Text als Ereignis: Programme - Praktiken - Wirkungen 9783110541854, 9783110539318

The volume focuses on the nature of the event in literature. It describes the diverse strategies by which writers create

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Text als Ereignis: Programme - Praktiken - Wirkungen
 9783110541854, 9783110539318

Table of contents :
Inhalt
Text als Ereignis – Ereignis als Text
Programme
Ereignis-Figuren in antiker und moderner Dichtung: Monument, Mouvement und Moment
„Wenn zwar ein Chaos da ist, aber darüber ein heiliger Geist, welcher schwebt“
Fragment als Ereignis
Das Ereignis des Diskurses und die Literatur des Ereignisses
Das Gedicht als kosmisches Ereignis
Spiel und Ereignis
Ereignis, Performanz, Situation
Kleiner Diskursivitätsbegründer ganz groß
Der Essay – ein Verbindendes zwischen Literatur und Philosophie?
Praktiken
Moderne als Ereignis
Ereignis / Eräugnis
Literarische Texte als Gründungsereignisse
Negativereignisse
„Gedankendienst mit der Waffe“
Wie Bücher und Texte zum Ereignis werden
Ungewisse Geschlechter, überschriebene Texte
Poesie als Ereignis des narrativen Textes
Ereignishaftigkeit und Kontext
Text als kollektives Ereignis
Wunder
Wirkungen
Lektüreereignisse
Wissensbrüche als Schaltstellen im Text
„¡Ay, ay, ay, ay!“
Form und Ereignis
The Translation of the Bhagavad Gita as a German Literary and Philosophical Event
Dichtung zum Zeitvertreib – Ereignisse des Zugänglichen und Unzugänglichen
Masse als Ereignis
Die Politik des Ereignisses
Identität als Textereignis
Auswahlbibliographie
Personenregister

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Text als Ereignis

spectrum Literaturwissenschaft/ spectrum Literature

Komparatistische Studien/Comparative Studies Herausgegeben von/Edited by Moritz Baßler, Werner Frick, Monika Schmitz-Emans Wissenschaftlicher Beirat/Editorial Board Sam-Huan Ahn, Peter-André Alt, Aleida Assmann, Francis Claudon, Marcus Deufert, Wolfgang Matzat, Fritz Paul, Terence James Reed, Herta Schmid, Simone Winko, Bernhard Zimmermann, Theodore Ziolkowski

Band 57



Text als Ereignis

Programme – Praktiken – Wirkungen Herausgegeben von Winfried Eckel und Uwe Lindemann

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Germanistischen Instituts der Ruhr-Universität Bochum.

ISBN 978-3-11-053931-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-054185-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-054018-5 ISSN 1860-210X Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Zu Ehren von Monika Schmitz-Emans

Inhalt Winfried Eckel / Uwe Lindemann Text als Ereignis – Ereignis als Text Eine Einleitung  1

Programme K. Alfons Knauth Ereignis-Figuren in antiker und moderner Dichtung: Monument, Mouvement und Moment  23 Jadwiga Kita-Huber „Wenn zwar ein Chaos da ist, aber darüber ein heiliger Geist, welcher schwebt“ Zur Poetik des Ereignishaften bei Jean Paul  47 Winfried Eckel Fragment als Ereignis Kommunikative Strategien bei Friedrich Schlegel und Roland Barthes  65 Achim Geisenhanslüke Das Ereignis des Diskurses und die Literatur des Ereignisses Überlegungen zu Foucault, Lyotard und Hölderlin  85 Karl Maurer Das Gedicht als kosmisches Ereignis Mallarmés Coup de dés und Paul Valérys Ode secrète  95 Ulrich Ernst Spiel und Ereignis Schach als Strukturmodell in experimentellen Romanen von Lewis Carroll, Friedrich Achleitner und Georges Perec  109 Peter Brandes Ereignis, Performanz, Situation Zur Ereignishaftigkeit von Texten der Avantgarden  129

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Inhalt

Klaus-Michael Bogdal Kleiner Diskursivitätsbegründer ganz groß Rolf Dieter Brinkmann hasst „alte Dichter“ und droht mit einer „neuen Literatur“  147 Petra Gehring Der Essay – ein Verbindendes zwischen Literatur und Philosophie?  157

Praktiken Uwe Lindemann Moderne als Ereignis 27. Januar 1687: Die Geburt der „modernen“ Literatur aus dem Geist des Krieges   179 Helmut Pfotenhauer Ereignis / Eräugnis Zu einem narrativen Prinzip in Goethes Novellistik  197 Linda Simonis Literarische Texte als Gründungsereignisse Friedrich Nietzsche und Max Jacob  213 Achim Hölter Negativereignisse Scheitern als Sujet in den Künsten  235 Dirk Kemper „Gedankendienst mit der Waffe“ Ereignishaftigkeit und Ästhetizität in Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen  255 Manfred Schmeling Wie Bücher und Texte zum Ereignis werden Zur Fiktionalisierung kulturellen Wissens in den narrativen Labyrinthen der Gegenwart  265

Inhalt 

Gertrud Lehnert Ungewisse Geschlechter, überschriebene Texte Leerstellen, Streichungen, Überschreibungen als literarische Ereignisse  285 Sieghild Bogumil-Notz Poesie als Ereignis des narrativen Textes Günter Grassʼ Zunge zeigen und Amitav Ghoshs The Hungry Tide  301 Natalia Bakshi Ereignishaftigkeit und Kontext Narratives Palimpsest in Thomas Glavinics Roman Die Arbeit der Nacht  319 Yun-Young Choi Text als kollektives Ereignis Eine Analyse des Kunstpansori Sacheon-ga von Jaram Lee  329 Peter Goßens Wunder Epiphane Ereignisse und Zeugenschaft in Anne Webers Kirio  343

Wirkungen Martin Sexl Lektüreereignisse Lesen als ästhetische Erfahrung  359 Sabine Gross Wissensbrüche als Schaltstellen im Text Zur Ereignishaftigkeit der Lese-Erfahrung  375

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Inhalt

Franz Lebsanft „¡Ay, ay, ay, ay!“ Linguistische Notizen zum Ereignischarakter von Sprache und Dichtung am Beispiel von Federico García Lorcas Pequeño vals vienés  393 Young-Ae Chon Form und Ereignis Zur inneren Dynamik der poetischen Form und ihrem Zusammenhang mit der Geschichte am Beispiel koreanischer Sijo-Gedichte  413 Dorothy M. Figueira The Translation of the Bhagavad Gita as a German Literary and Philosophical Event  427 Norbert Oellers Dichtung zum Zeitvertreib – Ereignisse des Zugänglichen und Unzugänglichen Goethe in Venedig 1790  439 Bettina Gruber Masse als Ereignis Zur spezifischen Modernität eines Erzählmotivs  451 Mária Bátorová Die Politik des Ereignisses Dissidentisches Schreiben bei Dominik Tatarka  467 Kurt Röttgers Identität als Textereignis  481 Auswahlbibliographie  497 Personenregister  499

Winfried Eckel / Uwe Lindemann

Text als Ereignis – Ereignis als Text Eine Einleitung „In der gesprochenen Sprache hat das Ereignis des Diskurses den Charakter des Fließens. Das Ereignis taucht auf und entschwindet wieder.“1 Diese These Ricœurs findet einen Kontrapunkt in der Behauptung Luhmanns: „Schrift […] hält Kommunikation relativ zeitbeständig fest, ent-ereignet sie“.2 Zusammen deuten die Sätze auf eine komplementäre Struktur: Hier der ereignishafte Diskurs, dort der Text als das sprachlich Fixierte, dem die kommunikative Ereignishaftigkeit3 offenbar ausgetrieben ist. Hier das Sagen (die „Kundgabe“), dort die Aus-sage (das „Kundgegebene“).4 Hier die Präsenz des Ereignisses, dort die Schrift, in der sich das Ereignis nur als Abwesendes zeigt.5 Oder ins Ästhetische gewendet: Hier die „Aura der Kunst“, die im unmittelbaren „Erleben“ von Kunstaktionen erfahrbar wird, dort das entauratisierte Kunstwerk, das im besten Fall wissenschaftliche Kommentare provoziert, in der Regel aber in den düsteren Gängen weitläufiger Bibliotheken verstaubt.6 Vor dem Hintergrund dieser Gegenüberstellungen wirkt die Formel vom „Text als Ereignis“ kontraintuitiv und widersprüchlich. Schließlich ist ein Text – von lat. texere: das Gewebte – ein Produkt, etwas Fertiges und Fixiertes, geradezu

1 Ricœur, Paul: Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen [1972]. In: Gadamer, HansGeorg / Boehm, Gottfried (Hg.): Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften. Frankfurt a. M. 1978, S. 83–117, hier S. 85. Der Diskursbegriff, wie Ricœur ihn hier fasst, ist ein anderer als der bei Foucault. Er meint nicht die Ordnungen des Redens, sondern das konkrete Reden selbst. Zum Verhältnis von Ereignis und Diskurs bei Foucault vgl. die einleitenden Reflexionen in den Beiträgen von Achim Geisenhanslüke und Klaus-Michael Bogdal in diesem Band. 2 Luhmann, Niklas: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst. In: ders.: Schriften zu Kunst und Literatur. Herausgegeben von Niels Werber. Frankfurt a. M. 2008, S. 139–188, hier S. 152. 3 Vgl. Stanitzek, Georg: Was ist Kommunikation? In: Fohrmann, Jürgen / Müller, Harro (Hg.): Systemtheorie der Literatur. München 1996, S. 21–55. 4 Ricœur: Text als Modell, S. 86. 5 Vgl. Derrida, Jacques: Signatur Ereignis Kontext. In: ders.: Randgänge der Philosophie. Wien 1988, S. 291–314. Zu Derrida vgl. die Ausführungen in den Beiträgen von Peter Brandes und Sieghild Bogumil-Notz in diesem Band. 6 Vgl. Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. 2002. Eine ähnliche Position vertritt schon Susan Sontag in Against Interpretation (1966). DOI 10.1515/9783110541854-001

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 Winfried Eckel / Uwe Lindemann

Dinghaftes. Noch älteste Texte können auf uns in der genauen Gestalt kommen, in der sie vor Jahrtausenden schriftlich niedergelegt wurden. Ereignischarakter scheint daher nicht dem Text selbst zu eignen, sondern nur dem Schreiben, Lesen oder Hören. Wenn gleichwohl auch dem schriftlich fixierten Text Ereignishaftigkeit zuerkannt werden muss, so deshalb, weil Schrift mehr ist als nur Druckerschwärze auf Papier oder Einkerbungen auf einer Tontafel, weil es vielmehr zum Wesen der Schrift gehört, dass sie verstanden werden kann und auf eine immer nur vorübergehende und niemals ganz vorhersehbare Weise teilhat an der Sphäre des Sinns, oder besser: Sinneffekte produziert. So können Texte selbst im Akt der einsamen Lektüre als ereignishaft erfahren werden.7 Auch jenseits der stillen Lektüre sind die Fälle zahlreich und vielfältig, wo Texte in kommunikative Ereignisse zurückverwandelt werden, so dass sie erneut jene performative Flüchtigkeit und Unwiederholbarkeit gewinnen, die sie in der schriftlichen Fixierung vermeintlich verloren haben: während öffentlicher Lesungen, als Performance oder in der (inter-)medialen Vermittlung, um nur einige Beispiele zu nennen.8 Schrift und Diskurs, Text und Ereignis, Werk und Erfahrung scheinen daher weniger in einem konträren, sich ausschließenden Verhältnis zu stehen als in einem des permanenten wechselseitigen Austauschs. Texte gehen in ihrem Objektcharakter niemals auf. Das Fixierte und scheinbar Vertraute vermag in verändertem Kontext immer neue, nicht selten überraschende Bedeutungen zu entfalten. Schon Gérard Genette bemerkt in diesem Sinne: Die höchste Wirksamkeit der Literatur beruht auf einem subtilen Zusammenspiel von Erwartung und Überraschung […], einem Zusammenspiel zwischen dem vom Publikum vorhergesehenen und erwünschten ‚Wahrscheinlichen‘ und dem Unvorhersehbaren des Schöpferischen.9

Mit diesen einleitenden Bemerkungen ist das Themenfeld des vorliegenden Bandes bezeichnet: Er will den komplexen Spannungsraum zwischen Text und Ereignis, Werk und Erfahrung, dem Fixierten und dem Flüchtigen, dem Wahrscheinlichen und dem Unvorhersehbaren genauer ausloten. Dies soll auf eine Weise geschehen, die in der Forschung bislang kaum Beachtung gefunden hat: weniger aus der rezeptionsgeschichtlichen Perspektive nachträglicher (Re-)Konstruktion von (literarischen) Ereignissen, sondern mit Blick auf die je zeitgenös-

7 Vgl. den Beitrag von Martin Sexl in diesem Band. 8 Vgl. hierzu die theoretischen Ausführungen, mit denen Franz Lebsanft seinen Beitrag in diesem Band eröffnet. 9 Genette, Gérard: Strukturalismus und Literaturwissenschaft. In: Blumensath, Heinz (Hg.): Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Köln 1972, S. 71–88, hier S. 82.



Text als Ereignis – Ereignis als Text 

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sische Produktion textueller Ereignishaftigkeit. Im Zentrum der Untersuchungen stehen literarische Texte, die jenseits der für Kommunikation überhaupt charakteristischen Ereignishaftigkeit nicht nur Ereignisse sind, sondern in einem dezidierten Sinn Ereignisse sein wollen, die also ihre Ereignishaftigkeit forcieren und ausstellen. Vor allem in der Moderne fällt auf, dass literarische Texte immer wieder bewusst zu überraschen und zu verblüffen suchen, um das Dahinfließen der Zeit ereignishaft zu unterbrechen.10 Es soll deshalb die Frage beantwortet werden, mit Hilfe welcher Programme, Strategien, Praktiken, Schreibweisen, rhetorischen Techniken, paratextuellen Rahmungen und/oder medialen Unterstützung es literarischen Texten gelingt, sich selbst als Ereignis in Szene zu setzen. Die für das Publikum bzw. den Leser manifeste Unvorhersehbarkeit des Ereignisses wird somit zum Ausgangspunkt der Überlegungen gemacht. In Absetzung von konventionellen historischen Perspektiven geht es nicht darum, literarische Ereignisse zum Zweck der Erklärung in Ursache-Wirkungszusammenhänge einzuschreiben, denn durch einen solchen theoretischen Zugriff würde das für ein Ereignis konstitutive Moment der Kontingenz und Unwahrscheinlichkeit getilgt. Es soll vielmehr untersucht werden, wie das Unvorhersehbare und Überraschende – seiner Unableitbarkeit zum Trotz – Gegenstand gezielter Hervorbringung werden kann, mit anderen Worten: welches die textuellen und kontextuellen Bedingungen seiner Möglichkeit sind. Dabei ist vorausgesetzt, dass die Produktion literarischer Ereignishaftigkeit gelingen, aber auch scheitern kann. Ein Text, der für einen bestimmten Rezipienten oder unter einem bestimmten Aspekt ein Ereignis darstellt, muss dies nicht für einen anderen Rezipienten oder unter einem anderen Aspekt sein. Der Ereignisbegriff lässt sich nutzen, um einen Kernbereich moderner Poetik schärfer als bisher zu konturieren. Er vermag auf den Begriff zu bringen, was sonst unter vielfältigen Labeln – Zäsur, Epiphanie, Emergenz, Wunder, Unterbrechung, Schock, Zwischenfall, Störung, Unfall, Revolution u. a. m. – scheinbar nur wenige Berührungspunkte aufweist. Die Beiträge dieses Bandes sind sich darin einig, dass die Analyse textueller Ereignishaftigkeit ein wesentliches Konzept bereitstellt, um die Dynamik moderner Literatur angemessener zu verstehen. Sofern die Untersuchungen die Kontingenz von Ereignissen betonen, kann der evolutionstheoretische Schematismus von Strukturbruch und Restrukturierung, genauer von Variation, Selektion und Restabilisierung, angeschlossen werden.

10 Die intendierten Ereignisse haben anders als bei Ricœur nicht den Charakter des Fließens. Statt eingebettet zu sein in ein Kontinuum, sollen sie es aufsprengen.

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 Winfried Eckel / Uwe Lindemann

In diesem Sinne bietet der Ereignisbegriff für die Literaturwissenschaft ein noch weitgehend ungenutztes Potential.11 Er ermöglicht vertiefte Einblicke in das Funktionieren literarischer Kommunikation dadurch, dass er die in diesem Zusammenhang relevanten Modi einer auf den gegenwärtigen Augenblick bezogenen Selbstpräsentation, wie sie viele moderne literarische Texte auszeichnen, angemessener zu beschreiben erlaubt. Ziel der hier vorgelegten Beiträge ist es, die produktive Spannung zwischen literarischem Text und Ereignis herauszuarbeiten und nicht, wie man es etwa bei Dieter Mersch nachlesen kann, beide Aspekte gegeneinander auszuspielen.12 Dass die Ereignishaftigkeit von Texten schon

11 Zum Ereignisbegriff als produktivem Konzept in der modernen Poetik gibt es bislang nur wenige Arbeiten. Vgl. Kremer, Detlef: Ereignis und Struktur. In: Brackert, Helmut / Stückrath, Jörn (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek 1995, S. 517–532; Scherer, Stefan: Ereigniskonstruktionen als Literatur (Eichendorf, Musil, Goetz). In: Rathmann, Thomas (Hg.): Ereignis. Konzeption eines Begriffs in Geschichte, Kunst und Literatur. Köln 2003, S. 63–84; Landgraf, Edgar: Improvisation. Paradigma moderner Kunstproduktion und Ereignis. In: parapluie. elektronische zeitschrift für kulturen – künste – literaturen 17 (2003), http://parapluie.de/archiv/ improvisation/kunstproduktion/parapluie-improvisation_kunstproduktion.pdf (10. Feb. 2017). Monografische Überblicksdarstellungen existieren nicht. Wenn aus literaturwissenschaftlicher Perspektive über das Ereignis reflektiert wurde, lag der Fokus primär auf der Rolle und Funktion des Ereignisbegriffes hinsichtlich der retrospektiven Darstellung literaturhistorischer Prozesse. Die weitläufigen Diskussionen der „Poetik und Hermeneutik“-Gruppe (Koselleck, Reinhart / Stempel, Wolf-Dieter (Hg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung. München 1973) über den Status und die Geltung von ,Ereignissen‘ im Rahmen der (Literatur-)Geschichtsschreibung haben in besonderer Schärfe die methodologischen Probleme aufgezeigt, die entstehen, wenn Geschichtsschreibung auf der Kategorie des Ereignisses aufbaut bzw. diese zu integrieren versucht. Hierbei konnte weder über das Verhältnis von Ereignis und geschichtlichem Geschehen noch über die Relation von Ereignis und Struktur noch über die Beziehung zwischen einem auf Ereignishaftigkeit verwiesenem Erzählen von ,Geschichte‘ und einem auf Strukturen fokussierten Beschreiben historischer Tatbestände auch nur annähernd Einigkeit erzielt werden. Zu Recht spricht Rathmann rückblickend von einer „Ereignis-Kakophonie“, die am Ende der „Poetik und Hermeneutik“-Konferenz geherrscht habe (Rathmann, Thomas: Ereignisse Konstrukte Geschichten. In: ders. (Hg.): Ereignis, S. 1–20, hier S. 4). Neben der historischen Forschung im engeren Sinn gibt es eine Reihe von Disziplinen, in denen der Ereignisbegriff eine teilweise bedeutende Rolle spielt. Einschlägige Untersuchungen liegen insbesondere aus der Theater- und Filmwissenschaft vor, darüber hinaus auch aus der Soziologie, Politikwissenschaft, Philosophie, Allgemeinen Ästhetik und Narratologie (vgl. die Auswahlbibliographie am Ende dieses Bandes). Sieht man von den hier geleisteten theoretischen Vorarbeiten ab, auf die viele Beiträge dieses Bandes auf die eine oder andere Weise rekurrieren, sind die literaturwissenschaftlichen Erträge dieser Arbeiten jedoch insgesamt gering. In ihren Ergebnissen enttäuschend bleibt auch die rezente, vom Titel her einschlägig scheinende Veröffentlichung von Lörincz, Csongor (Hg.): Ereignis Literatur. Institutionelle Dispositive der Performativität von Texten. Bielefeld 2011. 12 „Kunst, als Ereignis, läßt sich nicht bewahren, und was bewahrt wird, ist nicht Kunst.“ (Mersch: Ereignis und Aura, S. 243) Diese Dichotomisierung setzt Mersch in weiteren Registern



Text als Ereignis – Ereignis als Text 

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seit langem nicht mehr im akademischen Fokus steht, liegt, wie Franz Lebsanft betont, nicht zuletzt an einer „vollständigen Ausklammerung der ‚Sprechkünste‘“ im universitären Bereich, so dass der „rhetorisch begründete Ereignischarakter von Dichtung“ nur noch selten in den Blick gerät.13 Dabei wurde das Ausblenden textueller Ereignishaftigkeit mit der Etablierung bestimmter kulturwissenschaftlicher Theorien, die jede kulturelle Äußerung, ja die Welt selbst als Text sehen, zweifellos noch befördert. Der vorliegende Band versammelt nicht zufällig eine Vielzahl von Fallstudien. Die Konzentration auf den Einzelfall liegt in der Konsequenz des Themas, das – jenseits theoretischer Perspektiven – zur Analyse des Besonderen auffordert. Gleichwohl lassen sich im Horizont der Leitfrage einige Problemstellungen allgemeinerer Natur identifizieren. Diese werden im Folgenden mit Blick auf das Verhältnis von Ereignishaftigkeit und Neuheit sowie Ereignishaftigkeit und Theatralität skizziert. Eine systematische Übersicht über die Dimensionen textueller Ereignishaftigkeit hinsichtlich der Produktions- und Rezeptionsbedingungen literarischer Texte schließt die Einleitung ab.

1 Das Ereignis und das Neue Mit der Autonomisierung der Literatur im ausgehenden 18. Jahrhundert tritt bekanntlich eine Eigenlogik literarischer Produktion auf den Plan, die sich bewusst von der Möglichkeit externer Ableitungen und Begründungen distanziert. Literatur betont seither ihre Freiheit gegenüber den Bevormundungen von Politik, Moral oder Religion ebenso wie gegenüber den Normen der Poetik und Rhetorik oder auch den Vorbildern älterer Literatur. An die Stelle des Bezugs auf innerliterarische Traditionen und/oder außerliterarische Vorgaben wird ein poetologisches Programm gesetzt, in dessen Mittelpunkt die Erzeugung von Ereignishaftigkeit als zentralem Modus literarischer Textproduktion steht. Sofern für jedes Ereignis Unwahrscheinlichkeit konstitutiv ist, trägt dieses Programm von vornherein paradoxe Züge, denn es lenkt – modernetypisch – die

fort. Gegenübergestellt werden ebenfalls Neuzeit und Moderne, Intentionalität und Responsivität, Reproduzierbarkeit und Singularität („Aura“), Erinnerung und Erinnerungslosigkeit (Flüchtigkeit, Präsenz) sowie „Geistigkeit“ und Materialität. Auf diese Weise werden von Mersch nicht allein herkömmliche Modernesemantiken unkritisch weitergeschrieben, sondern eine zeitliche Grenze gezogen, die einer historischen Analyse zweifellos nicht standhalten würde. Man denke nur an die vormodernen Praktiken der Kasualpoesie. 13 Siehe hierzu den Beitrag von Franz Lebsanft in diesem Band, S. 398.

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 Winfried Eckel / Uwe Lindemann

Erwartung auf das Unerwartete und Unerwartbare. Mit seiner Hilfe sollen literarische Texte einmalig, unwiederholbar, individuell und – um die zentralen Schlagworte um 1800 zu nennen – originell und interessant werden. Ereignishaftigkeit soll Aufmerksamkeit im literarischen Feld garantieren und ästhetische, aber auch andere, insbesondere ökonomische Anschlusskommunikationen ermöglichen. Vielleicht könnte man sogar von einem „Ereigniszwang“ für moderne Berufsschriftsteller sprechen, deren Werke immer wieder ihre Anschlussfähigkeit auf einem vom Konkurrenzgedanken bestimmten, modernen Büchermarkt beweisen müssen. Das Ereignishafte, verstanden als poetologische Kategorie, weist im Rahmen der Evolutionslogik moderner Literatur eine enge Verwandtschaft mit dem Begriff des Neuen auf.14 Der Zusammenhang der Aspekte Neuheit und Ereignishaftigkeit ist jedoch komplex. Keineswegs stellt alles Neue schon ein Ereignis dar, wie die vermutlich unendlich vielen Neuerungen belegen, die in jedem Augenblick von den Zeitgenossen ganz unbemerkt bleiben und gleichsam im Papierkorb der Geschichte landen, wenn sie nicht – ein prominentes Beispiel ist Hölderlin – in veränderten Kontexten später doch noch zum Ereignis werden. Und umgekehrt impliziert nicht jedes Ereignis Neuheit: Die Eventkultur der Gegenwart etwa weckt gelegentlich Zweifel, ob dem inszenierten Lärm, der manche Neuerscheinung begleitet, tatsächlich auch eine Innovation in der Sache entspricht. Dennoch gibt es für das Junktim von Neuheit und Ereignishaftigkeit Gründe. Der literarische Text, der sich selbst als Bruch mit alten Ordnungen in Szene setzt und einen eigenen Ereignischarakter behauptet, sucht zu verhindern, dass sein Innovationsmoment unbeachtet bleibt. Tatsächlich fällt mit Blick auf viele neuere Schriftsteller auf, dass der Anspruch auf Neuheit mit einem prononcierten Streben nach Ereignishaftigkeit konvergiert. Dies ist nicht nur, aber oft bei Autoren zu bemerken, von denen im Nachhinein gesagt werden kann, dass sie am Anfang einer Diskussion, eines Diskurses oder einer literarischen Bewegung standen. Die Ereignishaftigkeit eines Textes erhöht also zugleich die Chance, dass dessen „Neuerung“ zum Ausgangspunkt für Folgekommunikationen wird. Umgekehrt muss der Aspekt der Neuheit auch den Ereignischarakter des Textes steigern, denn ohne etwas Neues, zumindest aber Irritierendes kann von einem

14 Zum Konzept des Neuen in der Poetik und Ästhetik der Moderne vgl. Moog-Grünewald, Maria (Hg.): Das Neue. Eine Denkfigur der Moderne. Heidelberg 2002. Der Zusammenhang des Neuen mit dem Ereignishaften rückt in diesem Band kaum in den Blick, am ehesten noch in dem Beitrag von Thomas Wägenbaur: Emergenz in Kommunikation, Ästhetik und Literaturwissenschaft – oder was es heißt, daß nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt sei. Ebd., S. 143–157.



Text als Ereignis – Ereignis als Text 

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Ereignis im emphatischen Sinn eigentlich nicht die Rede sein, auch wenn Ereignisse ohne großen Innovationswert prinzipiell möglich sind. Neuheit und Ereignishaftigkeit rücken somit in einen wechselseitigen Bedingungszusammenhang. Zugespitzt formuliert antwortet die Konjunktur des Ereignishaften in der Moderne auf ein spezifisches Beobachtungsproblem bezüglich der Kategorie des Neuen. Nimmt man keinen transzendenten, vitalistischen, teleologischen oder kausallogischen Ursprung für die Entstehung von Neuem an, das heißt, führt man die Entstehung von Neuem nicht auf Parameter zurück, die außerhalb des systemischen Zusammenhangs, hier der Literatur, liegen, in dem das Neue entsteht, so lässt sich das Verhältnis von Altem und Neuem nur als Paradoxie beschreiben: Zum einen kann das Neue selbst nur neu sein, wenn es sich irreduzibel vom Alten unterscheidet. Zum anderen ist das Neue aber einzig vor dem Hintergrund des Alten, ja sogar nur als Veränderung des Alten wahrnehmbar. Wäre es ein radikal Neues, wäre es aus der Perspektive des Alten gewissermaßen unsichtbar. Das Ereignishafte garantiert dem Neuen also Sichtbarkeit. Nicht zufällig meint „Ereignis“ von seiner etymologischen Grundbedeutung her das Sich-Zeigende, Von-sich-aus-sichtbar-Werdende, In-die-Augen-Fallende („Eräugniß“).15 In diesem Zusammenhang darf eine prominente theoretische Position nicht unerwähnt bleiben: Hans Robert Jauß’ Rezeptionsästhetik.16 Laut Jauß manifestiert sich der Ereignischarakter eines literarischen Textes in dessen Wirkungsgeschichte. Dabei liefert ihm die (dauerhafte) Ereignishaftigkeit des literarischen Kunstwerkes einen Gradmesser für dessen ästhetischen „Wert“: Die Art und Weise, in der ein literarisches Werk im historischen Augenblick seines Erscheinens die Erwartungen seines ersten Publikums einlöst, übertrifft, enttäuscht oder widerlegt, gibt offensichtlich ein Kriterium für die Bestimmung seines ästhetischen Wertes her. Die Distanz zwischen Erwartungshorizont und Werk, zwischen dem schon Vertrauten der bisherigen ästhetischen Erfahrung und dem mit der Aufnahme des neuen Werkes geforderten „Horizontwandel“, bestimmt rezeptionsästhetisch den Kunstcharakter eines literarischen Werks: in dem Maße wie sich diese Distanz verringert, dem rezipierenden Bewußtsein keine Umwendung auf den Horizont noch unbekannter Erfahrung abverlangt wird, nähert sich das Werk dem Bereich der ‚kulinarischen‘ oder Unterhaltungskunst.17

15 Vgl. Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel 1972, Bd. 2, Sp. 608f. Zur abweichenden Begriffsgeschichte von frz. événement vgl. die Eingangsbemerkungen im Beitrag von Karl Maurer in diesem Band. 16 Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a.  M. 1970. (Die Erstveröffentlichung firmierte unter dem Titel Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, Konstanz 1967) 17 Ebd., S. 177f.

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Hierbei kann der (ästhetische) Ereignischarakter eines Werkes sogar erst in der späteren Rezeption hervortreten: Jauß’ Beispiel dafür ist Flauberts Madame Bovary. Umgekehrt kann der (ästhetische) Ereignischarakter aber auch wieder verschwinden: Wenn […] der Kunstcharakter eines Werkes an der ästhetischen Distanz zu bemessen ist, in der es der Erwartung seines ersten Publikums entgegentritt, so folgt daraus, daß diese Distanz […] für spätere Leser in dem Maße verschwinden kann, wie die ursprüngliche Negativität des Werkes zur Selbstverständlichkeit geworden […] ist. Unter diesen zweiten Horizontwandel fällt insbesondere die Klassizität der sogenannten Meisterwerke; ihre selbstverständlich gewordene schöne Form und ihr scheinbar fragloser ‚ewiger Sinn‘ bringen sie rezeptionsästhetisch in die gefährliche Nähe der widerstandslos überzeugenden und genießbaren ‚kulinarischen‘ Kunst, so daß es der besonderen Anstrengung bedarf, sie ‚gegen den Strich‘ der eingewöhnten Erfahrung zu lesen, um ihres Kunstcharakters wieder ansichtig zu werden.18

Die ästhetische „Wertigkeit“ literarischer Kunstwerke wird also an ihre Ereignishaftigkeit geknüpft, die wiederum in ihrem innovativen Potential begründet liegt, d.  h. ihrer Fähigkeit, den zeitgenössischen Erwartungshorizont zu irritieren.19 Textuelle Ereignishaftigkeit, ästhetischer „Wert“ und Neuheit werden auf diese Weise enggeführt und mit der Idee der Wirkungsgeschichte verbunden. Statt das Spannungsverhältnis von Ereignishaftigkeit und Neuheit zu entfalten, überblendet Jauß das eine mit dem anderen. Er liefert mit seiner Theorie eine rezeptionsästhetische Begründung für die „Kanonfähigkeit“ bestimmter literarischer Texte. Zwar geht es ihm nicht mehr um einen „ewigen Sinn“, gleichwohl aber um die (dauerhafte) ästhetische Wertigkeit von literarischen Texten, sei es, dass sie bereits zeitgenössisch erkennbar ist, oder sei es, dass sie erst von späteren Lesern und (akademischen) Interpreten erkannt und herausgearbeitet wird.

18 Ebd., S. 178f. 19 Dass bei Jauß die Innovationskraft eines literarischen Werkes mit dessen ästhetischem „Wert“ verknüpft ist, wird u. a. aus folgender Passage deutlich: „Die Beschreibung der literarischen Evolution als unaufhörlichen Kampf des Neuen mit dem Alten oder als Wechsel von Kanonisierung und Automatisierung der Formen verkürzt den geschichtlichen Charakter der Literatur auf die eindimensionale Aktualität ihrer Veränderungen und beschränkt das geschichtliche Verstehen auf deren Wahrnehmung. Die Veränderungen der literarischen Reihe werden indes erst dann zu einer geschichtlichen Folge, wenn der Gegensatz von alter und neuer Form auch deren spezifische Vermittlung erkennen läßt. Diese Vermittlung, die den Schritt von der alten zur neuen Form in der Interaktion von Werk und Rezipient (Publikum, Kritiker, neuer Produzent) wie von vergangenem Ereignis und sukzessiver Rezeption umgreift, kann methodisch in dem formalen wie inhaltlichen Problem erfaßt werden, das jedes Kunstwerk als Horizont der nach ihm möglichen ‚Lösungen‘ stellt und hinterläßt.“ Ebd., S. 191.



Text als Ereignis – Ereignis als Text 

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Im Gegensatz zu dieser Position geht es in den Beiträgen dieses Bandes darum, textuelle Ereignishaftigkeit im spannungsgeladenen Wechselspiel mit Neuheit und ästhetischer Verfasstheit zu beschreiben. Auch wenn Neuheit zur Produktion von Ereignishaftigkeit hilfreich ist, muss Ereignishaftigkeit als eine eigene ästhetische Qualität von Neuheit unterschieden werden. Zur betonten Ereignishaftigkeit als einer temporalen Erscheinungsform von Texten gehören die von Karl Heinz Bohrer beschriebenen Wahrnehmungscharaktere des Überraschenden und der Plötzlichkeit,20 die mit dem objektiv Neuen nicht zwangsläufig verbunden sein müssen. Damit das Neue als neu erfahren werden kann, muss es einem Subjekt allererst zum Ereignis werden. Dies aber ist erst dann der Fall, wenn mit den eingespielten Wahrnehmungsschemata auch das Kontinuum der Zeit gesprengt wird und die Gegenwart, wie Martin Seel betont, für einen Augenblick ihre volle Potentialität zurückgewinnt.21 Es ist eine Vermutung des vorliegenden Bandes, dass die dem Neuen verpflichtete Literatur der Moderne dieses Zum-Ereignis-Werden nicht dem Zufall überlässt, sondern bewusst forciert. Sie will programmatisch verblüffen, überraschen, befremden, verwirren oder schockieren. Die Ereignishaftigkeit literarischer Texte beschreiben heißt daher, die Programme, Modi und Strategien zu identifizieren, mit deren Hilfe literarische Texte im Hier und Jetzt den Eindruck eines unerwarteten Geschehens erzeugen. Ein besonderer Fokus muss dabei auf der Analyse der rhetorischen Verfahren liegen, die für die Suggestion intensiver Präsenz in Literatur verantwortlich sind.22 Wenn die folgenden Beiträge die für das Publikum manifeste Unvorhersehbarkeit des textuellen Ereignisses zum Ausgangspunkt nehmen, schließt dies keineswegs aus, dass von der Seite der Produktion her das literarische Ereignis sich einer bewussten Intention oder gar Programmatik verdankt. Gerade die Enttäuschung rezeptiver Erwartungen durch den Bruch mit vorgegebenen Strukturen setzt oftmals ein genaues Kalkül voraus. Was für das Publikum überraschend, kontingent und neu ist, muss es nicht für den Produzenten sein.

20 Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a. M. 1981. 21 Seel definiert Ereignisse als „Aufstand der Gegenwart im Fluß der historischen Zeit“. Seel, Martin: Ereignis. Eine kleine Phänomenologie. In: Müller-Schöll, Nikolaus (Hg.): Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien. Bielefeld 2003, S. 37–47, hier S. 42. 22 Vgl. hierzu insbesondere den Beitrag von Linda Simonis in diesem Band.

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2 Das Ereignis und das Theatralische Im Zusammenhang eines solchen aus produktions- und wirkungsästhetischer Perspektive verstandenen Ereignisbegriffes spielt der Bereich des Theatralischen – als der Inszenierung, Aufführung und Deutung von Texten – eine wichtige Rolle. Die im Ereignisbegriff implizierte Sichtbarkeit kann und muss oftmals künstlich erzeugt werden. Gleichwohl ist zu bedenken, dass das Ereignishafte in dem Maße, wie es in eine durch die Institution des Theaters vorgeprägte Erwartungsstruktur eingebettet wird, bestimmte für es konstitutive Momente, etwa den Charakter der Einmaligkeit und Unvorhersehbarkeit, einbüßen kann. In der folgenden Szene aus Wolfgang Hildesheimers Roman Tynset wird der Unterschied zwischen einem institutionell-theatralen, auf Wiederholung angelegten Ereignis und einem nicht-institutionellen und zufälligen, d. h. singulären Theaterereignis beispielhaft vor Augen geführt: In London sah ich eine Aufführung von „Hamlet“ in modernem Gewand, wie es hieß. Zu Ophelias Leichenbegräbnis trugen alle, König Claudius, Königin Gertrud und die ganze Schar von Schurken, aufgespannte Regenschirme. Es war sehr wirkungsvoll, diese Wirklichkeitsnähe, die selbst der Witterung Rechnung trug. An irgendeiner Stelle mußte Hamlet niesen, und eine Welle von Rätselraten zog sich durch das Dunkel des Zuschauerraumes: hatte der Darsteller oder hatte Hamlet sich erkältet? Mißgeschick des Schauspielers oder Konzept des Regisseurs? Als Hamlet später noch einmal nieste, sich darauf umständlich und in eindeutiger Absicht des Handels das Taschentuch aus der Tasche kramte und sich laut schnäuzte, da wußte man denn: Einfall des Regisseurs, um uns den Menschen Hamlet näherzubringen, zu zeigen, daß auch der leidvoll Auserlesene Sklave seiner irdischen Gestalt ist. Es gab Applaus bei offener Bühne. Dies aber verwirrte den Darsteller, der nun nicht sicher war, ob er das Niesen wiederholen solle, denn seine Nachahmung war prächtig, war der akuten Erkältung abgelauscht und dazu eine lockernde Zäsur im Prozeß der Zuspitzung seines tödlichen Dilemmas. Aber er wiederholte es nicht, er spielte weiter.23

Die Szene zeigt, wie sich auf der Theaterbühne eine vom Publikum anfangs als akzidentiell eingeordnete Ereignishaftigkeit in eine intentionale Ereignishaftigkeit verwandelt. Interessant ist der Moment des Umschlags, wenn sich die Unsicherheit des Publikums bezüglich des Dargestellten auf den theatralen Rahmen hin referenzialisiert und sich in „Deutungssicherheit“ auflöst: Ach so, es war also ein einstudiertes Niesen! Mit feiner Ironie zeigt Hildesheimer nicht nur die Artifizialität, ja Unmöglichkeit jedweder Form von theatralischem „Realismus“. Er macht auch sichtbar, dass das (theatrale) Ereignis als institutionalisierter Normalfall nur noch eingeschränkt als Ereignis gelten kann.

23 Hildesheimer, Wolfgang: Tynset. Frankfurt a. M. 1965, S. 266.



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Was für das bürgerliche Theater mit seiner ausgeprägten Distanz zwischen Bühne und Publikum charakteristisch ist, wird bekanntlich in vielen improvisatorischen und/oder interaktiven Theaterformen keineswegs so gehandhabt. Diese Formen zielen vielmehr auf eine Aktivierung, Mobilisierung, ja teilweise Einbeziehung des Publikums in die Theateraufführung. Dabei wird nicht nur die Grenze zwischen Bühne und Publikum eingeebnet, sondern die literarischen Vorlagen werden in Reaktion auf das Publikum frei interpretiert und während der Aufführung „umgeschrieben“. Auf diese Weise können die literarischen Textvorlagen jene singuläre Ereignishaftigkeit zurückgewinnen, die durch den theatralen Rahmen normalerweise ausgelöscht wird, diesen aber nun umgekehrt aus eigener Kraft sprengt. Das Publikum kann vorübergehend zum aktiven Teilnehmer an einem ebenso unvorhersehbaren wie unwiederholbaren Ereignis werden. Doch auch hier liegt auf der Hand, dass Ereignishaftigkeit durch Institutionalisierung und Normalisierung und der damit möglichen Gewöhnung auf Seiten der Zuschauer wiederum reduziert wird.24 Wie die Bemerkungen zum theatralen Ereignis deutlich machen, hängt es entscheidend davon ab, in welchem medialen, diskursiven oder institutionellen Kontext ein Text präsentiert wird, ob er als Ereignis aufgefasst werden kann. Für diese ausgeprägte Kontextbezogenheit textueller Ereignishaftigkeit liefert auch die Literaturgeschichte zahlreiche Beispiele. So wäre Filippo Tommaso Marinettis Manifeste du Futurisme vielleicht ganz unbemerkt geblieben, wäre es nicht durch die Publikation auf der Titelseite des Pariser Figaro vom 20. Februar 1909 zu einem weithin beachteten Ereignis geworden, mit dem sich der Schock, den Marinetti von der künftigen Kunst forderte („la gifle et le coup de poing“25), auch wirklich einstellte. Tatsächlich waren diverse frühere Abdrucke des Manifests, so zuerst im Januar 1909 als eine Art Vorwort zu einer Gedichtsammlung Enrico Cavacchiolis, der größeren Öffentlichkeit entgangen; erst der Abdruck in einer auflagenstarken bürgerlichen Zeitung verhalf der futuristischen Bewegung zum internationalen Durchbruch. Ähnliches gilt für einen 1983 noch unbekannten jungen Autor mit Namen Rainald Goetz. Dieser wäre wohl kaum über Nacht berühmt geworden, hätte er sich nicht beim damaligen Klagenfurter IngeborgBachmann-Wettbewerb vor laufenden Fernsehkameras mit einem Rasiermesser in die Stirn geschnitten, genau in der Sekunde, als er aus seinem Text Subito vorlas: „ich schneide ein Loch in meinen Kopf, in die Stirne schneide ich das

24 Vgl. die Ausführungen über das koreanische Pansori-Theater in dem Beitrag von Yun-Young Choi. 25 Marinetti, Filippo Tommaso: Le premier manifeste du futurisme. édition critique par JeanPierre Andreoli-de-Villers. Ottawa 1986, These 3.

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Loch. Mit meinem Blut soll mir das Hirn auslaufen.“26 Goetz’ Aktion war in ihrem konkreten Kontext und unter einem bestimmten Aspekt einmalig, einschneidend (nicht nur im Wortsinn) und – unbeschadet ihrer genauen Kalkuliertheit durch den Autor – für das anwesende Publikum überraschend bis schockierend. Zwar gewann Goetz beim Wettbewerb keinen Preis, aber die mediale Aufmerksamkeit ist ihm seitdem sicher. Die Beispiele zeigen, dass der Literatur generell eine theatrale Dimension zugesprochen werden kann und ihre Ereignishaftigkeit mitunter entscheidend davon abhängt, dass Texte in geeigneten Situationen gleichsam aufgeführt bzw. in Szene gesetzt werden. Außerhalb der Institution des Theaters zielen Marinetti und Goetz auf eine Form von Theatralität, welche die Sichtbarkeit und Deutlichkeit ihrer Texte erhöhen soll. Dabei nutzen sie nicht nur die Ereignishaftigkeit der Medien Zeitung bzw. Fernsehen parasitär, um den Ereignischarakter ihrer TextInszenierungen zu steigern, sondern sie sprengen in der Nutzung dieser literaturfremden Medien auf spektakuläre Weise auch den konventionellen Rahmen des Dichterwettbewerbs bzw. der gewöhnlichen Zeitungsmitteilung. Beides gemeinsam forciert die Aufmerksamkeit für ihre Texte in hohem Maße. Obwohl das Ereignis selbst einen emphatischen Bezug auf den aus dem Zeitkontinuum herausgehobenen Augenblick hat und nur in diesem Augenblick eine verstörende oder positiv affizierende Valenz erhält, so entzieht es sich, wie die Aktionen Marinettis und Goetz’ belegen, keineswegs der Planbarkeit. Im Gegenteil: Die kalkulierten Provokationen sind Beispiele dafür, wie Ereignishaftigkeit von Seiten der Autoren gezielt hergestellt werden kann. 27 Auf der anderen Seite können Texte zu Ereignissen werden, bei denen weniger die produktionsästhetischen Bedingungen dafür verantwortlich gemacht werden können als die rezeptiven. So hätte Charles Perraults Gedicht Le Siècle de Louis le Grand kaum zur Verschärfung der Querelle des anciens et des modernes beigetragen, wäre es nur irgendwo gedruckt und nicht 1687 während einer Feier zu Ehren Ludwig XIV. in der Académie française verlesen worden. Entscheidend war, dass Nicolas Boileau unmittelbar nach dem Vortrag die im Gedicht vertretenen Thesen lautstark zurückwies. Aus einem provokativen Gedicht wurde ein handfester Skandal, aus einer akademieinternen Auseinandersetzung unter Gelehrten ein

26 Goetz, Rainald: Subito. In: ders.: Hirn. Frankfurt a. M. 1986, S. 9–21, hier S. 19. 27 Allerdings kann der Versuch, textuelle Ereignishaftigkeit zu erzeugen, auch misslingen. Wie sehr das literarische Projekt, Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit zu produzieren, fehlschlagen kann, macht das Beispiel des deutschen Schriftstellers Wilhelm Arent deutlich, der um 1900 herum versuchte, sich auf dem „Literaturmarkt“ zu etablieren und damit auf ganzer Linie scheiterte. Vgl. Bogdal, Klaus-Michael: Historische Diskursanalyse der Literatur. Theorie, Arbeitsfelder, Vermittlung. Opladen 1999, S. 153ff.



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öffentlicher Streit um die Deutungshoheit des kulturellen Kanons. Dem theatralen, auf Sichtbarkeit zielende Gedichtvortrag Perraults wuchs sein rahmensprengendes Moment erst durch die Umstände zu. 28

3 Dimensionen textueller Ereignisproduktion Die Herstellung textueller Ereignishaftigkeit kann prinzipiell auf verschiedene Weise erfolgen. Angesichts der vielfältigen Aspekte, unter denen Texte als Ereignissen begriffen werden können, mag es in einem ersten Schritt hilfreich sein, die unterschiedlichen Dimensionen textueller Ereignisproduktion typologisch zu klassifizieren. In Bezug auf die Modi der Proklamation, Produktion, Rezeption und Deskription textueller Ereignishaftigkeit lassen sich dabei mindestens vier Ebenen unterscheiden. Erstens: Die Ebene der künstlerischen Programme und Poetiken. Diese Ebene betrifft alles, was vor der Produktion literarischer Texte deren Ereignishaftigkeit zu befördern sucht. Alle programmatischen Forderungen nach textueller Ereignishaftigkeit, von der Ereignisqualität einzelner Momente bis hin zu der ganzer Werke, lassen sich auf ihr ansiedeln. Für Texte der Moderne, die dezidiert ereignishaft wirken wollen, ist diese Ebene von besonderer Bedeutung. Man denke hier etwa an die Erklärung des amerikanischen Dadaisten Walter Conrad Arensberg: „Les vraies œuvres Dada ne doivent vivre que six heures“29. Obschon Arensberg dem Buchstaben nach noch vom Werk („œuvre“) spricht, für das traditionell die Implikate des Bleibenden und Hinterlassungsfähigen wesentlich sind, ist klar, dass er sich einer sehr radikalen Position nähert, wie sie für die Avantgardebewegungen insgesamt charakteristisch ist – einer Programmatik, die anstelle des dauerhaften Werks die auf den Augenblick berechnete Aktion oder, wie man seit den 1960er Jahren sagt, die performance oder das Happening setzt. Die Manifestationen der Kunst sollen idealiter keinerlei Spuren hinterlassen, nichts anderes als Ereignisse sein.30 Betrifft Arensbergs Forderung künstlerische Hervorbringungen als ganze, so können andere ästhetische Programmatiken auch Einzelaspekte an einem Werk in den Blick nehmen und z. B. eine ereignishafte Qualität bestimmter Stellen, Über-

28 Vgl. hierzu den Beitrag von Uwe Lindemann in diesem Band. 29 Arensberg, Walter Conrad: Dada est américain. In: Littérature, 2e année, no. 13 (mai 1920), S. 15–16, hier S. 15. 30 Zu den unterschiedlichen ereignishaften Praktiken der Avantgardebewegungen im 20. Jahrhundert vgl. den Beitrag von Peter Brandes in diesem Band.

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gänge oder Wendungen fordern. „Jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert, / liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt“,31 schreibt Rilke 1922 in den Sonetten an Orpheus. Er liefert damit das poetologische Programm einer Dichtung, die sich selbst, in einer gewissen Annäherung an die zeitgleichen Avantgarden, als ereignishaften Vollzug denkt.32 Erklärungen wie die von Arensberg oder Rilke können nicht nur die Arbeit und Haltung der Künstler, sondern auch die Auffassungsweise der Rezipienten maßgeblich mit bestimmen und so zur Ereignishaftigkeit der Werke beitragen. Sofern sie mögliche Ereignisse antizipieren, muss freilich das für Ereignisse wichtige Moment des Überraschenden in gewisser Weise reduziert werden. Andererseits aber können sie helfen, die Aufmerksamkeit zu lenken und die intendierten Ereignisse allererst wahrzunehmen. Zweitens: Die Ebene der Textkomposition und künstlerischen Verfahren. Diese Ebene betrifft alles, was im literarischen Text während der Lektüre, des Vortrags oder der Aufführung Ereignishaftigkeit produzieren soll. Hier lassen sich alle Textformen, -inhalte und -stile sowie alle para-, trans- und intertextuellen Verfahren verorten, die zum Ziel haben, den grundlegenden Ereignischarakter eines jeden Rezeptionsvorgangs überhaupt durch Momente der Überraschung, der Provokation, des Schocks usw. zu intensivieren und gleichsam ausdrücklich zu machen, sei es sprachlich, strukturell, rhetorisch, allusiv oder inhaltsbezogen. Die Bandbreite der Mittel reicht von der Verfremdung über die Pointe, den Witz,33 das Fragmentarische,34 Essayistische35 und Novellistische,36 über Lautmalereien, lautpoetische Texte und visuelle Poesie bis zu parodistischen und satirischen Schreibweisen.37 Durch Verfremdungseffekte, unerwartete Brüche38 oder Gedankenkombinationen können so vertraute Wahrnehmungsschemata ereignishaft gesprengt werden.

31 Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Ernst Zinn. Frankfurt a. M. 1955ff., Bd. 1, S. 758. 32 Gerok-Reiter, Annette: Wink und Wandlung. Komposition und Poetik in Rilkes Sonette an Orpheus. Tübingen 1996. 33 Vgl. den Beitrag von Jadwiga Kita-Huber über Jean Pauls „Witz“-Ästhetik in diesem Band. 34 Vgl. den Beitrag von Winfried Eckel zum fragmentarischen Schreiben bei Friedrich Schlegel und Roland Barthes in diesem Band. 35 Vgl. den Beitrag von Petra Gehring zum Essay in diesem Band. 36 Vgl. den Beitrag von Helmut Pfotenhauer über Goethes Novellistik in diesem Band. 37 Vgl. den Beitrag von Manfred Schmeling über die (parodistische) Fiktionalisierung kulturellen Wissens in diesem Band. 38 Vgl. den Beitrag von Sabine Gross über Wissensbrüche in diesem Band.



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Dabei kann auch das Textobjekt selbst zum Ereignis werden. Zu denken wäre an Alphabet-Bücher, die mehrere Lektürepfade zulassen, an das geregelte Spiel literarischer Aleatorik wie beim Poesieautomaten von Hans Magnus Enzensberger39 oder an mobile Texte wie Cents mille milliards de poèmes von Raymond Queneau. Da der Leser bei jeder Lektüre gezwungen ist, die Teile des Textes neu zu konfigurieren, wird die Unterscheidung vom Text als (materialem) Objekt und (kommunikativem) Ereignis permanent unterlaufen. Sofern in diesen Fällen die Ereignisqualität einer besonderen (Text-)Struktur entspringt und nicht einem Strukturbruch, mag man von einer Verminderung dieser Qualität sprechen. Andererseits aber greift die Ereignisqualität auf eine Textdimension aus, die man ihr als das buchstäblich Fixierte und Dauerhafte für gewöhnlich entgegensetzt. Die Ereignisqualität wird unter diesem Aspekt nicht vermindert, sondern sogar potenziert. Zugleich wird der Ereignischarakter von (ästhetischer) Kommunikation überhaupt auf eine unabweisbare Weise vor Augen geführt und reflektiert. Ein anderer Fall liegt vor, wenn Texte und ihr Sprachmaterial in ihrer Objekthaftigkeit selbst ‚bearbeitet‘ werden, indem etwa bildkünstlerische Techniken des „Ausradierens“ oder „Neuschreibens“ eingesetzt werden.40 Drittens: Die Ebene der Textverwendungen und textorientierten Praktiken. Diese Ebene betrifft alles, was mit einem literarischen Text gemacht wird, um ihn im privaten, halbprivaten oder öffentlichen Raum zum Ereignis werden zu lassen: das Spiel mit Publikumserwartungen, die Verknüpfung mit anderen medialen Formaten oder die Improvisation, in welcher der Text nur noch als Ausgangs- oder Haltepunkt des extemporierenden Spiels dient. Man kann hier etwa an moderne Formen des Dichterwettbewerbs oder des poetry slam denken. Ein anderes Beispiel liefert das traditionelle koreanische Pansori, eine Art Minimaltheater, bei dem die Textvorlagen oftmals sehr konventionell und kurz sind. Erst in der dezidiert auf Interaktion mit Publikum angelegten Aufführung gewinnen die Texte, wie Yun-Young Choi zeigt, einen einmaligen Ereignischarakter.41 In die Kategorie der Verwendungspraktiken gehören auch literarische Experimente wie das 1921 veröffentlichte Gedicht 150.000.000 von Wladimir Majakowski, der die Autorschaft des Gedichts dem russischen Volk zuschrieb. Lange bevor es das World Wide Web gab, wurde darin eine kollektiv-interaktive Form der Literaturproduktion propagiert, denn jeder, der es wollte, sollte das Gedicht weiterschreiben oder ergänzen können. Dem Text sollte in der kreativen Rezeption eine dauerhafte textuelle Ereignishaftigkeit gesichert werden, und zwar nicht zuletzt

39 Enzensberger, Hans Magnus: Einladung zu einem Poesie-Automaten. Frankfurt a. M. 2000. 40 Vgl. den Beitrag von Gertrud Lehnert in diesem Band. 41 Vgl. den Beitrag von Yun-Young Choi in diesem Band.

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vor dem Hintergrund, dass der im Gedicht geschilderte, allegorisch überhöhte Kampf zwischen Russland als Verkörperung der kommunistischen Revolution und den Vereinigten Staaten als Verkörperung des kapitalistischen Systems zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Gedichts keineswegs entschieden war. Viertens: Die Ebene der Textrezeption bzw. Ereigniswirkung. Auf dieser Ebene ist es sinnvoll, einerseits die zeitliche Dimension der Ereigniswirkung zu bestimmen sowie andererseits die Publikumserwartung miteinzubeziehen. Denn Ereignishaftigkeit kann vom Publikum durchaus auch erwartet werden (man denke an die schon erwähnte Praktik des poetry slam).42 Oder es können ungeplante Ereignisse eintreten wie bei Störungen oder Zwischenfällen (man denke an Boileaus Intervention auf Perraults Gedicht). Schließlich kann sich Geplantes mit Ungeplantem überlagern und die Ereignishaftigkeit dynamisch verstärkt werden. So geht ein Auftritt der Futuristen im März 1910 in einem solchen Lärm unter, daß selbst die nahe der Bühne sitzenden Journalisten nur Satzfetzen verstanden. Bereits am Eingang des Theaters war den Besuchern ein Zettel überreicht worden, auf dem stand, daß die Insassen des Turiner Irrenhauses den futuristischen ‚Kollegen‘ ihre Sympathie ausdrückten. Ein nicht enden wollendes Pfeif- und Hupkonzert übertönte die Stimmen der Vortragenden, Tierstimmen wurden nachgeahmt, sogar eine Taube losgelassen. Bohnen, Kartoffeln und Knallfrösche fielen auf die Bühne herab, und als Boccioni bei dem Satz ‚in Turin beweihräuchert man eine Malerei für Rentenempfänger‘ angekommen war, regnete es Kupfergeld.43

Wenn Marinetti 1911 über die Anfangszeit des Futurismus resümiert, dieser habe „bis heute mehr als vierzig Schlachten geschlagen und fast ebenso viele Siege davongetragen“44, dann deutet sich darin eine weitere, man könnte sagen, itera-

42 In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass in Zeiten des Papiermangels oder während Kriegszeiten Schriftsteller ihre Texte gewissermaßen zwangsweise öffentlich vortrugen, wollten sie überhaupt ein Publikum erreichen: „Es ist nicht verwunderlich, daß sich viele bekannte Lyriker [während der russischen Oktoberrevolution] dieses Mittels bedienten. […] In den literarischen Cafés des belagerten Petersburg oder des trostlosen Moskau hörte das unterernährte, unruhige und doch konzentrierte Publikum den Gedichten zu, die unmittelbar, ohne die übliche ‚Abkühlzeit‘ auf die Anwesenden eindrangen.“ Erlich, Victor: Russischer Formalismus. München 1964, S. 93. 43 Baumgarth, Christa: Geschichte des Futurismus. Reinbek 1966, S. 52. Es sei in diesem Zusammenhang auf die Praxis hingewiesen, dass sich das Publikum, etwa bei einer Theaterpremiere, wenn das Stück von einem missliebigen Autor stammte, im Vorhinein so organisierte, dass man die Aufführung systematisch störte, vielleicht sogar einen Abbruch erzwang. Im Französischen gibt dafür sogar eine eigene sprachliche Wendung: faire du chahut. Vgl. http://www.cnrtl.fr/definition/chahut (8. Februar 2017). Bei den futuristischen serate war diese Praxis ebenfalls wichtig. 44 Zit. nach: Baumgarth: Geschichte des Futurismus, S. 64.



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tive Dimension textueller Ereignishaftigkeit an: eine bewusst forcierte Serialität, die bestimmte Erwartungen beim Publikum hervorbringt und zu anhaltender Aufmerksamkeit in der literarischen Öffentlichkeit führt. Textuelle Ereignishaftigkeit wird zum Gegenstand der Eigen-Überlieferung einer künstlerischen Bewegung. Die Frage danach, was – wenn überhaupt – während all dieser „Schlachten“ geschehen ist, wird aufgesogen vom einem historiographischen Meta-Diskurs, der die textuelle Ereignishaftigkeit – so paradox es klingen mag – in der geschichtlichen Rückschau auf Dauer stellt. Hier deutet sich ein Zusammenhang an, der textuelle Ereignishaftigkeit aus ihrem präsentischen Bezug löst. Das präsentische Ereignis verwandelt sich in der autolegitimatorischen „Überlieferung“ in ein literarisches Denkmal: in ein zu Schrift geronnenes Ereignis.45 Ein in dieser Weise verstandener Begriff von Ereignishaftigkeit trifft sich mit den rezenten Versuchen einer Rehabilitation des Ereignisbegriffes in der Geschichtswissenschaft. Hier wird insbesondere der konstruktiv-kommunikative Charakter des Ereignisses hervorgehoben, indem versucht wird, die Strategien und Techniken zu beschreiben, mit deren Hilfe ,historische‘ Ereignisse von den zeitgenössischen Akteuren diskursiv erzeugt, stabilisiert und verbreitet werden.46 Jan Assmanns Formel darf nicht zu einfach verstanden werden: „Nur bedeutsame Vergangenheit wird erinnert, nur erinnerte Vergangenheit wird bedeutsam.“47

45 Die literarische „Technik“ der dichterischen Selbstnobilitierung qua Monumentalisierung findet sich bereits in der Antike. Vgl. den Beitrag von Alfons Knauth in diesem Band. Die Spannung zwischen zeitenthobener Selbstnobilitierung und Wandelbarkeit der Welt wird am Schluss von Ovids Metamorphosen auf die Spitze getrieben. Dort heißt es in den Versen 871–79: „Nun habe ich ein Werk vollbracht, das nicht Iuppiters Zorn, nicht Feuer, nicht Eisen, nicht das nagende Alter wird vernichten können. Wann er will, mag jener Tag, der nur über meinen Leib Gewalt hat, meines Lebens ungewisse Frist beenden. Doch mit meinem besseren Teil werde ich fortdauern und mich hoch über die Sterne emporschwingen; mein Name wird unzerstörbar sein, und so weit sich die römische Macht über den unterworfenen Erdkreis erstreckt, werde ich vom Mund des Volkes gelesen werden, und sofern an den Vorahnungen der Dichter auch nur etwas Wahres ist, durch alle Jahrhunderte im Ruhm fortleben.“ („Iamque opus exegi, quod nec Iovis ira nec ignis / nec poterit ferrum nec edax abolere vetustas. / cum volet, illa dies, quae nil nisi corporis huius / ius habet, incerti spatium mihi finiat aevi: / parte tamen meliore mei super alta perennis / astra ferar, nomenque erit indelebile nostrum, / quaque patet domitis Romana potentia terris, / ore legar populi, perque omnia saecula fama, / siquid habent veri vatum praesagia, vivam.“ Ovid: Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Michael von Albrecht. Stuttgart 2013, S. 866f.) – dies am Ende eines Werkes, das eine Welt beschreibt, in der das Prinzip der Verwandlung herrscht. 46 Vgl. Rathmann: Ereignis; Suter, Andreas / Hettling, Manfred (Hg.): Struktur und Ereignis. Göttingen 2001. 47 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 4. Aufl. München 2002, S. 77.

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Wenn das Letztere gilt, verliert das Erstere seinen scheinbar fraglosen Sinn. So beschreibt die neuere Forschung den komplexen Prozess der Erzeugung von Bedeutsamkeit mit Blick auf eine Vergangenheit, die möglicherweise alles andere als bedeutsam war, aber in der historiographischen „Textualisierung“ und publizistischen Distribution ereignishaft-bedeutsam gemacht wird. Lassen sich Texte unter gewissem Aspekt als Ereignisse begreifen, so erscheint hier umgekehrt das Ereignis selbst als Text. Versucht man abschließend die Möglichkeiten textueller Ereignisproduktion in eine tabellarische Form zu bringen, wird schnell klar, dass die skizzierten vier Ebenen weiter spezifiziert werden müssen, und zwar im Hinblick auf das Mehr oder Weniger des künstlerischen Kalküls, das die Produktion textueller Ereignishaftigkeit zu bestimmen sucht: Soll eine bestimmte Form textueller Ereignishaftigkeit wie der Witz oder der Schock möglichst sicher erzeugt werden? Soll nur der Rahmen geschaffen werden, damit sich etwas relativ Unbestimmtes „ereignen“ kann, was letztlich nicht voraussehbar ist? Oder stellt sich das Ereignis erst ganz jenseits des Geplanten und Planbaren ein? In jedem Fall bleibt das Ereignis als solches kontingent, aber das Kalkül kann die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass es eintritt. Das Schema, in dem die Dimensionen textueller Ereignisproduktion typologisch aufgegliedert sind, könnte folgendermaßen aussehen (siehe gegenüberliegende Seite). In der Tabelle sind die Ebenen der Ereignisproduktion zum Zweck heuristischer Klärung voneinander getrennt, im konkreten Einzelfall freilich wirken die Ebenen oftmals auf komplexe Weise zusammen. Wenn beispielsweise Friedrich Schlegel in seinem fragmentarischen Schreiben auf das Verfahren der witzigen Gedankenkombination setzt, begleitet er diese Schreibweise durch eine explizite Programmatik des Witzes, welche die Aufmerksamkeit auf die für seine Fragmentsammlungen charakteristischen Verknüpfungen von Entlegenem zu lenken vermag. Und wenn Raymond Queneaus Sonett-Sammlung Cents mille milliards de poèmes buchtechnisch das Umblättern nicht nur von Seiten, sondern von einzelnen Zeilen ermöglicht, dann antizipiert dieses Verfahren „im“ Text eine bestimmte Praktik im Umgang „mit“ dem Text und sogar bestimmte – z. B. komische – Wirkungen „nach“ dem Text. In der Regel kann von einer Interaktion aller Ebenen ausgegangen werden, was allerdings nicht ausschließt, dass bei einem bestimmten Text die eine oder andere Ebene von hervorragender Bedeutung ist. Die Zuordnung der Beiträge zu einer der Überschriften „Programme“, „Praktiken“, Wirkungen“ ist im Blick darauf erfolgt, inwiefern in der betreffenden Fallstudie eine bestimmte Ebene der Ereignisproduktion ein besonderes Interesse verdient. Da die Ebene der „Verfahren“ für fast alle der folgenden Untersuchungen von hoher Relevanz ist, wurde von einer eigenen Rubrik unter dieser Überschrift abgesehen.



Text als Ereignis – Ereignis als Text 

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Tab. 1: Dimensionen textueller Ereignisproduktion48

Grad des Kalküls

Ereignis geplant

geplant-unplanbar (regelhaftzufällig)

ungeplant/unplanbar

Programme („vor dem Text“)

Poetiken des Witzes; Schockästhetiken usw.

Aleatorik; Konzeptkunst usw.

Inspirationspoetiken; écriture automatique usw.

Verfahren („im Text“)

unerwartete Brüche; Wendungen; Gedankenverknüpfungen; gezielte Verfremdung usw.

mobile Texte; Lexikonromane; Implementierung von Leerstellen usw.



Praktiken („mit dem Text“)

Dichterwettstreit; poetry slam; textgestütztes Zeremoniell usw.

Happening; Improvisation usw.

spontane Interaktion mit dem Publikum; erzwungenes Extemporieren usw.

Wirkungen („nach dem Text“)

erfolgreiche Erwartungsenttäuschung usw.

Publikumsprovokation

unerwartete Störung

Ebene der Ereignisproduktion

48 Zur Erläuterung: 1. Während die Ebenen der Ereignisproduktion („Programme“, „Verfahren“, „Praktiken“, „Wirkungen“) bei aller möglichen Verschränkung jeweils diskret unterschieden werden können und deshalb in der graphischen Darstellung durch Linien getrennt sind, sind die Übergänge zwischen „geplanten“, „geplant-unplanbaren“ und „ungeplant/unplanbaren“ Ereignissen als fließend zu denken, weshalb in der Darstellung hier auf trennende Linien verzichtet wurde. 2. Sofern einerseits ein Ereignis zwar geplant werden kann, sein faktisches Eintreten beim Rezipienten aber kontingent bleibt, andererseits dagegen das ungeplant/unplanbare Ereignis, das gemäß einem Programms, einer Praktik oder der Wirkung nach als Teil der Kunst begriffen wird, zumindest retrospektiv einem Plan integriert wird, sind die Pole des vollständig „geplanten“ und des vollständig „ungeplant/unplanbaren“ Ereignisses als unerreichbare Grenzwerte zu betrachten. 3. Da kein Verfahren denkbar ist, das „ungeplant/unplanbare“ Ereignisse intendiert, muss auf der zweiten Produktionsebene die dritte Position entfallen.

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Dem Sammelband liegen die Vorträge einer Tagung zugrunde, die im Juni 2016 an der Ruhr-Universität Bochum stattgefunden hat. Die Tagung wurde großzügig gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, das Internationalisierungsprogramm der Ruhr-Universität Bochum sowie die Sektion Komparatistik im Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Peter Goßens und Natascha Gondecki haben mit ihren Ideen und ihrem tatkräftigen Einsatz für die erfolgreiche Durchführung der Konferenz gesorgt. Bei der Veröffentlichung der Vorträge sind die Herausgeber vielfältig unterstützt worden: Der de Gruyter-Verlag in Person von Anja-Simone Michalski, Susanne Rade sowie Antje-Kristin Mayr hat die Drucklegung des Bandes intensiv und hochprofessionell begleitet. Eine große Hilfe bei der Kontaktaufnahme mit dem Verlag war Werner Frick. Unsere studentischen Mitarbeiterinnen, Rebecca Graß und Fenja Waginzik, haben aufmerksam und engagiert an der Redaktion des Bandes mitgewirkt. Den Satz hat mit großer Sorgfalt Patrick Stoffel übernommen. Schließlich ist besonders Anya Reichmann zu nennen, ohne deren vielfältige Unterstützung und große Geduld das gesamte Projekt von der Planungsphase bis zur Drucklegung gar nicht möglich gewesen wäre. Die Herausgeber danken sehr herzlich allen Beteiligten.



Programme

K. Alfons Knauth

Ereignis-Figuren in antiker und moderner Dichtung: Monument, Mouvement und Moment 0 Intro Vor dem Urknall war am Anfang lange Zeit das Wort. Oder auch die Tat. Insomma, die Sprachhandlung. Als Logos oder Polylog. Der Satz der Genesis (1. Mose 1, 3) Fiat lux et facta est lux – Es werde Licht und es ward Licht war der Leitsatz der sprachlichen Schöpfungsmacht, der Sprache als kosmisches Ereignis. Das antike Rhetorik-Traktat des Pseudo-Longinus De sublimitate (griech. Peri hypsous) zitiert den Bibelsatz als Musterbeispiel für das Erhabene; der französische Übersetzer des Traktats, der Klassiker Boileau, sieht in ihm das Wunderbare der ans Göttliche grenzenden dichterischen Rede, die Synthese von Einfachheit und Erhabenheit.1

1 Antike Monumente. Horaz und Pindar Erhabene Ereignishaftigkeit, auch in reflektierter Form, kommt neben der Bibel den literarischen Musterwerken der griechischen und lateinischen Antike zu. Sie gewinnt Gestalt im ‚monumentalen‘ Kunstwerk der Dichtung, das sich ständig erneuert im Weiterwirken auf die Leserschaft und in der Memoria der Nachwelt. Zwischen monumentum und memoria besteht nicht nur ein sachlicher, sondern auch ein sprachlicher Zusammenhang, der in dem entsprechenden deutschen Wort Denkmal und auch im lateinischen Synonym memoriale zutage tritt. In Verbindung mit dem impliziten Imperativ memento ist dem Wort monumentum eine

1 „Dieu dit: Que la lumière se fasse; et la lumière se fit. Ce tour extraordinaire d’expression qui marque si bien l’obéissance de la Créature aux ordres du Créateur, est véritablement sublime, et a quelque chose de divin […]; cette expression est citée par Longin même […]. Ainsi, c’est la simplicité même de ce mot qui fait sa grandeur.“ (Boileau: Préface zum Traité du sublime ou Du Merveilleux dans le discours, traduit du Grec de Longin. In: ders.: Œuvres complètes. Introduction par Antoine Adam. Textes établis et annotés par Françoise Escal. Paris 1966, S. 338, 340). Vgl. Traité du sublime, Kap. VII: „Ainsi le Législateur des Juifs […]“ (ebd., S. 353) und Kap. XXX: „le Sublime nous élève presque aussi haut que Dieu.“ Ebd., S. 390. DOI 10.1515/9783110541854-002

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appellative Funktion inhärent.2 Der erhabene Denkmal-Charakter des dichterischen Kunstwerks, ineins mit musischer, sprachmusikalischer Ereignishaftigkeit, ist grundgelegt in der Ode des Horaz „Exegi monumentum“ (Carmina III, 30),3 die zum klassischen Paradigma dieses Prinzips werden sollte, in poetischer wie poetologischer, in performativer wie enunziativer Hinsicht. Das Gedicht beschließt die zunächst auf drei Bücher angelegte Odensammlung der Carmina (23 v. Chr.) und bezieht sich mit dem Leitbild des Monuments nicht nur auf den einzelnen Text, sondern rückblickend auf den gesamten kunstvoll durchkomponierten Zyklus der Carmina,4 unter Einschluss seiner selbst. Indem es sprachhandelnd den Schlussstein des ‚monu-mentalen‘ Gesamtwerks setzt,5 lässt es den Leser diesen Abschluss ineins mit einer umrisshaften Gesamtschau des Werks mitvollziehen. Dies freilich aus gebührender – nicht nur ‚differierender‘ – Distanz. Denn es handelt sich um eine Art Delphisches Ritual, in dem der Dichter selber als Seher bzw. Vates auftritt,6 die zeitenthobene Dauer seiner Dichtung preist, in kühner Synchronie mit dem ‚ewigen‘ Römischen Weltreich, der Roma aeterna (Tibull),7 und zu guter Letzt die apollinische Muse Melpomene bittet, zu ihr betet,8 sein Haupt mit dem Delphischen Lorbeer zu bekränzen, um seine dichterischen Verdienste zu würdigen.9

2 Das deutsche Wort Denkmal ist eine Lehnübersetzung des lateinischen Worts monumentum bzw. monimentum (moneo); moneo ist Kausativum (erinnern an) zu memini (sich erinnern an), davon der Imperativ memento (erinnere dich). 3 Horaz: Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch. München 1960, S. 176. 4 Zur Struktur des Zyklus vgl. Lefèvre, Eckard: Horaz. Dichter im augusteischen Rom. München 1993, S. 232. 5 Der eigentliche Terminus technicus für ein Fazit ziehendes Schluss-Gedicht ist Sphragis = Siegel, also kein architektonischer Terminus, aber leicht übertragbar. In das Monument des Schluss-Gedichts schreibt der Dichter wie ein Steinmetz seinen Namen ein, als referentielles ‚selbstverständliches‘ Ich des Autors (wie in Carmina III, 30) oder mittels Nennung des Eigennamens (wie in der Nachahmungsode des Ronsard, s. u.). Zur performativen, aber auch iterativen Funktion des Siegels und der Signatur vgl. das Kapitel „Signature, événement, contexte“ in: Derrida, Jacques: Marges de la philosophie. Paris 1972, S. 390–393. 6 Im Schluss-Gedicht wird das im Anfangsgedicht angesprochene Ziel nahezu erreicht: „Quodsi me lyricis vatibus inseres“ (Carmina I, 1) – „Ja, reihst du mich dem Kreis lyrischer Sänger ein“ (Horaz: Werke, S. 8–9). 7 „Romae principis urbium“ (Horaz: Carmina IV, 3); „Romulus aeternae […] urbis“ (Tibull: Carmina 2. 5, 23 in: Properz / Tibull: Liebeselegien. Carmina. Lateinisch-Deutsch. Neu herausgegeben und übersetzt von Georg Luck. Zürich / Düsseldorf 1996, S. 352). 8 Zur Gebetsformel des „volens“ vgl. Fraenkel, Eduard: Horaz. Darmstadt 1967, S. 361f. 9 Eine Zuschreibung seiner Verdienste ganz an Melpomene geschieht in Carmina IV, 3: „Quod spiro et placeo, si placeo, tuum est.“ – „Ja, mein Lied und mein Ruhm, werd’ ich gerühmt, ist dein!“ (Horaz: Werke, S. 9–10).



