Text - Material - Medium: Zur Relevanz editorischer Dokumentationen für die literaturwissenschaftliche Interpretation 9783110364408, 9783110363258

In ever-larger sections devoted to documentation, historical-critical editions have increasingly focused on the material

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Text - Material - Medium: Zur Relevanz editorischer Dokumentationen für die literaturwissenschaftliche Interpretation
 9783110364408, 9783110363258

Table of contents :
Inhalt
Zur Bedeutung von Materialität und Medialität für Edition und Interpretation. Eine Einführung
I. Aspekte zu Theorie und Geschichte
Wie ‚bedeutet‘ ein ‚material text‘?
Das Stigma des Dokumentarischen. Zum historischen Apriori philologischer Materialverachtung
II. Skriptografische Materialität: Entwurfshandschriften
Erfahrungen mit Textgenese, ‚critique génétique‘ und Interpretation
In loco auctoris. Über die Auflösung von Unbestimmtheiten durch den Editor und die daraus resultierenden Metamorphosen des Textes
Materialität und Werkgenese: Achim von Arnims Die Päpstin Johanna
,Übermalungen‘ – Transkription, Emendation, Interpretation. Zur 17. Manuskriptseite von Adalbert Stifters Erzählung Nachkommenschaften
Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz – ein multimediales Schreibprojekt
Medialität der Interlinearität. Überlegungen zu Heiner Müllers Übertragung von Aischylos’ Die Perser
III. Typografische Materialität I: Buch
Gestörte Texte Detailtypographische Interpretamente und Edition
Der Text erscheint selten nackt. Max Ernst, La femme 100 têtes
Zur Konstitution von ‚Bedeutung‘ bei der Buchgestaltung. Aspekte einer Semiotik des Buchs
IV. Typografische Materialität II: Buch vs. Zeitung/Zeitschrift
Erstdrucke in Zeitungen. Zur editorischen Kontextdokumentation am Beispiel von Robert Walsers Feuilletons
Überlegungen zum Verhältnis von Material, Medium und Text am Beispiel von Arthur Schnitzlers Traumnovelle
„Heuschreckenschwärme von Schrift“. Zu ‚après-texte‘ und ‚mise en page‘ von Walter Benjamins Einbahnstraße
V. Nichtschriftliche Materialität I: Audiophone Varianz
Akustische Lesarten. Zum editionsphilologischen Umgang mit (Autoren-)Hörbüchern
VI. Nichtschriftliche Materialität II: Die ‚Schreibszene‘ jenseits des Textes
„episches Hausgerät“

Citation preview

B E I H E F T E

Z U

Herausgegeben von Winfried Woesler

Band 35 37 Band

Text – Material – Medium Zur Relevanz editorischer Dokumentationen für die literaturwissenschaftliche Interpretation Herausgegeben von Wolfgang Lukas, Rüdiger Nutt-Kofoth und Madleen Podewski

De Gruyter

ISBN 978-3-11-036325-8 e-ISBN 978-3-11-036440-8 ISSN 0939-5946 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Rüdiger Nutt-Kofoth, Münster Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt

Wolfgang Lukas, Rüdiger Nutt-Kofoth, Madleen Podewski Zur Bedeutung von Materialität und Medialität für Edition und Interpretation. Eine Einführung .....................................................................................................

1

I. Aspekte zu Theorie und Geschichte Annika Rockenberger, Per Röcken Wie ‚bedeutet‘ ein ‚material text‘? ........................................................................

25

Stephan Kammer Das Stigma des Dokumentarischen. Zum historischen Apriori philologischer Materialverachtung ........................................................................

53

II. Skriptografische Materialität: Entwurfshandschriften Almuth Grésillon Erfahrungen mit Textgenese, ‚critique génétique‘ und Interpretation ...................

67

Burghard Dedner In loco auctoris. Über die Auflösung von Unbestimmtheiten durch den Editor und die daraus resultierenden Metamorphosen des Textes ....................................

81

Johannes Barth Materialität und Werkgenese: Achim von Arnims Die Päpstin Johanna ..............

95

Johannes John ,Übermalungen‘ – Transkription, Emendation, Interpretation. Zur 17. Manuskriptseite von Adalbert Stifters Erzählung Nachkommenschaften ......... 107 Gabriele Sander Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz – ein multimediales Schreibprojekt .......... 123 Kai Bremer Medialität der Interlinearität. Überlegungen zu Heiner Müllers Übertragung von Aischylos’ Die Perser ..................................................................................... 135

VI

Inhalt

III. Typografische Materialität I: Buch Thomas Rahn Gestörte Texte. Detailtypographische Interpretamente und Edition ...................... 149 Gabriele Wix Der Text erscheint selten nackt. Max Ernst, La femme 100 têtes .......................... 173 Franziska Mayer Zur Konstitution von ‚Bedeutung‘ bei der Buchgestaltung. Aspekte einer Semiotik des Buchs ............................................................................................... 197

IV. Typografische Materialität II: Buch vs. Zeitung/Zeitschrift Barbara von Reibnitz Erstdrucke in Zeitungen. Zur editorischen Kontextdokumentation am Beispiel von Robert Walsers Feuilletons ......................................................... 219 Michael Scheffel Überlegungen zum Verhältnis von Material, Medium und Text am Beispiel von Arthur Schnitzlers Traumnovelle ................................................ 235 Gustav Frank „Heuschreckenschwärme von Schrift“. Zu ‚après-texte‘ und ‚mise en page‘ von Walter Benjamins Einbahnstraße ................................................................... 251

V. Nichtschriftliche Materialität I: Audiophone Varianz Andreas Meier Akustische Lesarten. Zum editionsphilologischen Umgang mit (Autoren-)Hörbüchern ............................................................................................ 273

VI. Nichtschriftliche Materialität II: Die ‚Schreibszene‘ jenseits des Textes Bodo Plachta „episches Hausgerät“ ............................................................................................. 289

Wolfgang Lukas, Rüdiger Nutt-Kofoth, Madleen Podewski

Zur Bedeutung von Materialität und Medialität für Edition und Interpretation Eine Einführung

Die jüngeren historisch-kritischen Editionen der Neugermanistik beinhalten einen zunehmend größeren Dokumentationsteil, der immer weiter die materiale und mediale Komponente von Text in Beschreibungen – etwa von Papierqualitäten, Schreibmaterial, Schreibwerkzeugen, Schrift, Texttopografik, Druckanalyse, Typografie – und in Abbildungen der Textträger erschließt. Den sukzessive umfangreicheren, vollständigeren und präziseren Editionen steht nun aber eine Literaturwissenschaft gegenüber, die diesen Materialreichtum weitgehend ignoriert. Denn die interpretatorische Praxis orientiert sich nach wie vor – allen Theoriebildungen zur Materialität und Medialität zum Trotz – weitgehend am Paradigma des immateriellen Textes. In welcher Art und Weise können nun aber Materialität und Medialität für den literarischen Text relevant werden? Weisen sie eine Bedeutungshaltigkeit auf, die für die Interpretation fruchtbar gemacht werden kann? Und erhöhen sie damit zugleich die Anforderungen an den dokumentierenden Teil der historisch-kritischen Edition, diese Aspekte der historischen textuellen Erscheinungsform in der editorischen Repräsentation abzubilden? Solche Fragen dienten als Ausgangspunkt für die Konzeption des vorliegenden Bandes. Die folgende Einführung bietet in einem knappen Aufriss erste Annäherungen an das Themenfeld.

1.

Historische und systematische Aspekte des editorischen Umgangs mit Materialität und Medialität

Die Anfänge der Edition deutschsprachiger literarischer Texte haben sich im Aufkommen des Faches Germanistik zu Anfang des 19. Jahrhunderts an den über Jahrhunderte etablierten Verfahren der Altphilologie orientiert, weil die Überlieferungslage der zunächst interessierenden Texte, nämlich jener des Mittelalters, mit derjenigen antiker Texte weitgehend übereinstimmte. Die deutschsprachigen Texte des Mittelalters lagen nämlich regelmäßig nicht in originalen, eigenhändigen oder vom Autor beaufsichtigten Handschriften vor, sondern waren allein in Jahrzehnte oder Jahrhunderte später von Schreibern angefertigten Handschriften überliefert. Wo aus autororientierter Perspektive nicht Autografen, sondern Apografen erhalten waren, konnte sich leicht in ebenjener Autororientierung ein Textinteresse durchsetzen, das primär am Autortext und nicht am überlieferten Text interessiert war. Die Wiedergewinnung des verlorenen Autortextes aus der Überlieferung konnte so ins Zentrum der editorischen Aufgabenstellung gelangen. Eine solche Perspektive hat bekanntlich zur Ent-

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Wolfgang Lukas, Rüdiger Nutt-Kofoth, Madleen Podewski

wicklung des auf Karl Lachmann zurückgehenden textkritischen Rekonstruktionsverfahrens geführt, das nicht nur die mediävistische Germanistik, sondern auch die editorischen Vorgehensweisen in anderen Philologien geprägt hat.1 An die Tradition Lachmanns anknüpfend, lässt sich ‚Textkritik‘ ganz eigentlich als die „Lehre von den Fehlern“2 der Überlieferung verstehen und als die Anleitung dazu, diese Fehler zu ‚heilen‘, um somit dem verlorenen Autortext möglichst nahe zu kommen. Die Abschreiber nehmen in einer solchen Vorstellung die Rolle von Fehler produzierenden, Korruptelen erzeugenden Skribenten ein. Die von ihnen hergestellten Abschriften werden somit als fehlerhaltige Kopien verstanden. Ihre Funktion im Lachmann’schen textkritischen Prozess erschöpft sich folglich darin, textuelle Bausteine für die Annäherung an das verlorene Autororiginal zu liefern. Bis der Text dieser handschriftlichen Apografen in seiner Eigenwertigkeit in Gänze ernst genommen wurde, sollte es nach Lachmann noch anderthalb Jahrhundert dauern. In der interdisziplinären Wahrnehmung war es erst Bernard Cerquiglinis Éloge de la variante von 1989, die die Überlieferung mittelalterlicher Texte als Ausdruck einer grundsätzlichen Varianz verstand und positiv besetzte, eine Forschungsperspektive, die sich dann unter dem Namen ‚New Philology‘ etablierte.3 Solche gewandelten Prämissen der Bewertung handschriftlicher mittelalterlicher Überlieferung und ihrer Funktion machen nun den Blick frei für die spezifischen Voraussetzungen dieser Überlieferung. So lassen sich die Erscheinungsformen mittelalterlicher Texte in der apografen Überlieferung als Ausprägungen materialer und medialer Bedingungen erkennen, nämlich den zeitgenössischen Rahmen der Textzirkulation unterworfen: als an das spezifische Material des Kodex und an die mediale Bedingung der handschriftlichen Transponierung durch den einzelnen, das je unikale Manuskript mit der Hand erstellenden Schreiber gebunden. Ist aber die Ermittlung des verlorenen Autortextes das Ziel – ob im Lachmann’schen Rekonstruktionsverfahren oder in dem mit ihm konkurrierenden Leithandschriftenverfahren –, bleiben weder die überlieferten Texte noch ihre materiale Ausprägung und ihre mediale Bedingung als positive Elemente der mittelalterlichen Überlieferung im Blick. Insofern eröffnete in den Anfängen der Fachgermanistik die erste kritische neugermanistische Edition, Lachmanns Lessing-Ausgabe (1838– –––––––— 1

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Siehe Sebastiano Timpanaro: Die Entstehung der Lachmannschen Methode. 2., erweiterte und überarbeitete Aufl. Hamburg 1971; Hans-Gert Roloff: Karl Lachmann, seine Methode und die Folgen. In: Geschichte der Editionsverfahren vom Altertum bis zur Gegenwart im Überblick. Ringvorlesung. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Berlin 2003 (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft. 5), S. 63–81; zur Wirkung Lachmanns auf die Neugermanistik vgl. Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. 3., ergänzte und aktualisierte Aufl. Stuttgart 2013, S. 27–45, bes. S. 27–31. Karl Stackmann: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. In: Festschrift für Jost Trier zum 70. Geburtstag. Hrsg. von William Foerste und Karl Heinz Borck. Köln, Graz 1964, S. 240–267, hier S. 256. Bernard Cerquiglini: Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie. Paris 1989; des Weiteren: Speculum 65, 1990, S. 1–108 (Themenkomplex The New Philology). – Siehe auch den Überblick bei Thomas Bein: Textkritik. Eine Einführung in Grundlagen germanistisch-mediävistischer Editionswissenschaft. Lehrbuch mit Übungsteil. 2., überarbeitete und erweiterte Aufl. Frankfurt a. M. 2011, S. 73– 97 (Kap. „Zur Geschichte der altgermanistischen Textkritik“).

Zur Bedeutung von Materialität und Medialität für Edition und Interpretation

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1840),4 die textuell orientierten Wege ganz im Sinne der traditionellen Aufgabe: die Konstitution von Text in der Ablösung von den überlieferten Dokumenten.5 Dies blieb über knapp anderthalb Jahrhunderte das primäre Interesse des neugermanistischen editorischen Arbeitens. Diskussionen wurden über spezifische Probleme der Textkonstitution geführt, insbesondere die Fassungswahl, oder über die Frage, welche Rolle der Apparat in der historisch-kritischen Ausgabe einnehmen und wie die Textgenese repräsentiert und akzentuiert werden sollte. Mit der zunehmenden Gewichtung der Textgenese in neugermanistischen Editionen wurde allerdings eine Dimension des Textes erschlossen, die nicht mit der reinen linearen Textkonstitution konform geht. Indem die Textgenese nun die Temporalität von Text in der Prozesshaftigkeit seiner Umformungen in das Zentrum der editorischen Wahrnehmung rückte, machte die neugermanistische Editorik zunehmend auf die Änderungsvorgänge aufmerksam, in denen sich die klassischen Änderungsoperationen der Wegnahme, Hinzufügung, Ersetzung und Umstellung material kristallisieren. Entdeckung und Aufwertung der genetisch-temporalen Dimension gehen somit einher mit einem neuen Blick auf die materiale Dimension der Überlieferung; Raum (Handschriftentopografie) und Zeit werden gleichzeitig zum Gegenstand editorischen Interesses. So sah sich Goedeke im letzten, der Edition des nachgelassenen Dramenfragments Demetrius gewidmeten Band seiner historisch-kritischen Schillerausgabe erstmalig vor die Notwendigkeit gestellt, ein eigenes diakritisches Zeichensystem zur Vermittlung topografischer Informationen der Entwurfshandschriften zu schaffen.6 Der Versuch wurde nicht modellbildend, und es sollten noch ca. 100 Jahre vergehen, bis sich die systematische Wiedergabe materialer Verhältnisse als konstitutiver Bestandteil historisch-kritischer Editionen etablieren konnte. Ebenfalls nicht modellbildend wurde Backmanns singulärer Versuch, im Rahmen der historisch-kritischen Grillparzer-Ausgabe7 seine Forderung nach „peinliche[r] Exaktheit in der Beschreibung“ der handschriftlichen Dokumente mittels einer geradezu obsessiven Material-

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Gotthold Ephraim Lessings sämmtliche Schriften. Neue rechtmäßige Ausgabe. Hrsg. von Karl Lachmann. 13 Bde. Berlin 1838–1840. Siehe etwa Lachmanns Bemerkungen zu seinem Verfahren in der Lessing-Ausgabe: „Die Ordnung der Lustspiele und der Trauerspiele (Bd. I. II) war von Lessing selbst bestimmt. Der Text ist nach den Ausgaben von 1767 und 1772 gegeben, aber mit Benutzung der früheren, aus denen stillschweigend selbst ganze Sätze ergänzt worden sind; so dass der jetzige Druck nicht Wiederholung irgend eines andern ist. In Minna von Barnhelm und in Emilia Galotti sind aus den Originalhandschriften weit mehr Druckfehler berichtigt als die Anmerkungen sagen, welche übrigens in der Emilia die sämtlichen Abweichungen der Handschrift von den beiden ersten Ausgaben liefern. Der Text Nathans des Weisen ist ebenfalls neu und richtiger als irgend ein früherer, aus den beiden ersten Drucken zusammengesetzt, deren Verschiedenheiten sämtlich angemerkt sind“; Karl Lachmann: [Unterdrückte Anzeige der Lessing-Ausgabe] (1840). In: Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition. 1), S. 7–12, hier S. 9 f. Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Im Verein mit A. Ellissen, R. Köhler, W. Müldener, H. Oesterley, H. Sauppe und W. Vollmer von Karl Goedeke. 15 Bde. Stuttgart 1867– 1876, s. bes. Bd. 15,2: Nachlaß (Demetrius). Hrsg. von Karl Goedeke. Stuttgart 1876, S. 333. Franz Grillparzer. Sämtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von August Sauer, fortgeführt von Reinhold Backmann. 3 Abt., 42 Bde. Wien 1909–1948.

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Wolfgang Lukas, Rüdiger Nutt-Kofoth, Madleen Podewski

deskription einzulösen.8 Seine Apparate wurden bereits von den Zeitgenossen als unlesbar qualifiziert. Friedrich Beißner waren diese materialen Ausprägungen in seinem treppenstufenartigen Apparat, ab 1943 in der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe wirkungsmächtig,9 nicht von Interesse. Er verzeichnete konsequent Änderungsergebnisse. Dort, wo die Materialitäten der Texte überhaupt repräsentiert wurden, erschienen sie in der Regel in den editorischen Abschnitten zur Überlieferungsbeschreibung, Einzelnes in Hinblick auf die Textraumordnung etwa auf Manuskripten konnte – gelegentlich und ganz ohne systematische Grundierung – auch in der Variantendarstellung bzw. der textgenetischen Präsentation verbalisiert untergebracht werden; so ebenso schon früher in Ausgaben, die sich auf den Einzelstellenapparat stützten, etwa in der Weimarer Goethe-Ausgabe.10 Erst in Hans Zellers Modell des synoptischen Apparates, entwickelt für die Conrad-Ferdinand-Meyer-Ausgabe (1958–1996),11 vorgestellt zuerst 1958,12 kamen Materialitäten der Überlieferung nachdrücklicher ins Spiel. Die kolumnierte Apparatdarstellung konnte genau angeben, wie der materialisierte Zeichenbestand der Handschrift in der jeweiligen Änderungsstufe aussah. Beißner hatte in seinem Treppenstufenapparat nicht zwischen in der Handschrift neu niedergeschriebenen und bloß in der editorischen Präsentation darstellungsbedingt wiederholten Wörtern unterschieden. Zeller konnte mit seinem Verfahren somit nicht nur dem materialen Befund entsprechende genauere Informationen an den Benutzer transportieren, sondern er band auch die varianten Textelemente an die Handschrift zurück, indem er sie innerhalb der Synopse mit einem System von relationalen Positionsangaben auszeichnete. Damit wurde die Räumlichkeit der beschriebenen Handschriftenseite zu einem Kriterium der Apparatgestaltung, Spatialität als Signum der materialen Überlieferung so ein Element des editorischen Interesses. Zellers Aufgriff dieser Dimension der Materialität beruhte zunächst auf der Absicht, die Raumordnung des Handschriftentextes durch die Angaben zu den Positionen der Varianten aus dem Apparat heraus rekonstruierbar zu machen.13 Nach der Kritik an einer solchen Vorstellung14 hat Zeller dieses Anlie–––––––— 8

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Reinhold Backmann: Die Gestaltung des Apparates in den kritischen Ausgaben neuerer deutscher Dichter. Mit besondere Berücksichtigung der großen Grillparzer-Ausgabe der Stadt Wien (1924). In: Dokumente 2005 (Anm. 5), S. 115–137, hier S. 124; Teilnachdruck; zuerst in: Euphorion 25, 1924, S. 629–662. Hölderlin: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. Hrsg. von Friedrich Beißner [und Adolf Beck]. 8 Bde. in 15. Stuttgart 1943–1985. Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 133 Bde. in 143. Weimar 1887–1919. Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch. [Bd. 15 von Rätus Luck.] 15 Bde. in 16. Bern 1958–1996. Hans Zeller: Zur gegenwärtigen Aufgabe der Editionstechnik. Ein Versuch, komplizierte Handschriften darzustellen (1958). In: Dokumente 2005 (Anm. 5), S. 194–214; zuerst in: Euphorion 52, 1958, S. 356– 377. Siehe Zeller 2005/1958 (Anm. 12), S. 197 f., 200 und 208. Siehe Walther Killy: Der Helian-Komplex in Trakls Nachlaß mit einem Abdruck der Texte und einigen editorischen Erwägungen. In: Euphorion 53, 1959, S. 380–418, hier S. 408; auch Friedrich Beißner: Lesbare Varianten. Die Entstehung einiger Verse in Heines ‚Atta Troll‘. In: Festschrift Josef Quint anläßlich seines 65. Geburtstages überreicht. Hrsg. von Hugo Moser, Rudolf Schützeichel und Karl Stack-

Zur Bedeutung von Materialität und Medialität für Edition und Interpretation

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gen nicht mehr forciert, aber die Rückbindung an den Befund der Handschrift zu einem tragenden Element der Differenzierung von grafisch-materiell gesichertem dokumentierten Befund und von durch interpretative Annahmen gedeutetem Befund gemacht,15 eine Differenzierung, die sich im Begriffspaar ‚Befund und Deutung‘ als eine Grundformel der Editionswissenschaft etabliert hat. Zellers synoptischer Apparat ist im Folgenden von einer ganzen Reihe an Editionen übernommen worden, doch haben die Ausgaben auf die Indizierung von Variantenpositionen regelmäßig verzichtet – mit der Ausnahme der Ansätze dazu in der Bonner Celan-Ausgabe (1990 ff.).16 Etwa zeitgleich zur Meyer-Ausgabe erfolgt auch in der Goethe-Akademie-Ausgabe17 ein spezifischer Umgang mit der Materialität des handschriftlichen Befundes. Diese findet – in den wenigen erschienenen Apparatbänden – nicht über die Beschreibung der Variantenpositionen, sondern über das Siglensystem Eingang in die Edition. So enthält die Sigle mit Buchstabenindizes gebildete Zusatzangaben zum Schreiber und zum Schreibmaterial.18 Die Anzeige von Schreibmaterialdifferenzen kann auch dem edierten Text selbst überantwortet werden, nämlich dann, wenn die typografischen Auszeichnungsmöglichkeiten der Edition hierauf abgestellt werden. Diesen Weg geht die Neunte Abteilung der Nietzsche-Ausgabe mit ihrer farblich differenzierten Textdarstellung.19 Dass neben der verbalisierten Befundsbeschreibung, wie sie sich paradigmatisch (und exzessiv) etwa bei Backmann findet, oder der, komplementär hierzu, durch ein Zeichensystem geleisteten Indizierung, wie sie paradigmatisch Zeller entworfen hat, die fotografische Abbildung der Befundsmaterialität zu einem Bestandteil der Ausgabe werden müsste, hatte schon Karl Goedeke in seiner Schiller-Ausgabe für die Manuskripte des dramatischen Nachlasses 1876 in Betracht gezogen: Nur eine photographische Wiedergabe könnte einen Begriff gewähren, was dem Dichter während der Arbeit der Aufzeichnung bedürftig erschien. Aber auch nur in der Photographie

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mann. Bonn 1964, S. 15–23, hier S. 23; später Herbert Kraft: Editionsphilologie. Mit Beiträgen von Jürgen Gregolin, Wilhelm Ott und Gert Vonhoff. Unter Mitarbeit von Michael Billmann. Darmstadt 1990, S. 150; auch in der zweiten Aufl.: Herbert Kraft: Editionsphilologie. Zweite, neubearbeitete und erweiterte Aufl. mit Beiträgen von Diana Schilling und Gert Vonhoff. Frankfurt a. M. u. a. 2001, S. 117. Hans Zeller: Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 45–89. Paul Celan: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Besorgt von der Bonner Arbeitsstelle für die CelanAusgabe Beda Allemann, Rolf Bücher, Axel Gellhaus, Stefan Reichert. Frankfurt a. M. 1990 ff. Werke Goethes. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1952–1966, abgebrochen, danach einige weitere Bände als Einzelausgaben. Siehe etwa: Werke Goethes. Hrsg. vom Institut für deutsche Sprache und Literatur der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bd.: Goethe: Epen. 2. Überlieferung, Varianten und Paralipomena. Bearbeiter des Bandes: Siegfried Scheibe. Berlin 1963. – Ansätze zur Indizierung des Schreibmaterials in der Sigle bietet schon die Weimarer Goethe-Ausgabe (Anm. 10), s. z. B. ebd., [Abth. I]. Bd. 1. Weimar 1887, S. 367. Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, weitergeführt von Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi. Abt. 9: Der handschriftliche Nachlaß ab Frühjahr 1885 in differenzierter Transkription. Hrsg. von Marie-Luise Haase und Michael Kohlenbach in Verbindung mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin, New York 2001 ff.

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würde die Art seines eigentlichen Schaffens deutlich werden. Dazu reichen gestrichne Lettern und Schriftsorten verschiedenster Art nicht aus.20

Goedeke selbst konnte diese Forderung nicht umsetzen und musste sich mit den ersten Ansätzen einer typografisch differenzierten textuellen Repräsentation zufriedengeben. Nur vereinzelt gelang es Editoren, Abbildungen der Handschriften weitreichend in eine Edition zu integrieren. Eines der wenigen Beispiele der Neugermanistik ist die Ausgabe von Adolf Frey zu C. F. Meyers Unvollendeten Prosadichtungen (1916), die neben der Text-Darstellung der Entwürfe in ihrem zweiten Band auf 210 Seiten Faksimiles präsentiert.21 Gelegentlich entstanden auch reine FaksimileAusgaben, die ohne weitere editorische Aufschlüsselung nur von einem knappen Nachwort begleitet wurden, wie etwa zu Goethes Reinschrift der Vers-Iphigenie von Hans Wahl 1938.22 Die Repräsentation des materialen Handschriftenraums durch Abbildungen hielt ab 1975 Einzug in die neugermanistische Editorik, als D. E. Sattler die Reproduktion der handschriftlichen Überlieferung Hölderlins zu einem Grundelement der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe (1975–2008) machte.23 Die Reproduktion der Materialität ist in dieser Ausgabe ein Baustein innerhalb einer vierstufigen editorischen Textpräsentation, die in ihrer Abfolge durch die Zunahme deutungshaltiger und die Abnahme rein dokumentativer Elemente gekennzeichnet ist: Faksimile, diplomatische Umschrift, textgenetische Darstellung, Lesetextkonstitution. Das Faksimile tritt aber zunächst nicht in der primären Funktion einer Repräsentation der originalen Materialität auf, sondern soll als Kontrollmöglichkeit der editorischen Entscheidungen durch den Benutzer dienen.24 Diese Funktionalisierung des Faksimiles wird innerhalb der gleichen Ausgabe an bestimmten Stellen aber auch schon um eine Akzentuierung der Eigenwertigkeit von Handschriftenabbildungen ergänzt, und zwar zugleich im Kontext ihrer materialen Einheit, nämlich da, wo die Ausgabe Hölderlins Sammelhandschriften (Frankfurter und Homburger Entwurfsfaszikel, Stuttgarter Foliobuch, Homburger Folioheft) als separate Faksimile-Bände herausgibt. Der methodische Umschlag erfolgte ab 1995 in der Historisch-Kritischen KafkaAusgabe (Stroemfeld-Verlag).25 Ihr dient die Faksimilierung der Handschriften nicht –––––––— 20 21

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Schillers sämmtliche Schriften, Bd. 15,2 (Anm. 6), S. VI; auch in Dokumente 2005 (Anm. 5), S. 31. Conrad Ferdinand Meyers unvollendete Prosadichtungen. Eingeleitet und hrsg. von Adolf Frey. 2 Bde. Leipzig 1916: Erster Teil: Erläuterungen und Fragmente. – Zweiter Teil: Die faksimilierten Handschriften. [Johann Wolfgang Goethe]: Iphigenie auf Tauris. 1786·1787. [Faksimiledruck der Goethe-Handschrift im Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar; Anhang: Hans Wahl: Zur Entstehung und Geschichte der Handschrift.] Leipzig 1938. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. ‚Frankfurter Ausgabe‘. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von D. E. Sattler. Frankfurt a. M. [seit 1985: Basel, Frankfurt a. M.] 1975–2008. Siehe Frankfurter Hölderlin-Ausgabe (Anm. 9), Bd.: Einleitung. Frankfurt a. M. 1975, S. 18: „Die Wiedergabe der problematischen Handschriften im Faksimile ermöglicht die Überprüfung des Wortlauts, der Textentstehung und des Textzusammenhangs“; s. auch Wolfram Groddeck, D. E. Sattler: Frankfurter Hölderlin-Ausgabe. Vorläufiger Editionsbericht. In: Le pauvre Holterling 2, 1977, S. 5–19, hier S. 7. Franz Kafka: Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Basel, Frankfurt a. M. 1995 ff.

Zur Bedeutung von Materialität und Medialität für Edition und Interpretation

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mehr als Kontrollinstrument des editorischen Ausgangsmaterials, sondern die Handschriftenabbildung wird zum eigentlichen Zentrum der Edition. Durch die alleinige Beigabe einer diplomatischen Umschrift (mit typografischer Differenzierung zur Anzeige späterer Hinzufügungen) ist eine bis dahin wesentliche Aufgabe, nämlich die minutiöse Darstellung der Textgenese, verabschiedet,26 hingegen die materiale Ausprägung des Textes auf dem Manuskript – im Sinne der Einheit von Schrift und Schriftträger – zum Kern des Editionsinteresses avanciert, zumindest für Entwurfshandschriften. Die Begründung dafür lautet, dass Entwurfshandschriften eine „einmalige Konstellation der Zeichen“ aufwiesen, die „nicht von der Materialität ablösbar“ sei, denn sie sei „nicht ohne Verlust an Information transformierbar.“27 Neben das Paradigma der ‚Genese‘ tritt hier das neue des ‚Archivs‘. Dass der Editor Reuß damit eine Differenzierung des Textbegriffs verknüpft hat – Text sei linear strukturiert, und daher enthielten Entwurfshandschriften mit ihren nichtlinearen Strukturen keinen ‚Text‘28 – sei hier nur am Rande erwähnt. Immerhin ist mit dieser Positionierung einer jüngeren neugermanistischen Ausgabe Materialität nun konzeptuell zu einem – gar tragenden – Bestandteil der Edition geworden. Aspekte der textuellen Materialität sind aber auch schon in anderen Zusammenhängen in der Neugermanistik editorisch herangezogen worden. Für Kafkas Process – im Zusammenhang der Kritischen Kafka-Ausgabe (Fischer-Verlag) – etwa wurde die Beschriftungsdichte der Manuskriptseiten für die Rekonstruktion der unsicheren Entstehungsreihenfolge der Kapitel herangezogen.29 Für nichtliterarische Textsorten der Literaturwissenschaft, nämlich für Briefe und Tagebücher, ist der Materialität schon länger eine Rolle zugestanden worden. Das liegt daran, dass der Brief schon vor Jahrzehnten über seinen Textstatus hinaus explizit als Dokument ausgewiesen worden ist.30 Insofern konnten Briefe und Tagebücher „nicht nur [als] Gebrauchsformen, also Informationsträger, sondern auch [als] Ausdrucksformen, d. h. eigentümliche Gestaltungsmedien interpersonalen und personalen Lebens“ verstanden werden.31 In diesem Sinne beschränkt sich die Edition dann nicht auf die Befunde der Schriftzeichen, sondern „sie umfaßt auch den nichtsprachlichen, –––––––— 26 27 28 29

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Vgl. Roland Reuß: Schicksal der Handschrift, Schicksal der Druckschrift. Notizen zur ‚Textgenese‘. In: Text. Kritische Beiträge 5, 1999: Textgenese 1, S. 1–25, hier S. 24 f. Reuß 1999 (Anm. 26), S. 17. Vgl. Roland Reuß: Text, Entwurf, Werk. In: Text. Kritische Beiträge 10, 2005: Text  Werk, S. 1–12, hier S. 7; vgl. auch Reuß 1999 (Anm. 26), S. 14 f. Franz Kafka: Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe. Hrsg. von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit unter Beratung von Nahum Glatzer, Rainer Gruenter, Paul Raabe und Marthe Robert. Bd.: Der Proceß. Apparatband. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt a. M. 1990, S. 77–83; s. auch Franz Kafka: Der Proceß. Die Handschrift redet. Bearb. von Malcolm Pasley. Mit einem Beitrag von Ulrich Ott. Marbach a. N. 1990 (Marbacher Magazin. 52). Siehe etwa Winfried Woesler: Der Brief als Dokument. In: probleme der brief-edition. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft Schloß Tutzing am Starnberger See 8.–11. September 1975. Referate und Diskussionsbeiträge. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Hans-Joachim Mähl und Walter MüllerSeidel. Bonn-Bad Godesberg, Boppard 1977 (deutsche forschungsgemeinschaft. kommission für germanistische forschung. mitteilung II), S. 41–59. Klaus Hurlebusch: Divergenzen des Schreibens vom Lesen. Besonderheiten der Tagebuch- und Briefedition. In: editio 9, 1995, S. 18–36, hier S. 26.

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äußeren Aspekt der Zeugnisse, thematisiert auch den Zeugniswert des Textträgers.“ Damit gelangte die Materialität nachdrücklich in den Blick: Die äußere Beschaffenheit von Briefen und Tagebüchern – Papierqualität, Format, Schriftbild, Schreibmaterial, Schreibtechnik u. ä. – ist kaum weniger bedeutsam als das, was sie an Text enthalten. Um es mit zwei Begriffen der modernen Kommunikationstheorie zu sagen: Der Zeugniswert ergibt sich hier aus der Einheit von „message“ und „medium“. Das ist deshalb so, weil der Zweck eines Briefes in der Regel dann erfüllt ist, wenn sein Adressat Textträger und Text wahrgenommen und gelesen hat.32

So lässt sich etwa erkennen, dass die Ordnung des historischen Brieftextes auf der Manuskriptseite durch ein spezifisches „Raumverhalten“ geprägt ist, das inzwischen als ein ‚komplexes Zeichensystem‘ beschrieben worden ist.33 Dabei können gar jene Stellen Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die gerade keinen Text aufweisen: die leeren Räume auf dem Papier. Ganz im Sinne der strukturalen Semiotik ist leerer Raum im Textzusammenhang als „Null-Zeichen“34 klassifiziert worden, das eben ohne materiellen Zeichenkörper zum Bedeutungsträger wird. Noch die Briefsteller des 19. Jahrhunderts verstehen die leeren Räume neben, über oder unter dem Text als ‚Respektplätze‘.35 Die literaturwissenschaftliche Briefforschung hat neuerdings – vielfach im Kontext editorischer Fragestellungen – in dieses Feld investiert.36 Dabei steht der Gesichtspunkt der Materialität zumeist im Vordergrund.37 Die Textsorte Brief bietet sich für die Eröffnung der intensiven Diskussion um die materiale Dimension von Textualität allerdings auch besonders an, weil im Brief der Doppelcharakter von Dokument und Text durch dessen spezifische historische Adressatenbezogenheit erzeugt wird. Insofern konnte das Leitparadigma der jüngeren neugermanistischen Editionswissenschaft, die Authentizität, gerade in Hinblick auf die Briefedition eingefordert und um –––––––— 32 33

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Hurlebusch 1995 (Anm. 31), S. 22. Vgl. Klaas-Hinrich Ehlers: Raumverhalten auf dem Papier. Der Untergang eines komplexen Zeichensystems dargestellt an Briefstellern des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 32, 2004, S. 1–31. Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 69), S. 107. Vgl. Ehlers 2004 (Anm. 33), S. 7 u. ö. Siehe besonderes das Ausstellungs- und Tagungsprojekt: Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum, 11. September bis 16. November 2008. Hrsg. von Anne Bohnenkamp und Waltraud Wiethölter. Frankfurt a. M., Basel 2008; Der Brief – Ereignis & Objekt. Frankfurter Tagung. Hrsg. von Waltraud Wiethölter und Anne Bohnenkamp. Frankfurt a. M., Basel 2010. Siehe etwa Wolfgang Lukas: Epistolographische Codes der Materialität. Zum Problem para- und nonverbaler Zeichenhaftigkeit im Privatbrief. In: Materialität in der Editionswissenschaft. Hrsg. von Martin Schubert. Berlin, New York 2010 (Beiheft zu editio. 32), S. 45–62; Jochen Strobel: Zur Ökonomie des Briefes – und ihren materiellen Spuren. In: ebd., S. 63–77; Rüdiger Nutt-Kofoth: Space as Sign. Material Aspects of Letters and Diaries and their Editorial Representation. In: Rema(r)king German Literature: Revision, Revaluation, and the Editorial Process. Hrsg. von Lydia Jones, Gaby Pailer, Bodo Plachta und Karen Roy. Amsterdam, New York 2014 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik), im Druck.

Zur Bedeutung von Materialität und Medialität für Edition und Interpretation

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die sich material niederschlagenden „nichtsprachliche[n] Informationen des Originals“ erweitert werden.38 Die Berücksichtigung der Materialität vor dem Hintergrund des editorischen Paradigmas ‚Authentizität‘ ist hauptsächlich am Gegenstand ‚Manuskript‘ diskutiert worden, weil dessen unikaler Charakter nichtstandardisierbarer je eigentümlich-individueller händischer Beschriftung Erkenntnisgewinne jenseits eines abstrakten Textbegriffs verspricht (und von der ‚critique génétique‘ ja zu einem eigenen Forschungsprogramm erhoben wurde). Dennoch gelangte auch die in der Neuzeit historisch zweite Erscheinungs- und Überlieferungsform von Text, der Druck, zunehmend in einen materialorientierten editorischen Fokus. Zunächst einmal wird dies daran sichtbar, dass Editionen in jüngerer Zeit nicht nur Faksimiles von Handschriften, sondern auch solche von Drucken, etwa als Reprint des Erstdrucks, in die Edition integrieren. Einen umfangreichen Anfang machte die Büchner-Forschung, die in der Vorbereitungsphase der historisch-kritischen Marburger Ausgabe sämtliche Erstdrucke Büchner’scher Werke herausbrachte.39 Die Innsbrucker Trakl-Ausgabe gesteht den beiden von Trakl veranlassten Gedichtsammlungen einen eigenen Wert zu, obwohl die Ausgabe nach der Entstehungschronologie und gerade nicht nach Trakls eigener Ordnung seiner Lyrik gegliedert ist. Diese – wenn auch gegenüber dem chronologischen Konzept der Ausgabe nachrangige – Wertschätzung drückt sich in der Beigabe der faksimilierten Erstdrucke als ‚Supplemente‘ aus.40 Die Historisch-Kritische Kafka-Ausgabe fügt ebenfalls Faksimiles von Kafka-Erstdrucken hinzu41 – eine hier noch mehr als bei den zuvor genannten Ausgaben logische Konsequenz aus der faksimilegestützten, dokumentzentrierten Ausgabenkonzeption. Das digitale Medium vereinfacht die Aufnahme von Faksimiles; so bietet die Kritische Robert-Walser-Ausgabe im digitalen Teil der Hybrid-Edition sowohl Handschriften als auch Drucke im Faksimile und

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Siehe Hans Zeller: Authentizität in der Briefedition. Integrale Darstellung nichtsprachlicher Informationen des Originals. In: editio 16, 2002, S. 36–56. – Die strikte Umsetzung dieses Prinzips findet sich dann z. B. in der Meyer-Briefausgabe: C. F. Meyers Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Hans Zeller. Bern 1998 ff; ab Bd. 4: Hrsg. von Wolfgang Lukas und Hans Zeller. Göttingen 2014 ff. Georg Büchner: Gesammelte Werke. Erstdrucke und Erstausgaben in Faksimiles. Dokumente zur Textgeschichte eines zensierten Werks – Originalzeugen für die Edition. 10 Bändchen in Kassette. Hrsg. von Thomas Michael Mayer. Frankfurt a. M. 1985. Georg Trakl: Sämtliche Werke und Briefwechsel. Innsbrucker Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe mit Faksimiles der handschriftlichen Texte Trakls. Hrsg. von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina. Basel, Frankfurt a. M. 1995 ff.; Supplementbd. 1: Gedichte. Originalgetreuer photomechanischer Nachdruck der Erstausgabe von 1913 im Kurt Wolff Verlag Leipzig. 1995; Supplementbd. 2: Sebastian im Traum. Originalgetreuer photomechanischer Nachdruck der Erstausgabe von 1915 im Kurt Wolff Verlag Leipzig. 1995. Kafka-HKA (Anm. 25), Supplemente: Die Verwandlung. Nachdruck der Erstausgabe im Kurt Wolff Verlag 1915. Basel, Frankfurt a. M. 2003; Ein Landarzt. Kleine Erzählungen. Nachdruck der Erstausgabe im Kurt Wolff Verlag 1920. Hrsg. und eingeleitet von Roland Reuß. Basel, Frankfurt a. M. 2006; Der Prozess. Nachdruck der Erstausgabe von 1915 (Verlag Die Schmiede). Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Mit einem Nachwort von Roland Reuß. Basel, Frankfurt a. M. 2008; Ein Landarzt. Faksimile der Erstausgabe im Kurt Wolff Verlag 1919; In der Strafkolonie. Reprint der Erstausgabe im Kurt Wolff Verlag 1919. Mit einem Nachwort von Roland Reuß. Basel, Frankfurt a. M. 2009; Betrachtung. Faksimile-Nachdruck der Erstausgabe von 1913, Rowohlt, Leipzig. Frankfurt a. M., Basel 2013.

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verknüpft sie per Link-Struktur.42 In dem Maße, wie der aktuelle Medienwechsel die Dokumentorientierung verstärkt,43 radikalisiert er damit jene Konvergenz zwischen ‚Edition‘ und ‚Archiv‘, die sich bereits in den genannten Buchfaksimileausgaben abzeichnete, die man nicht zufällig als „Archiv-Ausgabe“ qualifiziert hat,44 und bringt neue Ausgabentypen wie etwa den der digitalen Vollfaksimile-Studienausgabe hervor.45 Eine solche editorische Aufwertung der originalen Druckmaterialität in der historisch-kritischen Ausgabe steht in einem Zusammenhang mit den jüngeren Interessen der semiotisch interessierten Literaturwissenschaft an dem Phänomen Buchdruck und insbesondere Typografie. Einen wesentlichen Anstoß dazu hatte die Studie von Susanne Wehde im Jahr 2000 gegeben.46 Von editorischem Interesse geleitet, schloss an sie in kurzer Zeit eine Reihe von theoretischen Auseinandersetzungen und Einzelfalluntersuchungen mit Anregungen dazu an, die typografische Gestaltung des literarischen Textes – sei sie im Sinne des editionswissenschaftlichen Autorisationsverständnisses vom Autor entworfen, beauftragt, gebilligt oder sei sie im Sinne semiotischer Relevanz verstehbar oder sei sie als historische Bedingung wie Erscheinungsform für die Rezeption zu bewerten – zumindest in bestimmten Fällen als ein die Textbedeutung mittragendes Element zu begreifen.47 Die Neugermanistik folgt mit solchen Un–––––––— 42

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Robert Walser: Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte. Hrsg. von Wolfram Groddeck und Barbara von Reibnitz. Frankfurt a. M., Basel 2008 ff.; die Klagenfurter Musil-Ausgabe liefert Faksimiles der Manuskripte mit: Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hrsg. von Walter Fanta, Klaus Amann und Karl Corino. Klagenfurt. DVD-Version 2009. Hierzu Hans Walter Gabler: The Primacy of the Document in Editing. In: Ecdotica 4, 2007, S. 97–207. Siehe Klaus Kanzog: Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur. Berlin 1991, S. 180–182. Zur Relation von Edition und Archiv unter digitalen Bedingungen vgl. Patrick Sahle: Digitales Archiv – Digitale Edition. Anmerkungen zur Begriffsklärung. In: Literatur und Literaturwissenschaft auf dem Weg zu den neuen Medien. Eine Standortbestimmung. Hrsg. von Michael Stolz, Lucas Marco Gisi und Jan Loop. Zürich 2007, S. 64–84, hier 69. Als ein bereits abgeschlossenes Projekt sei die Edition der Briefe van Goghs genannt (www.vangogh letters.org/vg; gesehen 27. 12. 2013). Ihrem Anspruch nach folgen diesem Modell zahlreiche im Entstehen begriffene digitale Werk- und Briefausgaben. Wehde 2000 (Anm. 34). Siehe etwa Rüdiger Nutt-Kofoth: Text lesen – Text sehen: Edition und Typographie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78, 2004, S. 3–19.– Text. Kritische Beiträge 11, 2006: Edition & Typographie, darin besonders: Thomas Rahn: Druckschrift und Charakter. Die Semantik der Schrift im typographischen Fachdiskurs und in der Textinszenierung der Schriftproben, S. 1–31; Rainer Falk: Literatur aus dem Winkelhaken. Zur literatur- und editionswissenschaftlichen Bedeutung der Typographie, S. 33–53; Roland Reuß: Spielräume des Zufälligen. Zum Verhältnis von Edition und Typographie, S. 55–100; Stephan Kurz: Jean Paul: Fibel und Stefan George. Anmerkungen zu Typographie und Edition, S. 101–124. – Thomas Rahn: Werkschriften. Gestalten des Textes in der Edition. In: Ästhetische Erfahrung und Edition. Hrsg. von Rainer Falk und Gert Mattenklott. Tübingen 2007 (Beihefte zu editio. 27), S. 233–258; Annika Rockenberger, Per Röcken: Vom Offensichtlichen. Über Typographie und Edition am Beispiel barocker Drucküberlieferung (Grimmelshausens Simplicissimus). In: editio 23, 2009, S. 21–45; Dies.: Typographie als Paratext? Anmerkungen zu einer terminologischen Konfusion. In: Poetica 41, 2009, S. 293–330. – Über die Typografie hinaus in Hinblick auf weitere Elemente des Buches s. Bodo Plachta: Mehr als Buchgestaltung – editorische Anmerkungen zu Ausstattungselementen des Buches. In: editio 21, 2007, S. 133–150; Rüdiger Nutt-Kofoth: The Book in the Poetological Concept of Stefan George. Some Remarks on the Physical and Iconic Side of the Published Text – with an Editorial Conclusion. In: Variants. The Journal of the European Society for Textual Scholarship 4, 2005: The Book as Artefact / Text and Border. Ed. by Anne Mette Hansen, Roger

Zur Bedeutung von Materialität und Medialität für Edition und Interpretation

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tersuchungsfeldern den im anglo-amerikanischen Raum vorgebrachten Überlegungen etwa zur Differenzierung von ‚linuguistic code‘ und ‚bibliograhical code‘.48 Jerome McGanns Absicht war es dabei explizit, „to sketch a materialist hermeneutics“.49 Peter Shillingsburg differenzierte daraufhin verschiedene Textbegriffe und schrieb dem ‚material text‘ spezifische Bedeutungshaltigkeit zu: „The material text has ‚meanings‘ additional to, and perhaps complementary to, the linguistic text.“50 Sammelbände zur „Iconic Page“ oder zum „Material Modernism“51 leiteten eine weitere Durchdringung des Verhältnisses von Text und Materialität in Hinblick auf das Buchmedium ein. Die European Society for Textual Scholarship hat dieser Fragestellung aus editionswissenschaftlicher Perspektive zwei Tagungen gewidmet (Kopenhagen 2003 und London 2006).52 Die intensivierte germanistische Diskussion um die Materialität des Textes und seiner Überlieferung lässt sich auch an der Tatsache ablesen, dass die Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition ihre Plenartagung 2008 ganz grundsätzlich auf dieses Thema abstellte, also nicht eingeschränkt auf die Materialität des Buches, sondern alle editorisch relevanten Phänomene von Materialität in den Blick nehmend.53 Ziel war neben der Erörterung von Beispielsfällen als einer Bestandsaufnahme zur Bedeutsamkeit des Untersuchungsfeldes auch eine Annäherung an eine grundsätzliche und theoretisch gestützte Differenzierung editorisch relevanter Materialität.54 Über die Editorik hinaus werden Aspekte der Materialität in jüngerer Zeit wiederholt auch mit literaturwissenschaftlichen Interessen zusammengeführt. Das gilt nicht nur ganz grundsätzlich für die französische ‚critique génétique‘ seit den 1980er Jah–––––––—

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Lüdeke, Wolfgang Streit, Cristina Urchueguía and Peter Shillingsburg, S. 111–131. – 2008 fand eine eigene Tagung zum Thema statt, in Druckvorbereitung als: Typographie und Literatur. Hrsg. von Rainer Falk und Thomas Rahn. Basel, Frankfurt a. M. 2014 (Text. Kritische Beiträge, Sonderbd. 1). Siehe Jerome J. McGann: The Textual Condition. Princeton/New Jersey 1991 (Princeton Studies in Culture/Power/History), z. B. S. 13 f. McGann 1991 (Anm. 48), S. 15. Peter Shillingsburg: Resisting Texts. Authority and Submission in Constructions of Meaning. Ann Arbor 1997, S. 101; die terminologische Differenzierung der verschiedenen Textbegriffe ebd., S. 101– 103, am Ende des Kapitels „Text as Matter, Concept, and Action“, das zuerst erschien in: Studies in Bibliography 44, 1991, S. 31–82, die Definitionen dort S. 81 f. The Iconic Page in Manuscript, Print, and Digital Culture. Ed. by George Bornstein and Theresa Tinkle. Ann Arbor 1998; George Bornstein: Material Modernism. The Politics of the Page. Cambridge 2001. Dokumentiert in: Variants 4, 2005 (Anm. 47), S. 1–147 (The Book as Artefact, ed. by Anne Mette Hansen), und Variants 6, 2007 [2010]: Textual Scholarship and the Material Book. Ed. by Wim Van Mierlo. Dokumentiert in: Materialität in der Editionswissenschaft 2010 (Anm. 37), und in editio 22, 2008 sowie 23, 2009. Siehe etwa Per Röcken: Was ist – aus editorischer Sicht – Materialität? Versuch einer Explikation des Ausdrucks und einer sachlichen Klärung. In: editio 22, 2008, S. 22–46; Louis Hay: Materialität und Immaterialität der Handschrift. In: ebd., S. 1–21; daran anschließend auch Per Röcken: Schreibgründe. Die Materialität des Papiers zwischen skripturaler und editorischer Praxis. In: Variations. Literaturzeitschrift der Universität Zürich 17, 2009, S. 143–155; zuvor auch Roger Lüdeke: Materialität und Varianz. Zwei Herausforderungen eines textkritischen Bedeutungsbegriffs. In: Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Hrsg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez, Simone Winko. Berlin, New York 2003 (Revisionen. Grundbegriffe der Literaturtheorie. 1), S. 454– 485.

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ren,55 deren Anliegen Klaus Hurlebusch in seinem Prolegomenon zu einer Hermeneutik textgenetischen Schreibens für die Germanistik fruchtbar gemacht hat,56 sondern z. B. auch für die seit 2004 erscheinende Buchreihe Zur Genealogie des Schreibens,57 des Weiteren insbesondere für den Untersuchungsgegenstand ‚Graphie‘ und die mit ihr verbundenen materialen Phänomene der textgenetischen Prozesse und der Textgestalt insgesamt.58 Wenn sich Textualität und Materialität in ein Bezugsverhältnis setzen lassen, gelangt auch Medialität in den Blick. Die materiale Erscheinungsform von Text ist durch das Medium, das ihn transportiert, ganz wesentlich bestimmt. Die Handschrift – ob als Rotulus, Codex oder Einzelblatt auf Papyrus, Pergament oder Papier mit je spezifischen Schreibgeräten und Beschreibstoffen angefertigt – entsteht aufgrund anderer Arbeitsvorgänge und Ausgangsbedingungen als etwa ein Druck (Buch, Zeitung, Zeitschrift u. a.) und weist damit auch eine andere materiale Erscheinungsform des Textes auf (z. B. unikal, individuell vs. multipel, standardisiert). Dies betrifft in einer weiteren Zuspitzung dann auch die primär nicht mehr materialisierte, nichttaktile und nicht an ein spezifisches Objekt gebundene Erscheinungsform von Text im digitalen Medium.59 Der Text unterliegt dabei auch den Regeln des Mediums, etwa in Hinblick auf Veränderungen und Eingriffe Dritter (Verleger, Redakteure, Setzer, Zensoren bei der Druckproduktion), aber auch in autor- oder verlagsseitigen Anpassungen der Textstruktur an das Medium (etwa in Hinblick auf Serialität bei Fortsetzungsromanen in Zeitschriften). Der mediale Rahmen als Möglichkeit und Bedingung für die Werkform wird schließlich besonders offensichtlich, wenn Autoren ihre Werke plurimedial –––––––— 55

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Siehe nur den Überblick bei Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die „critique génétique“. Aus dem Französischen übersetzt von Frauke Rother und Wolfgang Günther, redaktionell überarbeitet von Almuth Grésillon. Bern u. a. 1999 (Arbeiten zur Editionswissenschaft. 4), bes. den Abschnitt „Handschriften in ihrer Materialität“, S. 50–103. Klaus Hurlebusch: Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise. Prolegomenon zu einer Hermeneutik textgenetischen Schreibens. In: Textgenetische Edition. Hrsg. von Hans Zeller und Gunter Martens. Tübingen 1998 (Beihefte zu editio. 10), S. 7–51. Zur Genealogie des Schreibens. Hrsg. von Martin Stingelin. Tübingen 2004 ff., z. Zt. 17 Bände. Siehe etwa Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur. Hrsg. von Davide Giuriato und Stephan Kammer. Frankfurt a. M., Basel 2006; Schreiben und Streichen. Zu einem Moment produktiver Negativität. Hrsg. von Lucas Marco Gisi, Hubert Thüring und Irmgard M. Wirtz. Göttingen, Zürich 2011 (Beide Seiten. Autoren und Wissenschaftler im Gespräch. 2); des Weiteren z.B. Annette Schütterle: Franz Kafkas Oktavhefte. Ein Schreibprozeß als „System des Teilbaues“. Freiburg i. Br. 2002 (Cultura. 33); Rüdiger Nutt-Kofoth: Schreibräume, Landnahmen. Annette von Droste-Hülshoffs Manuskriptblätter. In: Droste-Jahrbuch 7 (2007/2008) [2009]: Raum. Ort. Topographien der Annette von Droste-Hülshoff. Tagung der LWL-Literaturkommission für Westfalen und der Annette von Droste-Gesellschaft im Neuen Schloss Meersburg, 17. bis 20. Mai 2007. Hrsg. von Jochen Grywatsch, S. 243–273. Diese Entmaterialisierung des Textes führt nun nicht dazu, dass auch sämtliche Prozesse der Textgenese (etwa beim Ersetzen alter durch neue Versionen im benutzerseitigen Speichervorgang) nicht mehr rekonstruierbar sind, sondern sie erfordert stattdessen neue editorische Arbeitsweisen, etwa in Zusammenarbeit mit der forensischen Computerphilologie; s. dazu Thorsten Ries: „die geräte klüger als ihre besitzer“: Philologische Durchblicke hinter die Schreibszene des Graphical User Interface. Überlegungen zur digitalen Quellenphilologie, mit einer textgenetischen Studie zu Michael Speiers ausfahrt st. nizaire. In: editio 24, 2010, S. 149–199.

Zur Bedeutung von Materialität und Medialität für Edition und Interpretation

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anlegen.60 Ist aber die Erscheinungsform des Textes von dem Medium abhängig, das ihn präsentiert, kann auch die Editorik von dieser Mediengebundenheit textueller Realisationen nicht absehen. Insofern ist vorgeschlagen worden, den editionswissenschaftlichen Blick auf den Text stärker mediengeschichtlich zu konturieren.61 Eine weitere Begründung einer solchen Perspektivierung ließe sich aus den Ergebnissen semiotisch argumentierender textsortentypologischer Untersuchungen gewinnen.62 Solche und andere Inbezugsetzungen der Kategorien ‚Text‘, ‚Material‘ und ‚Medium‘ lassen eine weitere Auseinandersetzung mit Grundfragen des Textbegriffs sinnvoll erscheinen. Jedenfalls ist in texttheoretischem Zusammenhang schon von der Kategorie „‚Text‘ in seinem konkreten, materiell-medialen Objektstatus“ als einem ‚sich abzeichnendem neuen Paradigma‘ gesprochen worden.63 Diese Entwicklungen innerhalb der Textwissenschaften konvergieren mit genuin medienwissenschaftlichen bzw. -philosophischen Bestrebungen wie insbesondere der Mediologie, die nach den medialen Bedingungen und Voraussetzungen kultureller Tradierungsprozesse generell fragt.64 Dem traditionellen immateriell-abstrakten Textbegriff der Literatur- und Editionswissenschaft korrespondiert in dieser Perspektive die Ideologie von der Autonomie des zeichenproduzierenden Subjekts, in den Worten Régis Debrays: Das unvermittelte Handeln, dieser schöne Traum des göttergleichen Menschen ... Das Subjekt wirkt auf die Vorstellungen eines anderen Subj. durch einen Austausch von Zeichen ... Als existierten diese berühmt-berüchtigten Zeichen von sich aus, als wären sie vom Himmel gefallen, als bräuchten sie keine Basis, keinen Träger, keinen Gedächtnisspeicher.65

Dem wird von Debray das Postulat entgegengehalten, dass das Studium der „Semiosphäre“ notwendig durch das der „Technosphäre“ – der Medien in ihrer Bedeutung als technischer Dispositive, die in einer gegebenen Kultur Zeichenzirkulation überhaupt erst ermöglichen – zu ergänzen und beide systematisch miteinander zu korrelieren seien: „Schluss mit dem beruhigenden texte-à-texte. Man muss heraus aus den Worten, sich die Finger schmutzig machen […].“ Die Relevanz der medialen Bedingung von Text für die Editorik erfährt durch die digitale Medienrevolution jedenfalls eine weitere Zuspitzung. Das betrifft zunächst die Tatsache, dass das digitale Medium in zunehmendem Maße das Publikationsmedium wissenschaftlicher Editionen wird. Doch dürfte mit diesem Medienumbruch in –––––––— 60

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Exemplarisch dazu Wolfgang Lukas: Medienwechsel und produktionsästhetische Logik: Zu Paul Wührs O-Ton-Hörspiel So eine Freiheit. In: Medienwandel / Medienwechsel in der Editionswissenschaft. Hrsg. von Anne Bohnenkamp. Berlin, Boston 2013 [2012] (Beihefte zu editio. 35), S. 99–120. Rüdiger Nutt-Kofoth: Editionsphilologie als Mediengeschichte. In: editio 20, 2006, S. 1–23. Siehe exemplarisch für den Mediensorte Zeitschrift: Gustav Frank, Madleen Podewski, Stefan Scherer: Kultur – Zeit – Schrift. Literatur- und Kulturzeitschriften als ‚kleine Archive‘. In: IASL 34, 2009, H. 2, S. 1–45. Stephan Kammer, Roger Lüdeke: Einleitung. In: Texte zur Theorie des Textes. Hrsg. und kommentiert von Stephan Kammer und Roger Lüdeke. Stuttgart 2005, S. 9–21, hier S. 15. Régis Debray: Die Geschichte der vier „M“. In: Mediologie als Methode. Hrsg. von Birgit Mersmann und Thomas Weber. Berlin 2008, S. 17–39. Zur Abgrenzung der ‚Mediologie‘ von der Medienwissenschaft s. das Vorwort der Herausgeber ebd., S. 7–13. Debray 2008 (Anm. 64), S. 21. Das Folgende ebd., S. 22.

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der Editorik zugleich das Bewusstsein dafür steigen, dass alle historischen Erscheinungsformen von Text je medial geprägt sind und dass der Text in seiner materialen wie medialen Gebundenheit im überlieferten Textträger das Ausgangsobjekt der wissenschaftlichen Editionstätigkeit ist. Die germanistische Editionswissenschaft hat die Relevanz der Kategorien ‚Material‘ und ‚Medium‘ jedenfalls durchaus wahrgenommen. Ein Kennzeichen dafür ist die Tatsache, dass 2010, zwei Jahre nach der Plenartagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition zur ‚Materialität‘, die ‚Medialität‘ als Tagungsthema gewählt wurde.66

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Mediale Ko(n)texte von Literatur

Die Literaturwissenschaften haben gleichwohl noch immer ihre Schwierigkeiten mit der Mediengebundenheit von Literatur. Dabei können sie sich zwar durchaus auf die Beobachtungen etwa der Druckforschung einlassen, also auch die Typografie und die engere Textumgebung – z.B. im Blick auf Seitenlayouts – für ihre Bedeutungsanalysen fruchtbar machen. Problematisch geblieben ist ihnen aber die Berücksichtigung der Publikationsmedien als ganze, eigenständige Agenten. Das zeigt sich vielleicht nirgends deutlicher als in ihrem Umgang mit der periodischen Presse: Immerhin beginnt sich die Einsicht, dass Zeitungen und Zeitschriften zentrale Orte literatur- und kulturgeschichtlicher Entwicklungen sind, allmählich und auch nachhaltig durchzusetzen.67 Einer konsequenten Berücksichtigung des gesamten und äußerst vielfältigen Umfeldes, in das Literatur dabei eingestellt ist, wird aber eher ausgewichen. Das mag mit dem Medium selbst zu tun haben: Denn Zeitungen und Zeitschriften sind komplexe Funktions- und Formenbündel aus ganz unterschiedlichen Text- und Bildsorten (Erzähltexte, Dramen, Lyrik, Essays, Abhandlungen, Notizen, Nachrichten, Rezensionen, Werbeanzeigen, Reproduktionen bildender Kunst, Fotografien, Karikaturen etc.), die noch dazu von unterschiedlichen Autoren stammen und zudem auf unterschiedliche Weise typografisch gestaltet sind. Diese medienspezifische Vielfalt wird aber nun meistens reduziert: Zum einen wird sie homogenisiert – mit Funktionsbestimmungen wie ‚Unterhaltung‘ oder ‚Bildung‘,68 die als ein starkes Apriori auf alle Zeitschriftenelemente gleichermaßen durchschlagen. Zeitungen und Zeitschriften werden hier aber auch ganz einfach als kohärente Bedeutungseinheiten konzipiert: als ‚Interdiskurs‘ zum Beispiel und als ‚Kunstwerk‘.69 Oder aber man geht zumindest auf –––––––— 66 67

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Dokumentiert in: Medienwandel/Medienwechsel 2013 (Anm. 60) und in editio 24, 2010 sowie 25, 2011. Das gilt zumindest für das Umfeld der Realismusforschung, die die Relevanz der Familienzeitschriften für realistische Literatur schon länger zu berücksichtigen versucht. Vgl. dazu zusammenfassend mit Hinweisen auf die wichtigsten Stationen der einschlägigen Forschung: Daniela Gretz: Das Wissen der Literatur. Der deutsche literarische Realismus und die Zeitschriftenkultur des 19. Jahrhunderts. In: Medialer Realismus. Hrsg. von Daniela Gretz. Freiburg, Berlin, Wien 2011 (Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae. 145), S. 99–126. Vgl. dazu – auch in der Auseinandersetzung mit dem älteren kulturkritischen Modell – Manuela Günter: Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert. Bielefeld 2008. Als essayartiges ‚Gesamtkunstwerk‘ etwa bei Vera Viehöver: Diskurse der Erneuerung nach dem Ersten Weltkrieg. Konstruktionen kultureller Identität in der Zeitschrift Die neue Rundschau. Tübingen 2004.

Zur Bedeutung von Materialität und Medialität für Edition und Interpretation

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die Suche nach (nur) partiellen semantischen Korrespondenzen zwischen einzelnen Elementen: zwischen einem Text und einem Bild etwa oder zwischen dem Feuilleton und den Nachrichten ‚über dem Strich‘. Zum anderen wird diese Vielfalt einfach beiseite geschoben und Literatur von ihrem Medienumfeld isoliert (d. h. eigentlich aus ihm ‚herausgerissen‘): in der Abstützung der Interpretationspraxis auf das problematische Paradigma des ‚immateriellen Textes‘ etwa oder in der Getrennthaltung von Sozial- und Symbolsystem der Literatur und nicht zuletzt in der editorischen Praxis, die auf Zeitschriftenabdrucke bislang oft nur aus Interesse an Textvarianten verweist. Man kann Zeitungen und Zeitschriften aber auch als ‚kleine Archive‘70 konzipieren und dabei genau ihre Vielfalt und ihre Heterogenität als ein Medienspezifikum herausstellen: In Einzelheften und Jahrgängen zusammengebunden erscheinen sie dann als ganz konkret hergestellte Sammelorte, die zugleich auf eine eigene Weise sortiert und strukturiert sind: durch die Wahl der Themen und durch deren Verteilung auf bestimmte Argumentations-, Schreib- und Bildformen, durch interne Strukturierungsformen wie etwa die Graduierung von Relevanz über die Positionierung des Text- und Bildmaterials innerhalb von Heften und Jahrgängen, durch die Steuerung der Aufmerksamkeit auf Textsortendifferenzen mit Hilfe unterschiedlicher Markierungsformen, durch verschiedene Archivierungstechniken mit Registern und Inhaltsverzeichnissen oder durch die Nutzung verschiedener Möglichkeiten im Umgang mit Mediendifferenzen. Auf diese Weise werden flexible Verknüpfungen bestimmter Themen mit bestimmten Formen erstellt – ganz grundlegend mit den Zeichensystemen Schrift und Bild, ebenso aber auch mit literarischen und sonstigen Text- und Bildgattungen. Und damit geht es in solchen Zeitschriften implizit immer auch darum, welche Reichweite und welche Zuständigkeiten den vorkommenden Darstellungsformen jeweils angemessen sind und welche Beziehungen zwischen ihnen bestehen können. In einer wissensgeschichtlichen Perspektive lassen sich diese komplexen ‚settings‘ als Verhandlungsorte konzipieren, die nicht auf semantische Kohärenz oder logische Stringenz ausgerichtet sind, sondern an denen unterschiedlichstes Wissen und differente Normen und Werte im Neben-, Mit- und Ineinander der verschiedensten Formen präsentiert werden können. Gerade das aber ist es, womit sie innerhalb von Kulturen eine eigene spezifische Funktionalität ausbilden: Sie schaffen Kontaktzonen, um Wissensflüsse und Wissensgenesen zu ermöglichen. Unter anderem arbeiten sie dabei auch mit an der Konzeptualisierung von ‚Literatur‘. Denn innerhalb der kleinteiligen Gefüge von Zeitungen und Zeitschriften wird es möglich, dass literarische Texte auf mehreren Ebenen durchaus sehr unterschiedliche Funktionen übernehmen können: Ob sie etwa Wissen mit Werbeanzeigen, mit dem Bildmaterial oder mit der Hauptthese eines Essays teilen, ob und wie diese Differenzen und/oder Gemeinsamkeiten dann auch typografisch im Layout und in der Struktur von Heft- und Jahresinhaltsverzeichnissen unterstützt oder konterkariert werden – all das lässt sich in detaillierten Analysen herausarbeiten.71 Die Spezifik von ‚Literatur‘ ergibt sich in einem solchen Umfeld –––––––— 70 71

Frank/Podewski/Scherer 2009 (Anm. 62). Vgl. dazu ‚en detail‘: Madleen Podewski: Komplexe Medienordnungen. Zur Rolle der Literatur in der deutsch-jüdischen Zeitschrift „Ost und West“ (1901–1923). Bielefeld 2013.

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mithin aus mehreren Faktoren, die in den seltensten Fällen exakt aufeinander abgestimmt sind. Gerade das aber erlaubt Durchblicke auf Offerten, die für ihre Konzeptualisierung in bestimmten Sektoren von Kulturen bestehen und bestanden haben – bevor, nachdem oder während sie – etwa im monografischen Buchdruck – eindeutig(er) gefasst wird.72 Von hier aus gesehen ist die Medialität von Literatur aber längst nicht erfasst, wenn man sich auf die Bedeutungsbeziehungen konzentriert, die sie mit einem Seitenlayout73 oder mit ausgewählten anderweitigen Bestandteilen der Zeitschrift unterhält, oder wenn man – wie beim Fortsetzungsroman – die Zerteilung der Werkbedeutung über den ‚cliff hanger‘ exakt mit der periodischen Erscheinungsweise der Zeitung synchronisiert. Solche Fokussierungen erscheinen zu selektiv, weil sie nur das als relevant erachten, was sich mit dem Bedeutungsgehalt des literarischen Textes resp. Werkes vermitteln lässt. Aus dem Blick gerät so, was in Zeitungen und Zeitschriften alles an Literatur angelagert, womit sie in Berührung gebracht wird und dass und wie sie dabei beständig unterschiedliche Rollen und Positionen zugewiesen bekommt. Ob ‚Interpretation‘ für die angemessene Erfassung solcher Zusammenstellungen taugt, könnte fraglich sein: Denn die dabei unterlegten – wie dann auch immer gefassten – Werk- und Autorschaftskonzepte setzen bereits systematisch voraus, was hier doch als zur Verhandlung anstehend, als historisch wandelbar, aufgezeigt werden könnte: die Art und der Grad an Relevanz eines Autor-Werk-Zusammenhangs und die Art und der Grad an Relevanz von ‚Einheiten‘ sowohl bei Einzeltexten als auch bei diversen Kompositen.74 Die kurrenten textkonditionierten Beobachtungsraster sind zudem vor allem darin trainiert, enge semantische Beziehungen aufzudecken. Schwach semantisierten (oder ganz und gar anderweitig zu fassenden) Funktionen, wie sie in den heterogenen Zusammenstellungen von Zeitschriften und Zeitungen gehäuft vorkommen, wird dagegen ausgewichen. Für die Beschreibung der Effekte, die etwa der Abdruck einer Parfümwerbung inmitten einer historischen Novelle für den Status von Literatur hat, oder für die Beantwortung der Frage, was die Werbeanzeigen im nichtredaktionellen Teil mit der Lyrik auf der Titelseite zu tun haben könnten, stehen bislang jedenfalls noch keine angemessenen Analysekriterien zur Verfügung. Und die Orientierung an Singulär-Qualitäten (Einzeltext, Einzelautor, Einzelforscher) dürfte von der schieren Menge an Material, das in Zeitungen und Zeitschriften umgeschlagen wird, schnell überfordert sein. Für die Erfassung medienspezifischer Aushandlungen von ‚Literatur‘, ‚Autor‘ und ‚Werk‘ aber ist all das von hoher Relevanz. Damit machen Zeitungen und Zeitschriften deutlich, dass Literatur kein fixierbares, sondern ein beständigen Verhandlungen unterworfenes, flexibles Objekt mit unscharfen Grenzen ist und dass eben deshalb ihre Medialität nicht über die einfache Erweiterung –––––––— 72

73 74

Vgl. zu solchen Differenzen Madleen Podewski: Der Tolpatsch in Zeitschrift und Buch: Eine Fallstudie zur Funktionalität von Literatur in medialen Umfeldern. In: Berthold Auerbach. Ein Autor im Kontext des 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Christof Hamann und Michael Scheffel. Trier 2013, S. 63–79. Vgl. exemplarisch Bornstein 2001 (Anm. 51). Dabei könnten etwa auch neue Grenzziehungen für Kategorien wie ‚Autor‘, ‚Herausgeber‘, ‚Werk‘ bedacht werden; s. z. B. Rüdiger Nutt-Kofoth: Schillers Zeitschriften als Herausgeber-Werke und ihre ‚materiale‘ Repräsentation in der Edition. In: Materialität in der Editionswissenschaft 2010 (Anm. 37), S. 145–157.

Zur Bedeutung von Materialität und Medialität für Edition und Interpretation

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eines etablierten bzw. unterstellten Literaturbegriffs zu erfassen ist und hier wohl neue Wege beschritten werden müssen. Und für die Editionswissenschaften kommt die Frage auf, ob und wie sie Materialität und Medialität jenseits von Werk- und Autorkategorien konzipieren und dann auch dokumentieren will. Dieses erst in den Anfängen stehende Untersuchungsfeld verspricht jedenfalls für den Textbegriff der Philologien, den Interpretationshorizont der Literaturwissenschaft und den Aufgabenbereich der Editionswissenschaft nicht wenig gewichtigen Zuwachs einzubringen.

3.

Die Beiträge des Bandes

Der vorliegende Band versammelt 16 Beiträge, die sich, um mit Debray zu sprechen, „die Finger schmutzig machen“, indem sie, anhand verschiedener Untersuchungsgegenstände und von unterschiedlichen – literatur-, kultur- und/oder editionswissenschaftlichen – Seiten herkommend, die Ebene der abstrakten Textualität verlassen und sich dem Phänomen bedeutungsrelevanter Materialität und Medialität widmen, jeweils im Hinblick auf die Frage nach dem interpretatorischen Gewinn einer solchen Betrachtung. Der erste Block legt systematisch-theoretische wie auch historische Grundlagen unseres Themas. So fragen ANNIKA ROCKENBERGER und PER RÖCKEN auf der Basis einer konsensuellen Annahme, dass materielle Parameter potentiell bedeutungstragend seien, nun nach dem Wie und der besonderen Art der Semiose para- bzw. nonverbaler materieller Merkmale. STEPHAN KAMMER stellt demgegenüber in diskursgeschichtlicher Perspektive die Frage nach dem „historischen Apriori“ der säkularen philologischen „Materialverachtung“ und entdeckt sie in einer spezifischen denkgeschichtlichen Konstellation zu Beginn des 18. Jahrhunderts, wo sich das aufklärerische Misstrauen gegenüber dem Überlieferten mit dem zeitgleich sich herausbildenden neuen Konzept des gottgleichen Schöpfer-Autors verbindet. In dieser Perspektive, wie sie in Richard Bentleys Programm einer philologischen Kritik ihren exemplarischen Ausdruck gefunden hat, erscheint das Dokumentarische als kontingentes und vernachlässigbares Phänomen gegenüber dem teleologisch sinnhaften ‚immateriellen‘ Werk. Nach diesen übergeordneten Problemaufrissen folgen Fallstudien in mehreren Abteilungen. Eine erste ist Aspekten skripturaler Materialität anhand von literarischen Entwurfshandschriften vom frühen 19. bis späten 20. Jahrhundert gewidmet. ALMUTH GRÉSILLON rekapituliert, gleichsam einleitend zu diesem Kapitel, wesentliche Etappen der Geschichte der französischen ‚critique génétique‘ und präsentiert anschließend eine beispielhafte Analyse einer Entwurfshandschrift zu Heines Gedicht Lebensfahrt. Auf der Basis einer exakten Materialanalyse wird in einem ersten Schritt die Textgenese rekonstruiert, die ihrerseits in einem zweiten Schritt Grundlage einer schreibgenealogischen Analyse des künstlerischen Gestaltungsprozesses wird. Als dessen – produktionsästhetische – Logik macht Grésillon eine exemplarische Überwindung romantischer Positionen plausibel. BURGHARD DEDNER beschäftigt sich mit der grundsätzlichen Frage der Beziehung zwischen (editionswissenschaftlicher) Handschrifteninterpretation und (literaturwissenschaftlicher) Textinterpretation, in-

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Wolfgang Lukas, Rüdiger Nutt-Kofoth, Madleen Podewski

dem er Beispiele spektakulärer Fehldeutungen von Büchners Entwurfshandschriften zum Woyzeck vorstellt. Diese betreffen insbesondere die falsche Vereindeutigung von Ambiguitäten auf ganz verschiedener Ebene: Indeterminationen bezüglich der Wortformen (Verschleifungen), des Textbestandes (Alternativvarianten) oder der räumlichen Anordnung von Text (Linearität/Nicht-Linearität). Bezeichnenderweise gehen dergleichen Fehldeutungen zum Teil mit einer Fixierung auf die verbale Ebene und der Ignoranz averbaler grafischer Metazeichen (wie Trennstrichen o. ä.) einher; auf diese Weise kann eine Materialsammlung als linearer Text fehlinterpretiert werden. Dedner macht auch auf die kontextabhängige Bedeutung und somit prinzipielle NichtEineindeutigkeit materialer Merkmale aufmerksam. So kann z. B. eine flüchtige Handschrift je nach Kontext Beleg für eine frühe wie für eine späte Niederschrift sein. JOHANNES BARTH beschäftigt sich ebenfalls mit Entwurfshandschriften unvollendet gebliebener Werke, die also für die Textkonstitution den Status exklusiver Autorisierung besitzen. Anhand von Arnims Romanprojekt Die Päpstin Johanna führt er vor, dass die korrekte Konstitution des Textes nicht nur (und trivialerweise) Vorbedingung für seine Interpretation ist, sondern dass umgekehrt auch die gesamte, u. U. aus zusätzlichem paratextuellen Material (wie etwa Korrespondenzen) zu gewinnende Kenntnis des Romanprojekts Voraussetzung für die korrekte Deutung des überlieferten Materials ist. In die von den einzelnen Ausgaben je anders vorgenommene Textkonstitution gehen die Vorkenntnisse bzw. Vorannahmen über die Autorintentionen immer schon mit ein. JOHANNES JOHN unternimmt wiederum eine produktionsästhetische Analyse in der Perspektive der ‚critique génétique‘ und versucht, anhand der Deutung hochkomplexen handschriftlichen Materials, wie es zu Stifters später Erzählung Nachkommenschaften überliefert ist, die Arbeitsweise des Autors und dessen spezifische Kreativität zu fassen. Der Held der Erzählung, der Landschaftsmaler Frederick Roderer, und der Autor lassen sich, jenseits der bekannten biografischen Konstellation des Maler-Dichters Stifter, in eine spezifische Beziehung setzen, insofern nämlich die geschilderte Produktionsweise der Figur und die ihres Autors sich in überraschender Weise ähneln: Bei beiden nehmen unentwegtes Revidieren, Korrigieren und Neuentwerfen den Charakter einer regelrechten Obsession an, die den künstlerischen Gestaltungsprozess zu einem ‚progressus ad infinitum‘ werden lässt; wiederholte ‚Übermalung‘ als dessen Materialisation kennzeichnet die pikturale Praxis ebenso wie die skripturale. Der auffälligen Hemmung der narrativen Progression und der Ereignislosigkeit innerhalb der fiktionsimmanenten Handlungsebene korrespondiert auf Produktionsebene der Aufschub der Fertigstellung durch permanentes Umschreiben. Diese These einer Isomorphie zwischen Inhalt (der Erzählung) und der – sich in charakteristischen Arbeitspraktiken (System der „abgelegten Blätter“) bis hin zum Schriftbild (Übermalung) materiell manifestierenden – Produktionslogik korreliert in exemplarischer Weise materiale und textuelle Semantik. In dieselbe Richtung einer Relationierung von Werkstrukturen und Produktionsprozess bewegt sich auch GABRIELE SANDERS Blick auf Döblins Berlin Alexanderplatz als multimediales Schreibprojekt. Auf der Basis seiner wissenspoetologischen Prämissen entwickelt Döblin nicht nur seine bekannte dokumentarische Schreibstrategie, wie sie uns in den Montageverfahren des fertigen Romans entgegentritt, sondern, im Arbeitsprozess,

Zur Bedeutung von Materialität und Medialität für Edition und Interpretation

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auch spezifische Weisen des materiellen Umgangs mit Fremdtexten, die aufgeklebt oder beigeheftet, bearbeitet oder unverändert übernommen und spatial unterschiedlich zum fiktionalen Eigentext positioniert werden. Sander skizziert als Forschungsdesiderat eine Klassifikation und Typologie der überlieferten Manuskripte nach der Art der materiellen Integration dieser Texte und eine systematische Korrelierung mit den im Text isolierbaren verschiedenen Montageformen. KAI BREMER beschließt diese Sektion mit einer Re-Interpretation von Heiner Müllers Übersetzung von Aischylos’ Die Perser, die die in der Forschung gängige vage Rede von Müllers Arbeit an der „Materialität der Sprache“ durch Konsultation von Archivmaterial präzisiert. So kann er zeigen, wie der Autor eine ihm als Vorlage dienende Interlinearübersetzung im Zuge der handschriftlichen Bearbeitung des Typoskripts nicht nur sprachlich, etwa durch Tilgungen und Ersetzungen, sondern vor allem auch durch Neuumbrechungen von Versen zunehmend ‚entlinearisiert‘ und dadurch eine ganz neue Aufmerksamkeit auf Worte erzwingt. Die darauf folgende Sektion zu Phänomenen typografischer Materialität gliedert sich in zwei Abteilungen. Eine erste ist dem Buch, eine zweite der Mediendifferenz zwischen Buch und Zeitung/Zeitschrift gewidmet. THOMAS RAHN untersucht einleitend die Interdependenzen zwischen Text (‚Inhalt‘) und materialer Textgestalt und stellt die grundlegende Frage, inwieweit Layout (Satzbild) und Typografie (Schriftbild) eine poetische und somit bedeutungsrelevante Dimension zukommen. Anhand von Drucken Rilke’scher Lyrik – und damit einer Gattung bzw. Schreibweise, für die eine spezifische typografische Gestalt und die Spannung zwischen reiner, immaterieller ‚Stimme‘ und materiellem Schriftbild immer schon konstitutiv ist – arbeitet er verschiedene detailtypografische Parameter wie Typenvarianten auf Graphenebene, variante Zeilenumbrüche, Weißraumeffekte und nichtschriftliche Phänomene (Ornamente) heraus, gleichsam Elemente eines ‚Wörterbuchs‘ einer gattungs- und medienspezifischen Materialität. Deren Bedeutungshaftigkeit, so wird deutlich, verlangt zwar die – sich u. U. als visueller ‚Störeffekt‘ manifestierende – signifikante Abweichung von einer typografischen Norm, aber keineswegs zwingend den Rekurs auf eine belegbare Autorintention. Das neue Konzept von ‚typografischen Fassungsvarianten‘ wirft ferner die Frage nach den Grenzen editorischer Dokumentierbarkeit auf. Wie auch immer man diese letztlich beantworten mag, so legen die von Rahn untersuchten Beispiele jedenfalls nahe, jene Forderung auf die Editionsphilologie zu übertragen, die bereits Nelson Goodman im Rahmen seiner grundlegenden Überlegungen über das Verhältnis von ‚Denotation‘ und ‚Exemplifikation‘ in Kunstwerken am Beispiel der Übersetzung poetischer Texte aufgestellt hat: „Das Ziel ist die größtmögliche Bewahrung sowohl dessen, was das Original exemplifiziert, als auch dessen, was es sagt.“75 GABRIELE WIX untersucht Phänomene der Buchtypografie ebenfalls anhand einer speziellen, hier zudem intermedialen Gattung, Max Ernsts wenig bekanntem surrealistischen Collage-Roman La femme 100 têtes. Dabei vermag sie zu zeigen, wie die einzelnen – französischen, deutschen, amerikanischen – Editionen, auf der Basis –––––––— 75

Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie [Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, 1968]. Frankfurt a. M. 1997, S. 66 (Hervorhebung im Original).

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Wolfgang Lukas, Rüdiger Nutt-Kofoth, Madleen Podewski

je verschiedener Konzeptionen von Text und Bild im Hinblick auf deren autonomen oder heteronomen Status, verschiedene typografische Gestaltungen vornehmen und dergestalt divergente semantische Effekte produzieren. Die Teilsektion wird abgeschlossen mit FRANZISKA MAYERS Beitrag zu „Aspekte[n] einer Semiotik des Buchs“, der am Beispiel der gattungs- und genrespezifischen Gestaltung von Buchcovers deutscher Verlage der Gegenwart das grundlegende Konzept des Buches als eines komplexen polysemiotischen, unterschiedliche Zeichensysteme integrierenden Gesamt-Zeichens erörtert. Als Basis der Bedeutungsgenerierung in der Buchgestaltung werden dabei in Anlehnung an Peirce die Kategorien (1) „Index“, (2) „Ähnlichkeit“ (im Sinne einer „quasi ikonische[n] Abbildungsrelation“) und (3) „konventionalisierte[ ] Zuschreibung“ erörtert. Die zweite Teilsektion zu Problemen typografischer Materialität nimmt die medienspezifischen Differenzen eines (in der Regel: Erst-)Drucks in der Zeitung bzw. in einer Zeitschrift und des nachfolgenden Buchdrucks in den Blick. BARBARA VON REIBNITZ wirft die Frage nach der adäquaten editorischen Behandlung von Robert Walsers zwischen 1898 und 1956 in verschiedenen deutschsprachigen Zeitungen erschienenen Feuilletons auf. Der mediale Ko(n)text der Erstpublikation beeinflusst nicht nur im allgemeinen Sinne die Lektüre, sondern dessen Kenntnis erweist sich bei Walser in einer ganz spezifischen Weise als konstitutiv für das Textverständnis. Denn Walser befleißigt sich einer ‚literarisierenden‘ Schreibweise, die selbstreferentiell die eigene Literarizität innerhalb eines dominant nichtliterarischen Zeitungsfeuilletons – und damit den eigenen Publikationskontext – immer schon zumindest implizit thematisiert. Am Beispiel von Arthur Schnitzlers 1925 in der Ullstein-Zeitschrift Die Dame, 1926 als Buch bei S. Fischer erschienenen Traumnovelle geht MICHAEL SCHEFFEL der Frage nach, welchen Gewinn die Textinterpretation aus der Berücksichtigung der Textgenese zum einen, des Erstpublikationskontextes zum anderen ziehen kann. In beiden Fällen, so erweist sich, sind die Ergebnisse literatur- und editionswissenschaftlicher Analyse kompatibel, d. h. die Ergebnisse der Textinterpretation werden durch die Einbeziehung materieller Kontexte jenseits des ‚edierten Textes‘ zusätzlich gestützt. Speziell die Kenntnis des Zeitschriftenkontextes – nämlich eines Organs, das in Text und Bild den fundamentalen Geschlechterrollenwandel der 1920er Jahre dokumentiert und propagiert – vermag jenen Gegenwartsbezug zur zeitgenössischen Nachkriegsmoderne zu vermitteln, der dem Text selbst, wenn auch implizit und diskret, eignet; oder anders gewendet, der Verlust dieses spezifischen Kontextes in der Buchpublikation konnte das Klischee vom angeblich rückwärtsgewandten k.u.k.Autor begünstigen. GUSTAV FRANK schließlich skizziert am Beispiel von Walter Benjamins Einbahnstraße, der 1928 erschienenen Sammlung von ursprünglich in diversen Periodika publizierten kleinen Beiträgen, inwiefern eine materialitäts- und medialitätsorientierte Editionswissenschaft einen Beitrag zur Erforschung der „Möglichkeitsbedingungen des Sichtbarwerdens eines Textes in seiner Kultur“ leistet und dergestalt den kulturwissenschaftlichen Aufgabengebieten der ‚Visual Studies‘ und ‚Material Culture‘ zuarbeitet. Die Einzeltexte werden durch die mediale Eigenlogik des jeweiligen Publikationsorgans überformt, die sich ihrerseits sowohl über die Ebene der Textualität – so u. a. die je spezifische kotextuelle Anordnung – als auch über

Zur Bedeutung von Materialität und Medialität für Edition und Interpretation

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die Ebene der typografischen Visualität – die je spezifische ‚Inszenierung‘ und ‚Aufführung‘ der Texte – konstituiert. Die beiden letzten Sektionen des vorliegenden Bandes nähern sich ganz neuen Arbeitsgebieten, und so erklärt es sich, dass sie jeweils nur mit einem Beitrag besetzt sind. ANDREAS MEIER begibt sich auf das Gebiet der audiophonen Materialität und Medialität, indem er die editorische Problematik thematisiert, die eine durch Hörbücher oder Mitschnitte von Lesungen produzierte Varianz aufwirft, eine Problematik, die verschärft gegeben ist, wenn es sich um Einsprechungen durch den Autor selbst handelt. Ging es bisher um Materialität und Medialität, die, wenn auch nicht notwendig schriftlicher, so doch immer sprachlicher Natur waren, so erschließt der letzte Beitrag von BODO PLACHTA eine kategorial andere, nämlich außersprachliche Dimension von Materialität und mit ihr ein ganz neues, sowohl für die interpretierende Literaturwissenschaft als auch für eine dokumentierende Editorik relevantes Aufgabengebiet. Die zum dichterischen Produktionsakt kontigen materiellen Objekte – vom Schreibgerät über den Schreibtisch und die darauf befindlichen Gegenstände bis hin zum umgebenden Raum – konstituieren einen spezifischen materiellen Kontext, der seinerseits, wie Plachta nachweist, nicht selten Eingang in die fiktionale Welt der Texte findet und dort von den Autoren neu semantisiert und literarisiert wird. Der Schreibtisch wird dergestalt zum „Grabungsfeld“ für den editionsphilologischen ‚Archäologen‘. Insgesamt bieten die Beiträge vielfältige Argumente für die Relevanz der materialen und medialen Aspekte des literarischen Textes – eine Relevanz, die in der literaturwissenschaftlichen Interpretation erschlossen werden kann, dafür allerdings in der Edition einer dokumentierenden Aufbereitung der Textüberlieferung bedarf, die nicht nur den abstrakten, linguistischen Text, sondern auch seine materialen und medialen Ausprägungen so konkret wie möglich sichtbar macht. Darüber hinaus vermögen sie zu zeigen, dass und wie sich die Bedeutung oder zentrale Bedeutungsaspekte eines gegebenen Textes potentiell auch auf die – zu ihm in der Regel in einem Verhältnis der Kontiguität stehenden – materialen und/oder medialen Ebenen ‚erstrecken‘ und dort ihren isomorphen ‚Ausdruck‘ finden: sei es in der typografischen Gestalt und ‚Inszenierung‘ eines Textes, sei es in einer spezifischen Produktionsweise oder Schreibszene, die sich in Entwurfshandschriften materialisiert hat, oder sei es im medialen Publikationskontext. Insofern versteht sich der vorliegende Band als Vorarbeit zu einer wünschenswerten Systematisierung der Beziehungen von Text, Material und Medium in Hinblick auf deren jeweilige spezifische Teilhabe an der Generierung von Bedeutung. Eine solche Systematisierung eines objektrelationalen Verständnisses von Bedeutung als Erweiterung eines allgemeinen Kanons von ‚Regeln der Bedeutung‘76 dürfte für bestimmte Grundverständnisse der Literatur- wie der Editionswissenschaft nicht ohne Konsequenzen sein. Die Konzeption des vorliegenden Bandes und die in ihm versammelten Beiträge gehen auf eine gleichnamige Tagung zurück, die die Herausgeber in Zusammenarbeit –––––––— 76

Vgl. Regeln der Bedeutung 2003 (Anm. 54).

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Wolfgang Lukas, Rüdiger Nutt-Kofoth, Madleen Podewski

mit der Kommission für allgemeine Editionswissenschaft der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition vom 10. bis 12. Februar 2011 an der Bergischen Universität Wuppertal durchgeführt haben. Gedankt sei der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Gesellschaft der Freunde der Bergischen Universität für die finanzielle Förderung der Tagung. Helen Bamberg, Arthur Pyrskala und Alexander Wagner haben wesentlich bei der Organisation und Durchführung der Tagung geholfen; ihnen gilt ein besonderer Dank.

I. Aspekte zu Theorie und Geschichte

Annika Rockenberger, Per Röcken

Wie ‚bedeutet‘ ein ‚material text‘?

1.

Einleitung

Zu den Gemeinplätzen der Editionskritik gehört seit jeher die Behauptung, dass das zusammengetragene Informationsangebot – Faksimiles und Transkriptionen, archivalische Beschreibung der überlieferten Dokumente, Rekonstruktion und Darstellung der Textgenese, Variantenapparate usw. – an den einschlägigen Interessen interpretierender Literaturwissenschaftler vorbeigeht. Auf derlei Zweifel an der hermeneutischen Relevanz editorischer Dokumentation wird seit einiger Zeit (spätestens seit 1971, dem Erscheinungsjahr von Texte und Varianten)1 mit dem Gegenvorwurf geantwortet, die interpretierende Literaturwissenschaft verharre im vorkritischen Zustand eines philologischen Idealismus, dem es lediglich um den ‚reinen Text‘ (oder das vom Autor intendierte Werk) gehe, womit letztlich naive ontologische Prämissen und simplifizierende Vorstellungen vom schieren Gegebensein philologischer Gegenstände verbunden seien. Zu den „Herausforderungen“ entsprechender ‚traditioneller‘ Sichtweisen und Praxen wurden namentlich Varianz und Materialität erklärt,2 also zum einen die – freilich primär an Autorvarianten interessierte3 – Rekonstruktion von Textgenese und Textdynamik4 und zum anderen die – über den angeblichen Positivismus editorischer ‚Datenhuberei‘ hinausweisende – Aufmerksamkeit für materiellmediale Aspekte der Überlieferung. Eine Ausrichtung des aktuellen philologischen Materialitätsparadigmas hebt nun darauf ab,5 non- und paraverbale materiell-mediale Objekteigenschaften von Texten –––––––— 1 2

3

4 5

Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971. Vgl. auch Roger Lüdeke: Materialität und Varianz. Zwei Herausforderungen eines textkritischen Bedeutungsbegriffs. In: Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Hrsg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez, Simone Winko. Berlin, New York 2003, S. 454–485. Vgl. Anne Bohnenkamp: Autorschaft und Textgenese. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hrsg. von Heinrich Detering. Stuttgart 2002, S. 62–79, sowie vor allem Burghard Dedner: Die Ordnung der Varianten. Erörtert aufgrund von Büchner-Texten. In: editio 19, 2005, S. 43–66. Vgl. den Überblick bei Rüdiger Nutt-Kofoth: Textgenese. Überlegungen zu Funktion und Perspektive eines editorischen Aufgabengebiets. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 37, 2005, S. 97–122. Vgl. zur Debattenkonstellation nur Wim Van Mierlo: Introduction. In: Variants 6, 2007: Textual Scholarship and the Material Book. Hrsg. von dems., S. 1–12; Per Röcken: Was ist – aus editorischer Sicht – Materialität? Versuch einer Explikation des Ausdrucks und einer sachlichen Klärung. In: editio 22, 2008, S. 22–46; Ders.: Schreibgründe. Die Materialität des Papiers zwischen skripturaler und editorischer Praxis. In: Variations. Literaturzeitschrift der Universität Zürich 17, 2009, S. 143–155; Wilhelm G. Jacobs: Materie – Materialität – Geist. In: editio 23, 2009, S. 14–20; Bokens materialitet. Bokhistoria

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Annika Rockenberger, Per Röcken

als bislang vernachlässigte Aspekte literarischer Kommunikation6 in ihrer ‚semantischen Potentialität‘ zu exponieren. Die Annahme einer ‚Semantizität‘ geht hierbei über eine bloß symptomatische Auswertung7 der Materialität zu Zwecken der Zuschreibung und Klassifikation von Texten und Textbestandteilen, zur Ermittlung chronologischer und genetischer Relationen oder zur Rekonstruktion des wahrscheinlichen Produktionsvorgangs bzw. seiner Umstände und Bedingungen weit hinaus. Unter anderem wird sie mit der Forderung nach einer Erweiterung des als hermeneutisch relevant erachteten Untersuchungsgegenstandes verknüpft8 oder als Möglichkeit gesehen, endlich mit überkommenen ‚hermeneutisch-idealistischen‘ Wahrnehmungsund Deutungsroutinen aufzuräumen. In jedem Falle wird die unterstellte ‚Bedeutungshaftigkeit‘ zum Anlass genommen, über die Angemessenheit philologischer Terminologie, editorischer Gegenstandsbestimmungen und Präsentationsformen eingehender nachzudenken – und gegebenenfalls auch editionspraktische Konsequenzen zu ziehen. Aber was besagt eigentlich das hinsichtlich der Materialität erhobene Postulat der ‚Semantizität‘?9 Wie hat man sich das vorzustellen – dass die Materialität ‚Bedeutung trägt‘ oder ‚zur Bedeutung beiträgt‘? Was genau ist mit derlei Aussagen gemeint? –––––––—

6

7

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9

och bibliografi. Hrsg. von Mats Malm, Barbro Ståhle Sjönell und Petra Söderlund. Stockholm 2009 (Nordiskt Nätverk för Editionsfilologer. Skrifter. 8); Materialität in der Editionswissenschaft. Hrsg. von Martin Schubert. Berlin, New York 2010 (Beihefte zu editio. 32); Annika Rockenberger, Per Röcken: Inkunabel-Materialität. Zur Deutung der Typographie von Sebastian Brants „Narrenschiff“ (Basel 1494). In: Euphorion 105, 2011, S. 283–316, bes. S. 283–289, sowie zu einer ‚medienkulturwissenschaftlichen‘ Perspektivierung Rüdiger Nutt-Kofoth: Editionsphilologie als Mediengeschichte. In: editio 20, 2006, S. 1–23. Wir gehen im Folgenden davon aus, dass Produktion und Rezeption literarischer Werke im Rahmen eines Kommunikationsmodells adäquat zu rekonstruieren sind und zwischen der literarischen und der (schriftlichen) Alltagskommunikation keine kategorialen, sondern lediglich – etwa hinsichtlich institutionalisierter Verarbeitungsmodalitäten und Konventionen – graduelle Unterschiede bestehen. – Eine erste Orientierung zu den mit dieser Einschätzung verbundenen Schwierigkeiten gibt Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff der Literaturwissenschaft. Berlin 2001, S. 30–56; allerdings ist fraglich, ob die in diesem Zusammenhang für ‚literarische Texte‘ gemeinhin vorgebrachten Einwände gleichermaßen für die im Folgenden untersuchten Phänomene einschlägig sind. Mit ‚bloß‘ soll nicht angedeutet sein, dass es sich hierbei um eine triviale, rein mechanische Datenerhebung handelt. Nicht nur in der ‚critique génétique‘ und der textgenetischen Edition, sondern auch in der Handschriften- oder Druckbeschreibung wird die Materialität zum Gegenstand teilweise extrem voraussetzungsreicher, hochkomplexer Schlussprozesse; vgl. nur Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die ‚critique génétique‘. Frankfurt a. M. 1999, S. 50–103, und Louis Hay: Materialität und Immaterialität der Handschrift. In: editio 22, 2008, S. 1–21, sowie Philip Gaskell: A New Introduction to Bibliography [1972]. New Castle 2009, und Martin Boghardt: Archäologie des gedruckten Buches. Wiesbaden 2008. Vgl. z. B. Carlos Spoerhase: Perspektiven der Buchwissenschaft. Ansatzpunkte einer buchhistorisch informierten Literaturwissenschaft. In: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 21, 2011, S. 145–152, hier S. 149: „Wenn die Spezifika typographischer Kommunikation, die materielle Gestaltung und paratextuelle Einrichtung schriftlicher Artefakte sowohl den laienhaften wie den professionellen Umgang mit diesen Artefakten in einer semantisch relevanten Weise prägen, kann die Interpretation literarischer Texte nicht ohne eine präzise Verhältnisbestimmung von Eigenschaften des literarischen Buchs und Bedeutung des literarischen Textes auskommen: Buch- und Literaturwissenschaft sind hier aufeinander angewiesen.“ Ein Hinweis zur Terminologie: Wir verzichten auf eine Explikation des unscharfen Ausdrucks ‚Semantik‘ und verwenden diesen (wie auch die abgeleiteten Ausdrücke ‚semantisch‘ oder ‚Semantizität‘) – um die Erinnerung an den problematischen Status des Ausdrucks wach zu halten – stets in einfachen An-

Wie ‚bedeutet‘ ein ‚material text‘?

2.

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Anmerkungen zum Verständnis der Fragestellung

Ehe wir an die Beantwortung der im Aufsatztitel aufgeworfenen Frage denken können, müssen wir diese zunächst einmal besser verstehen. Am einfachsten ist hierbei wohl zu klären, was mit dem Ausdruck ‚material text‘ gemeint sein soll. Schwieriger wird es dann mit dem Verb ‚bedeuten‘ und dem Interrogativpronomen ‚Wie‘. – Zunächst also: 2.1

Was ist ein ‚material text‘?

Die Einführung des Ausdrucks ‚material text‘ bei Peter Shillingsburg10 steht bekanntlich im Zusammenhang mit der Debatte um eine als Mediengeschichte des Werkes konzipierte ‚Sociology of Texts‘, die vor allem von einer Kritik am ‚Idealismus‘ und ‚Positivismus‘ der Greg-Bowers-Tanselle-School ausging.11 Offenbar hatte Shillingsburg den (zutreffenden) Eindruck gewonnen, dass in dieser Debatte vor allem die undifferenzierte Terminologie der Verständigung – oder wenigstens dem Verständnis des jeweils vorliegenden Dissenses – im Wege stand. Wie stets behinderte hier vornehmlich die uneinheitliche, normativ imprägnierte Verwendung des Ausdrucks ‚Text‘ eine Klärung der Standpunkte. Shillingsburg nimmt nun adjektivische Spezifikationen des Ausdrucks vor, um auf diese Weise verschiedene Sichtweisen zu eröffnen auf ein zunächst diffuses Konglo-

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10 11

führungszeichen. Denn: Es scheint uns zwar naheliegend, ‚Semantik‘ als denjenigen Teilbereich der Semiotik aufzufassen, der mit der Erforschung verbalsprachlicher Zeichensysteme befasst ist; allerdings herrscht hierüber keineswegs Einigkeit. In der gesichteten Literatur jedenfalls werden besagte Termini (und sei’s schlagwortartig) gleichermaßen verwendet, um die (nicht-sprachliche) Zeichenhaftigkeit materiell-medialer Phänomene zu bezeichnen. Vgl. zuerst Peter L. Shillingsburg: Text as Matter, Concept, and Action. In: Studies in Bibliography 44, 1991, S. 31–82. Vgl. nur die programmatische Kritik am (angeblichen) „hermeneutical idealism and textual positivism“ der etablierten ‚editorial theory‘ bei Jerome J. McGann: Theory of Texts. In: London Review of Books, 18. 2. 1988, S. 20 f.; ausführlich entwickelt werden die entsprechenden Kritikpunkte in Ders.: A Critique of Modern Textual Criticism. London, Chicago 1983; Ders.: The Monks and the Giants. Textual and Bibliographical Studies and the Interpretation of Literary Works. In: Textual Criticism and Literary Interpretation. Hrsg. von Dems. Chicago, London 1985, S. 180–199; Ders.: Interpretation, Meaning and Textual Criticism: A Homily. In: Text. An Interdisciplinary Annual of Textual Studies 3, 1987, S. 55– 62, und Ders.: The Textual Condition. Princeton 1991; grundlegend ist überdies Donald Francis McKenzie: Typography and Meaning. The Case of William Congreve [1981]. In: Ders.: Making Meaning. „Printers of the Mind“ and Other Essays. Boston 2002, S. 198–236, sowie Ders: Bibliography and the Sociology of Texts (The Panizzi Lectures 1985). Cambridge 1999. – Vgl. zur Debattenkonstellation auch Peter L. Shillingsburg: An Inquiry into the Social Status of Texts and Modes of Textual Criticism. In: Studies in Bibliography 42, 1989, S. 55–79; Paul Eggert: Document and Text. The ‚Life‘ of the Literary Work and the Capacities of Editing. In: Text. An Interdisciplinary Annual of Textual Studies 7, 1994, S. 1–24; G. Thomas Tanselle: Literature and Artifacts. Charlottesville 1998, sowie zur weiteren Orientierung Peter L. Shillingsburg: On Being Textually Aware. In: Studies in American Naturalism 1, 2006, S. 170–195; Paul Eggert, Peter L. Shillingsburg: Anglo-American Scholarly Editing, 1980–2005. In: Ecdotica 6, 2009, S. 9–19, und Darcy Cullen: The Social Dynamics of Scholarly Editing. In: Editors, Scholars, and the Social Text. Hrsg. von Darcy Cullen. Toronto 2012, S. 3–32.

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Annika Rockenberger, Per Röcken

merat von Gegenständen und Gegenstandsmerkmalen. Seine Explikation von ‚material text‘ sieht so aus:12 material text. The union of linguistic text and document: a sign sequence held in a medium of display. The material text has ‚meanings‘ additional to, and perhaps complementary to, the linguistic text.

Auch ohne hier auf Details13 des elaborierten Begriffsapparats einzugehen, wird deutlich, dass mit dem Ausdruck ‚material text‘ unsere Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden soll, dass eine gemeinhin als ‚Text‘ bezeichnete verbalsprachliche Zeichensequenz stets in einer konkreten Materialisation vorliegt, der nun ihrerseits14 – sofern wir uns denn dafür interessieren – eine hermeneutische Relevanz zugesprochen werden kann. Das Wort ‚meanings‘ wird allerdings in Anführungszeichen gesetzt und bleibt ebenso unbestimmt wie die nur angedeuteten ‚semantischen‘ Interrelationen. Es zeigt sich hier übrigens eine kategoriale Asymmetrie:15 hermeneutisch relevante Bezüge bestehen nämlich nicht zwischen dem isoliert betrachteten verbalsprachlichen Text und der isoliert betrachteten Materialität, sondern zwischen dem verbalsprachlichen Text und der aus diesem und der Materialität bestehenden Einheit. Shillingsburg scheint demnach nicht davon auszugehen, dass die schiere Materialität für sich genommen irgendetwas ‚bedeutet‘,16 dies scheint für ihn erst auf der Ebene ihrer Zusammenschau mit der verbalsprachlichen Zeichensequenz der Fall zu sein. Ob eine solche Einschränkung sinnvoll ist, wäre zu diskutieren. Um dieser Diskussion nicht vorzugreifen, sollte eine Bestimmung von ‚material text‘ hier weniger voraussetzungsreich sein. – Unsere eigene tentative Explikation des Ausdrucks sieht so aus: (Expl–mTx) Als ‚material text‘ bezeichnen wir ein semiotisch komplexes multimodales17 Artefakt, das neben einem schriftlich fixierten verbalsprachlichen Zeichensystem weitere (non- und paraverbale) materiell-mediale Objekteigenschaften aufweist, wobei diese ursächlich auf das

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Peter L. Shillingsburg: Resisting Texts. Authority and Submission in Constructions of Meaning. Ann Arbor 1997, S. 101. Vgl. Shillingsburg 1997 (Anm. 12), Kap. 3, bes. S. 70–76; vgl. auch die kritischen Hinweise bei G. Thomas Tanselle: Textual Instability and Editorial Idealism. In: Studies in Bibliography 49, 1996, S. 1–60, hier S. 37–41, und Paul Eggert: Securing the Past. Conservation in Art, Architecture and Literature. Cambridge 2009, S. 229–231. Zumal sie nach Shillingsburg 1997 (Anm. 12), S. 74, Ausgangspunkt jeder rezeptiven Aktivität ist: „A material text, any material text, is the reader’s only access route to the work.“ Diese Asymmetrie wird vermieden in der von McGann 1991 (Anm. 11), S. 15 f., vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen ‚bibliographical‘ und ‚linguistic code‘. Plausibel scheint uns immerhin, dass die Aufmerksamkeit auch für die Materialität wesentlich vom Interesse für den verbalsprachlichen Gegenstand motiviert ist; vgl. bereits Röcken 2008 (Anm. 5), S. 36 mit Anm. 82. Vgl. zu diesem Ausdruck nur Jürgen Spitzmüller: Typographisches Wissen. Die Oberfläche als semiotische Ressource. In: Oberfläche und Performanz. Untersuchungen zur Sprache als dynamischer Gestalt. Hrsg. von Angelika Linke und Helmuth Feilke. Tübingen 2009, S. 459–486, hier S. 466: „Multimodal heißt, dass davon ausgegangen wird, dass sich die Bedeutung eines Textes in der Regel nicht nur aus einer einzelnen Zeichenressource (also etwa verbaler Sprache) konstituiert, sondern dass zumeist mehrere Zeichenressourcen (Modalitäten) zusammenwirken und damit das Interpretationsangebot eines Textes formieren.“

Wie ‚bedeutet‘ ein ‚material text‘?

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Handeln eines oder mehrerer Produktionsinstanzen des Literatursystems (nicht notwendigerweise des Autors des verbalen Textes) zurückzuführen sind.

Andeutungsweise noch einige weiterführende Bestimmungen: Die möglicherweise mit einer kommunikativen Intention herbeigeführte non- und paraverbale Materialität besitzt eine ‚semiotische Potentialität‘ dergestalt, dass sie bestimmte immanente oder relationale Eigenschaften aufweist, die vor dem Hintergrund semiotischen Wissens zur Basis interpretativer Inferenzen werden können. Eine Interrelation zwischen den im ‚material text‘ kopräsenten verbalsprachlichen und materiellen Zeichensystemen besteht dabei gegebenenfalls dergestalt, dass auf die Materialität gerichtete interpretative Schlussprozesse die Ergebnisse vorgängig oder simultan ablaufender Schlussprozesse als Ressourcen bzw. Kontexte nutzen (stärkere Version: voraussetzen), die mit dem verbalsprachlichen Zeichensystem befasst sind (und vice versa). Zur näheren Charakterisierung entsprechender ‚semantischer‘ Bezüge ist anzumerken, dass sie relational zum verbalsprachlichen Text näher zu qualifizieren wären (also etwa als affirmativ oder kritisch, als additiv, kontrastiv, konträr, komplementär).18 Funktional dürften sich die fraglichen Relationen als Beziehung zwischen Zeichen und Metazeichen auffassen lassen. Metazeichen – wie etwa hochgradig konventionalisierte „typographische Dispositive“19 – geben an, „welches Register man in der Kommunikation verwenden möchte“, wobei „bestimmte Eigenschaften des Signifikanten eines Zeichens“ ausgenutzt werden, „um damit einige Anweisungen zum Gebrauch des Zeichens selbst zu vermitteln“.20 Wir möchten in Erinnerung rufen, mit welcher Aufgeregtheit in den vergangenen Jahrzehnten die Diskussion um die angebliche Notwendigkeit eines neuen, ‚erweiterten‘ Textbegriffs geführt wurde und mit welcher Inflation von Textbegriffen dies einherging. Beträchtlicher stipulativer Aufwand ist getrieben worden, dem Ausdruck ‚Text‘ per definitionem ganze Forschungsprogramme und gegenstandstheoretische Festlegungen einzuschreiben. Als Ergebnis dieser terminologischen Umdeutungen werden nunmehr ganz verschiedene Sachverhalte mit ein und demselben Ausdruck etikettiert und ohne begriffliche Differenzierung jeweils ganz verschiedene Gegenstandsaspekte exponiert. Aus unserer Sicht hat die Regelung, den notorisch unscharfen Ausdruck ‚Text‘ durch adjektivische Spezifikationen zu präzisieren, demgegenüber erhebliche Vorteile. Es wird klarer, wovon eigentlich und ob jeweils von der gleichen Sache gesprochen wird. Auf diese Weise können verschiedene Sachverhalte und Aspekte eines –––––––— 18

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Zu klären wäre auch, ob diese Relation funktional als epistemologische zu denken wäre, also etwa so: Die materiale Gestaltung hilft, eine auf den verbalen Text allein bezogene Interpretationshypothese (z. B. hinsichtlich der weltanschaulichen Einordnung) zu generieren, zu selektieren, zu bestätigen oder zu falsifizieren. Dieser inzwischen etablierte Ausdruck wurde – ausgehend von Überlegungen Roger Chartiers – vorgeschlagen von Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen 2000, S. 14, 29 und 119–126; allerdings bezeichnet Wehde solche stark institutionalisierten makrotypographischen Kompositionsschemata als „Superzeichen“ (ebd., S. 119 f.), da sie dazu dienen, die generische Klassifikation des jeweiligen Textes und funktionale Einheiten desselben zu ‚konnotieren‘. Ugo Volli: Semiotik. Eine Einführung in ihre Grundbegriffe. Tübingen 2002, S. 47.

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komplexen kulturellen Artefakts differenzierter erfasst, Missverständnisse vermieden und das fachsprachliche Instrumentarium spezifischen Gegebenheiten und Erfordernissen entsprechend justiert werden. So lässt sich mit der von Shillingsburg vorgeschlagenen Spezifikation die Frage: ‚Gehört die Typographie zum Text?‘21 durch eine sinnvollere ersetzen. Die non- oder paraverbale Materialität des Dokuments mag gemäß mancher Verwendungsweisen von ‚Text‘ Bestandteil der mit dem Ausdruck jeweils bezeichneten Gegenstände sein; in jedem Falle ist sie Bestandteil des ‚material text‘. Und – um ein hier einschlägiges Aperçu zu bemühen – wenn wir „Goethes ‚Werther‘ in Oktav und Fraktur oder in Duodez und Antiqua, schwarz auf weiß oder gelb auf blau“ setzen, so bleibt zumindest der ‚material text‘ nicht „derselbe“.22 2.2

Wie bedeutet …?

Kommen wir nun zur Klärung des Interrogativpronomens ‚Wie‘ und des Verbs ‚bedeuten‘! – Zunächst einmal: Wie-Fragen sind modale Fragen, sie beziehen sich auf die Art und Weise, in der ein Sachverhalt synchronisch oder diachronisch gegeben ist. Bei Gegenständen sind sie in der Regel gerichtet auf deren empirische Beschaffenheit, bei Handlungen und Sequenzen von Ereignissen beziehen sie sich (deskriptiv, normativ oder präskriptiv)23 auf prozedurale Modalitäten, zeitliche Ablaufpläne, Muster und Regularitäten sowie auf die jeweils zugrunde liegenden generativen Mechanismen.24 Sofern das Verb ‚bedeuten‘ auf einen Vorgang oder eine Aktivität hinzuweisen scheint, wäre die Frage ‚Wie bedeutet der ‚material text‘?‘ demnach zu verstehen als Frage nach den prozeduralen Modalitäten und Voraussetzungen von – ja, von was eigentlich? In Wittgensteins Blue Book25 findet sich eine aufschlussreiche Notiz: –––––––— 21

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Eine Frage übrigens, die zu allerlei schriftmetaphysischen Spekulationen Anlass gegeben hat und deren Brisanz offenbar darin gründet, dass die Sichtbarkeit der Schrift als Schrift und deren Lesbarkeit als verbalsprachlicher Text – wie bei einem Vexierbild – untrennbar in eins geblendet sind und nur unter temporärer (möglicherweise unbewusst) theorie- und interessengeleiteter Ausblendung des je anderen Aspekts (d. h. im Zuge einer Aspektwahrnehmung) störungsfrei wahrnehmbar wird; vgl. weiterführend auch Annika Rockenberger, Per Röcken: Typographie als Paratext? Anmerkungen zu einer terminologischen Konfusion. In: Poetica 41, 2009, S. 293–330, hier S. 313 f. und 326–330; mit der Rede von der ‚Aspektwahrnehmung‘ beziehen wir uns auf Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen [1953]. In: Ders.: Werkausgabe. Bd. 1. Frankfurt a. M. 2006, S. 224–580, hier S. 518–553. Roland Reuß: Schicksal der Handschrift, Schicksal der Druckschrift. Notizen zur ‚Textgenese‘. In: Text. Kritische Beiträge 5, 1999, S. 1–25, hier S. 16; vgl. auch die ähnliche Formulierung in Ders.: Text, Entwurf, Werk. In: Text. Kritische Beiträge 10, 2005, S. 1–12, hier S. 8. – Mit Verwendung des Ausdrucks ‚material text‘ ist, nebenbei bemerkt, nichts über den konzeptionellen Status der materiellmedialen Objekteigenschaften ausgesagt, also darüber, ob die fraglichen Phänomene möglicherweise als Werkbestandteile zu erachten sind. Vgl. zu dieser Unterscheidung auch Roland Burkholz: Problemlösende Argumentketten. Ein Modell der Forschung. Weilerswist 2008, S. 12. Hier sind einige Anwendungsbereiche für Wie-Fragen: Wie ist etwas beschaffen bzw. sollte etwas beschaffen sein? Wie läuft etwas ab bzw. sollte etwas ablaufen? Wie mache ich etwas? Wie entsteht etwas? Wie ist etwas möglich? Ludwig Wittgenstein: Das Blaue Buch [1933/34]. Frankfurt a. M. 1980, S. 15.

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Die Frage[ ] [...] ‚Was ist Bedeutung?‘ [...] verursach[t] uns einen geistigen Krampf. [...] (Wir haben es mit einer der großen Quellen philosophischer Verwirrung zu tun: ein Substantiv lässt uns nach einem Ding suchen, das ihm entspricht.)

In der Tat spiegelt sich das Zwanghafte dieses Reflexes ebenso wie die angesprochene „Verwirrung“ in einer Vielzahl von Versuchen wider, ein „Ding“ zu finden, das dem Wort ‚Bedeutung‘ „entspricht“; in ungeordneter Aufzählung zu nennen sind hier unter anderem26 folgende Entitäten: Inhalt, Information, (propositionaler) Gehalt, Botschaft, Mitteilung, Gemeintes, Bezeichnetes, Idee, Gedanke, Vorstellung, Assoziation, Intention, Wahrheitswert, Referenz, Bezug, Sinn, Ex- und Intension, De- und Konnotation. Auch eine weitere Beobachtung stiftet Unsicherheit: Es sieht einerseits so aus, als werde der mit dem Ausdruck ‚Bedeutung‘ bezeichnete Sachverhalt als immanente Eigenschaft sprachförmiger Gegenstände verschiedener Komplexitätsniveaus konzeptualisiert: Etwas ‚hat Bedeutung‘ – ein Wort, ein Satz, möglicherweise sogar ein Text.27 Andererseits spricht eine Formulierung wie ‚dies-und-jenes bedeutet etwas‘ eher dafür, ‚Bedeutung‘ als asymmetrische (zwei- oder dreistellige) Relation zwischen einander zugeordneten Entitäten aufzufassen.28 In der Literaturwissenschaft ist die Frage nach der Bedeutung überdies an verschiedene Hermeneutik-Konzepte gekoppelt – und damit an (zumindest teilweise) –––––––— 26

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Vgl. das ebenso amüsante wie ernüchternde Aperçu bei William G. Lycan: Logical Form in Natural Language. Cambridge/MA 1984, S. 272: „MEANING =def Whatever aspect of linguistic activity happens to interest me now.“ Vgl. Axel Bühler: Die Funktion der Autorintention bei der Interpretation. In: Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen. Hrsg. von Jörg Schönert und Friedrich Vollhardt. Berlin, New York 2005, S. 463–472, der sich (ebd., S. 464) zu Recht fragt, „was die einheitliche Bedeutung ist, die einem Text als Ganzem zugeschrieben werden kann, worin etwa die Bedeutung ganzer literarischer Werke bestehen kann. Genauer ist zu fragen: Kann sprachlichen Einheiten oberhalb der Satzebene Bedeutung im Sinne einer der geläufigen Bedeutungskonzeptionen zugesprochen werden“? – Vgl. weiterführend auch Ders.: Interpretation und Bedeutung [2011]. http://www.mythos-magazin.de/ erklaerendehermeneutik/ab_bedeutung.pdf (gesehen am 14. 12. 2011), sowie neuerdings Oliver Robert Scholz: On the Very Idea of a Textual Meaning. In: Understanding Fiction. Knowledge and Meaning in Literature. Hrsg. von Jürgen Daiber, Eva-Maria Konrad, Thomas Petraschka und Hans Rott. Münster 2012, S. 135–145. Vgl. auch die Typologie verschiedener sprachphilosophischer Bedeutungstheorien bei Oliver Robert Scholz: Verstehen und Rationalität. Untersuchungen zu den Grundlagen von Hermeneutik und Sprachphilosophie. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2001, S. 258–278; Albert Newen, Markus A. Schrenk: Einführung in die Sprachphilosophie. Darmstadt 2008, S. 11 f.; John Lyons: Bedeutungstheorien. In: Semantik. Hrsg. von Armin Stechow und Dieter Wunderlich. Berlin, New York 1991 (Handbücher zur Sprachund Kommunikationswissenschaft. 6), S. 1–24, und Georg Meggle, Ego Sigward: Der Streit um Bedeutungstheorien. In: Sprachphilosophie. Hrsg. von Marcelo Dascal u. a. Bd. 2. Berlin, New York 1996 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. 7,2), S. 964–989; erhellend zu Fokus und Struktur von Bedeutungstheorien ist überdies Jasper Liptow: Regel und Interpretation. Eine Untersuchung zur sozialen Struktur sprachlicher Praxis. Weilerswist 2004, S. 17–54. – Die in der obigen Aufzählung genannten Äquivalente von ‚Bedeutung‘ (wahlweise konzipiert als Entität, Eigenschaft oder Relation) lassen sich grob den folgenden Positionen zuordnen: (1) realistisch-internalistisch (mentalistisch-psychologistisch), (a) subjektiv, (b) objektiv; (2) realistisch-externalistisch. Der Bedeutungsrealismus scheint überdies kombinierbar zu sein mit Versionen des Repräsentationismus, des Behaviorismus, des Strukturalismus, des Konventionalismus, des Verifikationismus sowie (wenngleich immer nur partiell) des Instrumentalismus. Den theoretischen Gegenpol zum Bedeutungsrealismus bildet der Bedeutungsnominalismus.

