der absolute Widerspruch, sondern systematisch geordnet. Das nachzuweisen wird Gegenstand des Exkurses zur naturwissenschaftlichen Theoriebildung sein.54

d) Selbstbewußtsein Die Natur ist der Gegenstand, der von je her als Voraussetzung des menschlichen Denkens und Handelns erscheint, während andere, geisteswissenschaftliche Gegenstände wie Kunst, Gesellschaft, Religion Produktionen der sich ihrer selbst vergewissernden Menschen sind. Indem Hegel den Begriff des Wissens am Naturbegriff entwickelt, wählt er das zeitlich wie logisch erste Objekt der Prädikation und zugleich dasjenige, welches in seiner Substanz am beständigsten ist. Er beansprucht in Kraft und Verstand gezeigt zu haben, wie sich die Kategorien des Denkens im Wissen von der Natur als System von notwendig allgemeinen Urteilen verwirklicht. Das Wissen ist so in einem anderen bei sich selbst, ohne daß nach Hegel im Resultat der Entwicklung die Differenz zum anderen noch benannt werden könne, denn in der Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften akkumuliere das Wissen deren Resultate und gehe mit dem systematisch organisierten Gegenstand zusammen. Mit diesem Argument hatte Hegel es als das Resultat der Vermittlung erkenntnistheoretischer und naturwissenschaftlicher Bestimmungen präsentiert, als die absolute Totalität der Sichselbstgleichheit im Unterschiedenen, der zumindest dem Prinzip nach alle Gestalten des erscheinenden Geistes ungeachtet ihrer substantiellen Bestimmtheit als Momente angehören. Das Wissen vom Wissen ist so das allen Gestalten der Phänomenologie zugrundeliegende, logisch-ontologische Prinzip. „Nennen wir Begriff, die Bewegung des Wissens, den Gegenstand aber, das Wissen als ruhige Einheit, oder als Ich, so sehen wir, daß nicht nur für uns, sondern für das Wissen selbst, der Gegenstand dem Begriffe entspricht. – Oder auf die andere Weise, den Begriff das genannt, was der Gegenstand 54

S. 149 ff. dieser Arbeit. Obgleich der Nachweis Hegels, daß die Bestimmung der Kategorien, „wie das abendländische Denken sie entwickelt hat, nur dann in ihrer Wahrheit gebraucht [werden, M. B.], wenn sie als ‚Kategorie‘ des Selbstbewußtseins genommen werden“ wie Pöggeler unterstreicht, „ein unüberbietbares Meisterstück“ darstellt (Otto Pöggeler. Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, 190), bleibt die Identifikation der Kategorien mit dem Selbstbewußtseins ein zu kritisierender topos.

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ansich ist, den Gegenstand aber das, was er als Gegenstand, oder für ein anderes ist, so erhellt, daß das Ansichseyn, und das für ein anderes seyn dasselbe ist; denn das Ansich ist das Bewußtseyn; es ist aber ebenso dasjenige, für welches ein anderes (das Ansich) ist; und es ist für es, daß das Ansich des Gegenstandes, und das Seyn desselben für ein anderes dasselbe ist; Ich ist der Inhalt der Beziehung, und das Beziehen selbst; es ist es selbst gegen ein anderes, und greifft zugleich über diß andre über, das für es ebenso nur es selbst ist.“55

Entscheidend für die Argumentation in den ersten drei Kapiteln der Phänomenologie ist die Differenz der Vermögen, aus deren Perspektive die jeweils verhandelten Gestalten des Geistes betrachtet werden: für uns und für es. Der Unterschied zwischen beiden ist der Unterschied zwischen dem naiven und dem erfahrenen Vermögen der Reflexion. Die Differenz beider widersprach der Einheit des Wissens und war daher zunächst als Sinnliche Gewißheit zu vermitteln. Diese beiden Perspektiven sind im Begriff des Unterschiedes, der keiner ist,56 ebenso zusammengegangen wie das Wissen mit seinem Gegenstand und die logische Voraussetzung des Denkens mit dessen vermittelten Resultat. Damit ist erwiesen, daß das Prinzip des unterschiedslosen Unterschiedes auch unabhängig von der Perspektive des Bewußtseins ein notwendiges Prinzip der Wissenschaften und den damit verbundenen Bedingungen in Raum und Zeit ist. Aber aus dem unterschiedslosen Unterschied folgt weiter nichts und die Phänomenologie wäre an ihr Ende gelangt, bevor das Selbstbewußtsein als Vermögen eines vernunftbegabten Sinnenwesens hätte bestimmt werden können, und bevor es auch nur auf eine seiner ureigensten Gestalten der Gesellschaft oder Geistesgeschichte hätte bezogen werden können. Wenn die Entwicklung weiter gehen soll, dann muß Hegel die Bewegung umkehren und zeigen, wie aus der absoluten Einheit des Wissens die Differenz des „für uns“ und des „für es“ wieder hervorgeht und sich aus dieser Differenz das Selbstbewußtsein entwickelt.57 Das Wissen ist nur dann kein gegenstandsloser Begriff, wenn es auf einen Gegenstand bezogen ist, der nicht es selbst ist. Mit dem System der Naturwissenschaften ist es zusammengegangen, so daß es entweder dasselbe ist, was die Natur ist, oder es ist nur formal als deren Negation bestimmt. Um dieses Problem zu lösen, transformiert Hegel das System der Naturwissenschaften zunächst in den Begriff des Lebens. 55 56 57

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 103 f. Vgl. ebd., 99. Sok-Zin Lim identifiziert in seiner Interpretation dieser Passage den Lebensprozeß mit dem Arbeitsprozeß. „Insofern dem ‚Leben‘ eine der zentralen Stellungen beim Ringen um die philosophische Wahrheit verwiesen sein sollte, müssen wir auch in diesem Zusammenhang den Sinn der ‚Arbeit‘ – als des einig produktiven und vermittelnden Kraftzentrums an der Begierde und Befriedigung oder dem positiv-Negativen und negativ-Positiven – klar hervortreten lassen. Denn wir können schon sagen, daß das Leben, insofern es selbst das Lebendige oder das sich zu sich selbst Entgegensetzende in seiner ruhigen, aber konkreten Einheit ist, in dem absoluten Tätigsein (der Arbeit) den Sinn seines beständig bewegenden und entwicklungsfähigen Seins erhält und erfüllt. Das Leben ist ontologisch gesehen ein sinnbeladenes, kosmologisch durchwaltetes Gebilde ‚eines‘ Lebendigseins. Demgegenüber wäre Arbeit das jeweils sich absolut setzende Moment des sich im Weltganzen durchgreifenden Lebens.“ Sok-Zin Lim. Der Begriff der Arbeit bei Hegel, 42. Lim versteht den Arbeitsbegriff also vor allem im Sinne der Selbstbestimmung des Begriffs. Aber Hegel ist es im Lebensbegriff nicht um ein äußerliches Verhältnis von Selbstbewußtsein und Objektivität zu tun, wie er es auch in der Teleologie bestimmt hatte, sondern um diejenige Einheit von Subjekt und Objekt, in der beide sich gerade nicht mehr äußerlich sind. Eben mit dieser Differenz zwischen Arbeit und Leben arbeitet Hegel sowohl in der Logik als auch in der Phänomenologie.

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Der innere Unterschied ist ein Unterschied, der keiner ist. D. h., daß die (Re-)Produktion des Gegenstandes der Naturwissenschaften im System der Naturwissenschaften durch das Bewußtsein derart gründlich ausfällt, daß dessen Existenz außerhalb des Systems zu einem notwendigen Moment innerhalb des Systems geworden ist. Damit führt jeder Prozeß innerhalb des Systems auf dieses zurück – die Prozesse sind selbstbezüglich geworden. Das objektive Korrelat für die Selbstbezüglichkeit des Prozesses ist der Organismus, der sich das ihm äußere einverleibt, um sich zu reproduzieren. Der Organismus ist selbstbezüglich, aber z. B. als Tier noch nicht notwendig zur Selbsterkenntnis befähigt, während umgekehrt der Begriff des Unterschiedes, der keiner ist, zwar selbstbezüglich ist, aber nicht lebt. Trotz dieser Unterschiede zwischen dem objektiven Korrelat und dem Begriff beabsichtigt Hegel die vollständige Transformation des Systems der Naturwissenschaften in den Begriff des Lebens. Für Hegel ist die Gleichheit des Prinzips naturwissenschaftlicher Erkenntnis mit dem Prinzip des Lebens – die Selbstbezüglichkeit – erwiesen, so daß er von der Analogie der Prinzipien auf die Identität des Prinzips und die Identität der zu transformierenden Gegenstandsbereiche – anorganische Natur und Organismus – schließt. „Diese einfache Unendlichkeit, oder der absolute Begriff ist das einfache Wesen des Lebens, die Seele der Welt, das allgemeine Blut zu nennen, welches allgegenwärtig durch keinen Unterschied getrübt noch unterbrochen wird, das vielmehr selbst alle Unterschiede ist, so wie ihr Aufgehobenseyn, also in sich pulsirt, ohne sich zu bewegen, in sich erzittert, ohne unruhig zu seyn. Sie ist s i c h s e l b s t g l e i c h , denn die Unterschiede sind tautologisch; es sind Unterschiede, die keine sind.“58

In dieser einfachen Unendlichkeit, die das einfache Wesen des Lebens, ausmachen soll, sind die Gestalten der sinnlichen Gewißheit, der Wahrnehmung und des Verstandes ebenso aufgehoben wie die gegen das Bewußtsein selbständigen Naturobjekte. Dennoch soll mit diesem Begriff des Lebens noch kein selbstbewußtes bezeichnet sein. Während es „für uns“ dasselbe ist wie das Wissen, weiß es sich doch nicht selbst. Es wird vielmehr durch ein anderes erkannt – das Bewußtsein. Der Unterschied, der keiner ist, sei das Prinzip eines sich reproduzierenden Organismus, den das Bewußtsein, welches die Erfahrungen bislang gemacht hat, von sich als seinen neuen Gegenstand unterscheidet.

58

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 99. Pöggeler weist auf den christlichen Bedeutungszusammenhang hin, der dem Lebensbegriff unterstellt ist und schon in den Frankfurter Arbeiten auftaucht, allerdings mit einer anderen Bedeutung: „Hegel hat in seinen Frankfurter Arbeiten das Ganze dessen, was ist, was sich differenziert und entzweit und in der Erfahrung der Schönheit und der Liebe zu sich selbst zurückfindet, ‚Leben‘ genannt. Er nahm so ein Wort auf, das ihm von der christlichen Tradition entgegengebracht wurde, das er als ein Grundwort im Johannes-Evangelium finden konnte, das aber auch von einem Freund wie Hölderlin gebraucht wurde. Auf die Seite des Lebens treten, das hieß damals für Hegel zugleich: gegen den ‚Begriff‘ und gegen das ‚Gesetz‘ Stellung nehmen. Freilich, Hegel fordert gerade in jeder Arbeit (der Überarbeitung der Positivitäts-Schrift), in der er besonders schroff das Leben gegen das ‚Laternenlicht‘ des Begriffs ausspielt, auch Untersuchungen, die ‚durch Begriffe gründlich geführt‘ werden. Gegen den Begriff Stellung nehmen, das heißt also für Hegel: eine bestimmte Voraussetzung vom Begriff des Begriffs brechen und so erst die Möglichkeiten begrifflichen Erkennens erklären.“ Otto Pöggeler. Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, 284.

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„In dem entgegengesetzten Gesetze als der Verkehrung des ersten Gesetzes, oder in dem innern Unterschiede wird zwar die Unendlichkeit selbst G e g e n s t a n d des Verstandes, aber er verfehlt sie als solche wieder, indem er den Unterschied an sich, das sich selbst abstoßen des Gleichnamigen, und die Ungleichen, die sich anziehen, wieder an zwey Welten, oder an zwey substantielle Elemente vertheilt; die B e w e g u n g, wie sie in der Erfahrung ist, ist ihm hier ein Geschehen, und das gleichnamige und das ungleiche P r ä d i c a t e , deren Wesen ein seyendes Substrat ist. Dasselbe, was ihm in sinnlicher Hülle Gegenstand ist, ist es uns in seiner wesentlichen Gestalt, als reiner Begriff. Diß Auffassen des Unterschieds, wie er i n Wa h r h e i t i s t , oder das Auffassen der U n e nd l i c h ke i t als solcher, ist fü r u n s , oder a n s i c h .“59

Das Bewußtsein begreift das Prinzip des Lebens nicht als ein durch es gesetztes, sondern als eine Bewegung, die ihm widerfährt und die seiner Erfahrung vorausgesetzt ist. Trotzdem vollzieht sich mit der Transformation des Systems der Naturwissenschaften in das Prinzip des Lebens für das Bewußtsein ein entscheidender Perspektivwechsel. Es betrachtete bislang mit dem System der Naturwissenschaften einen von ihm unterschiedenen Gegenstand: „Diese Bewegung oder Nothwendigkeit ist aber so noch Nothwendigkeit, und Bewegung des Verstandes, oder sie a l s s o l c h e ist n i c h t s e i n Ge g e n s t a n d , sondern er hat in ihr positive und negative Electricität, Entfernung, Geschwindigkeit, Anziehungskrafft, und tausend andere Dinge zu Gegenständen, welche den Inhalt der Momente der Bewegung ausmachen.“60

Indem das Bewußtsein auf des Leben reflektiert, reflektiert es nicht mehr auf etwas anderes, sondern auf seine eigene Existenzgrundlage. Die Erkenntnisrelation wird reflexiv: Das Ich unterscheidet sich von sich, dem Organismus, und reflektiert in dem einen wie dem anderen auf sich. Das Bewußtsein ist Selbstbewußtsein geworden: „Die Unendlichkeit oder diese absolute Unruhe des reinen sich selbst Bewegens, daß, was auf irgend eine Weise, zum Beyspiel als Seyn, bestimmt ist, vielmehr das Gegentheil dieser Bestimmtheit ist, ist zwar schon die Seele alles bisherigen gewesen, aber im I n n e r n erst ist sie selbst frey hervorgetreten. Die Erscheinung oder das Spiel der Kräffte stellt sie selbst schon dar, aber als E r k l ä r e n tritt sie zunächst frey hervor; und indem sie endlich für das Bewußtseyn Gegenstand ist, a l s d a s , w a s s i e i s t , so ist das Bewußtseyn S e l b s t b ewu ß t s e y n .“61

Der Begriff des Selbstbewußtseins ist der Begriff desjenigen Vermögens, das zugleich Subjekt und Objekt der Phänomenologie ist. Das Prinzip des Selbstbewußtseins ist dialektisch und zwar darin, daß es diejenigen Differenzen aus sich setzt, die seine Identität mit sich zerrütten, zunächst die Differenz von Leben, Bewußtsein und Selbstbewußtsein. Mit diesem Widerspruch zwischen Identität und Unterschied ist ein weiteres Mal die Aufgabe der Vermittlung gestellt. „Das Selbstbewußtseyn ist erst für sich geworden, noch nicht als Einheit mit dem Bewußtseyn überhaupt.“62 Das Programm, Leben und Bewußtsein im und durch das Selbstbewußtsein miteinander zu vermitteln, begründet den Fortgang der Entwicklung. Erst im Verlaufe dieser Entwicklung produziert sich das Selbstbewußtsein in gesellschaftlicher und geistesgeschichtlicher Gestalt und verschafft 59 60 61 62

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 101. Ebd. Ebd., 100. Ebd., 102.

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sich dadurch einen Inhalt, der vom Inhalt der Naturwissenschaften unterscheidbar ist. Als dieses sich selbst wissende Subjekt betreibt es die weitere Entwicklung der Phänomenologie, deren Gestalten umgekehrt Ausdruck der Realisierung dieses bislang nur abstrakt entwickelten Vermögens sind. Der Übergang vom absoluten Widerspruch in das Leben und das Selbstbewußtsein enthält die Unterstellung, daß das Wissen die Differenz zwischen Bewußtsein und Leben aus sich heraus setze.63 Die bisherige Entwicklung erscheint dadurch als eine systematische, deren prozessuale Momente wie die Differenz zwischen dem erfahrenen und dem naiven reflektierenden Subjekt, also dem „für uns“ und „für es“, oder dem zwischen dem Organismus und das den Organismus wissenden Bewußtsein nur als Funktionen erscheinen, nicht als ontologische Tatsachen, die gegenüber der systematischen Entwicklung spröde bleiben. Der Begriff des Lebens wird dadurch – wie die anderen Begriffe auch – zu einem teleologisch durchwirkten: Auch das Leben der Phänomenologie ist gnadenlos sinnvoll, indem es noch dessen Negation, den Tod, seiner eigenen Botmäßigkeit unterwirft. Aber im Unterschied zur Logik ist das lebendige Subjekt anders bestimmt, nicht Begriff, kein unbewußtes, logisches, vegetatives oder animalisches, sondern ein Leben, in das die Gestalten der sinnlichen Gewißheit, der Wahrnehmung und des Verstandes bereits eingegangen sind: Es ist selbstbewußtes Leben, in dem damit auch der Individualität eine andere Stellung zugewiesen ist. Sie wird nicht negiert, sondern produziert. Gleichzeitig sind sowohl die Ausrichtung des Lebens auf das realisierte Selbstbewußtsein als telos wie die damit verbundene Form der Zweckmäßigkeit des Lebensprozesses Bedingungen der Möglichkeit der weiteren Argumentation, denn das Selbstbewußtsein soll dieses zweckmäßige Leben als seine materielle Bedingung nicht nur vorfinden, sondern auch in sich aufnehmen. Das Selbstbewußtsein steht in den Extremen, einerseits absoluter Begriff und Gattungsvermögen zu sein, andererseits an ein Individuum gebunden zu sein. Diese Ambivalenz wird von Hegel auf das telos realisierter Vernunft hin vermittelt, so daß er die Individualität dem Gattungsvermögen zugleich unterordnet. Im Resultat soll das Selbstbewußtsein durch die Reflexion auf die eigene Negativität hindurch zu einem positiven, notwendig-allgemeinen Begriff werden.64 Mißlingt dieses Vorhaben, dann ist Selbstbewußtsein nicht einmal dialektisch positiv nicht zu haben.65

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Ähnlich Christian Iber: „Die Frage ist, ob der Übergang von der Entdeckung der Unendlichkeitsstruktur des Lebens zum Selbstbewußtsein mehr als ein Analogieschluß ist.“ Christian Iber. „Selbstbewußtsein und Anerkennung in Hegels Phänomenologie des Geistes.“ In Hegels „Phänomenologie des Geistes“ heute, hrsg. v. Andreas Arndt und Ernst Müller. Berlin, 2004, 100. Vgl. Hegel: „Das Positive in s e i n e m Negativen, den Inhalt der Voraussetzung im Resultat festzuhalten, diß ist das Wichtigste im vernünftigen Erkennen; es gehört zugleich nur die einfachste Reflexion dazu, um sich von der absoluten Wahrheit und Nothwendigkeit dieses Erfordernisses zu überzeugen, und was die B e y s p i e l e von Beweisen hiezu betrifft, so besteht die ganze Logik darin.“ Hegel. Lehre vom Begriff, 245. Zur Kritik des Übergangs von unorganischer zu organischer Natur vergleiche auch Kapitel 2.5

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Exkurs: Naturwissenschaftliche Theoriebildung Das Selbstbewußtsein geht aus Kraft und Verstand als die negative Einheit des Systems der Naturwissenschaften mit dem Bewußtsein im Begriff des Lebens hervor. Hegel unterstellt darin eine Vorstellung von Geschichte, in deren Resultat die Zwecke naturwissenschaftlicher und metaphysischer Wissenschaft teleologisch in Übereinstimmung gebracht wurden, so daß auf der Grundlage dieser grundsätzlichen Übereinstimmung gezeigt werden kann, wie die einzelwissenschaftlichen Resultate systematisch aufeinander bezogen sind. Diese Darstellung stimmt mit den historischen Fakten nicht überein, denn der Prozeß naturwissenschaftlicher Theoriebildung ging gerade nicht mit der Konstitution der Einheit des Selbstbewußtseins und den Gegenstandsbereichen einher. Die phänomenologische Einheit des Wissens ist von der Einheit des Gegenstandsbereichs der Naturwissenschaften spezifisch zu unterschieden. Nichteinmal die Zwecke naturwissenschaftlicher und philosophischer Erkenntnis stimmen überein. Naturwissenschaftliche Forschung ist Arbeit, die eine Wirk-, Stoff- und Formursache voraussetzt. D. h., daß der Naturwissenschaftler eine bestimmte Beobachtung gemacht hat, sei diese nun unmittelbar möglich wie z. B. die Beobachtung der Sterne, oder selbst schon Resultat eines konstruierten Zusammenhanges, wie die Beobachtung der Fallbewegung in einem luftleeren Raum. Aus der Synthese des durch Beobachtung gewonnenen Datenmaterials und hypothetischen Überlegungen wird eine Hypothese gebildet, die eine Begründung für die Beobachtungen liefern könnte. Diese Hypothese wird in einem besonderen Experiment überprüft, wobei das Experiment unter Maßgabe der Hypothese konstruiert ist, so daß bestimmte Randbedingungen ausgeschlossen werden können. Damit wird im Experiment ein Ablauf konstruiert, der nicht Gegenstand von Alltagsbeobachtung ist, sondern schon die Umsetzung eines durch die Hypothese gebildeten Beweiszwecks. Diese kann sich durch das Experiment als richtig, aber auch als falsch erweisen und muß dann gegebenenfalls modifiziert werden. Die Hypothese steht also in einem kausalen Zusammenhang mit dem Prozeß ihrer Verifizierung durch Experiment und Spekulation, andererseits stehen Spekulation und Experiment auch im Wechselverhältnis zu anderen Problemen und Begriffen der Naturwissenschaften. Erst im Zusammenhang mit anderen Naturgesetzen entsteht der Gegenstandsbereich bzw. das System der Naturgesetze: „Durch bloßes logisches Denken vermögen wir keinerlei Wissen über die Erfahrungswelt zu erlangen; alles Wissen über die Wirklichkeit geht von der Erfahrung aus und mündet in ihr. Rein logisch gewonnene Sätze sind mit Rücksicht auf das Reale völlig leer. [...] Wenn nun aber Erfahrung Anfang und Ende all unseres Wissens um die Wirklichkeit ist, welches ist dann die Rolle der Ratio in der Wissenschaft? Ein fertiges System der theoretischen Physik besteht aus Begriffen, Grundgesetzen, die für jene Begriffe gelten sollen, und aus durch logische Deduktion abzuleitenden Folgesätzen. Diese Folgesätze sind es, denen unsere Einzelerfahrungen entsprechen sollen; ihre logische Ableitung nimmt in einem theoretischen Buch beinahe alle Druckseiten in Anspruch. [...] Die Ratio gibt den Aufbau des Systems; die Erfahrungsinhalte und ihre gegenseitigen Beziehungen sollen durch die Folgesätze der Theorie ihre Darstellung finden. In der Möglichkeit einer solchen Darstellung allein liegt der Wert und die Berechtigung

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Selbstbestimmung und Herrschaft in der Phänomenologie des ganzen Systems und im besonderen auch der ihm zugrunde liegenden Begriffe und Grundgesetze. Im übrigen sind letztere freie Erfindungen des menschlichen Geistes [...] Die logisch nicht weiter reduzierbaren Grundbegriffe und Grundgesetze bilden den unvermeidlichen, rational nicht erfaßbaren Teil der Theorie [...] Wenn es nun wahr ist, daß die axiomatische Grundlage der theoretischen Physik nicht aus der Erfahrung erschlossen, sondern frei erfunden werden muß, dürfen wir dann überhaupt hoffen, den richtigen Weg zu finden? Noch mehr: Existiert dieser richtige Weg nicht nur in unserer Illusion? [...] Hierauf antworte ich mit aller Zuversicht, daß es den richtigen Weg nach meiner Meinung gibt und daß wir ihn auch zu finden vermögen. Nach unserer bisherigen Erfahrung sind wir nämlich zum Vertrauen berechtigt, daß die Natur die Realisierung des mathematisch denkbar Einfachsten ist. [...] In gewissem Sinne halte ich es also für wahr, daß dem reinen Denken das Erfassen des Wirklichen möglich sei, wie es die Alten geträumt haben.“66

Die Arbeit, aus der naturwissenschaftliche Erkenntnisse resultieren, ist die Arbeit der Verknüpfung von empirischer Erfahrung mit Gesetzen, die nicht Gegenstand möglicher Erfahrung sind. Entsprechend werden in naturwissenschaftlichen Urteilen Begriffe a posteriori mit Begriffen a priori verknüpft. Die darin enthaltene Differenz zwischen der Form des Gesetzes und der chaotischen oder nur komparativ allgemein geordneten Erfahrung hat ihren naturwissenschaftlichen Ausdruck in dem problematischen Verhältnis von Induktion und Deduktion. Insofern die Naturwissenschaften Erfahrungswissenschaften sind, die ihren Gegenstand vorfinden, ergibt sich das Problem, daß aus einer begrenzten Anzahl von beobachteten Fällen auf eine unbegrenzte Anzahl geschlossen werden muß. Insofern in den Naturwissenschaften notwendige und allgemeingültige Gesetze formuliert werden, muß aus der allgemeinen Form das Besondere deduziert werden. Die Induktion ist logisch nicht zwingend, während die Deduktion auf vorhandenen Daten beruhen muß, die selbst nicht das Resultat eines deduktiven, sondern eines induktiven Schlusses sind. Beide Schlußarten sind also notwendig aufeinander bezogen, aber auch ebenso spezifisch voneinander unterschieden. Vermittelbar im Sinne Hegels sind induktive und deduktive Schlüsse naturwissenschaftlich nicht; verknüpft werden sie spekulativ. Naturgesetzen liegt damit zwar im weitesten Sinne Erfahrung zugrunde. Sie sind aber selbst nicht Gegenstand möglicher Erfahrung und können auch durch Erfahrung nicht hinreichend erklärt werden. Sie sind Begriffe des erkennenden Bewußtseins. Wenn aber die objektive Gültigkeit von Naturgesetzen nicht unmittelbar evident ist und es eine Weltformel nicht geben kann, ist zu fragen, wie die Gültigkeit der naturwissenschaftlichen Gesetze beweisbar ist. Die Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand zeigt sich in den Naturwissenschaften auf zweifache Weise – praktisch in der technologischen Anwendung der Resultate, wobei naturwissenschaftliche Theorie und Technologie nicht deckungsgleich sein 66

Albert Einstein. „Zur Methodik der Theoretischen Physik.“ In Mein Weltbild, hrsg. v. Carl Seelig, Frankfurt a. M., 1955, 145 ff. In diesem Exkurs werden drei Texte zugrunde gelegt, an denen sich die Darstellung orientiert: Außer dem zitierten Text von Albert Einstein noch Eduard Jan Dijksterhuis Die Mechanisierung des Weltbildes. Berlin [u. a.], 1983. Im wesentlichen liegt aber diesem Kapitel ein unveröffentlichtes Papier von Jan Müller mit dem Titel Naturwissenschaftliche Theoriebildung, 2008 zugrunde, aus dem die Literaturhinweise, die Darstellung des Verhältnisses von Induktion und Deduktion und die Erklärung des historischen Modells der Planetenbewegung entnommen sind.

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können, wenn die naturwissenschaftliche Theorie kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist. Theoretisch zeigt sich die objektive Geltung der spekulativen Begriffe im historischkritischen Prozeß ihrer Entdeckung. Ein Modell für den historisch-kritischen Prozeß ist die Erklärung der Planetenbewegung. Die Beobachtung der Sterne gehört zu den ersten dokumentierten wissenschaftlichen Tätigkeiten der Menschheit überhaupt, so daß zur Zeit der Antike bereits umfangreiche Aufzeichnungen zur Planetenbewegung vorlagen. Diese Beobachtungen zeugten von einer großen Regelmäßigkeit und Unveränderlichkeit der Planetenbewegung. Entsprechend wurde zwar spezifisch zwischen himmlischen und irdischen Sphären unterschieden, aber so, daß die Unterschiedenen in einem harmonischen Gesamtzusammenhang prinzipiell zusammenstimmten. Dieser Zusammenhang sollte durch eine göttliche Instanz garantiert sein. Der antiken Vorstellung nach war die ideale Form der Bewegung die Kreisbewegung, in der Unendlichkeit, Identität und Gleichförmigkeit realisiert waren. Entsprechend versuchte man, die Planetenbewegung als kreisförmige zu beschreiben und diese Kreisbewegung mit dem Datenmaterial in Übereinstimmung zu bringen. In dem Modell von Eudoxos aus dem 4. Jh. v. Chr. bewegen sich Sonne, Mond und Planeten kugelförmig um die Erde, wobei dieses Modell Ungenauigkeiten gegenüber den beobachteten Daten aufwies. Diese Ungenauigkeiten versuchte Ptolemäus im 1. Jh. n. Chr. durch Epizyklen zu erklären: Im Ptolemäischen Weltbild drehen sich die Himmelskörper auf Kreisbahnen um die Erde und vollführen kleinere Kreisbewegungen, deren Mittelpunkt auf der großen Umlaufbahn liegen. Aber auch dieses Modell stimmte noch nicht mit dem beobachteten Datenmaterial überein. Deshalb vollzogen Kopernikus und Galilei die Wende vom geozentrischen Ptolemäischen Weltbild zum heliozentrischen. Die naturwissenschaftliche Leistung Keplers schließlich lag in der Modifikation des heliozentrischen Weltbildes. Er fasste die Planetenbewegungen nicht als kreisförmige auf, sondern als elliptische, wobei in einem der beiden Brennpunkte der Ellipse die Sonne steht (Erstes Keplersches Gesetz). Die Geschwindigkeit der Planetenbewegung beschrieb Kepler in Abhängigkeit der jeweiligen Entfernung zur Sonne in einem mathematischen Gesetz (Zweites Keplersches Gesetz: Der Radius Sonne-Planet durchläuft in gleichen Zeiten gleiche Flächen.) Obgleich Kepler (noch) keine physikalische Begründung für die Planetenbewegung angeben konnte, hatte er sie damit exakt beschrieben. Ein Indiz für die Objektivität der von ihm formulierten Gesetze war der Umstand, daß auf Grundlage seiner Berechnungen die Abweichung der Bewegung des Planeten Uranus festgestellt werden konnte. Diese Abweichung wurde mit der Existenz eines weiteren, bis dato unbekannten Planeten erklärt. Man begann also, gezielt nach diesem Planeten zu suchen und fand Neptun – ein Resultat, das bestätigend auf die Keplerschen Gesetze zurückwirkte. Das zweite Indiz für die objektive Geltung der Keplerschen Gesetze ist deren praktische Anwendbarkeit. So lassen sich zum Beispiel Flugbahnen von Satelliten auf der Grundlage der keplerschen Gesetze berechnen. Mit diesem naturwissenschaftlichen Fortschritt veränderte sich nicht nur die Auffassung von der Stellung der Planeten zueinander, sondern mit ihr auch die Stellung der

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Subjekte zu dem von ihnen konstruierten Weltbild. Das drückte sich z. B. in dem veränderten wissenschaftlichen Anspruch des Kopernikus aus, der die Differenz zwischen der himmlischen und der irdischen Sphäre nicht mehr als Artunterschied auffaßte. Planeten und Erde sprach er demselben Gegenstandsbereich, der Natur zu, während das göttliche Prinzip jenseits dieses Gegenstandsbereiches angesiedelt wurde. Kopernikus trat deshalb mit dem Anspruch auf, mit der Berechnung der Planetenbewegung kein metaphysisches oder religiöses Phänomen zu beschreiben, sondern ein objektives im naturwissenschaftlichen Sinne: „Und seit K op e r n i ku s die Erde als einen Planeten zu betrachten gelehrt hatte, war der alte Gegensatz zwischen dem Himmlischen und dem Irdischen von Grund auf zerstört. Wie kann man an einem Artunterschied festhalten, wenn kein räumlicher Unterschied mehr vorhanden ist? Nun, da das kopernikanische System der schützenden Hülle ledig war, die O s i a n d e r in seiner Vorrede darüber geworfen hatte, da es also nicht mehr als mathematische Fiktion galt, sondern mit dem Anspruch auftrat, die wirkliche Struktur der Welt wiederzugeben, offenbarte es unverblümt seine vernichtende Wirkung auf die traditionelle Weltanschauung.“67

Dieser Wandel in der Auffassung der eigenen Stellung des Subjekts zu seinen Begriffen kennzeichnet eine Tendenz, für die sich auch bei Kepler Belege finden lassen. Zwar arbeitete auch er noch unter der Hypothese, daß die von ihm beschriebenen Phänomene letztlich Ausdruck einer göttlichen Harmonie waren.68 Trotzdem formulierte er einen Paradigmenwechsel, der diese Hypothese untergräbt: Er bezeichnete das bewegende Prinzip nicht mehr gemäß der antiken Auffassung des Bewegungsgrundes als anima, sondern führte den Kraftbegriff ein. „Kepler ersetzt also Seele durch Kraft. Ändert sich dadurch nun wirklich viel? In gewissem Sinne natürlich nicht. Seele ist ein unbekanntes Agens, dessen Existenz angenommen wird, um ein gewisses Verhalten lebender Körper zu erklären. Kraft ist ein unbekanntes Agens, dessen Existenz angenommen wird, um ein gewisses Verhalten lebloser Körper zu erklären. Fest steht in beiden Fällen nur das Verhalten. Man erhält keine tiefere oder richtigere Einsicht, indem man seiner unbekannten Ursache diesen oder jenen Namen gibt. In einem anderen Sinne aber ändert sich sehr viel. Wenn man die Bewegungen der Planeten statt einer Seele einer Kraft zuschreibt, so bringt man damit zum Ausdruck, daß man sie als leblose Körper betrachten will, daß sie also den hierfür geltenden Gesetzen, d.h. den Gesetzen der Mechanik, unterstehen. Würde man über die Intelligenz eines Hebels sprechen, so würde man dadurch den Wunsch verraten, diesen Apparat als ein bewußtes lebendes Wesen zu betrachten, welches also unter den für solche geltenden Gesetzesbereich, nämlich den der Psychologie, fällt. In beiden Fällen schafft man eine Einheit dort, wo Verschiedenheit war, und das kann für das wissenschaftliche Denken sehr nützlich sein. Zurzeit von Kepler gab es eine Mechanik, die weit genug entwickelt 67 68

Eduard J. Dijksterhuis. Die Mechanisierung des Weltbildes, 346 f. Vgl. auch Jan Müller: „Die Gesetze beschrieben die Planetenbewegungen unter der Voraussetzung der zentralen Stellung der Sonne, liefern aber – ebenso wie die vorher beschriebenen Theorien – selbst keinen physikalischen Grund dieser Bewegungen, sondern sie sind im Vergleich zu den vorherigen Systemen vor allem einfache (wenn man von dem Ersatz von Kreisen durch Ellipsen absieht.) Kepler hat mit diesen Gesetzen nicht einfach eine Gemeinsamkeit von Beobachtungen erfaßt (diese gab es in dem System des Ptolemaios schon), sondern in der Überzeugung an eine göttlich begründete ‘Harmonie‘ der Welt versucht, deren Gesetze zu entschlüsseln. Grund der in seinen Gesetzen mathematisch fixierten Ordnung war für ihn wiederum die letztlich durch Gott begründete ‚Harmonie‘ der Dinge.“ Jan Müller. „Naturwissenschaftliche Theoriebildung.“ 6.

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war, um sich an das Problem der Planetenbewegung heranzumachen, und die, soweit dieser Mut noch nicht gerechtfertigt war, sehr bald zur Höhe ihrer Aufgabe emporsteigen sollte. Es gab aber keine Psychologie, die etwas mit dem Benehmen einer Waage hätte anfangen können: Kepler tat also einen ersten Schritt in der guten Richtung, als er in der Theorie der Planetenbewegung vis anstatt anima sagte: nicht, daß das erste Wort mehr als das zweite hätte erklären können (in Wirklichkeit erklärt weder das eine noch das andere etwas); aber durch den Gebrauch des ersten kündigte sich das Streben an, zu erforschen wieweit man mit Hilfe der Mechanik die Planetenbewegung verstehen lernen konnte.“69

Mit diesem Paradigmenwechsel hatte Kepler also eine neue, säkularisierte Denkrichtung vorgegeben – und damit einen Grundstein gelegt, den Newton ca. 50 Jahre später mit dem Begriff der Gravitation naturwissenschaftlich belegen konnte. Er formulierte das Gesetz, daß die Gravitation proportional zum Quadrat der Entfernung abnimmt, und konnte damit sowohl die überirdische Planeten- wie die irdische Fallbewegung erklären. Damit bestätigte er sowohl den von Kopernikus vollzogenen Schritt, die himmlischen und irdischen Phänomene demselben Gegenstandsbereich zuzuordnen, als auch den Schritt Keplers, den Kraftbegriff naturwissenschaftlich und nicht theologisch zu begründen. Insgesamt kann an dieser Entwicklung verdeutlicht werden, wie Naturwissenschaften sukzessive historisch-kritisch konstituiert und der Gegenstandsbereich der Natur damit indirekt gegen andere abgegrenzt wird. Was allerdings auch Newton mit der Gravitation nicht beantworten konnte, ist die Frage, wie die Planeten auf die Umlaufbahn geraten sind. Hier diente weiterhin die göttliche Instanz als Begründung. Darin zeigt sich, daß auch Newton den Prozeß der Erkenntnis der Planetenbewegung nicht abschließend erklärt hatte. Die Reflexion auf die Stellung des Subjekts zur Objektivität ist nicht Gegenstand der Naturwissenschaft, sondern der Philosophie, und doch hat der beschriebene Wandel einen objektiven Grund in den Naturwissenschaften. Der Sache nach von jeher geschieden, entwickelte sich das Bewußtsein der Differenz der beiden Gegenstandsbereiche von Natur und Selbstbewußtsein erst im Prozeß der Säkularisierung. Götter dienen ursprünglich dort als mythologische Begründung, wo kein wissenschaftlicher Grund bekannt ist. Daß sich heutzutage mythologische Vorstellungen am Leben halten, obwohl sie sich auf naturwissenschaftlich erklärte Phänomene beziehen, ist ein anderes Problem. Die Kritik an mythologischen Erklärungen der Natur wird auch dadurch veranlaßt, daß der Einflußbereich der Götter mit jedem naturwissenschaftlichen Resultat kleiner wird. Die Hypothese, daß die Natur derselben göttlichen Einheit angehöre, wie die mythologischen und logischen Gestalten des Geistes, unterstellt, daß es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen beiden Sphären gibt. Mit der Konstitution naturwissenschaftlicher Theorie entsteht das Bewußtsein von der Natur als einem selbständigen Gegenstandsbereich. Damit gelangt auch die Differenz zwischen dem Zweck der Naturerkenntnis und dem Zweck der Erkenntnis geisteswissenschaftlicher Probleme zu Bewußtsein. D. h., daß das Selbstbewußtsein durch die Naturerkenntnis weder determiniert, noch garantiert 69

Eduard J. Dijksterhuis. Die Mechanisierung des Weltbildes, 347.

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ist. Ein Indiz dafür ist der Irrtum, z. B. wenn Neurobiologen und Bioethiker heutzutage immer noch (oder wieder?) glauben, das Ich sei ein chemisch-physikalischer Prozeß.70 Es läßt sich einzig historisch feststellen, daß das Selbstbewußtsein sich auch in Abgrenzung gegen die Naturwissenschaften herausgebildet hat. Selbstbewußtsein ist kein Begriff, der positiv gefaßt werden könnte, auch nicht durch den negierenden Schluß Hegels hindurch, sondern Selbstbewußtsein ist ein kritischer Begriff, der in der Negation seiner geistesgeschichtlichen Bedingungen zu beschreiben ist: Bis in die Terminologie hinein stellt die historische Entwicklung die Verkehrung des Kraftbegriffs der Phänomenologie da, wenn nicht die Seele den Kraftbegriff, sondern umgekehrt der Kraftbegriff die Seele ersetzt. Hegel will in Kraft und Verstand die Einheit des Naturganzen dadurch garantieren, daß er die einzelwissenschaftliche Erkenntnisrelation durch den Prozeß des Erklärens im Selbstbewußtsein aufhebt. Dieser Übergang sei notwendig. Die Einheit der Natur liege in der Einheit des Selbstbewußtseins, das damit die Funktion Gottes bzw. der Seele als Einheit stiftenden Prinzips ersetze. Wie aber gezeigt wurde, mündet diese Argumentation in dem Widerspruch, daß der Schluß einerseits durch einen ahistorischen Begriff von Objektivität bedingt ist, andererseits aber auch durch das telos, das Selbstbewußtsein notwendig zu begründen. In der Festlegung auf das telos eines Selbstbewußtseins, das in der Einleitung zur Phänomenologie als historisch avanciertes eingeführt wurde, ist die Argumentation Hegels dann doch historisch tingiert. Wenn aber weder das Selbstbewußtsein noch eine göttliche Instanz die absolute Einheit des Seienden begründen können, dann löst sich die eine Letztbegründung in eine Vielheit von spekulativen naturwissenschaftlichen Begründungen auf. Übrig bleibt das selbstbewußte Subjekt einer widersprüchlichen Erfahrung.71 Die Wirklichkeit ist nicht an sich verkehrt, sondern nur 70

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Die Frage, inwieweit solche Irrtümer Ausdruck eines kollektiven Phänomens sind, z. B. als notwendig falsches Bewußtsein, wird hier vorerst noch ausgeklammert, so wie überhaupt noch von ökonomischen und politischen Bedingungen der Entwicklung des Selbstbewußtseins abstrahiert wird. Ausführlich widmet sich diesem Problem: Christine Zunke. Kritik der Hirnforschung. Neurophysiologie und Willensfreiheit. Berlin, 2008. Um das Phänomen des falschen Bewußtseins wird es erst in Herrschaft und Knechtschaft gehen. Hans-Georg Bensch weist im Zusammenhang mit dem Begriff des Erklärens auf die gesellschaftlich-historische Bedingtheit des Selbstbewußtseins hin: „Wenn diese zusammenfassende Passage aus Kraft und Verstand ihre Ähnlichkeit mit der ‚Reflexion‘ aus der Logik nicht verbergen kann, so erscheint doch der ,idealistische‘ Fehler Hegels in seiner Interpretation der ‚Bewegung des Erklärens‘. Sie wird einerseits richtig in ihrer tautologischen Bedeutung gebraucht; es wird ein Unterschied gesetzt, der keiner ist. Diese Bewegung ist nicht nur leer, sondern es ist die Bewegung zu sich selbst zurück. Hegel unterschlägt aber andererseits, welche Bedeutung die instrumentalisierbaren und die instrumentalisierten Resultate der Naturwissenschaft für die gesellschaftliche Reproduktion (für den Geist) haben können. Und was der Grund dafür ist, dass immer neue technische Resultate erfordert werden, hat Hegel – historisch beschränkt – nicht gesehen. Diese Instrumentalisierbarkeit dessen, was der Form nach tautologisch ist, also des dem Begriff nach fixierten Sachverhaltes in seiner Konsequenz für die gesellschaftliche materielle Reproduktion samt ihrem akkumulativen Charakter wird von Hegel damit ignoriert.“ Hans-Georg Bensch. Perspektiven des Bewußtseins, 137. Insofern hat auch Albert Einstein unrecht, wenn er von der Natur als der Realisierung des mathematisch denkbar einfachsten redet (Vgl. Zitat S. 116, Fußnote 1). Die Konstitution des Systems der Physik ist eine unendliche Aufgabe, auch weil Natur ein Moment von Zufälligkeit gegen das System bewahrt.

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für das Selbstbewußtsein. Selbstbewußtsein ist kein positiver, sondern ein negativer Begriff. Damit hat sowohl die Erkenntnis der Objektivität geschichtliche Bedingungen als auch die Erkenntnis der Subjektivität, ohne daß diese in Kraft und Verstand als geschichtliche thematisch würden. Der Schluß von der Äußerlichkeit der Relation von Begriff und Sein auf das die Relation begründende Subjekt ist aber aus den geschichtlichen Bedingungen nicht abzuleiten, sondern spekulativ zu erschließen. Notwendig ist er nur im Hinblick auf den Begriff eines Selbstbewußtseins, das dem Prozeß der Begründung vorausgesetzt ist und die Einheit von Objektivität und Subjektivität stiften soll. Subjekt und Objekt erscheinen als systematische Funktionen, weil das System terminus ad quem des Hegelschen Arguments ist. Umgekehrt muss das entwickelte Selbstbewußtsein als Maßstab der Kritik und Zweck der Darstellung der Argumentation ebenso permanent unterstellt werden, denn ginge der Maßstab der Kritik nur aus der Entwicklung hervor, wäre er nicht apodiktisch, sondern positivistisch. Sein Geltungsbereich wäre einzig vom jeweils geltenden Stand des Bewußtseins abhängig, das gegen die Frage nach dem objektiven Gehalt gleichgültig ist. Die Unterscheidung von wahren und falschen Vorstellungen gelingt nur von einem apodiktischen Begriff aus. Deshalb ist der Maßstab der Kritik zugleich als nichtgeschichtlicher vorauszusetzen. Beide Bedingungen, die geschichtliche und die apodiktische, werden in den ersten drei Kapiteln der Phänomenologie miteinander verschränkt. Terminologisch verbirgt sich der terminus ad quem im „für uns“, das die Erfahrung des Verstandes begleitet und mit dem dieser im Resultat zusammengeht. „Wir“ sind diejenigen Erkenntnissubjekte, deren Selbstbewußtsein geschichtlich soweit entwickelt ist, daß sie um die Notwendigkeit eines apodiktischen Begriffs des Selbstbewußtseins wissen. Der Versuch einer Darstellung, die den Moment in der Geschichte identifizieren wollte, in dem das Selbstbewußtsein zu sich selbst kam, wäre vergeblich, weil die Suche nach dem einheitsstiftenden Prinzip dieses immer schon voraussetzt. Notwendig erscheint der Übergang von der Betrachtung der Natur zur Betrachtung des Selbstbewußtseins also nur, wenn subjektiver und ausgeführter Zweck gegeben und teleologisch miteinander vermittelt werden. Nun hatte die Kritik an Kraft und Verstand aber gezeigt, daß die Naturgesetze nicht vollständig in das System des Selbstbewußtseins überführt werden können, die teleologische Konstruktion also mangelhaft bleibt. Wenn das aber mißlingt, dann ist das Selbstbewußtsein in Kraft und Verstand gegenstandslos, weil ihm historisch kein adäquater Gegenstand korrespondiert. Es ist ein metaphysischer Begriff, der weder in den Naturwissenschaften, noch gesellschaftlich als Gattungsvermögen realisiert ist. Die gesellschaftlichen Bedingungen erscheinen aber in der Phänomenologie nur als Setzung, nicht als Bedingung von Selbstbewußtsein. Damit ist es zwar als Begriff konstruierbar, positioniert sich aber jenseits von Geschichte, die sie nur soweit reflektiert, wie es dem Systemgedanken zuträglich ist. Es ist das Dilemma des Selbstbewußtseins, der Begriff der absoluten Einheit im Unterschiedenen zu sein, ohne diese Einheit historisch jemals vollständig realisieren zu können. Zwar ist den Subjekten mit der Divergenz von Natur und Geist die unendliche Aufgabe der

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Verwirklichung ihres Selbstbewußtseins gegeben, aber alles, was sich zu den Bedingungen dieses Prozesses sagen läßt, ist negativ: Sowenig wie der Zweck naturwissenschaftlicher Erkenntnis notwendig mit dem Begriff des Selbstbewußtseins zusammenstimmt, sowenig schließen sie sich aus. Ob sich aber im Prozeß der Erfahrung des Selbstbewußtseins progressive oder regressive Tendenzen durchsetzen, obliegt der kollektiven Entscheidung der Subjekte und zeigt sich erst in der Handlung und der ihr zugrunde liegenden Absicht. In der Handlung verläßt aber das Selbstbewußtsein auch das einheimische Reich des Gedankens und setzt sich Widerständen aus, die es nicht selbst produziert haben kann. „Das wi r kl i c h e Verbrechen aber hat s e i n e V e r ke h r u n g , und sein A n s i c h a l s M ö g l i c h k e i t in der A b s i c h t als solcher, aber nicht in einer guten; denn die Wahrheit der Absicht ist nur die That selbst. Das Verbrechen seinem Inhalte nach aber, hat seine Reflexion in sich oder seine Verkehrung an der wirklichen Straffe; diese ist die Aussöhnung des Gesetzes mit der ihm im Verbrechen entgegengesetzten Wirklichkeit. Die wi r kl i c h e Straffe endlich hat so ihre v e r k e h r t e Wirklichkeit an ihr, daß sie eine solche Verwirklichung des Gesetzes ist, wodurch die Thätigkeit, die es als Straffe hat, s i c h s e l b s t a u f h e b t , es aus thätigem wieder r u h i g e s und geltendes Gesetz wird, und die Bewegung der Individualität gegen es, und seiner gegen sie erloschen ist.“72

Die verbrecherische Absicht stimme mit dem Gesetz der Realität, das zugleich das Gesetz des Selbstbewußtseins sein soll, nicht von selbst überein, sondern müsse durch Strafe erst auf den (vermeintlich) richtigen Weg gebracht werden. Worin die Abweichung der Absicht vom Pfade der Tugend liegen kann, ist mit den Argumenten der ersten drei Kapitel der Phänomenologie nicht erklärbar. Zudem ist Strafe ein Gewaltakt, den Hegel hier als ein für die Realisierung des Selbstbewußtseins konstitutives Moment darstellt. Diese Notwendigkeit der Gewalt folgt nicht aus der Argumentation von Kraft und Verstand, sondern erscheint nur in dem von Hegel zitierten Beispiel und es stellt sich deshalb die Frage, woher sie stammt.73

3.2 Selbstbewußtsein und das Problem seiner Realisierung Für die Phänomenologie des Geistes hatte Hegel den Begriff des Lebens nicht wie in der Wissenschaft der Logik als Produkt der Teleologie bestimmt, als unmittelbares Mittel der Selbstbestimmung des Begriffs, sondern als Bestimmungsmoment des Selbstbewußtseins. Es soll deshalb nochmal kurz auf die Frage eingegangen werden, wie sich die beiden Lebensbegriffe und damit verbunden, die beiden Begriffe von Selbstbestimmung in der Logik und in der Phänomenologie unterscheiden. 72 73

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 98. Obwohl Gadamer feststellt, daß es sich bei der Strafe nicht um Naturgesetze, sondern um Rechtsgesetze handelt (vgl. Hans-Georg Gadamer. „Die verkehrte Welt.“ 91), sieht er in der Bewegung des Strafens eine Illustration der allgemeinen Struktur und der inneren Notwendigkeit des dialektischen Fortgangs. „Die unsinnliche, übersinnliche Welt des Allgemeinen stellt nur ein Moment an dem, was wirklich ist, dar. Die wahre Wirklichkeit ist die des Lebens, das sich in sich selbst bewegt.“ Ebd., 93.

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Kant hatte in der Kritik der Urteilskraft von der Existenz des Lebens auf das Prinzip der Zweckmäßigkeit geschlossen, mit dem die spezifisch reflexive Organisation von Lebewesen zwar nicht zu erklären sei – die Natur werde durch die reflektierende Urteilskraft so vorgestellt, als ob sie zweckmäßig verfaßt wäre. Umgekehrt gäben die Lebewesen aber Anlaß zu der Hoffnung, daß Zweckmäßigkeit trotzdem keine bloße Projektion auf die Natur sei.74 Kant war dann aber auf das Problem gestoßen, daß die Natur, die durch die Kategorien Kausalität und Wechselwirkung und eben nicht durch den Zweck der Vernunft und deren Forderung nach Einheit des Denkens beschrieben wird, eine Affinität für die reflektierende Urteilskraft haben müsse. Das regulative Prinzip muß ontologisch fundiert werden, so daß Kant darauf verfallen war, die kulturelle Entwicklung der Menschen, die Hervorbringung zur Tauglichkeit, Zwecke ausführen zu können, als Zweck zu bestimmen, deren Subjekt aber nicht die Vernunft, sondern die Natur ist. Wenn die Vernunft den Zweck hat, die Einheit der Erkenntnis zu begründen, und die Natur den Zweck, die Menschen kulturell zu bilden, dann liegt in der Zweckmäßigkeit eine Affinität beider Gegenstandsbereiche, aber um den Preis, die Natur zu einem teleologischen Subjekt zu verklären.75 Indem das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft nicht objektiv sein soll, bleiben sich Begriff und Modell äußerlich: Die Urteilskraft ist auf das Leben und die Kultur verwiesen. Hegel kritisiert diesen Teleologiebegriff, weil der Hiatus in der Argumentation Kants letztendlich unvermittelt bleibt. Hegel ist es um die Vermittlung zu tun, wobei er die bei Kant unterschiedenen Aspekte der Urteilskraft, einerseits regulatives Prinzip zu sein, andererseits objektive Korrelate in der Kultur und dem Leben aufzuweisen, voneinander trennt. Die Entwicklung des regulativen Prinzips als logisches Prinzip ist Gegenstand der Wissenschaft der Logik, als ontologische Korrelate des logischen Prinzips werden Leben und Kultur in der Phänomenologie des Geistes verhandelt. In der Wissenschaft der Logik geht die Teleologie in das Leben über und damit in die unmittelbare Idee, für welche die Objektivität nicht mehr äußerlich ist, sondern das adäquate Mittel seiner Selbstbestimmung. Die Selbstbestimmung des Begriffs genügt der Form zweckgerichteter Tätigkeit, wobei das telos der Selbstbestimmung weder das Selbstbewußtsein ist, noch ein endlicher Zweck, sondern die absolute Idee, das Erkennen und Realisieren des Wahren und Guten. Gegenstand der Selbstbestimmung des Begriffs ist damit der Begriff. Die Bedingung der Begründung der absoluten Selbstbestimmung war, daß die Relata Subjektivität und Objektivität jeweils als Totalitätsbegriff bestimmt werden, d. h. einerseits, daß das Individuum aufgehoben und das Selbstbewußtsein der absoluten Idee als Funktion untergeordnet ist und andererseits, daß die Ob74

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„Organisierte Wesen sind also die einzigen in der Natur, welche, wenn man sie auch für sich und ohne ein Verhältnis auf andere Dinge betrachtet, doch nur als Zwecke derselben möglich gedacht werden müssen, und die also zuerst dem Begriffe eines Z we c k s , der nicht ein praktischer, sondern Zweck der N a t u r ist, objektive Realität und dadurch für die Naturwissenschaft den Grund zu einer Teleologie, d. i. einer Beurteilungsart ihrer Objekte nach einem besonderen Prinzip verschaffen, dergleichen man in sie einzuführen (weil man die Möglichkeit einer solchen Art Kausalität gar nicht a priori einsehen kann) sonst schlechterdings nicht berechtigt sein würde.“ Kant. Kritik der Urteilskraft, 239. Ausführlicher auf S. 80 dieser Arbeit.

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jekte ihrer ontologischen Substanz beraubt als begriffliche Hüllen dem Begriff eingepasst werden. Es war aber gezeigt worden, daß in der Negation der Eigenständigkeit von Individuum und Objekt das zu Negierende ontologisch ebenso unterstellt bleibt, so daß die absolute Idee gegen die Behauptung Hegels auf Bedingungen verwiesen bleibt, die sie nicht einzuholen vermag. Wenn Hegel gegen das erneute Aufbrechen der Antinomien Kants an der Vorstellung absoluter Selbstbestimmung festhält, und die Elemente der Selbstbestimmung des Begriffs auf dieses telos hin organisiert und konstruiert, dann ist das Prinzip der Wissenschaft der Logik auf ein willensbegabtes Selbstbewußtsein verwiesen, das die Darstellung konstruiert. Darin ist die Logik zweckmäßig und reflexiv und damit ihr eigenes Modell, aber zugleich in einer Weise, die der Idee auch vorgeordnet bleibt, denn die absolute Idee sollte ohne ein willensbegabtes Subjekt auskommen. Diese Überlegung rechtfertigt den Rückgang in den Grund der Wissenschaft der Logik, in die Phänomenologie des Geistes und den Begriff des Selbstbewußtseins. Während Hegel die Phänomenologie als diejenige Vermittlung des Anfangs der Logik betrachtet hatte, die von der logischen Entwicklung abgekoppelt wird, wird auf der Grundlage der Kritik an diesem Programm der Begriff des Selbstbewußtseins als die Wahrheit des Begriffs der Logik betrachtet und deshalb im Anschluß an die Logik, nicht als Voraussetzung betrachtet. Zwischen dem Begriff und dem Organismus steht also eine vermittelnde Instanz, deren begriffliche Entwicklung in der Phänomenologie des Geistes mit dem Selbstbewußtsein thematisch wird. Dieser vermittelnden Instanz erscheint das Leben nicht als Begriff absoluter Selbstbestimmung, sondern als vorgefundene Bedingung seines Tuns. Damit betrachtet Hegel in der Phänomenologie die andere Seite des Problems, die bei Kant im Widerspruch mündete: nicht die Seite des logischen Prinzips der Teleologie, sondern die kulturelle Entwicklung als Entwicklung des Begriffs des Selbstbewußtseins. Der Begriff des Lebens wird einerseits als einfache Negation des Selbstbewußtseins erschlossen, andererseits erscheint er einmal erschlossen als vorgefundenes: Der Lebensprozeß geschieht dem Bewußtsein, ohne daß es darauf zunächst Einfluß hätte. Aus der Notwendigkeit der Reproduktion des Lebendigen als Existenzbedingung des Selbstbewußtseins folgt die Frage nach der Organisation dieser Reproduktion in Herrschaft und Knechtschaft. Die Arbeit der Selbstbestimmung wird hier als der Prozeß der Vermittlung des Selbstbewußtseins mit seinen Existenzbedingungen verstanden und damit nicht als das Produkt des logischen Begriffs, sondern als seine Voraussetzung. Die Phänomenologie des Geistes beginnt mit der Reflexion darauf, daß die Momente des Selbstbewußtseins – für uns, für es und an sich – einander zunächst äußerlich sind und auf das telos des absoluten Wissens bezogen vermittelt werden sollen. Damit findet die in der Logik begrifflich bestimmte teleologische Konstruktion in der Phänomenologie des Geistes Anwendung.76 Das Selbstbewußtsein ist seinem eigenen Begriff auf der 76

In Abgrenzung zu materialistisch-dialektischen Kommentierungen wird hier nicht von der Dialektischen Methode Hegels gesprochen, weil sich der Schluß gerade dadurch auszeichnet, nicht unabhängig, sondern in der bestimmten Auseinandersetzung mit den Gegenständen gebildet zu sein. Hegel kritisiert den Standpunkt des formellen Denkens explizit: „Das formelle Denken aber macht sich die Identität zum Gesetze, läßt den widersprechenden Inhalt, den es vor sich hat, in die Sphä-

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Spur und reflektiert damit auf sein Wissen von sich als Sinnliche Gewißheit, Wahrnehmung, Kraft und Verstand, wobei dieses Wissen wiederum in der Auseinandersetzung mit solchen Gegenständen gebildet wird, die dem Selbstbewußtsein äußerlich sind. Teleologisch ist diese Konstruktion darin, daß nicht die Chronologie des Selbstbewußtseins nachgezeichnet wird, sondern die historische Entwicklung des Selbstbewußtseins der phänomenologischen vorausgesetzt wird. Es weiß sich als historisch avanciertes Bewußtsein und will sich auf der Grundlage dieses Wissens logisch bestimmen, d. h. aus seinen Kategorien, Vermögen und seinem Wissen. Das Selbstbewußtsein ist damit einerseits die logische Voraussetzung der phänomenologischen Reflexion, also als Vermögen der Reflexion jeder Vermittlung vorausgesetzt. Geschichtlich betrachtet ist es dagegen ein später und damit voraussetzungsvoller, für sich seiender Begriff, der der Entwicklung nicht logisch vorausgesetzt ist, sondern aus ihr resultiert. Diese Paradoxie eines Vermögens, das seinen eigenen Begriff erst finden muß, ist konstitutiv für das Selbstbewußtsein und das Programm der ersten Kapitel der Phänomenologie des Geistes bis einschließlich Kraft und Verstand gilt ihrer Vermittlung: Das Selbstbewußtsein soll als Vermögen logisch-systematisch begründet werden, um dann in den nachfolgenden Kapiteln nachzuzeichnen, wie es sich objektiviert, also als anerkennendes, beobachtendes etc. Während Hegel diese Entwicklung so verstanden wissen will, daß die genannte Paradoxie prinzipiell vermittelt werden kann, bleibt sie hier wiederum unfreiwillig bestehen: Die logische Begründung findet in der Auseinandersetzung mit Inhalten statt, die ebenfalls geschichtlich späte Resultate sind, den Kategorien des Denkens und dem naturwissenschaftlichen Wissen des 18. Jahrhunderts. Auch in der Phänomenologie wird diese geschichtliche Bedingtheit des Selbstbewußtseins nicht als etwas für die Begriffsbildung konstitutives reflektiert. Wenn aber die geschichtliche Entwicklung des Begriffs des Selbstbewußtseins für das Vermögen und seine Inhalte konstitutiv ist, sowie das Vermögen für den Begriff, dann wirkt das bedingend auf die Darstellung zurück: Weder genügt die Kraft des Verstandes denselben Gesetzen wie die Kraft in der Physik, noch geht das Leben aus dem Begriff des Selbstbewußtseins hervor. Der Widerspruch, der das Selbstbewußtsein konstituiert, liegt nicht, wie Hegel meint, darin begründet, daß das Denken die Wirklichkeit verkehren muß, um sie bestimmen zu können, so daß „was im Gesetz der der ersten [des Denkens, M. B.] süß, in diesem verkehrten Ansich [der Wirklichkeit, M. B.] sauer; was in jenem schwartz, in diesem weiß ist“ 77 usw. Sondern umgekehrt: das Denken hat seinen Identitätsanspruch an die ontologische Struktur der Objektivität anzupassen. Wie dargestellt, geht historisch nicht die Seele aus dem Kraftbegriff – wie Hegel es entwickelt hatte –, sondern der Kraftbegriff geht aus dem der Seele hervor.

77

re der Vorstellung, in Raum und Zeit herab fallen, worin das Widersprechende im Neben- und Nach-einander, ausser einander gehalten wird, und so ohne die gegenseitige Berührung vor das Bewußtseyn tritt. Es macht sich darüber den bestimmten Grundsatz, daß der Widerspruch nicht denkbar sey; in der That aber ist das Denken des Widerspruchs, das wesentliche Moment des Begriffes. Das formelle Denken denkt denselben auch factisch, nur sieht es sogleich von ihm weg, und geht von ihm in jenem Sagen nur zu abstracten Negation über.“ Hegel. Lehre vom Begriff, 247. Hegel. Phänomenologie des Geistes, 97.

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Was bedeutet das für das Verhältnis von Arbeit und Leben? Im Grunde genommen ist das Selbstbewußtsein der Phänomenologie ebenso ein Systembegriff wie die unmittelbare Idee, d. h. beide werden auf dasselbe telos bezogen. Aber trotzdem unterscheiden sich auch beide Begriffe, weil in der Phänomenologie nicht der logische Begriff, sondern das Selbstbewußtsein und sein Wissen von der Natur und dem Leben Gegenstand ist. Der Begriff des Selbstbewußtseins hat andere Implikationen als die unmittelbare Idee. Das Leben als Moment des Selbstbewußtseins ist nicht der Begriff, in dem die Individuen aufgehoben werden, sondern aus dem im Gegenteil die Individualität des lebendigen Individuums als Existenzbedingung des Selbstbewußtseins gesetzt wird. Es geht nicht um die Frage nach dem Verhältnis von logischen Inhalten, sondern um die Frage nach den Existenzbedingungen des Selbstbewußtseins. Das Prinzip der Phänomenologie ist dasselbe wie in der Logik: der dialektische Schluß, aber die Inhalte sind verschieden. Selbstbestimmung in der Phänomenologie des Geistes ist die Selbstbestimmung des Selbstbewußtseins in seinem Wissen und seinen Bedingungen. Insofern ist noch das Herrschafts-Knechtschafts-Verhältnis Ausdruck von Selbstbestimmung (in der Gestalt der Anerkennung anderer selbstbewußter Individuen). Die Bewegungen der Phänomenologie und der Logik verhalten sich zueinander als Momente des Prozesses: In der Phänomenologie findet die Vermittlung statt, in der die Geistesgeschichte in die Wissenschaft der Logik überführt wird. Es ist ein Vermittlungsprozeß, der aber mehr als nur die Form des Begriffs zum Resultat haben soll. Weil die Momente systematisch auseinander hervorgehen, sind sie in der Logik nicht verschwunden, sondern aufgehoben. Leben und Arbeit als in der Phänomenologie stellen die ontologische Voraussetzung der Reflexionsbegriffe Teleologie und Leben in der Logik dar. Weil aber diese ontologischen Voraussetzungen gegen das Systemprogramm und die absolute Reflexion als Bedingungen nicht aufgehoben werden können, sondern konstitutiv bleiben, ist der Anspruch einer absoluten Reflexivität Hybris des Denkens. Der logische Prozeß kann nicht anders als durch die denkenden Subjekte, die materiellen Objekte und die kulturelle Vermittlung, die immer auch herrschaftlich organisiert war, bedingt gedacht werden. Das Selbstbewußtsein ist als Gattungsvermögen historisch nicht realisiert, weil Arbeit und Selbstbestimmung nicht logisch auseinander folgen, sondern in einem Wechselverhältnis stehen. Diejenige Arbeit, die die Selbstbestimmung des Begriffs mit der Selbstbestimmung des Selbstbewußtseins vermittelt, ist praktische Arbeit, in der das Selbstbewußtsein sowohl selbständig als auch unselbständig ist.

a) Leben, Individuum und Gattungsvermögen Das Selbstbewußtsein ist ein Begriff, der bislang weder mit dem Subjekt, das dieses Prinzip denkt, noch mit dessen geistesgeschichtlich relevanten Vorstellungen vermittelt worden ist. Das Selbstbewußtsein aus Kraft und Verstand ist kein individuiertes Vermögen. Insofern hatten die ersten drei Kapitel der Phänomenologie die systematische Funktion, den Maßstab der Entwicklung zu entwickeln, während die folgenden auf die

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materiellen Bedingungen und geistesgeschichtlichen Gestalten des Selbstbewußtseins eingehen. Hegel hatte in der Einleitung darauf hingewiesen, daß er vom Stand des zu seiner Zeit gegenwärtigen Bewußtseins aus argumentiert. Weil es in dieser Gegenwart bereits einen Begriff des Selbstbewußtseins gibt, ist die systematische Exposition des Begriffs überhaupt nur möglich. Damit erweist sich aber das Selbstbewußtsein auch als historisch voraussetzungsvoll, ohne daß auf diese Voraussetzung innerhalb von Kraft und Verstand nochmal reflektiert würde. Die Entwicklung erscheint in der Phänomenologie nicht als Bedingung, sondern als Produktion des Selbstbewußtseins, so daß erst in Herrschaft und Knechtschaft darauf reflektiert wird, daß das Selbstbewußtsein ein Gattungsvermögen von vernunftbegabten Sinnenwesen ist, die sich nur über die (bei Hegel notwendige) Bedingung der herrschaftlichen Organisation der Reproduktion ihr Gattungsvermögen realisieren können. Wenn aber schon der systematische Begriff des Selbstbewußtseins aus Kraft und Verstand einen historisch gegebenen Begriff des Selbstbewußtseins voraussetzt, dann muß auch dieser Begriff schon als kollektives Vermögen und sein Inhalt, das System der Naturwissenschaften, als akkumuliertes Wissen aufgefaßt werden, daß durch die herrschaftliche Organisation der Reproduktion bedingt war. Es ist zu sehen, wie die Reflexion dieser geschichtlichen Bedingtheit auf den von Hegel konstruierten Begriff des Selbstbewußtseins zurückwirkt. Das Selbstbewußtsein ist die negative Einheit von Identität und Unterschied, so daß seine beiden Momente, das Bewußtsein und das Leben, jeweils hinsichtlich ihrer identischen und ihrer unterscheidenden Relation auf die Einheit des Selbstbewußtseins bezogen werden müssen. Insofern das Selbstbewußtsein das Resultat der bisherigen Erfahrung ist, sind die Gestalten der sinnlichen Gewißheit, der Wahrnehmung und des Verstandes in sie eingegangen und werden erinnert. Als Momente haben sie gegen das Selbstbewußtsein keine Selbständigkeit mehr, so daß sich das Selbstbewußtsein in ihnen nur auf sich selbst bezieht. Darin ist das Selbstbewußtsein tautologisch: „Es ist als Selbstbewußtseyn Bewegung; aber indem es n u r s i c h s e l b s t als sich selbst von sich unterscheidet, so ist ihm der Unterschied, u n m i t t e l b a r als ein Andersseyn a u f g e h o b e n ; der Unterschied i s t nicht, und e s nur die bewegungslose Tautologie des: Ich bin Ich; indem ihm der Unterschied nicht auch die Gestalt des S e y n s hat, ist es nicht Selbstbewußtseyn.“78

Als reine Tautologie wäre es aber bestimmungslos, so daß es sich zugleich auch auf seine Momente als Seiende beziehen muß. Beide – die Identität des Selbstbewußtseins mit sich selbst und den bestehenden Momenten – stehen im Widerspruch zu der Forderung, daß sie demselben Vermögen angehören. Die logische Forderung, diesen Widerspruch zu vermitteln, ist die „Beg ierde überhaupt“79. 78 79

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 104. Ebd. Lim verliert aus dem Blick, daß die Begierde selbst nicht produktiv ist, sondern in Abgrenzung gegen die Logik gerade in der Phänomenologie auf das Selbstbewußtsein als Subjekt bezogen ist. „Die Begierde gilt hier als der zusammenfassende Ausdruck der das ungelöste Ganze und das erfüllte Einzelne des Seins zusammenschließenden, grundlegenden Geschichtlichkeit des arbeitenden Menschen und der menschlichen Arbeit ebensosehr im Körperlichen wie im Geistigen.“ Sin-Zok Lim. Der Begriff der Arbeit bei Hegel, 47. Die Begierde ist Motivation, aber nicht Hand-

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Selbstbestimmung und Herrschaft in der Phänomenologie „Das Bewußtseyn hat als Selbstbewußtseyn nunmehr einen gedoppelten Gegenstand, den einen, den unmittelbaren, den Gegenstand der sinnlichen Gewißheit, und des Wahrnehmens, der aber fü r e s mit dem C h a r a kt e r d e s N e g a t i ve n bezeichnet ist, und den zweyten, nämlich s i c h s e l b s t , welcher das wahre We s e n , und zunächst nur erst im Gegensatze des ersten vorhanden ist. Das Selbstbewußtsein stellt sich hierin als die Bewegung dar, worin dieser Gegensatz aufgehoben, und ihm die Gleichheit seiner selbst mit sich wird.“80

Das, was das Selbstbewußtsein von sich unterscheidet, nämlich das Leben als sinnliche Gewißheit, Wahrnehmung, Kraft und Verstand, ist nicht nur relational als einfach negiertes bestimmt, sondern hat auch unabhängig von dieser Relation eine Bestimmung. Es ist nicht nur Leben, sondern ein Lebendiges, daß gegen das Selbstbewußtsein selbständig ist. Gegen den Versuch der Vermittlung durch und mit dem Selbstbewußtsein oder gegen dessen Begierde, den Widerspruch zu vermitteln, wird sich das Leben deshalb als resistent erweisen. Hegel entwickelt das Leben als Gestalt des erscheinenden Geistes analog dem Lebensbegriff in der Wissenschaft der Logik. Das dialektische Prinzip des Setzens und Aufhebens von Unterschieden orientiert sich auch hier an den Charakteristika des biologischen Lebensprozesses: Das Lebendige ist als Seele bestimmt, als Gestalt gegen andere Gestalten, als sich ernährender Organismus, als sich fortpflanzender Organismus und schließlich als Gattungswesen. Aber während das Leben als unmittelbare Idee mit der Negation der Individuen endet, geht aus dem Lebensprozeß der Phänomenologie das Individuum als konstituierendes hervor. Nicht das Leben sondern das Selbstbewußtsein wird in der Phänomenologie zumindest für einen Teil der selbstbewußten Individuen negiert, um einem anderen Teil die Realisierung des Gattungsvermögens zu ermöglichen. Die Seele des Lebendigen ist das Prinzip seiner Belebtheit, das identisch ist mit dem, was schon zuvor als Prinzip des Lebens bestimmt worden war: das absolute Sichselbstbewegen in den Unterschieden: „Das We s e n ist die Unendlichkeit als das A u f g e h o b e n s e yn aller Unterschiede, die reine achsendrehende Bewegung, die Ruhe ihrer selbst als absolutunruhige Unendlichkeit die S e l bs t ä n d i g ke i t selbst, in welcher die Unterschiede der Bewegung aufgelöst sind; das einfache Wesen der Zeit, das in dieser Sichselbstgleichheit die gediegene Gestalt des Raumes hat.“81

Die Seele des Lebendigen unterscheidet von sich die „unterschiedenen Glieder und fürsichse ye nde n Theile“. Es sind dies die Unterschiede, an denen das Leben sich als Prozeß und Einheit realisiert, wobei die Seele die Substanz, das organisierende Prinzip

80 81

lung. Im Sinne Hegels dagegen Ivan Dubský: „Der Trieb bedeutet in der deutschen klassischen Philosophie eine immanente Kraft, welche das Subjekt zur Überwindung der äußeren Hindernisse und Beschränkungen zum Objekt führt, er ist gewissermaßen eine geistige Fähigkeit par excellence. Der Trieb ist kein niedrigerer Instinkt als ein geistiger. Er ist die Vorstufe der Willenstätigkeit, die Hegel im weiteren mit dem Arbeitsprozeß verbindet.“ Ivan Dubsky. „Hegels Arbeitsbegriff und die idealistische Dialektik.“ 431. Hegel. Phänomenologie des Geistes, 104. Ebd., 105. „Eine wesentliche und sachlich gültig gebliebene Leistung des Hegelschen Denkens besteht gerade darin, daß er von hier aus den inneren Zusammenhang von Lebendigkeit, Begierde und Arbeit (als spezifisch menschlicher Praxis) erstmals gesehen und in der ‚Phänomenologie des Geistes‘ [...] in klassischer Weise dargestellt hat.“ Manfred Riedel. Theorie und Praxis im Denken Hegels, 113 f.