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Die dichterischen Verdienste bestehen hauptsächlich darin, die griechische Lyrik in emulativer Imitatio und translatio studii in die römische Dichtung eingeführt zu haben, so die äolischen Metren („Aeolium carmen“) und die Chorlyrik des Pindar. Dessen Epinikien bzw. Siegeslieder, der Gesang und das Wort des rühmenden Dichters, überdauern die Taten der sportlichen Wettkämpfe, überdauern selbst das Schatzhaus von Delphi, den „hýmnōn thesaurós“, in dem die Pindarischen Hymnen vorgetragen wurden, nahe am Nabel der Welt, dem Delphischen Omphalós (Pythische Oden VI).10 Das geistige Monument des Horaz nun, das seinerseits die ehernen und steinernen Monumente des römischen Imperiums übertrifft, überbietet mit dem vergleichenden Bild der Pyramiden – „regalique situ pyramidum altius“11 – noch das Delphische Schatzhaus des Pindar. Dadurch, dass Horaz sich selber – „mihi“ – als Dichter mit dem Lorbeerkranz – „lauro“ – schmücken lässt, ergibt sich die Möglichkeit, das zeitenthobene Monument der Dichtung auch im Bilde des lebendigen, immergrünen Lorbeerbaums zu sehen. Erst im Moment der Lorbeer-Werdung im letzten das Gedicht krönenden Vers ‚transfiguriert‘ die Dichtung der Carmina vollends zum Monument, ähnlich der Mythe der Daphne, die sich auf der Flucht vor Apoll jäh in den fortan ihren Namen tragenden Lorbeerbaum verwandelt (griech. daphne = Lorbeer). Im Mythos macht der Dichtergott Apoll den Lorbeer zu seinem Attribut, als poetisches Substitut und Sublimat unmöglicher Liebeserfüllung. Eine der Daphne-Mythe analoge Metamorphose hatte Horaz sich bereits im Schluss-Gedicht des 2. Odenbuchs (Carmina II, 20) zugeschrieben, wo er sich, statt zu sterben, in einen singenden Pindarischen Schwan verwandelt, die Länder des Römischen Weltreichs überfliegt und überall seinen Dichterruhm verkündet.12 Die sublimste Form des dichterischen Monuments besteht in der Projektion des Dichters und seiner Dichtung als Gestirn ans Firmament gemäß dem griechischen Topos.13 Eine solche Erhabenheit gewährleistet am ehesten ewigen

10 Pindar: Oden. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Eugen Dönt. Stuttgart 1986, S. 142, 144. Siehe Syndikus, Hans Peter: Die Lyrik des Horaz. Eine Interpretation der Oden. Bd. II Drittes und Viertes Buch. 3., völlig neu bearbeitete Aufl. Darmstadt 2001, S. 257. Syndicus verweist auf eine ägyptische Quelle, in der die Bücher der „weisen Schreiber“ mit Pyramiden gleichgesetzt werden (ebd., S. 260). Zu dieser Symbolik vgl. Derrida: Marges, S. 95–99. 11 Horaz: Werke, S. 176. Übersetzung (A. K.): Höher als der Königsbau der Pyramiden. 12 Pindar hatte als geflügelter Dichter-Bote den Ruhm der Pytho- und Olympioniken und gleichzeitig den Ruhm seiner Dichtung verbreitet (z. B. Olympische Oden IX, Pythische Oden VIII). 13 Z.  B. Platon, die Pythagoräer, Pindar sowie die nach dem Sternbild der Plejaden benannte alexandrinische Dichtergruppe Pleias. Vgl. auch Ciceros Somnium Scipionis, der die Seelen großer Staatsmänner in der Milchstraße ansiedelt (Büchner, Karl: Somnium Scipionis. Quellen, Gestalt, Sinn. Wiesbaden 1976, S. 70–72).

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Bestand. Horaz hat sie sich als Ziel gesetzt am Ausgangspunkt seiner Odenbücher (Carmina I, 1); die beiden Schluss-Verse des an den Mäzen Maecenas gerichteten Gedichts lauten: „[Maecenas v. 1] Quodsi me lyricis vatibus inseres, / Sublimi feriam sidera vertice.“ (v. 35–36).14 Auf das himmlische Gestirn zu Beginn der Carmina verweist das am Schluss errichtete dichterische Monument, das sich höher erhebt als die über alles erhabenen Bauwerke der Pyramiden, die in den alten Hochkulturen ja eng mit der Sternenkunde verknüpft sind:15 „Regalique situ pyramidum altius“.16 Das Monument der Horazschen Carmina ist seinem Ewigkeitsanspruch in gewisser Weise gerecht geworden, da es bis zum heutigen Tag eine große Beständigkeit bezeugt und auf eine mehr als zwei Jahrtausende alte Tradition zurückblicken kann. Die prophetische Aussage „non omnis moriar“ hat sich ‚performatorisch‘ bisher bewahrheitet. Die lange Dauer der Überlieferung macht es zu einem noch ‚bedeutenderen‘ Ereignis, nachdem das Monument gewordene Ereignis der dichterischen Schöpfung dessen Dauer überhaupt erst ermöglicht hat. Das Gedicht ist offenbar angelegt als eine Erfüllungsfigur seiner selbst. Bei aller Beständigkeit und Geschlossenheit weist das monumentum aber eine gewisse Öffnung auf, einen Spalt ins Vergängliche, einen möglichen Riss, der es mit der Zeit zur Ruine machen kann. Denn – ganz abgesehen von dekonstruktivistischen und rezeptionsästhetischen Prinzipien – hängt sein Bestand wesentlich von der vom Dichter ausdrücklich erbetenen Gunst der Muse ab, dem Wohlwollen der Melpomene. Und ist die Muse nicht volens (III, 30), dann ist der Dichter nicht volans (Carmina II, 20).17 Grundsätzlich ist das Bild des zeitüberdauernden dichterischen Denkmals die ideale Figur für die Invarianz des literarischen Textes. Die teilweise Unabgeschlossenheit des Schluss-Gedichts der Carmina eröffnet aber auch die Möglichkeit einer – weniger abträglichen als aufbauenden – Variabilität des Textes. Fraglich ist, ob

14 Übersetzung: „Ja, reihst du mich dem Kreis lyrischer Sänger ein, / O, dann trag ich das Haupt [erhaben] bis zu den Sternen hoch!“ (Horaz: Werke, S. 9) 15 Die babylonischen Stufenpyramiden dienten als Plattform für Astronomen und Astrologen; die ägyptischen Pyramiden sind ebenfalls eng mit der Astronomie verknüpft; ähnlich die der Maya, Tolteken und Azteken. 16 Übersetzung siehe Anmerkung 11. 17 Niklas Holzberg unterstellt Horaz (in Carmina III, 30, v. 1) ein – manchem Leser auf der Zunge liegendes – Wortspiel mit dem Ewigkeit verheißenden „aere perennius“ und dem damals längst verstorbenen römischen Dichter Ennius (Holzberg, Niklas: Horaz. Dichter und Werk. München 2009, S. 171). Bezüglich des Pendants Carmina I, 1 betont R. A. Schröder, dass sich bei Horaz der „ironische Unterton“ stets mit „tiefem Ernst“ verbinde (Schröder, Rudolf Alexander: Vergil / Horaz. Deutsch. Berlin / Frankfurt a. M. 1952, S. 960).



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der Dichter eine solche interpretative Öffnung seines Gedichts überhaupt beabsichtigt hat und, wenn ja, wie weit er sie hätte ausdehnen wollen. Fest steht, dass die zweijahrtausendelange Rezeption der Ode zu unterschiedlichen Ansichten dieses literarischen Monuments geführt hat. Fest steht außerdem, dass das literarische Monument durch die sich daran anschließenden Lektüren, Übersetzungen, Nachdichtungen, Adaptationen und Motiv-Variationen einen wechselnden Stellenwert im ‚musealen‘ Raum der Weltliteratur erfahren hat.18 Und schließlich steht fest, dass die genannten Variationen des Kunstwerks auch wesentlich zu seinem Überleben beigetragen haben, wobei wohl ein invarianter Kern, die Substanz oder Grundstruktur des Werks, erhalten blieb.19 Nachdem, mit Ernst Cassirer gesprochen, die poetische forma formans zur forma formata geworden ist, muss diese, um ihr Überleben zu gewährleisten, sich erneut in forma formans verwandeln.20 Das Werk muss sich ins Werden setzen, in schöpferisches Wirken mittels re-kreativer, ans Original gebundener Lektüren, begleitet von Fortschreibungen auch in Gestalt ganz neuer literarischer Werke. Es wird zum monument en mouvement.

2 Renaissance-Monument. Ronsard Um die zeitliche Dimension des ‚ewigen‘ Monuments – das monument en mouvement – zu demonstrieren, sei ein kurzer Blick auf die Nachahmung der HorazOde durch den französischen Dichter Pierre Ronsard geworfen, nämlich auf die Schluss-Ode seiner fünf Odenbücher, betitelt À sa Muse.21 Das Ronsardsche Gedicht leistet einerseits eine Restauration des antiken Monuments, anderseits bildet es ein innovatives Pendant desselben.22 Es enthält übersetzende bzw.

18 Eine neue Perspektive ergibt sich auch durch die Konfrontation des Horazschen „Exegi monumentum“ mit dem recht ähnlichen, aber doch anders gearteten konfuzianischen Konzept des Mencius in der Formel „[literary] fame more substantial than metal or stone“ (Liu Hsieh: The Literary Mind and the Carving of Dragons. Hong Kong 1983, S. 5). 19 Siehe Knauth, K. Alfons: Invarianz und Variabilität literarischer Texte. Amsterdam 1981. 20 Schwemmer, Oswald: Das Ereignis der Form. Zur Analyse des sprachlichen Denkens. München 2011, S. 116f. Die „Objektivität“ des Horazschen Werks, insbesondere der Carmina, gründend in der „Gestaltungsfähigkeit“ des Dichters Horaz, betont Ernst Zinn in: Erlebnis und Dichtung bei Horaz. In: Oppermann, Hans (Hg.): Wege zu Horaz. Darmstadt 1972, S. 369–388, hier S. 382, 387. 21 Ronsard, Pierre: Œuvres complètes I–II. Texte établi et annoté par Gustave Cohen. Paris 1950, hier Bd. I, S. 650. 22 Dagegen setzt Opitz ans Ende seiner Weltlichen Poemata eine deutsche Übersetzung, die erste überhaupt, des Horazschen Oden-Monuments (Lefèvre: Horaz, S. 231). Die Übersetzung

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nachdichtende Sequenzen, kontaminiert diese aber mit Motiv-Variationen aus anderen Horaz-Oden und fügt alles in einen neuen literarhistorischen Zusammenhang ein, nämlich in die sich im Zeitalter des Humanismus und der Renaissance neu konstituierende französische Nationalliteratur in Synergie mit der französischen Monarchie. Insgesamt handelt es sich um ein Projekt der translatio imperii et studii, des symbolischen Transfers griechischer und römischer Herrschaft und Kultur auf ein nach europäischer Hegemonie strebendes Frankreich.23 Ronsard beginnt mit der Wiederaufnahme des Horazschen und Pindarischen Bilds der Unzerstörbarkeit des dichterischen Kunstwerks, hier seiner eigenen Dichtung: „Plus dur que fer j’ay fini cest ouvrage [que … que …]“ (v. 1).24 Wie Horaz schließt er das Bild seines persönlichen Fortlebens nach dem Tode an, amplifiziert durch das Pindarische Bild des geistigen Höhenflugs aus einem anderen Odenbuch des Horaz (Carmina II, 20): „Tousjours tousjours, sans que jamais je meure, / Je volerai tout vif par l’Univers“ (v. 9–10). Der Grund für seine Verewigung ist das Verdienst, die beiden antiken Lyriker Horaz und Pindar, umschrieben als „les deux harpeurs divers“ (v. 13), mit seiner eigenen Lyra bzw. Lyrik verbunden und in Frankreich heimisch gemacht zu haben. Die Verewigung wird wie bei Horaz vollendet durch den immergrünen Dichterlorbeer, der auch hier den Schluss-Akzent setzt: „Et de Ronsard consacre la memoire, / Ornant son front d’un Laurier verdissant“ (v. 19–20). Im All verstirnt sich Ronsard, im Anklang an die „sidera“ des Horaz im Eingangsgedicht der Carmina, im Sternbild der Plejaden, das der Dichterfürst kurz nach der Veröffentlichung der fünf Odenbücher als Namen für die von ihm angeführte Dichtergruppe der Pléiade einsetzt,25 vorgeformt im Anruf an die Muse in À sa Muse: „Sus donque, Muse! emporte au ciel la gloire / Que j’ay gaignée“ (v. 16–17). Das Sternbild der Pléiade ersetzt die inzwischen erloschene Konstellation der alexandrinischen Dichtergruppe Pleias, von der nur noch zweiundzwanzig Verse erhalten sind.26 Das Bild des lorbeergekrönten Dichterfürsten Ronsard

ist primär auf das Original bezogen und sekundär auf sich selbst und das entsprechende Werk von Opitz. 23 Die nationalliterarische Ausrichtung schließt nicht aus, dass auch regionale Akzente gesetzt werden, wie der Bezug zum heimatlichen Vendômois bei Ronsard, analog dem Apulien-Bezug bei Horaz. Hinzu kommt noch eine trojanische Komponente, indem Ronsard im Herrscherlob seiner Oden an König Henri II sowie im Nationalepos La Franciade die französische Monarchie – gemäß dem römischen Vorbild des Vergil in der Äneis – auf das Trojanische Königshaus zurückführt. 24 Ronsard: Œuvres I, S. 650 (im Folgenden wird das Gedicht nur mit der Versangabe zitiert). 25 Seit 1556; vorher La Brigade. 26 Art. Hellenistische Dichtung. In: dtv-Lexikon der Antike. Philosophie, Literatur, Wissenschaft. München 1969, Bd. 2, S. 213.



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prangt dagegen auf dem Titelblatt seiner Werke in der im 20. Jahrhundert beim Verlag Gallimard in Paris gegründeten Bibliothèque de la Pléiade mit weltliterarischer Ausstrahlung.27 Die entscheidende Neuerung in der Nachahmungsdichtung Ronsards besteht im historischen und literarischen Mehrwert der griechisch-lateinisch-französischen Translatio und der damit einhergehenden Epiphanie des dichterischen Dreigestirns Pindar-Horaz-Ronsard.28 Dessen Evolution lässt sich im Werk Ronsards bestens beobachten. In der Schluss-Ode À sa Muse werden die drei Dichter dann besonders dicht miteinander verwoben. Zunächst ganz explizit, wenn auch nur periphrastisch, ohne die beiden antiken Dichter beim Namen zu nennen; nur der neue im Bund ist namentlich genannt, nennt sich selbst bei seinem Namen, und das gleich zweimal. Die genauere Verquickung der drei Dichter geschieht, wie oben gezeigt, mittels generischer,29 motivischer und metaphorischer Kontamination, aber auch auf sprachlicher Ebene. Die stilistische Hybridisierung der drei Sprachen Französisch, Lateinisch und Griechisch ist am ehesten aus dem Gesamtkontext der Odenbücher zu ersehen. Sie ist bisweilen so stark, dass der klassizistische Boileau in seinem Art poétique für Ronsards Stil das kritische Urteil fällen konnte: „sa Muse en François parlant Grec et Latin“ (Chant I, v. 126)30. Ronsard war sich dessen wohl bewusst, war es doch eines seiner erklärten Ziele, die französische Sprache mittels der griechischen und der lateinischen Sprache zu sublimieren, was im vorliegenden Fall eher moderat geschieht. Immerhin, damit die Leser seine Werke verstehen, hat er in dem einleitenden Vierzeiler zu seinem Nationalepos La Franciade die Identifizierung der Franzosen mit den Griechen und den Römern gefordert:

27 Ronsard: Œuvres (= Bibliothèque de la Pléiade, Bd. XLV–XLVI). Neben der globalen ist die Pléiade auch von lokaler Bedeutung. La Pléiade heißt das Kulturzentrum in La Riche bei Tours, in dem die rue Ronsard zum Grabmal des Dichters samt einem ihm gewidmeten Museum führt. Das Grabmal befindet sich inmitten eines bukolischen Ruinengeländes neben dem Rosengarten des ehemaligen Klosters, dessen Prior Ronsard war. In den im Museum ausgestellten Büchern und audiovisuellen Medienträgern, die man mittels der Eintrittskarte aktivieren kann, lebt seine schon in der Renaissance vertonte Dichtung weiter. 28 Zu den ewig bzw. Äonen währenden „Fixsternen“ am Firmament des antiken Kosmos bzw. Literaturkanons bei Pseudo-Longinus vgl. Fuhrmann, Manfred: Einführung in die antike Dichtungstheorie. Darmstadt 1973, S. 172, 175f. 29 Z. B. die Adaptation der Pindarischen Odenform von Strophe, Antistrophe und Epode in Ronsards erstem Odenbuch. 30 Boileau: Œuvres, S. 160.

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 K. Alfons Knauth Les François qui ces vers liront, S’ils ne sont et Grecs et Romains, En lieu de mon livre ils n’auront Qu’un pesant faix entre les mains.31

Es ist nicht auszuschließen, dass Ronsard – mit ähnlich unterschwelliger Ironie wie sein Vorbild Horaz – seine lyrische Dreisprachigkeit auch in dem Poem À sa Muse ludisch und allusiv zum Ausdruck gebracht hat. Dies geschieht mittels der Wendung „[le] doux babil de ma lyre“ in den zentralen Versen „Je voleray tout vif par l’Univers […] / Pour avoir joint les deux harpeurs divers / Au doux babil de ma lyre“ (v. 10, 13–14). Der Plauderton des Wortes „babil“ kann nämlich als Unterton, als mot sous le mot, das verwandte Wort Babel anklingen lassen, ein schon im 16. Jahrhundert beliebtes Wortspiel, hier als Paronomasie in absentia.32 Die europäische Dreisprachigkeit würde sich dann sogar erweitern zu einer latenten eurasischen Viersprachigkeit, behaftet mit dem Charme einer musisch bezwungenen babylonischen Sprachverwirrung, eines „beau désordre“ (Boileau, Art poétique II).33 Dies mag als Beispiel für die Variabilität des ‚ewigen‘ dichterischen Kunstwerks gelten, eine durchaus mögliche, vielleicht sogar wahrscheinliche, aber sicher nicht notwendige Sinngebung, welche die Abgeschlossenheit und ‚Ewigkeit‘ des literarischen Werks relativiert, es in Bewegung setzt, nachdem bereits die Werke des Pindar und des Horaz durch die Weiterdichtung des Ronsard in Bewegung gesetzt wurden. Die Vorstellung vom ‚Leben des literarischen Werks‘ (Roman Ingarden u. a.) dient dazu, das Werk aus der steinernen Erstarrung des

31 Ronsard: Œuvres I, S. 651. Übersetzung (A.K.): Die Franzosen, die diese Verse lesen, / wenn sie nicht Griechen und Römer sind, / halten statt meines Buches / nur eine lästige Last in Händen. 32 Das Wortspiel mit babil-Babel findet sich z. B. in den Sérées (Soirées; 1586) von Guillaume Bouchet. Der Humanist und Universalgelehrte Guillaume Postel leitete das Wort babil (babilare) vom Wort Babel (akkadisch Babilli) ab (1538), wie Gilles Ménage im Dictionnaire étymologique de la langue françoise (1694) unter dem Stichwort babil vermerkt. Die etymologische Verwandtschaft ist zwar nicht sicher, klingt aber plausibel; zumindest handelt es sich um eine klangliche Verwandtschaft, eine onomato/poetische Etymologie. 33 Den Begriff des beau désordre entlehnt Boileau dem von ihm (und seinem Bruder Gilles) übersetzten Traité du sublime des Pseudo-Longinus (Boileau: Œuvres, S. 373) und wendet ihn im Art poétique auf die Oden des Horaz und Pindars an (ebd., S. 164). Die Formel des beau désordre ist durchaus vereinbar mit der Poetik des von ihm anderweitig kritisierten Ronsard.



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klassischen Monuments zu lösen, dem „tombeau des structures“,34 das bereits in Horazens „Exegi monumentum“ und dessen Pyramidenbild anklingen konnte.35 Nichtsdestoweniger bleibt es gestattet, die ‚monumentalen‘ Werke des Pindar, Horaz und Ronsard nostalgisch und ‚kontemplatonisch‘ zu betrachten am Firmament der Ideen oder mit Heidegger als „Wesensbau“ des Kunstwerks, in dem die Wahrheit als das Schöne erscheint und sich im Wandel desselben bewahrt,36 mit Husserl und Roman Ingarden als Eidos noetischer Phänomene oder als Rara im klassizistischen Musentempel eines Temple du Goût à la Voltaire. Selbst als Tombeau können literarische Werke ein Faszinosum sein, so das ‚beau‘ Tombeau d’Edgar Poe, mit dem Mallarmé das Ereignis und die Idee der modernen Poesie ‚verewigt‘ hat, verdichtet in dem dort eingravierten Vers „calme bloc ici-bas chu d’un désastre obscur“.37 Ähnliches gilt für die Pyramide, die Hegel als leitendes Sinnbild für sein Werk Die Phänomenologie des Geistes sowie für die Skizze seines semiologischen Systems gewählt hat. Im Kapitel „Le puits et la pyramide“ aus Marges de la philosophie hat Jacques Derrida das Hegelsche Pyramidenbild analysiert als ein „monument-de-la-vie-dans-la-mort, monument-de-la-mort-dans-la-vie“,38 womit er die gleichzeitige Anwesenheit und Abwesenheit von totem Körper und überlebender Seele als Memento und als Fortleben antiker Symbolik in Hegels Semiologie – der er freilich nicht zustimmt – bestimmt. Derrida nutzt die Pyramide auch für die Urfigur seiner eigenen Philosophie, das A der différance.39

34 In Anlehnung an Macherey, Pierre: L’analyse littéraire, tombeau des structures. In: Les Temps Modernes 246 (1966), S. 907–928. 35 Gelegentlich findet sich die Deutung des „monumentum“ von Carmina III, 30 als Grabmal […] wie in Carmina II, 20 – dort ist das Grab allerdings leer und der Dichter fliegt als Schwan durch die Lüfte. Das Horazsche „monumentum“ ließe sich auch im Lichte der von Jacques Derrida analysierten Hegel-Pyramide (s. u.) deuten. 36 Heidegger, Martin: Holzwege. Frankfurt a. M. 1950, S. 62, 66–67. 37 Mallarmé, Stéphane: Le Tombeau d’Edgar Poe. In: ders.: Œuvres complètes. Texte établi et annoté par Henri Mondor et G. Jean-Aubry. Paris 1945, S. 70, v. 12. Übersetzung (A. K.): Hienieden ruhender Block herabgestürzt von finsterem Missgestirn. 38 Derrida: Marges, S. 95. 39 Derrida, Jacques: La différance. In: Foucault, Michel / Barthes, Roland u.  a. (Hg.): Théorie d’ensemble. Paris 1968, S. 41–66, hier S. 42–43.

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3 Mouvement der Moderne. Rimbaud Eine dem Begriffsbild des klassischen Denkmals entgegengesetzte Poetik der Bewegung setzt sich seit dem 19. Jahrhundert im Zusammenspiel mit verschiedenen Philosophien des Werdens, insbesondere Hegel, durch und wurde bald hegemonial. Ineins mit der Dynamik der Technik und des modernen Weltverkehrs verselbständigt sich die Bewegung, beschleunigt sich und lässt die Gesellschaft mehr und mehr zu einer Geschwindigkeitsgesellschaft werden. Der französische Dichter-Vagabund Rimbaud hat dies gegen Ende des Jahrhunderts eingefangen in dem in rasanten Freiversen geschriebenen Gedicht Mouvement40 (ca. 1872) aus dem Prosa-Gedicht-Zyklus der Illuminations (1886), das im weiteren Umfeld der Fortschritts-Zeitschrift Le Mouvement steht, die Anfang 1862 einen Artikel über den Dichter als Seher enthielt.41 Rimbaud verstand sich als moderner Seher und die Dichtung als – irrlichternde – Erleuchtung (Lettres du voyant I–II)42. Der Dichter und ‚Seher‘ Rimbaud, von seinen Lesern, zuerst Mallarmé,43 als Meteor gesehen, der kurz aufleuchtete, sofort erlosch, aber heute noch glüht, war wie seine Dichtung absolut ‚en mouvement‘ und dichtete nur ganz kurze Zeit (ca. 3 Jahre). Er war verschollen in fernen Ländern, als seine Illuminations, die nur in verstreuten Blättern vorlagen, in der symbolistischen Zeitschrift La Vogue ohne seine Kenntnis ‚erschienen‘ (1886). Rimbauds Mouvement ist unbewegte Bewegung. Ursprungs- und ziellos. Die aus dem Nirgendwo plötzlich erscheinende Bewegung bewegt das Fortschrittsschiff wie ein Geisterschiff ins Nirgendwohin: „Le mouvement […] la célérité […] mènent […] les voyageurs […] les conquérants du monde […] emmènent […] sur ce Vaisseau […]“ (v. 1, 3, 5, 7, 9, 12–13).44 Ein transport sans port. Es herrscht dichterische Demiurgie: die Schaffung einer Neuen Welt der Sprache in Konkurrenz zur Neuen Welt der Technik, eine Sprache, die nicht nur Sichtung und Erhellung der Technik leistet, sondern ihr auch avantgardistisch vorangeht – „elle sera en avant“ (Lettre du voyant II)45 – und vorrangig das Leben erhellt und erneuert:

40 Rimbaud, Arthur: Œuvres complètes. Édition établie, présentée et annotée par Antoine Adam. Paris 1972, S. 152. 41 Ebd., S. 1076. 42 Rimbaud, Arthur: Lettres du voyant (13 et 15 mai 1871). Éditées et commentées par Gérald Schaeffer. Genève / Paris 1975, S. 133–144. 43 Porträt Arthur Rimbaud (1896). In: Mallarmé: Œuvres, S. 512–519, hier S. 512. 44 Rimbaud: Œuvres, S. 152 (im Folgenden wird das Gedicht nur mit der Versangabe zitiert). 45 Als Lettre du voyant II wird der Brief Rimbauds an Paul Demeny vom 15. Mai 1871 bezeichnet. Siehe dazu Rimbaud: Lettres du voyant, S. 140. Auch in Rimbaud: Œuvres, S. 249–254, hier S. 252.



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„changer la vie […] inventer […] de nouvelles langues“ (Une saison en enfer, 1873).46 Das sagen und tun die Illuminations, die ‚unerhörten Lichter‘ („lumières inouïes“, v. 5),47 das ‚Sintflutlicht‘ in Mouvement, eine synästhetische „lumière diluvienne“ (v. 15). Das Fiat lux des neuen Logos wird amplifiziert zum Polylog, zu einer noch unbekannten alle Sprachen verschmelzenden Universalsprache (Lettre du voyant II).48 Die sich ankündigende Universalsprache ist feuriger rhythmischer Fluss, autonome Sprachbewegung, nicht nur anfang- und ziellos, sondern auch ohne Sprecher, subjektlos. Ein anonymes „on“ (man) sieht, wie ein Geschwindigkeitsgedicht vorbeirast. Eine flackernde, motorische Epiphanie: „roulant comme une digue au delà de la route hydraulique motrice, / monstrueux, s’éclairant sans fin“ (v. 18–19). Der Betrachter sieht, wie ein Bewegungsbild entsteht, das er zu sehen vorgibt, aber selber aus dem Nichts oder nach einem inneren ‚Gesicht‘ malt bzw. schreibt. Eine autoreferentielle und autorenlose Ekphrasis. Am Ende kommt das Bewegungsbild fast ruckartig zum Stehen, sistiert in einem Tableau,49 einer ‚informellen‘ Illumination, gemäß der Poetik der Voyance: „il [le poète] donne de l’informe.“ (Lettre du Voyant II)50 Rückblickend erscheint das Tableau nun – synästhetisch – als der Gesang einer okkulten Instanz, eines dualen Orpheus, den der Leser aus intertextuellen membra disiecta zusammenfügen muss: „un couple de jeunesse s’isole sur l’arche […] / et chante et se poste.“ (v.

46 Rimbaud: Œuvres, S. 104, 116. Die neue Sprache unterscheidet Rimbauds Dichtung von der visionären und monumentalen Fortschrittspoesie Victor Hugos in La Légende des Siècles, die noch in romantisch-rhetorischen Sprach- und Versbahnen verläuft (Océan, À l’Homme, Vingtième Siècle). 47 Dies kurz bevor Thomas Edison – Fiat ElectroLux! Es werde künstliches Licht! – die Glühbirne erfand (1879); was den Südamerikaner José Enrique Rodó in seinem epochemachenden Essay Ariel (1900) zu der Bemerkung veranlasste, dass die Angloamerikaner gerade dabei seien, mit Hilfe von Edison die Genesis neu zu schreiben (Rodó, José Enrique: Ariel. Madrid 1991, S. 134). Die vom arielischen und proteischen Geist geprägten Lateinamerikaner seien dagegen dazu bestimmt, einen neuen Menschen zu schaffen, „un nuevo tipo humano“ (ebd., S. 147), die Neue Welt vornehmlich ästhetisch, lebensphilosophisch und human zu gestalten, jedoch nicht ohne den technischen, wirtschaftlichen und demokratischen Fortschritt der USA angemessen zu würdigen (ebd., S. 132–139). 48 Rimbaud: Œuvres, S. 252. 49 Der ursprünglich geplante Untertitel des Zyklus Illuminations war – gemäß Verlaine – „painted plates“, im Anschluss an die Images ou Tableaux de platte [sic] peinture, die französische Übersetzung von Blaise de Vigenère (1637) der griechischen Eikones des Philostrat, auf die sich Rimbaud – wie später auch Ezra Pound – in seiner Bilddichtung bezieht. Vgl. Knauth, K. Alfons: Rimbauds Illuminations. Painted plates und Philostrats Images ou Tableaux de platte peinture. In: Poetica 9 (1977), S. 370–397, hier S. 373f. 50 Rimbaud: Œuvres, S. 252. Mouvement ist freilich nur im Ansatz ‚informal‘, andere Illuminations wie das Prosagedicht H sind dies in stärkerem Maße.

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24–25). Hymnisch und kritisch. Performativ. Das Gedicht Mouvement ist selbst der Gesang, den es einer dualen Drittperson zuschreibt. Neue Welt der Sprache und demiurgische Sprachhandlung fallen hier zusammen, ineins mit dem Kompositionsprinzip der plötzlichen, wie ‚zufälligen‘ chute am Ende des Gedichts, eingeleitet durch die ‚unfallträchtigen‘ „accidents atmosphériques“ (v. 23).51 Man vergleiche das Fortschrittsschiff von Rimbauds Mouvement mit dem – elektrisch beleuchteten – Monument des Fortschrittsschiffs Progrès auf der Pariser Weltausstellung von 1889 vor dem gerade errichteten Eiffelturm, das im Katalog-Kommentar – mit einem (wohl unwillentlichen) Rimbaud-Zitat aus Une saison en enfer – als „absolument moderne“52 bezeichnet wurde. Der durch den Vergleich verstärkte ästhetische Choc macht den Gegensatz zwischen konformer und informeller ‚Monumentalität‘ und ‚Ereignishaftigkeit‘ manifest. Die in Mouvement anvisierte Demontage des ‚ewigen‘ Monuments der Kunst lässt sich ableiten aus der rasenden, sich endlos erneuernden Kulturstätte des „stock d’études“ – „roulant […] monstrueux, s’éclairant sans fin […]“ (v. 18–19) –, in welche sich das Gedicht selbst einschreibt. Die weitreichende Wirkungsgeschichte der Illuminations hat die Selbstdemontage ein wenig relativiert bzw. positiviert im dekonstruktivistischen Sinn. Die „énormité“ des sprachlichen Ereignisses von Mouvement ist inzwischen vielfach zur „norme“ geworden, wie dies Rimbaud in seinen Seherbriefen orakelhaft prophezeite: „Énormité devenant norme“ (Lettre du voyant II).53 Es trifft sich, dass der französische ‚Antiphrast‘ Philippe Sollers 2016 einen Hegel-Roman mit dem Titel Mouvement veröffentlicht hat.54 Der Roman verweist mit seinem Protagonisten und dem vorangestellten Motto55 nicht nur auf den

51 Hervorhebung A. K. Vgl. die kompositorischen ‚chutes‘ am Ende von Aube und Les Ponts, die dort auch semantischer Art (Verb tomber) sind. Mit einer semantischen „chute“, dem ‚Wasserfall‘ des Flusses, beginnt Mouvement, während die ‚chute‘ am Ende des Gedichts eine kompositorische ist. 52 Jourdain, Frantz: La Fontaine monumentale. In: L’Exposition de Paris (1889), Bd. 1, S. 115. 53 Rimbaud: Œuvres, S. 252. Zum Verhältnis von normativer Ordnung und „anomalen Ereignissen“ siehe Waldenfels, Bernhard: Die Macht der Ereignisse. In: Rölli, Marc (Hg.): Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze. München 2004, S. 447–458. 54 Sollers, Philippe: Mouvement. Paris 2016. Siehe die Präsentation von Jacques Drillon in L’Obs vom 10. März 2016 unter dem Titel Sollers: Hegel et moi in der Rubrik „Le choix de l’Obs“. Sollers hatte bereits einen Essayband zur prinzipiellen Mobilität der écriture und gegen die Fixierung des literarischen Werks verfasst: L’écriture et l’expérience des limites (Paris 1971). Der Band steht unter dem – Georges Bataille entlehnten – Motto (ebd., S. 4): „C’est de toutes parts et de toutes façons qu’un monde en mouvement veut être changé“ (Bataille, Georges: La part maudite [Bd. I]. La consumation. Paris 1949, S. 222). 55 „La vérité est le mouvement d’elle-même en elle-même. HEGEL“ (Sollers: Mouvement, S. 9).



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– oben herbeizitierten – Bewegungsphilosophen Hegel, sondern auch auf das gleichnamige Mouvement aus Rimbauds Illuminations, wie schon der Titel von Sollers’ Roman H (1973) sich auf das Prosagedicht H desselben Zyklus bezog.56 Beide Romane lassen sich demnach als eine ferne Fortschreibung der Rimbaudschen Illuminations verstehen, aber natürlich nicht nur.57 In gewissem Sinne ist der Roman Mouvement die literarische ré-écriture eines Hegelianischen Philosophems. Aber Sollers bietet nicht nur eine Hommage an Hegel, sondern auch eine Widerlegung desselben, indem er den Roman der Postmoderne an die Stelle der Philosophie setzt, besonders der Philosophie, die da glaubte, als Hegemon die Literatur zu ersetzen, und teilweise selber schon Literatur war. Als Pointe des Romans verkündet der philosophische ‚Romanheld‘ Hegel den Titel eines eigenen Romanprojekts, das da lautet: Mouvement.58

4 Postmoderner Moment. Philippe Sollers Die sich verselbständigende und beschleunigende Bewegung, das mouvement, führt zur Autonomisierung der elementaren Form der Bewegung, nämlich dem Augenblick bzw. Moment.59 Es überrascht daher nicht, dass sich das Wort moment

56 Bereits mit der ‚transfiniten‘ Figur „[…] le courant la berge […] courant berge courant berge courant […]“ verweist Sollers’ Roman H (Paris 1973, S. 83) auf das Rimbaudsche Mouvement, auf sein verbales sens dessus dessous, seinen Wortizismus, seinen reißenden Rhythmus. Die Stelle kommentiert Julia Kristeva als Beispiel für den chaotisierenden „texte-polylogue“, aber ohne den offensichlichen Rimbaud-Bezug zu erwähnen (Kristeva, Julia: Polylogue. Paris 1977, S. 194–195). Kristeva hat ihr Konzept des Polylogue in dem Essay gleichen Namens durchweg anhand von Sollers’ Roman H exemplifiziert (ebd., S. 173–222). Zum Begriff „le transfini de la langue“ siehe ebd., S. 203. Das verbale (und erotische) Drunter-und-drüber von H – „l’un sur l’autre et l’un sous l’autre“ (Sollers: H, S. 83) – erscheint wortwörtlich als „sens-dessus-dessous“ in Sollers’ Roman Paradis (Sollers, Philippe: Paradis. Paris 1981, S. 227). 57 Sie verweisen nicht nur auf Rimbaud, sind aber auch nicht die einzigen Romane von Sollers, die auf Rimbaud verweisen (s. u. Kap. 4). Der Roman Mouvement bezieht sich zudem auf weitere Rimbaud-Gedichte, etwa mit dem verdeckten Zitat „J’ai embrassé l’aube d’été“ (Rimbaud, Aube, Z. 1 in Rimbaud: Œuvres, S. 140) im „Matin“ überschriebenen Schluss-Absatz des Romans (Sollers: Mouvement, S. 230). 58 Ebd., S. 220. 59 In früheren Zeiten war die Momenthaftigkeit als Gegenpol zur Ewigkeit negativ besetzt. Goethes Faust versuchte im Gespräch mit Mephisto den Augenblick zur Ewigkeit zu machen: „Werd’ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön!“ Er ahnte freilich, dass es nur noch zufällige Augenblicke – ohne Ewigkeit – geben wird. Nicht Ewigkeit, die – wie bei Kierkegaard – nur aus erfüllten Momenten besteht (zit. Sollers: Écriture, S. 35–36).

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bzw. momentum etymologisch aus dem Wort mouvement bzw. movimentum herleitet. Die Momenthaftigkeit der Dichtung war ein Grundprinzip der Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts, die sich auch als künstlerische Bewegungen ständig erneuerten und neue Namen zulegten. Unter ihren unzähligen Ismen, die eine wahre ‚Ismistik‘ erfordern,60 stechen als momentbezogene Namen hervor der Nunisme61 (griech.-frz. Jetzt-haftigkeit) des französischen Literaten Pierre AlbertBirot, der Instantanéisme des Dadaisten Picabia62 sowie der Actualismo und die Minutengedichte63 des mexikanischen ‚Schrillkünstlers‘ Manuel Maples Arce.64 Siehe auch die als Pille zu schluckenden kurzlebigen poemas-minuto oder poemas-pílula des brasilianischen Modernisten Oswald de Andrade65 sowie die Blitzgedichte der Futuristen, nicht nur die des Luciano Folgore, zu Deutsch: ‚LichtBlitz‘. Hier ist zumeist ein Zusammenfallen, zumindest eine Interferenz von Moment und Ereignis festzustellen. Die Moment-Literatur gibt es nicht nur in Kurzform als Punktpoem, sondern auch in der narrativen Langform des Romans.66 In Philippe Sollers’ Paradis (1981)

60 Siehe den Neologismus im spanischen Titel von Gómez de la Serna, Ramón: Ismos. Madrid 1975 (Erstausgabe 1931). 61 Albert-Birot, Pierre: Manifeste du théâtre nunique. Paris 1916. Im Neologismus nunique ist auch das Wort unique enthalten, das sich auf den Solipsismus des Gründers der École nunique bezog, der das einzige Mitglied dieser Schule war und sein wollte. Vgl. Beaumarchais, ­Jean-Pierre: Albert-Birot, Pierre. In: ders. / Couty, Daniel / Rey, Alain: Dictionnaire des littératures de langue française. Paris 1984, Bd. 1, S. 19. 62 „L’Instantanéisme: ne croit qu’au mouvement perpétuel“ (Cover von 391 – Journal de l’Instantanéisme, 1924. In: Dachy, Marc: Journal du Mouvement Dada 1915–1923. Genève 1989, S. 188). 63 „en el vértice estupendo del minuto presente“ (Absatz XII des Manifestes Actual no. 1, 1921. In: Schwartz, Jorge [Hg.]: Las Vanguardias Latinoamericanas. Madrid 1991, S. 167). 64 In Actual no. 1 (1921) benutzt Maples Arce für sein avantgardistisches Konzept des Actualismo auch den Namen Estridentismo, unter dem dann seine folgenden Manifeste erschienen. Ebd., S. 167, 170–173. 65 Die beiden auch für die brasilianische Poesia Concreta benutzten Bildbegriffe wurde von Paulo Prado, dem Promotor der Semana de Arte Moderna (1922), im Vorwort zu Oswald de Andrades Gedichtsammlung Pau-Brasil (1924) vorgeprägt: „Obter, em comprimidos, minutos de poesia.“ In: Andrade, Oswald de: Pau-Brasil. 2a Edição. São Paulo 1990, S. 59. 66 Siehe auch das „sofortistisch[e]“ loslabern von Rainald Goetz in seinem gleichnamigen Roman mit dem Untertitel Bericht Herbst 2008 (Frankfurt a. M. 2012, S. 15); oder die protokollarischen Kopfgeschichten und Kopfgedichte von Jürgen Becker, vor allem Felder (Frankfurt a. M. 1964). Eine besondere Bedeutung kommt Italo Calvinos Erzählung Ti con zero (T0) (1967) zu, indem sie die Zeit und deren wesentliche Momenthaftigkeit zum zentralen Thema macht und selber zum wissenschafts-poetischen Ereignis wurde (Calvino, Italo: Ti con zero. Presentazione dell’autore. Milano 1995).



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wird die Momenthaftigkeit durch eine endlos scheinende Folge von Sprach- und Gedankenfunken erzeugt, narrative Flashs67 und intermittierende Fragmente, die semantisch und syntaktisch auseinanderbrechen, aber rhythmisch und klanglich zusammenfließen. Der Roman ist ein einziger reißender Wortstrom, ein neu- und vielsprachiger Soli- und Polylog, der sich interpunktionslos und formlos – „sansformes“68 – über zweihundertfünfzig Seiten erstreckt.69 Sagen und Handeln, dictum und factum fallen zusammen, aber es handelt sich nicht um weltbezogenes Handeln, sondern um selbstbezogene Sprachhandlung, die sich induziert nach Art einer auto-écriture-matique (Queneauth) und als solche gelegentlich auch thematisiert: „je suis son parcours je l’écris dans l’os de ce jour vas-y continue trame tisse puis jette le livre au fleuve et dis soyez engloutis ainsi fit-il et fut-il [sc. futile]“.70 Die Sequenz ist eine Parodie des performativen dictum factum der Genesis71 sowie des Buchs als bouteille à la mer, als Flaschenpost in den Sprachenfluss geworfen mit einer ‚gelo-genen‘ Botschaft für künftige Leser: das nichtige, sich selbst ‚enteignende‘ Ereignis des livre futile que l’écrivain écrit en vain (Queneauth). Durchgehender Isotop von Paradis ist die Parodie der Welt/literatur/ geschichte72 sowie des semiologischen Prozesses der signification, eines auf die Spitze getriebenen arbitraire du signe.73 Dies betrifft insbesondere die leere Spannung zwischen Inferno und Paradiso in Fortschreibung von Dantes Divina Commedia74 sowie Rimbauds Saison en enfer und Illuminations.75 Der Roman läuft hinaus auf ein himmelhöllisches Sprachenspiel, allsprachig und a-sprachig,76

67 Explizit so genannt z. B. zweimal in Sollers: Paradis, S. 94. 68 Ebd., S. 247. 69 Muster ist Mister Joyce: Mollys interpunktionsloser Monolog in Ulysses und der kreisende Strom des „riverrun […] Finn, again! […] a long the […] riverrun […]“ in Finnegans Wake (Joyce, James: Finnegans Wake. London / Boston 1975, S. 3, 628, 3). Siehe außerdem Gabriel García Márquez’ Roman El otoño del patriarca (1975), der sich als kollektiver Bewusstseinsstrom fast ohne Interpunktion und Absatz über ca. dreihundert Seiten hinweg erstreckt. 70 Sollers: Paradis, S. 95. Übersetzung (A. K.): Ich folge seinem Verlauf schreibe hinein in den Knochen dieses Tages los mach weiter schieß den Faden ein und webe nur zu schmeiß dann das Buch in den Fluss und sage werdet verschlungen so sagte er und so geschah’s. – Siehe auch das Sich-Einschreiben in das laufende Buch, „cette histoire sans ponctuation“, Koinzidenz von geschehendem und geschriebenem Koitus (ebd., S. 29–31, 97). 71 Kurz vorher mit dem hebräischen Zitat des „bereschith bara“ eingeführt (ebd., S. 94). 72 Ebd., S. 96. 73 „ils [les sens] sont ‚arbitraires‘ comme le sont le signe […]“ (Kristeva: Polylogue, S. 196). 74 Sollers: Paradis, S. 144, 211, 247. 75 Ebd., S. 144, 247 passim. 76 Vgl. „l’allangue“ (Sollers: Paradis, S. 128) sowie die pentekostalen „mille langues“ (ebd., S. 148ff., 144).

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das zum Zerfall aller Gegensätze in Zufallsmomente führt: „un moment comme sensé […] ensuite insensé“.77 Die Momente werden am Ende – antiphrastisch, versteht sich – zusammengefügt zu einem Monument. Das zu Ende geschriebene Buch im Buch, das „livre neuf“,78 wird zum alles Ewige untergrabenden Grundstein eines mobilen Denkmals, des aus dem Augenblick und dem Zufall geschaffenen Wortspiels.79 Das paradiesische „livre neuf“ wird als Bibel des ephemeren Worts, kontrapunktisch zur neutestamentarischen „histoire de pierre […] kephas pierre“,80 in der Pariser Kathedrale Notre-Dame eingemauert.81 Es ersetzt das Ewigkeit verheißende Pseudo-Paradies, das einer erhabenen Basilika gleichende „très haut édifice“, dessen Grundstein in der Danteschen Hölle gelegt wurde: „dans les enfers mêmes […] poser la première pierre d’un très haut édifice et d’une sublime gloire de paradis“.82 Roland Barthes hatte in Le plaisir du texte von einer „Babel heureuse“ des erotischen „texte-babil“ gesprochen83 und den babelischen „texte-babil“ anhand

77 Ebd., S. 27. 78 Ebd., S. 253. 79 „la force du jeu de mots“ (ebd., S. 27). Das Untergraben des christlichen Systems der Ewigkeit von Hölle und Paradies ist nach Sollers schon in der (Divina) Commedia selber angelegt. In seinem Essay Dante et la traversée de l’écriture deutet Sollers Dantes Commedia – nicht unbedingt überzeugend – als eine reine „comédie du langage“, ohne transzendenten Wahrheitsbezug (Sollers: L’écriture, S. 16, 37). Die Parodie des christlichen Systems in Paradis, die Parodie auch der Divina Commedia Dantes, bezieht sich auf das traditionelle Verständnis desselben, einschließlich traditioneller Deutungen der Divina Commedia. Zur durchaus verwandten, aber etwas anders gelagerten Intertextualität von Divina Commedia und Finnegans Wake vgl. Boldrini, Lucia: Joyce, Dante and the poetics of literary relations. Cambridge 2001 sowie dies.: Ex sterco Dantis: Dante’s post-Babelian linguistics in the Wake. In: Milesi, Laurent (Hg.): James Joyce and the Difference of Language. Cambridge 2003, S. 180–194. 80 Ebd., S. 253. 81 Aramäisch kephas = pierre = Petrus, der Fels. Außer dem Bibelbezug verweist die parodistische Schluss-Szene von Paradis möglicherweise auf Jacques Préverts Gedicht L’expédition ­(Histoires, 1963/1946). Das Monument des Louvre wird dort mit einem skurrilen Happening parodiert, nämlich als eine mise en boîte (Verulkung) der bürgerlichen Museumskultur mittels geheimnisvoller Hinterlegung einer Sardinendose samt dem in ihr eingeschlossenen Dosenöffner „l’ouvre-boîte“ scilicet L/ouvre-boîte – eine Weiterverarbeitung des surrealistischen Motivs der Sardinendose z. B. die des spanischen Künstlers Óscar Domínguez in den 1930er Jahren, unter anderem der aus einer Sardinendose mit einem Dosenöffner herauspräparierte Name PARIS (Colección TEA Tenerife Espacio de las Artes, Kunstmuseum in Santa Cruz de Tenerife). 82 Sollers: Paradis, S. 144. Auf derselben Seite dieses Zitats finden sich – im italienischen Original zitierte und belegte – Verse aus Dantes Paradiso XXIV. 83 Barthes, Roland: Le plaisir du texte. Paris 1973, S. 10–12.



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von Texten Sollers’ illustriert, darunter eine Übersetzung von Severo Sarduys Roman Cobra, die Barthes beide – das spanische Original und die französische Übersetzung – als „heterolog“ angereichertes „paradis des mots“ bezeichnet.84 In diesem Licht lässt sich Sollers’ späterer Roman Paradis umso besser als eine antiphrastische, subversive Figur verstehen. Die polaren Sprachmonumente des Babelturms und der Pfingstkirche im Inferno und Paradiso Dantes werden in dem postmodernen Paradis einer doppelten Umwertung und ideologischen Entwertung unterzogen.85 Die babelische „confusion des langues“86 wird aufgewertet zum paradiesischen, het-erogenen Plaisir, zum pentekostalen Sprachenspiel im LiteraTurm von Babel. Das Sprachenspiel ist gekennzeichnet durch eine Folge intermittierender Momente des plaisir du texte, gipfelnd in sprachkörperlicher „jouissance“ bzw. Lustlösung.87 Plaisir du texte ne dure qu’un moment:88 Im Schluss-Satz zündet sich der Bote der neuen Babel-Bibel eine Zigarette an. Im nächsten, hier nicht genannten, Moment beginnt er Paradis 2 zu schreiben, erschienen 1986.89 Der Bibliotop solcher Bücher bzw. écriture ist – analog den nicht drei, sondern vier Räumen, die der Sprachenwanderer Dante im Sinne Sollers’ durchquert – der Neue Raum eines sich von Augenblick zu Augenblick verschiebenden Überall und Nirgendwo einer holo- und nihilinguistischen Schöpfung,90 in Syntonie mit Derridas Bildbegriff des déplacement.91

84 Ebd., S. 16f. 85 Diese Deutung ist eine Weiterführung von Knauth, K. Alfons: La Tour de Babel comme figure réversible. In: ders. / Grüning, Hans-Georg (Hg.): Imaginaire et idéologie du plurilinguisme littéraire et numérique. Berlin 2014, S. 115–137, hier S. 117–122. Mir scheint die Deutung von Sollers’ Paradis im Lichte von Roland Barthes’ Plaisir du texte passender zu sein als die Deutung im Licht von Sollers’ eigener Dante-Interpretation in dem oben zitierten Essay. Eine Vermittlung scheint möglich über das Lavieren zwischen den unterschiedlichen Ebenen der Dante-Deutung, die im Roman Paradis sehr ambiger und allusiver Natur sind. 86 Barthes: Le plaisir du texte, S. 10. 87 Ebd., S. 17, 29. 88 Vgl. das aus dem 18. Jahrhundert stammende Chanson Plaisir d’amour ne dure qu’un instant. Siehe dagegen Dantes Divina Commedia, wo der „dolce canto“ das „eterno piacer“ der geistigen Liebe im Paradies vorbereitet (Purg. XIX, 32–42). 89 Ob Paradis 2 auch ein Ereignis ist, sei dahingestellt. Ein work in progress kann ein Rückschritt sein. 90 Sollers: L’écriture, S. 34–35. 91 Derrida, Jacques: L’écriture et la différence. Paris 1967, S. 402–406.

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5 Mementomomentomonumental. Haroldo de Campos Das Zusammenspiel von Ereignis, Performance, Mobilität, Moment, Monument und Memoria findet sich eindrucksvoll verwirklicht im Werk und Wirken des brasilianischen Dichters, Übersetzers, Performers und Essayisten Haroldo de Campos, speziell in den Galáxias (1963–1973), einem durchkomponierten Zyklus von weltsprachigen Prosagedichten, der den Hauptteil seines Buchs Xadrez de estrelas (Sternenschach, 1976) bildet.92 Der Obertitel von Galáxias ist livro de ensaios (Buch der Versuche / Essays), der Untertitel fragmentos – possível figura (Figur, die ihrer Erfüllung harrt). Ein Motto zur „mobilité de l’écrit“ aus Mallarmés Vorwort zu seinem Gedicht Un coup de dés ist dem Zyklus vorangestellt.93 Der Gesamtband Xadrez de estrelas mit dem Untertitel percurso textual 1949–1974 weist eine Entwicklung auf vom Horazschen Konzept des dauerhaften dichterischen Monuments über eine innere Mobilisierung desselben zur extremen Moment-Dichtung der Galáxias und dem die Galáxias abschließenden, gleichwohl fließenden MomentMonument. Das Eingangsgedicht94 Loa do grande Rei des Unterzyklus Auto do possesso (1949) ist – wie bei Horaz und Ronsard – (fiktives) Fürstenlob und Dichterlob zugleich, untermauert – wie bei Horaz – mit dem Pyramidenbild: „Para teu gáudio, ó Rei […] De pedra dura […] Esta pirámide erguerei.“95 In dem etwas späteren Gedicht Teoria e prática do poema (1952) wird explizit die innere Dynamik des Gedichts als „movimento“ und „evolução de figuras“ auf dem Schachbrett des „xadrez de estrelas“ entworfen;96 im kosmischen Wind klingt die „cítara da língua“. Das dichterische Denkmal steht bzw.

92 Eine um sieben Fragmente erweiterte Ausgabe der Galáxias, davon der neue Schluss-Text „fecho encerro“ (ich schließe ich ende) erschien später als selbständiges Buch (Campos, Haroldo de: Galáxias. São Paulo 1984). 93 Campos, Haroldo de: Xadrez de estrelas. São Paulo 1976, S. 199; Zitat aus Mallarmé: Œuvres, S. 455. 94 Das Widmungsgedicht envoi (1956) an die Muse und Ehefrau Carmen, welches dem Gesamtband vorangestellt ist, stellt auch einen Bezug zu den im Eingangsgedicht angespielten Carmina des Horaz her, darüber hinaus zu dem musikalischen Gesangskonzept insbesondere der Galáxias. 95 Campos: Xadrez, S. 14. Übersetzung (A. K.): Zu deiner Ergötzung, o König, werde ich dir diese Pyramide aus hartem Gestein errichten. 96 Ebd., S. 55–56. Das „puro movimento estrutural“ wird zum Prinzip der brasilianischen Konkreten Poesie im Plano Piloto para Poesia Concreta (noigandres 4, 1958. In: Campos, Augusto de / Pignatari, Décio / Campos, Haroldo de: Teoria da poesia concreta. Textos críticos e manifestos 1950–1960. São Paulo 1987. S. 156–158).



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bewegt sich weitgehend im Rahmen einer traditionellen Poetik, während die Vielsprachigkeit bereits neobarocke Züge trägt. Die neobarocke Dynamik entfaltet sich dann in dem unendlich wogenden und sich brechenden Sprachen- und Sternenmeer der Galáxias. Deren dreiundvierzig Fragmente bzw. Gesänge füllen jeweils eine Seite mit einer nahezu gleichen Buchstabenmenge und erstrecken sich, lauter Minuskeln, ohne ein einziges Interpunktionszeichen über circa zweitausend prosapoetische Zeilen. Im Schluss-Text der Galáxias97 werden Moment und Monument montiert bzw. metamorphosieren zu dem monströsen Flusswort „mementomomentomonumental“ (Z. 30). In ihm kristallisiert der Fluss der Momente für einen Augenblick zum Monument.98 „Num nu“.99 Nur ein Nu trennt Moment und Mo-nu-ment. Das ‚nunistische‘ Monument ist gleichzeitig Ereignis, „matéria evêntica“ (Z. 30), und als solches erschafft es nicht nur sich selbst, sondern auch den Leser, löst den Prozess des Lesens aus: „o livro também constroi o leitor um livro de viagem em que o leitor seja a viagem“ (Z. 31–32).100 Das Lesen lässt als dynamischer Akt der Memoria, als Memento, das Monument des momentanen JetztBuchs, des „livroagora“ (Z. 35), stets neu entstehen und mittels des Lesens als Reise durch irisierende Zeichen, als eine „travessia de significantes“ (Z. 35–36), im alphabetischen Sternenmeer der Galáxias erscheinen, schwarz auf weiß.101 Leser ist auch der Dichter selber, dessen eigene Lektüren sich als Re-Ecritüren in den Text mannigfaltig einschreiben und dadurch den mobilen Monumentcharakter der Intertexte sowohl erhalten als auch erneuern. Das Memento gilt also ebenso den überlieferten literarischen Monumenten der Vergangenheit. Dazu gehören hier – neben dem bereits angeführten Prototyp der Carmina des Horaz102 – Homers Odyssee,

97 Beginnend mit „nudez o papel“ (nacktheit das papier). Campos: Xadrez, S. 243; im Folgenden wird das Gedicht im Fließtext nur mit der Zeilenangabe zitiert. 98 „tapeçaria [sc. textual] vitrificada“ (Campos: Xadrez, S. 242). Vgl. den „design in the Process“ in Ezra Pounds Canto XCV (Pound, Ezra: The Cantos. London / Boston 1986, S. 659). 99 Haroldo de Campos schätzte die deutsch-brasilianische Wendung num Nu (in einem Nu), die der brasilianische Schriftsteller João Guimarães Rosa (der als Diplomat einige Zeit in Hamburg verbrachte) geprägt hatte (Interview mit H. de Campos. In: Dichtungsring 17–18 (1989/1990), S. 25). 100 Übersetzung (A. K.): das buch konstruiert auch den leser ein reisebuch in dem der leser die reise sei. 101 Das Bild ist vorgeprägt bei Mallarmé (Quant au livre) und liegt den Galáxias offenbar als typographische Konstellation zugrunde. 102 Außer der Ode „Exegi monumentum“ (Carmina III, 30) ist Horaz auch, wie schon bei Ronsard, mit dem Quell der Erinnerungs-Ode „O fons Bandusiae“ (Carmina III, 13) im Memento der Galáxias präsent: „murmúrio de fonte“ (Horaz, Carmina, S. 242).

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die Äsopschen Fabeln, Góngoras Fábula de Polifemo y Galatea, Goethes Faust,103 Ezra Pounds The Cantos, Rilkes Geburt der Venus, Mallarmés Quant au livre und Un coup de dés sowie vor allem Joyce’s Ulysses und Finnegans Wake.104 Durch ihre ‚monumentale‘ Dauer werden sie zum Ereignis, einem dauerhaften Ereignis – ähnlich dem Fünftausend-Jahre-Blitz in Pounds The Cantos XCV: „LOVE, gone as lightning, / enduring 5000 years“.105 In den „Signifikanten“ des abschließenden Galáxias-Fragments versammeln sich – im Zusammenspiel mit dem genannten Intertext – die verschiedensten Signifikate und wechselnden Sinn gebenden Bilder. Es sind vor allem Figuren der Bewegung und der Konstellation. Die ersteren sind mehr dem Moment, die letzteren mehr dem Monument zugeordnet. Über dem bewegten Meer und der Meeresfahrt figurieren die Form und Dauer verheißenden Konstellationen der Galáxias, wo die Dichter einst ihre kosmische Verstirnung suchten sowie Alphabete und Ideogramme verorteten. Das flutende Text- und Sprachenmeer wird imaginiert als die merkuriale Meeresschlange Ouroboros, die die Welt umschlingt und sich selbst verschlingt, um sich wieder neu und selber zu gebären. Aber da beide sich gegenseitig spiegeln, tauschen sie auch ihre formalen Merkmale: das Meer formt Figuren, die Konstellationen verschwimmen im Wörter- und Buchstabenmeer. In absentia korrespondiert mit der Meeresschlange Ouroboros die den nördlichen Globus umschlingende Konstellation des Draco (Aratus, Phainomena). Die im Text zirkulierende „serpente mordendo a cauda da serpente“ (S. 236, Z.  13) – ein „kiklos de palavras“ (S. 212, Z. 3) – verwandelt sich im SchlussGedicht in einen unendlichen Bandwurm, der sich als eine metabolische Fabel einschreibt in die intestinalen Windungen des Textkörpers mittels eines kühnen Hyperbatons: „fá intestino escritural bula tinteiro-tênia“ (S. 242, Z. 7) – „faschreibdarmBELtintenfassbandwurm“.106 Es ist die plurale Fabel des „famosus

103 Im letzten Fragmento (no. 50) der erweiterten Fassung der Galáxias von 1984. An anderem Ort hat Haroldo de Campos die Schluss-Szenen von Faust II ins Portugiesische übersetzt. 104 Z. B. ist das Memento des Moments vorgeformt am Ende von Finnegans Wake in den Wörtern und Wendungen „Onetwo moremens more“, „To remind me of“ und „mememormee“ (Joyce: Finnegans Wake, S. 628). Im Schluss-Fragment von Galáxias finden sich auch Reflexe zahlreicher Intertexte der übrigen Galáxias wie Tausendundeine Nacht, Rimbauds Le bateau ivre sowie Illuminations. Borges’ Libro de arena erschien 1975, zwei Jahre nach der Komposition des im SchlussFragment enthaltenen „livro-areia“; in: Borges, Jorge Luis: Obras completas 1975–1986. Bd. 3. Buenos Aires 1989, S. 68–71. 105 Pound: The Cantos, S. 657. 106 Übersetzung A. K. Die Zirkularität des literarischen Prozesses assoziiert die Joycesche Figur des „riverrun“, die den Roman Finnegans Wake einkreist und ihrerseits ein Recycling von Heraklit und Vico bildet. Die Brüder Augusto und Haroldo de Campos haben das „riverrun“ kongenial ins Portugiesische übersetzt (A. de C.) als „riocorrente“ (Campos, Augusto de / Haroldo de: Pano-



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ille fabulator“, ein Sammelname, der hier den Künstler des Wortes meint – „le vocable est ma fable“107 – mit dem also alle oben genannten Literaten und Werke gemeint sind, insbesondere aber Homer, Mallarmé und Joyce. Denn der intestinale Ouroboros versteht sich als eine Odyssee, genauer als kloakale Nekyia zur Erkundung literarischer Unterweltströme.108 Es ist eine „oudisséia […] autofágica“ (Z. 11) und „tautodisséia“ (Z. 21), die sich als selbstbezogene Odyssee des Schreibens und des Lesens entwirft. Ihr Odysseus wird ein autoreferentieller und subjektiver Niemand, ein outis, der nur als fiktive Figur verstanden werden will,109 sich glottophag ernährt und damit dem anthropophagen110 Polyphem auf andere Art Paroli bietet. Die kosmische Verewigung und Monumentalisierung der Dichtung wird von vorneherein relativiert und am Ende durch die Figur des „livro-areia“ (Z. 32), des Sand-Buchs, und der sich in Sand auflösenden Konstellation einer „areia constelada“ (Z. 34) dargestellt, dann explizit als im Sande verlaufende „figura desfeita“ (Z. 33) dekonstruiert.111 Sogar die Leser-Odyssee erleidet Schiffbruch, da die Leser von der Zauberin Kirke in eine Herde von Schweinsohren verwandelt werden, die – mit Mallarmé gesprochen112 – unfähig sind moderne Poesie zu lesen, weil sie kein Ohr haben für dichterische Sprachmusik. Hier spielt auch die poetologische Phaedrus-Fabel Pullus ad margaritam und die daraus abgeleitete

rama do Finnegans Wake. São Paulo 1986, S. 35) und vielfach variiert, u. a. in Galáxias (H. de C.) und in dem Gedicht Heráclito revisitado (H. de C.). 107 Bory, Jean-François / Campos, Haroldo de: französische Übersetzung des ersten Fragmento von Galáxias, im Anhang Galaxies (Campos: Xadrez, S. 243). 108 Die kloakale und fäkale Metaphorik ist aus Finnegans Wake abgeleitet, wo die unvergängliche Tinte des Schriftstellers Shem the Penman in einem alchimistischen Prozess aus körperlichen Ausscheidungen hergestellt wird (Joyce: Finnegans Wake, S. 182–185). Haroldo de Campos hat eine Passage aus der Tintenszene ins Portugiesische übersetzt (Campos, Panorama, S. 47– 49). Zu der fäkalen Metaphorik vgl. Boldrini: Ex sterco Dantis, S. 180–194. 109 Ergänzung zu Knauth, K. Alfons: The OdySea of Polyglossy. In: ders. / Ping-hui Liao (Hg.): Migrancy and Multilingualism in World Literature. Berlin 2016, S. 207–256, hier S. 241–246. 110 Polyphem hat seine Anthropophagie in Galáxias sexualisiert und richtet sich sprachlich eher nach Góngoras Fábula de Galatea y Polifemo aus. 111 Vgl. den im Sand pflügenden Odysseus in Ezra Pounds The Cantos XXIII, S. 107. 112 Der erste Teil des französischen Zitats ist bereits in Z. 13 des Textes vorweggenommen. Die vollständige Mallarmésche Sequenz, die sich als ein französisch-portugiesisches Hyperbaton über dreißig Zeilen erstreckt, lautet: „et devant l’agression rétorquer […] que des contemporains ne savent pas lire“ (S. 242, Z. 13, Z. 43). Mallarmé hat den Ausspruch gegen seine Kritiker gerichtet, die ihn dichterischer Verdunkelung bezichtigten, daher das „Zurückschlagen angesichts des gegnerischen Angriffs“ (Übersetzung Zitat Z. 13, A. K.). Das hypertrophe Hyperbaton ‚zitiert‘ den Mallarméschen Stil in dem Konstellations-Gedicht Un coup de dés.

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 K. Alfons Knauth

Redeweise ‚Perlen vor die Säue werfen‘ eine Rolle.113 Die letzte Sequenz der Galáxias lautet: quem ouve a fábula exsurgindo entre safira e fezes quem a vê […] para um rebanho de orelhas varicosas grandes ouvidos moucos orelhas de abano flácidas bandeiras murchas que des contemporains ne savent pas lire ouver (Z. 40–43) wer hört die exkrementale edelsteinfabel wer sieht sie […] eine herde krampfadriger ohren große schwerhörige gehöre fächerartige ohren schlaffe welkende flaggen welche einige zeitgenossen nicht verstehen zu lesen oder hörenzusehen (Übersetzung A. K.)

Ausgehend von Mallarmé, Pound und Joyce hat Haroldo de Campos zusammen mit der Gruppe Noigandres die brasilianische Poesia Concreta entwickelt, eine Poesie und Poetik, deren verbivokovisuelles114 Prinzip in anderer Form auch in seine Prosapoesie eingeht. Das Prinzip ist verdichtet in der vorliegenden SchlussSequenz der Galáxias, die den Text und den Zyklus mit einem poetischen und poetologischen Punktereignis ausklingen lässt. Mallarmés Äußerung „que des contemporains ne savent pas lire“115 wird ergänzt durch ein minimalistisches Schluss-Wort, „ouver“, ein unscheinbares Kompositum, das die Komplexität des modernen Polylogs enthält. Das ist vor allem: konkretes Schreiben & Lesen als lautlich schauendes & sehend hörendes Gespräch der Sprachen & der Stille. Das Wort „ouver“, vorgeformt in Décio Pignataris Sentenz „O olhouvido ouvê“ (Das AugenOhr hörtsieht) im Manifest Nova Poesia: Concreta (1956),116 ist ein Neologismus, der aus einer Wort-Montage nach Joycescher Manier entsteht. Die Montage kontaminiert das Verb ver (sehen) mit dem Verb ouvir (hören), und beide Verben zusätzlich mit der sowohl portugiesischen als auch französischen Konjunktion

113 Den Ausdruck ‚Perlen vor die Säue werfen‘ benutzte Haroldo de Campos in leicht abgewandelter Form in dem frühen poetologischen Gedicht Claustrofobia (1952): „a vênussílaba para a verbogênese. Margaritas ante porcos“ (Campos: Xadrez, S. 58). Die Perle bzw. „margarita“ ist im Schluss-Gedicht der Galáxias mittels der zweimal auftretenden Blume „margarida“ konnotiert; mit dem synonymen Wort „safira“ wird sie dann direkt genannt. In der Rezeptionsgeschichte der Phaedrus-Fabel erscheint der Saphir als Variante der Perle, z. B. im Libro de buen amor. Zur Geschichte der Hahn-Perle-Fabel (ohne den hier ergänzten Bezug zu den zeitgenössischen Galáxias) siehe Knauth, K. Alfons: Mutationen der Fabel von „Hahn und Perle“. In: Schwarz, HansGünther (Hg.): Vielfalt und Offenheit. Festschrift für Hans-Georg Grüning zum 70. Geburtstag. München 2015, S. 73–91. 114 Das Wort geht auf die Neologie „verbivocovisual“ in Finnegans Wake zurück (Joyce: Finnegans Wake, S. 341). 115 Mallarmé, Stéphane: Quant au livre. In: ders.: Œuvres, S. 386. 116 Pignatari, Décio: Nova Poesia: Concreta. In: Campos, Haroldo de / ders.: Teoria da Poesia Concreta, S. 47–49, hier S. 48.



Ereignis-Figuren in antiker und moderner Dichtung 

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ou (oder),117 wobei das Französische durch das Originalzitat aus Mallarmés Quant au livre aktiviert wird. Es schieben und schreiben sich also in einem Fünfbuchstaben-Wort drei Wörter aus zwei Sprachen übereinander. Darüber hinaus wird ein mischsprachiger Gesamtsatz geschaffen, indem das (neo)portugiesische ouver zum Prädikat eines französischen Syntagmas in einem portugiesischen Makrosyntagma wird. Auf der Ebene des literarhistorischen und theoretischen Diskurses geschieht zudem eine Weiterentwicklung französischer durch brasilianische Positionen.118 Galáxias (1976) schließt also mit einer „matéria evêntica“ (Z. 30), einem kleinen sprachlichen Ereignis, ein Gespräch der Sprachen auf kleinstem Raum, das plötzlich erscheint, verlautet, und gleich wieder in der Stille, im Dunkel, am äußersten Rand des Textes verschwindet. Performativ. Mit Anna Livia Plurabelle gesprochen: „Fuitfiat.“119 Oder anders gewendet: Fiat fuit.120

117 Abweichende Aussprache des ou im Französischen und im Portugiesischen. 118 Hinzu kommt die multimediale Dimension der Galáxias in Form einer Performance von Haroldo de Campos, aktivierbar über die CD isto não é um livro de viagem – 16 fragmentos de Galáxias mit der Sitar-Musik von Alberto Marsicano (Rio de Janeiro: editora 34, 1992). Siehe außerdem die Laserkonstellation Crisantempo, die der Kosmopoet am ‚Firmament‘ bzw. in der Troposphäre zur 70-Jahrfeier der Folha de São Paulo schuf: „no espaço curvo nasce um crisantempo“ (Im gekrümmten Raum erblüht eine GoldeneZeitBlume; Übersetzung A. K.). Der Ausdruck Crisantempo ist eine Zusammensetzung aus crisântemo und tempo (Chrysantheme und Zeit); das griech. Etymon von crisântemo bzw. dt. Chrysantheme bedeutet goldene Blume. Die ephemere ‚Konstellation‘ ist photographisch festgehalten auf der Titelseite der Folha de São Paulo vom 20. 2. 1991; außerdem verbal im vorletzten Text („a dream that hath no bottom“) der erweiterten Fassung von Galáxias (São Paulo 1984, o. Pag.) und verbovisuell im Gedichtband Crisantempo (1998). 119 Joyce: Finnegans Wake, S. 613. 120 Übersetzung: Fiat [lux] ist gewesen! vs. Es [werde Licht] soll Gewesen werden! – Es konnte nicht ausbleiben, dass Joyce eine solche Inversion bereits vorwegnahm. Man findet sie – in leicht abweichender Form – im „Fiatfuit!“ des „babbelers“ Mutt zu Beginn von Finnegans Wake (Joyce: Finnegans Wake, S. 17).