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normative Gegenstands- und Interpretationstheorien29 sowie an je eigene Erkenntnisinteressen: Die Szene der ‚Semantisierung‘ wird hier gemeinhin im Rahmen eines Kommunikationsmodells30 verortet. Die ‚semiotische Potentialität‘ ist hier wahlweise zu erklären und zu limitieren im Rückgriff auf eine produktionsseitige Sender-Instanz, eine rezeptionsseitige Empfänger-Instanz und/oder durch die – allenfalls durch Verfahren selektiver Kontextualisierung zu erweiternde – Situierung des Interpretationsgegenstands in den Stratifikationen und signifikatorischen Differenzen des Zeichensystems. Mit genetisch-produktionsseitigem Fokus wird entsprechend danach gefragt, was ein Zeichenurheber wahrscheinlich intendiert hat und kommunizieren wollte bzw. welche (kategorialen und kommunikativen) Absichten ihm begründet zuzuschreiben wären. Gefragt wird alternativ oder ergänzend nach den (kulturhistorischen) Voraussetzungen und Reglementierungen potentieller Zeichenmittelentfaltung oder – rezeptionsseitig – danach, was und wie ein (tatsächlicher oder mit einiger Plausibilität rekonstruierter) historischer oder aktueller Leser aufgrund seines Wissens und seiner semiotischen Kompetenz wahrnehmen, erfahren oder verstehen könne. Gerade in der literaturwissenschaftlichen Fachprosa ist das Spektrum der mit den Ausdrücken ‚Bedeutung‘ und ‚Semantik‘ verknüpften Konzepte kaum überschaubar. Die Verwirrung ist beträchtlich.31 Die Unschärfe der entsprechenden Terminologie hat sogar schon die Frage provoziert, ob es nicht klüger wäre, vollständig auf diese zu verzichten und sie durch eine differenziertere zu ersetzen. Auf diese Weise könne dann die Frage nach der ‚Bedeutung‘ in einem „Vokabular reformuliert werden, das die Chancen auf eine rationale Sicht der Dinge nicht zuletzt dadurch verbessert, dass Konflikte, die rein terminologischer Art sind, als solche durchschaubar werden“.32 Wie aber wäre die Frage nach der ‚Bedeutung‘ sinnvoll zu ersetzen? Unserer Ansicht nach ist der aussichtsreichste Kandidat die Frage, was das Interpretieren von Zeichen und die kommunikative Instrumentalisierung von Zeichen ermöglicht. Man beachte, dass damit weniger die hermeneutische Frage ersetzt ist, was ‚die (richtige) Bedeutung eines semiotischen Artefakts‘ ist, sondern vielmehr die allgemeine Frage nach der Bedeutung des Ausdrucks ‚Bedeutung‘. Mit einer weiteren Formulierung Wittgensteins ließe sich der Wechsel der Fragerichtung folgendermaßen verdeutli–––––––— 29

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Vgl. etwa Lutz Danneberg: Philosophische und methodische Hermeneutik. In: Philosophia Naturalis 32, 1995, S. 249–269, bes. S. 261 f., und Ders., Hans-Harald Müller: Wissenschaftstheorie, Hermeneutik, Literaturwissenschaft. Anmerkungen zu einem unterbliebenen und Beiträge zu einem künftigen Dialog über die Methodologie des Verstehens. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 58, 1984, S. 177–237, bes. S. 198 f. und 218 f., sowie Peter Tepe: Kognitive Hermeneutik. Textinterpretation ist als Erfahrungswissenschaft möglich. Würzburg 2007, S. 276–289. – Mit ‚Hermeneutik‘ ist hier und im Folgenden die Methodenlehre der Interpretation gemeint. Vgl. etwa Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez, Simone Winko: Der Bedeutungsbegriff in der Literaturwissenschaft. Eine historische und systematische Skizze. In: Regeln der Bedeutung 2003 (Anm. 2), S. 3–30. Vgl. auch Donatus Thürnau: [Art.] Bedeutung. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Harald Fricke u. a. Bd. 1. Berlin, New York 1997, S. 204–207. So Jeffrey Stout: Was ist die Bedeutung eines Textes? [1982]. In: Moderne Interpretationstheorien. Ein Reader. Hrsg. von Tom Kindt und Tilmann Köppe. Göttingen 2008, S. 230–247, hier S. 232; vgl. zum theoretischen Hintergrund auch Willard Van Orman Quine: Word and Object. Cambridge/Mass. 1960, S. 258–260.

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chen: „willst du den Gebrauch des Wortes ‚Bedeutung‘ verstehen, so sieh nach, was man ‚Erklärung‘ der Bedeutung nennt.“33 Im Rahmen einer instrumentalistischen Zeichenauffassung – wir orientieren uns an Überlegungen Rudi Kellers34 – kommt dem Bedeutungsbegriff die Funktion zu, zu erklären, „was Kommunikation ermöglicht“ (S. 60), „wie es dem Sprecher möglich ist, dem Adressaten [zu] erkennen zu geben, was er meint“ (S. 61), und wie es dem Adressaten möglich ist, dies mit einiger Sicherheit zu erraten. Bedeutung ist so verstanden ein dem Rezipienten zur Verfügung gestellter „Interpretationsschlüssel“ (S. 131), „die Eigenschaft, vermöge derer das Zeichen interpretierbar ist“ (S. 109; vgl. S. 111), das, „was dem Interpretierenden als Basis seiner Schlüsse dient“ (S. 113). Auf Basis der Bedeutung erschließt der Rezipient – unter Berücksichtigung seines „Situations- bzw. Kontextwissens“ (S. 132) – den „Sinn“ und „Zweck“ des Zeichengebrauchs, die „Kommunikationsintention“ (S. 130). Die Basis, dank derer Zeichen – hier verstanden als „Kommunikationsmittel“ (S. 123), als „Mittel der Beeinflussung“ und damit als „Spezialfälle von Werkzeugen“ (S. 72)35 – interpretierbar werden, besteht nun namentlich in genau drei „systematischen Zusammenhängen“, denen „Grundverfahren der Interpretation“ korrespondieren (S. 114): Es kann sich um „kausale Zusammenhänge, Ähnlichkeiten und regelbasierte Zusammenhänge“ handeln, dank derer die Zeichenbenutzer „kausale, assoziative und/oder regelbasierte Schlüsse“ (S. 11 f.) ziehen können. Entsprechend dieser Unterscheidung lassen sich Zeichen anhand des zu ihrer Interpretation gewählten Schlussverfahrens typologisieren: Die von Charles S. Peirce vorgeschlagene Terminologie leicht modifizierend, lassen sich Symptome, Ikone und Symbole unterscheiden. Symptome sind indexikalische Zeichen (vgl. S. 118–123), denen ein zeichentheoretischer Sonderstatus insofern zukommt, als sie nicht in kommunikativer Absicht hervorgebracht werden und prinzipiell alles, was der Fall ist, als Symptom (Anzeichen) –––––––— 33

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Wittgenstein 2006 (Anm. 21), S. 449 (§ 560); vgl. weiterführend zur Interpretation dieser Stelle auch Tim Loppe: Bedeutungswissen und Wortgebrauch. Entwurf einer Semantik im Anschluss an Wittgenstein und Putnam. Tübingen 2010, S. 105–108. Vgl. Rudi Keller: Zeichentheorie. Zu einer Theorie des semiotischen Wissens. Tübingen 1995 (Zitate aus diesem Text sind im Folgenden direkt im Haupttext nachgewiesen); vgl. zu den Vorzügen einer Bezugnahme auf Keller auch Gerd Antos, Jürgen Spitzmüller: Was ‚bedeutet‘ Textdesign? Überlegungen zu einer Theorie typographischen Wissens. In: Textdesign und Textwirkung in der massenmedialen Kommunikation. Hrsg. von Kersten Sven Roth und Jürgen Spitzmüller. Konstanz 2007, S. 35–48. – Der Basistext zum inferentiellen Kommunikationsmodell stammt (sieht man von den grundlegenden Arbeiten von H. P. Grice ab) von Dan Sperber, Deirdre Wilson: Relevance. Communication and Cognition [1986]. Oxford 1995; vgl. zur literaturwissenschaftlichen Adaption nur Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin, New York 2004, Kap. 2, und Ders.: Analytische Hermeneutik. In: Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur. Hrsg. von Uta Klein, Katja Mellmann und Stefanie Metzger. Paderborn 2006, S. 131–144. Mit der Bezugnahme auf ein inferentielles Modell ist – nebenbei bemerkt – eine Absage an verbreitete kommunikationstheoretische Paket- oder Rohrpostmetaphern verbunden; vgl. Keller 1995 (Anm. 34), S. 12: „Der in diesem Buch vorgetragenen Ansicht gemäß hat Kommunizieren nichts mit dem Vorgang des Einpackens, Wegschickens und Wieder-Auspackens zu tun. Kommunizieren ist vielmehr ein inferentieller Prozeß. Kommunizieren heißt versuchen, den Adressaten zu bestimmten Schlüssen zu bewegen. Demgemäß haben Zeichen nicht den Charakter von Versandkartons, sondern vielmehr den von Prämissen für interpretierendes Schließen.“

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dessen interpretiert werden kann, was aus ihm kausal erschließbar ist. Indem wir einen Sachverhalt erklären, machen wir ihn zum Zeichen.36 Ikone (vgl. S. 123–128) und Symbole (vgl. S. 128–132) sind demgegenüber echte kommunikative Zeichen,37 mit denen kompetente Zeichenbenutzer eine Reihe kommunikativer Absichten realisieren, so etwa die kategoriale Absicht,38 dem Rezipienten die generische Klassifikation eines Artefakts nahezulegen, die Mitteilungsabsicht, den Rezipienten zu einer inhaltlichen Schlussfolgerung zu bewegen, oder die Wirkungsabsicht, diesen zu einer bestimmten Handlung zu veranlassen. Ikone wirken als kontextsensitive Assoziationsimpulse und ‚triggern‘ assoziative Inferenzen. Symbole können dank der Regelung ihres Gebrauchs und des geteilten Wissens hierüber als Zeichen verwendet werden. Dabei ist wichtig zu sehen: Zeichen sind von Menschen verursachte empirisch wahrnehmbare Phänomene (in aller Regel: materielle Artefakte und/oder deren Eigenschaften), die das Ergebnis kommunikativer Handlungen (genauer: von Kommunikationsversuchen) sind. Notwendige Bedingungen für das Vorliegen kommunikativer Handlungen sind (1) die Intention des Zeichenverursachers, potentiellen Rezipienten mittels der bedeutungsvollen Zeichenverwendung eine bestimmte Schlussfolgerung nahezulegen, (2) dessen Intention, mit der Wahl von – seiner aufrichtigen Überzeugung nach – zur Realisation von (1) rational angemessenen Mitteln39 potentiellen –––––––— 36

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Vgl. erhellend auch Eugenio Coseriu: Zeichen, Symbol, Wort. In: Zur Philosophie des Zeichens. Hrsg. von Tilman Borsche und Werner Stegmaier. Berlin, New York 1992, S. 3–27, hier S. 7 f. – Wir wollen hier davon absehen, dass sich der Ausdruck ‚symptomatisch‘ in einer anderen Lesart auch auf kommunikative Zeichen anwenden lässt: So kann er namentlich im Rahmen einer im weiteren Sinne psychologischen Erklärung dazu dienen, Thesen über (latente) mentale Dispositionen aufzustellen, die bei der Hervorbringung eines Artefakts zwar kausal wirksam, bewusster Wahrnehmung und intentionaler Kontrolle durch den Produzenten aber nicht zugänglich oder unterworfen waren. – Der bedenkenswerte Vorschlag, im Rahmen der Keller’schen Zeichentheorie neben den Symptomen einen weiteren nichtkommunikativen Zeichentyp zu unterscheiden – namentlich Indizien, bei denen riskante Schlüsse „vorzugsweise“ aufgrund der „Regelmäßigkeit von Kontiguitätsbeziehungen“ gezogen werden –, findet sich bei Gerd Antos: Semiotik der Text-Performanz. In: Oberfläche und Performanz 2009 (Anm. 17), S. 407–427, bes. S. 420–424, Zitate S. 408 f.; vgl. auch die Hinweise bei Keller 1995 (Anm. 34), S. 121 f. – In der Tat scheint es fraglich, ob etwa die Erklärung eines wahrnehmbaren Phänomens aus nicht-kommunikativem, mehr oder minder regelmäßigem menschlichen Handeln sinnvoll als kausale (symptomische) Schlussfolgerung zu qualifizieren wäre. Angenommen z. B. ein Autor verwendet für seine Entwürfe in der Regel Papier in Quartformat, für Reinschriften demgegenüber Folioformat. Welche Art von Schlussfolgerung würden wir hinsichtlich der textgenetischen Klassifikation eines Schriftstücks ziehen, wären wir mit einem Quartblatt konfrontiert? – Oder: Welche Art von semiotischer Inferenz läuft ab, wenn wir, ausgehend von der Druckschrift eines historischen Druckes, auf dessen epochale Verortung schließen? Coseriu 1992 (Anm. 36), S. 8, spricht von „Zeichen im eigentlichen Sinne oder Zeichen schlechthin“. Die Rede von ‚kategorialen Absichten‘ übernehmen wir von Jerrold Levinson: Intention and Interpretation in Literature. In: Ders.: The Pleasures of Aesthetics. Philosophical Essays. Ithaca, London 1996, S. 175–213, hier S. 188: „An author’s intention to mean something by a text T (a semantic intention) is one thing, whereas an author’s intention that T be classified or taken in some specific or general way (a categorial intention) is quite another. Categorial intentions involve the maker’s framing and positioning of his product vis-à-vis his projected audience; they involve the maker’s conception of what he has produced and what it is for, on a rather basic level; they govern not what a work is to mean but how it is to be fundamentally conceived or approached.“ Dem liegt die Annahme handlungswirksamer (praktischer) Rationalität (im Sinne etwa des Grice’schen Kooperationsprinzips und entsprechender Konversationsmaximen) zugrunde.

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Rezipienten die prinzipielle Möglichkeit (a) des Erkennens und (b) des korrekten Realisierens (Verstehens) von (1) zu eröffnen sowie (3) dessen Intention, potentiellen Rezipienten (2) offen erkennen zu geben. – Wer (1) aufrichtig will, muss (2) aufrichtig wollen; wer (2) aufrichtig will, muss (3) aufrichtig wollen.40 Das produktionsseitige Vorliegen kommunikativer Intentionen allein ist demnach eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für das Vorliegen eines Kommunikationsversuchs (bzw. der materiellen Manifestation desselben). Vielmehr müssen sich die fraglichen Intentionen überdies auf für (historische) Rezeptionsinstanzen erkennbare (offene) Weise manifestieren. Konnte die Produktionsinstanz nicht die Überzeugung bzw. die begründete Erwartung haben, durch die Wahl rational angemessener Mittel potentiellen (aufgrund geteilten semiotischen Wissens kompetenten) Rezipienten Gründe für das Erkennen ihrer kommunikativen Intentionen zu geben, ist es unverständlich, weshalb man sagen sollte, sie habe überhaupt die fraglichen Intentionen gehabt.41 Natürlich kann man sich als Rezipient dafür entscheiden, eine wahrnehmbare materielle Objekteigenschaft zu behandeln, als handle es sich um ein kommunikatives Zeichen; aber diese Entscheidung ändert nichts am tatsächlichen (nicht-kommunikativen) Status des fraglichen Phänomens. Ein Streit über die Frage, ob es sich bei einer wahrnehmbaren materiellen Objekteigenschaft um ein Zeichen handelt oder nicht, kann sinnvoll – soll hier nicht subjektive Evidenz gegen subjektive Evidenz stehen – lediglich im Hinblick auf die (wahrscheinlichen) Absichten und Handlungen der Produktionsinstanz entschieden werden. In Zweifelsfällen wäre also zu zeigen, dass die nächstliegende, beste (idealerweise einzige) Erklärung für das Vorliegen einer bestimmten Objekteigenschaft das kommunikative Handeln der Produktionsinstanz ist. Mit anderen Worten: Die (explikative) Definition von ‚Zeichen‘ sollte u. E. eine intentionalistische sein. Die Alternative dazu wäre eine Art ‚subjektive Wirkungsdefinition‘, der zufolge etwas als ‚Zeichen‘ zu bezeichnen wäre, sofern es rezeptionsseitig auf irgendjemanden als Zeichen ‚wirkt‘. Nach diesem Vorschlag aber könnte die Frage, ob etwas ein Zeichen ist, gar nicht mehr sinnvoll gestellt werden. Wer behauptet, etwas sei ein Zeichen, läge damit gleichsam per definitionem richtig. Diese erläuternden Hinweise scheinen angebracht, da es in der neueren Forschung eine gewisse Tendenz gibt, alle Zeichen nach dem Modell der Symptome zu konzeptualisieren, d. h. die – mit Ausnahme der Symptome – produktionsseitig zu verbuchende relationale Eigenschaft eines Sachverhalts, Zeichen zu sein, von der Einschätzung allein des Rezipienten abhängig zu machen.42 Problematisch ist dies weniger –––––––— 40

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Vgl. erhellend hierzu Georg Meggle: Grundbegriffe der Kommunikation [1981]. 2. Aufl. Berlin, New York 1997, S. 7–16, 190–193, 198–262 und passim, sowie Ders.: Kommunikatives Verstehen. Die Grundzüge. In: Kommunikation – ein Schlüsselbegriff der Humanwissenschaften? Hrsg. von Helmut Richter und H. Walter Schmitz. Münster 2003, S. 341–352. In hermeneutischer Perspektive lassen sich hier eine Reihe äußerst diffiziler Fragen anschließen, auf die wir an dieser Stelle nicht eingehen können; vgl. aber Carlos Spoerhase: Hypothetischer Intentionalismus. Rekonstruktion und Kritik. In: Journal of Literary Theory 1, 2007, S. 81–110. Wie bereits angedeutet, ist es u. E. kontra-intuitiv, definitorisch inadäquat und epistemologisch fragwürdig, die schiere Zuschreibung von Zeichenhaftigkeit (das Etwas-als-Zeichen-Wahrnehmen) durch einen Rezipienten zur notwendigen und/oder hinreichenden Bedingung für die Feststellung zu erklären, etwas

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hinsichtlich der Symbole (deren Zeichenhaftigkeit mit zunehmender Konventionalität eine quasi-immanente, garantierte Eigenschaft des jeweiligen Gegenstands wird),43 sondern vor allem hinsichtlich der Ikone. Während es für Symptome wesentlich ist, vom Rezipienten zum Zeichen gemacht zu werden, und bei Symbolen allenfalls strittig sein kann, ob jeweils eine den Gebrauch regelnde, durch historische Rekonstruktion nachweisbare Konvention vorliegt, stellen Ikone bei der Interpretation eines ‚material text‘ den größten Unsicherheitsfaktor dar. Wie kann plausibel gemacht werden, dass eine Produktionsinstanz irgendwie auffällige (kon- oder kotextuell exponierte) Elemente, die die Vermutung nahelegen, dass es sich bei ihnen um ein Zeichen handeln könnte, und die rezeptionsseitig als „semiotische Trigger“44 für assoziative Inferenzen fungieren, tatsächlich zur Realisation kommunikativer Intentionen verwendet haben könnte? Konnte der Verursacher des potentiellen Zeichens mit einiger Zuversicht erwarten, dass zumindest einige Rezipienten ausgehend vom Wahrnehmbaren – und allein dank ihrer „allgemeinmenschliche[n] Assoziationsgabe“45 – irgendwie seine kommunikativen Absichten, den von ihm verfolgten Zweck erkennen, das von ihm Gemeinte verstehen würden?46 –––––––—

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‚sei ein Zeichen‘ und ‚habe Bedeutung‘. Gerade in diesem wichtigen Punkt sind Kellers Ausführungen seltsam unentschieden (vgl. Keller 1995, Anm. 34, S. 12, 15, 72, 108–111, 119, 124 f.), weshalb z. B. Jürgen Spitzmüller: Typographie. In: Christa Dürscheid: Einführung in die Schriftlinguistik. 3. Aufl. Göttingen 2006, S. 207–238, hier S. 233 f., mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Keller behaupten kann, typographische Elemente seien Zeichen „nur dann, wenn ein Zeichenrezipient sie in bestimmten Situationen als [...] Zeichen interpretiert“ bzw. sie „von bestimmten Rezipienten als zeichenhaft wahrgenommen werden“; vgl. ähnlich Spitzmüller 2009 (Anm. 17), S. 464 und 466–470, und Wehde 2000 (Anm. 19), S. 55–57, 65–67, 90 u. ö. Anders gefasst: Das Vorliegen konventioneller Zeichen ist zwar weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung dafür, eine kommunikative Intention anzunehmen, bei Symbolen gibt es aber – je ausgeprägter die Konventionalität ihres Gebrauchs, desto stärker – eine Präsumtion zugunsten der Annahme des Vorliegens eines Kommunikationsversuchs. Aus Sicht des Rezipienten liegt der Schluss nahe, dass es sich bei dem wahrnehmbaren Phänomen mit größter Wahrscheinlichkeit um ein Zeichen handelt. – Präsumtionen fungieren in Entscheidungssituationen als handlungsanleitende, heuristische Unterstellungen (Vermutungen), bei Gegebensein eines Sachverhalts das Vorliegen eines anderen Sachverhalts so lange anzunehmen, bis man gute Gründe hat, diese Annahme fallen zu lassen; vgl. grundlegend Edna Ullmann-Margalit: On Presumption. In: The Journal of Philosophy 80, 1983, S. 143– 163, sowie speziell zur hermeneutischen Anwendung Oliver Robert Scholz: Die Idee einer allgemeinen Hermeneutik – Vergangenheit und Zukunft. In: Les herméneutiques au seuil du XXIème siecle. Évolution et débat actuel. Hrsg. von Ada Neschke-Hentschke. Paris 2004, S. 141–169, bes. S. 156–165; Carlos Spoerhase: Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik. Berlin, New York 2007, S. 387–438, sowie neuerdings Thomas Petraschka: Locating Literary Meaning. A Formal Framework for a Philological Principle of Charity. In: Understanding Fiction 2012 (Anm. 27), S. 146–165. – Allgemein sind Präsumtionen zugunsten der Annahme eines kommunikativen Handelns (nicht nur bei Symbolen) weder empirie-resistent noch kontext-abstrakt, sondern in ihrer Stärke offenbar – in Abhängigkeit etwa von bestimmten epochalen, generischen, poetologischen, autoroder verlagsspezifischen Gegebenheiten – kontext-sensitiv: So hat die Erwartung, eine typographische oder buchgestalterische Eigenheit sei als kommunikatives Zeichen intendiert, bei Werken des Fin de Siècle ein sehr viel breiteres empirisches Fundament (und damit – in Verbindung mit entsprechenden Konsistenzpräsumtionen – eine höhere Wahrscheinlichkeit) als bei Werken etwa des 17. Jahrhunderts. Jannidis 2004 (Anm. 34), S. 140. Keller 1995 (Anm. 34), S. 125. Vgl. zum Folgenden Börries Blanke: Vom Bild zum Sinn. Das ikonische Zeichen zwischen Semiotik und analytischer Philosophie. Wiesbaden 2003, S. 96–103 und Kap. 3, bes. S. 177–186.

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Hilfreich scheint hier die (graduelle) Unterscheidung zwischen intrinsisch stark relevanten Ikonen, die unabhängig von ihrem jeweiligen Kontext aufgrund hoher spezifischer Ähnlichkeit mit einem bestimmten Objekttyp – ihrer ikonischen Relevanz – gleichsam automatisch ikonisch kategorisiert werden, und intrinsisch schwach relevanten Ikonen, die eine Kategorisierungsschwelle (als Zeichen und als Ikone) lediglich unter Berücksichtigung kontextueller Faktoren überschreiten, letztlich also auf dem Wege extrinsischer Kategorisierung, genauer: über eine (‚bottom-up‘) vom potentiellen Zeichen oder eine (‚top-down‘) vom Kontext ausgehende tentative Inferenzprozedur. Um die Annahme des Vorliegens einer kommunikativen Intention zu plausibilisieren, ist demnach erforderlich zu zeigen, dass die Produktionsinstanz vernünftigerweise davon ausgehen konnte, dass der intendierte ikonische Typ einer (zeitgenössischen) Rezeptionsinstanz entweder aufgrund starker intrinsischer ikonischer Relevanz des Signals oder durch kontextuelle Einbettung (jeweils mit möglichst geringem Verarbeitungsaufwand) zugänglich sein würde. 2.3

Reformulierung der Fragestellung

Die im Titel gestellte Frage wäre nach dieser zeichentheoretischen Perspektivierung näherungsweise so zu reformulieren: Wie läuft die Semiose bei materiellen para- und nonverbalen Merkmalen produktionsseitig oder rezeptionsseitig konkret ab? Etwas ausführlicher: Wie gelingt es produktionsseitig einer die materiell-medialen Eigenschaften eines Buches oder Textes konstitutiv verursachenden und diese als Zeichen verwendenden Produktionsinstanz, einem Rezipienten bestimmte Schlussfolgerungen (einschließlich derjenigen, etwas als Zeichen wahrzunehmen) nahezulegen? Und (rezeptionsseitig): Wie gelingt es einem Empfänger auf Basis „systematischer Zusammenhänge“, (a) Zeichen korrekt als Zeichen zu erfassen und (b) aufgrund dieser Zeichen bestimmte (plausible) Schlüsse zu ziehen? Eine Antwort auf diese zunächst rein deskriptiven Fragen wird nicht – auf der Ebene einer introspektiven oder empirischen Phänomenologie – bei einer methodisch kontrollierten kognitionspsychologischen47 Beschreibung und Analyse faktischer rezeptionsseitiger Verstehensvorgänge (etwa anhand entsprechender Wahrnehmungsprotokolle und diskursiver Inferenz-Rekonstruktionen) stehen bleiben: Sofern wir48 als Textwissenschaftler nicht einfach nach Belieben unsere persönlichen, mehr oder weniger freien (möglicherweise gar zufälligen oder anachronistischen) Assoziationen und subjektiven Evidenzen zum Besten geben,49 sondern Interpretationsthesen in der –––––––— 47

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Aus einer kognitionswissenschaftlichen Perspektive wird die Wie-bedeutet-Frage z. B. von Thomas C. Daddesio: On Minds and Symbols. The Relevance of Cognitive Science for Semiotics. Berlin, New York 1995, S. 104–109, gestellt. Vgl. zu unserem Gebrauch von ‚wir‘ an dieser Stelle nur Robert Nozick: The Examined Life: Philosophical Meditations. New York 1989, S. 100: „When I use ‚we‘ in this way, I am inviting you to examine whether or not you agree. If you do, then I am elaborating and exploring our common view, but if after some reflecting on the matter you find you do not agree, then I am traveling alone for a while.“ Um es – in normativer Stoßrichtung – ganz deutlich zu sagen: Wir teilen nicht die Einschätzung, dass die subjektive Evidenz des Interpreten allein „das adäquate Kriterium“ ist, „dem sich die philologische

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Regel50 mit einem Adäquatheits-, Richtigkeits- oder Allgemeingültigkeitsanspruch verbinden und uns durch irgendeine argumentative Absicherung um die intersubjektive Plausibilisierung entsprechender Aussagen bemühen, ist hier eine Reihe normativer Aspekte zu berücksichtigen.51 Dies betrifft vor allem die Erkenntnisziele des Interpreten und die bei deren Realisation anzuwendenden Methoden und epistemologischen Standards. Gemeinhin sind wir bestrebt, von uns vorgebrachte Interpretationshypothesen als ‚richtig‘ (oder doch ‚richtiger‘), als ‚begründet‘, ‚korrekt‘ usw. auszuweisen. Wir tun dies, indem wir zusätzliche normative Beurteilungskriterien ins Spiel bringen. Vereinfachend ließe sich sagen: Während im ‚context of discovery‘ auch die wildesten, kreativsten Interpretationsideen ihre Berechtigung haben, werden diese im ‚context of justification‘ auf ihre Vereinbarkeit mit einem Set normativer Prämissen (nach deren Maßgabe auch die Auswahl und Staffelung zusätzlicher Kontexte erfolgt) geprüft. Deutlich wird dies bereits auf Ebene der Wahrnehmung und Identifikation kommunikativer Zeichen: Nicht alles, was interpretierbar ist, ist auch kommuniziert.52 Soll die Entscheidung darüber, was jeweils als Zeichen aufgefasst und wie es jeweils interpretiert werden soll, nicht in das Belieben des einzelnen Interpreten gestellt werden, sondern diese Annahme auf epistemisch gerechtfertigte Weise gebildet werden, wird zu plausibilisieren sein, dass eine historische Produktionsinstanz mit den gewählten Mitteln etwas gemeint hat (oder doch haben könnte) bzw. mit Gründen, also mit Blick auf eine als geteilt unterstellte semiotische Kompetenz oder semiotisches –––––––—

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Erkenntnis zu unterwerfen hat“; so bekanntlich Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis. In: Ders.: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Frankfurt a. M. 1970, S. 9–34, hier S. 27: „In der Evidenz wird die Sprache der Tatsachen [...] als subjektiv bedingte und in der Erkenntnis subjektiv vermittelte vernommen, also allererst in ihrer wahren Objektivität.“ Vgl. ähnlich bereits Emil Staiger: Die Kunst der Interpretation [1951]. In: Ders.: Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte. München 1982, S. 7–28, hier S. 16: „Die Interpretation ist evident. Auf solcher Evidenz beruht die Wahrheit unserer Wissenschaft.“ – Argumente gegen eine solche Auffassung von ‚Wissenschaft‘ finden sich bei Lutz Danneberg, Hans-Harald Müller: Probleme der Textinterpretation. Analytische Rekonstruktion und Versuch einer konzeptionellen Lösung. In: Kodikas/Code 3, 1981, S. 133–168, hier S. 141–144. Diese Einschränkung ist erforderlich, weil einige Typen literarischer ‚Interpretation‘ ausdrücklich keinen erklärenden Charakter haben (sondern z. B. auf die Maximierung ästhetischer Wertschätzung abzielen) und mithin ohne entsprechende epistemologische Verpflichtungen (Wahrheitsbezug, Geltungsanspruch, Rechtfertigungsobligation) auskommen. Vgl. hierzu etwa Peter Lamarque, Stein Haugom Olsen: The Philosophy of Literature: Pleasure Restored. In: The Blackwell Guide to Aesthetics. Hrsg. von Peter Kivy. Oxford 2004, S. 195–214, oder das Plädoyer für „interessante Lektüren“ bei François Rastier: Hermeneutik und Linguistik. Die Überwindung des Mißverständnisses. In: Literaturwissenschaft und Linguistik von 1960 bis heute. Hrsg. von Ulrike Haß und Christoph König. Göttingen 2003, S. 137–146. Vgl. Spoerhase 2007 (Anm. 43), S. 3 f., vgl. auch die Hinweise zum hermeneutischen Reduktionismus der sog. Cognitive Poetics bei Tilmann Köppe, Simone Winko: Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung. Stuttgart 2008, S. 307–309. So auch Keller 1995 (Anm. 34), S. 15. – Hier besteht übrigens eine aufschlussreiche Analogie zwischen der Frage, unter welchen Bedingungen wir zur Annahme berechtigt sind, bei einem in unserer Umwelt wahrnehmbaren Sachverhalt handle es sich um ein kommunikatives Zeichen, und dem intertextualitätstheoretischen Problem des Auffindens und der Plausibilisierung einer Anspielung; empfehlenswert hierzu ist William Irwin: What Is an Allusion? In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 59, 2001, S. 287–297.

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Wissen,53 für wahrscheinlich halten konnte, dass eine historische Rezeptionsinstanz diese als kommunikatives Zeichen verstehen würde. Jemand, der wahrnehmbare Sachverhalte zum Gegenstand semiotischer Inferenzen macht, ohne gute Gründe für die Annahme zu haben, sie könnten produktionsseitig als Zeichen intendiert (bzw. für eine historische Rezeptionsinstanz als solche verständlich) gewesen sein, und die fraglichen Phänomene dessen ungeachtet mit Ausdrücken wie ‚semantisch relevant‘, ‚bedeutungsvoll‘, ‚kommunikativ‘ oder ‚Zeichen‘ belegt, gebraucht derlei Termini offenbar nicht entsprechend der von uns präferierten Sprachregelung. Es ist indes wichtig zu sehen, dass mit diesen definitorischen nicht auch zwangsläufig normative hermeneutische (also: Ziele und Methodologie von Interpretationshandlungen betreffende) Festlegungen – zugunsten etwa einer intentionalistischen Position54 – verbunden sind. So ist durchaus möglich, der hier vorgeschlagenen Verwendung besagter Ausdrücke zu folgen und zugleich der eigenen interpretativen Praxis eine ausdrücklich anachronistisch-subjektive HermeneutikKonzeption zugrunde zu legen. Zwar erfordert die Feststellung, dass etwas ein Zeichen ist, die Bezugnahme auf ‚categorial intentions‘ des Zeichenurhebers, aber das heißt nicht, dass der Interpret sich auch für dessen kommunikative (‚semantische‘) Absichten interessieren müsste. Allerdings zeichnet sich die gegenwärtige, auf materiell-mediale Objekteigenschaften bzw. den ‚material text‘ bezogene Interpretationspraxis eher durch einen diffusen, unreflektierten Sprachgebrauch und das Verschleiern der jeweils in Anschlag gebrachten Hermeneutik-Konzeption aus. In diesem Zusammenhang noch eine kleine Ergänzung: Betrachtet man die im Titel genannte Frage abermals etwas genauer, so wirkt irritierend, dass ‚Text‘ – versteht man ‚bedeuten‘ als Verb, das eine mehr oder weniger bewusst vollzogene Aktivität bezeichnet – als handelndes Subjekt konzipiert scheint. In einer bestimmten Lesart besitzt die Aussage, ein ‚material text‘ ‚bedeute auf irgendeine Weise irgendetwas‘, irreführende Implikationen. Möglicherweise liegt hier eine Spielart des mereologischen Fehlschlusses (und jedenfalls ein Kategorienfehler im Sinne Gilbert Ryles) vor;55 namentlich dergestalt, dass einem Objekt menschlicher Handlungen selbst Handlungsfähigkeit zugeschrieben und aus der Personifikation eines unbelebten Gegenstands die Lizenz abgeleitet wird, die tatsächlich handelnden Akteure auszublenden. –––––––— 53 54

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Vgl. hierzu auch Keller 1995 (Anm. 34), S. 12 f. Allerdings spricht einiges dafür, dass wir stark disponiert sind, bei der kognitiven Verarbeitung menschlicher Artefakte intentionalistische Zuschreibungen vorzunehmen; anders gesagt: Unsere Wahrnehmung entsprechender Gegenstände als semiotisch signifikant scheint auf fundamentale Weise an die Annahme von Intentionalität gekoppelt zu sein; vgl. nur Raymond W. Gibbs: Intentions in the Experience of Meaning. Cambridge 1999. Vgl. zum Hintergrund nur Hans Lenk: Mereologisch, homunkulisch oder pseudo-objektivierend? Über einige neurophilosophische Fehlschlüsse und Kategorienfehler. In: Conceptus 37/91, 2008, S. 83–108, sowie grundlegend Maxwell R. Bennett, Peter M. S. Hacker: Philosophical Foundations of Neuroscience. Oxford 2003, Kap. 3. Die Rede von ‚Kategorienfehlern‘ (‚category mistakes‘) wird eingeführt in Gilbert Ryle: The Concept of Mind. Chicago 1949, Kap. 1.3. – Wir wollen hier offen lassen, ob die oben beschriebene Redeweise Texte betreffend als sinnlos oder falsch zu qualifizieren ist.

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Im Rahmen von Interpretationsaussagen folgt dies der Logik einer Vermeidungsstrategie: Immer dann, wenn man nicht klar und deutlich sagen möchte: „der Autor meinte“, „ein kompetenter zeitgenössischer Leser hätte verstanden“, „mir fällt das auf“ oder „ich verstehe das so“, so sagt man: „der Text bedeutet, zeigt, will sagen, löst aus, meint, legt nahe“ usw. Auf diese Weise vermeidet man, präzise anzugeben, was für eine Art Aussage man worüber genau eigentlich machen möchte und hält den hermeneutischen Status der Aussage mehr oder weniger kunstvoll in der Schwebe. Vor allem vermeidet man, sich darauf festzulegen, ob man mit einer Interpretation den Anspruch erhebt, die kommunikativen Absichten einer Produktionsinstanz zu treffen. Halten wir demgegenüber fest: Der ‚material text‘ kann nicht kommunikativ handeln, er weist vielmehr aufgrund menschlicher Verursachung und Verwendung immanente und relationale Eigenschaften auf, dank derer er als Auslöser kausaler, assoziativer oder regelbasierter Schlüsse fungieren kann. Die einzigen, die hier aktiv sind, sind menschliche Akteure,56 die ihre Kommunikationsziele verfolgen, indem sie mit Zeichen aufgrund systematischer Zusammenhänge Schlüsse nahelegen oder ziehen. Qua Zeichen werden die materiell-medialen Objekteigenschaften hierbei als Prämissen interpretativer Schlussprozesse genutzt. „Wie ‚bedeutet‘ ein ‚material text‘?“ ist nach dem Gesagten eine in dreifacher Hinsicht elliptische Frage, da (a) die handelnden Akteure ausgeblendet werden, (b) die grundlegenden Mechanismen der Semiose als Voraussetzungen kommunikativer Praxis nicht deutlich genug exponiert und differenziert werden und (c) unklar bleibt, welches Erkenntnisinteresse mit dem Bedeutungsbegriff jeweils kaschiert wird bzw. ob die Szene der ‚Semantisierung‘ produktions- oder rezeptionsseitig verortet wird. Die modifizierten Versionen der Wie-Frage wären durch Analyse konkreter interpretativer Praxis zu substantialisieren, in denen die materiell-medialen Objekteigenschaften für sich oder – als ‚material text‘ – in Zusammenschau mit dem verbalsprachlichen Zeichensystem zum Gegenstand semiotischer Inferenzen werden und nach Maßgabe einer (vermutlich nicht näher explizierten) Hermeneutik-Konzeption zur Formulierung entsprechender Interpretationshypothesen Anlass geben.57 Ehe wir –––––––— 56

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Während der Diskussion zu unserem Wuppertaler Vortrag wurde dieser Auffassung von einigen Zuhörern vehement widersprochen. Seitdem grübeln wir: Können ernsthaft Zweifel daran bestehen, dass es sich hier entsprechend den Regeln der deutschen Sprache und nach einschlägigen Wahrheitsbedingungen um eine triviale, unstrittige Tatsachen-Aussage handelt? Selbst wenn man die Rede vom ‚handelnden‘ Text nicht als ‚Ontologisierung‘ oder ‚Naturalisierung‘ versteht, sondern als nützliche epistemologische Vereinfachung, bleiben die von uns genannten Probleme virulent. – Dessen ungeachtet sei auf programmatische Versuche hingewiesen, materielle Artefakte (oder allgemein unbelebte Entitäten) als ‚Aktanten‘, ‚soziale Akteure‘ oder ‚Handlungssubjekte‘ zu konzeptualisieren und damit einen agentialen Subjekt-Objekt-Dualismus zu unterlaufen; vgl. etwa Markus Hilgert: Text-Anthropologie. Die Erforschung von Materialität und Präsenz des Geschriebenen als hermeneutische Strategie. In: Altorientalistik im 21. Jahrhundert. Selbstverständnis, Herausforderungen, Ziele. Hrsg. von dems. Berlin 2010, S. 87–126, sowie weiterführend Tim Dant: Materiality and Society. New York 2005, S. 60–83, und Andreas Reckwitz: Kulturtheorien der Materialität. Das Subjekt als Korrelat von medialen Apparaturen und Artefakt-Netzwerken. In: Ders.: Subjekt. Bielefeld 2008, S. 106–119. Aus einer epistemologischen, auf die Prozessualität einzelner Verstehensstufen abhebenden Perspektive wird das Verhältnis von Semiotik und Hermeneutik bestimmt bei Oliver Robert Scholz: Semiotik und Hermeneutik. In: Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kul-

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dies kurz am Beispiel veranschaulichen, möchten wir rasch in Erinnerung rufen, wie vielgestaltig die mit dem Ausdruck ‚Materialität‘ summarisch bezeichneten materiellmedialen Objekteigenschaften sind.

3.

Die Ordnung der Materialität

Nach unserem – auf Explikation des Ausdrucksgebrauchs der Editionsphilologie beruhenden58 – Verständnis zählen zur Extension des Ausdrucks ‚Materialität‘ alle chemischen und/oder im weitesten Sinne physikalischen Eigenschaften des Dokuments und der Schrift, einschließlich graphisch-visueller Eigenschaften der Schriftzeichen. Diese Eigenschaften sind entweder unmittelbar sinnlich wahrnehmbar (autoptisch, haptisch-taktil oder olfaktorisch) und messtechnisch erfassbar oder nur instrumentell – mikroskopisch oder durch naturwissenschaftliche Analyseverfahren – wahrnehmbar. Klassifizieren lassen sich die materiellen Eigenschaften (a) anhand des ‚medialen Rahmens‘ bzw. der Kommunikationsform (wie etwa Brief, Flugblatt, Zeitschrift, Buch); (b) anhand des Dokumenttyps (vor allem: Handschrift, Typoskript, Druck) sowie (c) anhand ihrer Relation zum verbalsprachlichen Zeichensystem; zu unterscheiden wären hier non- und paraverbale Merkmale. (Letztgenannte Unterscheidung lässt sich auch so reformulieren: Bei nonverbalen Merkmalen haben wir es mit den Zeichen der Materialität zu tun, bei den paraverbalen hingegen mit der Materialität der Zeichen als Zeichen.) Wir verzichten an dieser Stelle darauf, einen systematischen Überblick über die Vielgestaltigkeit der von verschiedenen Produktionsinstanzen verursachten materiellen Aspekte von Dokument und Schrift zu geben:59 Buchausstattung, Papiermerkmale (wie Stärke, Farbe, Format, Faltung oder Heftung), gewählter Schreibstoff und Schriftgestaltung gestatten – als Symptome – nicht nur Rückschlüsse auf Herstellung und Bearbeitung, sondern können – nun aufgrund regelgeleiteter Inferenzen – eine bestimmte Klassifikation des jeweiligen Gegenstands rechtfertigen. Soviel ist klar: Eine vollständige Erfassung der Materialität trüge eine gewaltige Datenmenge zusammen, die Gegenstand interpretatorischer Erwägungen werden könnte. Allerdings sind offenbar nicht alle materiell-medialen Objekteigenschaften –––––––— 58

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tur. Hrsg. von Roland Posner, Klaus Robering und Thomas A. Sebeok. Bd. 3. Berlin, New York 2003 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. 13,3), S. 2511–2561. Vgl. Röcken 2008 (Anm. 5), S. 27–38. – Ergänzend sei indes angemerkt, dass ‚Materialität‘ (materiality) im Kontext der poststrukturalistisch und/oder medienphilosophisch informierten Kulturwissenschaften als (mehrdeutiges) programmatisches Schlagwort verwendet und entsprechend weiter gefasst wird; vgl. ebd., S. 28–33, sowie neuerdings etwa Bill Brown: Materiality. In: Critical Terms for Media Studies. Hrsg. von W. J. T. Mitchell und Mark B. N. Hansen. Chicago 2010, S. 49–63; Christine Mitchell: Materiality. Tracking a Term, Tackling a Turn. In: Kritische Perspektiven. „Turns“, Trends und Theorien. Hrsg. von Michael Gubo, Martin Kypt und Florian Öchsner. Münster 2011, S. 281–300, oder das Programm der Tagung Materialitäten. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften (Mainz, 2011) unter http://www.materialitaeten.socum.uni-mainz.de/ (gesehen am 22. Juni 2012). Vgl. für eine detaillierte Übersicht Röcken 2008 (Anm. 5), S. 43–45, und Annika Rockenberger: Produktion und Drucküberlieferung der editio princeps von Sebastian Brants Narrenschiff (Basel 1494). Eine medienhistorisch-druckanalytische Untersuchung. Frankfurt a. M. 2011, S. 72–74.

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gleichermaßen der ‚Semantizität‘ verdächtig. Vor allem die typographische Gestaltung60 von Drucktexten, zuweilen auch Elemente der Buchgestaltung61 und bestimmte Auffälligkeiten privater wie offizieller Briefe62 – also autoptisch wahrnehmbare visuelle Merkmale – haben hier hermeneutische Begehrlichkeiten geweckt; wohl nicht zuletzt deshalb, weil der Adressaten- oder Publikumsbezug und die Einbettung in eine – wenngleich zerdehnte – Kommunikationssituation hier eher einen regen Zeichengebrauch erwarten lässt.63

4.

Hermeneutische Praxis – zwei Beispiele

Um unsere bedeutungs- und zeichentheoretischen Überlegungen zur Semiotik der Materialität (bzw. des ‚material text‘) wenigstens andeutungsweise zu substantialisieren,64 betrachten wir im Folgenden zwei einschlägige Beispiele für die literaturwissenschaftliche Deutung von Typographie.65 Dabei lassen wir allerdings zwei Aspekte –––––––— 60

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Natürlich ist – so ein richtiger Hinweis Patrick Sahles in Wuppertal – die Typographie (genau wie die Buchgestaltung) eher eine „Funktion der Materialität (im engeren Sinne)“, aber im Diskurs der neugermanistischen Sprach- und Literaturwissenschaft wird – vgl. abermals Röcken 2008 (Anm. 5), S. 34– 38 – die graphisch-visuelle Gestaltung (obschon auf kategorial anderer Ebene liegend) gemeinhin mit in die Extension des Ausdrucks ‚Materialität‘ aufgenommen. Vgl. nur Bodo Plachta: Mehr als Buchgestaltung – editorische Anmerkungen zu Ausstattungselementen des Buches. In: editio 21, 2007, S. 133–150, und die Beiträge in: Buchgestaltung. Ein interdisziplinäres Forum. Hrsg. von Cornel Dora. Wiesbaden 2009. Vgl. etwa Jörg Döring: New Philology / Textkritik (Neuere deutsche Literatur). In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Hrsg. von Claudia Benthien und Hans Rudolf Velten. Reinbek 2002, S. 196–215, bes. S. 207–214; Klaas-Hinrich Ehlers: Raumverhalten auf dem Papier. Der Untergang eines komplexen Zeichensystems dargestellt an Briefstellern des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 32, 2004, S. 1–31; den Katalogband: Der Brief – Ereignis und Objekt. Hrsg. von Anne Bohnenkamp und Waltraut Wiethölter. Frankfurt a. M. 2008 sowie neuerdings Wolfgang Lukas: Epistolographische Codes der Materialität. Zum Problem para- und nonverbaler Zeichenhaftigkeit im Privatbrief. In: Materialität in der Editionswissenschaft 2010 (Anm. 5), S. 45–62, bes. S. 48–53; James Daybell: Material Meanings and the Social Signs of Manuscript Letters in Early Modern England. In: Literature Compass 6.3, 2010, S. 647–667, und Ders.: The Material Letter in Early Modern England. Manuscript Letters and the Culture and Practices of Letter-Writing, 1512–1635. New York 2012. Selten sind demgegenüber auf materiell-mediale Objekteigenschaften privater Entwurfshandschriften bezogene Interpretationen; s. aber: Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur. Hrsg. von Davide Giuriato und Stephan Kammer. Frankfurt a. M. 2006. Etwas ausführlicher und mit argumentationsanalytischem Fokus – allerdings ohne dezidierte Berücksichtigung der semiotischen Ebene – diskutieren wir an anderer Stelle Deutungen der typographischen Gestaltung der ‚editio princeps‘ von Sebastian Brants Narrenschiff (1494); vgl. Rockenberger/Röcken 2011 (Anm. 5), S. 289–314. Dies scheint nicht zuletzt mit Blick auf das zunehmende literaturwissenschaftliche Interesse gerade an diesem Aspekt des ‚material text‘ gerechtfertigt. Um nur einige Publikationen neueren Datums zu nennen: Edward A. Levenston: The Stuff of Literature. Physical Aspects of Texts and Their Relation to Literary Meaning. New York 1992, bes. S. 91–128; Rudolf Nink: Literatur und Typographie. Wort-BildSynthesen in der englischen Prosa des 16.–20. Jahrhunderts. Wiesbaden 1993; Jerome J. McGann: Black Riders. The Visible Language of Modernism. Princeton 1993; Johanna Drucker: The Visible Word. Experimental Typography and Modern Art, 1909–1923. Chicago 1994; Illuminating Letters. Typography and Literary Interpretation. Hrsg. von Paul C. Gutjahr und Megan L. Benton. Boston 2001; Rüdiger Nutt-Kofoth: Text lesen – Text sehen. Edition und Typographie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78, 2004, S. 3–19; Remigius Bunia: Die Stimme der Typographie. Überlegungen zu den Begriffen ‚Erzähler‘ und ‚Paratext‘, angestoßen durch die Lebens-Ansichten des Katers Murr von E. T. A. Hoffmann. In: Poetica 37, 2005, S. 273–392; Rüdiger

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außer Acht, die in der Forschung zuweilen mit Ausdrücken wie ‚Bedeutung‘ oder ‚Semantik‘ belegt werden: (1) berücksichtigen wir nicht den für empirische Lesepsychologie, Rezeptionsforschung oder Kognitionswissenschaften einschlägigen Aspekt der ‚Wirkung‘ bzw. des ‚Einflusses‘ der typographischen Gestaltung auf den individuellen Lesevorgang und die konkrete Textwahrnehmung; also jene kontingenten, unwillkürlichen und/oder unbewussten „perzeptiv-physiologische[n] Wahrnehmungseffekte oder apperzeptiv-psychologische[n] Erlebniseffekte“ (einschließlich „emotional-affektive[r] Wertungen“), die für jede Produktionsinstanz schwer bis gar nicht kalkulierbar sind und sich vor allem „nur schwer als Zeichenprozesse nach traditionellem Verständnis beschreiben“ lassen.66 Zu denken wäre hier etwa an Aussagen wie ‚Es ist etwas ganz anderes, den Text im Erstdruck, mit dieser und jener typographischen Gestaltung, als ihn in einer aktuellen Taschenbuch-Ausgabe zu lesen‘. Abgesehen davon, dass es sich trivialerweise um zwei verschiedene ‚material texts‘ handelt, bleibt hier völlig unbestimmt, was genau für wen ‚anders ist‘ und warum. (2) vernachlässigen wir, dass typographische Gestaltungselemente – übereinstimmend mit Intentionen einer Produktionsinstanz – eine Reihe (hinsichtlich des verbalsprachlichen –––––––—

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Nutt-Kofoth: The Book in the Poetological Concept of Stefan George. Some Remarks on the Physical and Iconic Side of the Published Text – with an Editorial Conclusion. In: Variants 4, 2005, S. 111–131; Thomas Rahn: Typographisches Decorum. Ordnung und Éclat in der Typographie der höfischen Figurendichtung und Festbeschreibung. In: Cognition and the Book. Typologies of Formal Organisation of Knowledge in the Printed Book of the Early Modern Period. Hrsg. von Karl A. E. Enenkel und Wolfgang Neuber. Leiden 2005, S. 409–432; Thomas Rahn: Druckschrift und Charakter. Die Semantik der Schrift im typographischen Fachdiskurs und in der Textinszenierung der Schriftproben. In: Text. Kritische Beiträge 11, 2006, S. 1–31; Rainer Falk: Literatur aus dem Winkelhaken. Zur literatur- und editionswissenschaftlichen Relevanz der Typographie. In: ebd., S. 33–53; Roland Reuß: Spielräume des Zufälligen. Zum Verhältnis von Edition und Typographie. In: ebd., S. 55–100; Stephan Kurz: Jean Paul: Fibel und Stefan George. Anmerkungen zu Typographie und Edition. In: ebd., S. 101–124; Martin Endres: Vor dem Gesetz(ten). Überlegungen zu zwei Drucken von Kafkas „Vor dem Gesetz“. In: ebd., S. 125–141; Johnny Kondrup: Ekspressiv typografi hos Søren Kierkegaard? In: Litterat på eventyr. Hrsg. von Erik Damberg, Harry Haue und Jørgen Dines Johansen. Odense 2006, S. 39–57; Stephan Kurz: Der Teppich der Schrift. Typographie bei Stefan George. Frankfurt a. M. 2007; Nikola von Merveldt: Vom Geist im Buchstaben. Georg Rörers reformatorische Typographie der Heiligen Schrift. In: Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Frieder von Ammon und Herfried Vögel. Münster 2008, S. 187–223; Julia Genz: Flüchtig oder dauerhaft? Materialität und Medialität der Schrift am Beispiel von E. T. A. Hoffmanns Lebens-Ansichten des Katers Murr. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 54, 2009, S. 29–40; Nina Nørgaard: The Semiotics of Typography in Literary Texts. A Multimodal Approach. In: Orbis Litterarum 64, 2009, S. 141–160; Annika Rockenberger, Per Röcken: Vom Offensichtlichen. Über Typographie und Edition am Beispiel barocker Drucküberlieferung (Grimmelshausens Simplicissimus). In: editio 23, 2009, S. 21–45; Von Lettern und Lücken. Zur Ordnung der Schrift im Bleisatz. Hrsg. von Mareike Giertler und Rea Köppel. München 2012; Bernhard Metz: Die Lesbarkeit der Bücher. Typographische Studien zur Literatur. München 2012 sowie den Beitrag von Thomas Rahn in diesem Band, S. 149–171. – Weitere Versuche, die Rede von der ‚Semantizität‘ der Typographie anhand von Beispielen zu konkretisieren, sind von zwei projektierten Publikationen zu erwarten: Typographie und Literatur. Hrsg. von Rainer Falk und Thomas Rahn. Frankfurt a. M. (Text. Kritische Beiträge, Sonderband 1; angekündigt für 2014), und Fontes Litterarum. Typographische Gestaltung und literarischer Ausdruck. Hrsg. von Markus F. Polzer und Philipp S. Vanscheidt. Hildesheim 2014; vgl. einstweilen den Tagungsbericht von Gerrit Brüning in editio 23, 2009, S. 209–212, sowie die Projektpräsentation auf http://fonteslitterarum.wordpress.com (gesehen am 14.12.2011). Wehde 2000 (Anm. 19), S. 92.

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Textes) metakommunikativer Funktionen erfüllen können:67 Sie dienen unter anderem dazu, (a) einen Text optimal rezipierbar zu machen, (b) diesen ‚ästhetisch ansprechend‘ zu präsentieren oder ihn (c) soziokulturell oder weltanschaulich zu verorten; sie werden überdies (d) zum Kenntlichmachen der Gattungs- bzw. Textsortenzugehörigkeit, (e) zur visuellen Homogenisierung einzelner Werke zu einem Œuvre oder deren Heterogenisierung zu ‚Werkteilen‘ (etwa in Ausgaben ‚Gesammelter‘ oder ‚Sämtlicher Werke‘ eines Autors), (f) zum Strukturieren/Gliedern des Textes, (g) zum ‚Markieren‘ bzw. Auszeichnen innerhalb des Textes oder (h) zur Aufmerksamkeitslenkung, zur Wahrnehmungs- und Verarbeitungssteuerung verwendet. Diesen Gebrauch typographischer Mittel zu verstehen bedeutet, ihren produktionsseitigen Zweck korrekt zu erfassen, wozu teils komplexe semiotische Inferenzen erforderlich sein können. Auch können die unter (1) beschriebenen Effekte von den verwendeten Mitteln zur Realisation der unter (2) erwähnten Funktionen ihren Ausgang nehmen. Für unsere Beispiel-Rekonstruktionen sind vor allem zwei Fragen leitend: (1) Welche Art von Schlussfolgerungen zieht der Interpret anhand welcher Aspekte des ‚material text‘; welche Interpretationsverfahren wendet er an? (2) Welche HermeneutikKonzeption liegt seinen Ausführungen implizit zugrunde; welche im weiteren Sinne epistemischen Ziele verfolgt er, werden Adäquatheitskriterien für die Beurteilung der Interpretation angedeutet? Erstes Beispiel: Interpretationsgegenstand ist ein 1902 im medialen Rahmen von Rainer Maria Rilkes Buch der Bilder publizierter ‚material text‘ des Gedichts Menschen bei Nacht, der so aussieht:

–––––––— 67

Vgl. auch Hartmut Stöckl: Typographie: Gewand und Körper des Textes – Linguistische Überlegungen zu typographischer Gestaltung. In: Zeitschrift für Angewandte Linguistik 41, 2004, S. 5–48, hier S. 39– 42.

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Abb. 1: Rainer Maria Rilke: Das Buch der Bilder. Berlin 1902, unpaginiert (Staatsbibliothek Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Signatur: 44 MA 11004, Blatt 26 verso).

Unter anderem fällt daran folgende typographische Eigenheit auf: Der verbalsprachliche Text ist in Antiqua-Versalien gesetzt und auf der Mitte der Seite platziert, Seitenzahlen gibt es keine. Sofern diese Art der Texteinrichtung auf signifikante Weise vom zeitgenössisch Üblichen abweicht, wird sie zum Signal potentieller Zeichenhaftigkeit und zum ‚trigger‘ semiotischer Inferenzen. Von besagten Eigenschaften ausgehend, zieht der Interpret68 – wenn wir ihn denn richtig verstanden haben – folgende Schlüsse: (1) Mit den typographischen Merkmalen werden aufgrund spezifischer Ähnlichkeiten Inschriften auf Steinplatten assoziiert. (2) Sodann greift der Interpret auf ein geteiltes semiotisches Wissen über einen regelbasierten Zusammenhang darüber zurück, dass mit der – als ‚Dispositiv‘ bezeichneten – materiellen Realisierung in Form einer in Stein gehauenen VersalienInschrift konventionell eine bestimmte Klassifikation eines verbalsprachlichen Textes –––––––— 68

Vgl. zum Folgenden Thomas Rahn: Werkschriften. Gestalten des Textes in der Edition. In: Ästhetische Erfahrung und Edition. Hrsg. von Rainer Falk und Gert Mattenklott. Tübingen 2007 (Beihefte zu editio. 27), S. 233–258, hier S. 236 f.

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bzw. eine Art Anweisung für dessen Bewertung verbunden ist. Namentlich wird für diesen so etwas wie eine zeitenthobene Gültigkeit oder Dignität (Monumentalität) reklamiert, die eine dem angemessene Rezeptionspraxis erfordere. (3) Hiervon ausgehend wird der Analogieschluss gezogen, dass aus der Ähnlichkeit zweier ‚material texts‘ hinsichtlich signifikanter materieller Eigenschaften auch eine Ähnlichkeit der verbalsprachlichen Texte hinsichtlich ihrer Klassifikation und Behandlung zu folgern sei. Obwohl der Interpret eine briefliche Äußerung Rilkes zitiert, die verdeutlicht, dass die infrage stehenden typographischen Eigenschaften auf Anweisung Rilkes umgesetzt wurden und also zumindest dessen Gestaltungsabsichten entsprechen, findet sich kein Hinweis darauf, dass die Interpretationsaussage – die typographische Gestaltung ‚monumentalisiere‘ den verbalsprachlichen Text – den Anspruch erhebt, eine Aussage über kommunikative Absichten der Produktionsinstanz zu sein. Weder im Entdeckungs- noch im Begründungszusammenhang kommt den Absichtsbekundungen des Autors eine privilegierte Stellung zu. Rilke fungiert vielmehr als ein möglicher Stichwortgeber unter vielen. Seine Äußerungen scheinen allenfalls heuristisch von Interesse zu sein, sofern sie eine mögliche Interpretation der fraglichen Spezifika des ‚material text‘ nahelegen. Bemerkenswert ist, dass der Hinweis auf Rilkes Einflussnahme der Annahme, die Typographie werde absichtsvoll als kommunikatives Zeichen verwendet, durchaus eine gewisse Anfangsplausibilität verleihen könnte; diese Möglichkeit scheint für den Interpreten allerdings nicht von Belang zu sein. Ob wahrscheinlich zu machen ist, dass etwas produktionsseitig als Zeichen hervorgebracht wurde, spielt hier weniger eine Rolle als die Möglichkeit, etwas rezeptionsseitig als ‚Zeichen‘ aufzufassen. Eine weitere typographische Eigenschaft, die die Aufmerksamkeit des Interpreten auf sich zieht, besteht in Folgendem: Das in einer Grotesk-Majuskel gesetzte Wort „Nacht“ der Überschrift besitzt gegenüber der Realisation des Gedichtstextes einen höheren Schwarzwert. Darüber hinaus ist besonders das Wort „Licht“ in der siebten Zeile aufgrund des formatbedingten Zeilenumbruchs ‚freigestellt‘ und deshalb von einer größeren unbedruckten Weißfläche umgeben. Nichts deutet darauf hin, dass diese Aspekte des ‚material text‘ mit einer kommunikativen Absicht einer Produktionsinstanz in Zusammenhang stehen. Dessen ungeachtet werden sie zum Ausgangspunkt semiotischer Inferenzen: (1) Vorausgesetzt ist die Kenntnis der mit den verbalsprachlichen Zeichen konventionell denotierten Sachverhalte und ihrer typischen Eigenschaften; hier: dass die Nacht dunkel und das Licht hell ist. (2) Aufgrund spezifischer Ähnlichkeiten werden die visuellen typographischen Eigenschaften der Wörter mit den Eigenschaften der mit den Wörtern denotierten Sachverhalte assoziiert.69 (3) Die hieraus abgeleitete Deutung läuft darauf hinaus, besagte materielle Eigenschaften als Visualisierung der mit dem verbalsprachlichen –––––––— 69

Anders – mit Rahn 2006 (Anm. 65), S. 20 – ausgedrückt: Die typographische Gestaltung fungiert nach Einschätzung des Interpreten als „Interpretament des Gegenstandes, den das Wort bezeichnet“. Der (vermeintlich) relevante ikonische Typ wird sozusagen ‚top-down‘ zugänglich gemacht, scil. ausgehend vom verbalsprachlichen Kotext; vgl. auch Blanke 2003 (Anm. 46), S. 183.

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Text bezeichneten Sachverhalte wahrzunehmen, wobei die Interrelation zwischen ‚material text‘ und verbalem Text als affimative konzipiert wird. Nach dem gleichen Muster läuft auch die Interpretation einer weiteren typographischen Eigenschaft ab: Namentlich werde „das Satzproblem, daß die siebte Zeile wegen ihrer Überlänge umbrochen werden muß, poetisch fruchtbar gemacht“: Es entsteht eine visuelle Metapher, die das Sprachbild der vom Licht entstellten Menschen unterstützt, indem die Zeile – durch Umbruch vor dem Wort „ENTSTELLT“ – selbst entstellt, das letzte Wort verstellt wird.70

Es ist nicht ganz einfach, die der rekonstruierten Interpretationspraxis zugrunde liegende Hermeneutik-Konzeption zu profilieren. Zunächst scheint klar, dass historische Stimmigkeit kein Maßstab für die Beurteilung der vom Interpreten vorgeschlagenen Deutung eines Zeichens ist. Das hier einschlägige Kriterium scheint vielmehr deren Originalität zu sein. Möglicherweise erweist sich der Interpret hier als Vertreter einer moderaten Maximierungsstrategie71 hinsichtlich ‚semantischer‘ und ästhetischer Qualitäten des ‚material text‘. Die ‚Semantik‘ des Zeichens wird allein rezeptionsseitig bestimmt durch die Schlussfolgerungen des Interpreten. Selbst bei der Identifikation möglicher Zeichen werden produktionsseitige Instanzen weitestgehend ausgeblendet: Als ‚Zeichen‘ gilt hier unabhängig von einer nachweisbaren oder wahrscheinlich zu machenden kommunikativen Intention alles, was der Interpret auf halbwegs plausible Weise als Zeichen wahrzunehmen im Stande ist, wobei als Korrektiv allerdings die mögliche Funktionalisierung entsprechender Inferenzen im Rahmen einer Interpretation des verbalsprachlichen Texts fungiert. Es ist wichtig zu sehen, dass die ‚Semantisierung‘ typographischer Eigenschaften zwar praktisch durch assoziative (ikonische) Inferenzen des Interpreten erfolgt, dies aber nicht ausdrücklich gesagt wird. Stattdessen wird – durch eine suggestive Rhetorik der Evidenz – der Eindruck erweckt, als handle es sich bei den (in Ermangelung eines auf Konventionalität beruhenden ‚Codes‘) introspektiv plausibilisierten Zuschreibungen des Interpreten um immanente Eigenschaften des Gegenstandes. Eine solche immanente Interpretation erzeugt dessen ungeachtet den Eindruck von Intersubjektivität dadurch, dass sie an Gegenstandseigenschaften ansetzt, „die auch dem Leser der Analyse zugänglich sind, so dass er die Plausibilität der postulierten Bedeutungsrelation selbst introspektiv nachvollziehen kann.“ 72 –––––––— 70 71

72

Rahn 2007 (Anm. 68), S. 236. Vgl. auch Stephen Davies: Author’s Intentions, Literary Interpretation, and Literary Value. In: British Journal of Aesthetics 46, 2006, S. 223–247, hier S. 242: „The value-maximizing theory supposes that the interpretation of literary works differs in its goals and strategies from the mode of interpretation applied to ordinary communications, because the focus for literature is on what the work could mean rather than on what was meant by it. [...] The value-maximizing theory suggests that we regard artworks more as autonomous bearers of meaning than as personal, one-sided conversations. Accordingly, it emphasizes the role of linguistic and artistic conventions and practices in generating the work’s possible meanings, as against the authorial intentions that may have motivated their use. In other words, it focuses on what the work could mean, given the socio-historical context in which it is produced, not on the author’s intended meaning.“ Blanke 2003 (Anm. 46), S. 134.

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Zweites Beispiel: Ausgehend von der Annahme, „die Form eines Textes“ wolle „einschließlich ihrer typographischen Gestalt selbst nach ihrer spezifischen Bedeutung befragt werden“,73 wird die – ohne jede Beteiligung Goethes zustande gekommene – Typographie des Erstdrucks von Das Römische Carneval (1789) – näherhin die im deutschen Sprachraum zu dieser Zeit ungewöhnliche Verwendung der von François Ambroise Didot entworfenen klassizistischen Antiquaschrift – zum Gegenstand der Interpretation. Zunächst wird gemutmaßt, „für den zeitgenössischen Leser“ müsse „der Anblick“ des Erstdrucks „aufsehenerregend [...] gewesen sein“ (S. 44) oder sei zumindest als „ungewöhnlich“ und ‚irritierend‘ empfunden worden, da – und nun folgt eine empirische Aussage – die Wahl der Schrift einen „Bruch mit der Konvention“ bedeutet habe, die Antiqua „theologischer und wissenschaftlicher sowie selbstredend fremdsprachiger Literatur“ vorzubehalten (S. 45). Vor dem Hintergrund einer voraussetzungsreichen „historisch-politischen Lesart“ (S. 50) des verbalsprachlichen Textes – namentlich der Annahme einer „Analogie zwischen Römischem Karneval und Französischer Revolution“ (S. 49) – wird sodann die auffällige, potentiell zeichenhafte Schriftwahl folgendermaßen semiotisiert: Abgesehen davon, dass die aus Frankreich importierten Drucktypen (1) einen kausalen Bezug zu ihrem national-geographischen Ursprung herzustellen gestatten, wird (2) die Symbolifizierung einer semiotischen Inferenz74 angedeutet: „Aus der Didot-Antiqua wurde [...] die Mehrzahl der Publikationen des revolutionären Frankreichs gesetzt, so daß man sie schließlich als die Schriftform der Französischen Revolution ansah“ (S. 50). Anders ausgedrückt: Aus einer Regelmäßigkeit der Verwendung bildet sich sukzessive eine Verwendungsregel, aus situativem Kontextwissen bildet sich sukzessive ein geteiltes (prinzipiell verfügbares) semiotisches Wissen der Kommunikationsteilnehmer. (3) Für den zeitgenössischen Leser habe die Schriftwahl – unabhängig davon, ob eine Produktionsinstanz sie vernünftigerweise als Zeichen würde verwendet haben können – die auf den verbalsprachlichen Text bezogene Deutungshypothese, derzufolge der Karneval als „eine Vorausschau auf die Ereignisse der Revolution“ konzipiert sei, (durchaus im epistemologischen Sinne eines rechtfertigenden Grundes) „beglaubigen“ (ebd.) können. Dem läge dann eine assoziative Inferenz zugrunde – ein Analogieschluss von der Ähnlichkeit in einem Merkmal (Schriftwahl) auf die Ähnlichkeit in einem weiteren (Inhalt, Tendenz des Textes). Eine Kritik an dieser Deutung könnte unter anderem die in (2) unterstellte Konventionalität der Schriftverwendung bestreiten oder zu zeigen versuchen, dass andere (konkurrierende) Konventionen der Verwendung klassizistischer Antiqua-Schriften im vorliegenden Fall einschlägiger seien. Sodann könnte die intrinsische wie extrinsische Relevanz der potentiellen ikonischen Inferenz in (3) als zu schwach charakterisiert werden. In einer (vom Interpreten freilich nicht verfolgten) produktionsseitigen –––––––— 73

74

Falk 2006 (Anm. 65), S. 38 (Nachweis der Zitate fortan im Fließtext). – Noch einmal: Die „Form eines Textes“ kann nichts ‚wollen‘, da sie als Eigenschaft eines unbelebten Gegenstands nicht über mentaldispositionelle (hier: voluntative) Zustände verfügt. Es ist für Falks Ausführungen charakteristisch, sich der von uns beanstandeten (vgl. oben, S. 39 f.) Rhetorik der Naturalisierung zu bedienen; vgl. etwa ebd., S. 36: „Der Text selbst generiert [...]“. Vgl. instruktiv Keller 1995 (Anm. 34), S. 165–171.

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Perspektive wäre zu fragen, ob die vorgeschlagene Erklärung der Schriftwahl tatsächlich die beste, nächstliegende ist; so wäre durchaus denkbar, dass weniger kommunikative Absichten als vielmehr ökonomische, politische oder ästhetische Interessen des Verlegers den Ausschlag für die Wahl der Didot-Schrift gegeben haben.75 Aufgrund programmatischer Hinweise ist es möglich, die der Interpretationspraxis zugrunde liegende Hermeneutik-Konzeption als eine rezeptions- bzw. wirkungsästhetische zu bestimmen.76 So wird mit Hinweis auf „neuere[ ] Texttheorien“ (gemeint ist Roland Barthes’ 1973 erschienener Essay Le plaisir du texte) und die – den Fokus „vom Autor auf den produzierenden Leser“ verschiebende – „rezeptionsästhetische Wende der Literatur- und Kunstwissenschaften“ für „eher marginal“ erklärt, welche Produktionsinstanz für die typographische Gestaltung verantwortlich sei. Stattdessen wird die Auffassung vertreten, der „Text selbst generier[e] die Geschichte seiner Rezeption“ und bewirke die ästhetische ‚Lust am Text‘, die „produktive[ ] Erfahrung seines Inhalts und seiner Form“, die auf „Rückgriffe und Bezugnahmen auf die Kategorie des Autors in keiner Weise angewiesen“ sei.77 Da der Interpret nun aber durchaus um die Rekonstruktion faktischer Rezeptionspraxis historischer Leser und die Vermeidung anachronistischer Zuschreibungen bemüht ist, entspricht seine hermeneutische Position tatsächlich eher einer rezeptionshistorischen.78

5.

Ausblick: Einige methodologische Überlegungen

Wahrnehmung und inferentielle Interpretation von Zeichen sind offenbar ein riskantes, voraussetzungsreiches Geschäft, das sich permanent von den Vorwürfen des Subjektivismus, der Beliebigkeit und des Anachronismus bedroht sieht. Die oft geringe Spezifik der als Zeichen wahrgenommenen materiell-medialen Objekteigenschaften trägt in Verbindung mit der oft schwach ausgeprägten Konventionalität ihres Gebrauchs als Zeichen kaum dazu bei, die bestehende Unsicherheit zu verringern. Schon die diskursive Rekonstruktion der inferentiellen Zeichenmittel-Entfaltung durch den Interpreten bereitet einige Schwierigkeiten. Bei Betrachtung weiterer Beispiele zeigt sich: Der Geltungsanspruch von Interpretationsaussagen wird auch dadurch weiter eingeschränkt, dass diese – und sei’s implizit – in bestimmte Hermeneutik-Konzeptionen eingebettet sind: Es gibt hier offenbar mehrere grundsätzlich legitime Sprachspiele mit je eigenen Spielregeln,79 die sich im Wesentlichen nach ihrer produktions- oder rezeptionsseitigen Schwerpunktsetzung und dem jeweils erhobenen Anspruch historischer Stimmigkeit weiter klassifizieren ließen. Interpretationsaussagen können sich überdies auf ganz verschiedene Erkennt–––––––— 75 76 77 78 79

Vgl. nur Christina Killius: Die Antiqua-Fraktur Debatte um 1800 und ihre historische Herleitung. Wiesbaden 1999, S. 252–266. Vgl. zur Kritik der ‚sinn-subjektivistischen‘ Hermeneutik-Konzeption der Rezeptionsästhetik nur Tepe 2007 (Anm. 29), S. 397–419. Falk 2006 (Anm. 65), S. 35 f. Vgl. hierzu die kritischen Hinweise bei Spoerhase 2007 (Anm. 41), S. 100. Vgl. grundlegend Göran Hermerén: Interpretation: Types and Criteria. In: Grazer philosophische Studien 19, 1983, S. 131–161, sowie zur weiteren Orientierung Tom Kindt, Tilmann Köppe: Moderne Interpretationstheorien. Eine Einleitung. In: Moderne Interpretationstheorien 2008 (Anm. 32), S. 7–26.

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nisgegenstände beziehen, also Antworten auf ganz verschiedene Fragen darstellen – ein Umstand, der aufgrund der notorischen Etikettierung aller Antworten mit dem Bedeutungsbegriff leicht übersehen wird. Gerade aber die Frage nach den je einschlägigen Standards der Beurteilung von Interpretationsaussagen scheint nicht unabhängig von normativen Grundsatzentscheidungen beantwortbar zu sein. So ist klar, dass eine Hypothese darüber, was der historische Autor tatsächlich oder vermutlich kommunizieren wollte, unter anderen Bedingungen als epistemisch gerechtfertigt gilt, als eine Aussage darüber, was ein kompetenter zeitgenössischer Modell-Rezipient verstanden haben kann, bzw. darüber, was ein gegenwärtiger Leser ohne jede Berücksichtigung der Produktionsumstände jeweils ‚versteht‘. Entsprechend unterscheiden sich auch die Strategien, mit denen jeweils die Plausibilität von Interpretationsaussagen erhöht werden soll – vorausgesetzt es geht überhaupt um Interpretation und nicht um die rhetorische Inszenierung sinnlich-ästhetischer Erfahrung oder die Maximierung der ‚Semantizität‘ mittels irgendwie origineller Assoziationen. Eine Frage, deren Beantwortung nicht mehr Gegenstand dieses Aufsatzes sein kann, ist diese: Gibt es – neben ansatzrelativen Standards – wenigstens minimale Kriterien für die grundsätzliche Evaluation80 von (die Materialität oder den ‚material text‘ betreffenden) Interpretationsaussagen? Gewissermaßen als abschließender (normativer) Denkanstoß seien folgende Gütekriterien81 vorgeschlagen: (1) Formale Kriterien – Sprachliche Gestaltung: (a) Vermeidung der Personifizierung des Gegenstands; (b) Klarheit und Deutlichkeit der Sprache, rhetorische Sparsamkeit, vor allem: Vermeidung elliptischer, metaphorischer und allzu pauschaler Formulierungen; (c) Verwendung etablierter (semiotischer) Terminologie oder Explikation zentraler Ausdrücke. (2) Inhaltliche Kriterien – (a) Widerspruchsfreiheit und Kohärenz der Aussagen; (b) Transparenz der Argumentation, hier: Ziele, Erkenntnisinteressen und (heuristisch wirksame) Präferenzen klar und deutlich benennen, bedeutungs- und interpretationstheoretische Voraussetzungen offenlegen; (c) klare Unterscheidung zwischen „begründungsbedürftigen Aussagen und solchen, die eine Begründungsfunktion übernehmen“,82 sowie (nicht-zirkuläre) argumentative Abstützung der letzteren; (d) Einfachheit: vorzuziehen ist die nächstliegende Deutungshypothese, die am zwanglosesten mit unserem Hintergrundwissen vereinbar ist und zudem in geringerem Maße weitere Zusatzannahmen erfordert; (e) spezifische Fundiertheit im empirisch Gegebe-

–––––––— 80

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82

Vgl. hierzu aus der Perspektive ‚praktischer Rationalität‘ auch Christoph Dennerlein, Tilmann Köppe, Jan C. Werner: Interpretation: Struktur und Evaluation in handlungstheoretischer Perspektive. In: Journal of Literary Theory 2, 2008, S. 1–18, bes. S. 8–11 und 15 f. Vgl. auch Dagfinn Føllesdal, Lars Walløe, Jon Elster: Rationale Argumentation. Ein Grundkurs in Argumentations- und Wissenschaftstheorie. Berlin, New York 1988, S. 62–66 und 107–115, sowie Tilmann Köppe: Konturen einer analytischen Literaturtheorie. In: Derrida und danach? Literaturtheoretische Diskurse der Gegenwart. Hrsg. von Gregor Thuswaldner. Wiesbaden 2008, S. 67–83, bes. S. 70– 79. Kindt/Köppe 2008 (Anm. 79), S. 15.

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nen;83 (f) objekttheoretische Kontext-Sensitivität84 sowie (g) historische Stimmigkeit.85 Uns ist bewusst, dass wir mit vorstehenden Ausführungen allenfalls erste Ansätze zum besseren Verständnis und zur Beantwortung der im Titel aufgeworfenen Frage vorlegen konnten; über eine grobe – aus pragmatischen Gründen zuweilen sogar bewusst simplifizierende – Skizze sind wir dabei kaum hinausgekommen. Allerdings teilen wir die tröstliche Einschätzung Georg Meggles: „Eine grobe Karte ist uns für eine erste Orientierung in einem bislang nahezu unzugänglichen Gebiet nützlicher als eine Karte, in der jedes noch so winzige Detail verzeichnet ist.“86

–––––––— 83

84

85

86

Vgl. weiterführend Tilmann Köppe, Simone Winko: Zum Vergleich literaturwissenschaftlicher Interpretationen. In: Hermeneutik des Vergleichs. Strukturen, Anwendungen und Grenzen komparativer Verfahren. Hrsg. von Andreas Maunz und Hartmut von Sass. Würzburg 2011, S. 305–320, bes. S. 310– 320. Vgl. abermals oben Anm. 43 sowie weiterführend Carlos Spoerhase: Strukturalismus und Hermeneutik. Über einige Schwierigkeiten strukturaler Verfahren im Spannungsfeld von Textanalyse und Interpretation. In: Strukturalismus in Deutschland. Literatur- und Sprachwissenschaft 1910–1975. Hrsg. von Hans-Harald Müller, Marcel Lepper und Andreas Gardt. Göttingen 2010, S. 13–38, bes. S. 32–38. Hier ist an Schlagworte wie ‚Vermeidung von Anachronismen‘ bzw. ‚Anti-Präsentismus‘ und ‚historisches Verfügbarkeitsprinzip‘ zu denken; vgl. grundlegend Spoerhase 2007 (Anm. 43), S. 145–225, Ders.: Was ist ein Werk? Über philologische Werkfunktionen. In: Scientia Poetica 11, 2007, S. 276– 344, hier S. 308–313, sowie Ders.: Presentism and Precursorship in Intellectual History. In: Culture, Theory & Critique 49, 2008, S. 49–72. Meggle 1997 (Anm. 40), S. 324.

Stephan Kammer

Das Stigma des Dokumentarischen Zum historischen Apriori philologischer Materialverachtung

1. Das sprachliche Warnsignal, auf das man in editionswissenschaftlichen Texten zu stoßen pflegt, wenn dort von Problemen und Verfahren des Dokumentierens die Rede ist, lautet: ‚bloß‘. „Die wissenschaftliche Edition“, lesen wir zum Beispiel bei Bodo Plachta, sei „kein bloß dokumentierendes Dienstleistungsunternehmen, sondern verfolg[e] vielmehr die Aufgabe, die Geschichtlichkeit von Texten zu bewahren und damit auch Geschichte zu interpretieren.“1 ‚Bloße Wiedergabe des Befunds‘, ‚bloßer Textabdruck‘, gar ‚bloßes Faksimilieren‘2 – solche und ähnliche Wendungen stellen sich ein, wenn Editoren sich gegen den Vorwurf oder die Zumutung rechtfertigen zu müssen glauben, ihr Geschäft könnte oder sollte vornehmlich ein dokumentarisches sein. Ja, sie sind es allein, an denen das Dokumentarische des Edierens selbst erst so etwas wie ein Profil zu erhalten scheint. Dokumentarisch hieße, folgt man dem semantischen Gespinst seines editionswissenschaftlichen Ungenügens, ein Festhalten an dem, was man mit David Wellbery als ‚Äußerlichkeit der Schrift‘ bezeichnen könnte: an der ikonisch-technischen Reproduktion und/oder der De- und Recodierung phänomenal-medialer Schriftlichkeiten.3 Dementsprechend fällt die syntaktisch-argumentative Einbindung dieses Warnsignals aus: Man biete ‚nicht bloß‘ oder ‚mehr als bloße‘ Dokumentation, nämlich immer auch ‚Deutung‘, ‚Interpretation‘ respektive andere, mehr oder minder aufwendig hergeleitete ‚kritische‘ Dienstleistungen. Schließlich dürften die Editionswissenschaften, so eine des Öfteren anzutreffende, gewissermaßen ethisch aufgeputzte Rechtfertigung dieses Mehraufwands, den Lesern oder ‚Be–––––––— 1 2

3

Bodo Plachta: Germanistische Editionswissenschaft im Kontext ihrer Geschichte. In: Anglia 119, 2001, S. 375–398, hier S. 379. Vgl. etwa Arnold Esch: Der Umgang des Historikers mit seinen Quellen. Über die bleibende Notwendigkeit von Editionen. In: Quelleneditionen und kein Ende? Symposium der Monumenta Germaniae Historica und der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München, 22./23. Mai 1998. Hrsg. von Lothar Gall und Rudolf Schieffer. München 1999 (Historische Zeitschrift. Beihefte N. F. 28), S. 144; Jens Stüben: Edition und Interpretation. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H. T. M. van Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 277; Werner Suerbaum: Zweiundvierzig Jahre Tacitus-Forschung: Systematische Gesamtbibliographie zu Tacitus’ Annalen 1939–1980. In: Sprache und Literatur (Allgemeines zur Literatur des 2. Jahrhunderts und einzelne Autoren der trajanischen und frühhadrianischen Zeit). Bd. 2. Hrsg. von Wolfgang Haase. Berlin, New York 1990 (Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. II,33,2), S. 1032–1476, hier S. 1054. David Wellbery: The Exteriority of Writing. In: Stanford Literature Review 9, 1992, S. 11–23.

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nutzern‘ ihrer Produkte nicht zumuten oder nicht zutrauen, solche notwendige Zusatzleistungen selbst erbringen zu müssen respektive zu können. Mich interessiert nicht so sehr dieser Anspruch und seine Legitimität, sondern vielmehr das, was man als epistemologische Begründung und genealogische Herleitung des ihm zugrunde liegenden ‚Nicht-bloß‘ bezeichnen könnte: Denn es scheint so, als wäre der Verzicht auf ‚bloße‘ Dokumentation, ja die Abkehr von deren schierer Vorstellbarkeit – Aussagen sowie Impliziertem solcher editionswissenschaftlicher Einlassungen zufolge – unausweichlich in der editorischen Tätigkeit begründet. Spätestens der zweite editorische Blick, der graphische Befunde in lesbare Zeichen umzuform(atier)en beginne, verstricke sich unweigerlich ins Geschäft der Deutung. Es gehe deshalb vornehmlich darum, den „unvermeidliche[n] Schatten des Herausgebers [...] erkennbar“ werden zu lassen, lautet die grundlegende epistemische Devise, die Hans Zeller im Zuge seiner Differenzierung von ‚Befund‘ und ‚Deutung‘ ausgegeben hat.4 Ebenfalls 1971 und im selben, für die Geschichte zumal der deutschsprachigen Editionstheorie zentralen methodologischen Band hat Klaus Hurlebusch eine Epistemologie des Edierens an den Dichotomien von „‚Erkenntnis‘ und ‚Auslegung‘, ‚Beschreibung‘ und ‚Deutung‘, ‚Dokumentation‘ und ‚Interpretation‘“ zu entwickeln versucht. Am begrifflichen Oppositionspaar „Historismus“ versus „Hermeneutik“ hätten sich, so seine Überlegungen, die Verhandlungen editorischer Methodologie auszurichten. Man braucht sich nun nicht eingehender auf die Geschichte des ersten dieser Begriffe einzulassen, um feststellen zu können, dass sich ‚Historismus‘ dafür weder als praktisch-epistemische noch als theoretisch-epistemologische Option besonders empfiehlt: Würde die Devise einer Reduktion der Überlieferung auf wahrnehmbare, materiale „Tatbestände“ und deren reine (urkundliche) Beschreibung oder Dokumentation konsequent verwirklicht, so wäre das Resultat nicht eine methodische Einschränkung subjektiver Interpretationen, sondern eine Erweiterung ihres Ermessensspielraums.5

Was zunächst den Anschein einer erquickenden Propädeutik dafür macht, dass Editionen mit einer möglichst weit gefassten Vielfalt von Erkenntnisinteressen zu kalkulieren haben, verwandelt sich bereits in Hurlebuschs nächstem Satz in ein Schreckgespenst: „Es gäbe dann“, fährt er fort, „kaum eine Möglichkeit, zwischen konkurrierenden Deutungen begründet zu entscheiden. Das im historistischen Ansatz implizite hermeneutische Korrelat ist sozusagen ein Dezisionismus und Eklektizismus von gleich-gültigen Standpunkten der Interpretation.“ Dieser Bedrohung durch das Dokumentarische gelte es deshalb mit regulativen Ideen wie der des ‚Autorwillens‘ oder der ‚Arbeitsweise‘ zu begegnen, dank deren erst sich die historistische „Positivierung –––––––— 4

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Hans Zeller: Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 45–89, hier S. 52. Klaus Hurlebusch: Zur Aufgabe und Methode philologischer Forschung, verdeutlicht am Beispiel der historisch-kritischen Edition. Eine Auseinandersetzung mit Hermeneutik und Historismus. In: Texte und Varianten 1971 (Anm. 4), S. 117–142, hier S. 122 f.

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[...] des Überlieferungszusammenhangs“ zur mittelbaren Hermeneutik des historischkritischen Edierens zu läutern vermöchte.6

2. Textpflege und Sinnpflege – so haben Aleida und Jan Assmann zwei der wesentlichen Vorkehrungen genannt, mit denen Schriftkulturen ihr kulturelles Gedächtnis zu sichern beabsichtigen7 – werden in der Epistemologie der Editionswissenschaften auf eigentümliche Weise, genauer gesagt: in Form einer Ambiguität verschränkt. Macht dokumentarische Datensicherung, deren Fokus selbst man zwischen der Phänomenalität des Schriftträgers und Nelson Goodmans „sameness of spelling“, „Selbigkeit des Buchstabierens“,8 ganz unterschiedlich zu wählen pflegt, einerseits das organisatorische Zentrum editorischer Epistemologie aus, so queren und durchkreuzen dieses Zentrum andererseits die Fluchtlinien einer Kritik, die sich auf Transparenz und Plausibilisierung der textpflegerischen Verfahren allein nicht beschränkt sehen will. Vielmehr zielt sie über die textpflegerische Verfügbarmachung ihrer Gegenstände hinaus auf sinnpflegerische Aktualisierungsformate, die in den Verfahren der Textpflege nicht nur ohnehin immer schon präsent, sondern darüber hinaus für diese auch notwendig seien. Auf die dokumentarische Textpflege wird der Schatten der Verfahrensbeteiligten immer schon gefallen sein; allein schon eine strenge und enge Vorstellung davon muss sich als unzureichend erweisen, da man in deren Korsett diese Verschattung nicht thematisieren zu können glaubt. Wäre dieser hermeneutischen Verstrickung dadurch zu entkommen, dass man ihre Verursacherin, also die Hermeneutik, selbst zur Disposition stellt?9 Eine Auflösung von Ambiguität ist schließlich, wie schon die antike Rhetorik gelehrt hat, zu Systembedingungen unmöglich.10 Man könnte deshalb neue epistemologische Devisen erproben, die von den besagten Zwängen nicht regiert würden – zumindest nicht so und nicht von diesen Zwängen. Auch das ist bekanntlich eine mögliche Aufgabe der Kritik.11 ‚Archive edieren‘ statt ‚Autoren‘, ‚Werke‘ und ‚Texte‘ edieren – so könnte eine dieser Devisen lauten. Als Nicht-Editionswissenschaftler, der ich bin, nähere ich mich –––––––— 6 7 8

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Hurlebusch 1971 (Anm. 5), S. 123 und 126. Vgl. Aleida und Jan Assmann: Kanon und Zensur. In: Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II. Hrsg. von dens. München 1987, S. 7–17. Nelson Goodman: Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols. Indianapolis, New York 1968, S. 115; dt.: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Frankfurt a. M. 1975, S. 114 (im Original hervorgehoben). Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten. Aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte. Frankfurt a. M. 2003, S. 12 f.: „Die Identifizierung und Wiederherstellung von Texten der Vergangenheit [...] stellt [...] eine gewisse Distanz her zu dem intellektuellen Raum der Hermeneutik und der Interpretation als hermeneutisch geprägtem Umgang mit Texten.“ Vgl. Frauke Berndt, Stephan Kammer: Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz. Die Struktur antagonistisch-gleichzeitiger Zweiwertigkeit. In: Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz. Hrsg. von dens. Würzburg 2009, S. 7–30. Michel Foucault: Qu’est-ce que la critique? Critique et Aufklärung (1978). In: Bulletin de la Société française de philosophie 84, 1990, H. 2, S. 35–63.

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aber der Ambiguität des Dokumentarischen lieber mittels einer Spurensuche in der Wissensgeschichte der Philologie. Woher rührt das editionswissenschaftliche Misstrauen gegenüber dem ‚bloß Dokumentarischen‘, ein Misstrauen, zu dem ja keinerlei Methodenzwang mehr nötigte? Wo wäre das, wie man sagen könnte, ‚historische Apriori‘ dieses Stigmas des Dokumentarischen auszumachen? Man wird auf dieser Suche, so viel sei vorausgeschickt, hinter jenen wissenschaftsgeschichtlich-disziplinären Einschnitt zurückgelangen, an dem sich die Philologien als neuzeitliche Literaturwissenschaften ausdifferenziert und institutionalisiert haben.12 Nicht bei Lachmann oder bei Schleiermacher gilt es anzusetzen, wenn man nach dem Anfang solcher Stigmatisierung fragt, sondern ein gutes Jahrhundert früher. Es ist, wie mir scheint, der von der Fachgeschichtsschreibung als Leitfigur und kühner Neuerer beschriebene englische Philologe Richard Bentley, in dessen Schriften man die Stigmatisierung des Dokumentarischen und gleichzeitig deren Möglichkeitsbedingungen, wenn nicht gar Notwendigkeit zum ersten Mal artikuliert sieht.

3. Bentley misstraut dem als Überlieferung Dokumentierten, und ihm genügt die Überlieferung nicht – dies wäre als erster Doppelbefund dieser Spurensuche festzuhalten. Die erste Seite, das Misstrauen gegenüber dem Überlieferten, findet ihren prominentesten Ausdruck in jener Leistung, die Bentleys Ruhm als Philologe begründet hat: in der Dissertation upon the Epistles of Phalaris, dem Fälschungsnachweis der sogenannten ‚Phalaris-Briefe‘.13 Die Abhandlung, die nebenbei bemerkt im Zuge eines aufsehenerregenden Philologengezänks mit Charles Boyle eine nicht minder auffällige eigene Strategie des Dokumentarischen entfaltet,14 findet ihren epistemologischen Leitsatz darin, dass sie eine Gleichursprünglichkeit von Echtem und Falschem in der Überlieferung, ja durch Überlieferung behauptet: „to forge and counterfeit books, and father them upon great names, has been a practice almost as old as letters“ (I, 82). Diese Bemerkung ist bekanntlich weniger eigenwillig, als es auf den ersten Blick scheint – dass Fälschung und Kritik in der Geschichte des philologischen Wissens sozusagen seit jeher die beiden Seiten einer Münze darstellen, hat der Philologiehistoriker Anthony Grafton nachdrücklich betont.15 Die Etablierung philologischer Verfahren speist sich deshalb keineswegs erst im ausgehenden 17. Jahrhundert aus einer ‚Hermeneutik des Verdachts‘ – des Verdachts nämlich, dass das Material, an dem und –––––––— 12 13

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Vgl. Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989. Richard Bentley: Dissertations upon the Epistles of Phalaris, Themistocles, Socrates, Euripides, and upon the Fables of Æsop: also, epistola ad Joannem Millium (1699), hier zitiert nach der Ausgabe: The Works of Richard Bentley, D. D. Collected and ed. by the Rev. Alexander Dyce. 3 Bde. London 1836– 1838, Bd. 1. – Nachweise daraus im Folgenden unter Angabe des Bands in lateinischen und der Seitenzahl in arabischen Ziffern. Im Vorwort zur zweiten Auflage werden auf guten 70 Druckseiten und selbstredend einigermaßen parteiisch die Dokumente des Streits ediert und kommentiert, der sich um die Abhandlung entfacht hat („The Preface“, I, i–lxxiii). Anthony Grafton: Forgers and Critics. Creativity and Duplicity in Western Scholarship. Princeton 1990.

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mit dem die Kritik arbeitet, in allen erdenklichen Facetten verfälscht sein könnte. Allein das Misstrauen, das Philologen ganz grundsätzlich dem Überlieferten angedeihen lassen, erklärt also nicht hinreichend, warum sich an Bentleys Schriften die Konturen jenes Denkstils abzeichnen, dessen Effekte ich als Stigma des Dokumentarischen bezeichne. Bentley genügt, und das ist die zweite Seite des genannten Doppelbefunds, das Überlieferte nicht. Sein Programm einer philologischen Kritik als Kontingenztilgung, als Beseitigung aller der Überlieferung geschuldeten „Trübungen“,16 artikuliert zugleich eine mit Blick auf das philologische Wissen seiner Zeit geradezu skandalöse Diskreditierung der überlieferten Dokumente. Ihnen spricht Bentley jeden positiven Eigenwert ab; schlimmer noch: Er deklariert sie ‚à la longue‘ zu Abfall. Das belegt eine beiläufige Wendung zur Kollationspraxis im Vorwort der zweiten Auflage seiner Dissertation: „after the Various Lections were once taken and printed, the MS. would be like a squeezed orange, and little worth for the future“ (I, xix; im Original kursiv). Der ‚mépris‘ gegenüber der materialen Überlieferung allein ist dabei keine Erfindung, die auf Bentleys Konto zu setzen wäre; er ist, könnte man sagen, humanistisches Erbe;17 die Voraussetzungen dieser Materialverachtung allerdings – und dies ist für meine Fragestellung das Entscheidende – haben sich geändert: Ein Editionsverfahren, das auf das Modell des ‚textus receptus‘ respektive der sogenannten Vulgaten setzt, hat ein grundsätzlich anderes Verhältnis zu den Überlieferungsobjekten eingenommen als eines, das zurück zum Ursprung der Überlieferung, zum authentischen Text gelangen will. Und deshalb ist dieser beiläufige Exzess von Bentleys Methode der Anfangspunkt, von dem aus, philologiegeschichtlich höchst folgenreich, das ‚Werk‘, das man edieren muss, gegen die ‚Äußerlichkeit der Schrift‘ ausgespielt werden kann, die sich dokumentieren lässt. Mit der doppelten Abwertung des Dokuments verbindet sich die Aufwertung, wenn nicht Selbstermächtigung des Philologen. In der notorischen, gewöhnlich und gewiss nicht gänzlich zu Unrecht in dieser Verkürzung als Leitformel zitierten Anmerkung zu einer Emendation in Bentleys Horaz-Ausgabe: „Nobis et ratio et res ipsa centum codicibus potiores sunt“, hat sie ihren prägnantesten Ausdruck gefunden.18 –––––––— 16

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Vgl. zu Begriff und Sache Rudolf Pfeiffer: Philologia perennis. Festrede gehalten in der öffentlichen Sitzung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München am 3. Dezember 1960. München 1961, hier S. 5. Vgl. etwa Percy S. Allen: The Age of Erasmus. Lectures delivered in the University of Oxford and London. Oxford 1914, Nachdruck New York 1963, S. 159 f.; Edward John Kenney: The Classical Text. Aspects of Editing in the Age of the Printed Book. Berkeley u. a. 1974, S. 82. Q. Horatius Flaccus, ex recensione et cum notis atque emendationibus Richardi Bentleii [1711], 2 Bde., 3. Aufl. Berlin 1869, Anm. zu c.III, 27,15, Bd. 1, S. 218; die im Satz folgende Präzisierung „praesertim accedente Vaticani veteris suffragio“ nimmt, worauf auch Rudolf Pfeiffer (Die Klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen. München 1982, S. 191f.) aufmerksam macht, das Kategorische dieser Äußerung wenigstens teilweise zurück – aber eben nur teilweise und lokal, wie die Ausführungen zur Emendationspraxis im Vorwort anzeigen: „Plura igitur in Horatianis his curis ex coniectura exhibemus, quam ex Codicum subsidio; et, nisi me omnia fallunt, plerumque certiora: nam in variis Lectionibus ipsa saepe auctoritas illudit, et pravae emendaturientium prurigini abblanditur; in coniecturis vero contra omnium Librorum fidem proponendis et timor pudorque aurem vellunt, et sola ratio ac sententiarum lux necessitasque ipsa dominantur. Quid quod, si ex uno alterove Codice discrepantem aliis scripturam expromas, frustra es si unico duobusve testibus adversus centum fidem facere postulas; nisi tot argu-

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Plötzlich treffen wir mit dieser Formel drei Beteiligte im philologischen Geschäft an – und diese drei gruppieren sich in neuer, eigentümlicher Allianz respektive Konkurrenz. An die Seite der ‚ratio‘ tritt die Sache selbst, ‚res ipsa‘, die das philologische Wissen sonst – wenn auch nicht unverstellt und unbeschädigt – in den Dokumenten der Überlieferung lokalisiert hat; diesen aber tritt Bentleys neues Bündnis nun geradezu unversöhnlich entgegen. Die bis heute zuweilen in editorischen Fehlerdefinitionen anzutreffende Annahme, dass die Eigenlogik des Textes und die Methode des Philologen ein höheres Gewicht in die Waagschale des kritischen Urteils werfen als die überlieferten Dokumente es je vermöchten, findet hier ihren ersten Halt. Doch auch die epistemologische Begründung dessen, was ich das Stigma des Dokumentarischen nenne, zeichnet sich in dieser Allianzverschiebung ab. Bentleys „tiefes Mißtrauen gegen das geschriebene oder gedruckte Wort“ nimmt beispielsweise noch eine neuere Eloge auf den englischen Philologen zur Grundlage seines kritischen Ingeniums19 – auf dieser Grundlage eine Epistemologie und Praxis ausgerechnet der Philologie zu errichten, zeugt von einer eigentümlichen Auslegung dieses Kompositums.

4. Im frühen 18. Jahrhundert bleibt denn diese epistemologische Umgruppierung samt ihren Konsequenzen auch reichlich prekär, wie sich an zahlreichen zeitgenössischen Verhandlungen des philologischen Wissens zeigen ließe.20 Stabilisiert wird sie durch einen zweiten Befund: die programmatische Verwechselbarkeit von Autorschaft und göttlicher Schöpfung, von der aus das Stigma des Dokumentarischen nicht nur ein negatives, sondern auch ein positives Bezugsmodell philologischer Kritik werden kann. Expliziert wird dieses Verwechslungsprogramm allerdings nicht in Bentleys philologischen Schriften, ja zunächst einmal überhaupt nicht im Zuständigkeitsbereich philologischen Wissens. Vielmehr stößt man darauf in seinen ersten Boyle’s Lectures, einer von Robert Boyle testamentarisch begründeten Stiftungsvorlesung, die der Verteidigung des christlichen Glaubens dienen soll und deren Ausführung die Nachlassverwalter 1692 zum ersten Mal Bentley zugesprochen haben. Von März bis Dezember des Jahres ergehen so in monatlichen Abständen acht Reden von der Kanzel der St Martins Church, in denen The Folly and Unreasonableness of Atheism nicht so sehr theologisch als vielmehr vernunftgemäß und wissenschaftlich dargelegt werden sollen. In der fünften dieser Kanzelreden bringt Bentley seine Confutation of Atheism from the Structure and Origin of Human Bodies zu einem Ende. Das Menschengeschlecht, erinnert er zunächst noch einmal den Inhalt der vorangegange–––––––—

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mentis muniveris, quae vel sola pene sine Codicis testimonio ei rei probandae sufficere possint. Noli itaque Librarios solos venerari; sed per te sapere aude, ut singula ad orationis ductum sermonisque genium exigens ita demum pronunties sententiamque feras“ (Bentley 1711, Anm. 18, „Praefatio“, Bd. 1, S. xiv; meine Hervorhebungen). Charles O. Brink: Klassische Studien in England. Historische Reflexionen über Bentley, Porson und Housman. Aus dem Englischen von Marcus Deufert. Stuttgart, Leipzig 1997, S. 65. Vgl. dazu Stephan Kammer: Konjekturen machen (1700–1760). Zur Genealogie eines philologischen Verfahrens. In: Konjektur und Krux. Hrsg. von Anne Bohnenkamp, Kai Bremer, Uwe Wirth und Irmgard Wirtz. Göttingen 2010, S. 53–84.

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nen Vorlesungen, reicht weder in ursprungslose Ewigkeit zurück, noch verdankt es seine Form den Einflüssen von Himmelskörpern, noch ist es den gesetzmäßigen mechanischen Bewegungen der unbelebten Materie entsprungen. Als letzte Bastion des Atheismus gilt es nun noch die These zu schleifen, „that mankind came accidentally into the world, and hath its life and motion and being by mere chance and fortune.“21 Abgekürzt liest sich die Widerlegung einer kontingenten Entstehung des Menschen folgendermaßen: ‚Autómaton‘ und ‚tyché‘, wie Bentley die beiden Konzepte der Kontingenz, ‚Zufall‘ und ‚Schicksalsfügung‘, auf ihre aristotelischen Definitionen bringt,22 sind Maßstäbe menschlichen Erkennens, Begriffe ‚ex post‘ also, die nur eine böswillige Kategorienverwechslung an den Ursprung des Menschengeschlechts schmuggeln kann: „It was man that first made fortune, and not fortune that produced man“ (III, 101). An dieser Stelle der Argumentationsführung tritt nun jene keineswegs zufällige Analogie auf den Plan, die dann nach ihrem Reimport ins philologische Wissen das Stigma des Dokumentarischen zu stabilisieren vermag. Bentleys Theorie der Schöpfung als – um es auf einen anachronistischen, aber sachgemäßen Begriff zu bringen – ‚intelligent design‘ setzt auf die begriffliche Spielmarke und den erläuternden Vergleich, von denen aus gute hundert Jahre später und anscheinend ganz theologiefern auch die (institutionelle) Karriere der modernen Philologien ihren Ausgang nehmen wird: Schöpfung als Autorschaft, Autorschaft als Schöpfung.23 „For let us consider the very bodies themselves. Here are confessedly all the marks and characters of design in their structure that can be required, though one suppose a divine Author had made them“ (III, 109, meine Hervorhebung). Wie begründungsbedürftig dieses Wechselspiel am Ausgang des 17. Jahrhunderts noch ist, belegt der Umstand, dass Bentley seinen Vergleich fürs Erste durch materiale Artefakte stützt, in die sich institutionalisierte Autorschaft auf besonders beweiskräftige Weise einzuprägen pflegt: Münzen und Monumente. Mit einer eleganten Serie von rhetorischen Fragen verführt er dann zum Analogieschluss, dass höchstens der schiere Schwachsinn die göttliche Autorschaft an der wohleingerichteten Komplexität lebender Organismen im Namen der Kontingenz bestreiten könnte, wenn doch selbst für minder komplexe Artefakte eine zufällige Koinzidenz natürlicher Ursachen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden darf: „And yet he must be a mere idiot, that cannot discern more strokes and characters of workmanship in the structure –––––––— 21 22 23

Bentley: A Confutation of Atheism from the Structure and Origin of Human Bodies. The third and last part (Works III,3, S. 96–118, hier S. 96). Vgl. Aristoteles: Physik II,4–5, hier nach der Übersetzung von Hans Günter Zekl in: Aristoteles: Philosophische Schriften. Bd. 6. Hamburg 1995, S. 34–41. Die Möglichkeitsbedingungen dieses Wechselspiels – und deshalb ist Pfeiffers Begriffskombination der ‚Philologia perennis‘ (s. Anm. 16) treffend und folgerichtig – wird man, allen Säkularisierungsversuchen zum Trotz, in jener philosophischen Tradition wiedererkennen, die Wilhelm Schmidt-Biggemann (Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a. M. 1998) eindrücklich rekonstruiert hat: Ihnen zugrunde liegt die Vorstellung einer „ontologische[n] und geschichtliche[n] Ursprünglichkeit des Geistes“ (ebd., S. 51), angesichts derer der „Individualisierungsprozeß“ nicht nur des Gattungswesens Mensch, sondern aller zeitgebundenen Wissensformen als „Verformungsprozeß“ (ebd., S. 648) verstanden werden muß: „Alle tradierten Gattungen und Wissensformen werden, weil sie überliefert sind, integriert und dem schöpfungstheologischen Konzept angepaßt“ (ebd., S. 650, meine Hervorhebung).

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of an animal (in an human body especially) than in the most elegant medal or edifice in the world“ (III, 110). Schriftlichkeit, Textualität und das Konzept des Werks selbst – und damit jene diskursiven Spielmarken, die den Reimport dieser Argumentation ins philologische Wissen ermöglichen werden – kommen in Bentleys großer Schöpfungsanalogie erst auf der nächsten Stufe seines Beweisgangs ins Spiel. Bentley will den Beweis dafür führen, dass auch der Schöpfungsakt selbst ein Akt planvoller Autorschaft ist und nicht etwa das Zufallsergebnis eines würfelnden Gottes. Wiederum beruft er zu diesem Zweck die Unwahrscheinlichkeit, die mit der Kontingenzthese einhergeht. Sogar die Vorstellung, dass eine hinreichend lange Serie von Kombinationen diskreter Schriftzeichen, „cast abroad at random“, ein Werk wie Vergils Aeneis oder die Annalen des Ennius hervorzubringen vermöchte (III, 111), entspräche noch nicht annähernd dem Kontingenzvertrauen, das man zur Behauptung einer zufälligen Schöpfung bräuchte.24 Denn diese Unwahrscheinlichkeit müsste sich wegen der Zweigeschlechtlichkeit der meisten lebenden Organismen für jede Art (mindestens) gleich zweimal ereignet haben und sich in der Geschlechtlichkeit ihrer Fortpflanzung endlos wiederholen – „this is not only [...] to believe a monkey may once scribble the Leviathan of Hobbes, but may do the same frequently by an habitual kind of chance“ (III, 112 f.). Die doppelte Austreibung des Zufalls, der doch – wie man weiß und beklagt – sein unerbittliches Regime über die Geschicke der Überlieferung führt, aus dem Schöpfungsgeschehen ermöglicht erst die Zäsur, die das Stigma des Dokumentarischen bei seinem philologischen Reimport hinreichend stabil erscheinen lässt.

5. Welches Gewicht die Autorschaftsanalogie für Bentleys Kanzelreden gegen den Atheismus gehabt haben mag, zeigt vielleicht der Umstand, dass sie als Resümee in der letzten Rede noch einmal bemüht wird. Fragt man eingehender danach, wie sie die Ambiguität des Dokumentarischen zu stabilisieren geholfen hat, sind dagegen vor allem die Konsequenz und eine Differenzierung aufschlussreich, die Bentley aus dem Vergleich zieht: Now, to pursue this comparison; as it is utterly impossible to be believed, that such a poem may have been eternal, transcribed from copy to copy without any first author and original; so it is equally incredible and impossible, that the fabric of human bodies, which hath such excellent and divine artifice, and, if I may so say, such good sense, and true syntax, and harmonious measures in its constitution, should be propagated and transcribed from father to son without a first parent and creator of it. An eternal usefulness of things, an eternal good sense, cannot possibly be conceived without an eternal wisdom and understanding. (III, 200)

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Der einschlägige Kommentar zu dieser Problemstellung ist bekanntlich nach wie vor Jorge Luis Borges: Die Bibliothek von Babel. In: Ders.: Fiktionen (Ficciones). Erzählungen 1939–1944. Übersetzt von Karl August Horst, Wolfgang Luchting und Gisbert Haefs. Frankfurt a. M. 1992 (Werke in 20 Bänden. Hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold. Bd. 5), S. 67–76.

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Philologie braucht Originale, Originale sind die Zeugnisse, angesichts derer man den Ruhm und das Lob ihres Schöpfers anstimmen darf. In den Boyle’s Lectures heißt dieser Schöpfer Gott – „an intelligent Being, which was the author and contriver of that usefulness“ (III, 200), „the almighty Author of all things“ (III, 118) –, in Bentleys Modell der Philologie ist es der Autor, dessen Schöpfungsplan der Kritiker zu wiederholen hat.25 Damit drohen, nicht weiter überraschend, auch Bentleys späte Pläne einer Edition des Neuen Testaments zu einem auch epistemologisch konfliktträchtigen Unternehmen zu geraten. Dass die „collegiale Genossenschaft“, wie es Friedrich August Wolf formuliert, dem Vorhaben in womöglich auch „frommer Absicht“ Steine in den Weg legt, erhält mit der nur zu gut begründeten Annahme, Bentley „würde mit dem heiligen Buche wie mit dem Horaz verfahren“, einige Plausibilität.26 Und die Kopisten, die Schreiber, die Produzenten dessen, was vor aller objektbezogener Ausdifferenzierung der Philologien als Dokument denkbar ist? Die menschlichen Akteure der Überlieferung werden in der Konstruktion von Bentleys Analogie auf die wahrlich minderen Ränge von (im besten Fall) Kontingenzbändigungs- oder (im schlimmsten) -stiftungsagenten verwiesen: Das kombinatorische Unwahrscheinlichkeitsargument, dem zufolge die Entstehung von Schriftstücken, so wie sie sind, nicht plausibel ohne die Mitwirkung intelligenter und souveräner Autoren zu erklären ist, verwandelt die Schreiber in eine Art von gedankenexperimentellem Gegenstück zu den kritzelnden Affen: „’Tis a mathematical demonstration, that these twenty-four [letters] do admit of so many changes in their order [...], that they could not all be exhausted, though a million million of writers should each write above a thousand alphabets a-day for the space of a million million of years“ (III, 113; meine Hervorhebung). Bentley nutzt die so gesetzte Differenz zwischen der Kontingenz der Dokumente und der Planmäßigkeit des Werks dazu, der philologischen Methode einen absoluten, weil kategorialen Rückgriff hinter all das zu verordnen, was Gegenstand des Dokumentierens werden kann. Das Stigma des Dokumentarischen verpflichtet Editoren seither zur Wiederholung des Werkschöpfungsakts und zum Lobpreis des Schöpfers.

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So auch Pfeiffer 1982 (Anm. 18), S. 183 f.: „Das Überraschende an dieser Beweisführung ist, daß für Bentley das natürliche Beispiel für die vollkommene Teleologie, als Ganzes und in seinen Teilen passend und vernunftgemäß, das große klassische Gedicht ist; die Analogie geht so weit, daß der menschliche Organismus sogar seine grammatischen und metrischen Qualitäten hat, wahre Syntax und harmonische Maße wie die Dichtung; und der Bau des menschlichen Leibes ist ihm eine ‚Transkription‘ vom Vater zum Sohn wie die Kopien eines Textes. In beiden Fällen muß dahinter ein ‚Autor‘ und ein ‚Original‘ stehen. Der für die klassische Philologie wichtige Punkt hinter Bentleys Argumentation ist der Glaube an die ursprüngliche Harmonie klassischer Dichtung, ihre Vernünftigkeit und ihre rechten Maße, die – wenn sie durch das Abschreiben von einer Kopie zur anderen verderbt sind – durch vernünftige Kritik wiederhergestellt werden müssen.“ Friedrich August Wolf: Richard Bentley. In: Litterarische Analekten, vorzüglich für alte Litteratur und Kunst, deren Geschichte und Methodik. Hrsg. von dems. Berlin 1816, S. 1–89, hier S. 45.

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6. Deshalb greift es, zumindest aus der Perpektive auf die epistemologische Begründung der modernen Philologie, zu kurz, wenn man die jeweilige Ausrichtung auf Überlieferung respektive Entstehung zum Differenzkriterium für die sogenannten ‚älteren‘ und ‚neueren Philologien‘ wählt; greift es selbstredend ebenso kurz, wenn man den ‚älteren Philologien‘ des 19. Jahrhunderts die anachronistische und sachunangemessene Übernahme von Dispositiven der ‚neueren‘ vorwirft: konkret Autorschaft und Werkbegriff.27 Denn die, wie mir scheint, entscheidende Übertragungsleistung in der Genealogie des modernen philologischen Wissens liegt in der eben skizzierten Engführung von theologischer und (im weitesten Sinne) literarischer Schöpfung, wie sie bei Bentley zu beobachten ist; und sie existiert damit ein gutes Jahrhundert, bevor die besagte Ausdifferenzierung überhaupt ihre Konturen annimmt. Als Derivate dieser Engführung treten dann die diversen Material- und Medienblindheiten in die Welt, mit denen wir uns – ob ‚ältere‘ oder ‚neuere Philologen‘, ob Editionspraktiker oder Literaturhistoriker – nach wie vor herumplagen. Es ist mir im Übrigen keineswegs darum zu tun, die skizzierte Übertragungsleistung monokausal an den Anfang der modernen Philologien zu setzen und alle ihre Entwicklungen bis, sagen wir, in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts auf das Wirken einer dunklen Eminenz namens Bentley zurückzuführen. Das wäre allein schon ein unangemessener Tribut ans Schöpfungsmodell, das diese Übertragung allererst stiftet. Nur: Ihr, soweit ich sehe, erstes programmatisches Auftreten und ihr deutlichstes Profil zugleich hat diese Engführung tatsächlich in den Schriften, die man unter dem Autornamen Bentleys zu versammeln pflegt. Dass sie nicht zu einer der unzähligen erratischen Singularitäten des frühneuzeitlichen philologischen Wissens geworden ist wie all die Datierungsversuche der Sintflut oder Jean Hardouins These, nahezu die gesamte antike Überlieferung sei das Produkt einer verbrecherischen Mönchsbande, hat sie jener vielschichtigen und durchsetzungsfähigen Konstellation zu verdanken, in die sie nur zu gut passt: dem Dispositiv der Autorschaft, das die systemische Ausdifferenzierung der Literatur entscheidend mitbegründet hat. Solange sich dieses Dispositiv selbst nicht vollends stabilisiert hat, bleibt die historisch apriorische Übertragungsbeziehung zwischen theologischer und philologischer Sorge um die Schöpfung, bleibt mithin auch deren Verwechselbarkeit ungleich sichtbarer, als es seine nachmalige Erfolgsgeschichte in den institutionalisierten Philologien des 19. Jahrhunderts erlaubt. Das zeigt der sicherlich konsequenteste Versuch des 18. Jahrhunderts, Textkritik im Zeichen jenes Stigmas des Dokumentarischen zu betreiben, wie es das Schöpfungsparadigma erzeugt: die Élémens de critique des Abbé Morel.28 In diesem Versuch trifft der Anspruch, Autor und Werk als Funktionen der Schöpfung zu behaupten, auf überlieferungsbezogene Kontingenzbewältigung in Form einer Systematisierung erwartbarer Schreiber- und Kopistendevianzen. Bevor –––––––— 27 28

Dies ist bekanntlich der Tenor von Bernard Cerquiglini: Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie. Paris 1989. Jean-Baptiste Morel: Élémens de critique, ou recherches des différentes causes de l’altération des Textes Latins, avec les moyens d’en rendre la lecture plus facile. Paris 1766.