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dieses Prozesses ist. Die unterschiedenen Glieder sind zwar gegeneinander selbständig, aber nur als Glieder dieses Organismus erfüllen sie ihre spezifische Funktion, während sie unabhängig davon ein gegen die Funktion des Organismus gleichgültiges Objekt wären. Sie sind Akzidenz des Lebendigen. Umgekehrt ist die Seele aber ebensowenig unabhängig von ihrer Gestalt. Obgleich sie als das den Organismus organisierende Prinzip mehr ist, als nur die Summe der Teile des Organismus, ist sie an dessen Sein und Gestalt notwendig gebunden. Sie ist die Einheit Unterschiedener, d. h. ein negatives Prinzip, das als solches kein selbständiges Bestehen hat. Stirbt also der Organismus, dann mit ihm die Seele. Diese wechselseitige Verwiesenheit von Körper und Seele aufeinander begründet ihre Einheit, die Gestalt des Organismus. Die Gestalt des Lebendigen ist für andere Lebendige wahrnehmbar: „Diese Selbständigkeit der Gestalt erscheint als ein bestimmtes, für ande res, denn sie ist ein entzweytes; und das Aufheb en der Entzweyung geschieht insofern durch ein anderes.“82 Entzweit ist das Lebendige also nicht nur in sich als Substanz und Akzidenz, sondern auch, indem es andere belebte Sinnenwesen von sich unterscheidet. Die Relation auf die anderen Lebewesen bestimmt nun die Reproduktion: als Nahrungsprozeß bringt sie die Negation der anderen mit sich, hingegen als Fortpflanzungsprozeß die Identifikation mit anderen Lebewesen und das Setzen neuer Individualität. Zunächst behauptet aber das Exemplar seine Selbständigkeit gegen andere Lebewesen. Es verleugnet die Gattungszusammengehörigkeit mit anderen Exemplaren, in dem es sie „aufzehrt“. „Im ersten Momente ist die bestehende Gestalt; als f ü r s i c h s e y e n d , oder in ihrer Bestimmtheit unendliche Substanz tritt sie gegen die a l l g e m e i n e Substanz auf, verläugnet diese Flüssigkeit und Continuität mit ihr und behauptet sich als nicht in diesem Allgemeinen aufgelöst, sondern vielmehr als durch die Absonderung von dieser ihrer unorganischen Natur, und durch das Aufzehren derselben sich erhaltend.“83

Die Metapher des Aufzehrens ist mehrdeutig. Zum einen ist damit das Auffressen anderer Exemplare der Gattung der belebten Sinnenwesen gemeint. Dieses Aufzehren ist physische Tätigkeit, sowohl das aufzehrende Leben als auch das, was aufgezehrt wird, sind insofern organischer Natur. Hegel spricht aber vom Aufzehren der „unorganischen Natur“. Unorganisch ist der Begriff des Lebens und damit zugleich die Allgemeinheit 82 83

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 105. Ebd., 106. Alexandre Kojève unterscheidet einerseits die menschliche und die tierische Begierde „durch die Tatsache, daß sie sich nicht auf eine reales, ‚positives‘ gegebenes Objekt, sondern auf eine andere Begierde richtet. […] Ebenso ist die Begierde, die sich auf ein natürliches Objekt richtet, nur in dem Maße menschlich, als sie durch die Begierde eines anderen, die sich auf das gleiche Objekt bezieht, ‚vermittelt‘ wird: es ist menschlich zu begehren, was die anderen begehren, weil sie es begehren.“ Alexandre Kojève. „Kommentar zu Phänomenologie des Geistes.“ In Hegel in der Sicht der neueren Forschung, hrsg. v. Iring Fetscher. Darmstadt, 1973, 100. Die Begierde eines anderes begehren heiße, „daß der Wert, der ich bin oder den ich ‚repräsentiere‘, der von diesem anderen begehrte Wert sei: ich will, daß er meinen Wert als seinen Wert ‚anerkennt‘.“ Ebd., 101. Aus der Konkurrenz um die Anerkennung der Werte leitet er dann den Kampf auf Leben und Tod als einen ‚Prestigekampf‘ ab, aus dem das Selbstbewußtsein erst hervorgehe. Kojève geht soweit zu behaupten, daß es ohne diesen ‚Prestigekampf‘ auf Leben und Tod „auf Erden niemals menschliche Wesen gegeben“ (Ebd.) hätte. Mit dieser Interpretationsweise unterläuft er die Differenz von an und für sich seiendem Bewußtsein: Menschliche Wesen hätte es ohne den Kampf schon gegeben, aber im Kampf erlangen sie erst das Bewußtsein ihrer Endlichkeit

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der Gattung belebter Sinnenwesen. In diesem Zusammenhang bedeutet Aufzehren, daß das lebendige Individuum sich gegen alle anderen Lebendigen und gegen die Gattung als Individuum bestimmt, indem es andere Exemplare aufzehrt. Dieser Prozeß „ist itzt für den U nte rsch ie d, welcher an und für sich selbst, und daher die unendliche Bewegung ist, von welcher jenes ruhige Medium aufgezehrt wird, das Leben als Leb en d ig es.“84 Derjenige Organismus, der die „unorganische Natur“ aufgezehrt hat, reproduziert sich als Lebendiges, d. h. körperlich wie seelisch auf Kosten der Allgemeinheit der Gattung belebter Wesen, die er negiert, wenn er andere Individuen verzehrt. Darauf, daß der Prozeß des Lebens nur für einen Teil der Exemplare eine positive Erfahrung ist, während er für andere den Tod bedeutet, geht Hegel nicht weiter ein, denn: „[d]as absolute Nichts denkt sich nicht“85, und darum, sich zu denken, ist es Hegel zu tun. Der Tod ist keine Erfahrung für das Bewußtsein, sondern zweckwidrig, so daß das Aufzehren hier in der positiven Bedeutung der Reproduktion des Individuums erscheint, nicht als das Ende der Bewegung. Den Fortgang der Bewegung des Lebens bestimmt Hegel so, daß durch das Aufzehren nicht nur andere Exemplare, sondern mit ihnen auch der Unterschied der Exemplare gegeneinander verschwinde, so daß ihre Gattungsallgemeinheit, ihre Belebtheit, restituiert wird. Gleichzeitig negiere das Individuum nicht nur den Unterschied, sondern setze ihn auch in sich, so daß sich das Wesen zugleich entzweite „Denn da das We se n der individuellen Gestalt, das allgemeine Leben, und das für sich seyende an sich einfache Substanz ist, so hebt es, indem es das Andre in sich setzt, diese seine E in fachh eit oder sein Wesen auf, d. h. es entzweyt sie, und diß Entzweyen der unterschiedslosen Flüssigkeit ist eben das Setzen der Individualität.“86 Während die Bewegung des Begriffs bruchlos von der einfachen Negation zur Negation der Negation übergeht, wechselt das der Bewegung zugrundeliegende Modell: Es ist nicht mehr an Reproduktion durch Ernährung, sondern durch geschlechtliche Fortpflanzung gedacht. Aber auch diese Differenz, die für jedes empirische Lebewesen und jeden Biologen ein Faktum ist, wird bei Hegel zumindest in der Phänomenologie nicht weiterer erläutert.87 84 85 86 87

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 106. Adorno u. Horkheimer. Dialektik der Aufklärung, 243. Hegel. Phänomenologie des Geistes, 106. Wenn die Penthesilea von Kleist den Achilles auffrißt, um sich mit ihm zu vereinigen, dann ist das auch als Persiflage des Hegelschen Gedankens zu verstehen. Das Auffressen ist kein Akt der Vereinigung, sondern im Gegenteil ein Akt der Vernichtung des anderen, dem gegenüber die Liebe als Akt der Vereinigung gleichgültig ist: „Jetzt gleichwohl lebt der Ärmste noch der Menschen,/ Den Pfeil, den weit vorragenden, im Nacken,/ Hebt sich wiederum und will entfliehn;/ Doch, hetz! Schon ruft sie: Tigris! Hetz, Leäne!/ Hetz, Sphinx! Melampus! Dirke! Hetz, Hyrakaon!/ Und stürzt – stürzt mit der ganzen Meute, o Diana!/ Sich über ihn, und reißt – reißt ihn beim Helmbusch,/ Gleich einer Hündin, Hunden beigesellt,/ Der greift die Brust ihm, dieser greift den Nacken,/ Daß von dem Fall der Boden bebt, ihn nieder!/ Er, in dem Purpur seines Bluts sich wälzend,/ Rührt ihre sanfte Wange an, und ruft:/ Penthesilea! Meine Braut! was tust du?/ Ist dies das Rosenfest, das du versprachst?/ Doch sie – die Löwin hätte ihn gehört,/ Die hungrige, die wild nach Raub umher,/ Auf öden Schneegefliden heulend treibt,/ Sie schlägt, die Rüstung ihm vom Leibe reißend,/Den Zahn schlägt sie in seine weiße Brust,/ Sie und die Hunde, die wetteifernden,/ Oxus und Sphinx den Zahn in seine rechte,/ In seine linke sie; als ich erschien,/ Troff Blut von Mund und Händen ihr herab.“ Heinrich von Kleist. „Penthesilea. Ein Trauerspiel.“ In Werke in einem Band, hrsg. v. Helmut Sembdner. München/Wien, 1996, 329 f.

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Erst nachdem diese Stufen vollständig durchlaufen sind, ist die Bewegung des Begriffs und damit der „Kreislaufs des Lebens“ vollendet. Aus diesem Kreislauf geht der Begriff der einfachen Gattung hervor als derjenige Begriff, in dem der Kreislauf bezeichnet ist. Die einfache Gattung, also die belebter, nicht vernunftbegabter Sinnenwesen, existiert wiederum nicht unabhängig von einzelnen Phasen des Prozesses, noch unabhängig von den Gestalten, die diesen Prozeß durchlaufen. Deshalb ist der Kreislauf des Lebens als vollendete Bewegung nicht für die Individuen, sondern nur für dasjenige Bewußtsein, das den Kreislauf des Lebens intellektuell nachvollzieht. Indem dieses Bewußtsein damit zugleich seinen eigenen Lebensprozesses begreift, ist es Selbstbewußtsein: „Sie [die Einheit, M. B.] ist die e i n fa c h e G a t t u n g, welche in der Bewegung des Lebens selbst nicht f ü r s i c h A LS d i ß E i n f a c h e e x i s t i r t ; sondern in diesem R e s u lt a t e verweist das Leben auf ein anderes, als es ist, nemlich auf das Bewußtseyn, für welches es als diese Einheit, oder als Gattung, ist. Diß andere Leben aber, für welches die G a t t u n g als solche und welches für sich selbst Gattung ist, das Selbstbewußtseyn, ist sich zunächst nur als dieses einfache Wesen, und hat sich als r e i n e s I c h zum Gegenstande; in seiner Erfahrung, die nun zu betrachten ist, wird sich ihm dieser abstracte Gegenstand bereichern, und die Entfaltung erhalten, welche wir an dem Leben gesehen haben.“88

Das Selbstbewußtsein war bislang nur tautologisch bestimmt: Ich = Ich. Es ist mit sich identisch, deshalb steht alles, was nicht es selbst ist, im Widerspruch zur eigenen absoluten Identität. Nicht nur das Lebendige, sondern auch das Selbstbewußtsein hat deshalb die Begierde, andere Exemplare, andere Sinnenwesen aufzuzehren, um seine Sichselbstgleichheit zu bestätigen. Durch die Vernichtung des Anderen erlangt das Selbstbewußtsein zwar tatsächlich die Gewißheit seiner selbst, aber diese Gewißheit verschwindet zugleich auch mit dem vernichteten Anderen. Anders als das Aufzehren des Lebendigen resultiert aus der Vernichtung nicht das Aufheben des Anderen, sondern tatsächlich dessen Ende. Darin bleibt das Andere gegen das vernichtende Selbstbewußtsein selbständig und die Begierde unbefriedigt. Die Gewißheit des Selbstbewußtseins ist deshalb von der Existenz des anderen abhängig: „daß diß Aufheben sey, muß diß Andere seyn.“89 Es kann daher entweder nur von neuem ein weiteres Exemplar vernichten, ohne daß das dem Prozeß zugrundeliegende Bedürfnis, sich in einem anderen bestätigt zu finden, jemals prinzipiell zu befriedigen wäre. Oder es findet ein anderes Wesen vor, das ihm die Befriedigung seiner Begierde ermöglicht, weil es sowohl selbständig existiert, als auch die Negation an sich hat. Weil diese Negation nicht der Tod sein kann, kann dieser Widerspruch nur vermittelt werden, indem dieses Andere die Negation an sich selbst vollzieht und zwar nicht nur partiell, sondern als absolute Negation des ganzen Wesens. Ein solches Wesen aber ist ebenfalls ein Selbstbewußtsein: „Um der Selbständigkeit des Gegenstandes willen kann es daher zur Befriedigung nur gelangen, indem dieser selbst die Negation an ihm vollzieht, und er muß diese Negation seiner selbst an sich vollziehen, denn er ist a n s i c h das negative, und muß für das andre seyn, was er ist. 88 89

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 107. Ebd.

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Selbstbestimmung und Herrschaft in der Phänomenologie Indem er die Negation an sich selbst ist, und darin zugleich selbständig ist, ist er Bewußtseyn. An dem Leben, welches der Gegenstand der Begierde ist, ist die N e g a t i o n entweder a n e i n e m a n d r e n , nemlich an der Begierde, oder als B e s t i m m t h e i t gegen eine andere gleichgültige Gestalt, oder als seine u n o r g a n i s c h e a l l ge m e i n e N a t u r . Diese allgemeine selbständige Natur aber an der die Negation als absolute ist, ist die Gattung als solche, oder als S e l b s t b e wu ß t s e y n . D a s S e l b s t b e wu ß t s e y n e r r e i c h t s e i n e B e fr i e d i g u n g n u r i n e i n e m a nd e r e n S e l b s t b e w u ß t s e y n . “90

Die Begierde des Selbstbewußtseins kann nur in und durch Seinesgleichen befriedigt werden, weil seinesgleichen willensbegabt ist und daher die Freiheit besitzt, seiner eigenen Unterwerfung zuzustimmen. Diese Zustimmung bedeutet die Zustimmung zur eigenen Zerrüttung, denn das Subjekt verzichtet auf die Realisierung der eigenen Freiheit, um am Leben zu bleiben. Es affirmiert sich als Leben und negiert sich als Selbstbewußtsein. Inwieweit diese Paradoxie logisch oder historisch zu erklären ist, muß sich zeigen. Das Selbstbewußtsein, das seine adäquate Realisierung in einem anderen Selbstbewußtsein hat, ist der Begriff des Geistes, die Einheit der für sich seienden Selbstbewußtseine: „Ich , das Wir, und Wir, das Ic h ist.“91 Die erste Stufe des Geistes stellt aber die Reflexion auf die Nichtidentität der Selbstbewußtseine im Herrschaftsverhältnis dar, die so zum notwendigen Moment des Geistbegriffs wird, dessen adäquate Gestalt aber die Realisierung der Gleichheit sein muß. Hegel selbst sieht erst die bürgerliche bzw. sittliche Gesellschaft als die historische Realisierung des Geistbegriffs an, während er die historische Entwicklung bis dahin als deren Vorstufe betrachtet. Am Ende von HerrschaftKnechtschaft steht deshalb auch in der Phänomenologie nicht der objektivierte Geistbegriff, aber es wird behauptet, daß der Geist das Herrschaftsverhältnis produktiv in sich aufhebt und spätestens mit der Sittlichkeit ein emanzipiertes Verhältnis unter den Individuen objektiviert wird. Dagegen ist aber zu fragen, ob Herrschaft überhaupt in diesen Begriff integrierbar ist oder ob Geist und Herrschaft praktisch und damit auch philosophisch unvereinbar sind.

b) Herrschaft und Knechtschaft Hegel argumentiert mit dem Anspruch, durch die Reflexion der historisch-praktischen Bedingtheit des Selbstbewußtseins einen Begriff desselben zu konstruieren, der, seine Beschränkung transzendierend, notwendiger Grund wissenschaftlicher Erkenntnisse ist. Dieser Begriff des Selbstbewußtseins ist mit dem Leben als individuierendem Prinzip vermittelt und als Geist der Gattung vernunftbegabter Sinnenwesen bestimmt worden, aber als Geist ist er noch nicht realisiert worden. Zwei selbstbewußte Individuen sind jeweils durch ihre Körperlichkeit voneinander unterschieden, aber sie gleichen sich als Selbstbewußtseine. Es haben deshalb beide das Anrecht darauf, durch den jeweils anderen als Selbstbewußtsein anerkannt zu werden, sowie den anderen anzuerkennen. Dieser Begriff der Anerkennung kann deshalb nur 90 91

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 108. Ebd.

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symmetrisch, doppelsinnig und wechselseitig sein. Symmetrisch heißt, daß für beide dasselbe Resultat – ihre Anerkennung als Selbstbewußtsein – herauskommen muß; doppelsinnig heißt, daß alles, was das eine Selbstbewußtsein an dem anderen tut, es zugleich an sich selbst tut; und wechselseitig heißt, daß beide dasselbe tun. „Die Bewegung ist also schlechthin die gedoppelte beyder Selbstbewußtseyn. Jedes sieht d a s a n d r e dasselbe thun, was es thut; jedes thut selbst, was es an das andre fodert, und thut darum was es thut, auch n ur insofern als das andre dasselbe thut; das einseitige Thun wäre unnütz; weil, was geschehen soll, nur durch beyde zu Stande kommen kann. […] S i e a n e r k e n n e n s i c h , a l s g e g e n s e i t i g s i c h a n e r k e n n e n d .“92

Wenn es gelingt, die Anerkennung als symmetrische Bewegung zu bestimmen, dann nur als kollektive Selbstbestimmung gleichberechtigter Individuen, denn Selbstbewußtsein ist als Geist Gattungsvermögen.93 Gleichberechtigt heißt dabei, daß die Individuen sich trotz ihrer Unterschiedenheit als gleiche aufeinander beziehen. Hegel bestimmt die Bewegung als Negation der Negation, aber anders als bei den bisherigen Gegenständen des Bewußtseins verhält sich das Objekt der Begierde diesmal nicht passiv, sondern will am Subjekt dieselbe Negation der Negation vollziehen. Beide Selbstbewußtseine sind also zugleich Subjekt und Objekt der Bewegung. Darin, daß beide Individuen dasselbe wollen, ist ein Interessenkonflikt angelegt, der dem telos einer gleichberechtigten Anerkennung zuwider laufen kann. Diesen grundsätzlichen Widerspruch muß Hegel vermitteln. Die erste Negation ist der Umschlag des symmetrischen Begriffs der Anerkennung, wie er sich „für uns“ darstellt, in das Selbstbewußtsein, wie es sich für das in der Erscheinung befangene Bewußtsein darstellt. Mit dem Umschlag des Begriffs in die Erscheinung ist somit der Umschlag des transzendenten Vermögens in das an sich seiende Bewußtsein bezeichnet. Für das an sich seiende Selbstbewußtsein erscheint das Verhältnis zunächst als ungleiches, weil es sich für einzig anerkennenswert hält, während es das andere als das Mittel der eigenen Anerkennung betrachtet. „Das Selbstbewußtseyn ist zunächst einfaches Fürsichseyn, sichselbstgleich durch das Ausschließen alles a n d e r n a u s s i c h ; sein Wesen und absoluter Gegenstand ist ihm I c h ; und es ist in dieser U n mi t t e l b a r k e i t , oder in diesem S e yn seines Fürsichseyns, E i n z e l n e s . Was anderes für es ist, ist als unwesentlicher, mit dem Charakter des negativen bezeichneter Gegenstand.“94

Weil das Selbstbewußtsein das Prinzip der negativen Einheit von Identität und Unterschied ist, müsse der Anspruch des selbstbewußten Individuums darauf gehen „sich als reine Negation seiner gegenständlichen Weise zu zeigen, oder es zu zeigen, an kein bestimmtes Daseyn geknüpft, an die allgemeine Einzelheit des Daseyns überhaupt nicht, nicht an das Leben geknüpft zu seyn.“95 Der Zweck der selbstbewußten Individuen ist 92 93

94 95

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 110. Deshalb irrt Kojève, wenn er feststellt, daß „in seinem Anfangszustand der Mensch niemals einfach ‚Mensch‘, sondern notwendig und wesentlich entweder Herr oder Knecht“ sei. Alexandre Kojève, „Kommentar zur Phänomenologie des Geistes.“ 103. Herrschaft ist eine geschichtliche Erscheinung, keine Notwendigkeit. Hegel. Phänomenologie des Geistes, 110 f. Ebd., 111.

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Selbstbestimmung und Herrschaft in der Phänomenologie

die Realisierung ihres jeweiligen Selbstbewußtseins, nicht die Realisierung ihrer Körperlichkeit. Weil beide denselben Anspruch auf die Realisierung und Anerkennung ihres jeweiligen Selbstbewußtseins haben, kämpfen sie miteinander darum, welches Selbstbewußtsein seinen Anspruch gegen das andere durchsetzen kann und welches sein Leben drangeben muß. Es ist also ein Kampf auf Leben und Tod. „Sie müssen in diesen Kampf gehen, denn sie müssen die Gewißheit ihrer selbst, fü r s i c h z u s e yn , zur Wahrheit an dem andern, und an ihnen selbst erheben. Und es ist allein das daransetzen des Lebens, wodurch die Freyheit, wodurch es bewährt wird, daß dem Selbstbewußtseyn nicht das Seyn, nicht die u n m i t t e l b a r e Weise, wie es auftritt, nicht sein Versenktseyn in die Ausbreitung des Lebens,– das Wesen, sondern daß an ihm nichts vorhanden, was für es nicht verschwindendes Moment wäre, daß es nur reines F ü r s i c h s e yn ist.“96

Aus diesem Kamp11f auf Leben und Tod schöpft das überlebende Bewußtsein zwei Erfahrungen: Die eine Erfahrung ist, daß beide Kämpfer ihr Leben wagten und es an dem anderen verachteten. Beide haben zur Darstellung gebracht, daß die beiden Bestimmungen ihres Wesens, vernunftbegabt und belebt zu sein, nicht von gleichem Werte sind: Nicht das Leben, sondern die Realisierung des Selbstbewußtseins ist das Ziel des Kampfes. Die andere Erfahrung ist praktisch, daß das Leben die Bedingung der Realisierung des Selbstbewußtseins ist, weil es nur als Vermögen von Sinnenwesen existiert. „Durch den Tod ist zwar die Gewißheit geworden, daß beyde ihr Leben wagten, und es an ihnen und an dem andern verachteten; aber nicht für die, welche diesen Kampf bestanden.“ 97 Die Erfahrung der eigenen Endlichkeit ist konstitutiv für das Selbstbewußtsein, weil es darin das Leben als Bedingung seiner intellektuellen Anerkennung ebenso wahrnimmt wie als Bedingung seiner Existenz. Weder ein reines Vernunftwesen, noch ein reines Sinnenwesen haben ein Selbstbewußtsein; ersteres ist reines Vermögen ohne Individualität wie in der Logik, letzteres wäre Individualität ohne erkennendes Vermögen. Die Todesangst ist praktisch und subjektiv jedem Menschen präsent, andernfalls könnte er nicht lange überleben.98 Die Transformation der akuten Todesangst im Kampf in die Erfahrung des Selbstbewußtseins endlich zu sein, ermöglicht es Hegel, zu begründen, daß das Selbstbewußtsein die Endlichkeit als Wissen von der Endlichkeit aus sich setze. Dies Wissen ist reflektiert und damit etwas anderes als die Todesangst, denn wer 96 97 98

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 111. Ebd., 112. Das hat der wissende Intellekt mit dem ästhetischen Gefühl des Erhaben gemein: „Wer sich fürchtet, kann über das Erhabene der Natur gar nicht urteilen, sowenig als der, welcher durch Neigung und Appetit eingenommen ist, über das Schöne.“ Kant. Kritik der Urteilskraft, 106. Pöggeler spricht davon, daß „[d]as selbstbewußte Lebendige um der Selbsthaftigkeit willen seinen Tod und damit seine Grenze vorwegnehmen und sich von dieser Grenze her in seiner Bestimmtheit“ ergreifen müsse (Otto Pöggeler. Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, 246.) Diese Vorwegnahme kann aber nur auf einer schon gemachten Erfahrung beruhen, nämlich der Erfahrung des Kampfes auf Leben und Tod zweier Individuen. Wenn dieser Kampf von Pöggeler dann als Vermittlung bestimmt wird, „in der beiden Seiten nur abstrakt aufeinander bezogen werden und so immer wieder auseinanderfallen“ dann ist dieser Vermittlung die praktische Erfahrung notwendig unterstellt. Sie ist insofern konkret (Ebd., 267.) Eine andere Weise der Auslegung des Kampfes geht auf das Argon-Motiv. Vgl. dazu: Nils Baratella. „Warum gekämpft wird – Zur Aufführung des Agon.“ In Berichtsband zum Symposium Kampfkunst & Kampfsport April 2011 in Bayreuth, hrsg. v. Peter Kuhn u. a., 107–115. Hamburg, 2011.

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akut um sein Leben fürchten muß, interessiert sich wenig dafür, wie der Begriff des Selbstbewußtseins zu denken ist.Umgekehrt kann ein toter Kontrahent den siegreichen nicht anerkennen. Mit dem Bewußtsein der Bedingtheit des Selbstbewußtseins spaltet sich auch seine Identität: Es ist für sich und an sich, bedingte Individualität und das Bewußtsein seiner Unbedingtheit. Im Bewußtsein dieser Ambivalenz werden seine Zwecke ebenso ambivalent: Damit es sich selbst bestimmen kann, muß es sich in seiner Einzelheit als Lebendiges reproduzieren und in seiner absoluten Negativität durch andere anerkennen lassen. Es ist technisch-praktisch ebenso interessiert wie sittlich. Entgegen der Prämisse, daß das Selbstbewußtsein das Wesen, das Leben hingegen Mittel sei, erscheinen im Resultat des Kampfes beide Zwecke als gleichberechtigt. Mehr noch scheint die Realisierung des einen Zwecks den anderen auszuschließen, weil die Reproduktion als lebendiges Individuum gerade nicht die Anerkennung des Gattungsvermögens bedeutet und umgekehrt. So entsteht der Widerspruch, daß es entweder seinen Anspruch realisiert, das einzige Wesen zu sein, dem alle anderen zu unterwerfen sind, oder es reproduziert sich als Lebendiges und damit diejenige Individualität, die dem Absolutheitsanspruch des Selbstbewußtseins entgegensteht. Vermittelt werde dieser Widerspruch dadurch, daß die Aufgabe der Realisierung der Zwecke auf verschiedene Individuen verteilt wird, so daß sich eines nur der Realisierung des reinen Fürsichseins des Selbstbewußtseins widmet, während das andere nur diejenige Individualität repräsentiert, die für die Reproduktion des Lebendigen sorgt.99 „Die Auflösung jener einfachen Einheit ist das Resultat der ersten Erfahrung; es ist durch sie ein reines Selbstbewußtseyn, und ein Bewußtseyn gesetzt, welches nicht rein für sich, sondern für ein anderes, das heißt, als s e y e n d e s Bewußtseyn oder Bewußtseyn in der Gestalt der D i n g h e i t ist. Beyde Momente sind wesentlich; – da sie zunächst ungleich und entgegengesetzt sind, und ihre Reflexion in die Einheit sich noch nicht ergeben hat, so sind sie als zwey entgegengesetzte Gestalten des Bewußtseyns; die eine das selbständige, welchem das Fürsichseyn, die andere das unselbständige, dem das Leben oder das Seyn für ein anderes, das Wesen ist; jenes ist der H e r r , diß der K n e c h t .“100

Aus dem Kampf geht eine herrschaftlich organisierte Arbeitsteilung hervor, durch die die bedingte Individualität mit ihrem Anspruch auf Anerkennung als unbedingte vermittelt werden soll. Die Unterordnung des Knechtes unter den Herren bedeutet die Unterordnung eines Selbstbewußtseins unter das Kommando des anderen. Der Grund dieses Verhältnisses ist also nicht die Setzung des freien Selbstbewußtseins als das alle Indivi99

100

Herrschaft ist ein Modell für die „List der Vernunft“, die in der Teleologie darin bestand, daß „der Zweck sich aber in die mi t t e l b a r e Beziehung mit dem Objekt setzt und z wi s c h e n sich und dasselbe ein anderes Objekt e i n s c h i e b t “ (Hegel. Lehre vom Begriff, 166). Das Objekt ist in der Herrschaft zugleich Subjekt – der Knecht. Vgl. S. 73 Hegel. Phänomenologie des Geistes, 112. Lim weist darauf hin, daß die Erfahrung des Kampfes eigentlich die Erfahrung des Individuums endlich zu sein, zugleich eine die Menschheit als Ganze betreffende Erfahrung ist. „Um sich nun als Anerkanntes zu setzen, unternimmt jeder, der an diesem Kampf teilnimmt, – es müßte eigentlich die ganze Menschheit sein – den verzweifelten Versuch, in der Mitte des einerseits ständig Verschwindenden oder Verlorengehenden, aber andererseits immer wieder neu Erzeugenden und Gewonnenen die Befriedigung seiner selbst zu erreichen.“ Sok-Zin Lim. Der Begriff der Arbeit bei Hegel, 53.

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duen vereinende Gattungsvermögen, sondern der Kampf auf Leben und Tod – ein Gewaltakt. Weil das Objekt der Unterordnung kein gegenständliches mehr ist, sondern ein anderes Selbstbewußtsein, wird das knechtische Subjekt seiner ureigensten Bestimmung zuwider nicht als Selbstzweck anerkannt, sondern zum Mittel degradiert. Das knechtische Bewußtsein ist somit zerrüttetes Bewußtsein. Das provoziert moralphilosophische Kritik: „[...] der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen sowohl auf sich selbst als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.“101 – wenn auch nicht Hegels. Denn das Verhältnis von Herr und Knecht wird von Hegel als notwendiges Durchgangsmoment zur Realisierung des Selbstbewußtseins verstanden. Damit entwickelt Hegel – paradox – die Moralphilosophie Kants weiter, die an ihrer Gegenstandslosigkeit krankte. Kant hatte die moralische Willensbestimmung davon abhängig gemacht, daß sie uneingeschränkt autonom sei, rein von jeder Fremdbestimmung durch einen äußeren Bestimmungsgrund. Das hatte zur Konsequenz, daß der kategorische Imperativ nur die Form des moralischen Gesetzes angeben konnte, nicht aber deren Inhalt. Noch der Versuch, in der Postulatenlehre mit dem Reich Gottes auf Erden den adäquaten Gegenstand der autonomen Willensbestimmung zu bestimmen, scheiterte insofern, als das Reich Gottes nur als Jenseitiges und Gegenstand der Hoffnung nicht aber als aufgeklärter historischer Zustand bestimmt werden konnte. „Die Heiligkeit der Sitten wird in diesem Leben schon zur Richtschnur angewiesen, das dieser proportionierte Wohl aber, die Seeligkeit, nur als in einer Ewigkeit erreichbar vorgestellt; weil jene immer das Urbild ihres Verhaltens in jedem Stande sein muß, und das Fortschreiten zu ihr schon in diesem Leben möglich und notwendig ist, diese aber in dieser Welt, unter dem Namen der Glückseligkeit gar nicht erreicht werden kann […] und daher lediglich zum Gegenstande der Hoffnung gemacht wird.“102

Das kritisiert Hegel mit dem Geistbegriff, indem die Individuen mit sich, ihren Lebensbedingungen und der Gemeinschaft aller Individuen vermittelt sein sollen. Indem er auf die Entstehung des Selbstbewußtseins reflektiert, beabsichtigt er das Vermögen moralischer Willensbestimmung mit seinen Existenzbedingungen zu vermitteln und die erste Bedingung dieser Vermittlung ist die Muße – die ökonomische Freistellung des Selbstbewußtseins vom Reproduktionszwang. Ein philosophisches Modell, das Hegel hier verhandelt, ist das der Sklaverei. Aristoteles hatte die Sklaverei als das ökonomische Mittel gerechtfertigt, um ein müßiges Leben führen zu können.103 Entsprechend bezieht sich der Herr in der Phänomenologie sowohl auf die Arbeitskraft seines Knechtes als auch auf dessen Arbeitsprodukt, von dem Herr und Knecht leben – der Herr allerdings, ohne dafür zu arbeiten. Der Herr ist sich selbst Zweck und der Knecht sein Erfüllungsgehilfe. Damit stellt sich der Prozeß der 101 102 103

Kant. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 50. Kant. Kritik der praktischen Vernunft. Hrsg. v. Karl Vorländer. Hamburg, 1990, 148. Vgl. auch S. 63 ff.

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Anerkennung für beide entgegen der Prämisse Hegels nicht als symmetrisch, doppelund wechselseitig dar, sondern ist vielmehr asymmetrisch. Der Herr ist das fürsichseiende Bewußtsein durch seine Beziehung auf den Knecht und seine darüber vermittelte Beziehung auf das Sein, an welches der Knecht gebunden ist. „Der Herr bezieht sich a u f d e n K n e c h t m i t t e l b a r d u r ch d a s s e l b s t ä n d i g e S e yn ; denn eben hieran ist der Knecht gehalten; es ist seine Kette, von der er im Kampfe nicht abstrahiren konnte, und darum sich als unselbständig, seine Selbständigkeit in der Dingheit zu haben, erwies. Der Herr aber ist die Macht über diß Seyn, denn er erwies im Kampfe, daß es ihm nur als ein negatives gilt; indem er die Macht darüber, diß Seyn aber die Macht über den Andern ist, so hat er in diesem Schlusse diesen andern unter sich.“ 104

Weil der Knecht trotz seiner untergeordneten Stellung Selbstbewußtsein hat, ist er an sich frei, seinen Willen zu bestimmen. Der Herr kann deshalb den Willen des Knechtes nicht in derselben Weise unterwerfen wie er irgendwelche Dinge unterwerfen kann, sondern nur mittelbar. Die Lebensbedingungen des Knechtes müssen derart beschaffen sein, daß dieser selbst ein Interesse daran hat, die Zwecke des Herren auszuführen. Deshalb ist das Mittel der Machtausübung die Todesangst des Knechtes – dessen vermeintliche Schwäche bestand darin, im Kampf vom Sein nicht abstrahieren zu können. Der Herr hatte hingegen im Kampf bewiesen, daß ihm das Sein das Negative ist. Der Knecht, der leben will,105 aber nicht die Macht über die Mittel hat, die er dazu benötigt, kann sich nur reproduzieren, wenn er das Sein bearbeitet, welches ihm zugleich durch die Herrschaft entfremdet ist. „[...] der Knecht bezieht sich als Selbstbewußtseyn überhaupt, auf das Ding auch negativ und hebt es auf; aber es ist zugleich selbständig für ihn, und er kann darum durch sein Negiren nicht bis zur Vernichtung mit ihm fertig werden, oder er b e a r b e i t e t es nur.“106 104

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Hegel. Phänomenologie des Geistes, 113. Pöggeler wendet sich gegen solche Interpretationsweisen von Herrschaft und Knechtschaft, die sich auf das Faktum beziehen, „daß Hochkulturen einmal durch Überschichtung und Herrschaft sich gebildet haben. Die Darstellung dieses Verhältnisses soll nicht den Bezug des Herrn zum Knecht im antiken Oikos wiedergeben oder für den Herrn das alteuropäische Adelsethos geltend machen.“ Otto Pöggeler. Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, 264. Man könne zwar das abstrakt-begriffliche Verhältnis an Modellen illustrieren, aber „von der konkreten gesellschaftlichen Rollenverteilung und dem Rollenspiel handelt Hegel in der Analyse des Selbstbewußtseins überhaupt noch nicht.“ Ebd. Wir stimmen insoweit zu, als es in Herrschaft und Knechtschaft tatsächlich nicht um Gesellschaftstheorie im eigentlichen Sinne, sondern um die Erfahrung des Bewußtseins geht. Aber diese Erfahrung hat ihrerseits gesellschaftliche Bedingungen, so z. B. die Produktion von Mehrprodukt. Hegel reflektiert diese Bedingungen sehr wohl in Herrschaft-Knechtschaft und zwar mit dem Ziel, sie im Wissen des Selbstbewußtseins von sich zu vermitteln. Damit ist auch diese Bestimmung in dem Sinne äquivok, wie es schon für die Begriffe der Wissenschaft der Logik gezeigt worden war: Was als Begriff oder Wissen dargestellt wird, kommt nicht ohne Zitat des empirischen Gegenstandes aus und verstrickt sich dadurch in Ungereimtheiten. In diesem Sinne wird nicht „die Logik zum bloßen ‚Geld‘ des Geistes erklärt“ wie Pöggeler es Marx unterstellt, sondern das Verhältnis von Begriff und Gegenstand als der Philosophie immanentes und transzendentes untersucht (Ebd., 263.) Obgleich das von Hegel bestimmte Wesen des Selbstbewußtseins die Vernichtung anderer Selbstbewußtseine ist, widerspricht die Selbsttötung diesem Begriff, denn es kann seine absolute Negation nicht wollen und auch die Vernichtung will es nur um seiner Selbstbestätigung willen. Daß heißt aber nicht, daß es nicht trotzdem Selbsttötungsabsichten gibt, sondern nur, daß die Vernunft nicht der einzige Bestimmungsgrund des Willens ist. Hegel. Phänomenologie des Geistes, 113.

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Der Herr bestimmt über die Verteilung des Produktes, und kann durch Unterlassen das Leben des Knechtes bedrohen. Der Knecht ist somit erpreßbar. Dabei ist es zunächst gleichgültig, ob der Herr unmittelbar körperliche Gewalt androht oder den Eigentumstitel an den Produktionsmitteln inne hat, die der Knecht für seine Arbeit benutzen muß, denn wenn der Knecht für deren Nutzung die Zustimmung des Herren braucht, dann muß er sich auch auf dessen Bedingungen einlassen. Dagegen genießt der Herr das Arbeitsprodukt des Knechtes rein, d. h. ohne selbst arbeiten zu müssen. Die Alternative zu dieser Machtverteilung wäre, das Herrschaftsverhältnis insgesamt umzuwerfen. Das wäre aber wiederum ein Kampf auf Leben und Tod und nach Hegel daher ein Rückfall, weil das Herrschaftsverhältnis ein notwendiges Durchgangsmoment zur politischen Freiheit ist. Auf jeden Fall würde der Knecht mit dem Herrschaftsverhältnis auch seine ökonomische Existenzgrundlage in Frage stellen. Das wäre nur aus einem Freiheitsverständnis heraus möglich, das die existierenden Bedingungen nicht als notwendiges Übel betrachtet: „Dem Herrn dagegen wi r d durch diese Vermittlung die u n mi t t e l b a r e Beziehung als die reine Negation desselben, oder der Ge n u ß ; was der Begierde nicht gelang, gelingt ihm, damit fertig zu werden, und im Genusse sich zu befriedigen. Der Begierde gelang diß nicht wegen der Selbständigkeit des Dinges; der Herr aber, der den Knecht zwischen es und sich eingeschoben, schließt sich dadurch nur mit der Unselbständigkeit des Dinges zusammen, und genießt es rein; die Seite der Selbständigkeit aber überläßt er dem Knechte, der es bearbeitet.“107

Im Kommando über die Arbeit des Knechtes finde der Herr die Anerkennung seines Selbstbewußtseins, denn er verkörpere das „reine wesentliche Tun“, dagegen der Knecht nur „unwesentliches Tun“. Ausgangsbedingung des Herr-Knecht-Verhältnisses war der Gewaltakt des Kampfes auf Leben und Tod, aus dem die Unterordnung des Knechtes folgte und damit die Zerrüttung seines Selbstbewußtseins. Diese Ausgangsbedingung erweist sich im Resultat als Mangel des Anerkennungsverhältnis insgesamt: Die Prämisse der Anerkennung ist, daß das Selbstbewußtsein seinesgleichen braucht, um sich realisieren zu können. Indem aber der Knecht unterworfen wird, ist er dem Fürsichsein des Selbstbewußtseins nicht mehr das adäquate Objekt, sondern vielmehr unselbständig und abhängig vom Herren. „Es ist dadurch ein einseitiges und ungleiches Anerkennen entstanden.“108 Um die im Begriff der Anerkennung unterstellte Symmetrie wieder herzustellen, geht Hegel zur Betrachtung der Arbeit des Knechtes über. Über dieses Argument Hegels hinaus liegt aber die Mangelhaftigkeit des Anerkennungsverhältnisses nicht nur auf der Seite des Knechtes, sondern ebenso auf der Seite des Herren. Dem Herren ist nicht die Realisierung seines Selbstbewußtseins der Zweck seines Tuns, sondern die Verfügung über das Mehrprodukt, denn der Zweck des Herren ist nur in seinem Tun gegen den Knecht real, und dieses Tun ist die Ausübung seiner ökonomischen Macht. Damit erkennt auch der Knecht nicht das Fürsichsein des Herren an, sondern dessen ökonomische Stellung. Hegel will darauf hinaus, daß das Selbstbewußtsein erstens das Herrschafts-Knechtschaftsverhältnis als Mittel seiner Realisierung 107 108

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 113. Ebd.

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selbst setzt und daß es zweitens diese Bewegung auch wieder aufhebt und darin zu sich selbst zurückkehrt. Die Anerkennung des Herren durch den Knecht entspricht der ersten Negation, die durch das Selbstbewußtsein gesetzt sein soll. Die Negation der Negation liege dann in der Anerkennung der Knechte als diejenigen Individuen, die die Natur praktisch beherrschen. Wenn aber der Zweck des herrschenden Bewußtseins nicht die Realisierung des Selbstbewußtseins, sondern die Verfügung über das Mehrprodukt ist, und wenn der Knecht gar nicht das adäquate Objekt der Realisierung des Selbstbewußtseins ist, weil er sich unterworfen hat, dann ist die Bewegung keine Bewegung des Selbstbewußtseins, sondern ein technisch-praktisches Kalkül. Herrschaft ist eine historisch reale Organisationsform der Reproduktion, die historische Bedingung der Entwicklung des Selbstbewußtseins in fast allen einheimischen Bereichen des Geistes: der Religion, der Kunst, der Philosophie, der Wissenschaft. Nur weil die Mehrheit der Menschen ein Mehrprodukt produziert hat und produziert, von dem ein kleinerer Teil wie Forscher, Priester, Fürsten, Kaiser, Könige ökonomisch profitieren konnten, konnte es auch einen wissenschaftlich-technischen, kulturellen und politischen Fortschritt geben. Aber dadurch wird Herrschaft nicht vernünftig. Sie ist keine Setzung selbstbewußter, sondern technisch-praktischer Zwecke und beruht auf der gewalttätigen Unterwerfung von Menschen. Auch der Kampf auf Leben und Tod diente historisch nicht dem Zweck, das Fürsichsein des Selbstbewußtseins zu realisieren, sondern war Ausdruck der Konkurrenz um die knappen Lebensmittel. Gewalt ist etwas anderes als die Reflexion darauf. Die Emanzipation der Knechte kann sich nicht auf einen Einzelnen beziehen, sondern muß ein kollektiver Akt sein – Anerkennung und Aufhebung der Knechtschaft insgesamt, denn die Mechanismen der Herrschaft beziehen sich gerade darauf, das Individuum als Individuum zu instrumentalisieren, indem der Lebenswille zum Mittel der Beherrschung gemacht wird und die individuelle Arbeitskraft zum Mittel der Produktion von Reichtum. Dagegen wird der Geist der Individuen durch die Herrschaft entfremdet: Die Planung wie das Arbeitsprodukt gehören nicht den Unterworfenen, sondern denen die herrschen. So ist der Genuß des Mehrproduktes die Erfahrung einer kleinen Elite, denn erstens ist der Sieg des Herren auf seine individuelle Stärke und Geschicklichkeit zurückzuführen, und um die Muße des Herren zu ermöglichen, ist es je nach Produktivkraftniveau in größerem oder kleinerem Umfange nötig, daß er über das Mehrprodukt Vieler verfügt. In der Herrschaft ist es exklusiv Wenigen möglich, ihr Selbstbewußtsein auf Kosten der Unterwerfung Vieler zu realisieren, während die Vielen davon ausgeschlossen sind. Damit ist der Begriff des Selbstbewußtseins hier aber nicht mehr Geistbegriff, denn im Wir wird zwischen den selbstbewußten und den arbeitenden Individuen unterschieden. Wenn der Knecht, der beherrscht wird, weil er leben will, in seiner Unterwerfung eine Erfahrung machen soll, an deren Ende die Anerkennung seines Selbstbewußtseins als allgemeines Vermögen steht, dann kann es sich nicht um die Erfahrung eines Einzelnen handeln, sondern dann muß die Erfahrung kollektiv sein – von der Realisierung individueller Interessen hin zur Realisierung des Geistes. Deshalb wechselt Hegel mit der Betrachtung der Erfahrung des Knechtes den Gegenstand von der Be-

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trachtung der Individuen hin zur Betrachtung aller Individuen, die entweder Knechte sind oder Herren: Herrschaft und Knechtschaft.109 Der Knecht ist sich seines selbstbewußten Vermögens noch nicht bewußt. In der Furcht des Knechtes vor dem Tod und der Unterwerfung unter das Kommando des Herren liegt die Antizipation des Todes, die Vorstellung des absoluten Flüssigwerdens alles Bestehens.110 Die Antizipation setzt das Bewußtsein der eigenen Endlichkeit voraus, aber dieses Bewußtsein ist für den Knecht bislang nicht zum Selbstzweck seines Handelns geworden. Statt dessen betrachtet er das Selbstbewußtsein des Herren als die ihn beherrschende Macht. Auf der anderen Seite bleibt das Vermögen des Knechtes aber auch nicht passiv, sondern realisiert sich durch seine Arbeit am Sein. „Diß Moment des reinen Fürsichseyns ist auch fü r e s , denn im Herrn ist es ihm sein G e g e n s t a n d . Es ist ferner nicht nur diese allgemeine Auflösung ü b e r h a u p t , sondern im Dienen vollbringt es sie wi r k l i c h ; es hebt darin in allen e i n z e l n e n Momenten seine Anhänglichkeit an natürliches Daseyn auf und arbeitet dasselbe hinweg.“111

Der Knecht realisiert seine technisch-praktischen Zwecke in der Natur, die er sich dadurch aneignet. Angeeignete Natur ist nicht mehr fremd und furchteinflößend, sondern wird beherrscht und dient als Lebensmittel. In seinen Arbeitsprodukten erkenne, Hegel zufolge, der Knecht seine Macht über die Natur. Dadurch kommt er zum Bewußtsein seiner Selbständigkeit gegen das Sein, aber auch gegen den Herren, der vom Produkt der knechtischen Arbeit abhängig bleibt, weil er die Natur gerade nicht beherrscht, sondern nur den Knecht. „Die Begierde hat sich das reine Negiren des Gegenstandes, und dadurch das unvermischte Selbstgefühl vorbehalten. Diese Befriedigung ist aber deßwegen selbst nur ein Verschwinden, denn es fehlt ihr die g e g e n s t ä n d l i c h e Seite oder das B e s t e h e n . Die Arbeit hingegen ist g e h e m mt e Begierde, a u fg e h a l t e n e s Verschwinden, oder sie b i ld e t . Die negative Beziehung auf den Gegenstand wird zu F o r m desselben und zu einem b l e i b e n d e n , weil eben dem arbeitenden der Gegenstand Selbständigkeit hat. Diese n e g a t i v e Mitte oder das formirende Th u n , ist zugleich die E i n z e l n h e i t oder das reine Fürsichseyn des Bewußtseyns, welches nun in der Arbeit außer es in das Element des Bleibens tritt; das arbeitende Bewußtseyn kommt also hiedurch zur Anschauung des selbständigen Seyns, a l s s e i n e r s e l b s t .“112 109

110 111 112

Eine Frage, die im Zusammenhang dieser Arbeit nicht näher erläutert wird, ist die nach den religiösen Implikationen des Herrschafts-Knechtschafts-Kapitels und der darin anklingenden Sündenfallthematik. Vgl. Hegel. Phänomenologie des Geistes, 114. Ebd., 114. Ebd. Ernst Michael Lange kritisiert das Argument der Anerkennung des Knechtes sprachanalytisch. „Es dürfte deutlich geworden sein, worauf sich Hegels Identitätsthese über den Handlungszweck stützt – auf den die sprachliche Formulierung des subjektiven und des zugehörigen objektiven Zwecks betreffenden Umstand, daß die handlungscharakterisierende Komponente in beiden Formulierungen dieselbe sprachliche Gestalt haben kann.“ Ernst Michael Lange. Das Prinzip Arbeit, 30. Ihm entgeht, daß die Realisierung eines Zwecks in einem Material reflexiv ist, daß das Arbeitsprodukt ein ausgeführter Zweck ist, ohne einfach nur mit dem Zweck identisch zu sein. Statt dessen faßt er das Zweckverhältnis eindimensional als Identitätsverhältnis, was auf der sprachanalytischen Argumentationsebene, die von den Gegenständen und den Problemen im Verhältnis von Begriff und Gegenstand abstrahiert, folgerichtig, aber unzureichend ist. Oder wie Lange selbst sagt: „Auch daß die zweite Negation ein positives Ergebnis hat und nicht einfach eine aussagenlogische Operation rückgängig macht, ist vor dem Hintergrund des handlungstheoreti-

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Die Erfahrung des Knechtes, gegenüber der Natur selbständig zu sein, ist zunächst eine individuell beschränkte Erfahrung. Zwar vermag der einzelne Knecht ein über das Maß des zu seiner eigenen Reproduktion hinaus nötiges Mehrprodukt produzieren, er vermag auch planvoll zu handeln und aus seinen Fehlern zu lernen – aber eben nur innerhalb gewisser zeitlicher und räumlicher Grenzen. Darüber, was der Knecht mit seiner Zeit anzufangen hat, entscheidet aber der Herr und auch das Arbeitsprodukt gehört nicht dem Knecht, sondern dem Herren. Es ist deshalb zu fragen, wer das Subjekt der Bildung sein soll, die die Anerkennung des Knechtes durch den Arbeitsprozeß bestimmt. Die Bildung durch Arbeit ist einerseits technisch und beruht auf Erfahrung. Andererseits meint sie die Selbsterkenntnis des Knechtes, seinen realisierten Willen in den Arbeitsprodukten anzuschauen. Die Anerkennung ist Anerkennung durch Arbeit, weil der Knecht, anders als der Herr die Natur praktisch beherrscht. Es ist aber nicht die Anerkennung eines freien Selbstbewußtseins, weil die Abhängigkeit des Knechtes auch einen materiellen Grund hat: die Abhängigkeit vom Sein, über das der Herr die Macht hat. Der Herr lebt in dem Selbstgefühl, reines Fürsichsein zu sein, aber dieses Selbstgefühl hat keinen Inhalt, als die Verfügung über das Mehrprodukt des Knechtes. Der Knecht hingegen soll seine Anerkennung durch seine Arbeit erhalten. Er erfahre durch die Arbeit, daß er Macht über die Natur hat, aber solange er nicht über das Mehrprodukt verfügen kann, bleibt seine Bildung dem Zweck des Herren unterworfen. Damit schaut der Knecht nicht seinen Zweck in den Arbeitsprodukten an, sondern den des Herren, so daß die technisch-praktische Bildung des Knechtes nicht mit der Bildung seines Selbstbewußtseins notwendig einhergeht. Die Herrschaft weiß die technische Bildung des Knechtes anzuwenden und das Arbeitsprodukt ist dem Knecht entfremdet. Damit der Knecht sein Selbstbewußtsein realisieren kann, wäre deshalb nicht nur die Bildung seines Bewußtseins nötig, sondern ebenso die materielle Überwindung seiner ökonomischen Abhängigkeit.113 Diese ökonomische Abhängigkeit ist der Grund für die Entfremdung des Geistes. Dessen Organisation und Produkt obliegt der Herrschaft, so daß die Überwindung dieses Zustandes entscheidend von der Überwindung der ökonomischen Organisation abhängt. Das klingt einerseits in dem Wechsel der Betrachtung der persönlichen Abhängigkeit von Herr und Knecht zur Betrachtung der Prinzipien von Herrschaft und Knechtschaft an, andererseits betrachtet Hegel diesen Übergang als einen Übergang in der Erfahrung, die durch die ökonomischen Bedingungen nicht gefährdet oder verhindert wird. Das Wissen um die Abhängigkeitsverhältnisse und deren Kritik ist zwar Bedingung der Überwindung der Herrschaft. Damit behält Hegel recht. Wenn aber der Grund der Abhängigkeit nicht allein das Bewußtsein ist, sondern darüber hinaus die ökonomischen Verhältnisse die Abhängigkeiten objektivieren, dann reicht die Kritik des Bewußtseins nicht hin.

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schen Beispiels nicht mehr ganz unverständlich und also auch nicht allein als logischer Nonsens zu beurteilen.“ Ebd., 33. Leider hat diese Überlegung bei Lange keine weiteren Konsequenzen. Optimistischer im Sinne Hegels bleibt hingegen Lim: „Das bedeutet nämlich, daß der Knecht der eigentliche Sieger in diesem Kampf des Anerkennens ist, weil er nicht nur ein unmittelbares, vertrauliches Verhältnis zu dem Dinge hat, sondern auch es für eigene Zwecke zu verwenden und auszuarbeiten imstande ist.“ Sin-Zok Lim. Der Begriff der Arbeit bei Hegel, 61.

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Die Überwindung der ökonomischen Abhängigkeit könnte entweder dadurch erreicht werden, daß der Knecht individuell den Kampf auf Leben und Tod aktualisiert – Immerhin hat auch der Knecht Macht über den Herren, weil dieser die Natur eben nicht beherrscht. Der Herr lebt vom Arbeitsprodukt des Knechtes. Oder es werden kollektiv die Bedingungen geschaffen, die Herrschaft praktisch überflüssig machen, also die technische Entwicklung eines Produktivkraftniveaus, von dem alle gleichermaßen partizipieren können. Aber ein solches Produktivkraftniveau ist historisch voraussetzungsvoll. Die dazu nötige Wissenschaft ist selbst arbeitsintensiv und setzt daher nicht nur die Akkumulation von Wissen voraus, sondern davor noch ein kollektiv erwirtschaftetes Mehrprodukt, daß die Wissenschaftler vom Zwang zur unmittelbaren Reproduktion befreit. Insofern ist Wissenschaft Luxus und setzt nicht nur voraus, daß alle Mitglieder einer Gesellschaft leben können, sondern darüber hinaus noch Menschen, die sowohl vom Zwang der Arbeit als auch vom Kommando darüber befreit sind. Die Bildung des Knechtes impliziert deshalb Kooperation und Arbeitsteilung auf erweiterten Niveau ebenso, wie die historisch-kritische Akkumulation von Wissen und Technik und der damit verbundenen Produktivkraftsteigerung. Erst wenn die Technik die relative Freistellung aller Menschen von der Arbeit ermöglicht, ist die historische Bedingung der relativen Emanzipation vom Arbeitszwang geschaffen. Die Arbeit der Reproduktion und der Bildung bedingen sich wechselseitig, sind aber innerhalb des Systems gesellschaftlicher Arbeitsteilung unterschiedene Tätigkeiten, weil sie unterschiedliche Zwecke haben. Die Vermittlung beider Zwecke wäre keine Aufgabe der Philosophie, sondern des politischen Willens. Hegel differenziert nicht zwischen technisch-praktischen und sittlichen Zwecken, sondern bestimmt beide im Hinblick auf das absolute Wissen. Indem die technisch-praktischen Zwecke erfüllt werden, wird der Plan der Vernunft erfüllt. Mit der Erfahrung, daß in der Naturbeherrschung das knechtische Bewußtsein zu sich selbst finde, gehe zugleich die Anerkennung und Emanzipation des Knechtes zumindest als praktische Anerkennung hervor. „Es [das Fürsichsein, M. B.] wird also durch diß Wiederfinden seiner durch sich selbst e i g n e r S i n n , gerade in der Arbeit, worin es nur fr e m d e r S i n n zu seyn schien. – Es sind zu dieser Reflexion die beyden Momente, der Furcht und des Dienstes überhaupt, so wie des Bildens nothwendig, und zugleich beyde auf eine allgemeine Weise.“114

Die Anerkennung der Knechte ist an ihre Arbeit und ihre praktischen Fähigkeiten und Erfahrungen gebunden. Aber Hegel begreift diese Anerkennung nur als Moment, denn den Knechten ist noch nicht zu Bewußtsein gekommen, daß sie Anspruch auf die Anerkennung ihrer praktischen Freiheit haben. Das Bewußtsein ihrer Freiheit ist jenseits ihrer Lebensbedingungen angesiedelt.115 Genuß und körperliche Arbeit bleiben zweierlei. 114 115

Hegel. Phänomenologie des Geistes, 115. Georg W. Bertram interessiert sich für die Frage, inwieweit in der Phänomenologie des Geistes Konzepte der Intersubjektivität ausgeführt werden. Nachdem er den Anerkennungsbegriff in Herrschaft-Knechtschaft kommentiert hat, kommt er zu dem Ergebnis, daß Anerkennung hier mißlingt und nur als „Darstellung zur reinen Dialektik der Anerkennung“ verstanden werden könne, die „in sehr abstrakter Form weit vorausgreift“ (Georg W. Bertram. „Hegel und die Frage der

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Erst mit den Gestalten des Stoizismus, des Skeptizismus und des unglücklichen Bewußtseins wird der noch abstrakte Gedanke der Freiheit mit den materiellen Bedingungen vermittelt. „Diß Bewußtseyn ist somit negativ gegen das Verhältniß der Herrschafft und Knechtschafft; sein Thun ist, in der Herrschafft nicht seine Wahrheit an dem Knechte zu haben, noch als Knecht seine Wahrheit an dem Willen des Herrn und an seinem Dienen, sondern wie auf dem Throne so in den Fesseln, in aller Abhängigkeit seines einzelnen Daseyns frey zu seyn, und die Leblosigkeit sich zu erhalten, welche sich beständig aus der Bewegung des Daseyns, aus dem Wirken wie aus dem Leiden, i n d i e e i n fa c h e We s e n h e i t d e s G e d a n k e n s z u r ü c k z i e h t . Der Eigensinn ist die Freyheit, die an eine Einzelnheit sich befestigt und i n n e r h a l b der Knechtschafft steht, der Stoicismus aber die Freyheit, welche unmittelbar immer aus ihr her, und in d i e r e i n e Al l ge m e i n h e i t des Gedankens zurückkömmt; als allgemeine Form des Weltgeistes nur in der Zeit einer allgemeinen Furcht und Knechtschafft, aber auch einer allgemeinen Bildung auftreten konnte, welche das Bilden bis zum Denken gesteigert hatte.“116

Aus der Vermittlung des unglücklichen Bewußtseins geht die Vernunft hervor als der Gewißheit „alle Realität zu seyn“117.

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Intersubjektivität. Die Phänomenologie des Geistes als Explikation der sozialen Strukturen der Rationalität.“ Hrsg. v. Andrea Esser u. a. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 56, Nr. 6 (2008), 882). Sowenig Hegel beansprucht, den Begriff der Anerkennung auf dieser Stufe der Argumentation bereits vollständig dargestellt zu haben, sowenig ist dieser Begriff andererseits abstrakt. Hegel stellt vielmehr dar, daß Herrschaft eine das Anerkennungsverhältnis konstituierende, geschichtliche wie gesellschaftliche Voraussetzung ist. Intersubjektivitäts- und Anerkennungstheorien wären vor dem Hintergrund dieses Arguments der Phänomenologie zu hinterfragen. Klassisch zur Intersubjektivitäts- und Anerkennungsdebatte sind: Ludwig Siep. Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie: Unters. zu Hegels Jenaer Philosophie d. Geistes. Freiburg [u. a.] 1979. Axel Honneth. Kampf um Anerkennung. Frankfurt a. M., 2003. Eine Zusammenfassung des aktuellen Standes der Debatten geben: Hans-Christoph Schmidt am Busch u. Christopher Zurn (Hg.). Anerkennung. Berlin, 2009. Während die Überlegung, daß der Anerkennungsbegriff seine Vollendung erst in einer sittlichen Gesellschaft erfährt, im Zusammenhang dieser Arbeit zu einem Sprung in die Grundlinien der Philosophie des Rechts führt, zeichnet Christian Iber die Entwicklung des Anerkennungsbegriffs in seinem Aufsatz Selbstbewußtsein und Anerkennung innerhalb der Phänomenologie nach. „Der Kampf der moralischen Bewußtseine führt zu einer Anerkennung der sich gleichermaßen als schuldig bekennenden Subjekte, die die Anerkennungstheorie der Phänomenologie zum Abschluß bringt. Sie besteht in der Einsicht in die Unterschiedlichkeit der moralischen Subjekte gegeneinander und vollzieht sich als wechselseitiger Verzicht auf die Absolutsetzung des eigenen moralischen Standpunkts. In der ‚Verzeihung‘ verzichten die moralischen Subjekte darauf, die anderen in ihrer Einzelheit nur an dem eigenen für allgemeingültig ausgegebenen moralischen Maßstab zu messen und anerkennen sich in ihrer unverwechselbaren moralischen Individualität, wodurch es zur Versöhnung von individuellem Gewissen und allgemeinem moralischem Bewußtsein kommt.“ Christian Iber. „Selbstbewußtsein und Anerkennung in Hegels Phänomenologie des Geistes.“ In Hegels „Phänomenologie des Geistes“ heute, hrsg. v. Andreas Arndt und Ernst Müller. Berlin, 2004, 116. Hegel. Phänomenologie des Geistes, 117 f. Vgl. auch Lim: „Aber was wir dabei vor allen Dingen beachten müssen, ist die Bedeutung des arbeitenden, in sich zerrissenen und sich selbst aufopfernden Knechts als des Antithetischen in der großen Harmonie der Wahrheit.“ Sin-Zok Lim. Der Begriff der Arbeit bei Hegel, 98. Hegel. Phänomenologie des Geistes, 131. Pöggeler sieht diese Bestimmung im Zusammenhang mit der christlich geprägten Geistesgeschichte: „Das allgemeine Selbst ist, als Versöhnung zwischen Gott und Mensch, das unglückliche, christliche Bewußtsein, das von seinem Unglück läßt. Der Titel Vernunft ist ein Grundbegriff Kants, Wenn Hegel die Vernunft als Wahrheit des allgemeinen Selbstbewußtseins setzt, dann setzt er den deutschen Idealismus, gemäß dessen Selbstverständnis als Wahrheit des christlichen Glaubens.“ Otto Pöggeler. Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, 217 f.

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Selbstbestimmung und Herrschaft in der Phänomenologie

Aber dieser Begriff des Selbstbewußtseins, dessen Freiheit sich über Herrschaft vermittelt realisieren soll, widerspricht sich zugleich in einer Weise, die philosophisch nicht vermittelbar ist. Durch Herrschaft wird die Freiheit als Gattungsvermögen nicht nur nicht realisiert, sondern verhindert – Mittel und Zweck werden gegeneinander verkehrt, so daß das technisch-praktische Kalkül die Priorität vor der Realisierung des Selbstbewußtsein erlangt. Daß aus der Herrschaft resultierende Bewußtsein der Freiheit steht damit zugleich im Widerspruch gegen seine Wirklichkeit, ist kein Gegenstand der herrschaftlichen Erfahrung. Freiheit ist ein Abstraktum, dessen einzige Bestimmung es ist, gegen den Zwang zur Reproduktion bestimmt zu sein. Darin hat die Gegenstandslosigkeit des kategorischen Imperativs bei Kant ihren geschichtlichen Grund.118

3.3 Resultate. Die unglücklichen Selbstbewußtseine In den ersten Kapiteln der Phänomenologie ist das Subjekt der Selbstbestimmung das Selbstbewußtsein, weil es als terminus ad quo und terminus ad quem den Erfahrungen des Bewußtseins unterstellt ist. Die Bestimmung des Begriffs des Selbstbewußtseins, die Hegel vorgenommen hat, war vielschichtig: Als Ziel formulierte Hegel, den Begriff des unmittelbaren Wissens in den Begriff des absolut vermittelten Wissens zu überführen. Das Subjekt dieser Entwicklung ist das Selbstbewußtsein, das damit dem Weg des Wissens logisch vorausgesetzt ist, und sich zunächst in den drei Bewußtseinskapiteln die Aufgabe seiner Selbsterkenntnis stellt. Dieses Selbstbewußtsein ist ein historisch avanciertes Selbstbewußtsein, denn den Begriff, die logische Voraussetzung seiner Selbsterkenntnis zu sein, hat es erst spät innerhalb seiner geistesgeschichtlichen Entwicklung. Hegel selbst beruft sich in der Phänomenologie auf das Wissen seit der Antike. Auch der Subjektbegriff ist ein Begriff der Moderne. Hegel muß das Selbstbewußtsein deshalb einerseits logisch begründen als dasjenige Vermögen, welches sich in der Phänomenologie mit den Gestalten seines Wissens auseinandersetzt, um absolutes Wissen werden zu können. Andererseits ist dieser logisch begründete Begriff des Selbstbewußtseins als Voraussetzung jeder phänomenologischen Erfahrung selbst ein geschichtliches Resultat. Hegel will das Verhältnis des Selbstbewußtseins als logischer Voraussetzung und als geschichtlich tingiertem Resultat vermitteln, indem er vom Standpunkt des geistesgeschichtlichen Wissens seiner Zeit zunächst das Vermögen des Selbstbewußtseins als logische Voraussetzung konstruiert. Das geschieht in den Bewußtseinskapiteln einschließlich Kraft und Verstand. Dieses Vermögen arbeitet sich dann an den geistesgeschichtlich vorgefundenen Gestalten des Wissens ab, mit dem Ziel, diese mit dem Begriff des 118

Dean Moyar teilt das Argument Hegels, daß die Entfremdung praktisch aufgehoben werde: „The benefit of Hegel’s peculiar dialectical mode of argumentation, in which he builds up an account of action by depicting a process of overcoming alienation, is that he achieves a normative transparency that grounded in practice an is thus justified within u. for the agent perspective.“ Dean Moyar. „Self-completing alienation: hegels’s argument for transparent conditions of free agency.“ In Hegel’s Phenomenology of Spirit. A Critical Guide, hrsg. v. Dean Moyar u. Michael Quante. Cambridge, 2008, 150.

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Selbstbewußtseins, das dann späterhin Vernunft, Geist, absolutes Wissen wird, zu vermitteln.119 Hegels Begründung für diese Konstruktion liegt die Überlegung zugrunde, daß das erkennende Vermögen in der Auseinandersetzung mit seinem Wissen ebenso sich erkennt, wie es die Gestalten des Wissens erkennt und weiter entwickelt. In Kraft und Verstand findet diese Auseinandersetzung auf der einen Seite zwischen dem Verstand und seinen Kategorien wie Ursache, Wirkung, Gesetz, Kraft statt; auf der anderen Seite findet sie zwischen dem Verstand und derjenigen Erfahrung statt, die durch diese Kategorien konstituiert wird: an der naturwissenschaftlichen Erfahrung. Hegel arbeitet mit den Gestalten des Bewußtseins auf einen Begriff des Selbstbewußtseins hin, dem das Wahre nicht mehr etwas anderes ist, als es selbst, sondern ihm gleich. Das Selbstbewußtsein ist das Bewußtsein eines Unterschiedes, der keiner ist. Indem Hegel an den Gestalten des Wissens stark macht, daß sie als Stadien der Selbstbestimmung des Selbstbewußtseins überhaupt erst ihre Bestimmung erfahren, kann er sie als Momente des Wissens im Selbstbewußtsein aufheben. Das Selbstbewußtsein vermag sich kraft seines Vermögens zur Negation der Negation schließlich als die Einheit der aufgehobenen Verstandesbestimmungen, wie der naturwissenschaftlichen Erfahrung, bestimmen, d. h. es bestimmt sich im Bewußtsein seiner Nichtidentität mit den Gestalten des Wissens als deren Einheit, als Unterschied, der keiner ist. Das Wissen dieses Selbstbewußtseins ist potentiell absolutes Wissen, da es nur sich von sich unterscheidet. Auch verleiht ihm das Wissen, welches es in sich aufgenommen hat, also das Wissen von der Wahrheit der sinnlichen Gewißheit, der Wahrnehmung und der Konstitution objektiver Naturerfahrung den Status eines objektiven Vermögens, das der geistesgeschichtlichen Erfahrung in der Zeit logisch vorausgesetzt ist. Diese Potenz, absolutes Wissen zu sein, ist im weiteren Verlauf der Phänomenologie zu aktualisieren, indem sich das Selbstbewußtsein ebenso an den geistesgeschichtlich vorzufindenden Gestalten abarbeitet. Seine adäquate Gestalt hat dieser Begriff des Selbstbewußtseins dann nicht weiter überraschend in den selbstbewußten Individuen, die ein Bewußtsein davon haben, daß ihr intellektuelles Vermögen in einem Körper individualisiert ist. Die historisch-kritische Darstellung naturwissenschaftlicher Theoriebildung hatte hingegen eine andere Tendenz aufgezeigt: im historisch-kritischen Prozeß bildet sich nicht das Bewußtsein der Identität der Unterscheide heraus, sondern das der Nichtidentität. Der Gegenstandsbereich naturwissenschaftlicher Theoriebildung ist vom Gegenstandsbereich des Selbstbewußtseins spezifisch unterschieden. In der Beziehung von Kritik und Lösung naturwissenschaftlicher Probleme bildet sich das Bewußtsein der Eigenständigkeit der naturwissenschaftlichen Erfahrung gegen das Selbstbewußtsein heraus – und nicht umgekehrt, wie Hegel behauptet hatte. Das Selbstbewußtsein der Phänomenologie des Geistes ist nicht das geistesgeschichtliche Selbstbewußtsein, sondern eine philosophische Konstruktion, die deshalb eine an119

Zum Problem der Zeitlichkeit des Denkens vergleiche auch: Volker Rühle. „Denken der Zeit und Zeitlichkeit des Denkens. Zur Genese spekulativer Erkenntnis in Hegels Phänomenologie des Geistes.“ Hrsg. v. Andrea Esser u. a. Dtsch.e Zeitschrift für Philosophie 57, Nr. 4 (2009), 551–570.

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Selbstbestimmung und Herrschaft in der Phänomenologie

dere Gestalt hat als das historisch-kritische, weil es einem anderen Zweck folgt: Es beabsichtigt nicht die Erkenntnis der Natur im einzelwissenschaftlichen Sinne, sondern die Erkenntnis des absoluten Wissens. Gerade in dieser Abhängigkeit vom terminus ad quem der Phänomenologie erscheint das Vermögen des Selbstbewußtseins dann gegen die Intention Hegels, der die Geschichtlichkeit aus dem Begriff dieses Vermögens setzen will, als selbst geschichtlich tingierter Begriff. Das Ziel, den Begriff des Selbstbewußtseins als einen Begriff zu bestimmen, der seine geschichtliche Bedingtheit überwindet, ist eine Vorstellung, die aus der Kritik geistesgeschichtlich vorgefundener Probleme resultiert. Mittel zur Lösung der Aporien ist ein Selbstbewußtsein, das sich in der Reflexion auf seine geschichtliche Bedingtheit absolut setzt. Dieses Resultat der Kritik am Begriff des Selbstbewußtseins Hegels ist für die Kritik an der Vorstellung, daß Herrschaft ein notwendiges und damit letztlich vernünftiges Durchgangsmoment zu einem selbstbestimmten Zustand sei, vorausgesetzt, denn dieses vor dem Hintergrund seiner Geschichtlichkeit reflektierte Selbstbewußtsein ist der absolute Grund des Kampfes auf Leben und Tod wie der herrschaftlichen Anerkennung. Weil der Grund vernünftig ist, sind es auch der Kampf auf Leben und Tod und die herrschaftliche Unterwerfung. Mit dem Begriff des Selbstbewußtseins, für das die Unterschiede keine sind, steht und fällt also das Argument Hegels. Aber vorerst soll nocheinmal zum Gedankengang Hegels zurückgegangen werden, zum Anerkennungsverhältnis selbst. Das Selbstbewußtsein weiß sich als lebendiges Individuum und Gattungsvermögen, das sich als Selbstbewußtsein nur realisieren kann, wenn es durch ein anderes Selbstbewußtsein anerkannt wird und diese Anerkennung seine Reproduktion als lebendiges Individuum beinhaltet. Aber die Reproduktion ist nicht Zweck, sondern Mittel der Anerkennung. Zweck ist die Realisierung eines Selbstbewußtseins, das sich als absoluter Grund seiner Realisierung weiß und dieses Wissen im Herrschaftsverhältnis praktizieren will. Der Knecht erkenne den Herrscherwillen als dasjenige Selbstbewußtsein an, das sich diese Realität verschaffen konnte, während der Knecht seinerseits durch die Naturbearbeitung die Erfahrung der Realisierung seines Selbstbewußtseins mache. Wenn aber unter Rückgriff auf das Ergebnis der Kritik am Begriff von Kraft und Verstand das Selbstbewußtsein sich nicht im Bewußtsein seiner Geschichtlichkeit, wie Hegel meint, absolut setzt, sondern umgekehrt das Selbstbewußtsein Hegels selbst ein geschichtlich bedingter Begriff ist, dann ist das Selbstbewußtsein, welches in das Herrschaftsverhältnis eintritt, ebenfalls geschichtlich bestimmt. Dann ist die Darstellung Hegels, daß das Selbstbewußtsein als Resultat der Bewußtseinskapitel die logische Voraussetzung für seine Realisierung im herrschaftlichen Anerkennungsverhältnis ist, ebenso umgekehrt zu denken: Herrschaft ist eine Entstehungsbedingung des Begriffs des Selbstbewußtseins und seiner Gehalte, seiner Kategorien und seiner Erfahrung in den Bewußtseinskapiteln. Weil Hegel aber die Wechselseitigkeit des Bedingungsverhältnisses für die Erfahrung des Selbstbewußtseins der Phänomenologie nicht als konstitutiv erachtet, erscheint bei ihm das geschichtliche Verhältnis nicht mehr als geschichtliches Verhältnis, sondern als Wissen des Geistes. Damit erweisen sich auch die im Herrschaftsverhältnis agierenden Selbstbewußtseine der Phänomenologie, wie zuvor schon die Selbstbestimmung des Begriffs in der Wissenschaft der Logik,

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als eine teleologische Konstruktion Hegels, die mit den geschichtlichen Zwecken nicht übereinstimmt. Das Selbstbewußtsein Hegels ist nicht einmal der Möglichkeit nach ein Gegenstand geschichtlicher Erfahrung, weil es als Totalitätsbegriff gebildet ist, der als solcher in der empirischen Welt kein Korrelat hat. Umgekehrt bleibt auch das Erwachen des knechtischen Selbstbewußtseins an die Bedingung der Herrschaft gebunden, weil sich die Fähigkeit zur Naturbeherrschung erstens unter den Bedingungen der Herrschaft entwickelt und zweitens das Arbeitsprodukt nicht dem Knecht, sondern dem Herren gehört. Als Grund der Naturbeherrschung erscheint hier nicht das knechtische Selbstbewußtsein, sondern das des Herrschers. Wenn aber die Realisierung des von Hegel bestimmten Selbstbewußtseins geschichtlich nicht der Zweck des Herrschaftsverhältnisses ist, weil es kein Gegenstand geschichtlicher Erfahrung ist, dann war Herrschaft niemals vernünftig.Vom Standpunkt der Kritik dieses Arguments ist aber die Konstruktion auf den Kopf zu stellen: Der Begriff des Selbstbewußtseins ist mit dem Vermögen nicht identisch. Die Kraft des Verstandes ist etwas anderes als die Kraft der Natur – diese Gesetz des Denkens, jene Gesetz objektiv konstituierter Naturerfahrung. D. h. daß der Begriff des Selbstbewußtseins, den Hegel dargestellt hat, nicht mit den Selbstbewußtseinen, die historisch agieren, identisch ist – und diese Nichtidentität ist nicht einmal durch die Reflexion auf die Nichtidentität aufzuheben. Das Vermögen ist nur als individuiertes real, der Begriff beansprucht dagegen absolute Geltung. Die selbstbewußten Individuen finden im geschichtlichen Prozeß zu sich selbst, indem sie die Welt, die sie vorfinden, interpretieren und gestalten, um dann durch Hegel einen Begriff des Selbstbewußtseins zu erlangen, der den geschichtlichen Prozeß aufhebt, indem das Selbstbewußtsein zu dessen Bestimmungsgrund wird. Es setzt das Wissen von seinen Existenzbedingungen, aber es ist nicht der Grund dieser Existenzbedingungen. Weder setzt es das Leben als Unterschied innerhalb seiner, denn es ist ein vorgefundenes, biologisches Faktum, noch ist es Grund des Kampfes auf Leben und Tod oder der materiellen Abhängigkeit des Knechtes vom Herren. Diese Erscheinungen sind Ausdruck der Konkurrenz um die Lebens- und Produktionsmittel. Das bedeutet, daß die ökonomischen Bedingungen kultureller Entwicklung nicht Selbstzweck sind. Die Vermittlung des Selbstbewußtseins mit seinen Existenzbedingungen ist Vermittlung durch Reproduktionsarbeit. Aber anders als von Hegel dargestellt, ist sie unter Bedingungen der Herrschaft nicht selbstbestimmt, sondern entfremdet, weil die Produkte, in denen der Knecht sich erkennen soll, nicht seine sind. Er realisiert den Zweck seines Herren, und seinen eigenen nur, weil er sich dessen Kommando unterordnen muß, um leben zu können. Darin erfährt aber der Knecht gerade, nicht frei zu sein. Die Erfahrung, Natur zu beherrschen, ist zwar Ausdruck zweckgerichteter Tätigkeit, aber in einer Weise, die im Sinne der Herrschaft noch instrumentalisiert wird. Diese Einsicht stellt die eigentliche historische Bedingung der Phänomenologie dar. Sie ist also keine Setzung des Selbstbewußtseins und aus diesem Grunde gibt es auch keinen systematischen Übergang von den Existenzbedingungen zur Freiheit. Die von Hegel behauptete Einheit des Selbstbewußtseins, das die Identität von Identität und Unterschied und das Bewußtsein, alle Realität zu sein, ist, gibt es historisch nicht. Sie bleibt Aufgabe. Der Übergang wäre geschichtliche, nicht philosophische Arbeit.