Jadwiga Kita-Huber

„Wenn zwar ein Chaos da ist, aber darüber ein heiliger Geist, welcher schwebt“ Zur Poetik des Ereignishaften bei Jean Paul

1 Einführung Bei Jean Paul über das Ereignishafte zu sprechen, ist aus vielerlei Gründen naheliegend, wurde er doch selbst, der reale Autor Jean Paul, als ein Ereignis betrachtet, als jemand – so Schiller nach Jean Pauls Besuch in Weimar 1796 – „der aus dem Mond gefallen ist“1 oder – wie Goethe es in einem Epigramm für den Musenalmanach formulierte – als „der Chinese in Rom“2. Die hier ausgedrückte Irritation bezüglich der Person galt auch dem Werk. Goethe steht Jean Pauls Texten konsterniert gegenüber, mag sie keinem ästhetischen Programm eindeutig zuordnen und spricht ihnen im Hinblick auf die Schreibweisen gar die künstlerische Qualität ab. So schickt er den von Richter per Post erhaltenen Hesperus, für den er sich nicht einmal bedankt, an Schiller mit der Anmerkung, es handle sich um einen „Tragelaph“.3 Mit dieser Bezeichnung ist zunächst ein „literarisches Werk [gemeint], das nicht eindeutig einer bestimmten Gattung zugeordnet werden kann“.4 Im Verständnis der beiden Dichter wurde damit jedoch „ein mißgestaltetes oder groteskes Kunstwerk“ gekennzeichnet, „etwa auch ein […] Roman, dem es […] an innerer Harmonie und Ausgewogenheit seiner Teile [mangelt].“5 Ohne dass hier diesem rezeptionsästhetischen Hintergrund genauer nachgegangen werden kann, zeigen diese Reaktionen, dass Jean Pauls Werk einen Einschnitt, einen Einbruch auf dem Feld der zeitgenössischen Ästhetik bedeutete, auch wenn es zunächst nur als ‚eigenwillig‘, ‚bizarr‘ oder ‚exotisch‘ eingestuft wurde.

1 Schiller, Friedrich: Werke (Nationalausgabe), begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Liselotte Blumenthal, Benno von Wiese und Siegfried Seidel. Herausgegeben von Norbert Oellers. Weimar 1943ff., Bd. 28, S. 234 (im Folgenden zitiert als NA). 2 Goethe, Johann Wolfgang: Goethes Werke (Weimarer Ausgabe). Weimar 1887ff., Bd. I, 2, S. 132 (im Folgenden zitiert als WA). 3 NA 35, S. 218. 4 Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in acht Bänden. Mannheim 1993, Bd. 7, S. 3420. 5 Jean Paul im Urteil seiner Zeitgenossen. In: Kemp, Friedhelm / Miller, Norbert / Philipp, Georg (Hg.): Jean Paul. Werk, Leben, Wirkung. Texte. München 1963, S. 7–24, hier S. 14. DOI 10.1515/9783110541854-003

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Es ist ein Werk, das Erwartungen und Regeln der sich an der Wende zum 19. Jahrhundert formierenden Schreibästhetik unterläuft und ein anders geartetes, innovatives Programm formuliert. In seiner Studie Die Struktur der literarischen Texte (1972) bestimmt Jurij Lotman das Ereignis als „ein revolutionäres Element, das sich der geltenden Klassifizierung widersetzt“.6 Zum Ereignis können somit, wie Detlef Kremer präzisiert, „literarische Texte werden, wenn sie entweder literarische oder nichtliterarische, z. B. moralische oder politische, Normen brechen“.7 Das literarische Werk Jean Pauls erfüllt dieses Kriterium, ja, es scheint es überzuerfüllen. Seine komplexen Texte mit ihren experimentellen Schreibtechniken und -konzepten haben das Denken über Literatur, insbesondere über den Roman revolutioniert und können mit Recht als literarisch-ästhetische Ereignisse betrachtet werden.8 Und nicht nur in einer solch breiten Perspektive kann der moderne Ereignisbegriff auf Jean Paul angewandt werden. Ereignishafte Aspekte lassen sich bei ihm auch auf einer fundamentaleren Ebene, im Akt der Zeichensetzung selbst, beschreiben. Eine in der neueren Literaturtheorie formulierte Definition des Ereignisses aufgreifend, kann man sagen, dass in seinen Texten Erwartungsund Strukturunterbrechungen inszeniert und zugleich Möglichkeiten eröffnet werden, neue Strukturen und Zusammenhänge auszubilden.9 Überdies wird in seinen Romanen und Erzählungen der Erzählakt selbst zum Ereignis, etwa wenn er die erzählten Geschehnisse einander überlappen lässt und sie aus dem Text förmlich verdrängt. Auch in der Konstruktion der Romane werden permanent Strukturen und Erwartungen aufgelöst, wenn die Gegenwart des realen Autors das Romanschreiben und die erzählte Handlung unterbricht, mit einbezogen und reflektiert wird. Dabei sind die spontanen Einfälle und Unterbrechungen erzählerischer Linearität – wie wir wissen – meist sorgfältig geplant, ihre Zufälligkeit

6 Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. München 1993, S. 334. 7 Kremer, Detlef: Ereignis und Struktur. In: Brackert, Helmut / Stückrath, Jörn (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek 1995, S. 517–532, hier S. 527. 8 Zur Wirkung Jean Pauls auf seine Zeitgenossen sowie zahlreiche Autoren der Moderne und der Gegenwart vgl. Schmitz-Emans, Monika: Jean Paul und die literarische Moderne. Zur Einleitung. In: Jahrbuch der Jean Paul Gesellschaft 48/49 (2013/14), S. 1–8 sowie die dort versammelten Beiträge. 9 Vgl. Kremer: Ereignis und Struktur, S. 517. Nach Kremer lässt sich von einem Ereignis „nur relativ zu vorgängigen bzw. nachfolgenden Strukturen sprechen, es bezeichnet die Unterbrechung oder Aufhebung einer Dauer und die Möglichkeit zu neuer Strukturbildung“ (ebd.). In Stefan Scherers Formulierung handelt es sich bei textuellen Ereignissen um Inszenierungen von „Ordnungsstörungen und Grenzverletzungen im Vollzug einer Sprachbewegung, die eine seltsame Doppelung aus Irritation und Präsenz kennzeichnet“. Scherer, Stefan: Ereigniskonstruktionen als Literatur (Eichendorff, Musil, Goetz). In: Rathmann, Thomas (Hg.): Ereignis. Konzeptionen eines Begriffs in Geschichte, Kunst und Literatur. Köln / Weimar / Wien 2003, S. 63–84, hier S. 82.



Zur Poetik des Ereignishaften bei Jean Paul 

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wird nur fingiert. Auf diese Strategie zur Simulation von Ereignishaftigkeit in Jean Pauls Erzähltexten hat jüngst Navid Kermani in seiner Frankfurter PoetikVorlesung hingewiesen: Wenn ein Ereignis, ein Gedanke oder auch nur eine Unpäßlichkeit ihn ablenkte, dann erlaubte es die Form seines Romans, eben dieses Ereignis, den Gedanken oder auch nur die Unpäßlichkeit zu schildern, die ihn ablenkte. […] Hinter dem, was dem Leser wahllos erscheint, stehen präzise Entscheidungen.10

So vielfältig das intuitive Verständnis des Ereignishaften bei Jean Paul auch sein mag: in meinem Beitrag muss ich die Untersuchungsperspektive schon aus Platzgründen beschränken und lasse deshalb narratologische Fragestellungen außer Acht. Stattdessen unternehme ich den Versuch, Jean Pauls Poetik des Ereignishaften anhand seines poetologischen Programms, eines Konzepts der assoziativen Metaphern-Kombinatorik, und dessen sprachlicher Inszenierung zu rekonstruieren. Wo lassen sich in Jean Pauls Poetologie ereignishafte Momente festmachen und mit welchen Schreibtechniken wird Ereignishaftigkeit in seinen Texten konkret erzeugt?

2 Die Witztheorie als ein ereignisaffines poetologisches Programm In Jean Pauls poetologischen Texten wird der Begriff des Ereignisses im Hinblick auf poetische Strategien nicht explizit verwendet, dennoch handeln sie – so meine These – vom Erzeugen der Ereignishaftigkeit als eines Modus literarischer Textproduktion. Eine Poetik des Ereignishaften entwickelt Jean Paul insbesondere in seiner programmatischen Hauptschrift Vorschule der Ästhetik (1. Aufl. 1804), in der verschiedene Modi der Textproduktion verhandelt und gleichzeitig inszeniert werden. Dieses gleichzeitige Konzipieren und Inszenieren bzw. Präsentieren von Textverfahren ist darauf zurückzuführen, dass bei ihm kein (wesentlicher) Unterschied zwischen ästhetischer Theoriebildung und literarisch-künstlerischer Praxis besteht, weil in beiden Bereichen gleiche Techniken der Textproduktion angewandt werden. In Bezug auf meine Fragestellung heißt das, dass schon im poetologischen Programm eine ereignishafte Schreib-

10 Kermani, Navid: Über den Zufall. Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe. München 2012, S. 36.

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weise forciert wird. Als ereignisaffines ästhetisches Programm kann vor allem die berühmte Theorie des Witzes gelesen werden, in der Jean Paul den traditionellen Witzbegriff, verstanden als ein Vermögen, Ähnlichkeiten zu finden, aufgreift, ihn jedoch zu einem produktiven, innovatorischen Verfahren erweitert, mit dem die Eigenlogik literarischer Produktion herausgestellt werden kann. Damit schreibt er sich in die am Ende des 18. Jahrhunderts laufenden Prozesse der Autonomisierung der Literatur ein. Ein in vielerlei Hinsicht vergleichbares ereignisaffines Programm wird in Heinrich von Kleists ungefähr zeitgleich mit Jean Pauls Vorschule entstandenem Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (1805/06) entfaltet.11 Was beide Programme verbindet, ist die Hervorhebung unabsehbarer, ungeplanter Elemente bei der Literaturproduktion, womit beide Schriftsteller ihrer Zeit voraus sind, sowie das simultane Darstellen und Thematisieren des kreativen Prozesses, das bei beiden Schriftstellern im Detail jedoch anders realisiert wird. In § 42 des IX. Programms der Vorschule der Ästhetik wird der Witz zunächst – typisch für das 18. Jahrhundert (Gottsched, Platner, Kant) – im weiten Sinne als das Vermögen des Vergleichens, als „eine vergleichende Kraft“ (I/5, 170)12 aufgefasst, der eine spezifische, geistreich-unterhaltsame Schreibart entspricht.13 Es

11 Zum innovativen Charakter dieses Textes Kleists vgl. Landgraf, Edgar: Improvisation. Paradigma moderner Kunstproduktion und Ereignis. In: parapluie. elektronische zeitschrift für kulturen – künste – literaturen 17 (2003), S. 1f., http://parapluie.de/archiv/improvisation/kunstproduktion/ (20. April 2016). 12 Die Werke Jean Pauls werden nach der beim Hanser-Verlag erschienenen zehnbändigen Ausgabe von Norbert Miller zitiert (Jean Paul: Sämtliche Werke in 10 Bänden. Herausgegeben von Norbert Müller unter Mitarbeit von Wilhelm Schmidt. München: Lizenzausgabe 2000 für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft): ohne Sigle, die Abteilung wird in römischen, die Bandzahl in arabischen Ziffern wiedergegeben. 13 Mit dieser Definition des Witzes knüpft Jean Paul an das gängige Witz-Verständnis seiner Zeit an. Ernst Platner definiert den Witz als „Bemerkung verborgener und entfernter Ähnlichkeiten“ (Platner, Ernst: Anthropologie für Ärzte und Weltweise. Leipzig 1772, S.  278), Immanuel Kant als ein „eigentümliches Verähnlichungsvermögen“, welches „heterogene Vorstellungen [paart (assimiliert)], die oft nach dem Gesetze der Einbildungskraft (der Assoziation) weit auseinander liegen“ (Kant, Immanuel: Schriften zur Anthropologie. In: Werkausgabe in 12 Bänden. Frankfurt a. M. 1977, Bd. 12, S. 537f.). Hier handelt es sich um einen „produktiven Witz“ (ebd.). Bemerkenswerterweise wurde der Witz in diesem Sinne schon von den deutschen Aufklärern aufgefasst. So definiert z.  B. Gottsched in seiner Schrift Versuch einer kritischen Dichtkunst von 1730 den Witz als ein assoziatives Vermögen, das „Gleichnisse, verblümte Ausdrücke, Anspielungen, neue Bilder, Beschreibungen, Vergrößerungen, nachdrückliche Redensarten, Folgerungen, Schlüsse, kurz, alles das, was man Einfälle zu nennen pflegt“ hervorbringt. Vgl. Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer kritischen Dichtkunst. Leipzig 1751 (Nachdruck Darmstadt 1982), S. 351. Mit seinem Programm des „gelehrten Witzes“ als produktiver Wissensverknüpfung rekurriert Jean



Zur Poetik des Ereignishaften bei Jean Paul 

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handelt sich um „das Vergleichen überhaupt“, um ein Vermögen, das „unvermittelt“ „erfindet“, um „die Kraft zu wissen“ (I/5, 171).14 Der Witz im engeren Sinne, der als ästhetischer Witz bezeichnet wird, wird hingegen als Kraft bestimmt, die „das Verhältnis der Ähnlichkeit, d. h. teilweise Gleichheit unter größere Ungleichheit versteckt“ findet (I/5, 172). Was ihn von anderen kreativen Kräften des Menschen unterscheidet, ist seine Wirkung, die Überraschungen hervorruft (I/5, 172). Die Überraschung gehört gemäß dieser Auffassung zum Witz umso mehr, als er mit Anschaulichkeit arbeitet, womit er in die Nähe der Phantasie gebracht wird: der Witz verbindet „anschaulich“ (I/5, 172), „das witzige Verhältnis wird angeschauet“ (I/5, 172). Was der Witz hervorbringt‚ ‚das witzige Produkt‘, kann also „leichter und schneller vor das Auge springen“ (I/5, 172). Schon in dieser Auszeichnung des Witzes gegenüber anderen Verfahren wird ein ereignishaftes Moment der Witz-Theorie greifbar: das Vor-Augen-Springen, das zur Grundbedeutung des Wortes „Ereignis“ gehört. Dem Historischen Wörterbuch der Philosophie zufolge sei das Verb ‚sich ereignen‘ etymologisch auf ‚eräugnen‘ / ‚ereugnen‘ zurückzuführen und habe die Grundbedeutung ‚vor Augen stellen‘, ‚(sich) zeigen‘, ‚erscheinen‘, ‚sich offenbaren‘, ‚sichtbar werden‘, ‚in die Augen fallen‘ (‚accidere‘).15 Aus diesem Zusammenhang, der in der Witzbestimmung aktualisiert wird (‚sich ereignen‘ vs. ‚vor Augen springen‘), lässt sich noch auf einen weiteren Aspekt des Ereignishaften schließen: auf die Materialität der Zeichen, verstanden (mit Dieter Mersch) als ihre „sinnliche Präsenz“,16 die in Jean Pauls Poetik eine primäre Rolle spielt. In der Vorschule werden zwei Arten bzw. zwei Seiten des Witzes, der unbildliche und der bildliche Witz, unterschieden.17 Während der unbildliche Witz

Paul auch auf die englische Tradition, für die im 17. Jahrhundert Namen wie John Locke und Thomas Hobbes stehen. Sie definieren den Witz (engl. „wit“) – wie Andreas B. Kilcher festhält – als „Herstellung von ‚unexpected similitude‘ oder ‚suddenly dissimilitude in things that otherwise appear the same‘ […] und als ein Verfahren […], ‚by which men attain to exact and perfect knowledge‘.“ Kilcher, Andreas: Enzyklopädische Schreibweisen bei Jean Paul. In: Wiethölter, Waltraud / Berndt, Frauke / Kammer, Stephan (Hg.): Vom Weltbuch bis zum World Wide Web – Enzyklopädische Literaturen. Heidelberg 2005, S. 129–148, hier S. 138. 14 Wie es gleich in demselben Satz heißt: „daher ‚witzigen‘, daher bedeutete er sonst das ganze Genie; daher kommen in mehren Sprachen dessen Ich-Mitnamen Geist, esprit, spirit, ingeniosus.“ (I/5, 171) 15 Vgl. Art. Ereignis. In: Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel / Stuttgart 1972, Bd. 2, Sp. 608–609, hier Sp. 608. 16 Mersch, Dieter: Das Ereignis der Setzung. In: Fischer-Lichte, Erika / Horn, Christian / Warstat, Matthias (Hg.): Performativität und Ereignis. Tübingen / Basel 2002, S. 41–56, hier S. 41. 17 Die beiden Seiten des Witzes unterscheiden sich zunächst dadurch, dass beim unbildlichen Witz der Verstand und beim bildlichen die Phantasie „den überwiegenden Anteil“ hat (I/5, 182).

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als ein auf Willkür beruhendes Kombinationsspiel zu verstehen ist, das heterogene Bereiche in künstlerisch-origineller Weise miteinander vereint und nur auf sich selbst abzielt, kann der bildliche Witz als ein „Organon metaphysischer Ahnung“18 bestimmt werden, da er, so Kurt Wölfel, „dem Geheimnis der Verbundenheit von Sache und Sinn, Gestalt und Wesen nach[geht].“19 Oder wie Jean Paul es formuliert, geht es beim bildlichen Witz um eine „Zauberei von ganz anderer Art“ (I/5, 182), in der eine „unbekannte Gewalt“ wirkt, die zwei unähnliche und unvergleichbare Wesen, wie z.  B. Leib und Geist, „in ein Leben verschmelzte“ (I/5, 182).20 Der bildliche Witz vergleicht das Unvergleichliche und veranschaulicht diesen Prozess in der Metaphorik, die so zu seiner sprachlichen Realisierung wird.21 Eine solche Zusammenfügung bzw. ein solches Vergleichen zweier unvergleichlicher Sphären, der Immanenz und Transzendenz, des Innen und Außen, findet statt bzw. ereignet sich – um ein besonders augenfälliges Beispiel zu nennen – in Jean Pauls Dichtungsmetaphern, die sich der christlichen Figur des Abendmahls bedienen. Wenn die Poesie im I. Programm der Vorschule als „Brotverwandlung ins Göttliche“ (I/5, 43) definiert wird, so wird hier das verwandelnde Potential des dieser Metapher zugrunde liegenden und textuell vermittelten Ereignisses aktualisiert: das Sich-Ereignen der Transsubstantiation. Das Ereignis des Abendmahls, das als einmalig und dennoch – etwa im katholischen Verständnis – als wiederholbar betrachtet wird, wird ins Poetische verlagert. Die Poesie wird damit selbst zum Ereignis der Verwandlung. Zu ähnlichen Verschiebungen kommt es auch bei anderen poetologischen Metaphern Jean Pauls, die christliche Ereignisse wie die Inkarnation, Auferstehung, Himmelfahrt etc. affirmativ zitieren. Im fiktionalen Werk werden sie dann in der Regel depotenziert.22

18 Buschendorf, Bernhard: „Um Ernst, nicht um Spiel wird gespielt.“ Zur relativen Autonomie des Ästhetischen bei Jean Paul. In: Jahrbuch der Jean Paul Gesellschaft 35/36 (2000/2001), S. 218–237, hier S. 234. 19 Wölfel, Kurt: „Ein Echo, das sich selber in das Unendliche nachhallt“. Eine Betrachtung von Jean Pauls Poetik und Poesie. In: ders.: Jean Paul – Studien. Herausgegeben von Bernhard Buschendorf. Frankfurt a. M. 1989, S. 259–300, hier S. 286. 20 Der bildliche Witz findet, so Jean Paul in einer berühmten Definition, „mehr die ähnlichen Verhältnisse inkommensurabler (unmeßbarer) Größen, d. h. die Ähnlichkeiten zwischen Körperund Geisterwelt (z. B. Sonne und Wahrheit), mit andern Worten, die Gleichung zwischen sich und außen, mithin zwischen zwei Anschauungen.“ (I/5,172) Wir erkennen („entbinden“) „aus dem Laut den Gedanken, aus Teilen und Zügen des Gesichts Kräfte und Bewegungen eines Geistes und so überall aus äußerer Bewegung innere.“ (I/5, 182) 21 Zur Metaphorik bei Jean Paul sowie zu weiteren Aspekten seines Sprachdenkens vgl. die grundlegende Studie von Monika Schmitz-Emans: Schnupftuchsknoten oder Sternbild. Jean Pauls Ansätze zu einer Theorie der Sprache. Bonn 1986. 22 Zu den religiös inspirierten, poetologischen Metaphern bei Jean Paul vgl. Kita-Huber, Jad-



Zur Poetik des Ereignishaften bei Jean Paul 

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Noch aufschlussreicher als die christlich inspirierten Metaphern sind für meine Rekonstruktion der Jean Paul’schen Poetik des Ereignishaften die Effekte des unbildlichen (ästhetischen) Witzes, der im Bereich der sprachlichen Zeichen wirkt. So wird im Frühwerk Jean Pauls die kombinatorische Fähigkeit des Witzes als Zusammenfügung disparater, nur durch Kommata voneinander getrennter Gegenstände zu einem Bild beschrieben, wie etwa in der Satirensammlung Grönländische Prozesse: „Nun sperret der Witz ungleiche Dinge in ein Gleichnis zusammen, umzäunet stössige Bilder mit einem Komma, yanet [sic] aus dem Halse desselben Esels dissonirende Metaphern […].“ (II/1, 402f.) In der Vorschule wird dann zu einer noch raffinierteren Konstruktion gegriffen. Der Witz im engeren Sinne wird metaphorisch als „verkleidete[r] Priester“ umschrieben, der „jedes Paar kopuliert“ und sich dabei verschiedener „Trauformeln“ (I/5, 173) bedient.23 Die Funktionsweise des Witzes wird damit als performativer Akt im Sinne John L. Austins ausgewiesen, als ein Sprechakt, in dem – wie bei einer Trauung – die Sätze genau die Handlung vollziehen, von der sie sprechen.24 Die Anwendung dieser Formel, die den Witz als eine selbstreferenzielle und wirklichkeitskonstituierende (d. h. auch eine transformierende Kraft entfaltende) Handlung bestimmt,25 hat für Jean Pauls Witz-Theorie weitgehende Konsequenzen. Der Witz als eine „vielfach und […] leicht spielende Tätigkeit“ (I/5, 175) drückt nichts vorher Gegebenes aus, repräsentiert nichts, sondern bringt diejenige (sprachliche) Wirklichkeit erst hervor, auf die er sich bezieht. Um sich einer Formulierung Erika Fischer-Lichtes zu bedienen: „Sie [die Wirklichkeit] entsteht, indem die Handlung vollzogen wird.“26 Dass es sich beim ästhetischen Witz um einen performativen Akt handelt, benennt somit eine weitere Facette des Ereignishaften in Jean Pauls poetologischem Programm. Allerdings ist die Definition des Witzes als ‚kuppelnder‘ Priester doppelbödig. Denn der Priester, also die Instanz, welche die Ehe stiftet, ist verkleidet und kann so die „Kopulierung“, von der gesprochen wird, gar nicht vollziehen, wodurch die gesamte Trauzeremonie ironisiert wird. Was der Witz also erzeugt, ist trügerisch, weil der Priester unecht ist. Die Verbindung ist illegitim. Es handelt sich um „ein[en] Trug der Geschwindigkeit und der Sprache“ (I/5, 182), also um

wiga: Jean Paul und das Buch der Bücher. Zur Poetisierung biblischer Metaphern, Texte und Konzepte. Hildesheim 2015. 23 „Der ästhetische Witz, oder der Witz im engsten Sinne, der verkleidete Priester, der jedes Paar kopuliert, tut es mit verschiedenen Trauformeln.“ (I/5, 173) 24 Vgl. Austin, John Langshaw: How to do things with words. Oxford 1970. 25 Zu den Merkmalen performativer Äußerungen vgl. Fischer-Lichte, Erika: Performativität. Eine Einführung. Bielefeld 2012, S. 37f. und S. 135–145. 26 Fischer-Lichte: Performativität, S. 44.

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einen Betrug, eine Täuschung, die Erweckung eines falschen Scheins.27 Wie Bettine Menke im Anschluss an Theodor Lipps und Freuds spätere Spezifizierung des Witzes bei Jean Paul zu diesem Aspekt anmerkt: die „substantielle Erfülltheit der Kopulierung“ sei nur „der bloße Anschein“ – eine Unterstellung. Den Sätzen des Priesters (d. h. der Tätigkeit des Witzes) könne kein Sinn zukommen. Herausgestellt wird „die sprachliche Produktivität. D. i. ein performativer Exzess, Überschuss des Äußerungsereignisses über die Äußerungsbedeutung, der Exzess, der sich im explosiven Lachen manifestiert.“28 Jean Paul führt in der Vorschule verschiedene Beispiele für solche sinnfreien Zeichen-Verkoppelungen des unbildlichen Witzes an, z.  B. lexikographische Artikel und das Wortspiel, das er als „Sprach- oder Kling-Witz“ (I/5, 191) bezeichnet. Im Wortspiel, in dem es um rein sprachliche Operationen geht, werden meistens zwei unähnliche Subjekte durch ein gleichsetzendes Prädikat verbunden, „das nur von der Sprache den Schein der Gleichheit erhielt“ (I/5, 192). Durch seine optische und akustische Täuschung ähnelt es einem Vexierbild, das „klangmäßig zweien Wesen angehört“ (I/5, 192). Dennoch kommt gerade dem Wortspiel eine wichtige Funktion zu. Hier, wie z. B. in der Verbindung der Lexeme „Leere und Lehre“ oder „Liegen und Lügen“, zeigt sich die „Geistes-Freiheit“, die es erlaubt, „den Blick von der Sache zu wenden gegen ihr Zeichen hin“ (I/5, 194).29 Das Wortspiel ermöglicht also eine Hinwendung zum Text als einem „Gewebe von Signifikanten“30, während die Frage nach dem Gemeinten, nach einem den Sachen immanenten Sinn obsolet wird. „Der ästhetische Schein“, also die witzige Wirkung auf der Ebene der Zeichen, entsteht „bloß durch die taschenund wortspielerische Geschwindigkeit der Sprache“ (I/5, 174). Dies ruft Effekte hervor, ja Ereigniseffekte, die als Wirkungen ungewohnter Zeichenverkettungen zu verstehen sind. Deswegen liegen die Grenzen des Sprachspiels, und generell des ästhetischen Witzes, genau dort, wo seine Effektivität beim Lesen bzw. das Wirken der Effekte im Leseprozess aufhört (I/5, 198). Der Witz muss „fortreizen“, die „Erregung“ muss aufrechterhalten bleiben (I/5, 199), ansonsten führt er zur „Anstrengung“ und „Ermattung“ (I/5, 198) oder zum „Gedanken-Schwindel“ (I/5,

27 Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 22, Sp. 1245, http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GT13200#XGT13200 (30. Mai 2016). 28 Menke, Bettine: „Der Witz, den die Lettern und den die Löcher machen, ….“. In: Strätling, Susanne / Witte, Georg (Hg.): Sichtbarkeit der Schrift. München 2006, S. 203–215, hier S. 210. 29 Als Beispiele werden Wortspiele wie das Silbenrätsel („Charade“), das Buchstabenspiel („Anagramma“) und der „Logogryph“ („anagrammatische Charade“) genannt. Vgl. I/5, 195. 30 Barthes, Roland: Leçon / Lektion. Übersetzt von Helmut Scheffel. Frankfurt a. M. 1980, S. 25.



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197).31 In der Begrifflichkeit neuerer Performativitätstheorien würde das heißen: Der Witz muss – wie auch immer – eine transformative Kraft entfalten. Die Effekte des ästhetischen Witzes werden von Jean Paul durchgehend als ‚Sprung‘, ‚Blitz‘ oder ‚Funken‘ beschrieben. Diese Schlüsselbegriffe benennen auf der Ebene des Programms den sprachlichen Vollzug, das Sich-Ereignen der Sprache selbst, welches hier gleichzeitig – wie wir noch sehen werden – performativ in Szene gesetzt wird. Die witzige „Kraft zu wissen“ (I/5, 171) ist ein ‚Blitz‘, der keinen weiteren Sinn außer seiner eigenen Produktivität kennt. Der Witz will „nichts darstellen […] als sich selber, muß so lange neu sein, als er verschwendet“ (I/5, 198).32 Mit anderen Worten, der Witz prozediert, indem er Bilder – blitzartig bzw. sprunghaft – verbraucht. Die Verschwendung der Bilder garantiert ihm die Neuheit und – versteht man diesen Begriff epochenspezifisch – auch Originalität. Das Springen hingegen bedeutet vorerst, dass der Witz weniger als z. B. die bildliche Phantasie an die Einheit der Bilder gebunden ist. Er will nur eine „leblose Musaik [sic] geben“ und „in jedem Komma den Leser zu springen nötigen“ (I/5, 188). Sein Springen äußert sich darin, dass er beliebig viele ungleiche Gegenstände in einem Satz integriert, verbunden bzw. getrennt durch Kommata, mit denen jeweils ein Sprung markiert und vollzogen wird. Es handelt sich um ein Springen von Teil zu Teil, in dem sich etwas zwischen den Teilen (im Sprung) ereignet, ohne dass auf die Teile oder das Ganze Bezug genommen wird.33 Das Komma als ein Zeichen ohne Bedeutung und Referenz, interveniert hier – wie Menke hierzu bemerkt – „in den Zusammenhang der bedeutungstragenden Elemente […], als choreographische Notation für den reinen, gestischen Vollzug: acting, statt der psychisch erfüllten Handlung.“34 In der überraschenden, für den Leser unvorhersehbaren Verbindung von Signifikanten wird offen gelassen, ob es sich um eine Rede handelt, die etwas meint, oder um die bloße „Spielmarke

31 Jean Paul warnt vor einer „totale[n] Witz-Sündflut“ (I/5, 198). „[I]m witzigen Produkte“ soll der Geist zwar „nach allen Kompaß-Ecken [springen], aber von einem Standpunkte“. (I/5, 197) 32 Diese Eigentümlichkeit des Witzes (und des Humors) wird von Jean Paul als „Liebe zum leersten Ausgange“ (I/5, 131) bezeichnet. Vgl. Schuller, Marianne: Der Witz oder die „Liebe zum leersten Ausgange“. In: Fragmente. Schriftenreihe für Kultur-, Medien- und Psychoanalyse 46 (1994), S. 11–28. 33 Wie es anschließend heißt, kann der Witz „unter dem Vorwande einer Selbstvergleichung ohne Bedenken seine Leuchtkugeln, Glockenspiele, Schönheitswasser, Schnitzwerke, Putztische nach Belieben wechseln in einer Periode.“ (I/5, 188) In diesem Satz wird mit jedem Komma ein Sprung markiert; der Satz inszeniert das, wovon er handelt. Jean Paul begründet mit seiner Witz-Bestimmung zugleich eine Schreibweise, wie an einem längeren Textbeispiel im dritten Teil des vorliegenden Beitrags noch deutlich gezeigt wird. 34 Menke: Der Witz, S. 211.

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des Wortspieles“ (I/5, 192). Der Sinn des Witzes liegt hier vielmehr, wie Menke festhält, in der „Einsicht in die sinnfremde Produktivität der Sprache oder in die ‚Geistes-Freiheit, welche imstande ist, den Blick von der Sache zu wenden gegen ihr Zeichen hin‘.“35 Wie mein längeres Textbeispiel in Abschnitt 3 noch zeigen wird, wird gerade durch diese „Geistes-Freiheit“, in der die Frage nach dem Sinn der Rede zeitweilig aufgehoben wird, in Jean Pauls Texten Ereignishaftigkeit erzeugt. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass das ereignishafte Moment der Witztheorie auch mit Termini verdeutlicht wird, die sich auf die neu entdeckten elektrischen Vorgänge beziehen. Sie werden als Metaphern benutzt, um bestimmte produktionsästhetische Aspekte, konkret das Funktionieren des sprachlichen Witzes, zu veranschaulichen. Die Wirkungskraft des Witzes wird beschrieben als „elektrischer Schlag“ (I/5, 199), als „galvanische Säule“ (I/5, 199) oder an einer anderen Stelle – als das „Volteschlagen der Sprache“ (I/5, 179). Hier kommt Jean Pauls Faszination für die erste brauchbare Batterie, die sog. Voltasche Säule, zum Ausdruck, die um 1800 von dem italienischen Physiker Alessandro Volta erfunden wurde und im 19. Jahrhundert große Bedeutung als Stromquelle hatte. Der Witz muss in diesem Sinne gießen, nicht tröpfeln, weil er so eilig verraucht. Sein erster elektrischer Schlag ist sein stärkster; lieset man denselben Einfall wieder: er ist entladen; indes die dichterische Schönheit gleich der galvanischen Säule sich unter dem Festhalten wieder füllt. (I/5, 199)

Die hier gebrauchten Metaphern aus dem Bezugsfeld der Elektrizität bezeichnen Vorgänge, die auch eine zerstörerische, destruktive Wirkung haben, und verdeutlichen noch einmal, dass es sich beim Sprachwitz grundsätzlich um Kurzschlusseffekte handelt. Die Beschreibung des Witzes als ‚Sprung‘, ‚Blitz‘ oder eben ‚elektrischer Schlag‘ korrespondiert mit bestimmten Modi der Textproduktion, die sich in der (Zer-)Störung von gewohnten Strukturen durch unübliche Verkoppelung der Zeichen und gleichzeitig in der Herausbildung neuer Strukturen und Elemente manifestiert. Die Metaphern enthüllen etwas darüber, wie die Texte funktionieren. Heuristisch ist hier insbesondere der metaphorisch gebrauchte Begriff ‚Blitz‘ von Relevanz. Dieser übertragene Gebrauch geht auf die Verwendung des lateinischen Worts „fulguratio“ (dt. Blitz) zurück, das im späten Mittelalter von Mystikern und theistischen Philosophen für die Bezeichnung der „Plötzlichkeit einer Neuschöpfung“ geprägt wurde.36 In neuerer Theoriebildung

35 Ebd., S. 212. 36 Fischer-Lichte: Performativität, S. 75.



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wird er in die Nähe des Begriffs ‚Emergenz‘ gerückt, der „das plötzliche Auftauchen von etwas [bezeichnet], das vorher nicht gegeben war und aus den Elementen des Systems, in dem es auftaucht, auch nicht abzuleiten ist.“37 Die im Kontext des Witzes gebrauchte Metaphorik der Elektrizität macht deutlich, wie sehr Jean Paul darum bemüht war, seine Poetologie möglichst genau, d.  h. mit Hilfe der ihm zur Verfügung stehenden Terminologie aus den sich gerade entwickelnden Forschungsdisziplinen, sprachlich zu fassen.

3 Ereignishafte Schreibweisen In § 54 der Vorschule der Ästhetik über die „Notwendigkeit deutscher witzigen Kultur“ fordert Jean Paul ein freies Rochieren „mit unseren einsiedlerischen Ideen“ (I/5, 200). Deswegen werden hier die ereignishaften Momente der WitzTheorie nicht nur beschrieben, sondern auch inszeniert. Zunächst hält Jean Paul nochmals fest, dass der (Sprach-)Witz „nichts als sich [will] und ums Spiel [spielt] – jede Minute ist er fertig – seine Systeme gehen in Kommata hinein – er ist atomistisch, ohne wahre Verbindung“ (I/5, 201). Die Bedingung für diesen Witz ist die Freiheit des Geistes, die dann – durch die Vermittlung des Witzes – literarische Produktion ermöglicht. Damit ist der (Sprach-)Witz eigentlich kein Selbstzweck, sondern als Vorstufe ästhetischer Produktion bzw. Metaphernneuschöpfung selbst schon ein kreativer Akt: er eröffnet dem Subjekt den Weg zur dichterischen und philosophischen Freiheit. Im folgenden Zitat wird einerseits thematisiert, worin die Tätigkeit des Witzes besteht, und andererseits wird diese gleichzeitig performativ in Szene gesetzt: Wenn nämlich der Geist sich ganz frei gemacht hat – wenn der Kopf nicht eine tote Polterkammer, sondern ein Polterabend der Brautnacht geworden – wenn eine Gemeinschaft der Ideen herrscht wie der Weiber in Platons Republik und alle sich zeugend verbinden – wenn zwar ein Chaos da ist, aber darüber ein heiliger Geist, welcher schwebt, oder zuvor ein infusorisches, welches aber in der Nähe sehr gut gebildet ist und sich selber gut fortbildet und fortzeugt – wenn in dieser allgemeinen Auflösung, wie man sich den Jüngsten Tag außerhalb des Kopfes denkt, Sterne fallen, Menschen auferstehen und alles sich untereinandermischt, um etwas Neues zu gestalten – wenn dieser Dithyrambus des Witzes, welcher freilich nicht in einigen kargen Funken eines geschlagenen toten Kiesels, sondern im schimmernden Fort- und Überströmen einer warmen Gewitterwolke besteht, den Menschen mehr mit Licht als mit Gestalten füllt: dann ist ihm durch die allgemeine Gleichheit und Freiheit

37 Ebd.

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 Jadwiga Kita-Huber der Weg zur dichterischen und zur philosophischen Freiheit und Erfindung aufgetan, und seine Findkunst (Heuristik) wird jetzo nur durch ein schöneres Ziel bestimmt. (I/5, 202)38

Dieser hochgradig verschachtelte Satz präsentiert das Funktionieren des Witzes auf der Ebene der Zeichen als eine chaotische Aneinanderreihung heterogener, nur durch Kommata getrennter Gegenstände, die – indem sie vorübergeht – die Möglichkeit zur Herausbildung neuer Eigenschaften und Strukturen eröffnet. Es ist ein Satz, der über Ereignishaftigkeit als Modus literarischer Produktion spricht und sie gleichzeitig hervorbringt. Bei der Analyse der hier von Jean Paul angewandten und für sein Werk generell charakteristischen Schreibtechnik können die Ausführungen Dieter Merschs nützlich sein. In seinem Aufsatz Das Ereignis der Setzung spricht er von der Performativität der Zeichen als einer Dimension, die die Bewegung der Zeichen, ihr Auftreten und ihre Prozessualität erst ermöglicht. „Sie [d. h. die Performativität] nennt [sic] den Vollzug der Setzung“;39 dieser gehöre zum Leben der Zeichen genauso wie ihre Materialität.40 Wie Mersch weiter präzisiert, geschieht die Setzung des Symbolischen […] als Eingriff, als Intervention in eine Ordnung, die sie verschiebt. […] Es gibt keine Formation ohne Deformation, keine Transformation ohne Ent-Stellung. Sie enthüllen an den Objekten oder Szenarien ein ebenso Unmachbares wie Entgehendes: Erosionen, Bruchstellen oder Unpassendes und Sperriges, das nicht aufgeht, wenn verschiedene Stoffe oder Sujets geschichtet, überklebt oder zu einem Ganzen verfugt werden.41

Jedes Setzen des Zeichens basiert auf etwas zuvor Gesetztem, das dem Setzen vorausgeht und ihm seinen Platz anweist, ist immer aber auch ein neuer Anfang. Mersch spricht von einem „anfanglose[n] Anfangen“.42 Die Brüche oder Zäsuren, die im Setzen entstehen, da jedes Setzen die gegebene Ordnung unterbricht, gehören jedoch nicht zur Struktur der Zeichen. Sie bilden kein Merkmal

38 Zur Interpretation dieser Stelle in Bezug auf die Kraft des Witzes vgl. auch Rasch, Wolfdietrich: Die Erzählweise Jean Pauls. Metaphernspiele und dissonante Strukturen. München 1961, insb. S. 31–41; Wölfel: Ein Echo, insb. S. 276–282 sowie in Bezug auf die Verwendung biblischer Bilder: Kita-Huber: Jean Paul und das Buch der Bücher, S. 111–116. 39 Mersch, Dieter: Das Ereignis der Setzung. In: Fischer-Lichte, Erika / Horn, Christian / Warstat, Matthias (Hg.): Performativität und Ereignis. Tübingen / Basel 2002, S. 41–56, hier S. 48. 40 Ebd. 41 Ebd. (Wenn nicht anders angemerkt, Hervorhebungen im Original) 42 Ebd., S. 50. „[…] jedes Setzen hebt auch neu an, zieht seine unverwechselbare Spur, behauptet sein eigenes Gewicht, seine Gravitation. Sie unter-bricht die Ordnung, trägt in sie wiederum einen Chiasmus ein. Die Zeichen sind daher doppelt gekreuzt: durch einen Chiasmus der Materialität wie durch einen Chiasmus der Setzung.“ Ebd., S. 49f.



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der Bedeutung der Zeichen, sondern sind „Effekt des Ereignisses der Setzung selbst.“43 Performative Ereignisse entfalten „ihre eigene Intensität und Wirkung. Maßgeblich ist ihre Faktizität, ihr ‚Daß‘. […] ‚daß‘ (quod) etwas gesetzt wird und nicht nichts.“44 Mersch spricht von einem doppelten Ereignen, das jedem Zeichenprozess anhaftet und – wie ich denke – auch im Hinblick auf Jean Paul Gültigkeit hat: der „Ekstatik der Materialität“, also der „Singularität“ der jeweiligen „Präsenz“ der Zeichen, und dem „Moment ihrer Setzung, ihrer ‚Gegenwärtigung‘ im Sinne des Vollzugs.“45 Die Sprache erschöpft sich nicht in den Prozessen der Kommunikation oder Darstellung, sondern „[s]ie vollbringt sich als fortwährendes Ereignen.“46 Aus der Bestimmung des Ereignisses als Setzung zieht Mersch eine erkenntnistheoretische Konsequenz: Das Ereignis erweist sich als primär, die Prozeduren der Sinngebung oder „die Ordnungen des Symbolischen“ sind hingegen nachträglich.47 Primär ist also, dass etwas geschieht und nicht, was (quid) geschieht. Genau damit hatten wir es in der oben rekonstruierten Bestimmung des kombinatorischen Witzes bei Jean Paul zu tun: primär ist die sprachliche Produktivität, die Setzung der Zeichen, während der Sinn zeitweilig aufgehoben bzw. suspendiert ist. Im Witz handelt es sich primär um ein präsentisches Geschehen, das nicht schon etwas bedeutet, um einen Prozess, um ein Sich-Ereignen.48 Kehren wir nun zu dem Zitat aus § 54 der Vorschule der Ästhetik zurück, in dem Jean Pauls Programm der assoziativen Metaphern-Kombinatorik noch einmal effektvoll durch ein ereignishaftes Schreiben inszeniert wird. Wie angedeutet, veranschaulicht der lange, durch Parallelstellung gleichartiger Nebensätze rhythmisch gegliederte Satz humoristisch den destruktiv-kreativen Vorgang des Kombinierens disparater Bilder, der zur dichterischen Freiheit und Innovation führen soll. Dieser Prozess wird simultan auf der syntaktischen Ebene durch eine komplexe Satzkonstruktion unterstützt. Die mit der Konjunktion „wenn“

43 Ebd., S. 50. Bei Jean Paul werden diese Brüche als Effekte des Ereignisses der Setzung zusätzlich durch Kommata verstärkt. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 51. 46 Ebd., S. 53. „Das Ereignis setzt; erst dann ‚ist‘ etwas ge-setzt; es trennt, schneidet, und anschließend ist etwas gespalten oder ge-schnitten. Dem Gesetztsein, dem Einschnitt gehen [sic] ihr Ereignis ebenso voraus wie dem Perfekt das Präsens. D. h. sein Ereignen kommt dem Ereignis ‚als‘ Gesetztes oder Geschnittenes zuvor.“ Ebd., S. 54. 47 Vgl. Ebd., S. 55. 48 „Geschehen, im Präsens, bedeutet jedoch keineswegs schon ‚etwas‘ – dies gilt allein für Vergangenes, für Schon-Geschehenes –, sondern einen Prozeß, dessen sprachliche Form entsprechend nicht das Nomen, sondern das Verbum wäre: ‚Ereignen‘. […] Sodann zeitigt solches Ereignen Wirkungen, die aufs Medium selbst zurückschlagen und in die Zeichen, ihre unterschiedlichen Texturen und Auslegungen eingreifen.“ Ebd., S. 55.

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eingeleiteten Nebensätze steigern die Erwartung und Intensität der Aussage, die erst in dem knappen Dann-Hauptsatz aufgelöst wird, als würde der Witz hier – nach der notwendigen, spannungsgeladenen Gedankenarbeit, nach dem Springen von Bild zu Bild – etwas vollbringen und tatsächlich zum Ausklang (und zur Ruhe) finden, wobei dieser aber gleichsam eine Öffnung in Richtung dichterische Produktivität bedeutet. In solchen aus mehreren Nebensätzen und einem Nachund Hauptsatz bestehenden Satzgefügen sieht die Jean Paul-Forschung die für den Dichter charakteristische „syntaktische Vorhaltstechnik“.49 Max Kommerell erkennt darin gar eine von Jean Paul erfundene Grundform des Satzbaus.50 Aber nicht nur diese Form scheint neu und originell zu sein. Betrachtet man den langen Satz genauer, wird deutlich, dass wir es hier nicht mit einer konventionellen, den grammatischen Normen des Deutschen entsprechenden Aneinanderreihung von Nebensätzen zu tun haben. Denn das Grundgerüst des Konditionalsatzes wird (fast) aufgelöst, weil auch die Nebensätze eine erhöhte, störend wirkende Komplexitätsverdichtung aufweisen, z. B. „wenn zwar ein Chaos da ist, aber darüber ein heiliger Geist, welcher schwebt, oder zuvor ein infusorisches, welches aber in der Nähe sehr gut gebildet ist und sich selber gut fortbildet und fortzeugt“ (I/5, 202). Auf der syntaktischen Ebene wird die Ereignishaftigkeit also als eine mehrfache Unter-Brechung des Satzgefüges bzw. als eine der Zeitfügung des Ereignisses folgende Auflösung des gängigen Satzgefüges erzeugt. Der ungewohnten – unerwarteten und überraschenden – Gliederung der Sätze entsprechen unzusammenhängende Vorstellungen, was bewirkt, dass sich dem Leser der Sinn der Nebensätze wie des ganzen Satzes zunächst entzieht. Im ersten Lektüreakt ist keine Sinnbildung möglich. Mit jedem neuen Nebensatz bzw. Satzbruchstück, genauer mit jedem Komma, werden Strukturen und Erwartungen durchbrochen. Inszeniert wird ein Changieren zwischen Regel und Regelbruch, zwischen Geordnetem und Nicht-Geordnetem, in dessen Vollzug etwas Neues entsteht. Die Ereignishaftigkeit ergibt sich also aus der Setzung der Zeichen. Der komplexe Satz wird gespalten bzw. geschnitten durch Kommata, denen hier – im acting – tatsächlich eine choreographische Rolle zukommt. Mit jedem Nebensatz bzw. Satzbruchstück, d. h. mit jeder durch Kommata abgegrenzten Texteinheit, ist

49 Zur syntaktischen Vorhaltstechnik bei Jean Paul vgl. den Artikel „Jean Paul“. In: Stammler, Wolfgang (Hg.): Deutsche Philologie im Aufriss in 3 Bänden. Berlin 1957, Bd. 3, Sp. 1361–1370, hier Sp. 1363. 50 Vgl. Kommerell, Max: Jean Paul. Frankfurt a.  M. 1957, S.  35. Kommerell beschreibt diese Grundform folgendermaßen: „eine Reihe von Nebensätzen, gleichartig, das Gefühl der Häufung erweckend, mit beinah überspannter Erwartung, und dann der Hauptsatz, lösend, krönend […]. Keine logische, keine bauliche, sondern eine Ton- und Kraft-Ordnung!“ Ebd., S. 37.



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ein Vorstellungsbild verbunden, das unterschiedliche Wissensbestände aufruft. Was der Witz hier tut, ist also – um sich der Formulierung Jean Pauls zu bedienen – das ‚Verschwenden‘ der Bilder, durch welches Neuheit und Originalität garantiert werden soll. Aneinander gereiht werden dabei sehr anschauliche Bilder, die dem Leser tatsächlich leichter und schneller „vor das Auge springen“ (I/5, 172) mögen, deren Zusammenführung aber Überraschungseffekte hervorruft. Neben Bildern aus der Alltagskultur, wie z. B. dem „Polterabend der Brautnacht“, stehen Bilder aus der Genesis und der Apokalypse, die den Prozess einer allgemeinen Auflösung evozieren. Sie werden hier ironisch gebrochen und depotenziert. So wird dem schwebenden ‚heiligen‘ Geist des Schöpfungsberichts51 ein ‚infusorischer‘ Geist an die Seite gestellt, wobei ironische Bezüge auf Geist als philosophische Kategorie und Deutungs-Oberbegriff möglich sind, z. B. Anspielungen auf die Fortpflanzung, etwa wenn von der ‚zeugenden Verbindung‘ der Ideen oder eben dem sich selbst ‚fortbildenden‘ und ‚fortzeugenden‘ Geist die Rede ist. Die ereignishafte Prozessualität des Textes manifestiert sich im Springen von Bild zu Bild, von Teil zu Teil, das gleichzeitig etwas Dissonierend-Destruktives und Konstruktives hat, ähnlich den Scherben am Hochzeitsabend, die doch Glück bringen sollen. Dabei sind die Bilder trotz ihrer Heterogenität nicht ganz zufällig gewählt, denn sie bringen durch starke synästhetische Effekte die Kraft des ästhetischen Witzes buchstäblich zum Ausdruck.52 Gerade die Bilder der Apokalypse (allgemeine Auflösung, fallende Sterne, auferstehende Tote), die von gängigen Metaphern aus dem semantischen Feld des Gewitters überlagert werden (Funken, Fort- und Überströmen von Gewitterwolken), erweisen sich als besonders geeignet für die Demonstrierung der performativen Kraft des Witzes. Sie verleihen seiner ‚Tätigkeit‘ etwas Dynamisches und Explosionsartiges, aber auch etwas Zerstörerisches. Der „Dithyrambus des Witzes“ erzeugt Klang- und Lichteffekte und setzt so die sprachliche Produktivität in Gang. Im Hinblick auf die Poesie, die in der Vorschule – anders als in anderen zeitgenössischen Ästhetik-Programmen – dem Witz als „bloße[m] Spiel mit Ideen“ (I/5, 201) entgegen-

51 Bei der Bezeichnung „ein heiliger Geist“ handelt es sich um keinen direkten Bezug auf die Bibel, sondern auf eine bestimmte christliche Lesart der Bibel. Durch die assoziative Verbindung (Geist und heilig) wird eine lange Interpretationslinie aufgerufen, die bereits in der Genesis den Beweis für die Trinität sehen will. Vgl. Kita-Huber: Jean Paul und das Buch der Bücher, S. 114. 52 Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang Jean Pauls Überlegungen zur Kategorie des Zufalls, auf die er bei der Besprechung des Wortspiels eingeht. Er nennt den Zufall „eine wilde Paarung ohne Priester“ (I/5, 193) und stellt ihn dem ästhetischen Witz gegenüber, bei dem ein Priester – auch wenn nur verkleidet – noch da ist. Jean Paul zufolge gehört auch zum Zufall immer eine ‚Ursächlichkeit‘ (Kausalität) (I/5, 193). D. h., es handelt sich zwar um eine Verbindung ohne Grund, sie soll aber durch irgendetwas motiviert werden (I/5, 194).

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gesetzt wird, hat der Witz bei Jean Paul die Funktion eines Katalysators, der die künstlerische Produktion erst auslöst. Wie gesagt, wird im angeführten Satz die Wirkungskraft des Witzes nicht nur beschrieben, sondern auch mit einer Reihe von disparaten Bildern performativ in Szene gesetzt. Der Satz inszeniert, wovon er handelt, und vermittelt auf diese Weise eine Anschauung davon, was die eigentliche Kraft des Witzes ist. So trifft auf ihn die ebenso einprägsame Definition der ‚Formulierung‘ von Roland Barthes zu, welche die Literatur vor der Wissenschaft auszeichnet. Hier, in der inszenierten Rede, werden Wörter, so Barthes, „nicht mehr illusorischerweise als einfache Instrumente aufgefasst, sie werden hinausgeschleudert wie Projektionen, Explosionen, Vibrationen, Maschinerien, Reize: die Schreibweise macht aus dem Wissen ein Fest.“53 Genau mit einer solchen In-Szene-Setzung der Rede haben wir es beim besprochenen Satz aus der Vorschule zu tun. Der Satz lässt das Sich-Ereignende durch die Vorführung der nicht zueinanderpassenden Bilder direkt vor Augen treten. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird auf den sich im Augenblick entfaltenden Prozess gelenkt: auf das Setzen der Zeichen bzw. auf den Vorgang der Ideen-Verkuppelung, mit anderen Worten: auf die Funktion des Produzierens und nicht auf den Sinn, der der Zeichensetzung nachträglich ist. Die Frage, ob mit diesem Satz etwas gemeint ist, muss zunächst dahin gestellt bleiben. Man kann in Bezug auf dieses Zitat also mit Recht von einem Ereignis sprachlicher Produktivität sprechen, das Jean Paul als solches auch theoretisch bestimmt. Was sich hier ereignet, ist – um noch einmal Barthes aufzugreifen – „ganz allein die Sprache, das Abenteuer der Sprache, deren Eintreffen ohne Unterlaß gefeiert wird.“54 In seiner Theorie des Witzes und ihrer gleichzeitigen Inszenierung entfaltet Jean Paul eine Poetik des Ereignishaften, die sich in konkreten sprachlichen Operationen manifestiert und mit solchen Begriffen wie ‚Sprung‘, ‚Blitz‘, ‚elektrischer Schlag‘, ‚Reiz‘, ‚Effekte‘, ‚Zufall‘, ‚Vor-Augen-Springen‘ etc. erfasst wird. Die Ereignishaftigkeit ergibt sich aus der ungewöhnlichen Kombination von Zeichen, durch die Erwartungen und Strukturen durchbrochen und zugleich im Vollzug der sprachlichen Bewegung Möglichkeiten eröffnet werden, Neues auszubilden. Es geht nicht um das Verständnis einzelner Bilder oder um das Festhalten des Sinns des Ganzen, sondern um das Sich-Ereignen der Sprache und die damit verbundenen Effekte.

53 Barthes: Leçon / Lektion, S. 31. 54 Barthes, Roland: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: ders.: Das semiologische Abenteuer. Übersetzt von Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1988, S. 102–143, hier S. 136.



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4 Schlussbemerkung Selbstverständlich wird dem Ereignishaften, so wie es in diesem Beitrag – ausgehend vom sprunghaften Witz – rekonstruiert wurde, auch in Jean Pauls Erzähltexten Raum gegeben, insbesondere dort, wo der Witz als Schreibverfahren integriert wird. Die Praktiken der Ereigniserzeugung unterscheiden sich hier kaum von den Strategien der Vorschule, zumal die Reflexion auf die eigene Performanz bei Jean Paul durchgehend präsent ist. Allerdings wird die Ereignishaftigkeit hier nicht nur im Witz erzeugt, sondern auch durch die Störung der narrativen Linearität, etwa mittels Digressionen sowie im abrupten Wechsel von Stilen und Sprachmodi, z.  B. zwischen dem witzigen und dem empfindsamen Stil. Diese Erwartungs- und Strukturunterbrechungen wurden schon von Jean Pauls Zeitgenossen – auch denen, die ihm wohlgesonnen waren – oft als störend empfunden. Ein gutes Beispiel hierfür ist das bekannte Urteil Georg Christoph Lichtenbergs, der Jean Paul als einen genialen Gleichnisschöpfer zwar bewunderte, mit seinem sprunghaften Schreiben jedoch kaum zurecht kam. In einem Brief an Freiherrn von Benzenberg berichtet er über seine Jean Paul-Lektüre: Ein Schriftsteller wie Jean Paul ist mir noch nicht vorgekommen, unter allem was ich seit jeher gelesen habe. Eine solche Verbindung von Witz, Phantasie und Empfindung möchte auch wohl ungefähr das in der Schriftsteller-Welt sein, was die große Konjunktion dort oben am Planeten-Himmel ist. Einen allmächtigern Gleichnis-Schöpfer kenne ich gar nicht. […] Haben Sie wohl die Stelle in dem ‚Kampaner Tal‘ gelesen, wo Gione in einem Luftballon aufsteigt? Ich kann mich nicht entsinnen, daß seit langer Zeit irgend nur ein Bild einen so hinreißenden Eindruck auf mich gemacht hat. Ich muß gestehen, ich legte das Buch weg, um ihn recht lange zu behalten, denn ich fürchtete, er möchte vielleicht in der nächsten Periode durch einen vielleicht bloß witzigen Einfall gestört werden. Dieses ist, wo ich nicht sehr irre, der einzige Fehler dieses wunderbaren Schriftstellers; […] Ein Bild jagt das andere und eine Blüte erstickt die andere. Deswegen kann ich, die Wahrheit zu gestehen, nicht viel auf einmal in ihm lesen.55

Der Leser Lichtenberg muss die Lektüre des Kampaner Tals unterbrechen, da er – von einer Beschreibung beeindruckt – eine Störung durch einen witzigen Einfall fürchtet: ein plötzliches Springen zu einem anderen Gegenstand oder einen unvermittelten Wechsel des Stils. Paradoxerweise wird hier die Strukturund Erwartungsunterbrechung, die doch immer überraschend kommt (Lichtenberg weiß nicht, in welchem Moment der störende Einfall eintritt), erwartet. Gleichwohl behält sie ihr Irritationspotential. Lichtenbergs Lektürebericht bringt

55 Lichtenberg, Georg Christoph: Schriften und Briefe. Herausgegeben von Wolfgang Promies. Bd. 4: Briefe. München 1967, S. 988.

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die Erwartung des Unerwarteten und die damit verbundene Irritation eindrücklich zum Ausdruck. Die Modernität des Jean Paul’schen Textes, die sich in seiner spezifischen Ereignishaftigkeit manifestiert und vom Leser eine höhere Konzentration sowie ein Aushalten des Wechsels zwischen Augenblicksemphase und Erwartung einer Unterbrechung fordert, wird von Zeitgenossen wie Lichtenberg abgewiesen. Denn diese Ereignishaftigkeit steht nicht zuletzt im Widerspruch zu den seinerzeit geltenden ästhetischen Normen und zu den konventionellen (empfindsamen) Momenten der Jean Paul’schen Poetik, von denen seine Zeitgenossen stark angesprochen waren.

Winfried Eckel

Fragment als Ereignis Kommunikative Strategien bei Friedrich Schlegel und Roland Barthes

1 Einleitung: Textereignisse Texte, die verstanden werden und eingebettet sind in einen offenen Kommunikationsprozess, sind nicht nur Objekte, sondern immer auch Ereignisse. Unter anderem im Anschluss an den Kommunikationsbegriffs Luhmanns ist in den letzten Jahrzehnten die Doppelnatur des Textes als Ding und Ereignis genauer gefasst worden.1 Während als schriftlich fixiertes Objekt der Text der Zeit gewissermaßen entzogen ist und noch nach Jahrtausenden zum Gegenstand unserer Aufmerksamkeit werden kann, ist er als kommunikatives Ereignis an den Augenblick seiner Produktion und Rezeption gebunden und damit in gewisser Weise flüchtig. Der dem jedesmaligen Kontext geschuldete Sinn oder Nichtsinn bleibt unwiederholbar, auch wenn die Materialität der Schrift ein (sogar wiederholtes) Zurückkommen auf den Text prinzipiell auch noch nach langer Zeit möglich macht. Die irreduzible Ereignishaftigkeit des Textes als Kommunikation gilt in besonderem Maße für ästhetische Texte (Luhmann spricht hier von „Kompaktkommunikation“), bei denen nach der Einsicht Jakobsons eine Information von der Mitteilung sich gar nicht eindeutig und ein für allemal abheben lässt und die deshalb die immer wieder neue Befragung des Geschriebenen notwendig machen.2

1 Berg, Henk de: Die Ereignishaftigkeit des Textes. In: Berg, Henk de / Prangel, Matthias (Hg.): Kommunikation und Differenz. Systemtheoretische Ansätze in der Literatur- und Kunstwissenschaft. Opladen 1993, S. 32–52; Stanitzek, Georg: Was ist Kommunikation? In: Fohrmann, Jürgen / Müller, Harro (Hg.): Systemtheorie der Literatur. München 1996, S. 21–55. 2 Nach Stanitzek: Was ist Kommunikation?, S. 26, ist es für Kunstkommunikation charakteristisch, dass „die Information gleichsam ,in‘ der Mitteilung ,steckt‘, in ihr ,feststeckt‘, so daß das ganze ,kompakt‘ wird (compactilis: ,dicht gefügt‘)“. Vgl. Jakobson, Roman: Closing Statement: Linguistics and Poetics. In: Sebeok, Thomas A. (Hg.): Style in Language. Cambridge Mass. 1960, S. 350–377. Der Gedanke der Untrennbarkeit der Bedeutung von ihrem materialen Träger dient schon 1928 bei Valéry zur Kennzeichnung der Poesie im Unterschied zur Prosa: Valéry, Paul: Propos sur la poésie. In: ders.: Œuvres. Édition établie et annotée par Jean Hytier. Bd. I. Paris 1957, S. 1361–1378. DOI 10.1515/9783110541854-004

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Neben den Ideen der Flüchtigkeit und Unwiederholbarkeit verbinden sich mit dem Begriff des Ereignisses auch die des Überraschenden und Plötzlichen: Ein Ereignis in einem prononcierteren Sinn ist ein Geschehen, durch das eine Erwartung enttäuscht oder eine vertraute Struktur durchbrochen wird.3 Das Kontinuum der gleichmäßig verfließenden Zeit wird aufgesprengt, indem ein einziger Augenblick besondere Aufmerksamkeit beansprucht. Spätestens damit wird klar, dass es Ereignisse nicht ohne einen Beobachter gibt, der sie als solche wahrnimmt: Was für den einen ein Ereignis ist, muss es nicht für einen anderen sein. Wer zum ersten Mal vor ein erschütterndes Kunstwerk tritt, wird anders berührt sein als der, der dies zum wiederholten Male tut. Und mehr noch: Derselbe Beobachter, der in einem bestimmten Referenzrahmen etwas als ein Ereignis wahrnimmt, kann in einem anderen Referenzrahmen etwas anderes auf diese Weise auszeichnen:4 Die Frage nach den wichtigsten Ereignissen eines Tages wird anders beantwortet werden als die nach den wichtigsten Ereignissen eines Lebens. Der Begriff eines Ereignisses an und für sich ist also undenkbar. Untersuchungen zum Ereignischarakter sei es ästhetischer, sei es nichtästhetischer Dinge und Geschehnisse fallen, wie es Martin Seel formuliert hat, in die „Zuständigkeit weniger einer ontologischen als vielmehr einer phänomenologischen Betrachtung“.5 Statt von der Beobachterabhängigkeit oder Subjektivität von Ereignissen kann man auch kurz von ihrer Kontingenz sprechen: Ob etwas, z. B. ein Text, als ein Ereignis wahrgenommen wird, ist nicht vorhersehbar, auch wenn dieser Text womöglich als Ereignis intendiert gewesen sein sollte. Ob am Ende ein Ereignis vorliegt, d. h. der dinghafte Text einem Leser tatsächlich zum Substrat eines unerwarteten Kommunikationseffekts wird, muss sich vielmehr zeigen, und es zeigt sich indirekt und im Nachhinein dadurch, dass z. B. Handlungen oder Anschlusskommunikationen erfolgen oder der Leser sprachlos, doch mit dem Ausdruck des Betroffenseins zurückbleibt. Entgegen der in philosophischen Zusammenhängen gern bemühten Etymologie des Ereignisbegriffs (,Ereignis‘ < ,Eräugnis‘: ,das in die Augen Fallende‘)6 ist das Ereignis als ein innerpsychisches oder mentales Geschehen, wie es bei der Lektüre eines Textes vorauszusetzen ist, unmittelbar

3 Dazu eingehend Kremer, Detlef: Ereignis und Struktur. In: Brackert, Helmut / Stückrath, Jörn (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek 1995, S. 517–532. 4 Goffman, Erving: Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience. New York 1974. 5 Seel, Martin: Ereignis. Eine kleine Phänomenologie. In: Müller-Schöll, Nikolaus (Hg.): Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien. Bielefeld 2003, S. 37–47, hier S. 38. 6 Vgl. Sinn, Dieter: Ereignis. In: Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel 1972, Bd. 2, Sp. 608f.



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gerade nicht sichtbar. In die Augen fallend sind lediglich die äußerlichen Begleitumstände und Folgeerscheinungen, welche Gegenstand z. B. der Rezeptionsforschung werden können, nicht dagegen ,innere‘ Lektüreereignisse.7 Man darf sich durch die Etymologie nicht verführen lassen, diese Begleitumstände und Folgeerscheinungen mit dem Textereignis schlechthin zu identifizieren, denn es handelt sich nur um den gleichsam sichtbaren Aspekt des Ereignisses, den Modus seines äußeren Erscheinens. Gleichwohl können Rezeptionszeugnisse Rückschlüsse auch auf den mentalen Ereignischarakter eines Textes erlauben. Doch kontingent ist nicht nur das Zum-Ereignis-Werden eines Textes, kontingent ist auch die Bedeutung, die retrospektiv mit dem Ereignis verknüpft werden kann. Lässt der ereignishafte Vorfall, der gewohnte Wirklichkeitsdeutungen dementiert, den Beobachter zunächst gewissermaßen sprachlos zurück, weil er sich allen vertrauten Bedeutungen zu entziehen scheint, so kann seine vermeintliche Namenlosigkeit in der Folge umso vielfältigere Zuschreibungen entfesseln. Ob ein Ereignis z.  B. als Anfangs- oder Endpunkt einer Geschichte, als dramatische Wende in einem Verlauf oder am Ende doch nur als Vorkommnis ohne größere Bedeutung interpretiert wird, kann wiederum je nach Standpunkt und Referenzrahmen stark variieren. Gerade historische Ereignisse sind zu unterschiedlichen Zeiten immer wieder anders interpretiert worden.8 Die Literaturwissenschaft sieht sich erneut auf das Feld der Rezeptionsforschung, hier: der Rezeptionsgeschichte verwiesen, um die Bedeutungen zu erfassen, die Texten als kommunikativen Ereignissen im Laufe der Geschichte zugewachsen sind.

2 Fragmentform und Ereignisästhetik Die vorliegende Studie wählt einen anderen Weg. Wenn es im Folgenden darum geht, anhand der Fragmentsammlungen der deutschen Frühromantiker, insbesondere Friedrich Schlegels, und einiger Fragment-Bücher des französischen Autors Roland Barthes die spezifische Ereignishaftigkeit der Fragmentform zu

7 Vgl. zu dieser Problematik den Beitrag von Martin Sexl in diesem Band. 8 Damit kann sogar ein einmal zuerkannter Zäsurcharakter wieder hinfällig werden. So hat Goethe die Kanonade von Valmy zum Beginn einer welthistorischen Epoche hochstilisiert oder Hölderlin den Friedensschluss von Luneville als Anfang vom Ende der Zeit bestimmt. Heute sind diese Ereignisse nur noch den Spezialisten bekannt. Demandt weist darauf hin, dass „ein Ereignis erst durch den großen Zusammenhang, in dem es steht, historische Dignität gewinnt“ (Demandt, Alexander: Was ist ein historisches Ereignis? In: Müller-Schöll (Hg.): Ereignis, S. 63–76, hier S. 73).

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bestimmen, dann nicht auf die Weise einer Rezeptionsgeschichte oder einer empirischen Leserforschung, der bei der Beobachtung mentaler Lektüreereignisse Grenzen gesetzt sind. Vielmehr soll diese Bestimmung über die Rekonstruktion der in den genannten Fragmenttexten programmatisch verfolgten kommunikativen Strategien erfolgen, wie sie sich vor allem aus der den Texten eingeschriebenen Theorie ästhetischer Kommunikation, einer Theorie idealen Schreibens und Lesens von Fragmenten, ergeben. An die realen Lektüreereignisse kommt die Untersuchung so zwar auch nicht heran, wohl aber an die intendierten, die auf die realen einigen Einfluss haben können. Bekanntlich handelt es sich bei den von den Frühromantikern und Roland Barthes zur Veröffentlichung gebrachten ,Fragmenten‘ nicht um Texte, die aufgrund äußerer Einwirkungen nur als Bruchstücke und Überreste erhalten geblieben sind. Auch sind es keine Texte, die entgegen einer ursprünglichen Absicht aufgrund äußerer Umstände (z. B. Tod des Autors) oder innerer Schwierigkeiten unvollendet geblieben sind.9 Man hat es vielmehr mit Texten zu tun, die trotz des Umstands, dass sie durch die Publikation von den Verfassern in gewisser Weise für fertig erklärt wurden und zumindest an einigen von ihnen vor der Drucklegung ganz offenkundig ,gefeilt‘ wurde, um einen möglichst prägnanten Ausdruck zu erzielen, mit dem Anspruch auftreten, ,Fragmente‘ zu sein. Dieser für manch einen vielleicht paradoxe Anspruch wird teils durch paratextuelle Rahmungen (z.  B. Titel wie Kritische Fragmente oder Fragments d’un discours amoureux) erhoben, teils dadurch, dass die Fragmenttexte der Romantiker und Barthes’ selbstreflexiv eine explizite Theorie des Fragments enthalten, die Anweisungen formuliert, wie diese Texte verstanden werden wollen. Man kann gewiss die Frage stellen, ob die Kennzeichnung ,Fragment‘ hier am Platz ist und es sich wirklich um Fragmente handelt oder nicht vielmehr nur um fingierte Fragmente oder Fragmentsimulationen, die lediglich den Anschein des unvollständig Überlieferten oder nicht Fertiggewordenen erwecken.10 Man kann auch andere Gat-

9 Die seit dem 18. Jahrhundert begegnende Verwendung von ,Fragment‘ zur Kennzeichnung des Unvollendeten stellt im Blick auf die ursprüngliche Wortbedeutung (,fragmentum‘ = ,das Zerbrochene‘, von ,frangere‘ = ,zerbrechen‘) bereits einen metaphorischen Sprachgebrauch dar. 10 Es ist signifikant, dass einer der berühmtesten Texte, die am Anfang der Entdeckung des Fragments als Form im 18. Jahrhundert stehen, eine Fälschung ist: die Fragments of Ancient Poetry, Collected in the Highlands of Scotland, and Translated from the Gaelic or Erse Language (1760) von James Macpherson. Man kann die fingierten oder sich selbst zu Fragmenten erklärenden Fragmente zusammen mit bewusst hergestellten Auszügen aus Ganzschriften gemeinsam als zwei Arten intentionaler Fragmente von bruchstückhaft Überliefertem wie etwa den Fragmenten der Vorsokratiker und unvollendet Gebliebenem wie den Pensées de M. Pascal sur la religion, et sur quelques autres sujets, qui ont été trouvés après sa mort parmy ses papiers als zwei Arten



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tungsbezeichnungen wie Aphorismus für angemessener halten.11 Dennoch ist das Selbstverständnis der Texte wichtig und Teil ihrer Kommunikationsstrategie. Die Selbstkennzeichnung als Fragment zielt auf einen bei Schlegel und Barthes unterschiedlich zu bestimmenden kommunikativen Effekt. Neben der gattungstheoretischen Selbstverortung gehört zu den von den Fragmenttexten Schlegels und Barthes’ verfolgten Kommunikationsstrategien noch ein Zweites: die Betonung ihres eigenen Ereignischarakters. Das wurde in der Forschung bislang nur unzureichend gesehen. Dabei ist es auffällig, wie sehr die auf das eigene Schreiben bezogenen ästhetischen Reflexionen beider Autoren von einer Gegenwartsemphase und einer Semantik der Plötzlichkeit durchzogen sind.12 Statt einer auf Zukunft gerichteten Geschichtsphilosophie, insbesondere einer geschichtsteleologischen Funktionalisierung des Ästhetischen, wie sie im Falle Schlegels und Barthes’ das Denken vieler Zeitgenossen prägte (Schiller, Pariser Mai), findet sich bei beiden Autoren immer wieder die Feier des intensiven ästhetischen Augenblicks als eines Ereignisses, das nicht über sich selbst hinausweist.13 Die Intransitivität oder Autonomie des Ästhetischen gründet bei beiden

nicht-intentionaler Fragmente unterscheiden. Vgl. Montandon, Alain: De différentes sortes de fragment. In: Camion, Arlette et al. (Hg.): Über das Fragment / Du fragment. Heidelberg 1999, S. 1–12; Fetscher, Justus: Fragment. In: Barck, Karlheinz et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Stuttgart / Weimar 2001, Bd. 2, S. 551–588; Ostermann, Eberhard: Das Fragment. Geschichte einer ästhetischen Idee. München 1991. 11 Dies ist eine vorherrschende Tendenz seit der Studie von Mautner, Franz: Der Aphorismus als literarische Gattung. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 27 (1933), S.  132–175. Vgl. z.  B. Neumann, Gerhard: Ideenparadiese. Aphoristik bei Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe. München 1976. ,Aphorismus‘ fungiert hier als Oberbegriff für eine ganze Reihe von Prosakurzformen. Einen Einspruch formuliert Behler, Ernst: Das Fragment. In: Weissenberger, Klaus (Hg.): Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa. Tübingen 1985, S. 125–143. Behler plädiert dafür, „die betreffenden Texte unter dem Namen zu verstehen, den ihnen ihre Autoren gegeben haben: Maxime als Maxime, Sentenz als Sentenz, Anekdote als Anekdote, Aphorismus als Aphorismus und Fragment als Fragment.“ (S. 134) 12 Vgl. dazu grundsätzlich Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a. M. 1981; ders.: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit. Frankfurt a. M. 1994. In beiden Büchern spielen die Fragmenttexte Schlegels und Barthes’ keine besondere Rolle. 13 Bohrer hat einen solchen Paradigmenwechsel an Friedrich Schlegels Rede über die Mythologie aus dem Gespräch über die Poesie (1800) festgemacht. Aber es lässt sich zeigen, dass der Wechsel von der Zukunftsausrichtung auf ein Bewusstsein erfüllter Jetztzeit bereits – und radikaler noch – in den Lyceums- (1797) und Athenäums-Fragmenten (1798) vollzogen ist und dass auf seine Weise Roland Barthes ihn im 20. Jahrhundert noch einmal wiederholt. Vgl. Bohrer, Karl Heinz: Friedrich Schlegels Rede über die Mythologie. In: ders. (Hg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Frankfurt a. M. 1983, S. 52–82.