Das Stigma des Dokumentarischen

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Morel im zweiten Teil seiner Abhandlung mit beeindruckender Einsicht in die Materiallogik des (Ab-)Schreibens die acht ‚sources d’altération‘ namhaft macht und damit die Regeln aufstellt, mit denen man den Spuk buchstabenwürfelnder Schreiber/Affen zumindest ‚ex post‘ vertreiben kann, gibt er der Philologenzunft einige allgemeine Beobachtungen mit auf den Weg. Dort findet man als Fluchtlinie all dieser materiallogischen Regulierungen des textkritischen Geschäfts die Devise: „le meilleur interprête d’un Auteur, c’est l’Auteur lui-même.“29 Was Morels Versuch indes kennzeichnet, ist nicht allein die Absicht, dem Autor trotz dieser Einsicht den philologischen Kritiker zu supponieren. Darüber hinaus verfolgt er durchgängig die Absicht, der Übertragung von Autorschaft und Schöpfung den „rapport“ von richtiger, also nicht nur gedanklich, sondern auch wörtlich vom Autor stammender Lesart und überlieferungsbedingter Entstellung zur Seite zu stellen – „texte primitif“ und „leçon défectueuse“ verbindet eine Logik der Ähnlichkeit, die zum Regulativ des textkritischen und erst recht des konjekturalen Eingriffs werden muss.30 Entdeckt man diesen ‚rapport‘, vermag man die von ihm angezeigten Entstellungen zu heilen. An diesem Punkt aber kann auch Morel dann alle materialen Verkörperungen unter sich lassen. Wenn er im Vorwort seiner Abhandlung die Früchte des textkritischen Geschäfts auflistet, dann ist eine davon in der Befreiung des Verkehrs zwischen Leser und Autor von den Mühseligkeiten der Buchstäblichkeit, ja des Lesens überhaupt zu finden: On remédie au chagrin qui accompagne nécessairement une lecture, au milieu de laquelle on est forcé de s’arrêter, pour tâcher de découvrir ce que l’Auteur a voulu dire. Il est en effet très-désagréable de ne pouvoir saisir le sens d’un Ecrivain, qu’on voit d’ailleurs n’avoir rien écrit que d’intéressant; & de se trouver dans le cas d’un homme, qui assistant à un discours de quelque habile Orateur, ne pourroit, soit par le défaut de ses oreil[l]es, soit par quelque autre cause, en entendre que quelques parties. Ce sentiment affecte à proportion du plaisir qu’on goûte à retrouver le sens d’un Auteur par la découverte d’une leçon primitive; & il est puisé dans la nature. Car il n’est personne qui ne voye combien il est beau, de pénétrer en quelque sorte dans l’ame des autres hommes, par la connoissance des expressions qui manifestent ce qui s’y passe, & de découvrir pour cela, soit la signification inconnue d’un terme, soit le terme même qui avoit été changé ou défiguré.31

Das ‚Nicht-bloß‘ der Editionswissenschaft schreibt sich von dieser Vorstellung eines Seelenverkehrs zum Schöpfer her. Wie immer man diese säkularisiert haben mag, hält das Stigma des Dokumentarischen eine – wie es scheint – schmerzhafte Erinnerung wach: dass allein die genossene oder zu ermöglichende Lust am Werk als Schöpfung es ist, die all die Mühen des philologischen Tagesgeschäfts verlohnen kann.

–––––––— 29 30 31

Morel 1766 (Anm. 28), S. 9. Morel 1766 (Anm. 28), S. 27. Morel 1766 (Anm. 28), S. xi–xii (meine Hervorhebung). – Vor allem in der Argumentation und den Beispielen des Vorworts kann man bei Morel die Korrelierung von ‚philologia‘ und ‚philosophia perennis‘ in aller wünschenswerten Deutlichkeit beobachten (vgl. oben Anm. 23).

II. Skriptografische Materialität: Entwurfshandschriften

Almuth Grésillon

Erfahrungen mit Textgenese, ‚critique génétique‘ und Interpretation

Im Jahr 1969 erschienen bei Skira in Genf die ersten Bände der von Gaëtan Picon gegründeten und bis zu seinem Tod (1976) geleiteten Reihe Les sentiers de la création. Die Idee dieser Reihe war es, Texte von Schriftstellern und bildenden Künstlern zu veröffentlichen, die sich zu ihrem Schaffensprozess äußern. Innerhalb von acht Jahren erschienen 26 Bände, darunter von Aragon, Butor, Barthes, Claude Simon, Francis Ponge, René Char, André Masson. Wenn ich mit dieser Bemerkung beginne, will ich damit nur sagen, dass die Dichter uns, den Kritikern und Literaturwissenschaftlern, immer in allem voraus sind. So auch hinsichtlich der Rekonstruktion der Genese ihrer Werke. Ich wage schon fast nicht mehr den allzu oft bemühten, aus dem Jahr 1805 stammenden Artikel von Kleist Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden zu erwähnen und genau so wenig den immer wieder zitierten – und zu Recht kritisierten – Essay von Edgar Allan Poe aus dem Jahr 1846 The Philosophy of Composition – von Baudelaire interessanterweise unter dem Titel La genèse d’un poème ins Französische übersetzt –, in dem Poe auf seine Weise über die Entstehung seines Gedichts The Raven berichtet. Maïakowski veröffentlicht 1926 einen poetologischen Text Wie macht man Verse? Enzensberger bringt 1962 seinen Beitrag Zur Entstehung eines Gedichts. Paul Valéry hält im Jahr 1937 seine Poetikvorlesung am Collège de France. Die Serie ließe sich problemlos fortsetzen und ergänzen und wäre im Übrigen eine interessante Anthologie wert. Im Gründungsjahr der Reihe Les sentiers de la création wurde in Paris im Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) eine Heinrich-Heine-Forschungsgruppe gegründet, die den Grundstein legen sollte zu der sogenannten ‚critique génétique‘.1

1.

Zur Geschichte der ‚critique génétique‘

Zunächst ein Wort über Konjunkturen in der französischen Literaturwissenschaft der 1960er Jahre. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierte dort, zumindest in der Beschäftigung mit moderner Literatur, der Trend, den man mit ‚l’homme et l’œuvre‘ gekennzeichnet hat, also eine weitgehend biographisch ausgerichtete Ge–––––––— 1

Vgl. Louis Hay: Über die Entstehung von Texten und Theorien. Deutsch-französische Randglossen zu einem Forschungsgebiet. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 17, 1987, H. 86, S. 9– 20.

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Almuth Grésillon

schichte der Werke, wie sie vor allem Gustave Lanson (1857–1934) betrieben hat.2 Mitte der 1960er Jahre trat dann die ‚Nouvelle critique‘ mit Roland Barthes ihren Siegeszug an. Der ‚Tod des Autors‘ sowie der ‚Text als geschlossene Struktur‘ beherrschten von nun an die Szene der modernen Literaturwissenschaft. Großgeschrieben sind in der Folgezeit Literaturtheorie (Barthes, Foucault, Derrida, Deleuze, Guattari etc.) und die dem linguistischen Strukturalismus verpflichteten Textanalysen. Genau in diesen Kontext hinein fiel ein Ereignis ganz anderer Art: Im Jahr 1966 konnte die Bibliothèque nationale in Paris, angeregt von Louis Hay (damals Germanist an der Sorbonne), einen großen Teil von Heinrich Heines Nachlass erwerben, der zuvor dem Sammler und Verleger Salman Schocken gehört hatte. Daraufhin wurde, wie oben erwähnt, im Einvernehmen mit der Bibliothèque nationale 1968 im Rahmen des französischen Forschungszentrums (CNRS) eine Heine-Gruppe3 gegründet, die den Auftrag hatte, diese Handschriften zu erschließen. Fern aller Theorie, lernten wir unser Handwerk, nämlich den Umgang mit Handschriften, und dabei hat die deutsche Editionsphilologie gewiss heimlich Pate gestanden, waren wir doch alle entweder deutsche oder französische Germanisten oder deutsche Romanisten, bei deren Werdegang der Umgang wenn nicht mit Handschriften, so doch mit kritischen Apparaten mehr oder weniger zur Ausbildung gehört hatte. Im Laufe der 1970er Jahre schlossen sich der Heine-Gruppe weitere Gruppen (zu Proust, Zola, Flaubert, Valéry, Joyce, Sartre) mit ähnlichen Interessen an. Diese Ausweitung bewegte den Schriftsteller Louis Aragon 1976 dazu, seine sämtlichen Handschriften sowie die seiner Frau, Elsa Triolet, dem CNRS zu vermachen. Ich zitiere eine Passage aus der Rede, die Aragon 1977 bei der feierlichen Übergabe hielt: Il s’agissait de donner à ceux qui veulent plus directement connaître et comprendre ce qui s’est écrit dans ce siècle […] la possibilité non seulement d’examiner mes livres, mais à proprement parler mon écriture. Pour cela, ne fallait-il pas mettre à la portée de ceux que l’on appelle les chercheurs non seulement l’écrit figé par la publication, mais le texte en devenir, saisi pendant le temps de l’écriture, avec ses ratures comme ses repentirs […]?4

Dieser Akt schließt sich mit fast einem Jahrhundert Abstand an Victor Hugos Testament aus dem Jahr 1881 an, in dem der zum Nationaldichter erhobene Schriftsteller fast prophetisch folgenden Satz schrieb:

–––––––— 2

3 4

Nicht uninteressant ist die Tatsache, dass Lanson neben seinen literaturgeschichtlichen Arbeiten auch für eine objektive Quellenkritik eintrat und 1930 sogar einen Beitrag zu einer literarischen Handschrift eines Romans aus dem 18. Jahrhundert veröffentlichte, der allerdings in generellen Werturteilen über den schlechten Stil des Autors stecken blieb und, wohlgemerkt, nichts mit der heutigen ‚critique génétique‘ zu tun hat; vgl. Gustave Lanson: Un manuscrit de Paul et Virginie. Etude sur l’invention de Bernard de Saint-Pierre. In: Ders.: Etudes d’histoire littéraire réunies et publiées par ses collègues, ses élèves et ses amis. Paris 1930, S. 224–258. Vgl. hierzu Jean-Louis Lebrave: La critique génétique: une nouvelle discipline ou un avatar moderne de la philologie? In: Genesis 1, 1992, S. 33–72; hier S. 52 f. Dazu gehörten u. a. Louis Hay, Bernhild Boie, Jean-Pierre Lefèbvre, Marianne Bockelkamp und etwas später Almuth Grésillon sowie Jean-Louis Lebrave. Louis Aragon: D’un grand art nouveau: la recherche. In: Essais de critique génétique. Hrsg. von Louis Hay. Paris 1979, S. 5–19, hier S. 9.

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Ich überlasse alle meine Handschriften sowie alles, was sich von mir an Geschriebenem oder Gezeichnetem findet, der Pariser Nationalbibliothek, die eines Tages die Bibliothek der Vereinigten Staaten Europas sein wird.5

Institutionell folgte der Schenkung Aragons 1982 die Gründung des ‚Institut des Textes et Manuscrits modernes‘ (ITEM). Wie man sieht, hat die Entstehungsgeschichte der ‚critique génétique‘ sehr wenig mit der damals in Frankreich dominierenden Literaturtheorie zu tun. Sie ist, so hat es Louis Hay formuliert, „ein Kind des Zufalls und der Empirie“.6

2.

Zur Methode der ‚critique génétique‘

Die wissenschaftliche Methode, die an den Heine-Handschriften erprobt wurde, wird seit 1979 als ‚critique génétique‘ bezeichnet. So steht es jedenfalls im Titel des von Louis Hay herausgegebenen Sammelbandes Essais de critique génétique aus jenem Jahr. Ob die Wahl eine glückliche war, mag heute, im Licht der Molekularbiologie, aber auch in Bezug auf die biblische Genesis, dahingestellt bleiben. Das Kind musste einen Namen haben, und den später zu ändern ist schwierig. Die Methode zeigt Wege auf, wie anhand überlieferter Schreibspuren der schriftliche Entstehungsprozess literarischer Werke rekonstruiert werden kann. Mit dieser Bezeichnung ‚critique génétique‘ sind zwei Aussagen gemacht: Erstens weist das Wort ‚critique‘ darauf hin, dass wir uns der Literaturkritik (im Sinne von Literaturwissenschaft) und nicht einem nur deskriptiven Umgang mit Handschriften verschreiben. Zweitens, und darauf muss ich kurz näher eingehen, war unser Ziel nicht, zumindest nicht primär, auf kritische Ausgaben ausgerichtet. Dieser zweite Punkt stieß im deutsch-französischen Dialog immer wieder auf Verwunderung, wenn nicht gar auf Widerstand. Mein verehrter akademischer Lehrer Walter Müller-Seidel fragte mich diesbezüglich eines Tages: „Ja wenn Ihr nicht ediert, was macht Ihr dann eigentlich mit den Handschriften?“ Wenn wir uns von Anfang an nicht der Edition verschreiben wollten, dann geht dies auf zwei sehr verschiedene Gründe zurück. Frankreich hat auf dem Gebiet moderner Literatur keinerlei editionsphilologische Tradition.7 Im ausgehenden 19. Jahrhundert, als in Deutschland die großen historisch-kritischen Editionen einsetzten, war in Frankreich, vor allem nach dem 1870er-Krieg, Philologie als ‚science allemande‘ verschrien. Gaston Paris geriet in Vergessenheit, Gustave Lanson leitete das neue 20. Jahrhundert ein. In Frankreich dominieren die 1937 gegründeten PléiadeBände, die jedoch nicht den Anspruch auf kritische Ausgaben erheben. Die ‚critique génétique‘ wurde zwar bisweilen als moderner Aufguss der Philologie bezeichnet. Ich glaube jedoch eher, dass die ‚critique génétique‘ eben deshalb in Frankreich entstehen konnte, weil es dort, von der Mediävistik abgesehen, in den 1960er Jahren keine phi–––––––— 5

6 7

Victor Hugo: „Je donne tous mes manuscrits, et tout ce qui sera trouvé écrit ou dessiné par moi, à la bibliothèque nationale de Paris, qui sera un jour la Bibliothèque des Etats-Unis d’Europe“ (Testament vom 31. 8. 1881). Vgl. Hay 1987 (Anm. 1), S. 17. Eine Ausnahme bildet die schon über 130 Bände zählende Voltaire-Ausgabe, aber sie wird in Oxford von der Voltaire-Foundation herausgegeben.

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lologische Tradition gab. So erschien sie als etwas Neues, obwohl sie, wie gesagt, ohne den Hintergrund der deutschen Editionsphilologie nicht zu denken ist. Der zweite Grund, weshalb wir keine Editionsprojekte in Erwägung zogen, hängt mit dem Medium Papier zusammen. Da es uns von Anfang an darum ging, den Verschriftungsprozess in seiner Dynamik zu verstehen, schien es uns unmöglich, die Prozesshaftigkeit der Handschriften in die Zweidimensionalität des Mediums Papier hineinzuzwängen, denn dieses Medium schließt die dritte Dimension, die der Zeit, aus – es sei denn, man überhäuft die Druckseite mit einem Wust diakritischer Zeichen, wie dies fast zwangsläufig gerade bei den perfektesten kritischen Ausgaben leicht passiert. Aber auch diese, solange sie die Handschriften nicht als Faksimile mitliefern, werden nie den semiotischen Reichtum einer Handschrift erahnen lassen und noch weniger den Schaffensprozess interpretieren helfen. Erst mit dem neuen Medium Computer sollte sich unsere Position ändern. Und dazu will ich hier gleich kurz Stellung nehmen. Der Computer mit seinen immensen Speichermöglichkeiten erlaubt es, endlich alle zu einem bestimmten Schaffensprozess überlieferten Dokumente mitsamt deren diplomatischer Transkription vollständig darzustellen und sie in einem Hypertext-Netzwerk so zu verknüpfen, dass der Schreibprozess mühelos sichtbar gemacht werden kann und nicht mehr, wie in kritischen Apparaten herkömmlicher Art, aus vielen diakritischen Zeichen mühsam rekonstruiert werden muss. Mit dieser neuen Art des Edierens ist endlich die Prozesshaftigkeit der Genese darstellbar geworden. Die dritte Dimension kann kinetisch an den aufeinander folgenden Dokumenten abgelesen werden. Mehr noch, die bisher bestehende Differenz zwischen Editionsphilologen und Textgenetikern wird sich im Kontext solcher Editionen vermindern oder sogar auflösen, denn nicht nur werden sich alle Spezialisten zusammentun müssen, um das Netzwerk herzustellen, sondern jeder, ob Editionsphilologe oder Textgenetiker, wird dann mit den im Netzwerk enthaltenen Daten das tun können, was ihm gefällt, edieren oder interpretieren. Aber jetzt zurück zu der schon gestellten Frage: Was machen die Textgenetiker eigentlich? Ihr Ziel ist, wie erwähnt, nicht der zu etablierende Text, sondern der von uns so genannte ‚avant-texte‘, d. h. alle zu einem Werk erhaltenen Schriftträger, in möglichst exakter chronologischer Reihenfolge angeordnet, von Exzerpten, Stichwortlisten, Entwürfen, Arbeitshandschriften, Reinschriften, Druckvorlagen bis hin zu korrigierten Druckfahnen und vom Autor überarbeiteten Erstausgaben. Natürlich ist die Überlieferung von Fall zu Fall verschieden, mehr oder weniger leicht zugänglich, mehr oder weniger vollständig. Aber selbst in Fällen, von denen wir ziemlich sicher behaupten können, dass das genetische Material komplett ist, kann erstens nicht ausgeschlossen werden, dass bei einer Auktion plötzlich ein zusätzliches Dokument auftaucht, und zweitens ist klar, dass alle schriftlichen Spuren zusammengenommen dennoch nie den Entstehungsprozess vollständig widerspiegeln können, einfach weil Vieles von dem, was sich im Gehirn abspielt, nicht verschriftlicht wird. Besonders die Frage des Anfangs ist und bleibt in den meisten Fällen ein Geheimnis. Aber auch zwischen den Etappen und selbst innerhalb eines einzigen Blattes ist man oft auf indirekte Rückschlüsse oder überbrückende Hypothesen angewiesen. Dies bezeugt

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deutlich ein Zitat von Michel Butor, das auf die Realität nicht dokumentierter kognitiver Prozesse hinweist: Wenn ich mich nun an die Ausarbeitung dieser alten Pläne mache, so beruht die erste Zeile, die ich schreibe, schon auf zehn oder fünfzehn Jahren mentaler Entwürfe oder mentaler Streichungen.8

Das genetische Material umfasst Handschriftliches, Maschinenschriftliches, Gedrucktes und neuerdings natürlich auch Computerauszüge oder Computerdateien.9 Handschriftliche Entwürfe sind häufig graphisch-visuell äußerst komplexe Gebilde, denen keine noch so gute Transkription und auch kein Schreibprozessmodell (wie zum Beispiel das der kognitiven Psychologie verpflichtete Modell von Hayes-Flower)10 Rechnung zu tragen weiß. Wenn nun der schriftliche ‚avant-texte‘ – auch ‚dossier génétique‘ genannt – erstellt ist, werden die handschriftlichen Blätter entziffert und in vollständiger diplomatischer Transkription wiedergegeben. Während ich noch beim Entziffern und Transkribieren bin, beginne ich – bewusst oder unbewusst – den materiellen Befund der Handschrift schon teilweise zu deuten. So lassen manchmal Änderungen im Schriftzug, der offensichtliche Wechsel des Schreibinstruments wie auch zwischen den Zeilen oder am Rand erscheinende Varianten oder metasprachliche Verweise auf eine Unterbrechung des Schreibaktes schließen. Jede materiell, visuell und graphisch von der Linearität der Schrift abweichende Spur kann zum Indiz für Unterbrechungen, Störungen oder Umorientierungen des Schreibprozesses werden. Alles, was ich bis jetzt erwähnte, hat gewiss viel mit philologischer Methode zu tun. Aber philologisches Wissen ist für uns Mittel zum Zweck, und der Zweck liegt für die ‚critique génétique‘ nicht in der Edition von Texten, sondern in der kritischen Beschäftigung mit der Textgenese. Dies will ich nun an einem Beispiel skizzieren, an welchem auch deutlich werden soll, dass textgenetische Studien durchaus als neue Wege literaturwissenschaftlicher Interpretation zu verstehen sind.

3.

Zur Genese von Heines Gedicht Lebensfahrt

Dazu habe ich ein Beispiel aus Heines Handschriften gewählt. Wie viele große Schriftsteller – man denke nur an die Testamente von Mallarmé und Kafka, die der Familie oder dem Freund nahelegten, alles handschriftliche Material zu verbrennen – –––––––— 8

9

10

„Lorsque je me mets maintenant à aborder l’exécution de ces projets anciens, la première ligne que j’écris est une ligne qui repose déjà sur dix ou quinze ans de brouillons mentaux, de ratures mentales“ (Georges Charbonnier: Entretiens avec Michel Butor. Paris 1967, S. 130). Das Schreiben mit dem Computer wirft nicht nur für Literaturarchive, sondern auch für textgenetische Forschungen ganz neue Fragen auf, auf die ich indessen hier nicht eingehen kann; äußerst erhellend dazu ist Thorsten Ries: „die geräte klüger als ihre besitzer“: Philologische Durchblicke hinter die Schreibszene des Graphical User Interface. Überlegungen zur digitalen Quellenphilologie, mit einer textgenetischen Studie zu Michael Speiers ausfahrt st. nazaire. In: editio 24, 2010, S. 149–199. J.-R. Hayes, L. Flower: Identifying the Organization of Writing Processes. In: Cognitive Processes in Writing. Hrsg. von L. W. Gregg und E. R. Steinberg. Hillsdale 1980, S. 3–30.

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hat sich auch Heine gegen den indiskreten Blick in die Werkstatt verwahrt. So liest man in den Memoiren Folgendes: Es ist eine unmoralische und unsittliche Handlung, auch nur eine Zeile von einem Schriftsteller zu veröffentlichen, die er nicht selber für das große Publikum bestimmt hat. Dieses gilt ganz besonders von Briefen, die an Privatpersonen gerichtet sind. Wer sie drucken läßt oder verlegt, macht sich einer Felonie schuldig, die Verachtung verdient.11

Inzwischen wissen wir, wie zweideutig solche Äußerungen sind. So will ich denn getrost ‚unmoralisch‘ sein und am Beispiel von Heines Gedicht Lebensfahrt darstellen, inwiefern ein Blick auf Dichterhandschriften nicht nur über die Entstehungsgeschichte informiert, sondern auch zum Verständnis des Werkes beiträgt. Aber zunächst der Text der Druckfassung: Lebensfahrt Ein Lachen und Singen! Es blitzen und gaukeln Die Sonnenlichter. Die Wellen schaukeln Den lustigen Kahn. Ich saß darin Mit lieben Freunden und leichtem Sinn. Der Kahn zerbrach in eitel Trümmer, Die Freunde waren schlechte Schwimmer, Sie gingen unter im Vaterland; Mich warf der Sturm an den Seinestrand. Ich hab’ ein neues Schiff bestiegen, Mit neuen Genossen; es wogen und wiegen Die fremden Fluthen mich hin und her – Wie fern die Heimath! mein Herz wie schwer! Und das ist wieder ein Singen und Lachen – Es pfeift der Wind, die Planken krachen – Am Himmel erlischt der letzte Stern – Wie schwer mein Herz! die Heimath wie fern!12

1843 entstanden, gehört Lebensfahrt zum Zyklus der Zeitgedichte. Was die Überlieferung13 betrifft, wissen wir von einer ersten dreistrophigen Handschrift, die in einer Druck-Umschrift am Sonntag, den 16. Juli 1933 – und nicht „Juni“, wie es irrtümlicherweise in der Düsseldorfer Ausgabe heißt – von einem Herrn „H. R. Liepmann“ (deshalb in der Düsseldorfer Ausgabe als HLie bezeichnet) in der Literarischen Beilage der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) mitgeteilt und abgedruckt wurde, allerdings ohne jegliche Varianten, die man bei Heines Arbeitshandschriften ziemlich sicher annehmen darf. Liepmann berichtet, er sei durch Erbschaft in Besitz dieser Hand–––––––— 11 12

13

Heinrich Heine: Sämtliche Werke. Hrsg. von Ernst Elster. Bd. 7. Leipzig 1890, S. 459. Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. von Manfred Windfuhr im Auftrag der Landeshauptstadt Düsseldorf. Bd. 2: Neue Gedichte. Bearb. von Elisabeth Genton. Hamburg 1983, S. 117. Vgl. Düsseldorfer Heine-Ausgabe, Bd. 2 (Anm. 12), S. 720 f. Hier wird die Entstehung auf April/Mai 1843 datiert.

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schrift gekommen und wolle sie „erstmalig unter Beifügung einer auf der Handpresse photolithographisch nach dem Original hergestellten Reproduktion (bei W.F. Becker, Marburg a. d. Lahn) veröffentliche[n]“. Zu diesem Faksimile-Druck ist es allerdings nie gekommen; im Jahr der Bücherverbrennung war in Deutschland für Heine kein Platz mehr. Die Handschrift selbst muss heute für verschollen gelten.14 Hier also der Wortlaut der drei Strophen dieser verlorenen Entwurfshandschrift, wie sie im Abdruck in der NZZ am 16. Juli 1933 veröffentlicht wurden: Wie’n Traum in meinem Gedächtnis gaukelt Ein leichter Kahn. Er tanzt und schaukelt Auf heit’rem Gewässer. Ich saß darin Mit lieben Freunden und leichtem Sinn. Der Kahn, er brach wohl längst in Trümmer Die Freunde waren schlechte Schwimmer, Sie gingen zu Grunde und starben hin Seit ich im schönen Frankreich bin. Ich hab’ ein neues Schiff bestiegen Mit neuen Genossen. Es wogen und wiegen Die fremden Fluten mich her und hin – Die Heimat wie fern! Wie schwer mein Sinn!

Weiterhin findet sich im Düsseldorfer Heine-Institut in der Sammlung Strauß unter der Nummer 205 eine Arbeitshandschrift (H1) zu diesem Gedicht, das hier nicht mehr drei, sondern schon vier Strophen aufweist (s. Abb. 1 und 2, Arbeitshandschrift H1 und Transkription). Schließlich existieren mehrere Reinschriften, in denen zum ersten Mal der Titel des Gedichts auftritt: eine in Kopenhagen (H2), eine in Düsseldorf (H3, s. Abb. 3, Düsseldorfer Reinschrift)15 und schließlich eine weitere Reinschrift (H4) in der Pariser Bibliothèque Nationale. Meine genetischen Ausführungen werde ich in zwei Schritten präsentieren: zunächst kommentiere ich den Übergang vom Entwurf HLie zur Arbeitshandschrift H1 und dann die Änderungen und Erweiterungen innerhalb der Arbeitshandschrift H1.

–––––––— 14 15

Vgl. Almuth Grésillon: Wege und Irrwege. Zu Heines Gedicht „Lebensfahrt“. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 17, 1987, H. 68, S. 84–103, hier S. 85 f. Der Text der Reinschrift H3 steht auf dem vorderen Deckblatt eines Doppelblatts, zusammen mit Denk ich an Deutschland in der Nacht und Schlage die Trommel und fürchte Dich nicht, mit denen Lebensfahrt im August 1843 in der Zeitung für die Elegante Welt erscheinen sollte, bevor es 1844 dann als Nr. 10 der Zeitgedichte in Heines Band der Neuen Gedichte erschien.

.. ..

Abb. 1 und 2: Heinrich Heine, Lebensfahrt; Faksimile und diplomatische Umschrift der Arbeitshandschrift H1 (Düsseldorf, Heine-Institut); in Abb. 2 kennzeichnet ‚fett‘ die erste Schreibschicht.

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Abb. 3: Heinrich Heine, Lebensfahrt; Reinschrift H3 (Düsseldorf).

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Der Nachen zerbrach in eitel Trümmer Die Freunde waren schlechte Schimmer, [sic] Sie gingen unter im Vaterland ; Mich warfen die Flut an den Seinestrand. Ich hab ein neues Schiff bestiegen Mit neuen Genossen ; es wogen u wiegen Die fremden Wellen mich hin u her – Die Heimath wie fern die Heimath ! mein Herz wie schwer !

Der Kahn, er brach wohl längst in Trümmer Die Freunde waren schlechte Schwimmer, Sie gingen zu Grunde und starben hin Seit ich im schönen Frankreich bin.

Ich hab’ ein neues Schiff bestiegen Mit neuen Genossen. Es wogen und wiegen Die fremden Fluten mich her und hin – Die Heimat wie fern ! Wie schwer mein Sinn !

Abb. 4: Heinrich Heine, Lebensfahrt; Gegenüberstellung der Umschriften von HLie (links die von Liepmann 1933 angezeigte, heute verlorene frühe Handschrift) und (rechts) der ersten Schicht von H1.

Ein Lachen u Singen, ein Singen u Lachen ! Auf sonnigem Wasser gaukelt der Nachen Jugendlich blühend, mit leichtem Sinn Und lieben Freunden saß ich drin.

Wie’n Traum in meinem Gedächtnis gaukelt Ein leichter Kahn. Er tanzt und schaukelt Auf heit’rem Gewässer. Ich saß darin Mit lieben Freunden und leichtem Sinn.

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3.1

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Vom Torso der ältesten Handschrift zur ersten Schicht von H1

Die einzige noch zugängliche Form von HLie lässt zumindest einen Schluss zu. Die Form des Gedichts ist auch hier schon gefunden: vierhebige Vierzeiler, weiblich und männlich alternierende Paarreime. Ebenso verhält es sich mit der Thematik. Dies bestätigt eine allbekannte Eigenheit in Heines Arbeitsweise: Er gehört zu den Kopfarbeitern, die erst zur Feder greifen, wenn das Konzept schon sehr weit fortgeschritten ist. Zur handschriftlich wichtigsten Quelle, H1, lassen sich vorweg zwei visuelle Beobachtungen machen: der übergroße Zeilenabstand zwischen der dritten und der vierten Strophe sowie der Unterschied im Duktus der Schrift ab der vierten Strophe. Diese zwei materiellen Indizien werden den Ausschlag geben für folgende Hypothese zum Schreibprozess des Gedichts: Wenn die verlorene Handschrift mit ihren drei Strophen tatsächlich den ältesten Entwurf darstellt, dann ist anzunehmen, dass Heine in H1 zunächst wiederum drei neue Strophen schrieb und dann in einer zweiten Schreibphase Erweiterungen und Änderungen vornahm, die schließlich zum Wortlaut führten, der in den Reinschriften vorliegt. Wenn wir nun HLie mit der ersten Schicht von H1 vergleichen (s. Abb. 4), so lässt sich Folgendes feststellen. Zunächst sieht alles sehr ähnlich aus: In beiden Fällen handelt es sich um drei Strophen, in denen derselbe Sachverhalt vorliegt: eine gesellige Kahnfahrt mit „lieben Freunden“ in der ersten Strophe, die sich mühelos als Erinnerung an Heines Jugendjahre in Deutschland ausweisen lässt; die zweite Strophe spricht vom tragischen Ende dieser sorglosen Zeit und der Übersiedlung nach Paris; die dritte Strophe ist gezeichnet von der Spannung zwischen dem „neuen Schiff“ mit „neuen Genossen“ einerseits und der Erfahrung der Heimatlosigkeit andererseits. Auch die lyrische Form bleibt dieselbe: vierhebige Verse mit jeweils zwei weiblichen und zwei männlichen Paarreimen. Im lexikalischen Bereich lassen sich einige Wortersetzungen feststellen („Kahn“ → „Nachen“; „heitres Gewässer“ → „sonniges Wasser“; „Fluten“ → „Wellen“; „Sinn“ → „Herz“), die jedoch, für sich genommen, kaum Bedeutungsverschiebungen nach sich ziehen. Und doch hat sich Wesentliches geändert. Die sechs männlichen Reimwörter, die im Entwurf ziemlich monoton und bedeutungsarm sind („darin“, „Sinn“, „hin“, „bin“, „hin“, „Sinn“), gewinnen in der ersten Schreibschicht von H1 an Bedeutung („Sinn“, „drin“, „Vaterland“, „Seinestrand“, „her“, „schwer“). Ebenso weist der vierte Vers der dritten Strophe eine Sofortkorrektur auf („Die Heimath wie fern“ → „wie fern die Heimath“), die jedoch erst im Kontext weiterer Chiasmen zum Tragen kommt. Weiterhin wird der erste Vers des Gedichts neu konzipiert: Das romantische Traummotiv wird aufgegeben zugunsten eines spielerischen Chiasmus („Ein Lachen und Singen, ein Singen und Lachen!“), und diesem gaukelnden, beschwingten ersten Vers antwortet am Ende der dritten Strophe „das schwere Herz“. Die wichtigsten Änderungen vollziehen sich indessen in der zweiten Hälfte der zweiten Strophe mit der Nennung des Ortes der früheren Kahnfahrt: Es war „im Vaterland“. Darauf folgt dann im nächsten Vers die schwerwiegende Änderung: „Seit ich im schönen Frankreich bin“ wird umgeschrieben zu „Mich warf die Flut an den Seinestrand“. Im Entwurf steht

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eine zeitlich eingebundene Tatsache („seit ich [...] bin“), während in H1 das Ich ein erleidendes, geworfenes, ‚gestrandetes‘ Subjekt ist. Enthält der erste Wurf noch etwas vom Glücksgefühl in ‚la douce France‘, so geht die berichtende, temporale Haltung („seit ich im schönen Frankreich bin“) in der Arbeitshandschrift über in ein passives Ausgesetztsein („Mich warf die Flut an den Seinestrand“), das schon die Schiffsbruch-Metapher ankündigt. Schon hier geht die Handschrift H1 wesentlich weiter als die frühere Fassung HLie: Der „Seinestrand“ wird zur bedrohlichen Fremdheit und tritt in offene Opposition zum „heitren Gewässer“ der früheren Kahnfahrt. An die Stelle des in HLie noch einmal versuchten, im Traum verankerten romantischen Liedes tritt in der Handschrift H1 ein antithetisch aufgebautes, hochdramatisches Gedicht, eben ein Zeitgedicht. 3.2

Von der ersten zur zweiten Schicht von H1

Vermutlich nach einer Schreibpause (vgl. den großen Zeilenabstand sowie den etwas anderen Duktus) fügt Heine auf H1 (s. Abb. 1 und 2) eine vierte Strophe hinzu, die nun tatsächlich zum Schiffbruch führt („Es pfeift der Wind, die Planken krachen / Am Himmel erlischt der letzte Stern“). Der letzte Vers der dritten Strophe („Wie fern die Heimath! mein Herz wie schwer!“) wird nun im letzten Vers der vierten Strophe in einem kunstvollen Chiasmus spiegelbildlich wiederholt („Wie schwer mein Herz! die Heimath wie fern!“). Der erste Vers der vierten Strophe („Und das ist wieder ein Singen u Lachen“) wiederholt seinerseits echohaft den ersten Vers der ersten Strophe. Aber diesem „Singen und Lachen“ folgt hier in der 4. Strophe sofort ein drohendes Moment: „Doch hör ich mitunter die Planken krachen“; dieser Vers wiederum wird umgeschrieben in die parataktische, objektivierende Feststellung: „Es pfeift der Wind, die Planken krachen / Am Himmel erlischt der letzte Stern.“16 Und dieser erlöschende „letzte Stern“ bildet die Antithese zum „sonnigen Wasser“ des Gedichtanfangs, genauso wie weitere Gegensatzpaare permanent die Bipolarität unterstreichen: „leichter Sinn“/„schweres Herz“; „Nachen“/„Schiff“; „Freunde“/„Genossen“; „Vaterland“/ „Seinestrand“. Auch hinsichtlich der Interpunktion am Versende bringt die vierte Strophe die dramatische Zuspitzung buchstäblich auf den Punkt: Drei Verse enden mit einem Gedankenstrich, der letzte mit einem Ausrufezeichen.17 Dann kommt, schwer zu sagen wann, eine letzte bedeutende Änderung: Heine streicht plötzlich die ganze erste Strophe durch und schreibt sie unten auf dem Blatt neu. Für die alte wie die neue erste Strophe macht am linken Strophenrand ein senkrechter Strich, vor dem die Nummer „1“ platziert ist, kenntlich, was hier passiert. Dem neuen ersten Vers mit seinem „Lachen und Singen“ antwortet jetzt spiegelbildlich das „Singen und Lachen“ am Anfang der vierten Strophe. Der ursprüngliche „Kahn“, der anfangs in der Arbeitshandschrift H1 zum „Nachen“ geworden war, wird jetzt, in der neuen 1. Strophe, endgültig wieder zum „Kahn“. Die heitere, schwerelos –––––––— 16 17

Auch in diesem Vers liegt wieder eine Sofortkorrektur vor: „Es lischt am Himmel“ → „Am Himmel erlischt“. Diese Interpunktion ist schon die endgültige Form, die in die Reinschriften und in den Druck übernommen wird.

Erfahrungen mit Textgenese, ‚critique génétique‘ und Interpretation

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dahinschaukelnde Stimmung der Kahnfahrt wird durch die beiden Enjambements in den Versen 1 und 2 rhythmisch untermalt („Es blitzen u gaukeln / die Sonnenlichter. Die Wellen schaukeln / den lustigen Kahn“). Der „leichte Sinn“ am Ende der neuen ersten Strophe bildet das Pendant zu „mein Herz wie schwer“ am Ende der 3. Strophe. Diese neue erste Strophe zieht letzte Änderungen in Strophe 2 und 3 nach sich, wodurch sich die antithetische Struktur des Gedichts noch verschärft. Der „Kahn“ der neuen ersten Strophe führt dieses Wort konsequenterweise nun auch in der 2. Strophe ein, wo es wiederum „Nachen“ ersetzt. Aus klanglich-rhythmischen Gründen wird die Ersetzung von „zerbrach“ durch „zerschellte“ rückgängig gemacht: „Der Kahn zerbrach in eitel Trümmer“. Zweitens zwingt der Gebrauch von „Wellen“ in der neuen 1. Strophe dazu, dass dieses Wort in der ganz anders gewichteten 3. Strophe ersetzt wird; daher dort die Ersetzung von „Wellen“ durch „Fluten“. Aber „Flut“ kommt schon in der 2. Strophe vor, wo es folglich von dem sehr passenden Wort „Sturm“ ersetzt wird. Diese letzten Änderungen – alles sogenannte ‚gebundene Varianten‘18 – bringen nichts durchaus Neues, aber unterstreichen die progressiv im Schreibprozess auf- und ausgebaute Dialektik zwischen anakreontisch-biedermeierlichen Kahnfahrten unter geselligen Freunden in Deutschland und den hoffnungslos, fern der Heimat in politischen Kampf verwickelten Genossen in Paris nach der Julirevolution. Die heiteren Sonnenlichter des Anfangs enden im Dunkel eines Schiffsbruchs, der leichte Sinn endet im schweren Herzen des Heimatlosen.19 Was der Blick in die Schreibarbeit vermittelt, ist neben der thematisch-biographischpolitischen Doppelstruktur vor allem die allmähliche Verfertigung einer sprachlichen Kunstform, die im Übergang von drei zu vier Strophen, in echohaften und ‚spiegelschriftbildlichen‘ Wiederholungen und lexikalischen Gegensatzpaaren aus dem Singsang der Entwurfshandschrift ein formvollendetes, aus seinen vielseitigen Spannungen heraus lebendes politisches Gedicht entstehen lässt. Gewiss, nicht immer lässt sich am Entstehungsmaterial in ähnlich linear-chronologischer Weise der Schreibprozess als teleologisch auf ein Ziel gerichtetes Fortschreiten beschreiben. Je weiter die überlieferten Entwürfe in die Anfänge der Genese zurückreichen, je reichhaltiger das ‚dossier génétique‘ ist, je mehr der Schreiber zu den Papierarbeitern – und nicht, wie Heine, zu den Kopfarbeitern – zählt, umso mehr erweist sich der Schreibprozess als nicht linear, voller Überraschungen, Sackgassen und unvorhersehbarer Einfälle. In allen Fällen erlaubt es die Methode der ‚critique génétique‘, komplexe künstlerische Schaffensprozesse sichtbar und verständlich zu machen. So ist sie eine für die Literaturwissenschaft äußerst relevante Methode, denn sie öffnet neue Wege der Interpretation literarischer Kunstwerke. –––––––— 18

19

Man spricht von ‚gebundenen Varianten‘, wenn diese eine grammatikalische Korrektur oder eine durch eine freie Variante herbeigeführte Änderung enthalten; vgl. Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die „critique génétique“. Bern u. a. 1999 (Arbeiten zur Editionswissenschaft. 4), Glossar, S. 295. Ich sehe hier von der Betrachtung der Reinschriften und der Drucke ab, insofern sie – bis auf den Gedichttitel, der dann erst hinzukommt und letztlich den autobiographischen Schlüssel zu Heines Zeitgedicht enthält – die ziemlich genaue Abschrift des in H1 erreichten Zustandes darstellen.

Burghard Dedner

In loco auctoris Über die Auflösung von Unbestimmtheiten durch den Editor und die daraus resultierenden Metamorphosen des Textes

Einleitung In seinem über längere Zeit für Germanistikstudenten unerlässlichen Standardbuch, dem Sprachlichen Kunstwerk,1 zitiert Wolfgang Kayser mit erfreuter Zustimmung den Shakespeare-Forscher L. L. Schücking mit den Worten, dass die „Herstellung eines ,sauberen‘ Textes [...] doch vom Gesichtspunkt der sogenannten ,höheren‘ Kritik, das heißt der auf Sinnzusammenhang und Gedankengehalt im großen abgestellten Betrachtung, von sehr untergeordneter Bedeutung bleibt.“ Es gab Zeiten, da mich diese Äußerung empörte; inzwischen würde ich ihr zustimmen. Für eine „auf Sinnzusammenhang und Gedankengehalt im großen abgestellte[ ] Betrachtung“, also für eine theologisch-philosophisch orientierte Literaturwissenschaft, ist die Unterscheidung sauberer und unsauberer Texte wahrscheinlich ohne Belang. Und wie meist trifft sich das Erhabene dabei mit dem Trivialen, denn auch für den Leser eines Krimis ist die „Herstellung eines ‚sauberen‘ Textes“ wahrscheinlich „von sehr untergeordneter Bedeutung“. Sein Beurteilungsraster richtet sich an den Kriterien ‚spannend‘ oder ‚langweilig‘ aus; auf den sauberen Text kommt es ihm weniger an. Leser, die sich an ästhetischen Feinheiten erfreuen, und zwar Laien und Wissenschaftler gleichermaßen, stehen normalerweise zwischen diesen beiden Polen des Erhabenen und des Trivialen. Für sie sind textliche Veränderungen und damit implizit auch die den Veränderungen zugrundeliegenden editorischen Entscheidungen von hoher Bedeutung. Um genau dies, um textliche Veränderungen aufgrund editorischer Entscheidungen, soll es im Folgenden gehen. Das Phänomen, an dem ich dies zeige, sind Determinationslücken oder textliche Unbestimmtheiten, also Stellen, an denen ein Autor – hier Büchner – den Text nicht so eindeutig determiniert hat, dass das von ihm Fixierte den Normen eines gedruckten Textes entspricht. An solchen Stellen können wir Editoren nicht einfach einen Befund wiedergeben, sondern wir müssen die vom Autor noch nicht getroffenen Entscheidungen selbst herbeiführen, also ‚in loco auctoris‘ handeln. Dass wir den Text dabei transformieren, ist nicht zu vermeiden; dass wir ihn nicht deformieren, ist zu wünschen. Ich entwickle meine Überlegungen am Beispiel von Georg Büchners unvollendetem Drama Woyzeck.

–––––––— 1

Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Bern 1948, S. 35.

82

1.

Burghard Dedner

Sichtbare und verdeckte Alternativvarianten

Das vermutlich bekannteste Beispiel für Determinationslücken sind Alternativvarianten. In Büchners Woyzeck begegnet eine solche Variante in der Szene H4,17 in folgender durchaus typischer Form.2

Herr wie dein Leib [gewesen] {war} roth u wund So laß mein Herz seyn aller Stund.

Leiden sey all mein Gewinst, Leiden sey mein Gottesdienst,

In der Grundschicht des Manuskripts steht das Verspaar (a): „Leiden sey all mein Gewinst [...]“, am Rand das Verspaar (b): „Herr wie dein Leib [...]“. Büchner notierte zunächst (a), dann lief ihm die Variante (b) über den Weg und wurde auch notiert. Die Entscheidung, was mit beiden geschehen sollte, wurde vertagt, und wir Editoren stehen nun da wie Buridans Esel, allerdings mit zwei Unterschieden. Stand der nur zwischen zwei, so stehen wir gleich zwischen vier Heuhaufen; und verhungerte der, weil er sich nicht entscheiden konnte, so wählen wir immer wieder dieselbe, allerdings schlechte Lösung und leben fröhlich weiter. Die vier Möglichkeiten einer editorischen Entscheidung lauten: 1. nur (a), 2. nur (b), 3. (a) und (b), 4. (b) und (a). Die Editoren entscheiden regelmäßig für die dritte Lösung, also für: Leiden sey all mein Gewinst, Leiden sey mein Gottesdienst, Herr wie dein Leib war roth u wund So laß mein Herz seyn aller Stund.

So machen wir aus dem einen intendierten Verspaar einen Vierzeiler mit zwei inhaltlich nicht zusammenhängenden Komponenten. Das ergibt zwar keinen Sinn, hat auch kein Vorbild in der religiösen Praxis und war vom Autor, der ja diese Entscheidung durch das entsprechende Einweisungszeichen sehr leicht hätte herstellen können, sicher nicht so intendiert. Dieses Verfahren kann sich aber anscheinend auf eine längere editorische Tradition berufen. An einer Stelle von Büchners Lenz heißt es nämlich:

–––––––— 2

Bild und Transkription nach Georg Büchner: Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe). Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, hrsg. von Burghard Dedner und Thomas Michael Mayer [später: hrsg. von Burghard Dedner, mitbegründet von Thomas Michael Mayer; Ausgabe im Folgenden sigliert als MBA], Bd. VII,1: „Woyzeck“. Text. Hrsg. von Burghard Dedner und Gerald Funk unter Mitarbeit von Per Röcken. Darmstadt 2005; Bd. VII,2: „Woyzeck“. Text, Editionsbericht. Quellen, Erläuterungsteile. Darmstadt 2005; hier Bd. VII,1, S. 94 f.

In loco auctoris

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Er war fester geworden, wie er schloß, da fingen die Stimmen wieder an: Laß in mir die heil’gen Schmerzen, Tiefe Bronnen ganz aufbrechen; Leiden sey all’ mein Gewinnst, Leiden sey mein Gottesdienst.3

Man kann wetten, dass Büchner hier in die Grundschicht des verlorenen Manuskripts das Verspaar (a), also „Laß in mir die heil’gen Schmerzen, / Tiefe Bronnen ganz aufbrechen“, eingetragen hatte. Später notierte er am Rand: „Leiden sey all’ mein Gewinnst, / Leiden sey mein Gottesdienst“, also das auch für Woyzeck erwogene Verspaar. Büchners Verlobte, Wilhelmine Jaeglé, oder der erste Herausgeber des Textes, Karl Gutzkow, reagierten dann wie wir alle und verwandelten die Alternativvariante von Verspaaren in einen linearen Vierzeiler. In Woyzeck können wir der Handschrift entnehmen, was vorlag, in Lenz können wir es allenfalls rekonstruieren. Ist auch dieser Säuberungsversuch wieder nur „von sehr untergeordneter Bedeutung“? Er kann auf jeden Fall den Interpreten davor bewahren, den tiefen Sinn, den er in solchen auffälligen Vierzeilern etwa entdeckt, auf das Konto des Autors zu schreiben. Der Tiefsinn verdankt sich einer editorischen Crux und einer wahrscheinlich schlechten editorischen Gewohnheit. Die folgenden Beispiele – fast alle aus der Woyzeck-Edition genommen – folgen sämtlich diesem Muster: Eine Unbestimmtheit im Befund zwingt den Editor zu vereindeutigen, was nicht eindeutig ist. Und der interpretatorische Schaden entsteht spätestens dann, wenn der Interpret dies nicht merkt, weil er sich hierfür nicht interessiert.

2.

Ein Editor erfindet Determinationslücken (mit beträchtlichen Folgewirkungen)

Es kann auch der entgegengesetzte Fall eintreten, dass nämlich der Editor eine Determinationslücke entdeckt, wo keine ist, und dann Klärungen dort herbeiführt, wo alles längst klar war. Karl Emil Franzos, der erste Editor des Woyzeck, erklärte dem Leser, dass neben der in der Tat sehr schwierigen Entzifferung auch die korrekte Anordnung der Szenen den Editor vor ein kaum lösbares Problem stelle. Franzos erklärte, Büchner habe die Szenen nicht in der Reihenfolge des Handlungszusammenhangs, sondern abhängig vom Musenkuss konzipiert, und er, Franzos, habe das Problem folgendermaßen gelöst: Was die Anreihung der Szenen betrifft, so war dies eine schwierige Aufgabe, da hierfür nicht die leiseste Andeutung vorlag. Neben der nothwendigen Rücksicht auf den Inhalt ließ ich bei Feststellung dieser Reihenfolge nach Möglichkeit noch eine andere, ästhetische Rücksicht walten. Es war mein Bemühen, die beiden Elemente, aus denen Wozzeck besteht,

–––––––— 3

MBA (Anm. 2), Bd. V: „Lenz“: Hrsg. von Burghard Dedner und Hubert Gersch unter Mitarbeit von Eva-Maria Vering und Werner Weiland. Darmstadt 2001, S. 58.

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Burghard Dedner

das groteske und das tragische, so zu gruppiren, daß nicht das letztere Element durch das erstere in seiner Wirkung beeinträchtigt werde.4

Die Folge dieser durch nichts begründbaren These über Büchners dichterisches Verfahren und die Indeterminiertheit der Szenenfolge des Woyzeck war, dass nachfolgende Editoren sich auch ihrerseits daran machten, eine befriedigende Szenenfolge herzustellen. Zu den weiteren Folgen dieser These gehört die sehr erfolgreiche WozzeckOper von Alban Berg, die sowohl ihren humoristischen Anfang („Rasierszene“) als auch ihren schauerromantischen Schluss (Wozzeck ertrinkt im Teich) der von Franzos eingeführten Szenenanordnung verdankt. Eine späte Folge der von Franzos eingeführten Entscheidung ist auch noch Volker Klotz’ einst vielgelesene Abhandlung über Geschlossene und offene Form im Drama.5 In dieser Abhandlung war der in der Tradition von Franzos hergestellte Woyzeck ein Paradebeispiel der ‚offenen Form‘. Dafür war er unter anderem deshalb geeignet, weil Franzos die Handlungsstringenz des Stückes durch seine Art der Szenenanordnung brutal zerrissen hatte.6 All dies ist umso bemerkenswerter, als die Fachwelt und die Öffentlichkeit seit der von Bergemann hergestellten Büchner-Edition, also seit 1922,7 hätten wissen können, welche Szenenfolge Büchner für das Stück festgelegt hatte. Und dass es keinen Grund gab, diese Szenenfolge zu ändern, konnte man ebenfalls wissen, denn die Szenenfolge der letzten Handschrift wiederholt im Wesentlichen die der früheren Handschriften; die Szenenfolge war also stabil und determiniert.

3.

Materialansammlung oder Text in linearer Abfolge

In einem ordentlich verfassten Text folgt alles aufeinander wie am Schnürchen; auf einem Konzeptbogen können die Materialien ungeordnet nebeneinanderliegen wie auf einem Fußboden. Dabei kann der äußere Anschein natürlich täuschen, und das in augenscheinlich linearer Abfolge Niedergeschriebene kann dennoch eine Ansammlung von Materialien sein, denen die inhaltliche Linearität noch fehlt. Eben dies hatte Franzos, jedoch zu Unrecht, von der Szenenfolge in Woyzeck, und zwar in der zuletzt geschriebenen Handschrift H4, behauptet. Hätte er dasselbe für Teile der zuerst geschriebenen Handschrift H1 gesagt, so müsste man ihm zustimmen. Ich gebe hier zwei Beispiele für diese Art von Materialsammlung, die im Gewande einer linearen Abfolge daherkommt. In der Foliohandschrift H1 (Blatt II, p. 1) findet sich folgender Text (vereinfacht; eckige Klammer = Tilgung durch den Autor):

–––––––— 4 5 6 7

Karl Emil Franzos: Georg Büchner’s sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlass. Frankfurt a. M. 1879, S. 204. Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama. München 1960. Vgl. dazu auch Burghard Dedner: Die Handlung des Woyzeck: wechselnde Orte – „geschlossene Form“. In: Georg Büchner Jahrbuch 7, 1988/89 [1991], S. 144–170. Georg Büchners Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Fritz Bergemann. Leipzig 1922.

In loco auctoris

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––––– Was sitzt du da vor der Thür Louis Ich sitze gut da, und ich weiß – aber es sitzen manche Leut vor die Thür und sie wissen es nicht; Es wird mancher mit den Füßen voran zur Thür n’aus getragen. Komm mit! ––––– Ich sitz gut so und läg noch besser gut so. Je kürzer je besser und je länger +++d+ so besser. [Louis du hast Blut am Kopf] [Im Kopf?] [Es ist nur so] ––––– Wenn alle Leut wüssten wieviel Uhr es ist, sie würden sich ausziehn, und ein saubres Hemd anthun und sich ihr Bett [vom Schreiner ihr Bett machen lassen. Schläft man gut auf Hobelspänen.] die Hobelspän schütteln lassen.8

Louis, der dann später Woyzeck heißt, sitzt vor einem Wirtshaus und sinniert. In dem hier nicht wiedergegebenen Teil der Szene sinniert er über einen Zeitpunkt, also offenbar den des bevorstehenden Mordes. Dann beschäftigt ihn die Unvorhersehbarkeit des Todes. Die einzelnen Elemente seines Grübelns sind durch (hier wiedergegebene) kurze waagerechte Striche getrennt. Die Editoren neigten bisher dazu, die Striche bei der Wiedergabe des Textes zu übergehen,9 und handelten damit wohl gegen die explizite Intention des Autors. Wenn die Striche fehlen, entsteht eine – zugegeben unausgegorene – Replikenfolge in einer Szene; wenn man sie ernst nimmt, bewahrt man den Charakter der Materialsammlung. Ein an der Textgenese interessierter Interpret kann an ihr dann nachverfolgen, wie Büchner hier die Formulierung eines sowohl schauerromantisch wie auch psychopathologisch wichtigen Motivs durchprobiert: Der Held verfolgt eine fixe Idee, bei der es in dem hier fehlenden Teil um einen fatalen Zeitpunkt, im wiedergegebenen Teil um die Überraschung durch den plötzlichen Tod geht. Das folgende Beispiel, die erste Hälfte der Szene H1,14, ist nicht nur von textgenetischem Interesse, denn diese Szene enthält das bekannte ‚Großmuttermärchen‘ und zählt also zu den zentralen Bestandteilen des aufgeführten oder gelesenen Dramas, obwohl Büchner sie nur in der ersten Entwurfshandschrift H1 niedergeschrieben hat. Die leicht vereinfachte Transkription dieser ersten Hälfte, die dem Märchen vorangeht, sieht so aus (Schweifklammern bezeichnen Spätkorrekturen, eckige Klammern Streichungen durch den Autor):

–––––––— 8 9

Nach MBA, Bd. VII,1 (Anm. 2), S. 12. Fritz Bergemann (Büchners Sämtliche Werke und Briefe, Anm. 7, S. 711) vermerkt zu dem ersten hier wiedergegebenen Strich: „Darauf folgende neue Fassung derselben Szene“; Werner Lehmann (Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar. Bd. 1: Dichtungen und Übersetzungen. Hamburg 1967, S. 387) setzt für den ersten Strich eine Leerzeile. Beide übersahen aber die folgenden Striche.

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Margreth mit Mädchen vor der Hausthür {scheint d. Sonn} Mädchen. Wie [blüht das Korn] St. Lichtmeßtag Und steht das Korn im Blühn. Sie gingen wohl+ di Stß hin Si gingen zu zwei und zwein Die Pfeifer gingen vorn Die Geiger hinter drein. Sie hatten rothe S+k 1. K. S’ist nit schön. 2. Was wills du auch imm. Wa hast zuerst angefangen {Warum? Ich kann nit. Darum? Es muß sing. Aber warum darum?} Margretche sing du uns. Margt. Kommt ihr kleine Krabben! Ringle, ringel Rosenkranz. König Herodes. Großmutter erzähl.

Der Text ist zweifellos eine reine Ansammlung von teils schon bestimmtem, teils auch wieder nur angedeutetem Material. Da die Ansammlung im Wesentlichen linear, also Zeile für Zeile notiert ist, bereitet diese Einsicht uns Editoren freilich keine Probleme. Wir machen aus der Materialsammlung eine Szene. Zu besonderen Anstrengungen sehen wir uns allenfalls bei der einen Notierung veranlasst, die sich dem Linearitätsprinzip eklatant widersetzt: Wa hast zuerst angefangen Ich kann nit. Es muß sing.

{Warum? Darum? Aber warum darum?}

Henri Poschmann versieht den rechts notierten Einfall mit der Bühnenanweisung „abwechselnd dazwischen“,10 behandelt also den Wirrwarr wie eine Orchesterpartitur. Wir haben in der Marburger Ausgabe angemerkt, „Warum? Darum? [...]“ sei eine Alternativvariante.11 Aber auch das trifft es nicht, denn es suggeriert, dass Büchner über alles entschieden habe, nur noch nicht über die Alternative zwischen dem links und dem rechts Notierten. Richtiger wäre es, offen zu sagen, dass in dieser Elementenansammlung noch alles offen ist. Wenn der Editor dennoch eine Lese- und Bühnenfassung herstellen und also ‚in loco auctoris‘ handeln muss, sollte er klar machen, dass er es war, der das Materialangebot an Einfällen des Autors in einen linearen Text verwandelt hat. –––––––— 10

11

Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden. Hrsg. von Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann. Bd. 1: Dichtungen. Bd. 2: Schriften, Briefe, Dokumente. Frankfurt a. M. 1992/99 (Bibliothek deutscher Klassiker. 84 und 169), Bd. 1, S. 168. MBA, Bd. VII,2 (Anm. 2), S. 8.

In loco auctoris

4.

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Grade und Aspekte von Geltung

Der Ansatz der ‚critique génétique‘ oder auch Siegfried Scheibes allumfassende Definition des Autorisationsbegriffs, der zufolge alles Geschriebene schon von sich aus ‚autorisiert‘ sei, auch wenn der Autor es nicht durch den Rechtsakt des Imprimatur eigens für die Publikation freigegeben hat,12 haben eine Dehierarchisierung der Varianten und anderer Textelemente in der editorischen Theorie herbeigeführt, die dem wissenschaftlichen Interesse an analytischer Schärfe zuwiderläuft. Unerlässlich scheint mir zumindest, dass wir weiterhin zwischen Geltung und Nicht-Geltung von Text und auch zwischen Graden von Geltung unterscheiden. Ein Autor bewahrt Textteile oder verwirft sie durch Tilgungszeichen, er übernimmt sie von einer Entstehungsstufe in die nächste oder lässt sie fallen, er markiert sie als ‚erledigt‘, oder er lässt sie unmarkiert. Jeder Editor ist genötigt, diese Unterschiede zu beachten. Aber selbst das kann ihn vor das Problem stellen, über Determinationslücken entscheiden zu müssen. Dies sei an folgendem Beispiel, das die Markierung ‚erledigt‘ betrifft, verdeutlicht. Büchner notierte zunächst in der Foliohandschrift H1 eine Dramenskizze mit 21 Szenen, also H1,1 bis H1,21. Diese Skizze reicht bis zu einem möglichen Ende der Dramenhandlung. Er begann dann von neuem (H2) und erweiterte dabei vor allem den Eingangsbereich durch eine Reihe von Szenen (H2,1–H2,9). Die Handschrift H2 steht erweiternd, nicht aber ersetzend neben der Handschrift H1. Auf der Ebene der dann folgenden Quarthandschrift H4 erweiterte Büchner die Szenenfolge in H2 durch neue Szenen und übernahm Szenen aus H2 in veränderter Form, wobei er die übernommenen durch einen senkrechten Strich als erledigt markierte. Ebenso verfuhr er mit der Szenenfolge in H1. Durch den senkrechten Strich, also die Markierung ‚erledigt‘, verlieren die Szenen ihre Geltung. Wie sollen wir Textteile beurteilen, die nicht als ‚erledigt‘ markiert sind? Manche Forscher meinen, sie hätten ihre Geltung bewahrt13 und der Editor müsse sie selbst in die nächste Stufe übertragen, auch wenn der Autor hierfür keinen Platz angewiesen oder sonst einen Anlass gegeben hat. Andere meinen, die nicht markierten Textteile seien, da nicht vom Autor übernommen, gleich in doppelter Weise nichtgeltend, denn der Autor habe sie nicht einmal eines Striches gewürdigt. Diese unterschiedlichen Auffassungen haben zur Folge, dass die derzeit kursierenden Lesetexte unterschiedliche Szenenmengen und -anordnungen aufweisen. Die Entscheidung wird noch einmal dadurch verkompliziert, dass die letzte Handschrift H4 an zwei Stellen – dem sogenannten Jahrmarktskomplex und der Teilszene „Hauptmann. Doctor. Woyzeck“ – eine Lücke aufweist, die Büchner offenbar noch füllen wollte, und zwar vermutlich durch Material aus den früheren Handschriften H1 und H2. Dieses szenische Material ist in H1 und H2 naturgemäß nicht als ‚erledigt‘ markiert. Hier sind alle –––––––— 12

13

Zur Diskussion des Begriffs der ‚Autorisation‘ vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth: Schreiben und Lesen. Für eine produktions- und rezeptionsorientierte Präsentation des Werktextes in der Edition. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H. T. M. van Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 165–202. So Poschmann in Büchner, Sämtliche Werke, Bd. 1 (Anm. 10), S. 704.

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Forscher einig, dass diese Elemente ‚Geltung‘ haben. Die Geltung beschränkt sich jedoch auf das Material, nicht unbedingt auf die Details der Anordnung und Formulierung, denn die wollte Büchner ja offenbar noch verändern. ‚Geltung‘ ist implizit auch eine Funktion von Reife. Ein in einem längeren Entstehungsprozess nur einmal notierter Text gilt wenig, ein mehrfach von Stufe zu Stufe übernommener Text hat sich einen höheren Geltungsgrad erworben. So wächst einem Text durch seine Bewahrung in verschiedenen Stufen Geltung zu. Und umgekehrt ist man geneigt, einem auf früherer Stufe niedergeschriebenen Text geringere Geltung zuzuschreiben. Diese Bindung von Geltung an die temporale Position im Entstehungsprozess kann wiederum zu unterschiedlichen Zuordnungen von Geltung führen. Dies hat sich z. B. auf die Beurteilung der Szene H3,1 („Hof des Professors“) in Woyzeck ausgewirkt. Ein Lager der Forscher hielt diese Szene für früh konzipiert und für nicht mehr geltend, da sie in die letzte Entstehungsstufe nicht aufgenommen ist.14 Ein anderer Teil der Forscher hielt die Szene für besonders spät konzipiert und damit für geltend.15 Da der Streit sich mit interpretatorischen Mitteln nicht lösen ließ, musste eine Röntgenanalyse der Tinte die Entscheidung herbeiführen. Sie bestätigte die Auffassung, die Szene sei ‚spät, also geltend‘.16 Sie gehört demnach in eine Lese- und Bühnenfassung. Unbestimmt ist dabei noch immer der Ort der Einfügung. Diejenigen, die die Szene „Hof des Professors“ für nicht-geltend hielten, nahmen unter anderem an, dass die Alternative ‚Geltung‘/‚Nicht-Geltung‘ auch eine Funktion des Gegensatzpaares ‚sorgfältig‘/‚flüchtig‘ sei, weil nämlich Büchner und sicher viele andere Autoren die ersten Entwürfe flüchtig, die späteren Niederschriften dagegen sorgfältiger notieren. Diese lassen sich – so die Perspektive des Schreibenden – vielleicht schon als Druckvorlage nutzen und müssen für fremde Augen lesbar sein; jene sind nur für den Gebrauch durch den Autor bestimmt. Nach dieser Regel wäre flüchtige Niederschrift also ein Indiz für frühe Entstehung, damit unter Umständen für ‚Nicht-Geltung‘, und ebendies veranlasste einige Forscher, die Szene H3,1 („Hof des Professors“) für eine frühe Niederschrift zu halten. Die Szene ist tatsächlich sehr flüchtig geschrieben. Diese Schlussfolgerung freilich war, wie sich nachträglich leicht einsehen ließ, übereilt und verfehlt. Tatsächlich nämlich schrieb Büchner in der Regel sorgfältig, wo er Text aus einer früheren Handschrift modifizierend übernahm. Er tendierte dagegen wiederum zu flüchtiger Niederschrift bei ersten konzipierenden Entwürfen, auch wenn er diese erst auf später Entstehungsstufe fixiert. So ist flüchtige Niederschrift sicher ein Indiz für ‚erster Entwurf ohne Vorlage‘, aber solche ersten Entwürfe können sowohl in der auf erster wie in der auf letzter Stufe geschriebenen Handschrift begegnen. ‚Flüchtigkeit‘ bleibt demnach zwar als Gradmesser von Geltung erhalten, aber nur in eingeschränkter Form. Die spät, aber sehr flüchtig geschriebene Szene –––––––— 14

15 16

So Gerhard Schmid in Georg Büchner: Woyzeck. Faksimileausgabe der Handschriften. Bearb. von Gerhard Schmid. Leipzig bzw. Wiesbaden 1981 (Manu scripta. 1), Kommentar, S. 37; ebenso Burghard Dedner: Nachwort. In: Georg Büchner: Woyzeck. Studienausgabe. Nach der Edition von Thomas Michael Mayer hrsg. von Burghard Dedner. Stuttgart 1999, S. 187. Poschmann in Büchner, Sämtliche Werke, Bd. 1 (Anm. 10), S. 692–694. Vgl. MBA, Bd. VII,2 (Anm. 2), S. 99–102.

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„Hof des Professors“ hat zwar als Ganze in ihrer szenischen Materialität ‚Geltung‘, nicht aber in den Einzelheiten. Vielmehr hat die flüchtige Niederschrift hier eine Reihe von ‚Unbestimmtheiten‘ und auch Widersprüchen zur Folge, so dass ein Editor, der sie in eine Lese- und Bühnenfassung übernimmt, zu beträchtlichen glättenden Eingriffen gezwungen ist.

5.

Der Verschleifungsquotient

Da wir bei der Woyzeck-Edition bemerkten, dass ‚flüchtige Niederschrift‘ in unseren editorischen Überlegungen eine wichtige Rolle spielte, sahen wir uns genötigt, verlässliche, d. h. messbare Kriterien für Flüchtigkeit zu entwickeln. Die wichtigste davon ist der ‚Verschleifungsquotient‘. Wenn Büchner flüchtig schreibt, greift er zu graphischen Abbreviaturen wie Abkürzung (‚d‘ oder ‚d.‘ für ‚der‘, ‚die‘, ‚das‘), Auslassung bestimmter Buchstaben (‚dß‘ für ‚dieß‘, ,Magreth‘ für ‚Margreth‘) und vor allem zu Verschleifungen in Form von unspezifischen Bögen. Das Wort ‚anderen‘ erfordert in der deutschen Kurrentschrift insgesamt neun Striche nach dem ‚d‘, jeweils zwei für ‚e‘ und ‚n‘, drei für ,r‘. Büchner führte diese korrekte Anzahl von neun Strichen bei flüchtiger Schreibweise natürlich nicht aus, sondern begnügte sich mit z. B. drei unspezifischen Bögen,17 von denen sich keiner einem jeweils spezifischen Buchstaben zuordnen lässt, sondern die in ihrer Gesamtheit die Endung vertreten. Die Probleme, die sich für den Editor aus dieser Unbestimmtheit ergeben, werden später erläutert. Hier geht es zunächst nur um die Funktion dieser unspezifischen Bögen bei der Bestimmung des Grades von Flüchtigkeit. Die folgende Tabelle bezieht sich auf eine mögliche Lese- und Bühnenfassung des Woyzeck. Sie nummeriert die Szenen nach den Handschriften und zeigt nach der Szenennummer die tatsächliche Anzahl der Wörter in einer Szene, dann den ‚Verschleifungsquotienten‘, d. h. die Anzahl der Verschleifungen pro 100 Wörter, und gibt schließlich an, ob die Szene auf einer uns überlieferten Vorlage beruht oder nicht. Bei der Beurteilung dieser Mitteilung ist Vorsicht geboten. Die Szenen in H1 sind vermutlich sämtlich ohne Vorlage geschrieben, den in H4 mit niedrigem Verschleifungsquotienten geschriebenen Szenen H4,4 und H4,5 lag vermutlich eine nicht mehr erhaltene Vorlage zugrunde. Im Sinne eines Beurteilungsmaßstabes sei noch erwähnt, dass Büchners Reinschrift von Danton’s Tod einen Verschleifungsquotienten von ca. 5 % aufweist.

–––––––— 17

Vgl. Eske Bockelmann: Von Büchners Handschrift oder Aufschluß, wie der Woyzeck zu edieren sei. In: Georg Büchner Jahrbuch 7, 1988/89 [1991], S. 219–258.

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Verschleifungsquotient für die in die Lese- und Bühnenfassung aufgenommenen Szenen (mit/ohne = mit bzw. ohne überlieferte Vorlage) H4,1: 198 H4,2: 356 H4,3 vacat18 H4,4: 308 H4,5: 638 H4,6: 120 H4,7: 156 H4,8: 492 H4,9: 27919 H3,1: 358 H4,10: 139 H4,11: 400 H4,12: 53 H4,13: 90

3,5 % 3,9 %

mit mit

2,6 % 5,5 % 12,5 % 28,2 % 13,6 % 24,3 % 40,2 % 20,1 % 29 % 33,9 % 32,3 %

ohne ohne ohne mit mit mit ohne mit mit mit mit

H4,14: 140 H4,15: 91 H4,16: 203 H4,17: 171 H1,14: 247 H1,15: 194 H1,16: 81 H1,17: 282 H1,18: 48 H1,19: 118 H1,20: 93 H3,2: 102

23,6 % 34,1 % 31,0 % 27,5 % 40,5 % 30,4 % 13,9 % 26,2 % 27 % 29,6 % 27,9 % 23,3 %

ohne ohne ohne ohne ohne ohne ohne ohne ohne ohne ohne ohne

Mit über 30 % Verschleifungen besonders flüchtig geschrieben sind − in H1 die Szenen H1,2, H1,3, H1,10, H1,12, H1,13, H1,14, H1,15 und H1,21; − in H2 alle Szenen mit Ausnahme von H2,2 und H2,9; − im Quartblatt die Szene H3,1; − in der dritten Lage der Quarthandschrift die Szenen H4,12, H4,13, H4,15 und H4,16. Insgesamt entspricht der Verschleifungsanteil in dieser Doppelblattlage dem der Foliohandschrift H1. Ebenso auffällig ist in der Quarthandschrift andererseits die Sorgfalt der Niederschrift der Szenen H4,1 bis H4,4 und – mit Einschränkungen – H4,5, deren Verschleifungsanteil von unter 6 % etwa dem der Reinschrift von Danton’s Tod entspricht. Auch der Anteil der Auslassungen ist in dieser Szenengruppe ungewöhnlich niedrig und entspricht wiederum etwa dem der Reinschrift von Danton’s Tod. Ebenso liegen die in Danton’s Tod sehr selten auftretenden Auslassungen am Wortende hier nicht vor. Dies erlaubt es, diese vier Szenen dem Rang einer Reinschrift anzunähern und an ihnen abzulesen, welche Lösung Büchner bei Lesungsvarianten, die aufgrund des Entwurfscharakters der übrigen Handschriften nicht entscheidbar sind, wahrscheinlich intendiert hatte. Die späteren Szenen von H4 weisen dagegen wieder eine durchschnittliche oder sogar überdurchschnittliche Menge von Kürzungen auf. Außerdem lässt sich einer solchen Tabelle entnehmen, wie unterschiedlich der Reifegrad der in den Lese- und Bühnenfassungen versammelten Szenen ist. Reinschriftliche Ausarbeitungen stehen neben Entwürfen der flüchtigsten Art, und diese können, –––––––— 18 19

Die Szenen H1,1–3 und H2,3–5, die Büchner als Materialsammlung benutzt hätte, weisen einen Verschleifungsquotienten von ca. 33 % auf. H4,9 ist nur zur Hälfte in der Handschrift ausgeführt; der Rest wird in Lese- und Bühnenfassungen aus H2,7 ergänzt. H2,7 hat einen Verschleifungsquotienten von ca. 38 %.

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wie H3,1 zeigt, noch in der letzten Arbeitsphase entstanden sein. Ich gebe hier noch zur Übersicht den Verschleifungsquotienten, ermittelt nach Handschriften.20

H1 H2 H3 H4 H3,1 H3,2 H4, Lage I/II H4, Lage III

6.

Szenenumfang in % des gesamten Textes

Verschleifungsgruppen je 100 Wörter

26,7 % 29,9 % 4,6 % 38,8 %

30 % 38 % 37 % 16 % 40,2 % 23 % 10 % 28 %

Unbestimmtheit der Wortendungen

Wortendungen sind im Deutschen semantisiert einerseits natürlich für Verb- und Kasus-Flexionen, andererseits für bestimmte kulturelle Kodierungen. Ich gebe ein vereinfachendes Schema, das sich an Überlegungen des Sprachreformers Adelung im 18. Jahrhundert orientiert. Adelung setzte sich damit im Laufe des 19. Jahrhunderts durch.21 Kulturelle Kodierung durch Wortendungen (vereinfachtes Schema) Phonetischer Unterschied

Kultureller Wert

ihr gehet ihr geht

altmodisch, Kanzlei- und Bibelsprache Standard

ich gehe; die Leute ich geh; die Leut

Hochdeutsch (unmarkiert) Sprechsprache süddeutsch (leicht markiert)

wir gehen wir gehn wir gehe (n-Ausfall)

Schriftsprache (Standard) Sprechsprache (Standard) süddeutsch (stark markiert; unterschichtlich)

Ich bekomme n Pils I kriag a Pils (n-Ausfall)

norddeutsch süddeutsch (dialektal)

Die Buchstaben (und Laute), die das Schema durch ihre Präsenz oder ihren Ausfall tragen, sind ‚e‘ und ,n‘. Beide sind graphisch in der deutschen Kurrentschrift kaum –––––––— 20 21

Vgl. hierzu ausführlicher MBA, Bd. VII,2 (Anm. 2), S. 166–169. Vgl. Burghard Dedner: Adelungs Sprachnormen als Zugewinn für sprachliche Individualisierung im Drama. Anläßlich von Editionsproblemen mit Georg Büchners „Woyzeck“. In: Edition und Sprachgeschichte. Baseler Fachtagung 2.–4. März 2005. Hrsg. von Michael Stolz in Verbindung mit Robert Schöller und Gabriel Viehhauser. Tübingen 2007 (Beihefte zu editio. 26), S. 273–294.

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Burghard Dedner

unterscheidbar; beide sind besonders verschleifungsanfällig. Was folgt daraus für die Transkription des Woyzeck? Wie schon gezeigt, ist die von Büchner intendierte Endung dem graphischen Befund in flüchtig geschriebenen Szenen mit einem hohen Verschleifungsquotienten nicht zu entnehmen. Die Schreibung weist hier eine Determinationslücke auf, die der Editor irgendwie füllen muss. Die Frage ist: Wie füllt man sie? Zwei Alternativen bieten sich an. Man kann die Verschleifungen einzelnen Buchstaben in einer Wortendung zuweisen, und man kann – nach dem gleichen Prinzip – graphisch fehlende Endungen als intendiert fehlende Endungen auffassen. Man wird dann, wenn man bei der zu erwartenden vollen Wortform ‚den anderen‘ den Befund ‚den and~~‘ antrifft, ‚den andre‘ lesen. So erhält man – als Beispiel ist eine Passage aus H2,7 (geltender Text) mit dem Verschleifungsquotienten 38,5 % gewählt – folgenden Text: Wir habe schön Wetter Herr Hauptmann. Sehn Sie so ein schön festen grauen Himmel, man könnte Lust bekomm, ein Kloben hineinzuschlage und sich daran zu hänge, nur wege des Gedankenstrichels zwischen Ja und nein.22

Dass dieses Ergebnis wenig befriedigt, bedarf kaum der Erläuterung. Die vorgetäuschte Sicherheit, mit der die Transkription von Standard-Endungen wie „festen grauen Himmel“, „daran“, „Gedankenstrichels“ zu der extremen Verkürzung „bekomm“ (diese offenbar mechanisch verursacht durch Schreibabbruch nach Geminationsstrich), der Unterschichtsform „wege“ und schließlich einer Mischform wie „hineinzuschlage“ wechselt, ist gelinde gesagt gewagt, vor allem wenn man sich die flüchtige Form der Niederschrift vergegenwärtigt. Die zugrundeliegende Handschrift sieht nämlich so aus:

Wir haben aufgrund dieser Erfahrung für die Woyzeck-Ausgabe die Regel aufgestellt, dass bei flüchtiger Schrift, also bei hohem Verschleifungsquotienten und entsprechend hoher Determinationslücke die Transkription die Standardendung wählen oder sich ihr annähern sollte. Die Regel würde lauten: Eine verschliffene Endung ist unmarkiert, also Standard. Abweichungen vom Standard werden nur als intendiert beurteilt, wenn Büchner sie in sorgfältiger Schrift eindeutig markiert hat. Der Vollständigkeit halber sei hier noch erwähnt, dass der schlichte Satz ‚Eine verschliffene Endung ist unmarkiert, also Standard‘, zu der weiteren Frage führt, was denn um 1835 und für Büchner der Standard war. In der deutschen Schriftsprache haben sich gerade im Endungsbereich nach und durch Adelungs Sprachreform und Sprachnormen erhebliche Veränderungen ergeben. In der Marburger Forschungsstelle haben wir diese Veränderungen anfänglich nicht beachtet und für den Reclam-Verlag –––––––— 22

So Poschmann in Büchner, Sämtliche Werke, Bd. 1 (Anm. 10), S. 199.

In loco auctoris

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einen Woyzeck-Text vorgelegt, der gelegentlich mit dem vollen Endungssystem des Jahres 1999 arbeitet, also „goldene“, „mehreren“ oder „ihr kleinen Krabben“ anbietet, wo ‚goldne‘, ‚mehren‘, ‚ihre kleine Krabben‘ vermutlich Büchners Standard gewesen wäre. In der Marburger Büchner-Ausgabe haben wir dies korrigiert und unseren Umgang mit verschliffenen Endungen ausführlich begründet.23 Was Büchner in diesem Bereich wirklich anstrebte, ist nur an den ausgereiften und sorgfältig geschriebenen Szenen abzulesen, also zum Beispiel an dem Frauengezänk in der Szene H4,2 (Verschleifungsquotient 3,9), einer Replikenfolge, die fast identisch auch bereits in der vorangehenden Handschrift H2,2 auftaucht. Margreth. Ihre Auge glänze ja noch. Marie. [Was g] Und wenn! Trag sie ihr Auge zum Jud und laß sie sie putze, vielleicht glänze sie noch, daß man sie für zwei Knöpf verkaufe könnt. Margth, Was Sie? Sie? Frau Jungfer, ich bin eine honette Persn, aber sie, sie guckt 7 Paar lederne Hose durch. Marie. Luder! (schlägt das Fenster durch.) Komm mein Bub. Was die Leut wollen.

In diesen Repliken sind die verkürzten Endungen in deutlicher Schrift geschrieben und also so intendiert. Sie zeigen, dass Büchner sowohl die ,e‘-Verkürzung (Indiz für süddeutsche Sprechsprache) als auch den ,n‘-Ausfall (starke Markierung von süddeutsch und unterschichtlich) punktuell nutzte. Punktuell, denn schon in der nächsten Replik spricht Marie nur noch mit leichter Markierung (,e‘-Ausfall bei „Leut“ und „Bub“, aber kein ‚n‘-Ausfall bei „mein“ und „wollen“). Die Formen „Bub“ und „Leut“ aber gehören nach dem oben gebrachten Schema in die Rubrik ‚Sprechsprache süddeutsch (leicht markiert)‘ und damit in eine andere Kategorie als der Ausfall des Endungs-‚n‘. Denselben Kodierungswechsel nutzte Büchner auch in einem Lied, aus dem er zweimal – in Danton’s Tod und in einem Stammbuchblatt (für Heinrich Ferber)24 – eine Strophe zitierte. In Danton’s Tod (1. Akt, 2. Szene) notierte er noch unsicher (die eckige Klammer bezeichnet wieder Tilgung durch den Autor): „Die da liegen in der Erden, / Von de[n] Würm gefresse werden. / Besser hangen in der Luft, / Als verfaulen in der Gruft!“25

In dem Stammbuchblatt schrieb er (jetzt sicher): „Von de Würm gefresse werden“. Die Verse sind auch anderswo überliefert; ich gebe kurz einige Beispiele:26 –––––––— 23 24 25 26

Vgl. aber MBA, Bd. VII,2 (Anm. 2), S. 190–215; vgl. auch Dedner 2007 (Anm. 21). Vgl. MBA (Anm. 2), Bd. X,1: Briefwechsel. Hrsg. von Burghard Dedner, Tilman Fischer und Gerald Funk. Darmstadt 2012, S. 71. MBA (Anm. 2), Bd. III,1: Danton’s Tod. Text. Bearb. von Thomas Michael Mayer. Darmstadt 2000, S. 41. Nachweise in MBA (Anm. 2), Bd. III,4: Danton’s Tod. Erläuterungen. Bearb. von Burghard Dedner unter Mitarbeit von Eva-Maria Vering und Werner Weiland. Darmstadt 2000, S. 60 f.

94 Danton’s Tod, hrsg. von Ludwig Büchner (1850) Karl Vogt (1890) Aufzeichnung Colmar (1836) Aufzeichnung Odenwald (1858)

Burghard Dedner

von den Würm gefressen werden Von den Würm’ gefressen werden! Von den Würmern gefressen werden Von den Würmlein gefressen werden

Büchner verwendete in seiner Niederschrift im Ganzen die Standardendungen „liegen“, „werden“, „hangen“, „verfaulen“ und setzte nur gezielt eine Duftmarke mit „Von de Würm gefresse“, wobei die Verkürzung „Würm“ teils sprachgeschichtlich naheliegt, teils durch das Versmaß veranlasst ist. Das Ergebnis ist ein begrenzter Kodierungswechsel, bei dem ein regional-unterschichtliches Einsprengsel in eine sonst unauffällige Umgebung implantiert wird. Was vorliegt, ist nicht ein mimetischer, sondern eher ein rhetorischer Gebrauch dieser Kodierung. Büchner schaut hier nicht dem Volk aufs Maul wie sein Darmstädter Zeitgenosse Ernst Niebergall oder später Gerhart Hauptmann, sondern er nutzt punktuell eine Signalschicht, die ihm die zeitgenössische Literatur anbietet.

Schlussbemerkung Die für diesen Band leitende Frage nach der Relevanz editorischer Dokumentationen für die Interpretation scheint mir für den Fall des Woyzeck eindeutig zu beantworten, und vielleicht erweist sich dieses Drama sogar als besonders geeignetes Mittel, um die Relevanz editorischer Forschung und Dokumentation einem breiteren Publikum verständlich zu machen. Die durchschnittlich vier Gymnasialklassen pro Jahr, die seit etwa zwölf Jahren die Forschungsstelle Georg Büchner aufsuchen, haben ein zunehmend schärferes Sensorium für editorische Probleme, und die besseren Schüler kennen zum Teil bereits neben der Lese- und Bühnenfassung den einen oder anderen Teil der früheren Fassungen. Sie lernen an diesem Stück zu ihrem Erstaunen, dass literarische Texte im Unterschied zu den zehn Geboten nicht von Gott gemacht wurden und nicht einmal unbedingt nur von einem bestimmten Autor, sondern dass sie auch ein Produkt der Überlieferungs- und Editionsgeschichte sind. Sie lernen auch, dass die Zuweisung von Allgemeinbegriffen wie ‚Dialektdrama‘ oder ‚Drama der offenen Form‘ entweder fraglich oder diskussionsbedürftig ist und dass hier nur mitdiskutieren kann, wer die Editionsprobleme kennt. Dass es in diesem Zusammenhang fatal wäre, nur ein editorisches Ergebnis zu präsentieren, dass vielmehr der Weg von den Befunden zu diesem Ergebnis offengelegt und dokumentiert werden muss, liegt auf der Hand. Gelegentlich kommen zu uns freilich Gymnasialklassen, deren Lehrerinnen oder Lehrer meinen, über den „Sinnzusammenhang und Gedankengehalt“ des Stückes könnten sie auch reden, ohne von diesen editorischen Quisquilien eine Ahnung zu haben. Ihnen wird man nicht helfen können.

Johannes Barth

Materialität und Werkgenese: Achim von Arnims Die Päpstin Johanna

Ulfert Ricklefs’ Göttinger Dissertation über Arnims Päpstin Johanna-Dichtung aus dem Jahr 1966, die in stark überarbeiteter und erweiterter Form 1990 als Buch erschien,1 ist ein Musterbeispiel für eine literaturwissenschaftliche Arbeit, die Edition und Interpretation verbindet: Ricklefs sah sich angesichts der Überlieferungssituation des Werks gezwungen, zunächst einmal eine zuverlässige Textgrundlage für seine Deutung zu erstellen. Die Päpstin Johanna wurde von Arnim selbst nicht veröffentlicht, war aber 1846 postum von seiner Witwe Bettina im Rahmen der von ihr edierten Arnim-Ausgabe abgedruckt worden.2 Glücklicherweise blieb das Handschriftenkonvolut, das nach heutiger Zählung 390 größtenteils doppelseitig beschriebene Blätter umfasst, erhalten; es wurde 1929 bei der Versteigerung von Arnims Nachlass in Berlin angeboten, aber nicht verkauft und gelangte schließlich ins Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar. Hier fand Ricklefs das Konvolut im, wie er schreibt, „chaotischen Zustand völlig ungeordneter Blätter“ vor3 – auch eine Form von, in diesem Fall widerständiger, Materialität, aus der ein Werktext erst eruiert werden musste. Dabei stellte sich heraus, dass es neben den von Bettina von Arnim als Druckmanuskript verwendeten Blättern noch eine Reihe von weiteren Handschriften gab, die offenbar zu unterschiedlichen Werkstufen gehörten – die Edition des Textes setzte also auch eine Rekonstruktion der Werkgenese voraus. Ricklefs gelang es schließlich weitgehend, die verschiedenen Fassungen in ihrer Abfolge sowie die postume Bearbeitung durch Bettina zu identifizieren und voneinander zu sondern. Die Resultate dieses von Ricklefs ausdrücklich so bezeichneten „editorischen Teils“ seiner Arbeit wurden dann zur Grundlage des interpretatorischen Abschnitts, der aus der äußeren die innere Entwicklung der Dichtung zu erschließen versuchte: nach Ricklefs’ Deutung die Wendung von romantischidealistischen Tendenzen, wie sie im Frühwerk des Autors dominiert hatten, zum „symbolischen Realismus“, ein Prozess, der zugleich poetisch in der Wandlung der Heldin Johanna von weltfeindlicher Jenseitssehnsucht hin zum Glauben an die Inkar–––––––— 1

2 3

Ulfert Ricklefs: Magie und Grenze. Arnims „Päpstin Johanna“-Dichtung. Mit einer Untersuchung zur poetologischen Theorie Arnims und einem Anhang unveröffentlichter Texte. Göttingen 1990 (Palaestra. 285). Ludwig Achim’s von Arnim sämmtliche Werke. Bd. 19: Die Päpstin Johanna. Nachlaß. Bd. 2. Berlin 1846 (im Folgenden: SW 19). Ricklefs 1990 (Anm. 1), S. 318.

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Johannes Barth

nation des Ewigen im Endlichen gestaltet werde, wobei Ricklefs besonders die prägende Rezeption neuplatonisch-gnostischen Gedankenguts nachweisen konnte. In gewisser Weise war die Arbeit allerdings selbst in der erweiterten Druckfassung von 1990 noch nicht abgeschlossen: Ricklefs lieferte zwar eine detaillierte Beschreibung der Textträger sowie, daraus abgeleitet, eine eingehende Argumentation für seine Auffassung der Werkentstehung, konnte, u. a. aus Zeit- und Platzgründen, selbst aber nur einen Teil der Materialien als edierten Text vorlegen, nämlich im Wesentlichen jene Blätter, die Bettina von Arnim bei der Erstellung des Druckmanuskripts nicht berücksichtigt hatte. So gesehen setzte Ricklefs’ Untersuchung eigentlich eine vollständige kritische Ausgabe der Dichtung schon voraus, die tatsächlich, auf der Grundlage und in Weiterführung seiner Forschungen, erst im Jahr 2006 im Rahmen der Weimarer Arnim-Ausgabe erscheinen konnte.4 Eine wesentliche Voraussetzung sowohl für Ricklefs’ Monografie als auch für die kritische Edition war also eine primäre Klärung der Werkgenese – oder im weiteren Sinne auch der Werkgeschichte, wenn man die postume Bearbeitung durch Bettina von Arnim mit einbezieht. Diese Werkgeschichte ist gerade in diesem Fall aber zugleich eine Materialgeschichte, denn es war nicht nur derselbe Text, sondern es waren oft auch dieselben Textträger, die in den verschiedenen Bearbeitungsschichten immer wieder verändert wurden. An dieser Materialität des überlieferten Handschriftenkonvoluts war die Genese dementsprechend abzulesen. Dass nahezu die kompletten Handschriften zu einer abgeschlossenen Dichtung, einschließlich Skizzen und Vorstufen, überliefert sind, ist im Œuvre Arnims singulär; bei keinem anderen Hauptwerk des Autors kann der Schaffensprozess so detailliert dokumentiert werden. In aller Kürze sei hier die Entstehung der Päpstin Johanna, wie sie sich heute darstellt, zusammengefasst: Die Arbeit lässt sich aufgrund von brieflichen Zeugnissen auf den Herbst und Winter 1812/13 datieren. Offenbar beabsichtigte Arnim, der die mittelalterliche Sage vom weiblichen Papst zuerst in einem geistlichen Spiel aus dem späten 15. Jahrhundert kennengelernt hatte, zunächst ebenfalls ein reines Drama zu schreiben. Entsprechend wurden in einem frühen Arbeitsgang verschiedene Episoden aus der Jugendgeschichte der späteren Päpstin, die in Island, Paris und Mainz spielen und ihre Erziehung durch den eitlen Gelehrten Spiegelglanz darstellen, szenisch ausgeführt. Im weiteren Verlauf der Werkgenese veränderte sich die Gattung zunehmend zu einer Mischform aus dramatischen Szenen in Versen und erzählenden Prosapassagen, wozu noch lyrische Einlagen kamen. Schwierigkeiten bereitete Arnim die in Rom lokalisierte Fortsetzung der Handlung, die Johannas Aufstieg zum Papst, ihre schuldbeladene Regentschaft und ihre Buße durch den freiwilligen Tod enthalten sollte und schließlich den dritten bis fünften der von Arnim als „Perioden“ bezeichneten Abschnitte des Werks umfasste: Zu diesem Teil der Dichtung entstanden insgesamt drei Vorfassungen, von denen die ersten beiden abgebrochen, die dritte für die Endfassung noch einmal gründlich überarbeitet wurde. –––––––— 4

Ludwig Achim von Arnim: Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 10: Die Päpstin Johanna. Hrsg. von Johannes Barth. Tübingen 2006 (im Folgenden: WAA 10).

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Zwischen der zweiten und dritten Fassung dieser Romepisode änderte sich die gesamte Tendenz des Werks. Arnim verwarf das bis dahin geplante tragische Ende zugunsten eines harmonischen Schlusses, in dem Johanna, nachdem sie ihr Amt niedergelegt hat, verziehen wird und die Liebe zu ihrem Jugendfreund, dem Pfalzgrafen Ludwig, ihre Weltangst überwindet. Im Sinne dieses neuen Konzepts wurde auch die Jugendgeschichte noch einmal überarbeitet und erweitert. Während diese Vorfassungen lediglich aus dem Handschriftenkonvolut zu erschließen sind, gibt es für die weitere Entwicklung der Dichtung auch briefliche Zeugnisse. Am 16. Januar 1813 schrieb Arnim an Clemens Brentano: „ich habe meine Johanna zu ungeheurer Dicke in gereimten Jamben fertig, da mir aber Reimer gesagt hat, daß Verse keinen sonderlichen Absatz haben, so wird täglich eine gewisse Zahl in Prose zusammengezogen, aus Drama in Erzählung.“5 Demnach gab es also eine erste vollständige Fassung (F1), die vor Mitte Januar 1813 vorlag und dann auf Vorschlag des als Verleger ins Auge gefassten Georg Reimer überarbeitet und gekürzt wurde. Entgegen Arnims Darstellung in der zitierten Passage war allerdings auch F1 nach Ausweis der Handschriften bereits eine Mischform und keineswegs ausschließlich in Versen verfasst. Das handschriftliche Material zeigt zudem, dass sich die Überarbeitung lediglich auf die erste und dritte der insgesamt fünf Perioden beschränkte, in die das Werk eingeteilt ist; und die Mischform blieb durchaus erhalten, wenn auch der Anteil der Prosapassagen nun deutlich vergrößert wurde. Die Überarbeitung scheint Anfang Februar 1813 abgeschlossen gewesen zu sein, denn am Dritten dieses Monats bot Arnim, nachdem Reimer wohl erneut abgewinkt hatte, die neue Fassung (F2) brieflich dem Hamburger Verleger Perthes an. Dieser antwortete aber ebenfalls abschlägig und verwies auf die durch die Kriegszeiten unsichere Wirtschaftslage, so dass die Päpstin Johanna zu Arnims Lebzeiten unveröffentlicht blieb. Der materielle Aspekt dieser Werkgenese besteht nun darin, dass Arnim in der Regel bei den verschiedenen Neuansätzen natürlich nicht den gesamten Text neu schrieb, sondern einen Teil der Blätter aus der früheren Schicht beibehielt und mit neuen kombinierte. Dabei wurden allerdings auch die übernommenen Blätter zum Teil überarbeitet, so aufgrund der Notwendigkeit neuer Textanschlüsse oder inhaltlicher Anpassungen an den veränderten Kontext. Teilweise wurde auch nur eine Seite eines Blatts übernommen und die andere mit neuem Text überklebt, oder bei Doppelblättern wurde ein Blatt beibehalten, das andere abgetrennt und aus dem Manuskript ausgeschieden. Wie schon erwähnt, ist damit die Geschichte des Handschriftenkonvoluts aber noch nicht beendet. Es folgte noch die Bearbeitung für die postume Edition von 1846 durch Bettina von Arnim in SW 19. Bettina sah sich für ihre Ausgabe vor die Wahl zwischen zwei vollständigen Werkfassungen gestellt, der vor Mitte Januar 1813 abgeschlossenen Version F1 und der danach vorgenommenen kürzenden Überarbeitung F2. Sie entschied sich für die frühere Fassung, die sie offenbar für authentischer hielt, und versuchte also, die letzte Überarbeitung, soweit möglich, wieder rückgängig zu machen. Die Herausgeberin ging dabei so vor, dass sie zum Teil die Arnim’schen Blätter –––––––— 5

Zitiert nach WAA 10 (Anm. 4), S. 528.

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komplett durch eigene, den Autortext mehr oder weniger stark verändernde Abschriften ersetzte, jedoch auch eine ganze Reihe von Originalblättern Arnims in das Druckmanuskript ihrer Ausgabe übernahm. Hier gibt es vielfältige Eingriffe von ihrer Hand, die von der Änderung oder Tilgung einzelner Buchstaben (sie strich zum Beispiel durchgehend das „d“ in „ahnden“, einem Lieblingswort Arnims) über die Neufassung einzelner Sätze und Verse zwischen den Zeilen bis zu der Überklebung ganzer Seiten durch eigenen Text reichen. Man hat es also teilweise mit Blättern zu tun, die mehrfach von Arnim und schließlich noch durch Bettina überarbeitet wurden. Diese unterschiedlichen Schichten konnten nur durch eine Kombination von inhaltlicher und materieller Analyse identifiziert werden. Eine wesentliche Rolle spielten dabei die verschiedenen Papiersorten, die bereits Ricklefs anhand der Wasserzeichen gekennzeichnet hatte, was in der kritischen Ausgabe mit Modifikationen übernommen wurde. Hinzu kamen Kriterien wie Schreibmaterialien, Schriftbild, räumliche Anordnung und Textanschlüsse. Als Beispiel für die Spuren der Werkgenese und -geschichte in den Materialien zur Päpstin Johanna sei hier kurz auf den wohl auffälligsten Verlust der Druckausgabe von 1846 gegenüber dem Handschriftenkonvolut eingegangen, auf den bereits der Auktionskatalog der Versteigerung von 1929 mit folgenden, durch Sperrdruck hervorgehobenen Worten hinwies: „Nicht in den Druck aufgenommen ist ein hier im Manuskript vorliegendes Märchen, das in romantischer Form die Demeter-Demophoon-Sage abwandelt.“6 Dieses Demophoon- oder Demophon-Märchen basiert auf dem sogenannten homerischen Hymnos auf Demeter, auf den Arnim im Zusammenhang mit der Integration des Motivs der antiken Eleusinien, deren Aitiologie der Hymnos enthält, in die Handlung seiner Dichtung gestoßen war. Während der Suche nach ihrer durch Hades entführten Tochter Persephone soll Demeter nach Eleusis gelangt sein, wo sie sich als Amme des kleinen Königssohns Demophon verdingte. Dessen Mutter erzürnte die Göttin, weil sie sie daran hinderte, das Kind im Feuer zu einem Unsterblichen zu verwandeln; die durch Demeter gestifteten Mysterien, die Eleusinien, sollen sie wieder versöhnen. Im Handschriftenkonvolut zur Päpstin Johanna (GSA 03|49)7 findet man Arnims Adaption dieser Geschichte als Binnenerzählung in zwei Fassungen vor. Die erste dieser Versionen gehört noch F1 zu und steht hier in der III. Periode im Kontext des in Rom spielenden Teils der Handlung; die zweite Fassung des Märchens ist in F2 in die Kindheitsgeschichte der späteren Päpstin integriert und beschließt dort die I. Periode. Die erste Fassung in F1 beginnt, nach einer Überleitung von der Rahmenhandlung, auf Vorder- und Rückseite von Blatt 49,9|8 (Abb. 1) und wird auf einem weiteren doppelseitig beschriebenen Blatt (49,4|1), das hier nicht abgebildet ist, fortgesetzt und abgeschlossen. –––––––— 6 7

Zitiert nach WAA 10 (Anm. 4), S. 501. GSA = Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar. Ich danke der Klassik Stiftung Weimar für die Genehmigung zur Reproduktion einiger Seiten aus dem Konvolut.

Abb. 1: Beginn der 1. Fassung des Demophon-Märchens in F1 (GSA 03|49,9|8).

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Abb. 2: Schluss der I. Periode in F2 und Beginn der II. Periode vor der Integration des Demophon-Märchens (GSA 03|49,3|5|10).

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Abb. 3: Neuer Beginn der II. Periode in F2 nach Integration des Demophon-Märchens (GSA 03|49,9|1).

Abb. 4: Beginn der II. Periode in Bettina von Arnims Druckmanuskript von 1846 (GSA 03|49,6|41).

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Der Anfang auf 49,9|8 ist dick durchstrichen; diese Tilgung erfolgte offenbar im Zuge der Neufassung und Umpositionierung des Märchens für F2: Arnim wollte, um die Einlage an dieser Stelle zu eliminieren, zunächst den Text in der oberen Hälfte der Vorderseite, der noch nichts mit der Binnenerzählung zu tun hat, beibehalten und auf einem für F2 neu entstandenen Blatt (49,3|6|5), das auch erhalten ist, auf andere Weise, ohne die Demophon-Geschichte, fortführen; das Blatt mit der Fortsetzung des Märchens auf 49,4|1 sollte aus dem Manuskript entfernt werden. Später entschied er sich dann allerdings dafür, 49,9|8 ganz zu eliminieren und durch ein neues Blatt (49,5|3) zu ersetzen. Im unteren Drittel der Rückseite von 49,9|8 ist zudem noch eine ältere Überarbeitungsschicht zu identifizieren, die, wie sich aus inhaltlichen Bezügen ergibt, bereits im Kontext von F1 entstand. Arnim hatte hier zunächst eine fiktionale literale Überlieferung für das Märchen konstruiert: Johanna sollte es in einem „Fabelbuche“ entdecken, womit offenbar anachronistisch auf die Grimm’schen Kinder- und Hausmärchen angespielt ist, deren erster Band zur Zeit der Entstehung der Päpstin Johanna erschien. Daraus wird in der neuen Textstufe eine orale Überlieferung durch eine neu eingeführte Figur, einen Bauern namens Urban, was Arnims eigener Theorie von der ständigen Neuerfindung der Märchen, die sich nach seiner Ansicht jeder schriftlichen Fixierung widersetzen, gemäßer ist. Die zweite Fassung des Märchens als Abschluss der I. Periode in F2 ist auf S. 2–4 eines Doppelblatts (49,3|5|11–12) notiert, dessen leere erste Seite auf die letzte Seite eines anderen Doppelblatts mit einem für F2 neugeschriebenen Ende der Handlung der I. Periode geklebt ist (49,3|5|10; Abb. 2). Beide Doppelblätter weisen die auch sonst für die in F2 hinzugekommenen Blätter charakteristische Papiersorte auf. Der Text auf der Vorderseite von 49,3|5|10 schließt mit einer kurzen Überleitung, die zugleich den Bezug des Märchens zum Kontext der Gesamtdichtung interpretiert: „Den Zustand des Kindes zwischen Spiegelglanz [Johannas Erzieher] der das Kind nur dann sich näherte, wo es seinem Ruhme schmeichelte und zwischen der heissen Phantasie, die es in gefahrvoller Einsamkeit ausbildete wollen wir in einem Mährchen zum Beschlusse dieser Periode darstellen:“. Wie schon die Überklebung zeigt, geschah die Integration der Einlage an diese Stelle aber erst sekundär: Der eben zitierte, zu dem Märchen überleitende Schlussabschnitt auf der Vorderseite gehört nicht zur Grundschicht, wie man auch am Schriftbild erkennt. Zunächst endete die I. Periode in der Überarbeitung für F2 mit dem jetzt vorletzten Absatz auf der Seite: „Johannes auf den mürrischen Spiegelglanz beschränkt, zog alle seine Gedanken in eine innere selbstgeschaffene Welt, alles was er hörte fand da seine Stelle und wenn er zuweilen etwas versäumte so war es dieser innern Bildung zu liebe, die mit ihrer seligen Beschäftigung ihn leicht allem Drange des täglichen Unterrichts entrückte.“ Die Rückseite schloss mit einer kurzen Prosaeinleitung zur II. Periode an ein noch aus der ersten Fassung F1 stammendes Blatt (49,9|2r) an, das die erste Szene der II. Periode enthält. Erst nachträglich wurde dann dieser Beginn der II. Periode mit dem Doppelblatt überklebt, das die zweite Version des Demophon-Märchens bietet (49,3|5|11–12), und zugleich die Überleitung auf der Vorderseite ergänzt; als neue Einleitung zur II. Periode wurde ein nur einseitig be-

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schriebenes Blatt 49,9|1 eingefügt (Abb. 3). Dieser neue Beginn spielt nun mit den Worten „Zehn Jahre lebte das Kind der Melancholia und des Oferus in der geheimnißvollen Zucht der Phantasie in ihrer freudigen Gluth“ auf die Bildlichkeit des vorangehenden Märchens an. Hier sind also an einer Verbindung materieller und inhaltlicher Kriterien verschiedene Arbeitsschritte innerhalb der Entstehung der Neufassung F2 ablesbar. Die so zu rekonstruierende Entwicklung des Demophon-Märchens ermöglicht eine Interpretation der Funktion der Binnenerzählung im Kontext der Genese des gesamten Werks: Die erste Version des Märchens war als Teil der zweiten Vorfassung der Romhandlung entstanden, zu einer Zeit also, als noch ein tragischer Ausgang der Dichtung vorgesehen war. Dementsprechend endete auch diese erste Fassung der Demophon-Geschichte – märchenuntypisch – unglücklich mit dem Tod des Kindes und seiner Mutter im Feuer. In der zweiten Version in F2 ist dies durch ein Happy End ersetzt, in dem das Kind das Inferno überlebt und einen Gefährten in einem wunderbaren Knaben findet. Offenbar wollte Arnim hier, im Zuge der für die Neufassung der Dichtung vorgenommenen Umarbeitung, das Märchen in Parallele zu der Neukonzeption von Johannas eigenem Schicksal setzen, die mittlerweile erfolgt war. Die Positionierung in der I. Periode und die Beziehung der hier namenlosen Demeter-Figur auf die Phantasie korrespondieren mit einer Betonung der ambivalenten Gefährlichkeit dieses Vermögens für die Heldin, wie sie sich im Laufe der Genese von Johannas Jugendgeschichte ergeben hatte. Das Demophon-Märchen erweist sich somit, wie es im Anschluss an die erste Fassung in F1 ausdrücklich heißt, als „wunderbarer Spiegel“8 der Entwicklung der gesamten Päpstin Johanna und des Schicksals ihrer Protagonistin in nuce und ist ein Exempel für Arnims Auffassung, dass Dichtung und besonders die Gattung Märchen jedem Rezipienten als Abbild seiner individuellen Lebensproblematik dienen kann. Das durch den Feuergeist nur halbverwandelte Kind, das in Arnims Fassung zwischen Hitze und Kälte, Feuer und Wasser hin und her geworfen wird, reflektiert den Konflikt der bei Arnim halb irdischen, halb überirdischen, da von dem Geistwesen Melancholia und dem Menschen Oferus abstammenden Johanna. Arnim konnte sich hier auf die dualistische Interpretation des Demeter-Hymnos durch den Mythenforscher Creuzer berufen, dessen Werk eine der Hauptquellen für die Päpstin Johanna darstellt.9 Aus dieser Rekonstruktion der Textgenese erhellt nun auch, warum das Märchen in Bettina von Arnims Druckfassung nicht aufgenommen wurde. Tatsächlich ist dies ein Beispiel dafür, dass es sich dort, wo diese, um mit Winfried Woesler zu sprechen, ‚Testamentseditorin‘10 scheinbar willkürlich tiefgreifendere Änderungen vornahm, häufig vielmehr um Notlösungen handelte, bei denen ihr eine Wiederherstellung des –––––––— 8 9 10

WAA 10 (Anm. 4), S. 395. Friedrich Creuzer: Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen. In Vorträgen und Entwürfen. 4 Bde. Leipzig, Darmstadt 1810–1812. Winfried Woesler: Theorie und Praxis der Nachlaßedition. In: Die Nachlaßedition. Akten des vom Centre National de la Recherche Scientifique und der Deutschen Forschungsgemeinschaft veranstalteten französisch-deutschen Editorenkolloquiums Paris 1977. Hrsg. von Louis Hay und Winfried Woesler. Bern, Frankfurt a. M., Las Vegas 1979 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. A. 4), S. 42–53, hier S. 44 f.

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ursprünglichen Textzusammenhangs in F1 nicht mehr gelang, zu dem sie ja grundsätzlich zurückkehren wollte. Der größte Teil der dorthin gehörenden ersten Fassung des Märchens auf dem Blatt 49,9|8 (Abb. 1) war wegen der Durchstreichung durch Arnim im Zuge der Überarbeitung für F2 für Bettina nicht mehr zu entziffern,11 weshalb sie auch den Zusammenhang zur Fortsetzung der Binnenerzählung auf dem Blatt 49,4|1 nicht durchschaute. Sie ersetzte daher 49,9|8 durch ein eigenes Blatt (49,7|29), das die Handlung ohne das Märchen weiterführt und übrigens den einzigen größeren Abschnitt ihrer Druckausgabe darstellt, dessen Text von der Bearbeiterin selbständig erfunden ist. Die zweite Fassung des Demophon-Märchens wurde wohl deshalb nicht von Bettina von Arnim berücksichtigt, da sie als Teil der gekürzten Version des Schlusses der I. Periode aus F2 vorlag. In der Folge hatte die Herausgeberin dann aber Schwierigkeiten damit, den Beginn der II. Periode in der Fassung von F1 zu rekonstruieren. Auf dem von ihr zu diesem Zweck neu geschriebenen Blatt 49,6|41 (Abb. 4)12 übernahm sie die letzte Textstufe der Einleitung zu dieser Periode von Arnims Blatt 49,9|1 mit der bereits zitierten Anspielung auf das dort vorangehende Märchen „Zehn Jahre lebte das Kind der Melancholia und des Oferus in der geheimnißvollen Zucht der Phantasie in ihrer freudigen Gluth“, was nun für den Leser rätselhaft wirken muss, da das Märchen selbst in der Druckausgabe ja fehlt. Dass Bettina von Arnim nicht etwa Vorbehalte gegen diesen Text hatte, erhellt übrigens schon daraus, dass in ihren eigenen Schriften der Demophon-Stoff, möglicherweise sogar mit angeregt durch Arnims Version, große Bedeutung hat als „Parabel ihrer eigenen Bemühungen, Jünglinge im Feuer des Geistes zu läutern“, wie Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff formulieren.13 Eine wesentliche Konsequenz aus der anhand des Handschriftenkonvoluts rekonstruierten Entstehungsgeschichte der Päpstin Johanna für die kritische Ausgabe war die Strukturierung des edierten Textes. Ricklefs hatte in seiner Arbeit, sozusagen in Übereinstimmung mit Bettina von Arnim, als die ‚eigentliche‘ Endfassung die in der kritischen Ausgabe als F1 bezeichnete Version identifiziert, da F2 letztlich aus kommerziellen Zwängen zustande gekommen sei. Dagegen spricht jedoch, dass sich, wie das Beispiel des Demophon-Märchens zeigte, in F2 eine ganze Reihe von Änderungen findet, die mit einer bloßen Kürzung zur Erhöhung der Absatzchancen des Buches nichts zu tun haben. Da bereits in F1 eine Mischform aus Versdrama und Erzählung in Prosa nachzuweisen war, erscheint F2 auch in dieser Hinsicht nicht als Kompromiss aus Rücksicht auf einen prosafixierten Buchmarkt, sondern als neue Stufe eines frühromantische Theorien aufgreifenden „generischen Experiments“,14 wobei lediglich –––––––— 11 12 13

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Für die kritische Ausgabe konnte diese Passage mittels des Verfahrens der Bandpassfilter-Infrarotreflektographie vollständig sichtbar gemacht werden. Vgl. SW 19 (Anm. 2), S. 96. Bettine von Arnim: Werke und Briefe in vier Bänden. Hrsg. von Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff. Bd. 2: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde. Frankfurt a. M. 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker. 76), S. 871 f. Vgl. auch: Der Briefwechsel zwischen Bettine Brentano und Max Prokop von Freyberg. Hrsg. von Sibylle von Steinsdorff. Berlin, New York 1972, S. 38 f. Uwe Japp: Dramaturgie der Vertauschung. Achim von Arnims „Die Päpstin Johanna“. In: Das romantische Drama. Produktive Synthese zwischen Tradition und Innovation. Hrsg. von Uwe Japp,

Materialität und Werkgenese

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der Anteil des Epischen gegenüber Dramatischem und Lyrischem weiter vergrößert wurde. Ricklefs selbst musste daher einräumen, dass die letzte Überarbeitung „zu einem Teil wahrscheinlich doch freiwillig aus stilistischen und gattungspoetologischen Erwägungen“ geschah.15 Nicht zuletzt erschiene die Wahl von F1 als ediertem Text auch unter dem Aspekt der Materialität des Handschriftenkonvoluts problematisch. Bereits Bettina von Arnim scheiterte ja bei dem Versuch, die Entwicklung des Konvoluts gleichsam auf eine frühere Stufe zurückzudrehen. Wie sollte man beispielsweise in jedem Fall mit letzter Sicherheit ausschließen, dass Änderungen wie Tilgungen oder Zusätze auf den aus der früheren Fassung F1 in F2 übernommenen Blättern nicht vielleicht erst im Kontext der Neufassung vorgenommen wurden? Die kritische Ausgabe druckt daher als die von Arnim hinterlassene und laut der Briefzeugnisse von ihm für den Druck vorgesehene Fassung der Dichtung die chronologisch letzte Version F2 in einem ersten Textteil zusammenhängend ab. Weiterhin werden in einem zweiten Textteil alle Passagen der früheren Fassungen, also der drei Teilfassungen der Romgeschichte und der ersten vollständigen Fassung F1, geboten, die Arnim für die letzte Version ausgeschieden hat. Hierbei werden die Textanschlüsse an diejenigen Partien, die in die späteste Fassung übernommen wurden, sich also im ersten Textteil befinden, mit Seitenzahlen in der vorliegenden Ausgabe gekennzeichnet, so dass es dem Benutzer möglich ist, den Umfang aller Fassungen zu rekonstruieren. Wie sich wiederum am Beispiel des Demophon-Märchens zeigte, sind die früheren Fassungen nicht lediglich als durch die späteren Überarbeitungen überholte Vorstufen, sondern als jeweils unterschiedlich akzentuierte Behandlungen des Stoffs von durchaus eigenem Interesse anzusehen, so dass eine Wiedergabe im Textteil statt im Apparat angemessen erscheint. Das gesamte restliche handschriftliche Material zur Päpstin Johanna, das Paralipomena zum eigentlichen Werk darstellt, wie Handlungsskizzen und Entwürfe zu einzelnen Szenen und Gedichten, wird hingegen innerhalb des Kommentarteils abgedruckt. Die Eingriffe Bettina von Arnims, die natürlich nicht autorisiert waren und bei der Variantenverzeichnung nicht zu berücksichtigen sind, werden dennoch im Anhang der Ausgabe im Kontext der Darstellung der Rezeptionsgeschichte in einem eigenen Apparat als Lesarten dokumentiert. Es erschien nicht sinnvoll, diesen Aspekt des Handschriftenkonvoluts schlicht zu ignorieren bzw. seine Dokumentation einer künftigen kritischen Bettina von Arnim-Ausgabe zu überlassen. Auch in diesem Punkt hat also die Materialität der Textträger die Anlage der Edition mit geprägt. Zu hoffen ist dabei natürlich, dass diese Dokumentationen sich für zukünftige Interpretationen der Päpstin Johanna tatsächlich als relevant und vor allem fruchtbar erweisen werden, damit diese längst als eines von Arnims Hauptwerken anerkannte, aber immer noch wenig bekannte Dichtung endlich ihren bisherigen esoterischen Status verliert.

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Stefan Scherer und Claudia Stockinger. Tübingen 2000 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte. 103), S. 159–173, hier S. 164. Ricklefs 1990 (Anm. 1), S. 62.

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,Übermalungen‘ – Transkription, Emendation, Interpretation Zur 17. Manuskriptseite von Adalbert Stifters Erzählung Nachkommenschaften

Natürlich läge mit der Wahl einer Abbildung (Abb. 1) wie der hier exemplarisch ausgewählten – für Adalbert Stifters Arbeitsweise dabei allerdings durchaus typischen – Manuskriptseite der Verdacht nahe, ,Einschüchterungsgermanistik‘ betreiben zu wollen, zumal selbst Expertinnen und Experten, für die der Umgang mit Seiten wie dieser kein Exotikum bildet, sondern vielmehr zum alltäglichen Arbeitspensum gehört, wohl ebenfalls zunächst einige Schwierigkeiten haben werden, sich in diesem Labyrinth von über und neben einer Grundschicht angebrachten Streichungen und Einfügungen, den sodann wiederum gestrichenen bzw. erneut revidierten Einfügungen und deren erneuten Streichungen, Korrekturen und Revisionen1 auf Anhieb zurechtzufinden. Es handelt sich um die 17. Seite des Manuskripts von Adalbert Stifters Erzählung Nachkommenschaften aus dem Jahre 1864, die zusammen mit dem Kuß von Sentze oder dem Frommen Spruch also zu den späten Texten Stifters zählt, der, geboren am 23. Oktober 1805 im böhmischen Oberplan (heute: Horní Plana), am 28. Januar 1868 in Linz verstorben ist. Es handelt sich zugleich, was unter editionsphilologischen Gesichtspunkten eigentlich keiner eingehenderen Erläuterung bedarf, fernab jeglicher Pathologisierungstendenzen, zu denen gerade die jüngere Stifterbiographik neigt,2 typologisch betrachtet um das Produkt eines ,Papierarbeiters‘, bei Stifter mithin um einen Autor also, der seine Gedanken in ihren Entwicklungen und Schritten minutiös auf dem Papier festhält, erwägt, fortspinnt, verwirft, ersetzt – um nicht selten wieder zur Ausgangsformulierung zurückzukehren, während der ,Kopfarbeiter‘, dessen Laboratorium uns weit–––––––— 1

2

Der terminologischen Differenzierung der anglistischen Textkritik folgend, unterscheiden dieser Aufsatz wie auch der Sprachgebrauch innerhalb der Historisch-Kritischen Ausgabe der Werke und Briefe Adalbert Stifters (s. Anm. 5) zwischen der Berichtigung zur Wiederherstellung eines Textes (,Korrektur‘, z. B. „blau“ statt „bau“) und dessen semantisch verändernder Fortschreibung (,Revision‘, z. B. „grün“ statt „blau“). Vgl. hierzu auch Walter Hettche: „Revisionen generieren eine neue Textfassung, Korrekturen dagegen nicht“ (Walter Hettche: [Rez.:] Ödön von Horváth: Wiener Ausgabe sämtlicher Werke. Historisch-kritische Edition. Am Österreichischen Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek hrsg. von Klaus Kastberger. [...] In: editio 25, 2011, S. 241–246, hier S. 243). Hierzu vor allem der allerdings nicht als wissenschaftliche Abhandlung, sondern als bewusst subjektive Auseinandersetzung (zum Stifter-Jahr 2005) konzipierte Film von Kurt Palm: Der Schnitt durch die Kehle oder Die Auferstehung des Adalbert Stifter (Österreich 2004); ebenso die einleitenden Passagen in Wolfgang Matz: Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge. München 1995, S. 9– 15. – Vgl. auch Karl Wagner: Stifter-Biographik. Stifters Leben nach seinem Tod bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. In: Stifter und Stifterforschung im 21. Jahrhundert. Biographie – Wissenschaft – Poetik. Hrsg. von Alfred Doppler, Johannes John, Hartmut Laufhütte und Johann Lachinger. Tübingen 2007, S. 13–22.

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gehend verschlossen bleibt, Sätze, ja ganze Passagen ohne größere Revisionen oder Korrekturen zu Papier bringt. Beide repräsentieren – natürlich mit Schattierungen, Zwischen- und Abstufungen – zwei Arbeitsweisen, mehr nicht.3 Dass Stifter in dieser obsessiv experimentierenden Vorgehensweise ,buchstäblich‘ kaum ein Manuskript zu einem ,förmlichen‘ Abschluss brachte, die Abgabe der jeweiligen Manuskripte vielmehr zumeist durch nichts anderes als die immer dringenderen und drängenderen Ultimaten seines Budapester Verlegers Gustav Heckenast (1811–1878) diktiert war, lässt sich, wie andernorts ausgeführt,4 mit Blick auf diese spezifische Eigenart Stifter’scher Kreativität in die Formel von der ,Utopie des fertigen Textes‘ fassen. In unserem Zusammenhang ist dabei von Gewicht, dass diese Seite also zugleich die Druckvorlage für den – soll man sagen? – bedauernswerten Setzer bildete. Was in Band 3,3 der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Adalbert Stifters5 angemessen breiten Raum einnehmen wird, soll hier jedoch mit Blick auf die Leitfrage des vorliegenden Bandes, inwiefern nämlich editorische Dokumentation die literaturwissenschaftliche Interpretation befördern oder – so meine These – in eine andere als die bislang übliche Richtung lenken kann, ausgeklammert werden. Denn natürlich wird dort der Apparat als zentraler Bestandteil historischkritischen Edierens das insgesamt 30 Seiten umfassende, im Stifter-Archiv der Handschriftenabteilung der Národní Knihovna České Republiky im Prager ‚Klementinum‘ befindliche Manuskript6 Seite für Seite in eine – jedenfalls für die, die sich darauf einlassen – lesbarere und verständlichere Form ‚übersetzen‘. Statt einer Transkription, die in der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe in Form eines integralen Stufenapparats erfolgt, wie sie für die Bunten Steine,7 den Witiko8 sowie die beiden späten Fassungen der Mappe meines Urgroßvaters9 bereits jeweils vorliegt, soll der Blick vielmehr der – wenn man so will – ,Ur-Transkription‘ dieser Seite gelten, wie sie der Setzer für die von Herman Schmid herausgegebene Zeitschrift Der Heimgarten. Ein Haus- und Volksblatt mit Bildern geleistet hat, wo Nachkommenschaften 1864 in den Nummern 6–8 erstmals publiziert wurde.