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Entsprechend anders stellt sich aus geschichtlicher Perspektive die Entwicklung des Selbstbewußtseins dar: Das die Individuen treibende Motiv war nicht die Realisierung ihres Selbstbewußtseins, sondern das Bewußtsein ihrer Endlichkeit. Der Kampf auf Leben und Tod und die herrschaftliche Organisation haben ihren Grund nicht in dem unbewußten Bedürfnis, die selbstbewußten Individuen als Selbstbewußtsein darzustellen, sondern in der Konkurrenz um die knappen Lebens- und Produktionsmittel.120 In der menschlichen Arbeitskraft steckt nur insofern eine emanzipierende Potenz, als sie ein akkumulierbares Mehrprodukt hervorzubringen vermag. Geschichtlich betrachtet war allerdings dies Mehrprodukt bis auf wenige Ausnahmen immer auch das Objekt der herrschaftlichen Begierde und damit das treibende Motiv, innerhalb der Gattung der Selbstbewußten den Unterschied zwischen Herren und Knechten zur Grundlage der Ökonomien zu machen. Die Bedingung der Möglichkeit der Emanzipation wäre ein geschichtlich gewordenes Produktivkraftniveau, das die Verkürzung der Arbeitszeit aller Menschen ermöglicht. „Zart wäre einzig das Gröbste: daß keiner mehr Hungern soll.“121 Hegel muß den Begriff des Selbstbewußtseins als Ursprung und Ziel der phänomenologischen Entwicklung konstruieren, weil die Bewegung dem Identitätsanspruch des Denkens andernfalls nicht genügte. Historisch sind aber der Kampf und die Herrschaft technisch-praktisches Kalkül. D. h. aber umgekehrt, daß es das telos der Realisierung des Selbstbewußtseins als transzendentaler Instanz, wie dem Weltgeist Hegels, zwar als philosophischen Begriff, nicht aber geschichtlich gegeben hat. Die Realisierung des Selbstbewußtseins kann sich nur jedes Individuum selbst zum Ziel seiner Handlungen erklären. Geschichte hat kein Endziel. Umgekehrt ist das telos vom Endziel der Geschichte nicht unabhängig von dem geschichtlichen Moment zu denken, in dem es formuliert wird. Die Freiheit des Selbstbewußtseins und die Realisierung seiner Zwecke sind nicht absolut, sondern bleiben historisch wie technisch bedingt. Was jenseits der historisch realisierten Gestalt des Selbstbewußtseins bleibt, ist der negative Schluß auf die Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit und die Kritik derjenigen Umstände, die der Realisierung der Freiheit im Wege stehen. Was Selbstbewußtsein ist, ist deshalb allein mit philosophischen Begriffen gar nicht darstellbar, während aber umgekehrt der philosophische Begriff des Selbstbewußtseins Maßstab der Kritik der geschichtlichen Verhältnisse bleibt. 120

121

Ohne die Differenz zwischen technisch-praktischen Zwecken und Zwecken des Selbstbewußtseins muß das Resultat Hegels als existentielles, die Natur des Menschen insgesamt betreffendes Schicksal erscheinen, das nur durch die Negation der Existenz überhaupt bewältigt werden kann: „Der Mensch, welcher nicht die Furcht des Todes empfunden hat, weiß nicht, daß die natürliche Welt ihm feindlich ist, daß sie darauf ausgeht, ihn zu töten und wesenhaft außerstande ist, ihn wirklich zu befriedigen. Dieser Mensch bleibt also im Grunde mit der daseienden Welt solidarisch. Er wird höchstens versuchen, sie zu ‚reformieren‘, daß heißt einige Details zu ändern, partielle Umwandlungen durchzuführen, ohne ihre wesentlichen Züge zu modifizieren. […] Nicht die Reform, sondern lediglich die ‚dialektische‘ oder revolutionäre Aufhebung der Welt kann ihn daher befreien und – folglich – befriedigen.“ Alexandre Kojève. „Kommentar zur Phänomenologie des Geistes.“ 124. Die hier gemeinte Revolution bezöge sich also nicht auf die gesellschaftlichen Bedingungen, sondern auf die Existenz überhaupt. Theodor W. Adorno. Minima Moralia, 178.

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Das Zusammenspielen des Begriffs des Selbstbewußtseins mit dem historischen Prozeß seiner Bildung läuft bei Hegel auf eine Apologie der Herrschaft hinaus. Der apologetische Charakter wird besonders dort deutlich, wo Hegel die in das Herrschafts-Knechtschafts-Verhältnis eingegangene Gewalt als notwendige Bedingung der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt, ohne daß die Gewalt aber der Bestimmungsgrund der bürgerlichen Gesellschaft sei: „Der Kampf des Anerkennens und die Unterwerfung unter einen Herrn ist die Erscheinung, aus welcher das Zusammenleben der Menschen, als ein Beginnen der Staaten, hervorgegangen ist. Die Gewalt, welche in dieser Erscheinung Grund ist, ist darum nicht Grund des Rechts, obgleich das notwendige und berechtigte Moment im Übergange des Zustandes des in die Begierde und Einzelheit versenkten Selbstbewußtseins in den Zustand des allgemeinen Selbstbewußtseins. Es ist der äußerliche oder erscheinende Anfang der Staaten, nicht ihr substantielles Prinzip.“122

Hegel stellt das Verhältnis der Selbstbestimmung des Begriffs in der Wissenschaft der Logik zur Selbstbestimmung des Selbstbewußtseins in der Phänomenologie als ein aufzuhebendes Bedingungsverhältnis dar: Das entwickelte Wissen des Selbstbewußtseins ist die Vermittlung des Anfangs der Logik. Eine Bedingung für das Gelingen dieses Programms ist die Apologie der Herrschaft in der Phänomenologie, eine andere die Negation des Individuums in der Logik. Dies ist der Preis für einen absoluten Freiheitsbegriff. Wenn aber die Realisierung des Selbstbewußtseins Bedingungen hat, die über die Reflexion der Bedingtheit hinaus ein historisch-praktisches Korrelat haben, dann ist der philosophische Begriff der Selbstbestimmung selbst nur ein Ideal, dessen Realisierung des Willens zur gesellschaftlichen Organisation bedarf. Der vernünftige Wille als Bestimmungsgrund gesellschaftlicher Verhältnisse ist das Subjekt der Rechtsphilosophie.

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Hegel. Werke Bd. 10 (Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse III). Frankfurt a. M., 1995, § 433, Zusatz (im folgenden Enzyklopädie III). Die affirmative Tendenz der Herr-Knecht-Thematik wird bis heute aktualisiert, wenn z. B. Harald Bluhm in seinem Aufsatz Herr und Knecht – Transformationen einer Denkfigur die Rezeption des Herrschafts-Knechtschaftskapitels bis in die Gegenwart rekapituliert und zu dem Schluß kommt, daß „ein sozialhistorischer Begriff des Herrn und mit ihm ein strikter Begriff von Herrschaft angesichts polyzentrischer Machtstrukturen und neuer sozialer Figuren“ für obsolet zu erklären sind. Zwar hat Herrschaft in der Moderne andere, unpersönliche Erscheinungsformen, dennoch bleibt das Grundprinzip der Verfügung über die Existenzbedingungen von Menschen wirksam. Harald Bluhm. „Herr und Knecht – Transformationen einer Denkfigur. Eine Skizze.“ In Hegels „Phänomenologie des Geistes“ heute, hrsg. v. Andreas Arndt und Ernst Müller. Berlin, 2004, 62.

4 Gesellschaftliche Selbstbestimmung und Arbeit in den Grundlinien

In der Wissenschaft der Logik hatte Hegel Selbstbestimmung als Selbstbestimmung des Begriffs bestimmt, die sich unabhängig von den Existenz- und Reflexionsbedingungen des Selbstbewußtseins ihr eigener Gegenstand, also absolut reflexiv ist. Das Prinzip der Realisierung dieser Selbstbestimmung ist die „Identität der theoretischen und der praktischen [Idee, M. B.]“1, aber diese Idee war als überindividuelle nur jenseits moralischer Praxis denkbar gewesen. Gegen die Abgeschlossenheit des reinen Begriffs der Selbstbestimmung hatte sich das Selbstbewußtsein in der Phänomenologie des Geistes als Bestimmungsgrund des erscheinenden Wissens zu erweisen versucht, aber die Kritik an Hegels Begriff des Selbstbewußtseins hatte ergeben, daß es in der Auseinandersetzung mit anderen Selbstbewußtseinen nicht seine Anerkennung erlangte, sondern seine Existenz- und Reproduktionsbedingungen reproduzierte und mit ihnen die Herrschaft als den Grund des Scheiterns der Anerkennung. In der Kritik des Begriffs des Selbstbewußtseins erscheint der Grund dieses Scheiterns: Die für das Anerkennungsverhältnis konstitutive Gewalt ist nicht eine Setzung des Selbstbewußtseins, sondern sie verhindert vielmehr seine Realisierung. Daß bedeutet auch, daß Selbstbewußtsein historisch zwar sporadisch, aber nicht im vollen Umfang seines Begriffs realisiert ist. Für den hermetischen Status der Selbstbestimmung des Begriffs aus der Logik erscheint somit auch ein anderer Grund: Sie verschließt sich nicht nur deshalb gegen ihre gegenständlichen Bedingungen, weil sie sich als absolut reflexiv erweisen will, sondern weil ihr kein Gegenstand in der historischen Erfahrung entspricht. Die Realisierung der Idee guten Handelns, als der Idee der Verknüpfung wissenschaftlicher Erkenntnis mit der Praxis, ist weiterhin historische Aufgabe, nicht, wie Hegel meint, historisches Resultat. Die Naturbearbeitung erhält im Herrschaftsverhältnis eine emanzipierende Funktion: Während die Anerkennung des Knechtes innerhalb des Herrschaftsverhältnisses mißlingt, gelange er Hegel zufolge durch die Objektivierung seiner Zwecke zum Bewußtsein seiner selbst. Das knechtische Bewußtsein ist zwar noch kein befreites Bewußtsein, aber eines, das sich aus dem Bewußtsein, seine Freiheit realisieren zu können, geschichtlich und politisch befreit. Dieser tendenziell emphatische Herrschaftsbegriff beruht auf der Grundannahme, daß Herr und Knecht denselben Zweck der Anerkennung ihres Selbstbewußtseins haben, so daß der Knecht seine Zwecke zwar nicht selbst setzt, aber indem der Herr quasi stellvertretend für beide das 1

Hegel. Lehre vom Begriff, 236.

Gesellschaftliche Selbstbestimmung und Arbeit in den Grundlinien

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Kommando über die Arbeit und damit die Bedingungen der Realisierung des Selbstbewußtseins führt, liege in den Arbeitsprodukten, die Ausdruck der Anerkennung des Herren sind, zugleich die Verwirklichung der Anerkennung des Knechtes. Weil der Wille des Herren vernünftig ist und sich vermittelt über den Willen des Knechtes realisiert, damit also der Wille des Knechtes ebenso vernünftig ist, resultiere aus seiner Arbeit seine Emanzipation. Der vernünftig bestimmte Wille ist so das tertium comparationis der Zwecke des Herren und des Knechtes. Aber eben diese Identität der Zwecke des Herren und des Knechtes hatte sich in der Kritik an Hegels Konstruktion als problematisch erwiesen, denn der Herr will die Verfügung über das Mehrprodukt und will deshalb auch die Herrschaft, während der Knecht ebensowenig der Realisierung seines Selbstbewußtseins nachgeht, sondern den Zweck des Herren ausführt, um darüber vermittelt seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Naturbearbeitung innerhalb des Herrschaftsverhältnisses ist deshalb nicht Moment der Selbstbestimmung, sondern der Fremdbestimmung. Die Erfahrung, die aus der fremdbestimmten Arbeit folgt, ist nicht die der Freiheit, sondern die der Unfreiheit, so daß auch die emanzipatorischen Potenzen der Arbeit als eine dem Herrschaftsverhältnis entspringende Wirkung erscheinen.2 Hegel zufolge sollen aber dennoch aus dem Herrschaftsverhältnis historisch die Bedingungen für den bürgerlichen Rechtszustand hervorgehen, in dem Herrschaft und das darin angelegte Gewaltverhältnis überwunden werden. Derjenige Begriff, in dem Geschichte und Erkenntnistheorie, Moralität und Recht, Individualität und Allgemeinheit, schließlich Vernunft und Realität vermittelt sein sollen, ist der Begriff des Geistes.3 „Die Vernunft ist Geist, indem die Gewißheit, alle Realität zu seyn, zur Wahrheit erhoben, und sie sich ihrer selbst als ihrer Welt, und der Welt als ihrer selbst bewußt ist.“4 Der Weg vom Selbstbewußtsein zum Geist führt in der Phänomenologie über die Beobachtung der Objektivität durch die Vernunft und die Reflexion der Individualität. Daraus resultiert das Bewußtsein, daß die Substanz der Wirklichkeit und die Substanz des Tuns der Individuen sittlich ist: Der Geist ist der Grund des Tuns aller, deren implizites Ziel und das allgemeine Werk. Gegenüber der Moralphilosophie Kants stellt der Geistbegriff Hegels einen Fortschritt dar. Das „Ich das Wir und das Wir, das Ich ist“ verweist auf den Gegenstand der realisierten Moralität Kants: das Kollektiv vernünftiger Wesen. Dieses Kollektiv wird bei Hegel als Gesellschaft gedacht, in der das telos der gleichberechtigten Koordination von Individuum und Allgemeinheit realisiert sein soll. Wenn aber die Kritik an Hegel den sachlichen Kern des Hegelschen Begriffs herausgestellt hat, also die Bedingtheit absoluter Reflexivität durch das geschichtlich hervorgebrachte Selbstbewußtsein, dann ist der systematische Übergang der Erfahrungen der individuellen Selbstbewußtseine zum Begriff des Geistes aus der Perspektive dieser Kritik nicht systematisch zu begründen wie von Hegel intendiert. Dieser Übergang setzt damit einen individuellen Willen voraus, der das teleologische Programm gegen die Inkonsistenzen des geschichtlich bestimmten Materials zusammen2

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4

„Der Ausgangspunkt der Entwicklung, die sowohl den Lohnarbeiter wie den Kapitalisten erzeugt, war die Knechtschaft des Arbeiters. Der Fortgang bestand in einem Formwechsel dieser Knechtung, in der Verwandlung der feudalen in kapitalistische Exploitation.“ Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 742. Zum Begriff des Geistes in der Phänomenologie vgl. auch Ludwig Siep, „Moralischer und sittlicher Geist in Hegels Phänomenologie.“ In Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne, hrsg. v. Klaus Vieweg u. Wolfgang Welsch, 415–438. Frankfurt a. M., 2008. Hegel. Phänomenologie des Geistes, 238.

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Gesellschaftliche Selbstbestimmung und Arbeit in den Grundlinien

hält. Der individuelle Wille hatte sich schon in der Logik und der Phänomenologie als das die teleologische Bewegung organisierende Vermögen erwiesen: in der Fragilität absoluter Reflexion, deren Korrelat die geschichtlich durchwirkte ist. Der Weg der Phänomenologie wird vor dem Hintergrund der bereits formulierten Bedenken gegen den systematisierenden Anspruch Hegels daher hier nicht weiter verfolgt. Statt dessen wird direkt zur Betrachtung des Willensbegriffs in den Grundlinien der Philosophie des Rechts und den daraus resultierenden gesellschaftlichen Bestimmungen übergegangen. In den Grundlinien soll die Realität der Selbstbestimmung als Realität der praktischen Vermittlung des Begriffs und der objektiven und geschichtlichen Bedingungen des Selbstbewußtseins vollzogen sein. Subjekt des Rechts ist der Wille, der das abstrakte Recht als seine Realisationsform setzt. Dieses Recht kann den selbstbewußten Subjekten gegenüber nicht nur transzendent sein, wie der Begriff der Logik, weil es deren Zusammenleben regelt, noch kann das Recht mit den geschichtlich vorgefundenen Verhältnissen unmittelbar identisch sein, denn es soll sich von den historischen Gesellschaften, in denen Herrschaft bestimmend war, spezifisch unterscheiden. Dieses Verhältnis des Willens auf das Recht wird im ersten Kapitel, Der Begriff des Willens, bestimmt. Das Recht soll die gesellschaftliche Selbstbestimmung der Menschen ermöglichen und ihre Lebensbedingungen derart organisieren, daß sie miteinander koordinierbar werden. Damit ist das abstrakte Recht auch die Grundlage der Organisation der Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft. Im Kapitel zum Abstrakten Recht ist dessen sozialontologischer Charakter erstens aus den Problemen der Rechtsbegründung zu entwickeln; zweitens ist dann aber zu zeigen, daß es gegen die Intention Hegels einerseits auf seine Vorgeschichte in der ursprünglichen Besitzergreifung verwiesen bleibt und daß das abstrakte Recht andererseits die spezifische Organisationsform einer historischen Gesellschaft ist. Das abstrakte Recht legt die historisch gegebene Verteilung des Privateigentums an Produktionsmitteln fest, ohne daß Hegel sich bewußt darüber ist, daß mit dem Privateigentum auch die materielle Ungleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft durch die Rechtsordnung selbst festgelegt ist. Im Zusammenhang mit dem abstrakten Recht bestimmt Hegel auch das Verbrechen. Der Wille des Verbrechers soll als notwendige Negation des abstrakten Rechts auf die Moralität führen, in der das äußere Willensverhältnis der Rechtspersonen in ein intentional bestimmtes überführt wird. Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Begriff von gesellschaftlicher Selbstbestimmung soll hier gezeigt werden, daß auch der Grund der Gewalt gegen das Recht nicht im Willen des Verbrechers liegt, sondern in Bedingungen, die dem abstrakten Recht äußerlich bleiben. Insgesamt dienen diese Analysen dem Zweck zu zeigen, daß das abstrakte Recht auf historische Bedingungen verwiesen bleibt, die seinen sozialontologischen Status als Realisierung des vernünftigen Willens in Frage stellen. Diese Kritik am Rechtsbegriff ist nötig, um schließlich den Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft, die die bourgeois ökonomisch versorgen soll, aber zugleich Armut produziert, als Phänomen einer Gesellschaft erklären zu können, deren Zweck eben nicht die Selbstbestimmung und Anerkennung ihrer Mitglieder ist, sondern in dem die geschichtlich überlieferten Gewaltverhältnisse in einer neuen Gestalt bewahrt bleiben. Hegel scheitert an der Erklärung dieser Phänomene, eben weil er sozialontologisch und nicht historisch argumentiert und damit die Auswirkungen des Privatrechts in seinem ganzen Ausmaß unterschätzt.

Der Begriff des Willens

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4.1 Der Begriff des Willens An dem Maßstab der Idee aus der Wissenschaft der Logik, wonach der theoretische und der praktische Begriff der Freiheit objektiv vermittelt sein sollen, und dem Maßstab der Phänomenologie des Geistes, in dem Ich Wir und Wir Ich ist, muß sich die Rechtsphilosophie Hegels messen lassen. Entsprechend ist die Frage, die in der Rechtsphilosophie beantwortet werden soll, die nach dem sittlichen und gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang der Individuen untereinander, deren Wesen und Substanz der freie Wille ist. Das Resultat der Überlegungen Hegels soll ein sittliches Rechtssystem sein, in dem die Freiheit moralisch, ökonomisch, rechtlich und institutionell verwirklicht ist und in das die einzelwissenschaftlichen Resultate eingegangen sind. „Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige, und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur ist.“5

Der Wille ist das Vermögen, Zwecke setzen zu können. Diese Zwecke erhalten im System Hegels verschiedene Bestimmungen: Die Zweckbestimmung im Herrschafts- und Knechtschaftskapitel der Phänomenologie des Geistes changiert zwischen dem vernünftigen Zweck der wechselseitigen Anerkennung der Selbstbewußtseine und den technisch-praktisch bestimmten Zwecken des Herrschers und des Knechtes: Der Herr kann seine privilegierte Stellung nur dadurch sichern, daß er über das vom Knecht produzierte Mehrprodukt verfügt. Sein Zweck ist daher nicht die wechselseitige Anerkennung, sondern die Aneignung der Mehrprodukte. Der Knecht muß sich dagegen den Zweck des Herren aneignen, weil er nur über dessen Zuteilung an die Mittel seiner und seines Herren Reproduktion gelangt. D. h. daß die Anerkennung des Herrn durch den Knecht darüber erzwungen ist, daß er das Mehrprodukt ebenso wollen muß wie sein Herr. Auf diese Weise ist das jeweilige Objekt der Anerkennung nicht das Selbstbewußtsein des jeweils anderen, sondern beide beziehen sich auf die jeweilige ökonomische Position. Selbst der Herr, der eigentlich die erhabene Position inne hat, sich mit den Belangen der Naturbearbeitung nicht unmittelbar auseinandersetzen zu müssen, wird von dem Knecht nur in seiner Rolle als Besitzer der Produktionsmittel gesehen. Damit resultiert entgegen der Intention Hegels für keinen der beiden die Anerkennung ihres Selbstbewußtseins aus dem Prozeß, sondern die Anerkennung eines ökonomischen Privilegs. D. h. daß der Gegenstandsbereich von Herrschaft und Knechtschaft nicht bloß das philosophische Selbstbewußtsein ist, sondern auch die Geschichte politischer Ökonomie als dessen objektiver Bedingung. Im Verhältnis von Herr und Knecht wird das Vermögen des Willens nicht reflektiert. Die Zwecke des Herrn und des Knechts sind nicht die Zwecke der willensbegabten Individuen, sondern es sind die Zwecke eines allgemeingültigen Selbstbewußtseins. Allein dessen Zweck sich als die Einheit von Selbstbewußtsein und Leben im Anerkennungs5

Hegel. Grundlinien, § 4.

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Gesellschaftliche Selbstbestimmung und Arbeit in den Grundlinien

verhältnis zu realisieren, begründet den Fortgang. Das Ziel der Argumentation von Herrschaft und Knechtschaft liegt für Hegel darin, die über das Herrschaftsverhältnis vermittelte Bewegung als Bewegung des Begriffs und damit als systematisches Moment zu entwickeln, oder anders gesagt: Herrschaft wird nicht als historisches Phänomen kritisiert, sondern als notwendig konstitutives Moment der Bewegung integriert. Wenn aber gegen die Intention Hegels das Resultat von Herrschaft und Knechtschaft nicht das realisierte Anerkennungsverhältnis ist, sondern sich die Zwecke der Reproduktion bzw. der Verfügung über das Mehrprodukt verselbständigen, dann sind diese Zwecke aus dem Begriff des Selbstbewußtseins nicht abzuleiten, sondern nur aus einem Willen, der sich auch unreflektierte Zwecke setzen kann. Dieser Wille erscheint in der Nichtübereinstimmung des vernünftigen Zwecks der Anerkennung und des Zwecks der Unterwerfung eines anderen Selbstbewußtseins. Ebenso will – wahrlich dialektisch – die Idee der Wissenschaft der Logik ohne den Willen auskommen: Im Anfang der Wissenschaft wird mit dem „Entschluß, den man auch für eine Willkühr ansehen kann, nemlich daß man das Denken als solch es betrachten wolle“6 das willensbegabte Subjekt von der logischen Entwicklung abgekoppelt, so daß der Begriff des subjektiven Zwecks „in ihm selbst der Trieb seiner Realisirung“ 7 ist. Die Begründung dieser Voraussetzung wird dann am Ende der Wissenschaft der Logik, in der Idee des Lebens, auf ihren avanciertesten und darin zugleich zynischen Begriff gebracht, den Begriff des Individuums zugunsten der reinen Selbstbestimmung des Begriffs zu funktionalisieren, um damit die Voraussetzung aus dem Anfang der Wissenschaft einzuholen: „In der Begattung erstirbt die Unmittelbarkeit der lebendigen Individualität; der Tod dieses Lebens ist das Hervorgehen des Geistes.“8 Explizit wird der Wille als subjektives Vermögen erst im objektiven Geist abgehandelt und damit als ein Begriff, der aus der absoluten Idee und über die Stufen der Naturphilosophie und des subjektiven Geistes vermittelt systemimmanent gesetzt wird: Der aus sich selbst entwickelten absoluten Idee mangelt es an Realität, sie muß sich in die Welt entlassen. Zu dieser Objektivierung gehört auch die Ableitung des Willens als Begriff des subjektiven Geistes, so daß vom Standpunkt der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften der Wille ebenso als Begriff der Anthropologie, Phänomenologie und Psychologie bestimmt wird. Der Einzelwille, der im System aus dem Begriff der absoluten Idee abgeleitet wird, unterscheidet sich vom empirischen Willen, von dem am Anfang der Wissenschaft der Logik willentlich abstrahiert wird, dadurch, daß sein Bestimmungsgrund mit dem des Begriffs identisch ist: Der Wille ist nur heteronom bestimmt, weil der Begriff sich in sich differenzieren muß, nicht aber weil er unter Bedingungen agierte, über die er nicht verfügte. Die Bühne der Rechtsphilosophie betritt der Wille als der an der Schwelle zur sittlichen Praxis stehende Indifferenzpunkt der logischen Idee der Selbstbestimmung, des tech6 7 8

Hegel. Lehre vom Sein und vom Wesen, 56. Hegel. Lehre vom Begriff, 162. Ebd., 191.

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nisch-praktischen Willens der Phänomenologie und des subjektiven Geistes der Enzyklopädie: „Der an und für sich freie Wille, wie er in seinem abstrakten Begriffe ist, ist in der Bestimmtheit der Unmittelbarkeit. Nach dieser ist er seine gegen die Realität negative, nur sich abstrakt auf sich beziehende Wirklichkeit – in sich einzelner Wille eines Subjekts. Nach dem Momente der Besonderheit des Willens hat er einen weiteren Inhalt bestimmter Zwecke und als ausschließende Einzelheit diesen Inhalt zugleich als eine äußere, unmittelbar vorgefundene Welt vor sich.“9

Der Wille ist das Vermögen des Subjekts der Sittlichkeit und als solches gleichermaßen Vermittlung und Unmittelbarkeit. Als Indifferenzpunkt von Denken und Wollen ist der Wille Reflexion in sich, reines Denken des Ich. Dieses reine Ich ist ebenso frei wie unbestimmt, denn ohne einen bestimmten Inhalt hat es zwar keine Beschränkung, ist aber auch nicht wirklich, sondern nur möglich. Trotzdem liegt in dieser Bestimmung die spezifische Differenz des menschlichen Willens zum Trieb des Tieres, denn dieses kann von seiner Naturhaftigkeit nicht abstrahieren, sondern sich nur an seine Lebensumstände gewöhnen. Es hat deshalb nicht die Möglichkeit zu planen. 10 Analog der logischen Schlußform bestimmt sich der allgemeine Wille weiter als besonderer Wille, der nicht nichts, sondern etwas Bestimmtes will und als einzelner Wille, der die beiden vorherigen Bestimmungen vermittelt, so daß im Resultat der einzelne Wille in dem, was er will, in einem anderen bei sich selbst ist. „Der Wille ist aber nicht an ein Beschränktes gebunden, sondern muß weiter gehen, denn die Natur des Willens ist nicht diese Einseitigkeit und Gebundenheit, sondern die Freiheit ist, ein Bestimmtes zu wollen, aber in dieser Bestimmtheit bei sich zu sein und wieder in das Allgemeine zurückzukehren.“11

Durch diesen logischen Schluß wird der Wille der Begriff, dessen wesentliches Merkmal die Freiheit der Selbstbestimmung ist: ein Wille, der sich selber will, aber dabei zugleich auch in der ihm gegenüberstehenden Außenwelt realisiert ist. Der Wille ist ein Vermögen des Selbstbewußtseins. Dieses weiß sich in Abgrenzung gegen die Außenwelt als an einen Körper gebunden, als erscheinendes Bewußtsein und als absolutes Wissen. Auf der Stufe der Rechtsphilosophie ist das Selbstbewußtsein also ein bereits vermitteltes, dessen Vorstellungen an und für sich vernünftig sind. Damit stellt sich auf der Stufe der Grundlinien weder das Problem, daß der Wille seinen eigenen Begriff geschichtlich noch nicht erfaßt hätte oder gar verneinte. Der Wille will sich. 9

10

11

Hegel. Grundlinien, § 34. Schmidt am Busch attestiert der Forschung zum Hegelschen Arbeitsbegriff ein Mangel an Reflexivität bezüglich des Willensbegriffs. „Auffallend ist in diesem Zusammenhang, daß der Begriff der Arbeit als ‚das (diesseitige) sich zum Dinge/Gegensande machen‘ vielfach unter Ausblendung der Willensbewegung, deren Analyse der ‚praktische‘ Teil der Philosophie des Geistes von 1805/06 ist, interpretiert wird […]“ Hans-Christoph Schmidt am Busch. Hegels Begriff der Arbeit, 15. Er baut daher seine Darstellung auf der Analyse des Willensbegriffs auf, allerdings stützt er sich auf die Philosophie des Geistes, nicht auf die Grundlinien. Vgl. Hegel. Grundlinien (Werke), 51 Zusatz. In der Bestimmung des Planens und der antizipierenden Zwecksetzung, die der menschlichen Tätigkeit vorausgesetzt ist, liegt auch die spezifische Differenz zum Evolutionsprozeß der Tiere, der in der Literatur – besonders seit Engels’ „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“ gern diskutiert wird. Tiere arbeiten nicht. Vgl. auch S. 268 ff. Hegel. Grundlinien, 57, Zusatz.

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Noch stellt sich das Problem, daß die objektiv gegebenen rechtlichen, politischen und ökonomischen Bedingungen der Verwirklichung des Willens prinzipiell entgegenstünden. Der (An-)Trieb des Willens ist lediglich, sich als noch nicht realisiert zu wissen, sein Zweck ist es daher, sich auszuführen. Der Wille im Stadium seines reinen Begriffs weiß von seiner praktischen Möglichkeit, weiß, daß er sich realisieren soll und geht derart reflektiert auf die Außenwelt los, darauf rechnend, daß diese dabei kein unüberwindbares Hindernis darstellt. Obgleich aber der Begriff des Willens geistesgeschichtlich eingeholt ist, muß die systematische Entwicklung innerhalb der Rechtsphilosophie noch ausgeführt werden. Zunächst weiß aber der Wille noch nicht, was er ist, so daß auch sein Zweck nicht selbstbestimmt sein kann. Die Freiheit des Willens, die Wirklichkeit gestalten zu sollen, ist noch gegenstandslos. In dieser ersten unreflektierten Gestalt erscheint der Wille daher nicht als reflektiert, sondern als natürlich und bestimmt seinen Inhalt nicht selbst, sondern wird durch Triebe, Begierden, Neigungen bestimmt. Inhalt und Zweck seiner Tätigkeit gelten deren Befriedigung. Triebe, Begierden, Neigungen, sowie die ihnen korrespondierenden Inhalte und Arten der Befriedigung sind mannigfaltig, so daß die Befriedigung eines bestimmten Bedürfnisses voraussetzt, daß der Wille seine allgemeine Absicht, sich zu realisieren, konkretisiert und auswählt und sich damit zugleich für die Realisierung eines bestimmten Zwecks entscheidet. Zwischen verschiedenen Inhalten wählen zu können, setzt ein Moment der Freiheit gegen die Triebe und Neigungen voraus, die Freiheit der Willkür. Für die Willkür bleibt es aber zufällig, welchen Inhalt sie auswählt. Zwar ist es notwendig, daß sich der Wille bestimmt und einen Inhalt setzt, welcher Inhalt aber gewählt wird, ist nicht durch den Willen bestimmt, sondern hängt von der Art des Bedürfnisses und den vorgefundenen Bedingungen seiner Realisierung ab. „Die Willkür ist, statt der Wille in seiner Wahrheit zu sein, vielmehr der Wille als der Widerspruch.“12 Der Widerspruch liegt aber nicht nur im Verhältnis des freien Willens zu seinem unfreien Zweck, sondern auch darin, daß die Triebe, welche befriedigt werden sollen, sich wechselseitig stören und daher untergeordnet oder aufgeopfert werden müssen. Umgekehrt gibt es keine vollständige Befriedigung. Vielmehr erneuern sich die Triebe und der Wille ist bis ins schlecht Unendliche mit der Befriedigung heteronomer Bedürfnisse beschäftigt. In dieser Sisyphusarbeit der Bedürfnisbefriedigung droht sich der Wille zu verlieren, wenn Hegel nicht zeigen kann, daß sich der Wille darin schon selbst zum Gegenstand hat. In der Enzyklopädie unterscheidet Hegel zwischen Trieb und Begierde, indem jener, obwohl er Ausdruck der Einzelheit des Individuums ist, von dem bereits aufgehobenen Gegensatz zwischen Subjektivität und Objektivität ausgeht. Der Trieb ist damit eine Form der wollenden Intelligenz, während die Begierde noch eine Gestalt des Selbstbewußtseins ist, das als Einzelnes Einzelnes will und die Welt noch als absolut entgegengesetzte wahrnimmt.13 Trieb ist hier also kein Begriff der empirischen Psychologie, son12 13

Ebd., § 15 Anmerkung. Vgl. Hegel. Enzyklopädie III, 295, Zusatz.

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dern bezeichnet die logische Nötigung, den Mangel des selbstbestimmten Willens, noch nicht realisiert zu sein, zu beheben. „Im praktischen Gefühl ist es zufällig, ob die unmittelbare Affektion mit der inneren Bestimmtheit des Willens übereinstimmt oder nicht. Diese Zufälligkeit, dies Abhängigsein von einer äußeren Objektivität widerspricht dem sich als das An-und-für-sich-Bestimmte erkennenden, die Objektivität in seiner Subjektivität enthalten wissenden Willen. Dieser kann deshalb nicht dabei stehenbleiben, seine immanente Bestimmtheit mit einem Äußerlichen zu vergleichen und die Übereinstimmung dieser beiden Seiten nur zu finden, sondern er muß dazu fortschreiten, die Objektivität als ein Moment der Selbstbestimmung zu setzen, jene Übereinstimmung, seine Befriedigung, also selber hervorzubringen. Dadurch entwickelt sich die wollende Intelligenz zum Triebe. Dieser ist eine subjektive Willensbestimmung, die sich selber ihre Objektivität gibt.“14

In den Grundlinien der Philosophie des Rechts wird diese Bestimmung dann noch enger gefaßt: Es ist der Trieb des freien Willens, sich als freier zu realisieren, und das kann nur in einer ihm angemessenen Realität gelingen, in einem System der Inhalte, in dem der Vorstellung Hegels nach die Realisierung vernünftiger gesellschaftlicher Organisationsund Reproduktionsbedingungen zum Trieb des Willens selbst werden. Der per se vernünftigen Nötigung des Willens, sich zu realisieren, ist der psychologische Trieb dann als Mittel derart subsumiert, daß er die Bedingung der Realisierung des freien Willens ist: Nur wenn die körperlichen und seelischen Bedürfnisse hinreichend befriedigt sind, kann sich auch der freie Wille entfalten.15 Sie sind deshalb im Hinblick auf den Willen weder gut noch böse, sondern notwendige Bedingung seiner Realisierung, sein Interesse. Unfrei wird der Wille erst durch die Bedingungen, die die Triebe ihrerseits zu ihrer Befriedigung vorfinden. Entscheidend ist für Hegel deshalb die Frage, ob die Mittel zur Bedürfnisbefriedigung in ausreichendem Maße vorhanden sind und wie sie produziert und verteilt werden. Das sind, wie Hegel sagt, rechtliche und im erweiterten Sinne dann überhaupt gesellschaftliche Probleme und keine Probleme der Anthropologie16 oder der 14 15

16

Hegel. Enzyklopädie III. 295, Zusatz. Davon, daß die Befriedigung nicht nur materieller, sondern auch seelischer Bedürfnisse eine unabdingbare Voraussetzung vernünftigen Denkens und Handelns ist, zeugt die empirische Psychologie, deren Gegenstand es ist, die neurotische und psychotische Verselbständigung des Ichs darzustellen, zu begreifen und zu behandeln. Diese Verselbständigung kann im weitesten Sinne als der Ausdruck der Nichtübereinstimmung des Ich mit sich selbst oder des Ich mit der Welt verstanden werden. „[D]ie Neurose sei der Erfolg eines Konflikts zwischen dem Ich und seinem Es, die Psychose aber der analoge Ausgang einer solchen Störung in den Beziehungen zwischen Ich und Außenwelt.“ Sigmund Freud. Elemente der Psychoanalyse. Bd. 1. Frankfurt a. M., 2006, 471. In dieser Definition Freuds deutet sich an, daß die empirisch erkrankten Subjekte negativ der Form der Reflexivität des Begriffs genügen: Der Störung der Einheit von Identität und Nichtidentität ist die Einheit als das, was gestört wird, unterstellt. Die erkrankten empirischen Subjekte sind aber der Prüfstein, der mit dem Begriff Hegels nicht identisch ist, da die individuelle Identitätsfindung in der Krankheit scheitert. Daß dieses Scheitern nicht einfach dialektisch aufzuheben ist, sondern sich gegen das Bedürfnis nach Identität auch verselbständigt, dokumentiert eben die empirische Psychologie. Ein anthropologisches Gegenmodell zu der sozialontologischen Freiheitsbestimmung Hegels stellt die Bestimmung von Hobbes dar, der es dem Wesen der Menschen zurechnet, untereinander um die zu ihrer Selbsterhaltung nötigen Mittel zu kämpfen, so daß sich die Menschen qua ihrer Natur im Krieg aller gegen alle befänden: „So liegen also in der menschlichen Natur drei hauptsächliche Konfliktursachen: Erstens Konkurrenz, zweitens Mißtrauen, drittens Ruhmsucht. Dies erste führt zu Übergriffen der Menschen des Gewinnes, die zweite der Sicherheit und die dritte des Ansehens

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empirischen Psychologie. Nur in diesem Sinne ist auch die Identifikation von Trieb und Inhalt des Triebes zu verstehen: „Das Wahrhafte dieser unbestimmten Forderung ist, daß die Triebe als das vernünftige System der Willensbestimmung seien; sie so aus dem Begriffe zu fassen, ist der Inhalt der Wissenschaft des Rechts. Der Inhalt dieser Wissenschaft kann nach allen seinen einzelnen Momenten, z. B. Recht, Eigentum, Moralität, Familie, Staat usf., in der Form vorgetragen werden, daß der Mensch von Natur den Trieb zum Recht, auch den Trieb zum Eigentum, zur Moralität, auch den Trieb der Geschlechterliebe, den Trieb zur Geselligkeit usf. habe.“17

Der selbstbestimmte Wille will das Einzelne nicht um des Einzelnen willen, sondern indem er Einzelnes will, will er zugleich die seiner Realisierung gemäße Realität, deren Gestaltung deshalb sein Zweck ist. Recht, Eigentum, Moralität, Familie und Geselligkeit als Formen der Sittlichkeit sind Gestalten seiner Selbstbestimmung und stellen den Rahmen dar, innerhalb dessen die Befriedigung der unmittelbaren Begierden ebenfalls stattfinden kann. Inwieweit der Wille dann tatsächlich über dieses „System des Inhalts“, das auch geschichtliche Wurzeln hat, als seine zweite Natur verfügen kann, wird zu hinterfragen sein.18 Der logische Schluß, durch den der Willensbegriff von Hegel entwickelt wird, setzt also den Begriff des reinen Willens voraus. Durch dessen Negation schließt Hegel auf die Begriffe der Willkür und des Bedürfnisses. Das Aufheben dieser Bewegung wird durch den Begriff des Systems des Inhaltes vorbereitet, indem darin die Bedingung der Affinität des Inhalts für den Zweck des Willens formuliert ist. Die Vollendung des logischen Schlusses erfolgt schließlich über den Reflexionsbegriff der Glückseligkeit. Mit dem Begriff der Glückseligkeit ist die größtmögliche Befriedigung der Bedürfnisse bezeichnet und darin eine Allgemeinheit der Triebe, die aber auf das größtmögliche Glück und damit technisch-praktisch ausgerichtet ist, während der Begriff des Willens verlangt, daß dieser sich in seinen Zwecken selbst zum Gegenstand macht:

17 18

wegen. Die ersten wenden Gewalt an, um sich zum Herrn über andere Männer und deren Frauen, Kinder und Vieh zu machen, die zweiten, um dies zu verteidigen und die dritten wegen Kleinigkeiten wie ein Wort, ein Lächeln, eine verschiedene Meinung oder jedes andere Zeichen von Geringschätzung, das entweder direkt gegen sie selbst gerichtet ist oder in einem Tadel ihrer Verwandtschaft, ihrer Freunde, ihres Volks, ihres Berufs oder ihres Namens besteht. Daraus ergibt sich klar, daß die Menschen während der Zeit, in der sie ohne eine allgemeine, sie alle im Zaum haltende Macht leben, sich in einem Zustand befinden, der Krieg genannt wird, und zwar in einem Krieg eines jeden gegen jeden.“ Thomas Hobbes. Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Hrsg. v. Iring Fetscher. Frankfurt a. M., 1984, 95 f. Der Ausgang aus diesem Krieg soll dann über den Vertrag gelingen. Hegel. Grundlinien, § 19. Diese Bestimmung stellt eine entscheidende Abgrenzung gegen Kants Rechtsbegriff dar, der in den gesellschaftlichen Zuständen eben keine dem Wesen der Menschen adäquate Entsprechung sieht: „Folglich: wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d. i. Unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als V e r h i n d e r u n g eines H i n d e r n i s s e s d e r F r e i h e i t mit der Freiheit nach allgemeine Gesetzen zusammen stimmen, d. i. Recht: mithin ist mit dem Rechte zugleich eine Befugnis, den, der ihm Abbruch tut, zu zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft.“ Immanuel Kant. Metaphysik der Sitten. Bd. 8. Frankfurt a. M., 1993, 338 f. Auch hier klingt Hobbes an: „Und nach dieser genauen und allgemein anerkannten Bedeutung des Wortes ist ein Freier, wer nicht daran gehindert ist, Dinge, die er auf Grund seiner Stärke und seines Verstandes tun kann, seinem Willen entsprechend auszuführen.“ Thomas Hobbes. Leviathan, 163.

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„Die auf die Triebe sich beziehende Reflexion bringt, als sie vorstellend, berechnend, sie untereinander und dann mit ihren Mitteln, Folgen usf. und mit einem Ganzen der Befriedigung – der Glückseligkeit – vergleichend, die formelle Allgemeinheit an diesen Stoff und reinigt denselben auf diese äußerliche Weise von seiner Roheit und Barbarei.“19

Mit der Glückseligkeit hat der Wille sich also noch nicht selbst zum Gegenstand. Der zu vollziehende Gegenstandswechsel vom Willen, der seine Glückseligkeit will, zum Willen, der sich selber will, kann unter der Voraussetzung, daß die Affinität des Willens zu dem „System des Inhalts“ erwiesen werden kann, als Perspektivwechsel bestimmt werden: Die Erkenntnis des Inhalts selbst erfolgt schließlich durch die Reflexion darauf, daß eine Realität, in der die Befriedigung der Triebe dem Willen nach Wunsch gelingt, ein Zustand ist, in dem Glückseligkeit und Sittlichkeit bereits koordiniert sind. Wenn der Wille sich in der Objektivität z. B. als Gesellschaft realisiert hat, dann will er mit dieser Realität auch sich selbst. In einer sittlichen Realität haben – so die Vorstellung Hegels – Subjekt und Objekt schon denselben Gegenstandsbereich, was fehlt, ist nur noch die Reflexion darauf, daß dem so ist. „Die absolute Bestimmung oder, wenn man will, der absolute Trieb des freien Geistes, daß ihm seine Freiheit Gegenstand sei – objektiv sowohl in dem Sinne, daß sie als das vernünftige System seiner selbst, als in dem Sinne, daß dies unmittelbare Wirklichkeit sei –, um für sich, als Idee zu sein, was der Wille an sich ist; der abstrakte Begriff der Idee des Willens ist überhaupt der freie Wille, der den freien Willen will.“20

Wenn aber die Realisierung des Willens, der sich selber will, davon abhängt, das die Realität prinzipiell kein Hindernis seiner Realisierung darstellt, die Entwicklung des Begriffs dieser Realität als Begriff der Wirklichkeit aber erst im Verlauf der Grundlinien und damit nach der Entwicklung des Begriffs des Willens erfolgt, dann gelingt die systematische Bestimmung des Willens bei Hegel nur mit Hilfe einer Anleihe an Zukünftiges. In dieser Asymmetrie von logischer und zeitlicher Entwicklung erscheint der Wille wie schon in der Wissenschaft der Logik und der Phänomenologie des Geistes als gegen das System verselbständigtes.21 Der Wille kann nur das zum Gegenstand seiner Verwirklichung machen, was er erkannt hat, aber das, was er erkannt hat, ist seiner Erkenntnis als Gegenstand der Erkenntnis zugleich zeitlich immer schon vorausgesetzt gewesen. Umgekehrt erklärt er das, was er nicht erkannt hat, als unwirklich. Die historisch gegebene Realität erscheint daher als immer schon dagewesene Voraussetzung jeder Selbstbestimmung, wo sie umgekehrt als Resultat von Selbstbestimmung, als Wirklichkeit bestimmt werden sollte. Aus diesem Mißverhältnis von logischer und zeitlicher Voraussetzung resultiert eine Asymmetrie in der Vermittlung von Wille und Realität, die Hegel ihrerseits vermitteln muß, wenn der Wille nicht ohnmächtig auf sich zurückgeworfen sein soll. Hegel ist deshalb genötigt, der in der Formulierung vom „System der Inhalte“ bislang nur impliziten Forderung, 19 20 21

Hegel. Grundlinien, § 20. Hegel. Grundlinien (Werke), 79. Vgl. S. 19 der Einleitung.

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daß die gesellschaftlichen Verhältnisse der Selbstbestimmung des Willens adäquat seien, einen Gehalt zu verleihen, indem er die Voraussetzung der Realität zum Resultat erklärt. Die Alternativen wären – wenigstens vom philosophischen Standpunkt aus – fatal: Die Wirklichkeit des vernünftigen Willens zerfiele in diesem Falle in seine beiden Bestandteile, nämlich einerseits in den Begriff des vernünftigen Willens ohne historische Realität, und andererseits die historische Realität, die unvernünftig bleibt. Die Vermittlung beider im System der philosophischen Wissenschaften müßte dann scheitern, so daß ein derart bestimmter Wille auf die Freiheit der Willkür zurückgeworfen wäre. In der Vorrede der Grundlinien, also noch vor der Abhandlung des Willens, erklärt Hegel deshalb, daß er von einem bestimmten historischen Standpunkt aus argumentiert, den er bereits als Realisierung der Vernunft begreift. „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“22 Gleichzeitig verwahrt er sich aber auch dagegen, die Grundlinien als historische Dokumentation oder positive Rechtswissenschaft mißzuverstehen. Er bestimmt die Rechtsphilosophie als diejenige philosophische Disziplin, die den vernünftigen Gehalt des zur Gegenwart Hegels entwickelten gesellschaftlichen Zustandes darstellt. „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“23

Dabei analysiert er seine Gegenwart nicht rekursiv, schließt also nicht von der historisch existierenden Gesellschaft auf deren Bedingung der Möglichkeit, sondern beansprucht aus dem Prinzip des Willens die Grundzüge einer Realität abzuleiten, die dieselben Wurzeln hat, wie der Wille selbst. Wo diese Realität historisch dem Maßstab der Vernunft widerspreche, bestehe so zumindest die Möglichkeit, sie dem System der Inhalte zu subsumieren. Die Rechtsphilosophie soll weder Utopie, noch positive Rechtslehre sein, 22

23

Hegel. Grundlinien, 14. Eine verändernde Interpretation erfährt dieser Topos Hegels bereits durch seinen Schüler Eduard Gans, der ihn in seiner eigenen Vorlesung mit dem Titel „Naturrecht und Universalgeschichte“ folgendermaßen erläutert: „Die Wirklichkeit ist nicht etwas Erscheinendes, Gleichgültiges, sondern alles, was wahr ist, und gedacht ist, ist wirklich. Der Gegenstand dieser Vorlesung ist die Entwicklung des Rechts an und für sich und aus sich selbst; und der Geschichte, insofern in ihr das vernünftige Recht entwickelt wurde.“ Eduard Gans. Naturrecht und Universalrechtsgeschichte. Stuttgart, 1981, 31. In der Einleitung zu der Vorlesung von Gans erläutert Manfred Riedel das Geschichtsverständnis von Gans wie folgt: „Der Kern der Sache besteht in der von Gans verfolgten Tendenz, das Recht und seine Institutionen zu vergeschichtlichen, d. h. deren grundsätzliche Relativität und darin ihre praktische Reformierbarkeit im Sinne des politisch-liberalen Verfassungsstaats (in monarchischer und/oder republikanischer Gestalt) aufzuzeigen. Im Vergleich mit Hegels Vorlage zeichnet sich zunächst eine weitgehende Übereinstimmung in der Anlage und Disposition des Stoffes ab. Das kann nicht anders sein, da sich Gans stets als Schüler Hegels bekannt und auch hier ausdrücklich erklärt hat, über dessen rechtsphilosophisches Kompendium zu lesen. Von dem Hegelschen Muster weicht die Vorlesung eigentlich nur an drei Stellen ab: sie bringt 1. als Einleitung eine Geschichte des Naturrechts, sie verändert 2. im dritten Teil: Der Staat die Bezeichnung von Abschnitt A: Das innere Staatsrecht in: Die Verfassung, womit der Hegelsche Ausdruck für einen Teilabschnitt (die „innere Verfassung für sich“, in der Einheit von fürstlicher, Regierungs- und Gesetzgebungsgewalt) als Titel des Ganzen erscheint, und sie ergänzt 3. die Rechtsphilosophie durch Rechtsgeschichte.“ Manfred Riedel. „Naturrecht und Universalrechtsgeschichte – Einleitung“ In Naturrecht und Universalrechtsgeschichte. Eduard Gans. Hrsg. v. Manfred Riedel. Stuttgart, 1981, 15. Hegel. Grundlinien, 17 .

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sondern vielmehr philosophische Wissenschaft mit dem Anspruch, sich den Gegenständen nicht nur analytisch oder synthetisch zuzuwenden, was bei Hegel Charakteristika der Einzelwissenschaften sind, sondern die Notwendigkeit des Gegenstandes selbst zu begründen. Der Wille ist in dieser Konstruktion historisch vermittelt und systematisch unmittelbar. Sofern die Vermittlung dieser Voraussetzung in der Phänomenologie des Geistes liegt, wird der Zusammenschluß zwischen Wille und gesellschaftlichen Bedingungen problematisch, weil die im Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis liegende Gewalt schief zum Anspruch der Grundlinien steht, vernünftig zu sein.24 Das substantielle Prinzip der Staaten sei der freie Wille, der in der modernen Gesellschaft als anerkannter gesetzt sei. Die darin unterstellte Transformation der geschichtlichen Bedingungen in rechtsphilosophische gelingt nur durch Ratifizierung ihrer Entstehungskosten.25 Das hatte Hegel in der Phänomenologie dadurch vorbereitet, daß er den Akt der Gewalt als konstitutives Moment der Anerkennung der Selbstbewußtseine faßte, die aber als technisch-praktische Anerkennung gar nicht auf das jeweils personifizierte Selbstbewußtsein, sondern nur auf die durch es inkarnierte Macht bezogen ist.

Exkurs: Der schmale Grat zwischen Apologie und gesellschaftlicher Selbstbestimmung Der Philosophie im allgemeinen wie der Philosophie Hegels im besonderen ist also eine Tendenz zur Ratifizierung von Gewalt zu eigen, die zu reflektieren ist, wenn der Anspruch an den Begriff von Selbstbestimmung auch moralisch-praktisch gemeint ist. Bei Hegel wird die Tendenz zur Ratifizierung durch die Indifferenz zwischen den Gegen24 25

Vgl. Hegel. Enzyklopädie, § 433, Anmerkung. Oder S. 183 dieser Arbeit. Ein Modell für diese Ratifizierung ist der Volksgeist. Vgl. dazu Dirk Meyfeld: „Zur Rechtfertigung der Kriege der Moderne taugen deshalb allein jene irrationalen, chauvinistischen und ideologischen Vorstellungen zu den Volksgeistern, welche als Zeitgeist des 19. Jahrhunderts der Rationalität Hegels sonst diametral entgegenstehen. Nach all dem, was zu dieser Konstellation gehört, muss Hegels Begriff der Volksgeister mit den virulenten Vorstellungen seiner Zeit vielmehr als verträglich erscheinen. Als Reaktion auf die Aporien des Völkerrechts gibt Hegels Konzept zu den Volksgeistern grundlos dem jeweils Stärkeren recht und kongruiert mit den vernunftlosen Konzepten kultureller Überlegenheit. […] Darüber hinaus nimmt dies Konzept, mit der Wendung gegen die Universalität des Kosmopolitismus, ferner den Universalismus und Liberalismus der bürgerlichen Rechtsvorstellung zurück. Obwohl Hegel selbst das Recht und die Neutralität der staatlichen Institutionen substanziell in der Universalität der Menschheit begründet, muss er dies nach jener Wendung zugunsten eines Volksgeistes aufgeben, der sich nun etwa als preußischer Volksgeist in den staatlichen Institutionen ein Dasein verschafft. Die Objektivität der Institutionen des Staates wird ebenso wie die Gleichheit aller Rechtspersonen vor den bürgerlichen Gesetzen adäquat durch die Abstraktion von den ethnischen, kulturellen oder religiösen Unterschieden erreicht. Die objektive Gültigkeit der rechtlichen Ordnungen sowie deren Anspruch auf logische Konsistenz werden derart in der Universalität menschlicher Vernunft sowie der Menschheit überhaupt fundiert. Dieser Gedanke eignet dem Wesen der Hegelschen Rechtslehre bis zu dem Punkt, an dem sie mit den Argumenten zur Kategorie der Volksgeister selbst einem Räsonieren verfällt, dessen ‚Seichtigkeit‘ sie sonst bis aufs Mark entblößt.“ Dirk Meyfeld. „‚Dieses Volk ist in der Weltgeschichte für diese Epoche das Herrschende‘ – Zur Problematischen Kategorie des Volksgeistes in der Rechtslehre.“ 26 f.

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standsbereichen von Wille und gesellschaftlichen Bedingungen verursacht. Um diese Indifferenz als solche auch darstellen zu können, muß auf eine Gestalt zurückgegriffen werden, in der die Gegenstandsbereiche auch als unterschiedene behandelt werden: die Kritik der praktischen Vernunft von Kant. Kant leitet den Dualismus autonomer und heteronomer Willensbestimmung nicht wie Hegel aus dem Begriff des Willens ab. Ihm ist es um die Begründung der Bedingung der Möglichkeit praktischer Freiheit zu tun, die den Begriff negativer Freiheit, der als spekulativer Begriff aus der 3. Antinomie der Kritik der reinen Vernunft erschlossen wurde, ergänzt. Der negative Freiheitsbegriff wird als Bedingung der Möglichkeit einer Erscheinung erschlossen, die zunächst durch ihre Ursache begründet ist, die wiederum die Wirkung einer weiteren Ursache ist usw. Dieser Regreß der Naturursachen kommt nicht von selbst zu einem Ende. Weil aber ohne die erste Ursache die Bedingungen der Erscheinung niemals vollständig wären, muß auf den Begriff einer ersten Ursache geschlossen werden, die außerhalb der Naturkausalität steht und deshalb frei ist. Gegenstand der Kritik der praktischen Vernunft ist der Nachweis, daß der Begriff dieser Freiheit konsistent als selbständiges Vermögen gedacht werden kann. Diese Selbständigkeit setzt wiederum voraus, daß die praktische Vernunft sich autonom bestimmen kann: „Denn wenn sie als reine Vernunft wirklich praktisch ist, so beweist sie ihre und ihrer Begriffe Realität durch die Tat, und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit, es zu sein, ist vergeblich.“26 Damit folgt Kant der Fragestellung, „ob reine Vernunft zur Bestimmung des Willens für sich allein zulange, oder ob sie nur als empirisch-bedingte ein Bestimmungsgrund desselben sein könne“27. Um die Selbständigkeit der praktischen Vernunft beweisen zu können, muß Kant zwischen autonomer und heteronomer Willensbestimmung streng unterscheiden, denn nur wenn der Wille durch einen autonomen Grund unabhängig von dem Streben nach Glückseligkeit bestimmt werden kann, ist praktische Freiheit möglich. Heteronom bestimmt ist der Wille, wenn er es auf die Befriedigung seines Verlangens abgesehen hat. Daß das Verlangen befriedigt werden muß, ist gemäß Kant jedoch unvermeidlich. „Glücklich zu sein, ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens.“28 Den Inbegriff praktischer Freiheit bestimmt er dagegen negativ als das Vermögen, vor aller Erfahrung und unabhängig von der Notwendigkeit, seine Bedürfnisse befriedigen zu müssen, Zwecke setzen zu können. „Der Wille wird als unabhängig von empirischen Bedingungen, mithin, als reiner Wille, durch die bloße Form des Gesetzes als bestimmt gedacht und dieser Bestimmungsgrund als die oberste Bedingung aller Maximen angesehen.“29 Mit dieser Exposition des Willensbegriffs, die den Bestim-

26 27 28 29

Kant. Kritik der praktischen Vernunft, AA 3. Ebd., 16, AA 15. Ebd., 28, AA 25. Ebd., 36, AA 31.

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mungsgrund des freien Willens aus der Welt empirischer Erfahrung ausschließt, verstrickt sich Kant in Widersprüche. Zunächst spitzt er selbst den Dualismus heteronomer und autonomer Willensbestimmung auf ein antinomisches Verhältnis zu.30 Die moralische Willensbestimmung ist ein Begriff der praktischen Vernunft, für dessen Geltung und Realisierung Unbedingtheit gefordert ist. Der Wille kann nur durch ein Prinzip geleitet sein, also entweder durch das Prinzip der praktischen Vernunft oder durch das Prinzip der Glückseligkeit. Wenn er durch das Prinzip der Glückseligkeit bestimmt ist, dann geschieht die Handlung nicht aus Pflicht, obgleich sie trotzdem pflichtgemäß sein kann. Andererseits ist eine Handlung, die dem Maßstab der praktischen Vernunft genügen soll, dabei aber nur auf Kosten der Glückseligkeit umgesetzt werden kann, undenkbar. Der Wille muß die Glückseligkeit also zum Bestimmungsgrund machen, weil anders die Befriedigung der Bedürftigkeit der Subjekte nicht gelingen kann. Die Vereinbarung von Tugend und Glückseligkeit muß also wenigstens möglich sein. Der Begriff der unbedingten Übereinstimmung beider ist das höchste Gut: „Denn der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, wenn wir uns auch nur ein solches zum Versuche denken, gar nicht zusammen bestehen. Sofern Tugend und Glückseligkeit zusammen den Besitz des höchsten Guts in einer Person, hierbei aber auch Glückseligkeit, ganz genau in Proportion der Sittlichkeit (als Wert der Person und deren Würdigkeit, glücklich zu sein) ausgeteilt, das höchste Gut einer möglichen Welt ausmachen: so bedeutet dieses das Ganze, das vollendete Gute, worin doch Tugend immer als Bedingung das oberste Gut ist, weil es weiter keine Bedingung über sich hat, Glückseligkeit immer etwas, was dem, der sie besitzt, zwar angenehm, aber nicht für sich allein schlechterdings und in aller Rücksicht gut ist, sondern jederzeit das moralische gesetzmäßige Verhalten als Bedingung voraussetzt.“31

Der Widerstreit zwischen dem Zweck der Glückseligkeit und dem der Sittlichkeit rührt daher, daß sie sich auf unterschiedliche Gegenstandsbereiche beziehen: Die Glückseligkeit ist nur in Abhängigkeit von den Bedingungen der Natur realisierbar, die Tugend ist hingegen auf die reine praktische Vernunft verwiesen. Der Existenzgrund der Natur kann – wenn überhaupt – nur als problematischer Begriff der reinen Vernunft im Ding an sich oder dem transzendentalen Ideal erschlossen werden; Existenzgrund der Tugend ist dagegen die praktische Vernunft selbst. Bedingung der Möglichkeit für die „Kritische Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft“ 32 ist gemäß Kant die Affinität der beiden Gegenstandsbereiche. Diese Affinität kann für „eine Natur, die Objekt der Sinne ist, niemals anders als zufällig stattfinden“33 . Weil sie aber doch wenigstens möglich sein muß, wird sie in den Postulaten der praktischen Vernunft erschlossen: Die Annahme der Existenz Gottes als Existenzgrund der Natur soll die Vereinbarkeit von Natur und praktischer Ver30 31 32 33

Vgl. Kant. Kritik der praktischen Vernunft, 131 AA 113. Ebd., 128, AA 110 f. Ebd., 132, AA 114 f. Ebd., 132 AA 115.

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nunft erklären. Die Erreichung eines Zustandes, in dem das höchste Gut realisiert ist, kann für endliche Subjekte nur als unendliche Annäherung gedacht werden, deren regulative Bedingung der Möglichkeit Kant mit dem Postulat der Unsterblichkeit der Seele formuliert. Nach Kants eigener Auskunft sollen die Postulate nur die logische Konsistenz des Begriffs der praktischen Vernunft gewährleisten, nicht aber objektive Realität beanspruchen. Aber die Vorstellung einer nur in unendlicher Annäherung – also gar nicht – zu erreichenden Übereinstimmung von Sittlichkeit und Glückseligkeit steht moralisch im Gegensatz zu der Feststellung, daß Bedürfnisse real notwendig befriedigt werden müssen. Der Wirklichkeit bleibt das Spektrum zwischen der Umsetzung des größtmöglichen Wohls Einiger auf Kosten Vieler, also unter unmoralischen Bedingungen, und der Umsetzung eines sittlichen Zustandes, in dem die Bedürfnisbefriedigung der Subjekte zwar Mittel, nicht aber gleichberechtigter Zweck ist. Kant bestimmt das höchste Gut deshalb analog des christlichen Erlösungsgedankens als ein Jenseitiges: das in der Ewigkeit und damit real nicht existierende Reich Gottes. Für die Bedürftigen bleibt nur der hilflose Trost, daß das höchste Gut – wenn überhaupt – erst post mortem zu haben ist, aber auch nur dann, wenn sie sich zu Lebzeiten als seiner würdig erweisen. „Die Heiligkeit der Sitten wird ihnen in diesem Leben schon zur Richtschnur angewiesen, das dieser proportionierte Wohl aber, die Seligkeit, nur als in einer Ewigkeit erreichbar vorgestellt; weil jene immer das Urbild ihres Verhaltens in jedem Stande sein muß, und das Fortschreiten zu ihr schon in diesem Leben möglich und notwendig ist, diese aber in dieser Welt, unter dem Namen der Glückseligkeit, gar nicht erreicht werden kann (soviel auf unser Vermögen ankommt) und daher lediglich zum Gegenstande der Hoffnung gemacht wird.“34

Mit dem Begriff des höchsten Guts als Versuch, die Antinomie der praktischen Vernunft aufzuheben, abstrahiert Kant gegen seine eigene Einsicht von den realen Bedingungen des höchsten Guts. Statt dessen beruft er sich auf die christliche Tradition, die nicht nur Gestalt der Wahrheit ist, sondern auch den Keim der Repression in sich trägt.35 34 35

Kant. Kritik der praktischen Vernunft, 148, AA 128 f. Die christliche Lehre, auf die Kant sich bei der Rechtfertigung des höchsten Gutes bezieht, liefert ebenso eine passende Herrschaftsideologie. Das mythische Urbild des Menschen im Christentum charakterisiert ihn durch den Sündenfall, in dem er sich von Gott abkehrt und von diesem aus dem paradiesischen Zustand in den Zustand der Bedürftigkeit und Mühe versetzt wird. Aus dieser ursprünglichen Handlung der Menschen wird die Bedürftigkeit als sündhaft und die Pflicht, die Schuld ein Leben lang entbehrungsreich und ohne Aussicht auf diesseitige Erlösung abzutragen, abgeleitet. „Du sollst nicht davon essen-, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.“ (Deutsche Bibelgesellschaft. Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers: mit Wortkonkordanz. Stuttgart, 2000, V. 3,16 ff. So sehr die christliche Lehre zu ihrer Zeit den avancierten Stand der abendländischen Geistesgeschichte darstellte, liegt in diesem Grundzug ein repressives Moment, das in dem Maße hervortritt, in dem Religion ihre geschichtliche Funktion als Gestalt der Wahrheit verliert. Christoph Türcke faßt den Sündenfall als Übergang vom paradiesischen Zu-

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Das Negativ zum materiellen Glück ist der Hunger. 36 Über Jahrtausende war Hunger eine Geißel der Menschheit, da ihre Reproduktionsmöglichkeiten beschränkt waren: Sie bewegten sich in den Grenzen des Verhältnisses von Bodenertrag, Bevölkerungszahl und den das Verhältnis beeinflussenden Naturschwankungen, wie extreme Wetterverhältnisse, Krankheiten und dergleichen mehr. Umgekehrt sind die Menschen ihrem Wesen nach dazu fähig, mehr zu produzieren, als für die unmittelbare Reproduktion nötig ist. Die Verfügung über dieses Mehrprodukt wurde zum Objekt der Herrschaft. Durch die Ausbeutung der Arbeitsleistung Vieler z. B. in den antiken Sklavenhaltergesellschaften auf einem technisch relativ einfachen Niveau konnten Wenige gut leben und sich den angenehmeren Dingen des Lebens widmen. Mit der Produktivkraftentwicklung ab dem 14./15 Jh. entwickelten die Menschen Organisationsformen und Techniken, wie z. B. die Drei-Felder-Wirtschaft, durch welche der Hunger tendenziell beherrschbar wurde – sicher seit der Entwicklung der Maschinerie und der großen Industrie seit Ende des 18. Jh. Aber dieselbe Entwicklung, die den Hunger beherrschbar machte, ging einher mit der Entwicklung von Herrschaftsformen, die sich auf die Verfügung über die Produktionsbedingungen bezogen, so daß der Hunger in demselben Maße, in dem er hätte abgeschafft werden können, zu Herrschaftszwecken instrumentalisiert wurde.37

36 37

stand in den Stand der Arbeit, wobei er den paradiesischen Zustand als in sich widersprechend begreift: „Der Fluch, den sich die Menschen dadurch zuzogen, daß sie anfingen, sich von bloßer Natur zu unterscheiden, ist der Brennpunkt der biblischen Urgeschichte. Wohl mag ihr Anfang auf den ersten Blick als Musterbeispiel einer idealistischen Konstruktion erscheinen: Aus dem göttlichen Geist geht eine ideale Welt hervor, aus der idealen Welt dann die sündige. Doch diese Konstruktion destruiert sich im Zuge ihr Entfaltung selbst. Das Paradies offenbart sich als unauflöslicher Widerspruch: Es muß ideal sein, weil es göttlichen Ursprungs ist, und es kann nicht Ideal sein, weil es korrumpierbar ist. Der Mythos läßt es in die Sünde übergehen und demonstriert dabei, daß dieser Übergang unmöglich ist; wo er stattfindet, war das Paradies keines. In der Erzählkunst, die das ebenso nüchtern wie abgründig darzustellen vermag, erreicht die Mythologie eine Niveau, auf dem der Mythos etwas von seiner eigenen Unwahrheit zu ahnen beginnt.“ Christoph Türcke. „Gottesgeschenk Arbeit. Theologisches zu einem profanen Begriff.“ In Hamburger Adorno-Symposion, hrsg. v. Michael Löbig und Gerhard Schweppenhäuser. Lüneburg, 1984, 90. Vgl. Hans-Georg Deggau. Die Aporien der Rechtslehre Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt, 1983, 118. „Die Bemühungen, das Volk zur Arbeit zu erziehen, beschränken sich nicht nur auf theoretische und moralische Schriften; die Aufklärer sind von der Macht der literarischen Beweisführung nicht sehr überzeugt: ‚Labore et fame, die Inschrift über dem Eingang des Wiener Zucht- und Arbeitshauses charakterisiert die Mittelwahl, zu der die Zeitgenossen viel mehr Vertrauen hegten. Eine Gesellschaft, die Hunger und Gewinn zu den Triebkräften ihrer Entwicklung machte, schien mit den Idealen puritanischen Konsumverzichts und kapitalistischen Investitionsverhaltens am leichtesten vereinbar. Auch die Lohn- und Armutstheorien der frühen Nationalökonomie sind Ausfluß einer Beurteilung der Arbeitsverhältnisse, die davon ausging, daß nur bei niedrigen Löhnen der Arbeiter zum Arbeiten zu bewegen sei. Von solchen Vorstellungen ist der Schritt nicht weit, daß die Disziplinierung, die die Fabriken erforderten, vornehmlich durch versteckte und offene Gewalt zu erreichen sei, durch die physische Gewalt des Prügelns, des Einpassens, der Beschränkung der Freiheit oder durch die nicht weniger physische Gewalt des Hungers. Das Arbeitshaus schien unter solchen Bedingungen das probateste Mittel der Disziplinierung.‘“ Die Autoren arbeiten sich hier an der Zeit des Absolutismus und der Zentralstaaten der frühen Neuzeit ab. Roman Sandgruber. Die Anfänge der Konsumgesellschaft: Konsumgüterverbrauch, Lebensstandard u. Alltagskultur in Österreich im 18. u. 19. Jh. München, 1982, 378. Zit. n. Leonhard Bauer u. Herbert Matis. Geburt der Neuzeit: vom Feudalsystem zur Marktgesellschaft. München, 1989, 331. „Es kostet Jahrhunderte, bis der ‚freie‘ Arbeiter infolge entwickelter kapitalistischer Produktionsweise sich freiwillig dazu versteht, d. h. gesellschaftlich gezwungen ist, für den Preis seiner gewohnheitsmä-

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Hegel hatte die Technik der Herrschaft in der Phänomenologie des Geistes reflektiert. Dort ist die Macht, welche über das durch den Knecht produzierte Mehrprodukt verfügt, nicht nur die Macht über das Leben des Knechtes als Resultat des Kampfes auf Leben und Tod, sondern sie ist auch technisch vermittelt, indem der Herr über die Produktionsmittel verfügt, also nicht nur deren Gebrauch verfügen kann, sondern auch deren Nichtgebrauch. Nur indem die Verfügung über die Mittel der Reproduktion monopolisiert wird, wird der an sich freie Wille des Knechtes auf Dauer erpreßbar, sich die Zwecke desjenigen, der über die Produktionsmittel verfügt, zu eigen zu machen. Während die rohe Gewalt, der Kampf auf Leben und Tod, zu einer unmittelbaren Hierarchisierung der Kämpfenden führt, garantiert die Monopolisierung des Gebrauchs der Produktionsmittel die Kontinuität des Verhältnisses von Herr und Knecht. Auch wenn im Zusammenhang mit Herrschaft und Knechtschaft noch nicht vom Privateigentum gesprochen werden kann, wird dort doch eine Dynamik des Herrschaftsverhältnisses beschrieben, die mit dem Privateigentum an Produktionsmittel zu einem vorläufigen (hoffentlich aber endgültigen) Höhepunkt kommt. Damit liegt die historische Voraussetzung von Herrschaft in der Möglichkeit statt Menschen durch permanente körperliche Bedrohung zu unterwerfen, ihre Bedürfnisse gegen sie selbst zu instrumentalisieren. Umgekehrt ist der Einsatz dafür, sich aus der Herrschaft zu befreien, kein geringerer, als die Befriedigung der Bedürfnisse aufs Spiel zu setzen. Die Forderung nach der Abschaffung von Herrschaft ist darin gleichermaßen moralisch geboten wie rücksichtslos gegen die Interessen der Individuen und ist damit nicht widerspruchsfrei zu haben. Dieser Widerspruch ist der Realgrund der Asymmetrien, die sich bei Kant im Begriff des Reichs Gottes, bei Hegel in der Nichtübereinstimmung von zeitlicher und logischer Willensentwicklung geltend machen, aber weder von dem einen noch dem anderen konsequent als Realgrund dargestellt werden. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen liefert die Bestimmung Kants, daß die Glückseligkeit ein notwendiger Bestimmungsgrund des Willens ist, einen Beitrag zur Aufklärung. Aber seine Haltung bleibt widersprüchlich, weil er die Perspektive auf ein Reich Gottes in den Postulaten um die Forderung nach diesseitiger Verwirklichung, die eine Nuance ums Ganze ist, ermäßigt. Dieser Widerspruch spiegelt sich auch an anderen Stellen in seinem Werk wieder, etwa in der nicht in Übereinstimmung zu bringenden Dualität von Moral und Recht, das mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist.38 Es ist dies der unbewußte Ausdruck der Resignation Kants vor den Verhältnissen, die er zugleich affirmiert. Hegel wendet sich explizit dagegen, der Realisierung der Sittlichkeit und dem darin enthaltenen Streben nach irdischer Glückseligkeit den Rang einer regulativen

38

ßigen Lebensmittel seine ganze aktive Lebenszeit, ja seine Arbeitsfähigkeit selbst, seine Erstgeburt für ein Gericht Linsen zu verkaufen.“ Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 287. Kant. Metaphysik der Sitten, 338 f.