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Autoren wesentlich in dieser Ereignishaftigkeit. Man kann in beiden Fällen von einer dezidierten Ereignisästhetik sprechen, die bei Schlegel vor allem um den Begriff des „Witzes“ und „witzigen Einfalls“ zentriert ist,14 bei Barthes dagegen um das Konzept der durch den Text unvorhersehbar produzierten „jouissance“ (Textlust).15 Während der Witz das Entlegene zu überraschenden Synthesen bringt, soll es zur Erfahrung der jouissance dort kommen, wo der Leser auf unerwartete Brüche, Kollisionen von Codes oder auch Neues stößt. Resultiert die eine Erfahrung aus der punktuellen Wahrnehmung von Identität, so die andere aus der von Differenz. Als „Prinzip und Organ der Universalphilosophie“ gilt Schlegel der Witz, weil ihn das „Kombinatorische des Gedankens“ auszeichnet (KA II, 200; A 220); für Barthes dagegen steht fest: „le sujet accède à la jouissance par la cohabitation des langages, qui travaillent côte à côte: le texte de plaisir c’est Babel heureuse“ (OC IV, 219). Witz und jouissance gemeinsam ist der Charakter der Plötzlichkeit: Für Schlegel ist der Witz eine „Explosion von gebundnem Geist“ (KA II, 158; L 90), der „äußre Blitz der Fantasie“ (KA II, 258; I 26); Barthes seinerseits betont die „imprévision de la jouissance“ (OC IV, 220), „Le texte […] n’est pas isotope: les bords, la faille, sont imprévisibles“ (OC IV, 241). Gemeinsam ist Witz und ­jouissance schließlich auch, dass sie als Selbstzweck begriffen werden: „Witz ist Zweck an sich“ (KA II, 154; L 59), schreibt Schlegel; und über die „Textes de jouissance“ heißt es bei Barthes: „Ils sont pervers en ceci qu’ils sont hors toute finalité imaginable […]. Le texte de jouissance est absolument intransitif.“ (OC IV, 251) Martin Seel hat argumentiert, dass Kunstwerke generell „Ereignis-Objekte“ sind, die speziell zum Zweck der Ereignisproduktion hergestellt werden.16 Die Fragmenttexte Schlegels und Barthes zeichnen sich dadurch aus, dass sie sowohl über ihren Objektstatus als auch über ihren Ereignischarakter sogar eigene Theorien enthalten. Sie interpretieren sich hinsichtlich ihrer Objektnatur als Fragmente und damit – in welcher genaueren Bedeutung auch immer – als unvollständig,

14 Die Fundierung der Ereignisästhetik in einer Theorie des Witzes erinnert an Jean Paul. Vgl. dazu die Studie von Jadwiga Kita-Huber in diesem Band. 15 Zitatnachweise im laufenden Text folgen den nachstehenden Ausgaben: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. München / Paderborn / Wien 1959ff., zitiert mit der Sigle KA sowie Band- und Seitenzahl, ggf. auch der Nummer des Fragments unter Verwendung der Siglen L (= LyceumsFragment), A (= Athenäums-Fragment), I (= Ideen); Barthes, Roland: Œuvres complètes. Nouvelle édition revue, corrigée et présentée par Éric Marty. Paris 2002, zitiert mit der Sigle OC sowie Band- und Seitenzahl. Falls nicht anders gekennzeichnet, stammen Hervorhebungen in den Zitaten aus den Originaltexten. 16 Seel: Ereignis, S. 45. Vgl. ders.: Ästhetik des Erscheinens. München / Wien 2000, S. 98ff.



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ohne durchgängigen Zusammenhang und defizitär gegenüber einem Begriff von Ganzheit. Und sie geben mit den Stichwörtern „Witz“ und „jouissance“ Hinweise darauf, in welcher Weise sie selbst zum Ereignis werden wollen, obwohl es zum Begriff des Ereignisses gehört, in gewisser Weise unvorhersehbar zu sein. Diese scheinbare Paradoxie erklärt sich dadurch, dass Ereignisse auch und gerade als unvorhersehbare eines Beobachters mit einem bestimmten Referenzrahmen bedürfen, damit sie als solche wahrgenommen werden können. Hinweise auf das Vorkommen witziger Gedankenkombinationen oder lustvoller Brüche und Widersprüche können dabei die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass eine entsprechende Wahrnehmung erfolgt.17 Prinzipiell ist ja nicht ausgeschlossen, dass die Fragmenttexte Schlegels oder Barthes’, statt als witzig oder lustvoll, nur als langweilig empfunden werden.18 Die textimmanenten Theorien über Witz und jouissance aber können sensibilisieren und die Bereitschaft erhöhen, die Texte im gewünschten Sinne zu lesen. Sie tragen somit zur Ereignisproduktion bei. Sie vermindern die Kontingenz, die darin besteht, dass Texte uns, wenn überhaupt, auf sehr unterschiedliche Weise zum Ereignis werden können und wir mit diesen Ereignissen sehr unterschiedliche Bedeutungen verbinden können. Sie liefern den Referenzrahmen gleich mit, in dem die Texte selbst gesehen werden wollen.19

3 Teil und Ganzes: Zur Programmatik des Fragments Das zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit auch an der Funktion und Bedeutung, die in den textimmanenten Theorien ästhetischer Kommunikation unserer Autoren der Form des Fragments zugeschrieben werden. Diese Zuschreibungen

17 Das zeigt sich bereits an der gewöhnlichen Praxis, einen Witz zu erzählen, die in der Regel nicht ohne eine Ankündigung auskommt („Kennst Du den?“). Die Erwartung des Erwartungsbruchs nimmt diesem dabei nichts von seinem Überraschungsmoment, seiner Lachen erregenden Plötzlichkeit gemäß Kants berühmter Definition in § 54 der Kritik der Urteilskraft: „Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts.“ (Kant, Immanuel: Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983, Bd. V, S. 437) Die Überraschungserwartung stellt vielmehr sicher, dass die Pointe mit der nötigen Aufmerksamkeit realisiert wird und nicht untergeht. 18 Gemessen an vielen Lektüreerwartungen ist dies sogar wahrscheinlich. Vgl. Barthes: „L’ennui n’est pas loin de la jouissance: il est la jouissance vue des rives du plaisir“ (OC IV, 234). 19 Vgl. Friedrich Schlegel: „Jedes Kunstwerk bringt d[en] Rahm[en] mit auf die Welt, muß die Kunst merken lassen“ (KA XVI, 92; Nr. 80).

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sind der Ort, an dem zugleich die programmatischen Unterschiede im Gebrauch der Fragmentform zwischen Schlegel und Barthes deutlicher zu Tage treten. Diese haben vor allem mit der Bestimmung des Fragments gegenüber der Idee der Totalität oder des Ganzen zu tun. Schlegel nimmt hier anders als Barthes eine im Grundsatz durchaus positive Relationierung der Begriffe vor. Zwar motiviert er einerseits die Notwendigkeit des Fragmentgebrauchs aus der Tatsache, dass ein unmittelbarer Zugriff auf das Ganze nicht oder unter den Bedingungen der Moderne nicht mehr möglich ist, andererseits aber versteht er das Fragment als ein Medium, das zumindest indirekt eine Ahnung des Ganzen möglich macht. So erscheinen seine eigenen Fragmentsammlungen als ein „bunter Haufen von Einfällen, die nur vom Geiste eines Geistes belebt, nach Einem Ziele zielen“ (KA II, 159; L 103). Eine Vorwegnahme des Ganzen aber ist möglich, weil im Horizont der idealistisch-romantischen Generation um 1800 eine letztlich harmonische Beziehung zwischen Teil und Ganzem, Vielheit und Einheit vorausgesetzt ist: „Alle π [poetischen] Fragm.[ente] müssen irgendwo Theile eines Ganzen sein“ (KA XVI, 154; Nr. 808), notiert Schlegel einmal. Und in seiner Jenaer Vorlesung zur Transzendentalphilosophie 1800/01 heißt es: Nur „das ist wirklich, was sich aufs Ganze bezieht“ (KA XII, 78).20 Barthes dagegen betont sehr viel stärker das antithetische Verhältnis zwischen Teil und Ganzem und benutzt das Fragment, um im Gegenteil etablierte Vorstellungen von Ganzheit kritisch in Frage zu stellen oder zu destruieren. Wenn nicht die Idee der Totalität schlechthin, so steht doch jede konkrete Behauptung eines Totums für ihn im Verdacht, ideologischer Natur, weil interessengeleitet zu sein. Das Ganze erscheint gegenüber dem Teil weniger als integrativ denn vielmehr, gleichfalls generations- oder zeittypisch, als repressiv. In dem intellektuellen Selbstporträt in Fragmenten, das der Autor 1975 unter dem Titel Roland Barthes par Roland Barthes vorgelegt hat, heißt es über seine schon früh ausgeprägte Vorliebe für die Fragmentform: „Son premier texte ou à peu près (1942) est fait de fragments; ce choix est alors justifié à la manière gidienne ,parce que l’incohérence est préférable à l’ordre qui déforme‘.“ (OC IV, 670)21 Jede umfas-

20 Bei Schlegel wie bei den Frühromantikern insgesamt „steht auch und gerade das Fragment im Dienst einer neuen Totalität“, wie Frank feststellt. Frank, Manfred: Das „fragmentarische Universum“ der Romantik. In: Dällenbach, Lucien / Hart Nibbrig, Christiaan L. (Hg.): Fragment und Totalität. Frankfurt a. M. 1984, S. 212–224, hier S. 222. 21 Bei dem frühen Text, auf den hier angespielt wird, handelt es sich um die Notes sur André Gide et son ,Journal‘ (OC I, 33–46). Der kurze Vorspann dieser Aufzeichnungen spricht von „la crainte d’enclore Gide dans un système“ und der dadurch motivierten Entscheidung für die Publikation loser Notizen: „il vaut mieux les donner telles quelles, et ne pas chercher à masquer leur discontinu“ (OC I, 33).



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sende Ordnung, jedes Ganze läuft Barthes zufolge Gefahr, den eingeschlossenen Teilen Gewalt anzutun. Ob es sich dabei um das Ganze der Welt, das des Subjekts oder eines bestimmten Dinges (wie etwa eines Textes) handelt, bleibt nachrangig: „Das Ganze ist das Unwahre“, diesem Satz Adornos aus den Minima Moralia (1951)22 hätte Barthes vermutlich ebenso zugestimmt, wie Schlegel jenem Gegen-Satz Hegels aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes (1807), auf den Adorno sich bezieht: „Das Wahre ist das Ganze“.23 Diesen sehr unterschiedlichen, in vielem sogar diametral entgegengesetzten Bestimmungen der Teil/Ganzes-Relation entsprechen nun unmittelbar ganz unterschiedliche Verwendungsweisen der literarischen Fragmentform. Dabei zielt der Gebrauch dieser Form bei Schlegel wie bei Barthes auf kommunikative Effekte, die im Lichte der oben entwickelten Überlegungen als ,Ereignisse‘ angesprochen werden können: In beiden Fällen geht es, unter unterschiedlichen Voraussetzungen, um das überraschende Aufbrechen vertrauter Strukturen und die Wahrnehmung von Neuem. Es geht bei Schlegel um das plötzliche Erkennen großer Zusammenhänge für einen Leser, der vielleicht eben noch mit seiner ganzen Aufmerksamkeit an einem präzise beschriebenen Detail hing, nun aber durch eine witzige Gedankenkombination seines Autors auf etwas ganz anderes, scheinbar Entlegenes verwiesen wird, so dass ihm die Wahrnehmung einer Identität im Differenten gelingt – mit dem Effekt, dass womöglich auch eine flüchtige Ahnung von Totalität als der Einheit von Einheit und Vielheit sich

22 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In: ders.: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1997, Bd. 4, S. 55. 23 Hegel, G. W. F.: Phänomenologie des Geistes. In: ders.: Werke in zwanzig Bänden. Herausgegeben von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt 1970, Bd. 3, S. 24. Der Annahme, dass das Ganze innerhalb des Begriffskontinuums eines regelrechten philosophischen Systems darstellbar ist, hat Schlegel allerdings widersprochen. Scharf polemisiert er gegen die „systematische Form“, die er „schlechthin verwerflich“ findet, da sie „auf den Grundfehler aller φσ [Philosophie] zurückführt, nämlich das fixirte ον – die beharrende Endlichkeit“ (KA XIX, 76f.; Nr. 346). Gleichwohl hat Schlegel in Bezug auf sein eigenes Denken an dem Anspruch auf Systematizität festgehalten: „Meine φ [Philosophie] ist ein System von Fragmenten und eine Progreß.[ion] von Projekten.“ (KA XVIII, 100; Nr. 857). Den Systemgedanken gibt er nicht auf, aber er versucht, das System als offen und dynamisch zu denken. Auf die Notwendigkeit eines paradoxen Ausgleichs zwischen den Forderungen des Einzelnen und des Ganzen deutet auch A 53: „Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden.“ (KA II, 173) Novalis spricht in Bezug auf diese Verbindung von „Systemlosigkeit, in ein System gebracht“ (Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe. Herausgegeben von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. München / Wien 1978, Bd. II, S. 200).

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einstellt.24 Und es geht bei Barthes, ganz im Gegenteil, darum, dass durch das überraschende Gewahrwerden von Brüchen, Widersprüchen oder Inkonsistenzen, wie sie unmittelbar durch das Aufeinandertreffen zweier Fragmente innerhalb eines Fragmentbuchs, aber auch durch weitergehende Fragmentierungen unter- und oberhalb dieser Ebene im Mikrobereich eines Einzelfragments oder im Makrobereich des Barthes’schen Gesamtwerks produziert werden, einem Leser die Unhaltbarkeit bestimmter landläufiger Ganzheitskonstrukte, z. B. in Gestalt eines Begriffs persönlicher Identität oder einer in sich geschlossenen Geschichte, schlagartig zu Bewusstsein kommt. Man kann in Bezug auf die kommunikative Funktion der Fragmentform bei Schlegel und Barthes also von einer durchaus unterschiedlichen, teils sogar gegensätzlichen Programmatik sprechen. Beide Male geht es um den ereignishaften Bruch mit Erwartungen – das eine Mal aber zum Zweck überraschender Verknüpfungen und Brückenschläge, das andere Mal dagegen in der Absicht, allzu geläufig gewordene Verbindungen, erstarrte Vorstellungen von Einheit und Ganzheit zu zerstören.

4 Kommunikation in Fragmenten I: Schlegel Sofern das Fragment als Medium der Produktion bzw. Destruktion von Zusammenhängen verwendet wird, adressieren die Fragmenttexte Schlegels und Barthes’ durchaus unterschiedliche Idealleser. Die an der Inszenierung lustvoller Brüche interessierten Bücher Barthes’ verlangen einen Leser, der zumindest ein Stück weit jenen ideologischen Ganzheitsvorstellungen anhängt, die es kritisch zu unterlaufen gilt, der aber zugleich die Infragestellung dieser Vorstellungen als Lust und Befreiung erfährt. Dagegen setzen die Fragmentsammlungen Schlegels auf einen Leser, der im Blick auf eine positive Idee von Ganzheit nicht nur die in einzelnen Fragmenten fixierten witzigen Verknüpfungen nachvollzieht, sondern das darüber hinaus zwischen den Fragmenten bestehende Verknüpfungspotential selbsttätig entfaltet und vielleicht sogar erweitert, um die Ahnung eines universalen Zusammenhangs zu ermöglichen. Es ist bemerkenswert, wie sehr die Fragmentsammlungen Schlegels (wie übrigens auch Novalis’ Blüthenstaub-Fragmente, 1798) sich selbst als lebendige

24 Der Begriff der Totalität oder Ganzheit entspricht dem der Allheit in Kants Kategorientafel. In dieser figurieren als Kategorien der Quantität die Kategorien ,Einheit‘ – ,Vielheit‘ – ,Allheit‘. Die dritte Kategorie ergibt sich aus der Synthese der beiden ersten. Kant: Werke in sechs Bänden, Bd. II, S. 118 (Kritik der reinen Vernunft, B 106).



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Kommunikation mit dem Leser verstehen. Statt als fertiges Artefakt, begreifen sie sich als unvollkommen, ergänzungsbedürftig, vorläufig und als Anreiz zu einer eigenen Produktivität des Lesers, der die Vorgaben des Textes aufgreift, erwidert, fortführt usw. Der synthetische Schriftsteller konstruiert und schafft sich einen Leser, wie er sein soll; er denkt sich denselben nicht ruhend und tot, sondern lebendig und entgegenwirkend. Er läßt das, was er erfunden hat, vor seinen Augen stufenweise werden, oder er lockt ihn es selbst zu erfinden. Er will keine bestimmte Wirkung auf ihn machen, sondern er tritt mit ihm in das heilige Verhältnis der innigsten Symphilosophie oder Sympoesie. (KA II, 162; L 112)

Der synthetische Schriftsteller ist für Schlegel derjenige, der sich im Unterschied zum analytischen in seiner Mitteilung wirkungsvoll zu beschränken weiß, der nicht „alles sagen mag, was er weiß“, sondern einiges, vielleicht sogar das Entscheidende, „für sich behält“, um es vom Leser erraten zu lassen oder den Leser zur Selbsttätigkeit zur bewegen (KA II, 151; L 37). Er versteht sich auf die Kunst der Zurückhaltung und vorsichtigen Andeutung, weil er weiß, dass beim Schreiben von Fragmenten wie in der Poesie „wohl alles Ganze halb, und alles Halbe doch eigentlich ganz sein“ mag (KA II, 148; L 14). Er lässt durch die Art seines Schreibens den Leser in gewisser Weise zum Ko-Autor werden.25 Zu der Vorstellung der Fragmentsammlung als Gesprächsangebot an den Leser, das dieser zu beantworten oder zu ergänzen hat, passt die andere Vorstellung, wonach überhaupt ein jedes Gespräch die verschiedenen Gesprächsbeiträge als Fragmente in sich integriert: „Ein Dialog ist eine Kette, oder ein Kranz von Fragmenten“ (KA II, 176; A 77). Im Bild der Kette oder des Kranzes erscheint das Gespräch selbst als ein offenes oder geschlossenes Ganzes, die einzelnen Beiträge dagegen als bloße Glieder oder Zweige – auch wenn vielleicht die Beiträge selbst mit dem Anspruch auftreten mögen, ein Ganzes zu sein oder das Ganze, die Totalität des Seienden, zu erfassen: „Auch das größte System ist doch nur ein Fragment“, notiert Schlegel einmal (KA XVI, 163; Nr. 930). Er gibt auf diese Weise der Überzeugung Ausdruck, dass sich das Ganze im Sinne der Totalität einem einzelnen Bewusstsein notwendig entzieht. Die Konjunktur der Fragmentform ebenso wie der Form des Gesprächs bei den Romantikern reflektiert diese Tran-

25 Vgl. die Forderung des Novalis: „Der wahre Leser muß der erweiterte Autor seyn“ aus den Vermischten Bemerkungen, die der Blüthenstaub-Sammlung von 1798 zugrunde lagen. Der Idee des produktiven Lesers korrespondiert die Metaphorik von Samen und Blütenstaub, die die Sammlung durchzieht: „Fragmente dieser Art sind litterarische Sämereyen. Es mag freylich manches taube Körnchen darunter seyn: indessen, wenn nur einiges aufgeht!“ (Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. II, S. 282 und 285).

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szendenz von Totalität. Totalität mutiert, in den Worten Manfred Franks, „von einer konstitutiven zu einer regulativen Idee“.26 Die Konvergenz von Fragment- und Gesprächsform bei Schlegel weist darauf hin, dass für seine Fragmenttexte gerade ihr auf den Augenblick berechneter Ereignischarakter von Bedeutung ist. Sogar von ihrem Objektcharakter her, in ihrer konkreten Materialität, scheinen sie diesen Anspruch auf Ereignishaftigkeit zu unterstreichen, sofern die Fragmente durch ihre Kürze (die längsten sind kaum mehr als eine halbe Seite lang) und ihre Diskontinuität (Leerzeilen trennen die thematisch zumindest unmittelbar unverbundenen Einträge) alle die Plötzlichkeit eines „Einfalls“ suggerieren.27 Ist der Einfall schon per se ereignishaft, weil er ein Kontinuum unterbricht, gilt dies erst recht für den „witzigen Einfall“, der unvermutete Ähnlichkeiten unter scheinbar voneinander Entferntem entdeckt.28 Diese Ereignishaftigkeit reflektiert etwa das folgende Fragment mit einem Bild aus dem Bereich des Sozialen: „Manche witzige Einfälle sind wie das überraschende Wiedersehen zwei befreundeter Gedanken nach einer langen Trennung“ (KA II, 171; A 37). Dieses Fragment ist selbst ein ,witziger Einfall‘, nicht nur die Beschreibung eines solchen, da es den Gedanken des witzigen Einfalls im Sinne der überraschenden Gedankenkombination auf eine selber überraschende Weise zusammenbringt mit dem Gedanken eines unerwarteten Wiedersehens zweier Freunde. Zugleich behauptet es im Bild der Freunde, dass die so scheinbar unvermittelt zusammengebrachten Bereiche der Intellektualität und der lebensweltlichen Erfahrung, des Denkstils und der Vertrauensverhältnisse, eine wechselseitige Affinität zueinander unterhalten und ihre Trennung schmerzlich sein kann. Sofern der Witz aus den konventionell getrennten Bereichen ein Merkmal herauslöst, um an ihm eine punktuelle Übereinstimmung aufzuzeigen, erweist er sich als ein synthetisches und analytisches Vermögen zugleich. Angeregt durch die ostentativ ,witzigen‘ unter den Fragmenten und explizit aufgefordert durch das Konzept der Symphilosophie und Sympoesie, mag der Leser die Fragmenttexte Schlegels auf weitere witzige Verknüpfungen zwischen

26 Frank: Das „fragmentarische Universum“ der Romantik, S. 216. 27 Der Begriff „Einfall“ bzw. „Einfälle“ gehört mit insgesamt 15 Belegen zu den wichtigsten Selbstkennzeichnungen der Lyceums- und Athenäums-Fragmente. Über Fragmente notiert Schlegel einmal: „sie kommen einem“ (KA XVI, 165; Nr. 953). 28 Belege für „witziger Einfall“: L 22, 34, 96; A 29, 37. Zur Konzeption des Witzes bei Schlegel vgl. Neumann: Ideenparadiese, S. 452–468; Hecken, Thomas: Witz als Metapher. Der Witz-Begriff in der Poetik und Literaturkritik des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2005, S. 143–149. Behler ist der Auffassung, dass die „Theorie des Witzes die geistige Grundlage für Schlegels fragmentarisches Schreiben bildete“, auch wenn sie bei weitem nicht die Prominenz seiner Ironietheorie erlangt habe (Behler: Das Fragment, S. 138f.).



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unterschiedlichen Wissens- und Erfahrungsbereichen hin beobachten. Er mag auch selbst solche Verknüpfungen herstellen, indem er verstreute Fragmente aufeinander bezieht oder gar, nach dem Vorbild der an den Athenäums-Fragmenten beteiligten Schlegelfreunde,29 „witzige Einfälle“ aus eigener Feder hinzufügt.30 In jedem Fall sind die Synthesen des Witzes ereignishaft. In ihnen soll eine Einheit aufblitzen, die als pars pro toto die Einheit im Unendlichen, also Totalität, ahnen lassen soll. Der Witz gewinnt damit einen epiphanen Charakter:31 Ist aller Witz Prinzip und Organ der Universalphilosophie, und alle Philosophie nichts andres als der Geist der Universalität, die Wissenschaft aller sich ewig mischenden und wieder trennenden Wissenschaften, eine logische Chemie: so ist der Wert und die Würde jenes absoluten, enthusiastischen, durch und durch materialen Witzes, worin Baco und Leibniz, die Häupter der scholastischen Prosa, jener einer der ersten, dieser einer der größten Virtuosen war, unendlich. Die wichtigsten wissenschaftlichen Entdeckungen sind bonmots der Gattung. Das sind sie durch die überraschende Zufälligkeit ihrer Entstehung, durch das Kombinatorische des Gedankens, und durch das Barocke des hingeworfenen Ausdrucks. Doch sind sie dem Gehalt nach freilich weit mehr als die sich in Nichts auflösende Erwartung des rein poetischen Witzes. Die besten sind echappées de vue ins Unendliche. (KA II, 200; A 220)

Gegenüber der Erfahrung der seit der Aufklärung verstärkt sich ausdifferenzierenden Wissensdiskurse und eines immer deutlicheren Auseinandertretens von Expertenkultur und Lebenswelt insistiert der Witz auf der Wahrnehmung von

29 Gegenüber den 1797 im Lyceum erschienenen Kritischen Fragmenten und den 1800 im dritten Band des Athenäum publizierten Ideen, zeichnen sich die 451 Fragmente, die 1798 im ersten Band des Athenäum erschienen, dadurch aus, dass sie nicht allein von Friedrich Schlegel, sondern zu insgesamt mehr als einem Viertel auch von seinem Bruder August Wilhelm (89), Schleiermacher (29) sowie Novalis (13) stammen. Die Ideen der Symphilosophie oder Sympoesie und eines Gesprächs in Fragmenten sind hier noch einmal anders zu fassen. 30 Diese Möglichkeit erscheint eingeschränkt durch A 264: „Man soll nicht mit allen symphilosophieren wollen, sondern nur mit denen die à la hauteur sind.“ (KA II, 210) Schlegels exklusivelitärer Zug kontrastiert mit der radikalen Parole Lautréamonts, die später für die an die Romantik anknüpfenden Surrealisten verbindlich wird: „La poésie doit être faite par tous. Non par un.“ Ducasse, Isidore (Comte de Lautréamont): Œuvres complètes. Édition d’Hubert Juin. Paris 1973, S. 311. 31 Nicht zufällig werden mit den Metaphern von Blitz und Donner traditionell göttliche Attribute zu seiner Kennzeichnung verwendet. Im „witzigen Einfall“ soll die elektrisierte Einbildungskraft aus sich „blitzende Funken und leuchtende Strahlen, oder schmetternde Schläge“ entlassen können (KA II, 150; L 34). Die Ideen formulieren den Bezug zum Göttlichen noch deutlicher: „Witz ist die Erscheinung, der äußere Blitz der Fantasie. Daher seine Göttlichkeit, und das Witzähnliche der Mystik“ (KA II, 258; I 26). Im Begriff der „Erscheinung“ klingt der der Epiphanie hier mit an.

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Ähnlichkeiten zwischen dem Auseinanderstrebenden.32 Dass er selbst, zumindest in der von Schlegel kultivierten Form, nur innerhalb eines Spezialdiskurses möglich wird, gehört aus einer soziologischen Perspektive zu den Aporien des frühromantischen Ansatzes.

5 Kommunikation in Fragmenten II: Barthes Barthes’ Werk zeigt keinerlei Spuren einer expliziten Auseinandersetzung mit Friedrich Schlegel.33 Doch wie der Frühromantiker nutzt auch Barthes den Objektcharakter des Fragments, seine durch die Kürze und Abgegrenztheit bedingte dinghafte Kompaktheit, zur gezielten Ereignisproduktion. Auch ihm geht es um eine Textgestaltung, die auf Seiten des Lesers ein hohes Maß an Erwartungsenttäuschung oder Überraschung bewirkt.34 Im Unterschied zu Schlegel aber zielt er nicht auf die plötzliche Eröffnung ungeahnter Zusammenhänge bis hin zu epiphanieartigen Ahnungen eines umfassenden Ganzen, sondern gerade darauf, vorausgesetzte, aber problematische Zusammenhänge scheinbar fasslicherer Natur auf unerwartete Weise zu stören oder gar zu zerstören. Anders als Schlegel orientiert er sich deshalb auch nicht an einer regulativen Idee von Totalität, sondern geht aus von konkreten Ganzheitskonzepten wie ,Werk‘, ,Subjekt‘ oder ,Geschichte‘, die er mittels der fragmentarischen Schreibweise zu unterlaufen sucht. Die Idee einer alles in sich begreifenden Totalität kommt ihm nur als ein aus heterogenen Einzelteilen bestehendes Monster in den Blick, das wie die Gewalt zugleich Angst macht und zum Lachen bringt.35 Die Idee eines logischen Zusammenhangs können die Fragmente schon deshalb (zer)stören, weil sie selbst untereinander im Verhältnis bloßer Konti-

32 Nach Foucault hat das Ähnlichkeitsdenken bekanntlich bis ins 16. Jahrhundert eine das Wissen tragende Rolle gespielt, bevor es durch das Denken der Repräsentation verdrängt worden sei. Während es in der Wissenschaft seither seine Bedeutung verloren habe, sei die Dichtung der Moderne allerdings zu ihm zurückkehrt. Foucault, Michel: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris 1966, S. 32ff. 33 Die Namensregister zu den fünf Bänden der von Éric Marty verantworteten „Nouvelle édition“ der Œuvres complètes (Paris 2002) verzeichnen den Namen nicht. 34 Vgl. Michaud, Ginette: Lire le fragment. Transfert et théorie de la lecture chez Roland Barthes. Montréal 1989; Barrilaud, Marie-Christine: Roland Barthes: Les Fragments, langue équivoque. In: Revue Romane 16 (1981), S. 22–35. 35 So das Schlussfragment „Le monstre de la totalité“ in Roland Barthes par Roland Barthes: „La Totalité tout à la fois fait rire et fait peur: comme la violence, ne serait-elle pas toujours grotesque (et récupérable alors seulement dans une esthétique du Carnaval)?“ (OC IV, 752).



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guität stehen, die Fragmentfolge also keine kontinuierliche Gedankenentwicklung darstellt. Wie Schlegel begründet Barthes die Diskontinuität zwischen den Fragmenten zum einen mit dem ,Einfall‘-Charakter des Fragments, das dem Autor unmotiviert und quer zu aktuellen Denkzusammenhängen komme,36 zum anderen aber auch damit, dass er in seinen Fragmentbüchern davon Abstand genommen habe, die einzelnen Textabschnitte in eine planvolle, einer Aussageabsicht verpflichtete Reihenfolge zu bringen. Im Gegenteil sei die Anordnung so erfolgt, dass eine zu starke Konsistenzbildung vermieden wurde. Wie um die Idee einer an einer Struktur oder einem Zentralsinn orientierten Abfolge von Anfang an auszuschließen, folgen die einer fragmentarischen Schreibweise verpflichteten Bücher Le Plaisir du texte (1973), Roland Barthes par Roland Barthes (1975) und Fragments d’un discours amoureux (1977) einer mehr oder weniger streng beachteten alphabetischen Anordnung der Fragmente gemäß den ihnen im Text oder erst im Inhaltsverzeichnis zugeordneten Überschriften oder Schlagwörtern:37 fini l’angoisse du „plan“, l’emphase du „développement“, les logiques tordues, fini les dissertations! une idée par fragment, un fragment par idée, et pour la suite de ces atomes, rien que l’ordre millénaire et fou des lettres françaises (qui sont elles-mêmes des objets insensés – privés de sens). (OC IV, 720)

Sofern mit jedem Fragment ein in gewisser Weise neuer, vom Vorangegangenen nicht herzuleitender Gedanke einsetzt, produziert jedes Fragment einen Bruch („rupture“) und das Aneinanderstoßen zweier Ränder, an denen sich, der Texttheorie von Le Plaisir du texte zufolge, eine ästhetische Lust entzünden soll.38 Entsprechend heißt es in Barthes’ intellektuellem Selbstporträt: „autant de fragments, autant de débuts, autant de plaisirs“, „le fragment […] implique une jouissance immédiate“ (OC IV, 671). Das Fragment entspricht Barthes’ Vorliebe für die Anfänge und seiner Abneigung gegen jeden Anspruch auf Abschluss. Mounir Laouyen ist zuzustimmen, wenn er in dieser Haltung den Ausdruck einer für

36 An Schlegels Bemerkung über die Herkunft der Fragmente: „sie kommen einem“ (KA XVI, 165; Nr. 953), erinnert die Äußerung: „Sous forme de pensée-phrase, le germe du fragment vous vient n’importe où: au café, dans le train, en parlant avec un ami (cela surgit latéralement à ce qu’il dit ou à ce que je dis); on sort son carnet, non pour noter une ,pensée‘, mais quelque chose comme une frappe, ce qu’on eût appelé autrefois un ,vers‘.“ (OC IV, 671) 37 Vgl. Eckel, Winfried: Rhetorik der Streuung. Textbegriff und alphabetische Form bei Roland Barthes. In: Schmitz-Emans, Monika / Fischer, Kai Lars / Schulz, Christoph Benjamin (Hg.): Alphabet, Lexikographik und Enzyklopädistik. Historische Konzepte und literarisch-künstlerische Verfahren. Hildesheim 2013, S. 305–331; Michaud, Ginette: Fragment et dictionnaire. Autour de l’écriture abécédaire de Barthes. In: Études françaises 18 (1983), S. 59–80. 38 Vgl. OC IV, 221ff.

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die fragmentarische Schreibweise charakteristischen Ästhetik der Plötzlichkeit erkennt.39 Wie der von Schlegel intendierte Witz ist die Lust bei Barthes nur als Ereignis denkbar. Richtet sich der Witz an einen Leser, der die frühromantischen Fragmentsammlungen als Medium überraschender Gedankenkombinationen begreift, so setzt die Erfahrung der jouissance einen Rezipienten voraus, der für die komplexen Strukturbrüche der Barthes’schen Fragmentbücher sensibel geworden ist. Diese Brüche betreffen nicht nur die Übergänge von einem Fragment zum anderen, auch nicht nur die Kohärenz innerhalb eines Einzelfragments oder den Zusammenhang des jeweiligen Fragmentbuchs mit dem Gesamtwerk Barthes’. Sie berühren auch, auf einer über das Gesamtwerk hinausweisenden diskursiven Ebene, das Verhältnis eines Fragmentbuchs zu herkömmlichen Konzepten von Ganzheit, wie sie etwa mit den schon erwähnten Kategorien ,Werk‘, ,Subjekt‘ oder ,Geschichte‘ gegeben sind. Alle drei Kategorien sehen sich in den drei Fragmentbüchern der siebziger Jahre grundlegend in Frage gestellt, wobei in den Büchern nacheinander jeweils eine Kategorie besonders in der Kritik steht: Widmet sich Le Plaisir du texte vor allem der Infragestellung des Werkbegriffs, so geht es in Roland Barthes par Roland Barthes in polemischer Bezugnahme auf die Tradition der Autobiographie um die Subversion des bürgerlichen Begriffs eines „sujet unitaire“ (OC IV, 850) und in Fragments d’un discours amoureux um die Zurückweisung der Vorstellung, die diskontinuierlichen Erfahrungen der Liebenden ließen sich zur Einheit einer erzählbaren Geschichte synthetisieren. An die Stelle der Konzeption des Werks als eines in sich geschlossenen, um einen Zentralsinn organisierten Gebildes tritt die Vorstellung des in sich vielstimmigen und nach außen nicht abgrenzbaren Textes; die Konzeption des in sich einheitlichen Ichs, das sich im Medium der Narration seiner selbst vergewissert, wird verdrängt durch die Idee eines „sujet dispersé“ (OC IV, 717, 731 und passim), das sich, wie Christian Moser in anderem Zusammenhang unter Anspielung auf Augustinus formuliert hat,40

39 Laouyen, Mounir: Le livre brisé de Roland Barthes. In: Hommage et débat en ligne, mai 2000: Actualité de Roland Barthes: „Cette prédilection pour l’inchoatif s’origine sans doute dans le caractère inattendu et imprévisible de la première phrase alors que le mot de la fin est, a priori, tributaire de ce qui précède. La surprise, le caractère inattendu, imprévu (,soudain‘) est une donnée fondamentale du texte fragmentaire.“ In: http://www.fabula.org/forum/barthes/34.php (27. März 2017). 40 Moser, Christian: Erinnerung als Sammlung. Zum Zusammenhang von Mnemographie und Dingkultur (Augustinus, Rousseau, Benjamin, Calvino). In: Comparatio 1 (2009), S. 87–111. „Conligens me a dispersione“ lautet die berühmte Formel, mit der Augustinus zu Beginn des zweiten Buchs seiner Confessiones die Aufgabe des Autobiografen bestimmt.



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nicht mehr aus, sondern nur noch in der Zerstreuung zu fassen vermag; die Idee der Liebesgeschichte schließlich, die die vielen, oftmals nichtigen Ereignisses des Liebeslebens („événements de la vie amoureuse“; OC V, 125) in eine konventionell-sinnvolle Struktur zu bringen vermöchte, wird aufgegeben zugunsten der Rekonstruktion der sich zufällig und unverbundenen aneinanderreihenden Sprachszenen („scènes de langage“; OC V, 30) oder Redebruchstücke („bris de discours“; OC V, 29) des Liebesdiskurses, die dieser Ereignishaftigkeit korrespondieren sollen. In allen drei Fällen vollzieht sich die Kritik nicht nur über das Vorbringen von Argumenten, sondern auch und vielleicht mehr noch über die Form der fragmentarischen Schreibweise, die die innere Brüchigkeit des Werks, die Zerstreutheit und Vielgestaltigkeit des Ichs sowie die konstitutive Fragmentarität des von den Liebenden geführten Diskurses gleichsam vor Augen führt. Indem sie performativ mit den Vorgaben der Doxa brechen, gewinnen die Texte einen Ereignischarakter, wobei ihre subversive Kraft und ihr Ereignischarakter einander bedingen. Die Ideologiekritik koinzidiert mit der Erfahrung der Lust.

6 Schluss: Zerbrochene Universen Die Vorstellung eines Gegensatzes zwischen dem strategischen Gebrauch des Fragments als Form bei Schlegel und Barthes, die für die vorliegende Studie leitend ist, bedarf abschließend einer Relativierung. Es wäre nicht richtig, Schlegel allein darauf festzulegen, das Fragment in den Dienst einer neuen Totalität zu stellen, indem er mit Hilfe des Witzes überraschende Gedankenkombinationen und letztlich die Ahnung eines universellen Zusammenhangs produziert. Ebenso wenig wäre es zutreffend, die ästhetische Strategie Barthes’ dadurch zu beschreiben, dass er das Fragment ausschließlich als einen Störenfried („trouble-fête“41) einsetzt, um konventionelle Ganzheitskonzepte durch die Einschreibung von Brüchen lustvoll in Frage zu stellen oder gar zu zerstören. In Bezug auf Schlegel kann man sagen, dass er Totalität ebenso intendiert wie faktisch immer wieder vereitelt. Denn der Witz erscheint bei ihm nicht nur als

41 „Ce qui est impliqué du point de vue d’une idéologie ou d’une contre-idéologie de la forme, c’est que le fragment casse ce que j’appellerai le nappé, la dissertation, le discours que l’on construit dans l’idée de donner un sens final à ce qu’on dit, ce qui est la règle de toute la rhétorique des siècles précédents. Par rapport au nappé du discours construit, le fragment est un troublefête, un discontinu, qui installe une sorte de pulvérisation de phrases, d’images, de pensées, dont aucune ne ,prend‘ définitivement“ (OC IV, 854f.; Vingt mots-clés, Interview von 1975).

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ein synthetisches, sondern auch als ein analytisches Vermögen. Er ist ­konstruktiv und destruktiv zugleich. Gerade indem er Ähnlichkeiten zwischen scheinbar Entlegenem erkennt, fokussiert er auf einzelne Merkmale, die er aus ihrem Gesamtzusammenhang gleichsam herausreißt. Fragmentarität wird durch ihn nicht nur überwunden, sondern auch hergestellt. Schlegel selbst hat in seinen Kölner Vorlesungen 1804/05 auf diese zerstörerische Seite des Witzes ausdrücklich reflektiert: Diejenige Tätigkeit aber, wodurch das Bewußtsein sich am meisten als Bruchstück kundgibt, ist der Witz, sein Wesen besteht eben in der Abgerissenheit und entspringt wieder aus der Abgerissenheit und Abgeleitetheit des Bewußtseins selber. (KA XII, 392).

Weil die Synthesen des Witzes immer nur punktuell bleiben, kann er Totalität wohl ahnen lassen, aber nicht dauerhaft herstellen. Auch können die einzelnen Synthesen, die immer nur in Bezug auf Einzelnes zustande kommen, einander widersprechen. Unterstellt eine jede die Möglichkeit von Totalität, wird dieser Anspruch doch von keiner eingelöst. Zu Recht hat deshalb Manfred Frank im Blick auf Schlegel und die Romantik insgesamt von einem „fragmentarischen Universum“ gesprochen.42 Entsprechend ist für Barthes zu konstatieren, dass er die doxalen Ganzheitskonzepte ,Werk‘, ,Subjekt‘ oder ,Geschichte‘ nicht nur kritisiert und durch sein Schreiben in Fragmenten unterläuft, sondern ein Stück weit auch an ihnen festhält: Certains veulent un texte (un art, une peinture) sans ombre, coupé de l’„idéologie dominante“; mais c’est vouloir un texte sans fécondité, sans productivité, un texte stérile […]. Le texte a besoin de son ombre: cette ombre, c’est un peu d’idéologie, un peu de représentation, un peu de sujet: fantômes, poches, traînées, nuages nécessaires: la subversion doit produire son propre clair-obscur. (OC IV, 238)

Tatsächlich findet sich etwa im Selbstporträt neben der thematisch wie performativ unterstützten Vorstellung eines zerstreuten und sich gleichsam im Offenen verlierenden Ichs („je suis dispersé“; OC IV, 717) auch die Gegenvorstellung eines sich behauptenden und bewahrenden Ichs, das die von ihm produzierten Frag-

42 Frank: Das „fragmentarische Universum“ der Romantik. Vgl. auch den Abschnitt „Fragmentarischer Universalismus“ bei Ostermann, Eberhard: Fragment/Aphorismus. In: Schanze, Helmut (Hg.): Romantik-Handbuch. Stuttgart 1994, S. 276–288, hier S. 280ff. Der Widerspruch zwischen der Intention auf Totalität und dem Bewusstsein von der Unmöglichkeit ihrer Darstellung markiert im Denken Schlegels den Einsatz der „Ironie“, die die Relativität jeder Verknüpfung reflektiert. Vgl. Frank, S. 217, und Ostermann, S. 281f.



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mente auf sich selbst als ein Zentrum rückbezieht, um so Einheit in der Vielfalt, ein kleines geschlossenes Universum, zu stiften: „Écrire par fragments: les fragments sont alors des pierres sur le pourtour du cercle: je m’étale en rond: tout mon petit univers en miettes: au centre, quoi?“ (OC IV, 670). Und im Buch über den Liebesdiskurs erhalten die achtzig gemäß ihren Namen alphabetisch aneinander gereihten Figuren, die untereinander keinerlei syntagmatische oder narrative Verknüpfungen und keine größere Ordnung als die eines Mückenschwarms aufweisen sollen, einen Reiz gerade auch dadurch, dass sie zumindest zum Teil auf das totalisierende Schema einer konventionellen Liebesgeschichte zurückbezogen werden können und zum Beispiel Figuren, die eher dem Anfang einer solchen Geschichte zuzuordnen sind wie das Fragment „Rencontre“ (mit der Überschrift „Qu’il était bleu, le ciel“; OC V, 243), von Figuren, die eher auf eine Krise oder gar das Ende der Liebe hindeuten wie etwa „Insupportable“ („Ça ne peut pas continuer“; OC V, 179), unterschieden werden können.43 Auf das Festhalten an Ideen der Ganzheit und Geschlossenheit deutet auf andere Weise auch, dass Barthes in Bezug auf seinen Figurenkatalog von einer Enzyklopädie („encyclopédie de la culture affective“; OC IV, 32) spricht. Die Diskursfragmente sollen sich am Ende doch zu einer umfassenden Einheit zusammenschließen. Die Fragmenttexte Schlegels und Barthes’ kommen darin überein, dass in ihnen Tendenzen der Fragmentierung und Totalisierung zu einem spannungsvollen Ausgleich gebracht sind. Die paradoxe Formel vom „fragmentarischen Universum“ der Romantiker findet nicht zufällig eine unmittelbare Entsprechung in Barthes’ Idee eines (sei es kleinen) Universums in Krümeln („univers en miettes“).44 Die entscheidende Differenz zwischen Schlegel und Barthes zeigt sich an den Akzentsetzungen, die sie innerhalb der Idee des zerbrochenen Universums vornehmen. Während Schlegel gegen die Diskursdifferenzierung der Aufklärung letztlich die Ahnung eines alles integrierenden Ganzen evozieren will, geht es Barthes darum, in kritischem Bezug zu seiner eigenen Zeit ideologisch gewordene Konzepte konkreter Ganzheiten wie ,Subjekt‘ oder ,Geschichte‘ in Frage zu stellen. Mittels der fragmentarischen Form zielen beide Autoren auf

43 In der ursprünglichen Langfassung der Einleitung „Comment est fait ce livre“, die er später durch die publizierte Fassung ersetzt, überlegt Barthes deshalb, ob die These, wonach die Reihung der Figuren stets kontingent bleibe, eingeschränkt werden müsse, eine Frage, die er jedoch verneint. Barthes, Roland: Le discours amoureux. Séminaire à l’École pratique des hautes études 1974–1976. Suivi de Fragments d’un discours amoureux (pages inédites). Édition de Claude Coste. Paris 2007, S. 684f. 44 Auch das Bild des Mückenschwarms („vol des moustiques“; OC V, 32) vereinigt auf paradoxe Weise Vorstellungen der Kohäsion und Dispersion in sich.

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die Produktion ereignishafter Lektüreerfahrungen, der eine auf Erfahrungen des Zusammenhangs, der andere auf Erfahrungen des Bruchs. Inwiefern reale Lektüreerfahrungen diesen Vorgaben entsprechen, bleibt offen.

Achim Geisenhanslüke

Das Ereignis des Diskurses und die Literatur des Ereignisses Überlegungen zu Foucault, Lyotard und Hölderlin

1 Foucault und das Ereignis des Diskurses Die Kategorie des Ereignisses hat im 20. Jahrhundert eine erstaunliche Aufwertung erfahren. Aus philosophischer Perspektive ist dafür nicht zuletzt Martin Heidegger verantwortlich, der mit seiner Schrift Vom Ereignis ein zweites, auf eigenen Wunsch erst posthum veröffentlichtes Hauptwerk vorgelegt hat. Nicht nur bei Heidegger aber taucht der Begriff des Ereignisses an prominenter Stelle auf. Das Denken der Postmoderne, das in vielerlei Hinsicht an Heidegger anschließen konnte, hat die Kategorie des Ereignisses weiter zu entfalten versucht. Das gilt auf besondere Weise für Michel Foucault, der seine Theorie des Diskurses eng mit dem Begriff des Ereignisses verbindet. „L’histoire ‚effective‘ fait resurgir l’événement dans ce qu’il peut avoir d’unique et d’aigu.“1 Mit diesen Worten markiert Foucault schon in seinem frühen Aufsatz Nietzsche, la généalogie, l’histoire, einer Hommage an seinen Lehrer Jean Hyppolite, die Bedeutung des Ereignisses für die Genealogie des Wissens. Was Foucault am Begriff des Ereignisses interessiert, ist das Moment der Einzigartigkeit, der Singularität. In diesem Sinne ist Foucault, wie bereits Petra Gehring festgehalten hat, letztlich eher ein Denker des Singulären als ein Ereignisdenker. „Foucault ist kein Ereignis-Denker“,2 hält Petra Gehring fest, um ihn stattdessen „als einen Erzähler des Ereignisses“3 zu betrachten. Zwischen Denker und Erzähler situiert Petra Gehrings Foucaults Archäologie, um eine produktive Spannung innerhalb seines Ansatzes hervorzuheben, die sich in wesentlichen Punkten dem Begriff des Ereignisses verpflichtet. Das entscheidende Argument, Foucault dennoch nicht als einen Ereignisdenker zu bezeichnen, liegt Petra Gehring zufolge in der Verwendung des Begriffes des Ereignisses in der Archéologie du savoir begründet. Wie sie hervorhebt,

1 Foucault, Michel: Dits et écrits 1954–1988. II. 1970–1975. Édition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange. Paris 1994, S. 148. 2 Gehring, Petra: Foucault – Die Philosophie im Archiv. Frankfurt a. M. / New York 2004, S. 275. 3 Ebd., S. 281. DOI 10.1515/9783110541854-005

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 Achim Geisenhanslüke

ist Foucault im Unterschied zu Heidegger an einem Pathosbegriff des Ereignisses nicht interessiert. An seine Stelle tritt „seine mathematisch-formale Bedeutung“4 im Rahmen seines Versuches, eine allgemeine Theorie des Diskurses zu erarbeiten. Den Begriff des Ereignisses führt Foucault in der Archéologie du savoir an zentraler Stelle ein, im ersten Kapitel, das sich nach der Einleitung der Frage nach den diskursiven Regelmäßigkeiten widmet. Foucault wendet sich gegen die Begriffe der Tradition, des Einflusses, der Entwicklung, der Mentalität und des Geistes, um stattdessen festzustellen, dass man es nur mit einer „population d’événements dispersés“5 zu tun habe. Wie bei Heidegger, so markiert auch bei Foucault das Ereignis eine Instanz, die vor jeder subjektiven Ordnungsleistung liegt: An die Stelle des animal rationale, das alles Sein aus der eigenen Vernunft ableiten will, tritt eine Ordnung, die erst durch das Ereignis konstituiert wird. Diese pathetische Form der Ereignishaftigkeit als Ermöglichung von Singularität verbindet Foucault mit einem streng wissenschaftlichen Interesse: Une fois suspendue ces formes immédiates de continuité, tout un domaine en effet se trouve libéré. Un domaine immense, mais qu’on peut définir: il est constitué par l’ensemble de tous les énoncés effectifs (qu’ils aient été parlés et écrits), dans leur dispersion d’événements et dans l’instance qui est propre à chacun. Avant d’avoir affaire, en toute certitude, à une science, ou à des romans, ou à des discours politiques, ou à l’œuvre d’un auteur ou même à un livre, le matériau qu’on a à traiter dans sa neutralité première, c’est une population d’événements dans l’espace du discours en général. Ainsi apparaît le projet d’une description des événements discursifs comme horizon pour la recherche des unités qui s’y forment.6

Foucaults Begriff des Ereignisses scheint zunächst allein durch seine Ablehnung der traditionellen Form der Ideengeschichte bestimmt. Genau besehen gehorcht Foucaults Darstellung einer Rhetorik des Versprechens. Um eine klassische Form rhetorischer Rede handelt es sich, da eine Befreiung von der Ideengeschichte schon dadurch garantiert werden soll, dass man sie aufgibt. Insofern liegt Foucaults Argumentation ein performativer Sprechakt zugrunde, der die Abschaffung der Geistesgeschichte nicht nur in Aussicht stellt, sondern sprachlich gleich selbst mit vollzieht. Was jenseits der Aufgabe der Geistesgeschichte eigentlich versprochen wird, ist allerdings schwerer zu fassen. Das zeigt sich gerade an dem zentralen Begriff der Archäologie, dem Diskurs, den er auf seine Ereignishaftig-

4 Ebd., S. 275. 5 Foucault, Michel: L’archéologie du savoir. Paris 1969, S. 32. 6 Ebd., S. 38f.



Das Ereignis des Diskurses und die Literatur des Ereignisses 

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keit zurückführt und der in dieser Form das gegenständliche Korrelat der Archäologie nennt. Wenn Foucault von Ereignissen spricht, dann unterstreicht er zunächst den beschreibenden Charakter der Archäologie: Den Begriff der Neutralität, in dem Maurice Blanchots Kategorie des neutre7 mitschwingt, stellt er der Gewissheit gegenüber, die die Wissenschaften seit Descartes kennzeichnen. Der Diskurs erscheint in dieser Darstellung als eine räumliche Ordnung, die die Gesamtheit aller effektiven Aussagen umfasst, ohne in irgendeiner Weise in diese Gesamtheit interpretatorisch einzugreifen. Wie Clemens Kammler gezeigt hat, entwickelt Foucault damit weniger eine Theorie im strengen Sinne als vielmehr eine Heuristik:8 Ihm geht es darum, einen Raum zu öffnen, der sich durch nichts anderes als seine nackte Existenz und damit eben durch seine Ereignishaftigkeit definiert. Von Dispersion und Ereignishaftigkeit spricht Foucault, da der Raum des Diskurses sich vor allen Ordnungsleistungen des Subjekts nur durch Kontingenz auszeichnen kann. Mit dem Begriff des Ereignisses verbindet Foucault daher nicht das Pathos des Anfänglichen oder Ursprünglichen, wie Heidegger es tut. Vielmehr richtet er sich allein auf die bloße Faktizität einer Ordnung jenseits des Subjekts. Offen bleibt allerdings, was Foucault mit dem Begriff des Ereignisses genau verbindet. Zunächst scheint das Ereignis nichts anderes als die Faktizität des eigenen Erscheinens zu verkörpern: „comment se fait-il que tel énoncé soit apparu et nul autre à sa place?“,9 lautet die Frage, die sich die Archéologie du savoir stellt. Foucault greift damit auf eine Auffassung von Geschichte zurück, die sich nicht mehr dem Hegelschen Freiheitspostulat verpflichtet, sondern vielmehr der strukturalen Aneignung der Marxschen Philosophie annähert, die sein Lehrer Althusser vornimmt, wenn er davon ausgeht, es gebe „une relation invisible nécessaire entre le champ du visible et le champ de l’invisible, une relation qui définit la nécessité du champ obscur de l’invisible, comme un effet nécessaire de la structure du champ visible.“10 Althusser zufolge sind die sichtbaren Elemente eines Feldes bestimmt durch ihre verborgene Relation zu dem Feld des Unsichtbaren. Foucault nimmt Althussers Gedanken auf, um auch den diskursiven Raum, den die Archäologie zu bestimmen versucht, als ein Feld des Unsichtbaren auszugeben, das sich allein Bestimmungen entzieht: Was der Ereignisbegriff ausschließt,

7 Blanchot, Maurice: L’entretien infini. Paris 1969, S. 447–450. 8 Kammler, Clemens: Die Abwesenheit der Theorie. Zur Frage der Anwendbarkeit des Foucaultschen Diskursbegriffes auf die Literatur. In: Bogdal, Klaus-Michael / Geisenhanslüke, Achim (Hg.): Die Abwesenheit des Werkes. Nach Foucault. Heidelberg 2006, S. 231–241. 9 Foucault: Archéologie du savoir, S. 39. 10 Althusser, Louis / Balibar, Étienne: Lire le Capital I. Paris 1968, S. 18.

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der in diesem Punkt an Heideggers seinsgeschichtliche Analyse der existentia aus dem zweiten Teil seines Nietzsche-Buches erinnert,11 ist eine Form der Analyse, die der Geschichte unterstellt, dass alles hätte auch anders kommen müssen: L’analyse du champ discursif est orientée tout autrement; il s’agit de saisir l’énoncé dans l’étroitesse et la singularité de son événement; de déterminer les conditions de son existence, d’en fixer au plus juste les limites, d’établir ses corrélations aux autres énoncés qui peuvent lui être liés, de montrer quelles autres formes d’énonciation il exclut. On ne cherche point, au-dessous de ce qui est manifeste, le bavardage à demi silencieux d’un autre discours; on doit montrer pourquoi il ne pouvait être autre qu’il n’était, en quoi il est exclusif de tout autre, comment il prend, au milieu des autres et par rapport à eux, une place que nul autre ne pourrait occuper. La question propre à une telle analyse, on pourrait la formuler ainsi: quelle est donc cette singulière existence, qui vient au jour dans ce qui se dit; – et nulle part ailleurs?12

Die Ereignishaftigkeit, die Foucault dem diskursiven Feld von Aussagen zuspricht, betrifft die Frage nach der Existenz und der möglichen Verknüpfung von isolierten Elementen der Analyse. Insofern hat Petra Gehring recht, wenn sie den mathematisch-formelhaften Charakter des Foucaultschen Ereignisbegriffs unterstreicht. Indem ein Element als Ereignis aufgefasst wird, löst es sich aus Bedeutungsmustern, in die es eingebunden ist. Ereignishaftigkeit meint in diesem Sinne zunächst nichts anderes als das methodische Isolieren von Aussagen, die zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden sollen. Als beschreibender Wissenschaft geht es der Archäologie jedoch zugleich darum, die isolierten Elemente in einem zweiten Schritt miteinander zu verknüpfen. Das Prinzip der Verknüpfung, so lautet Foucaults Voraussetzung, liegt nicht in der synthetischen Leistung des Subjekts begründet, sondern in einer Form der Ordnung, die sich aus der Ereignishaftigkeit selbst ergeben soll. Die schon aus der Les mots et les choses bekannte Idee, dass es eine Ordnung gibt, die sich unterhalb der subjektiven Ordnung von Blick, Aufmerksamkeit und Raster errichtet, leitet Foucault auch in der Archéologie du savoir. Die Form der Ordnung, die die Archäologie zutage fördern möchte, ist ein Raum, der jeder Ordnung gegenüber vorgängig ist und doch bereits in sich geordnet ist. So paradox Foucaults Bestimmungen zunächst auch klingen mögen: Sie betreffen eine methodologische Prämisse der Archäologie, die besagt, dass es eine fundamentale Form der Ordnung gibt, die sich jenseits des Subjekts befindet und die doch zum Gegenstand der Analyse werden kann – eine Prämisse, die Foucault mit Freud teilt und ihn doch von der

11 Heidegger, Martin: Nietzsche. Zweiter Band. Pfullingen 1961, S. 399–410. 12 Foucault: Archéologie du savoir, S. 40.



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Psychoanalyse unterscheidet, da er nicht von einer Ordnung des Unbewussten ausgeht, sondern von einer Ordnung des Wissens, einer Episteme, die den einzelnen Ordnungsmustern einer Epoche zugrunde liegt. Entscheidend ist für Foucault demnach weder, dass eine transzendentale Ordnung eine empirische Form der Ordnung bestimmt, noch, dass eine Ordnung des Unbewussten den Bewusstseinsakten als Tiefenebene zugrunde liegt, sondern allein die Tatsache, dass es unterhalb der kulturellen Ordnungsmuster eine ereignishafte andere Ordnung gibt, die zum Gegenstand der Analyse gemacht werden kann, ohne dass die Archäologie zur Transzendentalwissenschaft oder zur Tiefenanalyse werden müsste. Was Foucault interessiert, ist der Status einer Ordnung, die fundamental ist und die zugleich einen schwer bestimmbaren Zwischenraum markiert, der als solcher nur zur Darstellung kommen kann, wenn bestehende Ordnungsmuster auf ihn als Fluchtpunkt bezogen werden. Aus diesem Grund besteht die grundlegende Intention Foucaults darin, die Aussage als Gegenstand seiner Analyse von anderen Formen der Gegenständlichkeit zu unterscheiden. Für Foucault ist die Aussage ein „événement que ni la langue ni le sens ne peuvent tout à fait épuiser.“13 Damit grenzt er sich sowohl von hermeneutischen als auch von strukturalistischen Prämissen ab. An die Stelle der Analyse des Signifikanten oder des Sinn konstituierenden Subjekts tritt die archäologische Beschreibung eines ereignishaften Raums, der sich durch die Relationen auszeichnet, die die einzelnen Elementen zueinander einnehmen: „Faire apparaître dans sa pureté l’espace où se déploient les événements discursifs […], c’est se rendre libre pour décrire en lui et hors de lui des jeux de relations.“14 Was die Archäologie so in den Blick zu nehmen versucht, sind Relationsbeziehungen, Spiele, die einzelne Elemente in einem historischen Segment miteinander verbinden. Dabei geht Foucault dem Postulat einer der Archäologie zugrunde liegenden Ordnungsform folgend davon aus, dass die Spiele, die die Elemente ordnen, bestimmten Regeln unterstehen, die sich rekonstruieren lassen. In der Begrifflichkeit der Archéologie du savoir entspricht dem die Suche nach einer Ordnung, die selbst nicht rational begründet ist und dennoch etwas anderes als ein unbeschreibbares Chaos verkörpert. Die Beschreibung der Regeln, die den Raum des Diskurses durchkreuzen, wird daher zur Hauptaufgabe der Archäologie. Zur Wissenschaft wird die Archäologie, weil sie sich an der Beschreibung der Regeln versucht, die den Diskurs in seiner Ereignishaftigkeit bestimmen. Eine Philosophie des Ereignisses verkörpert Foucaults Archäologie im Rahmen eines

13 Ebd., S. 40. 14 Ebd., S. 41.

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neuen Wissenschaftsbegriffes, der sich mit Heideggers grundsätzlicher Ablehnung aller Formen streng wissenschaftlichen Denkens nicht vereinbaren lässt.

2 Lyotard, das Ereignis und das Erhabene Mit dem Anspruch, die Ereignishaftigkeit des Diskurses herauszuarbeiten, unterscheidet sich Foucault zugleich von anderen Denkern der Postmoderne wie von Jean-François Lyotard, der auf den Begriff des Erhabenen zurückgegangen ist, um eine Ästhetik der Postmoderne im Zeichen des Ereignisses zu entwerfen. Auch für Lyotard ist der Begriff des Ereignisses ein zentraler Bezugspunkt, wenn es um die ästhetische und politische Bestimmung des Erhabenen geht: Il ne s’agit pas d’une question de sens ni de réalité portant sur ce qui arrive, sur ce que cela veut dire. Avant de se demander ce que c’est, ce que ça signifie, avant le quid, il faut ‚d’abord‘, pour ainsi dire, qu’ ‚il arrive‘, quod. Qu’il arrive ‚précède‘ pour ainsi dire toujours la question qui porte sur ce qui arrive. Ou plutôt la question se precede elle même. Car ‚qu’il arrive‘, c’est la question en tant qu’événement, ‚ensuite‘ elle porte sur l’événement qui vient d’arriver. L’événement arrive comme point d’interrogation ‚avant‘ d’arriver comme interrogation.15

Mit der Kategorie des Ereignisses verabschiedet Lyotard die Begriffe des Sinns und der Wirklichkeit zugunsten einer ontologischen Vorgängigkeit, die er in einer Ästhetik des Erhabenen fundiert. Erhaben ist das Ereignis nach Lyotard, da es sich frei von allen Wesensbestimmungen allein auf die Ordnung des eigenen Erscheinens bezieht. Dass etwas geschieht und nicht vielmehr nichts, Heideggers Frage der existentia also, wird Lyotard in Anknüpfung an Barnett Newmans The Sublime is now zum Garant dafür, dass die postmoderne Ästhetik allein mit den Kategorien des Erhabenen und des Ereignisses zu fassen ist. Lyotards Ästhetik, die zugleich eine Anbindung an Kants geschichtsphilosophische Thesen im Kontext der Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution sucht, verschreibt sich damit ganz einer Begrifflichkeit des Ereignisses im Zeichen einer Philosophie der Angst und des Schreckens. Wenn Foucault das Ereignis dagegen als einen Raum qualifiziert, der sich vor allen Bestimmungen der reinen Beschreibung öffne, dann klammert er die ästhetische Dimension aus, die dem Ereignisbegriff Lyotards anhaftet, um zu einer Form der wissenschaftlichen Analyse zu gelangen, die sich aus heterogenen

15 Lyotard, Jean-François: L’Inhumain. Causeries sur le temps. Paris 1988, S. 102.



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Quellen speist und sich nicht auf einen einfachen Nenner bringen lässt. Indem Foucault seinen Begriff des Diskurses von allen ästhetischen Implikationen freizuhalten versucht, stellt er jedoch zugleich die Erweiterung der Diskursanalyse im Zeichen des Ereignishaften zu einem literaturwissenschaftlichen Verfahren in Frage. Denn anders als Foucaults in einem ersten Schritt rein deskriptives Verfahren kann sich die Literaturwissenschaft nur schwer von der Idee lösen, dass die Ereignishaftigkeit der Literatur in einer Poetik verankert ist, die sich von der anderer Sprachverfahren unterscheidet und sich nicht einfach unter dem Begriff des Diskurses subsumieren lässt. Wie also geht die Literatur mit der Kategorie des Ereignisses um, und kann die Literaturwissenschaft wirklich darauf verzichten, der Ereignishaftigkeit der Dichtung eine besondere Rolle innerhalb der diskursiven Praktiken zuzuschreiben? Um diese Frage beantworten zu können, möchte ich abschließend auf einen kurzen Text Hölderlins eingehen.

3 Literatur als Ereignis bei Hölderlin Hölderlins Nachtgesänge, ein Zyklus von neun Gedichten aus dem Jahre 1805, enden mit einem ebenso kurzen wie enigmatischen Gedicht. Unter dem Titel Der Winkel von Hahrdt diskutiert Hölderlin ein geschichtliches Ereignis, das er auf eigenwillige Art und Weise in Naturbilder übersetzt: Der Winkel von Hahrdt Hinunter sinkt der Wald, Und Knospen, ähnlich, hängen Einwärts die Blätter, denen Blüht unten auf ein Grund, Nicht gar unmündig. Da nämlich ist Ulrich Gegangen; oft sinnt, über den Fußtritt, Ein groß Schicksal Bereit, an übrigem Orte.16

Das Gedicht gibt sich zunächst als ein Erinnerungsort zu erkennen. Die Erinnerung steht allerdings zugleich unter dem Zeichen des Toten. Das Bild der Ruine aus dem unmittelbar vorausgehenden Gedicht Lebensalter wie die Topologie

16 Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Gedichte. Herausgegeben von Jochen Schmidt. Frankfurt a. M. 2005, S. 321.

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in Der Winkel von Hahrdt thematisiert eine Totenwelt, die den zweiten Teil des Zyklus der Nachtgesänge insgesamt bestimmt: „Die beiden letzten Nachtgesänge präsentieren nämlich ihre Bilder als erstorbene“.17 Die Toten „erscheinen“ buchstäblich im Gedicht. Wie zur Bestätigung der Ruinenlandschaft, die bereits die Topographie von Lebensalter bestimmt, lässt Hölderlin einen dieser fremden Totengeister in dem letzten Gedicht auftreten. Wie schon Wolfgang Binder betont hat, vollzieht das Gedicht nicht nur endgültig den Wechsel von Griechenland nach Hesperien, der die zweite Hälfte der Nachtgesänge bestimmt.18 Er verbindet das Hesperische mit dem Thema der Erinnerung und der Trauer, das schon Lebensalter verhandelte. In der äußersten Verknappung der Sprache, die das letzte Gedicht des Zyklus kennzeichnet, geht es um die Erinnerung an Herzog Ulrich von Württemberg, der sich der Legende zufolge 1519 vor seinen Verfolgern in einem Schlupfwinkel im Walde von Hahrdt versteckte. Der Winkel von Hahrdt erscheint so zunächst als ein lokaler Erinnerungsraum, als müsse er den Mythos vom Fußtritt, den der Herzog dort hinterlassen habe, noch einmal bestätigen. Indem es den Herzog aus dem geschichtlichen Schauplatz scheinbar vertraut hervortreten lässt – „Da nemlich ist Ulrich / Gegangen“ –, setzt das Gedicht den Mythos jedoch zugleich aus. Den Ort, an dem Herzog Ulrich von Württemberg erschienen ist, unterzieht das Gedicht einer Verschlüsselung, die jeder Form der Eindeutigkeit zuwiderläuft. Auf die kryptische Dimension, die sich mit dem Erinnerungsort in Hölderlins Gedicht als Schauplatz von Geschichte verbindet, hat bereits Martin von Koppenfels hingewiesen. Seiner Meinung nach bleibt auch der abschließende Verweis auf das Schicksal kryptisch, „weil es die Frage nach dem Zweck enttäuschend offenlässt. Die ‚Bereitschaft‘, die sich offenbar aus der erinnerten Geschichte speist, bleibt unverwirklicht. Es gibt ein Moment von Handlungsunfähigkeit, Vergeblichkeit, Trauer in diesem Schauplatz“,19 lautet der Kommentar von Koppenfels. Es ist nicht nur die Unerfülltheit und Vergeblichkeit, die das Gedicht in den Kontext der Trauer stellt. Schon in den einleitenden Versen verschränkt der Text eine Bewegung, die von oben nach unten führt – „Hinunter sinket der Wald“ – und eine Bewegung, die in umgekehrter Weise von unten nach oben führt – „denen / blüht unten auf ein Grund“ –, um in der Ver-

17 Degner, Uta: Bilder im Wechsel der Töne. Hölderlins Elegien und ‚Nachtgesänge‘. Heidelberg 2008, S. 266. 18 Wolfgang Binder meint, es „vollziehen Lebensalter und Winkel von Hardt jene vaterländische Wendung, die weite Teile des Spätwerks regiert.“ Binder, Wolfgang: Hölderlin: ‚Der Winkel von Hahrdt‘, ‚Lebensalter‘, ‚Hälfte des Lebens‘. In: Hölderlin-Aufsätze. Frankfurt a. M. 1970, S. 350– 361, hier S. 361. 19 Koppenfels, Martin von: Einführung in den Tod. García Lorcas New Yorker Dichtung und die Trauer der modernen Lyrik. Würzburg 1998, S. 188.



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schränkung von herbstlichem Laub und frühlingshaftem Blühen eine Verräumlichung der Zeit zu vollziehen, die einer Spannung untersteht, innerhalb derer Geschichte lesbar wird als Zeichenspur des Vergangenen. In diesem Sinne spricht Thomas Schröder von einer Poetik der Naturgeschichte bei Hölderlin, in der „der Verlust der gesellschaftlichen und künstlerischen Einheitserfahrung, von dem alle Texte ausgehen, nicht einfach beklagt, sondern als Signatur der eigenen Zeit anerkannt“20 wird. Die Erinnerung spricht aus dieser Anerkennung heraus. In der Erinnerungsbewegung ist der Raum verschlüsselt, als verschlüsselter aber weder eindeutig lesbares Zeichen einer vergangenen, in der Geschichte einmal stattgehabten ereignishaften Epiphanie noch ihres Ausbleibens. Vielmehr vollzieht sich die Trauer, die dem Gedicht eingeschrieben ist, in der Abkehr von dem vertrauten Schicksal des Herzogs „an übrigem Orte“. Erfüllt ist die Trauer, die dem Winkel von Hahrdt eingeschrieben ist, da sich das lyrische Ich aus dem Schauplatz bereits zurückgezogen hat, um seine Trauer zu artikulieren. Im Festhalten der Erinnerung löst sich das lyrische Ich von dem Erinnerten. Darin wird programmatisch jener Umschlag von der Antike zur Moderne vollzogen, den Hölderlin schon in den Anmerkungen zu den Trauerspielen des Sophokles gefordert hatte. Im Vergleich zu den großen Hymnen, die von einer äußersten Anspannung des poetischen Ausdrucks zeugen, präsentieren sich die Nachtgesänge zugleich in einer kaum zu überbietenden Schlichtheit, die sich in einer lakonischen Verknappung der Sprache am Rande zum Schweigen äußert. Weit davon entfernt, triviale Zugeständnisse an den Zeitgeist zu sein, bieten die Gedichte ein kunstvolles Spiel mit der Konventionalität der Sprache auf, das sie zu Perlen der Dichtkunst werden lässt, die in ihrem Anspruch auf Einzigartigkeit das Recht der Moderne gegenüber der Antike zur Geltung bringen. Hölderlins Gedicht Der Winkel von Hahrdt beschreibt kein geschichtliches Ereignis aus dem Jahre 1519, es ist als textuell vermittelte Erinnerung an dieses Ereignis selbst ein Ereignis – das des Übergangs von der alten zur neuen Poesie. Das hat auch Konsequenzen für Foucaults Ereignisbegriff. Wenn sein Anliegen darin bestand, gegen den Heideggerschen Pathosbegriff des Ereignisses einen mathematisch-formalen Begriff des Ereignisses als Grundlage der historischen Ordnung des Diskurses herauszuarbeiten, dann kann sich die Literaturwissenschaft mit dem beschreibenden Verfahren der Archäologie nicht begnügen. Um die Dichtung nicht nur als Repräsentation des Ereignisses verstehen zu können, sondern in Übereinstimmung mit Foucaults eigentlichem Anspruch die Ereignishaftigkeit des literarischen Diskurses selbst zu thematisieren, sieht

20 Schröder, Thomas: Poetik als Naturgeschichte. Hölderlins fortgesetzte Säkularisation des Schönen. Lüneburg 1995, S. 15.

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sie sich dazu gezwungen, die Diskursanalyse der Literatur um eine Poetik zu ergänzen, die im Falle Hölderlins wie gezeigt die Gestalt einer Poetik der Naturgeschichte annimmt, der es darum geht, geschichtliche Signaturen in Naturbilder zu übersetzen und diesen Prozess der Übersetzung selbst als Ereignis zu inszenieren. Literatur wäre in diesem Sinne nichts anderes als die Übersetzung von geschichtlichen, politischen und sozialen Ereignissen in eine Ereignishaftigkeit zweiter Ordnung, dem selbst geschichtlichem wie ästhetischem Ereignis des eigenen Erscheinens, was in Hölderlins Fall mit der Begründung einer spezifisch modernen Poetik jenseits der Gesetze der Nachahmung einhergeht. Das Ereignis erweist sich so mit Foucault wie mit Hölderlin als eine Kategorie der Moderne nach der Ordnung der Repräsentation und jenseits der Ordnung des Subjekts.