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6 7 8 9

Hierzu auch grundlegend die typologische Unterscheidung zwischen „reproduktive[m], werkgenetische[m]“ und „konstruktive[m], psychogenetische[m] Schreiben“, wie sie Klaus Hurlebusch trifft; Klaus Hurlebusch: Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise. Prolegomenon zu einer Hermeneutik textgenetischen Schreibens. In: Textgenetische Edition. Hrsg. von Hans Zeller und Gunter Martens. Tübingen 1998 (Beihefte zu editio. 10), S. 7–51, bes. S. 37–48, Zitate S. 37 und 40. Johannes John: Die Utopie des „fertigen Textes“. In: Stifter-Jahrbuch, N. F. 20, 2006, S. 99–115. Adalbert Stifter: Werke und Briefe. Historisch-Kritische Gesamtausgabe. Im Auftrag der Kommission für Neuere deutsche Literatur der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald. Seit 2000 hrsg. von Alfred Doppler und Hartmut Laufhütte. Stuttgart u. a. 1978 ff. (im Folgenden unter der Sigle HKG und der jeweiligen Bandnummer zitiert). Bis Januar 2012 sind 31 Bände erschienen. Dort unter der Nr. StA 55; die Abbildungen 1 und 4 in diesem Beitrag erfolgen mit freundlicher Genehmigung der Národní Knihovna České Republiky, wofür einmal mehr gedankt sei. HKG 2,3 und 2,4, erstellt von Walter Hettche (1995). HKG 5,4, erstellt von Alfred Doppler und Wolfgang Wiesmüller (1998). HKG 6,3, erstellt von Herwig Gottwald und Alfred Haslinger unter Mitarbeit von Walter Hettche (1999).

‚Übermalungen‘ – Transkription, Emendation, Interpretation

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Abb. 1: Adalbert Stifter, Nachkommenschaften, eigenhändiges Manuskript, 30 S., hier S. 17; Stifter-Archiv der Staats- und Universitätsbibliothek Prag (Národni Knihovna České Republiky), StA Nr. 55.

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Auf einen ersten flüchtigen Blick präsentiert sich diese 17. Seite weder in ihrem Abdruck in der 7. Nummer des Heimgartens – dort auf S. 101 – noch in ihrer Überführung in die 3. Abteilung der Historisch-Kritischen Ausgabe als auffällig oder gar spektakulär. Dort findet sich Nachkommenschaften im 2. Band der Erzählungen,10 der all jene Texte versammelt, die Stifter nicht in die Studien oder die Bunten Steine aufgenommen hat. Irritationen stellen sich (auch) hier erst bei einer genaueren Lektüre ein, was nun wiederum in erster Linie für den Erstdruck gilt. Hierfür nur ein kurzes Beispiel aus den Schlussabschnitten dieser 1. Fortsetzung im Heft Nr. 7: Ein trockner Rasen, von Haselnußgesträuchen überschattet, ging gegen die Mauer, die hier niederer wachsend, so daß ich mit dem Körper unter dem Haselnußgesträuche liegend, das Zeichnungsbuch auf eine Emporragung stützen und mit meinem Haupte durch eine Scharte der Mauer hinaussehen konnte.11

Die Ungereimtheiten fallen sofort ins Auge, sie sind syntaktischer wie semantischer Natur. Die Konsultation der Handschrift macht die Lesart für die Partizipialkonstruktion „wachsend“ – im Manuskript am Zeilenende stehend – zumindest nachvollziehbar; eine eingehende Analyse des Umfelds, insbesondere der Fortsetzung am Beginn der nächsten Zeile, erhärtet allerdings den Befund, dass Stifter die ,reguläre‘ Fortsetzung des Satzes mit der Konjunktion „so daß“ am rechten Rand aus Platzgründen abbrach, mit dieser dann in der nächste Zeile neu ansetzte, es aus dem Schreibfluss heraus aber unterließ, die Doppelung ,korrekt‘ zu streichen, weshalb die HistorischKritische Edition sich für die Lesung „+war“ entschied und diesen Eingriff durch das diakritische Zeichen einer hochgestellten Crux kenntlich machte,12 jener graphischen Markierung also, die in den Textbänden der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe den Leserinnen und Lesern eine Emendation durch die Herausgeber signalisiert. Innerhalb der Stifter-Ausgabe gilt dabei die Praxis, Emendationen so sparsam wie möglich vorzunehmen, wofür ein eigener Regelkanon formuliert wurde, der es den Benutzerinnen und Benutzern erlaubt, die Plausibilität der Eingriffe zu prüfen und zu beurteilen. Für den abgeschlossenen, 2014 erscheinenden Apparat des Nachsommer etwa hat Walter Hettche die Texteingriffe nach drei Kriterien differenziert: 1. Korrekturen eindeutiger Setzfehler, 2. Restitution handschriftlicher Lesarten, weil Lesefehler des Setzers vermutet werden, 3. Konjekturen, wenn weder Handschrift noch Erstdruck einen sinnvollen Text bieten. –––––––— 10

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HKG 3,1: Erzählungen. Bd. 1. Hrsg. von Johannes John und Sibylle von Steinsdorff. 2002. Dort die Erzählungen Julius, Der späte Pfenning. Eine Parabel, Die drey Schmiede ihres Schicksals, Die Barmherzigkeit, Zuversicht, Der Waldgänger, Der Tod einer Jungfrau. Parabel und Prokopus. – HKG 3,2: Erzählungen. Bd. 2. Hrsg. von Johannes John und Sibylle von Steinsdorff. 2003. Er enthält die Erzählungen Menschliches Gut, Zwei Witwen, Nachkommenschaften, Der Waldbrunnen, Der Kuss von Sentze sowie in zwei Fassungen Der fromme Spruch. Nachkommenschaften dort auf den Seiten 23–94, die hier in Frage stehende 17. Manuskriptseite von S. 64,7 („Ich ging in mein Bett“) bis 66,1 („des Dachsteins“). Der Heimgarten. Ein Haus- und Volksblatt mit Bildern. Hrsg. von Herman Schmid, Nr. 7, 1864, S. 104. In HKG 3,2, S. 76,8–13. Abbildungen zu dieser und anderen Passagen in Johannes John: „die wirkliche Wirklichkeit derselben ...“ – Zur Problematik und Praxis der Emendationen in Adalbert Stifters Erzählung „Nachkommenschaften“. In: Jahrbuch der Jean-Paul Gesellschaft 41, 2006, S. 205–220.

‚Übermalungen‘ – Transkription, Emendation, Interpretation

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Im ebenfalls von ihm erstellten Apparat der Bunten Steine wird darüber hinaus bei der Restitution handschriftlicher Lesarten aufgrund vermuteter Lesefehler des Setzers zwischen einer „Korrektur von Textfehlern, die im Kontext einen Sinn ergeben (zurückzuweisende Emendationen, da die Möglichkeit eines Autoreingriffs nicht auszuschließen ist)“ und der „Korrektur von Textfehlern, die im Kontext keinen Sinn bzw. grammatische oder syntaktische Unstimmigkeiten ergeben (beizubehaltende Emendationen)“13 differenziert – Kriterien, die den editorischen Entscheidungsprozess transparent und (möglichst) nachvollziehbar machen sollen. Was sich in seiner grundsätzlichen Ausrichtung in der kurzen Formel komprimieren lässt, wonach alles, was in Manuskript oder Erstdruck in irgendeiner Weise ,Sinn ergibt‘, so stehen bleibt, kann sich dabei – wie unschwer vorstellbar – im Einzelfall als durchaus anfechtbar, zumindest diskussionswürdig erweisen, und zwar gerade auch dort, wo auf plausibel begründbare Emendationen verzichtet wurde. Dies betrifft etwa die Verfahrensweise der Stifter-Ausgabe, Orts- und Eigennamen nicht zu vereinheitlichen, was im Falle der Nachkommenschaften bedeutet, dass wir – trotz aller Skrupel und intensiver Diskussionen im Editorenkollegium – etwa die Antwort des Ich-Erzählers Roderer auf Susannas Frage – „aber sage, wie heiß’ ich dich denn?“ – dem Erstdruck folgend als „Heiße mich Friederich“14 stehen lassen, obwohl im Text durchgängig nur von Roderer namens Friedrich die Rede ist, der Name auch so in der Druckvorlage steht und Susanna im apostrophierten Dialog ihren künftigen Gatten bereits drei Sätze später konsequent und ausschließlich nur noch als „Friedrich“ anreden wird.15 Innerhalb dieser generell äußerst restriktiven Emendationspraxis bildet Nachkommenschaften ohne Zweifel die Ausnahme von der Regel, wird doch an nicht weniger als 48 Stellen in den 69 Druckseiten umfassenden Text eingegriffen. Dies ist beträchtlich. Zum Vergleich: Auf den insgesamt 832 Seiten des Nachsommer finden sich gerade einmal 40 Emendationen. Dies mag zum einen mit den jeweils unterschiedlichen Publikationsmedien – Buch bzw. Zeitschrift – zu tun haben, also der Qualifikation wie dem Personalstand einer Redaktion, ebenso aber mit der Qualität, neutraler gesprochen: dem Zustand und Bearbeitungsgrad der handschriftlichen Vorlage – wobei gerade unser Beispiel daran erinnern kann, welche Kunststücke in Setzereien des 19. Jahrhunderts vollbracht wurden, um Manuskriptseiten wie die hier ausgewählte in einen einigermaßen fehlerlosen Text zu ,übersetzen‘, was – wie bereits an einem Beispiel demonstriert – eben nicht immer gelang. –––––––— 13 14 15

HKG 2,3, S. 11 f. HKG 3,2, S. 80. Einen analogen Fall bietet der Nachsommer, wo die HKG hinsichtlich der differierenden Nomenklaturen „Preborn“ (HKG 4,1, S. 188,18), „Breporn“ (HKG 4,2, S. 181,15) oder „Preporn“ (HKG 4,3, S. 226,27) keine Vereinheitlichung – denn welcher wäre denn der ‚richtige‘ Name? – vornimmt. So auch in der Erzählung Die drey Schmiede ihres Schicksals, wo Leander seine künftige Gattin „Elvine“ (HKG 3,1, S. 56,27) nennt, die im Text sonst ausschließlich als Eveline begegnet. – Dass dies keineswegs nur für dichterische Texte gilt, beweisen etwa Stifters Berichte über die Ausstellungen des oberösterreichischen Kunstvereins in Linz (HKG 8,4), wo – nicht selten innerhalb eines Textes – die Schreibweise der Namen bildender Künstler differiert.

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Mit einem zweiten Beispiel befinden wir uns mitten in der 17. Manuskriptseite, auf der sich ganz generell – und wenig überraschend – die Emendationen häufen, und gelangen zugleich in mehr als einer Hinsicht in die Kernzone der Erzählung; dort – und gemeint ist hier der Erstdruck von 1864 – findet sich nämlich folgender Satz: „Ich wollte nämlich so wie der Heldendichter Peter Roderer die wirkliche Wirklichkeit derselben, und dazu die wirkliche Wirklichkeit immer neben mir haben.“ Diese Absichtserklärung ist zwar nicht völlig sinnlos, aber doch reichlich irritierend, und dabei weniger durch den gewollten Pleonasmus von der „wirklichen Wirklichkeit“, als vielmehr durch den doch einigermaßen rätselhaften, weil beziehungslosen Zusatz „derselben“. Isoliert man das entsprechende Textsegment, welches sich etwa in der Mitte der Einfügungen auf dem rechten Rand der Seite befindet, und nimmt es dabei zugleich ,buchstäblich‘ unter die Lupe,16 lässt sich die insbesondere ohne alle technischen Hilfsmittel durchaus mögliche Lesung „derselben“ als jenes Verbum identifizieren, welches Stifter im nächsten Satz erneut aufgreift, so dass sich dieser Passus in der Historisch-Kritischen Ausgabe nunmehr folgendermaßen liest: Ich wollte nämlich so wie der Heldendichter Peter Roderer die wirkliche Wirklichkeit + darstellen, und dazu die wirkliche Wirklichkeit immer neben mir haben. Freilich sagt man, es sei ein großer Fehler, wenn man zu wirklich das Wirkliche darstelle: man werde da trocken handwerksmäßig, und zerstöre allen dichterischen Duft der Arbeit.17

Man kann es durchaus als Clou und Pointe bezeichnen, dass ausgerechnet das programmatische Zentrum der Erzählung, nämlich das ästhetische Credo des Protagonisten, in seiner ersten Lesefassung ins kaum Verständliche entstellt wurde. Denn Nachkommenschaften – dies in aller Kürze zusammengefasst – erzählt in der Ich-Form die Geschichte des 26-jährigen Landschaftsmalers Friedrich Roderer und dessen Versuche, das definitive, will sagen: den Vorgaben der „wirklichen Wirklichkeit“ entsprechende Bild des Lüpfinger Moores zu malen, nachdem entsprechende Versuche am Sujet des Dachsteins zuvor in einer Kette immer neuer Anläufe, Entwürfe und – zuletzt verworfener – Ausführungen gescheitert waren. In einem Wirtshaus des Mooses lernt er Peter Roderer kennen, der sich – um es wiederum kurz zu machen – als Verwandter der verzweigten Roderer-Sippe entpuppt. Friedrich verliebt sich in dessen Tochter Susanna und entschließt sich, nachdem auch sein letztes „großes“ Bild „die Düsterheit, die Einfachheit und die Erhabenheit des Moores nicht darstellen“18 kann, zum finalen Autodafé, verbrennt alle Bilder wie seine Malutensilien und gibt seine Künstlerlaufbahn auf, was ihm um so leichter fällt, als nicht nur seine Heirat mit Susanna bereits angebahnt ist, sondern ihm darüber hinaus auch eine Karriere im „Bräuhaus“ seines Schwiegervaters in Aussicht steht: Er gibt also, wie es Konstanze Fliedl treffend formuliert hat, den Baum zugunsten des Stammbaums auf19 – ein im Übrigen in den späten Erzählungen Stifters zentraler Problemkomplex, und wenn die Thematik –––––––— 16 17 18 19

Vgl. hierzu die Abbildungen 2 und 3 in John 2006 (Anm. 12), S. 219. HKG 3,2, S. 65,3–9. HKG 3,2, S. 92. Konstanze Fliedl: Berg, Moor und Baum. Eine Lektüre der ,Nachkommenschaften‘. In: Stifter und Stifterforschung 2007 (Anm. 2), S. 261–282.

‚Übermalungen‘ – Transkription, Emendation, Interpretation

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Genealogie und Geschlechterfolge soeben etwas salopp paraphrasiert worden ist, so deshalb, weil Nachkommenschaften, anders als der Kuß von Sentze oder zumal Der fromme Spruch, diese prekären Konstellationen auf humoristische Weise erzählt und damit im Stifter’schen Œuvre eine der wenigen diesbezüglichen Ausnahmen bildet. So zielte der im Titel bewusst in Anführungszeichen gesetzte Terminus ‚Übermalungen‘ – über die Anspielung auf die Verfahrensweise des zeitgenössischen österreichischen Malers Arnulf Rainer hinaus – zunächst natürlich auf die künstlerische Tätigkeit des Landschaftsmalers Roderer, ob man diese nun als Obsession, Profession oder bloßes Steckenpferd klassifiziert. Dies freilich nicht nur: Er ist ebenso auf den optischen Eindruck gemünzt, den diese 17. Seite dem geschulten Betrachter vermittelt. Zwar will ich den Streichungen, die Stifter hier vornimmt, keine kalligraphische Intentionalität unterstellen, dennoch lassen sich unschwer die großflächig schraffierenden, dem Setzer geltenden abschließenden Streichungen von den in der Grundschicht wie am Seitenrand vorgenommenen Sofortkorrekturen und Detailüberarbeitungen unterscheiden – ganz abgesehen von den Einfügungen und Streichungen unter den Streichungen etc. pp. Mit Blick auf die bereits eingangs apostrophierte Leitfrage will ich aber noch einen Schritt weitergehen und ganz bewusst den editionsphilologischen Befund auf das Terrain der literaturwissenschaftlichen Interpretation übertragen. Meine These: Stifter vollzieht auf handschriftliche Weise – also gewissermaßen im ‚Schriftbild‘ – exakt das, was im Binnenraum der Erzählung deren Protagonist auf der Leinwand seiner Staffelei bzw. den Blättern seiner Skizzenbücher unternimmt – und umgekehrt. Es wird – in einem progressus ad infinitum – entworfen, verworfen, erwogen, probiert, revidiert, korrigiert und in immer neuem ‚Feilen‘ wieder und wieder angesetzt.20 Das mag – natürlich vorausgesetzt, dass ein solcher Analogieschluss überhaupt plausibel erscheint – (noch) nicht mehr als ein bloßes Aperçu sein: tant de bruit pour une omelette? Weshalb die These auch erweitert werden soll: Nimmt man diese, wie ich denke, augenfällige Koinzidenz der Verfahrensweisen ernst, und das heißt: beim Wort bzw. Pinselstrich, kann ein solche – vom handschriftlichen Material ausgehende – Parallelisierung gängige Interpretationen der Erzählung auf intrikate Weise korrigieren, wenn nicht sogar subvertieren, vorsichtiger formuliert: ihnen zumindest eine abweichende Lesart hinzufügen. Üblicherweise nämlich wird die Karriere des Fried(e)rich Roderer als die eines Scheiterns gelesen, allerdings – weil durch das Happyend wie den humoristischen Tonfall abgefedert und ausbalanciert – ohne alle tragischen oder katastrophalen Untertöne: Jemand erkennt – zum Glück rechtzeitig –, dass der eingeschlagene Weg –––––––— 20

Dies mit Bezug auf den Passus über seine Arbeit am Witiko im Brief an Heckenast vom 21. Dezember 1861: „Die Arbeit meiner Bücher ist so: Zuerst Hauptidee im Gedanken, 2. Ausarbeitung von Einzelheiten in Gedanken 3. Abriß von Einzelheiten Säzen Ausdrüken Scenen auf lauter einzelnen Zetteln mit Bleistift. (Hierzu müssen die erlesensten Stunden benüzt werden) 4. Textirung mit Dinte auf Papier. 5. Durchsicht dieser Textirung nach einiger Zeit mit viel Ausstreichungen Einschaltungen etc. 6. Durchsicht der Durchsicht nach geraumer Zeit. Verschmelzung mit dem Ganzen. Reinschrift“ (PRA 20, S. 45; PRA = Adalbert Stifter: Sämtliche Werke. Begründet und hrsg. von August Sauer. Fortgeführt von Franz Hüller, Gustav Wilhelm u. a. Prag: 1904 ff., Reichenberg 1925 ff., Graz 1958 ff. 25 Bde. Reprint: Hildesheim 1972; abgekürzt zitiert mit Bandzahl).

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nicht seiner Bestimmung entspricht, also ein Irr- oder, um im (Landschafts-)Bild zu bleiben, ein Holzweg war, der gerade noch rechtzeitig verlassen werden konnte. Diese Deutung schließt Stifters späten Text mit Blick auf die darin aufgeworfene Mimesisproblematik, deren Virulenz im Kontext der Realismusdiskussion des 19. Jahrhunderts in Literatur wie bildender Kunst hier keiner näheren Erläuterung bedarf, zum einen natürlich unmittelbar an zeitgenössische Diskurse an. Zum anderen bewegt sich Nachkommenschaften damit auch unübersehbar im Koordinatensystem von Dilettantismus und Meisterschaft, was die Erzählung in jener das Stifter’sche Œuvre kennzeichnenden „Platzierung zwischen Realismus und Idealismus“21 zugleich in einen weiteren wichtigen Traditionsraum ästhetischer Programmdebatten einbettet, wie sie Ende des 18. Jahrhunderts zwischen Schiller und Goethe geführt wurden und ihren Niederschlag in verschiedenen Schemen zum ,Dilettantismus‘ fanden, die allerdings erst nach Goethes Tod im 44. Band der Ausgabe letzter Hand 1833 erstmals publiziert wurden22 – in einem Zeitraum also, den insbesondere in der Literatur auf vielfältige Weise auch das Bewusstsein wie die Problematik des Epigonentums bestimmte. In jedem Fall bleibt dieses Deutungsmuster einer eindeutig teleologischen Sichtweise verpflichtet: Entscheidend ist, dass das ‚endgültige‘ Bild ungemalt bleibt. Was aber, wenn über diese Inkongruenz von Wollen und Können, Vorsatz und Umsetzung sich das zentrale ästhetische Credo – „die wirkliche Wirklichkeit darstellen“ zu wollen – selbst als eine uneinlösbare, im Kern entweder hybride oder aber naive Forderung erwiese, ja sogar eine contradictio in adiecto bildete? Aus einem solchen, nicht mehr auf das Telos, nämlich das ,fertige‘ (was mit Blick auf Stifters Schreibpraxis zugleich ja bedeutet: niemals fertige) Endprodukt der künstlerischen Tätigkeit fokussierten Perspektivwechsel könnte eine entscheidende Neubewertung des kreativen Schaffens selbst resultieren, das Mathias Mayer mit Blick auf die Roderer’sche Obsession ebenso pointiert wie zutreffend als „Lebens-Aufgabe“23 bezeichnet hat. Die tägliche, mit Lebenszeit bezahlte Arbeit am Bild (im Binnengeschehen der Erzählung) wie ebenso der stetig vorangetriebene Prozess der Textgenese (durch deren Autor) werden damit nicht nur aufgewertet und entlastet, sie erhalten zugleich und unabhängig von ihrem Ge- oder aber Misslingen ihre eigene Dignität. Der entschieden zu oft zitierte Satz vom ,Weg, der das Ziel bildet‘ soll hier nicht bemüht, sondern eher Descartes paraphrasiert – ‚Ich schreibe bzw. male, also bin ich‘ – oder ein später Aphorismus Goethes zitiert werden: „Dem tätigen Menschen kommt es darauf an, daß er das Rechte tue, ob das Rechte geschehe soll ihn nicht kümmern“24 – eine Verbindungslinie, die keineswegs willkürlich gezogen wird, –––––––— 21 22

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Mathias Mayer: Adalbert Stifter. Erzählen als Erkennen. Stuttgart 2001, S. 224. Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Bd. 44. Stuttgart, Tübingen 1833. Dort unter dem Titel Ueber den sogenannten Dilettantismus oder die praktische Liebhaberey in den Künsten. 1799, S. 255–285. Mayer 2001 (Anm. 21), S. 203: „Er hält sich die Möglichkeit offen, sich so zu perfektionieren, dass bei seinem Tod nur ein Bild vorhanden sein mag, in das gleichsam alle weniger vollkommenen Vorstudien eingegangen wären – Stifter entfaltet hier die dialektische Möglichkeit einer ,Lebens-Aufgabe‘, die ebenso Lebenswerk wie Selbstaufgabe des Lebens ist.“ Aus: Eigenes und Angeeignetes in Sprüchen (1821), in: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter u. a. 21 in 33 Bänden und

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konnte Stifter eine solche ,Pädagogik der Umwege‘ doch bei Goethe vielfältig präfiguriert finden, der Zeit seines Lebens den Erkenntniswert von „Irr-, Schleif- und Schleichwegen“25 betont hatte. So lässt sich der Entwicklungsgang, der den Protagonisten in Wilhelm Meisters Lehrjahre in einer doppelten ,Berufung‘ zuletzt zu seinem Sohn wie zu seiner Tätigkeit als Wundarzt führen wird, in toto als exemplarische Rehabilitierung des (produktiven) Irrtums lesen, was insbesondere im Umkreis des ‚Lehrbriefs‘ in formelhafter Prägnanz festgehalten wird und ausdrücklich die jeweiligen ,Bildungsstufen‘ eines potentiell unabschließbaren Lernprozesses würdigt und rechtfertigt: Steile Gegenden lassen sich nur durch Umwege erklimmen, auf der Ebene führen gerade Wege von einem Ort zum andern. [...] Die Höhe reizt uns, nicht die Stufen; den Gipfel im Auge wandeln wir gerne auf der Ebene. [...] Der echte Schüler lernt aus dem Bekannten das Unbekannte entwickeln und nähert sich dem Meister.26

Wenn sich – so die These – unter produktionsästhetischen Gesichtspunkten in der Roderer’schen Mal- die Stifter’sche Schreibpraxis widerspiegelt, handelt es sich bei dieser Parallelführung nicht um einen ‚Kurzschluss‘ oder eine bloß punktuelle Beobachtung, noch weniger um reine Spekulation als Folge einer editionsphilologischer Detailarbeit geschuldeten ,déformation professionelle‘; vielmehr lassen sich signifikant analoge Konstellationen auch in anderen Texten Stifters finden, und dies vom Beginn seines dichterischen Schaffens an. In der Narrenburg etwa, einer Erzählung aus den 40er Jahren, ist gleich einleitend von einem zwar als „lächerlich“ bezeichneten, gleichwohl strikt verbindlichen „Fideicommiß“27 die Rede, die die Aufnahme in die Geschlechter- und Erbfolge derer von Scharnast an zwei Bedingungen knüpft: zunächst die eigenhändige Abfassung einer schriftlichen Lebensgeschichte als Voraussetzung, um überhaupt erbberechtigt zu sein, wobei über den Verwendungszweck dieser Konfession zunächst nichts anderes gesagt wird, als dass sie „in einem feuerfesten Gemache“28 zu den anderen dort befindlichen Aufzeichnungen gelegt werden solle, deren lückenlose Lektüre – „wobei es ihm aber nicht gestattet ist, irgend eine von dem Gemache ihrer Aufbewahrung wegzutragen“29 – dann die zweite Aufnahmebedingung bildet. Die charakterliche Vorbildlichkeit des Kandidaten, die Qualität des Textes oder gar dessen weitergehende Distribution durch Publikation sind dabei von sekundärer Bedeutung, wichtig allein ist die – feierlich beschworene – Verpflichtung, seine Biografie unter den Anspruch der „Wahrheit“30 zu stellen, mit anderen Worten: Haltung und Ethos des schreibenden Subjekts. Noch prekärer, weil in einer existentiellen Grenzsituation angesiedelt, ist die ,Schrift‘ des ,sanftmüthigen Obristen‘ aus der Mappe meines Urgroßvaters, als dieser –––––––— 25 26 27 28 29 30

Registerband. München 1985–1999 (im Folgenden abgekürzt als MA mit Bandzahl); dort MA 17, S. 738. Glückliches Ereignis, in: MA 12, S. 90. Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: MA 5, S. 497 f. HKG 1,4, S. 321. So auch in der Journalfassung HKG 1,3, S. 303. HKG 1,4, S. 321. HKG 1,4, S. 321. HKG 1,4, S. 321.

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im gleichnamigen Kapitel dem Urgroßvater des Ich-Erzählers vom Tod seiner Frau erzählt, die bei einer Gebirgswanderung in eine Schlucht gestürzt war. Wenn der Obrist in der Lage ist, von diesem traumatischen Erlebnis, das ihn an den Rand des Suizids geführt hatte, überhaupt zu berichten, muss er Mechanismen entwickelt haben, diesen Verlust wo nicht ‚bewältigt‘, so doch erträglich gemacht zu haben. Dieses Therapeutikum, das er auch dem in einer vergleichbaren Misere befindlichen Urgroßvater Augustinus empfiehlt, besteht in einer während seiner Feldzüge auf fremden Rat hin31 eingeübten Schreibpraxis, die wiederum strengen Regularien unterworfen ist, indem der Obrist sich nämlich die Pflicht auferlegt hatte, zwar ein regelmäßiges Diarium zu führen, diese „Päcke“32 allerdings sogleich zu versiegeln, um sie frühestens nach drei Jahren wieder öffnen und lesen zu dürfen – ein Junktim, das ihm nicht nur hilft, Krisen, Schicksalsschläge und Katastrophen zu bewältigen, sondern zugleich in Kernzonen seiner Sozialisation vordrang, indem es zu seiner Persönlichkeitsbildung, der Formung und Festigung seines Charakters wesentlich beitrug: „denn ich glaube, daß ich schier alles, was ich geworden, durch dieses Mittel geworden bin.“33 Wichtiger als das therapeutische Element in der Domestikation des Schmerzes und wichtiger als der pädagogische Nutzen – half diese Übung dem Obristen doch, „ein besserer, weit s a n f t e r e r Mensch“34 zu werden – ist in unserem Zusammenhang freilich, dass diese Schreibexerzitien wiederum einer unmittelbaren Nutzanwendung ausdrücklich und per definitionem entzogen werden und demgegenüber der Fokus auf der im wahrsten Sinne des Wortes hand-werklichen Tätigkeit des Schreibens liegt: Ich schreibe, also bin ich. Ich schreibe, also lebe ich. Ich schreibe, um zu überleben. Was bei Stifter eben auch heißen kann: scribo quia absurdum. Wenn Stifter solche an einer formalen Vollendung eigentümlich uninteressierten Exerzitien wiederholt an die sowohl konkret wie metaphorisch zu verstehende Erfahrung eines ,Abgrunds‘ koppelt, der in immer neuen Anläufen ,überschrieben‘ werden bzw. gegen den – wo dies nicht gelingt – zumindest aber angeschrieben muss,35 so sind diese Grenzerfahrungen in seinem Werk keineswegs nur persönlicher oder privater Natur; ihnen wohnt, was nicht unerwähnt bleiben soll, vielmehr auch eine gesellschaftspolitische Dimension inne, wenn Stifter etwa unter dem Eindruck der Ereignis–––––––— 31 32 33 34

35

„Ein alter Kriegsmann rieth es in meiner Gegenwart lachend einer Jungfrau an, die gerade in Liebeskummer befangen war, und sagte, daß es in diesen Fällen eine gute Wirkung thue“ (HKG 1,5, S. 50). HKG 1,5, S. 50. HKG 1,5, S. 50. So in der Journalfassung (1841/42), HKG 1,2, S. 27, während die Studien-Fassung auf dieses explizite Fazit verzichtet und stattdessen die wachsende Gleichförmigkeit der bis ins Alter fortgesetzten Aufzeichnungen betont, was sich ja gleichermaßen auf deren Inhalt wie deren Schriftbild beziehen lässt: „In dem Thale bekamen meine Päckchen immer mehr Gleichmässigkeit, bis im Alter eines, wie das andere, wurde“ (HKG 1,5, S. 53). Hierzu Alfred Doppler: Der Abgrund. Studien zur Bedeutungsgeschichte eines Motivs. Graz, Wien 1968. – Hartmut Laufhütte: Das sanfte Gesetz und der Abgrund. Zu den Grundlagen der Stifterschen Dichtung ,aus dem Geiste der Naturwissenschaft‘. In: Stifter-Studien. Ein Festgeschenk für Wolfgang Frühwald zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Johannes John, Walter Hettche und Sibylle von Steinsdorff. Tübingen 2000, S. 61–74. – Horst Dieter Rauh: Der verschleierte Abgrund – Mensch und Natur bei Stifter. In: Begegnungen mit Adalbert Stifter. Aachener Akademietagung zum 200. Geburtstag. Hrsg. von Karl Allgaier und Josef Schreier in Verbindung mit der Rheinischen Adalbert-Stifter-Gemeinschaft. Aachen 2006, S. 93–115.

‚Übermalungen‘ – Transkription, Emendation, Interpretation

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se im revolutionären Wien des Jahres 1848, die die Monarchie aus seiner Sicht expressis verbis an den „Abgrund“36 führten, eine Fülle von Zeitungsartikeln zu Politik und Bildung verfasst; oder sie erfassen im ,horror vacui‘, der die Insassen des Luftschiffs Der Condor in Stifters Erstling angesichts eines bis ins Unendliche leeren, eben nicht mehr von Gott geschaffenen und beschützten Weltalls überfällt und auf beklemmende Weise die ,Nachtseite‘ des sich entfesselnden technisch-naturwissenschaftlichen Fortschritts gestaltet, ebenso repräsentative Bewusstseinslagen zu Mitte des 19. Jahrhunderts. Gleichfalls lohnend wie möglich und sinnvoll wäre es an dieser Stelle, von Stifters permanenter, aus zuweilen nur mühsam zu rekonstruierenden Mikro- und Detailkorrekturen bestehender Umschrift seiner Texte, die sich in den sogenannten ,ablegten Blättern‘ – also jenen von Stifter aus der handschriftlichen Druckvorlage aussortierten, in toto immer und immer wieder abgeschriebenen und sich dabei nur in Minimalia verändernden Seiten37 – auch einer Form des Leerlaufs nähert, eine Linie zur ebenso charakteristischen wie sperrigen Handlungsarmut seiner späten Dichtungen zu ziehen, die vom Nachsommer über den Witiko bis vollends zum Frommen Spruch alltäglichste Verrichtungen und Vorgänge in einer minutiösen Detailversessenheit zu erfassen suchen, die nicht nur Friedrich Hebbel Anlass zu Spott und Karikatur war. Was sich für den Autor Stifter längst nicht mehr von selbst versteht – nämlich einen Text ,zu Ende zu bringen‘ –, manifestiert sich auf der Textoberfläche, aber weit mehr noch zwischen den Zeilen oder im Unterholz der Manuskripte, das die Apparate der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe so gut es geht zu lichten und zugänglich zu machen sich bemühen, als Versuch, eine latent stets gefährdete Ordnung durch eine Aufwertung der ,Lebenswelt‘38 zu stabilisieren, die man in der jüngeren Forschung zutreffend als ,Ritualisierung des Alltags‘ – eine contradictio in adiecto auch dies – bezeichnet hat.39 Eine solche Ordnung aber kann nur durch schriftliche Fixierung gestiftet werden, wobei die Schreibarbeit selbst die Mühsal dieses Unterfangens und damit zugleich die prinzipielle Fragilität der immer wieder beschworenen Ordnungssysteme und Sinnstiftungsinstanzen dokumentiert. Sosehr der Schreibakt selbst, wie gesehen, von Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit an zum Thema wird, lässt –––––––— 36

37

38 39

So im Wiener Stimmungsbild, veröffentlicht in der Augsburger Allgemeinen Zeitung vom 10. Januar 1849: „und wenn die Maßregel zur Hintanhaltung jener Erschütterungen und jener Tyrannei, die den Staat an den Rand des Abgrunds zu bringen drohte, angeordnet und ausreichend ist, so mögen manche Unannehmlichkeiten die dieser Zustand bringt hingenommen werden“ (HKG 8,2, S. 51). So auch in dem für den Wiener Boten (15. Juli 1849) verfassten Einwurf (HKG 8,2, S. 128). Für den Witiko liegen rund 800 solcher ,abgelegten Blätter‘ vor, deren Dokumentation in Buchform mehrere Bände gefüllt und so die Grenzen konventioneller Edition erreicht, wenn nicht gar überschritten hätte, so dass sich die Innsbrucker Herausgeber Alfred Doppler und Wolfgang Wiesmüller dazu entschlossen, in HKG 5,4 ein Stemma und ausgewählte, eigens kommentierte Transkriptionsbeispiele zu präsentieren, die vollständigen Transkriptionen dieser Stifter’schen Handschriften aber im Internet abzulegen, wo sie unter der Adresse http://germanistik.uibk.ac.at/stifter/witiko allgemein zugänglich und einsehbar sind. Dem von Walter Hettche erarbeiteten Apparat zum Nachsommer, dessen beide Bände 2014 erscheinen werden, wird eine CD-Rom beiliegen, die ebenfalls die zu diesem Text ‚abgelegten Blätter‘ dokumentieren wird (vgl. hierzu auch Anm. 43). Stefan Braun: „Lebenswelt“ bei Adalbert Stifter. Frankfurt a. M. u. a. 1990 (Forschungen zur Literaturund Kunstgeschichte. 29). Vgl. hierzu Braun 1990 (Anm. 38).

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sich doch eine Entwicklung – von einer ,Dynamik‘ lässt sich allenfalls in angemessener Ambivalenz sprechen40 – hin zu einem immer skrupulöseren Umgang mit dem Abschluss oder gar der ,Vollendung‘ eines Werks verfolgen, der, wie auch Walter Hettche betont, ein Spezifikum des späten Stifter der 60er Jahre ist: Stifter selbst ist bei der jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Projekt der Mappe meines Urgroßvaters fast zu einem psychogenetischen Dichter geworden, für den der Sinn seines Tuns nicht im Abschluss, im Produkt, sondern im Prozess, im nie anzuschließenden Schreibakt selbst liegt. Bei der Arbeit am Nachsommer dominiert indessen noch das Ideal der Vollendung, das Streben nach einem makellosen Kunstwerk, dem keine Spuren seiner schwierigen Entstehung mehr anhaften sollen.41

Dass jedoch auch gerade das Signum des Fragmentarischen der 4. Fassung der Mappe meines Urgroßvaters (1867) einen eigenen Status der Nobilitierung zu verleihen imstande war, beweist der vielzitierte handschriftliche Zusatz von Stifters Nachlassverwalter und postumem Herausgeber Johann Aprent auf der 164. und letzten Seite dieses Manuskripts – „Hier ist der Dichter gestorben“ –, der nicht unwesentlich „zur Auratisierung der ,Letzten Mappe‘“42 wie ihres Autors beigetragen hat.43 Dass dies sogar durch eine nachträgliche Ordnung und Bindung ursprünglich verstreuter Notizblätter und Aufzeichnungen geschehen kann, hat Walter Hettche am Beispiel der Archivierung der handschriftlichen Materialien zum Nachsommer durch die Bayerische Staatsbibliothek registriert: Die Offenheit, die Stifter seinen handschriftlichen Materialien zugestand, die Möglichkeit, Blätter immer wieder auszutauschen, neu zu gruppieren oder ganz aus dem Manuskript herauszunehmen, wird verschleiert durch die drei prachtvollen goldgeprägten Lederbände, in die man die Satzvorlage gebunden hat: Die Handschrift erhält dadurch eine Aura der Vollendung, gar der Vollkommenheit, die der Autor ihr so gewiß nicht attestiert hat.44

Auch wenn sich diese Ordnungsversuche im Binnenraum der Texte wie im Spielraum des Manuskripts als immer mühsamer und prekärer erwiesen – die beiden späten Mappen blieben unvollendet, der Fromme Spruch zu Lebzeiten unpubliziert –, hat sie Stifter gleichwohl – was sich durch zahlreiche Briefpassagen belegen ließe – als keinesfalls nutz- oder gar sinnlos begriffen, obwohl ihm, wie ich denke, die hier skizzierten grundlegenden Aporien durchaus bewusst waren. Dass er diese etwa in seiner umfänglichen Korrespondenz der letzten Jahre wiederum zu ‚überschreiben‘ suchte, –––––––— 40

41

42 43

44

Vgl. hierzu Mathias Mayers erhellende Bemerkungen zu den erzählerischen Mitteln, mit denen der späte Stifter eine „Verlangsamung des Tempos fast bis zum Stillstand zum Anhalten der Zeit“ erzwingt; Mathias Mayer: Die Angst vor der Musik oder Statisches erzählen. In: Stifter und Stifterforschung 2007 (Anm. 2), S. 201–212, hier S. 209. Walter Hettche: „Dichten“ oder „Machen“? Adalbert Stifters Arbeit an seinem Roman ,Der Nachsommer‘. In: Stifter-Studien 2000 (Anm. 35), S. 75–86, das Zitat auf S. 77 f.; zum Terminus des ,psychogenetischen‘ Autors vgl. Anm. 3. Mayer 2001 (Anm. 21), S. 95. Vgl. zu den beiden letzten Mappen die 6. Abteilung der HKG. – Ebenso: Adalbert Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters. Faksimileausgabe der Dritten Fassung. Transkription von Alois Hofmann. Leipzig 1988 (Manu scripta. 3). Walter Hettche: Die Handschriften zu Stifters ,Nachsommer‘ und ihr textanalytisches Potential. In: Stifter und Stifterforschung 2007 (Anm. 2), S. 238–259, hier S. 238.

‚Übermalungen‘ – Transkription, Emendation, Interpretation

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steht auf einem anderen Blatt und muss im Rahmen dieses Aufsatzes dort auch stehen bleiben.45 Stattdessen ein letzter Beleg für die These, wonach uns die Kenntnis einer handschriftlichen Vorlage – die dann in der Edition von Apparat und Kommentar natürlich sinnvollerweise auch wenigstens exemplarisch als Faksimile dokumentiert werden müsste – zur Neubewertung und Relativierung, womöglich gar zur Revision gängiger Interpretationsmuster führen kann. Wir kehren damit zur Ausgangskonstellation – dem Verhältnis von Bild und Schrift – zurück, nunmehr allerdings in diametral umgekehrter Konstellation. Dies zunächst in der Skizze zu einem Gemälde (Abb. 2), das dann in dieser Form (Abb. 3) zur Ausführung gelangt.

Abb. 2 und 3: Die Bewegung, Vorzeichnung zur II. Fassung, 1858 und Die Bewegung, II. Fassung, Fragment, um 1858–1862; aus Fritz Novotny: Adalbert Stifter als Maler. Mit 99 Bildern und 7 Farbentafeln. Wien: Anton Schroll & CO 1941, Tafeln Nr. 75 und 76. Die Exponate befinden sich im Besitz der Adalbert Stifter Gesellschaft Wien (Adalbert Stifter Gedenkräume im Schubert Geburtshaus, Nußdorfer Straße 54, A-1090 Wien; http://www.wien museum.at/de/standorte/ ansicht/schubertgeburtshaus.html).

–––––––— 45

Hierzu Alfred Doppler: Adalbert Stifters Briefe als Dokumente der Selbstdarstellung. In: Stifter und Stifterforschung 2007 (Anm. 2), S. 1–12.

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Es handelt sich um die Studie Bewegung, an der Stifter – bekanntlich eine künstlerische Doppelbegabung, die sich zumal in den Anfangsjahren seines Schaffens durchaus unsicher darüber war, ob ihn seine Talente eher zum Maler oder aber Schriftsteller prädestinierten – zwischen 1858 und 1862 intensiv arbeitete. Dies wissen wir deshalb so genau, weil das Stifter-Archiv des Prager ‚Klementinums‘ auch dessen Tagebuch über Malereiarbeiten aufbewahrt, in dem das jeweilige Pensum Tag für Tag und dabei im wahrsten Sinne des Wortes minutiös notiert wird. So registrierte Stifter das diesbezügliche Tagwerk vom April 1859 (Abb. 4):

Abb. 4: Adalbert Stifter, Tagebuch über Malereiarbeiten / am 5t Februar 1854 begonnen, 65 S., hier S. 18 und 19; Stifter-Archiv der Staats- und Universitätsbibliothek Prag (Národni Knihovna České Republiky), StA Nr. 238. – Nach dem Original transkribiert ist im Folgenden ein Teil der Seite 19.

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Monatstag Stunden April. 1 9.34 2 9.19 4 8.26 5 9.29 6 9.26 7 8.39 ” 11.23 [...] 23 8.46 25 7.50 30 11.30 Summe

Gegenstand

Stunde Minuten

12.23 12.46 10.26 10.12 12.51 10.57 1.44

an der Bewegung gemalt (trokne Steine)… an der Bewegung gemalt (trokne Steine)… an der Bewegung gemalt (trokne Steine)… an der Bewegung gemalt (trokne Steine)… an der Bewegung gemalt (trokne Steine)… an der Bewegung gemalt (trokne Steine)… an der Bewegung gemalt (trokne Steine)…

2 3 2 –– 3 2 2

49 27 –– 43 25 18 21

10.46 9.27 1.0

an der Bewegung gemalt (trokne Steine)… an der Bewegung gemalt (trokne Steine)… an der Bewegung gemalt (trokne Steine)…

2 1 1

–– 37 30

An der Bewegung gemalt

97

1546

Was wir hier vor uns haben, ist die Verzeichnung von Lebenszeit in ihrer denkbar nacktesten Form, zugleich auch ein höchst aufschlussreiches Beglaubigungsritual ad se ispum. Stifter hat das Bild zwar nicht in Schrift übersetzt – eine solche Wendung klänge zwar chic, wäre aber doch reichlich unpräzise –, wohl aber einen Begleittext dazu verfasst, der auch hier den Schluss zulässt, dass der Akzent, zugespitzt: Wert und Würde der künstlerischer Aktivität jenseits von Finalität und Perfektion – Stifter hat das Bild nie öffentlich präsentiert oder ausgestellt – im Akt der Produktion, dem Status nascendi zu suchen sind. Kunst gewinnt damit über jede Kunst-Fertigkeit hinaus eine existentielle Bedeutung und anthropologische Dimension. Inwieweit auch hier Gründe für jene ,Modernität‘ Stifters zu liegen vermögen, die die neuere, erfreulich lebhafte und polyphone Stifter-Philologie ja in einem Maße betont und herausgearbeitet hat, dass es mir mittlerweile geboten scheint, gelegentlich auch die Grenzen dieser Modernität zu bedenken, wäre eine Spur, die zu verfolgen sich als überaus spannend erweisen könnte. Auch hier sei im Übrigen vor vorschnellen Psychologisierungen gewarnt: Wenn Stifter in seiner Manuskriptarbeit gelegentlich neben der Bogenzahl auch die niedergeschriebenen Wörter penibel zählt, so geschieht dies nicht aus einer Quantifizierungsmanie, sondern um einen möglichst genauen Überblick über den Umfang des gerade entstehenden Textes – bzw. das bei der Publikation in einer Zeitschrift zumeist vorgegebene Seitenlimit – zu behalten. Und in der Tat kann es gerade bei den späten Erzählungen verblüffen, wie diszipliniert Stifter hier arbeitet, so dass trotz der Fülle der Umarbeitungen die ursprüngliche Zeichenzahl der Grundschicht cum grano salis konstant beibehalten wird. Trotz aller Reserven gegen vorschnelle Pathologisierungstendenzen, zumal dann, wenn sie primär aus Stifters Arbeitsweise, nämlich dem handwerklichen Vorgang des Schreibens selbst abgeleitet werden, sei damit keineswegs in Abrede gestellt, dass solche Beglaubigungsmechanismen, wie sie im Malertagebuch manifest werden oder –––––––— 46

Ingesamt hat Stifter an diesem Gemälde – am Motiv wie am Detail (die Vermerke zum „Gegenstand“ bleiben durchgängig gleich) – im April 1859 an 19 Tagen in 21 Sitzungen gearbeitet.

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wie sie die ,abgelegten Blätter‘ zum Nachsommer47 wie zum Witiko dokumentieren und wie sie sich etwa auch aus dem Schreibfuror der späten Briefkonvolute an seine Gattin Amalia rekonstruieren lassen, natürlich auch eine Herausforderung für psychologische wie psychoanalytische Deutungsansätze bieten. Insbesondere die zahlreichen Studien zur Stifter’schen Figur der ,Wiederholung‘ wie zu den zahlreichen Formen von Ritual und Ritualisierung48 in seinem Spätwerk haben hier die Forschung gerade in jüngerer Zeit erfreulich bereichert, und man darf gespannt sein, welche Folgerungen sie aus den schon publizierten oder in Bälde erscheinenden Apparat-Bänden der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe49 wie den dort in einer eigenen Abteilung50 versammelten autobiographischen Aufzeichnungen und Dokumenten ziehen wird!

–––––––— 47 48

49

50

Das 62 Blatt umfassende Konvolut ‚abgelegter Blätter‘ zum Nachsommer befindet sich im AdalbertStifter-Institut des Landes Oberösterreich Linz; hierzu Hettche 2007 (Anm. 44), bes. S. 236. Aus der Fülle von Veröffentlichungen jüngeren Datums seien hier nur genannt: Albrecht Koschorke, Andreas Ammer: Der Text ohne Bedeutung oder die Erstarrung der Angst: Zu Stifters letzter Erzählung ‚Der fromme Spruch‘. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61, 1987, S. 676–719. – Isolde Schiffermüller: Buchstäblichkeit und Bildlichkeit bei Adalbert Stifter. Dekonstruktive Lektüren. Bozen 1996. – Michael Wild: Wiederholung und Variation im Werk Adalbert Stifters. Würzburg 2001. – Martina Wedekind: Wiederholen – Beharren – Auslöschen: Zur Prosa Adalbert Stifters. Heidelberg 2005. – Alice Bolterauer: Ritual und Ritualität bei Adalbert Stifter. Wien 2005. – Michèle Godau: „Wirkliche Wirklichkeit“. Mythos und Ritual bei Adalbert Stifter und Hans Henny Jahnn. Würzburg 2005. – Stefan Braun: Gelebte, zelebrierte oder mechanisierte Alltäglichkeit? Der Stellenwert des Alltags in Adalbert Stifters Roman ‚Der Nachsommer‘ und in seiner Erzählung ,Bergkristall‘. In: Begegnungen mit Adalbert Stifter 2006 (Anm. 35), S. 139–158. – Ordnung – Raum – Ritual. Adalbert Stifters artifizieller Realismus. Hrsg. von Sabina Becker und Katharina Grätz. Heidelberg 2007. – Johannes John: Rituale des Sprechens – Rituale des Schreibens. Zu Adalbert Stifters später Erzählung „Der fromme Spruch“. In: Codzienność w literaturze XIX (i XX) wieku. Od Adalberta Stiftera do współczesności. Hrsg. von Aneta Mazur. Opole 2007, S. 93–107. Hierzu nochmals Walter Hettche: „Was man Stifters Erzählprosa immer schon attestiert hat, die Spannung zwischen dem an der Oberfläche Gesagten und dem in der Tiefe des Unsagbaren Verborgenen, läßt sich an den Handschriften nicht einfach nur als Gegebenes, als Produkt beobachten; es wird vielmehr in seiner Prozeßhaftigkeit erkennbar.“ Daraus zieht er abschließend das Fazit: „Wer dann aber auf all diese benutzerfreundlich aufbereiteten Materialien verzichtet und um die Historisch-Kritische Ausgabe weiterhin einen Bogen macht, sollte sich lieber nicht mehr öffentlich über den ,Nachsommer‘ äußern“; Hettche 2007 (Anm. 44), S. 241 und 246. Dort in der 7. Abteilung: Kleine Prosa. Gedichte. Autobiographische Aufzeichnungen. Dokumente zu Leben und Werk.

Gabriele Sander

Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz – ein multimediales Schreibprojekt

1.

Entstehung und Überlieferung

Mangels aussagekräftiger Dokumente und Selbstzeugnisse liegen bis heute sowohl der genaue Beginn von Alfred Döblins Arbeit am Alexanderplatz-Roman wie auch der konkrete Anstoß im Dunkeln. Es spricht jedoch einiges dafür, dass die Uraufführung von Walter Ruttmanns experimentellem Montage-Film Die Sinfonie der Großstadt am 23. September 1927 Döblin in dem Plan bestärkt haben könnte, seine literarische Berlin-‚Sinfonie‘ zu verfassen. Beinahe wie eine Reminiszenz an den Film liest sich die Eingangssequenz des Romans, überschrieben „Mit der 41 in die Stadt“;1 auch Ruttmann eröffnet seinen Film mit einer extrem dynamisierten, in rasanter Schnittfolge präsentierten Fahrt von der Peripherie ins Innere der Stadt Berlin.2 Inspirativ könnte auch der Photoband von Mario von Bucovich gewirkt haben, der 1928 in der Reihe Das Gesicht der Städte unter dem Titel Berlin mit einem Geleitwort von Döblin erschien; aller Wahrscheinlichkeit nach war er bereits im Jahr zuvor in dieses Projekt einbezogen. Frappierend sind jedenfalls einige motivische und atmosphärische Übereinstimmungen zwischen einzelnen Photos und Szenen bzw. Lokalitäten aus Berlin Alexanderplatz (z. B. U-Bahn-Baustelle am Alexanderplatz, Berliner Schlachthof).3 Auch benutzte Döblin für sein Vorwort ebenso wie für den Roman als Quelle das Statistische Jahrbuch der Stadt Berlin von 1927.4 Film und Photoband könnten Döblin also Anregungen zu seinem Romanprojekt vermittelt haben, das sich aus einem spezifischen mediengeschichtlichen Umfeld heraus entwickelte und dessen Entstehung von intermedialen Brückenschlägen begleitet ist. Wichtigstes Indiz für den Arbeitsbeginn im Oktober 1927 sind die in das Manuskript integrierten Zeitungsmeldungen aus dem Zeitraum zwischen Oktober 1927 und Januar 1928. Diese massenmedialen Dokumente bildeten offenbar von Anfang an –––––––— 1

2

3 4

Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Hrsg. von Werner Stauffacher. Zürich, Düsseldorf 1996, S. 15. Alle Romanzitate des vorliegenden Beitrags beziehen sich auf diese Ausgabe; Seitenangaben erfolgen mit der Sigle BA. Schriftliche Zeugnisse über Döblins Rezeption des Films sind nicht überliefert; es ist aber davon auszugehen, dass er ihn zur Kenntnis genommen hat. Zur breiten zeitgenössischen Rezeption des Films vgl. Walter Ruttmann. Eine Dokumentation. Hrsg. von Jeanpaul Goergen. Berlin [1987], S. 26–31 und 114– 121. Vgl. die Abbildungen in: Gabriele Sander: Erläuterungen und Dokumente: Alfred Döblin „Berlin Alexanderplatz“. Stuttgart 1998, S. 9 und 31. Vgl. BA 448.

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Gabriele Sander

gleichermaßen Inspirationsquelle wie Arbeitsbasis. Parallel zur erzählten Zeit des Romans, die vom Herbst 1927 bis in den Winter 1928/29 reicht, übernahm Döblin für die späteren Kapitel Schlagzeilen und Berichte aus Berliner Tageszeitungen vom Frühjahr bis Spätherbst 1928, sodass sich der Roman unter der schreibenden Hand zu einer – freilich selektiven – Chronik der lokal- und weltgeschichtlichen Ereignisse entwickelte. Bereits ein halbes Jahr nach Arbeitsbeginn machte Döblin die Öffentlichkeit auf das im Entstehen begriffene Werk neugierig: Ich bin eben beschäftigt mit einem Berliner Roman, ich meine, einer epischen Arbeit in normaler Sprache, die sich mit dem Osten Berlins, der Gegend um den Alexanderplatz und das Rosenthaler Tor herum beschäftigt. [...] Vielleicht kann ich da noch etwas Material holen, [...] nicht bloß bei der Heilsarmee, auf dem Viehhof, aus Kriminalakten.5

Diese Äußerung belegt, dass Döblin trotz des Berlin-Themas seiner seit dem Roman Die drei Sprünge des Wang-lun erprobten Arbeitsweise treu blieb. Nach gewohnter Manier sammelte er vor und während der Niederschrift Bild- und Textmaterialien und erschloss sich mehr oder minder systematisch neue und fremde Wissensgebiete, d. h. er betrieb spezielle Studien, um sich auf den aktuellen Kenntnis- bzw. Forschungsstand zu begeben und für seine Schilderungen „Milieusicherheit“ zu erreichen.6 Döblins Postulat der „Tatsachenphantasie“ aus dem Berliner Programm von 1913 ist Ausdruck einer solchen Poetik des Wissens, die sein gesamtes Œuvre kennzeichnet. Die gesammelten „Realien“ hatten für den Schreibprozess die Bedeutung von Impulsgebern, sie dienten dem Autor als „Vehikel“ seiner Phantasie, als „Beförderungsmittel, Anregungsmittel“ (SLW 29). Bei seinen früheren Romanen waren es zumeist Reiseberichte, ethnographische und historische Darstellungen bzw. Quellentexte oder auch naturwissenschaftliche Fachbücher gewesen, aus denen er durch Exzerpte, Zeichnungen und Tabellen einen auf seine Bedürfnisse abgestimmten Wissensspeicher herstellte und die so gewonnenen Informationen dann in seine Fiktionen einfließen lassen konnte.7 Bei seinem Berlin-Roman richtete sich Döblins Sammeltätigkeit jedoch fast ausschließlich auf Gebrauchstexte und Alltagsdokumente, d. h. auf Zeitungen und Zeitschriften unterschiedlichster Ausrichtung, ferner Reklamezettel, Preisausschreiben, amtliche Formulare, Piktogramme, Speisekarten, Statistiken etc. Während er bei seinen früheren Romanen separate, teils alphabetisch geordnete Mappen anlegte, wurden die gesammelten Materialien im Falle von Berlin Alexanderplatz zu einem integralen Bestandteil des Manuskripts selbst. Diese dokumentarische Schreibstrategie hatte Döblin bereits mehrfach erprobt, so etwa in der Kriminalstudie Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord von 1924, in die Prozessakten und Gutach–––––––— 5

6 7

Alfred Döblin: Zwei Seelen in einer Brust (8. 4. 1928). In: Schriften zu Leben und Werk. Hrsg. von Erich Kleinschmidt. Olten, Freiburg i. Br. 1986, S. 103–106, hier S. 105. Zitate aus diesem Sammelband werden im Folgenden mit der Sigle SLW angeführt. Alfred Döblin: Briefe. Hrsg. von Heinz Graber. Olten, Freiburg i. Br. 1970, S. 58. Vgl. meine Katalogtexte zu Exponaten aus dem Nachlass Alfred Döblins: Die drei Sprünge des Wanglun, Berge Meere und Giganten und November 1918. In: Ordnung. Eine unendliche Geschichte. Hrsg. vom Deutschen Literaturarchiv Marbach. Marbach a. N. 2007, S. 87 f., 91 f., 99/101, 206 f., 226; mit Abb. auf den Seiten 88, 92 und 206.

Alfred Döblins ‚Berlin Alexanderplatz‘

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ten integriert wurden; als Anhang finden sich dort Handschriftenproben und Diagramme. Während der Niederschrift des Alexanderplatz-Romans radikalisierte Döblin dieses integrative Verfahren, indem er den literarischen Produktionsprozess unmittelbar mit den urbanen Kommunikationsstrukturen und ihren Manifestationen im Alltag verknüpfte. Das im Deutschen Literaturarchiv in Marbach aufbewahrte Konvolut zum Roman enthält neben handschriftlichen Dokumenten eine Fülle an Bild- und Textmaterialien unterschiedlichster Provenienz, darunter Abschriften von Berichten zu Gerichtsurteilen,8 Briefe und persönliche Aufzeichnungen von Patienten, ferner Kuriosa wie den Prospekt einer Koblenzer Weinkellerei oder die vermutlich aus einer Illustrierten ausgeschnittene Zeichnung eines Fußballspielers, die an den im Roman erwähnten, am 24. November 1927 in Berlin uraufgeführten ersten Fußball-(Stumm-)Film Der König der Mittelstürmer (BA 131) denken lässt.9 Als Bild fand dieses Objekt im Roman keine Verwendung, obwohl darin zumindest an einer Stelle das Zeichensystem gewechselt und eine intermediale Kombination von Bild und Schrift geboten wird: Gemeint ist der Beginn des zweiten Buches, wo unter der Überschrift „Franz Biberkopf betritt Berlin“ (BA 49 f.) unterhalb einer graphischen Darstellung des Berliner Bären zehn administrative Symbole bzw. Signete erscheinen, die mit der Nennung des jeweiligen Verwaltungsbereiches kombiniert werden (ebd.). Mit einer weiteren Form medialer Grenzüberschreitung wurde der zeitgenössische Leser bereits durch den Buchumschlag von Georg Salter konfrontiert, der eine mit Illustrationen versehene verkürzte Variante des im Moritatenstil verfassten Prologes darbietet.10 Die innovative Einbandgestaltung dürfte in Absprache mit Döblin entstanden sein und ist im Übrigen ein weiteres Beispiel für dessen künstlerische Kooperationen der 1920er Jahre. Zurück zu Döblins Romanwerkstatt. Er arbeitete also mit äußerst heteromorphen, bewusst akzidentellen Materialien, die unterschiedlichen Zeichen- und Referenzsystemen bzw. medialen Kontexten angehören. Damit verfuhr er aber nun ganz anders als bei seinen früheren Romanen. Statt die Textbausteine aus den Quellen weitestmöglich zu assimilieren, wählte er diesmal anstelle einer ‚kryptischen‘ Zitierweise die offene Montage und setzte auf den sprachlich-stilistischen Kontrasteffekt zwischen der fiktionalen Erzählung und dem meist unvermittelt eingeblendeten Fremdtext. Döblin benutzte die dem Manuskript beigefügten Dokumente teils als Zitatquelle und schrieb Passagen daraus ab, teils legte er sie dem Manuskript bei und markierte durch entsprechende deiktische Termini oder Zahlen den Ort des einzufügenden Dokumentes. Diese Hinweise richteten sich an denjenigen, der die Typoskript-Abschrift anfertigte – in den meisten Fällen war dies Erna Döblin. In einigen Fällen finden sich jedoch innerhalb der Blätterbündel mehr Beilagen bzw. Zeitungsschnipsel, als tat-

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Vgl. BA 124 f. Vgl. das Titelbild in Gabriele Sander: „Tatsachenphantasie“. Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“. Marbach 2007 (Marbacher Magazin. 119). Vgl. die Abbildungen in Jochen Meyer (in Zusammenarbeit mit Ute Doster): Alfred Döblin 1878–1978. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum. Marbach 41998, S. 237.

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Gabriele Sander

sächlich in den Text integriert wurden,11 in anderen Fällen lassen sich „Spuren des ursprünglich eingeklebten Ausschnittes“ entdecken – so Werner Stauffacher, der Herausgeber der Kritischen Ausgabe von Berlin Alexanderplatz, in seiner Beschreibung des Konvolutes.12 Das in dieser Intensität und Konsequenz neuartige, an der von Döblin bewunderten Collagetechnik der Dadaisten geschulte und in seiner Publizistik der 1920er Jahre eingeübte Schreibverfahren lässt sich an diesen nachgelassenen Manuskripten und Materialien buchstäblich ablesen, denn es spiegelt nicht nur den komplizierten textgenetischen Prozess wider, sondern auch Döblins ungewöhnliche, den Fundstücken (objets trouvés) geschuldete experimentelle Arbeitstechnik des Collagierens und Montierens. In diesem Konvolut finden sich zahlreiche, äußerst heterogene Skizzen und Entwürfe, einige davon in flüchtigem Schriftduktus (teils mit stenographischen Zeichen) hingeworfen auf Rezeptformularen,13 einer Einladungskarte der Berliner Zionistischen Vereinigung, einem Werbezettel des Kurortes Bad Neuhaus an der Saale, einer Postkarte der Berliner Physiologischen Gesellschaft14 und sonstigen offenbar zufällig greifbaren Schreibunterlagen. Gerade diese Notizen führen plastisch vor Augen, wie der Roman aus dem Berufs- und Alltagsleben des Autors herauswuchs und mit diesem eine Symbiose einging. Neben dem von Stauffacher als „Haupthandschrift“ des Romans bezeichneten Manuskriptkonvolut, das aus ca. 1200 meist beidseitig beschriebenen Blättern besteht, sind weitere rund 500 ungeordnete Blätter archiviert, die neben Entwürfen und Teilen von Frühfassungen u. a. noch diverse Materialien enthalten, so etwa Ausschnitte aus dem Berliner Amtsblatt oder eine Weinreklame. Ferner finden sich darunter Entwürfe plus Reinschriftfragment zum Hörspiel und Typoskriptfragmente mit handschriftlichen Notaten zum Drehbuch.15 Bekanntlich haben wir es ja bei Berlin Alexanderplatz mit einem „Triptychon aus Roman, Hörspiel und Film“16 zu tun, wie Mira Alexandra Schnoor dieses medial verzweigte Schreibprojekt nannte. Auch die fast vollständig überlieferte Romanhandschrift selbst repräsentiert keinen homogenen Text, da Teile früherer Versionen integriert wurden, und sie zeigt darüber hinaus teils erhebliche Differenzen zum Drucktext. Sie bildet die erste zusammenhängende Niederschrift des Romans, nicht aber die Druckvorlage.17 Weder die Typoskriptfassung noch die Korrekturfahnen sind erhalten. Döblin nutzte für die Romanniederschrift wie üblich eine bestimmte Papiersorte, die er in der Mitte faltete und bündelweise durchnummerierte. Der Handschrift fehlen aber u. a. noch die Kapitel–––––––— 11

12 13 14 15 16

17

Vgl. Werner Stauffacher: Übersicht über die wichtigeren Abweichungen der Haupthandschrift von der Buchausgabe und Verzeichnis der verwendeten Zeitungsausschnitte (BA 465–467, hier 466: „7 Ausschnitte, 4 verwendet“). Vgl. Stauffacher, Übersicht (Anm. 11), S. 466. Vgl. Abb. in Sander 1998 (Anm. 3), S. 107. Vgl. die von Werner Stauffacher transkribierten, „[i]m Roman nicht verwendete[n] oder stark abweichende[n] Partien der Haupthandschrift“ (BA 782–816, hier 801). Vgl. Werner Stauffacher: Editorische Nachweise. I. Textgrundlagen. A. Manuskripte (BA 461 f.). Mira Alexandra Schnoor: Die Transformation des Franz Biberkopf. Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz in Roman, Hörspiel und Film. In: Hörspiel. Autorengespräche und Porträts. Hrsg. von Katarina Agathos und Herbert Kapfer. München 2009, S. 213–233, hier S. 214. Vgl. die Transkription in dem Kapitel Aus dem Manuskript gelesen in Sander 2007 (Anm. 9), S. 65–83.

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überschriften und Vorabinformationen des auktorialen Erzählers zu Beginn der Einzelkapitel (Kapiteleinschnitte werden meist nur mit Kreuzchen markiert). Allerdings finden sich vom Eingangsprolog mehrere Entwurfsfassungen sowie Blätter mit ausgeschiedenen Partien. Die Zuordnung mancher Blätter wird nicht nur durch die berüchtigte Handschrift Döblins erschwert, sondern auch durch die wechselvolle Geschichte der Aufbewahrung und Archivierung.18 Eine gewisse Berühmtheit hat die Romanhandschrift vor allem dadurch erlangt, dass Döblin einen Teil der gesammelten Zeitungsausschnitte mit Klebstoff fixierte, also während der Niederschrift „mit Kleister und Schere“ arbeitete, wie bereits 1966 Jürgen Stenzel in seiner Beschreibung des Manuskriptes feststellte.19 Versucht man den Befund auf der Basis der Materialstruktur und Integrationsformen zu systematisieren, so lassen sich folgende Typen benennen: 1. Unterbrechung der Niederschrift und Wechsel des ‚Werkzeugs‘; der Ausschnitt wird mit Klebstoff mittig platziert und bleibt unbearbeitet; danach wird der Fließtext fortgesetzt, d. h. die fiktionale Handlung setzt neu ein oder wird weitergeführt (neuer Absatz), z. B. − Einleitung: „Ich gebe noch rasch die Wetterlage [...] für Berlin“ (BA 315). Die Hervorhebungen und Absatzmarkierungen der Vorlage werden allerdings nicht übernommen.20 − „Die Hochflut der Berlin besuchenden Amerikaner hält an“ (BA 304 = Artikel aus der Berliner Zeitung vom 14. 8. 1928; die Einleitung wurde vermutlich wörtlich abgeschrieben).21 2. Unterbrechung der Niederschrift; der Ausschnitt wird mittig eingeklebt und z. B. durch Streichungen oder kleinere handschriftliche Ergänzungen bearbeitet; danach wird der Fließtext fortgesetzt (neuer Absatz):22 Die Titelzeile des Artikels wird in leicht abgewandelter Form übernommen: Aus „Wie sich die Pflanze gegen die Kälte schützt.“ wird: „Wie schützt sich eigentlich die Pflanze gegen Kälte?“ (BA 361). 3. Positionierung des Ausschnittes mittels Markierung als „Beiblatt“; Fixierung am Rand des Manuskriptes durch abgeknickten Rand („Fähnchen“); die Technik deutet auf nachträgliche Integration, auf das Prinzip der „epische[n] Apposition“23 zum ‚roten Faden‘ der Biberkopf-Handlung: z. B. „Reisebeilage“ (BA 66).24 4. Beiblätter mit einem oder mehreren aufgeklebten oder (mit Büroklammern) beigehefteten Fremdtexten (teils verwendet, teils nicht).25 –––––––— 18 19 20 21 22 23

24 25

Das nach Kriegsende zunächst in der Mainzer Akademie, dann im DLA deponierte Konvolut wurde 1969 durch den sog. Zürcher Fund ergänzt. Jürgen Stenzel: Mit Kleister und Schere. Zur Handschrift von Berlin Alexanderplatz. In: text + kritik 13/14, 21972: Alfred Döblin, S. 39–44. Abb. in Meyer 1998 (Anm. 10), S. 242. Abb. in Sander 2007 (Anm. 9), S. 82. Abb. in Meyer 1998 (Anm. 10), S. 243. Vgl. folgendes Zitat von Döblin aus seiner Rede Schriftstellerei und Dichtung: „Im Epischen wächst die Handlung Stück um Stück durch Anlagerung“ (Alfred Döblin: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Hrsg. von Erich Kleinschmidt. Olten, Freiburg i. Br. 1989, S. 208). Abb. in Sander 2007 (Anm. 9), S. 4. Abb. in Sander 2007 (Anm. 9), S. 32 und 22.

128 5. 6.

Gabriele Sander

Beiblätter mit aufgeklebtem Fremdtext und handschriftlichen Notaten (teils verwendet, teils nicht).26 Lose Beilagen; der Text des Dokumentes wird wortwörtlich übernommen oder bearbeitet, z. B. − Photopostkarte des invaliden „Weltreisenden“ Johann Kirbach (BA 246). (Der Text wird geringfügig gestrafft.)27 − herausgetrenntes und redigiertes Blatt aus dem offiziellen Amtsblatt der Stadt Berlin für das Jahr 1928 (Abschnitte erst später eingefügt).28

Diese verschiedenen produktionsästhetischen Methoden der Integration disparater Textbausteine sind bislang nicht konsequent für die Typisierung der Montageformen genutzt worden. Stattdessen wurden meist inhaltliche oder strukturanalytische Kriterien bemüht, wie z. B. von Volker Hage, der zwischen Kontrast-, Parallel-, Kommentar-, Mosaik- und Additionsmontage unterscheidet und damit ein deutungsabhängiges Begriffsinstrumentarium anbietet, das gerade von der materialen Komponente abstrahiert.29 Die genaue Kenntnis nicht nur der Quelle(n), sondern auch der besonderen Form der sich im Manuskript widerspiegelnden Interaktion zwischen Fließtext und Beilage kann aber zu einer differenzierteren Betrachtung entsprechender Passagen führen. So wird etwa aus dem Manuskript ablesbar, dass es sich bei dem als „Eintrag“ aus einem Tagebuch deklarierten Zitat um einen an Döblin selbst gerichteten Brief einer Patientin vom 5. Januar 1928 handelt, den er (wie auch in anderen Fällen aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes) anonymisierte und durch weitere Eingriffe veränderte. Die Passage folgt auf die Wiedergabe einer Serie von Fällen des Berliner Arbeitsgerichts; daran schließt sich nach einer Art seriellem Kettenprinzip die Erzählung von einem Mädchen an, das zufällig am Eingang vorbeigekommen ist und einen Brief einwirft, der dann (auf einem Originalbrief beruhend) zitiert wird. Der folgende Absatz beginnt dann so: Ein Mädchen sitzt in demselben Haus, [...] schreibt heimlich am Tagebuch, sie ist 26 Jahre alt, arbeitslos. Der letzte Eintrag vom 10. Juli lautet: Seit gestern nachmittag geht es mir wieder besser; aber der guten Tage sind jetzt immer so wenige. Ich kann mich zu keinem aussprechen, wie ich möchte. Darum habe ich mich nun entschlossen, alles aufzuschreiben. Wenn meine Zustände auftreten, dann bin ich zu nichts fähig [...]. (BA 307)

Während sich der Leser trotz der präzisen Daten nicht sicher sein kann, ob es sich um die authentische, dokumentarisch aufbereitete Fallbeschreibung einer depressiven Frau oder um eine fiktionale Episode handelt, lässt das Romanmanuskript durch den beigelegten Brief keinen Zweifel. Überhaupt müssen die im Manuskript deutlich als solche erkennbaren und in ihrer Begrenzung sichtbaren Dokumente vom Leser des Romans erst als Fremdtexte erkannt und ihrem jeweiligen medialen und gattungsge–––––––— 26 27 28 29

Abb. in Sander 2007 (Anm. 9), S. 38. Abb. in Meyer (Anm. 10), S. 244. Vgl. Nikolaus Miller: Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur. München 1982, S. 189 (ohne Abb.). Volker Hage: Collagen in der deutschen Literatur. Zur Praxis und Theorie eines Schreibverfahrens. Frankfurt a. M. u. a. 1984. Zu Berlin Alexanderplatz dort S. 95–108.

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schichtlichen Kontext zugeordnet werden. Zum Erkennen der ‚Schnittstellen‘ helfen bei der Lektüre in manchen Fällen typographische Zitatsignale wie Absatzwechsel, Doppelpunkte oder auch Gedankenstriche, die die Einblendung dekontextualisierter Schriftstücke ankündigen. Meistens wird der Leser aber auf das Montageverfahren nur durch den abrupten Wechsel der Ton- und Stillage sowie die unvermittelte Aufhebung der narrativen und semantischen Kohärenz aufmerksam gemacht. Auch die zitierte oder paraphrasierte Textsorte muss er in der Regel selbst erschließen. Neben dem Kriterium der Materialität kann im Falle des Alexanderplatz-Romans eine Sortierung vorgenommen werden nach der Herkunft der verwendeten Quellentexte und im Weiteren dann nach der Art ihrer Übernahme, also nach den Spielarten und Funktionen intertextueller und -medialer Bezugnahmen. Aufgrund der Häufigkeit der Referenzen sind hier an erster Stelle die massenmedialen Publikationen zu nennen, also die Berliner und überregionalen Zeitungen, Zeitschriften und Illustrierten sowie die parteipolitischen Organe des rechten und linken Spektrums; in manchen Fällen schrieb Döblin auf die Rückseite der Schnipsel das Datum und die Quelle: − Berliner Zeitung − Berliner Tageblatt − Berliner Morgenpost − Welt am Montag. Unabhängige Zeitung für Politik und Kultur − Berliner Illustrirte − Die Woche − Grüne Post. Sonntagszeitung für Stadt und Land − Der Friedensbote. Ein Sonntagsblatt für Stadt und Land − Die Funk-Stunde. Zeitschrift der Berliner Rundfunkstelle − Rote Fahne. Zentralorgan der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) − Vorwärts − Schwarze Fahne − Völkischer Beobachter − Berliner Arbeiterzeitung. Wochenblatt der Nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei − Der Arbeitslose (Hrsg. von der anarchosyndikalistischen ‚Freien Arbeiter-Union Deutschlands‘) − Pfaffenspiegel. Wochenzeitung gegen den sozialrevolutionären Klerikalismus − Der Atheist. Freidenkerbund Österreichs und Gemeinschaft Proletarischer Freidenker Deutschlands Zu den auf einen eher speziellen Leserzirkel zugeschnittenen Periodika gehören – neben den zuletzt aufgelisteten Titeln – die von Biberkopf zeitweise vertriebenen Berliner Zeitschriften, die der ‚sexuellen Aufklärung‘ dienen. In diesem Kontext wird ein spezielles Segment in der pluralisierten Publikationslandschaft der Weimarer Republik im Roman relativ breit dokumentiert und damit auf ein zeitgenössisches Diskursfeld verwiesen. Ohne Untertitel werden folgende Periodika namentlich genannt (BA 72 ff.):

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Gabriele Sander

− Die Freundschaft. Wochenschrift für Aufklärung und geistige Hebung der idealen Freundschaft − Figaro. Halbmonatsschrift für Geist- und Körperkultur Publikationsorgan des Pelagianer-Bundes, Gesellschaft für Volksaufklärung über gesunde Körperpflege und hygienisches Sexualleben − Die Ehe. Monatschrift für Ehe, Wissenschaft, Recht und Kultur − Die Ideal-Ehe. Monatsschrift für Geistes- und Körper-Erziehung zur Ehe − Die Ehelosen und Eheverbundenen. Wochenschrift für neue Sexualethik − Frauenliebe. Wochenschrift für Freundschaft und sexuelle Aufklärung Die Zeitschriftentitel erscheinen in einem Kapitel, das unter dem Motto „Freiheit für die Liebe auf der ganzen Front“ (BA 76) das Thema Homosexualität in mehreren Facetten behandelt.30 In diesem Zusammenhang finden sich auch einige Zitate aus den genannten Magazinen – teils im O-Ton, teils parodistisch verfremdet. Letzteres gilt für einen Fortsetzungsroman über ein lesbisches Paar, abgedruckt im November 1927 in der Zeitschrift Frauenliebe (publiziert vom gleichnamigen Berliner Kleinverlag, Prenzlauer Str. 22).31 Aus einer Folge schnitt Döblin eine Passage aus und legte den mit handschriftlichen Zusätzen versehenen Abschnitt der Romanhandschrift bei. Die redaktionelle Bearbeitung bezieht sich auf die Wortwahl und Interpunktion und gibt die triviale Vorlage der Lächerlichkeit preis: Ein sternklarer Himmel blickte auf die dunklen Stätten der Menschheit. Schloß Kerkauen lag in tiefer nächtlicher Ruhe. Doch ein blondlockiges Weib wühlte das Haupt in die Kissen und fand keinen Schlaf. Morgen, schon morgen wollte ein Liebes, ein Herzliebstes sie verlassen. Ein Flüstern ging (lief) durch die finstere, undurchdringliche (dunkle) Nacht: Gisa, bleibe mir, bleibe mir (geh nicht weg, fahr nicht fort, fall nicht hin, bitte, setzen Sie sich). Verlaß mich nicht. Doch die trostlose Stille hatte weder Ohr noch Herz (noch Fuß noch Nase). [...] Ihre Zähne schlugen wie in tiefem Frost aufeinander, Punkt. Sie aber rührte sich nicht, Komma, zog nicht die Decke fester über sich, Punkt. Regungslos lagen ihre schlanken, eiskalten Hände (wie in tiefem Frost, Schauer der Kälte, schlankes Weib mit geöffne-

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31

Vgl. zu den unter dem Leitbegriff ‚Freundschaft‘ auftretenden Zeitschriften, die sich für die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Beziehungen einsetzten, den Beitrag von Stefan Micheler: Zeitschriften, Verbände und Lokale gleichgeschlechtlich begehrender Menschen in der Weimarer Republik; http://www.stefanmicheler.de/wissenschaft/stm_zvlggbm.pdf (gesehen 18. 10. 2013). – Möglicherweise wurde Döblin zu der relativ breiten Darstellung des Themas Homosexualität und deren Verfolgung u. a. durch einen Skandal im Sommer 1927 angeregt. Mitglieder des ‚Bundes für Menschenrecht‘ hatten eine Revue in der Berliner Komischen Oper gestört, weil darin Homosexuelle ihrer Meinung nach als „Karikaturen“ dargestellt wurden. Die Vorfälle fanden ein breites publizistisches Echo. Vgl. ebd., S. 51. Abb. in Sander 2007 (Anm. 9), S. 48.

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ten Augen, berühmte Seidenbetten) darauf, Punkt. Ihre glänzenden Augen irrten flackernd im Dunkeln umher, und ihre Lippen bebten, Doppelpunkt, Gänsefüßchen, Lore, Gedankenstrich, Gedankenstrich, Lore, Gedankenstrich, Gänsefüßchen, Gänsebeinchen, Gänseleber mit Zwiebel. (BA 76 f.)

Zwar bleiben die Zeichenfolge am Ende der Vorlage32 (der doppelte Gedankenstrich) für den Leser trotz der Zusätze von stilistischen Alternativen in Klammern sowie der Verschriftlichung der Zeichensetzung noch erkennbar und auch das Verfahren der assoziativ gesteuerten parodistischen Fort- bzw. Überschreibung des Textes nachvollziehbar, doch wäre hier wie in vielen anderen Fällen eine Dokumentation äußerst hilfreich und wesentlich anschaulicher. Bei weitem nicht alle Zitate im Roman beruhen jedoch auf beigefügten Materialien.33 Neben zahlreichen intertextuellen Referenzen auf mythologische, biblische und literarische Texte nehmen Werbesprüche und Produktreklamen34 breiten Raum ein. Diese schrieb Döblin entweder aus Annoncen ab oder zitierte sie aus dem Gedächtnis, teils korrekt, teils bewusst abgewandelt oder gar entstellt. Als Quellen dienten hier neben Zeitungsinseraten auch Schriftträger wie Litfasssäulen, Plakate und Lichtreklamen, Schaufensterauslagen. Als weitere Repräsentationsformen der großstädtischen Lebens- und Warenwelt erscheinen im Roman Verkehrsschilder, Verbotstafeln, Warnhinweise, Fahrpläne, Amtsblätter, Adress- und Telefonbücher. Ein wichtiges Segment bildet die zeitgenössische Unterhaltungskultur, die durch die Paraphrasierung von Schlagern und Liedern oder bereits durch die bloße Titelnennung von Revuen, Operetten, Kinofilmen etc. lebendig wird; gelegentlich werden aber auch deren Inhalte bzw. Handlung in Kurzform referiert. Die Reihung der integrierten Elemente mit bild- und klangmedialer Dimension ließe sich noch erheblich verlängern. Statt weitere Beispiele anzuführen, sei abschließend ein Desiderat formuliert, nämlich das einer multimedial angelegten Hybridausgabe.

2.

Skizze eines Editionsprojektes

Die wenigen Einblicke in das Romankonvolut dürften genügt haben, um die Notwendigkeit einer umfassenden Dokumentation dieses außerordentlichen Materialreichtums zu verdeutlichen. Dies ist nur in Form einer historisch-kritischen Edition möglich, und zwar wohl nur in Gestalt einer Hybridedition, da der Rahmen einer reinen Printausgabe und auch einer Faksimile-Edition aufgrund des Umfangs der nachgelassenen Materialien gesprengt würde. Eine solche Ausgabe müsste der komplizierten Textgenese und Druckgeschichte Rechnung tragen (etwa in Form digital realisierter Synopsen) und vor allem die besondere Materialität der Überlieferung visualisieren und das komplexe System medialer und textueller Referenzen verfügbar machen. Hier –––––––— 32 33

34

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Als Beispiel seien hier die im Roman zitierten Produktinformationen zu dem Potenzmittel Testifortan (BA 36 f.) genannt; vgl. dazu die Abbildungen in: 1929 – Ein Jahr im Fokus der Zeit. Ausstellung des Literaturhauses Berlin. Konzeption und Realisation: Ernest Wichner und Herbert Wiesner. Berlin 2001, S. 15 f. Vgl. Döblins Essay Reklame und Literatur (10. 8. 1929), abgedruckt in: Kleine Schriften III. Hrsg. von Anthony W. Riley. Zürich, Düsseldorf 1999, S. 182–186.

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ist auch der konservatorische Aspekt mit ins Feld zu führen, da insbesondere die collagierten Zeitungsartikel bereits stark brüchig sind und im DLA nur noch unter strengen Auflagen genutzt werden dürfen. Die seit 1996 vorliegende kritische Ausgabe versteht sich laut Herausgeber ausdrücklich „als Grundlage zukünftiger Ausgaben und als Instrument für den wissenschaftlich interessierten Benützer“.35 Der Text folgt weitgehend der Erstausgabe, nimmt aber einige Eingriffe vor, die durch Fußnoten dokumentiert werden. Im Apparatteil bietet die Ausgabe neben einer Dokumentation der Überlieferungs- und Druckgeschichte einen ausführlichen Kommentar mit Quellennachweisen und – im Falle von beigelegten oder eingeklebten Dokumenten – mit der Nennung der Überlieferungsform. Der Band enthält ferner sämtliche Vorabdrucke (über 200 Seiten), die teilweise noch erheblich von der Buchausgabe abweichen und in einigen Fällen ausgeschiedene Partien darbieten. Daneben bietet die Ausgabe eine Auswahl an Varianten (ca. 50 Seiten) sowie ein ausführliches Nachwort, das u. a. die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte skizziert. Die schon erwähnten Verzweigungen bzw. Transformationen des Romans in Hörspiel und Film wurden nicht berücksichtigt. Das Hörspiel liegt bereits seit 1983 in einer textkritischen Edition von Erich Kleinschmidt vor,36 das Drehbuch zu Phil Jutzis Film Berlin Alexanderplatz (1931) erschien 1996 in der Reihe FILMtext;37 Druckvorlage bildete ein „vervielfältiges Typoskript [...] aus der Sammlung von Dr. Hans Feld“, das die Stiftung Deutsche Kinemathek 1982 erwerben konnte.38 Die weiteren Exemplare sowie die mit handschriftlichen Ergänzungen versehenen Typoskriptblätter fanden keine Berücksichtigung. Bis heute ist ungeklärt, wie weit Döblins Mitwirkung an diesem in Kooperation entstandenen Filmskript tatsächlich ging. Umso dringlicher erscheint die vollständige Dokumentation und Auswertung des Nachlassmaterials. Da Döblin die Niederschrift seiner Romane immer wieder für kleinere Texte und Reden unterbrach – und das gilt auch für Berlin Alexanderplatz –, sollten auch die im Umfeld entstandenen Arbeiten einbezogen und die Vernetzungen aufgezeigt werden. Zu nennen ist hier vor allem der zu seinem 50. Geburtstag im August 1928 erschienene und in den Monaten zuvor entstandene autobiographische Text Erster Rückblick, der wie das eingangs erwähnte Vorwort zu dem Photoband von Bucovich punktuelle Berührungspunkte mit dem Roman zeigt. Einen Schwerpunkt sollte auch die Kommentierung bilden, die im Falle von Berlin Alexanderplatz eine besondere Herausforderung darstellt. Hier bestehen – allein was die Quellennachweise angeht – in den vorliegenden Erläuterungen noch einige Lücken, die mithilfe neuer Recherchetechniken zu schließen sind. Mit authentischem zeitgenössischem Bild- und Textmaterial könnten etwa die im Roman erwähnten –––––––— 35 36 37

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Werner Stauffacher: Richtlinien dieser Ausgabe (BA 479 f., hier 479). In dem Band: Alfred Döblin: Drama – Hörspiel – Film. Olten, Freiburg i. Br. 1983. Berlin-Alexanderplatz. Drehbuch von Alfred Döblin und Hans Wilhelm zu Phil Jutzis Film von 1931. Mit einem einführenden Essay von Fritz Rudolf Fries und Materialien zum Film von Yvonne Rehhahn. München 1996 (FILMtext). Helga Belach, Hans-Michael Bock: Editorische Vorbemerkung. In: Berlin-Alexanderplatz 1996 (Anm. 37), S. 7 f., hier S. 7.

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Berliner Lokalitäten, Straßen, Plätze, Gebäude, Kneipen, Cafés, Tanzlokale, Kinos, Kaufhäuser, Firmen einschließlich der Werbung dokumentiert werden. Schon seit Erscheinen des Romans wurden seine Polyphonie und seine Qualität als Resonanzraum urbaner Akustik gerühmt. Jüngst bezeichnete Alexander Honold Berlin Alexanderplatz aufgrund der zahlreichen lautmalerischen und klangmedialen Elemente als „singenden Text“ und hob dessen „Klanglichkeit als literarische Performanzqualität“ hervor.39 Diese Vielfalt an ‚Tonspuren‘, die den Text durchziehen und in der Biberkopf-Figur – der „Sonde“ (SLW 316) im Stadtkörper – widerhallen, ließe sich durch zeitgenössische Ton- und Musikdokumente (z. B. Schlager, Aufnahmen von Politikerreden etc.) belegen bzw. akustisch untermalen. Idealerweise sollte auch eine digitalisierte Volltextversion auf der Basis des Erstdrucks – mit entsprechenden Verlinkungen (Fassungen/Textstufen; Kommentar etc.) – hergestellt und zugänglich gemacht werden. Aufgrund der Rechtelage (die DöblinTexte sind erst 2027 gemeinfrei) ist zwar eine frei verfügbare Online-Version vorerst nicht zu realisieren, wohl aber der Vertrieb einer Textversion auf CD-ROM. Eine solche Ausgabe könnte, wenn sie denn zu verwirklichen ist, darüber hinaus zum Pilotprojekt für eine neue Werkausgabe Döblins werden.

–––––––— 39

Vgl. Alexander Honold: Der singende Text. Klanglichkeit als literarische Performanzqualität. In: Literatur intermedial. Paradigmenbildung zwischen 1918 und 1968. Hrsg. von Wolf Gerhard Schmidt und Thorsten Valk. Berlin 2009, S. 187–207.

Kai Bremer

Medialität der Interlinearität Überlegungen zu Heiner Müllers Übertragung von Aischylos’ Die Perser Für Peter Witzmann Auf den deutschen Bühnen wird seit rund zwei Jahrzehnten bevorzugt auf zwei Übersetzungen von Aischylos’ Die Perser zurückgegriffen, die nicht von professionellen Übersetzern oder Philologen stammen, sondern von zwei sehr gut miteinander bekannten Schriftstellern, nämlich Heiner Müller und Durs Grünbein. Müllers Übertragung erschien 1991, die Grünbeins 2000. Vergleicht man die beiden Perser-Übersetzungen, werden umgehend zwei gänzlich anders orientierte literarische Übersetzungsverfahren kenntlich. Müllers Fassung ist hermetisch, sie wird in der Forschung vielfach als Interlinearübersetzung begriffen; diejenige Grünbeins orientiert sich entschieden an der Zielsprache und auch am Wissensstand eines normalen mitteleuropäischen Theaterbesuchers über die Antike.1 Nun läge es nahe, die These aufzustellen, Müller folge mit seiner Perser-Übersetzung Benjamins Übersetzungstheorie samt ihrer Wertschätzung der Interlinearübersetzung.2 Als ich für die Arbeit an diesem Aufsatz im Heiner-Müller-Archiv der Akademie der Künste, Berlin, die einschlägigen Mappen konsultierte, wurde mir klar, dass dem nicht so ist. Vielmehr durchbricht Müller, wie zu zeigen sein wird, die Interlinearität und schafft so einen Text, der vielfältig gestaltet ist und der dem Umstand Rechnung trägt, dass er auf dem Theater gesprochen werden soll. Müller kalkuliert also die Medialität des Textes bei seiner Bearbeitung ein. Was darunter konkret zu verstehen ist und welche Konsequenzen meine Ergebnisse für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Text haben, soll im Folgenden dargelegt werden. Um dies tun zu können, werde ich zunächst (1.) die Entstehungsgeschichte rekonstruieren und auf die bisherigen Interpretationen des Textes eingehen (2.), bevor ich (3.) die Rekonstruktion von Müllers Arbeitsweise betrachte, um dann abschließend (4.) einige Perspektiven für die weitere philologische Auseinandersetzung mit dem Text zu liefern.

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2

Vgl. Kai Bremer: Vom Monolog der Toten zum Drama des Bewusstseins. Grünbein und das zeitgenössische Theater. In: Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein. Hrsg. von Kai Bremer, Fabian Lampart, Jörg Wesche. Freiburg i. Br. 2007, S. 103–120. Dazu grundlegend Klaus Reichert: Zur Übersetzbarkeit von Kulturen – Appropriation, Assimilation oder ein Drittes? In: Ders.: Die unendliche Aufgabe. Zum Übersetzen. München, Wien 2003, S. 25–41; vgl. dazu auch Winfried Menninghaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie. Frankfurt a. M. 1995, S. 33–60; Anja Hallacker: Es spricht der Mensch. Walter Benjamins Suche nach der lingua adamica. München 2004, S. 131–159.

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Kai Bremer

1. Müllers Perser liegen in zwei Drucken vor. 1991 war der Text im Programmheft zur Uraufführung von Christoph Nel an der Freien Volksbühne publiziert worden.3 2004 erschien er erneut im Rahmen der inzwischen vielfach kritisierten Heiner-MüllerWerk-Ausgabe bei Suhrkamp.4 Diese Studienausgabe basiert auf dem Erstdruck, einige vermeintliche Emendationen sind vorgenommen, aber nicht nachgewiesen. Band 7 der Werkausgabe, in dem die Perser erschienen sind, trägt den Titel Die Stücke 5: Die Übersetzungen. Der Herausgeber Frank Hörnigk hat sich damit gegen Müllers eigene Begriffspraxis gewandt. Der hatte in der zu seinen Lebzeiten erschienenen Werk-Ausgabe bei Rotbuch nicht etwa von ‚Übersetzungen‘, sondern von ‚Kopien‘ gesprochen. Allerdings war diese Ausgabe vor dem Erscheinen der Perser abgeschlossen, so dass diese niemals mit irgendeinem Ordnungs- oder Gattungsbegriff von Müller selbst versehen worden sind. Trotzdem verhält sich Hörnigk dazu in der editorischen Notiz zu seiner Ausgabe: Die editorische Entscheidung, dieses Angebot zur Klassifikation und damit auch das formale Argument der Autorisierung durch Müller dennoch hier nicht noch einmal zu wiederholen, ist einem stärker gewordenen Interesse an der ästhetischen wie historischen Differenz der Arbeiten Heiner Müllers heute geschuldet, erfahrbar als Praxis eines vor allem durch ihn selbst immer mit Nachdruck behaupteten Begriffs von „Übersetzung“, eingeschlossen darin schließlich selbst die „Vermittlung“ fremder Übersetzungsleistungen als Folie eigener Textproduktion.5

Was Hörnigk hier so wunderbar distanziert als „‚Vermittlung‘ fremder Übersetzungsleistungen“ umschreibt, meint weniger umständlich formuliert: Müller konnte zwar hervorragend Englisch, recht gut Latein und auch Russisch lesen. Andere Fremdsprachen aber beherrschte er nur ansatzweise. Im Hinblick auf seine Übersetzungen aus dem Französischen und Griechischen ist das, soweit ich sehe, bisher kaum aufgearbeitet. Sogar im ansonsten so zuverlässigen Heiner-Müller-Arbeitsbuch von Hans-Thies Lehmann und Patrick Primavesi findet sich dazu nicht viel.6 Müllers Arbeitsweise war, wenn er sich herausgefordert sah, ‚Übersetzungen‘ bzw. ‚Kopien‘ aus dem Französischen oder Griechischen anzufertigen, offenbar ähnlich. Er war innerhalb der DDR sehr gut vernetzt, auch mit Akademikern. So war es ihm ein Leichtes, den Kontakt etwa zu Philologen zu suchen und sie um Anfertigung einer Übersetzung zu bitten bzw. andere damit zu beauftragen. Dann stellte Müller auf der Basis dieser Über–––––––— 3 4

5 6

Aischylos: Die Perser. Übertragung Peter Witzmann. Bearbeitung Heiner Müller. Hrsg. von Christoph Rüter. Berlin 1991. Aischylos: Die Perser. Nach einer Übertragung von Peter Witzmann. In: Heiner Müller: Werke. Bd. 7: Die Stücke 5: Die Übersetzungen. Hrsg. von Frank Hörnigk. Frankfurt a. M. 2004, S. 683–721; zitiert wird wegen der besseren Zugänglichkeit im Folgenden aus dieser Ausgabe und nicht aus der in Anm. 3 genannten; Zitate werden unter der Sigle HMW 7 angeführt. Zur Kritik an der Suhrkamp-Ausgabe vgl. z. B. Kai Bremer: Müllers Intentionen. Textuelle und theatrale Archäologie am Beispiel von Der Lohndrücker. In: Theatrographie. Heiner Müllers Theater der Schrift. Hrsg. von Günther Heeg und Theo Girshausen. Berlin 2009, S. 35–48. Frank Hörnigk: Editorische Notiz. In: HMW 7, S. 821–826, hier S. 821. Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Hans-Thies Lehmann und Patrick Primavesi. Stuttgart, Weimar 2003.

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setzungen seine Fassungen her. Wir sollten nicht ausschließen, dass er das fremdsprachige Original bei Detailfragen ergänzend konsultierte. Im Fall der Perser gibt es in den Archiv-Mappen zudem klare Hinweise darauf, dass ihm neben der zugrunde gelegten Übersetzung noch eine zweite von der FU Berlin vorlag,7 auf die er aber mutmaßlich nur in einem Punkt zurückgegriffen hat, wie wir noch sehen werden. Müllers Übersetzungen sind also maßgeblich von der Vorlage abhängig und nicht primär ‚Eigenprodukte‘ wie etwa die Übersetzungen von Raoul Schrott.8 Zentrale Instanz für Müllers Übersetzungen aus dem Griechischen war der Dresdener Altphilologe Peter Witzmann, der an der TU Dresden Lehraufträge hatte und hat, vor allem aber an der Kreuzschule Dresden tätig war. Müller war durch Vermittlung von B. K. Tragelehn auf Witzmann aufmerksam geworden, die sich beide schon seit der Kindergarten- und Schulzeit in den 1940er Jahren in Dresden kennen. Witzmann hat für Müller die Übersetzung von drei Texten des Aischylos angefertigt, von Prometheus Ende der 1960er Jahre,9 von einem Teil der Orestie Mitte der 1970er10 und eben von den Persern Anfang der 1990er. Müllers Interesse an Aischylos währte also sehr lange. Das gilt auch für die Kooperation mit Witzmann, wobei ‚Kooperation‘ nicht recht das Arbeitsverhältnis widerspiegelt. Peter Witzmann hat mir gegenüber erklärt: Müller habe eines Tages wegen einer Interlinearversion für Prometheus angefragt. [D]ann kam die Anfrage wegen Oresteia. Beides und anderes – übrigens meldeten sich mit gleichem Wünschelein Karl Mickel (Medeia) und andere – habe ich damals gemacht, nebenher zur Schullehrertätigkeit, an Müller geschickt, und dann kam nur das große Schweigen: Müller war nicht der eifrige Briefschreiber, nun ja. Wir haben also in keinem Falle an den Texten weitergearbeitet.11

Prometheus hat in Band 4 der Werk-Ausgabe Eingang gefunden. Dieses Drama wird damit primär Müller zugeschlagen. Witzmanns Mitarbeit wird bei den Persern und der Orestie dagegen schon dadurch kenntlich, dass diese Texte im Band mit den Übersetzungen versammelt sind, eben dem erwähnten siebten Band der Werkausgabe. Die Gründe für diese Trennung der Aischylos-Tragödien sind nicht einsichtig, Hörnigk rechtfertigt seine Entscheidung nicht. Witzmann hat mir gegenüber erklärt, dass die Unterschiede zwischen seiner Interlinearübersetzung und der Textfassung Müllers im Falle des Prometheus „eindeutig größer, weit größer“12 seien als bei den beiden –––––––— 7

8

9 10 11 12

Vgl. Heiner Müller Archiv der Akademie der Künste, Berlin (im Folgenden HMA), 9650: Aischylos: Die Perser. Übersetzt von Reinhard Narm, Dagmar Neblung, Brigitte Weber. Seminar für klassische Philologie, Freie Universität Berlin, 1990. Weitere Exemplare dieser Übersetzung konnten nicht nachgewiesen werden; der Verfasser kann deswegen nicht sagen, ob es sich um eine eigens für Müller angefertigte Fassung handelt oder um eine, auf die Müller während der Arbeiten an der Übersetzung gestoßen ist. Vgl. Raoul Schrott: Sieben Prämissen einer neuen Übersetzung der Ilias. In: Akzente 53, H. 3, 2006, S. 193–201; Ders.: Exemplarisches zum Übersetzen: am Beispiel Hans Magnus Enzensberger. In: Deutsch als Fremdsprache 2009, S. 117–123. Heiner Müller: Prometheus. Nach Aischylos. In: HMW 4, S. 7–45. Aischylos: Orestie. [Nach einer Übertragung von Peter Witzmann]. In: HMW 7, S. 801–818. So Peter Witzmann in einer E-Mail vom 6. 1. 2011 an den Verfasser. So Peter Witzmann in einer E-Mail vom 18. 1. 2011 an den Verfasser.

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anderen Übersetzungen. Wie groß die Unterschiede konkret sind und ob sie den Umfang der Eingriffe betreffen oder auch die Art, ist bisher nicht erforscht. Doch unabhängig davon: Rechtfertigt das schon die unterschiedliche Verortung in der Werkausgabe?

2. Nun fragt der vorliegende Band13 explizit nach den Folgen der editorischen Dokumentation für die literaturwissenschaftliche Forschung. Im Fall von Müllers Persern muss die Antwort auf diese Frage zwingend vorläufig ausfallen, denn Hörnigks Ausgabe bietet schlicht das Endprodukt, den stillschweigend emendierten Erstdruck, der gerade das komplizierte Ineinander von Witzmanns Interlinearübersetzung und Müllers Überarbeitung nicht klärt und so Rückschlüsse auf die Arbeitsweise weitgehend verhindert. Um die Frage zu beantworten, dürfte es also hilfreich sein, sich zunächst den Forschungsstand kurz zu vergegenwärtigen, um dann zeigen zu können, was eine zuverlässige Edition im Vergleich zur Studienausgabe leisten und welche Folgen das wiederum für die Interpretation haben dürfte. Einschlägig ist vor allem eine kurze Studie des Basler Altphilologen Anton Bierl. Er sieht in Aischylos gewissermaßen den ersten Postdramatiker und attestiert seiner Dramatik wesentliche Merkmale, die er ‚prädramatisch‘ nennt und die laut HansThies Lehmann dem postdramatischen Theatertext eigen seien: fehlende Handlung, Betonung des Chorischen, „poetisch-musikalische und bildhafte Sprache“.14 Kurzum: Aischylos sei „anti-aristotelisch, nicht-thetisch und ebenso wenig mimetisch-referentiell“.15 Es sei also kein Wunder, dass sich Müller eben für Aischylos interessiert habe. Das Prädramatische und das Postdramatische seien sich zumindest sehr ähnlich, wenn sie nicht sogar formal gleich verführen. Bemerkenswert an dem Aufsatz von Bierl sind dabei zwei Punkte: Er spricht erstens – im Unterschied zu den wenigen anderen Äußerungen in der Forschung – nicht von „Interlinearübersetzung“, sondern von einer „sehr wörtliche[n] Übersetzung“16 und zweitens von Müllers „Freude an der reinen Materialität der Sprache“,17 die in der Übersetzung zum Ausdruck komme.18 Wir können also zunächst festhalten, dass sowohl der Müller-Herausgeber Hörnigk als auch der Müller-Interpret Bierl durch ihren Sprachgebrauch die Vermutung nahe–––––––— 13 14

15 16 17 18

Vgl. dazu die Einführung in den vorliegenden Band, S. 1–22. Anton Bierl: Die griechische Tragödie aus der Perspektive von Prä- und Postdramatik. Die Perser des Aischylos und die Bearbeitung von Müller/Witzmann. In: Heiner Müller Sprechen. Hrsg. von Nikolaus Müller-Schöll und Heiner Goebbels. Berlin 2009 (Recherchen. 69), S. 201–214, hier S. 202. Bierl erläutert nicht weiter, was er unter ‚Materialität‘ versteht; wenn ich im Folgenden davon spreche, so verdanke ich zahlreiche Anregungen folgenden Aufsätzen: Per Röcken: Was ist – aus editorischer Sicht – Materialität? Versuch einer Explikation des Ausdrucks und einer sachlichen Klärung. In: editio 22, 2008, S. 22–46; Wilhelm G. Jacobs: Materie – Materialität – Geist. In: editio 23, 2009, S. 14–20. Bierl 2009 (Anm. 14), S. 202. Bierl 2009 (Anm. 14), S. 212. Bierl 2009 (Anm. 14), S. 212. Vgl. dazu Bierl 2009 (Anm. 14), S. 213, Anm. 1.

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legen, sie hätten sich näher mit dem Text befasst. Hörnigk betont die ‚Vermittlungsleistung‘, die Müller mit dem Text erbracht habe, Bierl die „Materialität der Sprache“. Wie passt das zusammen? Zunächst kann man sich fragen, was Müller denn vermittelt, wenn er eine Interlinearübersetzung bearbeitet und dann für die Bühne freigibt. Es geht offenbar nicht primär um die Handlung mit ihren psychologischen Untiefen sowie den Bezug zur Gegenwart, sonst hätte er gewiss nicht eine solche derart nah an der Vorlage orientierte Übersetzung gewählt, wie auch im Vergleich zu älteren Übersetzungen wie der Emil Staigers oder der neueren Grünbeins ersichtlich wird.19 Aber um was geht es dann? Bierls Antwort scheint dem ersten Eindruck nach überzeugend zu sein. Die Sprache wird zum Material und dementsprechend zum eigentlichen Gegenstand der künstlerischen Beschäftigung. Wenn Hörnigk wie Bierl auf Müllers Text eingehen, pflegen sie zwar nicht das Paradigma des ‚immateriellen Textes‘, gegen dessen Verabsolutierung sich die Herausgeber des vorliegenden Buches zu Recht wenden.20 Weder Hörnigk noch Bierl nehmen eine Aussage im Hinblick auf die Referentialität des Textes vor. Sie folgen Müllers Vorgaben, der sich im Programmheft zur Perser-Inszenierung entschieden gegen eine konkrete Bezugnahme auf damals aktuelle Ereignisse äußert, etwa den Golfkrieg der USA unter George Bush d. Ä. gegen den Irak. Aber Hörnigk und Bierl geben auch keine Antwort auf die Frage, wie Müller den Text bearbeitet, damit er Sprachmaterial für die Inszenierung werden kann. Ihr Vorgehen umschifft zwar das Paradigma des immateriellen Textes, aber sie erläutern andererseits nicht, was stattdessen Gegenstand der Interpretation sein sollte. Hörnigk legt mit seiner Edition nicht dar, wie Müllers Beschäftigung mit der Vorlage ausgesehen haben kann. Und Bierl geht nicht auf die Frage ein, wie Müller die „Materialität der Sprache“ erzeugt. Sowohl Bierls Aufsatz als auch die wenigen anderen Studien, die es zu den Persern gibt, gehen auf Müllers Text zurück und analysieren ihn präzise,21 doch treffen sie keine konkreten Aussagen über das dahinter stehende Arbeitsverfahren Müllers und die Textgenese, weil sie sich ausschließlich mit dem Text der vorliegenden Druckfassung bzw. dem Erstdruck beschäftigen. Um den Text präzise beurteilen zu können, muss man also entweder die publizierte Fassung mit anderen Perser-Übersetzungen ins Deutsche vergleichen oder schauen, wie Müller Witzmanns Interlinearübersetzung bearbeitet hat. Das zu dokumentieren, wäre im Fall der Perser-Übertragung vergleichsweise leicht, weil es offenbar zwei zeitlich nahe beieinanderliegende Überarbeitungsphasen Anfang 1991 gegeben hat, die sich mit Hilfe des Archivmaterials gut rekonstruieren lassen. In einer Mappe fin–––––––— 19 20 21

Vgl. Bremer 2007 (Anm. 1), S. 109–113. Siehe die Einführung in den vorliegenden Band, z. B. S. 21. Vgl. dazu auch Louis Hay: Materialität und Immaterialität der Handschrift. In: editio 22, 2008, S. 1–21, sowie Jacobs 2009 (Anm. 14). Vgl. etwa Christine Standfest: Ergreifendes Sprechen. Zu Claudia Bosses Perser-Inszenierungen. In: Heiner Müller Sprechen 2009 (Anm. 14), S. 215–228; hier sehr wichtig die Feststellung: „Interlinear ist diese Übersetzung insofern, als Wort für Wort übersetzt und nicht versucht wurde, die griechischen Versmaße zu kopieren oder sich einer korrekten deutschen Schriftgrammatik zu unterwerfen“ (ebd., S. 220). Vgl. auch Ulrike Haß: Die Perser sprechen. In: Heiner Müller Sprechen 2009 (Anm. 14), S. 229–239.

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det sich zudem eine zweite Hand. Ich vermute, dass es sich dabei um Christoph Rüther, den Dramaturgen der Perser-Inszenierung an der Freien Volksbühne Berlin handelt, der auch Witzmanns erster Ansprechpartner 1991 war.

3. Müllers Eingriffe in Witzmanns Übersetzung sind, wie bereits angedeutet wurde, nicht besonders umfangreich. Sie betreffen zunächst einige Wortveränderungen. Das wird gleich zu Beginn deutlich. Der Bote kommt an den Hof und berichtet, welche persischen Feldherren gefallen sind. Im Druck heißt es: Syennesis, der erste an Hochmut Der Kiliker Herrscher, ein Mann und sehr viel Leid Den Feinden schaffend, wohlgerühmt Ging er zugrunde.22

Im Typoskript wird anstelle von „Hochmut“ von „Wohlgemutheit“ gesprochen. Müller unterstreicht beim ersten Durchgang durch den Text dieses Wort23 und ersetzt es im zweiten durch „Hochmut“.24 Metrische Gründe lassen sich dafür nicht finden. Der Text ist metrisch nicht einheitlich, der jambische Beginn des Verses wird spätestens durch die doppelte Senkung „erste an“ durchbrochen (wenn denn der Name des griechischen Herrschers überhaupt korrekt ausgesprochen wird). Deswegen halte ich die Streichung von „Wohlgemutheit“ nicht für einen metrisch-rhythmischen, sondern für einen semantisch motivierten Versuch, einen im Vergleich verständlicheren Begriff zu setzen. Witzmann dürfte bewusst dieses heute wie auch 1990 ungebräuchliche Wort verwendet haben – als etablierte Übersetzung für das griechische ‚Euthymia‘, einer zentralen Kategorie in der Philosophie von Demokrit, die eine heitere Lebenseinstellung bezeichnet, die sich nicht von Furcht und anderen Affekten irritieren lässt. Müller dagegen setzt einen ursprünglich christlichen Begriff, der aber im Umgangsdeutsch weiter verbreitet ist und nicht zwingend christlich konnotiert ist. 25 Diese Wortersetzung erlaubt aber nicht die These, dass Müller insgesamt in irgendeiner Weise an einer religiösen Aktualisierung der Tragödie interessiert gewesen sei. Das zeigt der folgende Vers, den der Schatten des Dareios im Gespräch mit Königin Atossa äußert: „Hat er zu Fuß oder zu Schiff das unternommen, der Heillose?“26 Im Typoskript lautet der Vers: „Zu Fuß oder zu Schiff (als Fußkämpfer oder als Seefahrer) diesen Versuch hat er törichterweise unternommen, der Unselige?“27 Zwar kann ‚heil–––––––— 22 23 24 25

26 27

HMW 7, S. 695 f. Vgl. HMA 03021, fol. 57. HMA 03021, fol. 12. Semantische Nuancen der Übersetzung Witzmanns werden hier und im Folgenden mangels Kompetenz nicht berücksichtigt. In der von Müller ebenfalls verwendeten, an der FU Berlin angefertigten Übersetzung lautet der entsprechende Vers: „und Syénnesis, der Mutigste von allen,“ (vgl. Aischylos 1990, Anm. 7, S. 9). HMW 7, S. 709. HMA 03021, fol. 26. Witzmann hat wiederholt Übersetzungsvarianten in runden Klammern hinter oder über der entsprechenden Stelle angeboten. Im hier zitierten Beispiel hat Müller den ersten Vorschlag

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los‘ auch christlich verstanden werden, doch ist ‚unselig‘ nach meinem Dafürhalten gewissermaßen ‚christlicher‘, weil von ‚Heil‘ in gänzlich unterschiedlichen mythischen Zusammenhängen gesprochen wird. Es spricht also wenig dafür, an diesem Punkt nach inhaltlichen Kriterien für die Wortersetzung jenseits von allgemeiner Verständlichkeit zu suchen. Deswegen sollte andererseits auch nicht die Entscheidung Müllers überbewertet werden, dass er aus dem „Geist des Dareios“ bei Witzmann den „Schatten des Dareios“ macht. Vielmehr scheint er hier einem Hinweis in der erwähnten Perser-Übersetzung von der FU Berlin zu folgen.28 Diese Umstellung macht aber noch etwas anderes deutlich: Müller scheint an metrischen Fragen nicht interessiert zu sein. In diesem Beispiel wird der Satz entschieden kürzer: Schließlich wird „diesen Versuch“ von ihm zu „das“ verkürzt, und „törichterweise“ streicht er ganz. Dadurch wird der Satz prägnanter, vielleicht militärischer. Es scheint, als wolle Müller betonen, dass hier der alte Feldherr spricht, der klare Informationen verlangt. Die dadurch zum Ausdruck kommende Tendenz zur Klarheit im Vergleich zur Vorlage zeigt sich auch an anderer Stelle. Der Chor klagt in der Druckfassung: Dahingeschwunden sind die dreirudrigen Schiffe, nicht mehr Schiffe.29

Bei Witzmann heißt es dagegen: dahingeschwunden sind die dreirudrigen Schiffe, Nichtschiffe ((Nichtschiffe).).30

Diese Tendenz zur Zuspitzung ist aber nicht die einzige Stoßrichtung, die Müllers Bearbeitung verfolgt. Er verschiebt teilweise die semantischen Akzente bzw. deutet Witzmanns Übersetzung um. So erklärt in der Druckfassung der Chor dem Schatten des Dareios: Ich scheue mich zu sehen mit Augen Ich scheue mich entgegen zu sprechen31

Bei Witzmann lauten die beiden Verse dagegen: Ich scheue mich (aus Ehrfurcht) hinzusehen, ich scheue mich entgegen zu sprechen,32

Müller betont mit der Änderung die Scheu und damit den Affekt an sich, während Witzmanns Übersetzung deutlich macht, wie diese Scheu motiviert ist, nämlich mit Ehrfurcht und nicht etwa mit Angst vor dem Schatten, was Müllers Übersetzung nicht ausschließt. –––––––— 28 29 30 31 32

gewählt und den in runden Klammern gestrichen. Im Einzelfall lassen sich die Gründe für bzw. gegen eine Übersetzungsvariante und damit für die Motivation von Müllers Entscheidung nicht benennen. Vgl. Aischylos 1990 (Anm. 7), S. 18 u. ö. HMW 7, S. 707. HMA 003021, fol. 24. HMW 7, S. 708. HMA 003021, fol. 24.

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Müller nimmt aber nicht nur Wortersetzungen vor und fällt Entscheidungen, wenn ihm Witzmann Optionen angeboten hat. Er stellt auch oft um. In der Druckfassung heißt es von einem persischen Feldherrn: Tarybis, von fünfzig fünfmal Schiffen Der Befehlshaber, stammend von Lyrna, ein wohlgestalteter Mann, Tot liegt er, elend, nicht sehr glücklich.33

In Witzmanns Vorlage lautet der letzte Vers schlicht: „Liegt tot, elend, nicht sehr glücklich.“34 Müller betont ‚tot‘ durch die Umstellung an den Versanfang, was grammatisch die Einfügung von ‚er‘ bedingt und zugleich eine Verdeutlichung bewirkt, indem das Subjekt des Satzes erneut genannt wird. Durch diese Umstellung wird der nicht besonders aufführungs- bzw. rezeptionsfreundliche Text insgesamt vorsichtig verdichtet, so dass der in dieser Szene vorgenommenen Schilderung besser gefolgt werden kann. Derartige Eingriffe führen in einigen Fällen sogar dazu, dass die Interlinearität der Vorlage nicht nur leicht modifiziert, sondern sogar aufgehoben wird. So fragt der Chor im Druck: Warum war Dareios so Damals ohne Schaden Der Bogenherr den Bewohnern Susas lieber Anführer?35

Die ersten beiden Verse lauten bei Witzmann dagegen: Warum Dareios so damals ohne Schaden war,36

Einmal davon abgesehen, dass Witzmann anders als Müller die Versanfänge nicht mit Großbuchstaben eröffnet, wodurch dieser die Versform betont, steht bei Witzmann das finite Verb am Ende des zweiten Verses, während Müller auf die im Deutschen gängige Zweitstellung des finiten Verbs setzt und damit den allein schon wegen der Partikel ‚so‘ unklaren Satz moderat ‚normalisiert‘. Müller sorgt also für mehr Verständlichkeit im Vergleich zu seiner Vorlage. Schon beim Auftritt des Schattens von Dareios findet sich ein ähnlicher Umgang mit der Interlinearität. Im Druck erklärt der Schatten: [...] Es ist aber nicht ein guter Weg herauf, Und anders sind unter der Erde die Götter Zu nehmen mehr geneigt als herauszulassen.37

Dieser Hinweis auf Dareios’ Heraufkunft aus der Unterwelt ist ein weiterer Akzent, den Müller durch eine Detailveränderung gewinnt und der ebenfalls mit einer Umstellung, die zugleich die Interlinearität durchbricht, einhergeht. Denn bei Witzmann ist –––––––— 33 34 35 36 37

HMW 7, S. 695. HMA 003021, fol. 12. HMW 7, S. 703. HMA 003021, fol. 20. HMW 7, S. 707 f.

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das ‚Herauftreten‘ noch ein ‚Heraustreten‘, bei dem die Götter im Mittelpunkt stehen und nicht der Ort, an dem die Bewegung heraus bzw. herauf einsetzt: [...] Es ist aber nicht ein guter Weg heraus, und anders sind gänzlich die Götter unter der Erde zu nehmen besser als herauszulassen.38

Dass die Interlinearität insgesamt für Müller nicht höchste Priorität hatte, zeigt noch deutlicher das folgende Beispiel. Im Druck lautet das Ende der eben zitierten ChorPassage: Mit Blut getränkt habend die Flur Von Aias hochberühmter Insel nicht mehr Hält das der Perser.39

Im Typoskript heißt es dagegen: Mit Blut getränkt habend die Flur des Aias hochberühmte Insel hält das der Perser40

Müller vereindeutigt hier also erneut, indem er ein „nicht mehr“ einsetzt. Vor allem aber macht er aus drei Versen vier. Das korrespondiert mit der Tendenz, lange und mittellange Sätze radikal auf Kurzverse zu verknappen. Ein besonders markantes Beispiel dafür ist der Vers „das Meeresgestade“ bei Witzmann,41 den Müller folgendermaßen umbricht: Das MeeresGestade, gemeinsam beiden Ländern.42

Insgesamt finden sich wiederholt Beispiele dafür, wie Müller einen Vers zu zweien umbricht, wodurch das Enjambement zu einem dominierenden Stilmittel des Textes wird. Im Hinblick auf die (stille) Lektüre sind diese Eingriffe vielleicht als verstörend zu begreifen, weil sie sich dem gewohnten Lesen ‚Vers für Vers‘ widersetzen. Im Hinblick auf den Vortrag muss das aber nicht sein, gerade das Enjambement kann sehr unterschiedlich wirken: Wird Vers für Vers gesprochen, werden also Versenden betont, dann wirkt das Enjambement wie bei der (stillen) Lektüre verstörend. Wird dagegen ‚natürlich‘ gesprochen, so kann es die Überbrückung zwischen den Versen unterstützen.

–––––––— 38 39 40 41 42

HMA 003021, fol. 24. HMW 7, S. 705; das ‚das‘ im letzten Vers bezieht sich auf das im vorhergehenden Vers genannte Joch der Perser. HMA 003021, fol. 21. HMA 003021, fol. 5. HMW 7, S. 688; Hörnigk emendiert in der Werk-Ausgabe zudem den Trennstrich, der im Erstdruck nicht zu finden ist; vgl. Aischylos 1991 (Anm. 3), S. 21.