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Idee zuzusprechen. Er betont, daß die Befriedigung der Neigungen und Begierden das Interesse jedes Individuums ist und als solches nicht Gegenstand einer vermeintlich moralischen Bewertung. „Selbst im reinsten rechtlichen, sittlichen und religiösen Willen, der nur seinen Begriff, die Freiheit, zu seinem Inhalte hat, liegt zugleich die Vereinzelung zu einem Diesen, zu einem Natürlichen. Dies Moment der Einzelheit muß in der Ausführung auch der objektivsten Zwecke seine Befriedigung erhalten; ich als dieses Individuum will und soll in der Ausführung des Zwecks nicht zugrunde gehen. Dies ist mein Interesse. Dasselbe darf mit der Selbstsucht nicht verwechselt werden; denn diese zieht ihren besonderen Inhalt dem objektiven Inhalte vor.“39

Interessen sind amoralisch, also nicht das Gegenteil des Guten, sondern gegen die Maßstäbe der Sittlichkeit indifferent. Deshalb ist der entscheidende Maßstab für die moralische Bewertung „auf diesem Standpunkte gleichfalls die subjektive Willkür“40. Die Unfreiheit der Willkür ist durch die Naturgegebenheit und Zufälligkeit ihrer Inhalte begründet. Da also der Wille weder als reine Abstraktion frei ist, noch als heteronom bestimmter, die Befriedigung seiner Bedürfnisse aber sein notwendiges Interesse, kann die Selbstbestimmung nur in einer Objektivität gelingen, die systematisch und vernünftig bestimmt ist, was bei Hegel tendenziell dasselbe ist, historisch aber zu unterscheiden. Damit ist Selbstbestimmung eine gesellschaftliche Bestimmung, deren historische Eigenständigkeit gegen die philosophische Konstruktion der realisierten Vernunft zu untersuchen ist. Dieser Begriff von Selbstbestimmung ist als Einheit von Theorie und Praxis konzipiert. Hinter diese Einsicht Hegels zurückzugehen, hieße, hinter den Anspruch von Selbstbestimmung zurückzugehen. Trotzdem bleibt dieser Begriff ein systemimmanenter Begriff, mit dem Hegel nicht das Glück der Subjekte anvisiert, sondern die Einheit des philosophischen Systems, dem die subjektiven Interessen der Subjekte notfalls auch geopfert werden. Diese Tendenz kann ihrerseits nicht unkritisiert bleiben. Die Subjekte der Selbstbestimmung sind nicht in deren Begriff auflösbar, und ihre praktische Selbstbestimmung ist deshalb vielmehr auch historische Tat. Darin weist der Selbstbestimmungsbegriff Hegels über sich hinaus.

39 40

Hegel. Enzyklopädie III. 298, Zusatz. Hegel. Grundlinien, § 18.

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4.2 Abstraktes Recht „Der schlechteste Staat, dessen Realität dem Begriff am wenigsten entspricht, insofern er noch existiert, ist er noch Idee; die Individuen gehorchen noch einem machthabenden Begriff.“41 „Der gewichtigste Einwand ist der aus der Erfahrung, das heißt die Frage, wo und wann eine solche Gewalt von den Untertanen anerkannt worden sei.“42

Aus Warte der Philosophie stellt sich das Grundproblem der Rechtsbegründung als Problem der Rechtsverbindlichkeit dar, denn der Geltungsanspruch des Rechts ist in Abgrenzung gegen die notwendig-allgemeine Geltung mathematischer oder naturwissenschaftlicher Urteile unsicher:43 Das Substrat der Naturgesetze existiert unabhängig vom Zutun und von der Erkenntnis durch Menschen und die Gesetze gelten notwendig allgemein. Naturgesetze können deshalb zwar unerkannt oder Gegenstand falscher Vorstellungen sein, ohne daß aber dadurch der durch sie erfaßte Gehalt lädiert würde. 44 Mit dem positiven Recht wird dagegen das geltende Recht in einem bestimmten Raum auf einer bestimmten Stufe der historischen Entwicklung bezeichnet. Außerdem ist es konkret im Sinne der Anwendbarkeit. Es hat seinen Gegenstand an den menschlichen Handlungen, die es organisiert. Damit ist sein Gegenstand ein von Menschen Herkommendes, das geschichtlich erst entsteht und das nicht in der Natur, sondern im selbstbewußten Willen gründet. Damit gilt das positive Recht nicht notwendig, sondern komparativ allgemein, d. h. es gilt innerhalb einer bestimmten Gesellschaft und bleibt in seiner Gel41

42 43

44

Hegel. Lehre vom Begriff, 208. Vgl. auch Peter Bulthaup: „Daß Hegel unter dem Titel der Pflicht das Sollen, das er zuvor kritisierte, wieder einführt, ist Indiz dafür, daß der Staat einen realen Grund hat, daß in ihm Grund und Begründetes auseinandergetreten sind und daß die daraus resultierende Diskrepanz in der Existenz von bürgerlicher Gesellschaft und ihrem Staat nicht aufgehoben ist. Der bürgerliche Staat ist nicht der vernünftige Zweck. Der Staat, den zu wollen Pflicht, vernünftige Bestimmung des Willens sein könnte, wäre ein anderer, als der der bürgerlichen Gesellschaft, der oszilliert zwischen dem Staatsterrorismus einerseits und der losgelassenen Konkurrenz, die ihre Beschränkung durch den Staat durch dessen Zerstörung durchbricht, andererseits. Die nicht eben erfreuliche Alternative von Staatsterrorismus und permanentem Bürgerkrieg provoziert die Vorstellung einer befriedeten Gesellschaft, die, als Negation der antagonistischen, mit dieser die Idee des Staates teilt, dessen realer Grund ihn wieder zu der Alternative von Staatsterrorismus und permanentem Bürgerkrieg bestimmt. Ob diese trostlose Einsicht dem ohnmächtigen Wunsch, es möge anders werden, auf die Sprünge zu helfen vermag, steht dahin. Die Trauer über die eigene Ohnmacht aber dem ruchlosen Optimismus von Zukunftswerkstätten zu opfern, hieße im bloßen Namen einer befriedeten Gesellschaft die Opfer intellektuell zu ratifizieren, die die antagonistische fordert.“ Peter Bulthaup. „Hegels Staatstheorie”. Vorlesung vom 7. Februar 1994. Peter Bulthaup Archiv, unveröffentlicht. Thomas Hobbes. Leviathan, 162. Vgl. auch Hans-Georg Deggau zu Kant: „Damit ist das Dilemma der Kantschen Rechtslehre und das jeder Rechtstheorie gekennzeichnet. Das Recht läßt sich nicht außerhalb und unabhängig von den geregelten Sachverhalten situieren; ebensowenig aber vermag es aus deren Faktizität seine Begründung zu erfahren. Als normatives Gefüge kann und will es nicht pure Wiederspiegelung dessen sein, was ist. Vielmehr bestimmt es, wie dieses sein soll. Das ist auch Kants Anspruch: a priori etwas über das Recht zu erkennen, es in seinen Verhältnissen zu entwickeln und zugleich den Nachweis zu führen, daß es mit der Struktur der gegenständlichen Welt kompatibel ist und die Möglichkeit hat, die Verhältnisse der Menschen und damit ihrer Sachwelt zu ordnen. Die Bereiche des a priori und des Empirischen sind also im Hinblick auf das Handeln der Menschen zueinander zu vermitteln.“ Hans-Georg Deggau. Aporien der Rechtslehre Kants, 307. Vgl. Hegel. Grundlinien, 15 ff. Zusatz.

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tung von durchsetzenden und garantierenden Instanzen wie dem Staat einerseits und der Zustimmung der Mehrheit der Rechtssubjekte andererseits abhängig. Mit diesen Instanzen kann Recht deshalb auch wieder abgeschafft werden. Ebensowenig ist die Wirklichkeit des positiven Rechts ein Garant dafür, daß die Vorstellungen, aufgrund derer die Rechtswirklichkeit gestaltet wurde, vernünftige Vorstellungen sind. Gesetzliches Recht kann deshalb sowohl die Organisationsform unvernünftiger Lebensverhältnisse sein, als auch Ausdruck der vernünftigen Selbstbestimmung des Willens. Grundsätzlich ist also das Recht die Form der gesellschaftlichen Organisation der Rechtssubjekte und als solches der Möglichkeit nach Ausdruck ihrer Selbstbestimmung. Andererseits ist das Recht als positives Recht historisch gegeben, ohne daß dessen Bestimmungsgrund juristisch bzw. rechtsphilosophisch gebunden wäre. Das Recht ist als positives Recht also nicht selbst durch philosophische Reflexion erzeugt, sondern vielmehr eigenständig. Zum Gegenstand der Philosophie Hegels wird das Recht, weil es als die Gestalt des objektivierten Willens aus dessen Begriff begründet wird. Damit steht dem Problem der aus dem positiven Recht entspringenden historischen Zufälligkeit das philosophische Problem gegenüber, die Gehalte des positiven Rechts tendenziell zu affirmieren. Dieses Problem will Hegel umgehen, indem er es aus dem Begriff des vernünftigen Willens bestimmt und es als dessen Verwirklichung begreift: „Dies, daß ein Dasein überhaupt, Dasein des freien Willens ist, ist das Recht. – Es ist somit überhaupt die Freiheit, als Idee.“45 Damit grenzt er den Gegenstandsbereich der Grundlinien gegen die Vorstellung ab, es handele sich um eine historisch befangene Darstellung eines bestimmten rechtlichen Zustandes. Die Grundlinien stellen nicht den Entwurf einer positiven Gesetzgebung dar, sondern zeigen überhaupt die Grundzüge einer nach Hegels Verständnis aufgeklärten Gesellschaft auf, in die sich die positive Gesetzgebung einfügen muss, um dem Maßstab des vernünftigen Willens zu genügen. Deshalb nimmt sie einen verhältnismäßig kleinen Teil (nämlich den der Rechtspflege als Unterkapitel der Bürgerlichen Gesellschaft) neben den ökonomischen wie institutionellen Voraussetzung der Gesellschaft ein. Andererseits ist die Positivität von Recht ein notwendiges Moment jedes nicht transzendent gegebenen Vernunftrechts, weil dies seine eigene Geltung sachlich, aber nicht reell zu begründen vermag. Darin, daß das positive Recht nur zu einem Teil ein reflektiertes Produkt des selbstbewußten Willens ist, zu einem anderen aber auch das Resultat pragmatischer Entscheidungen und machtpolitischer Auseinandersetzungen, liegt der Möglichkeit nach eine kritische Distanz der systematischen Rechtsbegründung zum positiven Recht.46 Ein Indiz dafür, daß das Gesellschaftsmodell Hegels anderen Maßstäben genügt als das positive Recht seiner Zeit, sind die Abweichungen zwischen beiden, so z. B. die den Korporationen von Hegel zugewiesene konstitutive Stellung in der Vermittlung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat zu einem Zeitpunkt, wo die gesellschaftliche Entwicklung bereits in die entgegengesetzte Richtung gelenkt wurde. Hegels Gesellschaftsbegriff ist also 45 46

Hegel. Grundlinien, § 29. Hegel. Grundlinien (Werke), 35.

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kein einfaches Abbild der gegebenen Verhältnisse seiner Zeit, sondern eine Mischform. 47 Obgleich aber das rechtsphilosophische Programm Hegels die Möglichkeit dieser Kritik enthält, intendiert sie keine Kritik. Hegel begreift den historischen Zustand als vernünftig, die Vernunft als verwirklicht; die Entwicklung des rechtsphilosophischen Begriffs soll das beweisen. Ein Indiz für die unkritische Haltung ist, daß die Bestimmungen der Rechtssubjekte sich darauf beschränken, im umfassenden Sinne Erfüllungsgehilfen des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhanges zu sein, so daß sogar das Verbrechen noch als Negation der Negation bestimmt werden kann. Die Rolle der Kritiker z. B. innerhalb einer politischen Opposition, wird den Rechtssubjekten vom Weltgeist nicht zugestanden.48 Das hatte Hegel schon früh so gesehen: „Und politische Rechte, insofern sie die Kraft von Privatrechten haben sollen, führen eine Art von Widerspruch in sich; denn sie würden voraussetzen, daß diejenigen, die solche feste politische Rechte gegeneinander hätten, in einem Rechtsverhältnisse unter einer gewalt- und machthabenden Obrigkeit stünden. Allein in diesem Fall wären die gegenseitigen Rechte keine politischen Rechte mehr, sondern Privat-, Eigentumsrechte.“49

Die Prämisse gesellschaftlich realisierter Vernunft erlaubt es Hegel, von Rechten in einem emphatischen Sinne zu sprechen: „Die Moralität, die Sittlichkeit, das Staatsinteres47

48

49

„Wenn man so will, ist Hegel der Theoretiker eines Staatssozialismus, der nicht für die generelle Abschaffung des Privateigentums, aber für dessen radikale Beschränkung zugunsten des allgemeinen Interesses eintritt.“ Peter Bulthaup. „Hegels Rechtsphilosophie III.“ 10. Das Verbrechen erscheint bei Hegel als Negation des Rechts. Indirekt gibt diese Bestimmung nochmal Aufschluß über den Subjektbegriff Hegels, denn das Verbrechen ist zwar notwendiges Moment der begrifflichen Entwicklung, ohne aber konstruktiv zu sein. Eduard Gans bestimmt die der Negation des Begriffs adäquate Erscheinung als die Opposition im Staat. „Sie [die Opposition, M. B.] ist die wahrhafte Negation, die das wahrhafte Positive in sich zu enthalten hat. Sobald die Opposition siegt, muß die Kammer aufgelöst werden. Soll diese systematisch seyn, oder nur für gewisse Maaßregeln? Wir sagen: sie muß systematisch seyn, weil die Negation nicht zufällig seyn darf; sie kann bloß aufhören, wenn es sich um Gegenstände handelt, denen jeder ernstliche Hang sich anschließen muß, wie bei der katholischen Emancipation in England.“ Eduard Gans. Naturrecht und Universalrechtsgeschichte, 102. Manfred Riedel erläutert die Stellung der Opposition in der Vorlesung von Gans: „Am Schluß des Abschnitts über die gesetzgebende Gewalt fügt Gans der Hegelschen Vorlage einen Passus ein, den sie nicht kennt: Die Lehre von der Opposition. Er nimmt in einer Nachschrift aus dem WS 1828/29 einen relativ breiten Raum ein, der in den späteren Vorlesungen (1832/33, 1837/38) merklich zurücktritt. Vielleicht gingen die von offizieller Seite ausgesprochenen ‚Warnungen‘ an Hegel vor diesem eigenwilligen Schüler auch auf diesen Passus zurück. Jedenfalls leitet Gans, dem Hegelschen Prinzip folgend, die Notwendigkeit einer Opposition im Staat aus der Kategorie der Negation her.“ Manfred Riedel, „Naturrecht und Universalrechtsgeschichte – Einleitung.“, 23 f. Dagegen Hegel: „Was aber die p o l i t i s c h e Freiheit betrifft, nämlich im Sinne einer förmlichen Theilnahme des Willens und der Geschäftigkeit auch derjenigen Individuen, welche sich sonst zu ihrer Hauptbestimmung die particulären Zwecke und Geschäfte der bürgerlichen Gesellschaft machen, an den öffentlichen Angelegenheiten des Staates, so ist es zum Theil üblich geworden, Verfassung nur die Seite des Staats zu nennen, welche eine solche Theilnahme jener Individuen an den allgemeinen Angelegenheiten betrifft, und einen Staat, in welchem sie nicht förmlich Statt hat, als einen Staat ohne Verfassung anzusehen. Es ist über diese Bedeutung zunächst nur diß zu sagen, daß unter Verfassung die Bestimmung der Rechte d. i. der F r e i h e i t e n überhaupt, und die Organisation der Verwirklichung derselben verstanden werden muß, und die politische Freiheit auf allen Fall nur einen Theil derselben ausmachen kann“. Hegel. Enzyklopädie, § 539 Anmerkung. Hegel. „Die Verfassung Deutschlands.“ In Werke Bd. 1 (Frühe Schriften), 637. Frankfurt a. M., 1986, 538.

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se ist jedes ein eigentümliches Recht, weil jede dieser Gestalten Bestimmung und Dasein der Freiheit ist.“50 Das Problem der Begründung der Rechtsverbindlichkeit wird also von Hegel in das Problem der Selbstentfaltung des Willens transformiert, der seine Bedingungen historisch vorfindet, um sie systematisch zu setzen. Mit diesem Rechtsbegriff grenzt sich Hegel nicht nur gegen die einzelwissenschaftlichen Rechtsbegründungen ab, sondern ebenso gegen solche philosophischen Begründungen, die die Rechtsverbindlichkeit aus der Heterogenität und Konkurrenz menschlicher Interessen und Handlungen begründen, z. B. in der Weise, daß nur dann eine gerechte Gesellschaft vorstellbar sei, wenn der Mensch – als des Menschen Wolf – durch einen Staat gezähmt werde. Hobbes hatte die Konkurrenz unter den Menschen anthropologisch begründet: Zwar seien alle Menschen gleich, aber nicht qua Vernunft, sondern weil alle gleichermaßen nach Selbsterhaltung und Lustgewinn streben und weil alle Menschen – selbst die Starken in einem Moment der Schwäche – getötet werden können. „So liegen in der menschlichen Natur drei hauptsächliche Konfliktursachen: Erstens Konkurrenz, zweitens Mißtrauen, drittens Ruhmsucht.“51 Die Natur der Menschen führe zu einem Krieg aller gegen alle, der nur verhindert werden könne, indem eine „sie alle im Zaum haltende Macht“52 diesen Kriegszustand beende. Der Leviathan ist grundsätzlich dadurch legitimiert, daß er per Definition Schlimmeres verhindert, ohne dem Maßstab menschlicher Selbstbestimmung im Sinne Hegels zu genügen. „Hierin liegt das Wesen des Staates, der, um eine Definition zu geben, eine Person ist, bei der sich jeder einzelne einer großen Menge durch gegenseitigen Vertrag eines jeden mit jedem zum Autor ihrer Handlungen gemacht hat, zu dem Zweck, daß sie die Stärke und Hilfsmittel aller so, wie sie es für zweckmäßig hält, für den Frieden und die gemeinsame Verteidigung einsetzt. Wer diese Person verkörpert, wird Souverän genannt und besitzt, wie man sagt, höchste Gewalt, und jeder andere daneben ist sein Untertan.“53

Darin, daß der Staat des Leviathan hierarchisch geordnet ist und in der Durchsetzung der Hierarchie der Gewalttätigkeit des Kriegszustandes durchaus adäquat bleibt, ist er nicht Ausdruck vernünftiger Selbstbestimmung. Während Hobbes sich als Empiriker versteht, ist Kant Vernunftkritiker. Er hat den Anspruch, die Allgemeinverbindlichkeit des Rechts aus der praktischen Vernunft zu bestimmen. Dabei unterscheidet Kant die Rechtsbegründung streng von der moralischen Willensbestimmung, weil sie sich jeweils auf unterschiedliche Gegenstandsbereiche beziehen: Das Recht regelt die Sphäre der äußeren Handlungen, nicht aber die den Handlungen zugrunde liegenden Maximen. Maximen und Handlungen sind spezifisch unterschieden. Die Maximen sind auch Ausdruck der Freiheit, Zwecke setzen zu können, die es zuvor in der Welt nicht gegeben hat. Sie können daher nicht auf die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie realisiert werden, reduziert werden. Die Handlungen fin50 51 52 53

Hegel. Grundlinien, § 30 Anmerkung. Thomas Hobbes. Leviathan, 95. Ebd., 96. Ebd., 134 f.

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den dagegen nur unter den Bedingungen von Raum und Zeit, Kausalität und Wechselwirkung statt. Wäre dem nicht so, dann blieben entweder die Zwecke subjektive Vorstellungen, denen in der Welt keine Sachverhalte korrespondieren, oder es gäbe umgekehrt keine Handlungen, sondern nur Naturkausalität. Wegen dieses Unterschiedes können deshalb Handlungen nicht nach ihrer besonderen Maxime beurteilt werden, sondern nur nach einem Maßstab, der die Koordination aller Handlungen überhaupt ermöglicht: „Eine jede Handlung ist rec ht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann etc.“54 Die Durchsetzung dieser allgemeinen Rechtsmaxime kann nur praktisch erfolgen und ihre Mittel liegen damit jenseits moralischer Kriterien. Das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden, weil Handlungen, die in Raum und Zeit stattfinden, auch nur in Raum und Zeit beeinflußt werden können.55 Damit stellt sich Kant in der Metaphysik der Sitten die Aufgabe, ein Rechtssystem jenseits der reinen, moralisch-praktischen, Vernunft zu begründen, das zugleich a priori die Bedingungen enthält, damit „die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“56. Das Recht ist amoralisch, soll aber die Bedingungen der Möglichkeit moralischer Willensbestimmung darstellen, indem es die Allgemeinverträglichkeit der Handlungen herstellt, die sowohl auf andere Subjekte als auch auf Gegenständliches bezogen sind. Die Form der Allgemeinheit ist das gemeinsame Dritte von komparativer und notwendiger Allgemeinheit. Der Rechtsbegriff Kants steht somit zwischen Moralität und Rechtspraxis, so daß die Rechtsverbindlichkeit ihre Autorität weder aus der moralisch-praktischen Vernunft beziehen kann, noch aus der Erfahrung. Die Begründung der Rechtsverbindlichkeit muß aus dem Rechtsbegriff selbst konstruiert werden. Derjenige Begriff, der den Bezugspunkt der Subjekte zueinander wie der Subjekte zu den Gegenständen, die sie für ihre physische Existenz benötigen, darstellt, ist der des Eigentums: „Das Rechtlic h -Meine (meum iuris) ist dasjenige, womit ich so verbunden bin, daß der Gebrauch, den ein anderer ohne meine Einwilligung von ihm machen möchte, mich lädieren würde.“57 Im Rechtlich-Meinen bezieht sich ein Subjekt negativ auf alle anderen Subjekte, die es vom Gebrauch ausschließt. Das Recht gründet bei Kant im Privatrecht. Der gesamtgesellschaftliche Ausschluß aller Subjekte vom Gebrauch des Eigentums setzt deren Zustimmung voraus, weil der Eigentumstitel sonst von der unmittelbaren Innehabung, also der körperlichen Präsenz des Eigentümers abhinge. Wenn also die Verbindlichkeit über das Verhältnis zweier Rechtssubjekte hinausgehen soll, dann muß dem unmittelbaren Besitz ein intelligibler entsprechen, der auch über die unmittelbare körperliche Präsenz des Besitzenden hinaus gültig ist. Der intelligible Besitz beruht auf einem allgemeinen Verhält54

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Kant. Metaphysik der Sitten, 337. Eine ausführliche Interpretation der Kantischen Philosophie, die insbesondere den Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Moralphilosophie mit der Rechtsphilosophie thematisiert, findet sich in: Michael Städtler. Kant und die Aporetik moderner Subjektivität. Berlin 2011. Vgl. Kant. Metaphysik der Sitten, 338 f. Ebd., 337. Ebd., 353.

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nis zwischen den Rechtssubjekten, die dem wechselseitigen Gebrauchs- bzw. Ausschlussrechten zustimmen und damit auf „der Idee eines a priori vereinigten (notwendig zu vereinigenden) Willens“58. Der a priori vereinigte Wille braucht einen ihm korrespondieren Gegenstand, also einen Gegenstand, der nicht von subjektivem, sondern von allgemeinem Interesse ist: den Boden. Er stellt die gegenständliche Voraussetzung jeden Eigentums dar, denn für die Rechtssubjekte ist der Boden ebenso eine Bedingung ihrer physischen Existenz wie die Bedingung jeder durch das Eigentumsverhältnis geregelten privatrechtlichen Leistungserbringung, also z. B. einer Vertragsleistung, die schließlich auch irgendwo stattfinden muß. Aus dieser Dualität von vereinigtem Willen und ursprünglichem Besitz folgt dann in der Metaphysik der Sitten die Konkurrenz der Subjekte:59 Vom Aneignungswillen des Subjekts ist kein Objekt a priori ausgeschlossen und alle Menschen haben das gleiche Recht auf den Besitz des Bodens. Weil der aber beschränkt ist und damit noch keine bestimmte Aufteilung des Bodens unter alle Menschen verbunden ist, resultiert daraus die Konkurrenz der Menschen um den begrenzten Boden. Weil aber dieser Widerstreit die Möglichkeit des Besitzes überhaupt negieren würde, muß das nicht-vertraglich geregelte Nebeneinander in das vertraglich geregelte des Rechtszustandes übergehen.60 Mit dem bürgerlichen Rechtszustand sind dann erst Instanzen eingeführt, die die Durchsetzung des Rechts behandeln: die Sicherung der Eigentümer durch Staat und Rechtsprechung. „Alle Garantie setzt also das Seine von jemandem (dem es gesichert wird) schon voraus. Mithin muß vor der bürgerlichen Verfassung (oder von ihr a b g e s e h e n ) ein äußeres Mein und Dein als möglich angenommen werden, und zugleich ein Recht, jedermann, mit dem wir irgend auf eine Art in Verkehr kommen könnten, zu nötigen, mit uns in eine Verfassung zusammen zu treten, worin jedes gesichert werden kann.“61

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60 61

Kant. Metaphysik der Sitten, 375. Während die hier referierte Bestimmung die Konkurrenz der Subjekte durch die beschränkte Bodenverfügbarkeit begründet wird und damit nicht durch das Wesen der Menschen, sondern durch deren Existenzbedingungen, greift Kant in anderen Passagen auf teleologische Begründungen zurück: „Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortreffliche Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht. Er will gemächlich und vergnügt leben; die Natur will aber, er soll aus der Lässigkeit und untätigen Genügsamkeit hinaus sich in Arbeit und Mühseligkeiten stürzen, um dagegen auch Mittel auszufinden, sich klüglich wiederum aus den letztern heraus zu ziehen. Die natürlichen Triebfedern dazu, die Quellen der Ungeselligkeit und des durchgängigen Widerstandes, woraus so viele Übel entsprangen, die aber doch auch wieder zur neuen Anspannung der Kräfte, mithin zu mehrerer Entwickelung der Naturanlagen antreiben, verrathen also wohl die Anordnung eines weisen Schöpfers; und nicht etwa die Hand eines bösartigen Geistes, der in seine herrliche Anstalt gepfuscht oder sie neidischer Weise verderbt habe.“ Immanuel Kant. „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht.” In Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. 33–50. Werkausgabe Bd. XI. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1991. Vgl. auch Hans-Georg Deggau. Aporien der Rechtslehre Kants, 109. Kant. Metaphysik der Sitten, 366.

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Die allgemeinverbindliche Zustimmung aller Subjekte ist notwendig zur Begründung der Rechtsverbindlichkeit. Sie ist aber zunächst nur ein Begriff a priori, der – so die Bestimmung des Rechts – die Sphäre der Handlungen bestimmen soll. Es ergibt sich damit das Problem, daß der allgemeinverbindlichen Zustimmung die praktische Anerkennung des Eigentums entsprechen muß. „Mit einem Worte: die Art, etwas Äußeres als das Seine im N a t u r z u s t a n de zu haben, ist ein physischer Besitz, der die rechtliche P r ä s u mt i o n für sich hat, ihn, durch Vereinigung mit dem Willen aller in einer öffentlichen Gesetzgebung, zu einem rechtlichen zu machen, und gilt in der Erwartung k o mp a r a t i v für einen rechtlichen.“62

Die Anerkennung des Privateigentums, sofern sie die Nichteigentümer vom Gebrauch ausschließt, ist eine praktische Bestimmung, die nur durchgesetzt werden kann, wenn sie mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist. Die Bestimmung Kants dazu aus der Einleitung, daß Freiheit nur dann realisierbar ist, wenn Hindernisse der Freiheit beseitigt werden, erhält hier die konkretere Bestimmung, daß andere vom Gebrauch des Privateigentums abgehalten werden müssen, um die äußere Freiheit des Eigentümers zu schützen. Es sind aber Fälle vorstellbar, in denen die Ausgeschlossenen durch ihren Ausschluß de facto lädiert werden, z. B. wenn ihnen auf diese Weise ihre Existenzmittel vorenthalten werden. Daran wird deutlich, daß der Geltungsgrund des Privatrechts Anerkennung nur a posteriori in der Sphäre äußerer Handlungen erfährt und daß diese Anerkennung auf einem Gewaltverhältnis gründet. Oder: Der ursprünglichen Erwerbung entspricht nicht nur der spekulative Schluß auf die erste Erwerbung, sondern auch die historische Tat der empirischen Aneignung von Eigentum. Umgekehrt kann aber die Verbindlichkeit des Rechts von Kant auch nicht moralisch begründet werden, denn er selbst hatte ja auf die spezifische Differenz zwischen Moralität und Recht hingewiesen. D. h. daß 1. der intelligible Besitz und die darin unterstellte Allgemeinverbindlichkeit Bedingung der Möglichkeit des Privateigentums ist, 2. daß der Grund der Verbindlichkeit des intelligiblen Besitzes aber nur a posteriori angegeben werden kann und damit 3. der historische Grund dem logischen logisch wie historisch vorausgesetzt ist.63 Das moralische Prinzip der Kritik der praktischen Vernunft sollte die Vereinbarkeit aller Zwecke unabhängig von besonderen Interessen und Handlungen begründen, aber der kategorische Imperativ ist ein formelles Gesetz, das als solches die vernünftige Koordination der technisch-praktischen Handlungen nicht gewährleistet.64 Auch das allgemeine Rechtsprinzip vermag die Übereinstimmung der geschichtlich-praktischen Rechtskonsti62 63

64

Kant. Metaphysik der Sitten, 367. „In ihr [der Besitzlehre, M. B.] geht das Besondere des empirischen Besitzes dem Allgemeinen des intelligiblen Besitzes voraus und wird nicht durch dieses bestimmt. Die vollzogene occupatio ist immer schon unterstellt, um dann erst ihre rechtliche Bestimmung zu erfahren. Eine Läsion kann nur gedacht werden, wenn jene vorausgesetzt wird; sonst gäbe es keinen Gegenstand, auf den sie sich beziehen könnte. Es wird daher mit dem intelligiblen Besitz nicht der allgemeine Begriff des Eigentums entwickelt, um dann durch ihn das Eigentum an bestimmten Gegenständen zu begründen. Vielmehr ist das erst zu begründende Verhältnis in der Form seiner empirischen Besonderheit immer schon vorausgesetzt und damit die Gewalt im Recht.“ Hans-Georg Deggau. Aporien der Rechtslehre Kants, 145. Vgl. S. 187 ff. dieser Arbeit.

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tution mit den vernünftigen Bedingungen einer allgemeinen Begründung nicht in Übereinstimmung zu bringen. Kants Rechtsbegriff gilt gegen dessen Intention nur komparativ allgemein, weil es für den Gewaltakt der Besitzergreifung keine vernünftige, sondern nur eine pragmatische Begründung geben kann. Hegel überwindet die Vorstellung, daß der bürgerliche Rechtszustand auf der Notwendigkeit beruht, den Naturzustand und die darin liegende anthropologisch oder gesellschaftlich begründete Konkurrenz zu beenden. Er leitet es aus einer allen Handelnden gemeinsamen Instanz ab, dem an und für sich freien Willen, der sich zugleich als historische Manifestation begreift. Trotzdem bleibt auch im Zusammenhang der Grundlinien das Verhältnis von Privateigentum und Konkurrenz der Prüfstein, an dem sich deren Programm beweisen muß.

a) Person und Eigentum Das Subjekt des abstrakten Rechts ist die Person, die zunächst nur durch den selbstbewußten, aber noch nicht realisierten Willen bestimmt ist. Die Person ist deshalb noch kein sittliches Individuum, sondern dasjenige Subjekt, das jenseits seiner besonderen Interessen und Vermögen als freies Wesen zu respektieren ist, einzig weil es über einen vernünftig bestimmten Willen verfügt. Die Person findet eine Welt vor, auf die sie sich durch ihre Zwecke bezieht. Aber diese Zwecke als die des moralischen, sich reproduzierenden und sittlichen Individuums werden erst im Verlaufe der Grundlinien Gegenstand sein, in der Moralität, der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat. Die Bestimmung der Person ist hinsichtlich ihrer besonderen Interessen und Bestimmungsgründe also zunächst gleichgültig. „Die Allgemeinheit dieses für sich freien Willens ist die formelle, die selbstbewußte sonst inhaltslose einfache Beziehung auf sich in seiner Einzelheit, – das Subjekt ist insofern Person. In der Persönlichkeit liegt, daß ich als Dieser vollkommen nach allen Seiten (in innerlicher Willkür, Trieb und Begierde, sowie nach unmittelbarem äußerlichen Dasein) bestimmte und endliche, doch schlechthin reine Beziehung auf mich bin und in der Endlichkeit mich so als das Unendliche, Allgemeine und Freie weiß.“65

Das abstrakte Recht bezeichnet damit die Relation zwischen dem an und für sich freien Willen und der von ihm vorgefundenen Welt. Diese Relation ist nach Hegels eigener Auskunft zwar gegen „die konkrete Handlung und moralische und sittliche Verhältnisse“ nur eine „Möglichkeit“66. Sie hat aber zugleich Implikationen, welche das unmittelbare Verhältnis von Einzelwille und Welt transzendieren. Der selbstbewußte Wille weiß von seiner ihn konstituierenden Gattungsbestimmtheit ebenso wie von seinem geschichtlichen Werdegang und antizipiert deshalb in der Gestalt des abstrakten Rechts die Möglichkeit eines vernünftigen und gesellschaftlich realisierten Kollektivs, das die Notwendigkeit der ökonomischen Reproduktion ebenso vermittelt. Das erklärt, warum der erste 65 66

Hegel. Grundlinien, § 35. Ebd., § 38.

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Rechtsgrundsatz nicht auf die Bestimmung des Eigentums bezogen ist, sondern auf die Gemeinschaft der Rechtssubjekte. Noch bevor überhaupt die Rede von der Vielheit unterschiedener Individuen ist und bevor die Relation zwischen Einzelwille und Gegenstand bestimmt wird, wird die Relation zwischen den Rechtssubjekten bestimmt und damit der Grundsatz der Rechtsverbindlichkeit: „Das Rechtsgebot ist daher: sei eine Person und respektiere die anderen als Person.“67 Die Rechtsverbindlichkeit ist jedem Eigentumstitel logisch vorausgesetzt und hat damit – anders als die Rechtsverbindlichkeit der Metaphysik der Sitten, die komparative Allgemeinheit beansprucht – den Status eines notwendig allgemeinen Begriffs, der nicht vom bürgerlichen Rechtszustand rekursiv auf die Bedingung der Möglichkeit desselben im Naturzustand schließt, sondern umgekehrt festlegt, aus welchem Prinzip Recht begründbar ist. Weil aber die Gemeinschaft der Rechtssubjekte noch nicht entwickelt ist, sondern als terminus ad quem der Grundlinien antizipiert wird, kann der Grundsatz der Anerkennung der Rechtssubjekte nur eine negative Bestimmung, nur ein Verbot sein: „In Beziehung auf die konkrete Handlung und moralische und sittliche Verhältnisse ist gegen deren weiteren Inhalt das abstrakte Recht nur eine Möglichkeit, die rechtliche Bestimmung daher nur eine Erlaubnis oder Befugnis. Die Notwendigkeit dieses Rechts beschränkt sich aus demselben Grunde seiner Abstraktion auf das Negative, die Persönlichkeit und das daraus Folgende nicht zu verletzen. Es gibt daher nur Rechtsverbote, und die positive Form von Rechtsgeboten hat ihrem letzten Inhalte nach das Verbot zugrunde liegen.“68

Das erste Rechtsprinzip ist also der Schutz der Freiheit der Rechtssubjekte. Diese darf nicht lädiert werden, weil sie die Substanz des Rechts ist. Auf diese Weise können zwar einzelne Rechte aufgegeben werden, oder der Rechtstitel auf eine bestimmte Sache, nicht aber die Fähigkeit, rechtlich zu handeln. Die Rechtsfähigkeit gehört notwendig zum Wesen des an und für sich freien Willens. Juristisch bildet sich darin die Bestimmung der Geschäftsfähigkeit der Rechtssubjekte ab.69 Im Eigentum bezieht sich der freie Wille auf die Sache einmal als in sich subsistierender Wille, dann durch Aneignung und schließlich als ausgeführter Zweck. Der in sich subsistierende Wille ist reine Beziehung auf sich und daher negativ gegen die Sache bestimmt, diese umgekehrt als reine Äußerlichkeit des Willens, mithin privativ: „Das von dem freien Geiste unmittelbar Verschiedene ist für ihn und an sich das Äußerliche überhaupt – eine Sache, ein Unfreies, Unpersönliches und Rechtloses.“70 Die Sache als Eigentum ist nichts anderes als die gegenständliche Reflexionsform des Willens, so daß sie vor der Aneignung durch diesen zwar gegenständlich, aber funktionslos, oder wie Hegel sagt, herrenlos ist, während der Wille seinerseits das „absolute Zueig67 68 69

70

Hegel. Grundlinien, § 36. Ebd., § 38 f. In der Phänomenologie erscheint der Ausdruck der Person nicht emphatisch, sondern Hegel bezeichnet es selbst als Ausdruck der Verachtung, ein Individuum als Person zu bezeichnen (Vgl. Hegel. Phänomenologie des Geistes, 262. Eine Untersuchung des Personenbegriffs als Kernmotiv des Rechts findet sich bei Michael Städtler. „G.W.F. Hegel: ‚Person‘ und ‚Persönlichkeit‘ als Kernmotiv des Rechts“. Unveröffentlicht, September 2009.) Hegel. Grundlinien, § 42.

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nungsrecht“71 auf die Sachen hat. Die Sache, die Eigentum ist, wird daher nur durch die Abwesenheit der den Willen charakterisierenden Bestimmungen bezeichnet und damit schon teleologisch vorgebildet, denn Unfreies, Unpersönliches und Rechtloses hat Freiheit, Persönlichkeit und Recht zu seiner privativen und zukünftig noch zu verwirklichenden Bestimmung. Behauptet wird damit, daß der vernünftige Wille nicht nur der Grund der autonomen Willensbestimmung, sondern umgekehrt auch die Bestimmung der Sache selbst ist. Das Beispiel für eine Sache, deren Bestimmung im Willen liegt, ist das Artefakt, das selbst schon das Resultat eines Produktionsprozesses ist und damit als Gebrauchsgegenstand zweckmäßig geformt. Indem sich der Wille auf die Sache als Gestalt seiner Objektivierung bezieht, ist die Relation reflexiv, insofern er sich auf die Sache als Gebrauchsgegenstand bezieht, ist die Relation irreflexiv. „Daß Ich etwas in meiner selbst äußeren Gewalt habe, macht den Besitz aus, so wie die besondere Seite, daß Ich etwas aus natürlichem Bedürfnisse, Triebe und der Willkür zu dem Meinigen mache, das besondere Interesse des Besitzes ist. Die Seite aber, daß Ich als freier Wille mir im Besitze gegenständlich und hiermit auch erst wirklicher Wille bin, macht das Wahrhafte und Rechtliche darin, die Bestimmung des Eigentums aus. Eigentum zu haben, erscheint in Rücksicht auf das Bedürfnis, indem dieses zum Ersten gemacht wird, als Mittel; die wahrhafte Stellung aber ist, daß vom Standpunkte der Freiheit aus das Eigentum, als das erste Dasein derselben, wesentlicher Zweck für sich ist.“72

Als Besitz gilt die Sache hinsichtlich ihrer dinglichen Qualitäten und dient der Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse und Triebe. Sie ist so das Mittel des Willens. Das Eigentum ist hingegen ein gesellschaftliches Anerkennungsverhältnis und daher gegen die dinglichen Gebrauchseigenschaften eines Dinges ebenso gleichgültig wie gegen dessen Quantität: „Was und wieviel ich besitze, ist daher eine rechtliche Zufälligkeit.“73 Im Eigentum werde gemäß Hegel die Sache Selbstzweck und zwar nicht hinsichtlich ihrer besonderen Gebrauchseigenschaften, die akzidentiell sind, sondern weil sich der freie Wille in ihr als in seinem Mittel realisiert. Dinge, die Eigentum sind, erscheinen daher nicht als das, was sie sind: Der Eigentumstitel ist nicht rezipierbar. Umgekehrt ist er von der Sache aber auch körperlich nicht zu trennen. Aus dieser Bestimmung folgt dann auch, daß das Eigentum „den Charakter von Privateigentum“74 hat, denn in einer Sache kann sich nur der Wille eines Individuums vergegenständlichen. Die klassische Unterscheidung des Privateigentums als gesellschaftlich anerkannten Rechtstitels vom Besitz als Bedingung des subjektiven Gebrauchs einer Sache wird in den Grundlinien also mit dem Privateigentum in den Stand einer ontologisch-metaphysischen Bestimmung erhoben. Das Eigentum gründet im autonomen Willen als Zweck an sich, demzufolge die Natur ontologisch absolut untergeordnet ist. Zwischen dem Willen und der Sache steht der Körper, der dem Willen einerseits äußerlich ist, insofern jener diesen als Lebensbedingung vorfindet, andererseits ist der 71 72 73 74

Hegel. Grundlinien, § 44. Ebd., § 45. Ebd., § 49. Ebd., § 46 f.

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Körper aber auch sein unmittelbares Werkzeug, über welches vermittelt er sich auf die Wirklichkeit bezieht. „Ich bin lebendig in diesem organischen Körper, welcher mein dem Inhalte nach allgemeines ungeteiltes äußeres Dasein, die reale Möglichkeit alles weiter bestimmten Daseins ist.“75 Deshalb bezieht sich der Wille auf den Körper einerseits als etwas Unmittelbares, dem Geist Unangemessenes, das er als sein Werkzeug will und durch Bildung erst aneignen muß. Der Körper als angeeignetes Werkzeug des Willens ist dessen Eigentum. Andererseits bezieht sich der Wille auf den Körper als seine von ihm praktisch nicht zu trennende Existenzgrundlage, deren Läsion deshalb nicht von der Läsion des Willens zu trennen ist. „Meinem Körper von anderen angetane Gewalt ist Mir angetane Gewalt.“76 Der Körper als die Existenzbedingung des Willens ist unantastbar und unveräußerbar, was umgekehrt aber auch bedeutet, daß der Wille in der Physis nicht frei ist, denn aus ihr kann er sich anders als aus dem Eigentum nicht zurückziehen.77 Rechtszustände, die die körperlichen Bedingungen der Realisierung der Freiheit der Rechtssubjekte nicht reflektieren, bleiben abstrakt. So reduziert z. B. die Sklaverei die Menschen auf ihre Naturhaftigkeit, während der Stoizismus die Menschen auf ihre Intelligibilität reduziert. Tatsächlich muß die rechtliche Bestimmung des Subjekts beide Extreme, die Notwendigkeit der Reproduktion des lebendigen Individuums und die Freiheit des Willens, miteinander vermitteln. Damit wird einerseits der Freiheitsbegriff auf dessen physische Bedingung, den Körper ausgedehnt: Wirklich frei ist nur ein Subjekt, das auch über seinen Körper als seine unmittelbare Existenzgrundlage verfügt. Andererseits bliebe Freiheit, die sich nicht auch körperlich realisiert, sondern sich stoisch gegen alle Widerstände selbst genügt, ein Abstraktum, das seinem eigenen Begriff ebenso widerspricht. Der Eigentümer des abstrakten Rechts verfügt deshalb nicht nur über die Sache, sondern auch über seinen Körper und die physischen wie geistigen Fertigkeiten.78 Indem das Rechtssubjekt Eigentümer über seinen Körper ist, kann es ihn andererseits aber auch wenigstens zeitweise veräußern, ohne dadurch den Status des Eigentümers zu verlieren. Damit etwas Eigentum des Willens sei, reicht die bloße Vorstellung nicht aus, sondern der Wille muß mittels seines Körpers von der Sache Besitz ergreifen: „Das Besitzergreifen als äußerliches Tun, wodurch das allgemeine Zueignungsrecht der Naturdinge verwirklicht wird, tritt in die Bedingungen der physischen Stärke, der List, der Ge75 76 77

78

Hegel. Grundlinien, § 47. Ebd., § 48 Anmerkung. Vgl. auch Reinhardt Brandt, der als eine Gemeinsamkeit der Eigentumstheorien vor Hegel den Personenbegriff nennt: „Ausgangspunkt ist die (vielgerügte) einzelne Person, die als solche gegenüber andern Personen frei und gleich ist; sie hat ein angeborenes Recht auf den Selbstbesitz des eigenen Körpers. Der Verlust dieses Selbstbesitzes ist nur durch bestimmte rechtlich fixierbare Handlungen der Person selbst möglich. Dieses freie und gleiche Rechtssubjekt wird vorgestellt als gleicher Mitbesitzer an den Gütern der Natur, die dem menschlichen Geschlecht in Form einer (ideellen oder historischen) communio positiva oder einer communio negativa zur Verfügung stehen.“ Reinhard Brandt. Eigentumstheorien von Grotius bis Kant. Problemata. Stuttgart [u. a.], 1974, 22. Zum Begriff des geistigen Eigentums vgl. Wilko Bauer. „Hegels Theorie des geistigen Eigentums.“ Hrsg. v. Walter Jaeschke und Ludwig Siep. Hegel-Studien 41 (2006), 51–89.

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schicklichkeit, der Vermittlung überhaupt, wodurch man körperlicherweise etwas habhaft wird.“79 Die Besitznahme ist entweder unmittelbar körperlich und damit in Raum und Zeit beschränkt. Oder der Gegenstand wird zweckmäßig geformt, wodurch der Wille Gegenständen der unorganischen oder organischen Natur eine durch ihn bestimmte Gestalt gibt, oder er wird durch bloße Bezeichnung angeeignet. Alle drei Arten der Besitzergreifung sind wechselseitig aufeinander verwiesen, ohne aber auseinander ableitbar zu sein. Wenn die Formierung als die angemessenste Besitznahme erscheint, weil sie das Subjektive und Objektive in sich vereinigt, dann hat das schon zur Voraussetzung, daß es die zu formierende Sache als Eigentum bezeichnet oder körperlich ergriffen hat. Die gegenständlichen Bedingungen der Produktion müssen erst angeeignet werden, bevor sie als Privateigentum für die Formierung dieser Gegenstände verwendet werden können. In der Aneignung ursprünglicher Produktionsmittel kann die Aneignung also nur durch körperliche Ergreifung geschehen. Die Bezeichnung setzt ihrerseits bereits ein gesellschaftlich gesetztes Anerkennungsverhältnis voraus, so daß der Eigentumstitel garantiert ist, ohne daß er unmittelbar zu verteidigen wäre. Die bloße Bezeichnung ist deshalb erst ein Resultat der körperlichen Ergreifung und der Formierung. Gleichzeitig ist aber die Veräußerung des Eigentums selbst erst Gegenstand des Vertrages, so daß die Besitznahme hier nur ursprünglich ist und die Sachen als herrenlose unterstellt sind. Damit sind die drei Gestalten der Besitzergreifung nicht ineinander auflösbar.80 Hegel erschließt die erste Besitzergreifung, die historisch stattgefunden haben muß, als logische Bedingung der Möglichkeit des Eigentums, die dem abstrakten Recht als historische Bedingung aber zugleich transzendent bleibt. Der Grund dafür ist die in die Ergreifung eingegangene Gewalt, die nicht in der reflexiven Bewegung des Eigentumsbegriffs aufzu-

79 80

Hegel. Grundlinien, § 52 Anmerkung. Die Eigentumsbegründung Lockes’, wonach dasjenige zum Eigentum wird, was das Produkt eigener Arbeit ist, weicht ebenfalls der Frage, wie die Arbeitsmittel angeeignet wurden, aus. „§ 27. Obwohl die Erde und alle niederen Lebewesen allen Menschen gemeinsam gehören, so hat doch jeder Mensch ein Eigentum an seiner eigenen Person. Auf diese hat niemand ein Recht als nur er allein. Die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände sind, so können wir sagen, im eigentlichen Sinne sein Eigentum. Was immer er also dem Zustand entrückt, den die Natur vorgesehen und in dem sie es belassen hat, hat er mit seiner Arbeit gemischt und ihm etwas eigenes hinzugefügt. Er hat es somit zu seinem Eigentum gemacht. Da er es dem gemeinsamen Zustand, in den es die Natur gesetzt hat, entzogen hat, ist ihm durch seine Arbeit etwas hinzugefügt worden, was das gemeinsame Recht der anderen Menschen ausschließt. Denn da diese Arbeit das unbestreitbare Eigentum des Arbeiters ist, kann niemand außer ihm ein Recht auf etwas haben, was einmal mit seiner Arbeit verbunden ist. Zumindest nicht dort, wo genug und ebenso gutes den anderen gemeinsam verbleibt.“ John Locke. Zwei Abhandlungen über die Regierung. Frankfurt a. M., 1983, 216 f. Nur die Vorstellung einer ursprünglichen und zugleich auch gewaltsamen Aneignung des Eigentums kann erklären, warum es Arbeiter gibt, die nicht Eigentümer ihres Arbeitsproduktes sind. Vgl. Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 200: „Das Produkt ist Eigentum des Kapitalisten, nicht des unmittelbaren Produzenten, des Arbeiters.“ Vgl. auch Clemens K. Stepina: „Dieser Begriff [des Privateigentums, M. B.] steht jedoch diametral zu ersterem [ein reines Mensch-Natur-Verhältnis, M. B.]: Privateigentum für sich – in der bürgerlichen Gesellschaft – ist als das Resultat einer Trennung der lebendigen Arbeit vom Eigentum an den Produktionsbedingungen auszumachen und kann nicht logisch kohärent mit einem wie oben gezeigten abstrakten Aneignungsbegriff von Natur identisch sein.“ Clemens K. Stepina. Handlung als Prinzip der Moderne, 57.

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lösen ist: „Mechanische Kräfte, Waffen, Instrumente erweitern den Bereich meiner Gewalt.“81 In der Besitznahme bezieht sich der Wille positiv auf die Sache, im Gebrauch, also durch Veränderung, Vernichtung, Verzehrung der Sache, negiert er deren Anderssein und vollzieht an ihr seine Identität mit ihr. Das Eigentum an der Sache schließt den Gebrauch vollständig ein, denn andernfalls wäre eine Sache zwar Eigentum, aber der Wille könnte nicht auf sie zugreifen, was ein Widerspruch wäre. Gleichzeitig bezieht sich aber der Gebrauch auf die Akzidenzien der Sache und findet in der Zeit statt. Es ist deshalb zwar nicht möglich, den Gebrauch substantiell vom Eigentum zu unterscheiden, aber er kann zeitweise veräußert werden. Durch Nichtgebrauch kann das Eigentum deshalb verjähren. Durch diese Distinktion wird es möglich zu erklären, daß die Arbeitskraft eines Menschen für einen bestimmten, vertraglich geregelten Zeitraum verkauft werden kann, ohne den Menschen als ganzen zu verkaufen wie in der Sklaverei. Die Person bleibt Eigentümer des Körpers. Das abstrakte Recht ist ein philosophischer Begriff, der notwendig allgemein gilt und gegen die Zufälligkeiten des Besitzes gleichgültig bleibt: „Im Verhältnisse zu äußerlichen Dingen ist das Vernünftige, daß Ich Eigentum besitze; die Seite des Besonderen aber begreift die subjektiven Zwecke, Bedürfnisse, die Willkür, die Talente, äußere Umstände usf. (§ 45); hiervon hängt der Besitz bloß als solcher ab, aber diese besondere Seite ist in dieser Sphäre der abstrakten Persönlichkeit noch nicht identisch mit der Freiheit gesetzt. Was und wieviel Ich besitze, ist daher eine rechtliche Zufälligkeit.“82

Im Umkehrschluß hatte sich aber gezeigt, daß die Besitznahme nach ihren verschiedenen Aspekten der Besitzergreifung, der Bearbeitung und der Betitelung der Inbegriff der Objektivierung des Willens in der Sache ist. Beide Bestimmungen stehen schief zueinander: Der Grund für die Gleichgültigkeit des abstrakten Rechts gegen den Besitz liegt darin, daß das abstrakte Recht Gestalt des Willens ist, nicht aber Gestalt des positiven Rechts. Das abstrakte Recht ist aber auch kein bloßes Formprinzip, sondern Relation von Begriff und Willensinhalt. Diese Relation nimmt aber im Besitz Gestalt an und bliebe ohne Besitznahme, Bearbeitung und der Betitelung des Besitzes als Eigentum unerfüllt. Darin, daß die Besitznahme kein reflexiver Begriff ist, sondern einer, der auf Voraussetzungen verweist, die dem abstrakten Recht transzendent sind: den Staat als diejenige Instanz, die den Rechtstitel garantiert und die Bearbeitung, die die Verfügung über die Produktionsmittel voraussetzt, macht sich die absolute Abhängigkeit von Recht und Besitz geltend. Die Erörterung der Umstände des Besitzens ist nicht Gegenstand in den Grundlinien, sondern dieser als historische Entwicklung vorausgesetzt. Hegel hatte dies in der Verfassungsschrift ausführlicher reflektiert: „Ansprüche sind unentschiedene Rechte. Die Ruhe derselben ist ihnen auferlegt worden nicht durch gerichtliche Entscheidung – denn sie sind nicht entschieden –, sondern durch die Furcht des Rechts […] und durch die Furcht vor den Gewaltigeren, die natürlich in einer offenen Fehde, die in ihrer Nachbarschaft vorgeht, aus dem neueren allgemeineren Rechtsgrunde zur Sicherheit ihrer Grenzen und ihres Landes Partei ergreifen müßten, wobei die Nichtgewaltigen, 81 82

Hegel. Grundlinien, § 55 Anmerkung. Ebd., § 49.

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sowohl gegen welche diese Teilnahme gerichtet wäre, als denen sie zum Besten kommen sollte, keinen Vorteil finden würden. Somit haben die Fehden aufgehört, der Landfrieden hat die Ruhe hergestellt, d. h. er hat den Widerspruch der Rechte zum Stillschweigen, nicht zur Entscheidung gebracht, und im Genuß des Rechtsgegenstandes ist derjenige Teil, der gerade im Besitz sich befindet – beati possidentes! –, und über den Besitz hat kein Recht entschieden. So ist es nicht ein Zustand, der denjenigen in Besitz setzt, der im Recht ist, was in Deutschland eine gewisse Ruhe erhält, wie der Zustand eines Staats, sondern bei dem erstaunlichen Unterschied der Macht der Stände ist ihre Garantie die Furcht und die Politik, nicht die Ehrwürdigkeit der Rechte selbst, wovon sie abhängen, nicht eine innere eigene Macht derselben.“83

Die historisch gegebene Verteilung des Besitzes wird mit der Einführung der bürgerlichen Rechtsordnung gesetzt und allgemein garantiert. Das bedeutet aber im Umkehrschluß, daß die Realisierung des freien Willens ein Privileg derer ist, die sich im Zustand des „echten alten Faustrecht“84 durchsetzen konnten.85

b) Werteigenschaft und Vertrag Das Privateigentum hat die Form der durch den Körper vermittelten Realisierung des Willens in einem Gegenstand, der durch die zweckgerichtete Tätigkeit unmittelbar ergriffen, bearbeitet und als Eigentum ausgezeichnet wird. Der Wille realisiert sich damit zwar in einem selbständigen Gegenstand, der aber seine Selbständigkeit der Funktion des Willens vollkommen unterordnet, so daß Eigentum und Gebrauchsgestalt der Sache physisch nicht zu unterscheiden sind. Darin liegt zugleich auch der Mangel des Eigentums. Es erscheint aufgrund seiner natürlichen Eigenschaften nicht als Gestalt der Freiheit des Willens und ist Eigentum nur, insofern es von anderen Personen anerkannt wird. Zur Darstellung kommt die transzendente Funktion des Eigentums deshalb nur innerhalb eines Vertrages, in dem die Eigentümer wechselseitig ihr jeweiliges Eigentum anerkennen und austauschen. „Das Dasein ist als bestimmtes Sein wesentlich Sein für anderes (siehe oben Anm. zu § 48), das Eigentum nach der Seite, daß es ein Dasein als äußerliche Sache ist, ist für andere Äußerlichkeiten und im Zusammenhange dieser Notwendigkeit und Zufälligkeit. Aber als Dasein des Willens ist es als für anderes nur für den Willen einer anderen Person. Diese Beziehung von Willen auf Willen ist der eigentümliche und wahrhafte Boden, in welchem die Freiheit Dasein hat. Diese Vermittlung, Eigentum nicht mehr nur vermittels einer Sache und meines subjekti83 84 85

Hegel. „Die Verfassung Deutschlands.“ 543. Ebd., 542. „Im Privatrecht werden die bestehenden Eigentumsverhältnisse als Resultat des allgemeinen Willens ausgesprochen. Das jus utendi et abutendi [das Recht, das Seinige zu gebrauchen und zu verbrauchen (auch: mißbrauchen)] selbst spricht einerseits die Tatsache aus, daß das Privateigentum vom Gemeinwesen durchaus unabhängig geworden ist, und andererseits die Illusion, als ob das Privateigentum selbst auf dem bloßen Privatwillen, der willkürlichen Disposition über die Sache beruhe. In der Praxis hat das abuti [Verbrauchen, (auch: Mißbrauchen)] sehr bestimmte ökonomische Grenzen für den Privateigentümer, wenn er nicht sein Eigentum und damit sein jus abutendi in andre Hände übergehn sehen will, da überhaupt die Sache, bloß in Beziehung auf seinen Willen betrachtet, gar keine Sache ist, sondern erst im Verkehr und unabhängig vom Recht zu einer Sache, zu wirklichem Eigentum wird (ein Verhältnis, was die Philosophien eine Idee nennen).“ Karl Marx u. Friedrich. „Deutsche Ideologie.“ In [1845–1846]. MEW 3. Berlin, 1990, 63.

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Gesellschaftliche Selbstbestimmung und Arbeit in den Grundlinien ven Willens zu haben, sondern ebenso vermittels eines anderen Willens und hiermit in einem gemeinsamen Willen zu haben, macht die Sphäre des Vertrags aus.“86

Veräußerlich ist die gegenständliche Seite des Eigentums, nicht das, was Ausdruck des Willens darin ist. So sind z. B. diejenigen Güter, die „die Person und das allgemeine Wesen meines Selbstbewußtseins ausmachen, wie meine Persönlichkeit überhaupt, meine allgemeine Willensfreiheit, Sittlichkeit, Religion“87, unveräußerlich. Daraus folgt für das Eigentum der Person an sich selbst, daß die Persönlichkeit und das Leben, worin sie ist, gar nicht veräußerlich sind, außer es dient einer höheren, sittlichen Idee. Auch geistiges Eigentum ist unveräußerlich, da es seinem Wesen entsprechend Allgemeingut ist und daher den Regeln des Privateigentums nicht genügt: „[W]as Einer im Reiche der Wahrheit erwirbt, hat er Allen erworben.“88 Deshalb bezieht sich der Eigentumstitel in diesem Falle nur auf das Exemplar, in dem es sich manifestiert, nicht aber auf den allgemeinen Gehalt des Gedankens. Am Kunstwerk oder der technischen Erfindung sind nur die vergegenständlichten Exemplare veräußerlich – das Buch, das Patent etc. Der Verfasser oder Erfinder bleibt aber „Eigentümer der allgemeinen Art und Weise [...], dergleichen Produkte und Sachen zu vervielfältigen“.89 Im Vertrag einigen sich zwei Privateigentümer über den Austausch ihres jeweiligen Eigentums, so daß keiner der beiden Kontrahenten den Status des Eigentümers verliert, obwohl der jeweilige Besitz vollständig an den anderen Eigentümer übergeben wird. Im Vertrag bleibt sich der Eigentumstitel im Wechsel der unterschiedlichen Besitzgüter gleich und erweist sich dadurch vielmehr als gleichgültig gegen die besondere Gestalt des Besitzes. „Dies Verhältnis ist somit die Vermittlung eines in der absoluten Unterscheidung fürsichseiender Eigentümer identischen Willens und enthält, daß jeder mit seinem und des anderen Willen aufhört, Eigentümer zu sein, es bleibt und wird; – die Vermittlung des Willens, ein und zwar einzelnes Eigentum aufzugeben, und des Willens, ein solches, hiermit das eines anderen, anzunehmen, und zwar in dem identischen Zusammenhange, daß das eine Wollen nur zum Entschluß kommt, insofern das andere Wollen vorhanden ist.“90

Das Auseinandertreten von Sache und Eigentumstitel schlägt sich auch im Prozeß des vertraglich vereinbarten Austausch nieder: Der Prozeß gliedert sich in die Übereinkunft und die Leistung. In der Übereinkunft erklären die Personen ihre Bereitschaft, einen bestimmten Vertrag einzugehen und bezeugen diese nur vorgestellte Übereinkunft durch Zeichen, Gebärde oder Stipulation etc. Erst in der Leistung wechselt das Eigentum dann aber tatsächlich den Besitzer. Damit ergibt sich das Problem, daß im Vertrag sachlich verschiedene Dinge ausgetauscht werden, die einander auch qualitativ und quantitativ äquivalent sein müssen, wenn nicht einer der beiden Eigentümer übervorteilt werden soll. Das Eigentum ist In86 87 88 89 90

Hegel. Grundlinien, § 71. Ebd., § 66. Friedrich Schiller. „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ In Universalhistorische Schriften. Frankfurt a. M., 1999, 16. Hegel. Grundlinien, § 69. Ebd., § 74.

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karnation des Willens und als solches mit anderem Eigentum qualitativ vergleichbar. Und es ist ein Gegenstand, der sich aufgrund seiner Qualitäten gerade von anderen Gegenständen unterscheidet. Die Äquivalenz der Gegenstände kann nur quantitativ sein. Das quantifizierbare und zugleich qualitative Maß der Gegenstände ist ihr Wert. Der Wert gründet nach Hegel in der spezifischen Brauchbarkeit der Sache: „Die Sache im Gebrauch ist eine einzelne nach Qualität und Quantität bestimmte und in Beziehung auf ein spezifisches Bedürfnis. Aber ihre spezifische Brauchbarkeit ist zugleich als quantitativ bestimmt vergleichbar mit anderen Sachen von derselben Brauchbarkeit, so wie das spezifische Bedürfnis, dem sie dient, zugleich Bedürfnis überhaupt und darin nach seiner Besonderheit ebenso mit anderen Bedürfnissen vergleichbar ist und danach auch die Sache mit solchen, die für andere Bedürfnisse brauchbar sind. Diese ihre Allgemeinheit, deren einfache Bestimmtheit aus der Partikularität der Sache hervorgeht, so daß von dieser spezifischen Qualität zugleich abstrahiert wird, ist der Wert der Sache, worin ihre wahrhafte Substantialität bestimmt und Gegenstand des Bewußtseins ist. Als voller Eigentümer der Sache bin ich es ebenso von ihrem Werte als von dem Gebrauche derselben.“91

Ähnlich wie die Quantifizierbarkeit der Größe oder des Gewichts einer Sache soll auch der Wert durch Abstraktion von den Qualitäten des Gegenstandes gewonnen werden, nur daß er nicht in Zentimeter oder Kilogramm gemessen wird, sondern in Geldquanta. Es ergibt sich aber das Problem, daß entweder die Güter als Eigentum qualitativ verglichen werden – das gemeinsame Dritte, aufgrund dessen die unterschiedenen Güter vergleichbar sind, kann nach den Bestimmungen Hegels nur ihre Wesensbestimmung sein: Objektivationen des Willens zu sein. Dann sind die Güter aber nicht quantitativ vergleichbar, denn bei der Bestimmung des Eigentums, Inkarnation des freien Willens zu sein, handelt es sich gerade nicht um eine Bestimmung, die unmittelbar in Raum und Zeit dingfest gemacht werden könnte, sondern im Gegenteil nimmt sie nur Gestalt im Körper der Sache an, die ihr äußerlich bleibt. Das Eigentum hat kein quantifizierbares Maß. Oder die Güter sind aufgrund ihrer spezifischen Gebrauchseigenschaften quantitativ vergleichbar, dann beruht der Wert auf einer natürlichen Eigenschaft, die ein Gegenstand haben kann oder auch nicht. In diesem Falle wären nur einige Güter zufällig miteinander vergleichbar, andere nicht. Die Wertbestimmung Hegels läuft also auf die Alternative hinaus, entweder die Quantifizierbarkeit ohne ein gemeinsames Drittes zu begründen, oder ein gemeinsames Drittes, das nicht quantifizierbar ist. Die Auflösung dieses Problems hatte erst Marx im Kapital aufgezeigt, indem er den gesellschaftlichen Gehalt des Wertbegriffs erkannte. Von der historisch gegebenen Gesellschaft, deren Produktionsweise kapitalistisch ist, ausgehend, bestimmt Marx deren Elementarform, die Ware, die wiederum in doppelter Hinsicht erscheint, als Gebrauchsund als Tauschwert. Der Gebrauchswert bezeichnet die durch die qualitativen Eigenschaften einer Sache bedingte Nützlichkeit der Ware. Der Tauschwert „erscheint zu91

Hegel. Grundlinien, § 63 f. Schmidt am Busch sieht in der Wertbestimmung Hegels die Identifikation von Wert und Preis: „Der ‚Wert‘ einer Ware ist nach Hegel das, ‚was die Beziehung des Überflusses auf das Bedürfnis‘, lies: des Angebots auf die Nachfrage, ‚ausdrückt‘ – folglich ist er identisch mit ihrem Preis. Der Wert/Preis einer Ware wird also durch das ‚Ganze‘ des gesellschaftlichen Angebots und der gesellschaftlichen Nachfrage bestimmt […]“ Hans-Christoph Schmidt am Busch. Hegels Begriff der Arbeit, 99.

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nächst als das quantitative Verhältnis, die Proportion, worin sich Gebrauchswerte einer Art gegen Gebrauchswerte anderer Art austauschen, ein Verhältnis, das beständig mit Zeit und Ort wechselt. Der Tauschwert scheint daher etwas Zufälliges und rein Relatives, ein der Ware innerlicher, immanenter Tauschwert [...] also eine contradictio in adjecto.“92 Marx schließt darauf, daß die qualitativ unterschiedenen Waren, die miteinander ausgetauscht werden, in einer Hinsicht vergleichbar sind und daß die Eigenschaft, die sie vergleichbar macht, nicht auf ihre Gebrauchswerteigenschaften zurückzuführen ist, denn als Gebrauchswerte sind die zu tauschenden Gegenstände gerade voneinander unterschieden: Weizen tauscht sich nicht gegen Weizen aus. „Dies Gemeinsame kann nicht eine geometrische, physikalische, chemische oder sonstige natürliche Eigenschaft der Waren sein. Ihre körperlichen Eigenschaften kommen überhaupt nur in Betracht, soweit selbe sie nutzbar machen, also zu Gebrauchswerten. Andererseits aber ist es grade die Abstraktion von ihren Gebrauchswerten, was das Austauschverhältnis der Waren augenscheinlich charakterisiert. Innerhalb desselben gilt ein Gebrauchswert grade so viel wie jeder andre, wenn er nur in gehöriger Proportion vorhanden ist. [...] Als Gebrauchswerte sind die Waren vor allem verschiedner Qualität, als Tauschwerte können sie nur verschiedner Quantität sein, enthalten also kein Atom Gebrauchswert.“93

Allen Dingen ist gemeinsam, daß sie Arbeitsprodukte sind, und weil in der Tauschrelation von allen konkreten Eigenschaften der Dinge abstrahiert wird, so auch von der konkreten Arbeit, die zur Herstellung dieser Ware geleistet wurde. „Mit dem nützlichen Charakter der Arbeitsprodukte verschwindet der nützliche Charakter der in ihnen dargestellten Arbeiten, es verschwinden also auch die verschiedenen konkreten Formen dieser Arbeiten, sie unterscheiden sich nicht länger, sondern sind allzusamt reduziert auf gleiche menschliche Arbeit, abstrakt menschliche Arbeit.“94

In der anschließenden Wertformanalyse zeigt Marx, daß der Warenwert sich in einer besonderen Ware vergegenständlicht, die zur gesellschaftlich anerkannten Geldform wird.95 Die gesamte Analyse der Wertform ist Analyse einer historisch realen Erscheinung. Marx stellt sich nicht das Problem, wie sich aus den nützlichen Dingen das Geld historisch entwickelt hat, sondern schließt von der existierenden historischen Gesellschaft auf die Bedingung der Möglichkeit. Deshalb sind der begrifflichen Analyse Arbeitsteilung und Privateigentum als Existenzbedingung der Wertform unterstellt: „Nur Produkte selbständiger und voneinander unabhängiger Privatarbeiten treten einander als Waren gegenüber.“96 Der Wert stellt also eine gesellschaftliche Eigenschaft dar, deren Substanz die abstrakt menschliche Arbeit ist. Die Güter sind Arbeitsprodukte und, sofern von der Besonderheit des Arbeitsprozesses abstrahiert wird, qualitativ und quantitativ, also nach der verausgabten Arbeitszeit, vergleichbar. Marx zeigt in der Wertformanalyse darüber 92 93 94 95 96

Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 50. Ebd., 51 f. Ebd., 52. Vgl. ebd., 80 f. Ebd., 57.

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hinaus, daß der Wert eine eigenständige Gestalt als Geld annimmt. 97 Wenn die begriffliche Analyse des Werts nicht gegenstandslos sein soll, dann ist ihr die spezifisch historische Existenz des zu analysierenden Gegenstandes, die „Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht“98 notwendig vorausgesetzt. Nur wenn abstrakt menschliche Arbeit und Arbeit in unmittelbar gesellschaftlicher Form historisch konstitutive Begriffe sind, lassen sie sich auch als Wertsubstanz erschließen, denn anders als Naturgegenstände existieren gesellschaftliche Verhältnisse nicht unabhängig vom historischen Wirken der Menschen. Marx demonstriert die Verwiesenheit der Begriffsanalyse auf die historischen Gehalte negativ an dem Versuch Aristoteles‘, den Wertbegriff für die antike, d. h. Sklavenhaltergesellschaft zu analysieren: „Daß aber in der Form der Warenwerte alle Arbeiten als gleiche menschliche Arbeit und daher als gleichgeltend ausgedrückt sind, konnte Aristoteles nicht aus der Wertform selbst herauslesen, weil die griechische Gesellschaft auf der Sklavenarbeit beruhte, daher die Ungleichheit der Menschen und ihrer Arbeitskräfte zur Naturbasis hatte. Das Geheimnis des Wertausdrucks, die Gleichheit und gleiche Gültigkeit aller Arbeiten, weil und insofern sie menschliche Arbeit überhaupt sind, kann nur entziffert werden, sobald der Begriff der menschlichen Gleichheit bereits die Festigkeit eines Volksvorurteils besitzt. Das ist aber erst möglich in einer Gesellschaft, worin die Warenform die allgemeine Form des Arbeitsprodukts, also auch das Verhältnis der Menschen zueinander als Warenbesitzer das herrschende gesellschaftliche Verhältnis ist. Das Genie des Aristoteles glänzt grade darin, daß er im Wertausdruck der Waren ein Gleichheitsverhältnis entdeckt. Nur die historische Schranke der Gesellschaft, worin er lebte, verhindert ihn herauszufinden, worin denn ‚in Wahrheit‘ dies Gleichheitsverhältnis besteht.“99

Sowenig die Wertformanalyse bei Marx ohne die kapitalistische Produktionsweise auskommt, so wenig kommt ihre Analyse ohne das Instrumentarium wissenschaftlicher Kritik aus, denn die Wertsubstanz erscheint nicht unmittelbar. Der dem Vertragsverhältnis zugrunde liegende begriffliche Gehalt ist dem Verhältnis gerade nicht anzusehen, sondern nur wissenschaftlich als Bedingung der Existenz zu erschließen. Auch bei Hegel ist der Wert, als die Brauchbarkeit einer Sache, durch die Formierung mit dem Eigentum substantiell vermittelt, weil der Gegenstand selbst durch Arbeit verändert wird. Aber er erkennt die abstrakt menschliche Arbeit nicht als den Grund der Wertbeschaffenheit der Güter, weil er auf der Stufe des abstrakten Rechts noch gar nicht aus der Perspektive eines gesellschaftlichen Gesamtzusammenhanges argumentiert. Aus der systematischen Ableitung der Möglichkeit der Objektivierung des freien Willens folgt die Vorstellung abstrakt menschlicher Arbeit nicht, weil diese die Totalität aller Arbeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt voraussetzt: „Jede dieser individuellen Arbeitskräfte ist dieselbe menschliche Arbeitskraft wie die andere, soweit sie den Charakter einer gesellschaftlichen Durchschnitts-Arbeitskraft besitzt und als solche gesellschaftliche Durchschnitts-Arbeitskraft wirkt, also in der Produktion einer Ware auch nur die im Durchschnitt notwendige oder gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit braucht. Gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist Arbeitszeit, erheischt, um irgendeinen Gebrauchswert 97 98 99

Auf das Geldwesen reflektiert Hegel in den Grundlinien nicht, auch nicht im Zusammenhang der Bürgerlichen Gesellschaft. Ebd., 49. Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 74.

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Gesellschaftliche Selbstbestimmung und Arbeit in den Grundlinien mit den vorhandenen gesellschaftlich-normalen Produktionsbedingungen und dem gesellschaftlichen Durchschnittsgrad von Geschick und Intensität der Arbeit darzustellen.“100

Weil Hegel diesen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang für das abstrakte Recht nicht als konstitutiv betrachtet, hat die Wertbestimmung hier ihr Maß an der Selbstbestimmung und dem Interesse des Willens, die Güter zu benutzen. 101 Eigentum, Wert und Vertrag sollen in den Grundlinien keine gesellschaftlichen Bestimmungen sein, ohne aber umgekehrt in sich zu subsistieren: Der Widerspruch im Wertbegriff verweist negativ auf die gesellschaftlichen Gehalte des abstrakten Rechts: im Grundsatz der Rechtsverbindlichkeit, in dem der gesellschaftliche Zusammenhang der Personen antizipiert wird, bevor überhaupt von der Vielheit unterschiedener Individuen die Rede ist und in der Aneignung des Privateigentums, das in den Grundlinien nicht als ursprüngliche und gewaltsame Aneignung reflektiert wird. Darin sind Recht und Geschichte aufeinander verwiesen, ohne ineinander auflösbar zu sein. Dieser Befund stellt den sozialontologischen Status des abstrakten Rechts bei Hegel in Frage. Tatsächlich ist der Wert keine Bestimmung des abstrakten Rechts, sondern eine gesamtgesellschaftlich vermittelte, ökonomische Form. Damit sie entstehen kann, sind allerdings Arbeitsteilung und Privateigentum vorausgesetzt. Darin zeigt sich zweierlei: Erstens gehört das abstrakte Recht einem anderen Gegenstandsbereich an als der Wertbegriff, denn das eine ist (bei Hegel) rechtsphilosophisch begründet, das andere ist eine Gestalt der Ökonomie. Zweitens sind Recht und Arbeit als kapitalistisch organisierte Arbeit wechselseitig und untrennbar aufeinander verwiesen: ohne Privatrecht keine gesellschaftliche Durchschnittsarbeit, ohne gesellschaftliche Durchschnittsarbeit kein Wert und damit auch kein Vertragsverhältnis, in dem gleiche Güter den Eigentümer wechseln.