Karl Maurer

Das Gedicht als kosmisches Ereignis Mallarmés Coup de dés und Paul Valérys Ode secrète Was ist ein literarisches Ereignis, ein „événement littéraire“? Die französische akademische Kritik tut sich schwer mit diesem Begriff, spätestens seit Denis Hollier in dem von ihm herausgegebenen Band A New History of French Literature (1989)1 diese als reine Ereignisgeschichte aufbereitet hat.2 Die Méditations poétiques (1820) von Alphonse de Lamartine, die dem Verfasser der einschlägigen Monographie innerhalb der in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts florierenden Reihe Les Grands Événements littéraires geradezu als Prototyp eines solchen erschienen,3 lassen sich nur bei distanzierter Betrachtung in dieser Weise umschreiben, und dies weniger, weil sie erst allmählich ihr definitives Profil gewannen, wie man eingewandt hat,4 als vielmehr deshalb, weil sie, ähnlich wie zehn Jahre später in Italien Leopardis Canti, noch einmal die ganze Fülle der lyrischen Formen des 18. Jahrhunderts ausbreiten, die sie in eine neue, homogene romantische Dichtweise überführen.5

1 A New History of French Literature. Cambridge, Mass. (u. a.) 1989. Eine französische Fassung erschien vier Jahre später: Hollier, Denis / Rigolot, François (Hg.): De la littérature française. Édition française. Paris: Bordas, 1993. 2 Isabelle Tournier spricht von einer „histoire littéraire déconstruite à l’extrême“ (Événement historique, événement littéraire. Qu’est-ce qui fait date en littérature? In: Revue d’histoire littéraire de la France 102 [2002], S. 747–758, hier S. 750). 3 Fréjaville, Gustave: Les Méditations de Lamartine. Paris: Société française d’éditions littéraires et techniques, 1931, S. 9: „La publication des Méditations de Lamartine est peut-être l’exemple le plus parfait de ce qui mérite de s’appeler un ‚grand événement littéraire‘.“ 4 So Tournier: Événement historique, S. 752: „Les Méditations poétiques de Lamartine, pourtant paradigme archétypal de surgissement glorieux, se virent longuement préparées, et plusieurs fois augmentées.“ Hier liegt indessen nur ein Scheinproblem vor: Welche Fassung das „Ereignis“ war – in diesem Falle der Erstdruck von 1820 –, ist eine Frage der Wahrnehmung, nicht des Entstehungsprozesses. Ein Recht auf editorische Aufmerksamkeit haben alle Fassungen, sie erst konstituieren das Leben des Textes. 5 In beiden Fällen vollzieht sich der angestrebte Wandel mittels einer vereinheitlichenden neuen lyrischen Gattungsbezeichnung, die bis dahin anderweitig besetzt war, im italienischen Bereich die „Gesänge“ (canti) als Untergliederung des Versepos, in der französischen Tradition die religiösen Prosa-„Meditationen“ (méditations, méditations chrétiennes) eines Malebranche und eines Bossuet. Jedesmal hat dabei die vorromantische englische Poesie Pate gestanden, „Ossian“ / Macphersons Songs of Selma und James Herveys Meditations Among the Tombs. Vgl. dazu Fréjaville: Les Méditations de Lamartine, S. 154, und Maurer, Karl: Giacomo Leopardis Canti und DOI 10.1515/9783110541854-006

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Die Skepsis gegenüber dem „Ereignis“-Konzept ist in Frankreich auch außerhalb des literaturgeschichtlichen Bereichs lebendig, ungeachtet der eindrucksvollen Entfaltung des Ereignisdenkens gerade in der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, die ein von Marc Rölli initiierter Band Ereignis auf Französisch (2004) dokumentiert hat. Es scheint geradezu, als wäre das Ereignis keine genuine französische Anschauungskategorie, sondern vor allem deutscher Import, der von Bergson bis zu Gilles Deleuze wirksam gewesen wäre.6 Im französischen Sprachgebrauch des 17. und 18. Jahrhunderts konkurriert noch die im Lateinischen angelegte Bedeutung des „Ausgangs“ (eventus) eines Geschehens.7

1 Der französische Denker, Essayist, Aphoristiker und Lyriker Paul Valéry, zwölf Jahre jünger als Bergson, bekundet noch in seinen letzten Lebensjahren in seinen täglich geführten Cahiers seinen „Überdruss an den Ereignissen“ („mon ennui des événements“); ihn bewegt nur das Werden und das Vollenden, nicht der einmalige überwältigende Moment: „[…] ce n’est que le construire et le parfaire qui m’excitent. Ce qui est merveilleux dans l’instant ne me suffit pas, le miracle m’est insensible.“ 8 Aus den ‚Ereignissen‘ könne man nichts lernen, manche seien nicht mehr als ein Zufall, andere nur der Niederschlag von Entwicklungen, die das eigentliche Interesse verdienten, und wieder andere nur das Ergebnis eines Zusammenspiels mehrerer Faktoren: „J’ai observé que les événements ne nous apprennent rien, se réduisant les uns à des accidents, les autres à des conséquences dont le principal intérêt est la préparation, et les autres encore à des

die Auflösung der lyrischen Genera. Frankfurt a. M. 1957 (= Analecta Romanica. 5), Kap. II,1: „Von der canzone zum canto“. 6 Dazu abwägend der abschließende Beitrag von Bernhard Waldenfels: Die Macht der Ereignisse. In: Rölli, Marc (Hg.): Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze. München 2004, S. 447–458, hier S. 447. 7 Vgl. dazu die Belege unter dem Lemma „Événement“ in: Littré, Émile: Dictionnaire de la langue française. 4 Bde. Paris 1873–1874, Bd. 2, Sp. 1545a: „3o Issue, bon ou mauvais succès“, sowie Thesaurus linguae Latinae. Bd. 5,2 (1953), Sp. 1018–1021: „eventus, ūs“, hier Sp. 1018f.: „II. (generatim) exitus rei gestae, effectus“. 8 So ein Eintrag aus dem Jahr 1944, Heft 28, S. 332 („Ego“), zit. nach Valéry, Paul: Cahiers. Herausgegeben von Judith Robinson. 2 Bde. Paris: Gallimard, 1973–1974 (= Bibliothèque de la Pléiade. 242 und 254), Bd. 1, S. 224; ähnlich öfter. (Sofern nicht ausdrücklich gekennzeichnet, stammen alle Hervorhebungen in den Zitaten aus Valérys Cahiers aus den Originaltexten.)



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combinaisons concertées.“9 Es sei deshalb ein Fehler, die Geschichte auf die ‚großen Ereignisse‘ zu verengen, damit reduziere man das Leben nur auf seine kritischen Momente; wesentlich sei vielmehr das Unmerkliche, der stille und stetige Fortgang des Lebens: „Réduire l’histoire aux ‚grands événements‘, c’est réduire la vie à ses points critiques […] C’est ce qui est insensible qui est l’essentiel, la marche silencieuse et constante est la vie.“10 Die Ereignisse sind der Brandung vergleichbar, die den Blick in die Tiefe verwehrt: „Les événements sont les écumes, les brisants qui empêchent de voir les choses.“11 Der Chronist seiner eigenen Gedanken macht allerdings – verhältnismäßig früh – eine wichtige Ausnahme, die „inneren Ereignisse“: „C’est […] qu’il y a des événements internes, des faits dans le domaine des idées; et des accidents qui se peuvent changer en lois; des hasards qui sont tournés en actes volontaires, qui se font vouloir après, qu’on n’eût pas même pu désirer avant.“12 Diese Ereignisse sind Augenblicke eines individuellen Innewerdens, wie er zwanzig Jahre später verallgemeinernd notieren wird: „Chaque chose que tu vois est un événement et chaque idée, un événement, et toi-même qui te perçois par événements (et qui en es un à cet instant) tu es aussi capacité d’événements, – qui elle-même est un …“13 Und sie sind erkennbar Elemente der Selbstbeobachtung eines Dichters. An der frühen Stelle ist die Rede von einer „wortgewordenen plötzlichen Erleuchtung“ („[c]ette illumination brusque qui se fait parole“)14, die als echte „Überraschung“ („surprise“) auf den „Zustand eines unbestimmten Wartens“ („l’état d’attente indéterminée“)15 folgt – eine aus Valérys Poetologie wohlbekannte Abfolge. Der Autor der Jeune Parque klassifiziert in einem Brief an einen seiner ersten Bewunderer sein soeben erschienenes Gedicht selbstironisch als ein „so geringfügiges Ereignis“ („un si petit événement“) – er sei noch ganz benommen davon, dass er ein so umfangreiches Gedicht zustande gebracht habe.16 Und der Dichtungs-

9 Heft 27, S. 35 („Ego“) = Bd. 1, S. 214 von 1943 (gestrichen). 10 Heft 27, S. 353 („Histoire-Politique“) = Bd. 2, S. 1537 von 1943. 11 Heft 25, S. 650 („Homo“) = Bd. 2, S. 1436 von 1942. Der Satz findet sich fast wortlautgleich schon in Heft 6, S. 830 = Bd. 2, S. 1383 von 1917–1918 unter der gleichen Rubrik. Er hätte auch in den geplanten Nouvelles mauvaises pensées figurieren sollen. 12 Heft 5, S. 611 („Temps“) = Bd. 1, S. 1292 von 1915. 13 Heft 19, S. 494 („Le Moi et la personnalité“) = Bd. 2, S. 322 von 1936. 14 Heft 5, S. 611 („Temps“) = Bd. 1, S. 1292 von 1915. 15 Ebd. Die Seiten von Heft 5, S. 588–621 = Bd. 1, S. 1284–1293 variieren fortlaufend das Thema „L’Attente et la Surprise“. 16 Brief an Francis de Miomandre vom 6. Mai 1917 (Schreibmaschinenkopie): „moi-même, je ne suis pas bien réveillé encore de la stupeur d’avoir écrit ce long poème.“ Zitiert nach der Edition von Florence de Lussy: Lettres à Francis de Miomandre (1917–1935). In: Lawler, James / Guyaux,

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theoretiker der dreißiger Jahre sieht im Rückblick auf die vielfältig reflektierte Schreibweise seines Leitbilds Mallarmé sogar die Möglichkeit, dass ein einziges Wort zum Ereignis werden kann, wenn der Dichter lange genug auf es gewartet hat, „l’âme tendue vers les harmoniques, et toute à percevoir l’événement d’un mot dans l’univers des mots, où elle se perd à saisir tout l’ordre des liaisons et des résonances qu’une pensée anxieuse de naître invoque …“17

2 Auch im lyrischen Werk – genauer gesagt, in den poetologischen Gedichten der auf die Jeune Parque folgenden Charmes (1922) – begegnet der spezifische Begriff des nach langem Vorlauf „plötzlich“ gewordenen Gedichts als „Ereignis“, wie ihn die Theorie sehr viel schwerfälliger beschreibt: […] il arrive […] que ces états de trouble ou d’émoi particulièrement profonds engendrent je ne sais quels élans d’activité expressive, dont les effets immédiats sont des formes qui se produisent à l’esprit, des rythmes, des relations inattendues entre des points cachés dans l’âme, et qui fort éloignés les uns des autres jusque-là, s’ignorant en quelque sorte dans l’ordinaire du temps, apparaissent brusquement faits pour se correspondre, et comme les parties d’un accord ou d’un événement préétabli […]18

In den beiden letzten Strophen der Ode secrète heißt es in der Vorveröffentlichung in der Zeitschrift Littérature vom Februar 1920 bündig:

André (Hg.): Paul Valéry. Paris / Genève: Champion/Slatkine, 1991 (= Littérature moderne. 2), Sp. 197a–205b, hier Sp. 198a. 17 Je disais quelquefois à Stéphane Mallarmé (1931). Zitiert wird hier wie im Folgenden nach der Ausgabe: Valéry, Paul: Œuvres. Herausgegeben von Jean Hytier. 2 Bde. Paris: Gallimard, 1957–1960, Nachdruck 2000–2002 (= Bibliothèque de la Pléiade. 127 und 148), Bd. 1, S. 644–660, hier S. 656. Der Beitrag ist zuerst als Vorrede zu einer Neuauflage der Poésies von Mallarmé aus jenem Jahr erschienen, danach mehrfach nachgedruckt; vgl. die „Notes“, Bd. 1, S. 1718f. Valéry illustriert seinen Befund mit einem Rückverweis auf Mallarmés berühmtes Theorem: „Je dis: une fleur! et hors de l’oubli où ma voix relègue aucun contour, en tant que quelque chose d’autre que les calices sus, musicalement se lève, idée même et suave, l’absente de tous bouquets.“ (Avantdire au Traité du Verbe de René Ghil [1886]; Zitate hier und im Folgenden nach der Ausgabe: Mallarmé, Stéphane: Œuvres complètes. Herausgegeben von Henri Mondor und G. Jean-Aubry. Paris: Gallimard, 1996 [= Bibliothèque de la Pléiade. 65], S. 857f., hier S. 857) 18 „Préambule“ zu: Valéry, Paul: Poésie. Essais sur la poétique et le poète, illustré de 8 eauxfortes dessinés et gravés par l’auteur. Paris: Collection Bertran Guégan, 1928, S. IX–XVI, hier S. XII. Dieser wichtige Text ist, soviel ich sehe, in den Œuvres nicht enthalten.



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O quel Taureau, quel Chien, quelle Ourse, Quels objets de conquête énorme, Quand elle entre aux temps sans ressource, L’âme extraordinaire forme! O quel brusque étincellement D’événements très précieux Étonne universellement Les silences qui sont aux cieux!19

Die „Eroberungen“, deren Verewigung hier gefeiert wird, sind, wörtlich genommen, die Sternbilder, die der betrachtende Mensch aus dem weltumspannenden, ewig schweigenden20 Himmel hervortreten lässt, in der allegorischen Landschaft von Charmes sind aber jene Konstellationen angesprochen, die nach Mallarmés berühmtem Figurengedicht Un coup de dés „vielleicht“ als einzige verbleiben nach dem dichterischen „Würfelwurf“, einem „mit Blick auf jedes Resultat nichtigen Ereignis“ („l’événement / accompli en vue de tout résultat nul“)21: „RIEN

19 Ode secrète, V. 17–24. Text und Varianten nach Valéry: Œuvres, Bd. 1, S. 151f. mit „Notes“, S. 1676. 20 Der Wortlaut des letzten Verses der Vorfassung („Les silences qui sont aux cieux“) ist offensichtlich ein Seitenhieb auf Pascals berühmten Ausspruch: „Le silence éternel de ces espaces infinis m’effraie“ (Pensées, Frgm. 206 Brunschvicg), dem Valéry zehn Jahre später in einem eigenen polemischen Artikel bescheinigt, er sei kein philosophischer, sondern ein poetischer Text: „Cette phrase […] est un Poème, et point du tout une Pensée.“ (Variation sur une pensée [1923, um die „Notes“ ergänzt 1930]. In: Œuvres, Bd. 1, S. 458–473, hier: S. 458 [„Notes“]) Der Vers ist nicht das einzige ironische Zitat in Charmes, in der Ébauche d’un serpent finden sich gleich mehrere. 21 Es gibt keinen ‚definitiven‘ Text des Coup de dés. Der Erstdruck in der Zeitschrift Cosmopolis vom Mai 1897 entsprach nicht der Konzeption des Dichters. Eine geplante Folio-Ausgabe kam nach Mallarmés Tod im September 1898 nicht mehr zustande, wir besitzen nur die von ihm sorgfältig durchgesehene und mit neuen Anweisungen versehene (vierte) Fahnenkorrektur (ein Faksimile der Fahne findet sich in der Studie des amerikanischen Mallarmé-Forschers Robert G. Cohen, dem das Dokument zeitweise gehörte: Mallarmé’s Masterwork. New Findings. The Hague / Paris 1966, S. 87–111: „The Unpublished Text“). Die 1914 von Mallarmés Schwiegersohn Edmond Bonniot veranstaltete erste Buchausgabe (Mallarmé, Stephane: Un coup de dés jamais n’abolira le hasard. Unpaginierter reprographischer Nachdruck. Paris: Gallimard, 1993), nach der sich seither alle Drucke richten, setzt nicht alle Direktiven des Dichters um. Ich zitiere hier und im Folgenden nach Mallarmé: Œuvres complètes, S. 457–477, hier S. 474/475; ich verweise aber zugleich ausdrücklich auf die zweisprachige großformatige künstlerische Nachgestaltung von Wilhelm Richard Berger und Klaus Detjen: Mallarmé, Stéphane: Un coup de dés jamais n’abolira le hasard / Ein Würfelwurf niemals tilgt den Zufall. Göttingen: Steidl, 1995. Näheres zur Geschichte der postumen Drucklegung des Coup de dés siehe jetzt in der neuen zweibändigen Pléiade-Ausgabe: Mallarmé, Stephane: Œuvres complètes. Herausgegeben von Bertrand Marchal. Paris: Gallimard, 1998–2003, Bd. 1, S. 1315–1324 (der Coup de dés dort Bd. 1, S. 363–387).

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Abb. 1: Un coup de dés jamais n’abolira le hasard, letzte Doppelseite



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[…] / N’AURA EU LIEU […] / QUE LE LIEU […] / EXCEPTÉ […] / PEUT-ÊTRE […] / UNE CONSTELLATION.“22 Beide Texte, Valérys Ode nach klassischen Mustern23 und das Figurengedicht, stehen in einem engen genetischen Zusammenhang. Valéry hat im gleichen Jahr, in dem die Ode secrète zuerst erschien, dem kühnen letzten Wurf seines Mentors Mallarmé eine enthusiastische Würdigung gewidmet, die eben diese Zusammenhänge herausarbeitet und in der Feststellung gipfelt, dass hier – zumal auf der letzten Doppelseite (Abb. 1) – der Text selbst in seiner Anordnung auf dem Papier jenes Werden einer gedanklichen und sprachlichen „Konstellation“ vor Augen führt und so in nie dagewesener Weise zum Ereignis wird: Il me sembla de voir la figure d’une pensée, pour la première fois placée dans notre espace … Ici, véritablement, l’étendue parlait, songeait, enfantait des formes temporelles. L’attente, le doute, la concentration étaient choses visibles. Ma vue avait affaire à des silences qui auraient pris corps.24

Mit einem Wort: […] là, sur le papier même, je ne sais quelle scintillation de derniers astres tremblait infiniment pure dans le même vide interconscient où, comme une matière de nouvelle espèce, distribuée en amas, en trainées, en systèmes, coexistait la Parole!25

Dieses Ereignis ist in erster Linie ein visuelles. Man ‚sieht‘ einen Gedanken sich abzeichnen, aufleuchten und sogleich wieder zurücktreten, die sich ablösenden Eindrücke ‚nehmen‘ schließlich ‚Gestalt an‘, rings umgeben von einer ‚fühlbaren Leere‘: […] la fraction d’une seconde, pendant laquelle s’étonne, brille, s’anéantit une idée: l’atome de temps, germe de siècles psychologiques et de conséquences infinies, – paraissaient enfin comme des êtres, tout environnés de leur néant rendu sensible.26

Mallarmés kurzes Vorwort zu der – noch unbefriedigenden – einzigen Veröffentlichung zu seinen Lebzeiten in der Zeitschrift Cosmopolis vom Mai 1897 nimmt

22 So die durchlaufende Leitsentenz der letzten beiden Doppelseiten, S. 474/475–476/477. 23 Vgl. hierzu und zum weiteren die ausführliche Deutung des Gedichts bei Maurer, Karl: Interpretationen zur späteren Lyrik Paul Valérys. München 1954, S. 53–67. 24 Valéry, Paul: Le Coup de dés. Lettre au directeur des Marges. In: Œuvres, Bd. 1, S. 622–630, hier S. 624. 25 Ebd. 26 Ebd.



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diese ganz vom Druckbild geprägte Sehweise in gewisser Weise vorweg. Er habe die weißen Flächen (frz.: les blancs, „die Spatien“) auf der Seite neu verteilt, so heißt es da, sie umrahmten nun nicht länger das Gedicht, das die Seite nur zu einem Drittel füllt, sondern drängen überall in den Text ein, wo sich eine Zäsur ergibt: „Le papier intervient chaque fois qu’une image, d’elle-même, cesse ou rentre, acceptant la succession d’autres […]“27 Das darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser so ‚sprechend‘ angeordnete Text zugleich ein durchkalkulierter Vorlesetext ist; Mallarmé spricht selbst von einer „Partitur“: „Ajouter que de cet emploi à nu de la pensée avec retraits, prolongements, fuites, ou son dessin même, résulte, pour qui veut lire à haute voix, une partition.“28 Das eine wie das andere Gedicht feiert das Ereignis seiner Entstehung, bei Mallarmé im Understatement: „außer … vielleicht … eine“ – namenlose – „Konstellation“; die Namen der sommerlichen Sternbilder – Schlange, Schwan, Adler, Leier – setzt Valéry im Protokoll seiner Lektüre ein: Le soir du même jour […], l’innombrable ciel de juillet enfermant toutes choses dans un groupe étincelant d’autres mondes, et que nous marchions, fumeurs obscurs, au milieu du Serpent, du Cygne, de l’Aigle, de la Lyre, – il me semblait maintenant d’être pris dans le texte même de l’univers silencieux […]29

Valérys eigene Ode schlägt gattungsgemäß triumphalere Töne an. Die Ode secrète ist, wenn man so will, sein „Exegi monumentum …“ – in der endgültigen Anordnung von Charmes steht sie nicht zufällig fast am Ende, gleich nach dem Cimetière marin. Zu feiern ist nicht nur das Werden eines Gedichts, sondern überhaupt die gelungene Rückkehr zur Poesie in vielen „kostbaren Ereignissen“, nach langem Verstummen.

27 Préface. In: Mallarmé: Œuvres complètes, S. 455f., hier S. 455. 28 Ebd. Von einer „Inszenierung“ („quelque mise en scène spirituelle exacte“, ebd.) kann nur im uneigentlichen Sinn die Rede sein; diese Einordnung sollte mehr als zwanzig Jahre später zu einer Kontroverse über die szenische Aufführbarkeit des Coup de dés führen, der Valérys Statement geschuldet ist (vgl. dieses sowie die Erläuterungen in: Œuvres, Bd. 1, S. 1717f.). Es ist tatsächlich an einen von der Aufgliederung der Seiten diktierten zusammenhängenden Vortrag mit klaren Zäsuren und mit wechselndem Tempo und Nachdruck gedacht, vgl. Mallarmé: Préface, S.  455: „L’avantage, si j’ai droit à le dire, littéraire, de cette distance copiée qui mentalement sépare des groupes de mots ou les mots entre eux, semble d’accélérer tantôt et de ralentir le mouvement, le scandant, l’intimant même selon une vision simultanée de la Page […]“. 29 Le Coup de dés, S. 625f.

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Dieser Triumph wird wiederum in das Bild einer mit „Ringen“, „Tanz“, „Fall“, „Lagern“ und schließlich „Vergehen“ suggestiv umschriebenen Liebeserfüllung gekleidet, die sich ihrerseits in den aufgehenden Sternbildern spiegelt – in Gestalt der ineinander verschlungenen Gestirne „Schlangenträger“ (Ophiuchus) und „Schlange“ (Anguis). Die Verbindung zwischen diesen beiden Ebenen stiften die großen mythischen Gestalten, die als Leitbilder hinter dem „Eroberer“ und seinen verstirnten „Siegeszeichen“ stehen. Genannt wird Herakles, der sich selbst „bricht“ (V. 10f. „Ce grand corps […] / […] qui rompit Hercule“) – weil ihn niemand anders als er selbst zu überwältigen vermag, wie man bei Seneca nachlesen kann: „Quaeris Alcidae parem? / Nemo est nisi ipse: bella iam secum gerat.“ (Hercules furens, V. 84f.)30

3 Valérys Gedicht ist vielschichtig: Es ist eine – in der petrarkistischen Tradition seltene31 – Feier der Liebeserfüllung, eine von Mallarmé inspirierte Verherrlichung der menschengefügten „Konstellation“ im kosmischen Wortverstande wie im übertragenen, poetologischen Sinne des Texts als eines sprachgewordenen Ereignisses und zugleich die Wiederbelebung einer – odenspezifischen – mythologischen Szenerie: Der Heros kann vergehen, nachdem er das von ihm Vollbrachte den ewigen Räumen aufgeprägt hat. Keiner der drei Themenkreise darf verabsolutiert werden,32 wie ein kurzer Blick auf die spätere Fassung in Charmes deutlich macht (Textänderungen sind kursiviert):

30 Text nach: Sénèque: Tragédies. Herausgegeben und übersetzt von Léon Herrmann. 2 Bde. Paris: Les Belles Lettres, 1924–1926. 31 Zu nennen wäre etwa das neunte Sonett der Diverses Amours von Philippe Desportes, das die klassische Situation des petrarkistischen Liebenden umkehrt: nicht der schmachtende, der erhörte Liebende kann den Blicken seiner Umgebung nicht länger entrinnen (V. 14): „Mais ah! c’est trop mon cœur tu seras decouvert.“ Malherbe bewunderte diese Schlusswendung. (Text nach: Desportes, Philippe: Diverses Amours et autres œuvres meslées. Edition critique suivie du Commentaire de Malherbe. Herausgegeben von Victor E. Graham. Genève / Paris: Droz / Minard, 1963 [= Textes Littéraires Français. 101], S. 30) 32 Dazu neigt James R. Lawler, der mir und anderen vorwirft, nicht erkannt zu haben, dass die sinnliche Euphorie (in Valérys Terminologie: „l’orgueil physiologique“) das wesentliche Thema dieses Gedichts ist (Lecture de Valéry. Une étude de Charmes. Paris: PUF, 1963, S. 234, Anmerkung  3). Ich muss meinerseits einräumen, dass ich mich seinerzeit gescheut



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Chute superbe, fin si douce, Oubli des luttes, quel délice Que d’étendre à même la mousse Après la danse, le corps lisse! Jamais une telle lueur Que ces étincelles d’été Sur un front semé de sueur N’avait la victoire fêté! Mais touché par le Crépuscule, Ce grand corps qui fit tant de choses, Qui dansait, qui rompit Hercule, N’est plus qu’une masse de roses! Dormez, sous les pas sidéraux, Vainqueur lentement désuni, Car l’Hydre inhérente au héros S’est éployée à l’infini … O quel Taureau, quel Chien, quelle Ourse, Quels objets de victoire énorme, Quand elle entre aux temps sans ressource L’âme extraordinaire forme! Fin suprême, étincellement Qui, par les monstres et les dieux, Proclame universellement Les grands actes qui sont aux Cieux!

Der Text ist ungeachtet seines dichtungsallegorischen Hintersinns von Anfang an ein erotisches Anlassgedicht. Es ist aus der Rückschau nach der Liebesvereinigung geschrieben, und es hat sogar ein – verborgenes – biographisch fixierbares Gegenüber, wie der Titel Ode secrète andeutet.33 In seiner Direktheit ist es dem mittelalterlichen Frauenlied Walthers von der Vogelweide „Under der linden an der heide / da unser zweier bette was …“ (Lachmann 39, 11) nicht unverwandt (dort spricht, der Gattung gemäß, die Frau). Die Ausgangssituation wird in den Abend und in die Nacht hinein fortgeschrieben, in den beiden Mittelstrophen aber

habe, so nahe an den Lebenstagen des Dichters die Dinge, bis auf das Walther-Zitat (Lachmann 40, 12f.: „niemer niemen / bevinde daz wan er unde ich“), beim Namen zu nennen. 33 Der Titel steht gewissermaßen an Stelle einer Widmung mit Monogramm, die sich die Adressatin verbat (mündliche Mitteilung von Lucien Fabre). Valéry umschreibt die Sonderstellung dieses Gedichts mit dem etwas änigmatischen Satz: „C’est une espèce d’enfant naturel – de parents inconnus – d’où le titre.“ (Brief an Alain vom 4. Januar 1930. In: Valéry, Paul: Lettres à quelquesuns. Paris: Gallimard, 1952, S. 184)

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zugleich heroisierend überhöht und in ein markantes Sternbild überführt. Damit öffnet sich der Blick auf den von Schöpfungen des menschlichen Geistes bevölkerten bestirnten Himmel. Die kosmische Dimension, die in den ersten beiden Strophen allenfalls in den sommerlich blinkenden Schweißtropfen des Siegers gegenwärtig war, gewinnt nun die Oberhand. Zugleich rückt ein breiter mythologischer Fundus ins Bild, der zuvor schon in der Heraklesgestalt angesprochen war und nun in der neuen Fassung der letzten Strophe als „les monstres et les dieux“ generalisiert wird:34 nach der (lernäischen?) Hydra der (kretische?) Stier, der (Höllen-?)Hund und die (arktische?) Bärin. Der Dichter wird, wie schon der junge Valéry als erster Leser des Coup de dés,35 zum bewundernden Betrachter der „großen Taten“ im All. Diese Perspektive war in Mallarmés kühnem letzten Gedicht noch nicht angelegt. Bei ihm ereignet sich „allenfalls / hoch oben / vielleicht / […] / eine Konstellation“, beim späteren Valéry nimmt der Mensch, indem er vergeht, seine „Siegeszeichen“ wahr, die er, wie es, noch einmal sieben Jahre später, in der Gesamtausgabe der Poésies von 1929 heißt, „dem gestaltlosen Raum aufzwingt“ (V. 20: „[…] l’âme impose à l’espace informe“). Es entspricht diesem Perspektivwandel, dass das Wort „événement“ in der Fassung von Charmes aus dem Text verschwunden ist – die „événements très précieux“ mussten in der letzten Strophe für „les monstres et les dieux“ Platz machen. Die abschließende Szenerie – der „außerordentliche“ Mensch als befriedigter Betrachter seiner verstirnten Siege – hat Valéry nicht als erster entworfen. Er konnte sie finden bei einem namenlosen Seneca-Nachahmer, der in den ersten hundert Versen seines Hercules Oetaeus der skurrilen Klage einer über die verstirnten Kebsweiber ihres untreuen Gatten erbosten Juno am Anfang des echten Hercules furens den grandiosen Eingangsmonolog des am Ende seines Weges angelangten Heroen zur Seite gestellt hat.36 Alle Ungeheuer sind von ihm besiegt, sind schon verstirnt, nur ihm wird noch die Aufnahme in den Himmel verweigert,

34 Die gewählte Umschreibung ist bewusst banal. In den Mauvaises pensées et autres von 1941 spricht Valéry abschätzig vom „système Monstre et Héros de toutes les mythologies possibles“ (T. In: Œuvres, Bd. 2, S. 906). 35 Den Anspruch auf dieses Privileg erhebt Valéry ausdrücklich in seiner Expertise: „Je crois bien que je suis le premier homme qui ait vu cet ouvrage extraordinaire.“ (Le Coup de dés, S. 623) 36 Zu den Qualitäten des Pseudoseneca vgl. Zwierlein, Otto: Kritischer Kommentar zu den Tragödien Senecas. Stuttgart 1986 (= Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Einzelveröffentlichungen. 6), Stuttgart: Steiner, 1986, S. 314: „Daß dieser anonyme Autor bei aller sklavischen Abhängigkeit von Seneca und sonstigen Vorbildern durchaus eigenes stilistisches Vermögen unter Beweis stellen kann, durfte nicht […] a priori ausgeschlossen werden, zumal er in der metrischen Strenge



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er muss sich noch die Trophäen seiner großen Taten von der Erde aus ansehen (Hercules Oetaeus, V. 72–74): Inuasit omnis ecce iam caelum fera meque antecessit: uictor e terris meos specto labores […]

Es ist schwer vorstellbar, dass Valéry diese Stelle nicht gekannt hat (fünf Jahre nach seinem Tode war von seinem Dichterfreund Lucien Fabre zu erfahren, dass er den Seneca tragicus sehr wohl gelesen hatte, aber zu einem späteren Zeitpunkt); es wäre ein extremer Fall literarischer Polygenese. Aber der Mythos ereignet sich, schon in der griechischen Dichtung, immer wieder neu. Es bleibt das literarische Faktum, dass der erste Leser des Coup de dés eine Generation später Mallarmés kosmische Projektion des dichterischen Wurfs in eine klassische mythologische Szenerie rückübersetzt und ihr damit eine der Ode gemäße Dignität verliehen hat. Dazu passen auch die gezielten Wortwiederholungen in den späteren Fassungen des Texts, die an Pindars archaischen Stil erinnern:37 V. 1 „[…] fin si douce“ – V. 21 „fin suprême […]“, V. 8 „[…] avait la victoire fêté“ – V. 18 „[…] de victoire énorme“, wie schon V. 6 „[…] ces étincelles d’été“ – V. 21 „[…] étincellement“.38

den echten Seneca teilweise sogar übertrifft.“ Die hier ausgetragene Kontroverse ist symptomatisch für die lange verbreitete Abwertung aller Anschlusstexte in der gängigen Praxis der Athetese. 37 Vgl. zu diesem Phänomen Maurer, Karl: Die Anfänge von Hölderlins hymnischem Sprechen: Die Hymne „Wie wenn am Feiertage …“. In: Jamme, Christoph / Lemke, Anja (Hg.): „Es bleibet aber eine Spur / Doch eines Wortes“. Zur späten Hymnik und Tragödientheorie Friedrich Hölderlins. München 2004, S. 21–66, hier: S. 29–42, und ders.: Wortwiederholung als poetisches Prinzip und als stilistischer Lapsus, oder: der weite Weg von Pindar zu Leopardi. In: Röttgers, Kurt / Schmitz-Emans, Monika (Hg.): Spiegel – Echo – Wiederholungen. Essen 2008, S. 45–58. 38 Dazu schon Maurer: Interpretationen zur späteren Lyrik Paul Valérys, S. 76, sowie Lawler: Lecture de Valéry, S. 235.

Ulrich Ernst

Spiel und Ereignis Schach als Strukturmodell in experimentellen Romanen von Lewis Carroll, Friedrich Achleitner und Georges Perec

1 Methodische Vorbemerkungen Im Folgenden soll das leitende Thema ,Text als Ereignis‘, das an aktuelle Forschungen anschließt,1 mit dem Begriff des Spiels verknüpft und am Beispiel des Schachspiels und seiner literarischen Adaptationen in der Geschichte des experimentellen Romans transepochal und transnational verfolgt werden. Während das Schachspiel als Strukturmodell experimentellen Erzählens im Laufe der Erörterung mehr und mehr an Profil gewinnen wird, sollen für den poetologischen Ereignisbegriff vorab stichwortartig, weniger zu systematischen als heuristischen Zwecken, einige kategoriale Bestimmungen formuliert werden. Folgende Aspekte sollen bei der Frage nach der Ereignishaftigkeit der hier zu behandelnden Texte besonders berücksichtigt werden: –– Essentialität, Exponiertheit und ästhetische Effizienz im Rahmen dichterischer Transferprozesse von Fiktionalisierung und Imagination –– Kinetisierung von Ereignishaftigkeit im Sinne einer Poetik der Prozessualität –– Textuelle Pluralisierung auf der Basis kontingenter, generativer und aleatorischer Strukturen –– Textuelle Figuration als tektonische Vernetzung in der Allianz von Zahlenkalkül und geometrischer Mensuralität –– Präsenz, Konstellation und Inszenierung als Ausdruck von Theatralität –– Ludistische Artifizialität als Regularisierung, Diversifizierung und Komprimierung ästhetisch-narrativer Praxis

1 Vgl. z. B. Kremer, Detlef: Ereignis und Struktur. In: Brackert, Helmut / Stückrath, Jörn (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek 1995, S. 517–532; Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. 2002; Rathmann, Thomas (Hg.): Ereignis. Konzeption eines Begriffs in Geschichte, Kunst und Literatur. Köln 2003. In ihrer kunst- und literaturtheoretischen Orientierung gehen diese neueren Arbeiten über den älteren, eher an Fragen der Historiographie interessierten Sammelband von Koselleck, Reinhart / Stempel, Wolf-Dieter (Hg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung. München 1973, hinaus. DOI 10.1515/9783110541854-007

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–– Text als Ereignis im Sinne von visuellem ,Eräugnis‘ mit optischen Effekten (z.  B. Spiegelschrift, Akrosticha) oder auch im Kontext mit performativer Materialität (Malerbuch, Künstlerbuch).2

2 Lewis Carroll Der erste Roman, dem ganz manifest als Strukturplan ein Schachspiel zugrunde gelegt wurde, ist wohl Lewis Carrolls Fortsetzung von Alice’s Adventures in Wonderland (1865), die 1871 unter dem Titel Through the Looking Glass and what Alice found there erschien.3 Das Werk nimmt mit seinen innovativen Bauformen alle vier Typen des experimentellen Romans im 20. Jahrhundert vorweg: den visuellen wie den sprachspielerischen, den permutativen wie den tektonischen.4 Die generische Zuordnung zum visuellen Roman legitimiert sich schon dadurch, dass der Text in enger Abstimmung mit dem Autor illustriert wurde, und zwar von dem Maler und Karikaturisten John Tenniel (1820–1914), der von 1851– 1901 für den britischen Punch Cartoons entworfen, schon Carrolls ersten AliceRoman bebildert und die für Kleinkinder bestimmte Kurzfassung The Nursery Alice (London 1890) mit 20 kolorierten Zeichnungen ausgestattet hat. In diesem Kontext von buchästhetischem ‚Eräugnis‘ sei betont, was von der Forschung zumeist ignoriert wird, dass nämlich Lewis Carroll den größten Teil seines dichterischen Werks entweder selbst illustriert hat oder von anderen Künstlern bebildern ließ.5 Unter den Illustrationen Tenniels zur Alice-Fortsetzung befindet sich auch das Bild einer durch Bäche und Hecken schematisch, d. h. geometrisch-mensural in Schachbrettmuster eingeteilten Landschaft, wie sie im II. Kapitel, „The Garden of Live Flowers“, beschrieben wird (s. Abb. 1).

2 Vgl. Adler, Jeremy / Ernst, Ulrich: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne. Weinheim 1987, 3. Aufl. 1990. 3 Seitenverweise im laufenden Text beziehen sich auf die Ausgabe: The Annotated Alice. Alice’s Adventures in Wonderland and Through the Looking-Glass by Lewis Carroll. Illustrated by John Tenniel. With an Introduction and Notes by Martin Gardner. London 1970. Vgl. auch Carroll, Lewis: Durch den Spiegel und was Alice dort fand. Mit 50 Illustrationen von John Tenniel. Übersetzt von Günther Flemming. Stuttgart 2000. 4 Ernst, Ulrich: Typen des experimentellen Romans in der europäischen und amerikanischen Gegenwartsliteratur. In: Arcadia 27 (1992), S. 225–320. 5 Carroll, Lewis: Das literarische Gesamtwerk. Neu übersetzt von Dieter H. Stündel. Mit allen 365 Illustrationen. Herausgegeben von Jürgen Häusser. Frankfurt a. M. 1998.



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Abb. 1: Lewis Carroll: Through the Looking-Glass.6

Aber auch der Autor selbst, Eidetiker und Pionier der Photographie im 19. Jahrhundert, verfolgt Visualisierungsstrategien, wenn er jeweils den Bach, den Alice, um das Feld zu wechseln, im Spiegelland überschreitet, optisch durch Reihen von Asterisci markiert – dies vielleicht eine Reminiszenz an Laurence Sterne – oder Überschrift und erste Strophe seines hermetischen Jabberwocky-Gedichts typographisch in Spiegelschrift präsentiert (S. 191) oder als jemand, der sich mit Kryptographie befasst hat und zudem in den Genera des Umriss- und des Gittergedichts bestens bewandert ist, die Abschlussverse mit einem onomastischen Akrostichon ALICE PLEASANCE LIDDELL kodiert und ornamentiert (S. 345).7 Als Vorläufer des verballudistischen Romans kann Carroll gelten, weil er Sprache als Spielmaterial betrachtet, mit Nonsense-Texten und Sound Poetry operiert, häufig originelle Wortspiele in den Text einfügt, die aus witzigem Wörtlich-

6 The Annotated Alice, S. 208. 7 Zum Zusammenhang zwischen Literatur und Kryptographie vgl. Ernst, Ulrich: Der Roman als Kryptotext. Geheimschrift in der europäischen Erzählliteratur der Neuzeit. In: Marx, Friedhelm / Meier, Andreas (Hg.): Der europäische Roman zwischen Aufklärung und Postmoderne. Festschrift für Jürgen C. Jacobs. Weimar 2001, S. 1–33.

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nehmen habitualisiert-metaphorischer Redewendungen resultieren, sich über die auf Platon zurückgehende ‚kratylistische‘ Sprachauffassung8 lustig macht und, sofern er etwa Wesen aus Wörtern entstehen lässt, ontologisierend den experimentellen Umgang mit Sprache in der Konkreten Poesie antizipiert. Dem einen Schachspiel als übergreifender Werkstruktur stehen zahlreiche punktuelle Sprachspiele gegenüber, die, aus der Spannung von Regel und Regelverletzung erwachsend, dem Roman einen linguistischen Charakter verleihen. Schriftspiele wie Kryptogramm und Akrostichon schlagen zudem als Lektüreereignisse eine Brücke zwischen sprachspielerischer und visueller Struktur. Sodann kann man Carrolls Erzähltext auch als Vorgriff auf den permutativen Roman interpretieren; denn das Schachdiagramm, das vor Beginn des Textes auf der Basis einer generativen Poetik die Komposition des Romans visualisiert, bildet durch die Vielzahl seiner Felder und die quasi infinite Pluralität der Zugmöglichkeiten gleichsam eine Art von textueller Software. Nachdem Alice das Spiegelland betreten hat, erscheint auf einmal alles möglich, da die Gesetze der Logik außer Kraft gesetzt werden, was wie alles bei Carroll auch einen szientifischen Hintergrund hat.9 Auf der Folie des Schachspiels erscheint die Romanwelt wegen der Vielfalt potentieller Spielzüge multioptional: Pluralisierung impliziert Kombinierbarkeit, und dies gilt auch vice versa, denn das Prinzip der verkehrten Spiegelwelt erlaubt unendliche Inversionen, sodass der Roman zum Spiegelkabinett mutiert. Vor allem aber gehört Carroll zu den Vätern des modernen tektonischen Romans, der mit artistischen, sprich: formalisierten, geometrisch-arithmetischen Gliederungsstrukturen arbeitet und bei dem der Konstruktionsplan den Schlüssel zur Werkdeutung darstellt. Angezeigt wird dieses Strukturkonzept nach dem Eingangsgedicht durch eine Aufstellung des Personals als Schachfiguren unter dem Titel Dramatis Personæ und durch die die Romanhandlung figurierende Schachpartie, unter der in zwei Spalten Züge und Gegenzüge notiert sind, in deren Verlauf im Text Alice über die Schwarze (eigentlich Rote) Königin obsiegt (s. Abb. 2).

8 Vgl. Genette, Gérard: Mimologiken. Reise nach Kratylien. München 1996. 9 Vgl. Carroll, Lewis: Symbolic Logic, Part I. London 1896.



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Abb. 2: Lewis Carroll: Through the Looking-Glass. Schachdiagramm, Züge und Figuren.10

Einerseits hat Carroll, der als Mathematiker mehrere Schriften über Euklid verfasst hat,11 mit dem Schachbrett seinem Buch ein geometrisches Fundament in Quadratform unterlegt, und andererseits wird der Roman durch zwei arithmetische Ordnungen determiniert: erstens durch eine dodekadische Kapitelsystematik, die als Inhaltsverzeichnis dem Werk beigegeben ist, und zweitens durch eine mit dieser nicht identischen Gliederungsstruktur mit eigenen Seitenangaben nach Spielzügen, 11 Zügen und 10 Gegenzügen, die ihrerseits wieder einen Schauplatzwechsel von einem Feld in ein anderes implizieren. Zu der seine Leserschaft bewegenden Frage, ob das dem Roman als Konstruktionsplan zugrundeliegende Schachspiel-Ereignis regelkonform sei und somit auch nachgespielt werden könne, hat sich Carroll mit Verweisen auf drei regelkonforme Züge in seinem Vorwort aus dem Jahr 1896 selbst geäußert: As the chess-problem, given on the next page, has puzzled some of my readers, it may be well to explain that it is correctly worked out, so far as the moves are concerned. The

10 Nach Lewis Carroll: Alice’s Adventures in Wonderland and Through the Looking-Glass and what Alice found there. Herausgegeben von Roger Lancelyn Green. Oxford 1998, S. 114f. 11 Vgl. z. B. Carroll, Lewis: Notes on the First Two Books of Euclid. London 1860; ders.: the Fifth Book of Euclid treated Algebraically so far as it Relates to Commensurables Magnitudes. London 1968.

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alternation of Red and White is perhaps not so strictly observed as it might be, […] but the „check“ of the White King at move 6, the capture of the Red Knight at move 7, and the final „checkmate“ of the Red King, will be found, by any one who will take the trouble to set the pieces and play the moves as directed, to be strictly in accordance with the laws of the game. (S. 171)

Dass Carroll sich andererseits die poetische Freiheit genommen hat, von den Regeln des Schachspiels abzuweichen, indem z.  B. die präskribierte Alternanz der Züge nicht eingehalten wird, was in der Progression der Narrativik damit endet, dass Alice, ehemals Weißer Bauer, in sozialer Aszendenz zur Königin arriviert und die Schwarze Königin schlägt, dokumentiert eine auch sonst bei dem Briten zu diagnostizierende Poetik der Devianz und Transgression. Mit den mittelalterlichen Schachbüchern hat Carrolls Roman prima vista einige Strukturelemente gemeinsam, z.  B. das Bemühen um deutliche Makrostrukturen und Binnengliederungen,12 die Bebilderung des Textkorpus, wie sie im Mittelalter etwa bei Konrad von Ammenhausen begegnet,13 und die Anthropomorphisierung der Figuren, die später sogar zu ‚Lebendschach‘ und ‚Schachballett‘ führt. Auch wenn das Schachspiel an einer Stelle als Symbol der Welt fungiert (S. 207f.), lässt sich darin ein rudimentäres Fortleben der mittelalterlichen Schachallegorie sehen. Geht es den mittelalterlichen Allegorien aber primär um den tropologischen Sinn des Schachspiels, so zielt Carrolls Roman generell im Widerpart zu der Didaktik der Traktate gerade auf ‚Non-Sens‘, der aus dem witzigen Bloßlegen des sensus litteralis resultiert. Stehen die vormodernen Schachallegorien im Dienst des Ordo-Gedankens, so weisen z.  B. die Regelverstöße des Carroll’schen Schachspiels zusammen mit der akausalen Handlung in Richtung auf inordinatio bzw. ordo inversus.14 Während die eigentlichen Schachfiguren in den mittelalterlichen Allegorien in statischer Weise die Stände repräsentieren – Aktion wird allenfalls sekundär durch eingefügte moralische Exempla generiert –, hat Carroll die Personen des Spiels zu Trägern einer Romanhandlung erhoben und die Allegorie in fiktionale Narrativik überführt. Nicht nur die Umfunktionierung der Schachfiguren in epische Aktanten, sondern auch die Konzeption eines Spiegellandes aus Schachbrettfeldern, in dem alles spiegelverkehrt ist, bedarf – nicht zuletzt nach der vor einigen Jahren erfolg-

12 Vgl. Plessow, Oliver: Mittelalterliche Schachzabelbücher zwischen Spielsymbolik und Wertevermittlung. Münster i. W. 2009, S. 51–59. 13 Ammenhausen, Konrad von: Das Schachzabelbuch. Die Illustrationen der Stuttgarter Handschrift. Herausgegeben von Carmen Bosch-Schairer. Göppingen 1981. 14 Vgl. Ernst, Ulrich: Ordo. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Herausgegeben von Gert Ueding. Berlin 2003, Bd. 6, Sp. 416–423.



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ten Proklamierung des ‚Spatial Turn‘15 – eines analytischen Zugriffs.16 Grundlegend für die epische Bauform ist eine präkonkretistische Vorstellung vom Text als Raum bzw. vom Raum als Text,17 die alle Strukturen des literarisch innovativen Buchs durchwaltet. Prinzipiell lässt sich die Raumkonzeption des Romans als eine ‚Heterotopie‘ (Michel Foucault) bestimmen, die hier auch in den Diskurszusammenhang des literarischen Labyrinths gehört, das bekanntermaßen auch ludistische Potenzen besitzt.18 Dabei ist Carroll nicht einfach nur ein Spiele-Freak, sondern hat sich auch theoretisch mit Spielen befasst und literarisch ambitionierte Abhandlungen zu diesem Themenkomplex, z.  B. über das Spiel der Logik,19 mathematische Kuriosa20 und narrativ ausgesponnene Denksportaufgaben,21 hinterlassen. Im Roman signalisiert das Schachspiel vor diesem Hintergrund poetische Autoreflexivität und epistemisch untermauerte Fiktionalität, verbürgt zudem als formale Klammer angesichts auseinanderdriftender Episoden und Handlungsteile narrative Kohärenz. Doch ist nicht nur Carroll gleichsam ein poeta ludens, auch der Leser wird mit dem vorangestellten Schachdiagramm in eine literarisch inszenierte, ereignishafte Schachpartie hineingezogen und avanciert zum Mitspieler. Was die Gattungsreferenz betrifft, so dekonstruiert Carroll einerseits mit den Zwölfergliederungen seiner beiden Alice-Romane altepische, letztlich homerische, genauer vergilianische Traditionen, andererseits suggeriert er zu Beginn durch die Figurenübersicht und im Handlungsverlauf durch das Illustrationsprogramm eine Nähe der narrativen Dichtung zum Schauspiel, so dass man cum grano salis von einem ‚theatralen Roman‘ sprechen kann. Sieht man einmal davon ab, dass schon im 18. Jahrhundert das Schachbrett als Bühne interpretiert wurde,22 so gilt es vor allem zu berücksichtigen, dass Carroll, der schon früh an

15 Vgl. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek 2006, S. 284–328. 16 Vgl. Schmitz-Emans, Monika: Spielformen – Spielfelder. Unterwegs mit Lewis Carrolls Alice. In: Rustemeyer, Dirk (Hg.): Formfelder. Würzburg 2006, S. 211–246. 17 Vgl. Ernst, Ulrich: Text als Architektur – Architektur als Text. In: Nerdinger, Winfried (Hg.): Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur. München 2006, S. 113–127, 442–444. 18 Vgl. Schmitz-Emans, Monika: Labyrinthbücher als Spielanleitungen. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 11 (2002), S. 179–207. 19 Vgl. Carroll, Lewis: The Game of Logic. London 1887. 20 Vgl. z. B. Carroll, Lewis: Curiosa Mathematica, Part I. London 1888. 21 Carroll, Lewis: Geschichten mit Knoten. Herausgegeben und übersetzt von Walter E. Richartz mit Illustrationen von Arthur B. Frost. Frankfurt a. M. 1978. 22 Vgl. Holländer, Hans: Das Schachspiel in der Literatur der Neuzeit und Moderne. In: ders. / Schädler, Ulrich (Hg.): Scacchia Ludus, Bd. 1. Aachen 2008, S. 325–384, hier S. 372f.

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eine Bühnenfassung seines ersten Alice-Romans dachte, ein starkes Faible für eventhafte Formen des Theaters wie Comedy, Burleske, Pantomime und Marionettentheater besaß,23 was ein bezeichnendes Licht auf seine narrative ‚Performance‘ wirft. Durch die Verklammerung von Prosa und Vers, die sich vielfach mit einem Widerspiel von Sinn und Unsinn überlappt, spielt der Autor zudem ansatzweise mit der alten Gattung des aus der Menippeischen Satire stammenden Prosimetrums.24 Nachdem sich schließlich in der frühen Neuzeit das Schachspiel als ein tektonisches Prinzip in der visuellen Lyrik durchgesetzt hat, transferiert Carroll, der selbst durch die Applikation von Formen wie Acrostic und Double Acrostic25 – nota bene auch „The Mouse’s Tale“ in Alice in Wonderland – an diese generische Tradition anknüpft, die ludistische Bauform des Carmen figuratum als Schaustück auf die Makrostruktur des Romans.

3 Friedrich Achleitner Das von Carroll entwickelte Konzept des Schachspiels als einer literarischen Kompositionsform wird nach dem zweiten Weltkrieg nicht nur im englischen, sondern auch im deutschen Sprachraum rezipiert und zugleich transformiert. Ähnlich wie bei Carroll bildet auch hier die visuelle Poesie, vertreten vor allem durch die reduktiven Schachgedichte und die Schachcollagen des Tschechen Jiří Kolář,26 eine wichtige ‚lyrische‘ Vorstufe. In der Wiener Gruppe, die der Konkreten Poesie27 zugerechnet wird, hat beispielsweise Friedrich Achleitner unter dem Titel quadratroman (Darmstadt 1973) einen visuellen Roman entworfen, „dessen hauptfigur das quadrat ist“, wie es noch auf dem Klappentext der Ausgabe von 1995 heißt. Dass das Werk traditionelle Formen des Romans nicht nur parodieren,

23 Vgl. The Diaries of Lewis Carroll. Herausgegeben von Roger Lancebyn Green. Vol. I. Oxford 1954, S. 55, 251, 253; Vol. II, S. 336f., 349, 432, 443, 450. 24 Vgl. Pabst, Bernhard: Prosimetrum. Tradition und Wandel einer Literaturform zwischen ­Spätantike und Spätmittelalter, I.–II. Köln 1994. 25 The Complete Works of Lewis Carroll. With an Introduction by Alexander Woollcott and the Illustrations by John Tenniel. London 1989, S. 827–837. 26 Vgl. Winter, Astrid: Metamorphosen des Wortes. Der Medienwechsel im Schaffen Jiří Kolářs. Göttingen 2006, S. 42, 186, 251, 518ff. 27 Vgl. Ernst, Ulrich: Konkrete Poesie. Blicke auf eine Neo-Avantgarde. In: Labroisse, Gerd / van Stekelenburg, Dick (Hg.): Das Sprach-Bild als textuelle Interaktion. Festschrift für Ferdinand van Ingen. Amsterdam 1999, S. 273–304.



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sondern obsolete Gattungsreferenzen auch regelrecht ad absurdum führen will, dokumentiert das ironische Spiel mit Gattungstiteln zu Beginn: 1 neuer Bildungsroman 1 neuer Entwicklungsroman etc. etc. etc.28

Jede Seite des Romans präsentiert als Figur ein in Linien eingefasstes Quadrat, dem unterschiedliche Sprachzeichen, gelegentlich auch Bildzeichen, in wechselnder Disposition einbeschrieben sind.29 Drei graphische Figuren sind konkretistischen Kollegen Achleitners dediziert, nämlich Reinhard Priessnitz (1945– 1985), der zu den experimentellen österreichischen Dichtern zählt,30 Diter Rot [eigentl. Dieter Roth] (geb. 1930), der sich als Schöpfer von Künstlerbüchern und Objektkünstler einen Namen gemacht hat, und schließlich Oswald Wiener (geb. 1935), Schriftsteller und Kommunikationstheoretiker, an den im Roman ein figürliches Schachbrett mit zwei Figuren, Pferd und Turm, und graphisch angeordneten Zügen nach dem Rösselsprung adressiert ist (s. Abb. 3). Im Unterschied zu den beiden zuvor jeweils im Widmungsvermerk genannten Konkretisten war Oswald Wiener bis 1959 auch Mitglied der Wiener Gruppe; später hat er sich mit Die Verbesserung von Mitteleuropa (Reinbek 1969) dem experimentellen Roman geöffnet und mit seinem technischen Phantasma eines BioAdapters Vorstellungen von Computer und Roboter antizipiert. Auf eine Vorliebe des auch an dem Thema artificial intelligence stark interessierten Österreichers31 für das nach Gesetzen der Kombinatorik32 organisierte Schachspiel deuten zwei Literaturhinweise in der Bibliographie im Anhang seines einer szientifischen Poetik verpflichteten Romans: Jean Dufresnes und Jacques Mieses’ Lehrbuch des Schachspiels (Stuttgart 1952) und Emanuel Laskers Kampf (Berlin 1907).33

28 Unpaginiert. 29 Vgl. Ernst, Ulrich: Textwürfel – Würfeltexte. Zu Kreuzwortlabyrinthen in der lateinischen und deutschen Gelegenheitsdichtung des Barock. In: Comparatio 1 (2009), S. 243–275, hier S. 265f. 30 Vgl. Eder, Thomas: Unterschiedenes ist / gut. Reinhard Priessnitz und die Repoetisierung der Avantgarde. München 2003. 31 Vgl. Wiener, Oswald: Probleme der Künstlichen Intelligenz. Berlin 1990. 32 Zum Gesamtkomplex vgl. Greber, Erika: Textile Texte. Literaturtheorie und poetische Metaphorik – Studien zur Tradition des Wortflechtens und der kombinatorischen Dichtung. Köln 2002. 33 Zum Zusammenhang zwischen Schachspiel, Computertechnik und ‚Künstlicher Intelligenz‘ vgl. Holländer: Das Schachspiel in der Literatur der Neuzeit und der Moderne, S. 364f.

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Abb. 3: Friedrich Achleitner: quadratroman (1973)34

Die Inklination zum experimentellen Roman impliziert bei Achleitner a priori eine Distanzierung von usuellen Formen des Beschreibens und Erzählens, die durch visuelle Präsentation und Figuration von Zeichen plakativ substituiert werden. In seinem Schachquadrat für Wiener ist das linguale Inventar zugunsten der Graphik praktisch auf Null reduziert; nur die Subscriptio mit der Dedikation fügt sich in diesem Versuch einer Quadratur des Romans noch sprachlichen Konventionen. Fragt man danach, ob die angedeuteten nichtlinearen Bewegungen des Pferdes auf dem Schachbrett vielleicht als eine Art mise en abyme eine ebenfalls nichtlineare, permutative Leseordnung des Textes spiegeln, hilft der Text auf dem Buchdeckel weiter. Nachdem hier dem Rezipienten anfangs eine lineare Lesesequenz von S. 1 bis ca. S. 150 so dringlich ans Herz gelegt wird, dass sich rasch eine

34 Ausgabe Wien 1995, S. 155.



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ironische Wirkung einstellt, stellt der Autor – zwar im Ton anscheinend etwas gereizt – dem Leser die Reihenfolge der Roman-Lektüre frei: bitte blättern sie ruhig herum aber auf ihre Verantwortung und machen sie mir dann keine Vorwürfe mehr kann ich wirklich nicht tun als sie gleich auf dem Buchdeckel auf die besonderen Umstände aufmerksam zu machen stellen sie ruhig ihre eigenen Beziehungen her pochen sie ruhig auf ihre Freiheit lassen sie sich nicht von einem Schreiber bevormunden…

Lesen erscheint hier als Ereignis, insbesondere als ein emanzipatorischer Akt des Rezipienten gegenüber dem Diktat des Autors, während der Roman, da er nichtlineares Lesen erlaubt, ja provoziert – das zeigen auch andere Textgraphiken wie z.  B. ein Kreuzworträtsel, ein auf Kasimir Malewitsch anspielendes ‚schwarzes Quadrat‘ und ein magisches Quadrat –, Gemeinsamkeiten mit der nichtlinearen Zugfolge des Schachspiels aufweist, welche in dem Schaubild durch verschiedene Zugmöglichkeiten des Pferdes visualisiert wird. Abwesenheit, Fragmentcharakter und Öffnung nach außen zu einem Raum außerhalb des Schachbretts kennzeichnen nicht nur den visuellen Eindruck des konkretistischen Diagramms, sondern umschreiben auch seine immanente Ästhetik. Wenn Achleitner gerade das Quadrat zum Protagonisten seines Romans kürt, mag sich solche Obsession für Geometrie, blendet man einmal avantgardistische Traditionen des Suprematismus und der Konkreten Kunst (Josef Albers) aus, auch biographisch daraus erklären, dass der Autor in seinem bürgerlichen Beruf Architekt war: Der quadratroman mit dem Arsenal seiner tetragonalen Figuren ist gleichsam am Reißbrett entworfen worden, erweist sich als Bucharchitektur im ­strengsten Sinne.

4 Georges Perec Die für die Ereignisdimensionen des modernen Romans zentralen Komponenten des Visuellen, Tektonischen, Sprachspielerischen und Permutativen prägen auch Georges Perecs Roman La Vie mode dʼemploi (Paris 1978), der auf dem deutschen Buchmarkt in der Übersetzung von Eugen Helmlé unter dem Titel Das Leben. Gebrauchsanweisung (Reinbek 1991) herausgekommen ist. Dass Perecs Werk an dem Diskurs des visuellen Romans partizipiert, zeigen schon zwei auf den Primat des Gesichtssinns verweisende Mottos: Dem Werk vorangestellt ist aus Jules Vernes Roman Michel Strogoff (1976): „Regarde de tous tes yeux, regarde“, und das Diktum der Einleitung, das Paul Klees Pädagogischem Skizzenbuch (1925) entlehnt ist, lautet „L’œil suit les chemins qui lui ont été ménagés dans l’œuvre“. Das visuelle Romankonzept dokumentieren vor allem Typogramme, die vom Fließtext abgehoben sind und eine breite Palette von

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Textsorten inszenieren, die alle dem Bereich von Schriftlichkeit zuzuordnen sind: z. B. Zeitungsfetzen, das Titelblatt einer Partitur, ein Auszug aus einem Wörterbuch, das Inhaltsverzeichnis einer Linguistik-Zeitschrift, ein Stammbaum, eine Menükarte, ein Etikett, eine Portulankarte, ein Talisman mit arabischen Buchstaben, ein Arzneimittelprospekt, ein Wäschestück mit eingestickten gotischen Lettern und eine Inschrift mit spiegelverkehrten Buchstaben. Als mise en abyme lässt sich im Reigen der Typogramme ein visuelles Schachdiagramm deuten, das sich auf eine spektakuläre Partie zwischen Karl Ernst Adolf Anderssen (1818–1879) und Jean Dufresne (1829–1893) in Berlin im Jahr 1852 bezieht (s. Abb. 4), die wegen eines Überraschungscoups in Gestalt eines Damenopfers unter dem Namen ‚Die immergrüne Partie‘ heute noch jedem ­Schachexperten bekannt ist.35 Eine analoge Spiegelfunktion erfüllen ein halb fertiges Kreuzworträtsel (Kap.  25), eine änigmatische Spielart visueller Poesie, mit der Perec produktiv experimentiert hat,36 und der Hinweis auf das japanische Go-Spiel (Kap. 70),37 mit dem sich der Franzose auch theoretisch beschäftigt hat.38 Wenn bei den eingefügten Typogrammen, die eine eigene Werkebene bilden, die eigentümliche, oft kalligraphische Form der Buchstaben betont wird, verbindet sich mit dem Aspekt des Visuellen die Idee der écriture, die im französischen Poststrukturalismus insbesondere von Jacques Derrida (1930–2004) gegenüber der traditionellen Vorstellung des Phonozentrismus favorisiert wird.39 Dahinter verbergen sich auch Einflüsse der die Schrift inthronisierenden Mystik der Kabbala, die in säkularisierter Form ebenfalls bei Perec vorauszusetzen sind, der wie der Philosoph einer jüdischen Familie entstammt.

35 Vgl. Schach. Vom ersten Zug zum perfekten Endspiel. Herausgegeben von Max Weiss. Würzburg 1981, S. 317–319. 36 Perec, Georges: Mots croisès I–II. Paris 1979 / 1986. 37 Vgl. Ernst, Ulrich: Manier als Experiment in der europäischen Literatur. Aleatorik und Sprachmagie. Tektonismus und Ikonizität. Zugriffe auf innovatorische Potentiale in Lyrik und Roman. Heidelberg 2009, S. 51 und S. 73. 38 Lusson, Pierre / Perec, Georges / Roubaud, Jacques: Petit traité invitant à la découverte de l’art subtil du go. Paris 1986. Das Go-Spiel hatte Roubaud zuvor schon in seinem Gedichtzyklus ‚ε‘ (Paris 1967) als Strukturmodell verwendet. 39 Vgl. Derrida, Jacques: Grammatologie. Paris 1967. Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt a. M. 1974.



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Abb. 4: Georges Perec: La Vie mode d’emploi (1978), S. 410.

Eine besondere Bedeutung für die Komposition des Romans hat im optischen Zeichenrepertoire neben Abbildungen von symbolträchtigen Puzzle-Figuren, die, mit der Haupthandlung eng assoziiert, Gegenstand von Reflexionen in der Einleitung und im 44. Kapitel sind, der Plan des zehnstöckigen Pariser Mietshauses (s. Abb. 5), dessen einzelne Räumlichkeiten den Kapiteln des Romans korrespondieren. Das Konzept eines Hauses, dessen Fassade entfernt ist, so dass man in die Räume blicken kann, geht nach Aussagen des Autors in seiner Schrift Espèces d’espaces (Paris 1974)40 auf eine Zeichnung von Saul Steinberg in The Art of Living (London 1952) zurück, ein Werk, das auch Perecs Wahl des Romantitels mit inspiriert haben dürfte. Sofern der ganze Roman konzeptionell auf dieses Bild zurückgeht und eine Architektur letztlich Gegenstand der poetischen Deskription und Narration ist, könnte man den auch sonst vielfach auf Bilder und Zeichnungen Bezug nehmenden Text als Makroform eines Bildgedichtes deuten.41 Da zudem als zentrale Figur ein Maler namens Bartlebooth fungiert, dessen 500 Aquarelle von Seehäfen durch seinen Adlatus Winckler zu 750-teiligen Puzzles transformiert werden, gehört Perecs Erzählwerk auch in die Tradition des Malerromans, der in der französischen Literatur tief verwurzelt ist.42

40 Perec, Georges: Träume von Räumen. Übersetzt von Eugen Helmlé. Oldenburg 1990, S. 52–57. 41 Vgl. Ernst, Ulrich: Bildgedicht. In: Lamping, Dieter (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart 2009, S. 46–55. 42 Vgl. Rieger, Angelica: Alter Ego. Der Maler als Schatten des Schriftstellers in der französischen Erzählliteratur von der Romantik bis zum Fin de siècle. Köln 2000.

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Abb. 5: Georges Perec: La Vie mode d’emploi (1978), S. 603.

An Diskursen des sprachspielerischen Romans partizipiert das Werk gleichfalls, da Perec einerseits von der kombinatorischen, unter dem Begriff Temurah bekannten Hermeneutik der Kabbala, andererseits aber auch von der Linguistik und ihrer



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von Ferdinand de Saussure (1857–1913) entwickelten Anagrammtheorie43 beeinflusst ist. Er selbst hat außerhalb von La Vie mode dʼemploi Permutationen,44 Palindrome45 und Abecedarien46 konzipiert und im Roman selbst im 85. Kapitel Anagramme und Kryptogramme präsentiert, was mit der zentralen Idee des Romans als Puzzle konvergiert.47 Geradezu fulminant sind disperse phonetische Intexte48 im 59. Kapitel (S. 352f.), in dem 24 Portraits des fiktiven Malers Franz Hutting aufgelistet werden, deren Kurzcharakteristiken durchgängig Gruppenbezeichnung und Namen von oulipotischen Kollegen inskribiert sind, wie folgenden drei Beispielen zu entnehmen ist: 1 Tham Douli portant les authentiques tracteurs métaliques rencontre trois personnes déplacées [Intext: Oulipo] 2 Coppélia enseigne à Noé l’art nautique [Intext: Noël Arnaud; 1919–2003] […] 8 Le basset Optimus Maximus arrive à la nage à Calvi, notant avec satisfaction que le maire l’attend avec un os [Intext: Calvino].49

Die komplexe tektonische Konzeption des Romans zeigt verschiedene Ebenen, die sich ergänzen, überlagern und kreuzen. Zunächst ist der Fließtext mit seinen Beschreibungen der Räumlichkeiten und seinen Erinnerungen an das Schicksal der Bewohner nicht nach dem ordo naturalis, sondern nach dem ordo artificialis50 komponiert. Gleichwohl bietet Perec als zusätzliche Lesart im Appendix des Romans unter dem Titel „Repères chronologiques“ auch eine chronologische Übersicht der im Roman erzählten Ereignisse im Zeitrahmen von 1899 bis 1974.

43 Vgl. Wunderli, Peter: Ferdinand de Saussure und die Anagramme. Tübingen 1972; Starobinski, Jean: Wörter unter Wörtern. Die Anagramme von Ferdinand de Saussure. Frankfurt a.  M. 1980. 44 Perec, Georges: Alphabets. Paris 1976. Es handelt sich um anagrammatische Heterogramme mit Zeichnungen von Dado (Pseudonym für Miodrag Djuric, einen avantgardistischen jugoslawischen Grafiker in Paris). 45 Perec, Georges: Palindrome. In: Change 6 (1970), S. 217–223. 46 Perec, Georges: Le petit abécédaire illustré. Paris 1970. 47 Vgl. Overbeck, Renate: Georges Perec. Das Leben Gebrauchsanweisung. Der Roman als ­Puzzle. Annweiler 2003, S. 75ff. 48 Vgl. zur Begriffserklärung Adler, Jeremy / Ernst, Ulrich: Text als Figur (wie Anmerkung 2), Glossar, S. 320. 49 Vgl. Perecs Auflistung der Intexte unter der Kategorie „Apparition hypographique“ in: Oulipo: Atlas de littérature potentielle, S. 394f. 50 Vgl. Ernst, Ulrich: Die natürliche und die künstliche Ordnung des Erzählens. Grundzüge einer historischen Narratologie. In: Zymner, Rüdiger (Hg.): Erzählte Welt – Welt des Erzählens. Festschrift für Dietrich Weber. Köln 2000, S. 179–199.

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Formaltektonisch bildet das Modell des Romans ein Schachbrett von 10 × 10 Feldern, denen aber nur 99 Kapitel korrelieren, da ein Kapitel fehlt, wodurch der Fragmentcharakter des Ganzen und die Idee der Abwesenheit,51 wie sie Perec vor allem in seinen lipogrammatischen Romanen La Disparition (1969) und Les Revenentes (1972) realisiert hat, unterstrichen werden. Während aufgrund der Leerstelle des hundertsten Kapitels die vollkommende Zenturienform unterschritten wird, orientiert sich auf der nächst höheren Gliederungsstufe die Disposition in 6 Teilen an einem traditionellen numerus perfectus. Da dem Roman als Ordnungsmuster einerseits der Plan eines Gebäudes und andererseits ein Schachbrett unterlegt sind, hat man es mit einer Kombination von räumlicharchitektonischem und ludistisch-geometrischem Strukturmodell zu tun. Eine eigene Darstellungsebene markieren die vor dem Horizont der poststrukturalistischen Intertextualitätstheorie zu sehenden Zitate von dreißig im „Postscriptum“ katalogisierten Autoren, die, in den Fließtext integriert, Ausdruck einer Collage-Ästhetik sind. Diese Hypotexte sind über ein Register am Ende des Bandes zu orten, das es erlaubt, den Roman, der im Innern zahlreiche Listen und Inventare aufweist, auch als lexikalisches Nachschlagewerk zu benutzen,52 ad libitum sogar nach dem Zufallsprinzip, gleichsam als Gegengewicht gegen die rigide formalistische Konzeption im Bannkreis der Oulipo-Ästhetik. Was die mathematische Organisation des epischen Makrotextes angeht, so hat Perec sich an zwei aufeinander bezogenen Modellen, dem der ‚Polygraphie des Springers‘ und dem des ,Bi-Quadrats‘ orientiert, die er als Kompositionsvorbilder in seiner Schrift Träume von Räumen nennt: „die Pseudo-Queneauische ‚Polygraphie des Reiters‘ (überdies einem Schachbrett von zehn mal zehn angepasst) in der Größenordnung zehn, orthogonales lateinisches Biquadrat in der Größenordnung zehn (jenes, dessen nicht-Existenz Euler vermutete, das aber 1960 von Bose, Parker und Shrikhande nachgewiesen wurde).“53 Das „Bi-carré latin orthogonal d’ordre 10“ in den Maßen 10 × 10, in dem sich in jedem Kästchen zwei Ziffern, insgesamt 200, befinden (s. Abb. 6), hat ihm der Mathematiker und Oulipot Claude Berge (1926–2002) im Jahr 1967 als numerologisches Modell für den geplanten Roman vorgeschlagen.

51 Vgl. Schmitz-Emans, Monika: Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer ­Poetik der Entzifferung und des Schreibens. München 1995. 52 Zur lexikographischen Kompositionsform vgl. auch Eco, Umberto: Die unendliche Liste. Übersetzt von Barbara Kleiner. München 2009. 53 Perec, Georges: Träume von Räumen. Übersetzt von Eugen Helmlé. Berlin 2014, S. 52.



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Abb. 6: Georges Perec: Figur zu La Vie mode d’emploi54

Jedes Kapitel konstituiert sich danach bei Perec aus 2 × 21 Motivreihen mit entsprechenden Einzelelementen, die alle einer steten Progression und Permutation unterworfen sind. Der Autor bemerkt über den mathematikgeschichtlichen Zusammenhang, dass solche Bi-Carrés nicht mit jeder Zahlenkombination, z. B. nicht mit zwei Zahlen, herzustellen sind und Leonhard Euler (1707–1783) sogar die Konstruktion mit zehn Zahlen für unmöglich hielt. Mit dem Modell des Bi-Quadrats hängt bei Perec die ‚Knight’s Tour‘ des Schachspiels oder, französisch gesprochen, die ‚Polygraphie du cavalier‘ zusammen, bei der ein Reiter (Pferd) auf einem leeren Schachbrett den Regeln entsprechend jedes Feld, dies aber nur einmal, besuchen soll. Dieses Modell (s. Abb. 7) hat Perec nicht nur auf der Makroebene seines Romans für die sequentielle Ordnung der Kapitel verwendet, sondern auch für die Gliederung in sechs Teile als Mesostruktur: Jedes Mal, wenn der Springer an eine der Kanten des Quadrats stößt, beginnt ein neuer Teil.

54 Perec, Georges: Quatre figures pour La Vie mode d’emploi. In: Oulipo. Atlas de littérature potentielle. Paris 1988, S. 387–392, hier: Figure 3, S. 391.