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4. Die Befunde zeigen, dass Müller de facto nicht an einer konsequenten Interlinearität interessiert ist. Auch verändert er Witzmanns Übersetzung im Detail so, dass Verstehen insgesamt leichter wird bzw. dass potentielle Unklarheiten zurückgedrängt werden. Ob er dabei konkrete Ziele verfolgt hat, hat Müller im Unklaren gelassen. Er meint im Vor- bzw. Nachwort von Erstdruck bzw. Werkausgabe: Die Übertragungen von Peter Witzmann (PROMETHEUS, ORESTIE, PERSER) sind Interlinearversionen. Sie unterscheiden sich von anderen per Tuchfühlung mit den alten Texten. Sie ziehn dem Autor nicht die Uniform der Zeit an wie die gängigen wilhelminischen der Droysen und Wilamowitz und ihrer Nachfolger. Der Gestus des Originals verschwindet nicht in der Information über den Inhalt. Das macht sie dunkel und für flüchtige Leser schwer zugänglich. Sie sollten gelesen werden wie sie geschrieben sind, nicht satzweise, sondern Wort für Wort. Die Dunkelheit erhellt den Abstand zwischen Äschylos und uns. In der Distanz scheint das Kontinuum menschlicher Existenz auf und im Kontinuum die Differenz.43

Auch wenn dieser Hinweis dem ersten Eindruck nach die These zu bestätigen scheint, dass Müllers Wertschätzung der Interlinearversion mit der Benjamins in Die Aufgabe des Übersetzers korrespondiert, sollte man sich trotzdem nicht in die Irre leiten lassen. Die vorgestellten Eingriffe legen es in keiner Weise nahe, davon auszugehen, dass Müller dem metaphysischen Ansatz Benjamins in der Perser-Übersetzung folgt. Das zeigt sich schon an seiner vorsichtigen Ausrichtung der Übersetzung auf die Zielsprache. Im Sinne Klaus Reicherts44 handelt es sich im vorliegenden Fall vielmehr um eine Interlinearübersetzung, die durch Müller an die Zielsprache ‚assimiliert‘ wird und letztlich auf diese fokussiert bleibt – unabhängig davon, wie vermeintlich ‚fremd‘ der Text auch wirken mag. Müllers Arbeitsweise ist dabei von einer gestuften Durchbrechung der Linearität gekennzeichnet: Zunächst lässt er eine Interlinearversion anfertigen. Dann durchbricht er deren Linearität schlicht dadurch, dass er sie bearbeitet, indem er zwischen die Zeilen, zwischen die Buchstabenlinien schreibt. Diese Eingriffe werden wieder eingehegt und verschwinden im Druck, weil von ihnen in der Werkausgabe keine Spuren bleiben. Dass es sich bei Müllers Textpräsentation aber nicht mehr um eine Interlinearversion im eigentlichen Sinne handelt, merkt ausschließlich der Altphilologe, der den Originaltext kennt bzw. vergleichend konsultiert. Bierls Wendung von der „sehr wörtliche[n] Übersetzung“ ist also gerade deswegen hilfreich, weil sie nicht von ‚Interlinearität‘ spricht. Auch Hörnigks Hinweis, Müller habe seine Übersetzungen als Vermittlungen gesehen, ist treffend – und zwar in einem doppelten Sinne: Müller bemüht sich durch das Vorlegen des Textes um dessen Rezeption in der Gegenwart und versucht im Wortlaut moderat zwischen dessen Fremdheit und der Gegenwart zu vermitteln. –––––––— 43 44

HMW 7, S. 721. Siehe Anm. 2.

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Trotzdem halte ich die Aussagen von Hörnigk und Bierl insgesamt für problematisch, weil weder die Edition noch die Studie transparent machen, wie Müller gearbeitet hat. Bierls Verweis auf die „Materialität der Sprache“ bleibt ungenau. Seine Hinweise auf die Ähnlichkeit von ‚prädramatischer‘ und ‚postdramatischer‘ Dichtung sind zwar plausibel. Allein der Rückgriff auf eine Interlinearversion provoziert eine potentielle Un- bzw. Missverständlichkeit, ‚Dunkelheit‘, um mit Müller zu sprechen. Spätestens seit Leben Gundlings hat Müller in seiner Dramatik auf dieses am Surrealismus geschulte hermetische Moment gesetzt.45 Doch bedarf es dann eigentlich noch der Bearbeitung? Warum hat er sich die Mühe der Bearbeitung überhaupt gemacht, wenn es ausschließlich um Dunkelheit ging? Meinem Eindruck nach bemüht sich Müller weniger um die Materialität der Sprache als vielmehr um das, was man Materialität der Wörter oder schlichter Wörtlichkeit nennen kann. Wie das Zitat aus dem Vor- bzw. Nachwort zeigt, ist Müller alles andere als hermetisch, wenn er von der Rezeption des Textes spricht. Er spricht vom Lesen „Wort für Wort“. Das erklärt zweierlei: Zum einen erklärt es die der Bearbeitung eigentümliche Neigung, Wörter und Wendungen zu streichen. Sie führt zu einer Konzentration auf andere Wörter. Zum anderen und vor allem aber erklärt sein Hinweis die Tendenz, Verse zu verkürzen bzw. in zwei Verse umzubrechen. Die Aufmerksamkeit auf das einzelne Wort wird dadurch erhöht und damit ebenso auf das Sprechen nicht etwa in Sinnabschnitten, sondern entlang von Wortgrenzen. Müller ist also ein Philologe im eigentlichen Wortsinn. Die Wertschätzung jedes einzelnen Wortes erfolgt nicht im Hinblick auf seine Bedeutung für den gesamten Text, sondern im Hinblick auf das Wort an sich. Diese Stoßrichtung auf Rezeption und Performanz des Textes wird ausschließlich deutlich, wenn man Witzmanns Vorlage und Müllers Bearbeitung miteinander vergleicht. Hörnigks Edition lässt das nicht zu, Bierls Interpretation lässt eine Ahnung davon aufkommen. Doch bleibt sie notwendig unkonkret, weil sie zwischen Vorlage und Druckfassung nicht unterscheidet. Die Auseinandersetzung mit Müllers Arbeit an Witzmanns Interlinearübersetzung erlaubt also nicht nur eine Präzisierung der literaturwissenschaftlichen Interpretation, sondern diese erlaubt ihrerseits wiederum Rückschlüsse, wie die Perser sinnvoll zu sprechen und also auch zu inszenieren sind. Ein Abweichen davon muss nicht notwendig eine schlechte Inszenierung bedeuten, aber notwendig eine, die Müllers künstlerischer Intention zuwiderläuft.

–––––––— 45

Vgl. Kai Bremer: Erholung durch Störung. Zum Status surrealistischer Malerei bei Heiner Müller. In: Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur. Hrsg. von Friederike Reents. Berlin, New York 2009 (spectrum Literaturwissenschaft. 21), S. 205–216.

III. Typografische Materialität I: Buch

Thomas Rahn

Gestörte Texte Detailtypographische Interpretamente und Edition

In der typographischen Gestalt der Erstausgabe des Romans Fluchtpunkt sticht auf der ersten Seite etwas ins Auge (s. Abb. 1).1 Wo im Text der Wortlaut eines Schildes zitiert wird, das sich jemand vor die Tür gehängt hat, weist die Druckschrift zusätzlich die materiale Faktur des zitierten Mediums aus: In kursiven Versalbuchstaben ist das Schild geschrieben, so die Behauptung der Romanseite. Die teilmimetische typographische Abbildung des Schildes wird aber gleich durch einen Zeilenumbruch im Prosasatz unterlaufen. Das Schild ist als Fläche nicht intakt, es ist zerrissen, die Illusion ist gestört.

Abb. 1: Peter Weiss: Fluchtpunkt. Frankfurt a. M. 1962, S. 7.

–––––––— 1

Peter Weiss: Fluchtpunkt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1962, S. 7.

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Thomas Rahn

Die Zeilenbrechung stört jedoch nicht allein das Bild des Schildes, sie geht auch mitten durch ein Wort, „DIS- / TURB“, und stört auf der materialen Ebene dessen Integrität. Der typographische Störeffekt im Wort stimmt dabei mit dem semantischen Kern des gestörten Wortes zusammen (ein ‚harmonischer‘ Wort-Bruch sozusagen). – Auf der Seite entsteht ein Spiel der Bedeutungen, das auf einer Wechselwirkung zwischen der sprachlichen Aussageebene des Textes und seiner detailtypographischen Materialität beruht. Die Aufforderung „DON’T DIS- / TURB A SLEEPING DOG“ weckt gleichsam den Leser aus der gewohnten zeichentranszendierenden Lektüre zu einem Schrift-Sehen, dessen Ergebnisse sinnvoll in die hermeneutische Operation der Lektüre einfließen können. Die materielle Störung wird hermeneutisch integriert. Es ist nicht entscheidbar, ob das hier präsentierte Schriftspiel kalkuliert wurde oder dem zuzurechnen ist, was Roland Reuß griffig als ‚Spielräume des Zufalls‘ bezeichnet hat.2 Editionsrelevant ist es allemal. Selbst wenn eine uneingeschränkte mimetische Orientierung an der historischen Druckgestalt in der Editionstypographie in den meisten Fällen nicht sinnvoll ist,3 sind interpretationsfähige typographische Merkmale eines Textes grundsätzlich zu dokumentieren. Auf welche Weise das geschehen kann, wird im Folgenden anhand eines detailtypographischen Phänomenbereichs diskutiert,4 der sich mit dem Stichwort ‚Störung‘ benennen lässt. Es geht um typographische Details – ‚unschöne‘ (wie satzbedingte Zeilenumbrüche) und ‚schöne‘ (wie Ornamente) –, die gemeinhin allein unter typographieästhetischen Gesichtspunkten beurteilt werden, jedoch im sprachlichen Kontext einen Sinn gewinnen können, der Textaussagen stützt, modifiziert, unterläuft oder reflektiert. Ein Störcharakter kann den zu analysierenden Phänomenen auf zwei Ebenen zukommen: auf der materialen Ebene als typographischer Normenbruch und/oder auf der textuellen Ebene als Einsprechen in den Text. Der Aufsatz widmet sich, mit ausführlichen Beispielanalysen, drei Aspekten: (1.) der hermeneutischen Relevanz detailtypographischer Störmomente (in Abgrenzung zu theoretischen Rettungsversuchen des ‚reinen poetischen Textes‘), (2.) der forcierten ‚mikrotypographischen‘ Sensibilisierung als editionspraktischem Problem und (3.) der möglichen Bedeutungsdifferenzierung eines Textes durch detailtypographische Varianten, durch welche sich die Menge dokumentationsrelevanter Drucke erhöht.

–––––––— 2

3

4

Roland Reuß: Spielräume des Zufälligen. Zum Verhältnis von Edition und Typographie. In: Text. Kritische Beiträge 11, 2006, S. 55–100. Reuß geht grundsätzlich von einer „Indifferenz des Textes gegenüber der Typographie“ (ebd., S. 58) aus, woraus er die Unabhängigkeit der Editionstypographie von den historischen Vorlagen ableitet. Vgl. Friedrich Forssman, Thomas Rahn: Gemäßigte Mimesis. Spielräume und Grenzen einer eklektischen Editionstypographie. In: Typographie und Literatur. Hrsg. von Rainer Falk und Thomas Rahn. Frankfurt a. M., Basel (im Druck). Vgl. generell zu den Gestaltungsregeln in diesem Bereich Friedrich Forssman, Ralf de Jong: Detailtypografie. 4., wiederum verbesserte Aufl. Mainz 2008.

Gestörte Texte

1.

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Der Sinn der Störung Eine Seite ist ein Bild. Sie liefert einen Totaleindruck, bietet dem Auge ein Ganzes oder ein Gefüge von größeren Blöcken und Schichten, von schwarzen Flächen und weißen Leerräumen, einen Fleck von mehr oder minder glücklicher Gestalt und Überzeugungskraft. Diese zweite Art zu sehen, nicht mehr sukzessiv und linear fortschreitend wie bei der Lektüre, sondern als eine Art Zusammenschau auf den ersten Blick, gestattet uns, die Typographie in die Nähe der Architektur zu rücken, wie man vorher bei der Lektüre darauf verfallen konnte, sie mit der melodischen Musik zu vergleichen, und überhaupt mit allen Künsten, die sich in der Zeit vollziehen. […] Diese beiden Einstellungen des Blickes sind unabhängig voneinander. Der gesehene Text, der gelesene Text sind durchaus zweierlei, weil die Aufmerksamkeit, die man dem einen widmet, jene auf den anderen ausschließt. […] Das Buch ist der Sache nach vollkommen, wenn es angenehm zu lesen, köstlich anzuschauen ist; kurz, wenn der Übergang von der Lektüre zur Betrachtung, und wiederum von der Betrachtung zur Lektüre, ohne große Hindernisse erfolgt und es nur unmerklicher Umstellungen des leicht sich umstellenden Auges bedarf.5

In Paul Valérys Essay Die Tugenden eines Buches (1926) sind Geist und Buchstabe in der Wahrnehmung des Textes klar geschieden. Zugespitzt in der suggestiven Analogisierung des Gegensatzes von Lesen und Schriftsehen mit der Mediendifferenz von Musik und Architektur, unterscheidet der Autor ein Linien-Sehen von einem (rein ästhetischen) Flächen-Sehen. Diese entschiedene Trennung geht davon aus, dass die Rezeption einer Buchseite nur umspringen kann zwischen einem „Totaleindruck“ der Typographie und der fokussierten zeichentranszendierenden Lektüre der einzelnen Zeile; ausgeblendet bleiben dabei materiale ‚Widerstände‘, die dem Leser auf der detailtypographischen Ebene begegnen können. Die Möglichkeit einer stellenweisen spezifischen Interferenz zwischen Text und Textgestalt wird nicht mitgedacht. Valérys Überlegungen zur Typographie, die den Text als gänzlich unabhängig von seiner Materialität ausweisen,6 haben ihr Pendant in einer immer noch wirksamen traditionellen Hermeneutik, die – basierend auf einem phonozentristischen Dichtungsbegriff – die Poetizität druckschriftlicher Merkmale in Frage stellt: Nur von ganz fern gehört das Schriftbild oder Satzbild zu der Erscheinung der Poesie hinzu. In das schwebende Verhältnis von Klang und Sinn, das ein Gedicht ausmacht, darf sich das Schriftzeichen nicht als gleichberechtigter Partner eindrängen. Was nicht im inneren Ohre

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6

Paul Valéry: Die beiden Tugenden eines Buches. In: Ders.: Werke. Frankfurter Ausgabe in sieben Bänden. Hrsg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt. Bd. 6: Zur Ästhetik und Philosophie der Künste. Frankfurt a. M. 1995, S. 467–471, hier S. 468 f. Am Ende seines Essays gerät Valéry mit seiner Position in einen Selbstwiderspruch, wenn er nämlich ausführt, dass sich der „Geist eines Schriftstellers […] in dem Spiegel, den ihm die Druckerpresse liefert“, selbst betrachten könne. Der sorgfältige und ästhetisch anspruchsvolle Druck seines Textes lässt den Autor glauben, „er vernehme eine sehr viel entschiedenere und festere Stimme als die seine, höre eine unerbittlich reine Stimme seine Worte aussprechen, jedes seiner Wörter mit drohender Deutlichkeit. Alles, was er je Schwaches, Nachgiebiges, Willkürliches, Unelegantes niedergeschrieben hat, spricht nun allzu klar und vernehmlich“; Valéry 1995 (Anm. 5), S. 471. Hier ist die Lektüre nicht mehr als konsequent zeichentranszendierend gedacht, sondern als offen für den visuellen ‚Einspruch‘ der typographischen Form.

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des Lesers zu hören ist, was nicht der rhythmischen Gliederung der Laut- und Sinngestalt des Gedichtes zu dienen vermag, hat kein poetisches Dasein. So gehört es schon zu der Fragwürdigkeit eines hochentwickelten Manierismus, wenn überhaupt die Sphäre des Schriftlichen mit der ursprünglichen Sphäre des Sprachlichen in ein Partnerschaftsverhältnis versetzt wird, wie zum Beispiel in einigen Formen des Barockgedichtes.7

Hans-Georg Gadamer führt in seinem Aufsatz Poesie und Interpunktion (1961) weiter aus, dass die Zeichensetzung „nicht zur Substanz des dichterischen Wortes“ gehöre, sondern „eine Lesehilfe und als solche ein Teil der Interpretation“ sei.8 Das bedeutet folglich, dass eine eigenwillige und ostentativ von der Norm abweichende Interpunktion in einer Dichtung „eine Art Selbstinterpretation“ des Autors darstellt, die keine „wirkliche Verbindlichkeit“ beanspruchen könne.9 Der Dichter als ‚Schrift-Steller‘ überschreitet quasi seine Kompetenzen. Wenn nach der bekannten hermeneutischen Maxime der Text klüger sein kann als sein Autor, muss dessen Versuch, sich als Interpret mithilfe des Schriftsystems wiederum klüger zu machen als der Text, ein Verdikt auf sich ziehen. Indem Gadamer von einem interpretativen Potential der Interpunktion – und damit implizit auch typographischer Mittel – ausgeht, blendet er anders als Valéry zwar nicht den möglichen Interpretamentcharakter materialer Details aus, er sichert den poetischen Text jedoch definitorisch als reinen klingenden Text gegen ein störendes Mitsprechen der Typographie ab. Zu der Allianz von Dichter und Hermeneutiker, die, mit unterschiedlicher theoretischer Stoßrichtung, die Substanz der poetischen Rede gegen den Einfluss der typographischen Form abgrenzen, gesellt sich der Typograph, der seine Aufgabe in der Regel darin sieht, zuvorderst die optimale Lesbarkeit des Textes zu garantieren und die Gestaltung nicht vorlaut (um nicht zu sagen: unvernehmlich) werden zu lassen.10 Es kann nicht überraschen, dass sich auch in der Editionspraxis, die sich lange ausschließlich der Stimme des Autors verpflichtet sah und die als Textkritik methodisch mit der traditionellen Hermeneutik als einem Verfahren der ‚Sinnstörungstilgung‘ verwandt ist, überwiegend die Konstruktion eines ‚reinen‘ Textes findet, welche auf der Gestaltungsebene von Editionen eine Ästhetik der Unsichtbarkeit insbesondere bei der Schriftwahl dominieren lässt.11 –––––––— 7 8 9 10

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Hans-Georg Gadamer: Poesie und Interpunktion. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 9: Ästhetik und Hermeneutik II: Hermeneutik im Vollzug. Tübingen 1993, S. 282–288, hier S. 283. Gadamer 1993 (Anm. 7), S. 284. Gadamer 1993 (Anm. 7), S. 284. Vgl. etwa die klassische Formulierung Stanley Morisons aus dem Jahr 1930: „Typographie kann umschrieben werden als die Kunst, das Satzmaterial in Übereinstimmung mit einem bestimmten Zweck richtig zu gliedern, also die Typen anzuordnen und die Zwischenräume so zu bestimmen, daß dem Leser das Verständnis des Textes im Höchstmaß erleichtert wird. Die Typographie hat im Wesentlichen ein praktisches und nur beiläufig ein ästhetisches Ziel; denn nur selten will sich der Leser vornehmlich an einem gefälligen Druckbild erfreuen. Daher ist jede Satzgestaltung falsch, die sich, gleichviel aus welcher Absicht, zwischen Autor und Leser stellt“; Stanley Morison: Grundregeln der Buchtypographie. Übersetzt und hrsg. von Max Caflisch und Kurt Gschwendt. Köln, Berlin, Bonn 1987, S. 7. Vgl. Thomas Rahn: Werkschriften. Gestalten des Textes in der Edition. In: Ästhetische Erfahrung und Edition. Hrsg. von Rainer Falk und Gert Mattenklott. Tübingen 2007 (Beihefte zu editio. 27), S. 231– 258, hier S. 240–247.

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Gegen eine Philologie des reinen Textes hat sich die Materialität und Medialität gedruckter Texte mittlerweile als Untersuchungsgegenstand der Editionswissenschaft etabliert;12 differenzierte Aspektkataloge von Materialität werden erstellt.13 Dabei ist ein Bereich der druckschriftlichen Materialität bisher wenig beachtet geblieben: detailtypographische Störungen der Textgestalt durch Irregularitäten, Satzfehler und satzbedingte Notbehelfe, die im konkreten Kontext semantische Interferenzen mit dem Text bilden, aber auch regulär eingesetzte ornamentale Auszeichnungsformen, denen stellenweise eine subversive Lenkungsfunktion bei der Lektüre zuwächst. Die Forschungen zum literarischen (und auch philosophischen) Einsatz von Detailtypographie konzentrieren sich auf Schriftwahl,14 Satzzeichen15 und typographische Auszeichnungsformen,16 wobei in neueren Untersuchungen, neben der typologischen Bestimmung der regulären Bedeutungsmöglichkeiten der betreffenden Zeichen, ein verstärktes Interesse an der autorspezifischen Zeichennutzung und -reflexion zutage tritt.17 ‚Sichtbarer‘ werden nicht mehr allein explizite literarische Sondertypographien –––––––— 12

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Vgl. etwa Rüdiger Nutt-Kofoth: Text lesen – Text sehen. Edition und Typographie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78, 2004, S. 3–19; Per Röcken: Was ist – aus editorischer Sicht – Materialität? Versuch einer Explikation des Ausdrucks und einer sachlichen Klärung. In: editio 22, 2008, S. 22–46, bes. S. 39–41; Materialität in der Editionswissenschaft. Hrsg. von Martin Schubert. Berlin, New York 2010 (Beihefte zu editio. 32). Vgl. Röcken 2008 (Anm. 12), S. 43–45. Vgl. zur Semantisierung von Druckschriften Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 69); Thomas Rahn: Druckschrift und Charakter. Die Semantik der Schrift im typographischen Fachdiskurs und in der Textinszenierung der Schriftproben. In: Text. Kritische Beiträge 11, 2006, S. 1–31. Vgl. Punkt, Punkt, Komma, Strich? Geste, Gestalt und Bedeutung philosophischer Zeichensetzung. Hrsg. von Christine Abbt und Tim Kammasch. Bielefeld 2009; Die Poesie der Zeichensetzung. Studien zur Stilistik der Interpunktion. Hrsg. von Alexander Nebrig und Carlos Spoerhase. Bern u. a. 2012 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. 25); Christine Abbt: Schreibweise des Seins? Zur Verwendung der Auslassungspunkte auf der Suche nach einer Sprache des Erlebens. In: Von Lettern und Lücken. Zur Ordnung der Schrift im Bleisatz. Hrsg. von Mareike Giertler und Rea Köppel. München 2012, S. 129–160. Vgl. Harald Wentzlaff-Eggebert: Drucktypenwechsel. Ein Grenzphänomen der Sprachtheorie im Dienst der Leserforschung. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 4, 1974, H. 15: Rezeptionsforschung, S. 27–49 (behandelt insbesondere die literarische Funktionalisierung der Kursive); Martina Michelsen: Weg vom Wort – zum Gedankenstrich. Zur stilistischen Funktion eines Satzzeichens in der englischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. München 1993 (Münchner Studien zur neueren englischen Literatur. 6); Anne C. Henry: The Re-mark-able Rise of ‚…‘. Reading Ellipsis Marks in Literary Texts. In: Ma(r)king the Text. The Presentation of Meaning on the Literary Page. Hrsg. von Joe Bray, Miriam Handley und Anne C. Henry. Aldershot 2000, S. 120–142. Vgl. Joe Bray: ‚Attending to the minute‘: Richardson’s Revisions of Italics in Pamela. In: Ma(r)king the Text 2000 (Anm. 16), S. 105–119; Leon Jackson: „The Italics are Mine“: Edgar Allan Poe and the Semiotics of Print. In: Illuminating Letters. Typography and Literary Interpretation. Hrsg. von Paul C. Gutjahr und Megan L. Benton. Amherst 2001 (Studies in Print Culture and the History of the Book), S. 139–161; zu Auslassungspunkten bei Kleist: Bettine Menke: Der Witz, den die Lettern und den die Löcher machen, … In: Die Sichtbarkeit der Schrift. Hrsg. von Susanne Strätling und Georg Witte. München 2006, S. 203–215; mit Schwerpunkt auf Jean Paul: Bettine Menke: – Gedankenstriche –. In: Am Rande bemerkt. Anmerkungspraktiken in literarischen Texten. Hrsg. von Bernhard Metz und Sabine Zubarik. Berlin 2008, S. 169–190, sowie Dies.: Auslassungszeichen, Operatoren der Spatialisierung – was ‚Gedankenstriche‘ tun. In: Von Lettern und Lücken 2012 (Anm. 15), S. 73–95; Mareike Giertler: In zusammenhanglosen Pünktchen lesen. Zu den Auslassungszeichen in Musils „Die Vollendung der Liebe“. In: ebd., S. 161–183.

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wie bei Stefan George18 oder Arno Schmidt,19 sondern auch Umnutzungsstrategien geläufiger Zeichen, die nicht auf den ersten Blick ins Auge fallen: Thomas Nehrlich zeigt am Beispiel von Kleists Prosa in dichten Analysen die Ausbildung besonderer binnentextueller Bedeutungskonventionen detailtypographischer Formen auf. So vermag etwa in Der Findling der Einsatz bzw. Nichteinsatz von Sperrsatz bei den Figurennamen den Identitätsstatus der Figuren zu markieren oder in Die Verlobung in St. Domingo die Verteilung von Anführungszeichen bei der Rede der Figuren sich wandelnde Machtgefälle zwischen diesen anzuzeigen.20 Forschungsansätze solcher Art sind wegweisend, weil sie die Aufmerksamkeit auf Fälle lenken, in denen gerade der typographische Normbruch, d. h. das subtile Ausschlagen oder die Überlagerung der wahrscheinlichsten kommunikativen Funktion eines Zeichens im Rahmen des literarischen Textes eine Bedeutung erhält. Die Interpretation von Typographie verlangt mithin (auch) eine Hermeneutik der Abweichung.21 Die aktuelle Forschung zur Schriftbildlichkeit untersucht und begründet eine Wahrnehmung von Schrift, die nach dem Modell der Kippfigur zwischen der Textur bzw. Materialität von Schrift und deren Textualität bzw. Sinn schwankt. Dabei wird die Radikalität des Aspektwechsels zwischen Schriftbild und ‚Geist‘, wie Valéry sie entwickelt (siehe oben), insofern relativiert, als Textur und Textualität nicht nur isoliert voneinander wirken können, sondern in Schriftspielen zu interagieren vermögen.22 Im Anschluss daran behaupte ich, dass die Ikonizität von Schrift-Bildern – sowohl als manifeste Bildlichkeit (wie in Figurengedichten) als auch als potentielle –––––––— 18

19

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Vgl. Roland Reuß: Industrielle Manufaktur. Zur Entstehung der „Stefan-George-Schrift“. In: Stardust. Post für die Werkstatt. KD Wolff zum Sechzigsten. Hrsg. von Doris Kern und Michel Leiner. Frankfurt a. M., Basel 2003, S. 166–191; Rüdiger Nutt-Kofoth: The Book in the Poetological Concept of Stefan George. Some Remarks on the Physical and Iconic Side of the Published Text – with an Editorial Conclusion. In: The Book as Artefact. Text and Borders. Hrsg. von Anne Mette Hansen, Roger Lüdecke, Wolfgang Streit, Christina Urchueguía und Peter Shillingsburg. Amsterdam, New York 2005 (Variants. 4), S. 111–131; Stephan Kurz: Der Teppich der Schrift. Typografie bei Stefan George. Frankfurt a. M., Basel 2007. Vgl. Friedrich P. Ott: Typographie als Mimesis. In: Zettelkasten 8, 1990, S. 105–122; Ulrich Joost: Der Au=Tor als d. Säzza, oder: Visuelle, ja audible Etyms? Zu Arno Schmidts Schreibarbeit und Typographiesemiotik. In: „System ohne General“. Schreibszenen im digitalen Zeitalter. Hrsg. von Davide Giuriato, Martin Stingelin und Sandro Zanetti. München 2006, S. 47–64; Berhard Metz: Aposiopese vs. Hypotypose: Zur konträren Funktion von Interpunktion und nichtalphabetischer Zeichensetzung bei Laurence Sterne und Arno Schmidt. In: Visualisierungen: Textualität – Deixis – Lektüre. Hrsg. von Renate Brosch und Ronja Tripp. Trier 2007 (Literatur, Imagination, Realität. 41), S. 195–214. Vgl. Thomas Nehrlich: „Es hat mehr Sinn und Deutung, als du glaubst.“ Zu Funktion und Bedeutung typographischer Textmerkmale in Kleists Prosa. Hildesheim, Zürich, New York 2012 (Germanistische Texte und Studien. 88), S. 72–77 und 84–92. Vgl. zur Hermeneutik der Typographie Nehrlich 2012 (Anm. 20), S. 30–34. Es ist „das Verhältnis von Sinnlichkeit und Sinn – wenn wir es in Analogie zur Kippfigur denken – nicht mit dem Index einer Vorrangigkeit bzw. des Primats der einen Seite gegenüber der anderen verknüpft: Schriften evozieren den Sinnlichkeits- und den Sinneffekt gleichermaßen und gleichrangig. Schriftspiele – so können wir dann folgern – zehren von der Möglichkeit eines Oszillierens zwischen beiden Seiten – allerdings in je unterschiedlichen Graduierungen und Proportionen. Denn nur infolge einer nicht vorhandenen Über- oder Unterordnung, nur kraft der Gleichrangigkeit beider Seiten, ist tatsächlich ein Wechselspiel zwischen ihnen auf kreative Weise möglich“; Sybille Krämer, Rainer Totzke: Einleitung. Was bedeutet „Schriftbildlichkeit“. In: Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen. Hrsg. von Sybille Krämer, Eva Cancik-Kirschbaum und Rainer Totzke. Berlin 2012, S. 13–35, hier S. 24 f.

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visuelle Metaphorizität, die ihre Definition durch den verbalsprachlichen Kontext erfährt – als Interpretament in einer Hermeneutik der Typographie Berücksichtigung finden muss. ‚Interpretament‘, soviel zu meiner Verwendung des Begriffs, ist hier weit gefasst als etwas, das der Interpretation bzw. der hermeneutischen Tätigkeit eine bestimmte Richtung zu geben vermag. Das schließt neben solchen Deutungsmitteln, die in einer Kommunikation (ob vom Autor oder seinen Publikationsinstanzen) eindeutig gewollt sind, auch akzidentielle Deutungsimpulse und Lenkungseffekte ein, die durch bestimmte materielle Bedingungen eines Mediums zustande kommen. Wie ein detailtypographisch gestifteter Störfall – ein auffälliges Schrift-Bild, bewirkt durch den notwendigen Umbruch einer überlangen Verszeile – Interpretamentcharakter gewinnen kann, lässt sich an einem Text aus Rilkes Gedichtzyklus Aus einer Sturmnacht (Acht Blätter mit einem Titelblatt) in der typographischen Version der Erstausgabe des Buches der Bilder (1902) zeigen (s. Abb. 2).23 Bereits bei der Titelgebung des Zyklus fällt auf, dass die poetischen Texteinheiten als Medieneinheiten etikettiert sind, wobei offen bleibt, ob die hier metaphorisch als „Blätter“ annoncierten Gedichte Bilder oder/und Schrift tragen. Auf neun realen Blattseiten des Buches, das sich als ein Buch der Bilder ausweist, stehen also, in typographischer Repräsentation, neun verbalsprachliche Texte, die imaginäre Blätter sind,24 auf denen sowohl Bilder als auch Schriften vorgestellt werden können. Die paratextuelle Einbettung der Gedichte auf der Ebene des Buch- wie des Zyklustitels betreibt ein (programmatisches) Spiel der Verunsicherung des Rezipienten bezüglich der Frage, auf welchen medialen Modus sich seine Lektürewahrnehmungen beziehen. Das vierte „Blatt“ (= Blatt [36r]) lässt ‚bei bloßer Betrachtung‘ sogleich ein gestörtes Druckbild erkennen. Der dichte Block des Gedichtsatzes ist an einer Stelle auseinandergerissen durch einen großen Leeraum, der an seinem rechten Ende durch ein Wort abgeschlossen wird. Das Wort ragt über die übrigen Zeilenenden hinaus. Horizontal aus dem Block austretend und vertikal zwischen die getrennten Schriftflächen tretend wird es zum exzentrischen Fremdkörper. Dieser formbedingt isolierte Fremdkörper, der sofort ins Auge fällt, wird mit großer Wahrscheinlichkeit unwillkürlich oder bewusst gelesen, bevor der ganze Text gelesen wird: „HALLEN.“ Das Wort in seiner konkreten Schriftgestalt, zunächst noch außerhalb eines zugehörigen Syntagmas rezipiert, bekommt einen unentschiedenen Sinn. Aufgrund des durchgängigen Versalsatzes, den Rilke für Das Buch der Bilder wünschte,25 lässt sich nicht sofort entscheiden, ob das Wort ein Verb oder ein Substantiv ist bzw. ob es um den Bereich des Akustischen oder des Räumlichen geht. Ist –––––––— 23

24

25

Rainer Maria Rilke: Das Buch der Bilder. Berlin: Axel Juncker 1902, Bl. [36r]. – An anderer Stelle (Rahn 2007, Anm. 11, S. 236 f.) wurden bereits typographische Merkmale des Gedichts Menschen bei Nacht aus dem Buch der Bilder (im Vergleich der typographischen Varianten von 1902 und 1906) veröffentlicht; vgl. ausführlich zur methodologischen Einordnung und Kritik dieser Deutung Annika Rockenberger, Per Röcken: Wie ‚bedeutet‘ ein ‚material text‘?, im vorliegenden Band. Eine Blattseite mit einem Text ist eben kein Blatt, das immer zwei Seiten hat. Zur Metaphorisierung der Texte als Blätter passt allerdings, dass der Gedichtband nicht paginiert ist (bei der Ziffer ‚5‘, die auf Abb. 2 unten zu erkennen ist, handelt es sich um eine Bogensignatur). Vgl. Rilkes Brief an seinen Verleger (Westerwede, 7. November 1901) in Rainer Maria Rilke: Briefe an Axel Juncker. Hrsg. von Renate Scharffenberg. Frankfurt a. M. 1979, S. 34–36.

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hier von ‚hallen‘ (Infinitiv oder 3. Person Plural), von ‚dem Hallen‘ oder ‚den Hallen‘ die Rede? Aus dem optischen Fremdkörper ist ein Fremd-Wort geworden, ein Wort, das durch die Verweigerung eines eindeutigen Sinns zuerst einmal erratisch im Text steht.26

Abb. 2: Rainer Maria Rilke: Das Buch der Bilder. Berlin 1902, Bl. [36r].

Die hermeneutische Irritation, mit welcher der Leser in die Textlektüre einsteigt, wird auf verbalsprachlicher Ebene sowohl behoben als auch wieder provoziert. Im Text ist von einem mächtigen sturmumtobten Kirchenbau die Rede: „SCHWARZ SCHWANKT DER DOM MIT ALLEN SEINEN HALLEN.“ Doch unmittelbar, –––––––— 26

Ich entlehne das Konzept der Erratisierung des Wortes aus Georg Witte: Das „Zusammen-Begreifen“ des Blicks: Vers und Schrift. In: Schriftbildlichkeit 2012 (Anm. 22), S. 265–285, bezeichne damit im vorliegenden Kontext aber einen typographischen Sonderfall der semantischen Wortfokussierung durch die Verunsicherung des Wortsinns. Witte konzentriert sich dagegen auf die Möglichkeit der transgrammatischen Rezeption eines Wortes, die durch ein grundsätzliches und reguläres Strukturmoment der (schriftförmigen) Lyrik, nämlich durch das spezifische Wechselverhältnis zwischen der horizontalen Syntagmatik des Textes und der Vertikalität der sichtbaren Form gegeben sei (vgl. ebd., S. 270–274). In der Versform vermögen Worte als „erratische Singularien“ aufzuscheinen; im Vers kommt es gegebenenfalls zur „Intensivierung sowohl der Zeichenhaftigkeit als auch der Phänomenalität des Worts“ (ebd., S. 268).

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nachdem die (bewusst oder wenigstens unterschwellig) mitgenommene Frage nach der semantischen Heimat des Wortes „HALLEN“ zugunsten des Räumlichen beantwortet ist, hebt ein Syntagma an, in dem sich das ambivalente Wort hätte fortschreiben lassen: „HALLEN. DIE GLOCKEN […]“. Zwar wird im Zeilenverlauf „[…] DER DOM MIT ALLEN SEINEN HALLEN. DIE GLOCKEN […]“ nicht mehr der Sinn der syntagmatischen Textebene verunsichert, es tritt allerdings die Mehrdeutigkeit von „HALLEN.“ ein zweites Mal, und kontextbedingt vielleicht noch stärker, ins Bewusstsein. Diese erratische Ambivalenz des Wortes jenseits der Syntagmatik des Textes wird dadurch unterstützt, dass es exzentrisch in der optischen Zäsur des Textkörpers steht; die materielle Scharnierstelle des Gebildes markiert sehr deutlich den Umschlagpunkt der alternativen Bedeutungen. Bis hierher wurde die ikonische bzw. visuell-metaphorische Ebene der Schriftbildlichkeit noch ausgeklammert; die Lektüre konzentrierte sich auf den hermeneutischen Impuls, der allein durch die detailtypographische Maßnahme des Zeilenumbruchs und deren ‚abstrakte‘ flächentypographische Wirkung gegeben ist. Durch die Leerraumbildung im Gedicht entstehen allerdings zwei alternative ikonische Referenzen, die wiederum mit der ambivalenten Stellung von „HALLEN.“ zwischen Räumlichkeitsund Akustikbezug akkordieren. Zwei metaphorische Schrift-Bilder überlagern sich: der schwankende Bau und das hallende Wort. Das Bau-Bild: Im Zusammenspiel mit der verbalsprachlichen Evozierung von Bildern des Zerfalls („DUNKEL UND DAMASTE, DIE ZERFALLEN“) und der drohenden Zerstörung (das Schwanken des Doms, das Beben der Türen, das Zittern der Trägerelemente, die Bewegung des granitenen Fundaments) gewinnt die Schriftarchitektur, deren oberer Teil brüchig auf dem Baustein „HALLEN.“ aufliegt, die Konnotation ‚Fragilität‘. Nicht nur, dass diese Bilder um die optische Zäsur herum kulminieren, ihr Ort im Text passt auch zum imaginären Schwanken der Form: oberhalb von „HALLEN“ die starke Bewegung („ZERFALLEN“, „SCHWANKT“), unterhalb – in der Basis des typographischen Gebildes – der gefährdete, aber letztlich sichere Stand („BEBEND STEHN“) bzw. die Thematisierung von tragenden Elementen („TRÄGERN“, „TRÜGEN“, „GRÜNDENDEN GRANIT“). Die Rede vom ‚zerfallenden Dunkel‘ und dem ‚schwarzen Schwanken‘ verbindet sich dabei mit dem materialen Aspekt des Gedichts, typographisch aus Druckerschwärze gebildet zu sein. Das Hall-Bild: Die beschriebene Textarchitektur beinhaltet zugleich einen schriftbildlichen Schall- und Hallraum. Das Schriftspiel funktioniert als paradoxe Visualisierung einer akustischen Bewegung: Das Herausragen von „HALLEN.“ in Verbindung mit dem davorstehenden Leerraum gerinnt zum Standbild einer imaginären Kinese, in der das Wort das Gedicht verlässt. Die mögliche akustische Bedeutungsdimension von „HALLEN.“ wird mitgetragen bzw. gegen das Syntagma wachgehalten durch den Binnenreim der achten Zeile „MIT ALLEN SEINEN / HALLEN“, der durch den Umbruch an Deutlichkeit zunimmt. Auch hier entsteht wieder ein Paradox: Das „ALLEN“ klingt dem „HALLEN.“ zwar syntagmatisch voraus, das typographische Arrangement trägt aber dazu bei, dass es auf der Schriftebene umgekehrt als regelrechtes Echo von „HALLEN.“ sichtbar hervortritt. Der poetische Text als Schrift ermöglicht einen umgekehrten Echoeffekt.

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Das vierte „Blatt“ des Zyklus Aus einer Sturmnacht lässt nicht nur materiale Textur und verbalsprachliche Textualität oszillieren, es ermöglicht auch eine Kippfigur der Wahrnehmung zwischen zwei Schrift-Bildern. Dass dabei der Gegensatz zwischen Räumlichkeit (sprich auf der Seite: Flächigkeit) und Akustik ein thematisches Leitmotiv bildet, mag man kaum noch für einen Zufall halten. Dennoch soll die Frage zurückgestellt werden, ob Rilke hier vielleicht ganz bewusst eine überlange Zeile geschrieben hat, um den folgenreichen Zeilenumbruch herbeizuführen. Der Autor war sehr versiert in Fragen der Buchgestaltung, er verfolgte im Buch der Bilder eine Poetologie des ‚Bildes‘ (in Abgrenzung zum ‚Lied‘),27 er versah, wie oben ausgeführt, den Gedichtzyklus mit einer paratextuellen Bestimmung, die eine Materialität der Texteinheiten behauptet – kurz, man darf annehmen, dass er in der Lage war, auch materiale und bildhafte Merkmale eines Druckbildes für eine gedichtimmanent-poetologische Reflexion über den ambivalenten Status von Lyrik zwischen Stimme und Schrift einzusetzen.28 Die Autorisierung typographischer Interpretamente sollte aber kein leitendes Kriterium dafür sein, was im Rahmen einer Edition als dokumentationsrelevant gelten darf und was nicht. Bemühungen, die Bedeutungsfähigkeit von Typographie ausschließlich an klare Kommunikationsintentionen zu binden und nach diesem Maßstab rigide Sprachregelungen in der Literaturwissenschaft durchzusetzen, haben im Rahmen eines methodologischen Diskurses, der um die Frage kreist, was in der Philologie als Wissenschaft statthaft ist (ein Diskurs, der niemals enden wird), ihren Platz.29 Allerdings ist es nicht die Aufgabe einer Edition, durch die Limitierung ihrer dokumentarischen Tiefe die Vorentscheidung darüber zu treffen, welche Lektüreweisen dem Benutzer grundsätzlich möglich und erlaubt sind. Sie hat, soweit das praktisch umsetzbar ist, die Möglichkeit jeder denkbaren hermeneutischen Operation zu garantieren. Das schließt rezeptionsästhetisch geleitete Interpretationen30 (wie die obige) ein, aber auch – und vielleicht gerade – posthermeneutische respektive dekonstruktive Typographie-Lektüren, die sich dafür interessieren könnten, ob und wie die Rhetorizität der materiellen Form Texten widerspricht. Im Zuge der Erweiterung der Editionsphilologie von einer Textwissenschaft zu einer Medienwissenschaft31 sollten zudem auch kommunikationsstörende Phänomene der medienimmanenten Materialität in den Blick kommen. Medien werden zumeist daraufhin untersucht, auf welche Weise sie Kommunikation herstellen und gelingen –––––––— 27

28 29 30

31

Rilke erwägt in einem Brief an seinen Verleger (Westerwede, 6. Februar 1902), den Band nur „Gedichte“ zu nennen, revidiert die Idee jedoch in einer Fußnote mit der Begründung: „Aber es sind eben auch nicht ‚Gedichte‘. ‚Das Buch der Bilder‘ scheint mir immer am Charakteristischsten!“; Rilke 1979 (Anm. 25), S. 57–59, hier S. 58. Zum poetologischen Begriff der ‚Bilder‘ bei Rilke vgl. Andrea Pagni: Rilke um 1900. Ästhetik und Selbstverständnis im lyrischen Werk. Nürnberg 1986 (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft. 72), S. 108–114. Vgl. generell zu diesem Thema Klaus Schenk: Medienpoesie. Moderne Lyrik zwischen Stimme und Schrift. Stuttgart, Weimar 2000; darin zu Rilkes Lyrikverständnis S. 65–67. Vgl. Rockenberger/Röcken (Anm. 23). Vgl. zur rezeptionsästhetischen Begründung von Typographie-Lektüren Rainer Falk: Literatur aus dem Winkelhaken. Zur literatur- und editionswissenschaftlichen Bedeutung der Typographie. In: Text. Kritische Beiträge 11, 2006, S. 33–53. Vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth: Editionsphilologie als Mediengeschichte. In: editio 20, 2006, S. 1–23.

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lassen. Ein konsequent medienwissenschaftlicher Ansatz müsste auch nach spezifischen Störformen und ihren kommunikativen Folgen fragen. Die Theorie und Geschichte der (häufig vordigitalen) Störanfälligkeit von Medien (geschnittene Filmkopien, Störgeräusche im Radio, knacksende Schallplatten etc.) ist ein Desiderat. Im Feld der Typographie würden dabei auch Satz- und Druckfehler relevant, die der traditionellen Editionspraxis als das gelten, was am wenigsten bedeutend ist.

2.

Deuten und Zeigen

Das Wort „HALLEN“ bricht deutlich aus dem Text heraus. Es ist nicht zu übersehen und markiert das eine Extrem einer Amplitude, an deren anderem Ende detailtypographische Phänomene stehen, die auf den ersten Blick kaum auffallen, aber dennoch einen Bedeutungseffekt haben können. Ein solcher Extremfall lässt sich in Max Dauthendeys Gedicht Die Kronen aus dem Jahr 1905 finden (s. Abb. 3).32 Am Ende des Textes wird die erste (umbrochene) Verszeile wiederholt. Eine ‚exakte‘ Wiederholung findet aber nur im Wortlaut statt, nicht in der typographischen Umsetzung der Schlusszeile. Vier Unterschiede kann man bemerken: (1.) In dem Wort „Kronen“ ist für den anlautenden Buchstaben eine andere K-Versalie gewählt als in der ersten Zeile. (2.) Vermutlich durch die geringere Dickte33 der differierenden Letter verkürzt sich im Vergleich das Wort „Kronen“ etwa um eine halbe Buchstabenbreite. (3.) Da das Maß der Spationierung zwischen den Worten dem Vorbild der Anfangszeile folgt, kommt es, infolge der materialen Verkürzung von „Kronen“, zunächst zu einem minimalen ‚Zurückfallen‘ der folgenden Worte „Deiner Reize überbieten einander“ gegenüber der ersten Zeile. (4.) Indem das letzte Wort der Zeile oben wie unten identisch bis an die Grenze des Satzspiegels gezogen ist, vergrößert sich in der Schlusszeile das Spatium zwischen „einander“ und „wie“ um die zuvor in „Kronen“ ‚eingesparte‘ Breite.

Abb. 3: Max Dauthendey: Die ewige Hochzeit. Liebeslieder. Stuttgart 1905, S. 33.

–––––––— 32 33

Max Dauthendey: Die ewige Hochzeit. Liebeslieder. Stuttgart: Axel Juncker 1905, S. 33. Als ‚Dickte‘ wird in der typographischen Fachsprache die faktische Breite einer Type einschließlich der die eigentliche Buchstabenform umgebenden Vor- und Nachbreite bezeichnet.

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Was auf der Ebene der ‚typographischen Performanz‘ zu erkennen ist, lässt sich als Allusion auf eine mögliche akustische Performanz sehen/lesen. Bei der lauten Lesung oder Rezitation ist es nicht unüblich, sich im Wortlaut wiederholende Textpassagen mit veränderten Akzenten in Tempo und Betonung darzubieten. Das Gedicht im Druck von 1905 simuliert auf detailtypographischer Ebene die Varianz einer solchen actio; es spricht die „Kronen“ anders aus, es setzt eine größere Pause zwischen die Behauptung der Konkurrenz der weiblichen erotischen Reize und den Vergleich („wie Blumenkronen im Mai“), mit dem dieses Konkurrenzverhältnis charakterisiert wird. Die typographische Differenz innerhalb des Textes würde also geläufige Kunstgriffe der Rezitation ‚übersetzen‘. Man kann aber in der Deutung noch einen Schritt weiter gehen: Die wörtliche Identität bei materialer Differenz betrifft jene Verszeilen, die den Text eröffnen und abschließen. Zwischen die doppelte Konstatierung der konkurrierenden Reize tritt die Aufzählung dieser Reize. Aus der anfänglichen ‚These‘ wird damit am Ende eine ‚Summa‘; das spezifische Verständnis des Schlusssatzes wird getragen durch die vorangehende Explikation. Im hermeneutischen Prozess differiert die ‚Füllung‘ der beiden Sätze. Die typographische Umsetzung vermag diesen Unterschied zu markieren. Sie verdeutlicht und entlarvt, dass sich ein Satz, eine Formulierung, ja vielleicht ein Wort im Verlauf eines (poetischen) Textes nicht mit identischer Bedeutung wiederholen lassen. – Die Typographie birgt (und entbirgt) hier ein hermeneutisches bzw. poetologisches Axiom. Man mag einwenden, die exemplarische Lektüre der detailtypographischen Besonderheiten des Gedichts sei zu weitreichend. Man mag auch als Argument dagegen anführen, die interpretierte Zeile sei aller Wahrscheinlichkeit nach ein bedeutungsloser Produktionszufall.34 Beides relativiert aber nicht die Dokumentationsrelevanz der typographischen Merkmale des Textes, wenn man Editionen als Materialangebote begreift, die ihren Gegenstand nicht bereits hermeneutisch zurichten und die auch die Entdeckung medienspezifischer Interferenzen zwischen sprachlicher und materialer Ebene eines Textes zulassen sollen. Nicht, ob sie zwingend interpretierbar, und nicht, ob sie autorisiert sind, gibt den Ausschlag dafür, ob die besonderen typographischen Textmerkmale in Die Kronen in einer Edition aufzubewahren sind. Hinreichend ist schon, dass sie als Besonderheit sichtbar werden (und damit eine Frage stellen). Mit der ‚Sichtbarkeit‘ ist das editionswissenschaftliche Problem des ganz bewusst als Extremfall ausgewählten Gedichts angesprochen. Wie präsentiert man editorisch angemessen Details, die – je nach der (rezeptiven, ästhetischen, hermeneutischen) ‚Einstellung‘ des Lesers – im historischen Druck mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit wahrgenommen werden? Wer sich mit materialen Aspekten von Literatur beschäftigt, dem wird ein mikrologischer Blick naturgemäß zur Gewohnheit. Diese Professionalisierung des Blicks kann, gemessen an der ‚normalen‘ Lektüre des ‚normalen‘ Lesers, in einzelnen Fällen paranoisch anmuten; sie führt zu einem Suchblick, der auch das bemerkt, was –––––––— 34

In der (posthumen) Werkausgabe wiederholt sich die typographische Differenz in der Tat auch nicht; in Typenwahl und Spationierung sind die Anfangs- und die Schlusszeile identisch. Vgl. Max Dauthendey: Gesammelte Werke. Bd. 4: Lyrik und kleinere Versdichtungen. München 1925, S. 185.

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nicht ganz so offensichtlich ist. Dieser internalisierte Lupeneffekt darf sich auf der Ebene der Textkonstitution nicht wiederfinden, wenn die Edition eine Vorprägung der Deutung vermeiden will. Was heißt das in Anwendung auf das präsentierte Beispiel? Wollte man die detailtypographischen Besonderheiten im Rahmen der Editionstypographie für den gewöhnlichen Aufmerksamkeitsmodus eines Lesers (auch eines Literaturwissenschaftlers) aufbereiten, müsste man sie durch Fokussierung und Vergrößerung verdeutlichen. Die K-Versalie im Wort „Kronen“ etwa ließe sich mit einer deutlicheren Differenz versehen. Damit würde aber nicht allein der Befund in der Textabbildung überzeichnet, es würde auch bereits die mögliche, aber nicht zwangsläufige hermeneutische Frage, welche die materielle Besonderheit des Textes impliziert, zu laut gestellt. Im vorliegenden Fall stellte ein mimetischer Bezug auf den materialen Ausgangstext die Editionstypographie vor das schwierige Problem, ein typographisches Merkmal sichtbar zu transportieren, ohne es zugleich zu präparieren. Die angemessenere Lösung liegt in einer Verlagerung des zu zeigenden Phänomens in einen dokumentarischen bzw. erläuternden Teil der Edition. Was heißt das konkret? Wo ist das Phänomen am richtigen Platz: in einer separaten Druckbeschreibung, in faksimilierenden Anhängen oder Digitalisaten, im Kommentar? Eine Druckbeschreibung, wie sie im Rahmen des Editorischen Berichts obligatorisch ist, scheint nicht geeignet, ein typographisches Bedeutungspotential aufzubewahren, wie es mit den Details des Dauthendey-Gedichts vorliegt. Das liegt nicht notwendigerweise an der Grobheit der Beschreibungstopik; man denke an die elaborierte Form der Druckanalyse, mit der Annika Rockenberger und Per Röcken am Beispiel von Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch ein Modell für die Verzeichnung der Materialität von Drucken vorgelegt haben. Ihre „Erprobung eines Beschreibungsinstrumentariums“35 treibt in wünschenswerter Weise auch die akribische detailtypographische Beschreibung voran. Allerdings müsste die spezifische systematische Verzeichnungslogik eines beschreibenden Dokumentationsansatzes und die Tendenz, das Sichtbare als das Quantifizierbare und Ausmessbare zu dokumentieren, den Interpretationsimpuls, den nur das konkret wahrnehmbare Schriftbild wirksam beinhaltet, notwendig schlucken. Das typographische Phänomen würde als sichtbares verschwinden. Ebenso wenig ist jedoch das visuelle Gegenteil der Verzeichnung, die komplette Faksimilierung oder Digitalisierung des Vorlagendruckes, allein ausreichend, weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass alle Benutzer in gleichem Maße die typographischen Wissensvoraussetzungen haben, die nötig sind, um auf bestimmte Details der Seite aufmerksam zu werden. Es bedarf der ergänzenden Kommentierung. Anzustreben ist die Verkoppelung einer vollständigen Reproduktion der historischen Textgestalt mit dem Stellenkommentar, der die Aufmerksamkeit des Lesers für ein relevantes typographisches Phänomen herstellt und eine Art Indexfunktion über–––––––— 35

Annika Rockenberger, Per Röcken: Vom Offensichtlichen. Über Typographie und Edition am Beispiel barocker Drucküberlieferung (Grimmelshausens Simplicissimus). In: editio 23, 2009, S. 21–45, hier S. 22. Vgl. auch die ausführliche Druckanalyse der Erstausgabe des Simplicissimus Teutsch ebd., S. 23– 30.

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nimmt, sprich: auf die in die Edition integrierte oder auch digital ausgelagerte Reproduktion des Vorlagendrucks verweist und den Blick des Lesers in das Faksimile hineinschickt. Der Kommentar sollte, wenn es gilt, ergänzend zum konstituierten Text detailtypographische Besonderheiten der historischen Drucke hervorzuheben, zur Unterstützung seiner Zeigefunktion sinnvollerweise Bildausschnitte anbieten – die aber lediglich als visueller Index dienen und mitnichten eine vollständige Reproduktion ersetzen können, in der allein überprüfbar ist, ob und in welcher Weise bestimmte Details als Interpretamente auf die Seite bzw. Doppelseite ausstrahlen. Die Frage, ob der Kommentar in besonderen Einzelfällen nicht nur zeigen, sondern auch ein Deutungsangebot, eine An-Deutung machen soll, um den Zeigeakt zu plausibilisieren, ist, wie üblich, nach dem Ausgabentyp zu entscheiden. In Studienausgaben kommen (allerdings selten) Erklärungs- respektive Deutungsversuche der typographischen Form vor.36 In historisch-kritischen Ausgaben, deren Kommentierung sich tendenziell zur hermeneutischen Neutralität verpflichtet sieht, ist wohl eine historische Einordnung der Typographie sinnvoll, etwa durch Hinweise auf typographische Moden und handwerkliche Rahmenbedingungen der Gestaltung, eine textbezogene Typographie-Exegese aber fehl am Platz. Das Ziel des Kommentars kann nicht sein, die Typographie als Bedeutungsträger zu hypostasieren, er muss aber doch gezielt auf – historische, satztechnische, ästhetische – Besonderheiten der Materialität eines Textes aufmerksam machen und gegebenenfalls die auffällige Häufigkeit binnentextuell-spezifischer Abweichungen von der üblichen typographischen Praxis herausstellen, damit ein potentieller hermeneutischer Impuls nicht automatisch übersehen wird.

–––––––— 36

So etwa in der neueren Studienausgabe der Werke Rilkes, in welcher der zentrierte Satz, in dem die Edition das Gedicht Gebet wiedergibt (vgl. Rainer Maria Rilke: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Hrsg. von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski und August Stahl. Bd. 1: Gedichte 1895 bis 1910. Hrsg. von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn. Frankfurt a. M, Leipzig 1996, S. 76), folgendermaßen kommentiert wird: „Auf Mittelachse gesetzt – ein im Jugendstil […] beliebtes Verfahren, dem Gedicht auch im Druckbild lineare Ornamentalität zu verleihen“; ebd., S. 671. Abgesehen davon, dass das Gebet in der angegebenen Textgrundlage (Rainer Maria Rilke: Die frühen Gedichte. Leipzig: Insel-Verlag 1909, S. 26) deutlich erkennbar nicht zentriert gesetzt ist, sondern stattdessen ebenso wie im Erstdruck (Rainer Maria Rilke: Mir zur Feier. Berlin: G. H. Meyer 1899, S. 27) und in der ersten (posthumen) Werkausgabe (Rainer Maria Rilke: Gesammelte Werke. Bd. 1: Gedichte. Tl. 1: Erste Gedichte – Frühe Gedichte. Leipzig: Insel-Verlag 1927, S. 281) eine zweistufige Einrückungshierarchie der Zeilen aufweist – abgesehen davon also, dass hier vermutlich eine typographische Konjektur von Ernst Zinn (Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Hrsg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke. Besorgt von Ernst Zinn. Bd. 1: Gedichte. Tl. 1. Wiesbaden 1955, S. 160) übernommen wurde und also nur vermeintlich eine historische typographische Modeerscheinung zu kommentieren ist, macht der Kommentar exemplarisch klar, welche problematische Topik den Versuch prägen kann, materielle Aspekte auf den Text zu beziehen: Typographische Gestaltung wird, wenn sie überhaupt in den Blick kommt, vor allem als eine dominant ornamentale Größe verstanden, die mit dem Text nicht interagiert, sondern nach außen trägt, was ihm auf einer sehr allgemeinen Ebene als (Form?-)Eigenschaft zugeschrieben wird – im vorliegenden Fall eine vage „lineare Ornamentalität“, die nun „auch im Druckbild“ erscheint.

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3.

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Detailtypographische Varianz

Eine Edition, die den konstituierten Text durch eine (papierne oder digitale) Reproduktion des Ausgangstextes ergänzt und gegebenenfalls im Stellenkommentar den Blick des Lesers auf detailtypographische Phänomene lenkt, fordert weder einen zu großen materiellen Aufwand, noch bereitet ihre textorganisatorische Anlage besondere Schwierigkeiten. Tatsächlich würde aber auch ein solcher Editionstyp, der die Reichweite üblicher Editionen bei der Dokumentation von Materialität bereits übertrifft, ein Problem ausblenden, das mit der Fokussierung der Typographie als Interpretament gegeben ist: das Problem der typographischen Varianz, d. h. aus editionspragmatischer Perspektive formuliert: der Vermehrung der dokumentationsrelevanten materialen Texte. Wenn man akzeptiert, dass die Typographie ‚Bedeutung‘ bergen kann, die sich im Rahmen hermeneutischer, rezeptionsästhetischer oder medienanalytischer Lektüren bestimmen lässt, so wird diese je nach der konkreten materialen Faktur des Textes im Vergleich der Drucke stärker oder schwächer hervortreten bzw. auch variieren können.37 Oft ist es gerade der Kontrast der Varianten, der eine Bedeutung Evidenz gewinnen lässt; der Vergleich kann Besonderes, das einen Deutungsimpuls liefert, deutlicher werden lassen. Die interpretationsrelevante Varianz im detailtypographischen Feld soll anhand von zwei Aspekten vorgeführt werden: (1.) variante schriftbildliche Effekte durch satztechnisch bedingte Zeilenumbrüche in verschiedenen Ausgaben von Rilkes Buch der Bilder,38 (2.) variante buchornamentale Strategien in der Erstausgabe und in einem Pressendruck von Rilkes Larenopfer. Das Zeilengeäst des Gedichts Wieder duftet der Wald … in der Erstausgabe des Buches der Bilder von 1902 (s. Abb. 4) enthält Bilder des Frühlings.39 Das auffällige

Abb. 4: Rainer Maria Rilke: Das Buch der Bilder. Berlin 1902, Bl. [4v].

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39

Vgl. die vergleichende Analyse der Konnotationssemantik von drei differenten typographischen Realisationen des Gedichts Er ist’s von Eduard Mörike in Wehde 2000 (Anm. 14), S. 183–190. Bei den Ausführungen zu den Zeilenumbrüchen handelt es sich um überarbeitete Passagen aus Thomas Rahn: „WUNDERLICHE DINGE STEHN“. Schriftwahl und Schrift-Bilder in den frühen Drucken von Rilkes Buch der Bilder. In: Typographie und Literatur (Anm. 3; im Druck). Rilke 1902 (Anm. 23), Bl. [4v].

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Satzbild des Textes kommt vor allem dadurch zustande, dass zwei überlange Verszeilen umbrochen werden müssen. Aus typographieästhetischer Sicht sind das zunächst Störungen, die allerdings im sprachlichen Kontext eine Bedeutung erhalten. Das sprachliche Bild von den Lerchen, die einen Himmel heben, ist auf der typographischen Ebene durch ein Schrift-Bild der ‚schwer‘ am Zeilenende hängenden Worte umgesetzt – ein visuell-metaphorisches Bild, das im Zusammenhang mit Syntagmen, in denen es um Schweres und Lastendes geht, in den frühen Drucken des Buches der Bilder häufiger vorkommt.40 Es gibt allerdings die Unstimmigkeit, dass die „SCHULTERN“ selbst an der Zeile hängen, d. h. eher als das Schwere als das Beschwerte erscheinen. Die zweite Ausgabe des Buches der Bilder von 1906 (s. Abb. 5), die von Lucian Bernhard gestaltet wurde, revidiert diese Unstimmigkeit. In dem typographisch varianten Wiederabdruck des Gedichts unter dem Titel Aus einem April ist nunmehr das Wort „schwer“, das auf den Himmel rekurriert, an das Wort „Schultern“ gehängt.41 Damit ist nicht allein die Vorstellung der belasteten Schultern auf der Ebene des graphischen Wortarrangements plausibilisiert, sondern es werden zugleich auch die Schultern unter einen Weißraum gestellt, der als Himmel gesehen werden kann – ein Himmel, der mit zeilengestaffelt zunehmender Höhe (und sinnbildlich: Schwere) auf dem „Wald“, den „Lerchen“ und den „Schultern“ aufliegt. Die typographische Korrektur im Druck von 1906 sichert die graphisch-syntagmatische Evidenz des Schrift-Bildes.

Abb. 5: Rainer Maria Rilke: Das Buch der Bilder. Zweite, sehr vermehrte Aufl. Berlin, Leipzig, Stuttgart 1906, S. 55.

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Vgl. Rilke 1902 (Anm. 23), Bl. [30r] und Bl. [13r]; Rainer Maria Rilke: Das Buch der Bilder. Zweite, sehr vermehrte Aufl. Berlin, Leipzig, Stuttgart: Axel Juncker 1906, S. 55. Rilke 1906 (Anm. 40), S. 4.

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In einem späten Druck des Buches der Bilder, erschienen kurz nach dem Tod des Dichters, findet sich noch eine dritte Variante der Zeilenbrechung, in der nun die „Schultern“ als unter der Last des Himmels zerbrechend ausgestellt werden. Die Lerchen heben „mit sich den Himmel empor, der unseren Schul- / tern schwer war“.42 Dem Schrift-Bild, das den Himmel im Weißraum und die Schwere im Hängen der Worte festhält, ist ein Wirkungsaspekt hinzugefügt: Der schwere Himmel lässt die Schultern sinnbildlich auch als Wort brechen.43 Der zweite satztechnisch geforderte Zeilenumbruch in der Erstausgabe des Buches der Bilder (s. Abb. 4) bewirkt einen großen Leerraum im Textgebilde,44 dessen Metaphorizität ebenfalls direkt an die Textaussage anschließt: „ZWAR SAH MAN NOCH DURCH DIE ÄSTE DEN TAG, [Leerraum] WIE ER LEER WAR.“ Die Leere des Tages ist als tatsächliche Leere der Zeile metaphorisch präsent, wobei die ungewöhnliche typographische Form des Gedichts zudem geeignet ist, das Bild der durch die Äste durchscheinenden Leere des Tages mimetisch aufzugreifen. Im Druck von 1906 hat sich die Zeilenbrechung entscheidend verändert (s. Abb. 5). Der Leerraum trennt hier nicht wie im Erstdruck zwei Satzteile voneinander ab, die durch Komma ohnehin klar gegliedert werden, sondern implementiert sich nun dem sprachlichen Syntagma: „zwar sah man noch durch die Aeste den Tag, wie / [Leerraum] er leer war“. Während also in der Ausgabe von 1902 der Zeilenleerraum einer Illustration vergleichbar in den Text montiert ist und wie eine solche außerhalb der sprachlichen Formulierung bleibt, ‚präzisiert‘ der graphische Leerraum in der Ausgabe von 1906 das „wie“ des leeren Tages an einer Stelle, welche die sprachliche und die typographische Vergleichsebene zusammenführt. Das Ergebnis ist raffiniert: Zum einen stellt das vor die Lücke gestellte „wie“ eine konkrete Leere in den Text, zugleich bietet diese Wortumstellung bereits eine Reflexion über den heiklen metaphorischen Status der Lücke – und in einem weiteren Schritt der Textaussage: So also sieht die Leere des Tages aus. Aber was genau ist eine Leere des Tages? Ist es eine abstrakte Leere oder ist sie konkret zu fassen als das (hier materiell zum Zeilenweiß gewordene) Wolkenweiß vor den kommenden „goldübersonnten / neueren Stunden“, von denen der Text spricht? Diese Frage, die der prominente Weißraum sozusagen an den Text weiterleitet, kann nicht durch eine klare, eindeutige, paraphrasierbare Sachaussage des poetischen Gebildes beantwortet werden. Das Schrift-Bild, als quasi-poetologisches, stellt die Evozierungsmacht des poetischen Textes in seiner Unbestimmtheit aus. –––––––— 42 43

44

Rilke 1927 (Anm. 36), Bd. 2: Gedichte. Tl. 2: Das Buch der Bilder – Das Stundenbuch – Das Marienleben – Requiem, S. 10. Vgl. ähnliche visuell-metaphorische Zeilen- und Wortumbrüche im Buch der Bilder: „DIE MENSCHEN SIND FURCHTBAR VOM LICHT / ENTSTELLT“; Rilke 1902 (Anm. 23), Bl. [26v]; „MEINE VÖGEL WERDEN […] SICH AN FREMDEN FENSTERN / VERWUNDEN“; ebd., Bl. [40v] (in Rilke 1906, Anm. 40, S. 175, als Worttrennung zugespitzt zu „ver- / wunden“). Vgl. hierzu generell: Von Lettern und Lücken 2012 (Anm. 15); der Band konzeptualisiert „auffällige typographische und semantische Lücken und Löcher, Auslassungen und Brüche […] als Stolpersteine“, welche „die Sinnkonstitution beeinflussen“ können; Mareike Giertler, Rea Köppel: Von Lettern und Lücken. Zur Einführung in diesen Band. In: ebd., S. 7–11, hier S. 10.

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Es dürfte deutlich geworden sein, dass die materiale Varianz der Drucke die Zahl der Sinnangebote, die der Text machen kann, vermehrt. Diese Varianz stellt die Editionspraxis vor eine Herausforderung, denn die hermeneutisch relevanten typographischen Fassungen eines Textes können zahlreich sein (und es können potentiell immer noch weitere entstehen). Freilich: die Berücksichtigung von Materialitätsaspekten unter Berufung auf eine aktive oder wenigstens passive Autorisation vermag die Menge der zu berücksichtigenden Textträger pragmatisch zu begrenzen. Es gibt allerdings auch eine Wirkungsgeschichte von Texten, die – unabhängig von den Autoren – im typographischen Medium selbst stattfindet. Zu verweisen ist insbesondere auf das Feld der bibliophilen Drucke, die durch ihren besonderen Aufwand Texte kanonisieren und zum Teil durch spezifische typographische Gestaltungsentscheidungen auch interpretieren bzw. ‚kommentieren‘. Solche Drucke enthalten, begrifflich streng genommen, nicht mehr typographische Varianten, sondern sind als materiale Wirkungsdokumente anzusprechen (womit sie nichtsdestoweniger in den Zuständigkeitsbereich historisch-kritischer Editionen fallen). Das Beispiel eines Pressendrucks, dessen besondere wirkungsgeschichtliche Relevanz dadurch gegeben ist, dass er im Rahmen der verlegerischen Gedächtnispflege für einen wichtigen Hausautor entstand, ist die vierbändige Ausgabe von Rilkes Gedichten, welche die Cranach-Presse für den Insel-Verlag herstellte.45 Die Publikation, deren Druckleitung Harry Graf Kessler und Max Goertz innehatten, erschien in großzügigem Format (27 × 18 cm), zweifarbig gedruckt (rot und schwarz) mit der JensonAntiqua und der Johnston-Kursiv und ausgestattet mit Initialen von Eric Gill, die von Aristide Maillol ornamentiert wurden. Nimmt man die Erstausgabe des Larenopfers, Rilkes zweiten Gedichtband, zum Vergleich, zeigen sich denkbar große Unterschiede in der typographischen Anlage des Textes, die nicht nur grundsätzliche ästhetische Gegensätze in der Geschichte der Buchgestaltung markieren, sondern besonders auch als historische Klammern der typographischen bzw. bibliophilen ‚Karriere‘ von Rilkes Dichtung dokumentationswürdig sind: auf der einen Seite das Geschenkbüchlein eines jungen, unbekannten Dichters, der noch das Abitur vor sich hat, auf der anderen Seite das exklusive Gedenkbuch mit der lyrischen Lebensleistung des berühmten Kanonautors. Sein Larenopfer (s. Abb. 6), das, auf 1896 vordatiert, bereits zu Weihnachten 1895 als ornamentgeschmücktes Büchlein im Reclamheft-Format erschien,46 würde sich „seiner vornehmen Ausstattung wegen vorzüglich zu Geschenkzwecken“ eignen, so Rilke in einer Selbstanzeige der Veröffentlichung.47 Diese Vornehmheit schreibt Ril–––––––— 45

46 47

Rainer Maria Rilke: Gesammelte Gedichte. 4 Bde. Leipzig: Insel-Verlag 1930–1934. Vgl. Renate Müller-Krumbach: Harry Graf Kessler und die Cranach-Presse in Weimar. Mit einem Beitrag von John Dreyfus und einem Verzeichnis der Drucke der Cranach-Presse. Hamburg 1969, S. 59 f., 156 f. (Abbildungen) und 159 (bibliographische Daten); Das Buch als Kunstwerk. Die Cranach-Presse des Grafen Harry Kessler. Hrsg. von John Dieter Brinks. 2. Ausgabe. Laubach, Berlin, Williamstown 2005, S. 252 f. und 412 (Abbildungen) sowie 413, 415, 418 und 431 (bibliographische Daten). Rainer [hier noch: René] Maria Rilke: Larenopfer. Prag: Verlag von H. Dominicus (Th. Gruß) 1896. Die Selbstanzeige, die Rilke einem Rundschreiben beilegte, mit dem er Beiträger für eine bei Otto Hendel in Halle zu veröffentlichende, aber niemals erschienene Anthologie suchte, ist zitiert nach Inge-

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ke einer Ornamentstrategie zu, die jedes Gedicht, über dem noch Platz bleibt, zwischen eine Zierleiste am Kopf der Seite und eine Vignette unter dem Text stellt. Die Ornamente variieren dabei im gesamten Druck von Gedicht zu Gedicht. Zierleisten und Vignetten sind im mittigen Satz mit den Paratexten der Seite (einer Zählung der Texte in römischen Ziffern, den Gedichttiteln und der Paginierung) akkordiert. Jeder Text ist also zugleich aufgehoben in einer ornamentalen Schatulle und in einem paratextuell ordnenden Fach, die beide fremd zum Text stehen. Das ornamentale Füllungsprinzip ist so weit getrieben, dass selbst satztechnisch bedingte Umbrüche überlanger Verszeilen repetitive Muster ergeben können, die den ästhetischen Makel quasi in ein Ornament verwandeln (wie in dem Gedicht Ein Adelshaus zu sehen).48

Abb. 6: Rainer Maria Rilke: Larenopfer. Prag 1896, S. 4/5.

–––––––— 48

borg Schnack: Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1975, Bd. 1, S. 37. Anzumerken ist, dass sich auch schon hier schriftbildliche Zeilenumbruchseffekte ergeben, wie sie später im Buch der Bilder massiert auftreten. Das betrifft in Ein Adelshaus genau die beiden Zeilenumbrüche, die durch ein Wort gehen und den Text quasi dort aufreißen, wo, beziehbar auf die Semantik des Syntagmas, ein Zeilenleerraum entsteht, der im Kontext geeignet ist, einen öffnenden Durchblick durch etwas („Als wollt’ er durch den Stoff des Vor- / [Leerraum] hangs gucken“) bzw. ein Loch in, eine Aushöhlung von etwas („Und Schwalben wohnen in des Thor- / [Leerraum] gangs Lucken“) zu markieren; Rilke 1896 (Anm. 46), S. 5.

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Abb. 7: Rainer Maria Rilke: Gesammelte Gedichte. Bd. 1. Leipzig 1930, S. 4/5.

Die mechanische Ornamentierung in der Erstausgabe des Larenopfers produziert keine Interpretamente des Textes. Im Gegensatz dazu lassen Layout und Detailtypographie des Pressendruckes (s. Abb. 7) die Wahrnehmung zu, dass die Typographie und das Sujet des Bandes, der sich in der Mehrzahl seiner 90 Gedichte mit architektonischen Monumenten in Prag und Umgebung sowie mit der böhmischen Geschichte beschäftigt, in Verbindung treten. Der programmatische Eingang der Sammlung folgt einem Panorama-Prinzip; der Blick der lyrischen Sprecherinstanz wandert zuallererst über das historische Prag. Auf den ersten Blick fällt auf, dass im Gegensatz zum textvereinzelnden ornamentalen ‚Ablagesystem‘ der Erstausgabe mehrere Gedichte zusammengezogen werden. Auf der ersten Doppelseite sind mit Im alten Hause, Auf der Kleinseite, Ein Adelshaus und Der Hradschin vier Texte vereint,49 die sich im Druck von 1896 auf vier Seiten verteilen.50 Optisch zusammengezogen sind die Gedichte auch auf der detailtypographischen Ebene, denn der Gedichtzwischenraum ist nicht größer als ein Strophenzwischenraum und die Gedichttitel sind durch geringen Ab–––––––— 49 50

Rilke 1930 (Anm. 45), Bd. 1, S. 4 f. Rilke 1896 (Anm. 46), S. 3–6.

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stand mit den Texten amalgamiert. Schon die Architektonik der Textflächen auf der Doppelseite zeigt eine Ähnlichkeit zum Ineinander- und Nebeneinandergebauten der Stadt, von der im Text die Rede ist. Im Unterschied zur Galerie respektive ‚Diaschau‘ der einzelnen Monumente in der Erstausgabe hat man es hier mit einer panoramatischen Text-Topographie im doppelten Sinne zu tun. Das entscheidende Startsignal zu einer solchen Wahrnehmung der Doppelseite wird auf der detailtypographischen Ebene in dem Gedicht Im alten Hause dadurch gegeben, dass die ersten beiden Zeilen der ersten Strophe und die erste Zeile der zweiten Strophe IM alten hause; vor mir frei seh ich ganz Prag in weiter runde; […] Die stadt verschwimmt wie hinter glas.51

mit einem ikonischen Moment der rot gedruckten I-Initiale zusammenstimmen: Im Rahmen des konkreten Textarrangements gewinnt die Initiale mit ihrem spezifischen Ornament den Charakter eines durch eine Sprosse oder ein Säulchen gegliederten Fensters, dessen im Rotdruck ausgeführtes Ornament die Assoziation gefärbter Butzenscheiben aufrufen kann.52 Durch dieses initiale Fenster, das auf der Doppelseite in eine Überblicksposition gestellt ist, in den Text einzusteigen und auf sein Sujet hinauszuschauen bedeutet, die Perspektive der lyrischen Sprecherinstanz zugleich zu affirmieren und als poetische Konstruktion zu erkennen. Das detailtypographische Interpretament verortet zum einen den einleitenden Panoramablick ganz konkret an einem Fenster und authentifiziert ihn. Der Leser ist angehalten, das Bild der in der Morgendämmerung verschwimmenden Stadt zu übernehmen. Zum anderen macht die eingesetzte ikonische Andeutung des konkreten Durchblicksmediums aber klar, dass das poetische Bild immer eine Färbung bzw. ‚optische Verzerrung‘ beinhaltet. Der Bildcharakter der Textebene wird ausgewiesen. Die ‚Übertragung‘ der Wahrnehmung der Sprecherinstanz auf den Leser wird zudem durch eine detailtypographische ‚Deiktisierung‘ der Schrift am Beginn des Gedichts Ein Adelshaus unterstützt. In der Erstausgabe regiert der Gedichttitel „Ein Adelshaus“ (Hervorhebung T. R.) seinen Text, der, auf diese vagere Setzung des Ge–––––––— 51 52

Rilke 1930 (Anm. 45), Bd. 1, S. 4. Die ausgewählte I-Initiale (und andere des Pressendrucks) kommt hier erneut zum Einsatz, nachdem sie ursprünglich für den Vergil-Druck der Cranach-Presse aus dem Jahr 1926 gefertigt wurde. Die Ikonizität der Initiale wird im vorliegenden Fall assoziativ durch den inhaltlichen Kontext aufgerufen. Für einen früheren Rilke-Druck der Cranach-Presse gestaltet Gill ganz speziell eine Initiale mit manifester Ikonizität, die – im doppelten Wortsinne – in den Text, Paul Valérys An die Platane, eingreift. Die (vierzeilige) erste Strophe des ersten Gedichts in Rilkes Valéry-Übertragungen wird komplett von einer G-Initiale eingeklammert, wobei Blattranken aus dem Buchstaben sprießen, die unter anderem in die Leerräume wachsen, welche die eingezogene zweite und vierte Zeile lassen. Auf die Verse „GENEIGT, grosse Platane bietest du dich nackt, / weiss, wie ein junger Skythe, / doch deine Reinheit stockt, dein Fuss ist fest gepackt / vom herrischen Gebiete.“ nehmen direkt der über „ENEIGT“ geneigte obere Bogen sowie der Fuß der G-Initiale Bezug, dessen Ranke den Fuß des Strophenkörpers unterfasst; Paul Valéry: Gedichte. Übertragen durch Rainer Maria Rilke. Leipzig: Insel-Verlag 1925, S. 7. Vgl. zur Entstehungsgeschichte der Initiale John Dieter Brinks: Epilog auf eine Initiale. In: Das Buch als Kunstwerk 2005 (Anm. 45), S. 217–221.

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genstands rekurrierend, mit „Das Adelshaus“53 beginnt. Im Druck der Cranach-Presse übertönt der Gedichteingang den Titel durch eine Betonung in Kapitälchen und macht sich selbständig; „DAS adelshaus“54 hat einen starken deiktischen Charakter. Es zeigt auf Konkretes, während der Titel nur an-deutet. Als produktive Textstörung, die gegen den Text einen Blickauftrag an den Leser formuliert, wird der initiale Satz in Kapitälchen auch in Der Hradschin wirksam: SCHAU so gerne die verwetterte stirn der alten Hofburg an; schon der blick des kindes kletterte dort hinan.55

Durch den Betonungseffekt der Schriftauszeichnung wird das „SCHAU“ zunächst als an den Leser gerichteter Imperativ der Sprecherinstanz aufgefasst; der ‚subversive Sprechakt‘ der Typographie überlagert die Stimme des Textes. Erst im Weiterlesen ist zu bemerken, dass es sich bei dem Syntagma eigentlich um ein verkürztes ‚Ich schau so gerne …‘ handelt. Die typographisch provozierte Irritation lässt allerdings die ‚Fehllesung‘ als direkten Evozierungsauftrag fortklingen. Die explizite Verortung von Betrachterstandpunkten in den Texten wird durch das texttopographische Arrangement einzelner Gedichte und der Doppelseite plausibilisiert. Links oben steht das Gedicht, dessen Panoramablick von oben nach „tief unten“ in „die dämmerstunde“ der tiefer liegenden Zeilen geht.56 Und in Der Hradschin links unten wird der Blick umgekehrt von tiefer liegenden Standorten (von den ernst blickenden Heiligen auf der Moldaubrücke, von den schauenden Türmen unterhalb des Veitsturms), von denen in tiefer liegenden Zeilen die Rede ist, zum Monument hinaufgeschickt. Das Kind, das mit seinen Blicken zur Burg hinaufsteigt, vermag dabei für das evokative Programm nicht nur des Textes, sondern zugleich einer Typographie zu stehen, die den Blick auch entgegen der üblichen Linearität und Sukzessivität der Lektüre im Textraum herumschicken kann. An Rilkes April-Gedicht in seinen frühen Druckfassungen und der Doppelseite mit Prag-Gedichten im Druck der Cranach-Presse lässt sich nicht nur zeigen, dass detailtypographische Merkmale des Textes Interpretamentcharakter haben können, sondern auch, dass die detailtypographische Varianz bestimmter Textstellen mit starken Sinnmodifikationen einhergehen kann. Die Notwendigkeit der editorischen Dokumentation der Varianten liegt auf der Hand. Die etablierten Variantenapparate für die sprachliche Textebene sind allerdings nicht geeignet, dabei als Modell zu dienen. Zwar gibt es einzelne detailtypographische Parameter, die sich der Zeilenlogik dieser Apparate fügen; die Unterschiede zwischen „Das Adelshaus“ und „DAS adelshaus“ oder zwischen „DER UNSEREN / SCHULTERN SCHWER WAR“, „der unseren Schultern / schwer war“ und „der unseren Schul- / tern schwer war“ sind apparatgerecht übertragbar, weil sie auf allgemeineren Parametern des Schriftsystems beruhen –––––––— 53 54 55 56

Rilke 1896 (Anm. 46), S. 5. Rilke 1930 (Anm. 45), Bd. 1, S. 5. Rilke 1930 (Anm. 45), Bd. 1, S. 5. Rilke 1930 (Anm. 45), Bd. 1, S. 4.

Gestörte Texte

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(Groß- und Kleinschreibung, Verzeilung). Doch müsste die Übertragung in vielen Fällen bereits auf der Ebene der Schriftwahl daran scheitern, dass die historischen Drucktypen – trotz des heutigen Furors digitaler Schriftenproduktion – nicht für eine Reproduktion verfügbar sind. Die größte Hürde liegt allerdings darin, dass die Verzeilung und Vereinzelung der Stellen in einem Apparat texttopographische Vernetzungen (wie im Larenopfer) und schriftbildliche Effekte von Details kassieren würden; denkt man etwa an das „der unseren Schultern / schwer war“ des Frühlingsgedichts, das in den Raum des Gedichtkörpers ausgreift, indem das Wort „Schultern“ von dem Weißraum über sich bedrückt und von der ‚angehängten‘ Schrift beschwert wird. Eine systematische Verzeichnung der detailtypographischen Varianz in Apparatform wird zudem dadurch unmöglich, dass Drucke neben sprachlichen auch nichtsprachliche (oder noch genauer: nichtschriftliche) Zeichen aufweisen, die Bedeutung gewinnen können. Während die differente materiale Faktur eines Textes vielleicht noch auf eine Weise dokumentierbar ist, welche die typographischen Varianten über das integrierende Moment des geteilten Wortlauts aufeinander zu beziehen vermag, entziehen sich insbesondere buchornamentale Formen einer solchen Verzeichnung. Die Dokumentation detailtypographischer Varianten ist angemessenerweise die Aufgabe der oben angesprochenen Zusammenarbeit von Reproduktion und (bebildertem) Stellenkommentar. Die Indexfunktion des Einzelstellenkommentars fordert dabei die Nebeneinanderstellung von Bildausschnitten varianter Stellen. Solchermaßen als erweiterter visueller Index angelegt, würde der Kommentar in relevanten Fällen eine Apparatfunktion integrieren können, ohne – sozusagen als ‚weichere‘ Dokumentationsgattung angelegt – dessen Schematismus der Verzeichnung zu unterliegen. Nachsatz: Die Beispiele, an denen hier die Bedeutungsrelevanz detailtypographischer Textmerkmale vorgeführt wurde, sind nicht danach ausgewählt, leicht einen Konsens darüber zu erreichen, bis wohin der mikrologisch-interpretative Blick gehen kann, darf oder soll. Es handelt sich zum Teil um Extremfälle (siehe nur Dauthendey). Ziel war es auch, auszuloten, wie weit in den Detailbereich hinein Interpretationsimpulse verfolgt werden können, wenn der schlafende Hund des Schrift-Sehens geweckt ist. In den Details, so sehe ich das, bietet die Materialität der Lektüre bedeutenden Widerstand.

Gabriele Wix

Der Text erscheint selten nackt Max Ernst, La femme 100 têtes

Die 1998 gegründete Zeitschrift Labyrinthe charakterisiert sich als „interdisciplinaire ou, mieux, indisciplinée“1 und gibt damit das Stichwort. Mit ‚undiszipliniert‘ im wortwörtlichen Sinn ist der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung am ehesten zu fassen, ein Text, der als Roman und als Gedicht erschienen ist, dessen Umfang je nach Publikation von einer bis zu über 300 Seiten reicht und der von einem Dichter stammt, der eigentlich nur als Bildender Künstler bekannt ist: La femme 100 têtes von Max Ernst. Durch die Überschneidung von Bildender Kunst und Literatur liegt es nahe, dass Fragen berührt werden, die aus der materialen und medialen Textdimension resultieren. Man könnte auch einen Schritt weiter gehen und behaupten, dass solche undisziplinierten Texte eine Herausforderung für eine interdisziplinär ausgerichtete Literaturwissenschaft darstellen, der mit dem Paradigma des immateriellen Textes nicht zu entsprechen ist.2 Gleichzeitig schärfen sie den Blick für die unhintergehbare Bedeutung der Materialität und Medialität eines jeglichen Textes und bestärken die Editionswissenschaft in ihrem Interesse an deren möglichst präziser und umfassender Dokumentation. Max Ernst ist als Schriftsteller wenig bekannt. Er hat seine primäre Sozialisation in der Bildenden Kunst, und die Literaturwissenschaft hat sich bislang wenig um ihn gekümmert. Deshalb vorweg einige Erläuterungen zu dem Roman, in denen zugleich ein erster Aspekt der Relevanz der materialen und medialen Textdimensionen für die interpretatorische Praxis zur Sprache kommt. Mit der Erstausgabe von La femme 100 têtes, 1929 in Paris erschienen, begründet Max Ernst einen neuen Typus von Roman, den Collagenroman. In einer Folge von 147 Collagen, die mit Legenden versehen und in neun Kapitel gegliedert sind, erzählt er, sofern man überhaupt noch von Narration sprechen kann, die Verflechtung des Schicksals der Protagonistin mit dem ihres männlichen Gegenspielers, dem Vogelobren Hornebom, das Alter Ego des Künstlers. Bild-Textkombinationen fordern in besonderem Maße die Frage nach dem Textbegriff heraus: Was also ist ein Text? –––––––— 1 2

Labyrinthe. Atelier interdisciplinaire. Paris: Editions Hermann; http://labyrinthe.revues.org (abgerufen am 6. 1. 2011). Diese These steht auch im Hintergrund meiner Dissertation: Gabriele Wix: Max Ernst. Maler, Dichter, Schriftsteller. Mit einer CD: Max Ernst: Rede anläßlich der Entgegennahme des Lichtwark-Preises der Freien und Hansestadt Hamburg vom 13. 1. 1964. München 2009. Während dort der Schwerpunkt auf die Entdeckung von Max Ernsts Schriften in ihrer Bedeutung für die Literaturwissenschaft gelegt wurde, greife ich hier im Sinne einer exemplarischen Fallstudie auf einzelne Untersuchungsergebnisse unter der Perspektive der Fragestellung der Tagung zurück.

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Gabriele Wix

Ein literarisches Werk besteht ausschließlich oder hauptsächlich aus einem Text, das heißt (in einer sehr rudimentären Definition) aus einer mehr oder weniger langen Abfolge mehr oder weniger bedeutungstragender verbaler Äußerungen. Dieser Text präsentiert sich jedoch selten nackt, ohne Begleitschutz einiger gleichfalls verbaler oder auch nicht-verbaler Produktionen wie einem Autorennamen, einem Titel, einem Vorwort und Illustrationen. Von ihnen weiß man nicht immer, ob man sie dem Text zurechnen soll; sie umgeben und verlängern ihn jedenfalls, um ihn im üblichen, aber auch im vollsten Sinne des Wortes zu präsentieren: ihn präsent zu machen, und damit seine „Rezeption“ und seinen Konsum in, zumindest heutzutage, der Gestalt eines Buches zu ermöglichen.3

Die sich aus der „rudimentären Definition“ Genettes ergebende Frage lautet: Was ist der Text von La femme 100 têtes? Konkret: Ist das Textcorpus auf die Bildlegenden zu beschränken, gehören die Collagen als Illustrationen dazu? Sind sie überhaupt Illustrationen, dem Text nachgeordnet? Ein Blick auf Typografie und Layout in der Editionsgeschichte des Romans führt weiter. Nachfolgend ein erster Überblick über die von Max Ernst und Dorothea Tanning autorisierten Veröffentlichungen im französischen, deutschen und amerikanischen Raum. Die französischen Veröffentlichungen − La femme 100 têtes. Paris: Editions du Carrefour 1929, mit einem „Avis au lecteur“ von André Breton, Auflage: 1003 Exemplare (Hugues/Poupard-Lieussou4 Nr. 7). − La femme 100 têtes. Paris: Editions de l’Œil 1956, mit einem „Avis au lecteur“ von André Breton, Auflage: 1000 Exemplare (Hugues/Poupard-Lieussou Nr. 30). − Le poème de la femme 100 têtes. Hrsg. von Gilbert Lély. Paris: Jean Hugues 1956 (Collection Le cri de la fée. Vol. II), mit einer „Hommage“ des Herausgebers an die „Femme 100 têtes“, Auflage: 365 Exemplare (Hugues/Poupard-Lieussou, Nr. 60). − La femme 100 têtes. In: Ecritures. Zusammengestellt von René Bertelé. Paris: Editions Gallimard, Le point du jour nrf 1970, S. 133–171. Die deutschen Veröffentlichungen − La femme 100 têtes. Berlin: Gerhardt-Verlag 1962, Übersetzung von Max Ernst, mit einer „Anweisung für den Leser“ von André Breton, Übersetzung von Alexander Koval, Auflage: 4050 Exemplare (Hugues/Poupard-Lieussou Nr. 38). − La femme 100 têtes. Frankfurt a. M: Zweitausendeins 1975, verkleinerter Nachdruck der deutschen Erstausgabe. − La femme 100 têtes. Berlin: Gerhardt-Verlag 1991, Reprint der Erstausgabe, nicht im Handel, wird antiquarisch vertrieben. –––––––— 3 4

Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt a. M. 1989, S. 9. Max Ernst. Ecrits & Œuvre gravé. Ausstellungskatalog. Bearb. von Jean Hugues und Yves PoupardLieussou. Paris, Tours 1963.

Der Text erscheint selten nackt

175

Die amerikanischen Veröffentlichungen − The Hundred-Headless Woman. In: View. Hrsg. von Charles Henri Ford. Surrealist Number. Hrsg. von Nicolas Calas, Nr. 7–8, New York, Oktober/November 1941 (Hugues/Poupard-Lieussou Nr. 110), Übersetzung: unbekannt. − The Hundred Headless Woman (La femme 100 têtes). New York: George Braziller 1981, mit einem „Foreword“ von André Breton, Übersetzung von Dorothea Tanning, und einer Zueignung „To Max“ von Dorothea Tanning, Legenden französisch, basierend auf der zweiten französischen Ausgabe, und englisch, Übersetzung von Dorothea Tanning. Im deutschen Sprachraum erfuhr der Roman eine gewisse Verbreitung durch den Nachdruck der 1962 erschienenen deutschen Erstausgabe im Jahre 1975 bei Zweitausendeins. Dort sind die Seiten recto und verso bedruckt, wodurch sich der Umfang des Buches nahezu halbiert. Die Originalausgaben dagegen bilden jeweils nur eine Collage mit Legende recto ab, die linke Seite bleibt frei, was entscheidende Konsequenzen für die Gestaltung und Lektüre des Textes hat.5 Die Collagen im Querformat sind in der französischen und deutschen Erstausgabe jeweils quer zur Seite gedruckt. Die Bildlegenden stehen zentriert direkt unter den Collagen, so dass man bei der Lektüre das Buch ständig um 90 Grad hin und her bewegen muss.

Abb. 1: Beginn des ersten Kapitels aus La femme 100 têtes, Berlin 1962. © 2012 für diese und die folgenden Illustrationen aus Max Ernst, La femme 1000 têtes: VG Bild-Kunst, Bonn.

Dies ist in der zweiten, 1956 in Paris erschienenen Ausgabe anders. Auch die Bilder im Querformat sind durchgängig in Leserichtung gedruckt, die Bildlegenden von ihrem unmittelbaren Bezug zum Bild gelöst und jeweils im unteren Viertel der Seite auf eine Höhe gesetzt, so dass sie wie ein Schriftband durch den Roman laufen, was eine gewisse Autonomie des Textes nahelegt. –––––––— 5

Siehe S. 182 f.

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Gabriele Wix

Abb. 2: Beginn des ersten Kapitels aus La femme 100 têtes, Paris 1956.

Tatsächlich gab es schon 1941 eine reine Textversion des Collagenromans, veröffentlicht in dem Poetry Supplement der amerikanischen Kunstzeitschrift View. Gilbert Lely praktiziert 1959, drei Jahre nach der zweiten französischen Ausgabe, die Autonomie der Legenden in der von ihm herausgegebenen Version des Romans, der nunmehr zum Gedicht mutiert, worauf der Titel nachdrücklich verweist: Le poème de la femme 100 têtes. Mit einem Zitat von Patrick Waldberg rechtfertigt Lely den Gattungswechsel vom Roman zum Gedicht und die Loslösung des Texts von den Bildtafeln: G. Lely n’avait pas tort d’affirmer que, même séparés des illustrations, les textes juxtaposés des légendes de la Femme 100 têtes constitueraient l’un des plus beaux poèmes surréalistes qui se puissent concevoir.6

In dem 1970 erschienenen Sammelband der Schriften von Max Ernst, Ecritures, werden alle Bildlegenden, das Cover und 12 Reproduktion der insgesamt 147 Bild-TextKombinationen aus der französischen Erstausgabe des Collagenromans präsentiert. Die Antwort auf die Ausgangsfrage, was der Text von La femme 100 têtes sei, fällt je nach Publikation höchst unterschiedlich aus. Wie aus der nachfolgenden Synopse ersichtlich, lassen sich die insgesamt neun Ausgaben in vier verschiedene Versionen gliedern.7

–––––––— 6 7

Patrick Waldberg: Max Ernst. Paris 1958, S. 296, zitiert in: Le poème de la femme 100 têtes. Paris 1959, unpag. Es könnte in diesem Zusammenhang naheliegen, auf den in der Editionsphilologie in Misskredit geratenen Begriff der Fassung zurückzugreifen, denn die vier unterschiedlichen Konzepte liegen als eigenständige Veröffentlichungen vor; es sind keine als Handschrift oder Typoskript überlieferten, unveröffentlichten Entwurfsstadien innerhalb einer langwierigen und komplexen Textgenese, die durch einen Begriff wie den der Fassung vom Editor in heute umstrittener Weise bewertet würden. Dennoch widerspricht dieser Begriff fundamental einem prozessualen Textverständnis. Der aus der angloamerikanischen Editionswissenschaft stammende Terminus ‚Version‘ scheint dagegen sowohl dem Phänomen der Mehrfachtexte als auch einem prozessualen Textbegriff am ehesten gerecht zu werden.

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Der Text erscheint selten nackt

VERSION ERSCHEINUNGS-

1.1 1929

2 1941

3 1959

4 1970

Paris

New York

Paris

Paris

Selbständige Publikation La femme 100 têtes

Zeitschrift

Selbständige Publikation Le poème de la femme 100 têtes

Sammelband

JAHR

ERSCHEINUNGSORT

MEDIUM TITEL

LAYOUT/ TYPOGRAFIE

Bild-TextKombination, Seiten einseitig bedruckt, Querformate um 90 Grad nach links gedreht, Umschlag graugrün mit einer S/W-Reproduktion einer Collage von Max Ernst (S/M8 1414).

SEITENZAHL BILDTAFELN GRÖSSE DER PUBLIKATION

328 147 24,7 × 18,8 cm

The HundredHeadless Woman Gliederung in Kapitel durch Asterisken, Legenden fortlaufend in vier Spalten gedruckt, Legende 147 in Versalien vom Text abgehoben, S/W-Reproduktion eines Gemäldes von Victor Brauner, Fascination, o. J.

1 – Tabloid

La femme 100 têtes

Gliederung mit Übernahme der Kapitelüberschriften, Legenden einzeln gedruckt, durch fortlaufende Nummerierung bis 146 getrennt, Legende 147 kursiv gesetzt wie die Kapitelüberschriften, Umschlag graubeige ohne Abb., S/W-Reproduktion einer Radierung von Max Ernst als Doppelfrontispiz (S/L9 75).

Gliederung mit Übernahme der Kapitelüberschriften, Legenden einzeln gedruckt, durch Asterisken getrennt, Legende 147 kursiv abgehoben, Reproduktionen von 12 Illustrationen mit Legenden aus dem Collagenroman, lose eingestreut, Umschlag weiß mit einer farbigen Reproduktion einer Zeichnung von Max Ernst (noch nicht in S/M erfasst).

60 – 15 × 10,5 cm

40 12 22,5 × 17,5 cm

Synopse 1: Die vier Versionen von La femme 100 têtes.

–––––––— 8 9

Max Ernst: Œuvre-Katalog. Hrsg. von Werner Spies. Bd. 2–7. Bearb. von Werner Spies, Sigrid und Günter Metken. Houston, Köln 1975–2007. Max Ernst: Œuvre-Katalalog. Das graphische Werk. Hrsg. von Werner Spies. Bd. 1. Bearb. von Helmut R. Leppien. Houston, Köln 1975.

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Gabriele Wix

Die fünf Ausgaben der ersten Version, der Bild-Text-Kombination, zeigen weitgehende Übereinstimmung in Umfang und Layout. Deshalb ist die französische Erstausgabe in der ersten Synopse als 1.1 aufgeführt und in der zweiten in ihren Varianten dargestellt. VERSION ERSCHEINUNGS-

1.2 1956

1.3.1/1.3.2 1962/1991

1.4 1975

1.5 1981

Paris

Berlin

Frankfurt a. M.

New York

Selbständige Publikation La femme 100 têtes

Selbständige Publikation La femme 100 têtes

Selbständige Publikation La femme 100 têtes

Bild-TextKombination, Seiten einseitig bedruckt, Querformate in Leserichtung gesetzt, Umschlag weiß mit einer farbigen Reproduktion einer kolorierten Collage von Max Ernst (S/M 3219)

Bild-TextKombination, Seiten einseitig bedruckt, Querformate um 90 Grad nach links gedreht, Umschlag weiß mit einer Vignette von Max Ernst (noch nicht in S/M erfasst)

Bild-TextKombination, Seiten verkleinert und doppelseitig bedruckt, Querformate in Leserichtung gesetzt, Umschlag wie 1.3.1/1.3.2

328 147 24,7 × 18,8 cm

332 147 24,7 × 19 cm

190 147 19,1 × 15,8 cm

Selbständige Publikation The Hundred Headless Woman (La femme 100 têtes) Bild-TextKombination in Englisch recto, Bildlegende in Französisch verso, Querformate in Leserichtung gesetzt, Umschlag gelb10 mit einer S/WReproduktion einer Collage von Max Ernst aus dem Roman (S/M 1429). 328 147 24,7 × 19 cm

JAHR

ERSCHEINUNGSORT

MEDIUM TITEL

LAYOUT/TYPOGRAFIE

SEITENZAHL BILDTAFELN GRÖSSE DER PUBLIKATION

Synopse 2: Die Varianten der ersten Version von La femme 100 têtes.

–––––––— 10

Zur Farbe Gelb des Umschlags als Charakteristikum der „romans parisiens“ im 19. Jahrhundert vgl. Michel Butor: „les mots et la peinture“. In: Répertoire. Bd. IV. Paris 1974; auch zitiert in Genette 1989 (Anm. 3), S. 30: „Je me souviens de l’air scandalisé avec lequel un clergyman interpellait, dans un chemin de fer britannique, une de mes amies: ‚Madame, vous ne savez donc pas que Dieu vous voit tandis que vous lisez ce livre jaune!‘ Cette signification maudite, indécente, est bien la raison pour laquelle Audrey Beardsley avait appelé sa revue The Yellow Book.“

Der Text erscheint selten nackt

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Als Bild-Text-Kombination ist der Roman bekannt geworden. Erstaunlich ist nur, dass sich bis heute die Rezeption in der gesamten Sekundärliteratur fast ausschließlich auf diese Versionen 1.1 bis 1.5, die Bild-Text-Kombination, beschränkt.11 Doch schon durch die allererste Stufe des editorischen Prozesses, der Sicherung des Textes, wird ein entscheidendes Ergebnis deutlich: Den Text von La femme 100 têtes gibt es nicht, höchstens einen Text „en mouvance“. Es gibt die Bild-Text-Kombination, in der Illustration und Legende zusammen als Text betrachtet werden können, es gibt die Version mit deutlich reduziertem und nicht mehr integriertem Bildanteil, und es gibt die bildlose, auf die verbale Sprache konzentrierte Wiedergabe, gleichzeitig aber auch Ausstellungen der Originalcollagen, losgelöst aus dem Romankontext. Daraus folgt, dass das Bild nicht nur als Illustration funktioniert und der Text nicht nur als Legende, sondern Bild und Text auch als voneinander unabhängig betrachtet werden können. Damit aber erscheint der Text – wie auch das Bild – immer noch nicht „nackt“, um auf das Eingangszitat von Genette zurückzukommen, sondern wieder in einem, wenn auch anderen, materialen und medialen Kontext, den Genette den Paratext nennt. Der Titel der französischen Erstausgabe von Genettes Buch lautet Seuils, Schwellen, was nicht nur ein Wortspiel mit dem Namen des Verlags, Editions du Seuil, ist, sondern vor allem auf die Schwellenfunktion der Materialität und der Medialität des Textes für dessen Präsenz und für dessen Rezeption verweist. Im Vergleich der Ausgaben fällt vor allem der Unterschied im Umfang auf. Er reicht von 332 Seiten bis zu einer Seite, von 147 Illustrationen über 12 bis zum völligen Verzicht. Trotzdem gibt es überraschend wenige Abweichungen innerhalb des Wortlauts der Legenden, so dass alle französischen Ausgaben mit ihren Varianten in einer Spalte zusammengefasst dargestellt werden können, wie eine Beispielseite des ersten Kapitels aus der Synopse der französisch-deutschen Texte zeigt.12

–––––––— 11

12

In Anbetracht der Wiedergabe der Collagen als autonome Bilder forderte Butor in seiner Rezension der Ecritures von Max Ernst schon 1971 nachdrücklich eine Revanche der Legenden, ohne zu wissen, dass diese bereits stattgefunden hatte. Sie ist bis heute weitgehend unbeachtet geblieben, so dass seine Forderung nach wie vor aktuell ist: „Si trop souvent on a reproduit telles images sans leurs légendes, nous assistons à la revanche de celles-ci“; Michel Butor: „ce que dit la femme 100 têtes“. In: Répertoire. Bd. IV. Paris 1974, S. 325, zuerst erschienen als: Max Ernst: Ecritures. In: Les Cahiers du Chemin, Nr. 11, 5. 1. 1971, S. 164–174. Synopse aus Wix 2009 (Anm. 2), S. 117. Siehe die vollständigen Synopsen der französisch-deutschen und der amerikanischen Veröffentlichungen in ebd., S. 117–137. Da die Ausgaben mit Ausnahme der amerikanischen nicht paginiert sind, ist der Verweis auf bestimmte Collagen/Legenden schwierig. Es wurde daher in der Synopse die doppelte Zählweise aus dem Œuvre-Katalog aufgeführt. Zitiert sind im vorliegenden Aufsatz die Legenden nach Kapiteln (1–9) und fortlaufender Zählung (1–147), die Collagen nach der Nummer des Werkverzeichnisses. Da die letzte Collage identisch mit der ersten ist, hat sie im Œuvre-Katalog keine eigene Werknummer, vielmehr muss ihr S/M 1418, die Katalognummer der ersten, zugeordnet werden, unter der im Œuvre-Katalog beide Legenden genannt sind, wohingegen die letzte Legende in der Synopse eine eigene Nummer: 9,147 trägt.

180

LA FEMME 100 TÊTES

117

Synopse der französischen und deutschen Ausgaben

Gabriele Wix

S/M (Kapitelu. fortl. Nr.)

S/M (Werkverzeichnis)

verbrechen oder wunder: ein vollständiger mensch

1,1

1418

L’immaculée conception manquée.

die unbefleckte empfängnis, verfehlt

1,2

1419

La même, pour la deuxième…

dieselbe, zum zweiten ...

1,3

1420

… et la troisième fois manquée.

... und zum dritten mal verfehlt

1,4

1421

Le paysage change trois fois (I).

die landschaft wechselt dreimal (I)

1,5

1422

Le paysage change trois fois (II).

die landschaft wechselt dreimal (II)

1,6

1423

Le paysage change trois fois (III).

die landschaft wechselt dreimal (III)

1,7

1424

L’agneau demi-fécond dilate son abdomen à volonté et devient agnelle.

das halb-fruchtbare lamm erweitert nach belieben seinen leib und wird lämmin

1,8

1425

Le ciel se découvre deux fois (I).

der himmel nimmt zweimal den hut ab (I)

1,9

1426

Le ciel se découvre deux fois (II).

der himmel nimmt zweimal den hut ab (II)

1,10

1427

Dans le bassin de Paris, Loplop, le supérieur des oiseaux, apporte aux réverbères la nourriture nocturne.

im becken von paris bringt der Vogelobre Hornebom den laternen die nächtliche nahrung

1,11

1428

L’immaculée conception.

die unbefleckte empfängnis

1,12

1429

Die deutsche Erstausgabe Die französischen Ausgaben (Versionen 1.1; 1.2; 1.5; 3; 4; auch (Versionen 1.3.1/2 und 1.4) berücksichtigt: der Œuvre-Katalog: S/M) CHAPITRE PREMIER

ERSTES KAPITEL

(alle Kapitelüberschriften nicht in S/M)

Crime ou miracle : un homme complet. (alle Bildlegenden ohne Punkt S/M)

((I) V. 1.2)

Synopse 3: Kapitel 1 in den französischen und deutschen Ausgaben von La femme 100 têtes.

F4812-Wix-Max Ernst.indd 117

26.03.2009 7:42:42 Uhr

Der Text erscheint selten nackt

181

Die orthografischen Varianten sind für die Textinterpretation weniger relevant, machen jedoch die Rezeption bestimmter Ausgaben transparent, so die der zweiten französischen Ausgabe im amerikanischen Raum, welche dort von Wittenborn vertrieben wurde. Max Ernsts Übertragung ins Deutsche orientiert sich eng an der französischen Vorlage. Die Abweichungen geben Einblick in die Werkstatt der Textproduktion, ein Aspekt, der in der Regel im Mittelpunkt des Interesses von Texteditionen und auch der Literaturwissenschaft steht. Hierzu einzelne ausgewählte Beispiele. Der Name des männlichen Protagonisten lautet in der französischen Version „Loplop“ (1,11), während Max Ernst in seiner deutschen Überarbeitung ebenso wie in seiner etwa zeitgleich entstandenen Autobiografie auf „Hornebom“ zurückgreift.13 Hornebom ist der Vogel aus seiner Kindheit, auf dessen mit der Geburt der Schwester zusammenfallenden Tod Max Ernst eine individuelle Mythologie des Vogelwesens gründet. Interessant ist dieser Rückgriff auf den deutschen Namen insofern, als Max Ernst seit Ende der zwanziger Jahre in seinem bildnerischen Werk nur noch den international griffigeren Namen „Loplop“ für sein Alter Ego benutzt.14 Aus „La lune est belle“ (3,63) am Schluss des dritten Kapitels wird: „schön scheint die lampe im mond“. Diese Brechung poetischer Versatzstücke durch Einsprengen kulturell-zivilisatorischer Elemente ist eine Tendenz, die sich in der Überarbeitung mehrfach beobachten lässt. Im fünften Kapitel schließlich wird die Protagonistin in der Formel charakterisiert: „Plus légère que l’atmosphère, puissante et isolée“ (5,77), in der deutschen Version heißt es: „leichter als licht, willig mit hundert köpfen allein“. Die Übersetzung von „puissante“ mit „willig“ mag ebenso wie die zuvor aufgezeigte Variation in der größeren Distanz gründen, die Max Ernst in den sechziger Jahren zur surrealistischen Aufbruchsphase hat. Zum andern stellt sie mit der Anspielung auf die Homonymie von ‚ready made‘ und ‚ready maid‘15 einen Bezug zur ‚ready-made reality‘ der Collagen her. Die Femme 100 Têtes wird zur ‚bereiten Magd‘, die der sezierenden Schere in einer unbegrenzten Anzahl von Holzstichvorlagen zur Verfügung steht, kopflos und mit hundert Köpfen zugleich. Der Vergleich der französischen mit den amerikanischen Ausgaben macht eine auf dem Layout und der Typografie basierende Besonderheit deutlich. Die Trennung der Bildlegenden erfolgt in den bildfreien oder bildreduzierten Versionen durch fortlaufende Nummerierung wie in Le poème de la femme 100 têtes oder Asterisken wie in Ecritures.

–––––––— 13 14 15

Max Ernst: Leben und Werk. Hrsg. von Werner Spies. Köln 2005, S. 40. Nur einmal tritt der Name „Hornebom“ in modifizierter Schreibweise als Bildtitel auf: Der Vogelobre Hornebomm, datiert auf ca. 1934, S/M 2102. Vgl. Thomas Zaunschirm: Bereites Mädchen. Ready-made. Klagenfurt 1983.

182

Gabriele Wix

Abb. 3: Das erste Kapitel aus Le poème de la femme 100 têtes, Paris 1959.

Abb. 4: Das erste Kapitel aus Le poème de la femme 100 têtes, Paris 1959.

Abb. 5: Das erste Kapitel aus La femme 100 têtes, in: Ecritures, Paris 1970.

Der Text erscheint selten nackt

183

In der Version von View ist weder durch Nummerierung noch durch Sternchen oder Absätze die Isolation der einzelnen Sätze oder Satzfragmente als Bildlegenden markiert, allein die Kapitelgliederung ist sichtbar.

Abb. 6: The Hundred-Headless Woman in: View, New York 1941.

184

Gabriele Wix

Der vergleichsweise häufige Eingriff in den Originaltext hat offensichtlich die Funktion, einen stärkeren narrativen Duktus herzustellen. Dies geschieht durch die Einfügung von Temporal- und Kausaladverbien, die Umwandlung von Parataxen in Hypotaxen wie auch durch die Auflösung elliptischer Sätze in syntaktisch gebundene Aufzählungen mit Einfügungen von Kommata und Konjunktionen, wie aus der Gegenüberstellung des ersten Kapitels in der Übersetzung von Dorothea Tanning und des unbekannten Übersetzers in View ersichtlich wird. ÜBERSETZUNG VON D. TANNING

ÜBERSETZUNG IN VIEW

1,1

Crime or miracle: a complete man.

1,2

The might-have-been Immaculate Conception.

1,3

The same, for the second…

1,4

…and the third time missed.

1,5

The landscape changes 3 times (I).

1,6

The landscape changes 3 times (II).

Crime or miracle: a complete man. The immaculate conception that failed, failed and failed again. Then the landscape changes three times, one, two and three, and the sky takes its hat off twice, one and two. Therefore the semi-fecond lamb dilating at will his abdomen becomes a ewe and Loplop, the best bird, brings the mighty repast to the street lamps in the basin of Paris. At the same time: the immaculate conception.

1,7

The landscape changes 3 times (III).

1,8

The demi-fecond ram dilates its abdomen at will and becomes a ewe.

1,9

The sky opens twice (I).

1,10

The sky opens twice (II).

1,11

In the heart of Paris, Loplop, BirdSuperior, brings nightly food to the streetlamps.

1,12

The Immaculate Conception

Durch die Markierung dieser Abweichungen im Fettdruck16 ist optisch auch sofort wahrnehmbar, wie sehr sich diese Eingriffe in die Textvorlage ab dem vierten Kapitel reduzieren.17 Umgekehrt lässt das den Schluss zu, dass sich Max Ernsts Roman von einer eher parataktischen Reihung der Bildlegenden zu einem Text entwickelt, der sich immer deutlicher von seinem Bezug zum Bild löst und eigene narrative Strukturen entwickelt. –––––––— 16

17

Die aus literatur- und translationswissenschaftlicher Perspektive relevanten weiteren Differenzen der amerikanischen Versionen sowohl zueinander als auch zu den französischen und deutschen Versionen bleiben hier unberücksichtigt. Vgl. Wix 2009 (Anm. 2), S. 129 ff.

Der Text erscheint selten nackt

185

Das Prinzip Collage, das in Max Ernsts Roman konstitutiv für die Bild- und Textproduktion ist, lässt sich in seiner Relevanz für die interpretatorische Praxis am Cover der französischen Erstausgabe18 aufzeigen, wobei die Umschlaggestaltung selbst ein wichtiger Aspekt der materialen oder paratextuellen Textdimension mit weitreichenden Folgen für die Lektüre des Textes ist.

Abb. 7: Umschlag der französischen Erstausgabe.

–––––––— 18

Bei der französischen Erstausgabe aus der Sammlung Bolliger, Kunstmuseum Bonn, fehlt der Originalumschlag mit der Illustration; vgl. Hans Bolliger in einem Brief vom 26. 8. 1984 an den damaligen Leiter des Amts für Kultur und Freizeit der Stadt Brühl: „Zuerst sende ich Ihnen das Exemplar der Erstausgabe, dessen Originalumschläge leider von einem [...] Buchbinder weggeworfen wurden!“ Freundlicherweise stellte Jürgen Pech, Max Ernst Museum Brühl, eine Abbildung des Originalcovers zur Verfügung.

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Der Titel, La femme 100 têtes, ist gleichzeitig einer der zahlreichen Namen der Protagonistin, der in der deutschen Ausgabe neben der Übersetzung „Die Hundertköpfige“ beibehalten wird, als Eigenname allerdings mit großen Anfangsbuchstaben geschrieben. Der Romantitel inszeniert ein mehrschichtiges Spiel mit Laut und Grafie und lässt sich damit auf die Materialität der Sprache ein. Da das Plural-s in ‚têtes‘ nicht gesprochen wird, übersetzt man auf phonetischer Ebene den französischen Titel mit ‚Die Frau ohne Kopf‘. Geschrieben wirkt der Titel jedoch wegen des Plurals befremdlich. Eine Frau ohne Kopf entspricht tradierten Vorstellungen, nicht aber eine Frau ohne Köpfe. Hinter dem Wechselspiel von Singular und Plural steht die Homonymie von ‚sans‘ (ohne) und ‚cent‘ (hundert). Um diese doppelte Lesart offenzuhalten, setzt Max Ernst statt des ausgeschriebenen Wortes die Zahl „100“, die den nur lesbaren, aber nicht hörbaren Plural fordert. Im Bildtitel einer Frottage mit Gouache von 1929, dem Erscheinungsjahr von La femme 100 têtes, findet sich eine andere Schreibweise, in der „100“ und „sans“ über und unter einem Bruchstrich notiert sind (S/M 1387). Diese Erläuterung des Titels im Titel selbst hat Max Ernst konsequenterweise gestrichen. Die Coverillustration zeigt die Titelheldin als eingemauerten Frauentorso mit sauber auf Höhe des Schultergürtels abgetrenntem Kopf. Man blickt in die schwarze Öffnung eines Schmelztiegels, der vor lodernden Flammen im Mittelgrund die Funktion des Rumpfes übernimmt. Starke Hell-Dunkel-Kontraste verstärken die Dramatik der Szene. Völlig ungerührt von Einkerkerung und Feuer präsentiert sich die kopflose Frau in einem mit zarter Spitze besetzten dekolletierten Kleid. Im Kontrast von Dynamik und Ruhe, Dramatik und Souveränität, rechtwinkligen Linien und geschwungenen Kurven wird der Gegensatz von Einkerkerung und Befreiung artikuliert und damit einer der Zentralpunkte des Surrealismus ins Bild gesetzt. Der Bezug zum Titel ist mimetischer Natur: Die Collage betont die Kopflosigkeit, lässt aber gleichzeitig in der Phantasie des Betrachters eine im Prinzip unendliche Zahl möglicher Köpfe zu. In der Sekundärliteratur ist die Genese der Coverillustration als Collage aus zwei Holzstichen aus dem 19. Jahrhundert dokumentiert, wobei dieses abgelegte, von der Fotografie längst verdrängte Material in allen 147 Illustrationen des Romans Verwendung findet. Max Ernst kombiniert die Darstellung eines Brennofens aus einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift mit der einer Varieté-Attraktion, einer Frau mit drei Köpfen.19

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Vgl. Max Ernst: La femme 100 têtes. Ausstellungskatalog. Redaktion: Jürgen Pech. Brühl 1984, S. 414 f.

Der Text erscheint selten nackt

Abb. 8: Nouveau fourneau à creuset. La Nature, No. 538, 1883, S. 272.

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Abb. 9: La femme à trois têtes. La Nature, No. 484, 1882, S. 237.

Zwei Punkte seien herausgestellt. Max Ernst verzichtet hinsichtlich der Vorlage La femme à trois têtes ausgerechnet auf die sensationelle Dreiköpfigkeit und damit auf das eigentliche Thema dieser Abbildung aus La Nature und beschränkt sich auf die bloße Übernahme des Kleides. Durch eine derart sensationsträchtige Illustration wäre die Enigmatik des Titels verdrängt und ihrer Wirkung beraubt, der Leser seiner Eigenaktivität enthoben. Von der elliptischen Öffnung des Schmelztiegels lässt sich eine Verbindung herstellen zu dem Auge resp. der Augenhöhle als Leitmotiv in E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann, die in Freuds Aufsatz Das Unheimliche eine Schlüsselfunktion innehat und ein „Lieblingsbuch“20 von Max Ernst war. Eine entscheidende Rolle spielt die Etymologie der Namen des Dämons: Coppelius alias Coppola. Italienisch ist ‚coppo‘ die Augenhöhle und ‚coppella‘ der Schmelztiegel,21 der eine Formverwandtschaft mit einer leeren Augenhöhle aufweist. Dieser Hintergrund lässt das Ersetzen der drei Köpfe durch einen Schmelztiegel in einem anderen Licht erscheinen. Die im Surrealismus programmatische Forderung des inneren Sehens, ‚la –––––––— 20 21

Werner Spies: Max Ernst. Collagen. Inventar und Widerspruch. Ausstellungskatalog. Köln 1988, S. 190. Erläuterung von Rudolf Drux in: E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann. Hrsg. von Rudolf Drux. Stuttgart 2003, S. 69; bei Sigmund Freud dagegen „Probiertiegel“; in: Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: Ders.: Psychologische Schriften. Studienausgabe. Hrsg. von Alexander Mitscherlich u. a. 4., korr. Aufl. Frankfurt a. M. 1970, Bd. IV, S. 254, Anm. 1.