100 101

Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 53. Damit fällt die Wertbestimmung Hegels, gerade indem sie den metaphysischen Grund der Erklärungen von Adam Smith und David Ricardo liefern soll, hinter diese zurück. Anklänge an die Arbeitswerttheorie finden sich in der Formulierung des § 196 der Grundlinien: „Diese Formierung gibt nun dem Mittel den Wert und seine Zweckmäßigkeit [...]“. Andreas Arndt vermutet rezeptionsgeschichtliche Gründe: „Hierbei interessierte ihn [Hegel, M. B.] nicht die (zudem bei Smith selbst nur widersprüchlich entwickelte) Arbeitswerttheorie, die er – wie auch die Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert – nie rezipiert hat; – sein eigener Wertbegriff verdankt sich vielmehr der Verarbeitung des naturrechtlichen Gedankens der Vertragsgerechtigkeit als Äquivalent der (auf Bedürfnisse bezogenen) Leistungen. An Smith mußte Hegel vor allem interessieren, daß die Arbeit (a) unmittelbar oder vermittelt den Fonds der Konsumtion bildet und (b) die Steigerung der Produktivität durch Arbeitsteilung sich zu einem System wechselseitiger Abhängigkeit in der Befriedigung der Bedürfnisse durch Tausch des Überflusses ausbildet.“ Und dann die dazugehörige Fußnote: „All dies konnte Hegel dem ersten Kapitel des Wealth of Nations entnehmen; tatsächlich gibt es bisher auch keinen Nachweis oder eindeutige Bezugnahmen auf spätere Stellen des Smithschen Werkes, und es ist zweifelhaft, ob Hegel überhaupt mehr als dieses Kapitel gelesen hat. Anders ist kaum erklärlich, daß Hegel die Probleme der Lohnarbeit und des Kapitals sowie der Wertbestimmung durch Arbeit trotz seiner Bezugnahme auf Smith nicht sehen konnte.“ Andreas Arndt. „Die Arbeit der Philosophie.“ In Die Arbeit der Philosophie. Berlin, 2003, 57 ff. Eine sachliche Begründung für Hegels unzureichenden Wertbegriff kann auch sein, daß sein sozialontologischer Rechts- und Gesellschaftsbegriff die empirischen und historischen Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft nicht ausreichend berücksichtigt.

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c) Unrecht und der Wille des Verbrechers Der vernünftige Wille realisiert sich im Eigentum und geht über dieses vermittelt mit anderen Eigentümern Verträge ein. Die hinter den Verträgen stehenden Personen treten nicht direkt als freie Willen miteinander in Beziehung, sondern nur in der Beziehung ihrer Güter aufeinander, in denen ihr freier Wille vergegenständlicht sein soll. Außerhalb des Verhältnisses der Gegenstände zueinander erscheint der freie Wille daher im abstrakten Recht nicht. Der Vertrag hat damit eine gegen die Zwecke der Eigentümer selbständige Gestalt. Trotzdem ist der Austausch von Gebrauchsgütern Hegel zufolge nicht der Zweck des Vertragsverhältnisses, sondern die Realisierung der Willen. Dieser Zweck ist aber mit der objektiven Gestalt des Vertrages noch nicht vermittelt, so daß der besondere Wille gegen dessen Gestalt im Vertrag noch zufällig ist: Der Wille kann sich auch willkürlich bestimmen, dann ist ihm der Vertrag nicht Selbstzweck. Dadurch kann der Fall eintreten, daß zwar ein Vertrag geschlossen wird, dem auch beide Eigentümer zustimmen, ohne daß aber aus der Vertragsgestalt hervorgeht, ob die beteiligten Eigentümer eigennützige, gegen das Vertragsinteresse gerichtete Zwecke verfolgen. Die versehentliche und beabsichtigte Verwechslung der Priorität von Recht und besonderem Interesse ist unrecht: „Im Vertrage ist das Recht an sich als ein Gesetztes, seine innere Allgemeinheit als ein Gemeinsames der Willkür und besonderen Willens. Diese Erscheinung des Rechts, in welchem dasselbe und sein wesentliches Dasein, der besondere Wille, unmittelbar, d. i. zufällig übereinstimmen, geht im Unrecht zum Schein fort – zur Entgegensetzung des Rechts an sich und des besonderen Willens, als in welchem es ein besonderes Recht wird.“102

Die Intention des vom Recht abweichenden Willens ist dabei für die Schwere des begangenen Unrechts entscheidend: Der besondere Wille kann Interessen verfolgen, die mit anderen Interessen kollidieren, wie im bürgerlichen Rechtsstreit, oder der Vertrag ist für ihn nur ein Mittel, wie im Betrug, oder er negiert das Recht sogar gänzlich, wie im Verbrechen. Das Unrecht heißt unbefangen, wenn die beteiligten Personen unterschiedliche Rechtsgründe in Beziehung auf ein und dieselbe Sache geltend machen wollen. Weil beide eine Sache als ihr Eigentum ansehen, kann es zu Rechtskollisionen kommen. Es handelt sich um die mildeste Form des Unrechts, weil das Recht selbst nicht verfälscht oder in Frage gestellt wird, sondern in der Forderung beider anerkannt wird. Wem das Recht zuzusprechen ist, ist dann im Rechtsstreit zu klären. Im Betrug wird einer der Eigentümer absichtlich über die besondere Beschaffenheit der Sache, der Eigen102

Hegel. Grundlinien. § 82. Vgl. auch Kant: „D r i t t e n s , die B ö s a r t i gke i t (vitiositas, pravitas) oder, wenn man lieber will, die V e r d e r b t h e i t (corruptio) des menschlichen Herzens, ist der Hang der Willkür zu Maximen, die Triebfeder aus dem moralischen Gesetz anderen (nicht moralischen) nachzusetzen. Sie kann auch die V e r k e h r t h e i t (perversitas) des menschlichen Herzens heißen, weil sie die sittliche Ordnung in Ansehung der Triebfedern einer freien Willkür umkehrt und, obzwar damit noch immer gesetzlich gute (legale) Handlungen bestehen können, so wird doch die Denkungsart dadurch in ihrer Wurzel (was die moralische Gesinnung betrifft) verderbt und der Mensch darum als böse bezeichnet.“ Immanuel Kant. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Hrsg. v. Karl Vorländer. Hamburg, 1990, 30.

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Gesellschaftliche Selbstbestimmung und Arbeit in den Grundlinien

tumsverhältnisse oder den Wert des Eigentums durch den anderen Eigentümer getäuscht. Im Vertrag treffen die zwei Willen dann zwar eine Vereinbarung über das Eigentum, aber unter „Vorspiegelung falscher Tatsachen“. „Das Recht an sich, in seinem Unterschiede von dem Recht als besonderem und daseiendem, ist als ein gefordertes zwar als das Wesentliche bestimmt, aber darin zugleich nur ein gefordertes, nach dieser Seite etwas bloß Subjektives, damit Unwesentliches und bloß Scheinendes. So das Allgemeine von dem besonderen Willen zu einem nur Scheinenden, zunächst im Vertrage zur nur äußerlichen Gemeinsamkeit des Willens herabgesetzt, ist es der Betrug.“103

Das schwerste Unrecht ist die Verletzung des Rechtsgebots und des damit verbundenen Rechtssubjekts, Person zu sein und andere Personen zu respektieren. Im Verbrechen wird also der Wille, mithin das abstrakte Recht selbst lädiert. Mit diesen Bestimmungen ergibt sich folgende Ausgangsfrage: Das Recht ist die Objektivationsform des vernünftigen Willens, der außerhalb dieser Form nicht positiv erscheint. D. h. daß das Recht nicht innerhalb der Sphäre subjektiver Willensbestimmung erscheint als Trieb oder Zweck der Handlung, sondern in der Sphäre objektiver Willensbestimmung, also als unter bestimmten rechtlichen Bedingungen stattfindende Handlung. Die Intention der Handlung sei aber deshalb von ihrer Äußerung ununterscheidbar, weil der Wille seine Realisierung wollen muß. Wenn aber die Selbstbestimmung des Willens von ihrer Gestalt im Vertrag bzw. der Handlung ununterscheidbar sind, dann ist zu fragen, welchen Grund der vernünftig bestimmte, innerhalb eines vernünftig organisierten Handlungszusammenhanges agierende Wille haben kann, ein Verbrechen zu verüben? Das Verbrechen wird zunächst durch die Notwendigkeit begründet, den Widerspruch im Rechtsbegriff zu vermitteln, daß das abstrakte Recht dem subjektiven Willen gegenüber gleichgültig ist, aber gleichzeitig dessen adäquate Realisationsform sein soll. Diese Vermittlung findet in der Sphäre äußerer Handlungen statt und hat die Gestalt der Negation der Negation. Da der Wille sich in den Handlungen seine Gestalt gibt und außerhalb dieser Handlungen nichts ist, ist die Läsion des Vertrages von der Läsion des Willens zunächst nicht zu trennen. „Daß mein Wille im Eigentum sich in eine äußerliche Sache legt, darin liegt, daß er ebensosehr, als er in ihr reflektiert wird, an ihr ergriffen und unter die Notwendigkeit gesetzt wird. Er kann darin teils Gewalt überhaupt leiden, teils kann ihm durch die Gewalt zur Bedingung irgendeines Besitzes oder positiven Seins eine Aufopferung oder Handlung gemacht, Zwang angetan werden.“104

Die erste Negation ist die Verletzung des Rechts im Verbrechen, wodurch das Dasein des rechtmäßigen Willens lädiert wird. Diese Verletzung ist der Widerspruch schlechthin, denn der verbrecherische Wille lädiert damit die Bedingungen seiner Selbstbestimmung. D. h. daß mit dem Dasein des Willens das abstrakte Recht selbst verletzt wird, was zugleich aus dem Begriff des abstrakten Rechts notwendig folgt.105 Diese Läsion, da 103 104 105

Hegel. Grundlinien, § 87. Ebd., § 90. Vgl. ebd., § 92.

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sie die Negation des Rechts ist, aber zugleich in die Sphäre des äußeren Daseins fällt und deshalb selbst ein Dasein haben muß, kann nur im Willen des Verbrechers existieren. „Die positive Existenz der Verletzung ist nur als der besondere Wille des Verbrechers.“106 Die ihrer Existenz nach Ununterschiedenen, Recht und vernünftiger Wille, treten also als Recht und Verbrechen im Willen des Verbrechers auseinander. Die spezifische Differenz zwischen dem rechtlichen und dem verbrecherischen Willen macht sich als Gewalt in der Handlung des Verbrechers geltend. Um das Recht wiederherzustellen, ist deshalb die Negation der ersten Negation nötig, also die Bestrafung des Verbrechers bzw. die Negation seines besonderen Willens. „Das abstrakte Recht ist Zwangsrecht, weil das Unrecht gegen dasselbe eine Gewalt gegen das Dasein meiner Freiheit in einer äußerlichen Sache ist, die Erhaltung dieses Daseins gegen die Gewalt hiermit selbst als eine äußerliche Handlung und eine jene erste aufhebende Gewalt ist.“107 Insofern der Verbrecher selbst vernunftbegabt ist und er deshalb objektiv ein Interesse an der Wiederherstellung des Rechts hat, sei es das Recht und der (wenn nicht subjektive, so doch objektive) Wille des Verbrechers, „ein Dasein seiner Freiheit, sein Recht“108 bestraft zu werden. Die Vergeltung ist zunächst wiederum durch einen einzelnen Willen ausgeübter Zwang und daher das Setzen eines neuen Unrechts, das wiederum durch einen weiteren Willen bestraft werden muß und so weiter ins Unendliche. Dieser unendliche Regreß wird dadurch aufgehoben, daß eine allgemein und objektiv „strafende Gerechtigkeit“ gefordert wird, d. h. eine Gerechtigkeit, die „vom subjektiven Interesse und Gehalt sowie von der Zufälligkeit der Macht“109 befreit ist. In der Forderung nach einer rechtsetzenden Instanz ist zwar noch nicht der Staat mit seinen rechtspflegerischen Organen gesetzt, aber die Forderung nach einer Allgemeinheit, die mit den subjektiven Zwecken vermittelt ist. Die Reflexion auf den Begriff dieser Allgemeinheit ist zunächst keine Reflexion auf die Bedingungen der Handlungen, sondern auf die subjektiven und objektiven Zwecke des Willens. Auf diese Weise wird der Rechtsbegriff in die Reflexion der Moralität, werden die sozialontologischen Grundlagen in die Begriffe der praktischen Vernunft überführt. In diesem Übergang reflektiert Hegel auf die von Kant formulierte Differenz von pflichtgemäßen Handlungen und Handlungen aus Pflicht. Nur der Wille, der sich zwingen lassen will, kann auch bezwungen werden. Deshalb kann die Bestrafung des Verbrechers zwar die Rechtskonformität seines Verhaltens wiederherstellen, sie kann aber nicht dessen vernünftige Willensbestimmung erzwingen. Der Wille ist frei, so daß der Verbrecher seiner Strafe gegenüber auch gleichgültig bleiben kann. Ob der Verbrecher sich deshalb rechtskonform verhält, weil er einsieht, daß es dem Begriff der Selbstbestim-

106 107 108 109

Hegel. Grundlinien, § 99. Ebd. Ebd., § 100. Ebd., § 103.

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mung entspricht, oder weil er eine erneute Bestrafung fürchtet, ist nicht auszumachen. Der Gehalt dieser Bestimmung ist Gegenstand der moralischen Reflexion. Die Frage, ob das an das Recht wieder angepaßte Verhalten des Verbrechers pflichtgemäß oder aus Pflicht bestimmt ist, ist für das abstrakte Recht gleichgültig. Die Nichtübereinstimmung von natürlichem und selbstbestimmten Willen ist erst Gegenstand der moralphilosophischen Reflexion. Aber wenn ein Verbrechen begangen und die im Recht inkarnierte Allgemeinheit lädiert wird, ist es notwendig, den Widerspruch zwischen subjektivem Individuum und objektiver Allgemeinheit zu vermitteln. Daß Subjekt und Objektivität sich widersprechen, ist notwendig für die Bewegung der Negation der Negation im abstrakten Recht – die Nichtübereinstimmung von Wille und Willkür hingegen bleibt notwendig zufällig: Die Willkür muß sich überhaupt geltend machen, weil sonst niemals ein Verbrechen stattfände und ein Verbrechen muß stattfinden, damit die Negation des abstrakten Rechts einen Gegenstand hat. Zufällig bleibt einzig, welchen Inhalt die Willkür wählt. Mit der Notwendigkeit des Begriffs des Verbrechens wird auch die Notwendigkeit der Gewalt, die das Verbrechen begleitet, behauptet. Oder: Noch das Verbrechen ist Ausdruck der Selbstbestimmung des Willens. Auf dieser begrifflichen Grundlage, die die Ununterscheidbarkeit von Recht und Wille durch ihre Differenz hindurch behauptet, fußt dann auch der Rückgang des Unrechts in seinen Grund: den selbstbestimmten Willen. Aber eben diese Identität von Wille und Recht ist problematisch. Beide sind, erst einmal unabhängig von ihrer historischen Ausprägung, dem Wesen nach unterschieden – der Wille ist spekulativ, seine Zwecke begrifflich, während sich das Recht auf Handlungen in Raum und Zeit bezieht. Hegels Argument für die Übereinstimmung beider ist, daß die Form der Handlung mit der Form vernünftiger Willensbestimmung im abstrakten Recht übereinstimmt: Beide sind teleologisch auf den Zweck der Selbstbestimmung des Willen hingeordnet. Unterschieden sind beide im Unrecht und der deutlichste Ausdruck dieses Unterschiedes ist in der stärksten Form des Unrechts, dem Verbrechen, die für das Verhältnis charakteristische Gewalt. Als Grund dieser Gewalt gibt Hegel die Willkür des Verbrechers an, die sich gegen das Recht bestimmen muß, wenn dieses der Negation der Negation genügen soll. In der Einleitung zu den Grundlinien hatte Hegel gezeigt, daß der willkürlich bestimmte Wille nicht notwendig zum vernünftig bestimmten Willen in Widerspruch gerät. Die Willkür hatte er dort als den unreflektierten Willen bestimmt, der, weil er noch nicht weiß, daß es ihm um seine Selbstbestimmung zu tun ist, beliebige Inhalte wählt. Erst die Reflexion darauf, daß die Fähigkeit zu wählen sein Wesen ist, eröffnet ihm die Erfahrung, sich selbst Zweck zu sein.110 Hegel hatte selbst darauf hingewiesen, daß die Bedingung der Selbstbestimmung die Übereinstimmung der subjektiven Zwecke mit den vernünftigen Bedingungen der Realisierung dieser Zwecke ist. Darin erscheint, daß der Grund für das Unrecht nicht allein dem natürlichem Willen als natürlichen Willen geschuldet ist, sondern den Bedingungen seiner Objektivierung. Daß es nicht notwendig 110

Vgl. S. 187 ff.

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zu Rechtskollisionen kommen muß, klingt in den Formulierungen Hegels aus den Passagen zum abstrakten Recht selbst an: „In ihrer Äußerlichkeit gegeneinander und Mannigfaltigkeit liegt es, daß sie in Beziehung auf eine und dieselbe Sache verschiedenen Personen angehören können.“111 In der Anmerkung zu § 93 nennt Hegel drei Erscheinungsformen, in denen die Gewalt sich zur vernünftigen Allgemeinheit des abstrakten Rechts verhält: die „Verletzung eines Vertrages durch Nichtleistung des Stipulierten oder der Rechtspflichten gegen die Familie, [den] Staat, durch Tun oder Unterlassen“112, dann als „pädagogischer Zwang, oder Zwang gegen Wildheit und Rohheit ausgeübt“, oder „es ist nur ein Naturzustand, Zustand der Gewalt überhaupt vorhanden, so begründet die Idee gegen diesen ein Heroenrecht.“113 Die Vertragsverletzung und deren Ahndung setzt den entwickelten Staat und die Institutionen der Rechtspflege voraus, die das Recht erhalten, indem sie begangenes Unrecht bestrafen; der pädagogische Zwang findet ebenfalls innerhalb des Rechts statt und ist eine Voraussetzung für die Bildung der Rechtspersonen. Der natürliche Wille ist in sich seiende Gewalt. Sofern der natürliche Wille sich als Wille des Verbrechers im abstrakten Recht Geltung verschafft, ist in ihm die Einheit von rechtserhaltender und -setzender Gewalt gegeben. Schließlich fällt der Zwang, welcher im Naturzustand stattfindet, in die Vorgeschichte des bürgerlichen Rechtsstaates und soll Hegel zufolge für diesen nicht mehr bestimmend sein.114 Alle drei genannten Erscheinungsweisen der Gewalt bleiben der Rechtsidee transzendent, denn weder ist der Staat auf der Stufe des abstrakten Rechts entwickelt, noch spielt die rechtsetzende Gewalt des Naturzustandes oder das Verbrechen als Vertragsbruch eine Rolle – zumindest Hegel zufolge: „Der Vertrag setzt voraus, daß die darein Tretenden sich als Personen und Eigentümer anerkennen; da er ein Verhältnis des objektiven Geistes ist, so ist das Moment der Anerkennung schon in ihm enthalten und vorausgesetzt.“115 Und daß der natürliche Wille nicht notwendig unvernünftig ist, hatte Hegel in der Einleitung begründet. Damit fällt aber die Reflexivität des Rechtsbegriffs: Das Verbrechen muß als Negation des Rechtsbegriffs notwendig aus dem Recht begründet sein, aber die Gründe für das Verbrechen liegen außerhalb des abstrakten Rechts, in dessen Vorgeschichte, im Staat oder einem im Sinne Kants heteronom bestimmten Willen, den es bei Hegel gar nicht geben kann. Die Begründung der Notwendigkeit des Verbrechens fällt also nicht in dessen Begriff und damit auch nicht in den Begriff des vernünftig bestimmten Willens. D. h. auch daß das Böse nicht aus der Natur bzw. dem Begriff des Menschen ableitbar ist. Der Mensch hat die Anlage dazu, sich für das eine oder andere zu entscheiden, aber ausschlaggebend, sich für oder gegen das Verbrechen zu entscheiden, sind die Lebensumstände.116 111 112 113 114 115

Kursiv von mir, M. B. Hegel. Grundlinien, § 84. Hegel. Grundlinien, § 93 Anmerkung. Ebd., Anmerkung. Vgl. Hegel. Enzyklopädie, § 433 Anmerkung. Hegel. Grundlinien, § 71.

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Gesellschaftliche Selbstbestimmung und Arbeit in den Grundlinien

Wenn also Hegel einerseits das Verbrechen und die darin sich geltend machende Gewalt als konstitutive Bestimmung des abstrakten Rechts erweist, diese Gewalt aber anderer Herkunft ist, als das abstrakte Recht, dann wird hier offensichtlich etwas zum Rechtsgrund, was eigentlich überwunden sein sollte: Die in der Vorgeschichte konstitutive Gewalt ist in das abstrakte Recht als Bestimmungsgrund, gegen Hegels Konzeption, tradiert worden. Schließlich – wenn Recht und Vernunft unterschiedliche Bestimmungsgründe haben, dann ist auch die Bestrafung des Verbrechers nicht dasselbe wie die Forderung nach strafender Gerechtigkeit. Die Strafe erfüllt nicht den Zweck, vernünftiges Verhalten zu erzwingen. Die Willensbestimmung bleibt Ausdruck der Freiheit und setzt den Entschluß des Verbrechers voraus, sich vernünftig bestimmen zu wollen. Das kann den Menschen weder die Natur, noch Gott, noch der Weltgeist abnehmen. Die Begründung für die Rechtskollisionen kann aber auch im Hinblick auf die Praxis erfolgen: Im unbefangenen Unrecht und im Betrug wird das Recht gefordert, es ist ein Sollen, das mit der Praxis der Rechtsprechung nichts zu tun hat, weil vor Gericht jeweils nur ein partikulares Interesse gegen ein anderes unter der Form rechtlicher Allgemeinheit Recht bekommt – nie aber die gerechte Allgemeinheit selbst gesetzt wird. Damit ist nicht der Begriff des Rechts konstitutiv für das Recht, sondern die Negation des Begriffs des Rechts oder der Rechtsstreit. Recht ist nicht reflexiv, sondern tautologisch: Nur wenn Recht historisch gesetzt ist, kann es auch wieder hergestellt werden.

d) Resultate: Substanz und Bedingungen des abstrakten Rechts Das abstrakte Recht ist der Begriff des Rechts, der mit den konkreten Bereichen gesellschaftlicher Organisation noch vermittelt werden muß. Der vernünftige Wille muß die gesellschaftlichen Bedingungen seiner Realisierung wollen, ohne bereits über sie zu verfügen. Entsprechend ist das Recht auf die Moralität, in der die subjektiven Zwecke des Willens reflektiert werden, die bürgerliche Gesellschaft, in der die ökonomischen Bedingungen der Selbstbestimmung entwickelt werden, und den Staat, der die sittliche Einheit von Zwecken und Bedingungen garantiert, verwiesen. Trotz dieser Verwiesenheit des Rechts auf ihre konkreten Gestalten gehe es zunächst in seinen Grund, den vernünftigen 116

Vgl. auch Oliver Jelinski, der die Vorstellung anthropologisch begründeter Konkurrenz anhand Kants kritisiert: „Wenn die Neigungen des Einzelnen nicht über die ihm gegebenen Mittel zur Befriedigung derselben hinausgehen, empfindet er keinen Mangel. Er fühlt sich nicht ungleich mit jemandem, der mehr hat, denn das Mehr begehrt er nicht. Er wird dementsprechend auch nicht versuchen, sich Vorteile gegenüber dem anderen zu verschaffen und weder Neid noch Herrschsucht, noch Habsucht entwickeln. Erscheint der Mangel subjektiv nicht, gibt es keinen Anlaß, der aus dem Hang zum Bösen eine Neigung zum Bösen macht und dem Handeln aus Pflicht steht nichts mehr entgegen. Ein ethisches Gemeinwesen, das eine solche Kultur der Zucht verwirklicht, hat den Widerspruch der Hobbesschen Lehre überwunden, daß moralisches Handeln nur durch äußere Gewalt möglich ist.“ Oliver Jelinski. „Gewißheit und Wahrheit des gesellschaftlichen Glücks. Zur Phänomenologie des politischen Geistes.“ In Kants Ethisches Gemeinwesen. Die Religionsschrift zwischen Vernunftkritik und praktischer Philosophie. Hrsg. v. Michael Städtler. Berlin, 2005, 51.

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Willen zurück und stellt die Substanz gesellschaftlicher Organisation dar. Umgekehrt hatte sich aber auch gezeigt, daß das abstrakte Recht vor der Betrachtung seiner gesellschaftlichen Umsetzung nicht widerspruchsfrei zu denken ist: Der Begriff des Eigentums ist auf seine Vorgeschichte verwiesen. Zwar wurden Besitz und Eigentum durch Arbeit vermittelt, aber die dem Arbeitsprozeß vorausgesetzte Aneignung der Arbeitsmittel und des Bodens ist ebenso vorausgesetzt wie die Anerkennung des Privateigentums. Beides wird in den Grundlinien nicht mehr reflektiert, sondern als gesetzt betrachtet. Der Begriff des Vertrages, in dem die den Eigentumstiteln subsumierten Güter äquivalent getauscht werden, verwies auf die Frage nach der Vergleichbarkeit der Güter und damit auf den Wertbegriff. Die bei Hegel angelegte Identität von gesellschaftlichen und gegenständlichen Eigenschaften des Eigentums führte auf Widersprüche, die mit dem Marxschen Begriff der gesellschaftlich notwendigen Durchschnittsarbeit erklärbar sind. Das bedeutet aber, daß das abstrakte Recht nicht nur den adäquaten Begriff eines historischen Zustandes darstellt, der aus diesem Begriff zu entfalten ist, sondern, daß umgekehrt der historische Gehalt des abstrakten Rechts dieses konstituiert, weil der Begriff des abstrakten Rechts die konkreten Gestalten gesellschaftlicher Organisation voraussetzt, um darstellbar zu sein. Indem also das Recht rekursiv auf seine Vorgeschichte verwiesen ist, sowie progressiv auf die Gestalten seines entwickelten Daseins, erweist sich die Selbständigkeit des historischen Gehaltes, den Hegel durch den ontologisierten Rechtsbegriff ersetzen wollte, um die Wirklichkeit dann aus der Rechtssubstanz abzuleiten. Der historische Kern des Rechtsbegriffs ist als kontingente und willentliche Bedingung nicht ontologisierbar. Damit wandelt sich auch die Stellung der für das abstrakte Recht konstitutiven Gewalt im Verbrechen bzw. der Bestrafung des Verbrechers. Sie kann nicht als Funktion bestimmt werden, sondern bleibt historische Tat. Demnach würde der Wille nicht über die Bedingungen seiner Realisierung verfügen, so daß das Recht mit der Kritik der rechtsphilosophischen Begründung durch Hegel aus seiner ontologischen Konstruktion herausgelöst werden muß. Die Rechtsbegründung kann nicht unabhängig von der Kritik der Rechtspraxis gedacht werden, wenn sie nicht apologetisch sein soll. Nur insofern es historisch gesetzt und staatlich garantiert ist, kann es praktisch auch wiederhergestellt werden. Damit ist nicht der vernünftige Wille die rechtsetzende Instanz, sondern der machthabende.

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4.3 Moralisches Subjekt, sittliches Selbstbewußtsein, aufgeklärtes Individuum Zweck des abstrakten Rechts ist es, der Selbstbestimmung des Willens einen objektiven Rahmen zu geben. Die Bestimmungen des Willens als Vermögen vernunftbegabter Sinnenwesen blieben aber ebenso abstrakt wie das abstrakte Recht selbst: Die Person ist Privateigentümer – gleichgültig von was; sie ist Rechtssubjekt, Vertragspartner. Individualität wurde erst mit dem Verbrechen und dort nur als Akt der Willkür thematisch. Indem der Verbrecher vom Rechtsprinzip abweicht, entsteht überhaupt erst individuelle Eigenständigkeit, die aber zugleich negativ – eben als Verbrechen – besetzt ist. Die mit der Durchführung des abstrakten Rechts gewonnene Bestimmung des Subjekts ist also die, daß es mit den Bedingungen seiner Existenz im abstrakten Recht nicht identisch ist, sondern, indem es sich gegen das abstrakte Recht stellen kann, auch Zwecke setzen kann, die gegen das Recht gleichgültig sind. Die Vermittlung von Willkür und Wille ist Gegenstand der Moralität. Sie hat das sittliche Selbstbewußtsein zum Resultat, welchem die Realisierung der Idee der Einheit von Recht und Moralität Zweck ist. Das sittliche Selbstbewußtsein ist ein besonderes Individuum, dessen Individualität schließlich in der Familie mit dem Begriff des Sittlichen vermittelt wird. Die Bestimmungen der Moralität sollen im folgenden nur kurz skizziert werden, um den Ausgangspunkt der Bestimmungen der Familie zu benennen. Die Negation der subjektiven Zwecke des Individuums im Verbrechen wird in der Moralität um den Begriff des moralisch bestimmten Willens erweitert. „Die Willensbestimmtheit ist theils als die a n s i c h seyende, – der Vernunft des Willens, das an sich Rechtliche (und Sittliche); – theils als das in der thätlichen Aeußerung vorhandene, sich begebende und mit derselben in Verhältniß kommende Daseyn. Der subjective Wille ist insofern mo r a l i s c h frei, als diese Bestimmungen innerlich a l s d i e s e i n i ge n g e s e t z t und von ihm gewollt werden. Seine thätliche Aeußerung mit dieser Freiheit ist H a n d l u n g, in deren Aeußerlichkeit er nur dasjenige als das seinige anerkennt und sich zurechnen läßt, was er davon in sich gewußt und gewollt hat.“117

Der moralische Wille realisiert sich in der Handlung, die gut sein soll. Der Zweck des moralisch bestimmten Willens ist damit nicht unabhängig von seiner Realisierung zu denken und bewegt sich bei Hegel zwischen der Intention und den objektiven Bedingungen des Handelns und ist zunächst durch den Nachweis der Nichtübereinstimmung von Intention und Objektivität bestimmt: So kann der Vorsatz einer Handlung an der Selbständigkeit der Objektivität scheitern und „Anderes zum Vorschein bringen, als in dieser gelegen hat.“118 Das Subjekt hat ein Recht darauf, daß die Handlung, indem sie gut ist, auch auf das Wohl des Subjekts ausgerichtet ist, d. h. daß seine Bedürfnisse, Interessen und Zwecke in der Handlung berücksichtigt werden. Absicht und Wohl sind aber ohne ein Prinzip ihrer moralischen Bestimmung gleichgültig gegen ihren moralischen Gehalt: 117 118

Hegel. Enzyklopädie, § 503. Ebd., § 504.

Moralisches Subjekt, sittliches Selbstbewußtsein, aufgeklärtes Individuum

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Sie können ebensogut Bestimmungsgründe für einen verbrecherischen Willen sein. Das vernünftige Prinzip der Willensbestimmung ist ein formelles Kriterium, das nur aus dem Subjekt bestimmt sein und als dieser Selbstzweck realisiert werden soll. Es ist „das an und für sich Gute, daher d er absolu te E nd zwec k der We lt , und die P flich t für das Subject, welches die Ein sic ht in das Gute haben, dasselbe sich zur Absich t machen und durch seine Thätigkeit hervorbringen soll .“119 Aber so wenig die Willensbestimmung ohne ein moralisches Prinzip gut ist, so wenig kann ein Zweck gut sein, der über die Bedingungen seiner Realisierung nicht verfügt. Als rein formelles Prinzip gerät der gute Wille deshalb in Widersprüche: Die Pflichten, welche aus dem abstrakten moralischen Prinzip abgeleitet werden, kollidieren untereinander; dann ist das abstrakte Prinzip des Guten gleichgültig gegen das Wohl des handelnden Subjekts, welches aber zugleich einen Anspruch darauf hat, seine Besonderheit in der Handlung zu berücksichtigen. Schließlich liegt es im Belieben des Subjekts, ob es die Realisierung des Guten zu seinem Zweck macht, oder ob es das Gute der Realisierung seines Wohls unterordnet, und selbst wenn es das Gute will, bleibt die Objektivität, in der es realisiert werden soll, gegen das Subjekt selbständig. „Es ist daher zufällig, ob sie mit den subjectiven Zwecken zusammenstimmt, ob das G u t e sich in ihr realisirt und das B ö s e , der an und für sich nichtige Zweck, in ihr nichtig ist; – ferner ob das Subject in ihr g l ü c k l i c h und das b ö s e u n gl ü c k l i c h wird. Zugleich aber s o ll die Welt das Wesentliche, die gute Handlung in sich ausführen lassen, wie dem g u t e n Subjecte die Befriedigung seines besondern Interesses gewähren, dem bösen aber versagen, so wie das Böse selbst zu nichte machen.“120

Weil der letzte Zweck des moralischen Subjekts einerseits wirkmächtig sein soll, andererseits aber keinen Ort in der Welt hat, wird er zu dessen innerster und damit zugleich eitelster Reflexion. Hegel karikiert mit dieser Bestimmung des moralischen Zwecks die entsprechende Bestimmung Kants. Anders als bei Kant ist die Reinheit des moralischen Vorsatzes in den Grundlinien nicht die a priorische Bedingung moralischer Handlung, sondern vielmehr das Resultat der Kritik am Moralbegriff der Kritik der praktischen Vernunft.121 Dessen prinzipieller Mangel ist es, als a priorisches Prinzip auf die Sphäre der Handlungen nicht anwendbar zu sein, ohne ‚unrein‘ zu werden, aber zugleich anwendbar sein zu müssen, wenn er nicht gegenstandslos bleiben soll. Hegel zeigt dagegen, daß die Bestimmung des Guten als rein formales Prinzip, wie es der kategorische Imperativ ist, in der Ununterscheidbarkeit von gut und böse gipfelt und damit auf die gesellschaftliche Objektivität verweist, in der das Gute realisiert werden soll. Jenseits seiner Realisierung kann der Wille sich Selbstzweck sein und gegen andere Subjekte gewissenlos sein: „Das B ö s e als die innerste Reflexion der Subjectivität in sich gegen das Objective und Allgemeine, das ihr nur Schein ist, ist dasselbe, was die g u t e Ge s i n n u n g des a b s t r a c t en Gu 119 120 121

Hegel. Enzyklopädie, § 507. Ebd., § 510. Vgl. S. 187 ff. dieser Arbeit.

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Gesellschaftliche Selbstbestimmung und Arbeit in den Grundlinien t e n , welche der Subjectivität die Bestimmung desselben vorbehält; – das ganz abstracte S ch e i n e n , das unmittelbare Verkehren und Vernichten seiner selbst.“122

Mit dem abstrakten Recht beschreibt Hegel den Begriff der Konstellation von Wille und Objektivität, in der Freiheit nicht abstrakt bleibt. Der Wille wirkt als diejenige Instanz, die die Objektivität noch unabhängig von den Zwecken und Interessen eines Individuums bestimmt. Die individuellen Zwecke werden erst mit der Moralität reflektiert. Obgleich beide Bereiche, das abstrakte Recht ebenso wie die Moralität, unter der Maßgabe der begrifflichen Vermittlung abgehandelt werden, bleibt ihnen jeweils ein Unauflösbares immanent: Die systematische Vermittlung des abstrakten Rechts bleibt gegen die individuellen Interessen indifferent, während der moralisch bestimmte Wille über die Bedingungen seiner Realisierung auf dieser Stufe nicht verfügt. Darin tritt die Notwendigkeit zu Tage, Recht und Moral, bzw. den vernünftigen Willen an seinem objektiven Korrelat, dem „wirkliche[n] Geist einer Familie und eines Volkes“123 zu entwickeln. Damit gelingt es Hegel mit den Begriffen des abstrakten Rechts und der Moralität, die Notwendigkeit der Begründung des immanenten Zusammenhangs zwischen der moralischen Willensbestimmung und den wirklichen Verhältnissen aufzuzeigen und damit die Aufgabe zu formulieren, die Unüberbrückbarkeit beider Bereiche, die bei Kant dominierte, als Sittlichkeit doch zu überwinden. D. h. daß das Subjekt nicht absolut ist, sondern seine Selbstbestimmung auch von den objektiven Bedingungen abhängt, in denen es Subjekt sein will.124 Die Sittlichkeit ist also die Idee der Freiheit, die zugleich über diesen reinen Begriff der Vermittlung hinaus die begriffliche Substanz der historisch bereits gestalteten Wirklichkeit erweisen soll. „Die Sittlichkeit ist die Idee der Freiheit, als das lebendige Gute, das in dem Selbstbewußtsein sein Wissen, Wollen und durch dessen Handeln seine Wirklichkeit, so wie dieses an dem sittlichen Sein seine an und für sich seiende Grundlage und bewegenden Zweck hat, – der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit.“125

Am Anfang der Sittlichkeit steht das Selbstbewußtsein, welches die entwickelte Idee der Freiheit weiß und realisieren will. Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat sind die konkreten Gestalten der gesamtgesellschaftlichen Vermittlung des freien Willens mit seinen natürlichen, ökonomischen und intellektuellen Zwecken. Das sittliche Selbstbewußtsein ist die Einheit des Willens und des Daseins im Subjekt. Es ist der Idee als Funktion unterstellt: „Die Subjektivität ist selbst die absolute Form und die existierende Wirklichkeit der Substanz, und der Unterschied des Subjekts von ihr als seinem Gegenstand, Zwecke und Macht ist nur der zugleich ebenso unmittelbar verschwundene Unterschied der Form.“126

Im sittlichen Selbstbewußtsein ist nicht mehr zwischen Wille und Willkür, das Subjekt nicht mehr von der Idee zu unterscheiden, weil beide miteinander vermittelt sind. Der 122 123 124 125 126

Hegel. Enzyklopädie, § 512. Hegel. Grundlinien, § 156. Vgl. ebd., § 141. Ebd., § 142. Ebd., § 152.

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Wille will die Sittlichkeit, weil er seine Realisierung will. Gegenstand seines Wollens ist damit eine Wirklichkeit, in der die selbstbewußten Individuen in den Verhältnissen eine Entsprechung zu ihrem Selbstgefühl finden. Das Verhältnis des gut sein sollenden Willens und des wirklich sein sollenden Guten hat in der Sittlichkeit die Gestalt der Symmetrie von Rechten des freien Selbstbewußtseins an die Wirklichkeit, so wie es umgekehrt auch Pflichten hat, diese Wirklichkeit zu achten und zu erfüllen. „In dieser Identität des allgemeinen und besonderen Willens fällt somit Pflicht und Recht in Eins, und der Mensch hat durch das Sittliche insofern Rechte, als er Pflichten, und Pflichten, insofern er Rechte hat. Im abstrakten Rechte habe Ich das Recht und ein anderer die Pflicht gegen dasselbe, – im Moralischen soll nur das Recht meines eigenen Wissens und Wollens sowie meines Wohls mit den Pflichten geeint und objektiv sein.“127

Mit der Sittlichkeit ist also eine Einschränkung verbunden, sofern sie auf die Willkür der Subjekte bezogen ist. Aber diese Beschränkung stelle nach Hegel keine Grenze ihrer Freiheit dar, weil sie dem Erhalt der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates diene und damit der dem vernünftigen Willen adäquaten Ordnung. In dem Wechselverhältnis von Rechten und Pflichten streift das Individuum seine Beschränkung als Individuum ab und realisiert kooperativ mit allen anderen Individuen deren Gattungsvermögen. Insofern ist die Sittlichkeit etwas qualitativ anderes als nur die Summe vieler Individuen: „Der Begriff dieser Idee ist nur als Geist, als sich Wissendes und Wirkliches, indem er die Objektivierung seiner selbst, die Bewegung durch die Form seiner Momente ist.“128 Indem der Begriff der Sittlichkeit ein die Subjektivität der Individuen transzendierender und zugleich objektivierender Begriff ist, in den diese eng eingespannt sind, wird Individualität zur Privatangelegenheit. Die Sphäre der Individualität ist daher die Familie. Die Familie ist die Keimzelle des Sittlichen, denn sie stellt den Bereich dar, in dem die Individuen als Individuen versorgt und reproduziert werden, aber auch eine ihre Individualität transzendierende Erfahrung der Gemeinschaftlichkeit machen. Sie erfahren in der Familie, daß ihre Individualität zufällig ist gegen die Substanz der familiären Gemeinschaft. Individualität wird deshalb von Hegel auf eine Weise entwickelt, die die Subjekte befähigt, Mitglieder der aufgeklärten Gesellschaft zu werden, d. h. sich ihrem (Gattungs-)Vermögen gemäß zu verhalten. Sittlichkeit und die mit ihr verbundene gesellschaftliche Organisation ist bei Hegel Selbstzweck. Sie kann zwar nicht auf die Individuen, die sittlich agieren, verzichten, behandelt sie aber auch nicht als eigenständige Wesen, sondern als Mittel, um die gesamtgesellschaftliche Reproduktion begründen zu können. Das führt zu Konflikten im Begriff individueller Selbstbestimmung. Bevor die Subjekte die Gesellschaft als Bürger mit Rechten, Pflichten und Vermögen betreten, müssen sie sich als Individuen reproduzieren, d. h. die Familie hat gesamtgesellschaftlich betrachtet die Funktion, die Individuen mit Liebe, Erziehung und den notwendigen Lebensmitteln zu versorgen. Die Individuen sind dabei innerhalb der Familie unmündig, weil sie ihr Gattungsvermögen nur kooperativ und arbeitsteilig realisieren können, während ihre Individualität nur notwendige Bedingung der Realisierung des 127 128

Hegel. Grundlinien, § 155. Ebd., § 157.

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Gesellschaftliche Selbstbestimmung und Arbeit in den Grundlinien

Gattungsvermögens ist, aber nicht gleichwertig zu diesem. Beides, Arbeitsteilung wie Kooperation, sind Methoden, die räumliche und zeitliche Begrenztheit der individuellen Existenz zu überwinden. Innerhalb der Familie gelten die einzelnen Familienmitglieder deshalb nicht als selbständige Rechtspersonen, sondern nur die Familie als Ganze bildet eine Rechtsperson.129 Die Ehe in den Grundlinien ist kein bürgerliches Vertragsverhältnis, sondern eine individuell vermittelte, sittliche Beziehung zwischen Mann und Frau. „Damit [mit der Eheschließung, M. B.] ist das sinnliche, der natürlichen Lebendigkeit angehörige Moment in sein sittliches Verhältnis als eine Folge und Akzidentalität gesetzt, welche dem äußerlichen Dasein der sittlichen Verbindung angehört, die auch in der gegenseitigen Liebe und Beihilfe allein erschöpft sein kann.“130

Der in der Familie stattfindende Prozeß individueller Entwicklung ist damit eine Gestalt vorgesellschaftlicher Sittlichkeit.131 Der Versuch, die Entwicklung der Individualität dem Zweck sittlicher und gesamtgesellschaftlicher Reproduktion vollständig zu subsumieren, steht schief zum Wesen von Individualität, in gesellschaftlichen Zusammenhängen nicht unmittelbar aufzugehen. Der Versuch Hegels, die Differenz zwischen Individuum und Gesellschaft zu vermitteln, führt deshalb auf Restriktionen der Individualität. Ein Beispiel dafür ist das Geschlechterverhältnis.132 Die Ehe ist die Basis der familiären Beziehungen, welcher die „natürliche Bestimmtheit der beiden Geschlechter“ zugrunde liegt, aus der Hegel wiederum die sittliche und damit systematische Differenz zwischen den Geschlechtern begründet. 129 130 131

132

Vgl. Hegel. Grundlinien, § 159. Ebd., § 164. Axel Honneth interpretiert – wenngleich in Beziehung auf die Jenaer Realphilosophie – die Funktion der Liebe anerkennungstheoretisch: „Zwar reift in der Liebesbeziehung ein erstes Verhältnis der wechselseitigen Anerkennung heran, das für jede weitere Identitätsentwicklung eine notwendig Voraussetzung bildet, weil es das Individuum in seiner besonderen Triebnatur bestätigt und ihm damit zu einem unverzichtbaren Maß an Selbstvertrauen verhilft; aber in einem derartig eng begrenzten Interaktionsrahmen wie dem der Familie ist andererseits nichts dazu angetan, das Subjekt über die Funktion zu belehren, die intersubjektiv verbürgte Rechte im sozialen Lebenszusammenhang einer Gesellschaft zu übernehmen haben. Das Anerkennungsverhältnis der Liebe erweist sich unter dem Gesichtspunkt, der in der Frage nach den Konstitutionsbedingungen einer Rechtsperson angelegt ist, selber noch als ein unvollständiger Erfahrungsbereich; denn in der liebenden Beziehung zu den Familienmitgliedern wird der subjektive Geist prinzipiell nicht durch Konflikte von der Art aufgestört, die ihn dazu nötigen könnten, sich auf sozial übergreifende, allgemeine Normen der Reglung des sozialen Verkehrs zu besinnen; ohne eine Bewußtsein für solche universalisierten Interaktionsnormen aber wird er sich selbst auch nicht als eine mit intersubjektiv gültigen Rechten ausgestattete Person zu begreifen lernen.“ Axel Honneth. Kampf um Anerkennung, 68. Es ist fraglich, ob Hegel mit dem Topos der Anerkennung durch Liebe tatsächlich psychologisch zu interpretieren ist. Hegels Programm besteht nicht nur in der intersubjektiven Vermittlung von Subjekten, sondern in der Realisierung des Begriffs, dessen Träger die Subjekte sind. Beispiele dafür, wie Hegel die Eigenständigkeit der Individualität restringiert, gibt es mehrere, so z. B. auch die Aufopferung der Staatsbürger im Krieg, die Aufopferung des Knechtes für den Herren usw. Lu de Vos versteht den Familienbegriff Hegels, in dem Individualität restringiert wird, als Chance, „die Bourgeois-Moralität“ zu hinterfragen, „für die nur das Individuum das einzige soziale Ding ist und die einzige soziale Entität bleibt.“ Lu de Vos. „Institution Familie. Die Ermöglichung einer nicht-individualistischen Freiheit.“ Hrsg. v. Walter Jaeschke und Ludwig Siep. HegelStudien 41 (2006), 91.

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„Die natürliche Bestimmtheit der beiden Geschlechter erhält durch ihre Vernünftigkeit intellektuelle und sittliche Bedeutung. Diese Bedeutung ist durch den Unterschied bestimmt, in welchen sich die sittliche Substantialität als Begriff an sich selbst dirimiert, um aus ihm ihre Lebendigkeit als konkrete Einheit zu gewinnen.“133

Innerhalb der Ehe sind beide Ehepartner gleichberechtigt; die Frau willigt ebenso wie der Mann in die Ehe ein; die Hoheit über Eigentum und Erziehung der Kinder haben ebenso beide. Aber die Frau hat in der Konstruktion Hegels nicht die Möglichkeit, an den öffentlichen Bereichen der Gesellschaft teilzuhaben, insbesondere wenn sie Intellektualität voraussetzen: „Der Unterschied der natürlichen Geschlechter erscheint ebenso zugleich als ein Unterschied der intellectuellen und sittlichen Bestimmung.“134 Bestimmung der Frauen sei es, innerhalb der Familie die sittliche Empfindung zu vermitteln und dadurch die familiäre Gemeinschaft zusammenzuhalten. Kunst, Wissenschaft, Ökonomie und Politik seien dagegen Bereiche, die für Frauen aufgrund ihrer „natürlichen Fähigkeiten“ unzugänglich bleiben müßten. „Das eine ist daher das Geistige, als das sich Entzweiende in die für sich seiende persönliche Selbständigkeit und in das Wissen und Wollen der freien Allgemeinheit, [in] das Selbstbewußtsein des begreifenden Gedankens und [in das] Wollen des objektiven Endzwecks, – das andere das in der Einigkeit sich erhaltende Geistige als Wissen und Wollen des Substantiellen in Form der konkreten Einzelheit und der Empfindung. – Jenes im Verhältnis nach außen das Mächtige und Betätigende, dieses das Passive und Subjektive. Der Mann hat daher sein wirkliches substantielles Leben im Staate, der Wissenschaft und dergleichen, und sonst im Kampfe und der Arbeit mit der Außenwelt und mit sich selbst, so daß er nur aus seiner Entzweiung die selbständige Einigkeit mit sich erkämpft, deren ruhige Anschauung und die empfindende subjektive Sittlichkeit er in der Familie hat, in welcher die Frau ihre substantielle Bestimmung und in dieser Pietät ihre sittliche Gesinnung hat.“135

Das Heraustreten der Familienmitglieder in die bürgerliche Gesellschaft bezieht sich demnach auf die männlichen Mitglieder, also einerseits den Vater und Ehemann, der für die Verwaltung des Eigentums und den Erwerb zuständig ist, und die Söhne andererseits, die wie ihre Väter wiederum Familien gründen, Berufe erlernen und ausüben und sich öffentlich engagieren. Die Töchter verlassen zwar auch ihre Eltern, aber nur um zu heiraten und in eine neue Familie einzugehen. Die Geschlechterdifferenz erhalte also dadurch eine systematische Funktion, daß der Begriff sittlicher Substantialität sich von sich selbst unterscheide und vermittle.136 Den Begriff sittlicher Substantialität hatte Hegel in der Idee des Lebens als Begriff der Wis133 134 135 136

Hegel. Grundlinien, § 165. Hegel. Enzyklopädie, § 519. Hegel. Grundlinien, § 166 f. Vgl. auch Eva Bockenheimer: „Nach Hegel ist diese geschlechtsspezifische Arbeitsteilung notwendig, denn sie ist Ausdruck davon, dass die sittliche Substanz als Begriff an der natürlichen Bestimmtheit der Geschlechter einen substantiellen, sittlich-geistigen Unterschied darstellt: Der Geist differenziert sich in die unmittelbare Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit einerseits – die von der Frau repräsentiert wird –, und in die in sich entzweite Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit andererseits, die der Mann darstellt (vgl. § 166).“ Eva Bockenheimer. „Das Geschlechterverhältnis in Hegels Rechtsphilosophie.“ In Hegel-Jahrbuch 2008 – Hegels politische Philosophie, hrsg. v. Andreas Arndt u. a. Erster Teil. Berlin, 2008, 315.

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Gesellschaftliche Selbstbestimmung und Arbeit in den Grundlinien

senschaft der Logik abgehandelt. Dort war der entwickelte Begriff des Begriffs ohne den Begriff des Geschlechts ausgekommen. In der Idee des Lebens nimmt die Diremtion des Begriffs des Lebens die Gestalt der Negation der Negation an.137 Dieser Prozeß bedarf lediglich der Seele als Prinzip des Lebens und dessen Negation des Individuums, das schließlich stirbt und damit den Übergang in den Begriff der Gattung ermöglicht. Was also vom Standpunkt des wissenschaftlichen Begriffs offensichtlich gleichgültig ist, wird auf dem Standpunkt gesellschaftlicher Wirklichkeit zur Funktion – und zwar nicht nur zur biologischen, sondern zur sittlichen Funktion, welche die Individuen bezogen auf ihre Mündigkeit hierarchisch unterscheidet: Die Erziehung der Kinder zu Bürgern ist Zweck der Familie, den die Frauen unmittelbar, die Männer hingegen öffentlich vermittelt erfüllen. Aber auch nach den Maßstäben der objektivierten Sittlichkeit fügt sich die Hierarchisierung der Geschlechter nicht in den Begriff des vernünftigen Willens ein: Entweder sind Frauen vernunftbegabte Sinnenwesen, dann kann ihnen die intellektuelle und öffentliche Betätigung nicht vorenthalten werden, oder sie sind nur Sinnenwesen, dann blieben sie auf ihre erste Natur beschränkt und wären damit nicht empfänglich oder fähig, die sittlichen und sozialen Fähigkeiten zu entwickeln und an andere weiterzugeben, die sie nach Hegel weitergeben sollen. Die unmittelbare Sittlichkeit setzt bereits die Potenz zur reflektierten Sittlichkeit voraus. Oder in der Terminologie der Grundlinien: Damit die Frauen sich frei für die Ehe entscheiden können, müssen sie als Rechtspersonen anerkannt sein, andererseits wird ihnen dann aber die Fähigkeit abgesprochen, innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft als Rechtspersonen zu agieren. Damit ist die von Hegel angeführte Geschlechterdifferenz in ihrer systematischen Funktion zu kritisieren. Die Geschlechterdifferenz ist zwar ein biologisches Faktum, aber kein moralisches, denn als logischer Begriff hat die Geschlechterdifferenz gar keine Funktion, während sie in der Familie zum Maßstab der Grundlinien in Widerspruch gerät. Sie ist vielmehr als das Zitat einer historisch realen, hierarchischen Struktur zu begreifen. Frauen von der Entwicklung ihrer intellektuellen Fähigkeiten abzuhalten, widerspricht dem Begriff des selbstbestimmten Willens, denn dieser ist der zu realisierende Zweck gesellschaftlicher Organisation, wogegen die Geschlechterdifferenz zufällig bleibt. Die Nötigung, die Geschlechterdifferenz in den Begriff gesellschaftlicher Organisation zu integrieren, entspringt aus dem Zweck, den Hegel der Gesellschaft in den Grundlinien zuschreibt. Wird der Gattungsprozeß auf einen Zweck hingeordnet, der nicht die Existenz einer Gesellschaft von Individuen meint, sondern die Existenz eines die Individuen transzendierenden Gesamtzusammenhangs, dann ist die Entwicklung des Individuums kein notwendiges Moment von Freiheit. Individualität wird vielmehr teleologisch reglementiert. In einem solchen Zusammenhang werden dann auch Frauen zur bloßen Funktion, die ihre Entwicklung als intellektuelle und politische Individuen nicht beinhaltet. 137

Vgl. S. 107 ff. dieser Arbeit.

Moralisches Subjekt, sittliches Selbstbewußtsein, aufgeklärtes Individuum

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Umgekehrt: Verstünde sich Gesellschaft nicht als den Individuen transzendenter Selbstzweck, sondern als Organisationsform eines Lebenszusammenhanges, in dem Selbstbestimmung auch die Entwicklung von Individualität meint, dann wäre Selbstbestimmung nicht nur gesellschaftlich, sondern auch individuell bestimmt und es obliege der Gesellschaft, die Vereinbarkeit von Naturnotwendigkeiten und Freiheit unabhängig vom Geschlecht organisatorisch zu ermöglichen.138 Darüber hinaus setzte Selbstbestimmung nicht nur die Reflexion des Begriffs und der organisatorischen Bedingungen voraus, sondern auch die Reflexion auf die geschichtlich überlieferten und individuell wie gesamtgesellschaftlich wirkmächtigen, autoritären Strukturen. Die Notwendigkeit der Entwicklung freier Individualität faßt Hegel im Begriff der Bildung zusammen: „Die Bildung ist daher in ihrer absoluten Bestimmung die Befreiung und die Arbeit der höheren Befreiung, nämlich der absolute Durchgangspunkt zu der nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern geistigen, ebenso zur Gestalt der Allgemeinheit erhobenen unendlich subjektiven Substantialität der Sittlichkeit. Diese Befreiung ist im Subjekt die harte Arbeit gegen die bloße Subjektivität des Benehmens, gegen die Unmittelbarkeit der Begierde sowie gegen die subjektive Eitelkeit der Empfindung und die Willkür des Beliebens. Daß sie diese harte Arbeit ist, macht einen Teil der Ungunst aus, der auf sie fällt. Durch diese Arbeit der Bildung ist es aber, daß der subjektive Wille selbst in sich die Objektivität gewinnt, in der er seinerseits allein würdig und fähig ist, die Wirklichkeit der Idee zu sein.“139

Die eigene Beschädigung zu überwinden liegt zu einem Teil auch im Entschluß und im Bildungsprozeß jedes einzelnen Subjekts – gleich, in welcher gesellschaftlichen Rolle es agiert, ob es autoritär oder unterworfen ist. Darin klingt ein Freiheitsbegriff an, der nicht nur für die Entfaltung des Begriffs, sondern für die biografische Entfaltung einer Individualität plädiert, die zugleich eigenständig und aufgeklärt ist. Eine solche Freiheit weist über den philosophischen Begriff von Freiheit hinaus: Die psychologischen, gesellschaftspolitischen wie geschichtlichen Gründe autoritärer Strukturen sind zu reflektieren, wenn Subjekte nicht nur formelle Eigenständigkeit besitzen sollen. Umgekehrt hat aber die Entwicklung von Individualität am Begriff von Selbstbestimmung ebenso ihr Maß. Dieses Verhältnis zu entwickeln ist die Arbeit jedes einzelnen Subjekts.

138

139

Eva Bockenheimer weist darauf hin, daß die Konstruktion Hegels, in der das Prinzip der unmittelbaren Sittlichkeit in der Familie dem Prinzip der Konkurrenz in der bürgerlichen Familie widerspricht, Ausweis der historischen Unmöglichkeit ist, sexuelle Individualität mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in Übereinstimmung zu bringen. „Die Lösung scheint zu sein, dass jedes Individuum in beiden Bereichen aktiv ist – in Familie und bürgerlicher Gesellschaft. Wenn Hegel jedoch Recht hat, dass es sich um Sphären handelt, die von sich widersprechenden Prinzipien bestimmt sind, dann erklärt dies auch, warum es innerhalb der momentanen gesellschaftlichen Verhältnisse kaum jemandem gelingt, beides auf befriedigende Weise miteinander zu vereinbaren. Das Wegbrechen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung wirft also ein Problem auf, das die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse in Frage stellt. Aufgaben, die die Familie bisher übernommen hat, müssen nun von der Gesellschaft übernommen werden. Dies steht jedoch im Widerspruch dazu, dass die Reproduktion in der bürgerlichen Rechtsordnung in den Bereich des Privaten verbannt ist – es sich also scheinbar um ein Problem handelt, das jede/r für sich zu lösen hat.“ Eva Bockenheimer. „Das Geschlechterverhältnis in Hegels Rechtsphilosophie.” 317. Hegel. Grundlinien, § 187 Anmerkung.

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Gesellschaftliche Selbstbestimmung und Arbeit in den Grundlinien

4.4 Bedürfnis, Arbeit und gesellschaftliche Anerkennung Die Familie erfüllt nicht nur die Funktion der Entwicklung des Individuums zum Familienmitglied, sondern stellt auch einen ökonomischen Zusammenhang dar. Die Familie verfügt über Vermögen, dessen Eigentümer nicht die einzelnen Mitglieder sind, sondern die familiäre Gemeinschaft als Ganze. Innerhalb der Familie wird Vermögen angeeignet, bewahrt und tradiert. Das Vermögen dient als bleibender, sicherer Besitz zur Versorgung und Vorsorge der Familie. Das Eigentum der Familie wird dadurch einerseits von Generation zu Generation bewahrt und vererbt, andererseits ist es an die Ehe gebunden, so daß mit einer neuen Ehe auch ein neues Vermögen begründet wird. Die Bewahrung des Vermögens setzt voraus, daß die verbrauchten Anteile reproduziert werden und daß es vermehrt wird, damit es zu gleichen Anteilen auf mehrere Kinder der nächsten Generation verteilt werden kann. Andernfalls würde das Vermögen von Generation zu Generation kleiner und die Versorgung der jeweiligen Familien wäre nicht mehr möglich. Der Bürger betritt also die bürgerliche Gesellschaft einerseits als sittliches Individuum, das das Recht hat, sein Auskommen und das Auskommen seiner Familie im System der Bedürfnisse zu finden, und der ebenso die Pflicht hat, seinen ökonomischen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Aber diesem symmetrischen Verhältnis von Rechten und Pflichten entspricht materiell die Notwendigkeit, innerhalb des Systems der Bedürfnisse mehr anzueignen, als an die Gesellschaft abgegeben wird und zwar in dem Maße, in dem neue Familien aus den alten entstehen. Dieses Problem kann nur ökonomisch gelöst werden: „Worin übrigens jenes Vermögen bestehe und welches die wahrhafte Weise seiner Befestigung sei, ergibt sich in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft.“140 Die Person, die die Familie in der bürgerlichen Gesellschaft vertritt, tritt aus der Sphäre unmittelbarer Sittlichkeit in die Sphäre der Vereinzelung: „Die Familie tritt auf natürliche Weise und wesentlich durch das Prinzip der Persönlichkeit in eine Vielheit von Familien auseinander, welche sich überhaupt als selbständige konkrete Personen und daher äußerlich zueinander verhalten.“141 Das Prinzip der unmittelbaren Sittlichkeit der Familie, der Entwicklung der Individuen zu gesellschaftlichen Wesen, geht in der bürgerlichen Gesellschaft zunächst verloren, weil dort nicht die Erfüllung einer uneigennützigen Allgemeinheit Zweck ist, sondern die Befriedigung der je einzelnen Bedürfnisse. Zweck des Familienoberhauptes und bourgeois ist deshalb die Befriedigung der subjektiven Bedürfnisse. Die Mittel, durch die die Bedürfnisse befriedigt werden können, gehören aber nicht zu seinem Eigentum, sondern sie sind das Eigentum anderer Personen, ebensowenig verfügen alle anderen Eigentümer über die Mittel ihrer Reproduktion. „Alle Waren sind Nicht-Gebrauchswerte für ihre Besitzer, Gebrauchswerte für ihre Nicht-Besitzer.“142 Die Vermittlung zwischen Bedürfnis und Eigentum wird durch Arbeit und Handel geleistet und gelingt nicht autark, sondern nur über den Kontakt mit anderen 140 141 142

Hegel. Grundlinien, § 170 Anmerkung. Ebd., § 181. Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 100.

Bedürfnis, Arbeit und gesellschaftliche Anerkennung

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Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft, so daß in der Abstimmung der praktischen Interessen eine Allgemeinheit entsteht, das System der Bedürfnisse. „Der selbstsüchtige Zweck in seiner Verwirklichung, so durch die Allgemeinheit bedingt, begründet ein System allseitiger Abhängigkeit, daß die Subsistenz und das Wohl des Einzelnen und sein rechtliches Dasein in die Subsistenz, das Wohl und Recht aller verflochten, darauf gegründet und nur in diesem Zusammenhange wirklich und gesichert ist. – Man kann dies System zunächst als den äußeren Staat, – Not- und Verstandesstaat ansehen.“143

Weil die Realisierung der Interessen der Einzelnen von der Allgemeinheit abhängt, reproduziert sich in deren selbstsüchtigem Tun zugleich das ökonomische System als Ganzes. Deshalb begreift Hegel diese Abhängigkeit aller von allen als „das Versöhnende innerhalb dieser Sphäre“144. Das Gelingen der Vermittlung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat hängt davon ab, daß sich die sittliche Affinität des Systems der Bedürfnisse zum Begriff der Sittlichkeit aus dem Begriff der bürgerlichen Gesellschaft rekonstruieren läßt. Das kann gelingen, wenn der ökonomische Zweck dem Zweck des Staates nicht widerspricht. Der Staat ist der Inbegriff der realisierten Sittlichkeit: „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee – der sittliche Geist, als der offenbare, sich selbst deutliche, substantielle Wille, der sich denkt und weiß und das, was er weiß und insofern er es weiß, vollführt. An der Sitte hat er seine unmittelbare und an dem Selbstbewußtsein des Einzelnen, dem Wissen und Tätigkeit desselben, seine vermittelte Existenz, so wie dieses durch die Gesinnung in ihm, als seinem Wesen, Zweck und Produkte seiner Tätigkeit, seine substantielle Freiheit hat.“145

Die Individuen haben das Recht, sich über das System der Bedürfnisse mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen, so daß die adäquate Organisation der Reproduktion auf gesamtgesellschaftlichem Maßstab ein notwendiges Moment der sittlichen Gesellschaft ist. Vom Standpunkt des Begriffs kann der Zweck des ökonomischen Systems nur in der Befriedigung der Bedürfnisse liegen, weil dieser Zweck dem Staatszweck nicht widerspricht. Trotzdem zeigt sich zwischen den Extremen des Rechts auf Reproduktion, das der Einzelne an das System der Bedürfnisse hat, und dessen Abhängigkeit von gesamtgesellschaftlichen Bedingungen eine Dynamik, die zur Funktion des Systems der Bedürfnisse, die Menschen zu versorgen und die allgemeingültigen und vernünftigen Züge der Ökonomie aufzuzeigen, im Gegensatz steht: „Die Besonderheit für sich, einerseits als sich nach allen Seiten auslassende Befriedigung ihrer Bedürfnisse, zufälliger Willkür und subjektiven Beliebens, zerstört in ihren Genüssen sich selbst und ihren substantiellen Begriff; andererseits als unendlich erregt und in durchgängiger Abhängigkeit von äußerer Zufälligkeit und Willkür sowie von der Macht der Allgemeinheit beschränkt, ist die Befriedigung des notwendigen wie des zufälligen Bedürfnisses zufällig. Die bürgerliche Gesellschaft bietet in diesen Gegensätzen und ihrer Verwicklung das Schauspiel 143 144 145

Hegel. Grundlinien, § 183. Ebd., § 189. Ebd., § 257.

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Gesellschaftliche Selbstbestimmung und Arbeit in den Grundlinien ebenso der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens dar.“146

So sehr also einerseits die Nötigung zur Anpassung des subjektiven Interesses an die objektiven Bedingungen des Systems der Bedürfnisse einen Ausgleich der Interessen mit sich bringen soll, so wenig ist andererseits das Auskommen der Einzelnen garantiert, weil sie über die Bedingungen des Systems nicht verfügen. Es steht ihnen vielmehr als fertiger und ihnen fremder Zusammenhang gegenüber.147 Hegel beschreibt damit bereits zu Beginn dieses Abschnitts den konstitutiven Widerspruch zwischen Interesse und Allgemeinheit, der für die bürgerliche Gesellschaft charakteristisch ist. Auch ohne einen entwickelten Kapitalbegriff zu haben, dokumentiert er, was er nicht hinreichend begründen kann: Die in der bürgerlichen Gesellschaft herrschende Allgemeinheit ist der sittlichen wesensfremd. Das drückt sich auch darin aus, daß die Erforschung der die Allgemeinheit herstellenden Mechanismen des äußeren

Staates nicht Gegenstand der Rechtsphilosophie ist, sondern der klassischen politischen Ökonomie: „Die Staatsökonomie ist die Wissenschaft, die von diesen Gesichtspunkten ihren Ausgang hat, dann aber das Verhältnis und die Bewegung der Massen in ihrer qualitativen und quantitativen Bestimmtheit und Verwicklung darzulegen hat. – Es ist dies eine der Wissenschaften, die in neuerer Zeit als ihrem Boden entstanden ist. Ihre Entwicklung zeigt das Interessante, wie der Gedanke ([…] Smith, Say, Ricardo) aus der unendlichen Menge von Einzelheiten, die zunächst vor ihm liegen, die einfachen Prinzipien der Sache, den in ihr wirksamen und sie regierenden Verstand herausfindet.“148

Dennoch hält Hegel daran fest, die bürgerliche Gesellschaft systematisch in den Staat zu integrieren: „Es ist das System der in ihre Extreme verlorenen Sittlichkeit, was das abstrakte Moment der Realität der Idee ausmacht, welche hier nur als die relative Totalität und innere Notwendigkeit an dieser äußeren Erscheinung ist.“149 Der Gegensatz zwischen Ausschweifung und Verelendung bleibt auf diese Weise in der Rechtsphilosophie Hegels der Gegensatz innerhalb einer begrifflichen Bewegung, die schließlich im Staat aufzuheben ist.

a) Die Art des Bedürfnisses Der Zweck des Systems der Bedürfnisse ist die Reproduktion der Menschen. Deshalb ist der Begriff des Bedürfnisses derjenige, aus dem die weiteren ökonomischen Bestimmungen abgeleitet werden sollen. Die Bedürfnisse der Menschen unterscheiden sich von denen der Tiere darin, daß sie ein kulturelles (oder wie Marx es später nennen wird: ein moralisches) Moment an sich haben, d. h. daß die Bedürfnisse sich vervielfältigen und differenzieren und mit ihnen 146 147 148 149

Hegel. Grundlinien, § 185. Vgl. ebd., § 184 Anmerkung. Ebd., § 189 Anmerkung. Ebd., § 184.

Bedürfnis, Arbeit und gesellschaftliche Anerkennung

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die Mittel zu ihrer Befriedigung. Die treibende Kraft für diese Erweiterung von Bedürfnis und Mittel liegt im Wesen der Menschen, die noch ihre Naturhaftigkeit zu transzendieren bestrebt sind. In diesem Streben liegt zugleich die Verallgemeinerung der Bedürfnisse zu einem System, denn mit der Vervielfältigung und Spezialisierung geht einher, daß die Bedürfnisse und Mittel für andere zum Bedürfnis werden. Durch das Bestreben, andere in ihren Bedürfnissen nachzuahmen oder sich umgekehrt von ihnen abzugrenzen, gleichen sich die Bedürfnisse und die Weisen ihrer Befriedigung einander an und die Dynamik der Spezialisierung der Bedürfnisse wird noch verstärkt. „Die Abstraktion, die eine Qualität der Bedürfnisse und der Mittel wird […], wird auch eine Bestimmung der gegenseitigen Beziehung der Individuen aufeinander; diese Allgemeinheit als Anerkanntsein ist das Moment, welches sie in ihrer Vereinzelung und Abstraktion zu konkreten, als gesellschaftlichen, Bedürfnissen, Mitteln und Weisen der Befriedigung macht.“150

Die Dynamik der Vervielfältigung des Systems der Bedürfnisse beruht so auf dem konkurrierenden Eifer der Menschen, wobei dieser Eifer mehr anthropologisch als etwa gesellschaftlich begründet wird. Nur im Zusatz zu § 191 wird das Gewinnstreben als Grund benannt.151 Hegel muß an dieser Stelle den Eifer zur Begründung der Vervielfältigung der Bedürfnisse heranziehen, weil er aus dem Begriff des Bedürfnisses die Vielheit der Produkte und in der Folge dann die gesellschaftliche Teilung der Arbeit erklären will. Der Grund dieser Ausdifferenzierung kann also nicht in erster Linie gesellschaftlich sein, weil die Gesellschaft umgekehrt aus der Beschaffenheit des Bedürfnisses begründet werden soll. In der Verfeinerung der Bedürfnisse liegt einerseits ein Moment der Befreiung gegenüber der unmittelbaren Bedürftigkeit, indem diese überhaupt gestaltet wird. Andererseits bleibt die darin liegende Befreiung auf die Befriedigung der subjektiven Bedürfnisse bezogen. Die „Befreiung ist formell“ Außerdem liege im System der Bedürfnisse die Maßlosigkeit des Luxus und der Verelendung, denn das Bedürfnis hat zwar das Maß in seiner Befriedigung, aber ein Maß für die Vervielfältigung und Spezifizierung der Bedürfnisse gibt es nicht.152 150 151

152

Hegel. Grundlinien, § 192. „Das, was die Engländer comfortable nennen, ist etwas durchaus Unerschöpfliches und ins Unendliche Fortgehendes, denn jede Bequemlichkeit zeigt wieder ihre Unbequemlichkeit, und diese Erfindungen nehmen kein Ende. Es wird ein Bedürfnis daher nicht sowohl von denen, welche es auf unmittelbare Weise haben, als vielmehr durch solche hervorgebracht, welche durch sein Entstehen einen Gewinn suchen.“ Ebd., § 191 Zusatz. Hegel. Grundlinien, § 195. Deutlicher noch formuliert es Hegel im § 524 der Enzyklopädie: „Die Besonderheit der Personen begreift zunächst ihre Bedürfnisse in sich. Die Möglichkeit der Befriedigung derselben ist hier in den gesellschaftlichen Zusammenhang gelegt, welcher das allgemeine V e r mö g e n ist, aus dem alle ihre Befriedigung erlangen. Die u n mi t t e l b a r e Besitzergreifung […] von äußern Gegenständen als Mitteln hiezu findet in dem Zustande, worin dieser Standpunkt der Vermittlung realisirt ist, nicht mehr oder kaum statt; die Gegenstände sind Eigenthum. Deren Erwerb ist durch den Willen der Besitzer, der als besonderer die Befriedigung der mannichfaltig bestimmten Bedürfnisse zum Zwecke hat, einerseits bedingt und vermittelt, so wie andererseits durch die immer sich erneuernde Hervorbringung austauschbarer Mittel durch e i g e n e A r b e i t ; diese Vermittelung der Befriedigung durch die Arbeit Aller macht das allgemeine Vermögen aus.“ Hegel. Enzyklopädie III, § 524.

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Gesellschaftliche Selbstbestimmung und Arbeit in den Grundlinien

Die Bedürfnisse blieben gegenstandslos, wenn es nicht Mittel zu deren Befriedigung gäbe. Da die Natur den sich ständig verändernden Bedürfnissen nicht von sich aus entspricht, bedarf es der zweckmäßigen Vermittlung von Natur und Bedürfnis durch Arbeit. Durch Arbeit werden Werkzeuge und Mittel zur Befriedigung der partikularen Bedürfnisse hergestellt: „Die Vermittlung, den partikularisierten Bedürfnissen angemessene, ebenso partikularisierte Mittel zu bereiten und zu erwerben, ist die Arbeit, welche das von der Natur unmittelbar gelieferte Material für diese vielfachen Zwecke durch die mannigfaltigsten Prozesse spezifiziert. Diese Formierung gibt nun dem Mittel den Wert und seine Zweckmäßigkeit, so daß der Mensch in seiner Konsumtion sich vornehmlich zu menschlichen Produktionen verhält und solche Bemühungen es sind, die er verbraucht.“153

Im Arbeitsprozeß bilden sich die Individuen durch die Auseinandersetzung mit der Natur praktisch und theoretisch. Praktische Bildung erfahren sie durch die Einübung von Fertigkeiten, die mit einer gewissen Disziplinierung einhergeht, weil einerseits das zu bearbeitende Material die Art der Arbeit vorgibt, andererseits in Abhängigkeit von Anderen gearbeitet wird. Hier, auf dem Standpunkt aufgeklärter Verhältnisse, handelt es sich Hegel zufolge bei dieser Abhängigkeit nicht um persönliche oder unpersönliche Herrschaftsverhältnisse, sondern um Unterschiede, die aus der arbeitsteilig organisierten Produktion entspringen und technischen Charakter haben. Wenn also ein Ingenieur seinen Facharbeitern Arbeitsanweisungen gibt, dann ist das Ausdruck einer sachlichen, keiner ökonomischen Autorität. Zwar bezeichnet Hegel die aus dem Arbeitsprozeß resultierende praktische Bildung als Zucht, aber dieser Ausdruck ist hier in einem konstruktiven Sinne gemeint. Die theoretische Bildung liegt darin, daß durch die und mit der Arbeit neue Vorstellungen entwickelt werden, mehr noch, daß das Vorstellungsvermögen selbst entwickelt wird: „eine Beweglichkeit und Schnelligkeit des Vorstellens und des Übergehens von einer Vorstellung zur andern, das Fassen verwickelter und allgemeiner Beziehungen usf. – die Bildung des Verstandes überhaupt, damit auch der Sprache“154. Während die im Arbeitsprozeß liegende Disziplinierung lediglich auf technischen bzw. organisatorischen Zwängen beruht, setzt die Bildung des Verstandes der arbeitenden Individuen voraus, daß sie sich reflektierend auf ihre Tätigkeit beziehen. Aber diese Reflexivität bleibt auf die technisch-praktischen Aspekte des Arbeitsprozesses bezogen. Es ist keine Reflexion, die substantiell an die Bestimmung der Sittlichkeit anschließt. Technisch-praktische und sittliche Reflexion sind der Form nach affin, aber den Gegenstandbereichen nach – einmal dem des Begriffs, einmal dem der Materie – unterschieden. In dieser Bestimmung der Bildung durch Arbeit unterscheidet Hegel nicht zwischen den Wirkungen die auf dem reflektierenden und technischen Vermögen der Arbeitenden beruhen und den Wirkungen, die durch eine autoritäre Organisation des Arbeitsprozesses bewirkt werden. Ebensowenig stellt Hegel die Frage, inwieweit die durch den Arbeitsprozeß bewirkte Bildung der Arbeiter durch die Tätigkeit mit der Teilung der Arbeiten und der Spezialisierung der Verrichtungen verträglich ist. Im Verständnis Hegels 153 154

Hegel. Grundlinien, § 196. Ebd., § 197.