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Abb. 7: Georges Perec: Figur zu La Vie mode d’emploi55

Das Bi-Quadrat und die ‚Knight’s Tour‘ spielen eine gewisse Rolle in mathematischen Überlegungen zur Kombinatorik, die auch die Graphentheorie mit einbeziehen, die ‚Graphen‘ als ein topologischer Begriff vindiziert, bei dem eine Menge von Punkten durch Linien bzw. Kanten verbunden wird. Konstruktionen von Biquadraten, Graphentheorie und Springertour mit bis in die Milliarden gehenden Zugmöglichkeiten werden wiederum auf Euler zurückgeführt.56 Dieser befasst sich mit dem Problem der ‚Polygraphie des Reiters‘ schon in seiner Schrift Solution d’une question curieuse von 1759 (erschienen 1766), während H. C. Warnsdorff später eine Lösung in Form eines Algorithmus entwickelte57 und William Rowan Hamilton (1805–1865) darin einen Sonderfall seiner „graphes hamiltoniens“ sah.

55 Perec: Quatre figures, hier: Figure 2, S. 389. 56 Vgl. Fellmann, Emil A.: Leonhard Euler. Reinbek 1995, S. 73–75. Zum Autor allgemein s. Mathesis & Graphe. Leonhard Euler und die Entfaltung der Wissenssysteme. Herausgegeben von Horst Bredekamp und Wladimir Velminski. Berlin 2010. 57 Warnsdorff, H.  C.: Des Rösselsprungs einfachste und allgemeinste Lösung. Schmalkalden 1823.



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Sofern die ‚Knight’s Tour‘ ein wichtiges Strukturmodell von Perecs Roman ist, erscheint es nötig, auch die literarische Vorgeschichte dieses kompositorischen Prinzips zu erhellen. Sehr früh begegnet dieses Aufbaumuster schon in einem versifizierten Werk zur Poetik und Rhetorik, das der indische Autor Rudrata unter dem Titel Kavyalankara im hohen Stil Ende des 9. Jahrhunderts n. Chr. in Sanskrit verfasst hat.58 Ein ‚Half-Chessboard‘ dieses Autors, das sich in dem Werk im Kontext mit Figurengedichten findet, eröffnet neben der konventionellen Lesung noch drei intextuelle Lesewege: 1. Bustrophedon nach dem ‚Turm‘, 2. Zick-Zack-Kurs nach dem Gang des ‚Elefanten‘ und 3. Rösselsprung nach der Springertour im Schach. Das aus 32 Zellen bestehende Gittergedicht basiert auf einem syllabischen Prinzip, dergestalt, dass z. B. die im Rösselsprung gelesenen Silben der einzelnen Kästchen im Unterschied zum linearen Text einen eigenen Sinn ergeben. Es ist hier nicht der Ort, eine Geschichte von frühen Formen des Hypertextes mit dem Leseparcours des Rösselsprungs vom 9. Jahrhundert über Zeugnisse in mittelalterlichen Handschriften, Gedichte im 19. Jahrhundert59 und Bravourstücke in Schachzeitschriften der Moderne bis zu Perec zu schreiben. Wichtig ist vielmehr die Feststellung, dass es für Perecs Roman nicht nur eine mathematische, von F. Le Lionnais60 vermittelte, sondern auch eine literarische Vorgeschichte gibt, und gattungsgeschichtlich ist der Befund von Relevanz, dass Perec in Differenz zu seinen Vorgängern seinem Modell nicht Buchstaben, Silben oder Wörter, sondern ganze Kapitel eines Romans zugrunde legt. Sofern dessen Bezugspunkt ein Wohnhaus ist, handelt es sich zugleich um ein dreidimensionales Konstrukt.61 Ein ähnliches Modell der Springertour, nur auf der Basis eines Schachbretts 9 × 9, hat der Franzose in seinem Italo Calvino, dem Meister des literarischen Tarock, gewidmeten und erst postum erschienenen Werk 243 cartes postales en couleurs véritables62 erprobt, dem sich auch die ebenfalls permutativ angelegten 81 fiches-cuisine à l’usage de débutants63 an die Seite stellen lassen.

58 Vgl. Shastri, Gaurinath: A Concise History of Classical Sanskrit Literature. Delhi 1998, S. 151. 59 Vgl. Herma, A.: Rösselsprünge aus deutschen Dichtern. Frankfurt a. M. 1849. 60 Le Lionnais, François / Magget, Ernst: Polygraphie du Cavalier. In: dies.: Dictionnaire des Echécs. Paris 1974, S. 304f.; vgl. Perec: Quatre figures, S. 389. 61 Zu einer dreidimensionalen Knight’s Tour in Form eines Würfels vgl. Schubert, Hermann: Mathematische Mussestunden. Neubearb. von Joachim Erlebach. 13. Aufl. Berlin 1967, S. 250–253. 62 Vgl. Perec, Georges: 243 Postkarten in Echtfarbdruck. In: ders.: Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler. Übersetzt von Eugen Helmlé. Bremen 1991. 63 Vgl. Perec, Georges: 81 Kochkarten für Anfänger. In: ders.: In einem Netz gekreuzter Linien. Übersetzt von Eugen Helmlé. Bremen 1996.

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 Ulrich Ernst

Wenn schließlich in Perecs Roman nicht die lineare Ordnung der Wohnhausarchitektur, Zimmer für Zimmer, Wohnung für Wohnung, Etage für Etage, sondern eine Springertour des Schachspiels die Kapitelfolge bestimmt, so darf man nicht vergessen, dass es auch Myriaden anderer Zugfolgen gibt, die in variante Leseordnungen umgesetzt werden können. Vielleicht ist dies auch der Grund, warum Perec in den Untertitel seines Raymond Queneaus gewidmeten Werkes nicht die Gattungsbezeichnung ‚Roman‘, sondern die Pluralform ‚Romans‘ gesetzt hat. Angesichts der wachsenden Paralysierung traditioneller Romanstrukturen wie Linearität und Kausalität der Handlung sowie konsistenter Psychologie der Charaktere dienen, wie am Schachspiel als textuellem Strukturmodell exemplifiziert, makrotektonische, mit Permutation, Kinetik und Visualität kombinierte Bauformen in Moderne und Postmoderne zum einen dazu, die bedrohte oder verlorengegangene Ordnung und Einheit des Romans zu substituieren, zum anderen aber – und das gilt besonders für ludistische Formen – den Leser als Mitspieler zu aktivieren, ihm verschiedene Lektüren anzubieten und ihm einen neuen Typus des ‚Möglichkeitsromans‘ zu offerieren, so dass Narration, Perzeption und Rezeption für ihn zum Ereignis werden.

Peter Brandes

Ereignis, Performanz, Situation Zur Ereignishaftigkeit von Texten der Avantgarden Im Frühjahr 2016 wurde ein im deutschen Fernsehen vorgetragenes Gedicht zu einem medialen und politischen Ereignis. Der am 31. März in der Sendung Neo Magazin Royale ausgestrahlte Beitrag von Jan Böhmermann hätte den Unterschied zwischen Satire und Schmähkritik verdeutlichen können. Das Spottgedicht über den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan wurde jedoch von der türkischen Regierung nicht im Kontext einer Satire-Sendung, sondern als tatsächliche Schmähkritik aufgefasst: Erdoğan erstattete daher Strafanzeige gegen Böhmermann wegen Beleidigung eines Staatsoberhauptes. Der satirische Text wurde damit zu einem justiziablen, performativen Akt, Literatur zum juristischen Ereignis. Die sich in der so genannten Böhmermann-Affäre anzeigende Kippfigur in der Wahrnehmung politisch-satirischer Kunst ist kein neues Phänomen in der Kulturgeschichte der ästhetischen Provokation. Der vielleicht prominenteste Vorläufer in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist der Prozess gegen zwei Mitglieder der Kommune I, Rainer Langhans und Fritz Teufel, deren satirische Flugblätter über einen Kaufhausbrand in Brüssel als Aufforderung zur Brandstiftung verstanden wurden. Diese so genannten Brandstifter-Flugblätter sind dabei beispielhaft für die Ereignis-Praktiken der historischen Avantgarden von Dada bis zum Situationismus und die Effekte, die sie auslösten. Das Interesse der folgenden Überlegungen gilt diesen von den Avantgarden geprägten Formen des Textereignisses, bei der sich die Performanz der Sprechakte oftmals mit der Figur des Schocks bzw. der Provokation paart. Es ist vor allem der Begriff der Situation, der dabei Aufschluss über den performativen Konnex von Text und Ereignis zu geben vermag.

1 Ereignis und Präsenz In einem basalen Sinn kann ein Text immer schon als Ereignis angesehen werden, insofern er nämlich – im Wortsinn von ‚Eräugnis‘ – ein Schriftbild vor Augen bringt. Man könnte dieses Faktum bereits als Ereignis bezeichnen. In diesem Sinn wäre das Ereignis wesentlich mit dem Begriff der Präsenz verknüpft. Die Gegenwärtigkeit des Sich-Zeigenden würde dabei als Bedingung der MögDOI 10.1515/9783110541854-008

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 Peter Brandes

lichkeit von Ereignishaftigkeit angesehen. Doch was sich dort in Lettern, Hieroglyphen oder sonstigen Schriftzeichen zeigt, ist damit nicht gesagt. Es ließe sich zwar behaupten, dass der materielle Text auf die Szene des Schreibens bzw. des Lesens verweise. In der Regel wird man jedoch nicht davon ausgehen, dass das Schriftbild den Schreibakt als präsentische Tätigkeit figuriert. Die Zeichen des Textes repräsentieren vielmehr eine gewisse Bedeutung, die im Akt des Lesens aktualisiert wird. Der Begriff der Präsenz scheint daher nur unzureichend den Konnex von Text und Ereignis erhellen zu können. Jacques Derrida hat argumentiert, dass sich in der Schrift – und nicht nur in der Schrift, sondern in sprachlichen Äußerungen überhaupt – das Ereignis der Präsenz von etwas nur als Abwesendes zeige.1 Derrida hat hierfür den Begriff der Spur (trace) geprägt.2 Die Präsenz des sprachlichen Aktes sei immer nur als Entzug von Präsenz wahrnehmbar, da jeder Sprechakt von der Struktur der Iteration gekennzeichnet sei. Das sich in Texten Zeigende sei insofern die Abwesenheit bzw. der Aufschub von Ereignishaftigkeit, so dass das Ereignis paradoxerweise als das Nichtpräsentische angesehen werden muss. Der Begriff des Ereignisses (événement) ist bei Derrida deutlich von dem Ereignisbegriff der Historiographie abgesetzt. Bezeichnet sind damit nicht geschichtliche Vorgänge, aus denen sich Epochen ableiten lassen,3 sondern die sprachlich verfasste Figuration von Abwesenheit (des Anderen, des Zu-Kommenden etc.). Die Sprache als Akt tritt damit an die Stelle von geschichtlichen Akten (wie z.  B. Kriegshandlungen). Derrida übersetzt damit Heideggers seinsgeschichtlichen Ereignisbegriff in einen linguistischen. In dem Vortrag Zeit und Sein von 1962 hatte Heidegger das Sein als Ereignis „im Sinne von Anwesen und Anwesenlassen“4 herausgestellt und dabei die in dem Begriff Ereignis angedeutete Präsenz des Seins durch das Wort geben erläutert: „Demnach bezeugt sich das Es, das gibt, im ‚Es gibt Sein‘ […] als das Ereignis.“5 Mit der von ihm präferierten Formulierung „es gibt Sein“ will ­Heidegger ausdrücken, dass das Verständnis von Sein abhängig ist von der für die Spätphilosophie nach der so genannten Kehre bestimmenden Struktur der

1 Vgl. Derrida, Jacques: Signatur Ereignis Kontext. In: ders.: Randgänge der Philosophie. Wien 1988, S. 291–314. 2 Vgl. Derrida, Jacques: Grammatologie. Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt a. M. 1983. 3 Vgl. Borst, Arno: Das historische ‚Ereignis‘. In: Koselleck, Reinhart / Stempel, Wolf-Dieter (Hg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung. München 1973, S. 536–540. 4 Martin Heidegger, Martin: Zeit und Sein. In: ders.: Zur Sache des Denkens. Tübingen 1969, S. 1–25, hier S. 22. 5 Ebd., S. 20.



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Entbergung. Die Präsenz des Seins ist also nicht unmöglich, sie ist aber nur als Bewegung denkbar, die mit den Ausdrücken entbergen, geben oder anwesen angezeigt wird. Bei Derridas Ereignis-Begriff ist dieses Moment der Bewegung auch bestimmend, doch ist es hier mit den Bezeichnungen des Aufschubs und des Entzugs belegt. Das Ereignis, das immer auch ein Sich-Zeigen der Sprache andeutet, ist nur denkbar im Modus der Abwesenheit. Wenn Derrida in Donner le temps explizit auf Heideggers Vortrag Bezug nimmt,6 dann geschieht dies unter umgekehrten Vorzeichen: das Anwesen des Seins im Ereignis des „Es gibt“ wird bei Derrida zur Abwesenheit der reinen Gabe als Ereignis der Präsenz. Der Begriff der Gabe fungiert dabei als Stellvertreter für das, was Heidegger das Sein nennt: „Es muß Ereignis geben […], damit es Gabe gibt und es muß Gabe geben oder Phänomene der Gabe, damit es Erzählung und Geschichte gibt.“7 Derridas Reflexionen über die Gabe beschäftigen sich in diesem Kontext nicht nur mit Marcel Mauss’ berühmtem Essai sur le don, sondern umkreisen auch Baudelaires Erzählung La fausse monnaie, in der der Erzähler beobachtet, wie sein Freund einem Bettler ein falsches Geldstück gibt, was ihn zu allerlei Spekulationen über die Intentionen des Freundes und die möglichen Wirkungen dieser Gabe veranlasst. Der an die Struktur der Gabe gekoppelte Begriff des Ereignisses erhält bei Derrida auf diese Weise eine poetologische Bedeutung. Im Anschluss an die Lektüre von Baudelaires Erzählung wird das Wort événement als Ausgangspunkt der literarischen Phantasie und der philosophischen Spekulation kenntlich, der das Ereignis des Textes – die Lektüre – erst ermöglicht. Im Begriff der Gabe wird der Text als Ereignis lesbar, insofern er eine Situation der Ungewissheit und des Zufalls herbeiführt, deren Unbedingtheit für Derrida gerade das Charakteristikum von Ereignishaftigkeit ist. Im Hinblick auf die Fragestellung, was einen Text zum Ereignis macht, bleibt hier das Moment der Ambiguität und der Kontingenz bestimmter Texte bzw. Text-Gaben festzuhalten, das in der Lektüre aktualisiert und damit als Ereignis erkennbar wird. Derrida spricht zwar nicht vom Text als Ereignis. Seine Lektüre von Baudelaires Text operiert jedoch unausgesprochen mit dieser Denkfigur, belegt aber diese gleichzeitig mit dem Tabu der Präsenz. Für eine Restitution der Präsenz im Denken des Ereignisses plädiert dagegen Dieter Mersch. Obschon bei Mersch Derridas Denken der différance eine zentrale Rolle spielt, distanziert sich Mersch in seinem Buch Ereignis und Aura ausdrück-

6 Vgl. Derrida, Jacques: Falschgeld. Zeit geben I. Übersetzt von Andreas Knop und Michael Wetzel. München 1993, S. 32f. 7 Ebd., S. 160.

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lich von Derridas Kritik der Präsenz.8 Das Gegenmodell zu Derridas Dekonstruktion des Logozentrismus stellt für Mersch das Konzept einer Ereignisästhetik dar. Neben Erika Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen stellt Merschs Studie den profiliertesten Versuch dar, anhand des Begriffs der Performativität eine Ästhetik des Ereignisses zu entwerfen.

2 Ereignisästhetik Eine zentrale Kategorie von Merschs eigener Ästhetik des Performativen ist der Begriff der Ereigniskunst und das damit einhergehende Konzept einer Ereignisästhetik. Die Ereignisästhetik ist in Bezug auf die zunehmende Bedeutung der Performance-Kunst entwickelt worden. An die Stelle einer auf das Werk fixierten Vorstellung von Kunst wird seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Kunst vermehrt durch den Begriff des Ereignisses bestimmt. Erika Fischer-Lichte zufolge lässt sich die immer wieder proklamierte bzw. beobachtete Entgrenzung der Künste […] als performative Wende beschreiben. […] Statt Werke zu schaffen, bringen die Künstler zunehmend Ereignisse hervor, in die nicht nur sie selbst, sondern auch die Rezipienten, die Betrachter, Hörer, Zuschauer involviert sind.9

Kunst als Ereignis ist an die Präsenz des Materials, des Körpers und des Raumes in einem zeitlichen Kontinuum und den damit verbundenen Akt gebunden. Das Zusammenspiel von Akt, Materialität und Präsenz ist auch für Merschs Entwurf einer Ästhetik des Performativen zentral. Das für Fischer-Lichte konstitutive Moment der Aufführung spielt bei Mersch dabei keine Rolle. Für Mersch geht die Wende zur Performativität in den Künsten mit einer Reauratisierung der Kunst einher: Ereigniskunst [vermag] das zurückzugewinnen, was Benjamin ins Religiöse, in den Kultus verlegte und einer ein für allemal verlorenen Vergangenheit zurechnete: ihre Aura. Als absolute Singularität verweigert sie sich jeglicher Wiederholung. Darin liegt wohl ihr schärfster

8 Vgl. Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. 2002, S. 14. 9 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. 2004, S. 29.



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Gegensatz zum Werk: Dieses gleicht dem Monument, das seine zeitlose Identität in den Kanon kultureller Erinnerung einschreibt, jene setzt im Ereignis der Norm der Kontinuität das Diskontinuum der Zeit entgegen.10

Anders als Walter Benjamin in seinem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit geht Mersch davon aus, dass die Aura für die ästhetische Erfahrung in der Moderne bzw. Postmoderne durchaus noch eine Rolle spielt. Mit dem Beharren auf der Aura als ästhetischer Kategorie geht bei Mersch die These von der grundsätzlichen Amedialität der Ereigniskunst einher. Mersch differenziert zwischen Aisthetik, Ästhetik und Artistik. Während die Aisthetik im Wortsinn als Theorie der Wahrnehmung fungiert, befassen sich die Ästhetik mit der Theorie der Künste und die Artistik mit der Kunst als Praxis. In seinen Reflexionen zur Aisthetik konzentriert sich Mersch vor allem auf das Verhältnis von Wahrnehmung und Medium, das er neu zu bestimmen sucht. Mersch geht nämlich von einer Vorgängigkeit der Wahrnehmung aus, so dass Wahrnehmung nicht per se als medial vermittelt, sondern vielmehr als amedial gedacht werden muss.11 Wie das Ereignis der Kunst, sofern es eben nicht wie bei Derrida durch eine konstitutive Abwesenheit, durch den Entzug von Präsenz gedacht werden soll, wie also Ereignishaftigkeit ohne die Präsenz des Mediums – sei es Körper, Bild oder Schrift – zu denken wäre, bleibt in Merschs Entwurf jedoch nebulös. Selbst wenn das Ereignis dem Medialen entspringt, bleibt es doch raumzeitlich auf es bezogen. Es ist ja gerade der Begriff der Performativität, der von Austins Sprechakttheorie her das Medium der Sprache als notwendiges Korrelat der ritualisierten Handlung erfordert. Fischer-Lichte stellt die Bedeutung von Austins Sprechakttheorie für die performative Wende deutlich heraus, um sie dann mit deutlichen Modifikationen um den Aspekt der Körperlichkeit zu erweitern.12 Mersch verwendet hingegen den Begriff des Performativen im Sinne von Akt oder Setzung, ohne dabei auf Austin Bezug zu nehmen.13 Dies ist auch insofern erstaunlich, als Derrida den Begriff des Ereignisses bereits in seinem Aufsatz Signatur Ereignis Kontext mit Austins Konzept der performativen Äußerungen eingeführt hatte.

10 Mersch: Ereignis und Aura, S. 240. 11 Vgl. ebd., S. 54. 12 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 34. 13 Erst gegen Ende des Buches verweist Mersch kurz auf Austin: Mersch: Ereignis und Aura, S. 249f.

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3 Performativität und Ereignishaftigkeit Derridas Dekonstruktion des Ereignisses als Präsenzgeschehen betrifft nicht nur den Seinsbegriff der philosophischen Phänomenologie, sondern auch den Performativitätsbegriff der Sprechakttheorie. In seiner Vorlesung How to Do Things with Words hat John Langshaw Austin konstative Äußerungen von performativen unterschieden. Während mit konstativen Äußerungen Aussagen bezeichnet sind, die wahr oder falsch sein können, lassen sich performative Äußerungen als Handlungen bestimmen, die Austin später noch in lokutionäre, illokutionäre und perlokutionäre Akte untergliedert, um damit den bloßen Akt des Aussprechens (Lokution), den Handlungsaspekt der Aussage (Illokution) und die Wirkung der Äußerung (Perlokution) zu betonen. Die Sprachhandlung im Sinne Austins muss gewisse konventionelle und rituelle Bestimmungen erfüllen, um als performativer Sprechakt Geltung zu haben. Diese Rahmenbedingung führen jedoch Derrida zufolge in Aporien, die das Konzept der performativen Sprechakte zu unterminieren drohen. Die performativen Äußerungen sind als solche nur möglich aufgrund der Iterierbarkeit von bestimmten Redewendungen – wie z. B. „Ich taufe dieses Schiff …“, „Ich erkläre Sie hiermit zu Mann und Frau“ etc. – in bestimmten Kontexten. In der zweiten Vorlesung von How to Do Things with Words widmet sich Austin performativen Äußerungen, die nicht gelingen. Er nennt diese möglichen Fälle von gescheiterten Performativen infelicities und unterscheidet dabei zwischen misfires und abuses. Es sind damit Fälle bezeichnet, bei denen die Rahmenbedingungen nicht korrekt sind (misfires) oder Betrug vorliegt (abuses). Darüber hinaus nennt Austin weitere Möglichkeitsbedingungen des Scheiterns von performativen Äußerungen. Zu diesen zählt z. B. die Verwendung von performativen Sätzen im Theater: a performative utterance will, for example, be in a peculiar way hollow or void if said by an actor on the stage, or if introduced in a poem, or spoken in soliloquy. […] Language in such circumstances is in special ways – intelligibly – used not seriously, but in ways parasitic upon its normal use – ways which fall under the doctrine of the etiolations of language. All this we are excluding from consideration.14

Die parasitäre Wiederholung, das bloße Zitieren von performativen Sprachformeln will Austin aus seinem System der Sprechakttheorie ausschließen. Derrida wendet dagegen ein, dass doch gerade die Struktur der Iterierbarkeit das Gelingen performativer Äußerungen ermögliche:

14 Austin: How to Do Things with Words. Harvard 1975, S. 22.



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Denn ist nicht schließlich, was Austin als Anomalie, Ausnahme, ‚unernst‘, das Zitieren […] ausschließt, die bestimmte Modifikation einer allgemeinen Zitathaftigkeit – einer allgemeinen Iterierbarkeit vielmehr –, ohne die es sogar kein ‚geglücktes‘ performative gäbe? So daß – als paradoxe, aber unvermeidliche Konsequenz – ein geglücktes performative notgedrungen ein ‚unreines‘ performative ist.15

Das Prinzip der Wiederholbarkeit erweist sich demzufolge als Voraussetzung des Gelingens wie des Misslingens performativer Sprechakte. Das Ereignis der Performanz wäre demnach immer schon als Zitat, als Double der Präsenz anzusehen – ganz unabhängig vom Gelingen oder Misslingen des Sprechaktes. Inwiefern ein performativer Sprechakt als gelungen gelten kann, hängt von der Modalität des Aussagens ab, ob er nämlich als ernst oder unernst wahrgenommen wird. Die Ironie scheint damit als Modus der performativen Äußerung ausgeschlossen zu sein. Unbeachtet bleiben jedoch bei Austin und bei Derrida jene Fälle, bei denen nicht zu entscheiden ist, ob sie ernst oder unernst gemeint sind, und die insofern eine spezielle Form der Ironie darstellen. (Auf diesen Zusammenhang von Performativität und Ironie wird noch zurückzukommen sein.) Die grundsätzliche Zitatstruktur der performativen Äußerungen führt Derrida zu der These, „die allgemeine graphematische Struktur einer jeden ‚Kommunikation‘ zu behaupten.“16 Für Derrida unterscheidet sich daher die mündliche Rede strukturell nicht von der Schrift. Performativität und Ereignishaftigkeit sind insofern nicht unabhängig vom Medialen zu betrachten. Medialität, sei es nun in der Form der Schrift, der Stimme oder der Körperlichkeit, erweist sich vielmehr als Bedingung der Möglichkeit von Ereignishaftigkeit. In welcher Form die mediale Inszenierung von Textualität selbst zu einem Ereignis im Sinne einer Ästhetik des Performativen werden kann, soll im Folgenden anhand von Texten und Praktiken der historischen Avantgarden (von Dada bis zum Situationismus) nachvollzogen werden.

4 Die Performanz der Manifeste Die historischen Avantgarden haben wie kaum eine andere Kunst-Bewegung Kunst und insbesondere auch Texte zu Ereignissen gemacht. Hugo Balls legendärer Auftritt als Lautgedichte verlesender, magischer Bischoff im Pappkostüm am 23. Juni 1916 im Cabaret Voltaire kann wie viele der Inszenierungen der Dada-

15 Derrida: Signatur Ereignis Kontext, S. 309. 16 Ebd., S. 311.

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isten als performativer Vollzug des Konzepts Dada angesehen werden. Ein theoretisches Konzept des Dadaismus gab es jedoch nicht. Dada definierte sich im Gründungsjahr 1916 als Kunst- und Textform ausschließlich in der Performance. In der Präsenz der Körper der Dichter und des Lautmaterials wird Literatur zum buchstäblichen ‚Eräugnis‘. Es sind jedoch nicht nur die Aufführungen und Lesungen im Cabaret Voltaire, die die Ereignishaftigkeit des Textes betonen. Auch und gerade die Manifeste sind auf die Erzeugung von Ereignissen hin konzipiert. Es ist vor allem die Performanz des durch die Lektüre bewirkten Schocks, die den Text der Manifeste zum Ereignis werden lässt. Manifeste waren, wie Peter Bürger vermutet, bei den Dadaisten und Surrealisten wohl deshalb so beliebt, weil das Manifest durch seinen Wirklichkeitsbezug „eine Zwischenstellung zwischen Literatur und Aktion“17 einnimmt. Bürger hat anhand von Tristan Tzaras Manifesten zu zeigen versucht, dass die Schreibweisen der Manifeste durch die Nutzung und Zerstörung rhetorischer und logischer Verfahren eine Kritik an der bürgerlichen Existenz- und Denkform darstellen und damit performativ vollziehen. Tzaras Texte zielen daher nicht nur auf die „Provokation des Lesers“,18 sondern auf eine neue Schreibweise der Kritik und der Theorie. Bürger ist sich dessen durchaus bewusst, ohne jedoch die Verfahrensweise konkret zu benennen: „Der Theorieverzicht […] erlaubt keine kritische Theorie der Gesellschaft; wenngleich die Manifeste durchaus Ansätze dazu enthalten.“19 Es sind dies performative Verfahren der Kritik. Das Manifest als Manifest wird bei Tzara im Akt des Schreibens durchgestrichen und damit zum Manifest des NichtManifesten, zum Nicht-Identischen des politischen Begriffs, ja damit der Sprache der Politik: „J’écris un manifeste et je ne veux rien, je dis pourtant certaines choses et je suis par principe contre les manifestes, comme je suis contre les principes“.20 Auch wenn der Text hier eine Schreibszene als performativen Akt imaginiert, so hat die Ereignishaftigkeit der Schrift erst in der Lektüreszene statt. Der Text als Ereignis ist damit wesentlich durch die Rezep-tionsebene bedingt. Für die surrealistischen Texte, die oftmals auch einen Schock beim Rezipienten bewirken wollten, lässt sich eine ähnliche Beobachtung machen. Hier ist insbesondere an Bretons berüchtigten Satz aus dem zweiten surrealistischen Manifest zu denken, der den Text als Akt des Terrors inszeniert: „L’acte surréaliste le plus simple consiste, revolvers aux poings, à descendre dans la rue et à tirer au

17 Bürger, Peter: Der französische Surrealismus. Studien zur avantgardistischen Literatur. Um neue Studien erweiterte Ausgabe. Frankfurt a. M. 1996, S. 59. 18 Ebd., S. 43. 19 Ebd., S. 46. 20 Tzara, Tristan: Lampisteries. Précédées des sept manifestes dada. Paris 1963, S. 20.



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hasard, tant qu’on peut, dans la foule.“21 Als performative Äußerung, als Aufruf zum Amoklauf nämlich, wird man den Satz nicht werten, da er im Kontext des Manifests sogleich relativiert wird. Er erscheint insofern als Zitat in einem Genre, das Bürger zufolge durch einen besonderen Wirklichkeitsbezug gekennzeichnet ist. Man könnte daher diesen viel zitierten Satz, der wiederum als ein aus dem Textzusammenhang herausgelöstes Zitat als echte performative Äußerung (miss-)verstanden werden kann, im Sinne Austins als parasitäre Aneignung einer performativen Äußerungsweise lesen. Es ist nicht auszumachen, ob diese Rezeptionsweise, die das Provokative des Satzes noch potenziert, in der Wirkungsabsicht Bretons lag oder nicht. Es ist diese Möglichkeit immerhin Bestandteil der Ambiguität des Textes. Denn obschon die Surrealisten ebenso wie die Dadaisten die Kunst in das Leben zu überführen suchten und damit den Begriff der Kunst als solchen angreifen wollten, zeichnen sich die Werke von Breton durch einen hohen Grad an Literarizität aus. Bürger spricht daher folgerichtig von einer surrealistischen Poetik. Der Surrealismus drohte in seinem radikalen Kampf gegen die Kunst und die Poesie immer schon selbst zur Kunstform zu werden.

5 Ereignishaftigkeit als Situation Auf radikalere Weise suchten nach dem Zweiten Weltkrieg die Lettristen und die Situationisten, die Aufhebung der Kunst im Leben zu vollziehen. Das, was Dada und Surrealismus durch unterschiedliche auf die Rezeption kalkulierende Schreibweisen und die Dominanz des Perlokutionären zu erreichen suchten, wird im Lettrismus und im Situationismus durch den Begriff und die Praxis der Situation propagiert. Der Lettrismus setzt nach dem Zweiten Weltkrieg dort ein, wo Dada aufgehört hat. Im Geiste dadaistischer Negation arbeitete Isidore Isou, der Vater des Lettrismus, an der Destruktion der Sprache. Er übersetzte die Lautgedichte der Dadaisten in Buchstabengedichte. Das Ziel der Lettristen ist nicht wie bei den Dadaisten, die Negation der Kunst und der Sprache als Werk (und sei es als lautmalerische Performance) zu inszenieren. Isou geht es vielmehr um die „Auflösung des Wortes in die Buchstaben“22 und damit um die Zersetzung der Dichtung

21 Breton, André: Les manifestes du surréalisme. Paris 1946, S. 94. 22 Ohrt, Roberto: Phantom Avantgarde. Eine Geschichte der Situationistischen Internationale und der modernen Kunst. Hamburg 1990, S. 19.

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als Werkform. An die Stelle des poetischen Kunstwerks tritt die schöpferische Technik, an deren Leitfaden das Gedicht nicht mehr als Wortgedicht, sondern als Buchstabengedicht generiert wird.23 Die Geburtsstunde des Lettrismus war ohne Frage selbst schon ein Ereignis. Ähnlich wie die frühen Aufführungen der Dadaisten in Zürich machten sich die Lettristen einen Namen durch eine Performance, die auf Aufmerksamkeit und Schock-Wirkung spekulierte. Am 21. Januar 1946 wurde bei der Premiere von Tristan Tzaras Theaterstück La Fuite ein Vortrag über Dada von Michel Leiris gestört. Isidore Isou und Gabriel Pomerand erklärten Dada für tot und proklamierten den Lettrismus, ohne jedoch den bis dato völlig unbekannten Neologismus dem Publikum zu erklären. Isou begann nach der Aufführung Buchstabengedichte zu verlesen, und schon am nächsten Tag schafften es die Lettristen auf die Titelseite der französischen Tageszeitung Combat.24 Die in dem spezifischen Kontext der Theateraufführung getätigten Äußerungen über den Lettrismus, die den Quellen nach eher dem Modus konstativer Aussagen ähnelten, werden retrospektiv als performative Sprechakte lesbar. Die mediale Verbreitung des Wortes Lettrismus hat an dem Ereignis der Erfindung des Lettrismus ebenso Anteil wie die singuläre Störungsaktion von Isou und Pomerand. Das Ereignis ist hier weder als die konstitutive Abwesenheit des Präsentischen im Text noch als das körperliche Sich-Zeigen in einem raum-zeitlichen Kontinuum zu bestimmen. Das Ereignis des Lettrismus setzt sich vielmehr aus dem Zusammenwirken der dadaistischen Performance von sprachlichen Äußerungen und deren medialer Rezeption zusammen. Es ist dieses Zusammenspiel von textueller Performanz und medialer Inszenierung, die für die Avantgarden der 50er und 60er Jahre richtungsweisend sein sollte. Der Begriff, der sich für dieses neue Verfahren der literarisch-ästhetischen Konstituierung von Ereignissen etablieren sollte, gab der vielleicht bedeutendsten Avantgarde-Bewegung nach 45 ihren Namen: Es ist der Begriff der Situation. Während Dada und der Surrealismus das Konzept ihrer Kunst performativ in ihren Texten und ihren medialen Inszenierungen auszustellen suchten, scheint beim Situationismus auf den ersten Blick das Performative im Textuellen auszufallen. Die Texte der Situationisten sind deutlich von einem theoretisch-reflexiven Modus bestimmt, der eine performative Funktion des Textes auszuschließen scheint. Allenfalls mag man manchen Texten eine appellative Funktion zubilligen.

23 Vgl. ebd., S. 15–25. 24 Vgl. Greil, Marcus: Lipstick Traces. Von Dada bis Punk. Eine geheime Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Übersetzt von Hans M. Herzog und Fritz Schneider. Reinbek 1992, S. 243.



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Der Begriff des Situationismus leitet sich von dem Konzept des Konstruierens von Situationen ab, das Guy Debord wie folgt beschrieben hat: „Notre idée centrale est celle de la construction de situations, c’est-à-dire la construction concrète d’ambiances momentanées de la vie, et leur transformation en une qualité passionelle supérieure.“25 Das Konstruieren von Situationen steht dabei im engen Zusammenhang mit einer Kritik des Urbanismus, die vor allen Dingen durch Techniken der dérive und des détournement vollzogen werden soll. Dérive bezeichnet eine Praxis des Flanierens, die das Erkunden und Kartographieren der Emotionen einer Stadt bzw. eines Viertels zu bestimmen sucht.26 Das Umherschweifen wird somit zu einer Forschungspraxis, die auf die Etablierung einer Psychogeographie abzielt. Demgegenüber bezeichnet détournement ein Verfahren, bei dem Elemente ästhetischer Werke (wie z. B. Comic-Panels) in einen anderen semiotischen und / oder medialen Kontext integriert und zu Propagandazwecken genutzt werden (z. B. in Zeitschriften oder auf Flugblättern).27 Mithilfe dieser Praktiken zielten die Situationisten auf eine Verfremdung und Neubestimmung urbaner Räume und ästhetischer Wahrnehmungsweisen, die bei den Beteiligten Schock bzw. Überraschung auslösen sollten. Das durch diese Verfahren kreierte Ereignis nennen die Situationisten eine Situation. Ein für das Selbstverständnis des Situationismus zentraler Text ist Debords Rapport sur la construction des situations et sur les conditions de l’organisation et de l’action de la tendance situationniste internationale von 1957. Der Text ist weniger Manifest als ein politisches Positions- und Theoriepapier mit einigen Anmerkungen zur situationistischen Praxis. Das Papier gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Abschnitt wird die geschichtliche Entwicklung der historischen Avantgarden vom Futurismus bis zum Lettrismus in deren politisch-ökonomischem Zusammenhang betrachtet und einer marxistischen Kritik unterzogen. Der zweite, kürzere Teil des Textes widmet sich dem Konzept des Situationismus. Im ersten Teil der Abhandlung werden überwiegend Aussagen getroffen, deren Wahrheitswert als unumstößlich erscheint. So heißt es über den Surrealismus: „L’erreur qui est à la racine du surréalisme est l’idée de la richesse infinie de l’imagination inconsciente.“28 Die Aussagestruktur des historischen Teils ist nahezu durchgehend von solchen konstativen Sätzen bestimmt. Im zweiten Teil

25 Debord, Guy: Rapport sur la construction des situations et sur les conditions de l’organisation et de l’action de la tendance situationniste internationale. In: Inter. Art actuel 44 (1989), S. 1–11, hier S. 8, http://id.erudit.org/iderudit/46876ac (29. September 2016). 26 Vgl. Ohrt: Phantom Avantgarde, S. 83f. 27 Vgl. auch Etzold, Jörn: Die melancholische Revolution des Guy-Ernest Debord. Berlin 2009, S. 195–207. 28 Debord: Rapport, S. 4.

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des Textes stehen dagegen überwiegend Sätze mit appellativen Charakter. Hier wird ein Programm entworfen, das auf die zukünftige revolutionäre Tätigkeit der Situationisten abzielt. Der letzte Abschnitt des Textes ist durch den Imperativ der Revolution gekennzeichnet: Nous devons présenter partout une alternative révolutionnaire à la culture dominante […]. Nous devons nous déclarer prêts à reprendre la discussion, sur la base de ce programme, avec tous ceux qui […] se trouveraient encore capables de nous rejoindre […]. Nous devons mettre en avant les mots d’ordre d’urbanisme unitaire, de comportement expérimental, de propagande hyper-politique, de construction d’ambiances.29

Im Unterschied zu der konstativen Äußerungsform des ersten Teils ist der Leser hier mit performativen Sätzen konfrontiert. Aus diesem Zusammenspiel von konstativen und performativen Äußerungen, das nicht ungewöhnlich für politische Manifeste ist, wird der Text insgesamt zwar als performativer lesbar, jedoch nicht als ein Text-Ereignis erkennbar. Das Ereignis, auf das der Text unzweideutig anspielt – die Revolution bzw. die revolutionären Handlungen (Konstruktion von Situationen) –, ist nicht als ein gegenwärtiges, sondern als ein zukünftiges Ereignis gezeichnet: „Les techniques situationnistes sont encore à inventer.“30 Als performativer Sprechakt wird dieser Text eigentlich erst im Hinblick auf den perlokutionären Aspekt bedeutsam. Es bleibt die Frage, ob das Ereignis, das er fordert, tatsächlich stattfinden wird. Ironischerweise wird das Debord’sche Konzept des Konstruierens von Situationen gerade von jener Gruppierung der Situationisten weiterentwickelt, die später auf sein Betreiben hin aus der Situationistischen Internationale ausgeschlossen werden wird: von der deutschen Sektion der Situationistischen Internationale, der Gruppe SPUR, und deren politisch-ästhetischen Erben, der Kommune I. Die Gruppe SPUR wurde 1958 von den Münchner Künstlern Lothar Fischer, Heimrad Prem, Helmut Sturm und HP Zimmer gegründet. Sie erlangte zuerst Bekanntheit durch den so genannten Bense-Skandal. Anlässlich der Ausstellung „Extremisten Realisten“ im Januar 1959 in München kündigte die Gruppe einen Vortrag des Philosophen Max Bense an. Am Vortragstag mussten sich die Zuhörer jedoch mit einer Tonbandaufnahme zufrieden geben, da der Professor aus Stuttgart angeblich wegen anderer Verpflichtungen nicht habe kommen können. Erst einige Tage später stellte sich heraus, dass es sich bei der abgespielten Tonbandaufnahme um eine Collage aus Texten von Bense handelte, die nicht von ihm

29 Ebd., S. 11. 30 Ebd., S. 10.



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aufgesprochen und ohne sein Wissen auf der Veranstaltung abgespielt wurde. Bense, der erst aus der Zeitung von seinem Vortrag erfuhr, stellte den Sachverhalt richtig und erstattete Anzeige. Die Aktion machte die Gruppe SPUR nicht nur in Deutschland, sondern auch international bekannt. Sie erregte das Interesse Guy Debords, und die Gruppe SPUR wurde bald darauf als deutsche Sektion in die Situationistische Internationale aufgenommen. Die Gruppe hatte mit ihrer Fake-Performance ein Ereignis geschaffen, das durch das willkürliche Zusammenfügen von Textsegmenten im Medium des Tonbandes die Illusion eines echten Vortrages erzeugte, der sich retrospektiv als situationistische Text-Performance herausstellte. Das Besondere dieses Ereignisses lag darin, dass die körperliche Präsenz des Redners durch die technisch reproduzierte Stimme ersetzt und dadurch auf die Gegenwärtigkeit des Redners bloß verwiesen wurde. Die Situation, die die Gruppe SPUR konstruiert hatte, erhellt also mit Mitteln der performativen Inszenierung von Texten genau die Einsichten, die Derrida in der Grammatologie hinsichtlich der unhintergehbaren Supplementarität der sprachlichen Äußerung und der Unmöglichkeit von Präsenz formuliert hat. Das Ereignis gründet in diesem Fall nicht in einem Moment des Schocks, sondern in der spezifischen Struktur der Täuschung, die man mit dem situationistischen Begriff des détournement beschreiben kann. Textstücke werden hier in einen neuen Rahmen implementiert, der aber nur scheinbar mit dem ursprünglichen Kontext – dem Autor und Redner Bense – korreliert. Eine eher konventionelle Form des Ereignisses rufen dagegen zwei Texte der Gruppe SPUR hervor, die 1961 in der Nr. 6 der Zeitschrift SPUR erschienen waren. Die von Dieter Kunzelmann geschriebenen Texte wurden Gegenstand einer Anklage wegen „Gotteslästerung und der Verteilung unzüchtiger Schriften“. In einem Gedicht war u. a. von der Begeisterung über die „Abtreibung der Jungfrau Maria“ die Rede, und der Text Der Kardinal, der Film und die Orgie provozierte mit dem Wunsch nach der „Freigabe der Frauen- und aller anderen Kirchen, um sie ihrer eigentlichen Bestimmung, dem FEIERN NEUER ORGIASTISCHER FESTE UND EKSTATISCHER SPIELE, zu übergeben.“31 Die Angeklagten Sturm, Prem, Zimmer und Kunzelmann wurden zunächst zu Haftstrafen bis zu fünf Monaten verurteilt, die man allerdings in zweiter Instanz zur Bewährung aussetzte. Die Performativität der Texte liegt dabei allein in dem sprachlichen Akt der Blasphemie, der in der Regel durch Schock religiöse Gefühle zu verletzen sucht. Im US-amerikanischen Kontext hat sich für diese Form der strafbaren performativen Äußerungen der Begriff hate speech etabliert. Die Schwierigkeit dieser juristisch

31 Böckelmann, Frank / Nagel, Herbert (Hg.): Subversive Aktion. Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern. Frankfurt a. M. 2002, S. 42.

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relevanten Kategorie besteht, wie Judith Butler gezeigt hat, allerdings darin, dass die von Derrida kritisierte Zitathaftigkeit performativer Äußerungen es z. T. schwierig bzw. unmöglich macht, eine Äußerung adäquat zu kontextualisieren.32 Für die Texte der Gruppe SPUR lässt sich zweifelsohne eine literarische Kodierung geltend machen, die Kritik durch das Stilmittel der Übertreibung formuliert. Gleichwohl bleibt die Ambivalenz bzw. Ambiguität dieser performativen Textstrategie, die zwischen Kritik und Verletzung oszilliert, bestehen. Es ist damit ein performatives Text-Verfahren präfiguriert, das in besonderer Weise 1967 bei den so genannten Brandstifter-Flugblättern der Kommune I Anwendung findet.

6 Das Flugblatt als Textereignis Für die im Januar 1967 gegründete Kommune I, zu der bekanntlich auch Dieter Kunzelmann gehörte, war das Programm des Situationismus von besonderer Bedeutung. Die KI praktizierte eine Stadt- und Text-Performance, die das theoretische Konzept des Situationismus – das Umherschweifen und das Konstruieren von Situationen – in politische Lebenspraxis transformierte. Die bereits im Dezember 1966 inszenierte so genannte Spaziergang-Demonstration spielte mit dem Konzept des urbanen Umherschweifens.33 Das zum Besuch des amerikanischen Vizepräsidenten Humphrey am 6. April 1967 geplante Puddingattentat der Kommune ist ebenfalls als situationistische Performance lesbar.34 Die Reaktion der Springer-Medien, die das Ereignis sofort als versuchtes Bombenattentat bewerteten (BILD: „Bombenanschlag auf US-Vizepräsident“; B.Z.: „Studenten planen Attentat auf Humphrey“), machte deutlich, dass die Gewalttätigkeit der Studenten ein Produkt der medialen Fiktion war. Das Ereignis bestand in diesem Fall nicht so sehr in der Verhaftung der Kommunarden und den dabei sichergestellten Tatwerkzeugen (Mehl, Puddingpulver) als vielmehr in den Texten der Zeitungen, die das Ereignis durch die Falschmeldung erst erzeugten. Im Mai 1967 kehrten die Kommunarden das Verfahren um: Sie schrieben selbst Texte, die ein Ereignis in der Art und Weise der Springer-Medien kommentierten, so dass aus dem realen Geschehen eine fiktive Performance wurde, was in der Form der Flugblattpublikation zur Provokation der Berliner Öffentlichkeit und schließlich zu einem Strafverfahren gegen Rainer Langhans und Fritz Teufel

32 Vgl. Butler, Judith: Excitable Speech. A Politics of the Performative. New York 1997. 33 Vgl. Briegleb, Klaus: 1968. Literatur in der antiautoritären Bewegung. Frankfurt a. M. 1993, S. 51f. 34 Vgl. ebd., S. 61f.



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führte. Anlass war der Brand des Kaufhauses À l’Innovation in Brüssel, bei dem am 22. Mai 1967 mehr als dreihundert Menschen starben. Zwei Tage später verteilten die Kommunarden Flugblätter an der FU, die den Kaufhausbrand als ein Happening von belgischen Vietnam-Aktivisten (Flugblatt 6) bzw. als Werbeaktion der amerikanischen Industrie (Flugblatt 7) darstellten. Eines der Flugblätter trägt den Titel „Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?“ (Flugblatt 8); es schließt mit dem Imperativ „burn, ware-house, burn!“35 Die Kommunarden Langhans und Teufel wurden daraufhin von der Staatsanwaltschaft Berlin wegen Aufforderung zur Brandstiftung angeklagt. Der Prozess begann im Juli 1967 und endete im März 1968 mit einem Freispruch. Grund hierfür war der ironische bzw. satirische Ton der Texte, der durch eine Reihe von Experten-Gutachten nachgewiesen wurde. Für die Verteidigung von Teufel und Langhans waren Gutachten u.  a. von Eberhard Lämmert, Peter Szondi, Jacob Taubes und Peter Wapnewski eingeholt worden. Zentral für alle Gutachten ist der Begriff der Satire, der als wesentliches Argument gegen den Hauptanklagepunkt – Aufforderung zur Brandstiftung – fungiert. Im Gutachten von Lämmert wird die Auffassung vertreten, dass Presse- und Werbesprache in den Flugblättern imitiert werde. Die dominanten stilistischen Mittel seien dabei simulatio und dissimulatio, „die beiden Grundformen der Ironie“.36 Insgesamt werden die Flugblätter von ihm als „satirische Meinungsäußerungen“37 bezeichnet. Peter Szondi präzisiert diesen Befund, kommt aber letztlich zum gleichen Ergebnis: „Das von den Verfassern gewählte Mittel ist nicht das Zitat, sondern das der satirischen Parodie.“38 Peter Wapnewski spricht von einer Maske, die sich die Autoren der Flugblätter aufsetzten. Das literarische Verfahren der Texte wird als Ironie identifiziert, als eine „Präsentation des Absurden“,39 wie sie für die Künste des 20. Jahrhundert charakteristisch sei. Taubes betont in seinem Gutachten zwar den in den Flugblättern virulenten „Stil der Satire“,40 verweist aber auch auf die surrealistische Tradition, in der die

35 Miermeister, Jürgen / Staadt, Jochen (Hg.): Die Studenten- und Jugendrevolte in ihren Flugblättern 1965–1971. Darmstadt 1980, S. 28. 36 Lämmert, Eberhard: Brandstiftung durch Flugblätter? Ein Gutachten. In: Sprache im technischen Zeitalter 28 (1968), S. 321–329, hier S. 324. 37 Ebd., S. 328. 38 Szondi, Peter: Aufforderung zur Brandstiftung? Ein Gutachten im Prozeß Langhans / Teufel. In: Sprache im technischen Zeitalter 28 (1968), S. 329–338, hier S. 331. 39 Wapnewski, Peter: Gutachten. In: Sprache im technischen Zeitalter 28 (1968), S.  338–342, hier S. 341. 40 Taubes, Jacob: Surrealistische Provokation. Ein Gutachten zur Anklageschrift im Prozess Langhans-Teufel über die Flugblätter der ‚Kommune I‘. In: Merkur, November 1967, S. 1069–1079, hier S. 1078.

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Flugblätter zu verorten seien. Für ihn ist die Provokation, wie sie in den Kommune-Texten zum Ausdruck kommt, mit Bretons „Provokation zum Mord“,41 wie sie im Zweiten Surrealistischen Manifest formuliert wird, vergleichbar: Es entspricht der inneren Logik derartiger Texte, daß sie zu immer größerer Maßlosigkeit, zu immer schärfer werdender Übertreibung, zum Übertreffen der vorangegangenen Provokation nötigen, um den beim Leser beabsichtigten Schock auch wirklich zu erzeugen. Aber nur auf den Schock, nicht auf das Vollbringen der vorgestellten gewaltsamen Handlung selbst kommt es an.42

Der performative Akt dieser Sprachäußerungen, die auf Provokation zielen, wäre im Sinne Austins der Kategorie abuses zuzuordnen. Die Ernsthaftigkeit der performativen Äußerung wird nur vorgetäuscht. Gleichzeitig kann man sie aber auch der Kategorie der von Derrida hervorgehobenen Fälle des parasitären Zitats zuordnen, wie sie insbesondere in der Literatur und im Theater vorkommen. In diesem Sinn versteht Taubes die performativen Texte der Surrealisten und der Kommune I: Es besteht kein Zweifel, daß die Gruppe der Surrealisten […] sich tödlich ‚ernst‘ nahmen und sich dagegen wehrten, nur als ‚Literatur‘ abgetan zu werden. Sie betonen: ‚Der Surrealismus ist keine dichterische Form‘. Und dennoch ist jedem Einsichtigen klar, daß surrealistische Dokumente nur als poetische Fiktionen zu werten sind. Denn die totale Weigerung, die der Surrealismus – gleich der ‚Kommune I‘ – proklamiert, und die totale Vernichtung der bürgerlichen Welt, von der der Surrealismus – gleich der ‚Kommune I‘ – träumt, tut keinem weh – genau genommen, weil sie total sind. Die Vernichtung der bürgerlichen Welt ist als Programm sowohl des Surrealismus als auch der ‚Kommune I‘ etwas Absolutes, das außerhalb von Geschichte und Politik liegt, also eine poetische Aktion.43

Taubes Lesart öffnet den Blick für die Aporie, in der diese Texte verhaftet sind, nämlich politisch agieren und sich dem Stigma der Kunst bzw. der Literatur entziehen zu wollen, aber im Modus der Darstellung, der die Aufhebung der Kunst verkündet, selbst zur Kunst, zur Dichtung zu werden. Die Ereignishaftigkeit der Kommune-Texte ist damit jedoch nicht genau genug beschrieben. Denn die Situation, d. h. das Ereignis, das die inkriminierten Texte bewirken, also der Prozess, der von den Angeklagten Langhans und Teufel zu einer theatralen Performance umfunktioniert wird, ist selbst noch Bestandteil des Text-Ereignisses, wobei eine gesellschaftliche Praxis des Lesens

41 Ebd., S. 1079. 42 Ebd., S. 1075. 43 Ebd., S. 1078.



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sichtbar gemacht wird. Entscheidender Bestandteil ist dabei die für die Texte der Kommune I charakteristische Ambiguität der Sprechakte. Die Ironie der Kommune I lässt sich nämlich keineswegs durchgehend als Satire entziffern. So richtet sich in früheren Flugblättern der Kommune I die Ironie auch gegen die eigene Sprecher-Instanz, wenn etwa der Imperativ „nieder mit der Kommune“ (Flugblatt 2) oder die Frage „Wer soll uns noch glauben?“ (Flugblatt 5) formuliert werden.44 Diese Ambiguität wird ebenfalls in den Brandstifter-Flugblättern spürbar, wenn es im gespielt fatalistischen Ton heißt: „Deshalb trottelten wir anfangs mit Schildern durch leere Straßen, warfen ab und zu Eier ans Amerikahaus und zuletzt hätten wir gern HHH in Pudding sterben sehen.“45 Die Flugblätter, die ihre Freude an der sprachlichen Ästhetik der Gewalt – „jenes knisternde Vietnamgefühl“46 (Flugblatt 7) – bekunden, oszillieren in ihrer Rhetorik zwischen Ironie und Ernst, so dass für den Leser letztlich unentscheidbar ist, ob es sich bei den sprachlichen Äußerungen der Kommune um eine Sprache des Ernstes oder um eine der Ironie47 handelt. Diese konstitutive Ambiguität der KommuneSprache ist Teil des performativen Verfahrens der Kommunarden, das auf diese Weise das Ereignis des Brandstifter-Prozesses erst ermöglicht und die Situation einer hermeneutischen Krise der Berliner Strafgerichtsbarkeit in Szene setzt. So wie anlässlich des Puddingattentats, die fiktionalen Schreibpraktiken der Springer-Presse sichtbar werden, so offenbarte sich in dem Brandstifterprozess eine Hermeneutik des Verdachts und der Projektion. Die Ereignishaftigkeit des Situationismus, wie sie sich in den Texten und Praktiken der Kommune I darstellt, beruhte somit auf Ereigniseffekten, die durchaus in Analogie zu den Lektüre-Effekten der Dekonstruktion betrachtet werden können. Das von Mersch betonte Moment der Aura der Ereigniskunst bleibt hier allerdings aus. Denn das Ereignis der situationistischen Textpraxis baut auf dem Zusammenspiel von TextStrukturen (Rhetorik), Performativität (Sprechakt) und Kontingenz (Rezeption) auf, das sich nicht auf einen einzigen Zeitpunkt hin festlegen lässt. Text-Ereignisse können durchaus im Sinne von Fischer-Lichtes und Merschs Ästhetiken des Performativen gelesen werden. Dies gilt jedenfalls für Textszenen, in denen der materielle Text im Zusammenspiel mit der körperlichen Präsenz eines vorlesenden oder performenden Dichters oder Darstellers in Erscheinung tritt. Die Wirksamkeit von Text-Ereignissen, die sich auf mehrere, zeitliche dis-

44 Miermeister / Staadt: Die Studenten- und Jugendrevolte, S. 25f. 45 Ebd., S. 28. 46 Ebd., S. 27. 47 Vgl. hierzu Bohrer, Karl Heinz: Sprachen der Ironie – Sprachen des Ernstes: Das Problem. In: ders. (Hg.): Sprachen der Ironie – Sprachen des Ernstes. Frankfurt a. M. 2000, S. 11–35.

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tinkte Szenen (der Lesung, der Störung, der Lektüre, der medialen Verbreitung, des juristischen Verfahrens) erstreckt, bedarf jedoch eines anderen Begriffs des Ereignisses. Die Situation als Effekt des Textes bezeichnet jene Ereignishaftigkeit, die die historisch-diskursive (und nicht etwa individuelle) Lektürepraxis in ihrer Wirksamkeit (und zwar auch hinsichtlich ihrer möglichen Fehlinterpretation) im Zusammenhang mit dem Text in seiner performativen und rhetorischen Struktur betrachtet und analysiert.

Klaus-Michael Bogdal

Kleiner Diskursivitätsbegründer ganz groß Rolf Dieter Brinkmann hasst „alte Dichter“ und droht mit einer „neuen Literatur“ Kann ein literarischer Text ein Ereignis sein? In der Alltagssprache sicherlich. In der poetologischen Selbstbeschreibung einer Textgeburt ebenfalls. Denken wir an Kafkas Tagebucheintrag, mit dem er euphorisch die Schreibszene der Erzählung Das Urteil einfängt.1 Von dort aus ließe sich eine mögliche Antwort auf diese Frage geben: Das Ereignis als eine eminente und erfolgreiche Situation dichterischen Schreibens zu bestimmen und zu datieren, analog zum Ereignisbegriff der Geschichtswissenschaften, durch den diese die Schlacht von Stalingrad, den Fall der Mauer oder die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten dem kulturellen Gedächtnis überantwortet. Mit Foucault würde ich hier gerne eine zweite Antwort zu geben versuchen. ‚Antwort‘ wäre allerdings zu viel versprochen. Es ist eher ein Versuch, sich mit einigen wenigen Theorieelementen der Historischen Diskursanalyse der Fragestellung anzunähern.

1 Text – Ereignis – Monument Ereignis und Diskurs bringt Foucault vor allem in seinen wissenschaftshistorischen und theoretischen Werken von Die Ordnung der Dinge über Archäologie des Wissens, Die Ordnung des Diskurses bis zu Was ist ein Autor? und in der Auseinandersetzung mit Derridas Bemerkungen über Descartes zusammen.2 Damit gießt er Wein in das strukturalistische Wasser. Der Vorstellung einer aus syntagmatischen und paradigmatischen Verknüpfungen bestehenden synchronen Struktur setzt er das strikt historische Konzept des Diskurses, dem Mechanismus strukturaler Effekte und permanenter Bedeutungserzeugung die Kontingenz und Singularität der Ereignisse entgegen. Der Diskurs ist für Foucault in seinen Schriften um 1970 weder ein autopoetisches System noch eine Gesellschaftsformation

1 Kafka, Franz: Tagebücher 1912–1914. Herausgegeben von Hans-Gerd Koch. Frankfurt a.  M. 1994, Bd. 2, S. 101. 2 Foucault, Michel: Mein Körper, dieses Papier, dieses Feuer. In: ders.: Schriften. Frankfurt a. M. 2002, Bd. 2., S. 300–330 und ders.: Erwiderung auf Derrida. In: ebd., S. 347–367. DOI 10.1515/9783110541854-009

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im marxistischen Sinn, sondern eine Weise der Produktion von Wissen, die von bestimmten Praktiken reguliert und von Institutionen getragen wird. Das ‚Ereignis‘ zu denken, führt nach Foucault in die wirkliche Geschichte zurück – auch wenn ‚wirklich‘ von ihm in Anführungszeichen gesetzt wird: Die ‚wirkliche‘ Historie dagegen lässt das Ereignis wieder in seiner Einzigartigkeit hervortreten. Unter einem Ereignis ist dabei nicht eine Entscheidung, ein Vertrag, eine Regierungszeit oder eine Schlacht zu verstehen, sondern die Umkehrung eines Kräfteverhältnisses; der Verlust der Macht; die Übernahme eines Wortschatzes, der nun gegen seine bisherigen Benutzer gewendet wird; die Schwächung einer Herrschaft, die sich selbst vergiftet, während eine andere verdeckt auf den Plan tritt.3

Umkehrung eines Kräfteverhältnisses, Übernahme eines Wortschatzes, Schwächung einer Herrschaft: Das ist allgemein genug gefasst, um auch auf die ‚wirkliche‘ Geschichte der Literatur übertragen werden zu können. Die Archäologie des Wissens – daran sei hier kurz erinnert – unterscheidet vier Ebenen diskursiver Ereignisse, die stets auf die Produktion von Wissen bezogen sind: die Aussage, das Erscheinen der Gegenstände, die Formationsregeln. Und viertens kann auch der Diskurs selbst zu einem Ereignis innerhalb der Ordnung des Wissens werden. Untersucht werden in der Archäologie die Möglichkeitsbedingungen und Regeln dessen, was ein wenig vage ‚Ereignisproduktion‘ genannt wird.4 Im Foucaultschen Sinn könnte man von einem literarischen Text als Ereignis sprechen, wenn er das Resultat dieser diskursiven Möglichkeitsbedingungen und Formationsregeln ist. ‚Ereignis‘ ist ein Begriff der Temporalität, der dazu zwingt, einen Anfang und ein Ende zu denken. Foucault verbindet aber mit dem Anfang nicht die Vorstellung eines Ursprungs und mit dem Ende nicht einen teleologischen Geschehensverlauf, sondern ist – wiederum ein wenig dunkel – an der Serialität und an der Beziehung von Ereignissen untereinander interessiert. Das Ereignis ist in seiner Archäologie eine Weise des Sichtbarwerdens eines komplexen Wirkungszusammenhangs zu einem konkreten historischen Zeitpunkt. In der kulturellen Gesamtordnung nimmt bei Foucault das Monument die Position des Ereignisses im Diskurs ein. Er übernimmt diesen Begriff aus den archäologischen Wissenschaften und stellt ihn dem Dokument, der dem Archiv einverleibten Hinterlassenschaft der Geisteswissenschaften, gegenüber. Das ‚Monument‘ ist für ihn ein zwar entzifferbares, aber dennoch unzugängliches Zeichen. Es hat die Gestalt einer in sich ruhenden Identität; wir treten ihm – wie

3 Foucault, Michel: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: ders.: Schriften. Frankfurt a. M. 2002, Bd. 2, S. 166–191, hier S. 180. 4 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1973, S. 48–60.



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den Hieroglyphen – als Empfänger einer rätselhaften Botschaft entgegen. In der Debatte mit Derrida weist er auf das Ensemble derjenigen Praktiken hin, die das Monument in ein Dokument transformieren und ihm damit seinen Ereignischarakter nehmen: Reduktion diskursiver Praktiken auf textuelle Spuren; Weglassen von Ereignissen, die darin hervorgebracht werden, um allein Merkzeichen für eine Lektüre zurückzubehalten; Erfindungen von Stimmen hinter den Texten, um nicht die Weisen der Implikation des Subjekts in die Diskurse analysieren zu müssen; Zurückweisung des Ursprünglichen als im Text Gesagtes und Ungesagtes, um nicht den diskursiven Praktiken im Feld der Transformationen, in dem sie sich vollziehen, wieder ihren Platz zu geben.5

Der kulturellen Deutungswut hält er die „dokumentarische [...] Materialität (Bücher, Texte, Erzählungen, Register, Akten, Gebäude, Institutionen, Regelungen, Techniken, Gegenstände, Sitten usw.)“6 entgegen. Monumente erlauben das ‚Wieder-in-die-Hand-Nehmen‘7 in unterschiedlichen Situationen und zu verschiedenen Zwecken. Sie sperren sich gegen den Ort, der für sie im kulturellen Gedächtnis vorgesehen ist. Einen literarischen Text müsste die Unzugänglichkeit, Fremdheit und Einzigartigkeit eines Monuments auszeichnen, um als diskursives Ereignis wahrgenommen zu werden, – und er müsste sich von dieser Singularität weiterhin ein Stück bewahren, bevor er im Zuge kultureller Normalisierungsprozesse in der Geschichte der Literatur verschwindet wie zum Beispiel Jahr für Jahr die Buchmesseereignisse, die als epochemachend, überraschend oder sensationell annonciert werden. Für eine solche Konstellation hat Foucault, wenn auch nicht für die Literatur, sondern die Wissenschaft – en passant in Was ist ein Autor? und um auf die Komplexität von Autorschaft hinzuweisen – den Begriff des Diskursivitätsbegründers ins Spiel gebracht. Karl Marx mit dem Historischen Materialismus und Sigmund Freud mit der Psychoanalyse sind für ihn die ‚großen‘ Diskursivitätsbegründer modernen Denkens, nicht weil sie, wie Louis Althusser meinte, mit der Geschichte und dem Unbewussten jeweils einen neuen „Kontinent des Wissens“ entdeckt hätten, sondern weil sich „das Werk dieser Begründer […] nicht im Verhältnis zur Wissenschaft und in dem Raum, den sie umreißt“ situiert, „sondern

5 Foucault, Michel: Mein Körper, dieses Papier, dieses Feuer, S. 330. 6 Foucault: Archäologie des Wissens, S. 15. 7 Ebd.

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die Wissenschaft oder die Diskursivität […] sich auf ihr Werk als primäre Koordinaten“ beziehen.8 Genauer: Das Besondere an diesen Autoren ist, dass sie nicht nur die Autoren ihrer Werke, ihrer Bücher sind. Sie haben mehr geschaffen als das: die Möglichkeiten und Formationsregeln anderer Texte. […] Sie haben eine unbegrenzte Diskursmöglichkeit geschaffen.9

Was Foucault Anfang 1969 den Mitgliedern der Société franҫaise de philosophie über die unbegrenzte Öffnung von Diskursen vorträgt, ist nicht weit von dem entfernt, was in den zeitgenössischen Kunst- und Literaturdebatten, die ein Ende der Epoche des europäischen Modernismus und der Avantgarden ankündigen, verhandelt wird. Wenn er über Freud und Marx sagt: „Sie haben den Raum für etwas anderes als sich selbst geöffnet, das jedoch zu dem gehört, was sie begründet haben“10 – dann gilt das auf ähnliche Weise zum Beispiel für diejenigen Künstler und Schriftsteller, die zur gleichen Zeit die Grenzen zwischen Elite- und Massenkultur einreißen wollen. Keine großen, aber kleine Diskursivitätsbegründer, die Kunst und Literatur für alles öffnen, was bisher jenseits ihrer Grenzen lag wie das Banale oder Triviale.

2 Literatur als Ereignis bei Rolf Dieter Brinkmann In Deutschland gehört Rolf Dieter Brinkmann zu diesen kleinen Diskursivitätsbegründern, die nach konventionell-modernistischen Anfängen11 in ihrer Textproduktion auf die Ereignishaftigkeit umstellen, auf „Verfahren der sich selbst auslegenden Performanz“,12 wie Dirk Niefanger sie genannt hat. Wenn Brinkmann in Rom, Blicke die paradoxe Forderung nach einer Literatur erhebt, „die sich vom Zwang befreit hat, ‚Literatur‘ darzustellen“,13 dann deshalb, um neue Formationsregeln und Diskursmöglichkeiten für sich und andere zu schaffen. Ob dabei

8 Foucault, Michel: Was ist ein Autor? (Vortrag). In: ders.: Schriften. Frankfurt a. M. 2001, Bd. 1, S. 1003–1041, hier S. 1025. 9 Ebd., S. 1022. 10 Ebd., S. 1023. 11 Siehe Fauser, Markus: Nachholende Moderne. Rolf Dieter Brinkmanns frühe Lyrik. In: ders. (Hg.): Medialität der Kunst – Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne. Bielefeld 2011, S. 103–124. 12 Niefanger, Dirk: Rolf Dieter Brinkmanns Poetik der Selbstinszenierung. In: Fauser, Markus (Hg.): Medialität der Kunst – Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne. Bielefeld 2011, S. 65–82, hier S. 71. 13 Brinkmann, Rolf Dieter: Einübung einer neuen Sensibilität. In: Brinkmann, Maleen (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Rowohlt Literaturmagazin H. 36. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 153.



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eine neue Literatur herauskommt, erscheint zweitrangig. Er versucht den seiner Wahrnehmung und Erfahrung nach ereignislosen literarischen Raum zu verlassen, in dem, wie er im letzten Satz seines Essays Angriff aufs Monopol festhält, die Toten die Toten bewundern.14 Wenig überraschend schreibt er 1968 seine Forderung noch in den alles beherrschenden Generationskonflikt ein: Der einzig zu gehende Weg für jüngere Autoren, wollen sie nicht durch die häßlichen, zynischen alten Männer des Kulturbetriebs kaputtgemacht werden, ist: grundsätzliches Mißtrauen gegen jede Freundlichkeit seitens dieser Leute […] Denn: Die alten Leute, selbst wenn sie ‚jung‘ erscheinen, sind tot, weil sie keine Zukunft mehr haben.15

Vor dem Hintergrund des Endes der europäischen Avantgarden und der Provinzialität deutscher Gegenwartsliteratur und gleichzeitig voller Bewunderung für die amerikanische Postmoderne, deren Populismus er nicht durchschaut, sucht er – nicht theoriegeleitet, sondern performativ – die Diskursbedingungen der Literatur zu verändern, d. h. neue Aussagen zu ermöglichen, das Erscheinen anderer Gegenstände durchzusetzen und die Formationsregeln zu transformieren. Seine wütenden Auftritte im Diskursraum bürgerlicher Öffentlichkeit – von der zur Legende gewordenen Drohung gegen Reich-Ranicki bis zu den wirren Störungen von politischen Versammlungen in Köln – zielen auf einen neuen, anderen Resonanz- und Kommunikationsraum, wie ihn die Jugend- und Subkulturen in den 1970ern dann sektoral schaffen werden. Die Hoffnung auf einen anderen Resonanzraum ist auch zu spüren, wenn er sein Verständnis von künstlerischer Produktivität zu formulieren sucht: [U]nter Spaß machen verstehe ich, daß man produktiv ist, und zwar so produktiv, daß man im Produktionsprozeß etwas von sich verwirklicht, das heißt also, es kommt also zuerst mal gar nicht drauf an, irgend etwas Besonderes zu sein, sondern bewußt Massenmensch zu sein, und ich bin gern ein Massenmensch, das muß ich wohl sagen.16

Eine ‚neue Literatur‘, demokratisch nicht im politischen Sinn, wie sie Martin Walser in seiner Polemik gegen Fiedler, Brinkmann und Handke fordert,17

14 Brinkmann, Rolf Dieter: Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter! In: Wittstock, Uwe (Hg.): Roman oder leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Leipzig 1994, S.65–79, hier S. 77: „Die Toten bewundern die Toten.“ 15 Ebd., S. 70. 16 Brinkmann, Rolf Dieter: Interview mit einem Verleger. In: Märztexte 1. Darmstadt 1969, S. 283–296, hier S. 294. 17 Walser, Martin: Über die Neueste Stimmung im Westen. In: ders.: Ansichten. Einsichten. Aufsätze zur Zeitgeschichte. Frankfurt a. M. 1997, S. 289–315.

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sondern Geschmack und Habitus der ‚Massen‘ aufgreifend, könnte das Ergebnis dieser Produktivität sein. Doch Brinkmann droht der ‚alten‘, bildungs- und wissenshungrigen Literatur nur damit und experimentiert mit intermedialen Formen und anderen Medien wie der Fotostrecke Wie ich lebe und warum (1970), die seinen Beitrag zum Band Trivialmythen bildet.18 Während Jelinek, Ror Wolf, Wondratschek, Mayröcker u. a. zu diesem Thema Texte schreiben, verweigert sich Brinkmann bis auf die Überschrift vollständig dem Wort. Die sprachskeptische Begründung hatte er in seiner Rezension Laßt das Stille-Virus frei! Zu W. S. Borroughs’ Buch „Nova-Express“ geliefert: Wörter rufen bestimmte Vorstellungen hervor, die wieder zu Wörtern gerinnen. Das ist das alltägliche Gefängnis, eine schmierige, heruntergekommene Schaubude, die den Körper festhält, hier in der Zeit. Wörter reagieren auf Wörter, und diese Klamotte wird jeden Tag in den Massenmedien neu aufgeführt. […] Dagegengesetzt ist Stille, der wortlose Zustand, das Hinter-sich Lassen jenes bequemen Schemas aus Entweder-Oder, die Fähigkeit zu sehen, was tatsächlich geschieht, sobald der Verbalisierungsprozeß gestoppt ist, aus dem sich fast immer ein vorprogrammiertes Reizreaktionsschema und damit vorausberechenbare Verhaltensweisen herauslesen lassen.19

Die „Fähigkeit zu sehen, was tatsächlich geschieht“, fällt in Wie ich lebe und warum angesichts der hoch ambitionierten poetologischen Programmatik bescheiden aus: Man sieht ein eher subproletarisches als bohemehaftes Milieu, es gibt u. a. fließendes Wasser, ungemachte Betten, Sperrmüll, ungespültes Geschirr, einen vollen Papierkorb neben dem Schreibtisch, eine verkalkte Waschmaschine, ein schmutziges Klo und einen Pömpel. Brinkmann montiert die Schwarz-Weiß-Fotos zu einer Strecke von 36 Aufnahmen. Je sechs befinden sich auf einer Druckseite. Sie kopieren den Dilettantismus privater Fotografien und könnten, wenn man ihnen ein ästhetisches Konzept unterstellt, als sozial-dokumentarisch bezeichnet werden. Obwohl unterschiedliche Alltagsbereiche vom Wohnen über das Arbeiten bis zum Kochen, Putzen und zum Zusammenleben der Familie auftauchen, stellen sie keine Ordnung her, sondern unterlaufen diese durch die scheinbar willkürliche Anordnung und das Chaos des Gezeigten. Nichts auf den Bildern ist neu, alles erscheint abgenutzt und verwohnt, manches ist nur noch angehäufter Schrott und Müll. Die Fotos erlauben dem Leser bzw. Betrachter einerseits einen Einblick ins Persönliche und Intime und transformieren dieses andererseits in eine Milieustudie schlichten urbanen Lebens. Das „Warum“ im Titel gibt den

18 Brinkmann, Rolf Dieter: Wie ich lebe und warum. In: Matthaei, Renate (Hg.): Trivialmythen. Frankfurt a. M. 1970, S. 67–74. 19 Brinkmann, Rolf Dieter: Laßt das Stille-Virus frei! Zu W. S. Borroughs’ Buch „Nova-Express“. In: Stuttgarter Zeitung, 24. Juli 1971, S. 52.



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Abb. 1–4: Fenster – Schreibtisch – Waschmaschine – Bad. Aus: Brinkmann, Rolf Dieter: Wie ich lebe und warum. In: Matthaei, Renate (Hg.): Trivialmythen. Frankfurt a. M. 1970, S. 67–74.