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vue intérieure‘, ist hier doppelt ins Bild gesetzt: Eine kopflose Gestalt ist des äußeren Augensinns beraubt, die leere Höhle des Schmelztiegels kommt bedeutungsverstärkend hinzu. Angst und Faszination werden eins. Die Illustration gibt der Lektüre des Textcorpus eine bestimmte Richtung, indem sie die Rätselhaftigkeit des Titels verstärkt und gleichzeitig eine Spannung zwischen Neugier und Zurückweichen erzeugt. Die lodernden Flammen hinter der Gestalt verweisen auf einen Prozess der Erneuerung. Von der alchimistischen Symbolik her ist die Coverillustration als poetologisches Konzept zu lesen: Im epischen Tiegel wird der alltägliche, „sterbliche“22 Text von allen Schlacken gereinigt und in Poesie verwandelt. Die Tatsache, dass der Titel keinen Schrecken, sondern eher Neugier auslöst, mag an der geläufigen figurativen Bedeutung von ‚kopflos‘ im Sinne von ‚durcheinander‘ liegen, so dass der dem Zustand der wortwörtlichen Kopflosigkeit notwendig vorangehende brutale Akt der Enthauptung nicht bewusst wird. Illustration und Titel charakterisieren eine Frau, die zumindest nicht gängigen Erwartungen folgt, eine Bedeutungsebene, in die auch „la femme s’entête“23 weist. In diesen Kontext lässt sich ebenfalls „Wirrwarr“ einordnen, ein weiterer Name der Protagonistin, möglicherweise ein Zitat des ursprünglichen Titels von Klingers Drama Sturm und Drang. Das Prinzip Collage ist auch für die Textproduktion konstitutiv. Während sich auf den Originalcollagen die zahlreichen Einzelelemente und die raffinierte Schnitt- und Klebetechnik wegen der unterschiedlichen Papierqualitäten und der Schnittkanten leicht nachvollziehen lassen,24 bietet die Sprache diese direkte Möglichkeit der Identifikation von Schnittstellen nicht und stellt damit die Analyse vor besondere Probleme, zumal Max Ernst als einer der „belesensten Menschen“25 überhaupt gilt und er sein Quellenmaterial aus der Trivialliteratur ebenso wie aus kanonischen Texten der im Umkreis der Surrealisten zirkulierenden französischen Literatur bezieht. Ein gutes Beispiel bietet das kurze sechste Kapitel des Collagenromans, das gleich in zwei von insgesamt nur neun Legenden „la pêche miraculeuse“26 nennt, davon einmal an exponierter Stelle, dem Kapitelanfang. Offensichtlich ist der Bezug zum Neuen Testament, wodurch sich nahezu von selbst der Kontext der blasphemischen Verwendung biblischer und kirchlicher Sprache bei Max Ernst herstellt. Sich mit dieser Erklärung zufrieden zu geben, hieße jedoch, den Humor und die hintergründigen Textstrategien Max Ernsts zu verkennen. Denn ‚La Pêche Miraculeuse‘ ist auch der Name einer Spelunke in Paris, Treffpunkt abgefeimter Ganoven, die sich mit der Rettung Ertrunkener ihren Lebensunterhalt verdienen. Bezeichnenderweise kommt das Wort ‚noyé‘, Ertrunkener, in diesem Kapitel ebenfalls vor. Durch die gezielte Beförderung ahnungsloser Passanten in die Seine wissen die Betrüger die Zahl der Rettungsmaß–––––––— 22 23 24 25 26

André Breton: Anweisung für den Leser. In: La femme 100 têtes. Berlin 1962, unpag. Vgl. die blutdürstige Frau, „la femme sang tête“, und die starrköpfige Frau, „la femme s’entête“, in: Spies 1988 (Anm. 20), S. 186. Alle Lesarten werden durch den Romankontext legitimiert. Vgl. die Reproduktionen der Originalcollage S/M 1481 in: Spies 1988 (Anm. 20), Tafel 72. Spies 1988 (Anm. 20), S. 190. „Le départ à la pêche miraculeuse“/„aufbruch zum wunderbaren fischzug“ (6,93) und „La pêche miraculeuse, clameurs et amours“/„der wunderbare fischzug, jubel und liebe“ (6,96).

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nahmen deutlich zu erhöhen, so dass sich auf dem Hintergrund dieses verbrecherischen Geschehens der Name der Kneipe ironisch in sein Gegenteil verkehrt. Der Ort ist Schauplatz im XXII. Fantômas-Band: Les amours d’un prince.27 Erstmals wird er dort in dem Kapitel La tête coupée genannt, dessen Titel in bizarrer Komplementarität zur kopflosen Frau bei Max Ernst steht. Eine Bedeutungsebene, die auf den ersten Blick offensichtlich erscheint, erfährt so eine ganz andere Wendung: Durch die intertextuelle Lektüre stellt sich von der Bildlegende „Le geste élégant du noyé“ /„die großtat des ertrunkenen“ (6,99) im Sinne der großzügigen finanziellen Entlohnung des beinahe Ertrunkenen an den vermeintlichen Retter ein neuer Bezug zum „wunderbaren fischzug“ her. Die Deutung des Fischfangs auf einem biblischen Hintergrund als Rettung der Seelen durch Bekehrung zum Glauben verkehrt sich ins Gegenteil, die Gefährdung von Menschenleben aus Gewinnsucht. Der Text wird zum Freud’schen ‚Wunderblock‘ mit seinen unzähligen Überschreibungen, deren Wiederherstellung, ohnehin ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, nicht Ziel der Analyse sein kann. Entscheidend ist das Wissen um die Überlagerungen, Schichten, Derrida spricht von „Stratigraphie“,28 wodurch einer vorschnellen Deutung Einhalt geboten und immer wieder neue Lektüren offengehalten werden.29 Interessant ist ein genauer Blick auf die Interpunktion am Ende der Legenden in den unterschiedlichen Veröffentlichungen, da diese die Rezeption des Textes als Bildlegende, Bildtitel oder autonomen Text entscheidend beeinflusst. Im ŒuvreKatalog von Max Ernst werden die Bildlegenden auf Französisch genannt. Im Gegensatz zu den französischen Ausgaben enden sie dort ohne Punkt und werden somit als Bildtitel präsentiert. Die Gliederung der Collagen durch die Kapitelzählung aus dem Roman fehlt. Die Tendenz des Werkverzeichnisses geht in die Richtung, die Collagen als autonome Bilder zu betrachten, zumal die „Illustrationsvorlagen“, wie der ŒuvreKatalog sie nennt, als Originalcollagen eine hohe Nachfrage im Kunsthandel erfuhren, obwohl sie zunächst nichts als Maquetten für den Druck waren. 1959 signiert Max Ernst anlässlich einer Ausstellung in Paris acht Illustrationsvorlagen und versieht sie handschriftlich mit den Bildlegenden als Titel ohne Punkt am Ende. Auf eine Collage schreibt er irrtümlich die Legende der nachfolgenden, statt: „Perturbation, ma sœur, la femme 100 têtes“ notiert er: „L’exorbitante récompense“. Aber die Bildlegende und nunmehr der Titel von S/M 1452 verbinden sich in diesem Fall mühelos mit der Illustrationsvorlage S/M 1451. Das stellt eine in jedem Fall eindeutige und enge Verbindung von Bild und Text in Frage und liefert den Befürwortern einer Autonomie der Legenden, wie Butor, ein gutes Argument. Die Bedeutung der materialen und medialen Textdimension für die literaturwissenschaftliche Interpretation zeigt sich auch in der Platzierung und Typografie von ein–––––––— 27 28 29

Erstveröffentlichung Paris, November 1912; Neuauflage als: Pierre Souvestre, Marcel Allain: Fantômas s’amuse, Januar 1934; vgl. Alfu: L’encyclopédie de Fantômas. Auto-édition. Paris 1981, S. 31. Jacques Derrida: Am Nullpunkt der Verrücktheit – Jetzt die Architektur. In: Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Hrsg. von Wolfgang Welsch. Weinheim 1988, S. 225. Vgl. die mögliche Anspielung auf die Literaturzeitschrift Fischzug, die erstmals 1926 in Berlin erschien und programmatisch die „Förderung werdender Literatur“ betrieb, oder das mittelalterliche Gemälde von Konrad Witz, Der wunderbare Fischzug, das dem Kunstkenner Max Ernst sicher bekannt war.

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zelnen Textelementen. La Nature und Le Magasin Pittoresque sind populärwissenschaftliche Zeitschriften, die nicht nur maßgeblich den Bildfundus für Max Ernsts Collagen bereitstellen. Auch einzelne Textelemente aus diesen Zeitschriften finden Eingang in Max Ernsts Roman. Der Untertitel La femme à trois têtes von einer der Vorlagen für die Coverillustration30 mag eine Inspiration für den Romantitel gewesen sein. In Abwandlung der in La Nature verwendeten Formel: „Suite et fin“, die dort den Abschluss eines Artikels signalisiert, der über mehrere Hefte fortgesetzt wurde, setzt Max Ernst unter die letzte Collage seines Romans, die mit der ersten identisch ist, die Legende: „Fin et suite.“ Sie ist durch diese Platzierung und die Beibehaltung der Typografie der anderen Legenden eindeutig Bestandteil des Romantextes. Aus poetologischer Perspektive artikuliert sie im Zusammenspiel mit der Repetition der ersten Collage den unendlichen Prozess des immer erneuten Aufnehmens und Verwandelns von bereits Vorliegendem, in den die künstlerische Produktion eingebunden ist. Anders die Präsentation in View: In Versalien gesetzt, löst sich der Satz vom Text und erscheint als Herausgeberkommentar, der einen weiteren Band ankündigt. Ebenso verfährt Le poème de la femme 100 têtes. Hier ist die letzte Bildlegende in Kursivschrift gesetzt, die sich auch in den Kapitelüberschriften wiederfindet und so typografisch textuelle und paratextuelle Elemente voneinander abgrenzt.

Abb. 10: Letzte Collage und Legende aus La femme 100 têtes, Berlin 1962.

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Siehe S. 185.

Abb. 11: Legende der letzten Collage aus The Hundred-Headless Woman in: View, 1941.

Der Text erscheint selten nackt

Abb. 12: Legende der letzten Collage aus Le poème de la femme 100 têtes, 1959.

Abb. 13: Legende der letzten Collage aus La femme 100 têtes in: Ecritures, 1970.

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Eine bereits mehrfach angesprochene Differenz im Layout unterscheidet den Collagenroman als Bild-Text-Kombination grundlegend von den Textversionen. Max Ernst druckt jeweils nur eine Collage mit der Legende auf die rechte Seite des Buches, so stehen sich die Illustrationen mit den Bildlegenden niemals gegenüber. Auf die Konsequenzen für die Lektüre macht Butor aufmerksam: „[…] et n’oublions pas que dans les originales la page suivante est cachée lorsque l’on regarde la précédente avec le souvenir des antérieures.“31 Der Leser weiß nicht, wie der Roman weitergeht, bevor er die Seite umgeblättert hat. Dadurch entsteht jedes Mal eine Zäsur, Bild und Text erhalten eine deutlich spürbare visuelle Präsenz, im Vorgang des Umblätterns aber auch beide gleichermaßen das Moment der Sukzession. Damit verweben sich die Zeichensysteme in einem fortwährenden Gegeneinander- und Zusammenspiel. Die Konkrete Poesie, die sich des körperhaften, materialen Aspekts des Buches hochgradig bewusst ist, spielt ausgehend von dem für den Lesevorgang notwendigen Umblättern der Seiten mit dem Leser in einer verwirrenden Vermischung von Produktions- und Rezeptionssituation: „ich zünde mir erst eine zigarette an. (sind Sie raucher?) so, jetzt blättern Sie bitte um.“32 Max Ernst kalkuliert den Prozess des Umblätterns nicht nur im Arrangement der Bilder ein, sondern auch in der Konzeption der Legenden, was besonders in einer Passage am Ende des achten Kapitels von La femme 100 têtes deutlich wird. Denn der Vorgang des Umblätterns und die daraus resultierende Unterbrechung steht der erzähltechnischen Funktion der Legende entgegen: Ihre Aufgabe ist es, einen Bezug zu den vorhergegangenen wie auch den nachfolgenden Seiten herzustellen. In der französischen Erstausgabe verwendet Max Ernst zwei unterschiedliche Verfahren, eine Legende auf der jeweiligen Seite zu beenden. Das kann mit einem Punkt geschehen, oder es sind drei Punkte, die eine Fortsetzung des Satzes auf der nächsten Seite ankünden, was die nachfolgende Legende gleichsam bestätigend mit drei Punkten am Anfang wieder aufnimmt. Ein Satz kann so in drei Bildlegenden zerlegt werden: Parmi les fantômes faisant partie de ce chapitre… * …on reconnaîtra… * …après une légère hésitation: (8,121 ff.)

Der Doppelpunkt kündet die Aufzählung der Phantome, die in diesem Kapitel eine Rolle spielen, ausdrücklich an. Ergänzend sei auf eine Abweichung hinsichtlich der Interpunktion in der französischen Erstausgabe hingewiesen: Hinter den Doppelpunkt nach „hésitation“ sind dort zusätzlich drei Punkte an das Ende der Legende gesetzt, die das im Text behauptete Zögern typografisch umsetzen und eine Pause im Leseprozess erzwingen. Die Legenden mit den nachfolgend aufgezählten „fantômes“ enden jeweils mit einem Punkt, so dass der Leser im Unklaren darüber gelassen wird, ob –––––––— 31 32

Butor 1974 (Anm. 11), S. 326. Gerhard Rühm: Fenster. Reinbek bei Hamburg 1968, S. 157.

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die Aufzählung beendet ist oder auf der nächsten Seite weitere Phantome genannt werden.33 Pasteur dans son cabinet de travail. * Le singe qui sera policier, catholique ou boursier. * Fantômas, Dante et Jules Verne. * Cézanne et Rosa Bonheur. * Mata Hari. * Saint Lazare, glorieusement ressuscité de la fiente des dromadaires.

(8,124 ff.)

Ganz anders die deutsche Version. Hier endet jede Legende mit drei Punkten, die am Anfang der nachfolgenden wiederholt werden. 34

unter den fantomen, um die es in diesem kapitel geht ... * ... erkennen wir ... * ... nach kurzem zögern ... * ... Pasteur in seinem arbeitszimmer ... * ... den affen, der sich als polizist, katholik oder börsenspekulant auftut ... * ... Fantômas, Dante und Jules Vernes ... * ... Cézanne und Rosa Bonheur ... * ... Mata Hari ... * ... den heiligen Lazarus, glorreich auferstanden aus dem mist der trampeltiere (8,121 ff.)

Dadurch stellt sich trotz der aus dem Umblättern resultierenden Unterbrechungen ein fortlaufender Text her. Zudem unterliegen die Legenden nicht der Gefahr, als Bildtitel gelesen zu werden, was bei dieser Passage insofern von besonderer Bedeutung ist, als die Nennung von Namen einen typischen Modus von Bildtiteln darstellt. Dies bestätigt sich darin, dass Max Ernst tatsächlich mit „Pasteur dans son cabinet de travail“ den Bildtitel aus der Vorlage übernommen hat. Nach Charlotte Stokes ist das der einzige Fall einer wortwörtlichen Übernahme des ursprünglichen Bildtitels.35 Die –––––––— 33

34 35

Vgl. Butor 1974 (Anm. 11), S. 326: „Dans l’énumération des fantômes, Max Ernst abandonne les points de suspension qui ouvrent la page sur la suivante (ou les deux points, plus encore) pour les points simples qui la ferment. On ne sait pas que la phrase va continuer.“ Darstellungsmodus mit Asterisken analog zu Ecritures. Charlotte Stokes: La femme 100 têtes by Max Ernst. Diss. Washington 1977, S. 46.

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Überarbeitung der Interpunktion für die deutsche Erstausgabe belegt den Impetus, den Max Ernst auf die narrative Sukzession legt, wobei in der deutschen Ausgabe insgesamt eher die Gefahr einer Vermischung von Legende und Titel besteht, da im Gegensatz zur französischen Ausgabe am Ende der Legende wie bei Titeln üblich kein Punkt gesetzt ist. Ich fasse zusammen: Mit seinem Versuch des Aufbrechens traditioneller Erzählstrukturen hat es Max Ernst bei der Erfindung des Collagenromans nicht belassen. Vielmehr trennt er auch den Text von den Bildern und macht aus dem „roman-collages“36 einen „roman à légendes.“37 Diesem letzten Schnitt gehen vielschichtige Prozesse der Loslösung, des Schneidens voran: Es beginnt mit der Auswahl der Illustrationen aus den Zeitschriften oder Reproduktionen aus anderen Quellen, die ausgeschnitten und damit von ihrem Ursprungstext getrennt werden. Die einzelnen Bildelemente der Vorlagen werden aus ihrem Zusammenhang gelöst, untereinander kombiniert oder in einen neuen Fond komponiert. Diese Eingriffe werden sorgsam verschleiert durch das Druckverfahren. Lange galt Max Ernst als exzellenter Zeichner, was er durch die Bezeichnung ‚dessins‘ für seine Collagen etwa in Répétitions38 provozierte. Durch das Zusammenkleben unterschiedlichster Bildelemente, die alle durch die ihnen gemeinsame Textur des Mediums Holzstich oder auch Kupferstich kombinierbar sind, ohne im Druck eine Spur zu hinterlassen, ergibt sich ein neues Bild, zu dessen „Ausdeutung“39 eine Bildlegende hinzugefügt wird. Schließlich kann der Text auch von den Bildtafeln getrennt werden. In dieser ohne erkennbaren Bezug dastehenden rein verbalen Präsentation ist der Text dreifach kontaminiert: von verschiedenen Ursprungstexten, deren Illustrationen und den von Max Ernst angefertigten Collagen. Wenn Butor von einem „roman à légendes“ spricht, nicht von einem Gedicht, einer Erzählung oder einem Collagenroman, wird auf diese Kontamination des Textes verwiesen. Sie bleibt spürbar: im Tempus, im Nominalstil, in Raumdeiktika, in der Lakonie, sie wird aber auch überspielt in den narrativen Elementen der Legenden, die sich zu kleinen Prosatexten auswachsen, und in deren extremer Reduktion auf drei Punkte. Diese bilden nicht nur das Ende und den Anfang einer Bildlegende, sondern sie können sie darüber hinaus komplett ersetzen und so ohne Worte das Vorangehende und Nachfolgende verbinden.40 Breton betont 1921 anlässlich der Ausstellung von Collagen Max Ernsts in Paris, dass Max Ernst dem Betrachter mit seinen Collagen das Bezugssystem entziehe.41 Diese Beobachtung gilt in ganz besonderem Maße für das Verwandlungsspiel, in das La femme 100 têtes verstrickt ist und das die Bedingungen der Möglichkeit von Er–––––––— 36 37 38 39 40 41

Max Ernst in: Ecritures. Paris 1970 (Le point du jour), S. 31. Butor 1974 (Anm. 11), S. 325. Paul Eluard: Répétition. Dessins de Max Ernst. Paris: Au Sans Pareil 1922. Vgl. Max Ernst in: Ecritures 1970 (Anm. 36), S. 31: „Il s’agissait maintenant d’interpréter, à l’aide des mots ou phrases, les résultats des ces hallucinations.“ Siehe Legenden 7,115–7,117, in den französischen Versionen: vier Punkte. André Breton, Vorwort zur ersten Ausstellung von Max Ernst in Paris, zitiert von Max Ernst in: Ecritures 1970 (Anm. 36), S. 256: „en nous privant de système de référence“.

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zählen radikal hinterfragt. Schon mit der Erfindung des Collagenromans inszeniert Max Ernst das Versagen einer hermeneutisch orientierten Lektüre des Buches: Viele dieser seiten, die erregung ausdrücken, und zwar eine erregung, die um so außergewöhnlicher ist als uns ihr vorwand verborgen bleibt […], vermitteln uns die illusion wahrhafter schnitte durch zeit, raum, sitten und gebräuche.42

Durch den Schritt, den „texte d’accompagnement“43 von den Bildern zu lösen und ihn als autonom zu präsentieren, verschiebt sich die Referenzebene nochmals und eröffnet mit dem Aufbrechen der Verbindung von Signifikant und Signifikat ein grandioses, die Postmoderne antizipierendes Spiel, dessen poetologische Konsequenzen in der Rezeptionsgeschichte noch nicht bedacht sind und das ohne die Berücksichtigung der Materialität und Medialität des Textes hätte weder gespielt noch aufgedeckt werden können.

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Breton 1962 (Anm. 22), unpag., im französischen Originaltext: „que le prétexte de cette agitation nous fuit“, André Breton: Avis au lecteur. In: La femme 100 têtes. Paris 1929, unpag. Max Ernst in: Ecritures 1970 (Anm. 36), S. 56.

Franziska Mayer

Zur Konstitution von ‚Bedeutung‘ bei der Buchgestaltung Aspekte einer Semiotik des Buchs

Das Buch lässt sich nicht nur als Medium und Zeichenträger beschreiben, sondern auch als „materielles bzw. physisches Objekt“.1 Die Elemente dieses materiellen Objekts sind seit der Etablierung der Codexform konventionalisiert und lassen sich grob in Buchblock, Buchdecke und eventuell Umschlag unterteilen. Die semiotische Eigenheit des Mediums besteht nun darin, dass es nicht nur die Unterscheidung von Trägermaterial und Zeichen zulässt, sondern dass das Trägermaterial selbst bedeutungstragend ist bzw. werden kann. Zwar fehlt bisher eine dezidiert semiotische Konzeptualisierung des Buchs,2 gleichwohl finden sich in der Buchforschung erste Ansätze. So schreibt der französische Buchhistoriker Roger Chartier 1990, gegen die reine Textwissenschaft gewendet: Einer rein semantischen Definition des Textes [...] ist entgegenzuhalten, daß die Formen den Sinn erzeugen und ein schriftlich verankerter Text eine neue Bedeutung und einen neuen Status erhält, wenn sich die Dispositive des typographischen, zum Lesen bestimmten Objekts verändern.3

Erstaunlicherweise ist diese These in den folgenden zwanzig Jahren zumindest in der deutschsprachigen Forschung weitgehend unbeachtet geblieben. Auch die Buchwissenschaft hat sich bisher wenig mit dem semiotischen Status materieller und buchgestalterischer Entscheidungen befasst. Eine Ausnahme bildet die zeichentheoretisch fundierte Studie von Susanne Wehde zur Typographie, einem Einzelaspekt des kombinierten Zeichens Buch.4 Zuletzt hat Georg Stanitzek versucht, das Medium Buch „in paratexttheoretischer Perspektive“ zu beschreiben, ohne dabei die Frage nach dem –––––––— 1 2

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Vgl. Ursula Rautenberg: Buch. In: Reclams Sachlexikon des Buches. Hrsg. von Ursula Rautenberg. 2., verb. Aufl. Stuttgart: Reclam 2003, S. 82–86, hier S. 82. Das Fach Buchwissenschaft definiert als seinen Gegenstand „das Medium ‚Buch‘ in seinen kulturellen, wirtschaftlichen und technischen Eigenschaften“, so die Beschreibung des Studiengangs an der LMU München. Georg Jäger nennt drei Konzeptualisierungen des Buchs in der Buchwissenschaft, nämlich „als Kommunikationsmedium, als wirtschaftliche Ware und als Ereignis in mehreren gesellschaftlichen Feldern oder Systemen“; vgl. Georg Jäger: Buchwissenschaft – das Münchner Modell. In: Börsenblatt Nr. 76, 1997, Buchhandelsgeschichte, S. B 94–96, hier S. B 94. Roger Chartier: Lesewelten. Buch und Lektüre in der Frühen Neuzeit. Aus dem Französischen von Brita Schleinitz und Ruthard Stäblein. Frankfurt a. M., New York: Campus 1990 (Historische Studien. 1), S. 8. Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen: Niemeyer 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 69).

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Verhältnis von Text und Paratext und der semiotischen Funktion dieses ‚Beiwerks‘ zu stellen.5 Auch Autoren haben sich selten explizit oder gar erfolgreich damit auseinandergesetzt, wie ihre Werke vom Verlag schließlich präsentiert werden – sieht man von prominenten Ausnahmen wie Stefan George ab, dessen ‚Werkherrschaft‘6 sich bekanntermaßen auch auf Papiersorten und Drucktypen erstreckte – auf ihn wird noch zurückzukommen sein. Zuletzt hat die Buchpreisträgerin Katharina Hacker die Trennung von ihrem bisherigen Hausverlag Suhrkamp unter anderem damit begründet, dass ihr Buch Alix, Anton und die anderen in einem anderen Layout erschienen ist, als von ihr intendiert: „Alix, Anton und die anderen“ ist in zwei Spalten geschrieben. Die eine gibt das Geschehen wieder, die andere weiterführende Begebenheiten zu den Protagonisten. In Katharina Hackers eigener Fassung sind beide Spalten gleich breit und in gleich großer Schrift gesetzt; überdies steht die eine Spalte immer rechts und die andere links. Suhrkamp hingegen hat eine Art Marginalspalte jeweils nach außen gesetzt, so dass beim Lesen nicht der Eindruck eines parallelen Erzählens, sondern von Anmerkungen an die Haupthandlung entsteht. Das von Hacker abgelieferte und von einem Grafiker eigens gesetzte Manuskript umfasste knapp zweihundert Seiten; das fertige Buch hingegen hat lediglich hundertsechsundzwanzig. Diese massive Komprimierung durch das Layout hat Folgen für die eigenwillige Erzählweise des Romans – und damit auch auf dessen Rezeption durch die Leser.7

Tatsächlich dürfte die Entscheidung über Satzspiegel und Schriftgröße üblicherweise im Verlag fallen und häufig, wie auch das Zitat suggeriert, ökonomischen Überlegungen geschuldet sein. Den Satzspiegel betreffende Besonderheiten im Originalmanuskript werden in der Regel dann umgesetzt, wenn sie als bedeutungstragend erkennbar sind.8 Im Folgenden sollen nun einige vorläufige Thesen zur Konstitution von ‚Bedeutung‘ in der Buchgestaltung aufgestellt werden. Eine Semiotik des Buchs ist dabei angewiesen auf Vorarbeiten von Nachbardisziplinen zur Text- und Bildsemiotik9 –––––––— 5

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Georg Stanitzek: Buch: Medium und Form – in paratexttheoretischer Perspektive. In: Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch. Hrsg. von Ursula Rautenberg. Bd. 1: Theorie und Forschung. Berlin, New York: de Gruyter 2010, S. 157–200; vgl. die methodischen Einwände gegen den zugrundeliegenden Begriff von ‚Paratext‘ in Annika Rockenberger, Per Röcken: Typographie als Paratext? Anmerkungen zu einer terminologischen Konfusion. In: Poetica 41, 2009, S. 293–330. Terminus in Anlehnung an Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn: Schöningh 1981. Felicitas von Lovenberg: Katharina Hacker und Suhrkamp: Chronik einer Zerrüttung. In: FAZ.NET, 14. 11. 2009, online unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/2.1719/katharina-hacker-undsuhrkamp-chronik-einer-zerruettung-1883557.html (17. 1. 2012). Prominentes Beispiel dafür wäre etwa die nun erstmals gesetzte und nicht mehr aus dem mehrspaltigen Typoskript faksimilierte Fassung von Arno Schmidts Zettel’s Traum (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010), die die typographischen Besonderheiten des Originals nur so weit imitiert, als sie semantisch relevant zu sein scheinen: „So ist Zettel’s Traum nun von allen Besonderheiten befreit, die lediglich auf technische Gegebenheiten zurückgehen. Desto deutlicher treten die zahlreichen und reizvollen Besonderheiten hervor, die der Autor selbst dem Werk eingeschrieben hat“; Prospekt zur Edition, online unter: http://www.suhrkamp.de/download/Prospekte/Zettels-Traum-Prospekt.pdf, S. 23 (20. 1. 2012). Zuletzt u. a. Gustav Frank, Barbara Lange: Einführung in die Bildwissenschaft. Bilder in der visuellen Kultur. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010; Thomas Friedrich, Gerhard Schweppen-

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sowie zu Text-Bild-Relationen.10 Darüber hinaus müssten auch Forschungen zur Satz-, Druck- und Bindetechnik sowie zu den verwendeten Materialien, zu Papier-, Farb- und Einbandsorten, herangezogen werden, um zu klären, was Materialität in der Buchwissenschaft überhaupt heißen könnte.11 Das Buch soll hier als polysemiotisches, komplexes Zeichen betrachtet werden, dessen einzelne Bestandteile unterschiedlichen Zeichensystemen, verbalen wie nonverbalen, entstammen und unterschiedlichen Konventionen der Bedeutungskonstitution und Semiose unterliegen. Neben den eigentlichen Text treten Typographie und Satz sowie Illustrationen; dazu kommen die Buchdecke und der Schutzumschlag, Format, Papiersorte und Bindetechnik sowie zusätzliche Ausstattungsmerkmale wie Lesebändchen, Lesezeichen oder Schuber. Das Cover, das neben den klassischen paratextuellen Angaben – Autor, Titel, Gattung, Verlag – in vielen Fällen auch Illustrationen trägt, ist selbst bereits ein komplexes, polysemiotisches Zeichen, das sich ebenfalls aus Einzelzeichen zusammensetzt, die verschiedenen Zeichensystemen angehören. Neben Sprache und Text wären hier Typographie, Farbe, Bild sowie Materialeigenschaften zu untersuchen, die vor allem haptisch erfasst werden können (Prägungen, Oberflächenbeschaffenheit, Gewicht etc.). Ich gehe, dabei Max Bense folgend, davon aus, dass zumindest jedes Element des Buches, das einer tatsächlichen Selektion unterliegt, also einer Selektion, die nicht schon durch andere Selektionen bedingt ist,12 auch bedeutungstragend ist: Die Selektion materialer Elemente, etwa Farben, Formelemente, Laute, Töne und dergleichen, aus den verfügbaren Repertoires zum Zweck ihrer relationalen Komposition oder extensionalen Koexistenz ist zugleich eine Umkonzipierung in intelligible Zeichen, für die das materiale Element als Träger fungiert.13

Nach Peirce kann letztlich alles als Zeichen gelten, was interpretiert wird; er verlagert damit die Entscheidung über die semiotische Qualität auf die Seite des Interpretanten. Tatsächlich wird das Medium ‚Buch‘ im Alltag durchaus ständig Semiosen unterworfen, sei es beim Kauf in der Buchhandlung oder in Diskussionen. Der Zeichenbegriff Umberto Ecos verlangt hingegen eine Konventionalisierung der Bedeutungszuschreibung als Voraussetzung für die Zeichenhaftigkeit, wodurch die Pragmatik der Zeichenverwendung in den Fokus rückt. In jedem Fall erscheint es daher legitim, nach den semiotischen Eigenschaften des materiellen Objekts ‚Buch‘ zu fragen. –––––––— 10

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häuser: Bildsemiotik. Grundlagen und exemplarische Analysen visueller Kommunikation. Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser 2010. Michael Titzmann: Theoretisch-methodologische Probleme einer Semiotik der Text-Bild-Relationen. In: Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symposion 1988. Hrsg. von Wolfgang Harms. Stuttgart: Metzler 1990 (Germanistische Symposien, Berichtsbände. 11), S. 368–384, sowie Ders.: Interaktion und Kooperation von Texten und Bildern. In: Medien und Kommunikation. Eine interdisziplinäre Einführung. Hrsg. von Hans Krah und Michael Titzmann. Passau: Stutz 2006, S. 215–248. Stanitzek spricht mit Bezug auf die jeweilige „Form“ dieser Elemente, die schließlich die Form des konkreten Buchs bilden, in Anlehnung an Luhmann von „Körnigkeit“ und meint damit den eigenständigen Formcharakter der im Medium zusammengefügten Elemente; Stanitzek 2010 (Anm. 5), S. 186. Die Auswahl wird begrenzt durch eine Art Grammatik, bei der gewisse Selektionen andere nach sich ziehen (Papiersorte und Umfang bedingen etwa gewisse Bindearten oder schließen sie aus etc.). Max Bense: Zeichen und Design. Semiotische Ästhetik. Baden-Baden: Agis 1971 (Internationale Reihe Kybernetik und Information. 5), S. 50.

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Bedeutung entsteht in der Buchgestaltung, so meine These, in dreifacher Weise: erstens als Index, der vor allem auf den Produktionszusammenhang des Buchs verweist. Die Verwendung hochwertigen Papiers, teurer Fadenheftung und wertvoller Materialien für den Einband, vor allem aber ein höherer handwerklicher Aufwand bei Satz, Typographie und Einbandgestaltung lassen darauf schließen, dass der Verlag einerseits eine Refinanzierung dieser Kosten (durch Generierung ökonomischen oder symbolischen Kapitals) erwartet und dass er andererseits mit der Bereitschaft potentieller Buchkäufer rechnet, den entsprechend höheren Kaufpreis zu zahlen. Das Erscheinen einer zweiten Auflage, einer Taschenbuchausgabe oder einer Gesamtedition kann somit ebenfalls als indexikalisches Zeichen für den Verkaufsrang oder die Wertschätzung eines Werks bzw. seines Autors innerhalb des Verlags gelten. Aber auch bezogen auf den Text lassen sich indexikalische Zeichen im Material erkennen; so kodiert unter Umständen das Gewicht, und damit der Umfang des Buchblocks, die Länge des enthaltenen Textes.14 Zweitens entsteht Bedeutung durch Ähnlichkeit, eine quasi ikonische Abbildungsrelation. So kann ein wertvolles Äußeres auf ein wertvolles Inneres verweisen, ein ‚sachliches‘ Buchcover auf einen sachlichen (Text-)Inhalt, die Darstellung einer Figur auf Merkmale einer Figur des Textes (dazu später mehr). Zwar verlangt die Konvention buchgestalterischer Praxis nicht nur von der Typographie, „daß die äußere Form und der sprachliche Inhalt aufeinander abgestimmt werden müssen“.15 Gegenüber dem indexikalischen Zeichen steigt in diesem Fall aber die Wahrscheinlichkeit der (bewussten oder unbewussten) Irreführung, also der Grad der Arbitrarität. Drittens basiert Bedeutung schließlich auf konventionalisierter Zuschreibung, auf der Etablierung von Regeln, die sich nicht den Produktionsbedingungen oder technischen Erfordernissen der Buchherstellung verdanken, sondern arbiträre Symbole etwa für Gattungen oder Genres etablieren. Diese symbolhaften Zeichen sind ihrerseits kulturabhängig und damit ständigen Transformationsprozessen unterworfen. Auch hier können die Zeichen trügen, Gattungs- und Genrezuschreibungen fehlerhaft oder bewusst irreführend sein. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach der Relation von Textbedeutung und den Bedeutungen der materiellen Realisation. Nimmt man den Gedanken Jurij Lotmans ernst, dass der Rahmen des Kunstwerks entscheidend für die semantischen Relationen in dessen künstlerischem Raum ist,16 muss eine Erweiterung dieses Rahmens notwendigerweise zu weiteren, neuen semantischen Relationen führen. Ähnlich wie ein erzählerischer Rahmen die Bedeutung der Binnenerzählung steuert – etwa deren Realitätsstatus bestimmt –, so vermögen Hinweise auf die Gattungszugehörigkeit eines Textes die Rezeption dieses Textes zu beeinflussen.

–––––––— 14 15 16

Allerdings können in diesem Fall die Wahl des Papiers (Gewicht, Volumen) sowie der gewählte Satzspiegel und die verwendete Schrift in die Irre führen. Vgl. Wehde 2000 (Anm. 4), S. 146. Für die Einbandgestaltung gilt dies zumindest seit etwa 1900. Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von Rolf Dietrich Keil. München: Fink 31989 (UTB. 103), S. 300 f.

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Als semiotisches Beschreibungsinventar möchte ich daher das von Roland Barthes17 stammende Konzept des Metazeichens vorschlagen, dessen Definition durch Ugo Volli folgendermaßen lautet: Ein typisches Metazeichen gibt an, welches Register man in der Kommunikation verwenden möchte, zum Beispiel, ob ein bestimmter Satz ernst genommen oder aber als Spaß verstanden werden soll, [...] ob ein Buch eher zu einer bestimmten Gattung gehört als zu einer anderen, usw. Ein Metazeichen verwendet also bestimmte Eigenschaften des Signifikanten eines Zeichens, um damit einige Anweisungen zum Gebrauch des Zeichens selbst zu vermitteln. Hier liegt eine für jegliche Kommunikation überaus bedeutsame und allgemeine Funktion vor, die für deren richtigen Ablauf nahezu immer notwendig ist.18

Ein primäres Zeichen wird zum Inhalt eines sekundären Zeichens. Im Gegensatz zu dem Parallelfall der Konnotation, bei der neue Signifikate generiert werden, tritt hier ein neuer Signifikant auf, dessen Signifikat das primäre Zeichen ist. Im Fall der Buchsemiotik wird der (gegebene und also primäre) Buchtext zum Signifikat eines sekundären Zeichens, dessen Signifikant die Buchgestaltung darstellt. Dieser neue Signifikant wirkt nun wie eine Gebrauchsanweisung für das primäre Zeichen, den Buchtext. In der alltagssprachlichen Kommunikation fungieren etwa Tonfall oder Gesichtsausdruck als metasprachliche Ironiesignale, die die Bedeutung des gesprochenen Satzes somit in sein Gegenteil verkehren. Für unseren Zusammenhang ist dabei sowohl die Fähigkeit des Metazeichens interessant, die Bedeutung des primären Zeichen zu beeinflussen, als auch die Variante, dass der neue Signifikant einem anderen Zeichensystem entstammt als der primäre. Wahrscheinlich lässt sich dieses Konzept auf alle Formen paratextueller Äußerungen übertragen (soweit man im Fall nichtsprachlicher Zeichensysteme von Paratexten sprechen will). Das sekundäre Zeichen – der Paratext – hat demnach keinen direkten Einfluss auf die Bedeutung des primären Zeichens, wohl aber auf dessen Gebrauch. Bense postuliert, aufbauend auf der Dreiwertigkeit der Zeichenaspekte bei Peirce, neben dem Objektbezug auch ein zugeordnetes Verhaltensschema: Damit erweisen sich die iconisch, indexikalisch bzw. symbolisch fixierten und figurierten Objekte resp. Objektsysteme verhaltensschematisch als Anpassungssysteme, als Annäherungssysteme bzw. als Selektions-(Wahl- oder Repertoire-)Systeme. Mit jedem derart semiotisch intern determinierten Objektbezug und semiotisch extern koordinierten Objektverhalten ist dann selbstverständlich auch der Gebrauch des Objekts gegeben.19

Zur näheren Erläuterung der metasemiotischen Funktion des materiellen Buchobjekts beschränke ich mich zunächst auf die Analyse exemplarischer zeitgenössischer Einbandgestaltungen – aus durchaus heterogenen kulturellen Kontexten – und deren Verhältnis zum jeweiligen Text mit einem anschließenden Beispiel für die Konse–––––––— 17 18 19

Roland Barthes: Die Sprache der Mode. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 62004 (es. 1318), S. 37 f. Vgl. Ugo Volli: Semiotik. Eine Einführung in ihre Grundbegriffe. Tübingen, Basel: Francke 2002 (UTB. 2318), S. 47; Hervorhebung im Original. Max Bense: Semiotische Prozesse und Systeme in Wissenschaftstheorie und Design, Ästhetik und Mathematik. Baden-Baden: Agis 1975, S. 126; Hervorhebung im Original.

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quenzen typographischer Entscheidungen. Konkret soll dabei untersucht werden, welche Informationen über den Text auf dem Cover enthalten sind und wie diese Informationen die Rezeption und möglicherweise auch die Bedeutung des Textes zu steuern vermögen. Welche Rezeptionshinweise sind nun von den (verbalen wie nonverbalen) Zeichen des materiellen Objekts ‚Buch‘ zu erwarten? Diese betreffen zunächst die Zuordnung zu einer Gattung oder einem Genre. Hinweise darauf, ob es sich bei einem Buch um ein Fach- oder Sachbuch handelt, finden sich nicht nur im Untertitel oder im Klappentext, sondern (idealerweise) auch in der grafischen Gestaltung des Umschlags oder Einbands, eventuell sogar im Format. Seit einigen Jahren hat sich im medizinischen Bereich unabhängig von Verlagsdesigns20 die Verwendung der Farbe Blau etabliert, die disziplin- und verlagsübergreifend den medizinischen Fach- und Lehrbuchmarkt dominiert. Ratgeberliteratur zum selben Thema bedient sich hingegen anderer Farbcodes (häufig Grün oder Gelb), vor allem aber anderer Typographie und Illustrationen. Die Semantisierung der Farbe Blau als ‚kühl‘ und ‚sachlich‘ folgt dabei ähnlichen Konnotationsketten, wie sie Wehde für die Opposition ‚Dynamik‘ vs. ‚Statik‘ bei Schriften konstatiert: Die Entsprechung von Schriftform und Textinhalt beruht nicht auf unmittelbarer Ähnlichkeit zwischen Zeichen (Schrift) und Bezeichnetem (Textinhalt), sondern auf Inhaltsgleichheit in einem Dritten: dem Interpretanten, der den Bezug zwischen beiden erst herstellt; d. h. auf hochgeneralisierten Bedeutungen, wie beispielsweise kollektiven Wertungen, die Schrift und Text gleichermaßen zugerechnet werden können.21

Auffällig ist in den Beispielen medizinischer Fachbücher die Verwendung von Fotografien, die den Arzt in Aktion zeigen oder einzelne Handlungsschritte repräsentieren (etwa Diagnose per Ultraschall), während die Ratgeber eher zu symbolischen Darstellungen oder Fotografien der Patienten tendieren. Dabei ist die Farbkodierung stärker symbolisch als die Bildauswahl, die zumindest bei den Fotos in ikonischer Relation zum Text steht (Ratgeber bilden nichts ab, was Laien nicht auch tatsächlich tun dürfen). Während etwa das medizinische Lehrbuch zur Notfallmedizin aus dem Verlag Springer zusätzlichen didaktischen Mehrwert verspricht („Jetzt neu mit Fallquiz“),22 fokussieren die Ratgeber von dtv und Ziel-Verlag vor allem Einfachheit und Verständlichkeit („Mit einfachen Anweisungen für jeden Notfall“ bzw. „Kurzanleitung als Beilage für unterwegs“).23 Das Foto des Outdoor-Ratgebers präsentiert bereits eine (doppelte) erfolgreiche Erstversorgung und hebt sich damit von den (für Laien wohl –––––––— 20

21 22 23

Verweise auf den Verlag und damit den Publikationszusammenhang des Textes können auch farblich kodiert sein; vgl. etwa die Gestaltung der Reihe Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. Dabei ist die Zugehörigkeit zum Programm eines bestimmten Verlags oder zu einer Buchreihe ihrerseits bedeutungstragend. Vgl. Wehde 2000 (Anm. 4), S. 152 f. Thomas Ziegenfuß: Notfallmedizin. Heidelberg: Springer 42007. Harald Karutz, Manfred von Buttlar: Kursbuch Erste Hilfe. 2., korr. und erw. Aufl. München: dtv 2008 (dtv. 34491); Peter Oster: Erste Hilfe Outdoor. Fit für Notfälle in freier Natur. 2., überarb. Aufl. Augsburg: Ziel Verlag 2008 (Gelbe Reihe: Praktische Erlebnispädagogik).

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eher alarmierenden) Szenen der beiden Fachbücher von Springer und Thieme24 ab, die den Arzt als Helden einer dramatischen Situation inszenieren. Eine Ausnahme von dieser Bilderregel stellt eine medizinische Fachrichtung dar, die zumindest phasenweise zu explizit humoristischen Illustrationen neigt, wie eine Auswahl zeigt: Fotografien von Unterhosen, Wasserhähnen, Löschfahrzeugen und -schiffen bebildern die urologischen Fach- und Lehrbücher aus dem Springer-Verlag.25 Die Semiosen, die für ein Verständnis der Feuerwehrspritzenmetaphorik nötig sind, waren aber offenbar selbst den angehenden Fachärzten der Urologie zu drastisch, so dass die späteren Auflagen26 wieder das oben genannte Schema medizinischer Fachbücher erfüllen: OP-Personal bei der Arbeit sowie ein Becher mit gelber Flüssigkeit und Teststreifen bleiben zumindest im medizinischen Bildbereich.27 Die Funktion der Texte ist nicht zuletzt an der materiellen Beschaffenheit der Bücher ablesbar. So sind abwischbare Einbände für Lehrbücher und Nachschlagewerke ebenso häufig wie für Kinderbücher. Auch sekundäre Buchfunktionen lassen sich meist von der Materialität des Buchs ablesen, seien es die Selbstdarstellung durch mächtige Coffeetable-Books oder die Repräsentationskraft mehrerer Regalmeter grün-goldener Buchrücken mit rot-schwarzem Rückenschild der juristischen Entscheidungssammlungen, die in Spielfilmen und TV-Serien US-amerikanische Anwaltskanzleien und Richterzimmer tapezieren und zeichenhaft für die gediegene Kompetenz ihrer Besitzer stehen. Aus Sicht der Verlage ist das Buchcover ein Marketinginstrument, das möglichst viele Interessenten erreichen soll. Entscheidend ist hierbei, dass die Richtigen erreicht werden, nämlich potentielle Käufer, und dass schon der Sortimenter das Buch ins passende Regal stellt. Auch die Buchpräsentation im Sortiment kann demnach als Metazeichen für das Buch fungieren, sei es durch die Genrezuordnung oder die Markierung als Bestseller (Stapelpräsentation). Doch die Gattungszuordnung hat durchaus auch Konsequenzen für die Bedeutung von Texten, wie das Beispiel biographischer Romane im Gegensatz zu Biographien zeigt. Nicht nur für die Rezeption, sondern auch für die Bedeutung des Textes ist es entscheidend, ob er fiktional oder faktual zu lesen ist; eine Information, die sich eben nicht immer in einer expliziten Gattungsbezeichnung ausdrückt. –––––––— 24 25

26

27

Notfallmedizin. Hrsg. von Jens Scholz u. a. 2., vollst. überarb. Aufl. Stuttgart: Thieme 2008 (Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin, Schmerztherapie. 3). Richard Hautmann: Urologie. 4., überarb. und aktual. Aufl. Heidelberg: Springer 2010 (Springer Lehrbuch); Richard Hautmann, Hartwig Huland: Urologie. 3., überarb. Aufl. Heidelberg: Springer 2006 (Springer Lehrbuch); Hans Ulrich Schmelz, Christoph Sparwasser, Wolfgang Weidner: Facharztwissen Urologie. Differenzierte Diagnostik und Therapie. Heidelberg: Springer 2006; Thomas Gasser, Georg Rutishauser: Basiswissen Urologie. 3., vollst. überarb. Aufl. Heidelberg: Springer 2006 (Springer Lehrbuch). Hans Ulrich Schmelz, Christoph Sparwasser, Wolfgang Weidner: Facharztwissen Urologie. Differenzierte Diagnostik und Therapie. Heidelberg: Springer 22010; Thomas Gasser: Basiswissen Urologie. 4., vollst. überarb. Aufl. Heidelberg: Springer 2009 (Springer Lehrbuch). Man könnte diesen Wandel im Sinne Freuds auch dahingehend interpretieren, dass die Tabuisierung des Dargestellten durch die Bildwitze so weit aufgebrochen wurde, dass sie sich selbst überflüssig gemacht haben.

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Wie schon aus der beschriebenen Farbkodierung im medizinischen Fachbuch ersichtlich, sind die nonverbalen Zeichen in der Covergestaltung häufig konventionalisiert. Dies resultiert aus dem Problem, nonverbalen Zeichen eindeutige verbalisierbare Bedeutungen zuzuschreiben. Erst über den Gebrauch und die Semantisierung durch Kontextualisierung mit Text und Texten werden Konnotationen konkretisiert. Recht gut lässt sich der Verlauf semantischer Zuschreibungsprozesse im Bereich populärer Bestsellerliteratur und ihrer Covergestaltungen beschreiben. Gerade der Bestsellermarkt ist von solchen Konventionalisierungen geprägt, da Erfolgsrezepte auf diese Weise perpetuiert und nachgeahmt werden können. Erfolgreiche Buchtitel setzen oft einen Trend nicht nur innerhalb eines Verlags oder eines Autorœuvres, sondern für ganze Genres, die ihrerseits in diesem Bereich des Buchmarkts oft genug derartigen Erfolgswellen folgen und von den Lektoraten entsprechend geplant werden. Der äußerst erfolgreiche, 2007 auch verfilmte Roman von Cecelia Ahern PS: Ich liebe dich,28 der 2004 in einem Imprint von S. Fischer erschien, begründete mit seinem charakteristischen Coverdesign (Abb. 1) nicht nur eine lange Reihe ähnlich gestalteter Romane der äußerst produktiven Autorin, sondern regte auch andere Verlage (darunter Rowohlt, Ullstein, Knaur und Heyne) zur Nachahmung an.29 Die Kombination aus blauem Himmel, weißen Wolken und ebensolcher Schreibschrift (die beim Original noch ikonisch auf den Inhalt des Romans abzielte) wurde damit zum Metazeichen der Textsorte ‚romantischer Frauenroman‘, in dem die Protagonistin nach einem Schicksalsschlag wieder neuen Lebensmut findet. In einem Interview mit dem Börsenblatt30 zeigte sich der Umschlaggrafiker des Verlags S. Fischer, Manfred Walch, kaum irritiert von den Imitationen seines Entwurfs und bekannte sich selbst zum Nachahmungsprinzip. 2009 versuchte er schließlich selbst, mit einem roten Einband ein neues Metazeichen für die Romane der Autorin zu schaffen,31 der folgende Titel kehrte schließlich wieder zum bewährten Himmelblau zurück.32 Man darf darin wohl eine direkte Reaktion auf die Verkaufszahlen vermuten. Trotz der mittlerweile eingetretenen Polysemie des Zeichens konnte offenbar nur die bekannte Farbkombi–––––––— 28

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So der Titel der Erstausgabe laut (bibliographisch relevantem) Titelblatt und abweichend vom Cover. Cecelia Ahern: PS: Ich liebe dich. Roman. Aus dem Englischen von Christine Strüh. Frankfurt a. M.: Krüger 2004; ähnlich bereits im folgenden Jahr (mit herzförmigem Kondensstreifen): Cecelia Ahern: Für immer vielleicht. Roman. Aus dem Englischen von Christine Strüh. Frankfurt a. M.: Krüger 2005. Um nur einige Beispiele zu nennen: Alice Peterson: Herzenssachen. Roman. Aus dem Englischen von Sylvia Strasser. Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe 2007 (Bastei Lübbe Taschenbuch. 15775); Anna McPartlin: Weil du bei mir bist. Roman. Deutsch von Karolina Fell. Reinbek bei Hamburg: RowohltTaschenbuch 2007 (rororo. 24561); Louise Candlish: Seit du nicht da bist. Aus dem Englischen von Julia Walther. Berlin: Ullstein 2009 (Ullstein. 28058); Kristin Hannah: Immer für dich da. Roman. Aus dem Amerikanischen von Marie Rahn. Berlin: Ullstein 2009 (Ullstein. 28106); Katja Reuter: Welche Farbe hat die Liebe? Roman. Berlin: Ullstein 2009 (Ullstein. 28105); Alicia Bessette: Weiß der Himmel von dir. Aus dem Amerikanischen von Andrea Fischer. Frankfurt a. M.: Krüger 2010; Tanya Michna: Solange die Liebe bleibt. Roman. Aus dem Amerikanischen von Annika Tschöpe. München: Heyne 2010. Sabrina Gab: Wie aus einer Idee ein Trend wird. In: Börsenblatt 177, 2010, H. 23, 10. Juni 2010, S. 33 f. Cecelia Ahern: Zeit deines Lebens. Roman. Aus dem Englischen von Christine Strüh. Frankfurt a. M.: Krüger 2009. Cecelia Ahern: Ich schreib dir morgen wieder. Aus dem Englischen von Christine Strüh. Frankfurt a. M.: Krüger 2010.

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nation den Buchkäufer(inne)n signalisieren, es handle sich tatsächlich um ein Werk von Ahern. Wie marginal die Abweichungen in der Materialität des Signifikanten bei solchen Trends sind, lässt die Aussage einer Verlagsmitarbeiterin erkennen: Ullstein etwa hat das an die Ahern-Romane angelehnte Cover des Titels „Welche Farbe hat die Liebe?“ von Katja Reuter nach eigenem Bekunden „etwas frischer und türkisfarbener gestaltet und mit Zusatzelementen wie einer Katze und einem gelben Schal versucht, etwas Unverwechselbares hineinzubringen“.33 (Siehe Abb. 2.)

Ähnliche Semantisierungen ließen und lassen sich auch bei den historischen Thrillern von Dan Brown nachvollziehen.34 Die Kombination aus klerikal-sakralen Motiven mit den Farben Schwarz und Rot inspirierte zahllose Verlage zu Nachahmungen, die sich zum Teil auch auf die Buchtitel (Scriptum, Relictum, Urbi et Orbi)35 erstrecken. Die Einheitlichkeit der Titel beschränkt sich im Übrigen auf die deutsche Übersetzung der größtenteils aus dem Englischen oder Amerikanischen übertragenen Originale. Darüber hinaus folgt in solchen Fällen häufig die gesamte Produktion dem Vorbild erfolgreicher Spitzentitel. Vermutlich würde eine Textanalyse auch Analogien in der Handlungsstruktur und den dargestellten Normen, Werten und Welten ergeben. Dass der Buchkauf im Unterhaltungsmarkt entscheidend von der Covergestaltung abhängt oder die Verlage das zumindest erwarten, ist offensichtlich. In jedem Fall wecken die beschriebenen Buchcover Erwartungen bezüglich des enthaltenen Textes, nach der angenommenen Homologie Buchcover1 : Buchcover2 :: Text1 : Text2. Die Etablierung bestimmter Covergestaltungen als Zeichen für das Werk eines bestimmten Autors führt, wie mir scheint, zunächst zu einer Ausweitung der Bedeutung auf die jeweilige Textsorte. Allerdings beruht der intendierte Effekt auf der Arbitrarität des (Buch-)Zeichens, das nun eben nicht mehr das Werk des einen erfolgreichen Autors kodiert, sondern das eines anderen. Bezogen auf die Kodierung von Autorœuvres, ist hier somit von einer Homonymie, also der Mehrdeutigkeit des Buchzeichens, auszugehen. Die Auswirkungen der Buchgestaltung auf Rezeption und Interpretation von Texten lassen sich wohl am ehesten beim gegenteiligen Fall festmachen, bei der Synonymie des Buchs als Zeichen. Untersuchen lässt sich dies vor allem an kanonisierten Texten, die synchron wie diachron in unterschiedlicher Gestaltung vorliegen. Schon die Tatsache, dass es mehrere Parallelausgaben gibt, lässt sich als Zeichen für die Stellung eines Werks im literarischen Feld lesen. Die auch am Cover meist ablesbare Zugehörigkeit zu einer Gesamtausgabe weist das Werk als (zumindest temporär) –––––––— 33 34

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Gab 2010 (Anm. 30), S. 34. Dan Brown: Illuminati. Aus dem Amerikanischen von Axel Merz. Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe 2003; Ders.: Sakrileg. Thriller. Aus dem Amerikanischen von Piet van Poll. Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe 2004. Raymond Khoury: Scriptum. Thriller. Deutsch von Susanne Goga-Klinkenberg. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch 2005 (rororo. 24208); Michael Byrnes: Relictum. Mysterythriller. Aus dem Amerikanischen von Doris Styron. München: Knaur-Taschenbuch 2007 (Knaur. 63705); Steve Berry: Urbi et Orbi. Roman. Aus dem Englischen von Barbara Ostrop. München: Blanvalet 2006 (Blanvalet. 36405).

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kanonisiert aus.36 Die gerade bei Klassikern häufig anzutreffende gediegene Ausstattung (Fadenheftung, Leinen- oder gar Ledereinband und zusätzlicher Pappschuber) verweist auf die Dauerhaftigkeit und Archivierbarkeit des enthaltenen Werks – ein Signal, das ein postuliertes zentrales Merkmal von ‚Klassik‘, nämlich überzeitliche Gültigkeit, kodiert. Zu klären wäre nun in der Tat, ob die Existenz unterschiedlich gestalteter Ausgaben auch zu unterschiedlichen Texten führt. Dass die Präsentation von Werken in historisch-kritischen Ausgaben etwas über diese Werke aussagt (zumindest über deren Gebrauch und Kanonisierungsgrad), ist wohl unstrittig. Und die postulierte Notwendigkeit von Kommentierung verweist eben auch auf die historische Differenz zwischen Text und Rezeption. In Einzelfällen lassen sich aber durchaus Extreme der Bedeutungszuschreibung durch konkurrierende Ausstattungen erkennen. Als Beispiel soll hier ein englischer Klassiker des 19. Jahrhunderts dienen, der allerdings bis heute – nicht zuletzt bedingt durch diverse Verfilmungen – auch in anderen Kontexten gelesen wird. Es handelt sich um Mary Shelleys Roman Frankenstein or The Modern Prometheus von 1818, der zurzeit (März 2012) in 19 deutschsprachigen Ausgaben lieferbar ist. Tatsächlich erscheint der Roman als kanonisierter Klassiker, etwa bei Manesse und Insel, die, wie bei diesem Buchtyp häufig zu beobachten, ein Gemälde derselben Epoche zur Bebilderung wählen. Während sich die Illustration des Insel-Verlags (Adolph Menzels Atelierwand) ikonisch auf die Histoire des Textes bezieht (menschliche Körperteile werden zusammengesetzt),37 verweist das Coverbild der ManesseAusgabe, Johann Heinrich Füsslis Der Alb verläßt das Lager zweier schlafender Mädchen, nur sehr indirekt auf die Handlung.38 Offensichtlich ist hier die Vermeidung des (scheinbar) zentralen Themas des künstlichen Menschen. Zwar fehlt – wie übrigens in allen anderen Fällen auch – der Zweittitel des Romans auf dem Cover, doch unterstreicht die Zugehörigkeit zu einer entsprechenden Reihe (Manesse Bibliothek der Weltliteratur) den Charakter des kanonisierten Textes.39 Obwohl die Aufnahme in Reclams Universalbibliothek eine analoge Semantik transportiert, geht von der dortigen Covergestaltung ein widersprüchliches Signal aus (Abb. 3):40 Wie bei den meisten anderen Ausgaben ziert der Kopf des Schauspielers –––––––— 36

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Das symbolische Kapital einer Werkausgabe ist den Autoren spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts durchaus bewusst; vgl. Ernst Fischer: „... diese merkwürdige Verbindung als Freund und Geschäftsmann“. Zur Mikrosoziologie und Mikroökonomie der Autor-Verleger-Beziehung im Spiegel der Briefwechsel. In: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 15, 2006, S. 245–286, hier S. 252. Mary Shelley: Frankenstein oder der moderne Prometheus. Aus dem Englischen von Karl Bruno Leder und Gerd Leetz. Frankfurt a. M., Leipzig: Insel Taschenbuch 2008 (it. 3523). Mary Shelley: Frankenstein oder der moderne Prometheus. Roman. Aus dem Englischen übers. von Ursula von Wiese. Mit einem Nachwort von Fritz Güttinger. Zürich: Manesse 1983 (Manesse Bibliothek der Weltliteratur). Bestandteil einer Reihe (oder auch eines Verlagsprogramms) zu sein bedeutet für die entsprechenden Texte eine weitere Kontextualisierung. Soweit es einer Reihe oder einem Verlagsprogramm gelingt, semantische Merkmale zu etablieren, beeinflussen diese ebenfalls Rezeption und Interpretation des enthaltenen Textes. Mary Shelley: Frankenstein. Aus dem Englischen übers. von Ursula und Christian Grawe. Stuttgart: Reclam 2006 (RUB. 8357); eine weitere Ausgabe im selben Verlag von 2011 (als Reclam-Taschenbuch

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Boris Karloff den Titel, der Frankensteins Monster in der Verfilmung von 1931 und in zwei Sequels dargestellt hat. Dies hat nun zwei Konsequenzen für die Einordnung des Romans: Zum einen nimmt die fotografische Illustration eine temporale Einordnung vor, die weit nach seiner Entstehungszeit und der Situierung der Histoire liegt, und zwar aufgrund der Materialität des Schwarzweißfotos auch dann, wenn der Schauspieler und seine Rolle nicht korrekt erkannt werden, weil das entsprechende kulturelle Wissen fehlt. Zum anderen erscheint die Abbildung unweigerlich als Konkretisierung des den Titel bildenden Figurennamens, wenn man die Beziehungen zwischen Autorname, Titel und Illustration betrachtet. Dies führt schließlich zu einer verfälschenden Identität von Titelfigur und abgebildetem Monster, das im Text namenlos bleibt. Der Sprachgebrauch, jemand sehe aus ‚wie Frankenstein‘, zeigt denn auch, dass die Verwechslung der beiden Protagonisten mittlerweile kaum mehr aufzuhalten ist, auch wenn sie durch jede Lektüre des Romans falsifiziert wird. Handelt es sich bei Reclam noch um ein originales Schwarzweißfoto aus dem Film, finden sich im Weiteren mehr oder weniger starke Verfremdungen dieses Motivs. Schon die Ausgabe bei dtv, die den Text in der „Urfassung“ und damit in einer implizit zitierfähigen Edition präsentiert, unterstreicht die bedrohliche Wirkung des Schauspielerporträts durch eigene Farbgebung sowie einen blutroten Hintergrund, während der Bildausschnitt zu dem insgesamt schwarzen Cover in stärkstem Kontrast steht.41 Keinen Zweifel an der Zugehörigkeit zum Horrorgenre lassen die beiden Ausgaben bei S. Fischer und Area (Abb. 4). Besonders Letztere verschärft die Wirkung der Karloff-Abbildung noch durch weitere Zutaten ikonischer und verbaler Art, durch die nach unten tropfende blutrote Farbe vor schwarzem Grund und den Reihentitel Spannung pur.42 Die eindeutige Aussage dieses Titels führt schließlich zu Erwartungen, die die Lektüre letztlich nur unvollständig einlösen kann. So schreibt etwa Nutzer knuffimausi in dem Forum buechertreff.de am 2. 8. 2006: Also, ich bin von dem Buch sehr enttäuscht. Ich hatte etwas völlig anderes erwartet, und manchmal ergibt es sich ja, dass ein Buch dann doch viel besser ist, aber in diesem Fall, nein, absolut nicht. Ich bin ganz froh, mal einen Klassiker gelesen zu haben, so kann ich da wenigstens „mitreden“, wenn mal das Thema aufkommt, aber begeistert bin ich absolut nicht. Die Entstehung des Monsters – und wieso hat es eigentlich keinen Namen? – wird kaum geschildert, ebenso wenig wie sein Aussehen, außer, dass es schrecklich und unansehnlich ist (kein Wunder, wenn es aus Leichenteilen besteht). Auch dachte ich, dass das Monster blöde sei, aber nein, es ist (durch gewisse Umstände, selbst angeeignet) hoch gebildet. Das find ich

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20127) bringt ebenfalls ein Foto von Boris Karloff als Monster, diesmal fast den ganzen Einband einnehmend. Mary Shelley: Frankenstein oder der moderne Prometheus. Die Urfassung. Mit Materialien zur Entstehung und Rezeption, Anmerkungen, Nachwort und Zeittafel. Aus dem Englischen neu übers. und hrsg. von Alexander Pechmann. München: dtv 2009 (dtv. 13836). Mary W. Shelley: Frankenstein. Aus dem Englischen von Friedrich Polakovics. Erftstadt: Area 2006 (Spannung pur). Der Text folgt der Ausgabe im Hanser-Verlag, die 1970 mit einem Umschlag von Uwe Bremer in der Reihe Bibliotheca Dracula erschien.

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so weit auch völlig ok, aber ich habe halt nicht mit einem, tja, gebildeten Roman gerechnet, sondern eher mit einer art [sic] Grusel-Horror-Story. Bildung ist halt nichts für mich :-P. Nee, aber diese Art der Sprache, die liegt mir gar nicht, egal, in welchem Zusammenhang oder Buch… Es wird ja eigentlich nur auf Frankenstein-Monsters Gefühlsleben eingegangen, aber eben gar nicht auf seine Entstehung usw., völlig anderes Futter als erwartet.43

Die Hoffnung auf „Spannung pur“ hat sich ebenso wenig erfüllt wie die erwartete Genrezugehörigkeit. Stattdessen hat knuffimausi es mit einem (negativen) Bildungsroman und einer selbstreferentiellen Künstler- und Wissenschaftlererzählung zu tun bekommen, deren genuine Spannung aufgrund der fehlgeleiteten Erwartung nicht mehr wahrgenommen werden konnte. Auch wenn sich in diesem Fall der Text offenbar der Kodierung durch das Cover entziehen konnte, lassen andere Rezeptionszeugnisse im selben Forum darauf schließen, dass die Semantisierung des Textes als gruseliger Horrorroman zumindest teilweise aufgeht. Eine umfassende Analyse würde den fantastischen Aspekt sicher nicht in den Vordergrund der Textbedeutung rücken (zentrale semantische Oppositionen des Romans liegen vielmehr bei Wissen vs. Nicht-Wissen bzw. Leben vs. NichtLeben), doch gehören fantastische Strukturen mit Horrorelementen durchaus zur Gesamtbedeutung. Damit evozieren verschiedene Einbandgestaltungen beim Rezipienten unterschiedliche Bedeutungsebenen des Textes, sei es als Werk der englischen Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts, dem mit wissenschaftlichen und historischen Beschreibungsinventaren begegnet werden muss, oder als Vertreter eines Genres, das vornehmlich unter Spannungsaspekten zur Unterhaltung gelesen (und eben nicht analysiert) wird. Daneben etablieren die Verlage noch eine weitere Gebrauchsmöglichkeit des Romans, nämlich als Jugendbuch. Interessanterweise bietet dtv neben der bereits gezeigten „Urfassung“ in der verlagseigenen Kinder- und Jugendbuchreihe (Reihe Hanser) eine weitere Fassung an – diesmal mit einer illustrativ verfremdeten Variante des Karloff-Kopfes, so dass dieser nun nicht mehr auf den Film verweist, sondern als bildliche Umsetzung des Protagonisten zu deuten ist (Abb. 5).44 Und auch der Kinderund Jugendbuchverlag Arena hat den Text im Programm, und zwar in seiner Reihe Mitternachtsbibliothek,45 in der auch Dracula, Der Golem und Das Phantom der Oper zu haben sind. Tatsächlich liefert das Segment der sogenannten All-Age-Literatur weitere Beispiele für konkurrierende Semantisierungen durch Buchgestaltung, die eine genauere Analyse verdienten. Hier ist es nämlich durchaus üblich, dass derselbe Text im selben Verlag zugleich in zwei verschiedenen Ausstattungen erscheint, einmal für Erwachsene und einmal für Jugendliche und Kinder. Der Trend zur Erwachsenenlektüre von –––––––— 43 44 45

Online unter: http://www.buechertreff.de/klassiker/30568-frankenstein-mary-shelley/#post181895 (17. 1. 2012); Hervorhebung im Original. Mary Wollstonecraft Shelley: Frankenstein Oder Der moderne Prometheus. Aus dem Englischen von Friedrich Polakovics. München: dtv 2008 (dtv. 62361; Reihe Hanser). Mary W. Shelley: Frankenstein. Aus dem Englischen von Friedrich Polakovics. Hrsg. von Maren Bonacker. Würzburg: Arena 2008 (Mitternachtsbibliothek).

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Jugendbüchern nicht erst seit Harry Potter lässt sich auf diese Weise weiter verstärken, muss man nun doch nicht mehr fürchten, als Erwachsener in der U-Bahn bei der Lektüre von Kinderbüchern beobachtet zu werden. Die Frage nach der ‚Sprech‘-Situation der Bedeutungsebene ‚Buch‘ blieb bisher unberücksichtigt. Betrachtet man das Buch als Gesamtzeichen, wäre der Autor für die Inhalts-, der Verlag für die Ausdrucks- und Materialseite dieses Zeichens verantwortlich. Die Metazeichentheorie belässt dem primären Text im engeren Sinn seine eigenständige Zeichenhaftigkeit, die weiterhin rekonstruierbar ist. Das (in der Regel) vom Verlag hinzugefügte sekundäre Zeichen wäre lediglich eine Anweisung zum Gebrauch, vielleicht auch zur Semiose des Primärtextes, der sich der konkrete Rezipient aber durchaus entziehen kann. Dies unterscheidet das Verhältnis von Buchgestaltung und Text von demjenigen zwischen extra- und intradiegetischem Erzählen, das ja immer schon ein hierarchisiertes ist. Meines Erachtens liegt dieser Unterschied aber weniger in der Sprechsituation und einer präsupponierten sekundären Rolle des Verlags als in der semiotischen Divergenz zwischen verbalen und nichtverbalen Zeichen.46 Wohin Entscheidungen auf der Satz- und Typographieebene semantisch führen können, soll abschließend kurz an einem Gedicht mit dem zunächst enigmatischen Titel M. L. aus Das Jahr der Seele, dem fünften publizierten Gedichtband Stefan Georges, vorgeführt werden. Die Besonderheit dieses Bandes besteht nicht nur darin, dass mit dem Erstdruck im Verlag der Blätter für die Kunst (1897)47 die vergleichsweise kurze, aber wichtige Zusammenarbeit zwischen dem Autor und dem Buchkünstler Melchior Lechter begann, sondern in der Existenz einer handgeschriebenen und gebundenen Vorstufe dieses Drucks aus demselben Jahr, einer Reinschrift, die im George-Kreis zirkulierte (und damit einen gewissen Grad an Öffentlichkeit erreichte) und Lechter als Vorlage für seine buchkünstlerische Umsetzung diente.48 Das Überraschende ist auf den ersten Blick die große Ähnlichkeit zwischen Handschrift und Druck. Sieht man einmal von der Schrift ab, einerseits eine stilisierte Druckbuchstaben-Handschrift (Abb. 6)49 und andererseits eine schmallaufende Renaissance-Antiqua (Abb. 7),50 folgt der Druck sowohl im Satzspiegel als auch in der auffälligen Farbgebung der Handschrift, die allerdings offenbar keine pure Reinschrift, sondern durchaus eine bearbeitete Fassung darstellt, wie die Korrekturen am Rand sowie das später eingefügte Gedicht H. H. unterhalb zeigen. Bis zur fehlenden Paginierung imi–––––––— 46 47 48

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Zu den Unterschieden zwischen verbalen und nichtverbalen Zeichen sowie den Positionen von (Medien-)Semiotik und Bildwissenschaft dazu vgl. Frank/Lange 2010 (Anm. 9), S. 65–70. Stefan George: Das Jahr der Seele. Berlin: Verlag der Blätter für die Kunst 1897. Vgl. Stefan George: Das Jahr der Seele. Handschrift des Dichters. Faksimiledruck in fünf Farben. Düsseldorf, München: Helmut Küpper vormals Georg Bondi 1968; auch in: Ders.: Gesamtausgabe der Werke. Faksimile und Volltext. Berlin: Directmedia 2004 (Digitale Bibliothek. 99). Von George selbst als „Stilschrift“ bezeichnet. Vgl. zur Entwicklung dieser stilisierten Handschrift sowie der angeblich davon abgeleiteten Stefan-George-(Druck-)Schrift Roland Reuß: Industrielle Manufaktur. Zur Entstehung der „Stefan-George-Schrift“. In: Stardust. Post für die Werkstatt. KD Wolff zum Sechzigsten. Hrsg. von Doris Kern und Michel Leiner. Frankfurt a. M., Basel: Stroemfeld/Roter Stern 2003, S. 166–191. Vgl. Stephan Kurz: Der Teppich der Schrift. Typografie bei Stefan George. Frankfurt a. M., Basel: Stroemfeld 2007, S. 74.

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Franziska Mayer

tiert der Druck die Handschrift und präsentiert sich beinahe als diplomatischer Druck einschließlich von Konjekturen derjenigen Elemente, die in der Vorlage aus möglicherweise textgenetischen Gründen fehlen (etwa die Fortsetzung der Farbgebung bei dem Widmungsgedicht an Hofmannsthal). Interessant ist nun der Effekt, der sich einstellt, wenn man dieses mittlere Gedicht als im textinternen Sprechakt an die Figur Melchior Lechter gerichtet erkennt. Hier kommt es nämlich zu einem metaleptischen Kurzschluss zwischen dem angesprochenen „bruder im stolz“ M. L. und dem Buchkünstler und ‚Mitautor‘ Lechter wie auch zwischen dem Sprecher-Ich des Gedichts und dem Textautor George, der die Mitautorschaft des Buchkünstlers schon von vornherein durch seine Vor-Schrift zu minimieren versucht hat. Berücksichtigt man die weitere Zusammenarbeit der beiden, führte bekanntlich die zwischenzeitliche Emanzipierung des William-Morris-Adepten Lechter (etwa beim Teppich des Lebens) letztlich zur Trennung der beiden Künstler. Damit wird das Gedicht, und zwar erst zusammen mit der Gestaltung durch Lechter, zu einem autoreflexiven Text über die Rolle von Textautor und Buchgestalter und ihre Hierarchie. Erst die Präsenz Lechters in der Materialität des von ihm geschaffenen Layouts macht die Reflexion über die Beziehung zwischen Buchkünstler und Autor, die der Text durchaus enthält und im Sinne einer Allianz gegenüber der feindlichen Umwelt („bruder im leid“) entscheidet, selbstreflexiv, wobei die Relation nun keine kooperative mehr ist, sondern zur Konkurrenz wird. Noch interessanter wird das Ganze, betrachtet man die sogenannten „öffentlichen Ausgaben“ im Verlag Georg Bondi (ab 1899, recte 1898), etwa in der 11. Auflage von 1922, also noch vor der Gesamtausgabe (1928), aber schon in der sogenannten Stefan-George-Schrift (Abb. 8).51 Obwohl man weiß, dass George auch hier die ‚Materialisierung‘ seiner Texte mitbestimmte, findet sich ein (nicht nur zeitlich erklärbarer) deutlich abweichender Satz des Textes, der nun einzeln (unten) auf der Seite steht, ohne Mehrfarbigkeit und vor allem ohne den Kontext der anderen Widmungsträger (auf der gegenüberliegenden rechten Seite steht das Hofmannsthal-Gedicht). Zwar scheint die Platzierung von M. L. auf der Seite noch dem Original zu folgen, doch ist dies hier ein Zufall, da alle Gedichte auf dieselbe Grundlinie gestellt sind. Dass die Entscheidung für die Vereinzelung der Gedichte einer Konvention des Lyrikbands und vermutlich Gesetzen des Buchmarkts wie der Buchtechnik folgt (ein Buch von 48 Seiten ähnelt eher einer Broschüre und ist kaum verkäuflich), ändert aber nichts an der Tatsache, dass sich die Stellung des Gedichts auf die Kontextualisierung und schließlich auch auf die Semantik auswirkt. Die Reihe der Widmungsträger wird unterbrochen, M. L. wird zum singulären „bruder“, der nun auch nicht mehr dezidiert buchgestalterisch präsent ist, da die Schlichtheit des Satz- und Schriftbildes keine künstlerische Beteiligung und Mitautorschaft mehr indiziert. Die Selbstreflexivität des Privatdrucks hebt sich auf, und die Konkurrenz der beiden Gestalter ist –––––––— 51

Stefan George: Das Jahr der Seele. Elfte Auflage. Berlin: Bondi 1922. PDF online unter http://ia600204.us.archive.org/3/items/dasjahrderseele00georuoft/dasjahrderseele00georuoft.pdf (17. 1. 2012). Die StG-Schrift findet in den Drucken des Bondi-Verlags seit 1904 Verwendung und wird bis zum Beginn der Gesamtausgabe 1928 immer wieder verändert. Die entsprechende Seite zeigt denn auch noch die konventionellen Formen von e und w.

Zur Konstitution von ‚Bedeutung‘ bei der Buchgestaltung

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zugleich zugunsten des Dichters entschieden, der auch nonverbal in der von ihm initiierten und nach ihm benannten Schrift präsent ist. Dazu kommt nun aber noch eine weitere Bedeutungsschicht, die vor allem im Vergleich auffällt. Trotz der für Lechter sehr reduzierten Ornamentik des Privatdrucks erscheint die Seite unter anderem wegen ihrer Farbigkeit und des Verzichts auf die Seitenzahlen viel eher als visuelles Kunstwerk, als Bild, denn als Buchseite. In der Gedichtseite der Bondi-Ausgabe hingegen mischen sich satztechnische Konventionalität einerseits (typischer Satzspiegel, Seitenzahl) und typographische Unkonventionalität andererseits (Verwendung einer Groteskschrift, die bisher vor allem im Akzidenz-, also Anzeigendruck eingesetzt worden war). Dadurch reflektiert die Materialität des Bandes den Wandel in der Buchgestaltung dieser Zeit und damit das Druckmedium Buch schlechthin. Es werden Bedeutungen, die mit der modernen Buchherstellung verbunden sind, auf der Gedichtseite mittransportiert, der Schrift- und Buchkünstler tritt zurück zugunsten der druckmaschinellen Reproduzierbarkeit. Hier scheint die Bedeutungskonstitution durch die nahezu unangefochtene Urheberschaft Georges legitimiert zu sein, wenn auch im letzteren Fall bereits die nichtauktorielle Verlagsinstanz in den Text einwandert. Betrachtet man nun aber die Publikation des Gedichts in der aktuellen Gesamtausgabe bei Klett-Cotta (Abb. 9), wandelt sich die Bedeutung des Textes abermals. Durch den Verzicht auf die StefanGeorge-Schrift, die zum Zeitpunkt der Publikation nicht zur Verfügung stand52 – die Gesamtausgabe ist in der Serifenantiqua Sorbonne der Firma Berthold gesetzt –, sowie die hängende Platzierung auf der Seite und den geringen Zeilenabstand ist nun auch der gestalterische Wille des Autors getilgt. Damit wird der Text durch die Entscheidungen der Editoren wie des Verlags (der sich vor allem bei der Satzgestaltung durchgesetzt hat)53 erneut überkodiert. Die bei den früheren Bänden im Medium enthaltene Selbstreflexivität geht nun vollends verloren. Und die der Ausgabe angefügten paratextuellen Beigaben faksimilierter Seiten der frühen Drucke geben leider gerade diese Seite nicht wieder, so dass auch keine Rekonstruktion der ursprünglichen Bedeutungsschicht mehr möglich ist. Aufgrund der Beispiele ließe sich zusammenfassend sagen, dass die materiellen Aspekte des Mediums Buch einerseits den Text vermitteln und kodieren, andererseits selbst eine Bedeutung tragen, welche die Rezeption des Textes steuert. Vor allem in jenen Fällen, in denen die Bedeutung des Materials, also der Typographie, des Satzes, des Einbands etc., die Sprechsituation des Textes betrifft, ist dann aber tatsächlich auch dessen Semantik betroffen. Das gilt für die Gattungszuordnung, falls diese Konsequenzen für die Sprechsituation hat (wie im Falle faktualer vs. fiktionaler Narration), wie auch für metaleptische Beziehungen zwischen intradiegetischen Figuren und den Kommunikatoren des Buchmediums, also Autor, Verleger und Buchgestaltern. Diese metasemiotische Funktion teilt das materielle Buchobjekt mit den (ebenfalls –––––––— 52 53

Mittlerweile hat Roland Reuß eine Digitalfassung der StG-Schrift vorgelegt, die im Institut für Textkritik, Heidelberg, erworben werden kann. Die Gestaltung der Bände übernahm Heinz Edelmann, der als Artdirektor den Beatles-Film Yellow Submarine (1968) mitgestaltete.

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Franziska Mayer

verlegerischen) Paratexten Titel, Verlag, Buchreihe und Klappentext, doch sind die beschriebenen nonverbalen Zeichensysteme vor allem durch Konventionalisierung in einer Weise semantisiert, die gerade im Buchmarketing erfolgreich genutzt werden kann.

Abbildungen

Abb. 1: Cecelia Ahern: PS: Ich liebe dich. Roman. Aus dem Englischen von Christine Strüh. Frankfurt a. M.: Krüger 2004, Einband.

Abb. 2: Katja Reuter: Welche Farbe hat die Liebe? Roman. Berlin: Ullstein 2009 (Ullstein. 28105), Einband.

Abb. 3: Mary Shelley: Frankenstein. Aus dem Englischen übersetzt von Ursula und Christian Grawe. Stuttgart: Reclam 2006 (RUB. 8357), Einband.

Abb. 4: Mary W. Shelley: Frankenstein. Aus dem Engl. von Friedrich Polakovics. Erftstadt: Area 2006 (Spannung pur), Einband.

Abb. 5: Mary Wollstonecraft Shelley: Frankenstein Oder Der moderne Prometheus. Aus dem Englischen von Friedrich Polakovics. München: dtv 2008 (dtv. 62361; Reihe Hanser), Einband.

Zur Konstitution von ‚Bedeutung‘ bei der Buchgestaltung

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Abb. 6: Stefan George: M. L. In: Ders.: Das Jahr der Seele. Faksimile der Handschrift. In: Ders.: Gesamtausgabe der Werke. Faksimile und Volltext. Berlin: Directmedia 2004 (Digitale Bibliothek. Bd. 99), S. 2280.

Abb. 7: Stefan George: M. L. In: Ders.: Das Jahr der Seele. Berlin: Verlag der Blätter für die Kunst 1897.

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Abb. 8: Stefan George: M. L. In: Ders.: Das Jahr der Seele. 11. Aufl. Berlin: Georg Bondi 1922, S. 78.

Abb. 9: Stefan George: M. L. In: Ders.: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Bd. IV: Das Jahr der Seele. Stuttgart: Klett-Cotta 1982, S. 74.

Zur Konstitution von ‚Bedeutung‘ bei der Buchgestaltung

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IV. Typografische Materialität II: Buch vs. Zeitung/Zeitschrift

Barbara von Reibnitz

Erstdrucke in Zeitungen Zur editorischen Kontextdokumentation am Beispiel von Robert Walsers Feuilletons

Die folgenden Überlegungen betreffen die editorische Dokumentation der Erstveröffentlichungskontexte von Robert Walsers Zeitungsfeuilletons. Sie wollen ihre Notwendigkeit und ihre Relevanz für die literaturwissenschaftliche Diskussion begründen und ihre Umsetzung in der Kritischen Robert Walser-Ausgabe (KWA)1 erläutern. Grundgedanke der KWA ist die editorische Konzentration auf Überlieferung, Kontext, Textgenese und Schrift. Die Ausgabe ist in sechs werkbezogenen Abteilungen und zwei weiteren Abteilungen mit Briefen und Rezeptionsdokumenten angelegt. Sie wird als Verbindung von Buch- und elektronischer Edition realisiert. Die elektronische Edition liegt der Buchausgabe in jedem Band in einer aktualisierten Version bei. Das strikt textträgerbezogene Editionskonzept besteht in der konsequenten Ausfaltung von Walsers schriftstellerischer Produktionsweise. Ein einziger ‚Text‘ Walsers wird – wenn es die Überlieferung ermöglicht – in verschiedenen Erscheinungsweisen lesbar gemacht: als Entwurf (Abt. VI), als Reinschrift (Abt. IV + V), als Zeitschriften- oder Zeitungsdruck (Abt. II + III) oder schließlich als Teil einer Buchpublikation (Abt. I). Dadurch werden die Texte in ihrer originalen Erscheinungsform miteinander vergleichbar. Sämtliche Handschriften werden in der Buchausgabe faksimiliert und mit diplomatischen Umschriften versehen. Typographie und Layout der Drucke werden in der begleitenden elektronischen Edition dokumentiert. Walsers Feuilletons werden also in den Abteilungen II und III der KWA ediert. Sie werden nach den Publikationsorganen geordnet und jeweils in chronologischer Folge wiedergegeben. Sowohl Zeitschriften als auch Zeitungen werden als Publikationskontexte beschrieben und dokumentiert, wobei sich die Informationen auf Print- und elektronische Edition verteilen. Textträgerbezogene Informationen werden in der Buchausgabe deskriptiv und summarisch gegeben, in der elektronischen Edition kann auf Faksimiles zurückgegriffen werden. Ich werde mich im Folgenden auf Robert Walsers Zeitungstexte konzentrieren und dabei den ‚Feuilleton‘-Begriff eng gefasst im Sinne des Publikationsortes in der Zeitung verstehen.2 Von den Veröffentlichungen in literarischen Zeitschriften hingegen, –––––––— 1 2

Robert Walser: Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte. Hrsg. von Wolfram Groddeck und Barbara von Reibnitz. Frankfurt a. M., Basel 2008 ff.; vgl. auch http://kritische-walser-ausgabe.ch/. Zum begrifflichen Feld s. Almut Todorow: Das Feuilleton der „Frankfurter Zeitung“ in der Weimarer Republik. Zur Grundlegung einer rhetorischen Medienforschung. Tübingen 1996 (Rhetorik-Forschungen. 8), bes. S. 6 f.; Dies.: [Art.] Feuilleton. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Tübingen 1996, Bd. 3. S. 259–266.

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Barbara von Reibnitz

die eine eigene Form der Kontextdokumentation beanspruchen,3 werde ich an dieser Stelle absehen. Nach einem Überblick über die quantitative Dimension von Walsers Veröffentlichungen in Zeitungen möchte ich einige editionsrelevante Merkmale herausstellen, die Zeitungen als Überlieferungsträger betreffen. Anschließend werde ich auf die literaturwissenschaftliche Bedeutung eingehen, die die editorische Dokumentation des Erstveröffentlichungs- und Rezeptionskontextes ‚Zeitung‘ besitzt und schließlich skizzieren, welcher Weg einer solchen Dokumentation in der Kritischen Walser-Ausgabe gewählt wurde.

1.

Robert Walsers Zeitungsfeuilletons

Robert Walser hat neben seinen drei Romanen den überwiegenden Teil seines Werks in den Feuilletons der großen deutschsprachigen europäischen Zeitungen und in den Zeitschriften der literarischen Moderne veröffentlicht.4 Seine Texte erschienen von 1898 bis 1956,5 in einem Zeitraum also, in dem die Zeitungslandschaft enormen publizistischen Veränderungen unterlag und tiefgreifende politische, soziale und kulturelle Verschiebungen spiegelt. In den beiden Jahrzehnten vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs entwickelte sich die Zeitung zum Massenmedium schlechthin; nach dem Ersten Weltkrieg führte eine gewisse Marktsättigung zu scharfer Konkurrenz unter den Zeitungen, die auch auf dem Feld des Feuilletons ausgetragen wurde, war es doch in besonderer Weise geeignet, einer Zeitung Profil zu geben und Leser zu binden. Die Effekte dieser Entwicklung sind bekannt als „Feuilletonblüte der Zwanziger Jahre“.6 Sie ist eine wichtige Voraussetzung für Walsers enorme Textproduktion, mit der er aus europäischer Randlage in Biel und vor allem Bern die Feuilletons der Metropolen Berlin, Frankfurt, Wien und Prag belieferte. Während sich seine Texte bis Ende des Ersten Weltkriegs gleichermaßen in Zeitungen wie in Zeitschriften fanden, mit klarem Vorrang der Zeitschriften, wurden in den Zwanzigerjahren die Zeitungen zum ganz überwiegenden Veröffentlichungskon–––––––— 3

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5

6

Vgl. zur spezifischen Medialität der literarischen Zeitschriften Gustav Frank, Madleen Podewski, Stefan Scherer: Kultur – Zeit – Schrift. Literatur- und Kulturzeitschriften als ‚kleine Archive‘. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 34, 2009, H. 2, S. 1–45. Die grundlegende Studie zu Walsers feuilletonistischem Werk stammt von Peter Utz: Tanz auf den Rändern. Robert Walsers „Jetztzeitstil“. Frankfurt a. M. 1998, vgl. bes. Kap. 9 (In den Feuilletonpantoffeln tanzen), S. 295–368. Walser hat seine aktive Publikationstätigkeit wie überhaupt seine schriftstellerische Arbeit 1933 eingestellt, als er in die Heilanstalt Herisau eintrat. Danach wurden bis zu seinem Tod 1956 noch früher von ihm an Redaktionen versandte Artikel publiziert, und es erschienen von seinem Vormund Carl Seelig veranlasste Veröffentlichungen. Zur Entwicklung des ‚Mediensystems‘ Zeitung vgl. Gabriele Melischek, Josef Seethaler: Die Berliner und Wiener Tagespresse von der Jahrhundertwende bis 1933. In: Die lange Geschichte der Kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung. Hrsg. von Kai Kauffmann und Erhard Schütz. Berlin 2000, S. 60–80; zu den Besonderheiten der Schweizerischen Zeitungslandschaft, in der die Neue Zürcher Zeitung eine weitgehende Monopolstellung besaß, vgl. Bernhard Echte: Das Feuilleton als Forschungsgegenstand. Propädeutische Beobachtungen. In: Littérature ‚bas-de-page‘. Le feuilleton et ses enjeux dans la société des 19e et 20e siècles – Literatur ‚unter dem Strich‘. Funktionen des Feuilletons in der Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Hans Ulrich Jost, Peter Utz und François Valloton. Lausanne 1996 (Les Annuelles. 7), S. 133–147, hier S. 136–141.

Erstdrucke in Zeitungen

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text. Es erschienen bis 1924 157 Erstdrucke in Zeitungen, in den Jahren von 1925 bis 1956 stieg die Anzahl dann auf mehr als das Doppelte. In Zeitschriften konnte Walser bis 1924 340 Texte als Erstdrucke veröffentlichen; von 1925 bis 1956 erschienen nur noch 96 Texte.7 Bis 1920 hat er auch etliche Auswahlsammlungen seiner Texte als Buchausgaben realisiert. Abgesehen von dem 1925 bei Ernst Rowohlt erschienenen Band Die Rose gelang ihm dies später nicht mehr. Zu den Zeitungen, für die er über einen längeren Zeitraum hinweg geschrieben hat, gehören als schweizerische die Neue Zürcher Zeitung (82 Texte:8 1914–1953) und der Berner Bund (56 Texte: 1898–1925), als nichtschweizerische das Berliner Tageblatt (72 Texte: 1907–1908, 1925–1933), die Frankfurter Zeitung (34 Texte: 1907, 1919– 1931), die Prager Presse (205 Texte: 1925–1937) und das Prager Tagblatt (55 Texte: 1907–1937). Daneben gab es eine Vielzahl von Zeitungen, in denen nur gelegentlich oder über kürzere Zeiträume Texte von ihm zu lesen waren. Wir kennen bisher ca. 23 deutsche, schweizerische und österreichische Zeitungen, in denen Erstdrucke erschienen sind, hinzu kommen noch etwa 40 Zeitungen, in denen sich ausschließlich Zweitdrucke finden. Viele Zeitungen, die Texte erstveröffentlichten, druckten daneben auch bereits andernorts erschienene Texte nochmals ab, so der Berliner Börsen-Courier, das Leipziger Tageblatt, die Vossische Zeitung und andere mehr. Insgesamt realisierte sich Walsers Werk so in einer enormen Zerstreuung, die jedoch zugleich einen weiten Rezeptionsraum etabliert hat: in den Zwanzigerjahren war er in der mitteleuropäischen Zeitungslandschaft gut repräsentiert.

2.

Zeitungen als Überlieferungsträger

Als editionsrelevante Überlieferungsträger sind Zeitungsdrucke, soweit ich sehe, bislang noch nicht hinreichend thematisiert worden. Drei Qualifizierungen seien hier vorschlagsweise herausgearbeitet, die die materiale und mediale Differenz zu Buchund Zeitschriftendrucken verdeutlichen sollen. Robert Walser hat der Gestalt, in der seine Texte veröffentlicht wurden, große Aufmerksamkeit gewidmet. Dies gilt insbesondere für seine Bücher, um deren Satzbild und Typographie er sich intensiv bemüht hat. Es gilt auch für die Zeitschriften, in denen er publizierte und deren Erscheinungsbild er kritisch beobachtete. In beiden Fällen war er um die sorgfältige Korrektur seiner Texte besorgt, wie seine Korrespondenz vielfach belegt. Bei den Zeitungsdrucken war die Situation anders. Hier hatte er nicht nur keinen Gestaltungseinfluss, sondern die Entscheidung über den Zeitpunkt der Veröffentli–––––––— 7

8

Die hier angegebenen Zahlen stammen aus der Datenbank der Kritischen Robert Walser-Ausgabe und entsprechen dem augenblicklichen Kenntnisstand. Die Suche nach unbekannten Walser-Drucken und Publikationsorten wird editionsbegleitend fortgesetzt; für Hinweise an [email protected] sind wir dankbar. Unser Kenntnisstand ist dem ‚Findbuch‘ sämtlicher Walser-Drucke und -Manuskripte zu entnehmen, das in aktualisierter Version auf der DVD der elektronischen Edition (KWAe) in jedem Band der Ausgabe zu finden ist. Durch Obertitel zu Textgruppen zusammengefasste Texte wurden hier und im Weiteren einzeln gezählt.

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Barbara von Reibnitz

chung wie auch über die Platzierung, also über den Kontext, war ihm ebenso entzogen wie die Textgestaltung als solche. Über Schreibweise und Absatzgliederung befand das Zeitungslektorat, vielfach griff auch der Redakteur redigierend in Wortlaut und Umfang der Texte ein. Anders als bei Zeitschriftendrucken erhielt der Autor keinen Korrekturabzug. Zeitungsdrucke sind von daher schwach autorisierte Drucke (1. Qualifizierung). Hinzu kommt die schwer überschaubare Zweitdruckstreuung von Texten. Der enorme Textbedarf in den Feuilletons der überregionalen, aber auch der regionalen Tagespresse führte dazu, dass Agenturen und Zeitungskorrespondenzen als Zwischenhändler und Distributeure eingeschaltet wurden.9 In größeren Konzernen waren mehrere Tageszeitungen unter einem Dach vereinigt,10 wobei davon auszugehen ist, dass Texte auch zwischen den Redaktionen kursierten. Texte von Walser wurden in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre oftmals mehrfach in verschiedenen Zeitungen gedruckt – in der Mehrzahl der Fälle, ohne dass für uns die Wege nachvollziehbar sind, auf denen die Texte in die Redaktionen gelangten: Hat Walser selbst den Druck veranlasst oder genehmigt, hat er eine Druckvorlage geschickt, waren Agenturen an der Distribution beteiligt? Walsers Zusammenarbeit mit Agenturen ist als solche bekannt, konkrete Belege für seine Kontakte sind jedoch rar.11 Die Zweitdrucke variieren in nicht zu systematisierender Weise: Neben den Abweichungen im orthographischen Reglement der Redaktionen, das keineswegs überall konsequent eingehalten wurde, sind dafür die Textänderungen der Redakteure verantwortlich, die teils stark in die Texte eingriffen, sei es, dass sie ‚verbesserten‘, sei es, dass sie Helvetismen und mundartliche Wendungen eindeutschten und dass sie kürzten. Diese Textänderungen wurden in der Regel ohne Wissen oder Zustimmung des Autors vorgenommen – auch von ‚passiver Autorisierung‘ kann hier kaum sinnvoll die Rede sein. Zeitungstexte sind also ‚unfeste‘ Texte (2. Qualifizierung). Ihre Überlieferung ist daher so vollständig wie möglich zu dokumentieren. Zeitungen werden für den Tag produziert, ihre Nachrichten sind Tagesware von rasch sich verzehrender Aktualität; das hat Auswirkungen auch auf das Feuilleton und seine Texte, für die Ephemerizität ohnehin schon als Gattungsmerkmal gilt.12 Diese Ephemerizität radikalisiert sich, wenn das Feuilleton nicht nur täglich, sondern auch –––––––— 9

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11 12

Vgl. Johannes Bergmann: Die Feuilleton-Korrespondenzen. Phil.-Diss. (masch.) Leipzig 1922; Todorow 1996 (Anm. 2), S. 59 f.; Andreas Graf: Feuilleton-Korrespondenzen (1871–1939). Publizistische Anfänge des literarischen Vermittlungswesens in Deutschland. In: Buchhandelsgeschichte 2002, H. 2, S. B 55–64. Die vier größten Berliner Zeitungsverlage (Ullstein, Mosse, Scherl/Hugenberg, Vorwärts/Münzenberg) besetzten von 1914–1932 konstant ca. 70 % des Marktes; vgl. Melischek/Seethaler 2000 (Anm. 6), S. 60–80, hier S. 68. Das Berliner Tageblatt beanspruchte in seinen Autorenverträgen das Recht, Texte ohne besondere Vergütung in der Berliner Morgenzeitung und in der Berliner Volkszeitung zweitzuverwerten; vgl. KWA III 1: Drucke im Berliner Tageblatt. Hrsg. von Hans-Joachim Heerde. 2013, Dokumentarischer Anhang, Dok. 1 (Auszug aus einem Autorenvertrag, abgedruckt in: Die Feder. Halbmonatsschrift für die deutschen Schriftsteller und Journalisten, Jg. 10, Nr. 181, 1. 1. 1907, S. 1668 f.). Vgl. hierzu Hans-Joachim Heerde: Robert Walser und der Allgemeine Schriftstellerverein (ASV). In: Mitteilungen der Robert Walser-Gesellschaft 17, 2010, S. 16–24. Zur Debatte über den Status des Feuilletons zwischen Literatur oder ‚Tagesware‘, die so alt ist wie dieses selbst, vgl. Utz 1998 (Anm. 4), S. 358–368.

Erstdrucke in Zeitungen

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ausgabenweise ausgewechselt wird wie etwa in den Lokal- und Fernausgaben der großen überregionalen Zeitungen. Zeitungstexte sind also flüchtig präsente Texte (3. Qualifizierung). Die genannten Merkmale der schwachen Autorisierung, der Unfestigkeit und der flüchtigen Präsenz machen deutlich, dass es in den meisten Fällen keine editionsphilologisch zu priorisierende Textfassung gibt. Die Relationierung als Erst- und Zweitdrucke muss, wo nicht Manuskripte, briefliche Zeugnisse oder andere Anhaltspunkte vorliegen, vorläufig bleiben – im Falle Walsers ist dies die Regel. Umso wichtiger ist es, die Varianten sämtlicher Überlieferungsträger möglichst vollständig zu erfassen, da allein ihr Ensemble den zwischen den Redaktionen und im Netz der Distributeure flottierenden Text bezeugt. Zugleich dokumentieren die unterschiedlichen Zeitungsdrucke den ursprünglichen Rezeptionszusammenhang. Die Texte, die nicht nochmals in einer der von Walser veranstalteten Buchsammlungen präsent waren, konnten zeitgenössische Leser nur in der Textgestalt lesen, die die ihnen zugänglichen Zeitungen vermittelten. Dass diese Textgestalt von sehr unterschiedlicher Qualität war, soll abschließend an zwei Beispielen gezeigt werden (s. Abschnitt 5). Aber nicht allein der Text, sondern auch sein kontextuelles Umfeld unterschied sich in den jeweiligen Zeitungsdrucken aus Prag, Berlin, Köln und anderswo.13 Wenn es richtig ist, dass dieses kontextuelle Umfeld die Textlektüre assoziativ beeinflusst hat, dürften die damit gegebenen unterschiedlichen Rezeptionsvoraussetzungen für Walsers Texte die literarische Publizität dieses Autors wesentlich mitbestimmt haben. Zugleich lässt sich bemerken, dass Walser seine Feuilletons durchaus mit Blick auf seine unterschiedlichen Leserschaften differenziert hat: Er hat für das Züricher Publikum anders und anderes geschrieben als für die Leserschaft in Berlin oder Prag.14 Für die Erarbeitung der Kritischen Ausgabe bedeutet dies, dass eine möglichst vollständige Sammlung aller Überlieferungsträger zu unternehmen ist. Nachdem Jochen Greven für seine Gesamtausgabe15 eine enorme Zahl von Zeitungsdrucken aus der Zerstreuung gesammelt hat, wurden noch etliche unbekannte Erst- und Zweitdrucke gefunden, und die Suche wird editionsbegleitend fortgesetzt.16 Da sie mit hohem Rechercheaufwand verbunden ist, werden editionsrelevante Textfunde, um den Fort–––––––— 13

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Die Ausbildung eines „regional distinkten Feuilletonstils“, der durch die Gleichzeitigkeit von Internationalität und Lokalität geprägt war, hat Günther Oesterle als wichtigen Faktor in der Entwicklungsdynamik der Zeitungen und ihrer „Metropolenfähigkeit“ herausgestellt: Günther Oesterle: „Unter dem Strich“. Skizze einer Kulturpoetik des Feuilletons im neunzehnten Jahrhundert. In: Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra. Hrsg. von Jürgen Barkhoff, Gilbert Carr und Roger Paulin. Tübingen 2000, S. 229–250, hier S. 245 f. Vgl. Barbara von Reibnitz: Feuilletons für Zürich, Berlin, Frankfurt und Prag. Zum druckortbezogenen Editionskonzept der Kritischen Robert Walser-Ausgabe. In: Zeitschrift für Germanistik 22, 2012, H. 3, S. 581–598. Robert Walser: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hrsg. von Jochen Greven. Frankfurt a. M. 1985 f. (SW). Eine Reihe von Neufunden verschiedener Walser-Forscher versammelt der Band: Robert Walser: Feuer. Unbekannte Prosa und Gedichte. Hrsg. von Bernhard Echte. Frankfurt a. M. 2003; über neue Funde informieren regelmäßig seit 1997 die Mitteilungen der Robert Walser-Gesellschaft. Dort werden auch die im Rahmen der KWA ermittelten Textnachweise fortlaufend mitgeteilt.

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Barbara von Reibnitz

gang der Edition nicht zu verzögern, nachtragsweise veröffentlicht werden. Die elektronische Edition wird diesen Nachteil jedoch auffangen, indem sie neue Nachweise in die jeweils aktualisierte Version des Findbuchs integrieren kann.

3.

Die literaturwissenschaftliche Relevanz des Publikationskontextes Zeitung

Für die neuere Feuilletonforschung bildet der Einbezug des medialen Kontextes, den die Zeitung als Ganze für die in ihr versammelten Artikel bildet, eine weitgehend geteilte Grundvoraussetzung. Es herrscht – jedenfalls in der Theorie – Übereinstimmung darüber, daß das Feuilleton nicht aus seinem komplexen Beziehungsgefüge gerissen werden darf. Das Feuilleton selbst muß als ein Ort der Vermittlung untersucht werden, an dem sich Literatur, Publizistik, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik wechselseitig durchdringen. Darin besteht das Problem, aber auch die Erkenntnischance der Feuilleton-Forschung.17

Das hielt Kai Kauffmann in seiner etwas mehr als zehn Jahre zurückliegenden Analyse des Forschungsstands fest. Die Einsicht, dass Kontextualiät für die Poetologie des Feuilletons als gattungstheoretisch schwer festzulegender ‚Kleiner Form‘ konstitutiv ist, teilt auch die Literaturwissenschaft,18 sei es in eher medienwissenschaftlich akzentuiertem Interesse,19 sei es im Hinblick auf die literarische Form,20 aber auch in interkulturell vergleichender Perspektive.21 Dennoch besteht an eingehenden kontextuellen Studien und Interpretationen zu den Texten der großen literarischen Feuilletonisten noch immer ein augenfälliger Mangel22 – dies wohl nicht zuletzt auch aufgrund fehlender Textgrundlagen.23 Wo –––––––— 17

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Kai Kauffmann: Zur derzeitigen Situation der Feuilleton-Forschung. In: Die lange Geschichte der Kleinen Form 2000 (Anm. 6), S. 10–24, hier S. 12; die Zeitschrift für Germanistik widmet sich in Jg. 22, 2012, H. 3 (hrsg. von Hildegard Kernmayer, Barbara von Reibnitz und Erhard Schütz) mit einem Schwerpunkt zur Feuilletonforschung und einer Übersicht über laufende Projekte der seitherigen Entwicklung. Vgl. Die kleinen Formen in der Moderne. Hrsg. von Elmar Locher. Innsbruck u. a. 2001; Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne. Hrsg. von Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel und Dirk Göttsche. Tübingen 2007. Wegweisend in mehrere Richtungen war hier Todorow 1996 (Anm. 2); einen Querschnitt neuerer Studien vermittelt der Band: Die lange Geschichte der Kleinen Form (Anm. 6). Vgl. zuletzt Hildegard Kernmayer: „Unsterblichkeit des Tages“ oder „interdiskursives Sprachspiel“? Gattungshistorisches und Gattungstheoretisches zur Frage: Was ist ein Feuilleton. In: Feuilleton – Essay – Aphorismus. Nicht-fiktionale Prosa in Österreich. Hrsg. von Sigurd Scheichl. Innsbruck 2008 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe. 71), S. 45–66; Dies.: Sprachspiel nach besonderen Regeln. Zur Gattungspoetik des Feuilletons. In: Zeitschrift für Germanistik 22, 2012, H. 3, S. 509–523. Vgl. z. B. Grenzdiskurse. Zeitungen deutschsprachiger Minderheiten und ihr Feuilleton in Mitteleuropa bis 1939. Hrsg. von Sibylle Schönborn. Essen 2009. Vgl. Erhard Schütz: „Ich zeichne das Gesicht der Zeit“. Skizzen zu Feuilleton und Feuilletonforschung aus der und zu der Zeit von 1918 bis 1945. In: Die lange Geschichte der Kleinen Form 2000 (Anm. 6), S. 177–188, hier S. 178 f. Matthias Nöllke hat in seiner Untersuchung zu Daniel Spitzers Wiener Spaziergängen exemplarisch und mit enormem Rechercheaufwand die Funktion des Zeitungskontextes für das Feuilleton und umgekehrt die Funktion des Feuilletons im ‚Textsystem‘ Zeitung untersucht: Matthias Nöllke: Daniel Spitzers

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Textsammlungen noch immer der Rekonstruktion eines Werkzusammenhangs verpflichtet sind, wird der Blick auf die feuilletonistische Textgenese verstellt: zwischen „Buchdeckeln lesen sich die Feuilletons anders als verstreut in den Bleiwüsten der Zeitungen: Der Einzeltext verliert an Querbezügen zu seinem Zeitkontext, was er im ‚Gesamtwerk‘ an werkinternen Bezügen gewinnt.“24 Peter Utz hat dies in seinem Buch über Robert Walsers „Jetztzeitstil“ in exemplarischen Analysen untersucht und gezeigt, wie weit und vielschichtig diese Bezüge sind: im Vokabular, in der Motivik, in der Rhetorik eignen Walsers Texte sich ihren Erscheinungskontext produktiv an, ja spielen mit ihm in ironischer Mimikry.25 Dies gilt für Robert Walsers Zeitungsfeuilletons in zugespitzter Weise. Denn der Veröffentlichungskontext ist diesen Texten nicht äußerlich geblieben, vielmehr hat er sie in mehrfacher Hinsicht, formal und inhaltlich, bestimmt. Robert Walser hat, radikaler vielleicht als andere seiner literarischen Kollegen, etwa Kafka, Musil, Hesse oder Roth, auf die Produktionsbedingungen und den Erscheinungskontext seiner Texte reagiert, d. h. er hat seine Texte reagieren lassen: spielerisch, sich abgrenzend, autoreferentiell, kaum ein Text, der auf seinen Kontext nicht explizit oder implizit Bezug nimmt. Walser hat eine große Zahl der Textsorten bedient, die Wilmont Haacke in seinem Handbuch des Feuilletons aufzählt: Anekdote, Aufsatz, Betrachtung, Brief, Buchkritik, Causerie oder Plauderei, Dialog, Erzählung, Essay, Gedicht, Geschichte, Gespräch, Glosse, Groteske, Kleine Prosa, Kunstkritik, Märchen, Musikkritik, Nachricht, Nachruf, Novelle, Plauderei, Porträt, Reisebericht, Skizze, Tanzkritik, Theaterkritik.26 Er hat sie allerdings als geschlossene Formen immer auch unterlaufen, miteinander vermischt, sprachgestisch apostrophiert und in die eigentümliche Mehrstimmigkeit seiner Kleinen Prosa transponiert.27 Zugleich bestimmen die medialen Vorgaben des Zeitungsfeuilletons Walsers Stil: Das gilt für die häufige Leseranrede, die subjektive Einfärbung, den Ich-Stil, wobei er bestimmte Merkmale der Gattung, wie die Autoreferentialität, in augenfälliger Weise radikalisiert hat. Neben offenen Bezugnahmen sind sehr häufig auch verdeckte, erst zu rekonstruierende Bezüge zu bemerken. Dies gilt zumal für die Texte, die für sich genommen als idyllisierende, stilisiert-antiurbane, ja weltabgewandte Genre-Stücke, Impressionen und Beobachtungen lesbar sind, wie eine große Zahl von Texten, die zwischen 1914 und 1918 in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) erschienen sind – die aber durch den Blick auf den Nachrichtenkontext, gegen den der feuilletonistische Strich sie absetzt, eine assoziative Rahmung erhalten, die eine gegenteilige Lektüre nahelegt und sie –––––––— 24 25 26

27

Wiener Spaziergänge. Frankfurt a. M. 1994 (Münchner Studien zur literarischen Kultur in Deutschland. 20). Utz 1998 (Anm. 4), S. 296. Utz 1998 (Anm. 4), S. 295–368, bes. S. 311–339. Wilmont Haacke: Handbuch des Feuilletons. 3 Bde. Emsdetten 1951–1953, Bd. 2, S. 139–286; vgl. kritisch zur feuilletonistischen Spezifik der insgesamt 77 von Haacke als „literarische und journalistische Gattungen“ rubrizierten Textsorten Todorow 1996 (Anm. 2), S. 26. Das hat Jochen Greven vielfach herausgearbeitet; vgl. etwa Jochen Greven: Robert Walser, Figur am Rande in wechselndem Licht. Frankfurt a. M. 1992, bes. S. 22 f.

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Barbara von Reibnitz

teils ex negativo als subtile Kritiken an den politischen Verhältnissen und am Zeitgeschehen wahrnehmbar werden lässt. Der Text Denke dran28 beispielsweise, mit dem Walser am 29. 11. 1914 sein Debüt im Feuilleton der NZZ gab, formuliert ein auf den ersten Blick ganz privat entfaltetes Memento mori. Doch die Kriegsnachrichten „über dem Strich“, die in dieser Ausgabe der Zeitung, wie auch sonst täglich, den Hauptinhalt der Berichterstattung bilden, stellen den Schluss des Textes in einen bitter-allgemeinen, aktuellen Assoziationszusammenhang: „Denke, daß es ein Leben gibt, und daß es einen Tod gibt, denke, daß es Seligkeiten gibt, und daß es Gräber gibt. Sei nicht vergeßlich, sondern denke dran!“ Eine vergleichbare indirekt-kritische Kontextbezüglichkeit ist für die überwiegende Zahl seiner während der Kriegsjahre in Zeitungen veröffentlichten Texte zu rekonstruieren. Zu den intendierten, offenen und verdeckten Bezugnahmen kommen die aus Autorperspektive unbeabsichtigten Kontext-Bezüge, die gleichwohl die Lektüre mitbestimmen und den Texten ein für den Autor unkalkulierbares Assoziationsfeld öffnen. Dazu gehört einerseits die gezielte Platzierung durch den Redakteur, andererseits der kontingente Rahmen der täglichen Nachrichten. Das Feuilleton steht zwar in der Mehrzahl der großen Tageszeitungen unter dem Strich, es gehört jedoch zu seiner Eigenart, ja es ist geradezu dazu disponiert, diesen zu überspringen. Die Relevanz dieser kontextuellen Bezüge in ihren verschiedenen Spielarten für die literaturwissenschaftliche Interpretation dürfte auf der Hand liegen. Sie ist auf der inhaltlichen Ebene unabweisbar. Von allen inhaltlichen Aspekten abgesehen aber ist Kontextualität die grundsätzliche Voraussetzung für die spezifische Literarizität der Feuilletontexte Robert Walsers. Sie kommunizieren nicht nur in Sprache, Stil und Motivik mit ihrem medialen Erscheinungskontext, dem Massenmedium Zeitung, sie grenzen sich zugleich gegen ihn ab, insofern sie immer als in sich stehende Einzeltexte geschrieben wurden und gelesen werden konnten. Gegen das alltägliche Nachrichten-Allerlei, auf das sie durchaus inhaltlich Bezug nehmen, setzen sie den Eigensinn der literarischen Textform – einen Eigensinn, der sich jedoch erst entfaltet, wenn wahrnehmbar ist, wovon er sich abgrenzt. Hinzu kommt noch eine besondere werkimmanente, poetologische Bezüglichkeit in Walsers schriftstellerischer Arbeitsweise, die die Walser-Forschung ebenfalls schon seit langem gesehen hat, die jedoch bisher nicht systematisch befragt werden konnte. In der Zeit seiner intensiven Textproduktion für das Feuilleton hat Walser Entwurfstexte in schwer lesbarer Bleistift-Kleinstschrift verfasst und daraus nach einem „büreauhaften Abschreibesystem“29 Reinschriftmanuskripte für den Versand an Redaktionen gewonnen. Häufig fand eine Mehrzahl solcher Entwürfe auf einem einzigen Textträger Platz. Sie bilden, wie man neuerdings gesehen hat, untereinander –––––––— 28

29

Robert Walser: Denke dran. In: Neue Zürcher Zeitung, Jg. 135, Nr. 1589, 29. 11. 1914, 1. Sonntagblatt, S. [1]–[2]; SW (Anm. 15), Bd. 16, S. 376 f.; vgl. KWA III 3: Drucke in der Neuen Zürcher Zeitung. Hrsg. von Barbara von Reibnitz und Matthias Sprünglin. 2013. Robert Walser an Max Rychner (Neue Schweizer Rundschau), 20. Juni 1927. In: Robert Walser: Briefe. Hrsg. von Jörg Schäfer unter Mitarbeit von Robert Mächler. Zürich 1979, S. 300.

Erstdrucke in Zeitungen

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assoziative Konstellationen,30 die erst eine integrale Dokumentation erschließen kann. Sie soll in der den Mikrogrammen vorbehaltenen Abt. VI der KWA realisiert werden. In unserem Zusammenhang interessant ist, dass die mikrographischen Entwurfstexte oft explizite Bezüge formulieren, die Walser bei der Abschrift wieder verdeckt hat.31 Und häufig schafft er sich hier als Autor Luft von den Zwängen, denen seine Schriftstellerei für die Zeitung unterworfen war, in Polemiken, in Invektiven gegen bestimmte Redakteure, in Mundartlichkeiten, in drastischen Szenen – eine Schreibgestik, die ins Verhältnis zu setzen ist zu den Produktionsbedingungen seines publizistischen Feldes. Walser führt diese Gestik so weit, dass er, wie Werner Morlang gezeigt hat,32 hier und da in der graphischen Anordnung seiner Entwurfstexte in einzelnen, an Zeitungsspalten erinnernden Schriftkolumnen die Mise en page der Zeitungen imitiert, wobei er das Rollenspiel umkehrt und selbst zum Redakteur wird, der über „Abweisung und Weiterbearbeitung seiner eigenen Bleistifttexte souverän entscheidet.“33 Es gibt also, um zusammenzufassen, unterschiedlich gelagerte Begründungen für eine kontextdokumentierende Edition der Walser’schen Zeitungsfeuilletons: 1. Kontextualisierung als Aufgabe einer kritischen Edition, die ‚historischästhetische‘ Eigenart der Texte resp. der Textfassungen zu erschließen. 2. Die spezifische, dem Publikationskontext ‚Zeitung‘ abgewonnene, auf ihn reagierende Literarizität der Walser’schen Texte. Sie wahrzunehmen verlangt einerseits die konsequente Lektüre der Texte als Einzeltexte, als die sie verfasst wurden, andererseits den Blick auf den Kontext, in dem sie erschienen sind und zu dem intendierte oder zufällige Querbezüge systematisch zu rekonstruieren sind. 3. Hinzu kommt in allen Fällen, in denen Walser seine Texte in Sammlungen integriert hat, die werkdynamische Perspektive, die es erlaubt, im Vergleich mit dem Erscheinungszusammenhang des Erstdrucks über die Veränderungen nachzudenken, die ein Text in der neuen Textkonstellation der Sammlung erfährt. 4. Die werkimmanente, poetologische Perspektive: die Ermöglichungsfunktion der Entwürfe im mikrographischen ‚Bleistiftgebiet‘ wird meist erst aus den (zu rekonstruierenden) Kontextbezügen ersichtlich, die der Autor Walser so sorgfältig verdeckt oder auch überschrieben hat. 5. Die rezeptionsgeschichtliche und medienwissenschaftliche Perspektive: Neben den autor- und textbezogenen Gesichtspunkten, die für die Dokumentation des Zeitungskontextes sprechen, ist die Rekonstruktion des zeitgenössischen Rezeptionszusammenhangs in den unterschiedlichen Zeitungen mit ihren besonderen –––––––— 30

31

32 33

Vgl. Wolfram Groddeck: „Weiß das Blatt, wie schön es ist?“ Prosastück, Schriftbild und Poesie bei Robert Walser. In: Text. Kritische Beiträge 3, 1997, S. 23–41, und Ders.: Gedichte auf der Kippe. Zu Robert Walsers Mikrogrammblatt 62. In: Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur. Hrsg. von Davide Giuriato und Stephan Kammer. Basel, Frankfurt a. M. 2006, S. 239–268. Vgl. Christian Walt: „O, Goldfabrikant samt deiner hilfreichen Hand, wie bedächtig las ich dich!“ Kontext und Dekontexualisierung in Robert Walsers ‚Bleistiftmethode‘. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 83, 2009, S. 472–484. Werner Morlang: Melusines Hinterlassenschaft. Zur Demystifikation und Remystifikation von Robert Walsers Mikrographie. In: runa 21, 1994, S. 81–99, hier S. 96. Utz 1998 (Anm. 4), S. 355.

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Barbara von Reibnitz

Profilen und ihren bestimmten Leserschaften von grundlegendem literarhistorischen Interesse.

4.