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sind die geschickten Arbeiter die Eigentümer ihrer Produkte und aller Bestandteile des Arbeitsprozesses und damit die Herren über ihr Tun. Die Kritik dieser Vorstellung bedarf einiger Begriffe, die aus der Darstellung Hegels nicht folgen, sondern auf die Kritik der politischen Ökonomie verwiesen sind. Sie findet daher an späterer Stelle statt.155 Die Arbeits- und Produktionsprozesse werden technisch mit den Bedürfnissen spezialisiert, so daß eine Teilung der Arbeiten entsteht, innerhalb derer die Produzenten auf die Verrichtung bestimmter Fertigkeiten festgelegt werden. Daraus entspringe nach Meinung Hegels nicht nur eine Steigerung der Produktivität der Arbeitsprozesse, sondern durch die Vereinfachung der Abläufe würden diese auch mechanisierbar – so daß die menschliche Arbeit tendenziell durch Maschinen ersetzt werden kann. „Das Arbeiten des Einzelnen wird durch die Teilung einfacher und hierdurch die Geschicklichkeit in seiner abstrakten Arbeit sowie die Menge seiner Produktionen größer. Zugleich vervollständigt diese Abstraktion der Geschicklichkeit und des Mittels die Abhängigkeit und die Wechselbeziehung der Menschen für die Befriedigung der übrigen Bedürfnisse zur gänzlichen Notwendigkeit. Die Abstraktion des Produzierens macht das Arbeiten ferner immer mehr mechanisch und damit am Ende fähig, daß der Mensch davon wegtreten und an seine Stelle die Maschine eintreten lassen kann.“156

In der Vereinfachung der Arbeitsprozesse liegt nur die Möglichkeit der Entwicklung der Maschinerie, nicht die Wirklichkeit. Zu deren Entwicklung bedarf es nicht nur der Reduktion von Arbeitsprozessen, sondern auch eines reflektierenden und produktiven Eingriffs in die Natur. Die Naturwissenschaften und deren technische Umsetzung sind aber an dieser Stelle der Grundlinien nicht Gegenstand der Erörterung. Hegel unterscheidet nicht zwischen der Teilung der Arbeit innerhalb der Gesellschaft, die eine historische Voraussetzung für das Entstehen der kapitalistischen Produktionsweise ist, und der Teilung der Arbeit innerhalb eines Herstellungsprozesses, die erst innerhalb der bestehenden kapitalistischen Produktion ihre volle Dynamik entfaltet. Ebensowenig hat Hegel eine Vorstellung von relativer Mehrwertsteigerung. Marx erklärt die Entwicklung von Maschinerie und großer Industrie aus der Nötigung, den Wert der Ware Arbeitskraft zu senken, um die Mehrwertrate zu erhöhen. Da Hegel weder einen entwickelten Begriff von der Mehrwertproduktion, noch von der Ware Arbeitskraft hat, kann er die Entwicklung der Maschinerie nicht ökonomisch erklären. Gesellschaftlich wird mit dem Begriff der Arbeitsteilung die Abhängigkeit der Produzenten vom System der Bedürfnisse erst sachlich begründet. Solange die Abhängigkeit der Produzenten nur abstrakt durch die Vervielfältigung der Bedürfnisse begründet ist, bleibt es möglich, daß die Familienverbände sich autark reproduzieren. Sie sind erst dann gezwungen, ihre Produkte auszutauschen, wenn sie aufgrund der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwar ihr eigenes, einseitiges Produkt im Überfluß produzieren, aber 155 156

Vgl. S. 281 dieser Arbeit. Hegel. Grundlinien, § 198 . Vgl. auch Marx: „Die Manufakturperiode vereinfacht, verbessert und vermannigfacht die Arbeitswerkzeuge durch deren Anpassung an die ausschließlichen Sonderfunktionen der Teilarbeiter. Sie schafft damit zugleich eine der materiellen Bedingungen der Maschinerie, die aus einer Kombination einfacher Instrumente besteht.“ Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 361 f.

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Gesellschaftliche Selbstbestimmung und Arbeit in den Grundlinien

alle anderen benötigten Produkte nur im Austausch mit anderen Produzenten erhalten können. Erst unter dieser Bedingung entwickelt sich die „Abhängigkeit und Wechselbeziehung der Menschen für die Befriedigung der übrigen Bedürfnisse zur gänzlichen Notwendigkeit“157. Mit dem System der Bedürfnisse bestimmt Hegel ein System der allseitigen Abhängigkeit, in dem die Selbstsucht der Personen in den Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller umschlägt. Aber diese Abhängigkeit bestimmt nicht nur den gesellschaftlichen Zusammenhang, sondern macht die Teilnahme an diesem Zusammenhang auch von Bedingungen abhängig, über die nicht jeder gleichermaßen verfügt: „Die Möglichkeit der Teilnahme an dem allgemeinen Vermögen, das besondere Vermögen, ist aber bedingt, teils durch eine unmittelbare eigene Grundlage (Kapital), teils durch die Geschicklichkeit, welche ihrerseits wieder selbst durch jenes, dann aber durch die zufälligen Umstände bedingt ist, deren Mannigfaltigkeit die Verschiedenheit in der Entwicklung der schon für sich ungleichen natürlichen körperlichen und geistigen Anlagen hervorbringt – eine Verschiedenheit, die in dieser Sphäre der Besonderheit nach allen Richtungen und von allen Stufen sich hervortut und mit der übrigen Zufälligkeit und Willkür die Ungleichheit des Vermögens und der Geschicklichkeiten der Individuen zur notwendigen Folge hat.“158

Hegel unterscheidet bei dem Problem der Teilhabe am Vermögen der Gesellschaft nicht zwischen dem Mangel an Kapital und dem Mangel an Geschicklichkeit. Er begreift beide Arten des Mangels als eine im Wesen des sich differenzierenden Begriffs liegende und damit notwendige Ungleichheit, obwohl es vom Standpunkt der historischen Entwicklung durchaus einen Unterschied macht, ob die Ungleichheit als Ungleichheit der individuellen Fähigkeiten im weitesten Sinne naturgegeben ist, oder ob es sich um eine Ungleichheit in der Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals handelt, die geschichtliche und damit auch veränderbare Gründe hat. Innerhalb des Systems der Wissenschaft nehmen die Grundlinien zwar eine Position ein, die auch mit historischen Voraussetzungen vermittelt ist, deren Stellung zum Gedanken aber nicht erneut zur Disposition steht. Die systematische Stellung der Geschichte gilt Hegel als begründet, die Verteilung des Privateigentums als gegeben. Einen entwickelten Kapitalbegriff hat er nicht (mit dem Begriff Kapital meint Hegel das Vermögen einer Familie): „Die Möglichkeit der Befriedigung derselben [der Bedürfnisse, M. B.] ist hier in den gesellschaftlichen Zusammenhang gelegt, welcher das allgemeine V e r m ö g e n ist, aus dem alle ihre Befriedigung erlangen. Die u n mi t t e l b a r e Besitzergreifung von äußern Gegenständen als 157

158

Hegel. Grundlinien, § 198. Vgl. auch Marx: „In der Gesamtheit der verschiedenartigen Gebrauchswerte oder Warenkörper erscheint eine Gesamtheit ebenso mannigfaltiger, nach Gattung, Art, Familie, Unterart, Varietät verschiedner nützlicher Arbeiten – eine gesellschaftliche Teilung der Arbeit. Sie ist Existenzbedingung der Warenproduktion, obgleich Warenproduktion nicht umgekehrt die Existenzbedingung gesellschaftlicher Arbeitsteilung. In der altindischen Gemeinde ist die Arbeit gesellschaftlich geteilt, ohne daß die Produkte zu Waren werden. Oder, ein näher liegendes Beispiel, in jeder Fabrik ist die Arbeit systematisch geteilt, aber diese Teilung nicht dadurch vermittelt, daß die Arbeiter ihre individuellen Produkte austauschen. Nur Produkte selbständiger und voneinander unabhängiger Privatarbeiten treten einander als Waren gegenüber.“ Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 56 f. Hegel. Grundlinien, § 200.

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Mitteln hiezu findet in dem Zustande, worin dieser Standpunkt der Vermittlung realisirt ist, nicht mehr oder kaum Statt; die Gegenstände sind Eigenthum.“159

Aus dem philosophischen Programm Hegels ist es auch zu erklären, daß er es ablehnt, gegen die Mißstände des Systems der bürgerlichen Gesellschaft die Forderung nach Gleichheit zu stellen, obwohl er durchaus sieht, daß durch die Abhängigkeit von den individuellen und gesellschaftlich gegebenen Voraussetzungen nicht alle gleichermaßen an der bürgerlichen Gesellschaft teilnehmen können. Die Forderung nach Gleichheit gehöre „dem leeren Verstande an, der dies sein Abstraktum und sein Sollen für das Reelle und Vernünftige nimmt“160. Hegel nimmt die Ungleichheiten als gegebene hin, die mit der gesellschaftlichen Allgemeinheit vielmehr zu vermitteln und aufzuheben sind. Ob die Personen am System der Bedürfnisse teilnehmen können, hängt von ihrer Geschicklichkeit und ihrem Kapital ab. Damit befinden sie sich in einer Situation der Konkurrenz um die Mittel, die sie benötigen. Die Abhängigkeit von diesem System der Bedürfnisse ist damit keine Abhängigkeit von einem sittlichen Zusammenhang, denn dieser ist den Individuen übergeordnet, ohne daß sie darin ihr Gattungsvermögen realisierten. Das System der Bedürfnisse stellt vielmehr ein System von praktischen Zwängen dar. Deshalb setzt die Anerkennung des selbstsüchtigen Tuns der Vereinzelten als Beitrag zur Allgemeinheit eine Instanz voraus, für die die sittliche Relevanz des selbstsüchtigen Tuns überhaupt Gegenstand sein kann. Für die Agenten jedenfalls ist diese Seite ihres Tuns praktisch irrelevant. Diese Instanz muß einerseits Bestandteil des Systems der Bedürfnisse sein, andererseits aber auch von den Zwängen der Produktion und des Tauschs unabhängig sein. Die ethische Anerkennung der Arbeiten als Beitrag zur Reproduktion der Allgemeinheit findet zunächst und noch vor jeder juristischen Anerkennung (also der Rechtspflege) in den Ständen statt. Die Arten der Bedürfnisse, der Arbeiten und der Reproduktionsmittel weisen sachliche Gemeinsamkeiten auf. Auf deren Grundlage bilden sich die Stände als besondere Einheiten heraus, denen die Personen durch ihren Berufsstand zugeordnet sind. „Die unendlich mannigfachen Mittel und deren ebenso unendlich sich verschränkende Bewegung in der gegenseitigen Hervorbringung und Austauschung sammelt durch die ihrem Inhalte inwohnende Allgemeinheit und unterscheidet sich in allgemeine Massen, so daß der ganze Zusammenhang sich zu besonderen Systemen der Bedürfnisse, ihrer Mittel und Arbeiten, der Arten und Weisen der Befriedigung und der theoretischen und praktischen Bildung – Systemen, denen die Individuen zugeteilt sind –, zu einem Unterschiede der Stände ausbildet.“161

Die drei Stände sind der substantielle oder unmittelbare, der reflektierende oder formelle und der allgemeine Stand. Der substantielle Stand ist der bäuerliche, der den Boden bearbeitet und wenig auf Vorsorge bedacht ist, aber eben die Lebensmittel einer Gesellschaft herstellt. Der reflektierende Stand umfaßt das Gewerbe, das Handwerk, den Fabrikantenstand und den Handel. Der allgemeine Stand lebt vom Produkt anderer und 159 160 161

Hegel. Enzyklopädie, § 524. Hegel. Grundlinien, § 200 Anmerkung. Ebd., § 201.

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Gesellschaftliche Selbstbestimmung und Arbeit in den Grundlinien

erfüllt die Funktion, sich um die allgemeinen Angelegenheiten der Gesellschaft wie Politik oder Wissenschaft zu kümmern. Die Zugehörigkeit eines Individuums zu einem Stand wird bei Hegel zwar auch durch Naturell, Geburt und zufällige Umstände bestimmt, aber entscheidend ist die subjektive Meinung und Willkür, die sich in den Ständen realisiert. Anders als in den Familien stimmen die Mitglieder der Stände ihrer Funktion zu und damit implizit auch der gesellschaftlichen Arbeitsteilung insgesamt, so daß die Entscheidung zwar auf den technisch-praktischen Erfordernissen gesamtgesellschaftlicher Reproduktion fußt, aber zugleich auch als Ausdruck der Selbstbestimmtheit der Subjekte zu verstehen ist. „Das Individuum gibt sich nur Wirklichkeit, indem es in das Dasein überhaupt, somit in die bestimmte Besonderheit tritt, hiermit ausschließend sich auf eine der besonderen Sphären des Bedürfnisses beschränkt. Die sittliche Gesinnung in diesem Systeme ist daher die Rechtschaffenheit und die Standesehre, sich, und zwar aus eigener Bestimmung, durch seine Tätigkeit, Fleiß und Geschicklichkeit zum Gliede eines der Momente der bürgerlichen Gesellschaft zu machen und als solches zu erhalten und nur durch diese Vermittlung mit dem Allgemeinen für sich zu sorgen sowie dadurch in seiner Vorstellung und der Vorstellung anderer anerkannt zu sein. – Die Moralität hat ihre eigentümliche Stelle in dieser Sphäre, wo die Reflexion auf sein Tun, der Zweck der besonderen Bedürfnisse und des Wohls herrschend ist und die Zufälligkeit in Befriedigung derselben auch eine zufällige und einzelne Hilfe zur Pflicht macht.“162

Das System der Bedürfnisse und die gesellschaftliche Teilung der Arbeit stellen einen Zusammenhang dar, von dem die Personen in ihrer Reproduktion abhängig sind und in dem sich die Abhängigkeit auch als Ungleichheit in den Reproduktionsbedingungen geltend macht. Der Zweck des Systems der Bedürfnisse, die Bedürfnisbefriedigung aller Mitglieder der Gesellschaft, wird nicht eingelöst, weil die Individuen sich ihrer Reproduktion eben nicht sicher sein können. Indem die Mitglieder der Gesellschaft die Bedingungen ihrer Reproduktion als fertigen gesellschaftlichen Zusammenhang vorfinden, bestimmen nicht sie die Bedingungen ihrer Reproduktion, sondern die Bedingungen ihrer Reproduktion bestimmen umgekehrt ihre Handlungen. Gesetzt werden diese Bedingungen historisch wie systematisch vor der bürgerlichen Gesellschaft: Die Dinge sind Privateigentum und die Verteilung dieses Eigentums fällt in die Vorgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft und des Rechts. Damit ist das System der Bedürfnisse kein sittlicher, sondern ein pragmatischer Zusammenhang. Hegel ist sich dieser Paradoxie bewußt. Erst indem in den Ständen die Arbeit der Individuen als Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Reproduktion anerkannt wird, wird dem System der Bedürfnisse wieder ein Moment von Selbstbestimmtheit implementiert, und die vereinzelten bourgeois werden in den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang reintegriert. Innerhalb der Stände wird den bourgeois die Absolution der Standesehre mit den Tugenden Fleiß und Geschicklichkeit erteilt.163 In dem Glauben an die Möglichkeit der Vermitt162 163

Hegel. Grundlinien, § 207. Vgl. auch Manfred Riedel: „Wie der Staat sich von den politischen Daseinsformen der ‚alten‘ bürgerlichen Gesellschaft, den Ständen (Adel, Geistlichkeit, Bürgerstand) und Korporationen (Stadtund Landgemeinden, Orden, Gewerken usf.) emanzipiert hat, so die Gesellschaft vom Staat. Ihre Vermittlung bildet eines der zentralen Probleme, das Hegels Rechtsphilosophie zu lösen unternimmt. Sie ist ihm keine ‚Begriffsbestimmung‘ der Privatpersonen der bürgerlichen Gesellschaft,

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lung von ökonomischer Funktion und moralischem Begriff in der bürgerlichen Gesellschaft bereitet Hegel der Grundvorstellung aller bürgerlichen Arbeitsideologie den Weg: daß Arbeit frei mache. Der Begriff der Anerkennung ist also in der Gesamtkonstruktion der bürgerlichen Gesellschaft entscheidend, weil dadurch die vereinzelten und in ihren selbstsüchtigen Zwecken verlorenen und mit ungleichen Bedingungen ausgestatteten bourgeois wieder in die sittliche Gemeinschaft des Staates (re-)integriert werden sollen. Aber dieser Begriff von Anerkennung bleibt zugleich fragil, weil er auf einem ökonomischen System fußt, in welchem die materielle Ungleichheit der bourgeois zum ökonomischen Zweck der Bedürfnisbefriedigung im Widerspruch steht. Indem die Privathandlungen mit der allgemeingültigen Form rechtskonformer Handlungen vermittelt werden, um dann auf dieser rechtspraktischen Grundlage die selbstsüchtigen Zwecke der bourgeois in den Zweck sittlicher Selbstbestimmung in den Korporation zu transformieren, will Hegel diesen Widerspruch lösen. Das bedeutet aber umgekehrt auch, daß Hegel gegen die Fragilität des ökonomischen Systems nicht die Kritik der Reproduktionsbedingungen setzt, sondern – wie im richtigen Leben – die Rechtspraxis, welche eben nicht nur die Individuen vor der Allgemeinheit schützt, sondern umgekehrt auch die Allgemeinheit vor den Individuen.

b) Rechtspflege, Polizei und Korporation Das abstrakte Recht mit seinen Begriffen des Privateigentums, des Vertrages und der Werteigenschaft der Besitzgüter wurde von Hegel zu Beginn der Grundlinien als notwendiger Begriff der Realisierung des vernünftigen Willens gesetzt, der damit unabhängig von der Rechtspraxis gilt, aber zugleich negativ auf seine ökonomische Substanz – den Wertbegriff – verwies.164 Das spekulative Recht – nun vermittelt mit den Begriffen

164

sondern der ‚Stände‘, in die sie sich gliedert. Die Bestimmung, ‚Mitglied des Staats‘ zu sein, bleibt nach Hegel abstrakt, wenn die Privatperson, das im ökonomischen Reproduktionsprozeß dieser Gesellschaft auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse und Zweck isolierte Individuum, nicht ‚Mitglied eines solchen Standes‘, einer Genossenschaft, Gemeinde, Korporation ist. Damit will Hegel den Konflikt zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat entschärfen. Durch die Vermittlung des ‚ständischen Elements‘ soll ihre Differenz sich so ‚aufheben‘, daß die vom politischen Liberalismus postulierte Erweiterung der Privatperson zum ‚Staatsbürger‘ hinfällig wird. Genau an dieser Stelle setzt Gansʼ Kritik an. Während Hegel davon ausgeht, daß im ständischen Element der gesetzgebenden Gewalt das ‚subjektive Moment der allgemeinen Freiheit‘, d. h. die ‚bürgerliche‘ Privatperson lediglich ‚in Beziehung auf den Staat zur Existenz kommt‘ und dabei ‚Repräsentant einer der wesentlichen Sphären der Gesellschaft‘ (der Interessen und Geschäfte der Stände, Korporationen, Gemeinden) bleibt, hält Gans daran fest, daß die Stände ein ‚positives Glied des organisierten Staats‘ sein müßten. Dabei werden die bei Hegel nur angelegten Momente des ‚Fürsichseins der Bürger‘ und der Beziehung der Stände auf ein allgemeines Staatsinteresse, die der alten ‚bürgerlichen‘, d. h. selber durch politische Rechte und Freiheiten organisierten, Gesellschaft fremd waren, von Gans nicht logisch fixiert, sondern historisch entwickelt. Das Ständeprinzip kann ‚in zweifachem Sinn gefaßt werden: im mittelalterlichen und im representativen Sinn. Die mittelalterlichen Stände representiren nicht den Staat, sondern ihre Geschäfte; sie kommen in ihrem eigenen Recht, nicht im allgemeinen Rechte des Staats. Unsere Stände sollen den Staat representiren.‘“ Manfred Riedel, „Naturrecht und Universalrechtsgeschichte – Einleitung.“ 22 f. Vgl. S. 215 dieser Arbeit.

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der Moralität und der Familie – geht an dieser Stelle aus dem System der Bedürfnisse als praktisches Recht wieder hervor. „Das Relative der Wechselbeziehung der Bedürfnisse und der Arbeit für sie hat zunächst seine Reflexion in sich, überhaupt in der Persönlichkeit, dem (abstrakten) Rechte. Es ist aber diese Sphäre des Relativen, als Bildung, selbst, welche dem Rechte das Dasein gibt, als allgemein Anerkanntes, Gewußtes und Gewolltes zu sein und, vermittelt durch dies Gewußt- und Gewolltsein, Gelten und objektive Wirklichkeit zu haben.“165

Mit dem System der Bedürfnisse regelt das Recht eine Sphäre, in der auch Äußerlichkeit und Zufälligkeiten von Bedeutung sind, so daß es nicht vollständig aus dem Begriff abgeleitet werden kann. Um dennoch die allgemeingültige Verbindlichkeit des positiven Rechts zu gewährleisten, muß es öffentlich bekannt gemacht sein. „Was an sich Recht ist, ist in seinem objektiven Dasein gesetzt, d. i. durch den Gedanken für das Bewußtsein bestimmt und als das, was Recht ist und gilt, bekannt, das Gesetz; und das Recht ist durch diese Bestimmung positives Recht überhaupt.“166 Das System der Bedürfnisse bedarf des Schutzes vor den konkurrierenden Interessen der bourgeois durch die Rechtspflege. Diese im System der Bedürfnisse angelegte Ungleichheit der bourgeois ist von Hegel als notwendige Differenz bestimmt worden. Gleichzeitig soll die bürgerliche Gesellschaft aber für alle gleichermaßen die Möglichkeit der Reproduktion und sittlichen Anerkennung bieten. Den Ausgleich der sozialen Gegensätze innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und auf Grundlage des positiven Rechts herzustellen, ist die Aufgabe von Polizei und Korporationen. Was im System der Bedürfnisse nur möglich zu sein schien – die Teilhabe und ökonomische Versorgung aller – soll durch Rechtspflege und Polizei wirklich werden. „Im S ys t e m d e r B e d ü r fn i s s e ist die Subsistenz und das Wohl jedes Einzelnen als eine M ö g l i c h k e i t , deren Wirklichkeit durch seine Willkür und natürliche Besonderheit ebenso als durch das objektive System der Bedürfnisse bedingt ist; durch die Rechtspflege wird die V e r l e t z u n g des Eigentums und der Persönlichkeit getilgt. Das i n d e r B e s o n d e r h e i t wi r k l i c h e Recht enthält aber sowohl, daß die Zufälligkeiten gegen den einen und den anderen Zweck a u fg e h o b e n seien und die u n g e s t ö r t e S i c h e r h e i t der P e r s o n und des E i g e n t u ms bewirkt [sei], als daß die S i c h e r u n g der Subsistenz und des Wohls der Einzelnen, – daß das besondere Wo h l als R e c h t b e h a n d e l t und v e r wi r k l i c h t sei.“167

Aber so wie das Recht einerseits für den Interessenausgleich sorgt, schützt es andererseits auch die geltenden Prinzipien vor den selbstsüchtigen Interessen der Agenten. „Das Rechtliche des Eigenthums und der Privathandlungen über dasselbe erhält nach der Bestimmung, daß das Rechtliche ein Gesetztes, Anerkanntes und dadurch Gültiges sey, durch die Förmlichk eiten seine allgemein e Garantie .“168 D. h. daß es nicht nur allgemein und der Form nach die gesellschaftlich vermittelte Anerkennung durch Eigentum und Arbeit im System der Bedürfnisse garantiert, sondern ebenso den Ausschluß derjenigen Personen, die nicht über die entsprechenden Mittel verfügen. Das Verbrechen 165 166 167 168

Hegel. Grundlinien, § 209. Ebd., § 211. Ebd., § 230. Hegel. Enzyklopädie, § 530.

Bedürfnis, Arbeit und gesellschaftliche Anerkennung

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stellt in der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr nur die Verletzung des subjektiven Zwecks einer Person dar wie im abstrakten Recht, sondern es gilt als Verletzung einer allgemeinen Sache, die durch die Gerichte vertreten wird. Das positive Recht ist dabei nicht im moralischen Sinne verbindlich, weil es dann nicht die Rechtsgesetze zum Gegenstande hätte, die den Not- und Verstandesstaat vor den Privathandlungen der bourgeois schützt, sondern dann müßte das Recht die subjektiven Zwecke der bourgeois beeinflussen, was nicht möglich ist, da diese frei sind. Wer also ein Verbrechen begeht, weil er im System der Bedürfnisse benachteiligt ist, kann das weder moralisch noch rechtlich durch seine subjektive Benachteiligung rechtfertigen, weil er durch seine Tat das System selbst in Frage stellt. Das Verbrechen wird der Gerichtsbarkeit unterzogen. Umgekehrt hat aber der Verbrecher dadurch auch die Sicherheit, daß die Richter sich in ihrem Urteil nicht auf einen willkürlichen Standpunkt beziehen. Sie rächen nicht, sondern halten sich ihrerseits an die Gesetze. Sie sprechen Recht und lassen strafen. „Wie in der bürgerlichen Gesellschaft das Recht an sich zum Gesetze wird, so geht auch das vorhin unmittelbare und abstrakte Dasein meines einzelnen Rechts in die Bedeutung des Anerkanntseins als eines Daseins in dem existierenden allgemeinen Willen und Wissen über. Die Erwerbungen und Handlungen über Eigentum müssen daher mit der Form, welche ihnen jenes Dasein gibt, vorgenommen und ausgestattet werden. Das Eigentum beruht nun auf Vertrag und auf den dasselbe des Beweises fähig und rechtskräftig machenden Förmlichkeiten.“169

Das Recht ist damit gesetzt, dessen Umsetzung fällt in den Aufgabenbereich der Polizei. Die Polizei ist für den Ausgleich zwischen der Sphäre der Privathandlungen und der Sphäre der Allgemeinheit zuständig. Sie wird zunächst überall dort aktiv, wo Privathandlungen zwar nicht unbedingt als Verbrechen intendiert sind, aber aufgrund ihres gegen die Allgemeinheit zufälligen und äußerlichen Charakters Schaden und Unrecht anrichten. Diese Art des Unrechts kann nicht begrifflich bestimmt werden, sondern fällt in das äußerliche Dasein und muß deshalb empirisch und aus dem besonderen Zusammenhang bestimmt werden. „Die Beziehungen des äußerlichen Daseins fallen in die Verstandes-Unendlichkeit; es ist daher keine Grenze an sich vorhanden, was schädlich oder nicht schädlich, auch in Rücksicht auf Verbrechen, was verdächtig oder unverdächtig sei, was zu verbieten oder zu beaufsichtigen oder mit Verboten, Beaufsichtigung und Verdacht, Nachfrage und Rechenschaftgebung verschont zu lassen sei. Es sind die Sitten, der Geist der übrigen Verfassung, der jedesmalige Zustand, die Gefahr des Augenblicks usf., welche die näheren Bestimmungen geben.“170

Der Polizei obliegen – wie zu Hegels Zeiten üblich – Wohlfahrtspflichten, die Verwaltung der Infrastruktur und die Erziehung, „insofern sie sich auf die Fähigkeit, Mitglied der Gesellschaft zu werden, bezieht, vornehmlich wenn sie nicht von den Eltern selbst, sondern von anderen zu vollenden ist, Aufsicht und Einwirkung zu haben, – ingleichen, insofern gemeinsame Veranstaltungen dafür gemacht werden können, diese zu 169 170

Hegel. Grundlinien, § 217. Ebd., § 234.

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treffen.“171 Schließlich ergeben sich in der Vielheit der Einzelinteressen bestimmte gemeinschaftliche Interessen, die die Vorsorge und Aufsicht der Allgemeinheit fordern, so die Besteuerung und Regulierung der Interessen von Produzenten und Konsumenten. Die Polizei gewährleistet also überall dort einen reibungslosen Ablauf gesellschaftlicher Prozesse, wo diese aufgrund der Differenzen zwischen Individuum und Allgemeinheit ins Stocken geraten. Aber neben den Problemen, die strukturell im Austausch verschiedener ökonomischer Interessengruppen wie Konsumenten und Produzenten auftreten können, übernimmt die Polizei auch die Aufgabe der individuellen Integration solcher Subjekte, die aus dem System der Versorgung herausfallen, weil sie nicht über die entsprechenden Mittel verfügen: „Wenn nun die Möglichkeit der Teilnahme an dem allgemeinen Vermögen für die Individuen vorhanden und durch die öffentliche Macht gesichert ist, so bleibt sie, ohnehin daß diese Sicherung unvollständig bleiben muß, noch von der subjektiven Seite den Zufälligkeiten unterworfen, und um so mehr, je mehr sie Bedingungen der Geschicklichkeit, Gesundheit, Kapital usw. voraussetzt.“172

Die Polizei übernimmt die Verantwortung für die Individuen dort, wo sie nicht aus dem Vermögen der Familie bzw. der bürgerlichen Gesellschaft im Allgemeinen versorgt werden können. „Die allgemeine Macht übernimmt die Stelle der Familie bei den Armen, ebensosehr in Rücksicht ihres unmittelbaren Mangels als der Gesinnung der Arbeitsscheu, Bösartigkeit und der weiteren Laster, die aus solcher Lage und dem Gefühl ihres Unrechts entspringen.“173 Die Armen verlieren nicht nur ihre Erwerbsfähigkeit und die Möglichkeit sich zu bilden, sondern auch die damit verbundenen Privilegien der bürgerlichen Gesellschaft, wie an der Rechtspflege und der Gesundheitsvorsorge teilzunehmen. Armut ist ein Zustand, in dem die Individuen an der bürgerlichen Gesellschaft nicht partizipieren können, obwohl sie das Recht haben, von und durch ihren Beitrag zur Gesellschaft ihr Auskommen zu haben. Die Klasse derjenigen, die aus dem System gesellschaftlicher Anerkennung herausfallen, bezeichnet Hegel als Pöbel: „Das Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise, die sich von selbst als die für ein Mitglied der Gesellschaft notwendige reguliert – und damit zum Verluste des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen –, bringt die Erzeugung des Pöbels hervor, die hinwiederum zugleich die größere Leichtigkeit, unverhältnismäßige Reichtümer in wenige Hände zu konzentrieren, mit sich führt.“174

Diese Armut ist nicht nur in ökonomischer sondern auch in moralischer Hinsicht das Gegenteil der Standesehre. Während die Mitglieder der Stände die Anerkennung ihrer individuellen Arbeitsleistungen als Beitrag zum System der Bedürfnisse erfahren, han171 172 173 174

Hegel. Grundlinien, § 239. Ebd., § 237. Ebd., § 241. Ebd., § 244. Im Zusatz zu diesem Paragraphen wird der Widerspruch deutlicher formuliert: „somit entsteht im Pöbel das Böse, daß er die Ehre nicht hat, seine Subsistenz durch seine Arbeit zu finden, und doch seine Subsistenz zu finden als sein Recht anspricht.“ Hegel. Grundlinien (Werke), § 244 Zusatz.

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delt es sich bei den Armen um eine Klasse, auf die kein Kriterium gesellschaftlicher Anerkennung zutrifft – weder das, für sich selbst sorgen zu können, noch einen Beitrag zum gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang leisten zu können, und das, obwohl alle Personen gleichermaßen das Recht dazu haben. Die Existenz des Pöbels begründet Hegel nicht durch das subjektive Versagen einzelner Subjekte, sondern durch einen strukturellen Widerspruch: „Wird der reicheren Klasse die direkte Last aufgelegt, oder es wären in anderem öffentlichen Eigentum (reichen Hospitälern, Stiftungen, Klöstern) die direkten Mittel vorhanden, die der Armut zugehende Masse auf dem Stande ihrer ordentlichen Lebensweise zu erhalten, so würde die Subsistenz der Bedürftigen gesichert, ohne durch die Arbeit vermittelt zu sein, was gegen das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft und des Gefühls ihrer Individuen von ihrer Selbständigkeit und Ehre wäre; oder sie würde durch Arbeit (durch Gelegenheit dazu) vermittelt, so würde die Menge der Produktionen vermehrt, in deren Überfluß und dem Mangel der verhältnismäßigen selbst produktiven Konsumenten gerade das Übel besteht, das auf beide Weisen sich nur vergrößert. Es kommt hierin zum Vorschein, daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern.“175

Der Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft, die bei allem Überfluß nicht reich genug ist, liegt darin, daß den Armen entweder ein Almosen zugestanden werden müßte, das sie ohne eine Gegenleistung bekommen. Damit wäre der Status der Armen mit der bürgerlichen Gesellschaft unvereinbar, weil er an deren Prinzip, nur durch „Vermittlung mit dem Allgemeinen für sich zu sorgen sowie dadurch in seiner Vorstellung und der Vorstellung anderer anerkannt zu sein“176, unbeteiligt bliebt. Sie wären dann zwar materiell versorgt, nicht aber moralisch. Oder ihr Auskommen würde den Armen durch Arbeit vermittelt, dann entstünde ein Produkt, das überflüssig ist und jedenfalls keinem zahlungskräftigen Bedürfnis entspricht (die Armen würden das Produkt vielleicht schon gebrauchen können, aber ihnen steht es nicht zu). Hegel sieht in dieser Paradoxie eine „Dialektik“177 der bürgerlichen Gesellschaft, welche diese über sich hinaus treibt. Zunächst sei der Mangel an Arbeitsmöglichkeiten und die damit verbundene Armut durch Expansion der Märkte – also durch Kolonialisierung – materiell zu überwinden: 175

176 177

Hegel. Grundlinien, § 245. Stepina erläutert: „Bei alldem bleibt Hegel jedoch die Einsicht in den nationalökonomischen Zustand, das heißt die Kapitalismusstrukturen dieser Ideologie, verwehrt. Er unterschlägt das realdialektische Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit und rechnet in naturrechtlicher Spekulation das Primum der Sittlichkeit den Herren als deren eigentlichen Inhaltsträgern zu. Die Arbeiter sowie ihre ‚Geschicklichkeit‘ als ‚reine Form‘ des ‚Wesens‘ gelten ihm, da sie ihren Zweck außer sich haben, als ehrlos. Hegel vollendet damit die Geschichte des abendländischen Denkens als einer Geschichte der Legitimation der Philosophie durch das Dogma der Trennung der geistigen von der körperlichen Arbeit (Freiheit und Notwendigkeit), das mit der logischen Figur der Entfremdung jede Möglichkeit der Synthese von Muße und Arbeit denunziert.“ Clemens K. Stepina. Handlung als Prinzip der Moderne, 49. (Problematisch an dieser Erläuterung ist, daß Stepina Hegel so kritisiert, als habe der das Marxsche Kapital schon kennen müssen. Die Kritik von Marx hat die Grundlinen aber zu ihrer historischen Voraussetzung.) Heinrich verweist darauf, daß die Lösung des Widerspruchs von Armut und Reichtum in den kapitalistischen Gesellschaften ein grundlegendes Problem in der klassischen politischen Ökonomie darstellte. Michael Heinrich. Die Wissenschaft vom Wert, 31. Hegel. Grundlinien, § 207. Ebd., § 246.

250

Gesellschaftliche Selbstbestimmung und Arbeit in den Grundlinien „Dieser erweiterte Zusammenhang bietet auch das Mittel der Kolonisation, zu welcher – einer sporadischen oder systematischen – die ausgebildete bürgerliche Gesellschaft getrieben wird und wodurch sie teils einem Teil ihrer Bevölkerung in einem neuen Boden die Rückkehr zum Familienprinzip, teils sich selbst damit einen neuen Bedarf und Feld ihres Arbeitsfleißes verschafft.“178

Die Ausweitung der Produktion durch die Eroberung neuen Bodens ist erstens durch den vorhandenen Boden begrenzt. Die Welt ist – gemessen an der Maßlosigkeit der Armut – nicht groß genug. Zweitens ändert die Kolonialisierung an dem Grundproblem nichts, denn der Pöbel verarmt nicht deshalb, weil es gemessen am Bedarf absolut zu wenig Lebensmittel gäbe. Der Grund ist vielmehr, daß die vorhandenen Lebens- und Produktionsmittel nicht für alle verfügbar sind. Und sie sind deshalb nicht für alle verfügbar, weil vor allem die Verfügung über die Produktionsmittel nicht gemeinschaftlich organisiert ist, sondern sie umgekehrt durch die (Privat-)Eigentumstitel der Verfügung der Allgemeinheit entzogen sind. In den Grundlinien sind alle Mitglieder der Gesellschaft entweder direkt oder über den familiären Zusammenhang vermittelt Eigentümer, weil das Eigentum die vernünftige Realisationsform des Willens darstelle. Weil aber das abstrakte Recht gleichgültig dagegen ist, was und wieviel jemand besitzt, kollidiert hier die spekulative Rechtsbestimmung mit den ökonomischen Tatsachen. Ökonomisch bedeutet es eben sehr wohl einen Unterschied, ob jemand über die Mittel seiner Reproduktion verfügt oder nur über den Eigentumstitel an seiner Person und damit an seiner Arbeitskraft. Letzterer ist, wie Marx später notierte, „frei in dem Doppelsinn, daß er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, daß er andrerseits andre Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen“179. Die Relevanz des Privateigentums an Produktionsmitteln reflektiert Hegel nicht. Obwohl der für die Grundlinien konstitutive Gedanke der Vermittlung des Willens mit den auch materiellen Bedingungen seiner Realisierung den aufklärerischen Gehalt der Hegelschen Rechtsphilosophie bestimmt, bleibt die Reflexion auf die Notwendigkeit der Verfügung über die Produktionsmittel inadäquat. Nicht die Verwaltung materieller Ungleichheit ist dem Zweck vernünftiger Willensbestimmung angemessen, sondern deren Überwindung. Die Versorgung des Pöbels durch Kolonialisierung stellt damit sowenig die hinreichende Lösung des moralischen Problems dar, wie die Konkurrenz unter den bourgeois innerhalb des Systems der Bedürfnisse der Ursache nach rechtlich in ein Anerkennungsverhältnis aufzulösen ist. Die Funktion des Rechts ist es, die Allgemeinverträglichkeit der Privathandlungen sicherzustellen und damit ein Verhältnis formaler Anerkennung zu schaffen. Das Recht bleibt aber gegen die Zwecke gleichgültig. Es bedarf daher noch einer Instanz, deren Zweck die Anerkennung selbst ist. Deshalb führt Hegel den Begriff der Korporationen ein, durch den der Widerspruch zwischen dem amoralischen Pöbel und der moralisierenden Anerkennung vermittelt werden. 178 179

Hegel. Grundlinien, § 248. Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 183.

Bedürfnis, Arbeit und gesellschaftliche Anerkennung

251

Die Korporation ist eine Organisationsform des zweiten Standes, deren Funktion darin besteht, den selbstsüchtigen Zweck der Gewerbetreibenden in einen sittlichen zu transformieren. Während der ackerbauende Stand seine sittliche Substanz im Familienund sein ökonomisches Auskommen an der Natur hat, hat der allgemeine Stand das Allgemeine für sich zum Zwecke seiner Tätigkeit und wird ohnehin durch die Allgemeinheit finanziert. Konkurrenz, Armut und Pöbel sind vor allem Phänomene des zweiten Standes. Nur der Stand des Gewerbes bedarf daher der Korporationen. „In der Korporation hat die Familie nicht nur ihren festen Boden als die durch Befähigung bedingte Sicherung der Subsistenz, ein festes Vermögen (§ 170), sondern beides ist auch anerkannt, so daß das Mitglied einer Korporation seine Tüchtigkeit und sein ordentliches Aus- und Fortkommen, daß es etwas ist, durch keine weiteren äußeren Bezeigungen darzulegen nötig hat. So ist auch anerkannt, daß es einem Ganzen, das selbst ein Glied der allgemeinen Gesellschaft ist, angehört und für den uneigennützigeren Zweck dieses ganzen Interesse und Bemühungen hat; – es hat so in seinem Stande seine Ehre.“180

Im Unterschied zu den Ständen, die Berufsverbände sind, beruhen die Korporationen auf einer rechtlichen und damit gesellschaftlich anerkannten Grundlage. Einerseits hatte Hegel bereits das System der Bedürfnisse als einen Zusammenhang bestimmt, in dem die Verfügung über Kapital und Geschicklichkeit darüber entscheiden, wie erfolgreich ein bourgeois an diesem System partizipieren kann. Um aus diesem System nicht herauszufallen, müssen die bourgeois um die Reproduktionsmittel konkurrieren – was der Grund dafür ist, daß das System der Bedürfnisse von Hegel als Negation der Sittlichkeit bestimmt wird. Die Entstehung des Pöbels ist auf der Grundlage dieser Begriffe ökonomisch zu erklären. Andererseits verhandelt Hegel das Phänomen des Pöbels und den damit verbundenen substantiellen Widerspruch einer Klasse von Menschen, die als Mitglieder der Gesellschaft außerhalb der Gesellschaft stehen, erst nach der Bestimmung der Rechtspflege und der Polizei. Während die Stände der Zufälligkeit und den praktischen Interessen subsumiert bleiben, weil sie innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft verortet sind, ohne gegen diese selbständig zu sein, stellen die Korporationen ein rechtliches Anerkennungsverhältnis dar, deren Zweck der Ausgleich der materiellen Ungleichheiten und die Kooperation zwischen den bourgeois ist, und eben nicht mehr die Befriedigung ihrer selbstsüchtigen Interessen. Ihr Zweck ist damit sittlich und die Zwecke der selbstsüchtigen bourgeois werden in den Korporationen aufgehoben. „Wenn über Luxus und Verschwendungssucht der gewerbetreibenden Klassen, womit die Erzeugung des Pöbels (§ 244) zusammenhängt, Klagen zu erheben sind, so ist bei den anderen Ursachen (z. B. das immer mehr mechanisch Werdende der Arbeit) der sittliche Grund, wie er im Obigen liegt, nicht zu übersehen. Ohne Mitglied einer berechtigten Korporation zu sein (und nur als berechtigt ist ein Gemeinsames eine Korporation), ist der Einzelne ohne Standesehre, durch seine Isolierung auf die selbstsüchtige Seite des Gewerbes reduziert, seine Subsistenz und Genuß nichts Stehendes. Er wird somit seine Anerkennung durch die äußerlichen Darlegungen seines Erfolgs in seinem Gewerbe zu erreichen suchen, Darlegungen, welche unbegrenzt sind, weil seinem Stande gemäß zu leben nicht stattfindet, da der Stand nicht existiert – denn nur das Gemeinsame existiert in der bürgerlichen Gesellschaft, was gesetzlich konstitu180

Hegel. Grundlinien, § 253.

252

Gesellschaftliche Selbstbestimmung und Arbeit in den Grundlinien iert und anerkannt ist –, sich also auch keine ihm angemessene allgemeinere Lebensweise macht. – In der Korporation verliert die Hilfe, welche die Armut empfängt, ihr Zufälliges sowie ihr mit Unrecht Demütigendes und der Reichtum in seiner Pflicht gegen seine Genossenschaft den Hochmut und den Neid, den er, und zwar jenen in seinem Besitzer, diesen in den anderen erregen kann; – die Rechtschaffenheit erhält ihre wahrhafte Anerkennung und Ehre.“181

Die Wirklichkeit der Anerkennung ist also erst in den Korporationen vollständig: Das Produkt der bourgeois dient innerhalb des korporativen Zusammenhanges nicht nur ihrer eigenen Reproduktion, sondern auch der Versorgung derjenigen, die nicht über die Mittel zur Reproduktion verfügen. Gleichzeitig gelten die Mitglieder der Korporation nicht nur als selbstsüchtige Individuen, sondern werden als Mitglieder der Korporation anerkannt. Deshalb werden auch innerhalb der Korporationen die Armen durch die soziale Fürsorge nicht gedemütigt. Die Mitglieder der Korporationen erfahren unabhängig von ihrem materiellen Status Anerkennung und Ehre. Indem die Korporation der vermittelnde Begriff zwischen der bürgerlichen Gesellschaft, in der sich die Sittlichkeit verliert, und dem Staat, der die Realisierung des Sittlichen schlechthin darstellt, ist, soll Hegel zufolge der Rückgang in die Sphäre des Sittlichen begründet sein. „Der Zweck der Korporation als beschränkter und endlicher hat seine Wahrheit – sowie die in der polizeilichen äußerlichen Anordnung vorhandene Trennung und deren relative Identität – in dem an und für sich allgemeinen Zwecke und dessen absoluter Wirklichkeit; die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft geht daher in den Staat über.“182

Damit ist die Konstruktion der Korporationen für den Begriff der Anerkennung innerhalb der fragilen bürgerlichen Gesellschaft konstitutiv. Aber diese Konstruktion ist vom terminus ad quem der Grundlinien her bestimmt, was sich daran zeigt, daß sie zur historischen Tendenz der Hegelschen Gegenwart im Kontrast steht.183 Die Zeit Hegels ist gerade durch die 181

182 183

Hegel. Grundlinien, § 253 Anmerkung. Schmidt am Busch, der sich in seiner Analyse Hegels vor allem auf das System der Sittlichkeit in der Philosophie des Geistes stützt, faßt den Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft wie folgt: „Die durch das ‚Gesetz‘ protegierte kapitalistische Wirtschaftsordnung ist nämlich nach Hegel durch unvorhersehbare, zum Teil abrupte Schwankungen von Güter- und Faktorpreisen ausgezeichnet, die verhindern, daß der einzelne durch seine Arbeit seinen Lebensunterhalt planmäßig sichern und als ein mit besonderen, gesellschaftlich wertvollen produktiven Fähigkeiten ausgestattetes Subjekt Anerkennung finden kann.“ Hans-Christoph Schmidt am Busch. Hegels Begriff der Arbeit, 18, ebenso 103 f. Im Fokus seiner Untersuchung steht daher nicht die Frage nach dem Verhältnis des Hegelschen Anspruchs, einen sittlichen Gesellschaftsbegriff so zu begründen, daß darin auch die ökonomische Versorgung ihrer Mitglieder gewährleistet ist. Er liest Hegel vielmehr als Wirtschaftswissenschaftler, der an neoklassischen Konzepten zu messen sei. Daß sein Maßstab der Kritik daher die Güterverteilung und die PreisWert-Transformation sind, ist folgerichtig, hat aber nur noch wenig mit dem zu tun, was bei Hegel Gegenstand ist. Hegel. Grundlinien, § 256. „Unter Staatskanzler Hardenberg wurden jedoch auch wirtschaftliche Liberalisierungen durchgesetzt, die [...] nicht mit Hegels Staatslehre vereinbar sind. An erster Stelle sind hier das Gewerbesteueredikt vom 2. November 1810 und das Gewerbepolizeigesetz vom 7. September 1811 zu nennen, durch die jeder Einwohner die Möglichkeit erhielt, mittels Steuerschein ein eigenes Gewerbe anzumelden – ein Widerspruchsrecht der Korporationen wurde hier explizit ausgeschlossen.“ Vgl. Sven Ellmers. „Mixtum Compositum. Die Korporation als Bindeglied zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat in der Hegels Rechtsphilosophie.“ In Kritik der politischen Philosophie. Eigentum, Gesellschaftsvertrag, Staat II, hrsg. v. Devi Dumbadze u. a. Münster, 2010. Vgl. auch Marx: „Die Zunftgesetze, wie schon früher bemerkt, verhinderten planmäßig, durch äußerste Beschränkung der Gesellenzahl, die ein einzelner Zunftmeister beschäftigen

Bedürfnis, Arbeit und gesellschaftliche Anerkennung

253

Auflösung des spätmittelalterlichen Ständesystems und der Korporationen charakterisiert. Darin, daß Hegel für die Anerkennung kein historisch aktuelles Modell findet, offenbart sich Anerkennung als Postulat der spekulativen Philosophie.184 Des Pudels Kern ist das Privateigentum, das im Resultat der Kritik des abstrakten Rechts nicht ontologisch, sondern historisch zu bestimmen ist. Damit werden Wirklichkeit und historische Realität gegen Hegels Intention unterscheidbar: Das Privateigentum, das im abstrakten Recht als der ontologische Begriff der Realisierung des vernünftigen Willens eingeführt wurde, erweist sich zugleich als Grund dafür, daß der ökonomische Zweck der Bedürfnisbefriedigung nicht eingelöst werden kann. Privateigentum ist deshalb nicht die vernünftige Form der Willensbestimmung, sondern garantiert diejenigen historisch überlieferten Machtstrukturen, aufgrund derer die Menschen gerade nicht über ihre Lebensbedingungen verfügen. Vielmehr ist das Privateigentum diejenige Bedingung, welche die Zwecke der bourgeois fremdbestimmt. Damit bietet die bürgerliche Gesellschaft weder reell, noch potentiell die Bedingungen praktischer Selbstbestimmung. Dann aber ist auch der Staat als realisierte Sittlichkeit nicht aus diesem Not- und Verstandesstaat ableitbar. „Die Kritik der deutschen Staats- und Rechtsphilosophie, welche durch Hegel ihre konsequenteste, reichste, letzte Fassung erhalten hat, ist beides, sowohl die kritische Analyse des modernen Staats und der mit ihm zusammenhängenden Wirklichkeit als auch die entschiedene Verneinung der ganzen bisherigen Weise des deutschen politischen und rechtlichen Bewußtseins, dessen vornehmster, universellster, zur Wissenschaft erhobener Ausdruck eben die spekulative Rechtsphilosophie selbst ist. […] Schon als entschiedener Widerpart der bisherigen Weise des deutschen politischen Bewußtseins verläuft sich die Kritik der spekulativen Rechtsphilosophie nicht in sich selbst, sondern in Aufgaben, für deren Lösung es nur ein Mittel gibt: die Praxis.“185

184

185

durfte, seine Verwandlung in einen Kapitalisten. Ebenso konnte er Gesellen nur beschäftigen in dem ausschließlichen Handwerk, worin er selbst Meister war. Die Zunft wehrte eifersüchtig jeden Übergriff des Kaufmannskapitals ab, der einzig freien Form des Kapitals, die ihr gegenüberstand. Der Kaufmann konnte alle Waren kaufen, nur nicht die Arbeit als Ware. Er war nur geduldet als Verleger der Handwerksprodukte. Riefen äußere Umstände eine fortschreitende Teilung der Arbeit hervor, so zerspalteten sich bestehende Zünfte in Unterarten oder lagerten sich neue Zünfte neben die alten hin, jedoch ohne Zusammenfassung verschiedner Handwerke in einer Werkstatt. Die Zunftorganisation, sosehr ihre Besondrung, Isolierung und Ausbildung der Gewerbe zu den materiellen Existenzbedingungen der Manufakturperiode gehören, schloß daher die manufakturmäßige Teilung der Arbeit aus. Im großen und ganzen blieben der Arbeiter und seine Produktionsmittel miteinander verbunden wie die Schnecke mit dem Schneckenhaus, und so fehlte die erste Grundlage der Manufaktur, die Verselbständigung der Produktionsmittel als Kapital gegenüber dem Arbeiter.“ Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 379 f. Charles Larmore verweist auf die umgekehrt auf darauf, daß das Hegels Anspruch an eine sittliche Gesellschaft stark an der antiken Polis orientiert ist: Vgl. Charles E. Larmore. Patterns of Moral Complexity. Cambridge, 1987, 99 ff. Vgl. auch Honneth, der die „Funktion der sozialen Integration“ (Axel Honneth,. „Arbeit und Anerkennung.“ Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Nr. Heft 3 (2008), 333) des kapitalistischen Arbeitsmarkts aufzeigen will. Karl Marx. „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung.“ In Werke [1839 bis 1844]. MEW Bd. 1. Berlin, 1964, 384 f.

254

Gesellschaftliche Selbstbestimmung und Arbeit in den Grundlinien

4.5 Resultate: Das Scheitern gesellschaftlicher Selbstbestimmung in den Grundlinien Der Arbeitsbegriff Hegels ist der Begriff der Vermittlung zwischen der freien Subjektivität und dem Begriff der Notwendigkeit der Naturverhältnisse. Daß Arbeit frei mache, stellt gleichsam das Leitmotiv der systematischen Begriffsentwicklung in der Logik, der Phänomenologie und den Grundlinien dar. Das bedeutet, daß Arbeit als Moment der Selbstbestimmung des Begriffs in der Teleologie demselben Argumentationsziel folgt wie die Vermittlung der materiellen Bedingungen des Selbstbewußtseins durch Arbeit in Herrschaft und Knechtschaft. Noch das Knechtschaftsverhältnis ist letztendlich Ausdruck der Selbstbestimmung des Selbstbewußtseins, weil Herrschaft und Selbstbestimmung denselben Zweck erfüllen, denselben Gegenstandsbereich und dasselbe Subjekt haben: Bis in die sich voneinander unterscheidenden Momente der Begriffsentwicklung hinein bleibt die Arbeit Arbeit des Begriffs im Begriff. In den Grundlinien laufen die Argumentationslinien der Logik und der Phänomenologie zusammen. Die durch Herrschaft bestimmte Vorgeschichte des bürgerlichen Staates habe die Bedingungen einer vernünftigen Wirklichkeit hervorgebracht, deren Subjekt der selbstbestimmte und zugleich rechtlich handelnde Wille sei. Der im abstrakten Recht sich realisierende Wille hat zunächst keinen geschichtlichen Status, sondern einen sozialontologischen, der erst in der Sittlichkeit – also der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat – mit den gesellschaftlichen Gehalten vermittelt wird. Das System der Grundlinien sei Ausdruck der Selbstbestimmung der Menschen, weil der gesamtgesellschaftliche Zusammenhang Organisationsform menschlicher Freiheit sei. In diese Konstruktion von Freiheit wird die Reflexion auf die Existenzbedingungen der Menschen einbezogen, so daß die Menschen ihre Potenzen innerhalb des sittlichen Staates am ehesten verwirklichen können. Zugleich ist das Subjekt der Grundlinien der vernünftig bestimmte Wille, der als allgemeines Prinzip gesellschaftlicher Organisation mit den Einzelnen nicht identisch, diese vielmehr nur sein Moment sind. Deshalb ist die Stellung der Individuen zum gesellschaftlichen Zusammenhang, in der konkretesten Gestalt, dem Staat, durch ihre jeweilige gesellschaftliche Funktion auch restringiert. In der Familie zeigte sich die Unterordnung individueller Entwicklungsmöglichkeiten unter den Zweck der Allgemeinheit ebenso wie in der Forderung Hegels, daß sich die einzelnen für den Staatszweck z. B. im Krieg aufzuopfern hätten.186 Die individuelle Willensbestimmung erscheint nur im Zusammenhang mit dem Verbrechen, wo sie lediglich als Negation des Rechts bestimmt ist. Dennoch gibt es eine Erscheinung, die im Spannungsfeld der Bestimmung menschlicher Existenzbedingungen und vernünftiger Willensbestimmung, weder durch das eine, noch durch das andere erklärbar ist: die Armut. Hegel verstrickt sich in den Widerspruch, einerseits alle bourgeois mit den Rechten eines Privateigentümers ausgestattet und ihnen damit die Mittel ihrer ökonomischen und gesellschaftlichen Anerkennung an 186

Vgl. Hegel. Grundlinien, § 325–329.

Resultate: Das Scheitern gesellschaftlicher Selbstbestimmung in den Grundlinien

255

die Hand gegeben zu haben. Andererseits bringt dieselbe Gesellschaft mit den Armen Menschen hervor, die weder materiell versorgt sind, noch gesellschaftliche Anerkennung erfahren. Die Armut ist weder in Beziehung auf die Versorgung der Individuen zweckmäßig, noch erfüllt sie eine Funktion für den Begriff des vernünftig bestimmten Willen. Im Gegenteil gehört die Versorgung der Individuen zur Bestimmung des vernünftig bestimmten Willens dazu. Hegel kann die Erscheinung der Armut weder erklären, noch kritisiert er sie. Er versucht diesen Widerspruch zwischen Funktion und Erscheinung vielmehr durch die fragwürdige Konstruktion der Kolonialisierung und die obsolete Konstruktion der Stände begrifflich zu integrieren. Die Versorgung der bourgeois soll über den einfachen Warentausch in einem arbeitsteilig und privatrechtlich geregelten ökonomischen System gelingen. Über ihre Arbeiten steuern die bourgeois ein Produkt zum System gesellschaftlicher Arbeitsteilung bei, sowie sie die Mittel, die sie für ihre eigene Reproduktion benötigen, über den Austausch erhalten. Die produktive Arbeit erfüllt also eine ökonomische Funktion. Das System des einfachen Warentauschs ist die Negation der sittlichen Bestimmung in der Familie und im Staat, weil die bourgeois nur ihren selbstsüchtigen Interessen nachgehen und miteinander konkurrieren. Das System der Bedürfnisse ist Teil eines Not- und Verstandesstaates. Trotzdem soll die produktive Arbeit auch eine moralische Funktion erfüllen: Durch seine Arbeit erlangt jeder bourgeois auch die Ehre und Anerkennung, einen ökonomischen Beitrag zur Gesellschaft geleistet zu haben. Indem das ökonomische System ein notwendiger organisatorischer Bestandteil einer Gesellschaft ist, und die in diesem ökonomischen System geleistete Arbeit deshalb auch die Anerkennung erfährt, zum Funktionieren dieses Systems beizutragen, ist die Arbeit Hegel zufolge Ausdruck gesellschaftlicher Selbstbestimmung. Daraus folgt dann im Umkehrschluß, daß die Armen durch den einfachen Warentausch nicht nur nicht versorgt werden, sondern daß der Pöbel „die Ehre nicht hat, seine Subsistenz durch seine Arbeit zu finden, und doch seine Subsistenz zu finden als sein Recht anspricht.“187 Im Pöbel entstehe das Böse. Auf diese Weise wird deutlich, daß der Begriff selbstbestimmter, produktiver Arbeit in sich widersprüchlich ist, also ein nihil negativum. Ein Begriff, den man nicht widerspruchsfrei denken kann, ist kein Gegenstand konsistenter Erfahrung. Um dieses Mißlingen der Verknüpfung von produktiver Arbeit und Selbstbestimmung erklären zu können, ist es nötig, an den Status des abstrakten Rechts vor dem Hintergrund seiner Kritik gegen Hegel zu erinnern. Hegel zufolge soll das abstrakte Recht vernünftig sein, weil es jeder Person den Status der persönlichen Freiheit und der persönlichen Verfügung über sein Eigentum garantiert und somit die Interessen und Handlungen in der Gesellschaft koordiniert. Allerdings war die Frage, was und wieviel jemand besitzt, gegen den Eigentumstitel gleichgültig. Rechtsgrund ist der vernünftige Wille, so daß das Recht nicht als historisch-gesellschaftlicher Begriff bestimmt wurde, sondern als sozialontologischer Begriff. Aber eben dieser sozialontologische Status hatte sich als instabil erwiesen, und er mußte sich auch als instabil erweisen, weil das Recht durch hi187

Hegel. Grundlinien (Werke), § 244 Zusatz.

256

Gesellschaftliche Selbstbestimmung und Arbeit in den Grundlinien

storische Gehalte ebenso bestimmt wird. Der Rechtsgrund ist dann aber auch nicht vernünftig, sondern interessengeleitet, so daß das Privatrecht einen historisch gegebenen Zustand mit einer historisch gegebenen Verteilung der Lebens- und Produktionsmittel zementiert, der aus den vorgeschichtlichen Herrschaftsverhältnissen und politischen Auseinandersetzungen hervorgegangen ist. Marx beschreibt diese geschichtlichen Verhältnisse mit der sog. ursprünglichen Akkumulation. „Der Prozeß, der das Kapitalverhältnis schafft, kann also nichts andres sein als der Scheidungsprozeß des Arbeiters vom Eigentum an seinen Arbeitsbedingungen, ein Prozeß, der einerseits die gesellschaftlichen Lebens- und Produktionsmittel in Kapital verwandelt, andrerseits die unmittelbaren Produzenten in Lohnarbeiter. Die sog. ursprüngliche Akkumulation ist also nichts als der historische Scheidungsprozeß von Produzent und Produktionsmittel. Er erscheint als ‚ursprünglich‘, weil er die Vorgeschichte des Kapitals und der ihm entsprechenden Produktionsweise bildet. Die ökonomische Struktur der kapitalistischen Gesellschaft ist hervorgegangen aus der ökonomischen Struktur der feudalen Gesellschaft. Die Auflösung dieser hat die Elemente jener freigesetzt. Der unmittelbare Produzent, der Arbeiter, konnte erst dann über seine Person verfügen, nachdem er aufgehört hatte, an die Scholle gefesselt und einer andern Person leibeigen oder hörig zu sein. Um freier Verkäufer von Arbeitskraft zu werden, der seine Ware überall hinträgt, wo sie einen Markt findet, mußte er ferner der Herrschaft der Zünfte, ihren Lehrlings- und Gesellenordnungen und hemmenden Arbeitsvorschriften entronnen sein. Somit erscheint die geschichtliche Bewegung, die die Produzenten in Lohnarbeiter verwandelt, einerseits als ihre Befreiung von Dienstbarkeit und Zunftzwang; und diese Seite allein existiert für unsre bürgerlichen Geschichtschreiber. Andrerseits aber werden diese Neubefreiten erst Verkäufer ihrer selbst, nachdem ihnen alle ihre Produktionsmittel und alle durch die alten feudalen Einrichtungen gebotnen Garantien ihrer Existenz geraubt sind. Und die Geschichte dieser ihrer Expropriation ist in die Annalen der Menschheit eingeschrieben mit Zügen von Blut und Feuer.“188

Erst wenn der Rechtszustand nicht nur als Form der Koordination gesellschaftlicher Handlungen verstanden wird, sondern zugleich als auf einen Inhalt bezogen gedacht wird, der Geschichtliches tradiert, dann wird eine Unterscheidung möglich, deren Bedeutung Hegel nicht erkannt hat: daß es einen Unterschied darstellt, was durch den Eigentumstitel geschützt wird – Produktionsmitteln oder lediglich Arbeitskraft. Mit dieser Differenz in der Materie des Eigentums kann erklärt werden, warum einige Eigentümer in der bürgerlichen Gesellschaft am System der Versorgung scheitern: Sie verfügen nicht über Produktionsmittel und können sich deshalb nur reproduzieren, wenn sie ihre Arbeitskraft zu den Bedingungen des Marktes verkaufen. Wenn aber dieser Markt keine Arbeitskräfte braucht, dann haben die Arbeitskräfte auch keine alternativen Reproduktionsmöglichkeiten und verarmen. Über die Mechanismen, welche den Bedarf des Arbeitsmarktes an Arbeitskräften bestimmen, verfügen die Einzelnen nicht. Damit hängen Anerkennung von Arbeit und Stigmatisierung von Arbeitslosigkeit nicht mehr von der Bewährung in einer vernünftig organisierten Gesellschaft ab, in der Selbstbestimmung realisiert wäre, sondern sie hängen von geschichtlichen wie marktökonomischen Zufällen ab. „Produktiver Arbeiter zu sein ist daher kein Glück, sondern 188

Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 742 ff.

Resultate: Das Scheitern gesellschaftlicher Selbstbestimmung in den Grundlinien

257

ein Pech.“189 In der Gegendarstellung ist zu zeigen, daß Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft nicht aus der vernünftigen Willensbestimmung zu erklären ist, sondern den Gesetzen einer spezifischen Produktionsform unterworfen ist.

189

Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 532.

5 Gegendarstellung: Zu den ökonomischen Bedingungen der Rechtsphilosophie

Das Privateigentum im abstrakten Recht wird von Hegel als Realisationsform des vernünftigen Willens bestimmt. Folgerichtig ist die Realisierung des subjektiven Bedürfnisses Substanz und Zweck der bürgerlichen Gesellschaft, sowie die Realisierung der sittlichen Bedürfnisse Substanz und Zweck des Staates ist. Andererseits hatte die Kritik an den Begriffen Hegels ergeben, daß diese an den genannten Stellen mit ihren historischen Korrelaten kollidieren. Erinnert sei an den Wert, der die Funktion hat, die qualitativ unterschiedenen Güter im Vertrag vergleichbar zu machen. Aber die von Hegel bestimmte Wertsubstanz, das Bedürfnis, ist dazu nicht geeignet , weil es als qualitativ Bestimmtes nicht quantifizierbar und als quantitativ Bestimmtes nicht allgemein vergleichbar ist. Als ein anderes Problem erwies sich die bürgerliche Gesellschaft, die die materielle Versorgung ihrer Mitglieder gewährleisten sollte, tatsächlich aber Armut hervorbrachte. Zudem wird die bürgerliche Gesellschaft als Sphäre nicht nur juristischer, sondern vor allem auch moralischer Anerkennung mißverstanden. Diese Probleme resultieren daraus, daß Hegel an der Vorstellung festhält, daß das Subjekt und der Zweck der bürgerlichen Gesellschaft letztlich doch vernünftig seien. Tatsächlich fällt aber die Begründung dieser Erscheinungen nicht in die Rechtsphilosophie, sondern ist ihr wesensfremd: Die sich selbst bestimmende Vernunft Hegels ist mit einer historischen Realität konfrontiert, in der die geschichtliche Verkehrung des Geistbegriffs vollzogen worden ist: In der bürgerlichen Epoche hat sich nicht der vernünftige Wille vergesellschaftet, sondern der technisch bestimmte Sachzwang: „Gebrauchsgegenstände werden überhaupt nur Waren, weil sie Produkte voneinander unabhängig betriebner Privatarbeiten sind. Der Komplex dieser Privatarbeiten bildet die gesellschaftliche Gesamtarbeit. Da die Produzenten erst in gesellschaftlichen Kontakt treten durch den Austausch ihrer Arbeitsprodukte, erscheinen auch die spezifisch gesellschaftlichen Charaktere ihrer Privatarbeiten erst innerhalb dieses Austausches. Oder die Privatarbeiten betätigen sich in der Tat erst als Glieder der gesellschaftlichen Gesamtarbeit durch die Beziehungen, worin der Austausch die Arbeitsprodukte und vermittelst derselben die Produzenten versetzt. Den letzteren erscheinen daher die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das, was sie sind, d. h. nicht als unmittelbar

Gegendarstellung: Zu den ökonomischen Bedingungen der Rechtsphilosophie

259

gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.“ 1

Grund und Begründetes verkehren sich unter der Bedingung der staatlich garantierten und geschichtlich gegebenen Verteilung des Privateigentums. Das Vermögen der Menschen, sich in der Gesellschaft einen sozialen und reflektierten Zusammenhang zu geben, erscheint hier als das Resultat des Sachzwanges, nur über den Austausch des eigenen Arbeitsproduktes vermittelt an die Mittel der individuellen Reproduktion gelangen zu können. In einem solchen Zusammenhang ist die Realisierung der Selbstbestimmung des vernünftigen Willens nicht Zweck, sondern Mittel zur Realisierung der selbstsüchtigen Interessen der Einzelnen. Gleichzeitig vermag kein Einzelner aus diesem Zusammenhang praktisch auszubrechen – es sei denn um den Preis der Verelendung. Das bürgerliche Verhältnis definiert ein gesamtgesellschaftliches Verhältnis, das zwar individuell durchschaubar, aber nur gesamtgesellschaftlich veränderbar ist. Diese realisierte Verkehrung ist weder spekulativ zu antizipieren, noch ist sie begrifflich reproduzierbar. Ihre Analyse begründet vielmehr einen eigenen Gegenstandsbereich: den der Kritik der politischen Ökonomie.2 Zwar hatte Hegel auf die klassische politische Ökonomie als eigenständigen Gegenstandsbereich hingewiesen, ohne aber Konsequenzen für den Topos der Grundlinien, daß die Vernunft wirklich und die Wirklichkeit vernünftig sei, zu ziehen. 3 Für eine kritische Darstellung der Gesetze bürgerlicher Ökonomie ist es deshalb unabdingbar – auch in Abgrenzung gegen die Grundlinien –, zwischen den notwendigen begrifflichen und den hinreichenden historischen Bedingungen der Produktionsweise zu unterscheiden. Die Kritik der politischen Ökonomie kann weder Systementwurf noch geschichtliche Erzählung sein, und will dennoch dem Anspruch einer wissenschaftlichen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise genügen.4

1 2 3 4

Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 87. Vgl. auch Heinrich: „Eine solche politische Ökonomie besitzt außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft keine Vorläufer.“ Michael Heinrich. Die Wissenschaft vom Wert, 28. Vgl. § 189 Anmerkung. Hegel, Grundlinien, 346 f. Es ist verwunderlich, daß einige Autoren keinen Unterschied zwischen Hegel und Marx entdecken wollen: „Es fällt nun, nachdem Hegel wie Marx von ihren frühen Arbeiten her neu interpretiert worden sind, schwer, überhaupt noch eine entscheidende Differenz zwischen ihnen aufzuzeigen.“ Otto Pöggeler. Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, 375. Auch Hans-Christoph Schmidt am Busch meint, daß „die Marxsche ‚Kritik‘ von ökonomietheoretischen und philosophischen Problemen belastet wird und als ganze keinen Fortschritt gegenüber der Hegelschen Position darstellt.“ Hans-Christoph Schmidt am Busch. Hegels Begriff der Arbeit, 19, 96, 104.

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Gegendarstellung: Zu den ökonomischen Bedingungen der Rechtsphilosophie

5.1 Einfache Warenzirkulation und Kapital Der bürgerlichen Gesellschaft der Grundlinien entspricht die einfache Warenzirkulation im Kapital. In beiden Systemen werden Gebrauchsgüter ausgetauscht, die auf gesamtgesellschaftlichem Maßstab produziert und als Privateigentum über Verträge vermittelt getauscht werden. Die Differenz zwischen beiden Systemen ist zunächst eine Differenz im Begriff der zu tauschenden Güter, der Ware. Die Ware ist die Elementarform des Reichtums derjenigen Gesellschaften, „in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht.“5 Die erste Bestimmung der Ware ist es danach, die spezifische Erscheinungsform einer geschichtlich eingrenzbaren Gesellschaftsformation zu sein, so daß bereits im ersten Satz des Kapitals der spezifische Unterschied zur Rechtsphilosophie Hegels deutlich wird. Marx ist es nicht um die Entwicklungsgestalten des Begriffs zu tun, sondern um die Gesetze einer bestimmten ökonomischen Epoche. Diese Epoche unterscheidet sich unter anderem darin von anderen vorangegangen Epochen, daß die Gesellschaften gegeneinander juristische und ökonomische Einheiten bilden, die aber zugleich auch untereinander in Kontakt stehen – sei dieser kooperativ oder konkurrierend. Die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise im Kapital unterstellt die historische Existenz der modernen Nationalstaaten und die damit verbundenen rechtlichen Garantien des Privateigentums, während in den Grundlinien das Privateigentum ontologisch bestimmt ist und der Staat erst das Resultat der rechtsphilosophischen Entwicklung ist.6 Die Ware ist nur in einer Hinsicht Gebrauchsding, in einer anderen ist sie die Inkarnation des zu bestimmenden gesellschaftlichen Verhältnisses: Sie ist Gebrauchswert und Tauschwert, die Grundlage des stofflichen Reichtums ebenso wie Träger des Werts. Wert und stofflicher Reichtum waren von Hegel zwar funktional, aber nicht spezifisch unterschieden worden. Der Wert diente der quantitativen und qualitativen Vergleichbarkeit unterschiedener und auszutauschender Gebrauchsgüter und sollte nach Hegel durch die Brauchbarkeit einer Sache bestimmt sein.7 Aber in der Durchführung dieses Wertbegriffs zeigte sich das grundlegende Problem, daß der Wert entweder alle Waren miteinander vergleichbar macht, dann kann er nicht auf den Gebrauchs- und Natureigenschaften der Güter beruhen, denn darin unterscheiden sie sich. Oder der Wert beruht auf einer allen gemeinsamen Eigenschaft, dann bleibt nach den Bestimmungen Hegels nur die ontologische Bestimmung, Eigentum zu sein, die aber nicht quantifizierbar ist. Deshalb er5 6

7

Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 86. „Die verschiednen Momente der ursprünglichen Akkumulation verteilen sich nun, mehr oder minder in zeitlicher Reihenfolge, namentlich auf Spanien, Portugal, Holland, Frankreich und England. In England werden sie Ende des 17. Jahrhunderts systematisch zusammengefaßt im Kolonialsystem, Staatsschuldensystem, modernen Steuersystem und Protektionssystem. Diese Methoden beruhn zum Teil auf brutalster Gewalt, z. B. das Kolonialsystem. Alle aber benutzten die Staatsmacht, die konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft, um den Verwandlungsprozeß der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern und die Übergänge abzukürzen. Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz.“ Ebd., 779. Vgl. S. 216 ff. in dieser Arbeit.