Anstoß zu möglichen Narrationen, die ein Betrachter in die Fotostrecke hineinlesen kann, wenn es ihm nicht vollständig die Sprache verschlägt. Eine Lesart könnte sein: So lebt ein junger Dichter, der sich nicht durch die zynischen alten Männer des Kulturbetriebs kaputtmachen lässt, eine andere: Unter derartigen Bedingungen muss ein genialer junger Dichter arbeiten, der die alten Dichter dennoch überragt. Rückt man die besondere Rolle der visuelle Wahrnehmung im Kontext eines Erzähl- und Essaybandes in den Vordergrund, wird deutlich, dass der wortlose Zustand, von dem Brinkmann in seiner Rezension von Borroughs spricht, hier in einen Zustand unendlicher Wiederholungen führt. Die Selbsterkundung in Wie ich lebe zwingt dem zeitgenössischen literarischen Diskurs damit neue Gegenstände auf, indem das Imaginieren von Bildern bei der Lektüre durch die Konfrontation mit Bildern ersetzt und die Fantasie durch

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Bildhunger abgelöst wird, der ohne Unterbrechung befriedigt werden muss. Brinkmann dazu in Rom, Blicke: „Treten, Schritte, Sehen: klack, ein Foto! Gegenwart, eingefroren.“20 Die Wortskepsis schlägt in Wissensskepsis und Intellektuellenfeindlichkeit um. Der Angriff aufs Monopol richtet sich gegen die Machteffekte des Wissens der Moderne. In Der Film in Worten heißt es: „Der Wahnsinn und Terror des sachgemäßen Verzettelns […] wird aufgegeben.“21 Und: „Aufgeklärtes Bewußtsein, auf das europäische Intellektuelle so lange stolz Monopolansprüche erhoben haben, nutzt allen allein nichts, es muß sich in Bildern ausdehnen, Oberfläche werden.“22 Dieser spätere postmodernistische Gemeinplatz versucht eine andere Art von Diskursivität zu umschreiben, die vage genug als Wahrnehmungsoberfläche benannt wird und die Wissen als plötzliche Erkenntnis hervorbringt. Diese andere Diskursivität erzwingt einen Zustand voller Unruhe – „Intellektuelle Spontaneität wird mit körperlicher Spontaneität gekoppelt“23 –, der durch die erhabenen Augenblicke der Einsicht in die Dingwelt nicht still gestellt werden kann. Sie führt nicht länger zurück in die Vergangenheit, auf die Friedhöfe der Kultur und der Geschichte, sondern mitten hinein in die Gegenwart, deren Besonderheit sie sich bemächtigen soll. Bei Brinkmann löst die Gewissheit, als einer von wenigen, eine künstlerisch produktive Beziehung zur Gegenwart gewonnen zu haben, Allmachtsphantasien aus, die in der Brinkmannforschung ein wenig euphemistisch als „Ästhetik der allmächtigen Subjektivität“24 bezeichnet worden sind. In der Pose des bitterbösen Friederich erweitert er seine Angriffe auf die ‚alten Dichter‘ in dem Konvolut Rom, Blicke auf die gesamte zeitgenössische Kunst, wenn er über seine Mitstipendiaten in der Villa Massimo notiert: Dahinter liegen sie und komponieren, dahinter liegen sie und formulieren nocheinmal, was schon da ist, dahinter klimpern sie atonal und modellieren sie ihre stereotypen Ansichten, zweite Wahl, freundliche Arschkriecher, elende hirnvergammelte Schwätzer, Zahnpopler, die Erfindung der Schreibmaschine beleidigende, schließlich nur armselige Häufchen, die ihre blöden Fleppen ins Reine bringen wollen, Dicktuer, avantgardistische Konventionelle, samt einem mümmelnden Pfarrer als Ehrengast.25

20 Brinkmann, Rolf Dieter: Rom, Blicke. Reinbek 1979, S. 172. 21 Brinkmann, Rolf Dieter: Der Film in Worten. Prosa, Erzählungen, Essays, Hörspiele, Fotos, Collagen, 1965–1974. Reinbek 1982, S. 235. 22 Ebd., S. 225. 23 Ebd., S. 234. 24 Gross, Thomas: Alltagserkundungen. Empirisches Schreiben in der Ästhetik und in den späten Materialbänden Rolf Dieter Brinkmanns. Stuttgart 1993, S. 130. 25 Brinkmann, Rolf Dieter: Rom, Blicke. Zitiert in: Carius, Karl Eckhard (Hg.): Brinkmann. Schnitte im Atemschutz. München 2008, S. 104.



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Die Hasstirade offenbart, dass für Brinkmann mehr auf dem Spiel steht als eine ‚neue‘ Literatur, über deren ‚Tod‘ zur gleichen Zeit vor allem mit gesellschaftspolitischen Implikationen debattiert wird.26 Es geht um eine neue Lebensweise, durch die beiseite geräumt wird, was er als abendländisch-europäische Kultur bezeichnet, und durch deren Untergang der ‚underground‘ an die Oberfläche gelangen kann. Diese Lebensweise setzt einen lebensgeschichtlichen Traditionsbruch und eine Entgrenzung der sozialen Räume voraus, in denen es sich neu zu positionieren gilt. Mit dem Autorschaftsmodell der verspäteten deutschen Moderne, der Ästhetik der ‚avantgardistischen Konventionellen‘, die sich selbst als Nonkonformisten bezeichnen, erscheint sie Brinkmann nicht erreichbar.27 Und mit Hilfe des bildungsbürgerlichen literarischen Traditionalismus ohnehin nicht.28 Brinkmann setzt – im Kontext von Achtundsechzig nicht überraschend – ein Modell dagegen, das durch die Aufkündigung des Einverständnisses mit den ‚alten Dichtern‘ – der entscheidenden Legitimierungsinstanz für die Neuen – und durch Strategien der Selbstermächtigung und Selbstlegitimierung gekennzeichnet ist. Dazu gehört an erster Stelle die angstüberwindende und regelverletzende Intervention des an die Grenzen des Alten stoßenden ‚empörten Selbstbewusstseins‘. In einem globalen Bestseller aus dem Jahr 1970 Die Welt wird jung wird diese Intervention als Lebensentwurf für eine andere Gesellschaft umrissen: Der [...] Mensch fühlt, daß er, will er mit sich ehrlich sein, die eigene Persönlichkeit einsetzen muß. Er muß bescheiden leben, um jene Freiheit zu behalten, die sein Einsatz verlangt. Er muß Risiken eingehen. Und gleichzeitig muß er in allem, was er tut, völlig er selbst sein.29

Das ist auch Brinkmanns poetologisches Programm. Im ‚alten‘ literarischen Diskurs müsste er auf ein Werk als Ereignis setzen, um in eine legitimierte Autorposition zu gelangen. Die ‚neue‘ Form der Diskursivität, eine Kultur mit anderen Subjektpositionen, Gegenständen, Redeweisen und Diskursgrenzen, löst das Werk auf in Wahrnehmung. Sie bringt – wie bei Handkes Auftritt in Princeton30 –

26 Siehe Marmulla, Henning: Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68. Berlin 2011, S. 162–198. 27 Siehe Bogdal, Klaus-Michael: Der Augen-Blick des Wortes. Zur Poetologie der verspäteten Moderne. In: Heimböckel, Dieter / Werlein, Uwe (Hg.): Der Bildhunger der Literatur – Festschrift für Gunter E. Grimm. Würzburg 2005, S. 283–291. 28 Siehe Bollenbeck, Georg: Bildung und Kultur. Frankfurt a. M. 1996, S. 301–312. 29 Reich, Charles: Die Welt wird jung. Der gewaltlose Aufstand der neuen Generation. Wien 1971, S. 192. 30 Siehe Barner, Wilfried (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur. München 1994, S. 497.

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 Klaus-Michael Bogdal

den Akt subjektiver Selbstermächtigung als Ereignis hervor und damit die Unterbrechung und nicht die Fortführung, die Leerstelle und nicht die Fülle. In seiner Polemik gegen Leslie Fiedler, Handke und Brinkmann, die 1970 unter dem Titel Über die Neueste Stimmung im Westen im Kursbuch erscheint, konzentriert sich Martin Walser auf diese Verwerfungen im Literaturbetrieb. In Anspielung an McLuhan beklagt er, dass der „Autor […] die Botschaft“31 geworden sei und man die „Autoren der Neuesten Stimmung“ kennen könne, „fast ohne ihre Werke zu lesen“.32 Er wertet diese Entwicklung auf dem Höhepunkt der Politisierung der Literatur als Entgesellschaftung der Schriftsteller: „Die Verwilderung oder Asozialität nimmt zu, je mehr so ein Autor es sich leisten kann, auf nichts als auf sich selbst gestellt zu existieren.“33 Brinkmann wird diese Anspielung auf den Vormärzphilosophen Max Stirner,34 wenn er sie denn hat entschlüsseln wollen, eher als Lob gelesen haben, denn als Kritik. ‚Verwilderung‘ und der Wunsch „ein solcher [zu] werden, wie einmal ein anderer gewesen ist“35 gehören zur neuen Literatur. Und die Redaktion von Christ und Welt, in deren Feuilleton 1968 beide, Walser und Brinkmann, ihren Positionskampf austragen konnten, sah in Letzterem einen Autor, der „aus dem Blickwinkel der jüngeren Generation Grundsätzliches zur Literatursituation zu sagen hat.“36 Es ist das Eingeständnis oder Zugeständnis der konservativen Zeitung, dass der Provokateur Brinkmann „Grundsätzliches“ beizutragen habe, das seine Interventionen als diskursives Ereignis im Sinne Foucaults zu deuten erlaubt, denn es signalisiert in der Tat die Umkehrung des bestehenden Kräfteverhältnisses, den Verlust der vorangegangenen Definitionsmacht und nicht zuletzt soziale Verschiebungen innerhalb des kulturellen Feldes. Marcel Reich-Ranicki hat die Frage nach Groß und Klein, nach alten Dichtern und neuer Literatur auf seine Weise beantwortet: „Brinkmann war ein unzurechnungsfähiger Poet. Aber er war ein Poet.“37

31 Walser: Über die Neueste Stimmung, S. 290. Siehe dazu Bogdal, Klaus-Michael: Riskante Subjektwerdung. In: Ott, Ulrich / Luckscheiter, Roman (Hg.): Belles lettres / Graffiti. Soziale Phantasien und Ausdrucksformen der Achtundsechziger. Göttingen 2001, S. 17–32. 32 Walser: Über die Neueste Stimmung, S. 289. 33 Ebd., S. 291. 34 Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum [1845]. Stuttgart 1972, S. 5: „Ich habʼ Mein Sachʼ auf Nichts gestellt“; „Ich bin [nicht] Nichts im Sinne der Leerheit, sondern das schöpferische Nichts, das Nichts, aus welchem ich selbst als Schöpfer Alles schaffe.“ 35 Handke, Peter: Kaspar. Frankfurt a. M. 1967, S. 13. 36 [Anm. der Redaktion]: Fiedler – Diskussion. In: Christ und Welt 21, H. 48 (15. Nov. 1968), S. 14. 37 Reich-Ranicki, Marcel: Gibt es eine Rolf-Dieter-Brinkmann-Renaissance? Fragen Sie ReichRanicki. In: FAZ vom 28. Mai 2005, Nr. 21, S. 36.

Petra Gehring

Der Essay – ein Verbindendes zwischen Literatur und Philosophie? [M]eine Gedanken folgen einander durchweg, wenn auch zuweilen von weitem Montaigne Die Paradiese des Gedankens sind einzig noch die künstlichen Adorno

Die Was-ist-Frage bezüglich des Essays wurde quer durch die Fächer bereits vielfach gestellt. Dass sie selbstverständlich nur versuchsweise beantwortet werden könne, zählt zu den naheliegenden Scherzen, mit denen man sich den besonderen gattungstheoretischen Schwierigkeiten zu entziehen sucht, die sich im Zusammenhang mit essayistischen Schreib­formen stellen. Auch ist es wohl eine richtige Grundeinsicht, dass der Essay sich kaum de­finieren lässt. Im Wege der nachfolgenden Überlegungen nähere ich mich dem Essay mit Blick auf Bestimmungen, die es erlauben, ihn – von der Philosophie ausgehend – auf seine Rolle zwischen den Disziplinen zu beziehen. Korrespondiert der Essay mit einer Theorieform und hat er somit trotz seiner gemeinhin literarisch bestimmten Ereignisqualitäten Methode oder ist er doch ein Stück freihändiger, einfach nicht aufs gänzlich Fiktionale festgelegter Literatur? Kann man ihn gerade auch in theoretischer Hinsicht auf ereignishafte Momente beziehen? Und: Liegt der Essay gar zwischen Philosophie und Literatur, so dass er die Disziplinen einander annähert oder zusammenbringt?

1 Aus philosophischer Sicht gehören Essays klassisch zum Fach, ohne dass allerdings klar wäre, was den Essay als Textform auszeichnet oder wie er sich im etablierten Spektrum möglicher Wege der Theoriedarstellung zu anderen Schreibverfahren verhält. Die Philosophie besitzt keine Gattungstheorie, und blicken wir in die Archive des Fachs, so ist die philosophische Essayform in ihrer Entstehung auch nicht ohne weiteres datierbar. Das Wort Essai oder Essay kann schlichtweg so etwas wie Abhandlungen oder akademische Langtexte überschreiben, DOI 10.1515/9783110541854-010

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denen jedenfalls in formaler Hinsicht wenig Besonderes zukommt. Philosophische Essays sind einfach ungebunden. Man wird sie daher zunächst ex negativo charakterisieren: weder auf einen bestimmten Interaktionstyp zugeschnitten – wie der Dialog, der mündliche Wechselreden präsentiert, oder der Brief, der sich an einen Abwesenden persönlich richtet –, noch durch eine ihnen eignende institutionelle Funktion zu fassen – wie das Lehrbuch, die Disputatio oder der akademische Traktat. Auch ein typischer intertextueller Bezug – wie er etwa der Rezension eignet, die einen anderen Text anzeigt und prüfend kommentiert – oder ein anderes kennzeichnendes Merkmal, etwa die poetische Kompaktheit des Aphorismus oder die extreme, den Inhalt verstümmelnde Kürze des Fragments, scheinen dem Essay zu fehlen. Das führt in Verlegenheiten, wie sie sich etwa in der folgenden, nicht untypischen (literaturwissenschaftlichen) Definition spiegeln: Als stilistisch anspruchsvoller, in der Regel nicht allzu umfangreicher Prosatext über einen beliebigen, kulturellen oder wissenschaftlichen Gegenstand bildet der Essay eine eigenständige Gattung der nichtfiktionalen Kunstprosa.1

Demgegenüber klingt selbst die Definition, die sich in Meyers großem Taschenlexikon findet, griffiger: Essay ([…] eigtl. ‚Versuch‘, zu lat. exagium ‚das Wägen‘), ein meist nicht sehr umfangreicher, stilist. anspruchsvoller Prosatext, in dem ein beliebiges Thema unsystemat., aspekthaft dargestellt ist, und der nicht unbedingt zu einem klaren Ergebnis kommen muß; mit Prosaformen wie Bericht, Abhandlung, Traktat, Feuilleton verwandt.2

Auch eine solche Bestimmung spezifiziert freilich wenig, insbesondere weder Rolle und Form des wissenschaftlichen oder aber literarischen Essays und auch nicht des Essays im Diskurszusammenhang der Philosophie. Vage Verhältnisse also – und dies jedenfalls im philosophischen Kontext wohl von Anfang an. Denn der Essay gehört – obwohl das Negativmerkmal der Formlosigkeit ihn auszeichnet – nicht erst der um 1800 beginnenden Moderne an. Der Name Essai (also ,Versuch‘) wird vielmehr in der französischen Sprache kanonisch und geprägt durch das berühmte, 1580 und 1588 in drei Teilen publizierte Werk des humanistischen Gelegenheitsphilosophen Michel Eyqem de Montaigne: Les

1 Ostermann, Eberhard: Art. Essay. In: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik Bd. 2. Tübingen 1994, Sp. 1460–1468, hier Sp. 1460. 2 Art. Essay. In: Meyers grosses Taschenlexikon in 24 Bänden, Bd. 6. Mannheim / Leipzig / Wien / Zürich 1992, S. 226f., hier S. 226.



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Essais de messire Michel, seigneur de Montaigne. Montaignes locker geflochtener, unsystematisch wirkender Text oder auch die 1627 erschienene, ähnlich bekannte Gedankensammlung Essays of Francis Bacon or Counsels, Civils and Moral gleichen wiederum nicht unbedingt dem, was im 18. Jahrhundert durch das zumeist englische Wort ,Essay‘ zusammengefasst wird. Denn hier gibt es lange philosophische Traktate, die ,Essay‘ heißen, etwa John Lockes Essay concerning Human understanding, Versuch über den menschlichen Verstand, ein Buch, das auch ,Inquiry‘ hätte genannt werden können. ,Essay‘ scheint hier also schlicht eine (ggf. umfangreiche) Untersuchung zu meinen – bevor später dann die zitierte Typik des „meist nicht sehr umfangreichen“ (und zu ergänzen wäre: aber zusammenhängenden) Prosatextes sich durchsetzt. So bleibt der ein wenig rätselhafte Sachverhalt, dass etliche der vormodernen Solitäre aus heutiger Sicht als gleichsam untypische Essays erscheinen. Damit fragt sich zum einen, ob der philosophische Essay überhaupt als ,eine‘ Form beschrieben werden kann. Und zudem ist die Frage, ob er tatsächlich literarischen Ansprüchen folgt, ob er also – wie es die Definitionen, die ,stilistischen Anspruch‘ zum Merkmal erheben, nahelegen – überhaupt aufs literarische Feld übergreift: Ist die sprachliche Gestalt, eine bestimmte Textform sein Merkmal oder ist es womöglich eher eine Funktion, die ihn charakterisiert? Auf diese Fragen werde ich keine gesicherte Antwort geben können. Gleichwohl nehme ich namentlich jene eigenartige, bereits vormoderne, aber dennoch nicht kanonische Neuerung einer sich als unsystematisch exponierenden Schreibform namens ,Essay‘ zum Anlass, das Experimentelle des Essays in den Vordergrund zu rücken. Experimentieren – das ist eine Praxis, die sich historisch wandelt, die aber eben auch eine bereits vormoderne (und vorromantische) Realität besitzt. Das Experiment ist ein Paradigma, das vor die Epochenschwelle um 1800 zurückreicht. Insofern mögen es die – sich freilich dann zeittypisch wandelnden – Ideen vom Experimentellen sein, die die Textform des Essays prägen. Dieser Vermutung folgend betrachte ich nun den frühen philosophischen Essay sowie moderne (ebenfalls philosophische) Essaytheorien. Abschließend komme ich dann auf die Frage des Verhältnisses von Philosophie und Literatur, und zwar im Blick auf die Essayform, zurück.

2 Montaignes dreiteiliges Werk enthält insgesamt 107 Kapitel. Diese tragen Überschriften wie: „Unsere Gemütsbewegungen tragen uns über uns hinaus“, „Über die Zukunftsdeutungen“, „Über unser Glück sollte man erst nach dem Tode

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urteilen“, „Über das Maßhalten“, „Über die Unsicherheit unserer Urteile“, „Über Streitrosse“, „Über ein Wort Cäsars“, „Über Bücher“, „Man soll sich nicht krank stellen“, „Über die Hinkenden“, „Über die Physiognomie“ oder „Über die Erfahrung“. Eine systematische Gliederung erkennt man hier nicht – und eine solche ist auch gar nicht intendiert. Dies verkündet ein Vorspann, schlicht überschrieben mit „An die Leser“: Dieses Buch, Leser, gibt redlich Rechenschaft. Sei gleich am Anfang gewarnt, daß ich mir damit kein anderes Ziel als ein rein häusliches und privates gesetzt habe. Auf deinen Nutzen war mein Sinnen hierbei ebensowenig gerichtet wie auf meinen Ruhm – für beides reichen meine Kräfte nicht aus. Es ist vielmehr meinen Angehörigen und Freunden zum persönlichen Gebrauch gewidmet, damit sie, wenn sie mich verloren haben (was bald der Fall sein wird), darin einige meiner Wesenszüge und Lebens­umstände wiederfinden […]. Wäre es mein Anliegen gewesen, um die Gunst der Welt zu buhlen, hätte ich mich besser herausgeputzt und käme mit einstudierten Schritten daherstolziert. Ich will jedoch, daß man mich hier in meiner einfachen, natürlichen und alltäglichen Daseinsweise sehe, ohne Beschönigung und Künstelei, denn ich stelle mich als den dar, der ich bin. […] Hätte ich unter jenen Völkern mein Dasein verbracht, von denen man sagt, daß sie noch in der süßen Freiheit der ersten Naturgesetze leben, würde ich mich, das versichere ich dir, am liebsten rundherum unverhüllt abgebildet haben, rundum nackt. Ich selber, Leser, bin also der Inhalt meines Buchs: Es gibt keinen vernünftigen Grund, daß du deine Muße auf einen so unbedeutenden, nichtigen Gegenstand verwendest.3

Provokativ und durchaus kokett bekennt sich hier ein Autor zunächst einmal nicht zu einer bestimmten Form, sondern zu einem Thema, das zugleich eine Art Selbstprüfung sein wird: zugunsten weniger, ihm vertrauter Leser bekundet das literarische Ich, es wolle sich zum Gegenstand machen, dabei das Alltägliche und Profane darstellen – und dies tatsächlich ,nackt‘, unter Verzicht auf Beschönigungen. Alles so wie es ist. Francis Bacons Essays sind in ähnliche Kapitel aufgeteilt: „Von der Wahrheit“, „Von der Rache“, „Vom Ruhm“ und so fort. Auch hier hat man Gelegenheitsbetrachtungen und Stückwerk vor sich. Es fehlt allerdings jene spielerische Geste, die den Leser quasi zum Zeugen ungezwungener Privatheit macht. Bacon schreibt als geschützter Autor und als wissender. Seine Essays kommen als staatstragende Ratschläge und Wahrheiten daher, sie sind knapper gehalten als bei Montaigne und sie folgen im Inneren jedes Teilstücks jeweils einem klaren roten Faden.

3 Montaigne, Michel de: Essais (1580/88). Übersetzt von Hans Stilett. Frankfurt a. M. 1998, S. 5. – Da ich keine philologische Frage verfolge, eher im Gegenteil eine sprachübergreifende Perspektive wähle und mögliche Kontraste zwischen essai, essay und dem deutschen Essay ausklammere, zitiere ich Übersetzungen.



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Die Frage des roten Fadens handhabt Montaigne hingegen lässig. Die Kapitel haben Themen, versammeln aber oft zunächst einmal, was der Verfasser so gehört hat: Kuriose Anekdoten mischen sich mit Sinnsprüchen und eigenen Gedanken. Gleichwohl sind die Kapitel nicht einfach Sammelsurien. Sie haben Witz, und ob sie nun mit Sätzen, die wie ein Fazit klingen, oder mit einer gleichen Geschichte enden: sie scheinen sich jeweils doch zu runden zu einer zwar nicht geschlossenen, aber doch selbsttragenden, nicht weiter ergänzungsbedürftigen Form. Es reißt also nichts ab, aber man hat den Eindruck eines Montageverfahrens und folgt zugleich einer Art Assoziationsfluss. Beispiele zu geben, ist nicht ganz einfach. Ich wähle zunächst in Buch III das Kapitel I „Über das Nützliche und das Rechte“. Niemand sei frei davon, beginnt Montaigne, Banalitäten zu sagen. Schlimm wird es erst, wenn man sie wichtigtuerisch vorträgt: Mit großem Eifer hebt der Mann nun großen Quatsch zu reden an Gegen solchen Eifer bin ich gefeit, denn ich lasse die meinen mir so achtlos entschlüpfen, wie sie es verdienen – auf diese Weise nehmen sie sich noch am günstigsten aus. Ich könnte sie kurzerhand drangeben, ohne daß es mir viel ausmachte. Ich kaufe und verkaufe sie nie für mehr als sie wiegen. Auch mit dem Papier rede ich so unbekümmert wie mit dem erstbesten, der mir über den Weg läuft. Müßte nicht jedermann Heimtücke abscheulich finden, wenn selbst ein Tiberius lieber großen Schaden hinnahm, als sich ihrer zu bedienen? Aus Germanien ließ man ihn wissen, daß man ihm, falls er zustimme, Arminius durch Gift vom Hals schaffen könne – jenen mächtigsten Feind der Römer, der sie, als Varus, ihr dortiger Befehls­haber war, erbärmlich zusammengeschlagen hatte und der allein die Ausbreitung der Herrschaft in jenen Gegenden verhinderte. Doch Tiberius antwortete nur, das rö­mische Volk sei gewohnt, sich an seinen Feinden offen zu rächen. Waffe in der Hand, nicht heimlich: um des Rechten willen entsagte er so dem Nützlichen. Das war, werdet ihr mir sagen, unverschämte Heuchelei. Ich glaube das auch, denn bei Leuten seines Metiers ist das weiter kein Wunder.4

Das „Gebäude unseres öffentlichen wie privaten Lebens“ stecke „voller Unzulänglichkeiten“, heißt es dann weiter. Im Fortgang bringt Montaigne Geschichten zum Spannungsfeld von inneren Nutzenabwägungen und inneren wie äußeren (oder aber ausbleibenden) Forderungen nach rechtem Verhalten. „Wir besitzen kein klares, greifbares Bild von wahrem Recht und echter Gerechtigkeit – wir halten uns nur an deren Schemen und Schatten“, formuliert er einen weitreichenden

4 Montaigne: Essais III. 1, S. 391.

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Satz.5 Und unterscheidet dann Nützliches und Richtiges – weswegen es nutzenorientierte, etwa natürlich-eigennützige Handlungen gibt, die aber unrecht sein können. Zum komplexen Phänomen des Verrats folgen hierzu Exempel – aus der Antike, aus Rom, vom Hörensagen. Und ein Fazit Montaignes lautet: Wie beredt sind doch über alle Zeiten hinweg die Beispiele: Als während des Bürger­kriegs gegen Cinna ein Soldat des Pompeius in einem Gefecht seinen bei den Gegnern kämpfenden Bruder unwissentlich getötet hatte, entleibte er sich vor Scham und Schmerz auf der Stelle selbst. Einige Jahre später hingegen verlangte ein anderer Bürgerkrieg desselben Volkes ein Soldat, der ebenfalls seinen Bruder getötet hatte, von seinen Hauptleuten eine Belohnung dafür! Das Argument, die Ehrbarkeit und Schönheit einer Tat ergebe sich aus ihrer Nützlichkeit, ist ebenso irrig wie die Folgerung, daß wegen dieser Nützlichkeit solche Taten zu vollbringen recht und geboten sei. Es schickt in keinem Falle sich alles je für alle […].6

Sprung und Blick in das Kapitel „Über ein mißgeborenes Kind“: Dieses endet – nach Schilderung einer selbst erlebten Szene, der Zurschaustellung eines fehlgebildeten Säuglings durch dessen Vater und Amme – in folgender Überlegung: Was wir Mißgeburten nennen, sind für Gott keine, da er in der Unermeßlichkeit seiner Schöpfung all die zahllosen Formen sieht, die er darin aufgenommen hat. Ich halte es für durchaus denkbar, daß jede uns als verwunderlich in die Augen springende Gestalt einer anderen gleicher Art entspricht, die dem Menschen verborgen bleibt. Gott läßt in seiner grenzenlosen Weisheit nichts entstehn, was nicht gut, wohlgeordnet und allgemeingültig wäre – wir können nur die inneren Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten nicht erkennen. Darüber, was man häufig sieht, wundert man sich selbst dann nicht, wenn einem seine Ursache unbekannt ist. Geschieht aber etwas, das man nie zuvor gesehen hat, hält man es für ein Wunder. Was wider die Gewohnheit geschieht, nennen wir wider die Natur. Doch es gibt nichts, überhaupt nichts, was nicht gemäß der Natur geschieht. Laßt uns an Hand ihrer universalen Vernunft die abwegige Verblüffung abschütteln, die uns bei ungewohnten Erscheinungen jedesmal überkommt!7

Immer wieder sind Montaignes Betrachtungen auch von selbstreflexiven Passagen durch­flochten. Soll heißen: Er umkreist und durchdenkt sein eigenes Verfah-

5 Ebd., S. 394. 6 Ebd., S. 398. 7 Montaigne: Essais II. 30, S. 352 f.



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ren. So betont er im zweiten Teil, Kapitel „Über Bücher“: „Dies hier sind lediglich Versuche“. Wenn jemand Fehler finde, so störe ihn das nicht. Wer auf gelehrtes Wissen aus ist, möge da angeln, wo es sich findet […] Dies hier sind vielmehr meine persönlichen Überlegungen, durch die ich nicht Kenntnis von den Dingen zu vermitteln suche, sondern von mir. Die Kenntnis werde ich vielleicht eines Tages besitzen; vielleicht habe ich sie, wenn mich der Zufall an Stellen führte, wo sie ins Licht gerückt waren, sogar schon einmal besessen. Aber ich erinnre mich nicht mehr daran. Wenn ich also auch ein Mensch bin, der einiges gelesen hat, so doch einer, der nichts behält. Deshalb habe ich keinerlei Gewißheiten zu bieten, es sei denn darüber, welchen Stand die Erkenntnis meiner selbst zur Stunde erreicht hat. So achte man nicht auf den Stoff, sondern auf die Form: plaudernd, reflektierend und bald fürs Pro plädierend, bald fürs Kontra. Bei meinen Zitaten prüfe man, ob ich sie so zu wählen wußte, daß sie die Aussagekraft meiner eignen Erfindungen steigern; denn ich lasse andre sagen, was ich weniger gut zu sagen vermag: manchmal aus Schwäche meiner Sprache, manchmal aus Schwäche meines Verstandes. Meine Anleihen zähle ich nicht, ich wiege sie […] Auch bei den Gedanken und Erwägungen, Argumenten und Vergleichen, die ich auf meinen Acker verpflanze und mit den meinen vermische, habe ich zuweilen ihren Urheber absichtlich verschwiegen, weil ich jenen Kritikern eine Falle stellen wollte, die mit ihren leichtfertigen Verrissen über alle Arten von Schriften herfallen.

Er habe, heißt es ein Stück weiter, keinen andern Hauptfeldwebel, meine Stücke in Reih und Glied zu stellen, als den Zufall. Wie die Phantasiegebilde sich bei mir einfinden, staple ich sie auf; manchmal drängen sie sich zuhauf, manchmal kommen sie in dünner Reihe angetrödelt. Ich will, daß man mich in meiner üblichen, natürlichen Gangart sehe, so unüblich sie ist. Daher stelle ich mich je nachdem, wie mir zumute ist, auf die Gegenstände ein – schließlich sind es ja keine, über die nichts zu wissen verboten wäre und von denen man folglich nicht freiweg und aufs Geratewohl reden dürfte.8

Bücher, die sich als zu anstrengend erwiesen, lege er weg, erzählt Montaigne, um sogleich dann nochmals zu betonen, seine Meinungsäußerungen spiegelten nur die eigene Begrenztheit, „nicht das Maß der Dinge“. Ungebrochen leichtfüßig scheint das nicht gemeint. Sein Urteil halte, heißt es auch, „über sich selbst Gericht“. Es beschuldige sich, entweder an der äußeren Schale hängenzubleiben, weil es nicht bis zum Kern der Sache vorzudringen vermag, oder diese in einem falschen Licht zu betrachten. Es ist schon froh,

8 Montaigne: Essais II. 10, S. 201f.

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wenn es sich wenigstens vor Verstiegenheit und Anmaßung zu hüten weiß – seine Unzulänglichkeiten sieht und gesteht es bereitwillig ein.9

Wer hier hinhört, wird keine Selbstverliebtheit vermuten, wo der Autor betont, es gehe ihm nur um sich selbst. Die Essais sind nicht egoman – sie sind kühl, distanziert, auch selbstironisch. Eher wird man die Interessantheit der menschlichen Angelegenheiten als Montaignes eigentlichen Gegenstand bezeichnen. Nicht Expression, sondern Exploration lenkt die textliche Bewegung – Exploration auch und gerade der subjektiven Maße, durch welche die Welt so kompliziert wird, wie sie augenscheinlich ist. Von daher wird konsequenter Weise auch das eigene Ich studiert. Es dient sozusagen als gut zugängliches Exemplar, über dessen Absonderlichkeiten man sich freimütig mit dem Leser austauscht. Aus Vergnügen führe er sein Projekt durch, gibt Montaigne zu verstehen. Er wählt sein Vorgehen, weil es eine erfahrungsnahe – womöglich der Gelehrsamkeit überlegene – und unvermutete Form der Einsicht verspricht. Zufall darf walten, ja er soll es sogar. Denn mit ihm stellt sich, einem zustoßenden Ereignis gleich, ein Moment der Wahrheit ein. Peinlichkeit und Absonderliches gehören hinzu. Womöglich ist die Fülle der Welt gar nicht anders zu haben als durch solche ,Versuche‘: Sammelnd, registrierend, assoziativ vergleichend provozieren sie die gute Überraschung, einem Ereignisfänger gleichend. So schafft, entfaltet und reflektiert der Text letztlich eine Art Laborsituation. Zu den Besonderheiten des frühen Essays gehört Erkundungsarbeit an den Grenzen der Ordnung. Die Reihenfolge der Einzelstücke wirkt unwillkürlich, Montaigne bejaht auch diesbezüglich das Zufallsprinzip ausdrücklich. Auf diese Weise stellt und verschärft sich die Frage nach Zusammenhängen. Der Essay entfaltet, könnte man sagen, gerade in dieser Hinsicht seine sanfte, besondere und für ihn charakteristische Kraft: Er lockert den Zusammenhang, lockert ihn vielleicht sogar so weitgehend wie überhaupt möglich, erprobt ihn auch, will ihn zugleich aber doch halten. Gerade die ungewöhnlich lose Fügung, das nur am Geschmack Orientierte, den Hauch des Assoziativen, nicht systematisch Durchgearbeiteten, erhebt der Essay auch über längere Textstücke oder über gestückelte Textpartien hinweg zum Programm. „Ich schweife häufig ab, doch eher mit meine Freiheit nutzendem Vorbedacht als unbedacht; meine Gedanken folgen einander durchweg, wenn auch zuweilen von weitem; sie behalten sich stets im Blick“,10 merkt Montaigne an einer Stelle an. In den Minimalismus mischt sich leiser Triumph. Denn das nur Versuchte ist ja kein bloßer Anlauf, ist nicht defizi-

9 Ebd., S. 202. 10 Montaigne: Essais III. 9, S. 501.



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tär, sondern besitzt die Stärke des kleinen, aber durch Prüfung erhärteten Ergebnisses. So wird der Essay zur Demonstratio. Gewählt wurde ein richtiger – Einsichten schaffender, wenn nicht gar kreativer und damit gleichsam ,technisch‘ produktiver – Weg. Bacons einige Jahrzehnte später publizierte Essays, nämlich die (wie sie im Deutschen zunächst heißen) Unterhaltungen über verschiedene Gegenstände aus der Moral, Politik und Ökonomie11 handhaben die Option der Rechenschaftslegung reserviert. Sie lassen kein literarisches Ich über die subjektive Begrenztheit der eigenen Maßstäbe reflektieren, sondern kommen als kompetenter Ratgeberdiskurs daher. Gleichwohl pflegen auch Bacons Essays die lockere, unsystematische Form: im Rekurs auf diese oder jene kluge Überlieferung entfaltet ein literarisches Wir oder auch Ich seine Gedanken – im Dialog mit einem Leser, der mittels Wendungen wie „werden selbst die […] zugeben“, „[u]nd auch die Schrift rät uns […]“, „[n]un werdet ihr einwenden […]“ mindestens mittelbar adressiert wird.12 Auch Ratschläge an ein „du“ kommen vor: [W]eil es wirkungsvoller ist, wenn man etwas scheinbar aus dir herausfragt, als wenn du es deinerseits vorbringst, so lege einem Köder für Fragen aus, indem du ein anderes als das gewohnte Gesicht und Benehmen zeigst […].13

„In der Ausübung deines Amtes stelle dir die besten Beispiele vor Augen […]“, „Über deine Rechte lieber in der Stille und durch die Tat aus […]“ etc.14 Bacons Thema sind im weitesten Sinne gute und geschickte Vorgehensweisen für die Politik und im politisch-administrativen Alltag – dies ergibt nicht nur einen anderen Fokus seiner Ausführungen, sondern erzwingt womöglich den zurückhaltenden Ton. Auch bei ihm springen jedoch Formulierungen ins Auge, die an eine kühle Laboratmosphäre denken lassen: „Hält man beide Einrichtungen [nämlich Bürgerrecht und Koloniegründung als Mittel der Eingliederung Fremder; PGG.] nebeneinander, so wird man sagen […].“15 Und hier und da zeigt auch eine behutsam relativierende Formulierung an, dass und wie das literarische Ich seine eigene Vorgehensweise steuert: „soweit ich weiß“, „[d]azu möchte

11 Bacon, Francis: Unterhaltungen über verschiedene Gegenstände der Moral, Politik und Ökonomie. Tübingen 1797. 12 Vgl. Bacon, Francis: Essays. Herausgegeben von Helmut Winter. Frankfurt a.  M. / Leipzig 1993, S. 11, 30, 109. 13 Ebd., S. 32. 14 Vgl. ebd., S. 72f. 15 „[…], daß nicht die Römer sich über die Welt, sondern die Welt sich über die Römer verbreitete.“ Ebd., S. 57.

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ich, nach meiner geringen Erfahrung […]“, „[m]ir ist aufgefallen“, „[i]ch finde keinen besseren Ausdruck […]“ etc.16 Montaigne ist bei Bacon präsent: Er zitiert ihn zustimmend (wie an anderer Stelle Macchiavelli) und auch die Titelformulierung der lateinischen Ausgabe, sermones fidele, sive interiora rerum,17 ruft ausdrücklich den Anspruch einer vielleicht nicht radikal offenen, aber getreulichen Auskunft auf. Ebenso wie das Motiv, ins „Innere der Dinge“ zu gehen, mag dies auch für künftige Epochen in puncto ,Essay‘ von Signalwert bleiben.

3 Die Verwendung des Lehnwortes ,Essay‘ im Deutschen setzt erst im 19. Jahrhundert ein,18 und es war die Romantik, die dem Essay zudem – vehementer als die Leserschaft der moralistischen Literatur der frühen Neuzeit oder der Philosophie der Aufklärungszeit es sich hätte träumen lassen – die Aufgabe zuwies, ein Prozessdokument der Denkarbeit und des Erkenntnisvorganges selbst zu sein: Das Aufgeschriebene präsentiert sich als Zeitspur, als Protokoll geradezu, dem Aphorismus nicht ganz unähnlich. Zudem heißt ,Essay‘ nun: Es wird eine gewagte Perspektive eingenommen. Essays erproben eine Sicht, die auf Überraschungen aus ist, die – entschlossen realistisch, entschlossen phantastisch – neue Gegenstandsfelder erschließt. Jener zuvor unterschwellig schon durchaus methodische Bezug zum Ereignishaften verstärkt sich: Das Randständige, dasjenige, was nicht im „methodischen“ Sinne erreichbar ist, das Unausdrückliche, das Komplexe, dasjenige, was sich in der Totalität der eigenen Gegenwart verliert, dasjenige, was man nur mittels eines lässigen Bekenntnisses zur eigenen Positionierung und Perspektivierung in die Flächigkeit eines Textes bannen kann – dies alles kann (und soll) sich nun in der Essayform finden. Der Essayist schreibt „als ob er spräche“, stellt Erich Auerbach fest.19 Das mobilisiert im selben Zusammenhang zudem das Ideal der Mündlichkeit. Schon Montaigne hatte davon gesprochen, sich dem Papier unbekümmert anzuvertrauen – als sei es ein Gesprächspartner. Dieses Ideal erhält mit der Romantik den zusätzlichen Sinn, auch der Temporalstruktur des Redens oder Denkens nahe zu kommen. Nicht zuletzt soll der Essay – in dieser Funktion dem noch radikaleren

16 Vgl. ebd., S. 55, S. 66, S. 107. 17 Vgl. Winter, Helmut: Nachwort. In: Bacon: Essays, S. 127–142, hier S. 128. 18 Vgl. Černý, Lothar: Art. „Essay“. In: Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel 1972, Bd. 2, Sp. 746–749, hier Sp. 747. 19 Zit. nach: Ostermann: Essay, Sp. 1461.



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Aphorismus ähnlich – als Entwurfsmedium dienen, zum schnellen Vorgriff auf den vorbeistreichenden Einfall wie auch den sich erst ,entwickelnden‘ Gedanken. Insbesondere erscheint der moderne Essay als bewusster Grenzgang, der das Gelände der Literatur und auch dezidiert der Kunst betritt, wobei er andererseits zugleich teurer Hochkultur den Rücken zuwendet. Essays fallen an, werden auf Reisen und bei schlechtem Licht, vielfach gegen Stücklohn geschrieben. Essays erscheinen in populären Medien. So sind einige für die Philosophie kanonisch gewordene Essays, also ‚denkende‘ Prosatexte mittleren Umfangs, ursprünglich für die Zeitung geschriebene Feuilletons – wie etwa einige der Arbeiten Heinrich von Kleists: Über das Marionettentheater von 1801, Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden von 1805/06, erschienen 1878, wirken heute wie fein gefügte, scharfsinnige Versuche, eine Textform genau auf der Grenze von Kunst und Theorie auszubalancieren. Zugleich fällt ihre nicht unbedingt lineare, aber doch Durchlese-Gestalt auf. Der Essay ist keine Fragmentensammlung mehr, die Lektüre erzeugt vielmehr (womöglich ist dies der größte Unterschied zu Montaigne und Bacon wie zu Locke, Rousseau und anderen) ein intensives, wenn auch zugleich entwurfartiges Nacheinander. Als der Hörfunk erfunden wird, sind Essays wie fürs Radio gemacht. Hinzu kommt das Motiv eines ,Experimentierens‘, das von nun an – ab 1800 modern-entgrenzter, jenseits der Physik auf chemische Prozesse und aufs ‚Leben‘ insgesamt ausgedehnter – in naturwissenschaftlicher Forschung seine Vorbilder findet. Das radikalisiert den Aspekt des Essays als Probe – einer Probe auf Durchführbarkeit, auf Formulierbarkeit, auf Effekt und womöglich auch authentisch auf Wahrheit von etwas, das der Niederschrift harrt. Dass ein klassisch-moderner Programmatiker des Experimentierens als Lebens- und Denkhaltung wie Nietzsche das essayistische Schreiben als Experiment bezeichnet hätte, wüsste ich nicht – auch wenn neben Schopenhauer (Parerga und Paralipomena) gerade Nietzsche besonders oft als ,essayistischer‘ Autor bezeichnet wurde.20 Ausdrücklich aber hat im Jahr 1947 der Physiker und Wissenschaftsphilosoph Max Bense die Konturen des Essays reformuliert und den Essay bei dieser Gelegenheit als Experiment charakterisiert: „Essayistisch“, so Bense, schreibt, wer experimentierend verfaßt, wer also seinen Gegenstand hin und her wälzt, befragt, betastet, prüft, durchreflektiert, wer von verschiedenen Seiten auf ihn losgeht und in seinem Geistesblick sammelt, was er sieht, und verwortet, was der Gegenstand unter den im Schreiben geschaffenen Bedingungen sehen läßt.21

20 So Bloch, Ernst: Der Impuls Nietzsches (1913). In: ders.: Durch die Wüste. Frühe kritische Aufsätze. Frankfurt a.  M. 1981, S. 105–109, hier S. 107. 21 Bense, Max: Über den Essay und seine Prosa (1947), zit. nach Theodor W. Adorno: Der Essay

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Direkt verbunden sieht Bense den Essay weniger mit der Kunst oder auch mit „Subjektivität“ als vielmehr mit dem modernen Projekt der Kritik – das aber wiederum, weil es ums Experimentieren eigentlich geht: Der Essay ist die Form der kritischen Kategorie unseres Geistes. Denn wer kritisiert, muß mit Notwendigkeit experimentieren, er muß Bedingungen schaffen, unter denen ein Gegenstand erneut sichtbar wird, noch anders als bei einem Autor, und vor allem muß jetzt die Hinfälligkeit des Gegenstandes erprobt, versucht werden, und eben dies ist ja der Sinn der geringen Variation, die ein Gegenstand durch seinen Kritiker erfährt.22

So macht der Naturwissenschaftsphilosoph Bense aus dem Essay eine unterschwellig sogar methodische Versuchsanordnung: Variation lautet das Schlüsselwort. Essays testen ihren Gegenstand im Wege kleiner Variationen seiner selbst gleichsam durch. Als eine weniger prüfende, sondern vielmehr impressionistisch-offene, dokumentarische Form der Empirie findet die essayistische Form in den lebens- und wirklichkeitswissenschaftlichen Denkstil des frühen 20. Jahrhunderts Eingang. Paradigmen hierfür sind die glänzenden Essays des Sozialphilosophen Georg Simmel, der im Rückblick als eine der Gründerfiguren des (dann entstandenen) Faches Soziologie betrachtet werden wird. Simmels Aufsätze und Abhandlungen (so heißen die entsprechenden Bände in der Gesamtausgabe) nennen sich nicht selbst Essays, und wer ihre Wissenschaftlichkeit herauskehren will, wird sie vielleicht auch nicht als Essays ansprechen. Es handelt sich aber um beobachtungsreiche Denkstücke ganz eigener Art, gewissermaßen freihändige Kurzprosa, die auf Mittel wie Fußnoten nahezu ganz verzichtet und auch sonst eher neue Felder und Thesen skizziert, als sie in akademisch durchgeformter Manier zu behandeln. Zugleich stehen Simmels Stücke auch thematisch je für sich – bildet man aus ihren Überschriften eine Reihe, so ist man an die heterogenen Inventare von Montaignes Essais oder Bacons Essays erinnert: Die Ruine. Ein ästhetischer Versuch, heißt da ein siebenseitiger Text von 1907, erschienen in der Berliner Illustrierten und in der Der Tag, also in Zeitschriften. Dann: Dankbarkeit. Ein Soziologischer Versuch, erschienen 1907 in der Wochenzeitschrift für Kultur Der Morgen. Dann Das Geheimnis. Eine Skizze, erschienen wieder in der Berliner Illustrierten, 1907. Der Mensch als Feind. Zwei Fragmente aus der Soziologie, 1908 in Der Morgen. Auch Städteporträts – dichte, reflexionsreiche Meditationen, die im übertragen Sinne Bilder sein könnten – hat Simmel geschrieben. Dabei ist die Beziehung

als Form. In: ders.: Noten zur Literatur. Gesammelte Schriften 11. Herausgegeben von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1974, S. 9–33, hier S. 25. 22 Bense: Über den Essay, S. 420.



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zur Philosophie erkennbar eng. So beginnt etwa Simmels Stück über Venedig mit folgendem Satz: „Jenseits alles Naturalismus, der der Kunst das Gesetz der ihr äußeren Dinge auferlegt, steht eine Wahrheitsforderung über ihr […].“23 Venedig wäre womöglich eine Art platonische Stadt. Demgegenüber hat Walter Benjamin ein „Denkbild“ über Neapel in folgender Weise eröffnet: Vor einigen Jahren wurde ein Priester unsittlicher Vergehungen halber, auf einem Karren durch die Straßen Neapels gefahren. Unter Verwünschungen zog man ihm nach. Der Priester erhebt sich, macht das Zeichen des Segens, und was hinter dem Karren her war, fällt in die Knie. So unbedingt strebt in dieser Stadt der Katholizismus aus jeder Situation sich wiederherzustellen. Verschwände er vom Erdboden, dann zuletzt vielleicht nicht aus Rom, sondern aus Neapel.

Ein wenig weiter tauchen wir in ein Bild ein, das Abbildungen und überhaupt das Abbildhafte geradezu widerlegt: Phantastische Reiseberichte haben die Stadt betuscht. In Wirklichkeit ist sie grau: ein graues Rot oder Ocker, ein graues Weiß. […] Niemand orientiert sich an Hausnummern. Läden, Brunnen und Kirchen geben Anhaltspunkte.24

Erneut nutzt der Essay hier (wie lässig schon Montaigne) das warme Licht von Anekdote und Alltagsimpression, das Menschliche-Allzumenschliche, die nur in flüchtigen und vielfach gebrochenen Sitten enthaltene Ordnung. Übertriebene Farbwerte verzerren die Realität. Und gibt es im erlebten Durcheinander einen Zusammenhang, so zeigt er sich gerade jenseits der vorgegebenen Regeln. Die Zahl der Beispiele für die Vielfalt philosophienaher Essaykultur ist Legion. Im 20. Jahrhundert sind Walter Benjamin, Ludwig Wittgenstein und Paul Valéry als besonders kunstreiche Essayisten in die Philosophiegeschichte eingegangen. Aber auch im Werk von Ernst Bloch und heute vielleicht bei Peter ­Sloterdijk lassen sich essayistische Arbeitsweisen studieren. Der Essay erscheint bei ihnen nicht nur als legitim, sondern als eine ganz eigene und die auch beste Art eines Schreibens, das in einem philosophischen Sinne „denkt“.

23 Simmel, Georg: Venedig (1907). In: ders.: Aufsätze und Abhandlungen II. Gesamtausgabe Bd. 8. Frankfurt a. M. 1993, S. 258–263, hier S. 258. 24 Benjamin, Walter: Neapel (1925). In: ders.: Gesammelte Schriften IV, 1. Frankfurt a. M. 1974, S. 307–316, hier S. 309.

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4 Und wie steht es nun um die Frage nach der Grenzlinie (oder auch dem Grenzgebiet) zwischen Philosophie und Kunst bzw. Literatur? Begegnen sich auf dem Gelände des modernen Essays ,literarisch Philosophierende‘ und ,philosophierende Literaten‘? Zunächst ist für die Seite der Philosophie wohl festzuhalten: Ein spezifisch essayistisches Philosophieren scheint es nicht zu geben, eher kommt man aus verschiedenen – jeweils vielleicht durch einen gewissen Willen zur Dissidenz gekennzeichneten, aber unterschiedlichen Paradigmen folgenden – Motivlagen auf die als Essay bezeichnete Form bzw. man kommt auf sie zurück. Allerdings korrespondiert der Griff der Philosophen zur essayistischen Form (und/oder zur Bezeichnung ,Essay‘) wohl schon mit einem ausgeprägten Sinn für die Bedeutung der sprachlichen Form für den theoretischen Inhalt. Antisystematischer Impuls und Reflexivität der Textlichkeit des Mitteilens – damit begibt man sich freilich nicht automatisch auf den Weg in Richtung Literatur. Eine alternative These würde lauten: Ein in einem weiten Sinne ,experimentelles‘ und damit primär epistemisch-exploratives Moment ist bereits dem frühen Essay eigen, und genau dieses wird dann, freilich unter deutlich verändertem Vorzeichen – nämlich: kontextangemessen intensiviert, radikalisiert, hyperreflexiv geworden – auch in der Moderne virulent. Die Nähe des Essays nicht zur Literatur, sondern zum Paradigma des (forschenden) Experiments würde auch zur in der gattungstheoretischen Literatur vertretenen These passen, es sei die Besonderheit des Essays, als literarische Form, die Exzerpiertes, Beobachtetes und aufgezeichnetes eigenes Denken mischt, im Laufe der europäischen Geschichte nahezu keinen Wandel erfahren zu haben. „Die Methode essayistischen Lesens und Schreibens hat sich während der Jahrhunderte nicht wesentlich verändert“, schreibt der Literaturwissenschaftler Ludwig Rohner 1966 unter Verweis auf Anton E. Schönbachs Schilderung der Arbeitsweise Ralph Waldo Emersons, also eines philosophischen Essayisten des 19. Jahrhunderts.25 Ob die Diagnose fehlender Form für den philosophischen Essay zutrifft, kann man bezweifeln. Denn auch protokollierende Notizen oder Reportagen oder Skizzen haben ja eine durchaus charakterisierbare Gestalt – folgen vielleicht sogar einer verborgenen Ordnung, etwa der eines Kreises.26 So

25 Vgl. Rohner, Ludwig: Der deutsche Essay. Materialien zur Geschichte und Ästhetik einer literarischen Gattung. Neuwied / Berlin 1966, S. 40 sowie S. 747f. 26 Vgl. ebd., S. 42f., mit Hinweis überdies auf die These Wolf Eberhard Traegers, Montaignes Essais hätten „durchgehend eine genaue, regelmäßige, sich wiederholende Struktur“.



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verwendet Rohner vielleicht nicht ganz zufällig an der zitierten Stelle das Wort „Methode“. Dies rückt den Essay von der schönen Literatur und ihrem Formenwandel ab. Nun wäre es eine weitere Vermutung, dass Philosophie und Literatur sich vielleicht nicht ,im‘ Essay treffen – aber doch beim Ideal des radikalen Experiments. Es mag, wenn beide Seiten vom Essay sprechen, eben nicht die formlose Annäherung von Philosophie an Literatur gemeint sein, gewissermaßen eine Verwandlung von Philosophie in Literatur (oder umgekehrt), sondern es mag das Experimentalparadigma sein, das beide Seiten anzieht. Treffen sich Philosophie und Literatur also im Medium des Experiments? Antworten aus philosophischer Sicht bringen an diesem Punkt die Wahrheitsfrage ins Spiel. Zurückgreifend auf Bense – seine Analogie von Essay und Laborexperiment ‒ wie auch auf die Literaturtheorie von Georg Lukacs hat sich unter diesem Vorzeichen Theodor W. Adorno mit dem Essay befasst. Der Essay als Form heißt ein zu Lebzeiten Adornos unpubliziertes Manuskript, das erstens mit Vehemenz versucht, den Essay der Zone des vermeintlich harmlosen, beliebigen, an der Grenze zur Literatur verharrenden, impressionistischen, vielleicht einfallsreichen, im Ganzen jedoch eher skizzenhaft-vagen und unverbindlichen Denkens zu entreißen. Zweitens steigt Adorno tief in die Machart und die Wirkungsmechanismen des Essays ein, wobei er nicht zuletzt eine Art Maß für Besser oder Schlechter in Sachen Essay entwirft. Und drittens plädiert Adorno dafür, den Essay als genuin philosophische Form zu sehen und ernst zu nehmen. Es gibt, so Adorno, eine Art essayistischer Wahrheit – auch wenn diese der philosophischen Wahrheit in der der Tradition systematischen Denkens gerade entgegensteht. Der Essay, so Adorno, zieht „im Verhältnis zur wissenschaftlichen Prozedur und ihrer Grundlegung als Methode […] die volle Konsequenz aus der Kritik am System“.27 Der Essay „pariert nicht der Spielregel organisierter Wissenschaft und Theorie“, er revoltiert zumal gegen die seit Platon eingewurzelte Doktrin, das Wechselnde, Ephemere sei der Philosophie unwürdig; gegen jenes alte Unrecht am Vergänglichen, wodurch es im Begriff nochmals verdammt wird. Er schreckt zurück vor dem Gewaltsamen des Dogmas.28

Adorno macht zunächst klar, in welche Gefahren sich die essayistische Schreibweise im philosophischen Kontext begibt. Der Essay kann es sich ungestraft leisten, im Seichten zu bleiben. Kulturelle Gebilde, denen er seine Aufmerksam-

27 Adorno: Essay als Form, S. 16. 28 Ebd., S. 17.

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keit widmet, muss er nicht ableiten, damit kommen nur zu leicht Klischees zum Zuge. Überdies haftet der Essay an Personen und anderen Anschaulichkeiten fest, er kann prätentiös und pseudogelehrt daherkommen – oder auch demonstrativ ergriffen bis hin zu schlechten Anleihen bei der Kunst, die er unter Umständen macht. Gerade auch im Lockeren, Möchtegern-Kreativen geht es dabei, so Adorno, oftmals schrecklich konformistisch zu. Trotz dieser Gefahren vermögen Essays aber im Inneren der Philosophie selber einzusetzen. Sie können in ihr „dem Bewußtsein der Nichtidentität Rechnung [tragen]“29 und zugleich aufspüren, was dem methodischen Philosophieren entgeht. Auf diese Weise gibt dann der Essay genau demjenigen eine Form, was philosophisch im Einzelfall gesagt werden soll. Radikal sei der Essay, so Adorno, „im Nichtradikalismus, in der Enthaltung von aller Reduktion auf ein Prinzip“.30 Zwei Merkmale hält Adorno für wesentlich, denen wohl auch Montaigne schon zugestimmt hätte: den Erfahrungsbezug des Essays und den Sinn fürs Flüchtige. Der Essay „will nicht das Ewige im Vergänglichen aufsuchen und abdestillieren, sondern eher das Vergängliche verewigen“.31 Damit verweigert er auch das Ursprungsdenken: „Er verläßt die Heerstraße zu den Ursprüngen, die bloß zu dem Abgeleitetsten, dem Sein führt.“32 Der Verzicht auf begriffliche Aufarbeitung des Gegebenen, also auf eine, die Erleben auf Fachtermini reduziert, schaffe außerdem „das Irritierende und Gefährliche der Sachen“ nicht im selben Maße beiseite, wie es Theoriesprache es ansonsten tue, erläutert Adorno weiter. Stattdessen werden zusätzliche semantische Verbindungen erzeugt, wird semantische Dichte zugelassen, „die Momente verflechten sich teppichhaft“33 – wie die Erfahrung selbst. Wie der Essay die Begriffe sich zueignet, wäre am ehesten vergleichbar dem Verhal­ten von einem, der in fremdem Land gezwungen ist, dessen Sprache zu sprechen, an­statt schulgerecht aus Elementen sie zusammenzustümpern. Er wird ohne Diktionär lesen. Hat er das gleiche Wort, in stets wechselndem Zusammenhang, dreißigmal er­blickt, so hat er seines Sinnes besser sich versichert, als wenn er die aufgezählten Bedeutungen nachgeschlagen hätte, die meist zu eng sind gegenüber dem Wechsel je nach dem Kontext, und zu vag gegenüber den unverwechselbaren Nuancen, die der Kontext in jedem einzelnen Fall stiftet. Wie freilich solches Lernen dem Irrtum expo­niert bleibt, so auch der Essay als Form;

29 Ebd. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 18. 32 Ebd., S. 19. 33 Ebd., S. 21.



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für seine Affinität zur offenen geistigen Erfahrung hat er mit dem Mangel an Sicherheit zu zahlen, welchen die Norm des etablierten Denkens wie den Tod fürchtet.34

Der Essay ist also auf stille Weise mutig und kann so unspektakulär, weil improvisiert für Kraftfelder sorgen, er fordert, wie Adorno schön schreibt, „das Ideal der clara et disticta perceptio und der zweifelsfreien Gewißheit sanft heraus“.35 Dabei kann er aber auch scheitern. Darauf legt Adorno nachdrücklich Wert und reaktiviert in diesem Zusammenhang die Wortbedeutung von Essay als Versuch. Adornos Pointe ist, dass „Versuch“ zweierlei bedeute: Anlauf zu nehmen, aber eben auch mögliches Scheitern zu akzeptieren: Das Wort Versuch, in dem die Utopie des Gedankens, das Schwarze zu treffen, mit dem Bewußtsein der eigenen Fehlbarkeit und Vorläufigkeit sich vermählt, erteilt […] einen Bescheid über die Form, der umso schwerer wiegt, als er nicht programmatisch, sondern als Charakteristik der tastenden Intention erfolgt.36

Implizit ist damit gesagt, dass gerade auch mehrmals Anlauf zu nehmen, wie es geduldige und genaue Forschung auszeichnet, dem Charakter des Essays entspricht. Und noch ein Gesichtspunkt: der Essay löst sich davon, sich auf ,Natur‘ abzustützen. Er gibt nicht vor, seine Arbeit sei irgendwo objektiv verankert. Enthüllt er Wahrheit, so bekennt er sich dazu, dass diese etwas Artifizielles ist, ein gedanklich Bewerkstelligtes, nichts, das irgendwo hervorgequollen wäre, das ,Ausdruck‘ wäre oder sonst wie archaische Echtheit beanspruchen dürfte. Nichts am Essay ist notwendig – jedenfalls nicht notwendig im Sinne von Sosein oder naturaler Realität. Und eben das macht ihn in einem philosophischen Sinne wahrheitsfähig – sofern philosophische Wahrheit nicht etwa hinter die wissenschaftlichstrengen Wahrheiten üblichen (mehr oder weniger objektivistischen) Zuschnitts durch irgendwelche Lockerungsübungen zurückfällt, sondern das ,objektiv‘ Wahre gerade im Sinne einer nochmals gesteigerten Reflexivität in Richtung aufs Wahrere, ein Mehr-an-Wahrheit, übersteigt. „[D]ie Paradiese des Gedankens sind einzig noch die künstlichen“, schreibt Adorno, „und in ihnen ergeht sich der Essay.“37 Und einige Zeilen weiter: „Unterm Blick des Essays wird die zweite Natur [also die Kultur; PGG.] ihrer selbst inne als die erste.“38

34 Ebd. 35 Ebd., S. 22. 36 Ebd., S. 25. 37 Ebd., S. 29. 38 Ebd.

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Nicht etwa an der Grenze zur Dichtung oder der schönen Literatur platziert Adorno den Essay letztlich, sondern in der Nähe der Musik. Es ist eine abstrakte, eine innerliche Verwandtschaft mit einer Logik, in der man die Tonarten wechseln oder sogar atonal operieren kann, die den Essay auszeichnet. Nicht die Schönheit oder die Genießbarkeit ist von daher abschließend sein Merkmal, sondern seine ungebundene Fähigkeit zur Transformation. Er sagt Ja, aber nie lange. „Darum“, so endet Adorno, „ist das innerste Formgesetz des Essays die Ketzerei.“39

5 Adorno zu folgen hieße, Essays, die unter einem philosophischen Anspruch erarbeitet sind, auch wo sie experimentell verfahren, von der Literatur zu unterscheiden: Wenn der Essay ganz und gar ,künstlich‘ ist, so ist er gerade nicht ,Kunst‘ im Sinne eines gelockerten Verhältnisses zur inneren philosophischen Strenge. Der Essay weicht weder ,poetisch‘ die strenge Begriffssprache sonstiger Wissenschaft auf noch gibt er Wahrheitsansprüche preis, um sich an literarischen Formaten zu delektieren oder zu erproben. Für Adorno wäre er vielmehr in einem womöglich gesteigerten Sinne ,streng‘ – eine genuine Arbeit an einer Wahrheit, die gerade mit der begrifflichen Ordnung experimentiert und vielleicht sogar mit jenem die Denkgrenzen betreffenden ,Zusammenhang‘ im Montaigne’schen Sinn. Ergibt sich hier, was die vermeintlich direkte Nachbarschaft zur schönen Literatur in der vermeintlichen Formlosigkeit des Essays angeht, abschließend also eine Absage? Ich denke: nicht ganz. Denn zum einen erhöht sich mit dem Abstand der Reiz des Kontakts. Und zum anderen bleibt da jene gerade nicht auf der Ebene von Erzählmustern und von Temporalstrukturen wie Einschnitt, plötzlicher Wendung etc.40 eingesetzte, sondern in der Hauptsache epistemische, auf den Einsichts- und Entdeckungs-Effekt angelegte Arbeit mit dem Ereignis. Wir entdecken gerade ein Projekt: Von diesem, dem ‚philosophischen‘ Ereignischarakter des Essays – welcher im Leitgedanken der Heuristik und des ver-

39 Ebd., S. 33. 40 Selbstverständlich kann man derartige narrative Muster auch in philosophischen Texten vorfinden, Philosophie kann also wie eine bzw. ‚als‘ literarische Textform untersucht werden – und auch im Hinblick aufs ‚Ereignis‘, vgl. Gehring, Petra: Sind Foucaults Widerstandspunkte ‚Ereignisse‘ oder sind sie es nicht? Versuch der Beantwortung einer Frage. In: Rölli, Marc (Hg.): Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze. München 2004, S. 275–284. ‚Ereignis‘ verwende ich hier jedoch nun anders als im vorstehenden Aufsatz, nämlich in einem eben nicht auf der Ebene der literarischen Darstellung von Theorie dem Erzählen entgegengesetzten Wortsinn.



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suchsweisen Methodischen wurzelt – gälte es auszugehen, und diese Art des ereignisorientieren Schreibens dann wiederum auf das literarische Feld zu beziehen. Es bedürfte eines Doppelvergleichs, erstens der philosophischen Experimentaltheorien und der experimentellen philosophischen Schreibweisen, für die der Essay ein prominentes Beispiel ist, und zweitens der der Praxis des literarischen Experimentierens – mitsamt den gegebenenfalls darauf angelegten Formen der literarischen Reflexion.



Praktiken

Uwe Lindemann

Moderne als Ereignis 27. Januar 1687: Die Geburt der „modernen“ Literatur aus dem Geist des Krieges

1 Genesung und Huldigung 1672 bezog die Académie française repräsentative Räume im Louvre und erhielt das Privileg, Ludwig XIV. bei Anlässen von offizieller Bedeutung zu beglückwünschen und zu huldigen. Dieses Recht hatten bis dahin nur das Pariser Parlament und die höchsten Gerichtshöfe. Es bedeutete eine enorme Aufwertung der Académie française und ihrer Mitglieder und zeigte das gestiegene Gewicht der Académie als zentrales Instrument absolutistischer Sprach- und Kulturpolitik.1 Die Genesung des Königs Anfang des Jahres 1687 nach mehr als anderthalb Jahren Krankheit stellte einen Anlass für eine solche Huldigung dar. Neben anderen Akademiemitgliedern steuerte auch Charles Perrault – einst enger Mitarbeiter Colberts, nach dessen Tod 1683 aber ins Abseits geraten2 – ein Gedicht zur feierlichen Zeremonie während der öffentlichen Sitzung am 27. Januar 1687 in der Kapelle des Louvre bei.3 Im Gegensatz zu den akademischen Reden und dem überwiegenden Teil der anderen Gedichte4 war Perraults Text nicht als Gene-

1 Vgl. Kortum, Hans: Die Hintergründe einer Akademiesitzung im Jahre 1687. In: Krauss, Werner / Kortum, Hans (Hg.): Antike und Moderne in der Literaturdiskussion des 18. Jahrhunderts. Berlin 1966, S. LXI–CXI, hier S. LXII; Mayer, Christoph Oliver: Institutionelle Mechanismen der Kanonbildung in der Académie française. Die „Querelle des anciens et des modernes“ im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. u. a. 2012, S. 240f. 2 Zur Rolle von Perrault, der unter Colbert „de facto das Amt eines Kulturministers“ innehatte, vgl. Mayer: Institutionelle Mechanismen, S. 176. 3 Bereits am 4. Februar 1687 wurde der Druck des Gedichts vom Generalleutnant der französischen Polizei, Gabriel Nicolas de la Reynie, autorisiert. Vgl. Perrault, Charles: Le Siècle de Louis le Grand. Paris 1687, S. 27. 4 Die Reden stammten von Paul Tallemant und Jean Barbier d’Aucour und sind abgedruckt in Zoberman, Pierre (Hg.): Les Panégyriques du Roi prononcés dans l’Académie Française. Paris 1991 [1698], S. 296ff. und S. 302ff. Zur Einordnung der Reden in die akademischen Panegyrik vgl. Mayer: Institutionelle Mechanismen, S. 280. In den Akten der Académie heißt es über die während der Sitzung vorgetragenen Gedichte lediglich: „Plusieurs de Messieurs ont ensuite leu[r] divers ouvrages de Poësie sur la mesme matiere.“ (Les Registres de l’Académie françoise 1672–1793. Publiés par C. Doucet et G. Boissier. Préface de Camille Doucet avec une table par MM. Marty-Laveaux et M. Rebelliau. Paris 1895, Bd. 1, S. 274) Demgegenüber ist der Bericht über DOI 10.1515/9783110541854-011

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sungsgedicht nach überstandener Krankheit5 konzipiert. Im Gegenteil: Perrault feierte den König als Mittelpunkt und Garant einer neuen Epoche, die er – und dies wohl als Erster – als „Siècle de Louis le Grand“ bezeichnete. Sein Text war als Antwort auf ein Gedicht La Fontaines konzipiert, welches unmittelbar zuvor vorgetragen worden war und die Antike in ihrer Bedeutung für die Gegenwart hervorhob.6 Das „neue“ Zeitalter könne sich, so Perraults Leitthese, mit der Antike und ihrem kulturellen Hochstand nicht allein messen, sondern überhole diese und löse sie in vielen Bereichen sogar ab.7 Perrault spitzte mit seinem Text einen Streit zu, dessen Ursprünge sich bis in die Antike zurückverfolgen lassen.8 Im Frankreich des 17. Jahrhunderts schwelte

die Feierlichkeiten in der Februar-Ausgabe des Mercure galant von 1687 (S. 179–206) äußerst ausführlich: Neben den beiden Reden hätten folgende Akademiemitglieder Gedichte (und zwar vornehmlich über die Genesung des Königs) vorgetragen bzw. vortragen lassen. Die Reihenfolge orientiert sich am Bericht im Mercure galant: François-Séraphin Régnier-Desmarais, Jean Doujat, François Carpentier, Michel Le Clerc, Paul-Hippolyte de Beauvilliers, Herzog von Saint-Aignan, Paul Tallemant, Phillipe Quinault und Isaac de Benserade. Die Sitzung sei mit zwei, von Louis Irland de Lavau vorgetragenen Gedichten beendet worden „qui prouvoient le contraire l’un de l’autre“ (ebd., S. 203): eines von Jean de La Fontaine „sur l’avantage que les Anciens ont sur les Modernes“ (ebd., S. 204) und Charles Perraults Le Siècle de Louis le Grand. 5 Zu den Gedichtarten der Casualcarmina vgl. Segebrecht, Wulf: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977, S. 97ff. 6 Das Gedicht wird in dem Bericht des Mercure galant erwähnt (s. Anmerkung 4). Eine andere Quelle ist mir nicht bekannt. Es findet sich nicht in den Œuvres complètes La Fontaines. Ebenfalls ist es nicht wahrscheinlich, dass das Gedicht mit dem in Versen abgefassten Brief La Fontaines an Pierre-Daniel Huet identisch ist, der zehn Tage nach der Sitzung unter dem Titel A Monseigneur l’Evêque de Soissons veröffentlicht wurde. Bei dem Brief handelt es sich nicht um einen panegyrischen Text, den man bei den Feierlichkeiten hätte vortragen können. 7 Perraults Gedicht hat eine längere Vorgeschichte. Schon 1678 schrieb Perrault im Vorwort zu seiner Übersetzung von Alessandro Tassonis Seau enlevé: „Je crois que la grande réputation en laquelle nous voyons encore à présent les anciens auteurs ne leur a été donnée qu’à cause que leurs ouvrages ont paru dans un temps où les esprits étaient grossiers et sans érudition.“ Zit. nach Ferrier-Caverivière, Nicole: L’image de Louis XIV dans la littérature française de 1660 à 1715. Paris 1981, S. 357. 8 Vgl. Jauß, Hans Robert: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der „Querelle des anciens et des modernes“. In: Perrault, Charles: Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences. München 1964 (Nachdr. der Ausgabe Paris 1688–1696), S. 8–64; Buck, August: Die „Querelle des anciens et des modernes“ im italienischen Selbstverständnis der Renaissance und des Barock. In: Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main 11(1) (1973), S. 109–123; Zelle, Carsten: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart /  Weimar 1995, S. 76ff. sowie Hölter, Achim: Die Bücherschlacht. Ein satirisches Konzept in der europäischen Literatur. Bielefeld 1995.



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der Streit seit der sogenannten Querelle du Cid (1636/37) um Pierre Corneilles gleichnamiges Drama, bei der die Académie française als Schlichter aufgetreten war.9 Die Auseinandersetzung zwischen den Anciens und den Modernes warf grundlegende Fragen nach der Bestimmung der gegenwärtigen Zeit im Verhältnis zu früheren Kulturen auf. Zudem brachte sie das absolutistische Modell französischer Sprach- und Kulturpolitik gegen das bis dahin für vorbildhaft gehaltene Modell „Italien“ als Wiege des Humanismus in Stellung. Während die Anciens eine normative, das Lateinische favorisierende „Kanonpolitik“ (Mayer) verfolgten, die auf eine Entzeitlichung des kulturellen Kanons zielte, präferierten die Modernes unter Bevorzugung des Französischen10 eine Strategie der Verzeitlichung und Relativierung dieses Kanons im Sinne der Fortschrittsidee.11 Damit wurden zwei Kernfragen des kulturellen Selbstverständnisses thematisiert: zum einen die Frage nach der historischen Entwicklungsdynamik und der eigenen Positionierung im geschichtlichen Geschehen, zum anderen die Frage nach der Begründung, Geltung und Anerkennung von wissenschaftlicher und künstlerischer Autorität insbesondere mit Blick auf antike „Diskursivitätsbegründer“ wie Homer oder Aristoteles. Im Fokus stand die zentrale kultur- und wissenschaftspolitische Frage: Wer oder was durfte Einfluss auf die aktuelle Kunst- und Wissensproduktion ausüben? Dabei ging es im Kern um die diskursiven Regelmechanismen und Verknappungsstrategien der eigenen Kultur, so dass es kein Zufall war, dass Perrault für seine Zuspitzung des Streits als Ort gerade die Académie française wählte.12 Im Gegensatz zu den zahlreichen, oft gewichtigen Studien zu den Fragen, Problemen und Perspektiven, welche die Querelle des Anciens et des Modernes in literaturgeschichtlicher Hinsicht aufwarf, soll im Folgenden ein mikrologischer Blick auf die ‚Urszene‘ der Auseinandersetzung, also auf die Sitzung der Académie française am 27. Januar 1687, geworfen werden. Zwar wird in der Forschung oft und mit Nachdruck auf Perraults Gedicht und den Eklat, den es provozierte, verwiesen. Aber weder der Text noch der konkrete historische Rahmen, innerhalb dessen das Gedicht vorgetragen wurde, sind bisher einen genauen Analyse unter-

9 Vgl. Mayer: Institutionelle Mechanismen, S. 111ff. 10 Ende des 17. Jahrhunderts sprach nur eine von zwanzig Millionen Einwohnern das Französisch der Akademie. Vgl. Mayer: Institutionelle Mechanismen, S. 255. 11 Vgl. Mayer: Institutionelle Mechanismen, S. 154, 174, 198. 12 Zu den komplexen gesellschaftlichen, politischen und theologischen Hintergründen der Auseinandersetzung vgl. Kortum, Hans: Charles Perrault und Nicolas Boileau. Der Antike-Streit im Zeitalter der klassischen französischen Literatur. Berlin 1966; einen jüngeren Gesamtüberblick über die französische Querelle bietet Fumaroli, Marc: Les Abeilles et les araignées. In: Lecoq, Anne-Marie (Hg.): La Querelle des Anciens et des Modernes, XVIIe–XVIIe siècle. Paris 2001, S. 7–220.