Editorische Dokumentation in der KWA

Ein integral vergleichender, die Medialität ebenso wie die Materialität ihrer Überlieferung einbeziehender Blick auf Walsers Texte war bisher systematisch noch nicht möglich. In der maßgeblichen, von Jochen Greven veranstalteten Ausgabe der Sämtlichen Werke34 finden sich die Texte in der Regel in der Fassung letzter Hand, d. h. Texte, die Walser in eine seiner Buch-Sammlungen aufgenommen und dabei teilweise auch stark umgearbeitet hat, sind bis auf wenige Ausnahmen nur in dieser Fassung lesbar. Drucke werden nicht von Handschriften gesondert ediert, sondern, nach Themengruppen geordnet, mit unveröffentlichten Manuskript-Fassungen gemischt. Um dem in der Regel kontingenten, immer aber die Texte assoziativ rahmenden und sie damit extern semantisierenden Zeitungskontext editorisch Rechnung zu tragen, haben wir uns zum druckortbezogenen Ordnungsprinzip entschlossen. In der KWA werden, wie eingangs beschrieben, die Texte derjenigen Zeitungen, in denen ein größeres Konvolut von Texten erschienen ist (Berliner Tageblatt, Der Bund, Neue Zürcher Zeitung, Prager Presse und Prager Tagblatt) in je einem eigenen Band vollständig ediert. Durch dieses Ordnungsprinzip wird Walsers Textproduktion in diachronen Ausschnitten für die unterschiedlichen Leserschaften im deutschsprachigen Europa überschaubar und in ihrem jeweiligen Rezeptionszusammenhang lesbar und vergleichbar. Die Fokussierung auf den Publikationsort macht es möglich, die Textkonvolute auf bestimmte Publikationsrahmen und Adressatenkreise zu beziehen und auf unterschiedliche Schreibstile und -formen hin zu untersuchen. Damit soll nicht impliziert werden, dass Walser seine Feuilletons durchgängig und unmittelbar rezeptionsstrategisch verfasst habe. Auswahl und Platzierung waren zuletzt immer redaktionelle Entscheidung. Doch die Erstdruck-Angebote, die der Autor machte, waren in der Regel von seiner Kenntnis des Publikationsortes bestimmt. Gerade ihre Streuung hat es Walser ermöglicht, die jeweiligen Adressaten, Leser wie Redakteure, auch spielerisch-ironisch miteinander in Beziehung zu bringen – ohne dass dieses Spiel allen Beteiligten gleichermaßen durchschaubar gewesen sein dürfte. Es gehörte zu den Strategien, durch die der Autor seine Souveränität als literarisches Subjekt gegenüber der flüchtigen Aktualität zu behaupten suchte, die der Publikationsform seiner Texte innewohnte. Alle übrigen Zeitungen, in denen Walser nur vereinzelt oder über kürzere Zeiträume publiziert hat, werden in einem gemeinsamen Band vereinigt. Die elektronische Edition enthält die Faksimiles sämtlicher Zeitungsdrucke und dokumentiert die Varianten sämtlicher Drucke jeweils bei den Erstdrucken. Alle edierten Textabdrucke werden durch eine Kontextseite eingeleitet, die sie als Einzeltexte in ihrem ursprünglichen Veröffentlichungszusammenhang wahrnehmbar werden lässt. Auf ihr wird jeweils die erste Zeitungsseite, auf der die politischen Schlagzeilen den historischen –––––––— 34

SW (Anm. 15).

Erstdrucke in Zeitungen

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Zeitkontext angeben, sowie diejenige Seite, auf der sich der Feuilletontext findet, schematisch ‚kartographiert‘ und mit einer Inhaltslegende versehen. Das Faksimile der Zeitungsseiten kann in der elektronischen Edition eingesehen werden. Zwei Beispiele mögen die editorische Problematik von Walsers Zeitungsdrucken illustrieren. Sie stammen beide aus dem Band, der Robert Walsers Texte in der NZZ versammel.35 (Das kartographische Schema der Zeitungsseite ist hier nicht mitgegeben.) 1. Der Text Das Kätzchen erschien zuerst am 15. Mai 1921 in der NZZ. Er wurde 1929, also acht Jahre später, von fünf Zeitungen nochmals gedruckt. Die Drucke weichen alle sowohl voneinander als auch vom Erstdruck in der NZZ ab. Welcher Druckvorlage sie folgen, ist nicht belegt. Ein Manuskript ist nicht erhalten. Ulrich Stadler hat in einer subtilen Interpretation gezeigt, mit welchen Mitteln Walser hier seinen Text, von ihm selbst am Ende als „Skizze“ bezeichnet, die „ein wenig schnurrig“ sei, eine poetische Mimesis des verspielten und drolligen, eben „schnurrigen“ Kätzchens vollziehen lässt, das zu „zeichnen“ er zu Beginn versprach. Eine Mimesis, in die er im letzten Erzählabschnitt auch sich selbst autoreferentiell einbezieht.36 Diese artistische Dimension des Textes, die im höchst kunstvoll geknüpften Zusammenhang scheinbarer Zusammenhangslosigkeiten liegt, wurde in einigen Zweitdrucken durch massive redaktionelle Eingriffe im wörtlichen Sinne ‚weggekürzt‘. Die Leser der Saarbrücker Zeitung konnten den Schlussabschnitt und damit die autoreferentielle Pointe des Textes nicht lesen. In der Deutschen Zeitung Bohemia war diese Pointe verstümmelt gedruckt. In der Kasseler Post wurde sowohl der Schluss als auch die Fügung des Textes so massiv gekürzt, dass man sich fragen muss, ob hier nicht ein anderer Text entstanden ist.37 Für die zeitgenössische Rezeption standen nur diese Drucke zur Verfügung. Ihre Varianz veranschaulicht die Fragilität und die Ausgesetztheit literarischer Textproduktion in der Zeitungslandschaft. 2. Der Text Table d’Hôte erschien zuerst am 4. Juli 1926 in der NZZ und wurde drei Jahre später von zwei verschiedenen Zeitungen nochmals gedruckt. Auch diese Zweitdrucke sind in ihrer Varianz unabhängig voneinander. Das Interessante an diesem Fall ist jedoch, dass kein Druck den vollständigen Text bietet. Der Druck der NZZ, der nach heutiger Kenntnis als Erstdruck gelten muss, enthält einen Abschnitt, der in beiden Zweitdrucken fehlt (vgl. Anm. 8 zu diesem Text unten), während der Zweitdruck der Königsberger Hartungschen Zeitung einen Abschnitt enthält, der weder im Erstdruck der NZZ noch im Zweitdruck in der Deutschen Zeitung Bohemia zu lesen ist (vgl. Anm. 11 zu diesem Text unten). Ein Manuskript ist nicht erhalten. Beide Abschnitte sind jedoch im mikrographischen Entwurf38 vorhanden. In diesem –––––––— 35 36

37 38

KWA III 3 (Anm. 28). Ulrich Stadler: Über zweierlei Arten des Umgangs mit Zukunftslosigkeit. Robert Walsers und Franz Kafkas Prosastücke „Das Kätzchen“ und „Eine Kreuzung“. In: Franz Kafka und Robert Walser im Dialog. Hrsg. von Vesna Kondrič. Berlin 2010, S. 41–63, hier bes. S. 42–46. Dies lässt sich auch für die Mehrzahl der insgesamt acht bislang bekannten Zweitdrucke von WalserTexten in der Kasseler Post beobachten. Mkg. 174 I (Robert Walser-Archiv, Bern; unveröffentlicht, es wird integral in KWA Abt. VI ediert werden).

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Barbara von Reibnitz

Fall wird also sowohl der Text der NZZ wie auch der der Königsberger Hartungschen Zeitung integral ediert werden – ein Sonderfall bislang, der jedoch besonders treffend illustriert, was ich als die schwache Autorisierung, die Unfestigkeit und die Flüchtigkeit von Walsers Zeitungstexten bezeichnet habe.

5.

Zwei editorische Fallbeispiele1

Robert Walser: Das Kätzchen. In: Neue Zürcher Zeitung, Jg. 142, Nr. 712, Sonntag, 15. 5. 1921, 4. Blatt, S. [1] °

Das Kätzchen.

Von Robert Walser Was gab es für einen schönen Regenbogen, die Welt so zart, alles so glänzend, aber ich will von2 was3 anderem reden.4 Ich dachte heute an nichts5 als an ein Kätzchen. Ist das nicht total belanglos? Ich geb’ es zu, aber Nebensächlichkeiten sind oft wie Sonnenschein. Ich sah das Kätzchen schon gestern, jetzt zeichne ich es.6 Von Farbe ist es gestreift wie ein Tigerchen. Gähnen kann es prächtig, ganz wie jemand, der sich langweilt. Wie sprang es herum, bald war’s7 in der |Küche, bald im Eßzimmer, bald im Salon.8 Klubsessel9 und Plüschsofas10 gefallen ihm sehr. Alle11 schenkten ihm eine Aufmerksamkeit, die der Sorgfalt ähnelte. Eines fragte, ob es wohl sein früheres Heim schon vergessen12 habe oder noch13 vermisse. Welche Anteilnahme! Unter anderem hing es sich an einen Zottel14, ließ sich hin- und herschwenken wie ein Akrobat, –––––––— 1 °

Arbeitstranskriptionen zur Vorbereitung von KWA III 3 (Anm. 28). Textzeugen: DZBoh: Deutsche Zeitung Bohemia, Jg. 102, Nr. 66, Sonntag, 17. 3. 1929, S. 3. SbZ: Saarbrücker Zeitung, Jg. 169, Nr. 93, Samstag, 6. 4. 1929, 1. Beilage. RhWZ: Rheinisch-Westfälische Zeitung, Jg. 192, Nr. 195, Mittwoch, 17. 4. 1929, Abendausgabe, S. [1]. BN: Basler Nachrichten, Jg. 85, Nr. 253, Montag, 16. 9. 1929, Abendblatt, 1. Beilage, S. [1]. KPo: Kasseler Post, Jg. 47, Nr. 304, Sonntag, 3. 11. 1929, 6. Blatt.

2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

von] on NZZ was] etwas RhWZ Was … reden.] Fehlt KPo nichts] nichts anderes DZBoh Ist … es.] Fehlt KPo war’s] wars SbZ Salon.] Salon: KPo Klubsessel] Klubsessl DZBoh Plüschsofas] Sofa RhWZ Alle] Absatz KPo vergessen] verlassen RhWZ oder noch] oder DZBoh Zottel] Zettel SbZ, RhWZ

Erstdrucke in Zeitungen

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der für Geld turnt.15 Aeugelchen16 hat es große, schwarze; Tatzen harmlose. Kratzen17 kann es noch nicht recht, wird es aber mit der Zeit schon lernen. Im Bratloch sollte es übernachten, zog hiefür18 jedoch einen Stuhl vor. Jede19 Kiste, jede20 Schachtel untersuchte21 es, machte22 zahlreiche Entdeckungen. Im Herunterreißen von Tüchern und Umwerfen von Vasen erwies es sich, so jung und unerfahren es ist, als Meister. Es hat dies Talent wohl mit zur Welt gebracht. Bereits23 leckt es Milch auf; ferner versteht es sich zusammenzukugeln und wie ein Kreisel sich herumzudrehen. Ein Kater wurde ihm vorgestellt. Die Zumutung war etwas stark24. Es hob sich empor, sträubte die Haare, machte einen Buckel und blieb minutenlang noch ganz nachdenklich und zaghaft. Jemand25 spielte Klavier. Husch, verschwand es unter die Kommode, kam erst wieder zum Vorschein, als das Konzert verklungen war. Anscheinend26 macht es sich aus Musik nicht viel. Es spielt lieber selber, zwar nicht nach Noten, eher mit einem Rölleli oder Hobelspan27. Das28 Närrchen zu machen, geht ihm über alles,29 ist ihm das Höchste.30 Ein31 Mädchen wollte den Pfarrer spielen und es32 taufen, selbstverständlich nur im Spaß. Wer spräche so etwas im Ernste?33 Diese Skizze ist ein wenig schnurrig,34 gleichwohl hoff’ ich sie als Beitrag brauchbar.

–––––––— 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34

Unter … turnt.] Fehlt KPo Aeugelchen] Absatz KPo harmlose. Kratzen] harmlose, und kratzen KPo hiefür] hierfür DZBoh, RhWZ, KPo Jede] Absatz KPo jede] Jede DZBoh untersuchte] untersucht DZBoh machte] macht DZBoh es machte RhWZ Bereits] Absatz KPo stark] zu stark DZBoh Jemand] Absatz KPo Husch, … Anscheinend] Aber anscheinend KPo Rölleli oder Hobelspan] Hobelspan KPo Das … Höchste.] Fehlt KPo alles,] alles. Textende SbZ Höchste] höchste DZBoh Ein] Ein kleines Absatz KPo es] das Kätzchen KPo Ernste?] Textende DZBoh Ernst? KPo schnurrig,] schnurrig... Textende KPo

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Robert Walser: Table d’Hôte. In: Neue Zürcher Zeitung, Jg. 147, Nr. 1078, 4. 7. 1926, 1. Sonntagausgabe, 3. Blatt, Literarische Beilage, S. [1]–[2]

°Table d’Hôte.1 Von Robert Walser. EINE FRAU: Etwas in mir lächelt und spendet mir Beifall. Ich prozessiere seit zehn Jahren gegen eine Moral- und Geldmacht. Sehen Sie, wie zierlich2 ich esse? Es muß ein Vergnügen sein, mir dabei zuzuschauen. Meine zwei Töchter sind melancholisch, indes ich strahle. Wie kommt das? Dieses Unbegreifliche spricht zu sehr zu meinem Vorteil, als daß ich ihm gram sein könnte. Mein Glauben an mich, ans Leben3 ist mir eine Unverständlichkeit, mit der ich einig gehe. Mich freut’s4, daß ich kaum zu fassen vermag, warum ich so gut aussehe. Ich schlafe nachts wie ein Engel und rede tagsüber wie ein Advokat. Mein Sohn ist die Tüchtigkeit selbst. Meine drei Kinder sind in einem Grade brav, daß ich laut darüber lachen würde, wenn mir dies die Erfordernisse der Bildung gestatteten, denen ich gehorche. Mein Visavis5 ist wegen mir hin; ich seh’s6 ihm an. DER RÄTSELHAFTE GAST: Ihre mit so großem Selbstvertrauen verbundene Einfachheit wirkt wie eine Naturerscheinung auf mich, die mich auf die angenehmste Art ans Vorhandensein einiger Eigenschaften erinnert, die mir an mir lieb sind. Warum sollte ich da nicht vor Ihnen leuchten?7 DER STRAMME HERR: Mich könnte es beinahe knicken, daß ich denken muß, wie meine Strammheit auf den rätselhaften Gast nicht niederschmetternd wirkt. Eigentlich bin ich sehr rechthaberisch. Hie und da fällt mir das auf. Besser wäre aber, ich ignorierte mich in dieser Hinsicht.

–––––––— °

Textzeugen: Vgl. Mkg. 174r/I [KWA VI]: Der Entwurfstext enthält die teils in NZZ, teils in KHZ fehlenden Abschnitte. KHZ: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 528, Samstag, 9. 11. 1929, Abendblatt, 2. Blatt, S. [1]. DZBoh: Deutsche Zeitung Bohemia, Jg. 102, Nr. 266, Donnerstag, 14. 11. 1929, S. 3.

1 2 3 4 5 6 7

Table d’Hôte.] Table d’hôte KHZ, mit Agenturkürzel vf. wie zierlich] wie KHZ Leben] Leben, DZBoh freut’s] freuts KHZ freut es DZBoh Visavis] Vis-a-vis KHZ seh’s] sehe es KHZ leuchten?] leuchten. KHZ

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|EIN CHINESE: Ich besuchte das Technikum in Mitweida. Sollte damit die Tatsache zusammenhängen, daß mir meine Frau nicht treu ist? Immerhin ist das ja ganz interessant. Sie leidet an Frömmigkeit, die an Gattinnen schon an sich ehewidrig ist.8 EIN KNABE: Ich bin der hübscheste Knabe weit und breit. Ich benehme mich wie ein Großer. Locken umrahmen mein schönes Gesicht. Ich werde viel Anhänglichkeit ernten, ohne daß es mich die geringste Mühe kosten wird. DER RÄTSELHAFTE GAST: Ich sitze da, als wäre ich nicht vorhanden. Vielleicht besteht meine Rätselhaftigkeit darin, daß ich anspruchslos bin. EIN WITWER: Ich bin ein Monstrum, und ich will sagen, weshalb. Zwanzig Jahre lang lebte ich an der Seite einer Frau, die mich haßte, die sich vom ersten Tag9 an von mir zu trennen wünschte. Heute kam nun der Tag, wo sie sich befreit sieht. Ich stellte die Hälfte eines spannenden und monotonen Romans dar. Diejenige, die die andere Hälfte ausmachte, hat sich und mir die Ehe zur Hölle gemacht. Ich möchte niemand anraten, so viel Geduld zu offenbaren, wie ich zu zeigen wußte. Das Höchstmaß der Tugend ist keine Tugend mehr, sondern nur eine Gewohnheit.10 Soeben knüpfte ich übrigens eine Beziehung an, die mir vielversprechend zu sein scheint. DER RÄTSELHAFTE GAST: Hier sitzen wir11 paar Personen am Tisch und sind zugleich mit dem gegenwartüberfliegenden Denken anderswo. Erst, wenn wir sehr viel feiner geworden sind, wird’s Gegenwärtiges für uns geben. Noch seh’12 ich es nur hie und da.13

–––––––— 8 9 10

11 12 13

Ein Chinese: … ist.] Fehlt KHZ, DZBoh Tag] Tage KHZ Gewohnheit.] Gewohnheit. Textende DZBoh Gewohnheit. / Der Loyale: / Mein Vater war Mitglied der päpstlichen Garde. Meine Heimat ist ein einsames Tal, das einen Hang zur Träumerei in mir zur Entwicklung brachte. Ich lache aus so geringfügigem Anlaß, wie ich leicht weine. Mit meinem urbanen Wesen schaue ich vielleicht etwas isoliert in die Welt. Ich vermag den rätselhaften Gast nicht anzusehen, ohne Sorgen seinetwegen zu empfinden. Schon der Umstand, daß ihn der stramme Herr für schlecht hält, bewirkt, daß er mir harmlos vorkommt, obgleich ich ihn für sehr klug halte. Ein Stubenmädchen beherrscht mich. Auch das rührt mich. Der Unterschied zwischen dem rätselhaften Gast und mir besteht darin, daß ich Gedichte mache, während er selbst ein Gedicht ist. An ihm ist etwas E. T. A. Hoffmannhaftes. KHZ wir] wir ein KHZ seh’] seh KHZ da.] da NZZ

Michael Scheffel

Überlegungen zum Verhältnis von Material, Medium und Text am Beispiel von Arthur Schnitzlers Traumnovelle

Welche Bedeutung haben die materialen und medialen Voraussetzungen eines Textes für seine Interpretation? Dieser allgemeinen Frage sei im Folgenden am besonderen Beispiel von Arthur Schnitzlers Traumnovelle nachgegangen. Schnitzlers Text zählt wohl unumstritten zu den bedeutendsten deutschsprachigen Novellen des 20. Jahrhunderts und ist – zumal nach Stanley Kubricks in Kooperation mit Frederic Raphael realisierter Verfilmung Eyes Wide Shut (1999) – Gegenstand zahlloser Studien.1 Diese orientieren sich allerdings schon deshalb in aller Regel an der Vorstellung eines ‚immateriellen Textes‘, weil es bislang noch keine kritische, ja nicht einmal eine wissenschaftlich kommentierte Ausgabe der Traumnovelle wie auch der meisten anderen Werke Arthur Schnitzlers gibt.2 In welcher Weise aber könnte sich der Blick auf den Text verändern, wenn man ihn im Lichte seines materialen Entstehungs- und seines medialen Publikationskontextes betrachtet? Um die methodologische Dimension dieser Frage in exemplarischer Weise zu reflektieren, ordne ich die folgenden Ausführungen um die Begriffe ‚Text‘, ‚Material‘ und ‚Medium‘ und verbinde sie Schritt für Schritt mit der Frage nach der ‚Interpretation‘. Was meint das Wort ‚Text‘ als literaturwissenschaftlicher Begriff? Ein „Text“, so definiert Susanne Horstmann im entsprechenden Standardwerk unseres Faches, dem Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, ist eine „Folge von Sätzen oder sonstigen sprachlichen Äußerungen, die als Einheit betrachtet werden kann“.3 Diese allgemeine Kurzdefinition klammert das Herkommen und die materiellen Grundlagen der als „Einheit“ betrachteten „Folge von Sätzen oder sonstigen sprachlichen Äußerungen“ vollkommen aus und formuliert in geradezu idealtypischer Weise ein ‚Paradigma des immateriellen Textes‘. Das ändert sich, wenn man in demselben Lexikon zum Lemma „Textkritik“ weiterblättert. Der von Rüdiger Nutt-Kofoth verfasste Eintrag erläutert „Textkritik“ als „Verfahren der editorischen Herstellung eines Textes –––––––— 1 2

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Vgl. z.B. die entsprechenden bibliographischen Hinweise in: Arthur Schnitzler: Traumnovelle. Hrsg. von Michael Scheffel. Stuttgart 2006, S. 103–106. Immerhin gibt es unterdessen neben ersten Ausgaben von Lieutenant Gustl und Anatol auch zwei Projekte zu einer solchen Ausgabe. Für das Frühwerk Schnitzlers vgl. die von Konstanze Fliedl betreute Edition im de Gruyter Verlag, für das mittlere und späte Werk vgl. das im Akademienprogramm geförderte Wuppertaler Projekt einer in Kooperation mit der Universität Cambridge und der Bibliothek Cambridge veranstalteten historisch-kritischen Ausgabe in digitaler Form. Susanne Horstmann: Text. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3: P–Z. Gemeinsam mit Georg Braungart u. a. hrsg. von Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 2003, S. 594–597, hier S. 594.

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Michael Scheffel

aufgrund der Sichtung und Bewertung seiner Überlieferung“.4 Das Phänomen ‚Text‘ wird in diesem Rahmen wiederum allein aus seinem pragmatischen Kontext, d. h. aus seiner „Überlieferung“ heraus begründet. Im Übrigen gilt die Bedeutung des Begriffs – jedenfalls im Zusammenhang des Kompositums ‚Textkritik‘ – offenbar als so selbstverständlich, dass sie keiner Explikation bedarf. Nur implizit und erst aus dem folgenden Artikel geht hervor, dass der Begriff ‚Text‘ in diesem Fall tatsächlich sehr viel enger als bei Horstmann gebraucht, nämlich erstens im Wesentlichen analog zu ‚(literarischem) Werk‘ verstanden und zweitens prinzipiell an eine spezifische Materialität im Sinn von ‚Schriftlichkeit‘ gebunden wird. Buchstäblich Seite an Seite offenbart sich also in demselben Fachlexikon die auch im vorliegenden Sammelband wiederholt diskutierte Differenz in der Verwendung des Textbegriffs durch Sprach-, Kultur- und Literaturwissenschaft auf der einen (1) und Editionswissenschaft auf der anderen Seite (2). Da ich in diesem Beitrag nach Brücken zwischen beiden Lagern suche, schlage ich hier eine Synthese in Gestalt der folgenden Minimaldefinition vor: „Text: Eine Folge von Sätzen oder Satzteilen, die als Einheit betrachtet und die als das an das Medium der Schrift gebundene Ergebnis einer produktiven Tätigkeit verstanden werden.“ Beschränken wir uns zunächst aber auf das, was in einem verbreiteten literaturwissenschaftlichen Sinne und gemäß Textbegriff (1) als Text der Traumnovelle gilt. Zur Erinnerung: Die Traumnovelle ist ein Spätwerk Arthur Schnitzlers, das in Buchform erstmals 1926 im Berliner S. Fischer Verlag erschien. Erzählt wird die Geschichte eines Ehepaars mit einem Kind, einer Kernfamilie, die plötzlich zerstört zu werden droht; und zwar dadurch, dass Mann und Frau für sich selbst und einander entdecken, dass sie, sehr grob gesprochen, sexuelle Begierden haben, die nicht an ihren Ehepartner gebunden sind. Dabei hat Schnitzler seine Geschichte im Ansatz wie ein psychologisches Experiment angelegt. Zu Beginn führt er vor, wie zwei Eheleute sich selbst und ihrem Partner bis dahin verschwiegene Wünsche eingestehen und wie sie auf diese Weise aus der Illusion konventionell begründeter Rollenbilder und eines scheinbar selbstverständlichen Miteinanders erwachen. Im Folgenden können wir im Verlauf von nur zwei Nächten und einem Tag der erzählten Zeit verfolgen, wie Mann und Frau auf die Geständnisse zu Beginn der erzählten Geschichte reagieren und wie sie jeder für sich eine Art Reise in den, wie Hilde Spiel das nannte, „Abgrund der Triebwelt“5 unternehmen. Dabei zeigt sich, dass Mann und Frau für diese Reise unterschiedlich gut gerüstet sind. Zum Verlauf der erzählten Geschichte gehört schließlich, dass die beiden Ehepartner durch eine von der Frau bereits praktizierte, von dem Mann aber erst noch zu entdeckende Form der genauen Selbstbeobachtung und des offenen Erzählens am Anfang voneinander entfernt, aber am Ende auch wieder zueinandergeführt werden. Der Text, der diese Geschichte erzählt, beginnt wie folgt: –––––––— 4 5

Rüdiger Nutt-Kofoth: Textkritik. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, 2003 (Anm. 3), S. 602–607, hier S. 602. Hilde Spiel: Im Abgrund der Triebwelt oder Kein Zugang zum Fest. Zu Arthur Schnitzlers ‚Traumnovelle‘. In: Dies.: In meinem Garten schlendernd. Essays. München 1981, S. 128–135.

Material, Medium und Text am Beispiel von Schnitzlers ‚Traumnovelle‘

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„Vierundzwanzig braune Sklaven ruderten die prächtige Galeere, die den Prinzen Amgiad zu dem Palast des Kalifen bringen sollte. Der Prinz aber, in seinen Purpurmantel gehüllt, lag allein auf dem Verdeck unter dem dunkelblauen, sternbesäten Nachthimmel, und sein Blick –“ Bis hierher hatte die Kleine laut gelesen; jetzt, beinahe plötzlich, fielen ihr die Augen zu. Die Eltern sahen einander lächelnd an, Fridolin beugte sich zu ihr nieder, küsste sie auf das blonde Haar und klappte das Buch zu, das auf dem noch nicht abgeräumten Tische lag. Das Kind sah auf wie ertappt. „Neun Uhr“, sagte der Vater, „es ist Zeit schlafen zu gehen.“ Und da sich nun auch Albertine zu dem Kind herabgebeugt hatte, trafen sich die Hände der Eltern auf der geliebten Stirn, und mit zärtlichem Lächeln, das nun nicht mehr dem Kinde allein galt, begegneten sich ihre Blicke. Das Fräulein trat ein, mahnte die Kleine, den Eltern gute Nacht zu sagen; gehorsam erhob sie sich, reichte Vater und Mutter die Lippen zum Kuß und ließ sich von dem Fräulein ruhig aus dem Zimmer führen. Fridolin und Albertine aber, nun allein geblieben unter dem rötlichen Schein der Hängelampe, hatten es mit einmal eilig, ihre vor dem Abendessen begonnene Unterhaltung über die Erlebnisse auf der gestrigen Redoute wiederaufzunehmen.6

Es sei nun nicht weiter verfolgt, in welch kunstvoller Form diese Eingangsszene ein Gespräch eröffnet, in dessen Folgen die unter dem „rötlichen Schein der Hängelampe“ zusammengerückten Figuren, wie Schnitzler das in deutlicher Abgrenzung vom Modell der Freud’schen Psychoanalyse nannte, „eine Art fluktuierendes Zwischenland zwischen Bewußtem und Unbewußtem“7 betreten. Stattdessen möchte ich die Aufmerksamkeit auf die ersten Sätze des zitierten Textanfangs lenken. Denn Schnitzlers Erzählung, so zeigt die genaue Lektüre, beginnt nur scheinbar unmittelbar und gibt eben keinen direkten, in der Tradition des realistischen Erzählens gestalteten Einblick in das alltägliche Leben einer gutbürgerlichen Wiener Familie. Tatsächlich wird die in der Traumnovelle erzählte Geschichte mit einer Szene eröffnet, die den Leser in die ferne Welt eines orientalischen Märchens führt. Diese Szene wird mittelbar in Gestalt der zitierten, auf den ersten Blick freien mündlichen Rede einer Figur präsentiert. Entgegen dem ersten Eindruck handelt es sich bei dieser Art von Figurenrede allerdings nicht wirklich – wie man im zweiten Absatz der Traumnovelle erfährt – um eine mündliche Erzählung, sondern um das Zitat eines vorgelesenen Textes. Den Auftakt zur Geschichte von Fridolin und Albertine und des bald folgenden Erzählakts der Hauptfiguren bildet also eine Geschichte in der Geschichte und eine mit verschiedenen medialen Möglichkeiten des Erzählens spielende Form des erzählten, d. h. in diesem Fall wörtlich zitierten Erzählens. Mit ihrer Hilfe wird das für die Rahmengeschichte zentrale Motiv des Erzählens eingeführt, wobei auch der Inhalt dessen, was die Tochter ihren Eltern vorliest, auf die im Folgenden erzählte Geschichte verweist: Hier wie dort finden sich die Motive des Märchens, der Nacht, der Reise, der Einsamkeit, des Abenteuers sowie der Spannung von Körper und Kleidung im –––––––— 6 7

Schnitzler, Traumnovelle 2006 (Anm. 1), S. 5. Arthur Schnitzler: Aphorismen und Betrachtungen. Hrsg. von Robert O. Weiss. Frankfurt a. M. 1967 (Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke), S. 455. Zu Schnitzlers kritischem Verhältnis zum tiefenpsychologischen Modell der Freud’schen Psychoanalyse vgl. Michael Scheffel: Nachwort. In: Schnitzler, Traumnovelle 2006 (Anm. 1), S. 107–123, bes. S. 110 f.

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Sinne einer in mehrfacher Hinsicht schützenden Hülle. Aber nicht nur das. Mit dieser Art von im Text zitierter Rede und dem Motiv des Buchs im Buch8 scheint zugleich ein besonderer Fall von Intertextualität verbunden. Denn auch wenn das von der Tochter vorgelesene Märchen und das vom Vater zugeklappte Buch namenlos bleiben: Der im ersten Satz eingeführte Eigenname ‚Amgiad‘ (i. e. eine der möglichen, seit Antoine Gallands Übersetzung von Tausendundeine Nacht verbreiteten französischen Umschriften des arabischen Namens Amğad) und der zitierte Handlungskontext signalisieren doch, dass das Mädchen seinen Eltern durchaus nicht irgendein unbekanntes, d. h. nicht zu identifizierendes orientalisches Märchen vorliest, wie die Forschung lange Zeit angenommen hat. Angespielt wird hier offenbar auf die im Rahmen der Geschichte von Kamar Ez-Zamân erzählte Geschichte von den Prinzen Amgiad und Assad aus den Erzählungen aus den Tausendundein Nächten.9 Besonders und auch kompliziert ist dieser Fall von Intertextualität nun deshalb, weil der Bezug auf einen Prätext hier einerseits durch den Namen und den Handlungszusammenhang markiert wird, es sich aber andererseits offenbar nicht um ein wörtliches Zitat handelt. Nach meinen Recherchen finden sich die zitierten Sätze auch sinngemäß weder in der zu Schnitzlers Lebzeiten gängigen deutschen Übersetzung von Enno Littmann (oder auch einer anderen deutschen Übersetzung – was im Übrigen schon wegen der französischen Schreibung des Namens unwahrscheinlich wäre)10 noch in den für Schnitzler prinzipiell gut zugänglichen französischen Übersetzungen bzw. Bearbeitungen von Antoine Galland oder auch Charles Victor Madrus (also der zwischen 1899 und 1904 erschienenen Fassung der Erzählung von Tausendundeine Nacht,11 auf die z. B. Marcel Proust in verschiedenen Bänden von À la Recherche du temps perdu leitmotivartig anspielt,12 ein Werk, das Schnitzler wiederum nachweislich las,13 als er die Traumno–––––––— 8

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Für entsprechende Überblicke zur Motivgeschichte vgl. z. B. Uwe Japp: Das Buch im Buch. Eine Figur des literarischen Hermetismus. In: Neue Rundschau 86, 1975, H. 4, S. 651–670; Ralph-Rainer Wuthenow: Im Buch die Bücher oder Der Held als Leser. Frankfurt a. M. 1980. In Littmanns Übertragung tragen die Söhne des Kamar ez-Zamân die Namen „el-Malik el Amdschad“ und „el-Malik el-As’ad“. Vgl. Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten. Vollständige deutsche Ausgabe in zwölf Teilbänden zum ersten Mal nach dem arabischen Urtext der Calcuttaer Ausgabe aus dem Jahre 1839. Übertragen von Enno Littmann [1953]. Frankfurt a. M. 1976, hier Bd. II,2, S. 477 ff.; zur Fassung der Histoire des Princes Amgiad & Assad von Antoine Galland vgl. Ders.: Le cabinet des Fées ou collection choisie de contes de fées et autres contes merveilleux ornés de figures. Bd. 6. Paris u. a. 1785, S. 219 ff.; zu den Bezügen zu Schnitzlers Traumnovelle vgl. erstmals detailliert Michael Scheffel: Narrative Fiktion und die ‚Märchenhaftigkeit des Alltäglichen‘ – Arthur Schnitzler: ‚Traumnovelle‘ (1925/26). In: Ders.: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. Tübingen 1997, S. 175–195. Eine Ausnahme im Blick auf die Namensschreibung bildet das Buch der Mährchen der Tausend und Einen Nacht für Kinder (Mährchen-Bibliothek für Kinder. Bd. 5) von Albert Ludwig Grimm. In dem in Frankfurt a. M. publizierten Band von 1823 findet sich dort „Die Geschichte des [sic!] Prinzen Amgiad und Assad“ (S. 167–244). Aber auch hier ist keine entsprechende Textpassage zu finden. Vgl. Le livre des mille et une nuits. Übersetzt von Charles V. Madrus. Paris 1899–1904. Grundlegend dazu Volker Roloff: Proust und ‚Tausendundeine Nacht‘. Marcels Lieblingslektüre und der Orientalismus in der ‚Recherche‘. Köln 2009 (Sur la lecture. 9). In Schnitzlers Tagebüchern findet man so z. B. Ende 1923 einen ersten Eintrag zu Proust (31. 12. 1923); wenig später, also genau zu der Zeit, da Schnitzler intensiv an der Ausarbeitung der Traumnovelle sitzt, heißt es im Tagebuch im April 1924 (24. 4. 1924): „Begann Proust zu lesen“, und im Juni desselben Jahres notiert Schnitzler „Lese Proust mit wachsendem Interesse“ (14. 6. 1924). Zu allen genannten Tagebucheinträgen s. Arthur Schnitzler: Tagebuch 1923–1926. Hrsg. von Werner Welzig. Wien 1995.

Material, Medium und Text am Beispiel von Schnitzlers ‚Traumnovelle‘

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velle ausarbeitete, und dem er u. a. wohl den Namen seiner weiblichen Protagonistin ‚Albertine‘ entnahm). Aber wenn sich keinerlei Beleg dafür finden lässt, dass die eingangs zitierten Sätze einem anderen Text entstammen, mit welchem Recht lässt sich dann überhaupt von einem markierten intertextuellen Bezug sprechen? Das scheint mir eine zentrale methodologische Frage zu sein. Für eine Antwort bieten sich traditionellerweise wohl zwei Modelle an, die auf den oben zitierten beiden Textbegriffen aufbauen und die ich hier Argumentationsrahmen (1) und (2) nennen möchte. Da sie zugleich einen jeweils unterschiedlich zugeschnittenen Zusammenhang für Schnitzlers Werk eröffnen bzw. berücksichtigen, komme ich damit zur möglichen Relevanz der eingangs angesprochenen materialen und medialen Voraussetzungen im Sinne eines bestimmten Kontextes für den zu interpretierenden Text – wobei ‚Kontext‘ hier grundsätzlich im Sinne von Lutz Dannebergs Definition im Reallexikon als „[d]ie Menge der für die Erklärung eines Texts relevanten Bezüge“14 verstanden sei. Argumentationsrahmen (1) entspricht grosso modo einem Zugriff, der sich als ‚literaturwissenschaftlich-hermeneutisch‘ bezeichnen lässt. Im Wesentlichen folgt man hier einem Konzept von Intertextualität, das nicht von einer allgemeinen, grundsätzlich bestehenden Dialogizität aller literarischen Texte à la Michail Bachtin oder Julia Kristeva ausgeht,15 der zufolge „jeder Text [...] als Mosaik von Zitaten“16 aufzufassen ist, sondern das sich im Sinne der Ansätze von Gérard Genette17 sowie von Ulrich Broich und Manfred Pfister18 für die konkreten Beziehungen zwischen Texten, d. h. für nachweislich – wobei die Kriterien im Einzelnen durchaus dehnbar sind – ‚intendierte‘ Anspielungen auf andere Texte, interessiert. Dabei vernachlässigt man in diesem Rahmen tendenziell die Materialität und mit ihr auch die konkrete Herstellungsweise und -geschichte, d. h. die Tatsache des individuellen Produziertseins eines Textes. Stattdessen strebt man dadurch eine unter Umständen bessere bzw. umfassendere Form vom Verstehen einzelner Texte an, dass man von der Möglichkeit eines aus dem Text im Sinne von Textbegriff (1) abzuleitenden Bezugsverhältnisses von Präund Folgetext ausgeht. Im vorliegenden Fall bedeutet das z. B., dass man das Zitat am Textanfang zum Anlass nimmt, um probehalber nach mehr oder minder direkten Bezügen zwischen zwei Werken, nämlich der Traumnovelle und der Geschichte der Prinzen Amgiad und Assad oder möglicherweise auch von Tausendundeine Nacht im Allgemeinen, zu suchen. –––––––— 14

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Lutz Danneberg: Kontext. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (Anm. 3), Bd. 2: H–O. Gemeinsam mit Georg Braungart u. a. hrsg. von Harald Fricke. Berlin, New York 2000, S. 333–337, hier S. 333. Grundsätzlich zu Bachtins Ansatz und seiner – z. T. auf schlichten Missverständnissen beruhenden – Verbreitung durch u. a. Julia Kristeva vgl. zuletzt: Matthias Aumüller: Michail Bachtin (1895–1975). In: Klassiker der modernen Literaturtheorie. Hrsg. von Matías Martínez und Michael Scheffel. München 2010, S. 105–126. Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman [1967]. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3. Hrsg. von Jens Ihwe. Frankfurt a. M. 1972, S. 345–375, hier S. 348. Vgl. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a. M. 1993. Vgl. Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. von Ulrich Broich und Manfred Pfister. Tübingen 1985.

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Argumentationsrahmen (2) ist dagegen im Wesentlichen den herkömmlichen Prinzipien von Textkritik und Editionsphilologie verpflichtet. In seinem Sinne versteht man den Text in erster Linie als das materielle Ergebnis der produktiven Tätigkeit eines bestimmten historischen Subjekts und untersucht dementsprechend – unter möglichst vollständigem Einbezug sämtlicher erhaltener Textzeugen – seine Fassungen und den pragmatischen Kontext seiner Entstehung. Was dabei im Blick auf mein Beispiel jeweils herauskommen kann, sei hier nur grob ausgeführt. Schaut man sich zunächst die Geschichte der Prinzen Amgiad und Assad19 genauer an, so entdeckt man: Erzählt wird die Geschichte von den zwei Söhnen des Königs Kamar Ez-Zamân, die von zwei unterschiedlichen Frauen stammen, die sich in den jeweils anderen Sohn verlieben, von diesem aber abgewiesen werden. Auf diese Weise in ihrer Eitelkeit gekränkt und um ihren Ruf als scheinbar treue Ehefrauen besorgt, bewirken die Frauen, dass die beiden Prinzen zu Unrecht ihrerseits der Verführung beschuldigt und hingerichtet bzw. heimlich in die Verbannung geschickt werden. Für die Halbbrüder Amgiad und Assad beginnt auf diese Weise eine lange Irrfahrt mit zahlreichen Abenteuern, in deren Folge sie einander vollkommen aus den Augen verlieren, um sich dann am Ende glücklich wiederzufinden, wobei der gute Schluss der Geschichte die Versöhnung mit ihrem Vater und ihren Großvätern einschließt.20 Wie in Schnitzlers Traumnovelle begegnen wir in diesem Märchen also den Motiven der Treue bzw. Untreue, des Abenteuers, der Irrfahrt und der gefährdeten Einheit einer Familie. Hier wie dort finden sich überdies zwei Helden, eine Doppelgeschichte mit einer strukturellen Parallelität der Ereignisse sowie eine zirkuläre Struktur von scheinbar ungefährdetem Beisammensein, Trennung und Wiedervereinigung. So gesehen, gibt es also durchaus gute Gründe dafür, die Geschichte der Prinzen Amgiad und Assad als Bezugsfeld zu nutzen, um dem Text der Traumnovelle einen besonderen Hintergrund zu geben und ihn auf diese Weise möglicherweise besser zu verstehen. Aber verträgt sich das mit dem, was sich in Argumentationsrahmen (2) ermitteln lässt? Wenden wir uns also dem Entstehungskontext der Traumnovelle zu, wobei ich mich auch hier auf eine knappe Skizze beschränke. Erste Notizen zum Sujet dieser zunächst „Doppelgeschichte“, dann „Doppelnovelle“ und erst 1924 „Traumnovelle“ genannten Erzählung reichen in das Jahr 1907 zurück, wobei Schnitzler nachweisbar auf Material zurückgreift, das er schon vor der Jahrhundertwende gesammelt hat. Der

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Zum entsprechenden Rahmen, d. h. der Geschichte von Kamar Ez-Zamân und ihren verschiedenen Fassungen, vgl. Victor Chauvin: Bibliographie des ouvrages arabes ou relatifs aux arabes publiés dans l’europe chrétienne de 1810 à 1885. Bd. 5. Liège, Leipzig 1901, S. 204 ff.; vgl. auch Mia I. Gerhardt: The Art of Story-Telling. A Literary Study of the Thousand and One Nights. Leiden 1963, S. 285 ff.; detailliert zur Geschichte der Brüder Amgiad und Assad und ihrer Überlieferung vgl. Margaret Sironval: Histoire des princes Amgiad et Assad. In: Communications 39, 1984, S. 125–140; vgl. zuletzt auch die eigenwillige Interpretation von Hee-Ju Kim: ‚Ehe zwischen Brüdern‘. Arthur Schnitzlers ‚Traumnovelle‘ im Licht ihrer intertextuellen Bezüge zur ‚Geschichte der Prinzen Amgiad und Assad‘ aus ‚Tausendundeine Nacht‘. In: Hofmannsthal-Jahrbuch zur europäischen Moderne 17, 2009, S. 253–288. Vgl. Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten 1976 (Anm. 9), Bd. II,2, S. 568 f.

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Schwerpunkt in der Ausarbeitung des Textes fällt dann in die Zeit zwischen 1921 und 1925.21 Im Blick auf den im vorliegenden Zusammenhang wichtigen Anfang des Textes und die Bedeutung des eingangs zitierten Märchentextes lassen sich dem im Original in Cambridge und in Kopie in Freiburg gelagerten Nachlassmaterial interessante Informationen entnehmen. Schnitzler hat seine Werke – in dieser Hinsicht ähnlich wie z. T. Theodor Fontane und anders als etwa der möglichst ‚unmittelbar‘, d. h. ohne ‚Brouillon‘ in Gestalt z. B. eines Handlungs- und Szenenplans schreibende Franz Kafka – vielfach von einem bestimmten Handlungskern oder auch einer konkreten Szene aus konzipiert. Im vorliegenden Fall war das die Idee, dass ein (Ehe-)Mann am Abend seine schlafende Partnerin verlässt, in der Nacht allerlei erotische Abenteuer erlebt, zurückkehrt und von der soeben erwachten Frau einen ungeheuerlichen Traum erzählt bekommt, woraufhin er sich seinerseits vollkommen entlastet und „wieder schuldlos fühlt“.22 Diese Idee hat Schnitzler laut einer Tagebuchnotiz vom 15. 6. 1907 seiner Frau Olga vorgestellt, und wenige Tage später hat er eine erste grobe Skizze des Sujets in diesem Sinne verfasst. Dabei wird die Idee, mit einem Märchen zu beginnen, offenbar schnell Teil seines Entwurfs. So heißt es in einem handschriftlichen Nachtrag (?) oben auf der ersten Seite des auf den „20. 6. 1907“ datierten, mit Maschine geschriebenen Typoskripts u. a.: „Wenn Doppelgeschichte, müsste ein Gespräch vorausgehen, über Treue [...] immer auch ein Märchen“.23 Ein Blatt später ist die endgültige Fassung der Eingangsszene schon im Kern entworfen, d. h. die Idee des Märchens bereits fest in das Sujet integriert: Die Eltern und das Kind bei Tische. Die Kleine liest ein Märchen vor. Du sollst schlafen gehen. Ja, wenn die Prinzen wie im Märchen wären. Anspielungen im Märchen. Das Kind geht schlafen. Erinnerungen der Eltern. Erinnerst du dich, wie du am Fenster standest? Ich glaube, wenn du Mut gehabt hättest – [...].24

Und wieder später, in einer auf den „13. 11. 1922“ datierten Skizze findet sich dann die wie folgt ausgeführte Idee eines Texts im Text: „Vierundzwanzig Sklaven ruderten die Galeere, die den Prinzen Amgiad an das unbekannte Ufer bringen sollte. Er selbst aber, in seinen scharlachnen Mantel gehüllt, lag allein auf dem Deck unter dem dunkelblauen Nachthimmel und sein Blick, in dem Prinzessin Almeidens helles Bild allmählig erloschen war, suchte in dämmernder Ferne –.“25

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Vgl. Reinhard Urbach: Schnitzler-Kommentar zu den erzählenden Schriften und dramatischen Werken. München 1974, S. 132 f. Vgl. auch Hertha Krotkoff: Auf den Spuren von Arthur Schnitzlers ‚Traumnovelle‘. In: Modern Austrian Literature 4, 1971, S. 37–41. Vgl. Tagebucheintrag vom 15. 6. 1907: „N[ach]m[ittags] zu O[lga] über mein Sujet: Der junge Mensch, der von seiner schlafenden Geliebten fort in die Nacht hinaus zufällig in die tollsten Abenteuer verwickelt wird – sie schlafend daheim findet wie er zurückkehrt; sie wacht auf – erzählt einen ungeheuern Traum, wodurch der junge Mensch sich wieder schuldlos fühlt. ‚Gutes Geschäft‘ sagte Olga; die den Stoff sehr charakteristisch für mich fand“; Arthur Schnitzler: Tagebuch 1903–1908. Hrsg. von Werner Welzig. Wien 1991, S. 283. Material des Freiburger Schnitzler-Archivs, C.XLII., Nr. 1, Blatt 3. Material des Freiburger Schnitzler-Archivs, C.XLII., Nr. 1, Blatt 4. Material des Freiburger Schnitzler-Archivs, C.XLII., Nr. 4, Blatt 15.

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Aus den zur materialen Genese des Textes gehörenden Dokumenten folgt also zweierlei: nämlich erstens, dass die Idee eines in den Text integrierten Märchens schon früh zu Schnitzlers Konzeption der Erzählung gehört, und zweitens, dass es sich bei der zitierten Eingangspassage – wie auch schon die philologische Recherche in unterschiedlichen Ausgaben der Märchen aus Tausendundeine Nacht ergab – eben nicht um das wörtliche Zitat aus einer bestimmten, dem Autor vorliegenden Textquelle handelt. Dies belegt die schlichte Tatsache, dass die ‚zitierten‘ Eingangsätze offensichtlich ihrerseits im Verlauf der Textgenese bearbeitet und signifikant verändert wurden. Anders als in der Endfassung ist so z. B. in der Manuskriptfassung von 1922 von der Figur einer Prinzessin Almeiden die Rede, die in dem entsprechenden Märchen aus Tausendundeine Nacht (d. h. in einer der im Einzelnen durchaus unterschiedlichen Fassungen der Geschichte von den Prinzen Amgiad und Assad) gar nicht existiert. Was sind die Konsequenzen dieses sich aus der Materialgeschichte und den Textzeugen ergebenden Befunds? Bedeutet die offensichtliche Fiktivität des Zitats, dass wir die Idee eines intertextuellen Bezugs zwar interessant finden können, sie aus der Sicht von Argumentationsrahmen (2) aber eigentlich nicht haltbar oder zumindest nicht mit ihm vereinbar ist? Auf den ersten Blick scheint das so zu sein, auf den zweiten ist es nicht der Fall. Das zeigt sich, wenn man die von Samuel Beckett stammende, von Michel Foucault aufgegriffene und im Folgenden z. T. bis zur Sinnentleerung kolportierte Sentenz „Wen kümmert’s, wer spricht?“26 aufgreift und gewissermaßen in ihr Gegenteil verkehrt; mit anderen Worten: wenn man auf das von Teilen der ‚Literaturwissenschaft‘ zeitweise konsequent verschmähte und gegenwärtig denn doch wieder fröhliche Urständ feiernde Konzept eines ‚Autors‘ zurückgreift, d. h. das Bezugsfeld erweitert und sowohl von der Annahme als auch der Relevanz eines unter bestimmten biographischen und soziokulturellen Umständen arbeitenden und mit spezifischen (wenn auch ihm selbst möglicherweise so nicht bewussten) Intentionen ausgestatteten historischen Subjekts ausgeht. Tut man das, so wird man nunmehr zu den Ego-Dokumenten Schnitzlers greifen und dort systematisch nach einem stichhaltigen Beleg für dessen persönliche Kenntnis der Geschichte der Prinzen Amgiad und Assad suchen. Das Ergebnis: Wie in diesem Fall ein Eintrag in Schnitzlers akribisch geführtem und glücklicherweise in einer sorgfältigen Edition vorliegendem Tagebuch belegt, war dem Autor der Traumnovelle das entsprechende Märchen wenn nicht durch eigene Lektüre, dann zumindest dank der Vermittlung seines langjährigen Freundes Hugo von Hofmannsthal nachweislich bekannt. Und nicht nur das: Im November 1894 hat Hofmannsthal Arthur Schnitzler und Richard Beer-Hofmann das, so Schnitzler in seinem Tagebuch, „Amgiad Assad Motiv“ mit der Absicht vorgestellt, selbst ein –––––––— 26

Einschlägig ist hier Michel Foucault: Was ist ein Autor [1969]. In: Ders.: Schriften zur Literatur. Frankfurt a. M. 1988, S. 7–31. Die aus Becketts Nouvelles et Textes pour rien stammende Formulierung „Qu’importe qui parle, quelqu’un a dit qu’importe qui parle?“, wird hier an Anfang und Ende des Vortrags zitiert. Zu Foucaults Konzept einer gegen die Ansätze sowohl von Hermeneutik als auch Strukturalismus gerichteten Diskursanalyse vgl. zuletzt Achim Geisenhanslüke: Michel Foucault. In: Klassiker der modernen Literaturtheorie 2010 (Anm. 15), S. 259–279.

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Theaterstück daraus zu machen.27 Zieht man infolge dieser Information hinzu, was es von Schnitzler selbst bislang nur in Ansätzen gibt, nämlich die im Fall Hugo von Hofmannsthals vom Freien Deutschen Hochstift veranstaltete Kritische Ausgabe seiner sämtlichen Werke, so zeigt sich weiterhin, dass Hofmannsthal seinerseits zwischen 1893 und 1894 an diesem Stoff gearbeitet hat und dass seine Version der Geschichte von den Prinzen Amgiad und Assad die nur skizzenhaft ausgeführte Geschichte von zwei Zwillingsbrüdern vorsah, die sich, wie Hofmannsthal in seinen ‚Aufzeichnungen‘ notiert, „unter dem Zwang ihrer Entwicklung entgegenstreben.“28 Von diesem Stand der Ermittlungen aus betrachtet, sind die mit Hilfe der Argumentationsrahmen (1) und (2) gewonnenen Befunde also durchaus kompatibel. Ja, so macht das Beispiel wohl deutlich, ein umfassendes Verständnis, wenn nicht auch eine überzeugende Interpretation des Textes bedingen geradezu, dass man sich nicht auf einen Rahmen beschränkt, sondern dass man sich beider Rahmen bedient und die in ihnen jeweils möglichen Erkenntnisse abgleicht. Tut man das konsequent, dann führt die über die Brücke des Amgiad-Assad-Motivs aufgenommene Spur zu Hofmannsthal übrigens noch weiter, was ich hier nur andeuten kann: Tatsächlich lässt Hofmannsthal die Idee zu einem Theaterstück fallen und wendet sich einem anderen Projekt, nämlich dem 1895 veröffentlichten Märchen der 672. Nacht zu. Schnitzler wiederum hat dieses ‚Märchen‘ nachweislich als eine nicht ganz konsequent komponierte, weil de facto nach dem Prinzip des Traums funktionierende Erzählung verstanden, und, so lässt sich zeigen, seine eigene Traumnovelle dann seinerseits nach dem Modell eines Märchens komponiert und insofern wie eine späte Antwort und einen skeptischen Gegentext zum Werk seines Freundes, aber eben auch ständigen Konkurrenten Hofmannsthal angelegt.29 Dieser Bezug auf einen Text Hofmannsthals und den Kontext des Ästhetizismus von Jung Wien erscheint nun wie Wasser auf die Mühlen des landläufigen und bis heute nahezu unausrottbaren Vorurteils, dass Arthur Schnitzler ein Autor ist, der zwar bis 1931 gelebt und gearbeitet hat, aber dessen auch nach 1918 entstandene oder doch zumindest ausgearbeitete Texte in den Verstehensrahmen der Jahrhundertwende und des Habsburgerreichs gehören. Dass das so nicht richtig ist und auch der Bezug auf Hofmannsthal nur eine von vielen möglichen Seiten eines faszinierend komplexen –––––––— 27

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So heißt es im Tagebuch am 15. 11. 1894 im Blick auf ein Gespräch mit Hofmannsthal („Loris“) und Richard Beer-Hofmann („Richard“) u.a.: „Nm Loris und Richard da; auch genachtmahlt. – Gespräch über das Amgiad Assad Motiv (Loris will Stück machen)“; Arthur Schnitzler: Tagebuch 1893–1902. Hrsg. von Werner Welzig. Wien 1989, S. 100. Hugo von Hofmannsthal: Amgiad und Assad. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hrsg. von Heinz Otto Burger u. a. Bd. 29: Erzählungen 2. Aus dem Nachlaß. Hrsg. von Ellen Ritter. Frankfurt a. M. 1978, S. 37–43, hier S. 37. Allgemein zur ‚Verkettung‘ der Figurenschicksale als Charakteristikum der in Tausendundeine Nacht erzählten Geschichten auch z. B. Richard Beer-Hofmann: Der Tod Georgs. In: Ders.: Gesammelte Werke. Frankfurt a. M. 1963, S. 523–624, hier S. 532: „In gewundenen labyrinthischen Wegen lief ihr Leben, mit dem anderer seltsam verkettet. Was einem Irrweg glich, führte ans Ziel; was sich planlos launenhaft zu winden schien, fügte sich in weise entworfene vielverschlungene Formen, wie die künstlich erdachten, goldgewirkten Arabesken auf der weißen Seide der Gebetsvorhänge. [...] So schien es, als könne keinem dieser Menschen etwas geschehen, denn jedem ward nur das Schicksal, das ihm bestimmt.“ Dazu und zu den entsprechenden Nachweisen im Einzelnen vgl. Scheffel 1997 (Anm. 9), bes. S. 194– 196.

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Michael Scheffel

Spätwerks darstellt, sei hier noch knapp skizziert. Zu diesem Zweck komme ich abschließend zur Frage des hier in einem allgemeinen Sinn als „vermittelndes Element“30 oder auch „Vermittlungsträger von Informationen“31 verstandenen ‚Mediums‘ und damit zu einem Aspekt, den ich bislang bewusst ausgeklammert habe. Tatsächlich ist der Text der Traumnovelle zunächst nicht im Medium des Buchs erschienen. In einer ersten Fassung wurde der Text vielmehr zwischen Dezember 1925 und März 1926 in sieben Heften der, so der Untertitel, „Illustrierten Mode-Zeitschrift“ Die Dame publiziert – also einer sehr aufwendig hergestellten Zeitschrift des Berliner Ullstein Verlags, die seit 1911 die Tradition der Illustrierten Frauenzeitung weiterführte. Ich vernachlässige an dieser Stelle, in welchen – im Einzelfall durchaus interessanten – Details der Text der Zeitschriften- und der Buchfassung differieren (wobei die Unterschiede, anders als z. B. im Fall der Journal- und Buch-Fassungen der Erzählungen von Adalbert Stifter, grundsätzlich nur geringfügig sind). Stattdessen möchte ich abschließend am Beispiel der Traumnovelle vorführen, wie der – jedenfalls aus der Sicht der üblichen literaturwissenschaftlichen Interpretationen – in aller Regel ignorierte mediale Kontext einen bestimmten Text nicht nur neu und anders ‚extern semantisiert‘, sondern wie er z. B. auch Aspekte verdeutlichen und hervorheben kann, die in diesem Text selbst durchaus angelegt sind, die man in seiner Rezeption aber üblicherweise missachtet oder schlicht übersieht. Im vorliegenden Fall betrifft dieses Phänomen die Tatsache, dass Schnitzlers in den zwanziger Jahren ausgearbeitete Traumnovelle – neben anderen Spätwerken wie z. B. Fräulein Else, Therese und Spiel im Morgengrauen – durchaus an Positionen der Neuen Sachlichkeit anschließbar ist32 und dass sie vor allem das Problem der sich in der zeitgenössischen Gegenwart – im Verhältnis zur Vorkriegszeit – dramatisch verändernden Geschlechterrollen reflektiert. In diesem Sinne ist auch die Traumnovelle, wie etwa Stephen Greenblatt und der New Historicism formulieren würden, ein Produkt der zirkulierenden ‚sozialen Energie‘ ihrer Entstehungszeit.33 Das zeigt sich im Wesentlichen daran, dass Schnitzler in seinen beiden Figuren Fridolin und Albertine zugleich die Vertreter zweier Epochen in einer Übergangszeit konfrontiert. So gesehen, entspricht die selbstbewusst und offen über ihren Körper und ihre sexuellen Wünsche sprechende Albertine in mancher Hinsicht dem Konzept der modernen ‚neuen Frau‘ der Nachkriegs- und Nachkaiserzeit,34 während der zu dieser Offenheit zunächst unfähige und von ihr auch vollkommen überforderte Fridolin dagegen noch den alten Denkmustern der männlich dominierten Gesellschaft der Vorkriegszeit und –––––––— 30 31 32

33 34

Medium. In: Duden. Bd. 5. Hrsg. von der Dudenredaktion. 9., aktualisierte Auflage. Mannheim u. a. 2007, S. 643. Lehr- und Übungsbuch Informatik. Hrsg. von Christian Horn, Immo O. Kerner u. a. Bd. 1. 3., völlig neu bearbeitete Aufl. München, Wien 2003, S. 343. In diesem Sinne zuletzt z. B. auch Joachim Heimerl: Arthur Schnitzler. Zeitgenossenschaft der Zwischenwelt. Frankfurt a. M. 2011. Zu Spiel im Morgengrauen in diesem Zusammenhang vgl. auch Michael Scheffel: Das Ende des Leutnants: ‚Spiel im Morgengrauen‘. In: Interpretationen. Arthur Schnitzler. Dramen und Erzählungen. Hrsg. von Hee-Ju Kim und Günter Saße. Stuttgart 2007, S. 230–239. Vgl. z. B. Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. Frankfurt a. M. 1993, bes. S. 13–16. Zum Bild der ‚neuen Frau‘ vgl. z. B. Neue Frauen. Die zwanziger Jahre. Hrsg. von Kristine Soden und Maruta von Schmidt. Berlin 1988.

Material, Medium und Text am Beispiel von Schnitzlers ‚Traumnovelle‘

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Donaumonarchie verhaftet ist. Neben der Verunsicherung, die sich daraus für das Miteinander der Geschlechter ergibt, ist ein wichtiges Thema der Traumnovelle in diesem Zusammenhang, wie sich der Mann dem, wie die Frauenrechtlerin Klara Blum in einem Nachruf auf den von ihr als ein „Pionier des Frauenrechts“ gewürdigten Schnitzler schrieb, „Gerechtigkeitsgedanken in der Erotik“35 öffnet. Wie Schnitzlers Text diesen spannungsvollen Prozess im Einzelnen gestaltet, kann nicht Thema dieses Beitrags sein.36 Veranschaulicht aber sei, wie die unmittelbaren Textillustrationen und das Umfeld von Schnitzlers Text ihrerseits einen besonderen Bezugsrahmen eröffnen und die in der Traumnovelle verhandelten Themen Paarbeziehung, Geschlechterrollen, Körper und Kleidung im buchstäblichen und übertragenen Sinn sowie die neuen Bilder der Frau auf ihre Weise akzentuieren – oder, anders gewendet, dass eben diese Themen in den mittzwanziger Jahren zu den zentralen Gegenständen der Zeitschrift Die Dame in Wort, Bild und Anzeigen gehören. Um nur einige wenige Beispiele herauszugreifen und eine schmale Auswahl von Bildern zu präsentieren: Das Titelbild des einen Teil der Traumnovelle enthaltenden ‚Zweiten Januarheftes 1926‘ (Heft 9) der Zeitschrift zeigt das Miteinander der in diesem Fall phantastisch kostümierten Geschlechter in herkömmlichen Rollen: er in aktiv-werbender, sie in passiv-lockender Haltung (Abb. 1). Weitere Bilder dokumentieren, wie auch Die Dame das Bild der neuen Frau in unterschiedlichen Facetten variiert und reflektiert (Abb. 2 und 3). Dabei bilden diese Bilder nicht nur im weiteren Sinne einen visuellen Kontext für Schnitzlers Traumnovelle, sondern sie sind z. T. wie Illustrationen unmittelbar in den Textabdruck selbst integriert (Abb. 4). Der in einer Bildunterschrift explizit angesprochene, nach allgemeinem Verständnis von Schnitzler begründete Typus des populären, in aller Regel als Jahrhundertwendefigur verstandenen ‚süßen Mädels‘ erscheint hier z. B. in neuer Gestalt, nämlich frei von jeder regional begründeten ‚Folklore‘ und im Lichte einer neusachlichen Ästhetik (Abb. 5). Eine vergleichbare Wandlung gilt schließlich auch für den ‚neuen Mann‘, der diesen Frauen gegenübersteht und der hier seinerseits im orientalisierenden Kostüm und in Gestalt des, so die Bildunterschrift, „wegen seiner Anmut und Gewandtheit sehr bewundert[en]“ Schauspielers Douglas Fairbanks im Dieb von Bagdad vorgestellt wird (Abb. 6). Blicken wir von diesen Bildern und dem durch den medialen ‚Textraum‘ der Zeitschrift Die Dame eröffneten besonderen Bezugsrahmen der Traumnovelle in den mittzwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts noch einmal auf die Ausgangsfrage zurück: Sowohl die konkreten materialen als auch die medialen Kontexte eines Textes gehören, so hat dieser Beitrag in hoffentlich anschaulicher Form vorgeführt, notwendig zur „Menge der für die Erklärung eines Textes relevanten Bezüge“, d. h. sie sind für die interpretatorische Praxis von im Einzelfall geradezu elementarer Bedeutung. Anders gewendet: Die in letzter Konsequenz mit zwei unterschiedlichen Textbegriffen verbundene Ausdifferenzierung der philologischen Disziplinen in die Spezialdis–––––––— 35

36

Klara Blum: Artur [sic!] Schnitzler, ein Pionier des Frauenrechts. In: Arbeiter-Zeitung 44, Nr. 302, 2. 11. 1931, S. 3. Nachdruck in Dies.: Kommentierte Auswahledition. Hrsg. von Zhidong Yang. Wien u. a. 2001, S. 446 f., hier S. 447. Vgl. dazu Scheffel 2006 (Anm. 7), bes. S. 110–115.

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Michael Scheffel

kurse der Editions- und der sogenannten Literaturwissenschaften ist in mancher Hinsicht sicher nützlich und sinnvoll. Sie ist aber auch gefährlich. Zumindest eine sich als Textwissenschaft verstehende und an der Idee von intersubjektiv relevanten Textinterpretationen interessierte Literaturwissenschaft jedenfalls sollte das ‚Paradigma des immateriellen Textes‘ verabschieden und sich bei ihren Lektüren immer auch wenigstens probehalber für die medialen Kontexte von Texten sowie für den Reichtum an Material interessieren, das eine gut kommentierte historisch-kritische Edition prinzipiell bereithält oder aber – wie im Falle von Arthur Schnitzler – demnächst bereithalten könnte.

Abbildungen

Abb. 1: Die Dame 53, 1926, H. 9, Titelseite.

Material, Medium und Text am Beispiel von Schnitzlers ‚Traumnovelle‘

Abb. 2: Die Dame 53, 1926, H. 11, S. 1; Bildunterschrift: „Fräulein Spinelly, eine in Modedingen tonangebende Pariser Bühnenkünstlerin, in einem phantastischen Bühnenabendkleid.“

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Abb. 3: Die Dame 53, 1926, H. 9, S. 1; Bildunterschrift: „Margarete Köppke (vom Deutschen Volkstheater – Raimundtheater in Wien) als Hofmarschall Lea Giba in Wedekinds ‚Kaiserin von Neufundland‘.“

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Michael Scheffel

Abb. 4: Die Dame 53, 1926, H. 10, S. 14 f.; Bildunterschrift: „Die Tänzerin und Filmschauspielerin Bessie Love.“

Abb. 5: Die Dame 53, 1925, H. 6, S. 4 f.; Bildunterschrift: „Das süße Mädel. Aufnahme der Schauspielerin Damita von d’Ora, Paris.“

Material, Medium und Text am Beispiel von Schnitzlers ‚Traumnovelle‘

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Abb. 6: Die Dame 53, 1926, H. 9, S. 14 f.; Bildunterschrift: „Douglas Fairbanks, der amerikanische Filmschauspieler, der wegen seiner Anmut und Gewandtheit sehr bewundert wird, im ‚Dieb von Bagdad‘.“

Gustav Frank

„Heuschreckenschwärme von Schrift“ Zu ‚après-texte‘ und ‚mise en page‘ von Walter Benjamins Einbahnstraße

Für Christian Begemann zum 60. Geburtstag

1.

Die Implikationen des ‚avant-texte‘: Materialität, Performanz, Kulturalität

Das Konzept des ‚avant-texte‘ hat nachhaltig für eine Erweiterung des editorischen Interesses gesorgt. Es rückte den Eigenwert der Werkgenese in den Mittelpunkt und schuf der Prozessualität der Herstellung selbst damit ein Forum, das auf der Basis älterer Modelle von Autorschaft bislang allein die ‚eigene Hand‘, das Autograph, besetzt hatte. Nun konnte nicht mehr nur das Werk als Ziel des künstlerischen Schaffensprozesses gewürdigt werden, sondern dieser wurde als Serie von Schreibprozessen1 erschlossen und selbst als bedeutende Arbeit und kulturrelevanter Vorgang erkennbar. Von hier aus konnte und kann die Edition Impulse setzen, die die Textinterpretation prägen, indem sie die Materialität der Textgenese freilegt, also die Formgestalt der Manuskripte ebenso in Rechnung stellt wie die Arbeit am und mit dem Papier und den Gerätschaften, welche die ‚Schreib-Szenen‘2 recht eigentlich ausmachen, also die ‚paper work‘ im buchstäblichen Sinne des Beschreibens aber auch Beschneidens und Beklebens. Die konsequente Vertiefung dieser textgenetischen Fragerichtung führt(e) auf die Kulturalität der Prozesshaftigkeit selbst, sowohl in ihren individuellen wie überindividuellen und nicht zuletzt post-humanistischen Aspekten. Denn erst wenn Materialität nicht länger als ‚tote‘ aufgefasst, sondern im Sinne etwa des ‚Agential Realism‘ von Karen Barad verstanden wird, die Gegenständlichkeit soweit aufwertet, dass „matter is substance in its intra-active becoming – not a thing“, und feststellt, dass „matter refers to the materiality/materialization of phenomena“, ist es angemes–––––––— 1 2

Vgl. Almuth Grésillon: Literarische Schreibprozesse. In: Domänen- und kulturspezifisches Schreiben. Hrsg. von Kirsten Adamzik, Gerd Antos und Eva-Maria Jakobs. Frankfurt a. M. u. a. 1997, S. 239–253. Ohne Rekurs auf solch invasive Papierarbeiten identifiziert Rüdiger Campe hier ein „nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste“ (Rüdiger Campe: Die Schreibszene, Schreiben. In: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht und Karl Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1991, S. 759–772, hier S. 760); vgl. „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. Hrsg. von Martin Stingelin unter Mitarbeit von Davide Giuriato und Sandro Zanetti. München 2004 (Zur Genealogie des Schreibens. 1).

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Gustav Frank

sen, ihr die volle Aufmerksamkeit des Editors zuzuwenden:3 „The point is not merely that there are important material factors in addition to discursive ones; rather, the issue is the conjoined material-discursive nature of constraints, conditions, and practices.“4 Die von der ‚critique génétique‘ geltend gemachte Prozessualität der Textgenese ist von daher zur Performanz der Materialien erweitert zu denken, insofern auch der material-medialen Tatsächlichkeit agency eingeräumt werden muss, also ein signifikanter Beitrag zur Bedeutungsgenese, der über den ‚Transport‘ von Bedeutungen hinausreicht. Von hier aus eröffnet sich eine ganze Reihe von Verzweigungen, so etwa ein Verständnis der Formgestalt des Manuskripts oder Typoskripts als Komposit vornehmlich aus Verbalität und Visualität. Diese Interessensverschiebung lenkt auch die editorische Aufmerksamkeit auf ein umfangreiches Phänomenspektrum, das über die Schriftlichkeit hinausgeht und von anderen Notationsformen bis hin zu graphischer Gestaltung und zu Bildelementen reicht, die bislang hinter dem idealen Editionsziel ‚reiner Textualität‘ zurücktreten mussten.5 Mit der Kritik an den textimmanenten und strukturalistischen Methoden der Literaturwissenschaften, die dieses Ideal des ‚besten Textes‘ noch einmal verstärkt an die Editionspraxis herangetragen hatten, gewinnt die Editionswissenschaft jedoch auch ihre Unabhängigkeit von solchen Vorgaben zurück und kann sich der Eigenlogik der Überlieferungsträger zuwenden – ein Alleinstellungsmerkmal, das Editorik von einer Hilfswissenschaft der Literaturwissenschaften zur eigenständigen Disziplin emanzipiert. Die dadurch ermöglichte Aufmerksamkeit auf Überlieferungsträger führt sie auf ein Phänomenspektrum, das selbst bislang kaum schon differenziert erfasst worden ist, und über den engen philologischen Rahmen hinaus in die Arbeitsgebiete der ‚Visual Studies‘ und der ‚Material Culture‘. James Elkins hat der übersehenen Vielseitigkeit der medialen Überlieferung in einem ersten Zugriff durch eine Typologie abzuhelfen versucht, die trotz ihrer klassifikatorischen Grenzen zumindest das Bewusstsein für diese Vielfalt schärfen konnte. Er unterscheidet darin zwischen den drei Reinformen der Schriftlichkeit (Al–––––––— 3

4 5

Karen Barad: Posthumanist Performativity. Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter. In: Signs. Journal of Women in Culture and Society 28,3, Spring 2003, S. 801–831, hier S. 822. Natürlich soll damit einem „aufgeklärten Animismus“ (Bernhard Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel. Frankfurt a. M. 2010, S. 78–83) das Wort geredet werden, ohne dabei „the lure of immediacy“ zu erliegen; vgl. Janet Wolff: After Cultural Theory: The Power of Images, the Lure of Immediacy. In: Journal of Visual Culture 11,1, 2012, S. 3–19. Barad 2003 (Anm. 3), S. 823. Allerdings wird die Visualität der Literatur vermehrt zum Thema, so im Berliner Graduiertenkolleg „Schriftbildlichkeit“; vgl. Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen. Hrsg. von Sybille Krämer, Eva Cancik-Kirschbaum und Rainer Totzke. Berlin 2012. Angesichts der hier explizit ausgestellten Gegenposition gegen den ‚linguistic turn‘ und seine „Schriftskepsis“ (vgl. Sabine Mainberger: Schriftskepsis. Von Philosophen, Mönchen, Buchhaltern, Kalligraphen. München 1995), die sinnkonstitutive Elemente zunehmend außerhalb der sprachlichen Repräsentation und Semantik sucht, erstaunt die völlige Abwesenheit der bildtheoretischen Debatte, die nunmehr seit einem Vierteljahrhundert geführt wird; vgl. Gustav Frank: Textparadigma kontra visueller Imperativ: 20 Jahre Visual Culture Studies als Herausforderung der Literaturwissenschaft. Ein Forschungsbericht. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 31,2, 2006, S. 26–89, sowie Ders.: Literaturtheorie und Visual Culture. In: Bildtheorien: Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn. Hrsg. von Klaus Sachs-Hombach. Frankfurt a. M. 2009, S. 354–392.

„Heuschreckenschwärme von Schrift“

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lographen),6 Notation und Bildlichkeit (Hypographeme) und macht zudem auf die Übergänglichkeit in den vier Mischformen der Semasiographen, Pseudoschriften, Subgrapheme, schließlich Embleme und Diagramme aufmerksam.7 Da Trennschärfe die Schwäche solcher Typologien ist, müssen hierzu grundlegende Leistungen im Bereich der Klassifikation und Terminologie von einer medienkulturwissenschaftlichen Editorik erwartet werden, die sich ihren Auftrag nicht länger auf Textualität begrenzen lässt. Wie die Geschichte der Selbstverständigung über Typographie und Satz lehrt, sind bereits deren Fachbegriffe alles andere als sachlich-neutraler Natur. Wenn für Bleiteile, welche die Sichtbarkeit der Buchstaben durch ihre eigene Unsichtbarkeit nach dem Druck ermöglichen, Namen wie Blindmaterial oder Fleisch gefunden werden, liefern diese direkte Hinweise auf die material-sinnliche und visuelle Produktion von Bedeutsamkeit.8 Dieses Spiel der materialen Grundlage vollzieht sich jedoch überwiegend unbemerkt im Hintergrund. Erst als die Sprache in die Kritik gerät und alternative Aufzeichnungstechniken mit der Schrift zu konkurrieren beginnen, wird es von der Moderne aber zur Kenntlichkeit erhoben. In Werken wie Mallarmés Coup de dés, auf den Benjamin sich ausdrücklich bezieht (WuN 8, 29),9 wird so das die Druckseite bestimmende Modell als Episteme der geometrischen Fläche erstmals sichtbar, lesbar und kritisierbar. Auf der Basis der cartesischen Geometrie ruht sowohl die sichtbar gestaltete zweidimensionale Fläche des Blattes als auch der unsichtbare typographische Raum der Bleisatzbuchstaben-Körper. Mit dieser Einsicht wird die Schrift von ihrer Aufgabe als sekundärem Notationssystem der vorgängigen Sprache entbunden und als graphovisuelles Gestaltungselement freigesetzt. Damit greifen aber auch die Wandlungen der Sehkonventionen, die auf Ergebnisse der Physiologie des Auges und der Psychologie der Wahrnehmung zurückgehen und seit Goethes Farbenlehre das 19. Jahrhundert erschüttern, auf die Sprache als Schrift über.10 Erst vor diesem Hintergrund sind Benjamins „Heuschreckenschwärme von Schrift“ (GS IV, 103; WuN 8, 30) nicht einfach nur Metapher, sondern dokumentieren Bewusstwerdung, Kritik und Überschreitung derjenigen cartesianischen Rationalität, die Wahrnehmung bis ins 19. Jahrhundert hinein organisiert hat, dann vom stereoskopischen Sehen überformt –––––––— 6

7 8

9

10

Zum Stand der literaturwissenschaftlichen Forschung vgl. Uwe Wirth: Sprache und Schrift. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Hrsg. von Thomas Anz. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2007, S. 203–213. Vgl. James Elkins: The Domain of Images. Ithaca 1999. Vgl. jetzt zu dieser Überschreitung der ‚sichtbaren‘ Typographie in die Domäne des ‚unsichtbaren‘ Satzes: Von Lettern und Lücken. Zur Ordnung der Schrift im Bleisatz. Hrsg. von Mareike Giertler und Rea Köppel. München 2012. Benjamin wird nach folgenden Ausgaben und mit folgenden Kürzeln im Text zitiert: Walter Benjamin: Schriften. Hrsg. von Theodor W. Adorno und Gretel Adorno unter Mitwirkung von Friedrich Podszus. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1955 (Schriften Band, Seite); Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem. Frankfurt a. M. 1972 ff. (GS Band, Seite); Ders.: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. im Auftrag der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur von Christoph Gödde und Henri Lonitz in Zusammenarbeit mit dem Walter Benjamin Archiv. Frankfurt a. M. 2008 ff. (WuN Band, Seite). Vgl. dazu Gustav Frank: Das Laokoon-Regime. Ästhetik und Visuelle Kultur von Lessing bis Helmholtz (in Druckvorbereitung).

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Gustav Frank

und von den Spektakeln und Attraktionen abgelöst wurde, die sich dem neuen Sehen verdanken.11 In Benjamins Einbahnstraße werden diese veränderten Grundlagen von Erfahrung nicht nur in Texten thematisch, sondern erzwingen zugleich damit korrespondierende Konsequenzen auf der Ebene der Performanz von Textualität. Bereits wenn sich die Editorik auf diese Performanz der Textualität einlässt, stellt sie sich ihr als veritables Dokumentationsproblem. Bisherigen Herausforderungen, wie der Verabschiedung des qualitativ definierten Autor-Werk-Kanons durch quantitative Quellen oder der Zuspitzung der Autor-Werk-Treue, hat man versucht, durch die Faksimilierung und Digitalisierung zu begegnen. Der lebendigen Performanz des Materials kann durch Digitalisierung jedoch nicht vollständig abgeholfen werden, weil gerade dadurch Materialität als Grundlage und genuines Medium des Prozesses negiert würde.

2.

Die Implikationen des ‚après-texte‘: Medialität der Veröffentlichung und ‚mise en page‘

Neben dieser paradigmatischen Achse der Aufgabenerweiterung der Editorik soll hier jedoch vor allem das bislang unerschlossene ganze Syntagma in den Blick genommen werden, das die ‚critique génétique‘ einst aufgerufen hatte. Eingedenk war die Edition seit jeher der Rekursionsschleifen, die den Text als einmal publiziertes Werk wieder in die Werkstatt zurückführen und den textgenetischen Praktiken erneut unterwerfen. Die ‚critique génétique‘ hat jedoch darüber hinaus als erste auf die Folgeprozesse aufmerksam gemacht, die das Werk nicht immer wieder zu seinem Autor zurückkommen lassen, sondern es Transformationen in einer bisweilen verzweigten und nicht in allen Einzelheiten zurechenbaren Publikationsgeschichte unterwerfen. Diese Prozesse hätte der von Jean Bellemin-Noël früh eingeführte Begriff des ‚après-texte‘ umfassen können,12 praktisch ist dieser bislang jedoch, soweit ich sehe, mit den genannten Rekursionsschleifen der Ausgaben und ihrer Varianten in eins gesetzt worden. Obwohl man mit einigem Recht noch gegen die Rede vom ‚avant-texte‘ eingewandt hat, sie verfestige den Primat des Werkes als Text,13 musste dieser Begriff nicht notwendig als Hierarchisierung gelesen, sondern konnte auch nur publikationsgeschichtlich im Sinne mehr einer Zeit- als einer Rangordnung aufgefasst werden. Während es sich hierbei weniger um eine theoretische Streitsache als eine Frage der immanenten Wertung innerhalb einer Praxeologie handelt, ist eine Verkürzung des ursprünglichen Projektes der ‚critique génétique‘ um den ‚après-texte‘ schon weit eher eine theoretisch-methodische Frage der Editorik. Sie soll hier am Beispiel positiv zugunsten einer Inklusion des ‚après-texte‘ beantwortet werden. Neben die Hinwendung zu Schreibprozessen, welche die Textgenese zu einem komplexen Gebilde mit einer großen inneren Dynamik machen, voller virtueller Ver–––––––— 11 12 13

Vgl. Jonathan Crary: Géricault, the Panorama, and Sites of Reality in the Early Nineteenth Century. In: Grey Room 09, Herbst 2002, S. 5–25. Jean Bellemin-Noël: Avant-texte, texte, après-texte. Paris 1972. Vgl. Cori Mackrodt: Aufbrechende Schrift: Textgenetische Lektüren von Friedrich Hölderlins „Der Einzige“. Würzburg 2007.

„Heuschreckenschwärme von Schrift“

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zweigungen und aufschlussreicher Sackgassen, die dem ‚in progress‘ denselben Stellenwert wie dem ‚work‘ verleihen, tritt ein ebenso variantenreicher Publikationsprozess. Er transportiert nicht einfach das vollendete Werk in Mediencontainern an die Öffentlichkeit, sondern gibt ihm eine eigene Gestaltung, die weniger Ornament bleibt, als bedeutungsgenerierend die Textgenese – oft jenseits von Autorschaft – weitertreibt. Durch den Fokus auf den ‚après-texte‘ gewinnt auch die Rede von der Medialität der Textproduktion eine zusätzliche und, so die These, bisher vollkommen übersehene Dimension. Zu berücksichtigen sind jetzt nämlich nicht nur Materialität und Medialität des überwiegend ‚autorisierten‘ ‚avant-texte‘, sondern eben auch diejenigen der mehrheitlich ‚unautorisierten‘ Publikationsformen respektive der ‚unautorisierten‘ materialen und medialen Elemente im Publikationsprozess. Mein Beitrag will genau diese Dimension in den Mittelpunkt rücken. Er geht von der Beobachtung aus, dass die Relevanz von Medium und Material des veröffentlichten Textes für die literarische Kultur bislang vernachlässigt ist. Und er will dies anhand der Relevanz dieser Dimensionen für die literaturwissenschaftliche Interpretation des Textes zu belegen versuchen, das heißt der These folgen, dass sie in die Semantik des Textes nachhaltig eingreifen – ja, wie im vorgestellten Beispiel, sogar den Begriff des ‚texte‘, wie ihn auch die ‚critique génétique‘ aufrechterhält, einer radikalen Kritik aussetzen. Dies kann weder folgenlos für die Editorik noch für die von ihrer Dokumentationspraxis abhängige literaturwissenschaftliche Interpretation sein. Kennzeichnend für die Medialität veröffentlichter Texte ist die Veränderung der graphovisuellen Inszenierung des ‚texte‘, seine je neue ‚mise en page‘,14 die vor allem bei Aufmerksamkeit auf den Wechsel des Mediums ins Auge springt. Die Inszenierung des Textes ist allerdings nur dann angemessen und komparativ zu erfassen, wenn die gesamte (print-)mediale Ordnung – bereits Walter Benjamin sieht das Phänomen und verwendet hierfür den Begriff „Organisationsform“ (GS II,2, 688) – ernst genommen, nicht wieder nur der ‚Zieltext‘ gleichsam herausgeschnitten und als ‚autorisiert‘ isoliert wird. Erst diesem Blick erschließt sich die Zweidimensionalität, Flächigkeit und Geometrie der Seite15 und die Dreidimensionalität, gleichsam die Architektur des ‚Buches‘, wenn der Text solcherart umbrochen oder serialisiert wurde.16 Ein Großteil des Interesses für die Medialität des veröffentlichten Textes isoliert wiederum die Medienspezifika vom Text, wie die Literaturwissenschaft schon die Paratexte von der Textbedeutung zumeist abtrennt, und ist im Bereich der Sammler –––––––— 14

15

16

Den Begriff führt Werner Morlang im Zusammenhang mit Walsers Mikrogrammen ein und damit über den Gebrauch als Synonym für Layout und Umbruch hinaus; Werner Morlang: Melusines Hinterlassenschaft. Zur Demystifikation und Remystifikation von Robert Walsers Mikrographie. In: Runa. Revista portugesa de estudos germanisticos 21, 1994, 1, S. 81–100, hier S. 96. Wieder aufgenommen wird der Begriff von Peter Utz: Tanz auf den Rändern. Robert Walsers „Jetztzeitstil“. Frankfurt a. M. 1998, S. 355. Für den Hinweis danke ich Barbara von Reibnitz. Wie der Beitrag von Barbara von Reibnitz im vorliegenden Band demonstriert, sind editorische Methoden zu entwickeln, die der zweidimensionalen Kartierung der Zeitung wie in der geplanten RobertWalser-Ausgabe dienen. Allerdings ist auch auf die dreidimensionale Verzeichnungsnotwendigkeit für Zeitungs- und Zeitschriftenpublikationen hinzuweisen, die neben der als flächiges Tafelbild aufgefassten Zeitungsseite eine plastische Raumordnung implizieren; vgl. Catherine de Smet: Vers une architecture du livre. Le Corbusier: édition et mise en page 1912–1965. Baden-Baden 2007.

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Gustav Frank

ghettoisiert, die sich auf Bucheinbände, Buchumschläge und weitere, nicht fest mit dem Medium verbundene, nicht weniger aber auf die Publikation hin gestaltete Elemente wie Lesezeichen und das weite Feld werblicher Dreingaben konzentrieren, die öffentliche Archivierungsprozesse in Bibliotheken zumeist ausgeschlossen oder nur zufällig erfasst haben.

3.

Walter Benjamins Einbahnstraße zum Beispiel

Bei Ernst Rowohlt, seinerzeit Berliner Verleger der jungen in- und ausländischen Literatur, konnte Walter Benjamin 1928 seine germanistische Habilitationsschrift Ursprung des deutschen Trauerspiels (GS I,1, 207–430) veröffentlichen, mit der er 1925 an der Frankfurter Universität gescheitert war. Im selben Jahr und Verlag ist auch Benjamins Einbahnstraße zuerst erschienen. 1955 findet der Text Aufnahme in die von Theodor W. Adorno und Gretel Adorno herausgegebenen Schriften in zwei Bänden bei Suhrkamp (Schriften I, 515–581). Die erste kommentierte Edition erfolgte, besorgt von Tillmann Rexroth, im Band IV der Gesammelten Schriften 1972, die zweite, von Detlev Schöttker kommentierte Edition als Band 8 der Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe am 16. November 2009. Zwischen die beiden kommentierten kritischen Ausgaben schiebt sich der Faksimile-Druck bei Brinkmann & Bose Berlin, der 1983 in einer einmaligen Auflage von 1200 Exemplaren erschien. Die Editionssituation ist also vergleichsweise luxuriös. Es kann somit nicht darum gehen, einen neuen Gegenstand der editorischen Aufmerksamkeit zu empfehlen, als der Editorik eine neue Aufmerksamkeit vorzuschlagen. Deshalb will ich Edieren ganz im Sinne des vorliegenden Sammelbandes und der ihm zugrunde liegenden Tagung programmatisch als ein ‚Zur-Verfügung-Stellen‘ alles dessen auffassen, was der Leser an Informationen zu Material und Medium braucht, um die kulturelle Valenz eines Textes oder besser einer Textur beurteilen zu können. Mit den folgenden Ausführungen zu Walter Benjamins Einbahnstraße möchte ich dafür plädieren, bei der Beschäftigung mit Editionsgeschichte neben dem Gehalt auch im Sinne der oben entwickelten Aspekte die visuelle und materielle Erscheinung und mediale Umgebung des Textes in den Blick zu nehmen, die sich mit dem Gehalt mehr oder weniger deutlich verzahnen können, die in jedem Fall aber seine Funktion verändern. Im Mittelpunkt werden also die Möglichkeitsbedingungen des Sichtbarwerdens eines Textes in seiner Kultur und damit die Erscheinungsweise und -form als Träger von Bedeutung stehen. So wären nicht wie im traditionellen Materialienband zusätzliche Texte wie Rezeptionszeugnisse zugänglich zu machen, sondern die buchstäblich materiale Seite eines Artefakts, die chemisch-physikalische, aber auch alle Elemente umfasst, die nicht mit sprachanalogen Verständnismodellen unmittelbar aus dem Text selbst erfasst werden können. Hier wird die Textur aus einem semantischen in ein operatives Notat transformiert. Zudem hätte sich die Aufmerksamkeit auf diejenigen Ordnungen einzustellen, die im jeweiligen Medium den Text durchqueren, ohne in ihm selbst textsemantische Spuren zu hinterlassen, seine Semantik aber für diese Ordnungen funktionalisieren. Hier wird die Textur aus einem eigenständigen intentionalen Werk in einen funk-

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tional-konstruktiven Baustein derjenigen Medienordnung/„Organisationsform“ (GS II,2, 688) transformiert, die sie erscheinen lässt. Mit dieser Einstellung des Blicks sind Material und Medium der Veröffentlichung von Literatur selbst dann alles andere als gleichgültig, wenn der Text sich nicht unmittelbar dieser seiner ‚conditiones sine qua non‘ annimmt. Umso mehr werden die literaturwissenschaftliche Edition und nichts weniger die Interpretation auf diese ‚conditiones‘ gestoßen, wenn der Text seine Selbstreflexion vor allem auf diese beiden aus seinen vielfältigen Möglichkeits- und Existenzbedingungen richtet. Genau diese quasi selbstreflexive Dimension hat Walter Benjamins Einbahnstraße. Meine Dokumentation zu Medium und Material wird in drei Schritten erfolgen: Nachdem ich an die vorliegenden Ausgaben kurz erinnert habe, werde ich in Abschnitt 4 über Zeitung/Zeitschrift, in Abschnitt 5 über Bilder und ihre ‚Beschriftung‘ und in Abschnitt 6 über die im Titel angekündigten Heuschreckenschwärme reden.

4.

Die Zeitung (WuN 8, 97 f.)

Die Kommentare von Rexroth und Schöttker dokumentieren, dass die Einbahnstraße ein Text aus Texten ist, die ursprünglich als Einzelveröffentlichung, dann als Vorabdruck aus den Aushangbogen fast ausnahmslos17 in die Zeitungs- und Zeitschriftenlandschaft eingelassen sind. Sie finden sich in der Buchausgabe nur einmal in der kompakten und komponierten Form einer Broschüre zusammen, um danach wieder in diese Landschaft einzugehen: durch Nachdrucke. Benjamins Affinität zur periodischen Presse als eigensinniger und gestalteter Form zeigt sich schon sehr früh, als er beim Plan zu seinem Angelus Novus (1921) auch einen Titelentwurf liefert, der das titelgebende Aquarell Paul Klees in eine mediengerechte Typographie zu übersetzen versteht. In der Ankündigung der Zeitschrift Angelus Novus artikuliert sich dieses Medienbewusstsein, womit avantgardistischer Programmatik und autorschaftlicher Intentionalität zugunsten der Kraft historischer Verhältnisse eine Absage erteilt wird, auch bereits konzeptionell, das in Publikationen der folgenden beiden Jahrzehnte nur mehr angereichert werden wird: Nur für zielbewußtes Wirken Einzelner oder Verbundener gelten Programme; eine Zeitschrift, welche als Lebensäußerung einer bestimmten Geistesart immer sehr viel unberechenbarer und unbewußter, aber auch sehr viel zukunftsvoller und entfaltungsreicher ist als jede Willensäußerung, verstände, in welchen Sätzen immer sich erkennend, schlecht sich selbst. [...] Die wahre Bestimmung einer Zeitschrift ist, den Geist ihrer Epoche zu bekunden (GS II,1, S. 241).

Einzelstücke der späteren Einbahnstraße erscheinen dann seit 1925 in den Zeitungen Berliner Tageblatt, Frankfurter Zeitung (drei), Wochenblatt der Frankfurter Zeitung, Hamburger Anzeiger, Heidelberger Tageblatt, Rhein-Mainische Volkszeitung, Hessischer Volksfreund, Magdeburgische Zeitung, Vossische Zeitung; sowie in den Zeit–––––––— 17

Diese Ausnahmen sind die Anthologie Das Buch der Träume von Ignaz Jessower, ebenfalls 1928 bei Rowohlt, und ein Programmheft der Münchner Kammerspiele vom März 1928, das eine Karl-KrausInszenierung mit dem Stück Kriegerdenkmal aus Einbahnstraße begleitet.

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schriften Die literarische Welt (drei) und i 10. Internationale Revue.18 Auszüge erscheinen nachgedruckt in Berliner Börsen-Courier, Die Weltbühne, Hamborner Volks-Zeitung, Prager Tagblatt, 8-Uhr-Blatt (Nürnberg), Neue Badische Landeszeitung (zwei), Annalen. Burkhardt Lindner ist also insofern zuzustimmen, als „Benjamins Werk [...] in seinem Hauptteil aus Einzeltexten [besteht]; allein die als abgeschlossen geltenden Arbeiten umfassen über 500 Titel“, während „Benjamin zu Lebzeiten nur vier Bücher publizieren“ konnte.19 Von diesen Buchpublikationen erweist sich Einbahnstraße jedoch ebenfalls basiert auf solchen Einzeltexten der kleinen, zeitungs- und journalfähigen Form. Bei Benjamin, so ist Lindner deshalb wiederum berechtigt zu sagen, „wie sonst wohl bei niemandem anders ist die Qualifizierung von Hauptwerken und Nebenarbeiten völlig hinfällig“.20 Detlev Schöttkers Dokumentation dieser Einzeltexte kann auf den Nachlass im Walter Benjamin Archiv zurückgreifen.21 Dort sind sie als Zeitungsausschnitte, die Schöttker als Ausriss bezeichnet, überliefert und tragen überdies Drucknachweise, Korrekturen und Notizen von Benjamins Hand, gelegentlich auch von fremder. Einmal bemerkt Schöttker „Markierungen mit blauem Stift, die wahrscheinlich Einzeichnungen des Ausschnittsbüros sind“ (WuN 8, 275). Benjamin greift also auf eine etablierte Verzettelungstechnik der Tagesberichterstattung zu. Zeitungsausschnittbüros, auch Presseausschnittdienst genannt, entstehen als eine Konsequenz der industrialisierten Massenpresse, die 1914 allein im Deutschen Reich bereits über 4000 Zeitungstitel umfasst. Diese ‚clipping services‘ reagieren auf den Bedeutungszuwachs der industrialisierten Massenpresse, die schon bald Probleme des Überblicks und Archivierens aufwirft. Zum epistemischen Gegenstand wird die ‚Zeitung‘ dann allerdings endgültig erst in der Weimarer Republik, deren demokratische Mehrheitsentscheide selbst prinzipiell auf Öffentlichkeit beruhen. 1926 wird die erste Fachzeitschrift unter dem Titel „Zeitungswissenschaft“ gegründet und der erste zeitungswissenschaftliche Lehrstuhl besetzt. Die Zeitung ist damit als zu beobachtendes und zu gestaltendes Objekt von öffentlicher Relevanz endgültig etabliert. Auch Benjamins öffentliche Existenz hat in der periodischen Presse ihren Schauplatz, zugleich hat seine theoretische Energie an ihr einen gewichtigen Gegenstand.22 –––––––— 18

19 20 21

22

Der Herausgeber der Zeitschrift Müller Lehning berichtet im Vorwort zur Reprint-Ausgabe: i 10. Internationale Revue. Hrsg. von A. Müller Lehning. Jahrgang I, Nr. 1–12 und Jahrgang II, Nr. 13–22. Amsterdam: De Tijdstroom 1927–1929. 4°. 22 in 19 Heften, beiliegend 4 Bll. Index. Mit zahlreichen, teils ganzseitigen Abbildungen, Skizzen und Plänen. Textbeiträge in Deutsch, Englisch, Französisch und Niederländisch. Farbige Umschläge. Nendeln 1979, S. 3–6. Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Burkhardt Lindner. Stuttgart, Weimar 2006, S. XI. Benjamin-Handbuch 2006 (Anm. 19), S. XII. Auch das Benjamin-Archiv ist noch am ‚avant texte‘ interessiert, wie sich zeigen lässt anhand von: Walter Benjamins Archive. Bilder, Texte und Zeichen. Frankfurt a. M. 2006, Kap. 9: Konstellationen: Graphische Gestalten (S. 182–195). Dabei geht es um das Layout der Manuskripte, um Intentionalität und Autorschaft, Authentifikation und Werkherrschaft über das Manuskript, bevor es buchstäblich aus der Hand gegeben wird, wie die Redensart dafür zutreffend heißt. Darauf reagiert die Veröffentlichung des Archivs, der materialen und medialen Gestalt seiner Dokumente, bislang jedoch nur, soweit sie im genetischen Zusammenhang des ‚avant-texte‘ stehen. Auch Víctor del Río konstatiert eine Art „Verzeitschriftung“ am Beispiel von Benjamins Œuvre (Víctor del Río: Factografía. Vanguardia y comunicación de masas. Madrid 2010, S. 166).

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Die Sammlung der Ausrisse erlaubt es ihm, eigene Präsenz und Frequenz in der öffentlichen Kommunikation zu beobachten. Diese öffentliche Kommunikation vollzieht sich in kleinen Formen, ist aus solchen kleinen Bausteinen und ihren Ko-Texten komponiert, die der Benutzer dann durch ‚cut and paste‘ wieder de- und rekomponieren kann. Benjamin paraphrasiert diese Erfahrung des modernen, zeitungslesenden Menschen, der sich aus Versatzstücken eine Meinung bildet. Diese Meinung basiert gewissermaßen auf einer Textcollage. Die ursprüngliche Ordnung ist der Rationalität des Organs selbst verdankt. Denn es verwandelt sich die Texte an, ergreift sie nach Länge und durchformt sie mit seiner Gestaltung. Es bringt sie dann in kontige, rein räumliche Zusammenhänge, die über die Rubrik hinaus keine semantischen Zusammenhänge sind. Durch die räumliche Nähe – die Nebeneinanderordnung – stellt sich im, ja genauer: auf dem Blatt jedoch ein ‚Bild‘ ein, das wiederum für potentielle Lektüren und Bedeutungszuschreibungen anschlussfähig bleibt. Somit erfolgt Kommunikation nicht ausschließlich durch den isolierten Text, sondern durch seine Positionierung, seine Gestaltung, seine Differenz zur und damit Quasi-Interaktion mit seiner Umgebung.23 Das Medium organisiert seine eigene Wissensordnung, die jedoch hochgradig liquid ist. Erst mit der Redundanz, also im Nachdruck, dann in der Anschlusskommunikation anderer, höherrangiger Medien, dann in den Kultur- und Literaturjournalen verfestigen sich die Konturen dieser Ordnung, bis sie schließlich in der Buchform gleichsam petrifiziert. Erst das Haltbare, das sich im Durchgang durch die tagesaktuelle über die journalförmige zur selbständigen Publikation bewährt und bewahrt hat, erwirbt wachsende Aufmerksamkeit. Diese kann sodann wiederum Gegenstand der Tagesaktualität werden: vom Berliner Tageblatt, der Frankfurter Zeitung und der Literarischen Welt gleichsam hinauf zur Einbahnstraße und wieder hinab in die dienstägliche Weltbühne mit 12 000–15 000 Exemplaren und zum Berliner BörsenCourier mit ca. 40 000.24 Nur unter dieser Voraussetzung, in der Zeitung zu bestehen, vermag der Text ein „operierender“ (GS II,2, 686) zu werden, wie Benjamin die Forderung nach „literarische[r] Wirksamkeit“ (WuN 8, 11) in seiner Rede Der Autor als Produzent 1934 präzisieren wird. Nur ein solcher operierender Text trägt schon verfahrenstechnische, nicht erst semantisch-ideologische Differenz in die Produktionsverhältnisse der Presse, in den Apparat ein. Um dergleichen operative Wissensflüsse überhaupt einmal beobachtbar zu machen, ist jedoch die Erschließung der genauen Formgestalt, ebenso jedoch die Erschließung der Ko-Texte und des medialen ‚Ortes‘ unumgänglich. Benjamin selbst stößt den Editor auf diesen Weg: Auf dem Ausriss seiner Dreizehn Thesen wider die Snobisten aus der Morgen-Express-Ausgabe des Berliner Tageblatts vom 10. 7. 1925 macht er äußerst knappe „Anmerkungen zu zwei –––––––— 23

24

Für eine exemplarische Untersuchung, die diese Perspektive auf den ‚Text in der Medienordnung‘ erstmals fruchtbar macht, vgl. Madleen Podewski: Der Tolpatsch in Zeitschrift und Buch. Eine Fallstudie zur Funktionalität von Literatur in medialen Umfeldern. In: Bertold Auerbach. Ein Autor im Kontext des 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Christof Hamann und Michael Scheffel. Trier 2013 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft. 88), S. 63–79. Vgl. zum Feuilleton Gustav Frank, Stefan Scherer: Zeit-Texte. Zur Funktionsgeschichte und zum generischen Ort des Feuilletons. In: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 22, 2012, S. 524–539.

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darunter gedruckten Nachrichten: ‚Nu???‘ (zu: Diskussion um den neuen Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek) und ‚Na Na???‘ (zu: Millionen-Spende an eine US-amerikanische Schule zur Untersuchung von Kriegsgewinnen)“ (WuN 8, 270). So lapidar diese Interventionen von Benjamins Hand ausfallen, so drängen sie die Aufmerksamkeit des Lesers über den ‚Rand‘ des Textes hinaus auf seine Platzierung im Mediengefüge. Zu interpretieren wären also nicht nur gut philologisch die Dreizehn Thesen, egal ob sie nun im Berliner Tageblatt oder in der Einbahnstraße erscheinen. Zu fragen wäre vielmehr, ob sie angesichts der Meldungen zum Bibliotheksdirektor oder zur Untersuchung der Kriegsgewinne im Tageblatt dieses „Nu???“ und „Na Na???“ auch zu leisten vermögen: Denn in lutherscher Tradition werden die Dreizehn Thesen laut Einbahnstraße an Wänden angeschlagen, auf denen sie schon ein „ANKLEBEN VERBOTEN!“ erwartet. Voraussetzung für eine Intervention in den „Apparat“ (GS II,2, 696 und passim) Presse vor allem durch die Machart, durch die – so wird Benjamin sechs Jahre später im Vortrag Der Autor als Produzent formulieren – „schriftstellerische Technik der Werke“, ist das Wissen um die Medienfunktionen: „Also ehe ich frage: wie steht eine Dichtung zu den Produktionsverhältnissen der Epoche? möchte ich fragen: wie steht sie in ihnen?“ (beide Zitate GS II,2, 686). Das erste Stück der Einbahnstraße, TANKSTELLE, weiß hierzu jedoch schon programmatisch: „Die bedeutende literarische Wirksamkeit kann nur in strengem Wechsel von Tun und Schreiben zustande kommen; sie muß die unscheinbaren Formen, die ihrem Einfluß in tätigen Gemeinschaften besser entsprechen als die anspruchsvolle Geste des Buches in Flugblättern, Broschüren, Zeitschriftenartikeln und Plakaten ausbilden“ (GS IV,1, 85; WuN 8, 11). Dass sich Benjamin der Machtverhältnisse im Zeitungsgewerbe durchaus bewusst ist, mag das Stück Die Zeitung (WuN 8, 97 f.) aus der Nachtragsliste zur Einbahnstraße belegen. Ende März 1934 in der Zürcher Gewerkschaftszeitung Der öffentliche Dienst erschienen, schließt Benjamin darin an die im Kraus-Essay vorgetragene Kritik der öffentlichen Sprache, der Sprachverderbnis insbesondere durch das Feuilleton an. Er entbirgt dem „Untergang des Schrifttums in dieser Presse“ hier jedoch „ein dialektisches Moment“ (WuN 8, 97): Erst das im Zeichen des sachverständigen Leserproduzenten wiederhergestellte Schrifttum wird eine kapitalistische Presse als den „Schauplatz der hemmungslosen Erniedrigung des Wortes“ (WuN 8, 98) überwinden.

5.

Bild und Beschriftung

Ein „dialektisches Moment“ erkennt Benjamin jedoch schon um 1925, als die ersten Texte zur Einbahnstraße entstehen. Das mag aus einer unpubliziert gebliebenen Glosse – Nichts gegen die „Illustrierte“ – erhellen. Benjamin repliziert damit auf eine strenge Rüge seines Hausblattes, der Literarischen Welt, vom 20. 11. 1925 an der Berliner Illustrirten Zeitung.25 Diese hatte ein Porträt Jean Pauls zu seinem hunderts–––––––— 25

Die Literarische Welt besetzt in der Medienlandschaft der Zeit eine freie Position als Medienhybride: Sie erscheint einerseits im Zeitungsformat A3, bringt andererseits aber Zeitenschriftenbeiträge dem

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ten Todestag zwischen Klaus Mann und Berliner „Nutten“ platziert.26 Benjamin argumentiert hier für die Illustrirte: „Die Dinge in der Aura ihrer Aktualität zu zeigen, ist mehr wert, weit, wenn auch indirekt, fruchtbarer, als mit den letzten Endes sehr kleinbürgerlichen Ideen der Volksbildung aufzutrumpfen“ (GS IV, 449). Und er ergänzt bereits im Sinne seiner späteren Photo- und Filmtheorie und zugleich an die Aussagen im Prospekt des Angelus Novus anschließend den Unterschied zwischen achtbarer Technik, gleichsam als Imprint der Zeit, und schierem Kommerz, der das historische Momentum unkenntlich macht: „Wenn gar die kühle, schattenspendende Aktualität dieser Bildseiten nicht wie die übliche und wohlfeilere zu 100 % der Spekulation auf die niedrigsten Instinkte, sondern zu 50 % ihrer technischen Gewissenhaftigkeit zu danken ist, so sollte sie sich das Recht erworben haben, vom Literaten[,] dem die Mitarbeit an ihr – weiß Gott! – nicht zukommt, mit wohlwollender Neutralität beobachtet zu werden“ (GS IV, 449). Der Begriff Aura findet hier Anwendung auf das Bild-Layout der Berliner Illustrirten Zeitung, weil die Reproduktionstechnik Transparenz auf den historischen Moment zulässt: Diese Transparenz macht das „dokumentarische“ Moment gerade der „lasterhaft zerstreute[n] Aufmerksamkeit“ (GS IV, 449) kenntlich. Bei ihrer Zeitungspublikation waren die Texte der Einbahnstraße ebenfalls mehrheitlich von den Logiken der Tagespresse überformt – dort waren die Plakate den konservativ-gediegenen gebrochenen Schriften als Texte untergeordnet, in Kolumnen eingereiht worden. Vereinigt in der Einbahnstraße, bricht sich nicht nur die Plakatform Bahn, die Broschüre unterwirft die Gesamtheit der kleinen Prosa vom Aphorismus über das Denkbild bis hin zu den Minitraktaten einer neuen, strengen Formgebung. Als 83-seitige Broschur auf dem Weg zum modernen Taschenbuch gibt Einbahnstraße neben populärer Gestaltung auch eine konkrete Leseanweisung ihrer Einzelstücke: Sie säumen den Weg entlang einer Großstadtstraße, die ausschließlich eine, nämlich progressive Richtung vorgibt. Die vorangestellte Widmung, wonach diese Straße im traditionalistischen, organischen Weichbild des Autorbewusstseins erst ‚durchgebrochen‘ worden sei, spielt auf die Haussmannisierung von Paris an. Doch von Beginn an ist deutlich, es handelt sich um eine imaginäre Straße durch Bewusstseinsphänomene, es handelt sich nicht um die impressionistische Erschließung tatsächlichen Großstadterlebens eines Flaneurs. Zudem erscheint diese Straße als Ergebnis zunächst der destruktiven Arbeit des Durchbrechens, die von der Leitgestalt der neuen Männlichkeit in den späteren 20er Jahren, dem Ingenieur, geleistet wurde, der als technisch versierter, tätig Handelnder die Reflektorfigur des Flaneurs ersetzt. Den Platz des Ingenieurs besetzt in diesem Text jedoch eine Frau, Asja Lacis, der gegenüber sich der männliche Autor als umgestaltete Stadtlandschaft zu positionieren sucht. Die Analogie erlaubt somit nicht nur einen Vorausblick auf Benjamins lang anhaltendes Interesse an Paris im 19. Jahrhundert und an den Pariser Passagen, sondern enthält durchaus auch einen Hinweis auf die Gewaltsamkeit in den und die Um–––––––— 26

Umfang nach, positioniert sich also zwischen dem Feuilleton etwa der Frankfurter Zeitung und der Neuen Rundschau von S. Fischer. Friedrich Burschell: Jean Paul. Zu seinem hundertsten Todestag. In: Die literarische Welt, Jg. 1, Nr. 7, 20. 11. 1925 (Volltext in GS IV, 1019 ff.).

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kehrung der hergebrachten Geschlechterverhältnisse. Modernisierung, Urbanisierung, Technisierung und Infragestellung von Männlichkeit und der Autonomie des Bewusstseins werden hier unlöslich miteinander verquickt. Die mit dem und als Text erst entstehende Einbahnstraße jedenfalls erweist sich als spannungsreiche Erschließung nicht vorderhand einer neuen Stadt, als vielmehr eines männlichen Bewusstseins, geprägt auf einer älteren Stufe der Urbanisierung und urbanen Wahrnehmungsund Stadterfahrung. Es handelt sich also um das durchaus ambivalente Dokument einer von außen kommenden Intervention, einer Penetration und Transformation des intellektuellen Bewusstseins und des Status von Autorschaft. Dieses Dokument wird als „Einbahnstraße“ angesprochen und geht in solcher Anlage offenbar über die Form des reinen Textzeugnisses hinaus, als es einerseits Bewusstsein abschreitet und kartographiert, andererseits nicht ausschließlich textförmig, sondern straßenförmig angelegt ist.27 In seiner Besprechung von Döblins Berlin Alexanderplatz deutet Benjamin die „Krise des Romans“ als eine Krise seiner epistemischen Grundlagen im bürgerlichen Individualismus und in seinem Äquivalent, dem Bildungsroman. An dessen Stelle hätten Epos und Topographie der Stadt zu treten: Warum heißt es: „Berlin Alexanderplatz“, und „Die Geschichte vom Franz Biberkopf“ nur darunter? Was ist der Alexanderplatz in Berlin? Das ist die Stelle, wo seit zwei Jahren die gewaltsamsten Veränderungen vorgehen, Bagger und Rammen ununterbrochen in Tätigkeit sind, der Boden von ihren Stößen, von den Kolonnen der Autobusse und U-Bahnen zittert, tiefer als sonstwo die Eingeweide der Großstadt, die Hinterhöfe um den Georgenkirchplatz sich aufgetan, und stiller als anderswo in den unberührten Labyrinthen um die Marsiliusstraße [...], um die Kaiserstraße (in der die Huren abends ihren alten Trott machen), sich Gegenden aus den neunziger Jahren gehalten haben. Kein Industrieviertel; Handel vor allem; Kleinbürgertum. Und dann sein soziologisches Negativ: die Ganoven, die von den Arbeitslosen Zuzug bekommen. (GS III, 233 f.)

Die Beobachtung superlativer Gewalt und daneben der „unberührten [...] Gegenden aus den neunziger Jahren“ gemahnt an die Spannungen aufgrund von Ungleichzeitigkeiten in der Einbahnstraße, die unter denselben Voraussetzungen ihre Einzeltexte zu topographischen Elementen im urbanen Raum macht, deren Zusammenhang als Kontiguität im Nebeneinander erscheint und damit der epistemischen Ordnung der Stadt entspringt: Die Texte werden zu Ladenschildern, die in diese Straße ragen, zu Plakaten, Hinweistafeln, Anschlägen oder schlichten Hausnummern. Erst mit Benjamins Streifzug durch seine Einbahnstraße mit ihren Geschäftsauslagen und werbend auf Gewerbe hinweisenden Messingschildern entsteht über den einzelnen Texten ein Bedeutungsgeflecht, das aus den in ihnen wiederkehrenden Begriffen „gewoben wird“ (GS IV,1, 102). Diese Isotopien lassen die unmittelbaren Anlässe weit hinter sich, indem sie ihnen vielfältige und unerwartete Kontexte schaffen. Damit ermögli–––––––— 27

Ergänzend wäre auf Benjamins Sprachtheorie einzugehen, wonach selbst der Textanteil aufgrund seiner Sprachlichkeit nicht in Syntax und Semantik aufgeht, sondern auf Ausdrucksbewegungen zurückweist und mithin sich dem Körper und Affekten verdankt. Vgl. zu einem ersten instruktiven Einblick in diese hier nicht weiter zu entfaltende Selbstexplikation Benjamins Alfred Hirsch: „Die Aufgabe des Übersetzers“. In: Benjamin-Handbuch 2006 (Anm. 19), S. 609–625.

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chen sie einen neuen Blick auf soziale Verhältnisse, Mentalitäten und Ideologien. Isotopien erweisen sich zudem als kreative Reaktion und Ordnungsversuch des von der neuartigen Kontiguität im Nebeneinander selbst überraschten, herausgeforderten, ja überforderten, ‚älteren‘ Autorbewusstseins, das die Gewaltsamkeit der Transformationen einerseits am eigenen Denk-Leib schmerzlich erfährt, andererseits diese Veränderungen aber bejahen will, weil es sie sich als Hingabe in einem Wechselspiel erotischen Begehrens mit der Ingenieurin imaginiert. Der Paratext dieser Widmung an Asja Lacis ist also deshalb so bedeutsam, als sich dann am Eingang der Einbahnstraße zunächst die TANKSTELLE befindet, die operative Literatur und Aktualismus ankündigt und somit zunächst eine adressatenorientierte Sprache im Sinne der Gebrauchsprosa der Neuen Sachlichkeit erwarten lassen würde. Das operative Schreiben legt denn auch ausdrücklich der „Operateur“ in der POLIKLINIK nochmals nahe (WuN 8, 59). Doch auch hier verschlingt sich die Herkunft des älteren Intellektuellentyps, dessen Arbeit an der Sprache an das ‚fin-de-siècle‘Milieu des Kaffeehauses und weniger schon an die Apparate der neuen Medien der 20er Jahre gebunden ist, mit einer neuen, ‚medizinischen‘ Auffassung dieser Arbeit. In der schon erwähnten Pariser Rede Der Autor als Produzent von 1934 wird Benjamin am Beispiel „des ‚operierenden‘ Schriftstellers“ Sergei Tretjakow ein seinen Zuhörern gefälliges Modell für die Intervention des Schriftstellers in den Apparat vorstellen. Diese Intervention geschah nicht durch Textproduktion, sondern durch Zeitungsgründung, deren Niederschlag wiederum in Buchform dann allerdings „von erheblichem Einfluß [...] gewesen sein soll“ (GS II,2, 686; Hervorhebung G. F.). Die Verhältnisse außerhalb der Sowjetunion sind jedoch andere, Tretjakow somit „nur ein Beispiel: weitere behalte ich mir vor“ (GS II,2, 686). Benjamins Auffassung vom ‚operierenden‘ Schriftsteller ist demnach eine andere, eine dialektischere, die er in der Auseinandersetzung mit Brechts zeitschriftenähnlichem Projekt Versuche gewinnen wird. Statt den Dichter, der zu den Arbeitern geht, fordert Benjamin Wirksamkeit in den bestehenden Medienapparaten, Brecht nennt sie laut Benjamin „Institute und Institutionen“ (GS II,2, 691). Während es die „schriftstellerische Technik“ ist, die Benjamins Literaturkonzept auf der einen Seite vom „operierenden Schriftsteller“ vom Typ Tretjakows unterscheidet, so ist es auf der anderen Seite sein genaues Verhältnis zu diesen Apparaten/Instituten, das es von der Neuen Sachlichkeit und „Geistigen“ (GS II,2, 690) wie Heinrich Mann oder den Döblin von Wissen und Verändern! trennt, welch letztere den „unmögliche[n]“ „Ort [...] eines Gönners, eines ideologischen Mäzens“ (GS II,2, 690 f.), für sich in Anspruch nehmen. Was einem eigentlich klassenfremden bürgerlichen Schriftsteller wie Benjamin dagegen dennoch offensteht, ist ein „Verhalten, das ihn aus einem Belieferer des Produktionsapparates zu einem Ingenieur macht, der seine Aufgabe darin erblickt, diesen den Zwecken der proletarischen Revolution anzupassen“ (GS II,2, 701).

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Was sich in der Pariser Rede programmatisch verdichtet,28 kennzeichnet bereits Texte aus der Einbahnstraße; diese jedoch leisten selbst, was hier nur gefordert und gerechtfertigt wird. Damit genießen die literarischen Texte den Vorrang gegenüber ihrer nachträglichen Theoretisierung. Dieser Zusammenhang erhellt denn auch bereits wiederum aus den Texten der Einbahnstraße selbst. Schon in der TANKSTELLE verknüpft Benjamin alle Versuche des Überzeugens mit ihrer Unfruchtbarkeit. Nur wenig später, im vierten Textstück, dem Kürzest-Aphorismus FÜR MÄNNER, kommt er darauf zurück und verknüpft diese Einsicht nochmals ausdrücklich mit den Implikationen der Geschlechterverhältnisse: „Überzeugen ist unfruchtbar.“ Erst im Zusammenhang der Großstadtstraße und als Aufschrift am entsprechenden Gebäude oder seinem Eingang gelesen, wird die literarische Verschiebung und Verdichtung entzifferbar, die so ganz buchstäblich wie anschaulich den Missbrauch der Zeugungsorgane über ihre doppelte Funktion ausstellt: Ein Zuviel an Zeugenwollen mag ein unabweisbares Bedürfnis sein, ist aber nur ein unfruchtbares Wasserlassen. Stattdessen schildert der eindeutig als männlicher Intellektueller der alten Schule sich ausweisende Sprecher schon im zweiten Text einen Traum, kommt dann im dritten Text, NR. 113, auf Goethe und Genie(ästhetik) zu sprechen und beweist so eine erstaunliche Affinität zu Bilderreservoirs historischer und psychologischer Tiefe. Straße ist also ‚doppeltgesehen‘, ganz ähnlich der Poetologie des „stereoskopischen Genusses“ in Jüngers zeitgleicher Kurzprosa in Das abenteuerliche Herz. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht29 – die Sprache, die hierfür angemessen erscheint, arbeitet sichtbar über die Grenze literarischer Bedeutsamkeiten hinaus ins Buchstäbliche wie Uneigentliche. Damit kann Benjamin unmittelbar nach der TANKSTELLE in die dialektische Entfaltung seiner Art der „Dichtung in den Produktionsverhältnissen“ eintreten, die ihn nicht nur „aus einem Belieferer des Produktionsapparates zu einem Ingenieur macht“, sondern eben auch außerhalb unwirksamer Agitprop-Literatur stellt. Damit arbeitet er gegen die beiden konkurrierenden Optionen der Neuen Sachlichkeit und des Marxismus an einer dritten möglichen Position für seinesgleichen, indem er Traumtiefen und Eros mit einer neuartigen Anthropologie30 des leibhaften Sinns verknüpft, aber auch darin eingeschlossene und sonst verschwiegene Schwierigkeiten mit der Geschlechterordnung zu Tage fördert. Weiter theoretisiert wird der Zusammenhang von Traum, Rausch und Umsturz dann in Benjamins Aufsatz Der Sürrealismus, der am 1., 8. und 15. Februar 1929 in der Literarischen Welt erscheint und an der französischen Bewegung den unmittelbaren Zusammenhang von verändertem Wahrnehmungsmodell und Politik ausweist (GS II,1, 295–310). –––––––— 28

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In der Rede selbst kann Benjamin nicht umhin, die Differenz zwischen dieser expliziten Programmatik und schlichter Propaganda für einen Parteistandpunkt genau zu markieren. Eine Behauptung „muß bewiesen werden“, es genügt nicht, sie „zu dekretieren“ (GS II,2, 684, Hervorhebung im Original). Vgl. Gustav Frank, Stefan Scherer: „Stoffe sehr verschiedener Art ... im Spiel ... in eine neue, sprunghafte Beziehung zueinander setzen“. Komplexität als historische Textur in Kleiner Prosa der Synthetischen Moderne (1925–1955). In: Kleine Prosa. Hrsg. von Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel und Dirk Göttsche. Tübingen 2007, S. 253–279. Vgl. Gustav Frank: Benjamins anthropologischer Blick auf tanzende Körper und bewegliche Buchstaben. In: Walter Benjamins anthropologisches Denken. Hrsg. von Carolin Duttlinger, Ben Morgan und Anthony Phelan. Freiburg i. Br. 2012, S. 125–148.