Einfache Warenzirkulation und Kapital

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schließt Marx die Wertsubstanz als eine spezifisch gesellschaftliche Eigenschaft der Waren, worin sie vergleichbar und quantifizierbar sind – die gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeitszeit: „Die Arbeit jedoch, welche die Substanz der Werte bildet, ist gleiche menschliche Arbeit, Verausgabung derselben menschlichen Arbeitskraft. Die gesamte Arbeitskraft der Gesellschaft, die sich in den Werten der Warenwelt darstellt, gilt hier als eine und dieselbe menschliche Arbeitskraft, obgleich sie aus zahllosen individuellen Arbeitskräften besteht. Jede dieser individuellen Arbeitskräfte ist dieselbe menschliche Arbeitskraft wie die andere, soweit sie den Charakter einer gesellschaftlichen Durchschnitts-Arbeitskraft besitzt und als solche gesellschaftliche Durchschnitts-Arbeitskraft wirkt, also in der Produktion einer Ware auch nur die im Durchschnitt notwendige oder gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit braucht. Gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist Arbeitszeit, erheischt, um irgendeinen Gebrauchswert mit den vorhandenen gesellschaftlich-normalen Produktionsbedingungen und dem gesellschaftlichen Durchschnittsgrad von Geschick und Intensität der Arbeit darzustellen. Nach der Einführung des Dampfwebstuhls in England z. B. genügte vielleicht halb so viel Arbeit als vorher, um ein gegebenes Quantum Garn in Gewebe zu verwandeln. Der englische Handweber brauchte zu dieser Verwandlung in der Tat nach wie vor dieselbe Arbeitszeit, aber das Produkt seiner individuellen Arbeitsstunde stellte jetzt nur noch eine halbe gesellschaftliche Arbeitsstunde dar und fiel daher auf die Hälfte seines frühern Werts.“8

Wertbildende Arbeit, da sie die Bedingung der Vergleichbarkeit aller Waren ist, kann nur als abstrakte Arbeit gelten, d. h. daß nicht das Resultat der Arbeit wertbildend wirkt, sondern der mühevolle Prozeß selbst bildet Wert, Arbeit als Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv überhaupt. Entsprechend kann auch die in die Ware eingegangene Qualität der Arbeit nur im Durchschnitt relevant sein: „Kompliziertere Arbeit gilt nur als potenzierte oder vielmehr multiplizierte einfache Arbeit, so daß ein kleineres Quantum komplizierter Arbeit gleich einem größeren Quantum einfacher Arbeit.“ 9 Meßbar ist die Arbeit, da sie in der Zeit stattfindet. Aber auch die Arbeitszeit gilt nur als im gesellschaftlichen Durchschnitt notwendige Arbeitszeit. Eine Ware wird nicht dadurch wertvoller, daß der Arbeitende sich bei der Herstellung mehr Zeit läßt, als im gesellschaftlichen Durchschnitt nötig wäre. Der zu Beginn des Kapitals noch abstrakte Begriff der gesellschaftlich notwendigen Durchschnittsarbeit weist bereits über sich hinaus, da es sich um einen dynamischen Begriff handelt. Der gesellschaftliche Durchschnitt wird beständig und praktisch hergestellt. Dieser Begriff ist also kein marxologisch-methodisches Abstraktum, sondern ein an der ökonomischen Praxis gebildeter wie dieselbe bestimmender Begriff. Das zeigt sich zunächst an der Wertformanalyse, in der Marx zeigt, daß die Wertsubstanz, die gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeit, im Geld erstens vergegenständlicht ist, und zweitens eine ihrer gesamtgesellschaftlichen Funktion adäquate Form annimmt. Die Geldware erweist sich als eine aus der Warenwelt ausgeschlossene Ware, wie z. B. das 8 9

Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 53. Ebd., 59. Zu der Frage, wie sich das Verhältnis von einfacher und komplizierter Arbeit als gesellschaftlicher Durchschnitt herstellt vgl. Heiko Vollmann, „Das Begriffspaar einfache und komplizierte Arbeit in der Marxschen Werttheorie.“ 2007. http://www.gi-hannover.de/schriften/ texte-download/. (Zugriff: 10.6.2012)

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Gegendarstellung: Zu den ökonomischen Bedingungen der Rechtsphilosophie

Gold, in der alle anderen Waren ihren Wert gemeinschaftlich ausdrücken, ihre Wertform muß „daher gesellschaftlich gültige Form sein.“10 Obwohl die Geldware selbst gegenständlich ist und einen Gebrauchswert hat, fungiert sie nur als Quantum einer Sache, nicht aber hinsichtlich ihrer Gebrauchseigenschaften. Gold kann sowohl kariöse Zähne füllen, wie auch als Tauschmittel dienen. Wenn es aber als Tauschmittel dient, dann gilt es nur als Ausdruck abstrakt menschlicher Arbeit. Dadurch wird Gebrauchswert zur Erscheinungsform des Werts; konkrete Arbeit wird zum Ausdruck von abstrakt menschlicher Arbeit und Privatarbeit wird zum Ausdruck von Arbeit in unmittelbar gesellschaftlicher Form. Die Funktionen des Geldes entspringen zunächst aus dem einfachen Austausch von Waren. Geld fungiert nicht nur als das Maß der Werte und als Zirkulationsmittel, sondern kann außerdem aufgeschatzt werden und als Zahlungsmittel und Weltgeld dienen. Diesem spekulativen Schluß auf den Wert und dessen Erscheinungsform als Bedingung des Tausches entspricht ein Problem der Praxis des Warentausches, denn „die Waren können nicht selbst zu Markte gehen und sich nicht selbst austauschen.“11 Für einen Warenbesitzer hat seine eigene Ware keinen unmittelbaren Gebrauchswert. Gebrauchswert hat sie für die anderen, sowie andere Waren für ihn Gebrauchswert haben. Im Austausch betrachtet jeder Warenbesitzer seine Ware als universell gültigen Repräsentanten von Wert, an dem alle anderen Waren nur besondere Äquivalente seiner Ware sind. Weil damit aber alle behaupten, daß ihre Ware den universell gültigen Wert repräsentieren, widersprechen sich ihre Forderungen und negieren sich dadurch. Auf diese Weise ließen sich also die Waren nicht miteinander in Beziehung setzen. Eine universell austauschbare Gestalt haben die Waren erst im Geld. Das logisch nicht entscheidbare Dilemma der Warenbesitzer wird praktisch gelöst, indem eine Ware gesellschaftlich zum allgemeinen Äquivalent gemacht wird. „Im Anfang war die Tat.“ 12 Das Wertsein der Waren und die gleiche Gültigkeit aller Waren als Arbeitsprodukte erscheint erst in ihrem Bezug auf das Geld. Es ist die Materiatur des Werts. Das Wesen des Werts, die gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeit, muß erscheinen, sonst stehen sich die Waren als unvergleichbare gegenüber, als bloß Verschiedene. All diese Bestimmungen der Ware und des Geldes sind Bestimmungen der einfachen Warenzirkulation und damit noch kein Ausweis kapitalistischer Produktion, obgleich sie 10 11 12

Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 81. Ebd., 99. Ebd., 101. In Abgrenzung gegen die Methodendebatten, die von Dieter Riedel und Helmut Reichelt geführt wurden, widmet Frieder Otto Wolf dem Problem des historischen Gehaltes des Kapitals eine Untersuchung, die sehr erhellend ist. Er kommt zu folgendem Schluß: „Der systematische Zusammenhang erschließt sich hier ‚rückwärts‘, vom Kapital, über das Geld zur Ware, und lässt sich keineswegs ‚vorwärts‘ ableiten. Das macht eine andere Art der ‚dialektischen Darstellung‘ erforderlich, als die von Hegel vorgeführte, wie sie Marx etwa in seiner Darstellung der Wertformen verwenden konnte. Und damit ist dann auch, bei aller Anerkennung der Bedeutung historischer Faktizitäten, der Versuchung, das Kapital doch irgendwie als eine – wie auch immer verfeinerte und abstraktifizierte – Nacherzählung eines historischen Geschehens zu lesen, die Grundlage entzogen.“ Frieder O. Wolf. „Marxʼ Konzept der Grenzen der dialektischen Darstellung.“ In Das Kapital neu lesen – Beiträge zu einer radikalen Philosophie. Hrsg. v. Jan Hoff u. a. Münster, 2006. 174 f.

Einfache Warenzirkulation und Kapital

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sich von den Bestimmungen Hegels auch eminent unterscheiden, weil ihr Ursprung historisch-gesellschaftlich und nicht ontologisch begründet wird. Trotzdem ist zu fragen, was den spezifisch kapitalistischen Charakter der Warenzirkulation ausmacht? Die Waren sind als Gebrauchswerte qualitativ bestimmt, d. h. aber auch, daß sie über kurz oder lang verbraucht werden und deshalb aus der Zirkulation ausscheiden. Sie werden getauscht, um konsumiert zu werden. „Konsumtion, Befriedigung von Bedürfnissen, mit einem Wort Gebrauchswert ist daher sein [des Kreislaufs Ware-Geld-Ware, M. B.] Endzweck.“13 Anders das Geld. Eine Geldsumme kann nicht konsumiert werden. Sie kann nur hingegeben werden, um neuer Gebrauchswerte habhaft zu werden, oder sie kann um ihrer selbst willen getauscht werden. Dann würde Geld für Ware und Ware für Geld hingegeben und diese Bewegung bliebe tautologisch, wenn die Geldsumme, die aus dem Prozeß zurückfließt, nicht größer wäre als die Summe, die ursprünglich in den Prozeß hineingegeben wurde. Das Geld kann entweder Mittel für die Vermittlung der Bedürfnisse mit den Waren sein, wie Hegel es in den Grundlinien und Marx in der einfachen Warenzirkulation unterstellt hatte, oder die Waren können umgekehrt Mittel für die Aneignung von Geld sein. „In der Tat aber wird der Wert hier das Subjekt eines Prozesses, worin er unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Ware seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst als ursprünglichem Wert abstößt, sich selbst verwertet. Denn die Bewegung, worin er Mehrwert zusetzt, ist seine eigne Bewegung, seine Verwertung also Selbstverwertung. Er hat die okkulte Qualität erhalten, Wert zu setzen, weil er Wert ist. Er wirft lebendige Junge oder legt wenigstens goldne Eier.“14

Diese Verlagerung des Zweckbegriffs ist entscheidend, denn damit wandelt sich nicht nur der Begriff der einfachen Zirkulation in den Begriff des Kapitals. Vielmehr liegt darin eine umfassende Veränderung der gesamten gesellschaftlichen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft bis in die technische Organisation der Arbeits- und Zirkulationsprozesse hinein. So ist z. B. die Entwicklung von großer Industrie und Maschinerie nicht – wie Hegel meint – das Produkt der Arbeitsteilung im Allgemeinen, sondern sie ist ureigenstes Produkt der kapitalistischen Ökonomie und durch den Trieb, die Mehrwertproduktion durch Produktivkraftsteigerung zu erhöhen, motiviert.15 Zunächst verändert sich aber das Verhältnis von Subjekt und Objekt. Die Rechtsperson Hegels mit ihren morali13 14

15

Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 164. Ebd., 168 f. Schmidt am Busch kritisiert Marx, dessen „These, daß unter kapitalistischen Produktionsbedingungen fremde Arbeitskraft unentgeltlich angeeignet beziehungsweise ausgebeutet“ werde, „auf der Marxschen Arbeitswertlehre“ basiere, „gegen die sich sowohl philosophische als auch ökonomietheoretische Einwände formulieren lassen.“ Hans Christoph Schmidt am Busch. Hegels Begriff der Arbeit, 123. Mit dem Marx des Kapitals ist dagegenzuhalten, daß der Grund des Ausbeutungsverhältnisses nicht die Arbeitswertlehre ist, sondern Privateigentum und die Akkumulation von Kapital. Die sog. Arbeitswertlehre ist zwar notwendiger Begriff zur Darstellung der Gesetze der Kapitalakkumulation, aber explizit nicht deren Grund. Der Grund ist historisch zu fassen: die ursprüngliche Akkumulation. Genaugenomen geht es bei der relativen Mehrwertproduktion um die Entwertung der Ware Arbeitskraft durch die Entwertung der zu deren Reproduktion notwendigen Lebensmittel. Diese Bestimmungen sind aber hier noch nicht eingeholt. Vgl. Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 331 ff.

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Gegendarstellung: Zu den ökonomischen Bedingungen der Rechtsphilosophie

schen und ökonomischen Bedürfnissen, sofern sie überhaupt jemals mehr als ein spekulativer Begriff war, ist nicht länger der Zweck der Veranstaltung, sondern die Rechtsperson wird das mit Willen und Bewußtsein begabte Kapital, d. h. die Rechtsperson unterstellt ihre praktischen Zwecke der Verwertung des Werts. „Der Gebrauchswert ist also nie als unmittelbarer Zweck des Kapitalisten zu behandeln. Auch nicht der einzelne Gewinn, sondern nur die rastlose Bewegung des Gewinnens.“16 Bislang bleibt aber dieser Kapitalbegriff noch abstrakt, denn mit den Begriffen der einfachen Warenzirkulation ist es nicht möglich zu erklären, woraus sich die rastlose Bewegung des Gewinnens speist. Da es eine grundlegende Bedingung des Vertragsverhältnisses in der einfachen Warenzirkulation ist, daß die Waren zu äquivalenten Werten getauscht werden, kann der Mehrwert nicht aus der Zirkulationssphäre stammen. Auch die Übervorteilung von Vertragspartnern kann nur einen individuellen Gewinn erklären. Das Kapital ist aber eine gesamtgesellschaftliche Bestimmung, so daß der Ursprung des Mehrwerts legal und prinzipiell erklärt werden muß. Andererseits muß die Verwertung aber auch innerhalb der Zirkulation stattfinden, denn ein Produzent kann seinen Produkten zwar mehr Wert hinzufügen, indem er mehr arbeitet, aber er muß diesen Wert auch innerhalb der Zirkulation realisieren. Die Verwertung des Werts ist auf den Austausch verwiesen: „Kapital kann also nicht aus der Zirkulation entspringen, und es kann ebensowenig aus der Zirkulation nicht entspringen. Es muß zugleich in ihr und nicht in ihr entspringen. Ein doppeltes Resultat hat sich also ergeben.“17 Die Bestimmung der bürgerlichen Gesellschaft in den Grundlinien führte auf einen Widerspruch, den Hegel letztendlich nicht erklären konnte, und zwar den Widerspruch, daß alle Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft über die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Reproduktion verfügen, indem sie Privateigentümer über ihr jeweiliges Familienvermögen sind, aber dennoch nicht allen Mitgliedern der Gesellschaft ihre Reproduktion unter den gegebenen Marktbedingungen auch tatsächlich gelingt. Bei allem Reichtum ist die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug. Die Bestimmung des Kapitalbegriffs bei Marx geht einerseits von derselben Voraussetzung aus wie die Bestimmung der bürgerlichen Gesellschaft bei Hegel, nämlich der einfachen Warenzirkulation. Gleichzeitig modifiziert Marx deren Bestimmung entscheidend, indem er ihren Ursprung nicht philosophisch begreift, sondern geschichtlich, und zweitens, indem er die Unmöglichkeit erweist, die hinreichenden Bedingungen kapitalistischer Produktion rein analytisch erschließen zu können. Weder der Zweck der Verwertung des Werts, noch die dazu nötigen Mittel sind Bestimmungsmomente der einfachen Warenzirkulation. Marx kann dadurch zeigen, daß vom Standpunkt des Kapitals die Bestimmungen der einfachen Warenzirkulation auf den Kopf gestellt werden. Zwar bleibt die einfache Warenzirkulation ein Moment des Gesamtprozesses, aber sie verliert den Charakter, der ökonomischen Versorgung der bourgeois zu dienen. Sie ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel für die Kapitalverwertung. Die einfache Warenzirkulation stellt also keine hinreichende Erklärung kapitalistischer Produktion dar.18 16 17

Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 168. Ebd., 181 f.

Die Ware Arbeitskraft

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5.2 Die Ware Arbeitskraft Die Scheidung von Gebrauchs- und Tauschwert, Teilung der Arbeit und Waren- und Geldzirkulation sind Erscheinungen, die den verschiedensten ökonomischen Gesellschaftsformationen gemein sind. Die Existenzbedingung kapitalistischer Produktion ist hingegen das massenhafte Vorhandensein der Ware Arbeitskraft auf dem Markt. „Seine [des Kapitals, M. B.] historischen Existenzbedingungen sind durchaus nicht da mit der Waren- und Geldzirkulation. Es entsteht nur, wo der Besitzer von Produktions- und Lebensmitteln den freien Arbeiter als Verkäufer seiner Arbeitskraft auf dem Markt vorfindet, und diese eine historische Bedingung umschließt eine Weltgeschichte. Das Kapital kündigt daher von vornherein eine Epoche des gesellschaftlichen Produktionsprozesses an.“19 Der Kapitalist will sein Kapital verwerten und findet mit der Arbeitskraft auf dem Warenmarkt eine besondere Ware vor, die ihm diese Verwertung ermöglicht: Der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft liegt in der Mehrwertproduktion. „Unter Arbeitskraft oder Arbeitsvermögen verstehen wir den Inbegriff der physischen und geistigen Fähig18

19

Die Stellung der ersten drei Kapitel des Kapitals stellt eine zentrale Frage in der Marxinterpretation dar. Einen ausführlichen Überblick über die Diskussion gibt Ingo Elbe. Marx im Westen: die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965. Berlin, 2008. Das Spektrum der Auslegungen reicht von streng analytischen bis zu historisch-empiristischen Ansätzen. Die Marxinterpretation hier kann sich nur oberflächlich auf die Auseinandersetzung mit diesen Diskussionen beziehen. Wichtig scheint jedoch der Hinweis zu sein, daß die Kritik der politischen Ökonomie hier weder abgetrennt von ihrem Gegenstand noch von ihrem Begriff betrachtet werden soll. Die Darstellung im Kapital zeichnet sich gerade dadurch aus, durch das Aufzeigen der Unmöglichkeit einer geschlossenen systematischen Ableitung des Wertbegriffs auf den Grund dieses Scheiterns zu schließen. Dieser Grund ist geschichtlich und ist der Wertformanalyse somit ebenso vorausgesetzt. Die Wertformanalyse ist keine analytisches Abstraktum, sondern Analyse einer bestimmten historisch gegebenen ökonomischen Konstellation; andererseits ist sie nicht empirisch, sondern schließt auf die Bedingung der Möglichkeit eines bestimmten gegebenen Zustandes. Begriff und Gegenstand sind nicht positiv und unmittelbar aufeinander bezogen wie im Marxismus-Leninismus, noch etwas ganz anderes. Begriff und Gegenstand sind kritisch aufeinander bezogen. Die Kritik der politischen Ökonomie stellt damit in gewisser Hinsicht die Lösung des zuvor philosophisch aufgezeigten Problems dar, einerseits Objektivität nur begrifflich bestimmen zu können, aber diese begriffliche Darstellung nicht am Einheitsanspruch des Denkens, sondern an der objektiven Struktur orientieren zu müssen, wenn die Darstellung nicht idealisierend oder apologetisch werden soll. Einen solchen Standpunkt dann nach einer bestimmten Schule zu benennen ist in gewisser Hinsicht problematisch, weil mit der Frage nach der Schule die Frage nach dem wissenschaftlichen und kritischen Kern einer Argumentation erledigt oder nur noch Beiwerk ist. Auch besteht die Gefahr, die Interpretation der ersten drei Kapitel zum einzigen Gegenstand der Auseinandersetzung mit dem Kapital zu machen (wie z. B. Dieter Wolf. Der dialektische Widerspruch im Kapital: ein Beitrag zur Marxschen Werttheorie. Hamburg, 2002.) Damit gerät erstens aus dem Blick, daß Marx den ersten Band des Kapitals nicht der Analyse der einfachen Warenzirkulation, sondern dem kapitalistischen Produktionsprozeß gewidmet hat und zweitens, daß dem ersten Band noch zwei weitere folgen. Insofern die Bestimmungen des zweiten und dritten Bandes hier ebenfalls nicht untersucht werden, bleibt auch die Darstellung hier unvollständig. Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 184. Lange, der sich auf die Grundrisse bezieht, bemerkt, daß „Marx so ausdrücklich Wert auf die Feststellung legt, die Arbeit selber produziere den Reichtum als sich auf sich selbst beziehenden, d. h. als Subjekt,“ und hält das für einen Beleg seiner Interpretationsthese, „daß in der Konstruktion einer Subjektivität des Kapitals eine kritische Pointe steckt, die sagen will, daß in der vom Kapital beherrschten Epoche der Produktionsgeschichte Sachen und Dinge Subjekte seien und die Subjektivität der Personen verhindern.“ Ernst M. Lange. Das Prinzip Arbeit, 219. Diese kritische Pointe präzisiert Marx im Kapital, wenn er nicht die Arbeit, sondern die Arbeitskraft als Quelle des Reichtums bezeichnet.

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Gegendarstellung: Zu den ökonomischen Bedingungen der Rechtsphilosophie

keiten, die in der Leiblichkeit, der lebendigen Persönlichkeit eines Menschen existieren und die er in Bewegung setzt, sooft er Gebrauchswerte irgendeiner Art produziert.“20 Der Träger der Arbeitskraft ist einerseits juristisch vollwertiges Mitglied der Gesellschaft, also Person.21 Die Arbeitskraft wird als Vertragspartner anerkannt und begegnet den Kapitalisten auf dem Markt als Verkäufer, dieser ist hingegen Käufer. Hegel wie Marx sind sich also darin einig, daß der juristische Status der Person für alle Teilnehmer der Gesellschaft gleichermaßen gilt und ihnen die Verfügung über ihr Privateigentum sichert.22 Dieser Status schließt damit Arbeitsverhältnisse, in denen die Arbeitskräfte versklavt sind, kategorisch aus. Als Sklaven würden die Menschen nicht nur ihre Arbeitskraft verkaufen, sondern auch das Verfügungsrecht darüber. Das muß aber für die bürgerliche Gesellschaft ausgeschlossen werden, denn sonst stünden sich Käufer und Verkäufer nicht mehr als gleichberechtigte Vertragspartner in der Zirkulation gegenüber. So sehr aber die Arbeiter über ihr Arbeitsvermögen als Eigentum verfügen, sowenig verfügen sie über die gegenständlichen Mittel, die es ihnen ermöglichen würden, selbständig Waren zu produzieren.23 Zwischen den Privateigentümern ist also nicht hinsichtlich der juristischen, aber hinsichtlich der Produktionsbedingungen zu differenzieren. Während alle Agenten den Status der Rechtsperson haben, verfügt nur ein Teil der Eigentümer über Produktionsmittel, während der Arbeiter doppelt frei ist – „frei in dem Doppelsinn, daß er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, daß er andrerseits andre Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen.“24 Der Wert der Ware Arbeitskraft ist durch die zur ihrer Reproduktion notwendigen Kosten bestimmt, d. h., durch die Kosten für die Lebensmittel der Arbeitskraft selbst, wie Nahrungsmittel und Wohnung, aber auch der Familie, wie der Ausbildung des Arbeiters und seiner Kinder. Diese Kosten müssen in den Wert der Ware Arbeitskraft eingehen, weil der Erhalt der Klasse und damit des Kapitalverhältnisses davon abhängt. Daß heißt daß die Arbeiter, die aktuell Mehrwert produzieren, sich ebenso reproduzieren müssen, wie ihre Kinder, die zukünftig produzieren sollen. Die Reproduktionskosten der Frauen bestimmen den Wert der Ware Arbeitskraft ebenfalls, aber Marx hat das zu einer Zeit geschrieben, als Frauen noch unmündig waren. Sobald sie rechtlich ebenfalls den Status der Mündigkeit erlangen und es gesellschaftlich normal wird, daß Frauen ihr eigenes Geld verdienen, gehen ihre Reproduktionskosten nicht mehr in den Wert der Ware Arbeitskraft ein.25 Da die natürlichen Bedürfnisse und die Mittel ihrer Befriedigung sich 20 21 22 23

24 25

Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 181. Vgl. ebd., 182. Vgl. S. 211 f. dieser Arbeit. Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 182 f. Ebd., 183. In Abgrenzung gegen den dialektischen Materialismus sei darauf hingewiesen, daß mit dieser Bestimmung der Ware Arbeitskraft als ökonomischer Rolle deutlich werden sollte, daß die Leistung Hegels nicht darin liegt, „daß er den Geist als den Arbeiter par excellence auffaßt.“ Peter Ruben, „Wissenschaft als allgemeine Arbeit.“ 20. Die Arbeiter sind kein Begriff, sondern historische Subjekte, die unter bestimmten ökonomischen Bedingungen leben und arbeiten. Ebd. Insofern ist auch die These zu hinterfragen, daß Arbeiten, die nicht unmittelbar vertraglich geregelt sind, wie die Arbeit innerhalb von Haushalten, „von der unter der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise stattfindenden gesellschaftlichen Reproduktion als Akkumulation des Ka-

Die Ware Arbeitskraft

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von Land zu Land und Zeit zu Zeit unterscheiden, geht in die Wertbestimmung der Ware Arbeitskraft ein moralisches bzw. kulturelles Moment ein. „Für ein bestimmtes Land, zu einer bestimmten Periode jedoch, ist der Durchschnitts-Umkreis der notwendigen Lebensmittel gegeben.“26 Hegels Begriff der Rechtsperson hatte eine aufklärerische Intention: Zum einen gegen den abstrakten Freiheitsbegriff Kants, dessen Realisierung nur spekulativ denkbar war, aber auch in Abgrenzung gegen solche ökonomischen Verhältnisse, in denen das Eigentum in den Händen weniger Privilegierter lag, und die erst im Zusammenhang mit der Französischen Revolution abgeschafft wurden: Absolutistische, ständische und feudale Strukturen. Die Rechtsperson ist Privateigentümer über ihren Besitz und damit vor dem willkürlichen Zugriff herrschaftlicher Instanzen geschützt. Das Privateigentum erscheint als die vernünftige Substanz gesellschaftlicher Selbstbestimmung. Aber das Privateigentum blieb zugleich gegen das Was und Wieviel des Besitzes zufällig. Hegel selbst hatte darauf hingewiesen, daß das Mißverhältnis von Rechtsbestimmung und materiellen Existenzbedingungen einigen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft zum existentiellen Verhängnis wird: den Armen. Mit der Unterscheidung zwischen denjenigen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft, die über Produktionsmittel verfügen, und solchen, die nichts als ihre Arbeitskraft besitzen, zeigt Marx, daß die Gleichgültigkeit des Eigentumsbegriffs gegen die materiellen Bedingungen nicht dessen notwendige Bestimmung ist, als vielmehr gemessen am Zweck der Selbstbestimmung vor allem auch dessen Mangel. Freiheit, Gleichheit sind notwendige Bedingungen der Kapitalproduktion, dienen aber nicht dem Zweck der Selbstbestimmung der Subjekte, sondern sind Mittel der Verwertung.27 Bereits im vierten Kapitel weist Marx auf den historischen Ursprung der Verteilung der Produktionsmittel hin – Sie fällt in die Vorgeschichte des Kapitals und wird mit der Festschreibung des Privateigentums und der Gründung der Nationalstaaten – also für unterschiedliche Länder zu unterschiedlichen Zeiten – festgelegt. Sie ist damit innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft gegeben. „Die Natur produziert nicht auf der einen Seite Geld- oder Warenbesitzer und auf der andren bloße Besitzer der eignen Arbeitskräfte. Dies Verhältnis ist kein naturgeschichtliches und ebensowenig ein gesellschaftliches, das allen Geschichtsperioden gemein wäre. Es ist offenbar selbst das Resultat einer vorhergegangenen historischen Entwicklung, das Produkt vieler ökonomischen Umwälzungen, des Untergangs einer ganzen Reihe älterer Formationen der gesellschaftlichen Produktion.“28 Die näheren Umstände die-

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pitals gerade nicht in einem real wirksamen Konzept der gesellschaftlichen Gesamtarbeit erfaßt werden“ Gerd Peter u. Frieder O. Wolf. Welt ist Arbeit, 255. Die Reproduktions- und Ausbildungskosten der nicht arbeitenden Familienmitglieder fließen durchaus in den Wert der Ware Arbeitskraft ein. Die Einbeziehung von Frauen in den Arbeitsmarkt bewirkt deshalb eine Entwertung des Werts der Ware Arbeitskraft. Vgl. Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 185 f. „Und eben weil so jeder nur für sich und keiner für den andren kehrt, vollbringen alle, infolge einer prästabilierten Harmonie der Dinge oder unter den Auspizien einer allpfiffigen Vorsehung, nur das Werk ihres wechselseitigen Vorteils, des Gemeinnutzens, des Gesamtinteresses.“ Ebd., 191 f. Gunnar Hindrichs will aufzeigen, „weshalb es sich bei ihm [Marx, M. B.] um einen Toten handelt“ (Gunnar Hindrichs. „Das Erbe des Marxismus.“ Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54, Nr. 5 (2006), 725) indem er den Gedanken der Aufhebung des Proletariats kritisiert. Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 183.

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Gegendarstellung: Zu den ökonomischen Bedingungen der Rechtsphilosophie

ser historischen Voraussetzung, der gewalttätigen Scheidung von Produzent und Produktionsmittel, analysiert Marx mit dem Begriff der sog. ursprünglichen Akkumulation im 24. Kapitel des Produktionsprozesses des Kapital.29

5.3 Arbeits- und Verwertungsprozeß Die eigentliche Mehrwertproduktion findet in der Produktionssphäre statt. „Der Konsumtionsprozeß der Arbeitskraft ist zugleich der Produktionsprozeß von Ware und von Mehrwert.“30 Unabdingbare Voraussetzung für den kapitalistischen Verwertungsprozeß ist der Arbeitsprozeß, der zunächst unabhängig von jeder bestimmten gesellschaftlichen Form betrachtet wird – Arbeit ist eine Tätigkeit, durch welche die Natur den Bedürfnissen gemäß gemacht wird und die sich von der tierischen Tätigkeit unterscheidet, weil sie bewußt geplant und willentlich gesteuert ist. „Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. [...] Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seine Willen unterordnen muß.“31

Arbeit ist Ausdruck der Freiheit des Arbeitenden und unterscheidet sich deshalb auch von der Tätigkeit der Tiere. Die Tätigkeit von Tieren erscheint zwar in Analogie zur menschlichen als zweckmäßig; sie hat aber keinen Zweck. Tiere sind zwar aufgrund von Erfahrungen und Erinnerungen dazu in der Lage, Verhaltensweisen zu imitieren und zu reproduzieren, auch ist ihnen eine gewisse Spontaneität nicht abzustreiten. Aber sie können die Resultate ihrer Tätigkeit nicht begrifflich antizipieren. Selbst wenn man den Tieren unterstellen wollte, daß sie vor ihrer Tätigkeit bereits eine Vorstellung von dem haben, was sie erreichen wollen, dann wäre diese Vorstellung nur unmittelbar durch die Erfahrung und der mit ihr verbundenen Erinnerung bestimmt, daß durch die Tätigkeit ein bestimmter Mangelzustand, z. B. Hunger, beendet werden kann. Diese Vorstellung ist aber kein Zweck. Das Tun der Tiere ist reflexiv, weil sie sich als lebendige Organismen erhalten, aber davon wissen sie nichts. Das Wissen um die eigene Reflexivität drückt sich im Wissen um die Differenz zwischen mir und der Welt aus. Menschen können ihr Selbstbewußtsein negieren, indem er sich selbst töten. Oder sie können das 29 30 31

Vgl. Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 741 ff. Ebd., 189. Ebd., 192.

Arbeits- und Verwertungsprozeß

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Selbstbewußtsein anderer Menschen negieren, indem sie diese ihren eigenen selbstsüchtigen Zwecken als Mittel herrschaftlich unterwerfen. In der Negation der eigenen körperlichen oder intellektuellen Existenz erscheint der Wille zwar nicht als vernünftiger Wille, aber als Vermögen der Willkür. Tiere sind dagegen unverbesserliche Positivsten – zwar können sie anderes z. B. durch Auffressen negieren. Selbsttötung und Herrschaft, die Negationen beinhalten, die sich reflexiv auf das negierende Subjekt entweder als Individuum oder als Gattungsvermögen zurückbeziehen – sind ihnen wesensfremd. Zweitens ist der Arbeit das Vermögen der Planung unterstellt, das ist das Vermögen, den Prozeß bis in die Details der Ausführung zu durchdenken, bevor sich auch nur ein Finger rührt. Mit dieser reflektierten Anwendung von Material und Werkzeugen ist auch verbunden, aus Fehlern lernen zu können, und die Werkzeuge und Arten der Arbeit weiterzuentwickeln. In der Planung wird etwas vorgestellt, das es zuvor in der Welt nicht gegeben hat, auch wenn es die Welt zugleich als Material und Werkzeug und Gegenstand praktischer Erfahrungen in die Planung einbezieht. Der Ursprung dieses Prozesses, der Wille, bleibt unableitbar.32 Er folgt nicht aus den Naturgesetzen, noch aus dem Lebensprozeß als solchem. Lebensprozesse sind zwar auch reflexiv verfaßt, entspringen aber keinem freien Willen, sondern der geschlechtlichen Vereinigung von Artgenossen. Die Reflexivität der Lebensprozesse ist an die zeitliche Abfolge der körperlichen Prozesse gebunden, während die Willensbestimmung und die Planung vor den in der Zeit ablaufenden Prozessen stattfindet. Sie ist logische Voraussetzung. Der Unterschied zwischen Menschen und Tieren ist also nicht graduell, sondern spezifisch zu bestimmen. Findig könnte dagegen gehalten werden, daß ja niemand weiß, ob die Tiere nicht doch denken können, denn es wäre vorstellbar, daß sie sich mit ihrer heimlichen Vernunftbegabung nur zurückhalten. Dagegen wäre mit dem Argument Hegels einzuwenden, daß das Wesen erscheinen muß, weil es sonst so gut wie nichts ist. Tatsächlich stellt es aber ein Problem dar, daß Zweck und Wille als logische Voraussetzungen der Arbeit weder vom Prozeß noch von der materiellen Gestalt des Arbeitsproduktes zu unterscheiden sind und daher nicht unmittelbar erscheinen. Die metaphysische Kraft des Willens ist nur an seinen kulturellen Wirkungen zu erkennen: Im Unterschied zur individuellen Konsumtion von Lebensmitteln unterscheidet sich die Konsumtion von Arbeitsmitteln darin, daß sie produktiv ist, weil deren Gebrauchswert in das neue Produkt eingeht, während die Gebrauchswerte in der individuellen Konsumtion zwar der Reproduktion des lebendigen Individuums dienen, aber im Gebrauch auch verbraucht werden. Die Verwendung von Werkzeugen ist hier ein objektives Indiz. Tiere verbrauchen, was sie vorfinden, individuell; niemals gehen die Objekte ihrer Begierde als Arbeitsmittel in die Produktion eines neuen Produktes ein. Die Menschen konsumieren die Objekte ihrer Begierde nur teilweise individuell, während ein anderer Teil als Arbeitsmittel, das ebenso Arbeitsprodukt wie der Ausgangspunkt für ein weiteres Produkt ist, produktiv verwendet wird. „Wenn also vorhandne Produkte nicht nur Resultate, sondern auch Existenzbedingungen des Arbeitsprozesses sind, ist andrerseits ihr Hineinwerfen in ihn, also 32

Der ausführlich Nachweis dieser These findet sich in Kapitel 4 ab S. 184 ff. dieser Arbeit.

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Gegendarstellung: Zu den ökonomischen Bedingungen der Rechtsphilosophie

ihr Kontakt mit lebendiger Arbeit, das einzige Mittel, um diese Produkte vergangner Arbeit als Gebrauchswerte zu erhalten und zu verwirklichen.“33 Auf der Ebene der gesamtgesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung hat der produktive Charakter der Arbeit manifeste Folgen: Er ist die Bedingung der Möglichkeit erweiterter Reproduktion und damit auch der Akkumulation von Mehrarbeit: Herrschaft, Kooperation und Arbeitsteilung und die damit einhergehende Produktivkraftsteigerung sind Organisationsweisen produktiver Arbeit, und setzen zudem eine Vergesellschaftung wenigstens auf kleinem Maßstab voraus. Aber auch die Produkte solcher Arbeit, die nicht unmittelbar Konsumierbares hervorbringt, wie die Künste oder die Wissenschaften, und nicht zuletzt die Fähigkeit, auf die Frage nach dem Unterschied zwischen Mensch und Tier zu reflektieren, sind Auswirkungen der menschlichen Vernunft.34 Wenn aber die Arbeit eine Relation zwischen Mensch und Natur ist, die die Vernunftbegabung der Menschen voraussetzt, dann ist auch die Bezeichnung des Arbeitsprozesses als ewiger Naturnotwendigkeit differenzierter zu betrachten: „Der Arbeitsprozeß, wie wir ihn in seinen einfachen und abstrakten Momenten dargestellt haben, ist zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam.“35

Das Subjekt der Arbeit ist der einzelne Mensch als soziales Wesen, so daß die Notwendigkeit zu arbeiten an die Existenz von Menschen gebunden ist, während Naturnotwendigkeiten gegen die menschliche Existenz gleichgültig sind. Naturnotwendig für die Menschen ist deren biologische Reproduktion, nicht aber deren gesellschaftliche Organisation, die das Vermögen zur Freiheit voraussetzt und historisch-kritisch bestimmt ist. Zwischen den Extremen der biologi33 34

35

Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 189. Der dialektische Materialismus verkehrt Grund und Folge. So z. B. Peter Ruben: „Wir vertreten also die These: Nicht aus der Voraussetzung des Verstands erwächst die Arbeit, sondern aus der Voraussetzung der Arbeit wird der Verstand erzeugt. Einmal entstanden, gehört der Verstand dann zu den notwendigen Bedingungen der Arbeit. Niemals aber macht er ihr Wesen aus.“ Peter Ruben. „Wissenschaft als allgemeine Arbeit.“ 23. Mit der planvollen Tätigkeit ist aber eine spezifische Differenz, kein gradueller oder historischer Unterschied zwischen menschlicher und tierischer Tätigkeit bezeichnet. Versuche, die die Genese der menschlichen Arbeit aus der tierischen Tätigkeit ableiten wollen, sind deshalb grundsätzlich falsch, weil sie die spezifische Differenz, die Unableitbarkeit des Vermögens der Freiheit aus der Unfreiheit ignorieren. Die physiologische und kulturelle Entwicklung von Organen und Werkzeugen ist zwar die notwendige Bedingung realisierter Freiheit, aber sie ist nicht deren hinreichender Grund. Das Vermögen zur Freiheit ist logisch schon vorausgesetzt, damit es sich im Resultat auch hervorbringen kann, anders als eine evolutionär gedachte Entwicklung, die einzig in sich – also naturwissenschaftlich und biologisch begründet sein soll. Wenn dann die Evolution oder Dialektik der Natur oder wie es auch genannt wird auf gesellschaftliche Organisationsformen übertragen werden, dann werden die in ihrer Wechselbeziehung auch unterschiedenen Gegenstandsbereiche – Natur und Freiheit – miteinander verwechselt: Die Natur wird zum Subjekt, die Freiheit zum naturwissenschaftlichen Phänomen. Eine solche Ableitung ist deshalb im Kern teleologisch: Tierische Tätigkeit erscheint nur einem Subjekt als zweckmäßig, welches sich den Zweck setzt, die Tätigkeit der Tiere selbst zu erklären und dieses Subjekt ist nicht das Tier. Darstellungsversuche dieser Art durchziehen die gesamte Moderne, in den rechten wie linken Lagern gleichermaßen. Stellvertretend seien genannt: Charles Darwin, Ernst Haeckel. Friedrich Engels. „Anteil der Arbeit...“; Georg Lukács. Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 198.

Arbeits- und Verwertungsprozeß

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schen Reproduktion und der Freiheit steht die Produktivkraftentwicklung, die bislang nur als das Resultat von Herrschaftsverhältnissen in Erscheinung getreten ist. Gelänge es, gesellschaftliche Organisation und Produktivkraft in den Dienst der Menschen zu stellen, dann wäre zwar die notwendige Arbeit nicht abgeschafft, aber Ausdruck von Selbstbestimmung. Aber ein solches Ziel bleibt ohne die Kritik seiner historischen Hindernisse abstrakt utopisch. Diese Einsicht war für Marx Grund genug, die Kritik der politischen Ökonomie zu schreiben.36 Der Arbeitsprozeß dient der Produktion von Gebrauchswerten und ist deshalb qualitativ bestimmt, so auch die stofflichen Elemente der Arbeit – Werkzeuge und Rohstoffe. Sie sind zumeist selbst schon Produkte vorangegangener Prozesse, also selbst schon Arbeitsprodukte. Der Arbeitsprozeß, der Gebrauchswerte hervorbringt, ist die notwendige Bedingung des kapitalistischen Arbeitsprozesses, aber nicht dessen hinreichender Grund.37 Verwertbare Arbeit findet zwar auf der Grundlage qualitativer Arbeit statt, macht sich deren Eigenschaften und Wirkungen zu nutze, aber nicht, ohne sie zum Zweck der Verwertung ins Verhältnis zu setzen: Verwertung ist quantitativ bestimmt, nicht qualitativ. Wertbildend ist nur gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeit – sowohl die Dauer als auch die Qualität betreffend. Obwohl aber der Verwertungsprozeß nur auf die quantitative Bestimmung des Arbeitsprozesses ausgerichtet ist, kann er nicht in der reinen Kategorie Quantität stattfinden, sondern ist Moment der qualitativ bestimmten Arbeit. Am Ende des Produktionsprozesses muß der Kapitalist eine Ware in den Händen halten, deren Wert er durch Verkauf realisieren kann. Im Arbeitsprozeß als Wertbildungsprozeß wird der Wert der Produktionsmittel und der Arbeitskraft erhalten. Um darüber einen Mehrwert im Produkt zu vergegenständlichen, muß die Arbeitszeit über den Zeitpunkt des Arbeitstages, zu dem die Arbeitskraft ein Äquivalent des Werts der Produktionsmittel wie der gezahlten Arbeitskraft produziert hat, fortdauern. Ab diesem Zeitpunkt wird der Wertbildungsprozeß Verwertungsprozeß.38 Dieses Mehrprodukt entsteht unter der Bedingung des Privateigentums. Damit gehören alle Bestandteile wie Rohstoffe, Maschinerie, aber vor allem auch das Arbeitsprodukt, in dem die Mehrarbeit vergegenständlicht ist, dem Kapitalisten. Der Gebrauchswert der Arbeitskraft ist ebenso ein Bestandteil des durch den Kapitalisten initiierten Produktionsprozesses wie die Produktionsmittel. Zwar wird der Arbeiter am Ende des Arbeitstages zu seinem Wert entlohnt, aber er erhält keinen Gegenwert zu dem von ihm produzierten Mehrwert. Damit finden die Arbeiter nicht nur einen gesellschaftlichen Zustand vor, in dem die Verteilung 36

37

38

„Auch wenn Marxens Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer politischen Ökonomie als eine Utopie ex negativo bezeichnet werden kann, vermeiden Marx und auch Engels in ihren Schriften eine apologetische Verwendung des Utopiebegriffs. Utopie galt ihnen als ein Wort mit abschätziger Konnotation, mit dem sie unwissenschaftliche und unrealistische Träumerei verbanden, die sich noch in den Gestaltungen von Saint-Simon, Proudhon, Fourier oder Owen im Übergang zur Wissenschaft befand und – zumindest für Engels – einem geistigen Ausdruck von einem noch ‚unreifen Stand der kapitalistischen Produktion‘, das heißt der unreifen Klassenlage entsprach.“ Tatjana Freytag u. Marcus Hawel. „Arbeit und Utopie – Einleitung.“ In Arbeit und Utopie: Oskar Negt zum 70. Geburtstag. Frankfurt a. M., 2004, 5. http://www.sopos.org/aufsaetze/ 43399e35ab39c/1.phtml. (Zugriff: 10.6.2012) Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 200 f. „Er [der Kapitalist, M. B.] will nicht nur einen Gebrauchswert produzieren, sondern eine Ware, nicht nur Gebrauchswert, sondern Wert, und nicht nur Wert, sondern auch Mehrwert.“ Ebd., 207.

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Gegendarstellung: Zu den ökonomischen Bedingungen der Rechtsphilosophie

des Privateigentums an Produktionenmittel bereits gegeben ist, und der sie nötigt, in das Vertragsverhältnis einzuwilligen, weil sie bei der Verteilung leer ausgegangen sind, sondern sie beenden das Vertragsverhältnis auch, ohne die Mittel zu erhalten, mit denen sie Produktionsmittel anschaffen könnten.

5.4 Methoden der Produktivkraftsteigerung Der Zweck der kapitalistischen Produktion ist die Mehrwertproduktion und der Mehrwert wird durch die Arbeitskraft in dem Teil ihrer Arbeitszeit produziert, in der sie über das Maß zur Reproduktion der Produktionskosten nötigen Zeit hinausarbeitet. Wenn die Arbeit einmal formell unter das Kapitalverhältnis subsumiert ist, wird damit der absolute Mehrwert gesetzt, indem das Verhältnis von notwendiger Arbeit zur Mehrarbeit festgelegt wird. Die Größe des Mehrwerts hängt von diesem Zeitpunkt an von der absoluten und der relativen Ausdehnung der Mehrarbeit ab. Die Rate des Mehrwerts ist durch das Verhältnis bestimmt, worin der in Arbeitskraft umgesetzte Teil des Kapitals zu dem von der Arbeitskraft produzierten Mehrwert steht.39 Der Wert der Produktionsmittel wird also in die Rate des Mehrwerts nicht mit einbezogen. D. h., daß sämtliche Methoden, die Masse des Mehrwerts zu erhöhen, voraussetzen, daß die Arbeitskraft entweder absolut mehr arbeitet, oder ihr Wert so gesenkt wird, daß dadurch der Teil des Arbeitstages, der ihrer eigenen Reproduktion dient, möglichst verringert wird. „Durch Verlängrung des Arbeitstags produzierten Mehrwert nenne ich absoluten Mehrwert; den Mehrwert dagegen, der aus Verkürzung der notwendigen Arbeitszeit und entsprechender Verändrung im Größenverhältnis der beiden Bestandteile des Arbeitstags entspringt – relativen Mehrwert.“40

Hegel hatte in den Grundlinien das Bedürfnis zum Maßstab der Entwicklung der ökonomischen Sphäre erklärt und sämtliche von ihm dort benannten technischen und organisatorischen Entwicklungen wie die Arbeitsteilung und die Maschinerie auf die dem Be39

40

Marx bestimmt die Begriffe variables/konstantes Kapital und Rate des Mehrwerts wie folgt: „Der Teil des Kapitals also, der sich in Produktionsmittel, d. h. in Rohmaterial, Hilfsstoffe und Arbeitsmittel umsetzt, verändert seine Wertgröße nicht im Produktionsprozeß. Ich nenne ihn daher konstanten Kapitalteil, oder kürzer: konstantes Kapital. Der in Arbeitskraft umgesetzte Teil des Kapitals verändert dagegen seinen Wert im Produktionsprozeß. Er reproduziert sein eignes Äquivalent und einen Überschuß darüber, Mehrwert, der selbst wechseln, größer oder kleiner sein kann. Aus einer konstanten Größe verwandelt sich dieser Teil des Kapitals fortwährend in eine variable. Ich nenne ihn daher variablen Kapitalteil, oder kürzer: variables Kapital. Dieselben Kapitalbestandteile, die sich vom Standpunkt des Arbeitsprozesses als objektive und subjektive Faktoren, als Produktionsmittel und Arbeitskraft unterscheiden, unterscheiden sich vom Standpunkt des Verwertungsprozesses als konstantes Kapital und variables Kapital.“ Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 223. Und: „Seine proportionelle Größe [des Mehrwerts, M. B.] aber, also das Verhältnis, worin das variable Kapital sich verwertet hat, ist offenbar bestimmt durch das Verhältnis des Mehrwerts zum variablen Kapital oder ist ausgedrückt in m/v. Im obigen Beispiel also in 90/90 = 100 %. Diese verhältnismäßige Verwertung des variablen Kapitals oder die verhältnismäßige Größe des Mehrwerts nenne ich Rate des Mehrwerts.“ Ebd., 229. Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 334.

Methoden der Produktivkraftsteigerung

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dürfnis eigene Dynamik zur Ausdifferenzierung zurückgeführt. Marx erschließt hingegen eine ökonomische Begründung dieser Dynamik: Die Verlängerung des Arbeitstages und die Entwertung der Ware Arbeitskraft sind die eigentlichen Hebel der gesellschaftlichen und ökonomischen Produktivkraftentwicklung in der kapitalistischen Ära. „Es ist daher der immanente Trieb und die beständige Tendenz des Kapitals, die Produktivkraft der Arbeit zu steigern, um die Ware und durch die Verwohlfeilerung der Ware den Arbeiter selbst zu verwohlfeilern.“41 Produktivkraftentwicklung dient der Verwertung der Produktion und Akkumulation von Mehrwert und nicht der Selbstbestimmung des Willens. Damit ist zugleich ausgeschlossen, daß die organisatorischen und technischen Erfindungen der kapitalistischen Ära, gegen die emanzipatorischen Möglichkeiten, die in ihnen liegen, zu einer Verkürzung des Arbeitstages und damit zu einer Freistellung der Menschen führen, in denen sie sich mehr als nur Zeit zur Reproduktion ihrer Arbeitskraft geben, nämlich den Raum für die individuelle und gesellschaftliche Selbstbestimmung.

a) Verlängerung des Arbeitstages Die historische Methode der absoluten Mehrwertsteigerung ist die Verlängerung des Arbeitstages: Während die notwendige Arbeitszeit zu einer gegebenen Zeit in einer gegebenen Gesellschaft ein bestimmtes Quantum des Tages einnimmt, kann die für Mehrarbeit verausgabte Zeit proportional vergrößert werden, indem die absolute Arbeitszeit verlängert wird, also der Arbeitstag keine 10 Stunden dauert, sondern z. B. 12. „Der Arbeitstag ist daher bestimmbar, aber an und für sich unbestimmt.“42 Die Dauer des Arbeitstages ist einerseits zeitlich begrenzt. Sie kann nicht über 24 Stunden dauern. Zum anderen ist sie durch die physischen und moralischen Bedürfnisse des Arbeiters beschränkt. Er muß schlafen, essen, sich kleiden, waschen etc. und er braucht Zeit, um geistige und soziale Bedürfnisse zu befriedigen. Kapitalist und Arbeiter stehen in einem Vertragsverhältnis zueinander und berufen sich auf ihr jeweiliges Vertragsinteresse: Der Kapitalist hat die Arbeitskraft gekauft und daher das Recht, sie während eines Arbeitstages zu gebrauchen. Weil es ihm zugleich um die Mehrwertproduktion zu tun ist, neigt er dazu, die Länge des Arbeitstages soweit wie möglich auszudehnen. Der Arbeiter ist seinerseits darauf bedacht, die Länge des Arbeitstages zu beschränken. Er erklärt sich zwar mit dem Gebrauch seiner Arbeitskraft einverstanden, aber nur in einem Maße, das für ihn nicht gesundheitsschädlich ist. Der Arbeiter muß seine Arbeitssubstanz erhalten. „Es findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstags

41 42

Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 338. Ebd., 246.

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Gegendarstellung: Zu den ökonomischen Bedingungen der Rechtsphilosophie als Kampf um die Schranken des Arbeitstags dar – ein Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, d. h. der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter, oder der Arbeiterklasse.“43

Indem sich beide Klassen auf die Gesetze des Warentauschs berufen, also auf den freien Gebrauch ihres Eigentums und den Äquivalententausch, rechtfertigen beide ihr jeweiliges Vertragsinteresse mit bürgerlichen Prinzipien, welche Hegel als die Bedingung der Selbstbestimmung gesehen hatte: Das Privateigentum als Sphäre äußerer Freiheit. Im Sinne des Erhalts der Produktionsweise ist die Auseinandersetzung um den Normalarbeitstag grundsätzlich konstruktiv. Das Verhältnis wird nicht einmal durch die Arbeiterklasse selbst in Frage gestellt, obwohl die Waffen in diesem Kampf ungleich verteilt sind. Während die Arbeiter existentiell auf ihre Arbeitsplätze angewiesen sind und darum mit den anderen Arbeitern konkurrieren, findet das Kapital tendenziell eine Überzahl an Arbeitskräften vor, „d. h. Übervölkerung im Verhältnis zum augenblicklichen Verwertungsbedürfnis des Kapitals“44. Die Kapitalistenklasse verhält sich zudem gegen die Gesundheit und die Lebensdauer des Arbeiters rücksichtslos. Die im Sinne der kapitalistischen Produktionsweise konstruktive Vereinnahmung der Arbeiterinteressen in die Dynamik der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung des Kapitals benennt Adorno als einen Grund dafür, daß das Klassenverhältnis heutzutage als eine obsolete soziologische Kategorie verworfen wird: „Daß von einem proletarischen Klassenbewußtsein in den maßgebenden kapitalistischen Ländern nicht kann gesprochen werden, widerlegt nicht an sich, im Gegensatz zur communis opinio, die Existenz von Klassen: Klasse war durch die Stellung zu den Produktionsmitteln bestimmt, nicht durchs Bewußtsein ihrer Angehörigen. An plausiblen Gründen für den Mangel an Klassenbewußtsein fehlt es nicht: daß die Arbeiter nicht weiter verelendeten, daß sie zunehmend in die bürgerliche Gesellschaft und ihre Anschauungen integriert wurden, wie es während und unmittelbar nach der industriellen Revolution, als das Industrieproletariat aus den Paupers sich rekrutierte und halb exterritorial zur Gesellschaft stand, nicht vorauszusehen war. Nicht schafft gesellschaftliches Sein unmittelbar Klassenbewußtsein. Ohne daß die Massen, und zwar gerade wegen ihrer sozialen Integration, ihr gesellschaftliches Schicksal irgend mehr in der Hand hätten als vor 120 Jahren, entraten sie nicht nur der Klassensolidarität, sondern des vollen Bewußtseins dessen, daß sie Objekte, nicht Subjekte des gesellschaftlichen Prozesses sind, den sie doch als Subjekte in Gang halten.“45

Die ökonomische Bestimmung der Klassen als Produktionsmitteleigner und Arbeitskräfte wird durch die Konkurrenz der Arbeiter und der Kapitalisten konterkariert. Das Kapital ist eine gesamtgesellschaftliche Produktionsweise, die durch das Privateigentum zugleich den Interessenkonflikt zwischen Arbeiter- und Kapitalistenklasse bedingt. Das Kapital ist also gesellschaftlich bestimmt und ist es nicht, weil – im Gegensatz zur Hegelschen Hypothese – kein gesellschaftliches Gesamtsubjekt existiert. Daraus resultiert 43

44 45

Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 249. Den größten Teil des achten Kapitels widmet Marx der geschichtlichen Illustration des Arbeitskampfes am Beispiel von England. Vgl. ebd., Kapitel 8.2–8.7. Ebd., 283 f. Theodor W. Adorno. „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?“ In Gesammelte Schriften Bd. 8 (Soziologische Schriften I), 358.

Methoden der Produktivkraftsteigerung

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das Problem, daß sich die Einzelkapitale ebenso wie die Kapitalistenklasse im Ganzen rücksichtslos gegen ihre wichtigste Ressource – die Arbeitskräfte – verhalten, obgleich es ebenso in ihrem (Klassen-)Interesse liegt, diese Ressource zu erhalten. Aber das Klasseninteresse kann durch die Kapitalisten nicht unmittelbar als Klasseninteresse vertreten werden, weil sie ebenso wie die Arbeiter in die Vereinzelung der Konkurrenz gebannt sind. „Die freie Konkurrenz macht die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion dem einzelnen Kapitalisten gegenüber als äußerliches Zwangsgesetz geltend.“ 46 Trotzdem ist der Erhalt der Arbeiterklasse im Ganzen für die kapitalistische Produktion eine unabdingbare Voraussetzung ihrer Existenz, so daß es einer gesamtgesellschaftlichen Instanz bedarf, die den Interessenantagonismus zwischen Kapitalisten- und Arbeiterklasse vermittelt. Diese Instanz kann weder aus den konkurrierenden Interessen der Arbeiter noch aus denen der Kapitalisten begründet werden, sondern fällt dem Staat zu, der den Erhalt des Systems, in diesem Falle durch die Durchsetzung des Normalarbeitstages, garantiert. In der Nötigung, das Interesse des Kapitals gegen dieses zu vertreten, zeigt sich indirekt auch, daß es nicht voraussetzungslos ist. Es bedarf der Arbeitskraft, um Mehrwert produzieren zu können, ebenso wie des Staates, der die juristischen Bedingungen des Kapitals setzt und die ökonomischen Antagonismen verwaltet. Das Verhältnis von Staat und Kapital ist ein Wechselverhältnis, in dem die Extreme nicht aufgehen. Das Verhältnis tariert sich vielmehr geschichtlich aus: Die verschiedenen Staatsformen der Moderne, wie der absolutistische, der liberale oder der faschistische Staat, begreifen ihre Spielräume gegenüber der sich entwickelnden bzw. der entwickelten kapitalistischen Ökonomie unterschiedlich. Tendenziell begreift sich der Staat immer auch als Selbstzweck und steht einer Ökonomie gegenüber, die sich ebenfalls Selbstzweck ist. Das Verhältnis im einzelnen zu bestimmen, wäre Gegenstand einer eigenen Arbeit. Wichtig ist jedoch, daß im Unterschied zu der Bestimmung der Grundlinien das Verhältnis von Ökonomie und Staat nicht als eine Realisationsform des freien Willens zu begreifen ist, sondern daß sich dieses Verhältnis geschichtlich herstellt und immer auch machtpolitisch bestimmt ist. Im Zusammenhang der kapitalistischen Produktion, wie sie von Marx bestimmt wird, gibt es keinen sittlichen Übergang vom System der Bedürfnisse zum Staat, der über die Stände und die Korporationen vermittelt wäre.47 Einem Staat, dessen ökonomische Funktion in der Vermittlung von Klassenantagonismen besteht, ist es eben nicht um die vernünftige Willensbestimmung zu tun, sondern um die Garantie der gesellschaftlichen Bedingungen dieser spezifischen Produktionsweise. „Da der Staat die Form ist, in welcher die Individuen einer herrschenden Klasse ihre gemeinsamen Interessen geltend machen und die ganze bürgerliche Gesellschaft einer Epoche sich zusammenfaßt, so folgt, daß alle gemeinsamen Institutionen durch den Staat vermittelt werden, eine politische Form erhalten. Daher die Illusion, als ob das Gesetz auf dem Willen, und zwar auf dem von seiner realen Basis losgerissenen,

46 47

Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapital, 285. Vgl. S. 243 ff. dieser Arbeit.

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Gegendarstellung: Zu den ökonomischen Bedingungen der Rechtsphilosophie

dem freien Willen beruhe. Ebenso wird das Recht dann wieder auf das Gesetz reduziert.“48

b) Begriff des relativen Mehrwerts Das Bedürfnis nach Verwertung des Werts ist maßlos, während die Verlängerung des Arbeitstages als Methode der Mehrwertsteigerung ihre Grenze an den physischen und moralischen Bedürfnissen des Arbeiters und der prinzipiell beschränkten Zeit eines Tages von 24 Stunden hat. Darum verfallen die Kapitalisten auf Methoden, die nicht darauf beruhen, die Länge des Arbeitstages auszudehnen, sondern bei gegebener Länge des Arbeitstages die Dauer der notwendigen Arbeitszeit zugunsten der Mehrarbeitszeit zu verkürzen. Dadurch wird nicht absolut mehr Mehrwert produziert, aber relativ zu den Kosten des konstanten und variablen Kapitals. Da die notwendige Arbeitszeit diejenige ist, in der der Wert von Produktionsmitteln und Arbeitskraft reproduziert wird und der Wert der Produktionsmittel für die Rate des Mehrwert irrelevant ist, kann die relative Mehrwertsteigerung nur durch die Entwertung der Ware Arbeitskraft gelingen, so daß deren Gebrauchswert effizienter genutzt werden kann. Weil aber die Arbeitskraft zu ihrem Wert entlohnt werden soll, ist eine solche Entwertung nur durch die Steigerung der Produktivkraft der Arbeit möglich. D. h. die technischen Produktionsbedingungen werden in einer Weise verändert, daß für die Herstellung desselben Quantums Gebrauchswert weniger Arbeit nötig ist als zuvor. Um den Wert der Arbeitskraft zu senken, muß diese Produktivkraftsteigerung zudem in solchen Zweigen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung stattfinden, die in deren Wertbestimmung eingehen, also z. B. in der Lebensmittel- oder Bekleidungsfabrikation. Die Gesamtsumme der notwendigen Lebensmittel des Arbeiters besteht aus verschiedenen Waren, so daß sich die Wertreduktion aus der Summe aller Teilreduktionen in den besonderen, Lebensmittel produzierenden Zweigen ergibt. Es ist damit eine allgemeine Tendenz des Kapitals beschrieben, die aber dennoch nicht notwendig von jedem einzelnen Kapitalisten beabsichtigt ist. Der einzelne Kapitalist hat nicht die allgemeine Tendenz, sondern sein besonderes Interesse vor Augen, Mehrwert zu produzieren und zu realisieren. Tatsächlich kann ein Kapitalist, der eine neue Produktionsmethode einführt, mehr Ware in kürzerer Zeit produzieren oder umgekehrt, in eine Ware geht weniger Arbeitszeit ein, d. h. daß das einzelne Stück zwar weniger Wert enthält als die gleiche Ware der Konkurrenten, die unter den alten Bedingungen produziert wird, dafür kann aber in derselben Zeit viel mehr produziert werden. Wenn nun der Pionier seine Ware zum alten Preis verkauft, z. B. 6 €, aber die Ware weniger wert ist, z. B. 4 €, dann realisiert er einen Extramehrwert von 2 € pro Stück. Andererseits hat er im Vergleich zu den Konkurrenten mit der alten Produktionsmethode absolut mehr Ware, die er losschlagen muß, was ihm gelingt, wenn er die Ware günstiger verkauft als seine ‚Mitbewerber‘. Der Pionier wird also seine Ware nicht zu 4 €, aber zu 48

Karl Marx u. Friedrich Engels. „Deutsche Ideologie.“ 62.

Methoden der Produktivkraftsteigerung

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5 € verkaufen und dadurch einen Extramehrwert von 1 € realisieren. Dieser Extramehrwert realisiert sich für ihn unabhängig davon, ob er Lebensmittel für die Arbeiter produziert oder nicht, so daß er unabhängig von der allgemeinen Tendenz auch ein subjektives Motiv hat, seine Ware durch Produktivkraftsteigerung günstiger zu verkaufen. Schließlich wird aber unter den gegebenen Bedingungen der Konkurrenz die innovative Produktionsweise gesellschaftlich verallgemeinert, so daß der Extramehrwert nach einer gewissen Zeit sich von einem Konkurrenzvorteil in eine gesellschaftlich normale Produktionsmethode verwandelt, die in die Bestimmung der gesellschaftlich notwendigen Durchschnittsarbeitszeit eingeht. Gesamtgesellschaftlich betrachtet kann deshalb die Rate des Mehrwerts nur durch die Verwohlfeilerung der Lebensmittel der Arbeiter und damit des Werts der Arbeitskraft erhöht werden. Die technischen und organisatorischen Erfindungen der Manufaktur und der großen Industrie – Kooperation, Arbeitsteilung, Maschinerie und Fabrik – sind die kapitalistischen Methoden der relativen Mehrwertproduktion in der Moderne.

c) Kooperation und Arbeitsteilung Im Unterschied zu allen vorangegangen Produktionsformen unterscheidet sich die kapitalistische Produktionsweise zunächst dadurch, daß sie von vornherein auf gesamtgesellschaftlichem Maßstab produziert. Die Vergesellschaftung ist Existenzbedingung der kapitalistischen Produktion und die Kooperation von ihr deshalb nicht zu trennen. „Die Form der Arbeit vieler, die in demselben Produktionsprozeß oder in verschiednen, aber zusammenhängenden Produktionsprozessen planmäßig neben- und miteinander arbeiten, heißt Kooperation.“49 Allein durch die Vergesellschaftung der Produktion realisiert sich eine Produktivkraftsteigerung. Indem viele Arbeiter gleichzeitig und unter dem Kommando eines Kapitalisten arbeiten, nivellieren sich individuelle Unterschiede in der Geschicklichkeit, der Geschwindigkeit etc. Die gesellschaftliche Durchschnittsarbeit – zunächst nur als analytischer Begriff in der Wertformanalyse eingeführt – erhält dadurch eine erste technische Entsprechung. „Das Gesetz der Verwertung überhaupt realisiert sich also für den einzelnen Produzenten erst vollständig, sobald er als Kapitalist produziert, viele Arbeiter gleichzeitig anwendet, also von vornherein gesellschaftliche Durchschnittsarbeit in Bewegung setzt.“50 Aber durch die Vergesellschaftung der Arbeiten ergeben sich noch andere Wirkungen: „Verglichen mit einer gleich großen Summe vereinzelter individueller Arbeitstage, produziert der kombinierte Arbeitstag größre Massen von Gebrauchswert und vermindert daher die zur Produktion eines bestimmten Nutzeffekts nötige Arbeitszeit. Ob er im gegebnen Fall diese gesteigerte Produktivkraft erhält, weil er die mechanische Kraftpotenz der Arbeit erhöht oder ihre räumliche Wirkungssphäre ausdehnt oder das räumliche Produktionsfeld im Verhältnis zur Stufenleiter der 49 50

Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 344. Ebd., 342 f.

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Gegendarstellung: Zu den ökonomischen Bedingungen der Rechtsphilosophie Produktion verengt oder im kritischen Moment viel Arbeit in wenig Zeit flüssig macht oder den Wetteifer der einzelnen erregt und ihre Lebensgeister spannt oder den gleichartigen Verrichtungen vieler den Stempel der Kontinuität und Vielseitigkeit aufdrückt, oder verschiedne Operationen gleichzeitig verrichtet oder die Produktionsmittel durch ihren gemeinschaftlichen Gebrauch ökonomisiert oder der individuellen Arbeit den Charakter gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit verleiht, unter allen Umständen ist die spezifische Produktivkraft des kombinierten Arbeitstags gesellschaftliche Produktivkraft der Arbeit oder Produktivkraft gesellschaftlicher Arbeit. Sie entspringt aus der Kooperation selbst. Im planmäßigen Zusammenwirken mit andern streift der Arbeiter seine individuellen Schranken ab und entwickelt sein Gattungsvermögen.“51

Kooperation ist die organisatorische Grundlage, auf der die Arbeitsteilung und die Fabrik als Organisationsmethoden aufbauen. Die Teilung der Arbeit ist eine Weiterentwicklung der Kooperation und hat ihre klassische Gestalt in der Manufaktur – also grob in der Zeit „von Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum letzten Drittel des achtzehnten“.52 Grundsätzlich ist die klassische Zeit der Manufakturen eine kapitalistische Periode, deren technische Basis aber das Geschick der Handwerker bleibt. – Es wird sich herausstellen, daß diese Basis eine Schranke der Mehrwertproduktion darstellt, die mit der großen Industrie überwunden wird. Die Wirkungen der Arbeitsteilung beruhen im wesentlichen darauf, daß die Tätigkeiten der Arbeiter vereinfacht werden. Sie produzieren nicht mehr ein vollständiges Produkt, sondern nur noch Teilprodukte, die erst im Zusammenwirken mit anderen Teilprodukten zu einer Ware werden. Die andere große Wirkung der Arbeitsteilung ist, daß die Teilarbeiten durch ihre organische Beziehung aufeinander eine technische Basis für die Durchschnittsarbeit hervorbringen. Geschwindigkeit und Geschicklichkeit müssen mit den anderen Teilarbeiten abgestimmt werden, so daß sich dadurch wiederum individuelle Unterschiede ausgleichen.53 Diese allgemeine Anpassung und Vereinfachung der Teilarbeiten ermöglicht die sporadische Produktion von Maschinen, die aber in der Manufaktur noch nicht systematisch betrieben wird. Kooperation und Arbeitsteilung sind Methoden der Ökonomisierung des Produktionsprozesses, die historisch früh und damit auch unabhängig von der kapitalistischen Produktion entwickelt wurden, sobald auf erweiterter Stufenleiter produziert wurde. Das bedeutet auch, daß Kooperation und Arbeitsteilung von je her unter den Bedingungen von Herrschaft organisiert wurden – gleich, ob als Sklavenarbeit, Frondienst etc. Trotzdem nehmen beide Methoden in der kapitalistischen Produktionsweise auch einen spezifischen Charakter an: Daß es sich um eine vergesellschaftete Produktionsweise handelt, bedeutet unter der Bedingung des Privateigentums auch, daß die Bedingungen der Vergesellschaftung nur für Kapitale von bestimmter Größe gegeben sind, so daß die Produktivkraft steigernden Wirkungen von Kooperation und Arbeitsteilung als dem Eigentumstitel des finanzierenden Kapitalisten zugehörig erscheinen: „Ihre Kooperation [der Arbeiter, M. B.] beginnt erst im Arbeitsprozeß, aber im Arbeitsprozeß haben sie bereits aufgehört, sich selbst zu gehören. Mit dem Eintritt in denselben sind sie dem Kapital einverleibt. Als Kooperierende, als Glieder eines werktätigen Organismus, sind sie 51 52 53

Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 348. Ebd., 356. Vgl. ebd., 369 f.

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selbst nur eine besondre Existenzweise des Kapitals. Die Produktivkraft, die der Arbeiter als gesellschaftlicher Arbeiter entwickelt, ist daher Produktivkraft des Kapitals. Die gesellschaftliche Produktivkraft der Arbeit entwickelt sich unentgeltlich, sobald die Arbeiter unter bestimmte Bedingungen gestellt sind, und das Kapital stellt sie unter diese Bedingungen. Weil die gesellschaftliche Produktivkraft der Arbeit dem Kapital nichts kostet, weil sie andrerseits nicht von dem Arbeiter entwickelt wird, bevor seine Arbeit selbst dem Kapital gehört, erscheint sie als Produktivkraft, die das Kapital von Natur besitzt, als seine immanente Produktivkraft.“54

Indem dadurch alle Techniken der Produktivkraftsteigerung unter den Bedingungen kapitalistischer Produktion entwickelt werden, nehmen sie auch kapitalistischen Charakter an: Wo es nötig ist, die Vielheit der Arbeiten zu planen und zu koordinieren, übernimmt der Kapitalist oder sein Ingenieur die Funktionen der Leitung, Überwachung. „Der Zusammenhang ihrer Arbeiten [die der Arbeiter, M. B.] tritt ihnen daher ideell als Plan, praktisch als Autorität des Kapitalisten gegenüber, als Macht eines fremden Willens, der ihr Tun seinem Zweck unterwirft.“55 Diese Funktionen werden wiederum besondere Teilfunktionen besonderer Arbeiter im System der Arbeitsteilung. Gleichzeitig bringt die Arbeitsteilung und die Reduktion der Handgriffe eines Arbeiters auch die Reduktion seiner Fähigkeiten hervor. Was zunächst nur als materielle Abhängigkeit der Arbeiter vom Kapital erschien, wird in der Manufaktur zu einer technischen Abhängigkeit, weil ein einzelner Arbeiter weder die Produktionsmittel noch die technischen Fähigkeiten besitzt, Ware eigenständig zu produzieren. Umgekehrt entwickelt sich eine Hierarchie der Arbeitskräfte, je nachdem, ob die verbleibenden Funktionen komplizierter oder einfacher sind. Schließlich entsteht auch eine Klasse ungeschickter Arbeiter, für die die Erlernungskosten ihrer Funktion entfallen. Dadurch sinkt der Wert der Arbeitskraft, in den auch die Ausbildungskosten eingehen. Das Wissen um die Gesamtheit sowohl des technischen wie des organisatorischen Prozesses wird zur Fähigkeit einer sich neu gründenden Abteilung in der innerbetrieblichen Arbeitsteilung. Voll entwickelt ist die bereits in der Kooperation angelegte Trennung von Teilarbeit und geistiger Arbeit erst mit der großen Industrie, „welche die Wissenschaft als selbständige Produktionspotenz von der Arbeit trennt und in den Dienst des Kapitals preßt.“56 Indem Marx den kapitalistischen Charakter der Arbeitsteilung bestimmt und darauf hinweist, daß alle Wirkungen der Entfremdung der Arbeiter von ihren Fähigkeiten, ihrem Wissen und dem Gesamtprozeß Wirkungen des Privateigentums an Produktionsmitteln sind, entwickelt er seinen eigenen Entfremdungsbegriff weiter, wie er ihn z. B. in der Deutschen Ideologie oder den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten formuliert hatte und der letztendlich noch die Bestimmung der Arbeitsteilung in den Grundlinien als anthropologische Bestimmung transportiert.57 In den Grundlinien wie in der 54 55 56 57

Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 352. Ebd., 351. Ebd., 383. Ivan Dubsky weist dagegen darauf hin, daß sich schon der Entfremdungsbegriff der Philosophisch-Ökonomischen Manuskripte von Hegels Begriff unterscheidet: „Für Hegel ist die Arbeit nur rein abstrakt geistig, und die gesellschaftliche Wirklichkeit betrachtet er als eine den wirklichen Personen entfremdete, nur als einen Teil der Geschichte ‚des abstrakt-absoluten Denkens‘ [Marx-Engels, Die heilige Familie und andere philosophische Frühschriften, Berlin 1953, 78,

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Gegendarstellung: Zu den ökonomischen Bedingungen der Rechtsphilosophie

Deutschen Ideologie wird Arbeitsteilung als naturwüchsiges Phänomen aufgefaßt, welches die freiwillige Tätigkeit, die Selbstbestimmung verhindert. Während Hegel an dieser Produktionsmethode vor allem die Möglichkeit der Vermittlung zwischen Einzelinteressen und allgemeinem Willen in der Ökonomie interessierte, begreift Marx sie als Grund des Klassenantagonismus und der damit verbundenen Verelendung der Arbeitenden. „Ferner ist mit der Teilung der Arbeit zugleich der Widerspruch zwischen dem Interesse des einzelnen Individuums oder der einzelnen Familie und dem gemeinschaftlichen Interesse aller Individuen, die miteinander verkehren, gegeben; und zwar existiert dies gemeinschaftliche Interesse nicht bloß in der Vorstellung, als ‚Allgemeines‘, sondern zuerst in der Wirklichkeit als gegenseitige Abhängigkeit der Individuen, unter denen die Arbeit geteilt ist. Und endlich bietet uns die Teilung der Arbeit gleich das erste Beispiel davon dar, daß, solange die Menschen sich in der naturwüchsigen Gesellschaft befinden, solange also die Spaltung zwischen dem besondern und gemeinsamen Interesse existiert, solange die Tätigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigne Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht.“58

Marx erklärt also die in den Grundlinien angelegte Paradoxie, daß es eine Klasse von Privateigentümern gibt, deren Subsistenz durch die bürgerliche Gesellschaft nicht gesichert ist, mit dem naturwüchsig entstandenen System gesellschaftlicher Arbeitsteilung, in dem das individuelle Interesse vom Allgemeininteresse getrennt werde. Diese Trennung sei der Grund dafür, daß Produktion und Konsumtion verschiedenen Individuen zufielen. Nach dieser Bestimmung ist diejenige Macht, welcher sich die Menschen unterwerfen, nicht ökonomisch-politisch bestimmt, sondern letztendlich anthropologisch. Damit wären Kooperation und Arbeitsteilung zugleich Ausdruck der Vernunft als auch unvernünftig. Ausdruck der Vernunft sind diese Methoden, weil sie die Potenzen vergesellschafteter Arbeit realisieren und damit auch das Gattungsvermögen der Individuen, unvernünftig sind sie, weil die Individuen vom gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang entfremdet werden.59 Mit der Bestimmung des Privateigentums an Produktionsmitteln führt Marx dagegen im Kapital eine spezifische Differenz zwischen dem Begriff

58 59

M. B.] Das geschieht deshalb, weil Hegel nicht die Objektivierung oder Vergegenständlichung und die Entfremdung unterscheidet und beide Momente fälschlicherweise verbindet. Für Hegel geht es um die Überwindung der Gegenständlichkeit, weil gerade der gegenständliche Charakter an und für sich für das Bewußtsein der Anstoß zur Entfremdung ist. Dagegen steht Marx auf dem Standpunkt, daß gerade das gegenständliche Wesen des Menschen Gegenstände schafft, weil es durch Gegenstände gegründet ist und weil es aus der Natur stammt.“ Ivan Dubsky. „Hegels Arbeitsbegriff und die idealistische Dialektik.“ 440 f. Andreas Arndt zeigt den Ursprung des Entfremdungsmotivs als romantisches Topos auf. Vgl. Andreas Arndt. „Romantik der Arbeit. Perspektiven des frühromantischen Arbeitsbegriffs.“ In Die Arbeit der Philosophie, 71–92. Berlin, 2003. Aber auch auf den ökonomischen Entfremdungsbegriff von Marx geht er ein: „Arbeit und NichtArbeit.“ 18. Rahel Jaeggi kritisiert den Entfemdungsbegriff bei Marx auf der Grundlage ihrer Interpretation des Arbeitsbegriffs. Arbeit sei die Veräußerlichung eines inneren Plans, der durch das Äußerliche gestört und so entfremdet sei. Kritisiert wird von Marx nicht das Problem des Zugriffs auf Natur, sondern auf die Produktionsmittel. Vgl. Rahel Jaeggi. Entfremdung, 34. Karl Marx u. Friedrich Engels. „Deutsche Ideologie.“ 32 f. „Organisation als solche ist weder böse noch gut, sie kann beides sein, und ihr Recht und ihr Wesen hängen ab von dem, in dessen Dienst sie steht.“ Theodor W. Adorno. „Individuum und Organisation.“ 446.

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gesellschaftlicher Arbeitsteilung und dessen kapitalistischer Ausprägung ein. An Kooperation und Arbeitsteilung als Methoden der Produktivkraftsteigerung ist ihr kapitalistischer Charakter zu kritisieren, nicht die Tatsache, daß sie ein Mehrprodukt (hier in Abgrenzung zum Mehrwert im Kapital) ermöglichen, welches unter anderen Bedingungen auch zur Reduktion der Reproduktionsarbeit zugunsten der Muße dienen könnte. Ein ökonomisches Modell für die herrschaftsfreie Organisation von Kooperation und Arbeitsteilung auf gesamtgesellschaftlichen Maßstab gibt es nicht, und kann es in einer fremdbestimmten Wirklichkeit nicht geben. Anders als Hegel erarbeitet sich Marx also einen Begriff von Kooperation und Arbeitsteilung, der nicht aus dem rechtsphilosophischen Zusammenhang der Grundlinien zu verstehen ist, sondern aus dem ökonomischen Antrieb zur Produktivkraftsteigerung.60 Während die Arbeitsteilung in der Grundlinien unmittelbar als Praxis des vernünftigen Willens erschien, in der die individuelle Auseinandersetzung des Arbeiters mit seinem Arbeitsgegenstand bildet und zugleich einen Beitrag zum Auskommen der gesamten Gesellschaft leistet, stellen sich im Kapital nicht nur die ökonomischen Motive nüchterner dar – statt Selbstbestimmung geht es im Kapital um die Entwertung der Arbeitskraft – sondern die Wirkung der Arbeitsteilung erweist sich im historisch-ökonomischen Zusammenhang als verheerend: Weil die Arbeiter nicht Eigentümer über ihre Arbeitsprodukte sind, erfahren sie gerade nicht das Ganze der technischen und organisatorischen Zusammenhänge, sondern verrichten nur Teilarbeiten. Sie können daher auch nicht aus ihrer Arbeit lernen – im Gegenteil, das Kapital ist daran interessiert, die Arbeitsprozesse möglichst zu vereinfachen, weil so die Bildungskosten entfallen. Weil die vereinzelten Arbeiter keinen Überblick mehr über den Gesamtprozeß haben, wird die Beaufsichtigung des Produktionsprozesses überhaupt erst nötig, und weil der Zweck der Kapitalisten ein anderer ist, als der der Arbeiter, nimmt diese Oberaufsicht notwendig autoritären Charakter an. Kurz – die von Hegel dargestellte Einheit von Hand- und Kopfarbeit, von Arbeit und Bildung, von ökonomischer Selbstbestimmung erweist sich mit der Analyse der kapitalistischen Produktion als Ideal, das historisch nicht verwirklicht ist. Praktische Modelle für selbstbestimmte Kooperation und Arbeitsteilung gibt es in solchen Bereichen, die in ihrer ökonomischen Bedingtheit nicht aufgehen: Kunst und Wissenschaft. In einem Orchester finden sich z. B. Musiker zusammen, um im Moment der Aufführung etwas entstehen zu lassen, das größer ist als die Partitur oder ihr jeweiliges Instrument. Es gibt zwar auch hier den Dirigenten als leitenden Musiker, aber seine Funktion liegt nicht notwendig in der Hervorbringung einer Ware, die ihm gehört, sondern auch darin, den Gehalt der Partitur hörbar zu machen. Dieser Gehalt transzendiert zugleich die Bedingungen, unter denen er erfahrbar gemacht wird, und er transzendiert sie nicht. Die darin liegende Dissonanz intellektuell wie sinnlich wahrzunehmen, ist die Erfahrung des Nichteingelösten, das einzulösen wäre.

60

Vgl. S. 241 dieser Arbeit.

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Gegendarstellung: Zu den ökonomischen Bedingungen der Rechtsphilosophie

d) Maschinerie und große Industrie Die Möglichkeit der Produktivkraftsteigerung in der Manufaktur ist durch ihre technische Basis begrenzt: den Handwerker, von dessen individuellem Geschick das Gelingen der Arbeit abhängig ist. Durch die Maschine werden die wesentlichen Verrichtungen des Arbeitsprozesses, aber auch des Antriebs und der Kraftübertragung technisiert. Der Prozeß ist somit nicht länger vom Geschick der Individuen abhängig, sondern die Arbeiter müssen sich ihrerseits an die Maschinen und deren organisatorisches System, die Fabrik, anpassen. 61 Die Revolution der technischen Basis der Produktion durch die Einführung der Maschinerie wirkt sich auch auf die Art der Produktivkraftsteigerung aus. Während in der Manufaktur durch die Methoden der Kooperation und Arbeitsteilung die Handwerker mehr Produkt in kürzerer Zeit erarbeiten, mißt sich die Produktivität industrieller Arbeit nicht an der Masse der von ihr produzierten Gebrauchswerte, sondern an dem Grad, worin sie menschliche Arbeitskraft technisch ersetzt. Gleichzeitig steht die Verringerung der Anzahl benötigter Arbeiter aber im Widerspruch zum Zweck der Mehrwertproduktion, weil nur die Menschen ein Mehrprodukt schaffen können, nicht aber die Maschinen. Wenn also die Maschinerie die Rate des Mehrwerts, also das Verhältnis von notwendiger Arbeit zur Mehrarbeit, nur erhöht, indem sie den anderen Faktor der Mehrwertproduktion, die Zahl der beschäftigten Arbeitskräfte, verringert, dann kann die Abnahme in der verhältnismäßigen Anzahl der Arbeiter nur durch Zunahme der absoluten Mehrarbeit oder bei beschränktem Arbeitstag durch Erhöhung der Arbeitsintensität kompensiert werden.62 Die Maschinerie ist also nicht nur ein Hebel zur Steigerung des relativen, sondern auch des absoluten Mehrwerts. Marx hat im 13. Kapitel des Kapitals die verheerenden Auswirkungen dieser Methoden für die Arbeiter beschrieben, die dem maßlosen Trieb des Kapitals bis zur völligen Erschöpfung unterworfen wurden. Damit hat die Industrialisierung nicht nur massive Auswirkungen auf die Industrie selbst, sondern auch auf die Lebensbedingungen der Arbeiterbevölkerung. Die Arbeiter werden gemessen am industriell gefertigten Produkt überzählig, austauschbar, das Heer der Arbeitskräfte weitet sich zudem auf Frauen und Kinder aus, weil die Verrichtungen im Einzelnen einfacher und damit von der individuellen Muskelkraft der Männer unabhängig werden. Indem das individuelle Geschick der Arbeiter zur Nebensache einer gesellschaftlich verselbständigten Massenarbeit wird, findet eine massive Entwertung des Werts der Arbeitskraft statt. Insgesamt werden die Arbeiter in bis dahin nicht gekannter Weise in die Konkurrenz untereinander gezwungen, womit ihr Widerstand, den sie in der Manufaktur noch gegen das Kapital aufbringen konnten, weil es auf sie und ihr Geschick ankam, gebrochen wurde. Indem die Arbeiter durch die Maschine ersetzt werden, findet mit der technischen Umwälzung der Produktion ebenso eine Veränderung der Gesellschaft insgesamt statt. So entsteht mit der erhöhten Produktivität auch das Bedürfnis nach Vermehrung der 61 62

Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 393. Vgl. ebd., 429 f.

Methoden der Produktivkraftsteigerung

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Rohstoffe in einem Maße, das durch die nationale Produktion allein nicht gedeckt werden kann. „Es wird eine neue, den Hauptsitzen des Maschinenbetriebs entsprechende internationale Teilung der Arbeit geschaffen, die einen Teil des Erdballs in vorzugsweis agrikoles Produktionsfeld für den andern als vorzugsweis industrielles Produktionsfeld umwandelt.“63 Hegel hatte die Kolonialisierung nicht aus dem Akkumulationsbedürfnis des Kapitals erklärt, sondern aus dem Unvermögen der bürgerlichen Gesellschaft, die Armen zu versorgen. Marx zeigt hingegen, daß die Armen nicht nur notwendiger Bestandteil kapitalistischer Ökonomien sind, sondern daß die Kolonialisierung dem industriellen, nicht dem individuellen HungerAbhilfe leisen soll.64 Eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der großen Industrie spielt die Fabrikgesetzgebung, die einerseits den maßlosen Ausbeutungstrieb des Kapitals mäßigt, indem es die Beschränkung des Arbeitstages, Regelungen der Pausen und des Arbeitsschutzes einführt und die Frauen- und Kinderarbeit beschränkt. Sie stellt somit eine frühe Gestalt der Sozialgesetzgebung dar. Andererseits beschränkt sie damit das Übel in einem Maße, das der großen Industrie zuträglich ist, nicht aber der Arbeiterbevölkerung. Sie verwaltet das Übel, welches sie zugleich auch produziert: Frauen- und Kinderarbeit müssen erst dann beschränkt werden, wenn sie zuvor erlaubt worden sind. Auch bewirken die Regelungen des Fabrikaktes oftmals eine Beschleunigung der Verwandlung der Werkstätten in Fabriken. Die Arbeiter werden durch die Industrialisierung technisch zum Gesamtarbeiter, so daß der einzelne nur noch Teilfunktion eines Betriebes ist, den er nicht mehr überblickt. Einerseits werden die Arbeiter dadurch zu einfachen Arbeitern, die nicht mehr umfassend qualifiziert sein müssen. Andererseits werden sie beständig freigesetzt, um in anderen Fabriken wieder attrahiert zu werden usw. Dadurch wird es vom gesamtgesellschaftlichen Standpunkt aus nötig, eine polytechnisch gebildete Arbeitsbevölkerung zu schaffen, die somit möglichst flexibel einsetzbar ist.65 Schließlich entwickelt sich auf der Grundlage der Produktivkraftsteigerung und der damit verbundenen Freisetzung eine neue Art der Arbeit: der Bereich der Dienstleistungen, der einerseits im Sinne der Mehrwertproduktion unproduktiv ist und daher nur auf der Grundlage erweiterter Produktivität entstehen kann. Die Frage, woraus die Dienstleister ihre Revenue beziehen, ist erst mit der Durchschnittsprofitrate im dritten Band erklärbar – also der Verteilung des gesamtgesellschaftlich produzierten Mehrwerts auf alle Bereiche des Systems gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Trotzdem stellt sich dieses Problem erst auf der Grundlage einer Ökonomie, die Verteilbares auf gesamtgesellschaftlichen Maßstab hervorbringt. Die große Industrie bleibt die ökonomische Grundlage aller anderen Bereiche kapitalistischer Gesellschaften. 63 64 65

Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 475. Vgl. S. 249 dieser Arbeit. Diese technischen Erfordernisse sind nicht zuletzt unterstellt, wenn heutzutage die Mobilität und Flexibilität der Studierenden, dem Fachkräftemangel, der Durchlässigkeit des Bildungssystem gesprochen wird. „Die Weichen sind gestellt, und das Ziel ist sinnvoll“! Europäische Bildungsminister. „Der Europäische Hochschulraum. Gemeinsame Erklärung der Europäischen Bildungsminister 19. Juni 1999, Bologna“, http://www.bmbf.de/de/3336.php. (Zugriff: 10.6.2012), 3.

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Gegendarstellung: Zu den ökonomischen Bedingungen der Rechtsphilosophie

Die von Marx im 13. Kapitel beschriebenen historischen Auswirkungen und Umwälzungen der Gesellschaften, die durch die Revolution der technischen Produktion erzwungen wurden, resultieren nicht aus der Maschine selbst, sondern aus dem kapitalistischen Zweck, zu dem sie angewendet wird.66 Obgleich also die industrielle Revolution eine kapitalistische Revolution ist, ließe sich die Maschinerie und die damit verbundene Produktivkraftsteigerung ebenso zur Verkürzung des Arbeitstages einsetzen.

5.5 Akkumulation Die kapitalistische Produktion setzte mit dem Kauf von Produktionsmitteln und Arbeitskraft ein, zu dem Zweck, einen Mehrwert zu produzieren, der zunächst als Ware, also in vergegenständlichter Form vorliegt. Damit dieser Mehrwert akkumuliert werden kann, ist unterstellt, daß er in der Zirkulation durch Verkauf der Ware wiederum in Geld verwandelt werden kann, welches dann seinerseits in Kapital verwandelt wird usw. Die bloße Kontinuität dieses Prozesses, selbst wenn sie nur auf einfachem Niveau stattfindet, so daß der Mehrwert nur zur individuellen und produktiven Konsumtion des Kapitalisten dient, nicht aber akkumuliert wird, reproduziert das gesellschaftliche Verhältnis als Ganzes. Dieses gesellschaftliche Verhältnis ist grundlegend durch das Privateigentum an Produktionsmitteln bestimmt, wodurch die Rechtspersonen gespalten werden in Produktionsmitteleigner und Arbeitskräfte, die über die Mittel eines eigenständigen ökonomischen Betriebs nicht verfügen. Durch dieses Rechtsverhältnis wird also zugleich ein materielles Verhältnis begründet und reproduziert. „Der Arbeiter selbst produziert daher beständig den objektiven Reichtum als Kapital, ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht, und der Kapitalist produziert ebenso beständig die Arbeitskraft als subjektive, von ihren eignen Vergegenständlichungs- und Verwirklichungsmitteln getrennte, abstrakte, in der bloßen Leiblichkeit des Arbeiters existierende Reichtumsquelle, kurz den Arbeiter als Lohnarbeiter. Diese beständige Reproduktion oder Verewigung des Arbeiters ist das sine qua non der kapitalistischen Produktion.“67

Wenn das Rechtsverhältnis einmal installiert ist und damit auch die materiellen Verhältnisse konsolidiert sind, dann bewirkt die Kontinuität des Prozesses von Kauf – Produktion – Verkauf – Kauf, daß das Verhältnis reproduziert wird, d. h. die Scheidung der Arbeiter von ihrem Produkt, dem gesellschaftlichen Reichtum. Statt also das Eigentum auf eigener Arbeit zu begründen – wie es z. B. Locke bestimmt hatte – gründet es auf fremder Arbeit. Anstatt Arbeit und Eigentum zu vermitteln, wird durch das kapitalistische Produktionsverhältnis die Trennung beider reproduziert. „Der Austausch von Äquivalenten, der als die ursprüngliche Operation erschien, hat sich so gedreht, daß nur zum Schein ausgetauscht wird, indem erstens der gegen Arbeitskraft ausgetauschte Kapitalteil selbst nur ein Teil des ohne Äquivalent angeeigneten fremden Arbeitspro66 67

Vgl. Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 465. Ebd., 595 f.

Akkumulation

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duktes ist und zweitens von seinem Produzenten, dem Arbeiter, nicht nur ersetzt, sondern mit neuem Surplus ersetzt werden muß. Das Verhältnis des Austausches zwischen Kapitalist und Arbeiter wird also nur ein dem Zirkulationsprozeß angehöriger Schein, bloße Form, die dem Inhalt selbst fremd ist und ihn nur mystifiziert. Der beständige Kauf und Verkauf der Arbeitskraft ist die Form. Der Inhalt ist, daß der Kapitalist einen Teil der bereits vergegenständlichten fremden Arbeit, die er sich unaufhörlich ohne Äquivalent aneignet, stets wieder gegen größeres Quantum lebendiger fremder Arbeit umsetzt. Ursprünglich erschien uns das Eigentumsrecht gegründet auf eigne Arbeit. Wenigstens mußte diese Annahme gelten, da sich nur gleichberechtigte Warenbesitzer gegenüberstehn, das Mittel zur Aneignung fremder Ware aber nur die Veräußerung der eignen Ware, und letztere nur durch Arbeit herstellbar ist. Eigentum erscheint jetzt auf Seite des Kapitalisten als das Recht, fremde unbezahlte Arbeit oder ihr Produkt, auf Seite des Arbeiters als Unmöglichkeit, sich sein eignes Produkt anzueignen. Die Scheidung zwischen Eigentum und Arbeit wird zur notwendigen Konsequenz eines Gesetzes, das scheinbar von ihrer Identität ausging.“68

Dieses Verhältnis hat das Privatrecht zu seiner Voraussetzung: Die Menschen müssen sich ohne Unterschied als freie und gleich Rechtspersonen anerkennen, um Verträge untereinander schließen zu können. Aber dieses Rechtsverhältnis bleibt gegen den Inhalt des Vertrages gleichgültig. Tatsächlich sichert das Privatrecht aber nicht nur die Existenz der Ware Arbeitskraft als Bedingung der Kapitalproduktion, sondern auch das Resultat: Das Mehrprodukt und alle produktiven Wirkungen der Arbeitskraft wie das Wissen, der Erfindungsgeist, das Lernvermögen – ihrer Natur nach Potenzen praktischer Freiheit – wirken unter der Maßgabe des Kapitalisten und vergegenständlichen sich in dessen Eigentum. Dagegen bleibt die Produktion für die Arbeiter unproduktiv: Sie leben von dem vertraglich vereinbarten Arbeitslohn, den sie in Lebensmittel umsetzen, die sie verbrauchen. Die Arbeiter müssen auf dem Arbeitermarkt wieder erscheinen. Produktiv wäre ihre Konsumtion nur, wenn der Gebrauchswert ihrer Lebensmittel reproduziert würde. Für den Kapitalisten ist die Reproduktion der Arbeiterklasse dagegen sehr wohl produktiv, weil es für ihn die Reproduktion der Quelle des Mehrwertes ist. In dieser existentiellen Abhängigkeit der Arbeiter von der Lohnarbeit liegt die Perversion des bürgerlichen Vertragsverhältnisses, was den Status gleichberechtigter Rechtspersonen zubilligt, aber nicht zu dem Zweck, die Selbstbestimmung des vernünftigen Willens zu ermöglichen, sondern zu dem Zweck, Mehrwert zu produzieren. „Von gesellschaftlichem Standpunkt ist also die Arbeiterklasse, auch außerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses, ebensosehr Zubehör des Kapitals als das tote Arbeitsinstrument.“69 Tatsächlich findet aber im Kapitalismus keine einfache, sondern erweiterte Reproduktion statt. D. h., daß nicht nur der reproduzierte Wert in den Produktionsprozeß zurückverwandelt wird, so daß dessen Bestandteile ihrem Gebrauchswert nach erhalten bleiben, sondern auch der Mehrwert. Akkumulieren bedeutet, auf erweiterter Stufenleiter zu produzieren. Die Produktion verweist darin auf den gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozess, denn akkumuliert werden kann nur, wenn die sachlichen Bestandteile der Kapitale im System gesellschaftlicher Arbeitsteilung vorliegen. 68 69

Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 609 f. Ebd., 598.

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Gegendarstellung: Zu den ökonomischen Bedingungen der Rechtsphilosophie

Die steigende technische Zusammensetzung der Kapitale wirkt sich auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse aus. Zunächst bedingt das Wachstum des Kapitals und die damit verbundene Ausdehnung der Produktion eine erhöhte Nachfrage nach Arbeitskräften und damit steigende Löhne. Entweder akkumuliert das Kapital unbehelligt weiter, dann stören die erhöhten Löhne nicht. Oder die Akkumulation stagniert, dann werden auch wieder weniger Arbeitskräfte benötigt und der Lohn sinkt. Bei dieser Bewegung ist entscheidend, daß Bedarf und Überfluss von Arbeitskräften von der Entwicklung der Akkumulation abhängt und nicht umgekehrt. „Um mathematischen Ausdruck anzuwenden: die Größe der Akkumulation ist die unabhängige Variable, die Lohngröße die abhängige, nicht umgekehrt.“70 Die Erhöhung der Löhne bleibt also ebenfalls in einem Rahmen, der die Grundlagen des kapitalistischen Systems unangetastet läßt. Im Gesamtzusammenhang betrachtet steigt die technische Zusammensetzung des Kapitals durch Akkumulation und Zentralisation expotential an. Zentralisation bezeichnet die Umverteilung der Kapitale, so daß bereits produziertes Kapital in wenigen Händen konzentriert wird, weil anderswo individuelle Kapitale zerstört werden. D. h. daß im Verhältnis, in dem die Produktionstechnik durch technische Innovationen effektiver und dem absoluten Umfang nach mehr wird, relativ weniger Arbeiter benötigt werden. Dieser Überschuß der Arbeiterbevölkerung ist kein absoluter Überschuß, sondern relativ durch das Verwertungsbedürfnis des Kapitals bestimmt. „Es ist dies ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümliches Populationsgesetz, wie in der Tat jede besondre historische Produktionsweise ihre besondren, historisch gültigen Populationsgesetze hat. Ein abstraktes Populationsgesetz existiert nur für Pflanze und Tier, soweit der Mensch nicht geschichtlich eingreift.“71 Obgleich die nicht beschäftigten Arbeiter für die Einzelkapitale überflüssig sind, erfüllen sie gesamtgesellschaftlich betrachtet eine Funktion für das Kapital: Sie stellen die industrielle Reservearmee dar, die in den Phasen plötzlicher Prosperität aktiviert und der Produktion einverleibt werden kann. Es stehen sich so nicht nur Kapitalisten und Arbeiter als Klassen gegenüber, sondern auch das Heer der Arbeitslosen den angestellten Arbeitern. Während letztere überarbeitet werden, sind erstere zum Nichtstun verdammt. Beide Seiten konkurrieren um die vorhandenen Arbeitsplätze und diese Konkurrenz wirkt sich wiederum zu Ungunsten der Arbeiter, aber zu Gunsten des Kapitals aus. Denn die Überarbeitung der Angestellten macht weitere Arbeitskräfte überflüssig, so daß die 70 71

Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 648. Ebd., 661. Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Mär von den demographischen Veränderungen der Gesellschaft in einem anderen Licht: „Der Sozialstaat ist auf die demographischen Veränderungen der Gesellschaft nicht genügend eingerichtet: Immer mehr älteren Menschen stehen immer weniger Kinder gegenüber. Auf die sozialen Leistungen kann nicht mehr draufgesattelt werden.“ Bundesregierung online. „Grundideen der Agenda 2010.“ 1990. www.bundesregierung.de/ (Zugriff: 15.2.2004), 1. Auch die demographische Entwicklung stellt sich vor allem in Relation zu den ökonomischen Prioritäten des Sozialstaates und damit als politisches Problem dar. Die darin liegende Implikation, daß die älteren Menschen im Gegensatz zu den Kindern unnütz seien, ist menschenverachtend.

Akkumulation

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Reservearmee wächst. Umgekehrt übt die Reservearmee Druck auf die Beschäftigten aus, die jederzeit ersetzbar sind und daher dem Diktat des Kapitals zu folgen haben.72 „Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe des Proletariats und die Produktivkraft seiner Arbeit, desto größer die industrielle Reservearmee. Die disponible Arbeitskraft wird durch dieselben Ursachen entwickelt wie die Expansivkraft des Kapitals. Die verhältnismäßige Größe der industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des Reichtums. Je größer aber diese Reservearmee im Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee, desto massenhafter die konsolidierte Übervölkerung, deren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual steht. Je größer endlich die Lazarusschichte der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der offizielle Pauperismus. Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation. Es wird gleich allen andren Gesetzen in seiner Verwirklichung durch mannigfache Umstände modifiziert, deren Analyse nicht hierher gehört.“73

Erst mit diesem letzten Gesetz der Kapitalproduktion hat Marx den Antagonismus der bürgerlichen Gesellschaft eingeholt, den Hegel notiert, aber mit den Mitteln der Rechtsphilosophie nur unzureichend erklären konnte. Die Tendenz der Verelendung der Arbeiterklasse wird nach Auskunft von Marx „durch mannigfache Umstände modifiziert“ und muß auch modifiziert werden, wenn das Kapitalverhältnis sich nicht seiner eigenen materiellen Grundlage, des Mehrprodukts, berauben will. Wie schon beim Kampf um den Normalarbeitstag ist die für die Verwaltung der industriellen Reservearmee zuständige gesellschaftliche Instanz der Staat mit seiner sozialen Fürsorge. Der Sozialstaat der Bundesrepublik Deutschland sichert das Überleben der Arbeitslosen, aber im Unterschied zu der Vorstellung Hegels, deren Reintegration in die Gesellschaft sei ein moralischer Akt der Anerkennung durch privatrechtliche Institutionen, geht es dem Sozialstaat vor allem um die Reintegration in den Arbeitsmarkt, auch wenn es gar keine passenden Arbeitsplätze gibt. Seit den Reformen der Agenda 2010, die unter anderem das Arbeitslosengeld neu regelten, ist der Bezug von Arbeitslosengeld (entweder I, was eine Versicherungsleistung ist, oder II, was aus Steuergeldern finanziert wird) mit der Forderung nach Eigeninitiative verbunden. Der Grundsatz ‚Fördern und Fordern‘ klingt dann so: „Wer arbeiten kann, muß auch arbeiten wollen. […] Wer zu72

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„Viele Beschäftigte, die an einer Depression oder Angststörung erkranken, gehen trotz Beschwerden weiterhin zur Arbeit und suchen erst sehr spät professionelle Hilfe auf. Für Unternehmen bedeutet das in der Konsequenz: deutlich spürbare Produktivitätseinbußen durch Präsentismus, weil die Betroffenen weniger leistungsfähig sind als gewohnt.“ iga.Fakten 1. „Psychische Gesundheit im Erwerbsleben.“ http://www.iga-info.de/veroeffentlichungen/iga-fakten.html. (10.06.12), 3. Christoph Türcke erklärt den Zwang zur Anwesenheit durch die Angst vor Arbeitslosigkeit: „An den Arbeitslosen zeigt sich ungeschminkt der Fluch der Arbeit, der sich den Arbeitenden als der Segen präsentiert, den es festzuhalten gilt. Die Arbeitslosigkeit ist aber nicht nur der Ernstfall der Arbeit, sondern auch die erzwungene Parodie auf die Kontemplation. Zeit zur Versenkung ins an sich Wahre hätten die Arbeitslosen schon, und von daher auch die Möglichkeit, sich einen angemessenen Begriff vom gesellschaftlichen Ganzen zu machen – aber es fehlt ihnen an den entscheidenden äußeren und inneren Voraussetzungen. Wo die dauernde Sorge ums Materielle quält, kann sich kein spekulativer Gedanke entfalten, und nur aus einem in sich gefestigten Ich, das seiner Bestimmung zur Vernunft um der Vernunft willen ganz gewiß ist, kann er hervorgehen, nicht aus einem Bündel anwendbarer Qualifikationen, als das die Individuen heute gewöhnlich die Ausbildungsstätten verlassen.“ Christoph Türcke. „Gottesgeschenk Arbeit.“ 94. Karl Marx. Das Kapital. Der Produktionsprozeß des Kapitals, 674.

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Gegendarstellung: Zu den ökonomischen Bedingungen der Rechtsphilosophie

mutbare Arbeit ablehnt, obwohl er arbeiten kann, hat mit Sanktionen zu rechnen. Denn Solidarität ist keine Einbahnstraße.“ 74 Die Eigenverantwortung wird notfalls auch erzwungen: Erstens sind die Regelsätze ohnehin so niedrig angesetzt, daß eine Teilnahme der Arbeitslosen am sozialen Leben so gut wie ausgeschlossen ist – zumindest wenn es etwas kostet. Andererseits greifen die Argen durch Leistungsentzug und die Erzeugung anderer ‚Sachzwänge‘ massiv durch.75 In einem Staat, der sich im Zuge seiner NS-Vergangenheit das Verbot zur Zwangsarbeit in den Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes geschrieben hat, entsteht zumindest in der Rechtspraxis das Problem, wie die Ausübung von Zwang, der nicht auf körperlichen, aber ökonomischen Mitteln beruht, zu bewerten ist. Über die prinzipielle Vereinbarkeit hatte das Bundesverfassungsgericht bereits 1979 entschieden, während die Kommentierung das Verhältnis weiterhin problematisiert. 76 Dagegen urteilt das Bundesverwaltungsgericht, daß „Regelungen über gemeinnützige Arbeit und über den Verlust des Anspruchs auf Sozialhilfe bei Weigerung, zumutbare Arbeit zu leisten“77 mit dem Grundgesetz vereinbar sind, weil es erstens dem Betroffenen überlassen bleibe, „ob er ihm angebotene gemeinnützige (zusätzliche) Arbeiten leisten will“, und durch § 25 Abs. 1 BSHG „nur die Folge“ geregelt sei, die sich aus der Ablehnung solcher angebotenen Arbeit ergeben kann. Zweitens sei die „Inanspruchnahme der Freiheit ohne jene Rücksichtnahme auf die Gemeinschaft […] ein Missbrauch, der wegen der Sozialbindung der Grundrechte keinen Grundrechts74 75

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Bundesregierung online. „Reformen der Agenda 2010.“ 11. Olaf Behrend verweist auf die Ausübung sozialer Kontrolle durch die Gesprächsführung bei Beratungsgesprächen zwischen Arbeitslosen und den Argen, die „kooperativ zugewandt oder auch pädagogisierend, dabei nicht selten subtil übergriffig, ggf. zynisch, manchmal latent verachtend und nur hier und da noch in Resten paternalistisch oder offen autoritär“ ist. Olaf Behrend. „Aktivieren als Form sozialer Kontrolle.“ Arbeitslosigkeit und ihre psychosozialen Folgen. Aus Politik und Zeitgeschehen (APuZ), 2008. http://www.bpb.de/publikationen/1HAX2X,0,0,Aktivieren_als_ Form_sozialer Kontrolle.html (Zugriff: 10.06.2012), 17. Zum Ziel der „Aktivierung“ vgl. auch: Wolfgang Ludwig-Mayerhofer u. a. Auf der Suche nach der verlorenen Arbeit. Arbeitslose und Arbeitsvermittler im neuen Arbeitsmarktregime. Konstanz, 2009. „2) Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht. 3) Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.“ Bundesrepublik Deutschland. „Artikel 12“ . Grundgesetz. 1949, 16. Rupert Scholz kommentiert dazu: „Art. 12 schützt nur vor dem Zwang zu ‚bestimmter Arbeit‘, umfasst tatbestandlich allerdings auch keine Arbeitspflicht etwa in dem Sinne, daß jedermann nach Maßgabe seiner Kräfte wenigstens dann zur Beschaffung seines notwendigen Lebensunterhalts arbeiten muß, wenn er andernfalls der Allgemeinheit zur Last fiele.“ Rupert Scholz. „Artikel 12“. In Grundgesetz Kommentar. Hrsg. v. Theodor Maunz, Günter Dürig, u. Rupert Scholz. München, 1991, 29. Gerrit Manssen sieht die Lösung des Problems weniger im GG als in der verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsebene angesiedelt: „Der nach Art. 12 Abs. 2 GG verbotene Zwang besteht in der physischen oder psychischen Beugung des individuellen Willens durch hoheitliche Maßnahmen, um die betroffene Person zu einer bestimmten Tätigkeit zu bewegen. […] Zweifelhaft ist, wie die Ausübung eines mittelbaren Arbeitszwanges durch die Androhung des Entzuges von Begünstigungen und Rechtstellungen zu beurteilen ist. Diese Frage stellt sich etwa im Rahmen der §§ 19 Abs. 2, 25 Abs. 1 BSGH, auf Grund derer Empfänger von Sozialhilfe zu gemeinnütziger Arbeit herangezogen werden können.“ Gerrit Manssen. „Art. 12“. In Kommentar zum Grundgesetz in drei Bänden. Hrsg. v. Hermann von Mangoldt, Friedrich Klein u. Christian Starck. München, 2005, 301 ff. Karl Buchholz u. a. (Hg.). Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. 7. Folge. Köln [u. a.], 1999. 2, 436.0, § 19.

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schutz genösse.“ Die Begründung des Gerichts fußt auf dem Argument, daß die Teilhabe am Sozialstaat zu einem verantwortlichen Umgang mit den Sozialleistungen verpflichte und damit prinzipiell auch die Pflicht zur Erfüllung gemeinnütziger Arbeit eingefordert werden könne. Mit diesem Urteil kann grundsätzlich auch das Vorgehen der Argen gerechtfertigt werden. Entscheidend für die rechtsstaatliche Vertretbarkeit ist die Unterscheidung zwischen körperlichen und materiellen Zwängen, denn letztere seien nur indirekt und regelten die Folgen der Handlung, sie erzwängen sie nicht. Danach besteht das Vergehen also darin, der Allgemeinheit zur Last zu fallen. Wenn aber eine Gesellschaft nicht den Zweck hat, das Leben der Menschen gut zu gestalten, sondern die Ökonomie zum Selbstzweck wird, und wenn in einer solchen Gesellschaft Arbeitslosigkeit notwendig entsteht, dann wird der Sozialstaat ebenso zum Mittel einer solchen Gesellschaft. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes wird den Arbeitslosen ihr ökonomisches Los auch noch ideologisch aufbürdet. Ihr individuelles Bedürfnis ist – gemessen am Verwertungsbedürfnis, unnütz und daß sie unnütz seien, soll ihnen in ihrer ganzen Existenz vergegenwärtigt werden. Daran zeichnet sich ab, was vom selbstbestimmten Willen und der Symmetrie der Rechte und Pflichten, die auch Hegel zum Prinzip erklärt hatte, geworden ist: Der vernünftige Wille hat den Augenblick seiner Verwirklichung versäumt. Die Hegelsche Subjektivität ist als absolute Reflexivität das Unvermögen zur historischen Tat. Aber eben die wäre ein erster Schritt, die vergesellschaftete Produktion zum Ausdruck realisierter Individualität zu machen.

6 Resultate. Das Scheitern der Selbstbestimmung

Das Ausgangsproblem der Untersuchung war das Wechselverhältnis zwischen dem Arbeitsbegriff Hegels und der gegenwärtigen Auffassung über die Bedeutung und den Sinn von Arbeit, wobei die Frage im Vordergrund stand, welche Relevanz der Arbeitsbegriff Hegels für das Verständnis des gegenwärtigen Lebens und Arbeitens haben könne. Diese Fragestellung ist auf der Grundlage der hier durchgeführten Hegelinterpretation im letzten Schritt einzuholen. Während in der antiken Philosophie die Arbeit der Muße entgegengesetzt und gegenüber dieser abgewertet wird und während sie im frühen Christentum als Strafe für die Erbsünde aufgefaßt wird, was auch später ein Moment des mittelalterlichen Arbeitsbegriffs bleibt, erscheint sie seit der Reformation bis zur Moderne mehr und mehr als Inbegriff der Selbstverwirklichung. In der Gegenwart wird die Arbeitswelt als eine Sphäre betrachtet, deren Teilhaber, die Beschäftigten, zugleich gesellschaftliche Anerkennung erfahren, insofern und weil sie ökonomisch erfolgreich sind. Die Analogie zwischen dieser modernen Ansicht und der philosophischen Fragestellung Hegels liegt in der Verschränkung der Begriffe Arbeit, Anerkennung und Selbstbestimmung. Bei Hegel lag der Vermittlung dieser Begriffe ein philosophiegeschichtlich begründetes Problem zugrunde: das Programm der Vermittlung der Begriffe des Denkens und Seins. Hegel begreift diese Vermittlung als zweckmäßig und den Prozeß der Vermittlung entsprechend als Selbstbestimmungs- und Arbeitsprozeß des Begriffs in verschiedenen Sphären des Geistes wie der Natur, der Geschichte oder der Gesellschaft. Schon Aristoteles hatte die Vermittlung von Form und Materie im Einzelding als zielgerichtete Formung der Materie bestimmt und damit in Anlehnung an den Prozeß handwerklicher Tätigkeit. Die aristotelische Vorstellung wirkte in der Scholastik ebenso nach, wie sie auch in moderneren Theorien weiterentwickelt wurde – bis hin zu Kant, bei dem das teleologische Prinzip zwischen Natur- und Freiheitsbegriffen vermitteln soll. Die Teleologie diente stets als ein Begriff, mit dem ontologische Prozesse erklärt wurden, was aber wechselte, waren die jeweils zu verbindenden Relate: Substanz und Akzidenz bei Aristoteles, Gott und Welt in der Scholastik, Natur- und Freiheitsbegriffe bei Kant – um nur einige Beispiele herauszugreifen.

Resultate. Das Scheitern der Selbstbestimmung

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An Hegels Teleologiebegriff konnte hingegen gezeigt werden, daß er der systematisch umfassende Versuch ist, den teleologischen Gedanken als Prinzip der Vermittlung von Subjektivität und Objektivität schlechthin zu erweisen. Tatsächlich gelingt Hegel der Nachweis, daß das Problem der Vermittlung weniger abstrakt ist, als es sich in der erkenntnistheoretischen bzw. metaphysischen Tradition dargestellt hatte: Subjektivität und Objektivität werden zwar philosophiegeschichtlich als einander wesensfremde Begriffe bestimmt. Weil sie aber nicht geschichtslos sind, sondern zu einem fortgeschrittenen Zeitpunkt untersucht werden – in diesem Fall der Gegenwart Hegels – liegen sie nicht als Rohmaterial vor, sondern sind bereits Resultate der Versuche, ihre Relation sowohl philosophisch zu bestimmen als auch praktisch zu verwirklichen. Damit haben Subjektivität und Objektivität, Theorie und Praxis eine geschichtlich-praktische Affinität. An ihnen ist Arbeit verrichtet, in ihnen sind Zwecke verwirklicht worden, so daß sie an sich, ihrer objektiven Beschaffenheit nach, bereits zweckmäßig sind. Das Programm Kants, nach den Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung oder in Hegels Terminologie der Vermittlung von Subjektivität und Objektivität zu fragen greift für Hegel deshalb zu kurz: Die Vermittlung beider Begriffe ist möglich, weil ihre Affinität zueinander sich in der Praxis als wirklich erwiesen hat. Die Selbstbestimmung des Begriffs auf der Grundlage dieser Affinität ist aber noch durchzuführen. Dies ist der Leitgedanke Hegels, auf dessen Durchführung die verschiedenen Begriffe von Arbeit und Selbstbestimmung aus der Wissenschaft der Logik, der Phänomenologie des Geistes und den Grundlinien der Philosophie des Rechts überprüft wurden. Im Verhältnis der Phänomenologie des Geistes zur Wissenschaft der Logik spiegelte sich dieses Verhältnis als das Verhältnis der Geschichte des Selbstbewußtseins zum Begriff des Denkens wieder: Die Phänomenologie bereitete den Standpunkt der Wissenschaft der Logik vor. Sie stellte die Begründung dafür dar, daß das Wissen in seiner Genese zum absoluten, mit dem Denken identischen Wissen zusammengeht. Der Geist erfährt in der Phänomenologie, daß in ihm keine Vorstellungen vorhanden sind, die nicht dem Kriterium der Übereinstimmung mit dem Gegenstand genügen sollen. Das Streben nach Wahrheit ist das Motiv der Entwicklung des Geistes. Darin ist er auf alle anderen Vorstellungen systematisch bezogen. In der Logik soll gezeigt werden, daß das Resultat der Phänomenologie, also das Vermittelt-Sein der Vorstellungen mit dem Denken im absoluten Wissen, nicht nur als geschichtliches Resultat hervortritt, sondern aus dem Begriff des Denkens und seiner eigenen Gesetzmäßigkeit ursprünglich folgt. Um das nachweisen zu können, muß Hegel die Genese dieses Programms in der Phänomenologie am Anfang der Logik abtrennen und diesen als reinen, ursprünglichen und voraussetzungslosen Anfang behandeln. Damit ist gleichsam eine Arbeitshypothese formuliert, die Hegel in der Wissenschaft der Logik einholen muß. Es ergibt sich aber die Paradoxie, daß dieser Schritt in der Phänomenologie und dem Anfang der Wissenschaft ausführlich begründet wird, nur um dann im folgenden davon zu abstrahieren. Dieser Schritt kann, wie Hegel selbst einräumt, auch als ein Akt der Willkür betrachtet werden. Impliziert wird mit diesem Schritt ein Subjekt, das die Hypo-

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Resultate. Das Scheitern der Selbstbestimmung

these formuliert und ihre Begründbarkeit antizipiert, ohne daß dieses Subjekt von Hegel im Anfang der Wissenschaften thematisiert würde. Wenn aber die Selbstbestimmung des Begriffs in der Logik gemäß dem Programm Hegels gelingen soll, dann müssen sich deren Bestimmungen ohne Rückgriff auf Bedingungen erweisen lassen, die in der Wissenschaft der Logik nicht eingeholt werden können. Gegenstand der Wissenschaft der Logik ist das Denken als solches, sofern es transzendentallogisch bestimmt ist. Mit den Kategorien und Begriffen der Wissenschaft der Logik werden die Probleme der traditionellen Erkenntnistheorie, Ontologie und Logik kommentiert und weiterentwickelt, so daß die Begriffe der Logik von den traditionellen, philosophischen Begriffen als ihrem Gegenstand einerseits unterschieden werden. Weil sie aber zugleich auch in der Logik weiterentwickelt werden, sind sie von ihrer Kommentierung bzw. von der Bewegung in der Wissenschaft der Logik nicht zu unterscheiden. Sie sind Momente der Einheit von Einheit und Unterschied. Die Vermittlung von Denken und Gegenstand des Denkens, von Subjektivität und Objektivität ist zweckmäßig, denn gelingt die Vermittlung dieser Begriffe nicht, dann kann auch nicht erklärt werden, wie Erkenntnis logisch konsistent zu denken ist. Auf der Stufe der Teleologie haben die Begriffe der Subjektivität und Objektivität ihre Bestimmungen durch die der Teleologie vorgängigen Entwicklungsstufen erhalten. In der Lehre vom Sein hatte Hegel die Kategorien der Qualität, der Quantität und des Maßes bestimmt, in der Lehre vom Wesen verhandelt er das Verhältnis des Einzelobjekts zur Erscheinung, zum Ding an sich, zur Substanz, Form, Materie etc. Außerdem wird auf den Freiheitsbegriff reflektiert, der bei Hegel als Realisierung der systematischen Vermittlung von Subjektivität und Objektivität gefaßt wird: Ausdruck von Freiheit ist es, wenn die Subjektivität in ihren Bedingungen mit sich zusammengeht, denn dann hat sie sich dasjenige, was der Realisierung ihrer Freiheit entgegensteht, angeeignet. In der Lehre vom Begriff erarbeitet Hegel einen durch die logischen Schlußformen vermittelten Begriff von Subjektivität, der die Objektivität nicht länger in vielen Einzeldingen vorfindet, sondern als denjenigen Begriff, in dem alle Aspekte der Reflexion auf Objektivität aufgehoben worden sind. In der Teleologie ist Objektivität daher nicht Entität, Ding an sich, Erscheinung usw., noch ist es Natur, Welt, Kosmos o. ä. Objektivität ist der vermittelte Inbegriff all dieser Momente und so selbst zum Totalitätsbegriff geworden. Die Bestimmung der Objektivität hat somit die gesamte Logik zu ihrer Voraussetzung und zu ihrem Inhalt. Ebensowenig wie die Objektivität ein Einzelding ist, ist die Subjektivität auf der Stufe der Teleologie ein endliches Individuum. Subjektivität ist vielmehr der Begriff, in den die Reflexion auf die Bestimmung der Objektivität fällt, also Einheit und movens der Logik. Wenn in der Teleologie der subjektive Zweck mit der Objektivität vermittelt wird, dann beziehen sich zwei Begriffe aufeinander, deren Affinität – wie in der Arbeitshypothese antizipiert wurde – tatsächlich bereits vorausgesetzt werden kann. Der subjektive Zweck bezieht sich auf die Objektivität als sein Anderes. Seine Bestimmung ist es, nicht die Objektivität zu sein. Die Objektivität ist insofern das Mittel der Bestimmung des

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subjektiven Zwecks. Weil aber der Begriff der Objektivität als Mittel der Realisierung des subjektiven Zwecks eine Bestimmung ist, die die vorangegangenen Bestimmungen der Wissenschaft der Logik zur Voraussetzung hat, und weil in den vorangegangenen Bestimmungen am Begriff der Objektivität gezeigt wurde, daß sein Wesen ist, durch die Subjektivität bestimmt zu sein, ist er in dieser Hinsicht dasselbe, was der Begriff der Subjektivität ist. Objektivität ist der ausgeführte Zweck, in dem die Momente der Subjektivität und der Objektivität vermittelt sind; er ist das durchgeführte Programm der Logik – absolute Idee. In der Idee sei somit auch der Freiheitsbegriff eingeholt worden: Sie ist frei in dem Sinne, ihre eigenen Bedingungen aus sich begründet zu haben. Der Übergang vom ausgeführten Zweck zum erstens Begriff der Idee, dem Leben sollte damit begründet sein. Trotzdem hatte Hegel der Idee eine ausführliche Bestimmung des Lebensbegriffs vorangestellt, die in Abgrenzung gegen traditionelle Lebensbegriffe argumentierte und damit außerhalb der eigentlichen Begriffsentwicklung stand. Die traditionellen Begriffe wurden so mit ihren logischen Desideraten abermals vermittelt. Daran zeigt sich, daß die traditionellen Lebensbegriffe nicht in der Bewegung der Logik aufgehen, sondern Implikationen haben, die Erklärungsbedarf erzeugen. Diese Implikationen sind Ausdruck davon, daß die Begriffe in ihren traditionellen Fassungen gegenüber den Fassungen der Logik auch Eigenständigkeit beanspruchen und darin als Materie der Logik auch unterstellt bleiben. Das Leben wird von Hegel als vollkommene, innere Zweckmäßigkeit von Seele und Leib, Assimilation und Reproduktion, schließlich Individuum und Gattung konstruiert. Das Individuum wird im Entstehen und Vergehen der Exemplare im Gattungsbegriff aufgehoben. Die Gattung sei das Wesen des Individuums, dessen Funktion sich im Sterben zwar nicht erschöpfe, aber doch erfülle. Im Sinne des Programms der Logik ist dieser Schluß folgerichtig. Die Idee weist den Individuen ihre Funktion innerhalb der Wissenschaft der Logik als Bestimmungsmoment zu, um sie ebenso auch wieder aufzuheben. Damit holt Hegel einerseits die Voraussetzung vom Anfang der Logik ein, den Entschluß, die Entwicklung rein aus dem Denken unabhängig von der Vermittlung durch die Phänomenologie und den Entschluß eines Individuums durchzuführen. Andererseits hebt dieser Gattungsbegriff die individuelle Grundlage jeden Denkens auf. Obgleich Hegel wie alle Momente so auch das Sterben der Individuen im Begriff aufheben möchte, treten tatsächlich Begriff und Existenz des Individuums auseinander, denn wenngleich Individuen überhaupt auch über den Tod der bestimmten Einzelnen hinaus als Exemplare die Gattung bilden, wird die Existenz der bestimmten Individuen im Tod gerade nicht bewahrt, sondern abstrakt negiert. Was bleibt, ist nur die Erinnerung an sie in den noch lebenden Individuen. Diese Differenz wird in Hegels Idee wie im Geistbegriff nicht hinreichend reflektiert. Es konnte also gezeigt werden, daß aus dem Denken in seiner transzendentallogischen Bestimmtheit ein Begriff folgt, der den Individuen in seiner Geltung als System transzendent ist. Das spiegelt sich im Verhältnis von Individuum und Gattungsbegriff wieder. An anderen Stellen weist Hegel hingegen durchaus darauf hin, daß die Idee nur in den Individuen existiert (so z. B. in den Vorlesungen zur Ästhetik, wo es um das sinn-

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liche Scheinen der Idee geht). Insofern bleibt diese Bestimmung insgesamt bei Hegel ambivalent. Andererseits: Gerade weil es sich in der Logik um eine konsequente Durchführung der Selbstbestimmung des Begriffs handelt, ist dieses Resultat bedenklich. Objektivität und Subjektivität sind jeweils als Totalitäten bestimmt worden, die in einer weiteren Totalität, der Idee, miteinander vermittelt sind. Das ist verwirrend genug, weil es dem Begriff nach nur eine Totalität geben kann. Darüber hinaus zeigt sich aber am Gattungsbegriff die Konsequenz aus dieser Bestimmung, der das Endliche und die Individuen eingepaßt werden. Es ist zu fragen, inwieweit auch die Realisierungen der logischen Idee als Gestaltungen des subjektiven und objektiven Geistes, also der Phänomenologie und den Grundlinien diesem Begriff der Logik eingepaßt werden. Durch die Kommentierung der Logik konnte also ersten gezeigt werden, daß in der Argumentation Hegels die zwei Ebenen, die in der Logik vermittelt werden sollten – die traditionellen und die logischen Begriffe, Geschichte und Begriff des Denkens – gegen seine Arbeitshypothese nur teilweise aus dem Instrumentarium der Wissenschaft der Logik reproduziert werden konnten und sich insofern auch gegen das Vermittelt-Werden sträuben. Die traditionellen Begriffe behalten ihre Eigenständigkeit jenseits der Wissenschaft der Logik und bleiben dieser als deren Material ebenso unterstellt. Zweitens war das empirische Subjekt, das die Arbeitshypothese der Logik formuliert und vorangetrieben hatte, mit dem Begriff der Subjektivität nicht vermittelt worden und blieb diesem deshalb zugleich unterstellt. Es führt daher zu einem Bruch im Begriff der Gattung. Die Begriffe der Logik gelten zwar unabhängig von der Meinung der Individuen, aber sie existieren nicht unabhängig davon, durch sie gedacht zu werden. Das Individuum ist die subjektive Bedingung der Existenz seiner Begriffe. Weder sind die Begriffe der Objektivität, noch die der Subjektivität Totalitäten. Dieses Resultat ist ambivalent: Einerseits zeigt Hegel, daß es eine notwendige Tendenz des Denkens ist, sich absolut zu setzen. Das liegt in seinem Anspruch, sich in ein wissenschaftliches Verhältnis zur Welt zu setzen. Das Wahrheitskriterium ist ebenso Kriterium des Denkens wie die Forderung nach Objektivität, d. h. notwendig und allgemein gültigen Urteilen. Daraus folgt, wie Hegel in der Logik zeigt, in letzter Konsequenz die vollständige, systematische Vermittlung des Denkens mit allen Gegenständen als Selbstbestimmung des Begriffs. Wenn aber der Anspruch an Wissenschaftlichkeit (die bei Hegel weit mehr beinhaltet als Methodenreflexion, die Einhaltung der Regeln guter wissenschaftlicher Praxis oder eine plagiatfreie Zitierweise, nämlich Wissenschaft selbst) dem Denken angehört, dann kann weder der Anspruch an Wissenschaftlichkeit, noch das Subjekt, welches diesen Anspruch formuliert, aufgegeben werden. Entsprechend wurde auf das Wechselverhältnis des empirischen Subjekts zu seinem Begriff als Subjektivität verwiesen. Aber dieses Wechselverhältnis ist vor dem Hintergrund der formulierten Kritik anders zu akzentuieren: Nicht aus der Perspektive der Subjektivität, sondern der Objektivität. Die systemphilosophische Einbettung der kommentierten Passagen in die Geistphilosophie sollte in der Arbeit nicht erschöpfend behandelt werden; Hegels Begriff des Geistes spielt allerdings insofern eine Rolle, als Arbeit, gesellschaftliche zumal, ein Bestandteil des geschichtlich objektivierten Geistes ist und diese Objektivität sich an ihrem

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logischen Anspruch einerseits und der gesellschaftlichen Realität andererseits messen lassen muß. Wenn das Wechselverhältnis von Subjektivität und Objektivität kritisch zu fassen ist, dann wirkt das auf die Strukturen und Bestimmungen der Objektivität ebenso zurück wie auf die Subjektivität: Während ein Resultat der Logik Hegel zufolge war, daß die Idee ihre Bedingungen aus sich reproduzieren könne, und damit das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität mit der Priorität der Subjektivität durchgeführt ist, sollte an der Phänomenologie und den Grundlinien gegen Hegels eigene Intention aufgezeigt werden, inwiefern Selbstbestimmung des Selbstbewußtseins durch Herrschaft und gesellschaftliche Organisation bedingt bleibt bzw. verhindert wird. In der herrschaftlich organisierten Arbeit hat Selbstbestimmung eine Grenze, die sich noch im Scheitern der gesellschaftlichen Selbstbestimmung in den Grundlinien geltend macht. Nicht weiterverfolgt wurde hingegen die Weiterentwicklung des Geistbegriffs, der bereits in der Phänomenologie des Geistes dem Individuum eine andere Stellung gewährt als noch in der Logik: Ich, das Wir, und wir, das Ich ist. Hegel selbst bietet in der Phänomenologie des Geistes den Versuch der Begründung des Übergangs vom Selbstbewußtsein über die Vernunft bis zum Geist und des darin thematisch werdenden Rechtszustandes an. Die Abfolge der Kapitel in dieser Arbeit folgte also nicht der Ordnung Hegels, sondern der Ordnung, die durch das Thema dieser Arbeit, das Wechselverhältnis von Arbeit und Selbstbestimmung, erfordert ist: Begriff, Geschichte, Gesellschaft, Gegenwart. Der terminus ad quem der Kommentierung Hegels, zu zeigen, wie die Perspektive aus der Objektivität heraus auf die Subjektivität umzusetzen ist, sollte auch in der Form der Darstellung reflektiert werden. Der Begriff des Selbstbewußtseins der Phänomenologie wurde auf seine Bedingtheit hin befragt. Der Begriff des Selbstbewußtseins, den Hegel in den Bewußtseinskapiteln entwickelt hatte, war der Begriff eines Vermögens, das die Potenz hat, absolutes Wissen zu werden. Es ist der Begriff eines Selbstbewußtseins, das vor dem Hintergrund seiner geschichtlichen Situation reflektiert ist, aber mit der Pointe, daß es sich als Grund dieser geschichtlichen Situation wiederum absolut setzt. Der Begriff des Selbstbewußtseins geht, über die Reflexionsstufen der sinnlichen Gewißheit, der Wahrnehmung und der Kraft des Verstandes vermittelt, als der Begriff des Unterschiedes hervor, der keiner ist. Im Selbstbewußtsein ist der Verstand mit seinen Kategorien wie dem Begriff des Gesetzes, der Kausalität, der Kraft, ebenso vermittelt worden, wie mit den Gegenständen der sinnlichen Wahrnehmung und der naturwissenschaftlich konstituierten Erfahrung. Dieses Selbstbewußtsein realisiert sein Wesen, absoluter Grund der Erfahrung zu sein, im herrschaftlich bestimmten Anerkennungsverhältnis. Weil die Realisierung des Selbstbewußtseins Zweck der Herrschaft ist, anerkennt der Knecht den Herren als denjenigen, der im Kampf auf Leben und Tod seinen Anspruch auf Anerkennung durchsetzen konnte. Der Knecht soll Anerkennung in seiner Arbeit erfahren. Indem er seine Zwecke in der Natur setzt, wird er sich seiner Fähigkeiten, die Natur zu beherrschen, und darin Grund der Erfahrung zu sein, bewußt. Das Bewußtsein dieser Freiheit ist zunächst abstrakt oder wie Hegel es nennt, stoisch, so daß die weitere Entwicklung der Phänomenologie auch auf die praktische Befreiung des knechtischen Selbstbewußtseins gehen muß.

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Aber auch hier hatte sich bei näherem Hinsehen gezeigt, daß Hegel das Resultat der Befreiung durch Herrschaft nur durch eine teleologische Konstruktion begründen kann. In der historisch-kritischen Betrachtung naturwissenschaftlicher Theoriebildung erscheint nicht das telos der Begründung der Einheit des Selbstbewußtsein als das Resultat der Entwicklung, sondern das Bewußtsein der Differenz von Selbstbewußtsein und Naturwissenschaft. Geschichtlich ist das Selbstbewußtsein kein absoluter Grund, sondern ein durch die historischen Bezüge von Kritik und Fortschritt des Denkens und der Praxis bedingtes Vermögen. Ein geschichtlich bedingtes Selbstbewußtsein ist dann auch kein zuverlässig vernünftiges mehr, sondern eines, das sich zunächst vor allem um seine Existenzbedingungen kümmern muß, bevor es Selbstbewußtsein werden kann. Also anders als von Hegel intendiert ist das Selbstbewußtsein vor seiner geschichtlichen Realisierung zwar als Vermögen der Selbsterkenntnis und -bestimmung angelegt. Es ist aber nicht unabhängig von den jeweiligen geschichtlichen Bedingungen zu denken. Es ist sowohl selbst- als auch fremdbestimmt. Geschichtlich liegt das Interesse, Herrschaft über andere Menschen auszuüben, nicht darin, das Selbstbewußtsein zu realisieren, sondern über das Mehrprodukt der anderen zu verfügen. Die Anerkennung und Entwicklung des Selbstbewußtseins anderer Menschen durch Herrschaft zu verhindern, und sie dem eigenen willkürlich bestimmten Interesse unterzuordnen, bleibt ein kontradiktorischer Widerspruch, der systematisch nicht aufzulösen ist: Aus unvernünftigen Bedingungen sind vernünftige nicht ableitbar. Ein entwickeltes Niveau der Produktivkraft ist zwar die notwendige Bedingung politischer Befreiung, aber kein hinreichender Grund. Vom Standpunkt der Hegelschen Argumentation aus stellt sich aber auch das Verhältnis von Selbstbewußtsein und Herrschaft anders dar. Herrschaft sei ein notwendiges Durchgangsmoment, um das Selbstbewußtsein geschichtlich herauszubilden. Aber dieses Verhältnis werde mit dem Eintritt der Menschen in den bürgerlichen Rechtszustand aufgehoben. Im bürgerlichen Rechtszustand sei das, was als wahr erkannt worden ist, praktisch realisiert worden. In den Grundlinien konstruiert Hegel den Begriff einer gesellschaftlichen Organisation, in der die Selbstbewußtseine geschichtlich zu sich selbst gekommen sind, in der jeder einzelne mit sich, jeder mit allen und mit der Welt als zweiter Natur vermittelt ist und so in den Zustand realisierter Sittlichkeit eingetreten ist. Das Privatrecht ist Hegel zufolge die sozialontologische Form vernünftiger Willensbestimmung und die Grundlage, auf der das System der Bedürfnisse in der bürgerlichen Gesellschaft organisiert ist. Arbeit hat innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft eine doppelte Funktion: Sie dient der materiellen Reproduktion der Gesellschaft und weil jeder, der arbeitet, seinen Beitrag zu einer Gesellschaft leistet, die Hegel als Inbegriff vernünftiger Willensbestimmung bestimmt, erfahren die Arbeitenden auch gesellschaftliche Anerkennung. Obgleich die bürgerliche Gesellschaft von Hegel als ein Zusammenhang bestimmt wird, der selbst nicht sittlich ist, sondern die einfache Negation der Sittlichkeit der Familie oder Not- und Verstandesstaat, obwohl die bourgeois nur ihren technisch-praktischen Interessen nachgehen und um die Teilhabe am System der Bedürfnisse konkurrieren, implementiert Hegel der bürgerlichen Gesellschaft mit der Anerkennung durch Arbeit ein sittliches Moment. Obgleich Hegel aber alle Mitglieder der Gesellschaft zu

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Privateigentümern bestimmt hat, denen die Mittel ihrer Teilhabe an der bürgerlichen Gesellschaft und dem System der Bedürfnisse gegeben sind, stellt er selbst dar, daß die Reproduktion nicht für alle gleichermaßen gut gelingt. Die Existenz der Armen kann Hegel weder aus der systematischen Funktion der bürgerlichen Gesellschaft erklären, ihren Mitgliedern ihre Reproduktionsmittel zukommen zu lassen, noch kann er erklären, wie die Armen zu ihrem Recht kommen, anerkannt und durch die Gesellschaft materiell versorgt zu werden. Auch können die Mitglieder der von Hegel entworfenen Gesellschaft ihr recht nicht politisch einklagen, weil eine politische Opposition dort keinen Ort hat. So sehr einerseits die Hellsichtigkeit Hegels darin liegt, diese Widersprüche notiert zu haben, so wenig konnte er sie systematisch vermitteln. In dieser Diskrepanz zwischen dem systematischen Anspruch Hegels und dessen Undurchführbarkeit im Begriff gesellschaftlicher Realität erscheinen die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht als das, was sie geschichtlich sind, sondern als das, was sie dem rechtsphilosophischen Standpunkt nach sein sollen. Damit hält die politische Ökonomie Einzug in die Wirklichkeit der Grundlinien und trennt deren Momente wieder – die Vernunft und die Geschichte. Der Grund für den von Hegel dokumentierten Widerspruch ist dem philosophischen System nicht immanent, sondern transzendent, weil er nicht in einem vernünftig bestimmten Willen liegt, wie Hegel meinte, sondern in die Vorgeschichte der bürgerlichen Revolutionen und Reformen zurückverweist. Entsprechend hat Hegel diesen Widerspruch auch nicht befriedigend erklären können. Die ökonomischen Bedingungen und deren Vorgeschichte, in der die Menschen durch Gewalt von ihren Produktionsmitteln getrennt wurden, analysiert Marx im Kapital. Er zeigt, daß die in den vorbürgerlichen Epochen etablierten Herrschaftsverhältnisse mit den Revolutionen und Reformen der Neuzeit nicht beendet worden sind, sondern daß sie in eine neue, unpersönliche Form der Herrschaft transformiert worden sind. Der Zweck dieser neuen Form der Herrschaft ist derselbe wie zuvor: die Verfügung über das Mehrprodukt. Darin behält der Begriff der Herrschaft der Phänomenologie seine Gültigkeit, obwohl er sich auf eine geschichtliche Situation bezieht, die obsolet zu sein scheint. Herrschaft bleibt auch der geschichtliche Gegenstand der Kritik an den Grundlinien. Was sich aber mit dem bürgerlichen Rechtszustand geändert hat, ist die gesetzliche Form und die organisatorischen Mittel: Privateigentum, Warenproduktion zum Zweck der Akkumulation, Produktion und Akkumulation des Mehrwerts. Auf der Grundlage des Privateigentums an Produktionsmitteln richtet sich die Produktion am Zweck der Akkumulation von Produktionsmitteln aus, die Menschen werden als Menschen zur Nebensache, vor allem ihre Arbeitskraft zählt. Zugleich wird durch Technisierung die Produktivkraft in einem ungeheurem Maße rastlos gesteigert. Und auch wenn die heutigen Verhältnisse anders gewichtet zu sein scheinen als zur Zeit der Industrialisierung, so beruhen sie doch auf dem Fundament dieser Produktion, die so produktiv ist, daß es so scheint, als sei sie gar nicht mehr konstitutiv für die Gegenwart. Daß dabei nur der kleinere Teil der Menschheit von den Auswirkungen dieses Produktivkraftniveaus überhaupt profitiert, während der größere Teil ein Leben am und unter dem Existenzminimum führt, stürzt die wenigsten in Zweifel.

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Hegels Systemprogramm kann nur unter der Voraussetzung gelingen, daß die Objektivität bereits an sich zweckmäßig verfaßt ist. Während Hegel diese zweckmäßige Verfassung in Eins zum Ausdruck der Selbstbestimmung erklärte, erwies sich in der Kritik, daß zwischen selbst- und fremdbestimmten Zwecken zu unterscheiden ist: Das bezog sich auf die naturwissenschaftliche Theoriebildung ebenso wie auf das Scheitern der Selbstbestimmung im Herrschaftsverhältnis und der Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft. In diesem Scheitern wird die Differenz zwischen dem Zweck der Selbstbestimmung, der alle materiellen Bedingungen adäquat vorfindet, und den Zwecken gesetzt, die sich ergeben, wenn es um die Organisation des täglichen Lebens geht. Beides kann, muß aber nicht zusammenstimmen. Eine Objektivität, die dem Begriff der Idee, dem Begriff vom wissenschaftlichen Denken, dem guten Wollen adäquat wäre, die, wie Hegel gezeigt hat, eine Totalität von Totalitäten sein müßte, gibt es historisch nicht. Obwohl geschichtlich Zwecke in der Welt realisiert worden sind, ist diese nicht die Realisierung der Selbstbestimmung. Arbeit, Anerkennung und Selbstbestimmung sind nicht gleichzusetzen, wenngleich sie vermittelt werden sollen. Die hier durchgeführte Kritik am Arbeitsbegriff Hegels ist qualitativ von der verbreiteten liberalistischen Kritik unterschieden. Die Reduktion der Kritik am Rechtsbegriff Hegels darauf, daß er den preußischen Staat affirmativ abbilden wolle, verfehlt die Intention Hegels, einen Begriff von Gesellschaft zu begründen, der für alle einsehbar sein können muß und in dem die moralischen und die technisch-praktischen Zwecke koordinierbar sind. Darin ist ein Freiheitsbegriff angelegt, der nicht nur auf Handlungsfreiheit und Handhabung von Rechtskollisionen ausgelegt ist, wie ein liberaler Freiheitsbegriff. Er weist auch über den neuen deliberativen Begriff von Selbstbestimmung hinaus, indem er die materiellen Bedingungen einbezieht. Selbstbestimmung und ihre Verwirklichungsbedingungen werden zu Momenten wirklicher sachbestimmter Freiheit, die weder beliebig noch despotisch ist. Problematisch bleibt aber, daß diese Freiheit nicht realisiert ist. Umgekehrt: Das Auseinanderfallen des sittlichen Zwecks der Selbstbestimmung und der ökonomischen Arbeit ist ein historisches Phänomen, ein Phänomen der Moderne, das seinen Maßstab der Kritik einerseits an der Idee der Vermittlung hat, andererseits aber keine Vermittlung im Begriff, sondern nur eine in der Geschichte sein kann. Mit dem Bewußtsein der Differenz von Arbeit und Selbstbestimmung kann dann auch eine Arbeitswelt nach ihren Zwecken hinterfragt werden, die, ganz von sich selbst überzeugt, das Nützlichkeitskriterium mit dem der Selbstverwirklichung verwechselt. Die Vorstellungen, daß Arbeit Selbstverwirklichung sei, und die Arbeitslosen unverantwortlich, erweisen sich im Bewußtsein dieser Differenz als obsolet, ebenso wie die Gründe dafür sichtbar werden, wider besseren Wissens daran festzuhalten. Derart kritisch gewendet scheint ein Freiheitsbegriff jenseits der Nützlichkeit auf: die Freiheit, Möglichkeiten ungenützt zu lassen: „Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und läßt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen. Einer Menschheit, welche Not nicht mehr kennt, dämmert gar etwas von dem Wahnhaften, Vergebli-

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chen all der Veranstaltungen, welche bis dahin getroffen wurden, um der Not zu entgehen, und welche die Not mit dem Reichtum erweitert reproduzierten. Genuß selbst würde davon berührt, so wie sein gegenwärtiges Schema von der Betriebsamkeit, dem Planen, seinen Willen Haben, Unterjochen nicht getrennt werden kann. Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, ‚sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung‘ könnte an Stelle von Prozeß, Tun, Erfüllen treten und so wahrhaft das Versprechend er dialektischen Logik einlösen, in ihrem Ursprung zu münden.“1

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Personenregister

Adorno, Theodor W. 11, 15, 21, 38 f., 41 f., 92, 164, 182, 199, 274, 280, 299, 302 Althusser, Louis 31 f. Altvater, Elmar 37 Arendt, Hannah 28 Aristoteles 11, 36, 63 ff., 70, 76, 78, 89, 94, 98, 126, 129, 170, 219, 290, 297 Arndt, Andreas 18, 36 ff., 41, 55, 64, 79, 84, 112, 121 f., 125, 135, 148, 177, 183, 220, 233, 280 Balibar, Etienne 32 Baratella, Nils 168 Bauer, Leonhard 199 Bauer, Wilko 212 Becker, Werner 30 Behrend, Olaf 288 Bensch, Hans-Georg 49, 122, 142, 154 Berger, Maxi 84, 128 Bertram, Georg W. 176 Bloch, Ernst 29 Bluhm, Harald 183 Bockenheimer, Eva 233, 235 Bourdieu, Pierre 31 ff. Bowman, Brady 124 Brandt, Reinhard 212 Brocker, Manfred 27 Bucharin, Nikolai Iwanowitsch 13 f. Buchholz, Karl 288 Bulthaup, Peter 38 f., 53, 59, 108, 202, 209 Bundesregierung online 286, 288 Bundesrepublik Deutschland 288 Canterbury, Anselm von 60 Capelle, Wilhelm 123

Conze, Werner 12, 14 Deggau, Hans-Georg 199, 202, 207 f. Descartes, René 61 Dijksterhuis, Eduard J. 150, 152 f. Dubsky, Ivan 40, 162, 279, 280 Einstein, Albert 150, 154 Elbe, Ingo 265 Ellmers, Sven 252 Engels, Friedrich 27, 40, 215, 270 f., 276 f., 279, 280 f. Europäische Bildungsminister 283 Fetscher, Iring 19, 63, 108, 163, 192 Fink-Eitel, Hinrich 32 Foucault, Michel 32 f. Freud, Sigmund 191 Freytag, Tatjana 271 Furth, Peter 41 Gadamer, Hans-Georg 63, 132, 139 f., 141, 143, 156 Gans, Eduard 194, 204, 245 Le Goff, Jacques 11 Habermas, Jürgen 29, 33, 41 Hawel, Marcus 271 Hayek, Friedrich August 16 Haym, Rudolf 19, 21 Heinrich, Michael 23, 27, 37, 249, 259 Heraklit 123 Hierl, Konstantin 14 Hilger, Marie-Elisabeth 27

Personenregister

311

Hindrichs, Gunnar 267 Hitler, Adolf 14 Hobbes, Thomas 107 f., 191 f., 202, 205, 226 Homer 109 Honneth, Axel 21, 29, 177, 232, 253

Mitscherlich, Olivia 24 Moyar, Dean 120, 178 Müller, Ernst 55, 121, 125, 148, 177, 183 Müller, Jan 150, 152 Müller, Severin 30

Iber, Christian 148, 177, 194 f. IG Metall Projekt Gute Arbeit 27 iga – Initiative Gesundheit und Arbeit 27

Negt, Oskar 29, 56, 85, 271 Neuendorff, Hartmut 37

Jaeggi, Rahel 21, 280 Jaeschke, Walter 19, 57, 75, 212, 232 Jelinski, Oliver 226 Kabadayi, Erdem M. 13 Kant, Immanuel 40–42, 44–48, 5 f., 53 f., 56 f., 59–62, 69, 78, 80–86, 93–95, 97–100, 104, 110, 113 f., 123, 128 f. 131–133, 135, 136, 139, 157 f., 168, 170, 177 f. 185, 192, 196–200, 202, 205–209, 212, 221, 223, 225 f. 229 f., 243, 267, 290 f. Kleist, Heinrich von 164 Kojève, Alexandre 163, 167, 182 Krahl, Hans-Jürgen 56, 85 Kreuzer, Johann 17 Kuhne, Frank 23, 85 Larmore , Charles E. 253 Lange, Ernst Michael 34 f., 174 f., 265 Lim, Sok-Zin 42, 145,161, 169, 175, 177 Locke, John 213, 284 Ludwig-Mayerhofer, Wolfgang 288 Luhmann, Niklas 33 f. Lukács, Georg 28, 270 Luther, Martin 198 Manssen, Gerrit 288 Matis, Herbert 199 Marcuse, Herbert 39 f., 92 Marx, Karl 22–24, 34, 36, 37, 40, 55, 65, 76, 85, 121 f., 171, 185, 200, 213, 215, 218 ff., 236, 241 f., 249 f., 252 f., 256 f. 259–289 Meggle, Georg 36 Menasse, Robert 13, 15 Menne, Albert 27, 31 Meyfeld, Dirk 135, 195 Michel, Ernst 27

Peter, Gerd 37, 267 Pippin, Robert 17, 21, 33, 120 Pöggeler, Otto 40, 49, 118, 144, 146, 168, 171, 177, 259 Popper, Karl 16 Postel, Verena 12 Postone, Moishe 37 Preobraschensky, Evgenij 13 f. Quante, Michael 34, 36, 120, 178 Reckwitz, Andreas 33 Reichardt, Tobias 9, 11, 13 Riedel, Manfred 24, 40, 50, 64, 66, 92, 100, 103 f., 162, 194, 204, 244, 245 Ritter, Joachim 50 Rohbeck, Johannes 30 Ruben, Peter 28, 41, 266, 270 Rühle, Volker 179 Ruschig, Ulrich 59 Sachsse, Hans 31 Sandgruber, Roman 199 Sans, Georg 68 Schatzki, Theodore R. 33 Schiller, Friedrich 216 Schmidt am Busch, Hans-Christoph 17, 35, 177, 189, 217, 252, 259, 263 Schmieder, Falko 125 Schnädelbach, Herbert 47, 49, 62 Scholz, Rupert 288 Seidel, Horst 129 Sennett, Richard 15, 31 Siep, Ludwig 29, 57, 117, 177, 185, 212, 232 Sohn-Rethel, Alfred 39 Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands 28 Spieker, Michael 110

312 Städtler, Michael 11, 76, 128, 135, 206, 210, 226 Stepina, Clemens K. 36, 65, 213, 249 Taylor, Charles 20 Türcke, Christoph 198 f. 287 Vollmann, Heiko 261 Vos, Lu de 232

Personenregister Wagenknecht, Sahra 40 Wolf, Dieter 265 Wolf, Frieder O. 37, 262, 267 Zunke, Christine 154 Zurn, Christopher 177