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Dennoch gehen schon die Einzeltexte der Einbahnstraße über Flaneursprosa im Stile der neuen impressionistischen Stadtwahrnehmung des ‚fin de siècle‘, etwa eines Altenberg oder auch noch des Benjamin-Freundes Franz Hessel, weit hinaus. Kenntlich wird die Differenz zur Deskription um eines Realitätseffektes im Sinne der (realistischen) Literatur des 19. Jahrhunderts willen, indem sie in HOCHHERRSCHAFTLICHE ZEHNZIMMERWOHNUNG explizit aufgerufen wird. Die Einzeltexte sind dagegen kritische Reflexionen und lassen den „problemgeschichtlichen Zusammenhang“ (GS I,1, 11) in dem Sinne anschaulich werden, wie ihn der Literaturwissenschaftler Benjamin am Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, in Goethes Wahlverwandtschaften und nicht zuletzt im Trauerspiel-Buch entwickelt und erläutert hat. Letzteres bekennt sich in seiner bekannten „[e]rkenntniskritischen Vorrede“ zum „Wert von Denkbruchstücken“ aus „Einzelnem und Disparatem“ und der „mikrologischen Verarbeitung“ (GS I,1, 207 f.). Mag Benjamin aus akademischen Rücksichten hier die Einsicht noch nicht konsequent umsetzen, dass „die Wahrheit Darstellung ihrer selbst und daher als Form mit ihr gegeben sei“, so folgt er der Forderung nach einer „eigenbürtige[n] prosaische[n] Form“ in der Einbahnstraße vorbehaltlos (GS I,1, 209). Das wird deutlich im vielzitierten KAISERPANORAMA, in dem es gerade keine Beschreibung dieses urbanen Vergnügens der Unterhaltungsindustrie und seiner Apparate gibt. Kaiserpanoramen waren der letzte Ausläufer der seit 1850 populären Stereoskope. Sie machen das dreidimensionale Sehen durch ihre polychromen GlasStereogramme (8,5 × 17 cm) zur repräsentativen Unterhaltungskultur. Sie bedienen den frühen Tourismus mit Bildreportagen von Abenteuerreisen, den Imperialismus des Kaiserreichs sowie den Bildjournalismus entlang der nationalen und internationalen Aktualitäten bis hin zur Frontberichterstattung im Ersten Weltkrieg. August Fuhrmanns führendes Berliner Unternehmen erreichte auf seinem Höhepunkt um 1910 etwa 250 Orte in der deutschsprachigen Welt. Durch den wöchentlichen Austausch seiner 50 handkolorierten Stereophotographien entstanden schließlich über 2000 solcher Serien. KAISERPANORAMA. REISE DURCH DIE DEUTSCHE INFLATION (WuN 8, 21–28) verweigert sich gerade einer Verdoppelung des Realitätseffektes des stereoskopischen Sehens durch einen ekphrastischen Text über ein Kaiserpanorama und entziffert das populäre Amüsement als Symbol der Repräsentationspraktiken des Bürgertums. In der Form des Traktats, die sich zwar noch an den Aufbau der in den Kaiserpanoramen nebeneinander um die Rotunde geordneten und nummerierten Plätze anlehnt, wird gerade gegenstrebig der Zusammenbruch des Illusionsparadigmas in und durch die Inflation freigelegt, analysiert, was er soziopolitisch bedeutet, und von der Ersetzung der illusionistischen Bildplatten durch die Abschnitte des Traktats zugleich vorgeführt. Benjamin nutzt die Form der Abfolge einzelner Stereogramme und den Verweis auf die quasi-touristische Ausgestaltung als Ersatz für tatsächliches Fernreisen für sein Denk-Modell der Nahverhältnisse. Stationen dieser Reise sind Benjamins Minitraktate, mit denen er den Niedergang der bürgerlichen Welt kritisch analysiert.

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6.

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Von der Auseinandersetzung mit den visuellen Medien der urbanen Selbstdarstellung und der Stadtwahrnehmung ist die gesamte Gestaltung der Broschüre imprägniert. Das gilt zunächst für die Doppelseiten, die als eine Bildfläche gestaltet sind und betrachtet werden sollen. Dies setzt die im Stück VEREIDIGTER BÜCHERREVISOR beschriebene Tradition seit Stéphane Mallarmés Un Coup de Dés jamais n’abolira le Hasard fort, der 1897 in der Revue internationale: Cosmopolis erstveröffentlicht wurde.31 Einbahnstraße versieht die Doppelseite innen mit zwei fetten, vertikalen Linien: Sie machen die Textblöcke gleichsam zu Häusern an der Einbahnstraße, die Seitenzahlen zu ihren Nummern, die Überschriften zu Gebäudeaufschriften. Die dritte Dimension des Buches erlaubt es dem Blättern, die Tiefe dieser Straße zu erkunden.

Abb.: Walter Benjamin: Einbahnstraße. Berlin 1928, S. 18 und 19.

Will man den Mehrwert des Artefakts Einbahnstraße gegenüber den Einzeltexten, aus denen es komponiert ist und deren Wirksamkeit in anderen Medienordnungen ebenfalls erwiesen ist, bestimmen, dann stellt diese graphovisuell erzeugte metaphorische Straße nur eine Ebene dar. Eine weitere besteht in der Verschränkung der Texte auf einer topologischen Ebene, wobei die Wiederkehr von Begriffen ebenso wie die Ver–––––––— 31

Stéphane Mallarmé: Un Coup de Dés jamais n’abolira le Hasard. In: Cosmopolis. Revue Internationale 17, Mai 1897, S. 417–427.

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teilung und Anhäufung von Begriffen, die zu einem Konzept oder Diskurs gehören, zu beobachten ist. Visuelle, metaphorische und topologische Ebene fallen zusammen in einer Wahrnehmungstheorie, die unter der Voraussetzung der urbanen Medienwelt der Moderne entsteht und die als Darstellungsästhetik32 Textsemantik und Textform bestimmt. Darin besteht der Mehrwert des Artefakts Buch gegenüber den Einzelveröffentlichungen. Diese Einsicht birgt die Gefahr einer neuerlichen Entwertung der Einzelveröffentlichung in den periodischen Medien. So ist demgegenüber hier festzuhalten, dass es sich auch umgekehrt verhält: Der Mehrwert der Einzelveröffentlichung gegenüber dem Buch, das in geringer Auflage verbreitet wird und den Anspruch auf die Präsentation und Performanz einer allgemeinen Theoretisierung erhebt, besteht nicht in ihrer einfacheren Zugänglichkeit und leichteren Verständlichkeit. Er ergibt sich überhaupt erst sensu Benjamin, und das ist unter der Voraussetzung von Autor und Werk schwer zu denken, aus dem Zusammenspiel des Textes mit der Ordnung seines Publikationsmediums und mit den konkreten Ko-Texten, die ihm dieses Medium zuweist. Anstelle einer Hierarchisierung ist also darauf zu bestehen, dass die Texte zwei Orte der Bewährung haben, innerhalb der Ordnung des jeweiligen Periodikums und innerhalb der Ordnung des Buches. Von diesen beiden Orten bestimmen die Editionen bislang nur den letzteren hinlänglich, den ersteren benennen sie nur. In der jüngsten Edition durch Detlev Schöttker wird mit der Hinneigung zum archivierten Material auch ein gewisses Unbehagen daran spürbar und das Schweigen über die Medienorte zumindest dort durchbrochen, wo dem Vorgang des Autors gefolgt werden kann. Solange den Medienordnungen mit dem Argwohn begegnet wird, dass sie gleichsam als Hardware die Textualität determinieren, wird der medien- und wissensformativen Kraft der Texte selbst wenig zugetraut und werden sie auch weiterhin isoliert ediert werden. Wo das wie im Falle Benjamins, der nicht den gutgemeinten Inhalten, sondern dem Wirken in den Apparaten zur Veränderung derselben den Vorrang gibt, gleichsam noch gegen die Autorintention erfolgt, ist vielleicht am ehesten auf diese Veränderung zu hoffen. Die urbane Wahrnehmung prägt nicht zuletzt die Typographie, die fette GroteskVersalien für die Überschriften wählt. Die Grotesk nimmt nicht nur die Akzidenzschriften der Reklame auf, sie positioniert sich auch ideologisch in der Reihe der nachavantgardistischen, am Gebrauchswert orientierten Konstruktivisten und Bauhaus-Meister wie Moholy-Nagy. Mit Paul Renners Futura von 1927 war gerade eben der Prototyp einer geometrischen, d. h. aus einfachen Formen konstruierten, serifenlosen Linear-Antiqua entstanden. Benjamin selbst hatte für die Zeitschrift für elementare Gestaltung – G bereits 1924 einen Text Tristan Tzaras über Man Ray übersetzt, kannte also die zeitgenössischen Überlegungen zur Buchgestaltung als Zusammenspiel von Typographie, Photographie und Reklame aus eigener Anschauung. Auch wenn die Einbahnstraße mit ihren verschiedenen Schriftarten und -graden nicht der reinen Lehre der Elementaren Typographie Jan Tschicholds folgt, die ebenfalls 1925 –––––––— 32

Vgl. Jan Urbich: Darstellung bei Walter Benjamin: Die „Erkenntniskritische Vorrede“ im Kontext ästhetischer Darstellungstheorien der Moderne. Berlin 2011.

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entsteht und 1928 publiziert wird, verdankt sie dieser Schule „für zeitgemäss Schaffende“ viel.33 Entstehungsgeschichtlich wird der Einband der Broschur durch die Logik der Einzeltexte gleichsam notwendig erzwungen. In Leserichtung erschlossen, folgt das Textkorpus der Epistemologie, die schon der Einband anschaulich ausstellt: Sascha Stone montiert hierzu mehrere Straßenansichten in widersprüchlichen Auf- und Untersichten ineinander.34 Damit setzt er die Einsichten, welche die Physiologie des Auges und Psychologie des Sehens im 19. Jahrhundert erarbeitet hatten, anti-illusionistisch als Wahrnehmungskritik um: Gebrochen wird hier mit der monokularen Zentralperspektive und dem immobilen Betrachter. Wie im Inneren die Doppelseite so wird auch dieser Einband zu einer einzigen Bildfläche. Stone zwingt den Leser, das Buch gänzlich aufgeschlagen von außen, quasi textabgewandt, zu betrachten. Er macht damit Bild und Text zu zwei gleichrangigen Seiten einer Medaille. Und zugleich zieht er die Schrift in ihrer ganzen urbanen Vielfalt ins Bild, so wie die Texte die Sichtbarkeit der Stadt zeigen, ohne sie illusionistisch-ekphrastisch zu repräsentieren. Wie die Einbahnstraße typographisch in einer Reihe moderner Entwicklungen steht, so auch ihr Einband. Er reiht sich „an die Arbeiten von John Heartfield“, der durch seine „Technik den Buchdeckel zum politischen Instrument gemacht hat“ (GS II,2, 693), an. Allerdings ist er politisch in dem dialektischen Sinne Benjamins, indem er mit den Wahrnehmungs- und Medienordnungen die „Organisationsform“ der bürgerlichen Öffentlichkeit aufdeckt, statt sich durch politische Propaganda unmittelbar „operativ“ zu erweisen. Das neue Bewusstsein für die kulturelle Relevanz der Zeitung belegt schon der 1924 von Georg Salter für Georg Kaisers Drama Kolportage im Verlag Die Schmiede geschaffene Einband, der mit Gold und Zeitungsausschnitt die sensationellen Kolportage-Elemente des Stückes aufnimmt.35 Einbahnstraße war im Januar 1928 erschienen, im selben Jahr veröffentlichte Rowohlt auch Arnolt Bronnens Roman Film und Leben Barbara la Marr. Benjamins Freund Franz Hessel, der schon Einbahnstraße für Das Tage-Buch (Berlin) begeistert besprochen hatte,36 merkt in seiner Rezension für Weltstimmen (Stuttgart) dazu an: Oben an jeder Seite seines Romans hat Bronnen in eilenden prägnanten Sätzen den Inhalt zusammengefaßt. Wie die Titel eines Films den Bildern gehen sie dem Text verkündigend voran. Aber mehr noch gleichen sie einer Laufschrift, wie sie über die Reklameflächen der Großstadt leuchtend gleitet. Das ganze Werk hat den Reiz solcher Laufschrift, man schaut in

–––––––— 33 34

35 36

Vgl. Jan Tschichold: Die Neue Typographie. Ein Handbuch für zeitgemäss Schaffende. Berlin 1928. Vgl. zur Photomontage von Sas(c)ha Stone aus dem Jahr 1928 Deutsches Historisches Museum, Berlin, R 92/5476; dort verso und recto ohne Buchrücken; mit Buchrücken, allerdings nur schwarzweiß, in: Schrift Bilder Denken. Walter Benjamin und die Künste. Ausstellungskatalog. Hrsg. Detlev Schöttker. Frankfurt a. M. 2004, S. 17. Vgl. Jürgen Holstein: Georg Salter. Bucheinbände und Schutzumschläge aus der Berliner Zeit 1922– 1934. Mit Auswahl-Bibliographie zur Umschlag-Literatur. Berlin 2003. Siehe Franz Hessel: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Hartmut Vollmer und Bernd Witte. Bd. 5. Oldenburg 1999, S. 155–157.

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scharfes Licht, in das ein rastlos formender Wille Ereignisse und Seelenheimlichkeiten zwingt.37

Wie zwingend die Einbahnstraße ihre Optik einer integralen Epistemologie des räumlichen und ideologischen Nebeneinanders verdankt, verdeutlicht der Vergleich mit einem Döblin-Band, dessen Schutzumschlag ebenfalls Sascha Stone 1928 entworfen hat.38 Bei dem für S. Fischer entstandenen Einband erfüllt die Photomontage jedoch bestenfalls noch modisch-illustrative Funktion, ohne sich in den Dienst eines zwingenden Wechselverweises von Text- und graphischer Form zu stellen. Eine Beschriftung der Bilder ist Benjamin allerdings ein zentrales Anliegen. Ausdrücklich schließt er hierbei an Brechts Diagnose an: „Eine Photographie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute.“39 In seiner Kritik der neusachlichen Photographie Renger-Patzschs folgert Benjamin daraus, dass die „Schranke zwischen Schrift und Bild“ niederzulegen sei: „Was wir vom Photographen zu verlangen haben, das ist die Fähigkeit, seiner Aufnahme diejenige Beschriftung zu geben, die sie dem modischen Verschleiß entreißt und ihr den revolutionären Gebrauchswert verleiht“ (GS II,2, 693). „Nur diese prompte Sprache“ – heißt es in TANKSTELLE programmatisch – „zeigt sich dem Augenblick wirkend gewachsen“ (WuN 8, 11). Die Broschüre Einbahnstraße versammelt mithin ‚Plakate‘, die schon, als sie noch Zeitungsartikel waren, buchstäbliche Anschläge auf Produktions- und Herrschaftsverhältnisse sein wollten. Mit dem Bekenntnis zur Zeitung und Broschur einher geht dasjenige zur Vergänglichkeit des Materials als Äquivalent der Vorläufigkeit der in diesem Medium verbreiteten Gedanken. Benjamin geht es um aktuelles und probabilistisches Denken auf der Höhe der Zeit. Die Medienwahl signalisiert mit ihrer ‚heiklen‘ Materialität die Unmittelbarkeit der Reaktion auf die urbane Lebenswelt. Mit ihrer Broschur steht Einbahnstraße in einer Linie, in die sich Brechts Versuche seit 1930 bei Kiepenheuer (mit gestalterisch extrem reduziertem Umschlag aus grauem Karton) einreihen werden, die Benjamin zustimmend bespricht. Einbahnstraße schreibt am eigenen Buchkörper die Geschichte einer Wahrnehmungs- und Darstellungskrise und der darauf reagierenden Literaturrevolution, an deren Ende sie selbst steht: Sie betreibt mit ihrer Gestaltung und ihrem Stück VEREIDIGTER BÜCHERREVISOR eine Revision der gesamten Buch- und Schriftkultur: Wissenschaftliche Kritik „ist in einer Welt zu Hause, wo es auf Perspektiven und Prospekte ankommt und einen Standpunkt einzunehmen noch möglich war. Die Dinge sind indessen viel zu brennend der menschlichen Gesellschaft auf den Leib gerückt. Die ‚Unbefangenheit‘, der ‚freie Blick‘ sind Lüge, wenn nicht der ganz naive Ausdruck planer Unzuständigkeit geworden“, konstatiert der Bücherrevisor im Blick auf „Reklame“ und „elektrische Laufschrift“ (GS IV,1, 131 f.). Dagegen die Bilder –––––––— 37 38

39

Hessel 1999 (Anm. 36), S. 159. Alfred Döblin. Im Buch. Zu Haus. Auf der Straße. Vorgestellt von Alfred Döblin und Oskar Loerke. 1.–3. Aufl. Berlin 1928. Neben dem S. Fischer-Lektor Loerke ist auch der Name Stone, ebenfalls in Großbuchstaben, auf der Titelseite vermerkt. Bertold Brecht: Der Dreigroschenprozeß [1931]. In: Ders.: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 18. Frankfurt a. M. 1967, S. 161.

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„unter neuem Anruf in Bann zu schlagen [bleibt] die Gabe der Dichter“, so Benjamin in Die Ferne und die Bilder (WuN 8, 100 f.) aus der Nachtragsliste zur Einbahnstraße.

7.

Resümee

Das heterogene Material wird nicht narrativ geordnet, sondern vernetzt sich über Isotopieketten, die den gesamten Text analog zu Mallarmés Vorgabe gleichsam auf einer Seite zweidimensional ausbreiten und analog der Vorgabe im BÜCHERREVISOR nach dem Prinzip der Kartothek, der alphabetisch-begrifflichen Sachordnung dekomponieren und dreidimensional rekomponieren. Die Struktur ist also nicht aphoristisch, sondern isotopisch, sie arbeitet nicht begrifflich, sondern generiert ein ‚Bild‘ der Einbahnstraße und eine ‚Kartothek‘ ihrer semantisch-ideologischen Felder. Zugleich bildet sie als Komposition aus Einzeltexten wie als Komposit aus Bild, Typographie und Text aber auch den Metatext, der Aufschluss über diesen ihren Charakter gibt: beschreibend, argumentierend, erklärend. Die Schwierigkeit der Editionsphilologie mit Zeitung und Zeitschrift und den mit ihr verknüpften Schwierigkeiten mit dem Akzidenzdruckwesen als Medium und Material überhaupt setzen auch diesem analytischen Zugriff seine Grenzen, der sich bewusst aufs edierte Material beschränkte. Obwohl Benjamin selbst Einbahnstraße, vor allem aber die Texte, aus denen sie sich zusammensetzt, nie als Beispiel für seine Gedanken zur Dialektik operativen Schreibens in den Apparaten herangezogen hat, bleibt die Frage nach dem Effekt dieser Texte auf die Medienordnung/„Organisationsform“ noch zu stellen und zu beantworten. Dies kann jedoch erst dann gelingen, wenn als Materialien endlich auch die buchstäblich materiale Seite eines Artefakts umfasst wird, die nicht mit sprachanalogen Verständnismodellen erfasst werden können. Man könnte im Falle Benjamins dabei durchaus an sein französisches Umfeld denken, an den von ihm verehrten Paul Valéry etwa, der ihm den Zugang zu Mallarmés Coup de Dés vermittelt hatte und sich 1926 zu den Tugenden des Buches äußert und als „la seconde vertu“ seine „physique“ bestimmt.40

–––––––— 40

Paul Valery: Les deux vertus d’un livre [1926]. In: Ders.: Œuvre. Bd. 2. Paris 1977, S. 1246–1250. Vgl. Robert Pickering: Paul Valéry, la page, l’écriture. Clermont-Ferrand 1996; Jürgen Schmidt-Radefeldt: Verschriften des Gedachten. Zur écriture von Paul Valéry. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 68, 1987, S. 33–46.

V. Nichtschriftliche Materialität I: Audiophone Varianz

Andreas Meier

Akustische Lesarten Zum editionsphilologischen Umgang mit (Autoren-)Hörbüchern

Ein lesender Poet ist wie ein essender Koch. Karl Kraus Mündlichkeit spielt in den methodischen wie theoretischen Diskussionen der modernen Editions- und Dokumentwissenschaft derzeit kaum eine Rolle. Dies mag damit zusammenhängen, dass die gängigen Verbreitungskanäle von Literatur auch zu Beginn des dritten Jahrtausends (noch) nicht den Vorhersagen in Ray Bradburys 1953 veröffentlichtem dystopischen Roman Fahrenheit 451 entsprechen. Auch sind die Verhältnisse, unter denen sowjetische Dissidenten wie Ossip Mandelstam oder Anna Achmatowa während des Stalinismus ihr Werk sichern mussten, glücklicherweise weitgehend überwunden. Samisdat wie die Sicherung des Werks durch mündliche Weitergabe,1 die sogenannte geheime „Rhapsodenmethode“, gehören der Vergangenheit an.2 Möglicherweise hat auch eine volkskundliche Erzählforschung mit ihren besonders im 19. Jahrhundert nicht immer zweifelsfreien Transkriptionsverfahren mündliche Quellen für die Editionsphilologen verdächtig werden lassen. Wo immer gleichwohl die Ursachen hierfür liegen mögen, allein der Befund, mündliche Überlieferungsträger in Editionen weitestgehend vergeblich zu suchen, überrascht besonders dort, wo Autorinnen und Autoren selbst zur Verbreitung ihrer Werke nicht nur auf mündliche Überlieferung in Form öffentlicher Lesungen setzen, sondern diese mit den im 20. Jahrhundert sich rasant entwickelnden akustischen Speichermedien auch sichern lassen. Wenngleich die frühen Rundfunksendungen der 1920er Jahre heute nur noch durch Programmhefte rekonstruierbar sind, da die überwiegende Zahl der Sendungen live ausgestrahlt und sich bestenfalls Walzen- oder Bandmitschnitte von Programmteilen erhalten haben, zudem selbst diese während des Zweiten Weltkriegs häufig verloren gingen, so ist doch festzuhalten, dass etwa Else Lasker-Schüler, die Brüder Heinrich und Thomas Mann und viele, viele andere Autoren in diesem Medium präsent waren. Die früheste, heute noch erhaltene Aufnahme von Gottfried Benn, seine Totenrede auf Klabund, wurde für die Funkstunde Berlin im August 1928 eingelesen.3 Dass gleichwohl das neue Medium den Autoren selbst nicht ganz geheuer –––––––— 1 2 3

Vgl. Jewgeni Popow: Samisdat, Samisdat! Erinnerungen an den Untergrund. In: Folio. Das Montagsmagazin der Neuen Zürcher Zeitung, 1991, H. 10, S. 71 f. Volker Wendland: Von Partisanen. In: partisan. Almanach für Unangepasstes. Dresden 2009, Sp. 4–11, bes. Sp. 9. Gottfried Benn: Das Hörwerk 1928–56. Lyrik, Prosa, Essays, Vorträge, Hörspiele, Interviews, Rundfunkdiskussionen. 2. Aufl. Hrsg. von Robert Galitz. Frankfurt a. M. 2004 [1 MP3-CD und Begleitbuch].

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schien und gewisse, mit unsicherer Autorisation begründbare Reserven der Philologie nachvollziehbar sind, belegt ein Brief Benns an Paul und Gertrud Hindemith vom 15. August 1931. Benn und Hindemith hatten soeben ihr Oratorium Das Unaufhörliche abgeschlossen und für die Uraufführung vorbereitet. Benn erwähnt vor diesem Hintergrund im Brief an die Hindemiths seine Rundfunklesung vom 21. August: Am Freitag treibe ich wieder das unvornehme Geschäft eines Rundfunkvortrags. ‚Die neue literarische Saison‘. Schade, daß Sie nicht zuhören, ich schließe ‚nicht Entwicklung –: Unaufhörlichkeit wird das Menschheitsgefühl des kommenden Jahrhunderts sein –‘ Aha, wird der Fachmann denken, die Propaganda beginnt!4

Trotz ästhetischer wie künstlerisch ethischer Vorbehalte gegen das neue Massenmedium wurde der Rundfunk für viele Autoren nach dem Zweiten Weltkrieg eine wichtige und mitunter einfach zu bedienende Einnahmequelle, die unter anderem auch Günter Grass vor allem in den späten 1950er Jahren nutzte, der regelmäßig beim Westdeutschen Rundfunk in Köln beginnend die ‚Sender abklapperte‘, wie früher die Troubadore von Dorf zu Dorf zogen. […] Da habe ich dann Gedichte gelesen. Dann bekam man einen Laufzettel, ging runter zur Kasse, und dann klapperte es und dann kam das Geld raus. […] Diese herrliche Art, Lyrik zu lesen gegen Bargeld.5

Es dürften weniger finanzielle Gründe gewesen sein als Planungen im Vorfeld des Schillerjahres 1955, die Thomas Mann veranlassten, am 2. Dezember 1954 im Studio Zürich seine 1905 anlässlich des 100. Todestags Friedrich Schillers veröffentlichte Erzählung Schwere Stunde für den Süddeutschen Rundfunk einzulesen, einen literatur- wie werkgeschichtlich in mehrfacher Hinsicht bedeutenden Text, imaginierte Mann hier doch nicht nur Schillers Ringen um die Konzeption seines Wallenstein, sondern spiegelte darin zugleich auch eigne Schaffenskrisen,6 die jedoch bei der Tonaufzeichnung des Textes 1954 lange überwunden waren.7 Die Aufnahme war nicht nur zur Sendung im Hörfunk am 1. August 1955, sondern auch zur Verbreitung auf Schallplatte vorgesehen. Im Jahr zuvor hatte die Deutsche Grammophon Gesellschaft, bei der Elsa Schiller seit 1952 „als Programmdirektorin für ernste Musik und Sprech-

–––––––— 4

5 6

7

Hier zit. nach Benn, Das Hörwerk 2004 (Anm. 3), [Begleitbuch], S. 5. Seinen nonchalant gleichgültigen Umgang mit dem Medium Radio illustriert auch der Brief an F. W. Oelze vom 25. Mai 1950: „Gestern abend um 10 sandte N.W.D.R. zehn Minuten lang die 5 Epiloggedichte aus ‚Trunkene Flut‘, die ich auf Band gesprochen hatte. Meine Frau hörte zu, war sehr angetan, ich sass in meiner Kneipe und zischte mein Bier, von Patienten hörte ich, es sei ergreifend gewesen, zum Schluss kam schöne Musik“ (Gottfried Benn: Briefe. Bd. 2,2: Briefe an F. W. Oelze. 1950–1956. Hrsg. von Harald Steinhagen und Jürgen Schröder. Wiesbaden 1980, S. 3 f.). Günter Grass in einem Gespräch mit Heinrich Vormweg am 8. und 9. Juli 1985; zit. nach Heinrich Vormweg: Günter Grass mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg 1986, S. 4 f. Vgl. Terence J. Reed in: Thomas Mann: Frühe Erzählungen 1893–1912. Hrsg. von Terence J. Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig. Frankfurt a. M. 2004 (Thomas Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Hrsg. von Heinrich Detering u. a. Bd. 2,2), S. 291 ff. Als maßgebliche Überlieferungsträger der Textgrundlage nennt die Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe (Anm. 6) neben der 1905 entstandenen Handschrift den Erstdruck im Simplicissimus (9. Mai 1905) und den Wiederabdruck im Erzählungenband Das Wunderkind (Berlin 1914).

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platten“8 arbeitete, ihr erstes Sprechplattenprojekt mit großem Erfolg gestartet. Peter (Gründgens-)Gorskis Faust I-Inszenierung verkaufte sich in einer Kassette mit drei Langspielplatten in den folgenden Jahren 50 000-mal. An diesen Erfolg knüpfte die Deutsche Grammophon nun, 1955, mit einer Produktion von Schillers Kabale und Liebe an, und auch die Telefunken AG, die Thomas Manns Einlesung vertrieb,9 wollte die Gunst der Stunde nutzen. Für die Pressung auf das kleinere Schallplattensingleformat wurden besonders im ersten Teil des Textes erhebliche Kürzungen vorgenommen, Bandschnitte, die aufgrund der damals beschränkten technischen Möglichkeiten erheblich hörbare Spuren hinterlassen haben. Textologisch relevant sind neben den Kürzungen auch kleinere inhaltlich bedeutsame Änderungen etwa im letzten Abschnitt, jenem Passus, in dem Schiller mittels einer Prise Schnupftabak den Weg aus der Schaffenskrise zu finden scheint: Er stand auf, zog die Dose und schnupfte gierig, warf dann die Hände auf den Rücken und schritt so heftig durch das Zimmer, daß die Flammen der Kerzen im Luftzuge flatterten … Größe! Außerordentlichkeit! Welteroberung und Unsterblichkeit des Namens! Was galt alles Glück der ewig Unbekannten gegen dies Ziel des Ungewöhnlichen? Gekannt sein, – gekannt und geliebt von den Völkern der Erde! Schwatzt von Ichsucht, die ihr nichts wißt von der Süßigkeit des Traumes und Dranges! Ichsüchtig ist alles Außerordentliche, sofern es leidet. Mögt ihr selbst zusehen, spricht es, ihr Sendungslosen, die ihr’s auf Erden so viel leichter habt! Und der Ehrgeiz spricht: Soll das Leiden umsonst gewesen sein? Groß muß es mich machen! … Die Flügel seiner großen Nase waren gespannt, sein Blick drohte und schweifte. Seine Rechte war heftig und tief in den Aufschlag seines Schlafrockes geschoben, während die Linke geballt herniederhing. Eine fliegende Röte war in seine hageren Wangen getreten, eine Lohe, emporgeschlagen aus der Glut seines Künstler-Egoismus, jener Leidenschaft für sein Ich, die unaussprechlich in seiner Tiefe brannte. Er kannte ihn wohl, den heimlichen Rausch dieser Liebe. Zuweilen brauchte er nur seine Hand zu betrachten, um von einer begeisterten Zärtlichkeit für sich selbst erfüllt zu werden, in deren Dienst er alles, was ihm an Waffen des Talentes und der Kunst gegeben war, zu stellen beschloß. Er durfte es; nichts war unedel daran. Denn tiefer noch, als diese Ichsucht, lebte das Bewußtsein, sich dennoch bei alldem im Dienste vor irgend etwas Hohem, ohne Verdienst freilich, sondern unter einer Notwendigkeit, uneigennützig zu verzehren und aufzuopfern. Und dies war seine Eifersucht: daß niemand größer werde, als er, der nicht auch tiefer, als er, um dieses Hohe gelitten.10

Neben kleineren Änderungen zur sprechtechnischen Erleichterung, wie der Verkürzung des Genitivs „Talentes“ zu „Talents“,11 fällt vor allem auf, dass Schiller in der eingelesenen Fassung nicht mehr als der ‚Ungewöhnliche‘ bezeichnet wird und zugleich seine ‚große‘ Nase einbüßt. Abgesehen von allen Spekulationen um Schillers –––––––— 8 9

10

11

Sandra Rühr: Tondokumente von der Walze zum Hörbuch. Geschichte – Medienspezifik – Rezeption. Göttingen 2008, S. 70; vgl. hier auch die folgenden Informationen. Thomas Mann liest Schwere Stunde. Telefunken PLB 6160, Wort und Stimme – Dichter und Denker, 1 Stereo-LP, Dauer: etwa 10 Min.; später auch Thomas Mann: Der Dichter spricht: Schwere Stunde. Hamburg: Telefunken-Decca [o. J.]; hiernach im Folgenden zitiert. Thomas Mann: Schwere Stunde (1905); zit. nach: Thomas Mann, Frankfurter Ausgabe (Anm. 6), Bd. 2,1. Textkritisch durchgesehen von Terence J. Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig. Frankfurt a. M. 2004, S. 425. Thomas Mann liest Schwere Stunde (Anm. 9).

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Profil besonders in der Folge von Johann Heinrich von Danneckers stark idealisierender Büste (1793 und 1805), scheint dies auch in der von Mann gewählten Situation, in der er Schiller seine Prise ‚gierig‘ schnupfen lässt, keine pure Marginalie. Überraschend daher der Befund, dass diese akustisch überlieferte Lesart Manns im Textbericht der immerhin textkritisch durchgesehenen Frankfurter Ausgabe nicht verzeichnet wird, ein Hinweis auf diesen Überlieferungsträger überhaupt fehlt. Wie Thomas Mann hat auch Gottfried Benn nach dem Zweiten Weltkrieg sein Werk in zahlreichen Radiosendungen gelesen. Die auf Magnetbändern aufgezeichneten Lesungen wurden dann ebenfalls zum Teil als Schallplatten verbreitet. Aus der 1949 veröffentlichten Berliner Novelle Der Ptolemäer las Benn noch im gleichen Jahr für den SDR Stuttgart aus dem Kapitel „Der Glasbläser“ unter anderem folgende Passage: Glühender Sommer und eine verdurstende Stadt. Versengte Rasen, stauberstickte Bäume. In den Trümmern lechzende Gestalten, das Salz aus den Poren schwitzend ohne Ergänzung von Nahrungszufuhr, hinfällig, schattensüchtig, – zwischen Ohnmachten, Durchblutungsstörungen, Kreislaufschwäche. Auf den Boulevards Steppenleben, – lebhafte Bordelle und Uniformen. Das achte amurische Regiment, – Friedensgarnison Lo-scha-go –, macht Platzmusik, die langen Posaunen dröhnen. Die Bars füllen sich: Hawaiabfall und sibirisches Fleckblut. Weißer Wodka, grauer Whisky, Ayala und Witwe Cliquot aus ungespülten Römern. Gentlemans und Gospodins steppen auf rotem Glasparkett.12

Benn hat bei der Lesung aus seinem Ptolemäer wie im vorhergehenden Beispiel auch Thomas Mann den technischen Möglichkeiten des Mediums gehorchend Kürzungen vorgenommen, ganze Partien aus Zeitgründen eliminiert. Jedoch finden sich auch über diese äußerlich motivierten umfänglichen Eingriffe hinaus wiederum Varianten im Detail, wenn etwa aus „Hawaiabfall“ „Hawaihalfcast“13 wird. Wenngleich Benns Englisch grammatisch nicht immer belastbar ist, fällt doch auf, dass er zumindest im mündlichen öffentlichen Vortrag eine Variante probiert, die möglichen Zensureinwänden begegnen könnte. Sein Verleger Niedermayer nämlich hatte für die Erstausgabe 1949 den zweiten Bestandteil des Nominalkompositums ‚abfall‘ in „Hawaiabfall“ schlichtweg getilgt und durch einen Auslassungsstrich „-“ sowie durch ein leeres weißes Feld ersetzen lassen.14 Benns Brieffreund und Korrekturleser Friedrich Wilhelm Oelze hatte sich hierüber bei Benn beklagt, worauf dieser ihm am 17. Februar antwortete: Wegen Hawaiabfall hatte Herr N. vor einiger Zeit bei mir angerufen und ich hatte selbstverständlich zugestimmt; da Hawai der 44. Bundesstaat einer Occupationsmacht ist, giebt es

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13 14

Gottfried Benn: Der Glasbläser, aus: Der Ptolemäer. Berliner Novelle (1949); zit. nach Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. Hrsg. von Gerhard Schuster in Verbindung mit Ilse Benn. Bd. V: Prosa 3. Stuttgart 1991, S. 25. Benn, Das Hörwerk 2004 (Anm. 3), Track 26. Gottfried Benn: Briefe. Bd. 2,1: Briefe an F. W. Oelze. 1945–1949. Hrsg. von Harald Steinhagen und Jürgen Schröder. Wiesbaden 1979, S. 326; vgl. auch Benn, Ptolemäer (Anm. 12), S. 372; auch: Max Niedermayer: Pariser Hof. Limes Verlag Wiesbaden 1945–1965. Wiesbaden 1965, S. 55.

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dort natürlich keinen Abfall, sondern nur Lichtgestalten (was ich allerdings hier bei einer Hawaibesatzungsdivision sah, entsprach mehr meiner Bezeichnung).15

Wenige Wochen vor seinem Tod las Benn 1956 für den NWDR sein Gedicht Teils-teils ein. Auch hier fällt im Vergleich mit dem gedruckten Text in der fünften Zeile der dritten Strophe bei „Hotelqualitäten in Frankfurt“16 ein kleiner Stolperer auf. Offensichtlich erwog Benn für einen Bruchteil eine mit H beginnende Variante zu Frankfurt, die sich zu den „Hotelqualitäten“ alliterierend verhalten sollte.17 Doch Benn kehrt mit einer akustischen Sofortkorrektur zur Erstfassung „Frankfurt“ zurück. Wie auch in der Thomas-Mann-Ausgabe fehlen im Kommentar der Stuttgarter BennAusgabe in beiden genannten Fällen mit den Hinweisen auf die Tonträger als Überlieferungsdokumente auch die entsprechenden akustischen Lesarten. Sicherlich handelt es sich bei diesen oder ähnlichen frühen Tonaufnahmen von Dichtern, die ihr eigenes Werk lesen, noch nicht um Hörbücher, auch wenn mitunter mehrere solcher Aufnahmen zu einer Langspielplatte montiert wurden. Primärer Zweck solcher Tonkonserven war wohl die Dokumentation der Stimme des Autors.18 Gleichwohl wird hier wie etwa auch mit der frühesten Aufnahme einer deutschen Dichterstimme, Hugo von Hofmannsthals Lesung von Manche freilich aus dem Jahre 1907,19 ein durch den Verfasser unmittelbar ‚autorisierter Text‘20 präsentiert. So dokumentieren die vorgestellten Fälle Varianten eines bereits gedruckten Textes, zu denen jedoch keine schriftlich fixierte Überlieferung vorliegt, weshalb sie vermutlich auch nicht in die Apparate der jeweils kritischen Ausgaben aufgenommen wurden. Hier eröffnen sich einige grundlegende editionswissenschaftliche Problemfelder, etwa ob Tonaufzeichnungen von Autorenlesungen überhaupt zu den Überlieferungsträgern zu zählen seien, würde dies doch bedeuten, den Textbegriff vom Buchstaben zu lösen.21 Bereits in den 1980er Jahren finden sich Dokumente, die auf eine Erweiterung des Textbegriffs deuten, wie – exemplarisch – Beiträge im Tagungsband La Critica del testo22 aus dem Jahre 1984 illustrieren. Hier identifiziert etwa noch Armando Petrucci als Basis „di ciascun testo […] una pratica di scrittura, un atto dello scrivere che qualcuno ha compiuto in indeterminato momento e in indeterminato luogo“.23 Am glei–––––––— 15 16 17 18 19 20 21

22 23

Benn, Briefe, Bd. 2,1 (Anm. 14), S. 178. Benn, Sämtliche Werke (Anm. 12), Bd. 1: Gedichte 1. Stuttgart 1986, S. 317. Vgl. die jetzt im Wortarchiv des WDR Köln befindliche Tonbandaufnahme. Vgl. Rühr 2008 (Anm. 8), S. 16 f. Lyrikstimmen. Die Bibliothek der Poeten. 122 Autorinnen & Autoren, 420 Gedichte, 100 Jahre Lyrik im Originalton. Hrsg. von Christiane Collorio und Friedrich Achleitner. München 2009, Track 11. Vorausgesetzt, die Aufnahme wurde in ihrer Überlieferung nicht verfremdet, vgl. dazu etwa Anm. 28. Vgl. Horst Gronemeyer: Der Philologe und sein Text in Handschrift, Buch und Datenbank. Göttingen 2002 (Berichte aus den Sitzungen der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e. V., Hamburg. 20, H. 1); Text und Autor. Beiträge aus dem Venedig-Symposium 1998 des Graduiertenkollegs „Textkritik“ München. Hrsg. von Christiane Henkes, Harald Saller und Thomas Richter. Tübingen 2000 (Beihefte zu editio. 15); David Greetham: Theories of the Text. Oxford 1999, zum Folgenden hierin besonders S. 276–324. La Critica del testo. Problemi di metodo ed esperienze di lavoro. Atti del Convegno di Lecce 22–26 ottobre 1984. Roma 1985 (Biblioteca de filologia e critica. 1). Armando Petrucci: Scrivere il testo. In: La Critica del testo 1985 (Anm. 22), S. 209–227, hier S. 209.

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chen Ort diskutiert hingegen bereits Cesare Segre – zumindest theoretisch – einen linguistisch strukturalistischen Textbegriff, der im Prinzip insofern die Lösung von letterngestützten Überlieferungsträgern zulässt, als hier „segni linguistici“ Lautbilder begreifen, die verschiedene Formen von Verschriftlichung erlauben.24 Allerdings scheinen auch nach dem ‚linguistic turn‘ hieraus für die editorische Praxis Segres (am Beispiel des anonym überlieferten Mare amoroso aus dem 13. Jahrhundert) insofern noch keine Konsequenzen zu resultieren, als seine Diskussion, wie etwa konjekturale Eingriffe in den Text auszuzeichnen seien, ob mit Klammern oder mit Minuskeln, performativ an einem buchstabenbasierten Textbegriff festhält. Dass „‚Text‘“ keineswegs „immer ‚Drucktext‘“ meint, hebt besonders deutlich Roland Reuß 2005 gerade mit Hinweis auf den gelesenen Text hervor: Jeder Text enthält (aktualisiert oder nicht) einen Rückbezug auf den mündlichen Vortrag. Und eben darum kann man jeden Text von der spezifischen Materialität, die ihn transportiert, ablösen, und er bleibt […] immer noch derselbe […]. Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ bleiben ein Text, ob in einer zeitgenössischen Fraktur oder in einer klassizistischen Antiqua oder vorgelesen.25

Es muss in einem anderen Zusammenhang diskutiert werden, ob hieraus mit Reuß notwendigerweise resultiert, dass Texte „daher – das mag paradox, ja skandalös klingen – ihrem Begriff nach keine Varianten“ haben. „Was wir so nennen, sind immanente Bestandteile anderer, verwandter Texte.“26 Es scheint dann allerdings inkonsequent unter derartig strikten Vorstellungen von der Identität eines jeweiligen Textes, den bei der Lesung gedruckter oder handschriftlich überlieferter Texte gelesenen wie den schriftlich fixierten Text als ‚einen Text‘ (s. Zitat oben) zu verstehen. Gerade der vom Autor gelesene Text bietet durch dessen stimmliche Modulationen eine akustisch inszenierte Interpretation, die gegenüber der potentiellen semiotischen Vielfältigkeit des gedruckten Wortes eine jeweils individuelle Fassung bietet. Will man dann die editorische Konstruktion eines ‚idealen Textes‘ gänzlich vermeiden, müssten ferner über die Differenzierung mittels des gesprochenen Wortes auch typographische Gestaltungen des Textes als Differenzmerkmale reflektiert werden. Der Umgang mit den frühen dokumentarischen Stimmaufzeichnungen macht auf ein weiteres Problem von editorischer Relevanz aufmerksam. In der 2004 von Robert Galitz, Kurt Kreiler und Martin Weinmann betreuten Ausgabe aller akustischen Dokumente der Stimme Gottfried Benns, unter dem Titel Gottfried Benn: Das Hörwerk 1928–56 im Frankfurter Zweitausendeins Verlag27 erschienen, werden nicht nur die –––––––— 24

25 26 27

Vgl. Cesare Segre: La natura del testo e la prassi ecdotica. In: La Critica del testo 1985 (Anm. 22), S. 25–44, bes. S. 25: „La semiotica ha aiutato in primo luogo a distinguere il testo nella sua materialità, il testo come successione di segni linguistici, il testo come struttura di significati corrispondenti a raggruppamenti di segni linguistici, più o meno ampi secondo il livello dell’analisi presso in considerazione.“ Roland Reuß: Text, Entwurf, Werk. In: Text. Kritische Beiträge 10, 2005: Text – Werk, S. 1–12, hier S. 8. Reuß 2005 (Anm. 25), S. 8. Vgl. Benn, Das Hörwerk 2004 (Anm. 3). Unter dem Titel Hörwerke erschien auch 2005 im Münchner Hörverlag eine Cassette mit 36 CDs, die Hörbücher ausgewählter Werke Thomas Manns bieten. Anders

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angekündigten akustischen Glättungen von Knister- und Knackgeräuschen vorgenommen, sondern bereinigt wurde auch die oben beschriebene Variante in Teils-teils.28 Auch wenn also die Stimme des Autors als Zeuge seines Werks aufgerufen werden kann, bleibt zu prüfen, ob die jeweils vorliegende akustische Aufzeichnung ein authentisches Dokument repräsentiert und ob sie als autorisierte Quelle gelten kann. Hinsichtlich Authentizität und Autorisation gelten also die gleichen Bedingungen wie für schriftlich überlieferte Werkträger.29 „Im editorischen Sinne gelten alle vom Autor oder in seinem Auftrag von anderen angefertigten Textträger (Handschriften, Typoskripte, Drucke usw.) als autorisiert, d. h. sie enthalten einen zu einem bestimmten Zeitpunkt vom Autor gebilligten Text.“30 Die dokumentarischen Stimmenaufzeichnungen von Autoren wurden etwa ab den 1980er Jahren durch die Produktion von Hörbüchern31 weitgehend verdrängt. Wenngleich der Begriff ‚Hörbuch‘ bereits 1954 „auf Tonträger für Blinde angewendet“32 benutzt wurde, so prägte erst die Deutsche Grammophon Gesellschaft mit ihrer 1987 gestarteten Reihe Das DG-‚Hörbuch‘ den gegenwärtigen Begriff des Genres.33 Die Gründung des Hör-Verlags in München 1993 signalisierte dann, dass ein neues, kommerziell hoch interessantes Segment des Literaturmarktes entstanden war, dessen ökonomisches, damit aber zugleich distributorisches Potential auch gegenwärtig noch nicht ausgeschöpft scheint. Es überrascht, dass bislang weder die immer noch in statu nascendi befindliche Hörbuchforschung noch die Verlage selbst explizit zwischen Autoren- und Sprecherhörbüchern unterscheiden. Die Popularität des Sprechers hat bisher Fragen der Authentizität verdeckt. Hingegen scheint die Grenze zwischen Hörbuch und Hörspiel deutlich markiert. Betrachtet man Hörspiele primär als audiophone Inszenierungen szenischer Texte, die in der frühen Phase ihrer Gattungsgeschichte in der Regel für das Radio geschrieben wurden und durch Merkmale wie akustischer Raum, Geräuschkulisse und gegebenenfalls musikalische Untermalung charakterisiert –––––––— 28

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30 31

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als beim Benn’schen Hörwerk handelt es sich jedoch hierbei nicht um Lesungen Thomas Manns, sondern professioneller Sprecher wie Gert Westphal, Felix von Manteuffel, Udo Samel u. a. Benn, Das Hörwerk 2004 (Anm. 3), Track 123. Die Wiedergabe basiert nach Angaben der Edition auf der NDR-Fassung, jedoch markiert hier bei Minute 54 eine kleine Lücke die ‚Bereinigung‘ der Tonspur. Dass diese wohl vom Herausgeber Robert Galitz zu verantworten ist, illustriert die Autorisationsproblematik im Umgang mit Hörbüchern. Vgl. etwa Herbert Kraft: Editionsphilologie. Darmstadt 1990, bes. S. 18–38; vgl. auch Autor – Autorisation – Authentizität. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen und der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung, Aachen 20.–23. Februar 2002. Hrsg. von Thomas Bein, Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2004 (Beihefte zu editio. 21). Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte, 2., ergänzte und aktualisierte Aufl. Stuttgart 2006, S. 135. Zu Definition und Geschichte des Hörbuchs vgl. Jörg Häusermann, Korinna Janz-Peschke, Sandra Rühr: Das Hörbuch. Medium – Form – Geschichte. Konstanz 2010; ferner Jörg Häusermann: Die Aufführung von Literatur im Hörbuch. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 5, 2008, S. 250–272; vgl. auch Burkhard Moenninghoff: Hörbuch. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Begründet von Günther und Irmgard Schweikle. 3., vollständig neu bearb. Aufl. Hrsg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff. Stuttgart u. a. 2007, S. 327. Rühr 2008 (Anm. 8), S. 17. Vgl. Rühr 2008 (Anm. 8), S. 91.

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werden,34 so kann man das Hörbuch durch seine Tendenz, auf inszenatorische Merkmale zu verzichten und die Stimme des Lesers in den Vordergrund zu rücken, hiervon differenzieren.35 Bezeichnungen wie „Bügelbegleiter“36, „Schrumpfbuch“ oder „FastFood-Hörbuch“ machen allerdings auch deutlich, dass sich die Literaturwissenschaft mit diesem Medium immer noch schwer tut, weil es sie offensichtlich „in beinahe all ihren methodisch-disziplinären Facetten (vor Probleme) stellt und zugleich damit auch zu vielseitigen interdisziplinären Forschungen auffordert.“37 Doch ist angesichts der Tendenz zeitgenössischer Autoren, neben den Printausgaben ihrer Werke – zum Teil sogar gleichzeitig zur Erstveröffentlichung – selbst gelesene Hörbücher ihrer Werke zu produzieren und zu publizieren, unvermeidbar, dass Hörbücher für zukünftige Editionen zunehmend an Relevanz gewinnen werden. Editorisch von besonderer Bedeutung sind nun vor allem jene Hörbücher, in denen der Autor seinen eigenen Text liest und damit einen Überlieferungsträger seines Werkes verfasst, dessen Authentizität durch seine Stimme besonders hervorgehoben wird. Sie werden im Folgenden als ‚Autorenhörbücher‘ von Hörbüchern mit fremden Stimmen abgehoben und zwar unabhängig davon, ob es sich um einen quasi dokumentarischen Mitschnitt einer öffentlichen Lesung oder eine speziell arrangierte Studioaufnahme handelt. Editorisch irrelevant für die Bewertung des Autorisationsgrades der jeweiligen Überlieferungsträger ist auch, ob es sich um eine vollständige oder lediglich Auszüge bietende Lesung der dichterischen Arbeit handelt. Die damit einhergehende Notwendigkeit einer Erweiterung sowohl des im engeren Sinne literaturwissenschaftlichen wie aber auch des editionswissenschaftlichen Textbegriffs illustrieren insbesondere die Autorenhörbücher von Günter Grass und Martin Walser. Günter Grass liest seit vielen Jahren sowohl ältere epische Arbeiten ein, wie er auch zum Teil zeitgleich zu neueren Arbeiten Hörbuchfassungen publiziert, auf denen er selbst vorträgt. Auf 23 CDs mit einer Gesamtspielzeit von 28 Stunden liegt Die Blechtrommel seit 1997 vor, als repräsentative Edition der neuen Grass-Ausgabe im Steidl-Verlag beigefügt.38 Anfang 2008 las Grass in insgesamt 29 Stunden seinen 1977 erschienenen Roman Der Butt ein, der im Format MP3 auf CD erschien.39 Vollständig eingelesen liegen von ihm ebenfalls vor: eine Hörspiel(!)fassung von Das Treffen in Telgte mit musikalischer Umrahmung durch den Kammerchor Stuttgart auf –––––––— 34

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Vgl. etwa Stefan Bodo Würfel: Hörspiel. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Gemeinsam mit Georg Braungart u. a. hrsg. von Harald Fricke. Bd. 2: H–O. Berlin, New York 2000, S. 77–81, hier S. 79–81. Gleichwohl sind auch Inszenierungen von Hörspielen bei der Textrezension von editionsphilologischer Bedeutung, soweit sie über eine Autorisation verfügen. Dies ist der Fall, wenn etwa der Autor die Texteinrichtung der Inszenierung oder sie insgesamt autorisiert, wovon man etwa bei den frühen Hörspielen Martin Walsers ausgehen kann, die vom SDR produziert wurden, da Walser selbst dort zwischen 1952 und 1959 zahlreiche Regiearbeiten ablieferte; vgl. Andreas Meier: Martin Walser Werkverzeichnis (1949–2009). Berlin 2014 (im Druck), S. 344 f. (Kapitel 9.3.1: Regiearbeiten). Tobias Lehmkuhl: Bloßer Bügelbegleiter? Über das Hörbuch. In: Merkur 59, 2005, S. 362–366. Rüdiger Zymner: Lesen hören. Das Hörbuch. In: Allgemeine Literaturwissenschaft. Grundfragen einer besonderen Disziplin. Hrsg. von dems. Berlin 1999 (Allgemeine Literaturwissenschaft. Wuppertaler Schriften. 1), S. 208–215, hier S. 210. Günter Grass liest: Die Blechtrommel. 23 CDs. In: Günter Grass: Werkausgabe. Hrsg. von Volker Neuhaus und Daniela Hermes. Göttingen: Steidl 1997. Günter Grass liest: Der Butt. MP3 CD. Göttingen: Steidl 2011.

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insgesamt 5 CDs mit einer Gesamtspielzeit von 5½ Stunden;40 auf 16 CDs mit 15 Stunden Spielzeit wurde Beim Häuten der Zwiebel eingelesen;41 11 CDs mit beinahe 14 Stunden Dauer umfasst die Höredition von Grimms Wörter;42 seine Gedichte las Grass auf 3 CDs mit etwa 200 Minuten unter dem Titel Lyrische Beute;43 Audioausgaben liegen auch von Mein Jahrhundert 44 und Ein weites Feld 45 vor. Dass Günter Grass die Lesungen seiner literarischen Arbeiten als integralen Bestandteil der Werküberlieferungen auffasst, belegt die Gründung des Medienarchivs Günter Grass – Stiftung Bremen, zu dessen Ziel unter anderem die Sicherung des „audiovisuellen Werks“ von Günter Grass zählt.46 Ein Beispiel aus dem ersten Kapitel des Butt, „Im ersten Monat“, in dem Grass eine geraffte vorausdeutende Zusammenfassung des Romangeschehens bietet und die zentralen weiblichen Protagonistinnen, die im Laufe der Jahrhunderte wechselnden Köchinnen des Erzählers, vorstellt: Grass liest den Roman vollständig und zeichnet sich hierbei als ausgesprochen texttreuer Leser aus. Gleichwohl lassen sich editorisch interessante Beobachtungen machen. Die zehnte und elfte Köchin in mir sind noch ungenau, weil mir die beiden zu nah bekannt wurden. Nur ihre Namen stehen schon auf sonst leerem Blatt: Billy (die eigentlich Sibylle hieß) verlor ich in den sechziger Jahren an einem Himmelfahrtstag, der in Berlin und anderswo lauthals als Vatertag gefeiert wird; mit Maria, die auf der Leninwerft in Gdánsk (früher Schichau-Werft Danzig) in der Werkkantine arbeitet, bin ich verwandt.47

Als Lesart der Hörbuchfassung ist hier zu verzeichnen, dass aus der „Werkkantine“ eine „Werftkantine“ wird, der Leser Grass als sprechtechnische Erleichterung zur Vermeidung der Doppelkonsonanz an der Schnittstelle der beiden Kompositumshälften k in ft wandelt. Wie sehr der lesende Autor bei der Lektüre zugleich aber auch wieder in den kreativen Imaginationsprozess eintritt, mögen Beispiele aus der Hörbuchfassung von Walsers Ein springender Brunnen illustrieren. In seinem Essay Des Lesers Selbstverständnis (1993) entwickelt Walser eine Poetik des Lesens, in welcher das Lesen wie das Schreiben als kreative Akte verstanden –––––––— 40 41 42 43 44

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47

Günter Grass liest: Das Treffen in Telgte. 5 CDs [Mitschnitt des Deutschlandfunks 1982]. Göttingen: Steidl 1995 [erneut: 2005]. Günter Grass liest: Beim Häuten der Zwiebel. 16 CDs. Göttingen: Steidl 2007. Günter Grass liest: Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung. 11 CDs [Produktion des NDR]. Göttingen: Steidl 2010. Günter Grass liest: Lyrische Beute. Gedichte aus fünfzig Jahren. 3 CDs. Hamburg: Jumbo 2013 [zuerst: 3 CDs. Göttingen: Steidl 2004]. Günter Grass: Mein Jahrhundert. 9 CDs [Aufnahme einer öffentlichen Lesung im Deutschen Theater Göttingen, 28. April bis 1. Mai 1999, Produktion Radio Bremen]. Hamburg: Jumbo, Neue Medien & Verl., Diepholz, DA Music [Vertrieb] 2011 [zuvor 12 CDs. Berlin: Universal Music Group 2007]. Günter Grass liest: Ein weites Feld [Roman in 5 Büchern und 37 Kapiteln; aufgezeichnet vom 12. bis 25. September 1998 im Gerhart-Hauptmann-Haus auf Hiddensee]. 24 CDs. Göttingen: Steidl 2006. http://www.grass-medienarchiv.de/index.php/stiftung/aufgaben (22. 10. 2013): „Die Stiftung sammelt, dokumentiert und erschließt das audiovisuelle Werk von Günter Grass – seine Lesungen, Reden, Interviews und andere Beiträge in Hörfunk und Fernsehen sowie auf weiteren Ton- und Bildträgern. Damit werden die Dokumente vor dem Zerfall bewahrt, der Forschung und der interessierten Öffentlichkeit erhalten und zugänglich gemacht.“ Günter Grass: Der Butt. Roman. In: Grass, Werkausgabe 1997 (Anm. 38), Bd. 8. Hrsg. von Claudia Meyer-Iswandy. Göttingen 1997, S. 27.

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werden. „Die Sätze, die ich lese, leben davon, daß sie in mir beantwortet werden. Beantwortet durch Erfahrungen, die von diesen gelesenen Sätzen geweckt, mobilisiert, bewußt gemacht werden.“48 Lesen wie Schreiben wird für Walser zu einer „Lebensart“. Man kann, um sich zu begegnen, in den Spiegel schauen, auf alte und neuere Fotos, aber auch in ein Buch. Man begegnet sich da. Lesen ist nicht etwa wie Musikhören, sondern wie Musizieren. Das Instrument ist man selbst. Man spielt sich, spielt auf nach Noten Gogols, Dostojewskis, Nietzsches, Hölderlins.49

Oder eben nach seinen eigenen Noten. Martin Walser liest seit den späten 1990er Jahren seine Werke etwa gleichzeitig mit dem Erscheinen der Druckausgaben ein, sodass mit den Buchausgaben seiner Werke oder wenige Jahre versetzt auch CD- oder Cassetten-Editionen seiner Lesungen erscheinen.50 Ähnliches gilt für Essays wie Über die Schüchternheit 51 oder die sehr skandalisiert rezipierte Rede Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede, deren Hörproduktion gleich mehrfach vertrieben wurde.52 Besonders Walsers erste Hörbuchausgaben waren noch stark von den eingeschränkten Möglichkeiten elektronischer Speichermedien abhängig. So erschien von Finks Krieg (1996) nur eine Lesefassung im Umfang von einer CD, die etwa für 60 Minuten Text Raum bot, weshalb sie um weit über 80 % des Buchtextes gekürzt werden musste.53 Doch auch der gelesene Text weist erhebliche Abweichungen gegenüber der Druckfassung der Walser-Werkausgabe auf. Ein Werkstellenverzeichnis ergibt hier (in exemplarischen Auszügen) folgendes Bild:54 162

gekommenen Parteien] gekommene Partei CD von Rotgrün zu Schwarzgelb] gestr. CD weil der, dem er geworden war] gestr. CD und alles mitgeschrieben] um alles mitzuschreiben CD

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Martin Walser: Werke in zwölf Bänden. Hrsg. von Helmuth Kiesel unter Mitwirkung von Frank Barsch. Frankfurt a. M. 1996, Bd. XII, S. 703. Walser, Werke, Bd. XII (Anm. 48), S. 707. Auszüge aus dem Roman: Finks Krieg. Regie: Martin Walser, Hajo Steinert. München: Hör-Verlag 1996 [als CD und MC]; Ein springender Brunnen. Gelesen von Martin Walser. München: Hör-Verlag 1998 [4 MC], dass. 2001 als CD; Der Lebenslauf der Liebe. München: Der Hörverlag 2002 [10 CDs]; Tod eines Kritikers. Gelesen von Martin Walser, Regie: Matthias Spranger. Frankfurt a. M.: Lido 2002 [4 CDs]; Der Augenblick der Liebe. Gelesen von Martin Walser. Hamburg: Hoffmann und Campe 2004 [7 CDs]; Meßmers Reisen, Meßmers Gedanken. Gelesen von Martin Walser. Hamburg: Hoffmann und Campe 2004 [2 CDs]; Angstblüte. Roman. Gelesen von Martin Walser. Hamburg: Hoffmann und Campe 2006 [5 CDs]; Ein fliehendes Pferd. Produziert von hr 2, gelesen von Martin Walser. München: der hörverlag 2007 [3 CDs]; Ein liebender Mann. Gelesen von Martin Walser. Hamburg: Hoffmann und Campe 2008 [6 CDs]. Über die Schüchternheit. Ein Versuch. Gelesen von Martin Walser. Regie: Gerwig Epkes. Eggingen: Edition Isele 2000 [MC]. Martin Walser: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede. In: Das 20. Jahrhundert. Paderborn: Schöningh 2001 [CD ROM]; dass. in: Das 20. Jahrhundert. Paderborn: Bildungshaus Schulbuch Verlag 2001; dass. Eggingen: Edition Isele 2001 [MC]; dass. Eggingen: Edition Isele 2002 [CD, 30 Minuten]. Zur Kürzungsproblematik vgl. Angelika Diehm: Lesen Sie noch oder hören Sie schon? Die Kürzungsproblematik beim Hörbuch. Marburg 2010. Im Folgenden zit. nach Walser, Werke (Anm. 48), Bd. VII, S. 161–395; zur gelesenen Fassung vgl. Anm. 50.

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Auch am 23. November schrieb ich mit.] gestr. CD jetzt Fraktionsassistent] jetzt noch Fraktionsassistent CD voraus –, wie] voraus –, daß er dort schildern würde, wie CD […]

Auch die Hörbuchfassung von Ein springender Brunnen (1998) hatte starke Eingriffe hinzunehmen. Auf den vier publizierten Musikcassetten fanden nur gegen 290 Minuten gelesener Text Platz, sodass etwa 40 % der Druckfassung zu streichen waren. Gleichwohl fällt auf, dass neben diesen durch die Wahl des Mediums ökonomisch begründeten Eingriffen in den Text bei der Lektüre auch Varianten entstehen, die durch derartige Zwänge nicht begründet werden können. Während Walser insgesamt ein ausgesprochen geübter und texttreuer Leser seiner Werke ist, begegnen im zweiten Teil des Romans, „Das Wunder von Wasserburg“, und dort im vierten Kapitel mit der Überschrift „Das erste Mal“ auffallend zahlreiche kleinere Lesarten. Johann, der stark autobiographisch konzipierte Protagonist des Romans, hat sich in das Zirkuskind Anita verliebt, die mit ihm zur ersten Heiligen Kommunion gehen soll. Am Vorabend des Weißen Sonntags nun kommt es nach der abgelegten Beichte zu einem Malheur. Johann, der Anita in einem unschuldvollen, wenngleich sexual-symbolisch aufgeladenen Spiel zwei Abziehbilder auf die Innenseite ihrer Schenkel klebte, einen Wasser blasenden Wal und den feuerspeienden Popocatepetl, kann beim Einschlafen die Szene nicht vergessen und macht mehr hilflos als absichtsvoll die Erfahrung einer ersten sexuellen Erregung, welche ihn an die psychotischen Verbalaggressionen eines Gastes im Wirtshaus seiner Mutter, Herrn Seehahn, erinnert. Es kommt zu einer ersten pubertären Selbstbefriedigung, die den kleinen Johann am Vorabend der Heiligen Kommunion als Sünder, gar mit einer „Todsünde“55 behaftet, traumatisiert. An keiner anderen Stelle seines Buches unterlaufen Walser während des Vortrags von circa einer Seite gedruckten Textes gleich drei Abweichungen. 204 205

die ihn ganz und gar] die ganz und gar MC 3 Ja, wie Herr Seehahn] Ja, ja, wie Herr Seehahn MC 3 ertastet hatte, hieß Zwetschge] ertastet hatte, das hieß Zwetschge MC 356

Diese Lesarten, die natürlich neben den insgesamt kürzenden Eingriffen im Kommentarteil einer zukünftigen kritischen Walser-Ausgabe zu verzeichnen wären, weisen noch auf eine weitere Dimension von Autorenhörbüchern hin. Bei der Lesung seines Textes gibt der Autor durch stimmliche Akzente, durch „lebendige Rede“57 Verständnishinweise, eröffnet dem Hörer die Möglichkeit, „akustisch zu denken“.58 Tatsäch–––––––— 55 56 57

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Martin Walser: Ein springender Brunnen. Roman. Frankfurt a. M. 1999, S. 204. Mit der oben zitierten Textfassung in der Erstausgabe wird hier verglichen: Martin Walser: Ein springender Brunnen. Gelesen von Martin Walser. 4 Cassetten. München: Der Hörverlag 1999. Gert Ueding: Rettung der Literatur durch lebendige Rede. Rhetorische Aspekte des Hörbuchs. In: Der Deutschunterricht 56, 2004, H. 4, S. 17–28; vgl. auch Burkhard Moenninghoff: Gesprochene Literatur. Hörbuch, Stimme und Literaturunterricht. In: Zeitschrift für Kultur- und Bildungswissenschaften 2002, H. 13: Peripherien, S. 47–54. Walter Gödden: Radioessays in NRW. Hörbuch-Produktionen verführen dazu, akustisch zu denken. Warum nicht auch über eine O-Ton-Literaturgeschichte NRWs? In: „… das hohe Geistergespräch“.

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lich also handelt es sich bei „Lesung und Dokumentation […] in erster Linie um stimmliche Interpretationen“,59 die mittels nicht-verbaler Sprachsignale, also prosodischer wie paralinguistischer Merkmale, das inhaltliche Sprachverstehen mitsteuern. Betonung und Intonation wie aber auch etwa Tempo und Lautstärke haben durchaus ihren Anteil daran, der erzählten Welt präzisere Kontur zu verleihen. Auch sie besitzen eine referenzielle Qualität, mit der etwa Ironiesignale gesetzt werden können, wie sie beispielsweise in Thomas Manns die Grenzen der Ernsthaftigkeit streifendem Pathos (gedehntes Tempo, deutlich markierte Intonationsschwankungen) spürbar werden. Das Gegenteil, der Verzicht auf Ironie gegenüber pubertärer Sexualität, prägt Martin Walsers Vortrag, dessen innere Erregung eher auf ein teilnehmendes Verständnis schließen lässt.60 Gehören „Kommentare und Erläuterungen als Grundlagen für die Texterschließung durch den Leser zu den zentralen Aufgaben des Editors“,61 müssten konsequenterweise auch die (selbst)interpretierenden Lesungen eines Autors in wissenschaftlich validen Editionen Berücksichtigung finden. Zwar hat schon Waltraud Hagen 1988 die Schwierigkeiten der Präzisierung von über Wort- und Sacherläuterungen hinausgehenden „hermeneutische[n] Zielstellungen“ bei der Kommentararbeit skizziert,62 ein hermeneutischer Konsens für die Aufgabenbeschreibung eines Kommentators scheint allerdings schon zu bestehen. Auch Gunter Martens erhebt 1993 die Rekonstruktion des „Verstehensumfeld[s] zur Zeit oder am Ort der Entstehung des Textes“63 zur Richtlinie der Tiefe eines Kommentars. Zum Verstehensumfeld gehören aber auch die oben beschriebenen Ironiesignale akustischer Art – sofern sie denn überliefert sind.64 Als vorsichtiges Fazit könnte man folgende erste und allgemeine Regeln für den editionswissenschaftlichen Umgang mit Hörbüchern vorschlagen: –––––––— 59 60

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Über Literatur im musealen und digitalen Raum. Hrsg. von Sabine Brenner-Wilczek und Sikander Singh. Bielefeld 2008, S. 119–125. Rühr 2008 (Anm. 8), S. 20. Zur Wirkung gelesener Texte auf das Verständnis des Hörers vgl. allgemein Elena Travkina: Sprechwissenschaftliche Untersuchungen zur Wirkung vorgelesener Prosa. Frankfurt a. M. 2010; Jutta Suttner: Sprechwissenschaftliche Untersuchungen zur Bewertung und Wirkung von Stimme und Artikulation. Diss. Halle-Wittenberg 1982; Severin Perrig: Stimmen, Slams und Schachtel-Bücher. Eine Geschichte des Vorlesens von den Rhapsoden bis zum Hörbuch. Bielefeld 2009; Heidemarie Eckardt: Das Hörbuch – mehr als Lektüreersatz. In: Lesekultur. Populäre Lesestoffe von Gutenberg bis zum Internet. Hrsg. von Petra Bohnsack und Hans-Friedrich Foltin. Marburg 1999 (Schriften der Universitätsbibliothek Marburg. 93), S. 248–256. Plachta 2006 (Anm. 30), S. 122. Waltraud Hagen: Von den Erläuterungen. In: Siegfried Scheibe (Leitung), Waltraud Hagen, Christel Laufer, Uta Motschmann: Vom Umgang mit Editionen. Eine Einführung in Verfahrensweisen und Methoden der Textologie. Berlin 1988, S. 205–224, bes. S. 211–219. Gunter Martens: Kommentar – Hilfestellung oder Bevormundung des Lesers? In: editio 7, 1993, S. 36– 50, hier S. 40; vgl. auch Plachta 2006 (Anm. 30), S. 129. Max Brod berichtet in seiner Kafka-Biographie (Franz Kafka. Eine Biographie. Prag 1937, S. 218; später erweitert u. d. T.: Über Franz Kafka. Eine Biographie. Frankfurt a. M. 1966, S. 156), Kafka habe während seiner Lesungen aus dem Manuskript des Process vor Freunden immer wieder laut lachen müssen. Leider liegen Ton-Aufzeichnungen von Kafkas Stimme nicht vor. Zweifellos hätten sie aber eine gewichtige Rolle bei der Rezeption seiner Texte gespielt. Zur Bedeutung des öffentlichen Vortrags für sein Werk vgl. Lothar Müller: Die zweite Stimme. Vortragskunst von Goethe bis Kafka. Berlin 2007.

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1. Zukünftige Editionen von Autoren, die eigene Werke, sei es vollständig oder in Auszügen, für die Dokumentation oder zur kommerziellen Verbreitung auf Tonträger eingelesen haben oder den Mitschnitt einer Lesung in geeigneten Medien als ‚Autorenhörbuch‘ haben verbreiten lassen, haben diese Audiodokumente in den Bestand der Werküberlieferung aufzunehmen. Entsprechend sind während der Rezension der Überlieferungsträger deren Varianten als ‚akustische Lesarten‘ in den kritischen Apparat zu integrieren. Mitunter, wie etwa im Falle des Butt von Günter Grass, kann die gelesene Fassung den Rang einer Fassung ‚letzter Hand‘ oder in diesem Falle des ‚letzten Wortes‘ übernehmen. 2. In diesen Fällen ist es durchaus angeraten, diese Werkteile als ‚Hörwerk‘ in Form einer eigenen Audio(visuellen) Abteilung in historisch gesicherten Formaten zu edieren. 3. Sowohl für die Autorenhörbücher als auch für die von professionellen Sprechern eingelesenen Texte sind Authentizität wie Autorisation kritisch zu prüfen.

VI. Nichtschriftliche Materialität II: Die ‚Schreibszene‘ jenseits des Textes

Bodo Plachta

„episches Hausgerät“

1. Wenn sich dieser Beitrag mit dem „übliche[n] Krimskrams“ befasst, „den ein Schriftsteller braucht“1 und der Wolfgang Weyrauch zufolge auf beinahe jedem Autorenschreibtisch zu finden ist, dann folgt diese Spurensuche einem alten und traditionsreichen Anliegen, das auch heute wieder ein weit verbreiteter Trend kultureller Praxis ist. Die Aufmerksamkeit richtet sich damit auf den authentischen Ort, an dem Literatur entstanden ist und dem dadurch eine eigene, durch die hier vermutete Kreativität sogar besondere Aura innewohnt.2 Obwohl wir diese Kreativität in Gänze kaum konkretisieren können, versuchen wir sie aber gerade an Orten und an Gegenständen zu fassen. Ein Beispiel: Als Heinrich Heine im Mai 1831 nach Paris übergesiedelt war, besuchte er wenige Tage nach seiner Ankunft das Wohnhaus von Molière in der Rue de Richelieu. In der Romantischen Schule (1835) notiert er über diese Besichtigung: „Es war vor einem Jahre, kurz nach meiner Ankunft in der Hauptstadt. Ich ging eben das Haus zu sehen, worin Molière gewohnt hat; denn ich ehre große Dichter, und suche überall, mit religiöser Andacht, die Spuren ihres irdischen Wandels. Das ist ein Kultus.“3 Dieses Bedürfnis nach Sinnsuche scheint sich seitdem nur wenig verändert zu haben. Was im 19. Jahrhundert als Dichterverehrung bezeichnet wurde, firmiert heute unter dem Label Erinnerungskultur. Doch das Interesse an biographischen Spuren und somit auch an dem Entstehungsort von Literatur ist im Laufe der Zeit spezifischer, präziser und medialer geworden. Allerdings ist die Dokumentation dieser Spuren dadurch nicht einfacher geworden. Nicht nur in den zahllosen musealisierten Dichterhäusern oder -wohnungen sind Arbeitszimmer in das Zentrum des Besucherinteresses gerückt, auch lebende Autorinnen und Autoren gewähren bereitwillig Einblicke in ihre Schreibumgebungen und lassen sie fotografisch dokumentieren.4 Schreib–––––––— 1 2 3

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Wolfgang Weyrauch: „Ein Schluck von Vernunft“ (Lichtenberg). Über das Schriftstellern. Darmstadt 1978 (Hessische Beiträge zur deutschen Literatur), S. 6. Vgl. Bodo Plachta: Dichterhäuser in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Stuttgart 2011. Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. von Manfred Windfuhr im Auftrag der Landeshauptstadt Düsseldorf. 16 Bde. in 23. Hamburg 1973–1997, Bd. 8,1: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Die romantische Schule. Text. Bearb. von Manfred Windfuhr. Hamburg 1979, S. 176. Vgl. z. B. Herlinde Koelbl: Im Schreiben zu Haus. Wie Schriftsteller zu Werke gehen. Fotografien und Gespräche. 2. Aufl. München 1998; Jill Krementz: The Writer’s Desk. Introduction by John Updike. New York 1996; Der (bisweilen) leere Strudel. Arbeitsplätze von Schreibenden. Hrsg. und mit einem Vorwort von Peter Krumme. Frankfurt a. M., Berlin 1986.

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tische galten schon immer als Ausweis von Autorschaft und waren Bestandteil der Selbstinszenierung oder Auslöser autopoetischer Reflexionen. Arbeitszimmer sind wichtig! Sie werden heutzutage komplett in Archive überführt (z. B. die Wohnung von Nelly Sachs in der Königlichen Bibliothek Stockholm oder das Arbeitszimmer von Ernst Bloch im Ludwigshafener Ernst-Bloch-Archiv). Schreibtische verwandeln sich sogar in Kunstwerke im öffentlichen Raum, wie etwa der sicherheitsglasbeschirmte Arbeitsplatz Adornos in Frankfurt.5 Arbeitszimmer von Politikern sind inzwischen virtuell begehbar und präsentieren so gutes Regierungshandeln in politisch korrekter Transparenz. Nie begegnen wir leer geräumten Schreibtischen, denn das Möbel an sich hat weniger Bedeutung als die zum Arbeiten und Schreiben notwendigen Gegenstände und eben der „Krimskrams“, der sich auf ihnen absichtlich oder zufällig arrangiert und zunächst nicht sichtbar in den Schubladen befindet. Betrachtet man, wie diese „abgelebten Dinge“6 – so nennt sie Wilhelm Genazino – in Literaturausstellungen allein schon durch ihre museale Präsentation mit Bedeutung aufgeladen werden, dann spiegelt sich hier ein weiterer Trend, der die „Zufallsspur“7 der Literatur aus dem Archiv an die Oberfläche holt und mit großer Geste in das kulturelle Gedächtnis zu überführen versucht. Diese Museumspraxis ist inzwischen sichtbarer Niederschlag zahlreicher Forschungsbemühungen, in denen die Materialität des Schreibprozesses, das Schreiben in seinen technischen, kulturellen und systematischen Facetten8 sowie die Visualisierung dieser Spuren in Editionen perspektivenreich in Augenschein genommen wurden. Daher gilt heute nicht mehr das gern und oft kolportierte „Wort, dass der Hausrat im Leben der Dichter die grössere Rolle spiele als in den Vorlesungen der Literaturhistoriker“.9 Insofern gehören Schreibtische und der auf ihnen befindliche „Krimskrams“ zur „dokumentarischen Materialität“10 von Schreibprozessen und Textentstehung. Solche Phänomene sind im Laufe der Zeit immer stärker von der Peripherie ins Zentrum schriftstellerischer Arbeit und Reflexion gerückt und beanspruchten schließ–––––––— 5 6

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Vgl. Adornoplatz. Frankfurt am Main. Frankfurt a. M. 2004. Wilhelm Genazino: Flüchtige Tote. Schriftsteller und ihre Museumslegenden. In: Heike Gfrereis: Autopsie Schiller. Eine literarische Untersuchung. Marbach 2009 (Marbacher Magazin. 125/126), S. 137–152, hier S. 138. Der sechste Sinn oder Die Spur der Dinge. Eine Anthologie der österreichischen Literatur. Hrsg. von Cathrin Pichler und Johannes Schlebrügge. Wien 1996, S. 8. Vgl. Martin Stingelin: ‚Schreiben‘. Einführung. In: „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. Hrsg. von Martin Stingelin in Zusammenarbeit mit Davide Giuriato und Sandro Zanetti. München 2004 (Zur Genealogie des Schreibens. 1), S. 7–21, hier S. 15; und Sabine Mainberger: Schreibtischporträts. Zu Texten von Arno Schmidt, Georges Perec, Hermann Burger und Francis Ponge. In: Möbel als Medien. Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge. Hrsg. von Sebastian Hackenschmidt und Klaus Engelhorn. Bielefeld 2011, S. 177–197, hier S. 179. Thomas Sprecher: Thomas Mann in Zürich. Zürich 1992, S. 36. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Aus dem Französischen übers. von Ulrich Köppen. Frankfurt a. M. 1981, S. 183–190; zu dieser Materialität zählt Foucault u. a. „Bücher, Texte, Erzählungen, Register, Akten, Gebäude, Institutionen, Regelungen, Techniken, Gegenstände, Sitten usw.“ (ebd., S. 15). Vgl. auch Anke te Heesen, Petra Lutz: Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort. Köln, Weimar, Wien 2005 (Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden. 4), bes. S. 11–17.

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lich sogar eigene Räumlichkeiten, eben das Arbeitszimmer.11 Gerade weil Schriftstellerschreibtische unterschiedliche Funktionen haben und ihre Benutzung von variablen Faktoren sowie allgemeinen und individuellen Rahmenbedingungen, wie etwa von der Größe des Zimmers, Einrichtungsmoden oder der Disposition von Gegenständen auf der Schreibplatte, abhängig ist, lassen sie sich in das Konzept der „Schreibszene“ integrieren, als deren wesentliche Merkmale Rüdiger Campe ein „nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste“12 herausgestellt hat. Der Schreibtisch ist Teil der „Begleitumstände“,13 deren Spuren oftmals verloren und nur fallweise mit Hilfe philologischer Operationen rekonstruierbar sind.14 Walter Benjamin hat nach einem Besuch von Goethes Arbeitszimmer in Weimar seine Überraschung über die Einfachheit dieses Schreibortes festgehalten und darauf hingewiesen, dass hier ein „Wille [...] Figur und Formen in Schranken gehalten“ habe.15 Schreibumgebungen entstehen nicht zufällig. Sie unterliegen einem erkennbaren Gestaltungswillen. Schreibtischgegenstände sind eben nicht nur „Krimskrams“, sie haben eine über sich selbst hinausweisende Bedeutung, sei es, dass sie auf die Biographie des Autors rückbeziehbar sind, sei es, dass sie in der literarischen Fiktion weiterleben oder dass sie für eine Erzählhaltung oder programmatisch für eine Auffassung von Künstlerschaft stehen. Solche Phänomene, die eng mit der Textentstehung verbunden sind, möchte ich in den Blick nehmen, weil sich hier vielleicht auch Perspektiven für die immer wieder angemahnte Vermittlung zwischen Edition und Interpretation eröffnen.

2. In seiner Dankrede zur Verleihung des Literaturnobelpreises am 10. Dezember 1929 bekennt Thomas Mann, die „Donnergewalt der Ehrung“ und der seitdem „immerwährende Festtrubel“ hätten ihm nicht nur „das Gleichmaß in Leben und Kunst“, sondern auch sein „episches Hausgerät dramatisch verstellt und verschoben“.16 Thomas Mann –––––––— 11

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Vgl. zur Geschichte von Räumen zum Lesen und Arbeiten aus kunsthistorischer Perspektive Wolfgang Liebenwein: Studiolo. Die Entstehung eines Raumtyps und seine Entwicklung bis um 1600. Berlin 1977 (Frankfurter Forschungen zur Kunst. 6). Rüdiger Campe: Die Schreibszene. Schreiben. In: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer. Unter Mitarbeit von Irene Chytraeus-Auerbach, Ralf Kaczerowski, Ralph Kray, Ute Peter, Bernd Schulte, Thomas Studer, Barbara Ullrich, Benno Wagner. Frankfurt a. M. 1991, S. 759–772, hier S. 760. Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1980. – Vgl. auch Martin Stingelin: Ein Selbstporträt des Autors als Midas. Das Spannungsverhältnis zwischen Schrift und Bild in Friedrich Dürrenmatts Spätwerk. In: Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur. Hrsg. von Davide Giuriato und Stephan Kammer. Frankfurt a. M., Basel 2006, S. 269–292, hier S. 270. Vgl. die einzelnen Bände der Reihe Zur Genealogie des Schreibens und Gerhard Neumann: Schreibschrein und Strafapparat. Erwägungen zur Topographie des Schreibens. In: Bild und Gedanke. Festschrift für Gerhart Baumann zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Günter Schnitzler in Verbindung mit Gerhard Neumann und Jürgen Schröder. München 1980, S. 385–401. Walter Benjamin: Weimar. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1972–1974, Bd. IV,1: Hrsg. von Tillman Rexrodt. Frankfurt a. M. 1972, S. 353–355, hier S. 354. Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Zweite, durchges. Aufl. Frankfurt a. M. 1974, Bd. XI, S. 408.

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variiert mit der Rede vom „epische[n] Hausgerät“ den Vers eines Goethe-Gedichts, das als Einlage für das Singspiel Claudine von Villa Bella in Italien entstanden war. In diesem Gedicht, das sich unmittelbar an Cupido wendet, wird geschildert, wie das Wirken dieses „lose[n], eigensinnige[n] Knabe[n]“ den gesamten Haushalt, Alltag und die Gefühlswelt durcheinanderbringt, so dass das lyrische Ich nicht nur klagt: „Du hast mir mein Gerät verstellt und verschoben“,17 sondern auch ernsthaft befürchtet, dass das „Seelchen“ als „Versammlung tätiger Geister“ die Flucht ergreifen könnte, wie es Goethe später in einer Selbstdeutung dieser Verse erläutert.18 Die von Thomas Mann etwas kokett vorgetragene Sorge, das „epische[ ] Hausgerät“ könne durch den Nobelpreis in Unordnung geraten, berührt jedoch prinzipiell sein Selbstverständnis als Schriftsteller und Erzähler, ja sein „Künstlertum“ überhaupt. In der Nobelpreisrede bekennt er sich zur Form als Grundlage des Epischen schlechthin, betrachtet es als „Ehre“, diesem „Prinzip“ huldigen zu dürfen, weil „es in Leiden Schönes hervorbrachte“.19 Doch das „epische[ ] Hausgerät“ meinte zunächst durchaus viel Profaneres, und zwar all die Dinge, die Thomas Mann zum Schreiben benötigte und die er in einem „pedantisch festgelegten Arrangement“20 in und auf seinem Schreibtisch verund bewahrte. Dies waren nicht nur „glattes Papier, flüssige Tinte und leichtgleitende Federn“,21 sondern unterschiedlichste „Sächlein“, wie er sie in der Erinnerung seiner Tochter Elisabeth nannte.22

Abb. 1: Schreibtisch von Thomas Mann, ThomasMann-Archiv Zürich.23

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Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. von Friedmar Apel u. a. 40 Bde. Frankfurt a. M. 1985–1999, Abt. I, Bd. 1: Gedichte 1756–1799. Hrsg. von Karl Eibl. Frankfurt a. M. 1987 (Bibliothek deutscher Klassiker. 18), S. 374. In Zweiter Römischer Aufenthalt (Januar 1788), zitiert nach Goethe, Sämtliche Werke I,1 (Anm. 17), S. 1068. Thomas Mann, Gesammelte Werke (Anm. 16), Bd. XI, S. 409 f. Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. Mit einem Nachwort von Frido Mann. 17. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 423. Sprecher 1992 (Anm. 9), S. 37. Vgl. Cornelia Bernini, Thomas Sprecher: Das Museum. In: Im Geiste der Genauigkeit. Das ThomasMann-Archiv der ETH Zürich 1956–2006. Hrsg. von Thomas Sprecher. Frankfurt a. M. 2006 (ThomasMann-Studien. 35), S. 367–422, hier S. 396. Abb. entnommen aus: http://www.tma.ethz.ch/gedenkzimmer/.

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Zu ihnen gehörten eine Fotografie der jungen Katia Mann, ägyptische Statuetten, Brillen, die Savonarola-Miniatur, Medaillen, ein Hotel-Aschenbecher, ein Petschaft, Notizblöcke, der Umlege-Kalender und selbstverständlich der „siamesische Krieger mit der schönen Schulterlinie“.24 Dieser „siamesische Krieger“ ist die Kopie einer mittelalterlichen bronzenen Buddha-Büste mit einer Flamme über dem Kopf, das den Religionsstifter als ‚Erleuchteten‘ und ‚Erwachten‘ ausweist, aber auch an seine Lehre „von einem asketischen, heroischen, soldatischen Leben“ erinnert, die Thomas Mann wohl über Schopenhauer vermittelt bekam.25 Gerade in unsicheren Lebensverhältnissen und unruhigen Zeitläuften, in die Thomas Mann nur wenige Jahre nach der Nobelpreisrede selbst geraten sollte, gehörten sein Arbeitszimmer, seine Bibliothek und in besonderem Maße sein Schreibtisch zu den „Institutionen, auf deren Dauerhaftigkeit man sich verlassen konnte“, so Klaus Mann in seinen Lebenserinnerungen.26 Golo Mann sprach später von Arbeitszimmer und Schreibtisch des Vaters als der „immer gleichbleibenden Anordnung seines Lebens“, eine Form von Heimat, in der sich Thomas Manns „unbewußter Wunsch und Wille“ erfüllt habe.27 Der gegen Ende der 1920er Jahre antiquarisch erworbene pompöse neobarocke Mahagoni-Schreibtisch,28 der aus München ins Exil gerettet wurde und der den Autor an alle weiteren Wohnorte begleitete, „avancierte zum Symbol der Lebens- und Schaffenseinheit, der Beständigkeit, Festigkeit, Unbeirrbarkeit, ja einer letzten triumphalen Unberührbarkeit.“29 Arbeitszimmer und Schreibtisch waren nicht allein für Professor Cornelius in der Erzählung Unordnung und frühes Leid, sondern auch für den Autor selbst ein „gefriedetes Reich“, „wo er die Rolläden herunterläßt, die Schreibtischlampe andreht und sich zu seiner Arbeit setzt.“30 Doch über diese prinzipielle Bedeutung des Schreibtisches für die Autorschaft Thomas Manns hinaus hat die Forschung ihren Blick schon früh auf die erzählerische Integration einzelner Schreibtischgegenstände in das Mann’sche Werk gerichtet, wodurch das „Hausgerät“ episch wurde. Die beiden aus Familienbesitz stammenden Empire-Kerzenleuchter zitieren ein vermeintlich originales Arrangement auf Schillers Jenaer Schreibtisch, das Thomas Mann aus dem Marbacher Schillerbuch kannte.

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Thomas Mann: Tagebücher 1933–1934. Hrsg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M. 1977, S. 237 f. (Einträge vom 30., 31. 10. und 1. 11. 1933). Vgl. Bernini/Sprecher 2006 (Anm. 22), S. 399. Klaus Mann, Der Wendepunkt 2001 (Anm. 20), S. 423. Golo Mann 1962 bei der Eröffnung des Thomas-Mann-Archivs, zitiert nach Bernini/Sprecher 2006 (Anm. 22), S. 387. Vgl. Bernini/Sprecher 2006 (Anm. 22), S. 388. Sprecher 1992 (Anm. 9), S. 38. Thomas Mann, Gesammelte Werke (Anm. 16), Bd. VIII, S. 639.

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Abb. 2: Marbacher Schillerbuch (1905).31

Dieses Arrangement kehrt 1905 in der Erzählung Schwere Stunde literarisch wieder. Dort heißt es über Schillers Arbeitszimmer: „Das sechseckige Zimmer [...] lag im Lichte der beiden Kerzen, die zu Häupten des Manuskripts auf der Schreibkommode brannten.“32 Und im Tod in Venedig taucht dieses Arrangement ein weiteres Mal auf, wenn das Morgenritual Aschenbach zu seinem Schreibtisch führt, wo ihn der Anblick von „ein[em] Paar hoher Wachskerzen in silbernen Leuchtern zu Häupten des Manuskripts“33 zum Arbeiten stimuliert. Aber auch persönlich schätzte Thomas Mann die–––––––— 31

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Marbacher Schillerbuch. Zur hundertsten Wiederkehr von Schillers Todestag hrsg. vom Schwäbischen Schillerverein. Stuttgart, Berlin 1905, S. 6. – Das Handexemplar dieses Bandes von Thomas Mann befindet sich im Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich. Thomas Mann, Gesammelte Werke (Anm. 16), Bd. VIII, S. 371 f. Thomas Mann, Gesammelte Werke (Anm. 16), Bd. VIII, S. 452.

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ses Leuchterarrangement zur Inszenierung seiner Autorschaft,34 wenn er 1924 seinen (Vorgänger-)Schreibtisch mit dem Zauberberg-Manuskript fotografieren lässt, was die Erinnerung an Schillers Schreibtisch erneut aufruft. Auch andere Schreibtischgegenstände tauchen literarisiert wieder auf, so eine alte russische Zigarettendose mit „einer dahinsausenden Troika“, aus der sich sowohl Thomas Buddenbrook als auch Madame Chauchat bedienen.35 Die aus Lübecker Familienbesitz stammende Schnupftabakdose hat Ähnlichkeit mit der „längliche[n], mit Gold eingelegte[n] Schildpattdose“,36 die Hans Castorp im Zauberberg sein eigen nennt. Das gerahmte Foto des „Lieblingsenkel[s]“37 Frido verweist auf eine Szene im Doktor Faustus, in der Serenus Zeitblom den kleinen Nepomuk Schneidewein im Garten sitzend sieht: ein Beinchen ausgestreckt, das andere halb hochgezogen, die geteilten Strähnen des Haars in der Stirn, und [...] ein Bilderbuch betrachtete [...]. Er hielt es auf den Knien mit der Rechten am Rande. Das linke Ärmchen und Händchen aber, womit er das Blatt gewendet hatte, verharrten, die Bewegung des Umblätterns unbewußt festhaltend, in unglaublich graziöser Gebarung, das Händchen geöffnet, seitwärts vom Buch in der Luft [...].38

Im März 1953 hat Thomas Mann sich das Foto, das dieser Szene als Vorlage diente, wieder herausgesucht, um es neu gerahmt auf seinen Schreibtisch zu stellen. „FridoEcho, umblätternd, wie beschrieben. Mit Rähmchen zu versehen“, heißt es entsprechend im Tagebuch.39 Auch ein Tellerchen mit blau-weißem Dekor, das die kleine Meerjungfrau am Kopenhagener Hafenufer zeigt, kehrt im Doktor Faustus wieder, wenn der Teufel Leverkühns Schmerzen vergleicht mit den „Schmerzen, die man aus dem Märchen kennt, die Schmerzen, die die kleine Seejungfrau, wie von schneidenden Messern, in ihren schönen Menschenbeinen hatte, als sie sie statt des Schwanzes erworben.“40 Diese Liste ließe sich erweitern; im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass alle Gegenstände, die das Schreiben Thomas Manns umgaben, nicht nur eine Geschichte zu erzählen haben, sondern Teil seines literarischen Kosmos waren bzw. wurden. Mit dem Schreiben gingen sie in die Verantwortung, aber auch in die Verfügungsgewalt von Erzählern und Figuren über; das „Hausgerät“ wurde „episch“.

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Vgl. Bernd Hamacher: Thomas Manns Medientheologie. In: Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Hrsg. von Christine Künzel und Jörg Schönert. Würzburg 2007, S. 59–77. In den Buddenbrooks lautet die Stelle: „‚Nun?‘ fragte Thomas, indem er in der Tür stehenblieb und der Dose mit der Troika eine Zigarette entnahm“ (Gesammelte Werke, Anm. 16, Bd. I, S. 333), und im Zauberberg: „Auch Frau Chauchat sprach den Mundstückzigaretten zu, die sie in einer russischen, mit einer dahinsausenden Troika geschmückten Lackdose zu ihrer Bequemlichkeit vor sich auf den Tisch gelegt hatte“ (Gesammelte Werke, Anm. 16, Bd. III, S. 781). Thomas Mann, Gesammelte Werke (Anm. 16), Bd. III, S. 39. Thomas Mann, Gesammelte Werke (Anm. 16), Bd. XI, S. 153. Thomas Mann, Gesammelte Werke (Anm. 16), Bd. VI, S. 615 f. Eintrag vom 14. März 1953; Thomas Mann: Tagebücher 1953–1955. Hrsg. von Inge Jens. Frankfurt a. M. 1995, S. 35. Thomas Mann, Gesammelte Werke (Anm. 16), Bd. VI, S. 308.

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3. Machen wir einen Sprung in das Jahr 1973. Wieder war ein deutschsprachiger Autor mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden. In seiner Nobelvorlesung mit dem Titel Versuch über die Vernunft der Poesie setzt sich Heinrich Böll ebenfalls mit den Kontexten und den Konstanten seines Schreibens auseinander. Obwohl oder besser: gerade weil er vier Jahre zuvor für die deutsche Nachkriegsliteratur festgestellt hatte, dass diese „keine Orte“ habe und viele Autoren daher eine „ungeheure, of mühselige Anstrengung“ unternommen haben, „Orte und Nachbarschaft wiederzufinden“,41 beginnt er seine Rede mit dem Versuch, diesen Befund mit der eigenen Schreiberfahrung zu konfrontieren. Dies ist insofern nicht verwunderlich, als Böll akribisch Buch darüber führte, wo welche Texte entstanden sind. An den Beginn seiner Rede stellt er ein Porträt seines Schreibtisches, das keineswegs nur eine sachliche Beschreibung seiner Arbeitsumgebung und der für das Schreiben notwendigen Mittel ist.42 Horst Bienek beschreibt den Böll’schen Schreibtisch 1962 als „große[n], breite[n], alte[n] Arbeitstisch, darauf Schreibzeug, Briefe, Zeitungen, viel Zigaretten und viele Aschenbecher.“43

Abb. 3: Schreibtisch von Heinrich Böll in Bornheim-Merten (1983).44

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Heinrich Böll: Frankfurter Vorlesungen. In: Ders.: Werke. Kölner Ausgabe. Hrsg. von Árpád Bernáth, Hans Joachim Bernhard, Robert C. Conrad, Frank Finlay, J. H. Reid, Ralf Schnell, Jochen Schubert. 27 Bde. Köln 2002–2010, Bd. 14: 1963–1965. Hrsg. von Jochen Schubert. Köln 2002, S. 139–201, hier S. 164. Vgl. Vom Schreiben 4. Im Caféhaus oder Wo schreiben? Mit einem Essay von Ursula Krechel über Schreiborte in Shanghai und anderswo. Bearb. von Rudi Kienzle. Marbach 1996 (Marbacher Magazin. 74), S. 69 f. Horst Bienek: Werkstattgespräche mit Schriftstellern. München 1962, S. 139. Abb. entnommen aus: Vom Schreiben 4 (Anm. 42), S. 76.

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Dem etwa aus dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts stammenden Möbel wohnt eine Familiengeschichte inne, wie sie wohl auch von anderen Erbstücken erzählt werden könnte. Der Schreibtisch zeigt aber auch symptomatische Spuren deutscher Geschichte, die sich in sein Holz eingeschrieben haben und die Böll als „EinstiegsVehikel“ in eine Geschichtserzählung dienen, wenn er auf die Weigerung der Möbelpacker verweist, das sperrige und schwere Möbel samt seiner Geschichte zu transportieren. Der Tisch, an dem ich dies schreibe, ist 76,5 cm hoch, seine Platte 69,5 mal 111 cm groß. Er hat gedrechselte Beine, eine Schublade, er mag siebzig bis achtzig Jahre alt sein, er stammt aus dem Besitz einer Großtante meiner Frau, die ihn, nachdem ihr Mann in einem Irrenhaus verstorben war und sie in eine kleinere Wohnung zog, ihrem Bruder, dem Großvater meiner Frau, verkaufte. So kam er, ein verachtetes und ziemlich verächtliches Möbelstück ohne jeden Wert, nachdem der Großvater meiner Frau gestorben war, in unseren Besitz, stand irgendwo, niemand weiß genau wo, herum, bis er anläßlich eines Umzugs auftauchte und sich als bombengeschädigt erwies; irgendwann wurde die Platte während des Zweiten Weltkriegs von einem Bombensplitter durchbohrt – es hätte schon nicht nur sentimentalen Wert, wäre ein Einstieg in eine politisch-geschichtlich mitteilungswerte Dimension, den Tisch als Einstiegs-Vehikel zu benutzen, wobei die tödliche Verachtung der Möbelpacker, die sich beinahe weigerten, ihn noch zu transportieren, wichtiger wäre als seine gegenwärtige Verwendung, die zufälliger ist als die Hartnäckigkeit, mit der wir ihn – und das nicht aus sentimentalen oder Erinnerungsgründen, sondern fast aus Prinzip – vor der Müllkippe bewahrten, und man mag mir, da ich inzwischen einiges an diesem Tisch geschrieben habe, eine vorübergehende Anhänglichkeit gestatten; die Betonung liegt auf vorübergehend.45

Die durchweg einfachen, wenig spektakulären Gegenstände, die in bunter Vielfalt im Design und mit dem Dekor der 1970er Jahre die Schreibtischplatte bevölkern, einmal abgesehen davon, ob sie für das Schreiben nötig sind oder nicht, bilden die Grundlage für das, was Böll in seiner Rede als Voraussetzung für die Darstellung von „Zwischenräumen“ nennt, die es zu entdecken, auszuleuchten, zu erobern und zu beschreiben gilt und ohne die es „keine Form der Literatur“ gibt.46 Schweigen wir von den Gegenständen, die auf dem Tisch liegen, sie sind nebensächlich und austauschbar, auch zufällig, ausgenommen vielleicht die Schreibmaschine Marke Remington. Ausführung Travel Writer de Luxe, Baujahr 1957, an der ich ebenfalls hänge, an diesem meinem Produktionsmittel, das fürs Finanzamt längst uninteressant geworden ist, obwohl es doch erheblich zu dessen Einnahmen beigetragen hat und immer noch beiträgt. Ich habe auf diesem Instrument, das jeder Fachmann nur mit Verachtung anschauen oder anfassen würde, schätzungsweise vier Romane und einige hundert Items geschrieben, und nicht nur deshalb hänge ich daran, auch wiederum aus Prinzip, denn es tut’s noch und beweist, wie gering die Investitionsmöglichkeiten und der Investitionsehrgeiz eines Schriftstellers sind. Ich erwähne Tisch und Schreibmaschine, um mir klar darüber zu werden, dass nicht einmal diese beiden notwendigen Utensilien mir ganz erklärlich sind, und würde ich versuchen, ihrer beider Herkunft mit der erforderlichen exakten Gerechtigkeit zu eruieren, ihren genauen materiellen,

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Böll, Werke (Anm. 41), Bd. 18: 1971–1974. Hrsg. von Viktor Böll und Ralf Schnell in Zusammenarbeit mit Klaus-Peter Bernhard. Köln 2003, S. 203. Böll, Werke, Bd. 18 (Anm. 45), S. 204 f.

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industriellen, sozialen Werdegang und ihre Herkunft, es würde ein fast endloses Kompendium britischer und westdeutscher Industrie- und Sozialgeschichte daraus.47

Es sind diese „Zwischenräume“, in die die „Vernunft der Poesie“ nicht vorzudringen vermag, und „doch müßte alles, vom Tisch über die Bleistifte, die darauf liegen, in seiner gesamten Geschichte eingebracht werden, einschließlich derer, die uns nah, näher am nächsten sind.“48 Der Blick von den Gegenständen auf dem Schreibtisch weitet sich zu einer Beschreibung der historischen und sozialen Konturen der Nachkriegsmilieus, die das Erzählen Bölls – er hat das einmal die „Verteidigung der Waschküchen“ genannt49 – und seine politischen Ideen prägen. Wie elementar der Zusammenhang zwischen Schreibort und Anspruch als Schriftsteller und dessen Bedrohung durch eine politisierte Öffentlichkeit wie beispielsweise im ‚Deutschen Herbst‘ für Böll war, hat sich auch in einer Lithographie von Günter Grass niedergeschlagen.50 Neben Bölls Schreibmaschine und Manuskripten wird auch eine Schere als Sinnbild für Zensur abgebildet, außerdem zeigt dieses Stillleben eine verblühte, doch mit ihren Früchten gefüllte Sonnenblume, wobei wohl die Assoziation nicht unbeabsichtigt war, dass die Sonnenblume Logo der ‚Grünen‘ ist, zu deren Unterstützern Böll in den frühen 1980er Jahren zählte. Der Schreibtisch und die auf ihm befindlichen Gegenstände verlieren ihre Privatheit und schaffen die Konturen eines politischen Raums für den Autor selbst wie für sein Schreiben.

4. Nehmen wir noch ein drittes Beispiel hinzu, bei dem es mir neben den Gegenständen, die sich unmittelbar auf dem Schreibtisch befinden, auch um die geht, die die Autorin sah, wenn sie von ihrer Schreibmaschine aufblickte. Wir befinden uns im Arbeitszimmer von Anna Seghers in Berlin-Adlershof, einem kleinen Zimmer, dessen Wände – wie auch der Rest der Wohnung – mit Bücherregalen vollgestellt ist.

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Böll, Werke, Bd. 18 (Anm. 45), S. 203 f. Böll, Werke, Bd. 18 (Anm. 45), S. 204. Böll, Werke (Anm. 41), Bd. 12: 1959–1963. Hrsg. von Robert C. Conard. Köln 2008, S. 480. Günter Grass erläutert: „Viel später, als ich mit ihm [Heinrich Böll] und der Journalistin Carola Stern eine Zeitschrift herausgab, die ständig in Geldnot war, bat ich Böll, mir aufzuzählen, welche Buchmanuskripte er in seine alte, mittlerweile ausgediente Remington getippt habe. Sein antwortender Brief und die Schreibmaschine, die er gleichfalls schickte, wurden Modell, als ich sie für eine Lithographie porträtierte, die später, von ihm und mir signiert, in hoher Auflage genügend Geld einbrachte, mit dem der Fortbestand unserer Zeitschrift ‚L ’80‘ für weitere zwei Jahre gesichert werden konnte; sie sprach sich für demokratischen Sozialismus aus. [...] Als ich Bölls Schreibmaschine und Brief porträtierte, zeichnete ich mit dem Lithostift eine Sonnenblume und eine Schere dazu, von der ich behauptete, sie sei zu fürchten. Denn man kann Geschriebenes, wie es die Zensur nicht nur zu Zeiten der Brüder Grimm handhabte, mit der Schere verkürzen. Auch unbefugt Briefe zu öffnen war und ist üblich“ (Günter Grass: Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung. Göttingen 2010, S. 62, 63 f.).

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Abb. 4: Arbeitszimmer von Anna Seghers in Berlin-Adlershof.51

Der Schreibtisch ist eine schlichte Schreineranfertigung mit extragroßer Arbeitsplatte, mehr Tisch als Möbel mit Seitenteilen und Schubladen. Im Zentrum steht die Remington-Schreibmaschine, die Seghers von Freunden bei ihrer Ankunft 1941 im mexikanischen Exil zum Geschenk erhielt und auf der von nun an alle Texte geschrieben wurden. Die anderen Gegenstände sind übliche Arbeitsutensilien (Schale mit Bleistiften, Ständer für Postkarten) oder haben vorwiegend biographischen Erinnerungswert – die kleine Papierschachtel ist ein Geschenk der Enkeltochter, der in einem Hufeisen liegende Stein und die Kugel könnten aus der Sammlung der Mutter Hedwig Reiling stammen.52 Historischen Wert hat ein Miniatur-Ziegelstein mit der Aufschrift „Gruß dem 4. Parteitag der SED. Die Aufbauhelfer in Berlin 1954.“ Solche Steine waren gleichermaßen Souvenirs und Propagandagegenstände, die in den Anfangsjahren der DDR von Maurern und Bergleuten überreicht wurden und an die Tätigkeit der vielen Freiwilligen erinnern sollten, die in ihrer Freizeit bei der Beseitigung der Kriegstrümmer geholfen und damit auch einen Beitrag zum Aufbau des Sozialismus –––––––— 51 52

http://www.adk.de/de/archiv/gedenkstaetten/seghers_gedenkstaette_bildergalerie/galerie_2/bilddetail. htm?gallery=4705&we_lv_start_gallery=0 (Abruf 18. 10. 2013); Foto: Maria Landrock. Vgl. Sigrid Bock: Der Weg führt nach St. Barbara. Die Verwandlung der Netty Reiling in Anna Seghers. Berlin 2008, S. 10 f.

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geleistet hatten. Obwohl Anna Seghers am 4. SED-Parteitag nicht teilgenommen hat und nicht bekannt ist, wann ihr dieser Stein übergeben worden ist, steht er jedoch für Seghers’ Bemühungen, das Band – sie nennt es einen „öffentliche[n] freimütige[n] Meinungsaustausch“ – zwischen Schriftstellern und Arbeitern enger zu knüpfen, wie ein öffentlicher Brief vom 7. April 1955 an die Arbeiter in Nachterstedt verdeutlicht.53 Dieser Brief entstand im Vorfeld des IV. Deutschen Schriftstellerkongresses im Januar 1956,54 auf dem – mit Unterstützung durch die Präsidentin Seghers – eine Liberalisierung der Kulturpolitik gefordert, eine kritische Bestandsaufnahme der sog. Aufbauliteratur vorgenommen und deren erkennbar „kleinbürgerliches Niveau“ kritisiert wurden.55 Die Erfahrung von Exil und gesellschaftlicher Neugestaltung sind nicht nur literarisches und soziales Anliegen der Autorin, sie lassen sich auch in der Auswahl der Gegenstände – Schreibmaschine und Ziegelstein – auf ihrem Schreibtisch erkennen. Dies wird auch an einem anderen Umstand deutlich. An der gegenüberliegenden (bücherfreien!) Wand des Schreibtisches hing über dem Sofa das Autograph eines Briefes von Heinrich Heine an seine Mutter vom 27. Mai 1848 (heute hängt hier ein Faksimile, das Original vermachte Anna Seghers der Berliner Staatsbibliothek). Trotz zunehmender gesundheitlicher Beschwerden, Schreibschwierigkeiten und der deprimierenden Erfahrung des Scheiterns der Märzrevolution von 1848 („kein Zuckerjahr“) berichtet Heine in diesem Brief seiner Mutter von einem herrlichen Maitag, den er in einem „schönen Gartenhaus“ im Pariser Vorort Passy verbringt. Er beschließt den Brief scherzhaft: „Der Papagey schreit, und meine Frau läßt grüßen. | Eur getreuer | H. Heine.“56 Dieses Heine-Autograph hatte Anna Seghers von ihrem Vater Isidor Reiling, einem Kunst- und Antiquitätenhändler, 1933 kurz vor ihrer Flucht aus Deutschland als Geschenk und Notgroschen erhalten. Anna Seghers bewahrte diesen Brief durch die Jahre der Emigration und trennte sich auch in extremen Notzeiten nicht von ihm. Heine war einer ihrer Lieblingsdichter, von dem sie sagte, er sei ihr „Schutzpatron“ gewesen und habe „alle Stationen der Emigration mit uns geteilt: Die Flucht und die Heimatlosigkeit und die Zensur und die Kämpfe und das Heimweh“.57 Aber Heine war nach ihrer Rückkehr aus dem Exil auch entscheidender Stichwortgeber für den gesellschaftspolitischen Neuanfang. Im letzten ihrer Exilessays58 zitiert sie 1946 wiederum programmatisch Heine, diesmal das berühmte Zitat aus der Schrift

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Anna Seghers: Über Kunstwerk und Wirklichkeit I. Die Tendenz in der reinen Kunst. Bearb. und eingeleitet von Sigrid Bock. Berlin 1970, S. 237–241, Zitat S. 238. Zum Kontext vgl. auch Seghers, Kunstwerk und Wirklichkeit I 1970 (Anm. 53), S. 330–333. Vgl. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. 2. Aufl. Berlin 2005, S. 126 (Zitat von Eduard Claudius). Heinrich Heine: Säkularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Hrsg. von der Stiftung Weimarer Klassik und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Berlin, Paris 1970 ff., Bd. 22: Briefe 1842–1849. Bearb. von Fritz H. Eisner. Berlin, Paris 1972, S. 276 f. Anna Seghers: Abschied vom Heinrich-Heine-Klub. In: Seghers, Kunstwerk und Wirklichkeit I 1970 (Anm. 53), S. 205–208, hier S. 205 und 207. Anna Seghers: Inneres und äußeres Reich. In: Seghers, Kunstwerk und Wirklichkeit I 1970 (Anm. 53), S. 201–205, Heine-Zitat S. 205.

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über die Französischen Maler: „Indessen, die neue Zeit wird auch eine neue Kunst gebären, die mit ihr selbst in begeistertem Einklang seyn wird [...]“.59

5. Wie aber lassen sich nun diese Beobachtungen und die Beispiele mit ihren unterschiedlichen Funktionen und Verwendungsweisen zu einem Resümee verknüpfen? Während Schriftsteller-Bibliotheken und die in ihnen bewahrten Lesespuren sowie jegliche Art von Schreibmaterialen fraglos zum Gegenstand editorischer Erkundungen gehören und nicht nur als Teil der Überlieferung, sondern auch als Teil der Textgenese gelten, führen die Gegenstände auf Schreibtischen bislang eher ein Nischendasein. Das meint nun nicht, dass solche Gegenstände als Inspirationsquellen ignoriert worden wären, doch wie deren Wege vom „Arbeitsalltag“ eines Autors „zu seinem Werk führen“,60 wie sie sich mit Werkstatt und Textentstehung verknüpfen lassen, ist allenfalls für den Einzelfall ermittelt worden. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass solche Gegenstände in den überwiegenden Fällen als Einrichtungsdekor und in ihrer Funktion als Mittel zur „Erquickung“61 ihrer Besitzer betrachtet werden. Häufig erscheinen sie zunächst belanglos, zumindest in ihrer Bedeutung erst einmal rätselhaft, weil diese im Laufe der Zeit verschüttet wurde und deshalb keine gesicherten Aussagen mehr über sie zu treffen sind. Aber es hängt vermutlich auch damit zusammen, dass ihre Funktion für die Textentstehung häufig nur annäherungsweise oder sogar nur deutend ermittelt werden kann oder die Auswirkungen für den Textbefund überhaupt im Dunkeln oder undarstellbar bleiben. Immer sind ausführliche Recherchen und Deutungen notwendig. Das trifft für die bronzene Hand des preußischen Generals Hellmuth von Moltke auf Fontanes Schreibtisch zu, die dem Autor als Inkarnation vorbildlichen Preußentums galt und ihm außerdem half, sein kritisches Preußenbild literarisch zu schärfen. Gleichzeitig sah Fontane Moltkes kriegshistorische Werke in darstellerischer und stilistischer Weise als „mustergültig“ und nachahmenswert an.62 Und das gilt auch für die Goethe-Statuette nach dem Modell von Christian Daniel Rauch auf Gerhart Hauptmanns Agnetendorfer Schreibtisch, die dem Autor das große Vorbild stets vor Augen führte und ihn zur permanenten Nachfolge aufforderte, nicht nur, wenn er reimte: „Großer Lehrer an meiner Seite, | großer Freund, mit dem ich schreite: | angeschlossen in Gottes Namen, | stets bereit, dich

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Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke (Anm. 3), Bd. 12,1: Französische Maler. Französische Zustände. Über die französische Bühne. Text. Bearb. von Jean-René Derré und Christiane Giesen. Hamburg 1980, S. 47. Stephanie Käthow: Von Klingeln und Glocken. Ein Gedankenspiel. In: Unterm Parnass. Das SchillerNationalmuseum. Hrsg. von Heike Gfrereis und Ulrich Raulff. Marbach 2009 (Marbacher Katalog. 63), S. 88–90, hier S. 90. Sigmund Freud: Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904. Hrsg. von Jeffrey Moussaieff. Frankfurt a. M. 1986, S. 226 (Brief vom 6. Dezember 1896). Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Bd. 19: Politik und Geschichte. Unter Mitwirkung von Kurt Schreinert hrsg. von Charlotte Jolles. München 1969, S. 716.

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nachzuahmen.“63 In noch erheblicherem Maße gilt dies aber für den schier überbordenden Kosmos an Gegenständen aus dem Besitz Ernst Jüngers. Diese Objekte – auch die auf dem Schreibtisch – sind Ergebnisse von Jüngers lebenslangen ‚subtilen Jagden‘.64 Für die Genese seiner Texte sind sie konstitutiv. Sammeln und Textarbeit sind eine extreme grenzüberschreitende Verbindung eingegangen, wodurch Jüngers Texte regelmäßig neue Aggregatzustände erreicht haben, die sich kaum mehr als Stufen einer Textgenese beschreiben lassen, sondern nur räumlich als Archiv ansatzweise verstehbar werden. Auch die Gegenstände selbst haben im Laufe der Zeit ihre Kontexte und damit ihre Bedeutung verändert, was wiederum Konsequenzen für das Schreiben mit sich brachte, zumal Jünger sie nie als historische oder museale Gegenstände angesehen hat, sondern sie immer wieder für die jeweilige Gegenwart seines Schreibens aktualisierte.65 Die beiden legendären Stahlhelme aus dem Ersten Weltkrieg – der eigene und der eines gefallenen britischen Offiziers – lassen sich als Einzelobjekte betrachten und erläutern, aber ihre Bedeutung erschließt sich erst mit Blick auf den Ort und den Kontext ihrer Aufbewahrung auf einem Regal mit Lexika66 unterhalb von Alfred Kubins Grafik Der Waldspaziergang sowie in Kenntnisnahme ihrer variierenden Beschreibung in den Kriegstagebüchern, in der Korrespondenz oder in In Stahlgewittern. Die visuelle Darstellung dieser prekären Verknüpfung aus Sammeln, Archivieren und Schreiben, wie sie 2010 in einer Ausstellung im Marbacher Literaturmuseum der Moderne versucht wurde, sprengt zumindest meine Vorstellung von einer Dokumentation außerhalb des Archivs, vor allem in einer Edition. Abgesehen von allen denkbaren Präsentationsmodi scheint mir ein Aspekt deutlich erkennbar zu sein, und zwar der, dass alle Gegenstände in einem komplexen „Beziehungsgeflecht“ stehen und mithin „Formen einer instrumentalisierenden oder mythisierenden Aneignungspraxis“ spiegeln.67 Wie aber die Verschiebung der Bedeutung dieser Gegenstände in den konkreten Text geschieht, wie Gegenstände zu Metaphern für Autorschaft oder literarisch-politische Haltung werden, bleibt der Deutung des Befundes vorbehalten und wird damit zu einem wichtigen Bestandteil der Vermittlung von Kontexten, Arbeitsweisen und Schreibhaltungen. Der Schreibtisch wird zu einem ‚Grabungsfeld‘, das die auf ihm aufgefundenen Dinge in einen interdisziplinären Fokus rückt, ihre Geschichte erzählt, ihre konkrete, symbolische oder abstrakte Bedeutung freilegt und ihnen die Beachtung schenkt, die sie verdienen.

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Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke. [Centenar-Ausgabe.] Hrsg. von Hans-Egon Hass. Fortgeführt von Martin Machatzke. Bd. XI. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1974, S. 682; es handelt sich um das nachgelassene Gedicht Goethe. Ernst Jünger: Sämtliche Werke. Abt. 2. Bd. 10: Essays 4: Subtile Jagden. Stuttgart 1980, S. 10 ff. Ernst Jünger. Arbeiter am Abgrund. Beiträge von Stephan Schlak, Heike Gfrereis, Detlev Schöttker und Gespräche mit Helmut Lethen und Karl Heinz Bohrer. Marbach 2010 (Marbacher Katalog. 64), S. 185. Vgl. Jünger, Arbeiter am Abgrund 2010 (Anm. 65), S. 185 f. Erinnerungsstücke. Von Lessing bis Uwe Johnson. Eine Ausstellung des Schiller-Nationalmuseums und des Deutschen Literaturarchivs. Marbach 2001 (Marbacher Kataloge. 56), S. 9 f.

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Abb. 5: Schreibtisch von Sigmund Freud in Wien, Berggasse 19 (1938).68

Dieser „Krimskrams“ ist eben mehr als bloßer „Manuskriptbeschwerer“, wie Sigmund Freud mit Blick auf die vielen antiken Statuen auf seinem Schreibtisch69 in der Wiener Berggasse brieflich am 1. August 1899 gegenüber Wilhelm Fließ erläuterte: „Ich arbeite in einem großen, ruhigen Parterreraum mit Bergaussicht an der Vervollständigung meiner Traumarbeit. Meine von Dir so wenig anerkannten alten und dreckigen Götter beteiligen sich als Manuskriptbeschwerer an der Arbeit.“70

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Abb. entnommen aus Edmund Engelman: Berggasse 19. Das Wiener Domizil Sigmund Freunds. Mit einem Vorwort von Peter Gay. Bildbeschreibungen von Rita Ransohoff. Aus dem Amerikanischen übers. von Brigitte Weitbrecht. Stuttgart, Zürich 1977, S. 98 f., Nr. 27. Vgl. Lydia Marinelli: „Meine ... alten und dreckigen Götter“. Aus Sigmund Freuds Sammlung. Hrsg. von Lydia Marinelli. Frankfurt a. M. 1998, S. 9–19. – Zu Freuds Wiener Wohnung vgl. auch Engelman 1977 (Anm. 68) und Diana Fuss: The Sense of an Interior. Four Writers and the Rooms that Shaped them. New York, London 2004, S. 71–105. Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 1986 (Anm. 61), S. 399.