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zogen worden: Warum wirkte das Gedicht gerade bei dieser Sitzung der Académie so provozierend? Nutzte Perrault einen günstigen historischen Augenblick? War die Provokation geplant? Oder war es schlicht Zufall, dass Perraults Text einen Skandal provozierte? Mit Blick auf diese Fragen wird eine institutionengeschichtlich basierte Analyse von Perraults Gedicht und der Sitzung der Académie vorgenommen. Hierbei wird das Konzept des diskursiven Ereignisses genutzt, wie es in der jüngeren Geschichtswissenschaft entwickelt wurde.13 Im Anschluss an Foucault wird der konstruktiv-kommunikative Charakter von Ereignissen hervorgehoben, indem die Strategien und Techniken beschrieben werden, mit deren Hilfe „historische Ereignisse“ von zeitgenössischen Akteuren diskursiv erzeugt, stabilisiert und verbreitet werden.14 In diesem Sinne soll versucht werden, das strategische Kalkül herauszuarbeiten, welches Perraults Gedicht zu einem diskursiven Ereignis werden ließ: einerseits in institutioneller Hinsicht mit Blick auf die Frage der Begründung „moderner“ Autorität, andererseits mit Blick auf die zeitgenössische Kriegsmetaphorik. Dabei wird sich zeigen, dass sich beide Aspekte diskursiv verstärken.

2 Ereignishaftigkeit und Zeremoniell Der französische Historiker Louis Marin hat darauf hingewiesen, dass es im Absolutismus durch die Abwesenheit einer politischen Redekultur zwangsläufig zu einer Aufwertung und Vermehrung epideiktischer Rede kommen musste.15 Dies wiederum bedeutet, dass „Ereignisse“, welche die gloire und den éclat16 des abso-

13 Das Konzept des diskursiven Ereignisses grenzt sich ab sowohl von der problematischen Ereignisgeschichte älteren Datums als auch von der neueren Strukturgeschichte, die versucht, das historisch Ereignishafte in längere Zeiträume einzubetten und damit zu relativieren. Weiterhin grundlegend zur Debatte zwischen Ereignis- und Strukturgeschichte sind die Beiträge im fünften Band der Poetik-und-Hermeneutik-Reihe: Koselleck, Reinhart / Stempel, Wolf-Dieter (Hg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung. München 1973. 14 Vgl. Rathmann, Thomas (Hg.): Ereignis. Konzeption eines Begriffs in Geschichte, Kunst und Literatur. Köln 2003 und Suter, Andreas / Hettling, Manfred (Hg.): Struktur und Ereignis. Göttingen 2001. 15 Vgl. Marin, Louis: Das Porträt des Königs. Berlin 2005, S. 151. 16 „Gloire, das war ein Schlüsselbegriff der Zeit, dessen Bedeutung in Ludwigs Memoiren immer wieder betont wurde. […] Personifikationen des Ruhms erschienen in Theater- und Ballettstücken und auf öffentlichen Denkmälern. […] Und selbstverständlich wurde im siebzehnten Jahrhundert immer wieder festgestellt, daß Pracht eine politische Funktion hatte. Sie verlieh dem



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lutistischen Herrschers mittelbar oder unmittelbar fördern konnte, zwangsläufig in diskursive Ereignisse transformiert wurden. Auf diese Weise wird die Bedeutung, sprich Autorität und Legitimität der absolutistischen Herrschaft immer wieder aufs Neue bestätigt sowie der Nachruhm des Herrschers in der Beispielhaftigkeit seiner Taten und Tugenden gesichert. Das „Machtspiel“ der epideiktischen Redekultur verlangt einen rekursiven Begriff von Geschichte: „Der König nutzt die Geschichte als Exemplum für seine Regentschaft und wird dank der Historiographie selbst zu einem Regierungsbeispiel für die Nachwelt.“17 Hier liegt nicht nur die große Bedeutung der Historiographie während des Absolutismus begründet, sondern gleichfalls die enorme Bedeutung zeremonieller Anlässe, an denen es möglich war, die gloire und den éclat des absolutistischen Herrschers im Rahmen einer selbstbezüglichen Repräsentations- und Erinnerungskultur öffentlich sichtbar zu machen. Eine epideiktische Redekultur steht sowohl unter einem Zwang zur Repräsentation als auch unter einem Zwang zur Produktion diskursiver Ereignisse. Dabei kann alles, was für die absolutistische Herrschaft politisch, militärisch, religiös oder sozial bedeutsam ist oder sein könnte, zum diskursiven Ereignis werden. Dem diskursiven Ereignis muss hierbei nicht notwendigerweise ein faktisches „Ereignis“ vorausgegangen sein. Es können im Gegenteil auch marginale oder unbedeutende Episoden in den Fokus geraten, wenn es in der Diskursivierung gelingt, deren „herrschaftliche“ Bedeutsamkeit herauszustellen. Was vorher zufällig und ephemer war, gewinnt in der Diskursivierung den Status „historischer Notwendigkeit“, indem es ursächlich mit den Taten und Tugenden des

König éclat. Éclat war ein weiteres Schlüsselwort der damaligen Zeit, dessen Bedeutung von „Blitz“ bis zu „Donnerschlag“ reichte, aber immer handelte es sich um etwas Unerwartetes und Beeindruckendes. Pracht galt als beeindruckend, buchstäblich präge sie sich dem Publikum ein wie ein Siegel dem Wachs.“ (Burke, Peter: Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs. Berlin 1993, S. 13f.) Das heißt, im éclat wird die Ereignishaftigkeit des Königs, die an seiner Prachtentfaltung ablesbar ist, auf den Begriff gebracht. Im Deutschen ist der Begriff des Ereignisses etwas anders konnotiert und meint von seiner etymologischen Grundbedeutung her das SichZeigende, Von-sich-aus-sichtbar-Werdende, In-die-Augen-Fallende: „Eräugniß“. Vgl. Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel 1972, Bd. 2, Sp. 608f. Zur Bedeutung der „gloire“ im absolutistischen Fürstenstaat bemerkt Johannes Kunisch: „Die Vorstellung der ‚gloire‘ war in der Fürstengesellschaft Alteuropas der Inbegriff höchster Reputation, eine althergebrachte ritterlich-aristokratische Tugend und zugleich das Unterpfand ewiger Unsterblichkeit […].“ Kunisch, Johannes: La guerre – c’est moi. Zum Problem der Staatenkonflikte im Zeitalter des Absolutismus. In: ders.: Fürst – Gesellschaft – Krieg. Studien zur bellizistischen Disposition des absolutistischen Fürstenstaates. Köln u. a. 1992, S. 1–41, hier S. 33. 17 Rohwetter, Christina: Zur Typologie des Herrschers im französischen Humanismus. „Le livre de lʼinstitution du prince“ von Guillaume Budé. Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 93.

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Herrschers in Bezug gesetzt oder sogar unmittelbar als dessen Tat oder Tugend ausgegeben wird. Im Rahmen des Zeremoniells ist das Ereignishafte immer doppelt präsent: zum einen hinsichtlich des symbolischen bzw. zeremoniellen Rituals, das der Huldigung dient und selbst Ereignis sein soll und muss, zum anderen hinsichtlich des Adressaten, dessen Taten und Tugenden als „Ereignisse“ diskursiviert werden sollen. Das „Ereignishafte“ des Zeremoniells wird in eine rekursive Schleife eingeschrieben und doppelt sich im Wechselspiel von ereignishaft-repräsentativem Zeremoniell und ereignishaft-repräsentativer Historiographie. Was im Zeremoniell einen instantanen Charakter hat, soll in der notwendigerweise folgenden Diskursivierung, sprich in der textlichen, bildlichen oder numismatischen Fixierung und Distribution eine erinnerungswürdige Beständigkeit erhalten, die im besten Fall Jahrhunderte überdauert. Die Genesung des Königs Anfang 1687 stellte einen willkommenen Anlass dar, in einer relativ ereignisarmen Zeit18 ein weiteres zeremonielles und diskursives Ereignis zu produzieren. Für die Académie française bot sich außerdem die Gelegenheit, mittels der epideiktischen Nobilitierung des Königs die eigene Bedeutung als zentrale Institution französischer Sprach- und Kunstpolitik zu unterstreichen, zumal der König während des Zeremoniells sogar anwesend war.19 Perrault versuchte einen Text zu präsentieren, der selbst „ereignishaft“ war, und zwar jenseits dessen, was im Rahmen des Zeremoniells ohnehin an Ereignishaftigkeit zu erwarten war. Damit hoffte er eine (Breiten-)Wirkung seiner Thesen zu entfalten, die sonst nur mühsam zu erzielen war.20

3 Kalkül und Provokation Perraults Gedicht ist ein gezielt für die Sitzung der Académie française verfasstes, an ein erwartbares Publikum adressiertes zeithistorisches Dokument der enkomiastischen Kasualdichtung. Die lyrische Form, der Stil, die Rhetorik und Topik des Gedichts sind in hohem Maße konventionell und erfüllen die Anforderungen, die zeitgenössisch an panegyrische Texte gestellt wurden. Die inhaltliche

18 Die 1680er Jahre in Frankreich waren im Gegensatz zu den 1670er Jahren eine Zeit von relativem Frieden; es gab nur wenig Anlässe für Huldigungen. 19 Ab 1682, dem Umzug des Hofes von Paris nach Versailles, war der König bis zu seinem Lebensende im Jahre 1715, also in insgesamt mehr als dreißig Jahren, nur noch sechzehn Mal in Paris. Vgl. Mayer: Institutionelle Mechanismen, S. 186. 20 Vgl. ebd., S. 182.



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Entfaltung der „Vorzugsfrage“ wird durch ein kurzes Prooemium (V. 1–18) eingeleitet, in dem Perrault die Kernfrage der Auseinandersetzung benennt: die nach der Begründung von Autorität. Dabei stellt Perrault zwei Modelle gegenüber. Das Modell für die Begründung antiker Autorität beruht laut Perrault vornehmlich auf ihrem Alter, was zur Folge habe, dass sie mittlerweile eine quasi-religiöse Dignität besitze (V. 1–4). Dem gegenüber leitet Perrault Autorität in der Gegenwart aus den militärischen Erfolgen Ludwigs ab (V.  7–10). Auf diese Weise trägt Perrault die Autoritätsfrage in unterschiedliche Register ein: Die unkritische Anerkennung des kulturell Vergangenen wird gegen die politische Macht des gegenwärtigen Herrschers ausgespielt. Was Antike und Gegenwart verbindet, ist zwar der Mensch, dessen Fähigkeiten sich nicht gewandelt hätten (V. 4), die spezifischen historischen Kontexte jedoch, also die Ermöglichungsbedingungen kultureller und wissenschaftlicher Leistungen, seien in Antike und Gegenwart grundlegend verschieden. Perraults These unterläuft ältere humanistische Konzeptionen wie etwa die des einflussreichen Guillaume Budé, wo die „kritische Auseinandersetzung mit der historischen Vergangenheit […] eine Beurteilung der Gegenwart und eine vorausschauende Einschätzung des Kommenden“21 erlaubt. Dagegen betont Perrault den Bruch zwischen Antike und Gegenwart. Das heißt jedoch nicht, dass sich das Lob des eigenen Zeitalters gegen den gelobten Herrscher wenden würde, dessen geschichtliche Bedeutung in der zukünftigen Rückschau auf die eigene Epoche möglicherweise relativiert werden könnte. Obwohl Perrault herausstellt, dass auch Ludwig letztlich nur ein Mensch sei (V. 463), überdauern seine Leistungen die Zeit, weil er die Bedingungen für kulturelle und wissenschaftliche Höchstleistungen schuf. Ludwig steht weiterhin für eine zeitenthobene Kontinuität in der historischen Diskontinuität des Fortschrittsprozesses. Der panegyrische Topos am Beginn des Gedichts, der das Zeitalter Ludwigs mit dem von Augustus vergleicht (V. 5–6),22 gewinnt in dieser Lesart eine interessante Pointe. Vergleichbar sind Ludwig und Augustus nicht mehr mit Blick auf die Vorstellung einer translatio studii et imperii, die eine Kontinuität in der Herleitung und Begründung zeitgenössischen Wissens und zeitgenössischer Macht herstellt, sondern ihre Vergleichbarkeit rührt gerade aus der kulturellen Unvergleichlichkeit der Zeital-

21 Rohwetter: Typologie des Herrschers, S. 91. 22 Im Übrigen gehörte die Gleichsetzung von Ludwig mit dem römischen Kaiser Augustus zu jenen Vergleichen, die bei der Glorifizierung Ludwigs seit den 1660er Jahren geradezu inflationär eingesetzt wurden. Vgl. Burke: Ludwig XIV., S. 50.

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ter her, die sie durch ihre verschiedenen kultur- und wissenschaftspolitischen Fördermaßnahmen geprägt haben.23 Im Anschluss an das Prooemium stellt Perrault verschiedene Wissensfelder und kulturelle Praktiken aus Antike und Gegenwart antithetisch gegenüber. Die Argumentation folgt keinem erkennbaren systematischen Aufbau, wenn man davon absieht, dass sich die stärksten Argumente für die Bevorzugung der Gegenwart zu Beginn und am Ende finden, die schwächsten dementsprechend in den mittleren Passagen. Die Beweise für die Überlegenheit der Gegenwart über die Antike sind gleichfalls unsystematisch. Sie beziehen sich auf neue Technologien (Erfindung bzw. Verbesserungen optischer Geräte wie Teleskop oder Mikroskop sowie anderer physikalischer Messinstrumente) und hierdurch gewonnene Erkenntnisse, die mit der antiken Naturwissenschaft nicht vereinbar seien (Galilei, Kepler), oder sie zielen auf eine Historisierung des antiken Wissens. Dabei wird insbesondere das von Francis Bacon stammende Argument der „Jugend der Alten“ in Anschlag gebracht.24 Zum anderen läuft die Historisierung auf eine kritische „Fehleranalyse“ hinaus, wenn etwa der antiken Malerei die perspektivisch inkorrekte Konstruktion von Raumdarstellungen vorgehalten wird. Ein weiteres Verfahren zur Historisierung der Antike besteht im Abgleich mit zeitgenössischen Praktiken und Verfahren: Mag es in der Antike auch hervorragende Redner wie Demosthenes oder Cicero gegeben haben, heute würden sie, so Perrault, angesichts der praktischen Erfordernisse in juristischen Prozessen kläglich scheitern. Darüber hinaus führt Perrault Geschmacksurteile an. Platon wird deswegen als kanonirrelevant eingestuft, weil die Lektüre seiner Werke oftmals „ennuyeux“ (V. 20) sei. Perrault relativiert auf diese Weise das Konzept des „bon goût“, der als überzeitliche Kategorie ästhetischer Qualitätssicherung noch in Boileaus Art poétique (1674) einen zentralen Bezugspunkt der normativen Poetik darstellt.25

23 Liest man den Vergleich zwischen Ludwig und Augustus in diesem Sinne, erscheint er nicht mehr, wie bei Carsten Zelle zu lesen ist, als „performativer Widerspruch“ (Zelle: Die doppelte Ästhetik, S. 79). Zur Funktion des Rückbezugs auf die Antike in Perraults Gedicht vgl. auch die Ausführungen in Abschnitt 6 dieses Artikels. 24 Vgl. Francis Bacons Novum Organum (1620) Teil 1, Aphorismus LXXXIV. Im Vorwort von ­Blaise Pascals Traité du vide (1651) findet sich dieses Argument gleichfalls (vgl. Kortum: ­Perrault und Boileau, S. 34), ebenso in Fontenelles Digression sur les Anciens et les Modernes (1688): „Rien n’arrête tant le progrès des choses, rien ne borne tant les esprits, que l’admiration excessive des anciens.“ Fontenelle, Bernard Le Bovier de: Digression sur les anciens et les modernes. In: Lecoq, Anne Marie (Hg.): La Querelle des Anciens et des Modernes, XVIIe–XVIIe siècle. Paris 2002, S. 294–313, hier S. 312. 25 Vgl. auch Jauß: Ästhetische Normen, S. 57ff.



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Der Mittelteil des Gedichts schwankt insgesamt zwischen allgemein erwägenden Abschnitten und „Einzelfallanalysen“, oftmals in der Konfrontation antiker Autoritäten mit jüngeren Forscher- oder Künstlerpersönlichkeiten. Perrault zeigt sich auf dem Stand der zeitgenössischen Anbahnung des kritischen Paradigmas. Daher versäumt er es nicht, auf zwei frühere Querelles anzuspielen: auf die schon eingangs erwähnte um Corneilles Theater (V.  181ff.) und auf die um die – im Januar 1674 uraufgeführte – Oper Alceste, ou Le triomphe d’Alcide von JeanBaptiste Lully (V. 411ff.), an der er selbst mit La Critique de l’Opéra, ou examen de la tragédie intitulé Alceste (1674) maßgeblich beteiligt war.26 Dass die Musik als letztes thematisiert wird, entspricht Perraults Kalkül, mit aktuellem Bezug eigene Deutungsansprüche bezüglich des kulturellen Kanons machtvoll zu behaupten.

4 Protokoll und Störung Die Taktik, die Perrault für die Provokation27 der Anciens wählte, imitierte das kulturpolitische Kalkül der Académie française selbst. Indem er den König zum Garant einer gelingenden Wissenschafts- und Kulturpolitik machte, verschob er nicht nur den Bezugspunkt der Diskussion über die „Vorzugsfrage“.28 Er adaptierte zugleich die Hauptstrategie der Académie: durch Fremdnobilitierung Selbstnobilitierung, sprich Selbstlegitimierung zu erzielen. Geschickt wie es nur ein erfahrener Höfling sein konnte,29 versteht es Perrault, die zeremonielle und historiographische Ereignisproduktion des absolutistischen Machtdispositivs für sein eigenes Anliegen einzusetzen, indem er es mit der politischen Autorität des absolutistischen Herrschers verknüpft. Zwar handelte es sich bei der öffentlichen Sitzung der Académie nicht um ein im engeren Sinne politisches Zeremoniell. Aber es war, zumal vor dem Hintergrund der national bedeutsamen Genesung des Königs, gleichwohl ein wichtiger Bestandteil der permanent an der Glorifizierung arbeitenden Selbstinszenierungsmaschinerie Ludwigs.30

26 Vgl. Kortum: Perrault und Boileau, S. 152ff.; Mayer: Institutionelle Mechanismen, S. 118ff. 27 Vgl. Mayer: Institutionelle Mechanismen, S. 176; Kortum: Hintergründe, S. LXXXIX. 28 Eine ähnliche Strategie hatte – allerdings erfolgloser als Perrault – schon Jean Desmarets de Saint-Sorlin in seinem Gedicht Le triomphe de Louis XIV et de son siècle (1674) gewählt. Vgl. Ferrier-Caverivière: L’image de Louis XIV, S. 355f. Zu Desmarets vgl. die Ausführungen in Jauß: Ästhetische Normen, S. 33ff. 29 Kortum: Hintergründe, S. LXXXIX. 30 Peter Burke sprach in diesem Zusammenhang von einer regelrechten Werbekampagne für

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Bei höfischen Zeremonien ging es, so die Historikerin Barbara Stolberg-Rilinger, zum einen darum, „politische Geltungsansprüche für alle sichtbar zu behaupten, und zum anderen darum, dass diese Geltungsansprüche durch die anderen Beteiligten und wiederum für alle sichtbar anerkannt wurden.“31 Deswegen war das Zeremoniell „Gegenstand erbitterter Konflikte, gewohnheitsrechtlicher Ersitzung, listenreicher Erschleichung oder gar gewaltsamer Erzwingung, vor allem aber gegenseitigen Verhandelns und ausdrücklicher vertraglicher Regelung. Der hohe Grad an Formalisierung des Umgangs bis in feinste Nuancen machte die höfische Welt präzise ‚lesbar‘.“32 Alles war bedeutsam: „die Anordnung der Personen im Raum, die Abfolge ihrer Handlungen in der Zeit, Kleidung, Gegenstände, Gesten, Worte – alles konnte und musste von Beteiligten und Zuschauern ‚gelesen‘ werden.“33 Kurz nach dem Vortrag von Perraults Gedicht geschah etwas, womit niemand rechnen konnte. Das Protokoll des Huldigungszeremoniells wurde gestört. Perrault berichtet in seinen Memoiren,34 Nicolas Boileau, Parteigänger der Anciens, habe sich schon während des Vortrags im Stillen mehrfach echauffiert. Als Vortrag und Beifall geendigt hatten, ergriff Boileau das Wort: Der Vortrag sei eine Schande, weil darin die größten Männer der Antike herabgewürdigt würden. Wiederum gab es Beifall, angeblich sogar mehr als nach dem Ende des Vortrags von Perraults Gedicht.35 Bischof Huet, ebenfalls Parteigänger der Anciens und anerkannte Autorität in Sachen griechischer und lateinischer Literatur, entgegnete,

Ludwig XIV., die sich während seiner gesamten Regierungszeit in großem Maßstab mit dessen „Verkauf“ und „Verpackung“, mit „Ideologie, Propaganda und der Manipulation der öffentlichen Meinung“ (Burke: Ludwig XIV., S. 12) beschäftigte. 31 Stollberg-Rilinger, Barbara: Höfische Öffentlichkeit. Zur zeremoniellen Selbstdarstellung des brandenburgischen Hofes vor dem europäischen Publikum. In: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte N.F. 7 (1997), S. 145–176, hier S. 150. 32 Ebd., S. 152. 33 Ebd., S. 154. 34 Vgl. Perrault, Charles und Claude: Mémoires de ma vie. Voyage à Bordeaux (1669) par Claude Perrault. Publiés avec une Introduction, des Notes et un Index par Claude Bonnefon. Paris 1909, S. 136f. 35 Dies berichtet Antoine Furetière, ebenfalls Parteigänger der Anciens. Vgl. Furetière, Antoine: Recueil des factums d’Antoine Furetière, de l’Académie françoise, contre quelques-uns de cette Académie; suivi des preuves et pièces historiques données dans l’édition de 1694. Avec une ­introduction et des notes historiques et critiques par Charles Asselineau. Paris 1858, S. 303. Demgegenüber heißt es im Bericht des Mercure galant, dass schon der Vortrag des Gedichts mehrfach durch Applaus unterbrochen wurde; im Gegensatz zu Furetière nahm der Mercure galant Partei für die Modernes. Vgl. Mercure galant, Februar 1687, S. 205.



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Boileau solle schweigen. Wenn jemand in Fragen der Antike zu konsultieren sei, dann er, nicht Boileau.36 Im Rahmen des Hofzeremoniells hätte normalerweise „jede Kritik, jeder Ausbruch zugleich an den Grundfesten der eigenen sozialen Existenz gerührt“: „Individualismus und Spontaneität waren dem Menschen am Hof fremd und unverständlich.“37 Bei allem Ärger, den Boileau offenbar empfand, musste ihm klar sein, welche Folgen es haben konnte, wenn er das Zeremoniell störte.38 Auf der anderen Seite beschwor der Vortrag von Perraults Gedicht ein Dilemma für die Parteigänger der Anciens herauf. Würden sie schweigen, wie es das Zeremoniell erforderte, käme dies einer Anerkennung der Position der Modernes gleich. Würden sie das Wort ergreifen, wäre die Bedeutsamkeit der Vorwürfe ebenfalls anerkannt, denn sonst müsste man ja nicht öffentlich widersprechen. Perrault zielte auf das erste. Dass das letztere eintrat, befeuerte den Konflikt auf unerwartete Weise. Nun war es kein akademieinterner Streit mehr, sondern ein öffentlicher Konflikt um die kulturpolitische Deutungshoheit über den kulturellen Kanon. Der für das Zeremoniell kennzeichnende konstruktive Charakter einer genau geplanten und damit vorhersehbaren Ereignishaftigkeit wird im Ausbruch Boileaus von einer destruktiv-kontingenten Ereignishaftigkeit überlagert – und verstärkt! Weil das Moment potentieller Störung konstitutiv für Zeremonielle ist, wird es durch die Intervention Boileaus noch attraktiver für die historiografische Überlieferung. Ohne Boileaus „Störung“ wäre das Genesungszeremoniell lediglich eine Variation zahlreicher anderer Zeremonielle im Rahmen der histoire panegyrique Ludwigs geblieben. Nun gewann es eine Bedeutung, deren Wirkung über die absolutistische Selbstrepräsentation und Eigengeschichtsschreibung

36 Als der offizielle Teil der Sitzung beendet war, kam Racine zu Perrault und konstatierte, dass das Gedicht doch wohl nur ein geistreicher Scherz („un jeu d’esprit“) gewesen sein könne. Der Begriff „jeu d’esprit“ ist vieldeutig. Kortum interpretiert ihn als „geistreiches, aber nicht ernst gemeintes Paradoxon.“ (Kortum: Hintergründe, S. LXX) Mir scheint der Begriff des Paradoxons in diesem Zusammenhang jedoch zu stark. 37 Ehalt, Hubert: Zur Funktion des Zeremoniells im Absolutismus. In: Buck, August (Hg.): Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Hamburg 1981, Bd. 2, S. 411–420, hier S. 411f. Vgl. auch Vec, Miloš: Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentationen. Frankfurt a. M. 1997. 38 Als sich Boileau während der Sitzung zu Wort meldet, begeht er einen „groben Ordnungsverstoß“ (Kortum: Hintergründe, S. LXX). Offenbar bleibt dieser aber folgenlos. Möglicherweise liegt es daran, dass Boileau als Historiograph des Königs ein besonders privilegiertes Amt innehatte. Kortum spricht sogar davon, dass Boileau dadurch „fast unangreifbar“ (Kortum: Perrault und Boileau, S. 158) gewesen sei.

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weit hinausging, so dass Perraults Gedicht selbst Diskursgeschichte schreiben konnte. Dabei war schon während des Vortrags von Perraults Text erkennbar, dass ein primär politisch kontextualisiertes Zeremoniell mit einer poetologisch-ästhetischen Kanondiskussion kurzgeschlossen werden sollte. Die Frage nach der Legitimität der kulturellen Tradition wurde mit der Ereignishaftigkeit des Zeremoniells selbst rückgekoppelt und somit die Behauptung von Autorität in Sachen Kanonbeurteilung selbst ereignishaft. Dafür spielte Perrault das Ereignishafte des Augenblicks gegen die Kontinuität des Überlieferten aus und wendete die Erzeugung diskursiver Ereignishaftigkeit durch die Historiographie gegen diese selbst. Die eigentliche Pointe der Sitzung vom 27. Januar 1687 liegt darin, dass es einer sich ereignishaft konstituierenden Autorität gelingt, die Logik einer auf selbstbezügliche Variation setzende Kanonpolitik zu unterbrechen. Die performativ-provokative Taktik, die Perrault mit seinem Gedicht verfolgte, ging vollständig auf. Im Gegensatz zur exegetischen Position der Anciens, die im literarischen Diskurs einen unerschöpflichen Schatz der Variation sahen, forcierte Perrault eine destratifizierende Verflachung des literarischen Diskurses im Abbau autoritäts- und traditionsbezogener Legitimationsmuster. Bei Perrault bilden Ereignishaftigkeit und Neuheit als diskursive ‚Disruptoren‘ die Basis für ein kulturpolitisches Programm, das auf Diskontinuität statt Kontinuität, auf Gegenwart statt Vergangenheit, auf Ereignis statt Kanon, auf innovatio statt imitatio setzt. Dieses Programm kommt wenig später nicht zuletzt in seinem in dezidierter Abgrenzung zur antiken Fabel verwirklichten Märchenprojekt zum Ausdruck.

5 Eskalation und Versöhnung Die Heftigkeit, mit welcher der Streit zwischen den Parteigängern der Anciens und denen der Modernes in der Folgezeit geführt wurde, lässt sich nur mit Blick auf die absolutistische Kulturpolitik adäquat verstehen. Die Vertreter der Anciens sahen durch die Anhänger der Modernes ihre kulturelle Deutungshoheit gefährdet. Konnten sie bislang einen bedeutenden Einfluss auf die Verknappungsstrategien und Regelmechanismen des auf Antike und Humanismus bezogenen „klassischen“ Diskurses ausüben, traten nun Perrault und andere39 auf, die diese Position mit guten Gründen attackierten und zurückwiesen. Was die Vertreter der

39 Zu den anderen Beteiligten vgl. Ferrier-Caverivière: L’image de Louis XIV, S. 351ff.



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Modernes so ‚gefährlich‘ machte, war, dass sie als Akademiemitglieder selbst Teil der offiziellen Kulturpolitik waren. Dass die Auseinandersetzung über Jahre hinweg weiter eskalierte, verwundert daher wenig. Noch am Abend nach der Académie-Sitzung verfasste Boileau mehrere satirisch-spöttische Epigramme auf Perrault.40 Am 12. Juli 1688 bezeichnete Perrault – wiederum während einer Sitzung der Académie française – Boileau und Racine als „unfruchtbare Nachahmer der Antike“ und hielt ihnen das „vom prometheischen Feuer entzündete Genie Fontenelles“41 entgegen, der sich mit seiner Digression sur les Anciens et les Modernes (1688) selbst früh am Streit beteiligt hatte. Von 1688 bis 1697 veröffentlichte Perrault seine mehrbändige Parallèle des Anciens et des Modernes. Hier suchte er in einer systematischen Gesamtschau die Überlegenheit der zeitgenössischen Wissenschaft und Kunst über die Antike zu beweisen, indem er die Geschichte der Menschheit als unumkehrbare Vorwärtsbewegung begreift. Die Veröffentlichung des dritten Bandes, der sich der Literatur widmet, rief erneut mehrere, auf Perrault persönlich gemünzte Invektiven Boileaus hervor. Unter anderem verfasste er die scharfe, den antiken Satiriker Juvenal nachahmende Satire Sur les Femmes (1693), die sich gegen die mit den Modernes sympathisierende Pariser Salonkultur richtete und deren weiblich-verfeinerten Geschmack anprangerte.42 Nach mehreren Vermittlungsversuchen kam es im August 1694 zur öffentlichen Aussöhnung zwischen Perrault und Boileau. 1701 wurde sogar ein Versöhnungsbrief Boileaus publiziert, ohne dass damit die grundsätzlichen Differenzen ausgeräumt wurden. Im 18. Jahrhundert wurde der Name „Perrault“ schließlich synonym mit der Position der Modernes.43 Angesichts der Heftigkeit der Auseinandersetzung lag es für Zeitgenossen nahe, von einem „Krieg in der Gelehrtenrepublik“ zu sprechen.44 Zwar war bereits

40 Vgl. Kortum: Hintergründe, S. XCI. 41 Kortum: Perrault und Boileau, S. 41. 42 Vgl. Casey, Mary Helen: The Querelle des anciens et des modernes as it emerges from Le Mercure galant (1672–1715). New York 1977, S. 64ff. 43 So heißt es beispielsweise in Gottscheds Als die gelehrte Brüderschaft in Leipzig Ihr erstes Jubelfest feyerte (1724): „Ein stolzer Perrault denkt noch weiter fortzugehen, / Er rühmte die ­Poesie sammt der Beredsamkeit, / Und sucht der Franzen Lob in beyden zu erhöhen, / Obgleich Athen und Rom von Meisterstücken schreyt.“ (V.15–18) Zit. nach Kapitza, Peter K.: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. München 1981, S. 130. Zur weiteren Geschichte der Querelle im 18. Jahrhundert vgl. die Quellensammlungen von Kapitza: Bürgerlicher Krieg und Lecoq, Anne-Marie (Hg.): La Querelle des Anciens et des Modernes, XVIIe–XVIIe siècle. Précédé de „Les Abeilles et les araignées“, essai de Marc Fumaroli, de l’Académie française. Postface de Jean-Robert Armogathe. Édition établie et annotée par Anne-Marie Lecoq. Paris 2001. 44 Vgl. die zahlreichen Textzeugnisse in Kapitza: Bürgerlicher Krieg.

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seit Trajano Boccalinis satirischen Ragguagli di Parnaso (1612), Antoine Furetières Nouvelle allégorique ou Histoire des derniers Troubles arrivés au Royaume d’Eloquence (1655/58) und Gabriel Guérets Le Parnasse reformé (1668) und La Guerre des Autheurs anciens et modernes (1671) die Metaphorik des Krieges im diskursiven Rahmen der Auseinandersetzung zwischen den Anciens und den Modernes präsent.45 Doch in François de Callières’ satirischer Histoire poétique de la guerre nouvellement déclarée entre les Anciens et les Modernes (1688) wurde Perraults Gedicht selbst, das als „Poème de Discorde“46 bezeichnet wird, zum Gründungsakt des Krieges zwischen den Anciens und den Modernes. Dementsprechend beginnt die Handlung im ersten Buch von Callières’ Text während der Genesungsfeier in der Académie française, die sich bald traumhaft-allegorisch in den doppelgipfligen Parnass verwandelt. Das zweite Buch setzt nach dem Ende des Vortrags von Perraults Gedicht mit der Spaltung der Dichter in zwei Parteien ein. Die Anciens empfinden das Gedicht als „Attentat contre leur Autorité“47 und werten es in diesem Sinne als förmliche Kriegserklärung („Manifeste“). Man könnte nun einflussgeschichtlich und thematologisch argumentieren und die Gründe für den Übertrag der Metaphorik und Semantik des Krieges auf den Streit zwischen den Anciens und den Modernes in den Vorläufern des frühen 17. Jahrhunderts suchen.48 Zweifellos haben diese Texte den Weg für die leichte Übertragbarkeit der Kriegsmetaphorik und -semantik auf die Situation Ende der 1680er Jahre geebnet. Diskursgeschichtlich aber wird damit wenig erklärt, denn es bleibt unklar, warum gerade der Krieg (dies wird besonders prononciert in Callières’ Text erkennbar) und nicht etwa das Duell, der Zweikampf oder der seit der Antike gepflegte, in der Renaissance wiederbelebte Dichterwettstreit mit dem Streit zwischen den Anciens und den Modernes verknüpft wird.

6 Krieg und Fortschritt Im fünfundsechzig Verse umfassenden Schlussteil von Perraults Gedicht (V.  459ff.) werden katalogartig die wichtigsten Taten und Tugenden Ludwigs

45 Die Druckerlaubnis für Callières’ Werk wurde schon am 14. August 1687, also knapp ein halbes Jahr nach der Sitzung der Académie française, erteilt. 46 Callières, François de: Histoire poétique de la guerre nouvellement déclarée entre les Anciens et les Modernes. Amsterdam 1688, S. 28. Perraults Gedicht ist im ersten Buch komplett abgedruckt, vgl. ebd., S. 4ff. 47 Ebd., S. 28. 48 Vgl. Hölter: Bücherschlacht.



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aufgeführt, um seine „gloire“ (V. 465) und seinen „éclat“ (V. 475) hell erstrahlen zu lassen. Gleichzeitig zitiert Perrault die arma-et-litterae-Topik (V. 516) und die daran geknüpfte Vorstellung vom idealen Fürsten als Verbindung von Tapferkeit und Weisheit.49 Von den fünfundsechzig Versen des Schlussteils sind knapp ein Viertel den kriegerischen Erfolgen Ludwigs (V.  481–496) gewidmet, wobei alle wichtigen außenpolitischen „Ereignisse“ bis 1687 erwähnt werden. Auch dieser Teil ist hochkonventionell,50 zumal in der Motivik und Bildlichkeit,51 und würde in anderem Zusammenhang kaum gesonderte Aufmerksamkeit verdienen. Im Kontext von Perraults Provokation der Anciens, deren Autorität in kulturellen Fragen gegen die Autorität politischer Herrschaft ausgespielt wird, kann die Erwähnung der militärisch-politischen Sicherung des Staates jedoch nicht unabhängig von der zentralen Leitfrage der gesamten Auseinandersetzung betrachtet werden. Der Schlussteil mag zwar inhaltlich und formal hochkonventionell sein, aber durch die spezifische Rahmung wird er für damalige Zuhörer in anderem Sinne, nämlich mit Bezug auf die „Vorzugsfrage“ lesbar. Ein militärisches ‚Ereignis‘, das Perrault erwähnt, spielt eine besondere Rolle, einerseits weil es zeitgenössisch für die Verherrlichung Ludwigs als Kriegsherr eine herausragende Bedeutung besaß, andererseits weil in diesem ‚Ereignis‘ exemplarisch das leitende Prinzip Ludovizianischer Außenpolitik sichtbar wird: das Streben nach territorialer Expansion, um Frankreich eine hegemoniale Stellung in Europa zu sichern. Gemeint ist die Rheinüberquerung im Jahre 1672 während des Holländischen Krieges (1672–78), die dem französischen König bzw. – genauer – seinen Soldaten ohne den Einsatz weiterer Hilfsmittel geglückt war. Diese Episode macht auf beispielhafte Weise die Arbeit der PropagandaMaschinerie Ludwigs mittels der Produktion diskursiver Ereignisse52 deutlich, denn der Rhein führte, als ihn der König überschritt, infolge von Trockenheit kaum Wasser.53 Zeitgenössisch wurde der Übergang allerdings vollkommen anders dargestellt, nämlich als eines „der größten Ereignisse […], welches das Gedächtnis der Menschen beschäftigen müsse“.54 Fortan stellte man Ludwig über

49 Vgl. Buck: Querelle sowie Rohwetter: Typologie des Herrschers, S. 87. 50 Vgl. Verweyen, Theodor (1976): Barockes Herrscherlob. Rhetorische Tradition, sozialgeschichtliche Aspekte, Gattungsprobleme. In: Der Deutschunterricht 28(2) (1976), S. 25–45, hier S. 28ff. 51 Vgl. Ssymank, Paul: Ludwig XIV. in seinen eigenen Schriften und im Spiegel der zeitverwandten Dichtung. Phil. Diss. Leipzig 1898, S. 17ff. 52 Vgl. Burke: Ludwig XIV., S. 99ff. 53 Vgl. die ausführliche Schilderung in Ssymank: Ludwig XIV., S. 40f., Fußnote 75. 54 Ssymank: Ludwig XIV., S. 41.

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Caesar, dem es selbst mit Hilfe einer Brücke nicht gelungen war, auf die andere Rheinseite zu gelangen. Perrault zitiert in seinem Gedicht diesen Vergleich ebenfalls (V. 487f.).55 Was vordergründig einmal mehr die Unvergleichlichkeit Ludwigs – hier in militärischer Hinsicht – betont, wird im Rahmen der „Vorzugsfrage“ jedoch anders lesbar. In Fritz Mauthners Wörterbuch der Philosophie (1910) heißt es unter dem Lemma „Fortschritt“: Noch Herder, für uns Deutsche der Begründer des Dogmas [vom Fortschritt], sagt lieber Fortgang als Fortschritt; und bis zum Ende des 18. Jahrhunderts sagten unsere Schriftsteller gern Fortschreitung. Es sind Übersetzungen von lat. progressio und progressus. Für die Verbreitung der lateinischen Wörter ist es vielleicht nicht gleichgültig, daß progressus und regressus (Rückschritt) technische Ausdrücke des Militärs für den Vormarsch und den Rückzug waren.56

Ein prominenter zeitgenössischer Beleg aus den frühen 1690er Jahren bestätigt Mauthners Ausführungen. Unter „Progrès“ heißt es in Antoine Furetières Dictionnaire universel: Avancement, profit, avantage. Les armées du Roy ont fait de grands progrès cette année, on a entré bien avant dans le pays ennemi. La fortune de cet homme ne fait pas de grands progrès à la Cour. Dans ce dernier siècle on a fait de grands progrès dans la Physique.57

Vor diesem Hintergrund liest sich die Erwähnung der Rheinüberschreitung bei Perrault als dezidierte diskursive Verknüpfung von militärischem (Eroberung und Annektierung fremder Räume mit nachfolgender Installierung des eigenen Machtdispositivs58) und wissenschaftlich-künstlerischem Diskurs. Die Rheinüberschreitung, zumal sie erneut im Zeichen des expliziten Vergleichs zwischen Antike (Caesar) und Gegenwart (Ludwig) steht, wird im Kontext der „Vorzugsfrage“ als ebensolcher Akt der Eroberung und Annektierung verstehbar. Der nationale Anspruch auf territoriale Expansion und politische Hegemonie wird

55 Vgl. Burke: Ludwig XIV., S. 99. 56 Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. München / Leipzig 1910, Bd. 1, S. 341. Vgl. Georges, Karl Ernst (1913/18): Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Unveränderter Nachdruck der achten verbesserten und vermehrten Aufl. Hannover, Bd. 2, Sp. 1974. 57 Furetière, Antoine: Dictionnaire universel, Contenant generalement tous les mots françois tant vieux que modernes, & les termes de toutes les sciences et des arts. Den Haag 1690, Bd. 2, o. P. 58 In diesem Sinne heißt es bereits kurz vor der Erwähnung der Rheinüberschreitung in ­Perraults Text: „Aussi loin qu’il le veut il étend ses frontières, / En dix jours il soumet des provinces entières“ (V. 485f.).



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mit dem Anspruch auf kulturelle Deutungshoheit verschränkt: der militärische Begriff des Fortschreitens mit dem behaupteten Fortschritt in Wissenschaft und Kunst überblendet. Nun erst wird die asymmetrische Polarisierung der unterschiedlichen Begründungsmodelle von antiker und gegenwärtiger Autorität am Beginn des Gedichts verständlich, denn sie deutet auf die finale Überblendung von militärischer und kultureller Fortschrittssemantik voraus. Was am Beginn des Gedichts wenig begründet erscheint, nämlich die Konfrontation von kultureller und politischer Autorität, wird im Kontext der Kriegssemantik als eine Modernität als solche konstituierende Polarisierung lesbar. Von hier aus wird nicht nur die andauernde Militarisierung der Querelle auf semantischem Niveau verstehbar, sondern ebenfalls die forcierte Bellifizierung des kulturpolitischen Diskurses insgesamt, wie sie von Perrault ausgehend in der Folge beobachtbar ist: die betonte Aggressivität der Auseinandersetzung, das erbitterte und unnachgiebige Kämpfen für die Durchsetzung der eigenen Position. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine epideiktische Redekultur nicht allein eine Kultur des servilen Herrscherlobes in der Konstruktion diskursiver Ereignisse produziert, sondern auch das Gegenteil hervorbringt: eine enorme Zunahme an persönlichen Invektiven in satirischer oder parodistischer Form.59 Die Lobrede wird von der tadelnden Gegenrede begleitet und in ihr gespiegelt, denn Unterwürfigkeit und Empörung, Dissimulation und Ironie sind zwei Seiten derselben Medaille. Dies machen nicht zuletzt die zahlreichen Invektiven Boileaus im Kontext der Querelle deutlich. Dass gerade der Krieg als Leitmetapher für das künstlerische Modernisierungsprogramm gewählt wird, ist nicht zufällig, stellt doch der Krieg ein Medium des Ereignishaften schlechthin dar, und zwar nicht nur, weil er im Rahmen der damaligen Historiographie als Hauptproduzent diskursiver Ereignisse fungiert,60 sondern weil er selbst in hohem Maße Unerwartetes und Unvorhersehbares hervorbringt. Wie sehr dieses Problemfeld, die Kontingenzproduktion des Krieges, seinerzeit reflektiert wird, lässt sich nicht zuletzt an den zeitgenössischen Bemühungen einer Mathematisierung des Krieges ablesen. Man denke nur an die Feldherren- und Festungsbaukunst des damaligen Marschalls von Frankreich,

59 Vgl. die Schilderungen in Kortum: Perrault und Boileau, S. 102ff. Allgemein zum Thema persönlicher Invektiven im 17. und 18. Jahrhundert vgl. Kämmerer, Harald / Lindemann, Uwe: Satire. Text und Tendenz. Berlin 2004, S. 48f. 60 Der Krieg nimmt in der „an ‚gloire‘ orientierten Macht- und Eroberungspolitik [des absolutistischen Fürstenstaates] einen festen Platz ein. […] Der Krieg, äußerte Ludwig [XIV.], sei den Königen nicht nur erlaubt, sondern anbefohlen […].“ Kunisch: La guerre – c’est moi, S. 37.

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Sébastien Le Prestre, Seigneur de Vauban, der den Krieg am Reißbrett planbar zu machen suchte. Deswegen war die Auseinandersetzung zwischen den Anciens und den Modernes mehr als nur ein Federkrieg in Studierstuben. Durch sie wird das kulturelle Feld selbst zum Gegenstand des Kampfes, auch des politischen Kampfes – ein Ort der Überwältigungen und Eroberungen, der Unterminierung und Belagerung, von Sieg und Niederlage im Rennen um Deutungshoheiten und/oder die nächste aufsehenerregende Innovation bzw. Provokation. Der Streit wird zum Motor des kulturellen Fortschritts, die Kritik zum Instrument anti-autoritärer Kulturpolitik.61 Dabei zeigt sich mit Perraults Gedicht eine grundlegende Verschiebung in der Ordnung des Wissens und der Kunst sowie deren diskursiven und institutionellen Legitimations- und Verhandlungsformen, die weit mehr als nur die Frage nach dem präferierten Textproduktionsverfahren und den daran geknüpften literarästhetischen Vorstellungen betrifft. Zwar wurde, wie geschildert, die zentrale Frage der Querelle schon im Altertum und – neu belebt – im Humanismus gestellt. Dass sie aber Ende des 17. Jahrhunderts eine solche diskursive Sprengkraft entfalten konnte, hängt mit der einmaligen Situation Frankreichs in dieser Zeit zusammen: mit den Repräsentationspraxen des Ancien régime und dem damaligen kulturpolitischen Machtdispositiv und seiner internen Organisation.

61 Vgl. Mayer: Institutionelle Mechanismen, S. 183.

Helmut Pfotenhauer

Ereignis / Eräugnis Zu einem narrativen Prinzip in Goethes Novellistik

1 Ereignis / Eräugnis Das Wort „Ereignis“, geschrieben meist „Ereigniß“, findet sich nicht überdurchschnittlich häufig in Goethes Schriften. Circa 750 Belege zählt das Goethe-Wörterbuch, die Verbform „sich ereignen“ bzw. die zahlreichen Komposita nicht gerechnet.1 „Ereignis“ bezeichnet oft im allgemeinen Sinne einen Vorfall, eine Begebenheit oder auch einen Sachverhalt, einen Umstand. Oft aber sind auch ganz besondere, herausragende und denkwürdige Vorkommnisse gemeint – Naturkatastrophen etwa wie das Erdbeben von Lissabon oder der Vesuvausbruch, der die pompejanischen Wandmalereien verschüttete,2 Schlachten wie die Völkerschlacht bei Leipzig3 oder aber Kriege wie die Befreiungskriege in der wechselhaften deutsch-französischen Geschichte nach der Revolution.4 Das Plötzliche, Unvermittelte, Schicksalhafte steht dann im Vordergrund. Gelegentlich findet sich bei Goethe auch die Erinnerung an die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Ereignis“: In den Aufzeichnungen Über Kunst und Alterthum in den Rhein- und Maingegenden von 1816 etwa kann man, wenn im Druck von erfreulichen und hoffnungsvollen „Ereignissen“ die Rede ist,5 im kritischen Apparat der Weimarer Ausgabe, der die handschriftlichen Varianten verzeichnet, die Lesart „Eräugnisse“ vermerkt sehen.6 Das Grimm’sche Wörterbuch weist in Band 3 von 1862 noch ausdrücklich auf diesen (angeblich ursprünglichen) Sinngehalt der Vokabel hin: Anfänglich und im Wesentlichen sei ein Ereig-

1 Unterberger, Rose: Ereignis. In: Schadewaldt, Wolfgang / Kühlmann, Wilhelm (Hg.): GoetheWörterbuch. Stuttgart u. a. 1999, Bd. 3, S. 263ff. 2 Vgl. Goethes Brief an Carl Friedrich Zelter vom 19. Oktober 1829 (WA IV 46, 110). Die Zitation erfolgt nach der Weimarer Ausgabe: Goethe, Johann Wolfgang: Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abteilung I–IV. 133 Bände in 143 Teilen. Weimar 1887–1919 unter Verwendung der Sigle WA, der Angabe der Abteilung, der Band- und Seitenzahl. 3 Vgl. Goethes Brief an J. F. H. Schlosser vom 29. November 1813, WA IV 24, 50. 4 Vgl. Goethes Brief an J. F. H. Schlosser vom 11. Juni 1813, WA IV 23, 364. 5 WA I 19.1, 19. Zur weiteren Verwendung der älteren Form „eräugnen“ vgl. Unterberger: Ereignis, S. 263ff. 6 WA I 19.2, 294. DOI 10.1515/9783110541854-012

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nis diejenige Begebenheit, die einem unvermittelt vor Augen tritt.7 Noch das Historische Wörterbuch der Philosophie betont in Band 2 von 1972, dass „Ereignis“ von „Eräugniß“ komme und bedeute: vor Augen stellen, in die Augen fallen, sich offenbaren, zeigen, erscheinen.8 Auch ästhetische Glücksfälle oder biographische Merkwürdigkeiten gelten Goethe als Ereignisse. Einige davon sind besonders prominent und führen ins Zentrum seines Schaffens. Sofort wird man sich etwa an den Schluss von Faust II erinnern: Das „Unzulängliche“ wird dort bekanntlich zum „Ereignis“.9 Der Spruch des „Chorus Mysticus“ ist wie kaum ein anderes Wort Goethes, bedingt durch seine besondere Stellung in diesem besonderen Werk, ausgedeutet worden.10 Hier mag die approximative Übertragung genügen: Das Unzulängliche wird sinnfällig, es tritt vor die Augen – was immer das dann in diesem Kontext noch weiter heißen mag. In den Morphologischen Heften von 1822 steht der bekannte Abschnitt über die „Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort“ (MA 12, 307).11 „Gegenständliches Denken“, so der Anthropologe Johann Christian August Heinroth,12 sei Goethes Schaffen im Kern. Aus der Anschauung und dem daraus hervorgehenden Nachdenken ergebe sich ihm die Idee der Pflanzenbildung, das Gesetz ihrer Metamorphosen. Das Auge erfasse unmittelbar, was die verständige Vermittlung dann auf den Begriff bringe. Es handle sich demnach also im strengen Sinne um ein Eräugnis. So sei, schreibt Goethe, weiter über sich selbst nachdenkend, während der Italienischen Reise aus dem Anblick des Blattes der Bauplan sämtlicher Pflanzen hervorgegangen; später wird aus dem Wirbelknochen der Schädel erklärt; und immer wieder sei es ganz besonders ein Ereignis gewesen, das ihn zum anschauenden Sinnieren veranlasst habe, dieses „schrecklichste aller Ereignisse“ (MA 12, 309), die Französische Revolution. Dieses, so

7 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Leipzig 1862, Bd. 3, Sp. 784f. 8 Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel 1972, Bd. 2, Sp. 608f. Vgl. dazu auch den fünften Band der Reihe „Poetik und Hermeneutik“: Koselleck, Reinhart / Stempel, Wolf-Dieter (Hg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung. München 1973, daraus besonders den Beitrag von Jauß, Hans Robert: Versuch einer Ehrenrettung des Ereignisbegriffs, S. 554–560. 9 Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Zwei Teilbände. Herausgegeben von Albrecht Schöne. Frankfurt a. M., Bd. 1, S. 464, V. 12106f. 10 Zusammenfassend Albrecht Schöne in seinem Kommentar ebd., Bd. 2, S. 814f. 11 Die Zitation im laufenden Text erfolgt nach der Münchner Ausgabe: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Herausgegeben von Karl Richter. München 1989, Taschenbuchausgabe 2006 unter Verwendung der Sigle MA und der Angabe von Band- und Seitenzahl. 12 Heinroth, Johann Christian August: Lehrbuch der Anthropologie. Leipzig 1822, S. 387.

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führt Goethe näher aus, habe zu grenzenlosen Bemühungen geführt, es „in seinen Ursachen und Folgen dichterisch zu gewältigen“. Die Natürliche Tochter etwa sei so zustande gekommen. Das Ereignis, so könnte man sagen, wird zum Eräugnis umgewandelt; das Gestaltlose erhält sichtbare Gestalt und wird als innerer Zusammenhang ästhetisch fassbar. Ebenfalls Eingang in die Morphologischen Hefte findet jene Notiz, die mit Glückliches Ereignis betitelt ist (MA 12, 86ff).13 Eckermann und Riemer veröffentlichen sie posthum 1837. Sie bezieht sich auf Goethes erste nähere Begegnung mit Schiller im Anschluss an eine Sitzung der Naturforschenden Gesellschaft in Jena im Juli 1794: Genoß ich die schönsten Augenblicke meines Lebens zu gleicher Zeit, als ich der Metamorphose der Pflanzen nachforschte, als mir die Stufenfolge derselben klar geworden, begeisterte mir diese Vorstellung den Aufenthalt in Neapel und Sicilien, gewann ich diese Art das Pflanzenreich zu betrachten immer mehr und mehr lieb, übte ich mich unausgesetzt daran auf Wegen und Stegen; so mußten mir diese vergnüglichen Bemühungen dadurch unschätzbar werden, indem sie Anlaß gaben zu einem der höchsten Verhältnisse, die mir das Glück in spätern Jahren bereitete. Die nähere Verbindung mit Schiller bin ich diesen erfreulichen Erscheinungen schuldig, sie beseitigten die Mißverhältnisse, welche mich lange Zeit von ihm entfernt hielten. (MA 12, 86)

Goethe schildert die missmutige Stimmung, die sich nach seiner Rückkehr aus Italien bei ihm eingestellt habe. Ihm missfallen die inzwischen in Deutschland tonangebenden literarischen Positionen – von Heinse bis hin zur dramatischen Produktion des frühen Schiller. Selbst Moritz, der italienische Freund, kann ihm über diese anfängliche Kluft zu seinem Weimarer Nachbarn nicht hinweghelfen. Der Kantianismus von Über Anmuth und Würde trägt ein Übriges zu diesem Befremden bei. Da kommt es zu jener denkwürdigen Jenaer Begegnung. Goethe trägt im Gespräch seine Ansicht von der Metamorphose der Pflanze vor, genauer: er lässt sie als eine symbolische Pflanze vor Schillers Augen entstehen (MA 12, 88). Goethe besteht darauf, dass die Erfahrung ihm dies zeige; Schiller hingegen beharrt darauf, dass dies eine Idee sei, die über jegliche Erfahrung hinausreiche. Goethe lenkt ein: Es könne ihm nur lieb sein, dass er „Ideen habe ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe“ (MA 12, 89). Irgendetwas „Vermittelndes, Bezügliches“, so folgert er, müsse doch zwischen ihnen beiden „obwalten“, wenn beide sich ungeachtet der gegensätzlichen Standpunkte so sehr annähern könnten. Das Eis ist gebrochen. Das Ereignis findet seine Gestalt in dem nun folgenden jahrelangen Gedankenaustausch und dem Briefwechsel, der ihn dokumentiert.

13 Vgl. den Kommentar in MA 12, 951f.

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Der Jenaer Begegnung war ein Brief Schillers an Goethe vorausgegangen. Am 13. Juni 1794 bittet er ihn, sich an der neuen, gemeinsam mit Fichte, Woltmann und Humboldt herausgegebenen Zeitschrift, den Horen, zu beteiligen (MA 8.1, 11). Goethe willigt ein. Von Schiller wird er, der gerade am dritten Buch der Lehrjahre schreibt, alsbald daran erinnert, dass er vorgehabt habe, „die Geschichte des ehrlichen Prokurators aus dem Boccaz“ (MA 8.1, 36)14 zu bearbeiten. Da der Roman bereits an den Verleger Unger vergeben war, wünscht sich Schiller diese Erzählung für die Horen. Aber Schiller irrt, was die Herkunft des Stoffes anlangt. Die Geschichte, die es Goethe angetan hat, stammt aus den Cent nouvelles nouvelles und nicht aus dem Decamerone. Recht hat Schiller jedoch damit, dass Goethe sich in dieser Zeit, als Abwechslung zum Romanschreiben und als Alternative dazu, Novellenstoffen zuwandte. Die Prokurator-Geschichte wird bearbeitet; und ihr sollten sechs weitere kürzere Prosatexte folgen. Goethe fasst sie unter dem Titel Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten zusammen. Am 27. November 1794 heißt es dann: „Zu den kleinen Erzählungen habe ich große Lust, nach der Last, die einem so ein Pseudoepos, als der Roman ist, auflegt.“ (MA 8.1, 39) Diesen Unterhaltungen gilt im Folgenden zunächst die Aufmerksamkeit. Denn in dieser Sammlung finden sich unter anderen auch solche Geschichten, in denen Ereignisse, also plötzlich und unvermittelt auftretende Begebenheiten, vor die Augen treten, mithin szenisch gegenwärtig werden. Sie stehen im Vordergrund, nicht die neben dem Märchen sonst meist interpretierten Erzählungen, die vom getreuen Prokurator und die von dem zur Sittlichkeit sich bekehrenden Ferdinand. Sie kommen als moralische Erzählung dem Sinngebungsbedürfnis des Lesers eher entgegen, oder sie reizen, wie das Märchen, als verrätseltes Spiel der Einbildungskraft, diese in besonders provokanter Weise auf. Schiller nennt die hermeneutischen Reflexe, welche diese Geschichten auslösen, in einem Brief vom 29. November 1794 an Goethe „AuslegungsSucht“ (MA 4.1, 1056). Bereits die zeitgenössischen Leser unterliegen dieser Auslegungssucht. Sie beziehen sich vornehmlich auf diese drei Geschichten (MA 4.1, 1055ff.). Aber auch die Forscher der nachfolgenden Generationen verfuhren und verfahren nicht anders.15

14 In einem Brief vom 28. Oktober 1794. Vgl. den Kommentar in MA 8.2, S. 156f. 15 Reinhardt, Hartmut: Ästhetische Geselligkeit. Goethes literarischer Dialog mit Schiller in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Alt, Peter-André u. a. (Hg.): Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings. Würzburg 2002, S. 311ff. Siehe auch Bluhm, Lothar: „In jenen unglücklichen Tagen…“. Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten oder: Die Ambivalenz von Kunst und Gesellschaft. In: Goethezeit-Portal. München 2004 (Erstpublikation 2000), S. 1ff.

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Goethes Lust am Erzählen ist jedoch mit diesen eher vertrauten Genres allein nicht befriedigt, sondern erstreckt sich auch auf andere Stoffe und Formen und die Stoffe und Formen anderer Autoren. Wenig Interesse fanden von Anfang an und auch später die von Goethe selbst so genannte „gespenstermäßige Mystifikations-Geschichte“ (Brief vom 5. Dezember 1794, MA 8.1, 44) von der Sängerin Antonelli, eine ursprünglich Pariser, dann Weimarer Klatschgeschichte (MA 4.1, 1041), und die aus den Memoiren des Marschalls von Bassompierre entnommene Geschichte von der schönen Krämerin (MA 4.1, 1069). Für sie fehlten in der zeitgenössischen Rezeption ebenso wie in der späteren die narratologischen Kriterien der Einordnung. Sie erregten deshalb mehr Befremden als Wohlwollen. Gerade mit dem Blick auf die Ereignisstruktur dieser Texte lässt sich das aber anders betrachten. Gleiches gilt für die notorisch vernachlässigten poetologischen Äußerungen des Alten, des Geistlichen, im Streitgespräch der Rahmenhandlung über die Frage, wie zu erzählen sei. Es lässt sich zeigen, wie wichtig, ja geradezu programmatisch diese Teile der Erzählsammlung sind. Ihre Spuren reichen, wie in einem nächsten Schritt schließlich zu sehen sein wird, bis in das spätere novellistische Erzählen Goethes.

2 Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten Das „schrecklichste aller Ereignisse“, die Französische Revolution und deren Folgen, stehen auch hier am Anfang. „In jenen unglücklichen Tagen, welche für Deutschland, für Europa, ja für die übrige Welt die traurigsten Folgen hatten“ (MA 4.1, 436), verschlägt es die Baronesse mit ihren Freunden und Verwandten während der Flucht vor den französischen Truppen auf rechtsrheinisches Gebiet. Zur Untätigkeit verdammt, durch hitzige politische Debatten traumatisiert, beschließen sie, sich in eine erzählte Welt zurückzuziehen. Die Pest im Florenz von Boccaccios Decamerone findet nun in den Kriegswirren der Revolution ihr Äquivalent; die Hügel von Fiesole werden in die rheinische Provinz verlagert. Man versucht sich über die Regeln, die dem Divertissement des Erzählens Halt geben sollen, zu verständigen. Die Baronesse fordert gesellige Tugenden, Selbstbeherrschung, Höflichkeit. Die Unterhaltungen über die Interessen des Tages möchten verbannt sein (MA 4.1, 459f), zierliche Gedichte aus den Brieftaschen junger Frauenzimmer etwa könnten an deren Stelle treten oder unbefangene philosophische Betrachtungen sowie naturkundliche Entdeckungen und Meditationen. Der Geistliche tritt nun auf den Plan und entfaltet Vorschläge zu einer eigenen Poetik des Erzählens. Es ist eine Poetik des Augenblicks, eine Poetik, die, so ließe

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sich wiederum in unserer Terminologie sagen, erklärt, wie aus einem Ereignis ein Eräugnis wird. Die Seelenkräfte würden selten so tätig werden, als wenn etwas Neues vorgetragen werde, heißt es einleitend (MA 4.1, 452). Man sieht: Man darf – in nuce – eine Poetik der Novelle erwarten. Es geht um Neuheiten, auch wenn im Folgenden dann recht unterschiedlich erzählt wird: was gibt einer Begebenheit den Reiz? nicht ihre Wichtigkeit, nicht der Einfluss, den sie hat, sondern die Neuheit. Nur das Neue scheint gewöhnlich wichtig, weil es ohne Zusammenhang Verwunderung erregt und unsre Einbildungskraft einen Augenblick in Bewegung versetzt, unser Gefühl nur leicht berührt und unsern Verstand völlig in Ruhe läßt. (Ebd.)

Der alte Geistliche erwähnt beiläufig, dass er bereits eine ganze Sammlung solcher erzählten Neuigkeiten zusammengetragen habe. Es gehe dabei nicht um die große Geschichte, sondern um Privatgeschichten (MA 4.1, 453). Darunter gebe es manche, die noch einen schöneren Reiz als den der Neuheit haben, manche etwa, die uns durch eine geistreiche Wendung erheitern, andere wieder, deren sonderbare Albernheiten uns ergötzen: Solches Erzählen erhebt, wie man sieht, keinen Anspruch auf den Ernst des genus grande. Das gilt für die Novelle schon von alters her: Sie generiert Kleinigkeiten unterschiedlicher Art, leichte poetische Kost. Aber immer wieder geht es dabei um das Augenblickliche, und dies in seinem doppelten Sinne: das plötzlich sich Ereignende und das szenisch, bildlich sichtbar Werdende. Geschichten seien dies, so der Alte weiter, „die uns die menschliche Natur und ihre innere Verborgenheiten auf einen Augenblick eröffnen“ (MA 4.1, 453); Geschichten, die Empfindungen behandeln, welche Männer und Frauen verbinden oder entzweien, glücklich machen oder unglücklich; vor allem aber Geschichten, die öfter verwirren als aufgeklärt werden (MA 4.1, 454). Nicht die Einbettung in sinnstiftende Zusammenhänge ist also das Entscheidende, sondern das schiere Geschehen, nicht die rationale oder moralisierende Vermittlung, sondern das Inkommensurable. Die Gestaltung soll das Seltsame, das Unerhörte nicht aufheben, sondern durch sinnliche Vergegenwärtigung festhalten und formen. Der gute Mensch könne in derlei Erzählungen, so der Geistliche, in leichten Widerspruch mit sich selbst geraten, der Zufall möge mit den menschlichen Schwächen und Unzulänglichkeiten spielen, aber man erwarte sich kein Rechthaben, es werde weder Lob noch Tadel geben. Und vor allem, so bedingt sich der Alte aus: „man soll keine meiner Geschichten deuten!“ (MA 4.1, 456) Dann beginnt er zu erzählen. Zuerst berichtet er von jener Sängerin Antonelli und ihrem gespenstischen Liebhaber. Die Geschichte handelt von einem angeblichen Vorfall um die Pariser Schauspielerin Hippolyte Clairon, der 1794 in die vor-

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nehmen Häuser Gothas und Weimars kolportiert wurde und dort eine Zeit lang das Tagesgespräch war. Das Geschehen ist nach Neapel verlagert. Die Künstlerin, hier eben eine Sängerin, wird ihres Liebhabers überdrüssig und verweigert ihm weitere Zusammenkünfte. Er wird vor Kummer krank und stirbt schließlich. Eines Abends, in heiterer Gesellschaft, lässt sich auf einmal „eine klägliche, durchdringende, ängstliche und lange nachtönende Stimme“ vernehmen, ohne dass man hätte sagen können, woher sie kam und wem sie zugehörte. Sie „schien an den Wänden zu verklingen, wie sie aus der Mitte des Zimmers hervorgedrungen war“ (MA 4.1, 462). Die Schöne wird blass und fällt in Ohnmacht. In diesem Zustand tritt sie dem Leser oder Hörer als Bild vor Augen. Man recherchiert nach den Ursachen dieser unerhörten Begebenheit; man schaltet die Polizei ein, sendet Spione, Beobachter aus – ohne Ergebnis. Am nächsten Abend wiederholt sich das Geschehnis und an den folgenden ebenfalls. Hat sich der abgewiesene Liebhaber nach seinem Tode in ein, wie es im Text heißt, „klingendes Gespenst“ (MA 4.1, 464) verwandelt, um sich zu rächen? Der Erzähler verleiht seinem Bericht die Stimme von Augen- und Ohrenzeugen, um die Ereignisse zu beglaubigen; erklärbar werden sie dadurch nicht. Das Gespenst lässt sich mit klagenden oder auch schmetternden Tönen vernehmen. Immer hinterlässt sein Auftritt tableaux mit leichenblass erstarrten Ohnmächtigen. Es erscheint an den entlegensten Orten, gibt schließlich sogar Schüsse durch die Fensterscheibe ab, ohne die Anwesenden dadurch zu verletzen. Schließlich erklingt vor den Fenstern der Sängerin ein lautes Händeklatschen; und dann verwandelt sich der Klang in angenehmere Töne, bis er schließlich ganz endet. „Auch dieser Ton verschwand endlich“, so schließt der Erzähler ohne jeglichen Versuch, das Geschehen verständlich zu machen, „und ließ sich nicht mehr hören, nachdem die ganze wunderbare Geschichte etwa anderthalb Jahre gedauert hatte.“ (MA 4.1, 466) Nur das inkommensurable Faktische steht vor den Augen und klingt in den Ohren. Begreiflich, dass die Zuhörer anfangen, „über die Geschichte zu meinen und zu urteilen“ (MA 4.1, 467). Der Alte selbst, so sagt er, habe Nachforschungen angestellt. Er habe die Haushälterin des verschmähten Liebhabers besucht und diese habe ihm erzählt, dass der Mann bis zuletzt nichts als „das Frauenzimmer“ im Kopf gehabt und sie bald als einen Engel, bald als einen Teufel vorgestellt habe. Erklären kann und soll das nichts. Aber es wird eine Erzähltradition begründet, die des novellistischen Ersichtlichmachens des Unerklärlichen und Paradoxen. ‑ wird sich später, in der Marquise von O., dieses Zugleichs von Engel und Teufel erinnern. Und auch in den Unterhaltungen wird, statt unangemessen und fruchtlos zu deuten, einfach weitererzählt. Statt einer Antwort auf all die aufgeworfenen Fragen folgt eine weitere Rätselgeschichte, die vom unerklärlichen Pochen. Sie wird nicht vom Alten erzählt, stammt also nicht aus seiner Sammlung, sondern wird von Fritz, einem Sohn der Baronesse, zum Besten gegeben. Sie sei hier aus-

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gespart, zeigt aber, wie das hermeneutische Skandalon des Erzählens des Unverständlichen – nichts anderes hatte Schiller gemeint, wenn er davon spricht, dass Goethe mit unserer Auslegungssucht sein Spiel treibe – ästhetisch ansteckend wirkt und aus einer Einzelerzählung in gut novellistischer Art eine Kette von Erzählungen mit Rahmenhandlung werden lässt. Kaum ist die Erzählung vom Pochen, das die Tochter eines Edelmannes zeitweise heimsucht und schließlich ebenso unbegreiflich wieder verschwindet, wie es gekommen ist, verklungen, ereignet sich eine weitere akustische Sensation: Ein Knall lässt sich hören, der auf das Zerbersten eines kostbaren Röntgen-Schreibtisches zurückzuführen ist. Bald stellt sich heraus, dass zu exakt demselben Zeitpunkt im nahegelegenen Lusthaus der Tante ein völlig gleicher Schreibtisch, ein Zwillingsbruder, verbrannt ist (MA 4.1, 470f.). Wer mag da noch nach Erklärungen suchen? Das Faktum selbst oder vielmehr sein erzähltes Bild, die berichtete Szene, tritt anstelle der Kontextualisierung vor Augen und will aufregend wirksam sein, statt beruhigend eingeordnet zu werden. Karl, der Bruder von Fritz, tischt dann im Folgenden die Geschichte des Marschalls von Bassompierre und der schönen Leinwandhändlerin auf.16 Noch einmal wird die alteuropäische Novellentradition zitiert: Die Pest ist, wiederum in Anlehnung an Boccaccios Decamerone, die Ausgangssituation. Im pestverseuchten Paris stellt der Marschall einer schönen Krämerin nach. Er schickt ihr einen Bedienten mit der Bitte um ein Zusammentreffen. Sie lässt ihn daraufhin wissen, dass er ihr keine bessere Neuigkeit habe überbringen können; sie sei bereit, aber „nur unter der Bedingung, dass sie eine Nacht mit [ihm] unter Einer Decke zubringen dürfte“ (MA 4.1, 472). Das Unerhörte, Unerwartete ist hier also – wiederum in die Novellentradition passend, Goethe dekliniert gleichsam ihr Repertoire durch – ein sittlich zweifelhaftes Angebot, noch dazu ausgesprochen von einer Frau. Ihr Wille geschieht. Der Marschall dringt, entzückt, auf eine zweite Nacht. Statt der Geliebten aber findet er das vereinbarte Haus durch Feuer grell erleuchtet. Eine wahrhaft grässliche Szenerie tritt ihm unvermittelt vor Augen, als er in das Haus eindringt. In einem Zimmer wird Bettstroh verbrannt, wie es zur Bekämpfung der Pest üblich ist; zwei nackte Leichen liegen in gleißendem Feuerschein auf einem Tisch. „Endlich zog mich das Verlangen wieder nach der Türe“, berichtet der Erzähler: Ich fand sie offen und eilte den Gang die Treppe hinauf. Aber wie erstaunt war ich, als ich in dem Zimmer ein paar Leute fand, welche Bettstroh verbrannten und bei der Flamme, die das ganze Zimmer erleuchtete, zwei nackte Körper auf dem Tische ausgestreckt sahe. (MA 4.1, 474)

16 Zurückgehend auf des Maréchals de Bassompierre Mémoires, deutsch erschienen in Köln 1666; hier La belle femme lingère.

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Der Marschall zieht sich sofort zurück. Er erfährt trotz anschließender Nachforschungen nicht, was aus der Frau geworden ist, ob sie etwa unter den unbekleideten Leichen war. Die Erzählung bricht bald nach der Schilderung des einen spektakulären Augenblicks ab. Die sich anschließenden Erklärungsversuche der Erzählgemeinschaft bleiben – wiederum – vergebens. Warum wählt Goethe eine solch sonderbare Geschichte aus dem Traditionsbestand aus? Weil sie besonders gut zu jener Poetik des Erzählens zu passen scheint, die der Geistliche zuvor entwickelt hatte? Oder müsste man umgekehrt sagen, jene narratologischen Anleitungen seien nachgerade nach dieser oder jedenfalls nach ähnlichen Geschichten modelliert? Jedenfalls scheint die Bassompierre-Geschichte für Goethe etwas Exemplarisches zu haben: Sie repräsentiert einen Typus jener „kleinen Erzählungen“, von denen im Brief vom 27. November 1794 die Rede ist, und von denen Goethe sagt, dass er Lust zu ihnen habe – gerade weil hier nicht das große Ganze des Romans herrsche. Es folgt noch eine weitere Rätselgeschichte, die von Friedrichs Bruder Karl, ebenfalls unter Berufung auf Bassompierre, erzählt wird. Hier wird ein Schleier von einer betrogenen Frau über die Füße ihres Mannes und seiner Geliebten gebreitet, der bewirkt, dass diese sich von ihm trennt, ihm aber drei wohltätige Gaben für seine drei rechtmäßigen Töchter verehrt: ein kleines Fruchtmaß, einen Ring und einen Becher (MA 4.1, 475). In dieser Geschichte übrigens ist das einzige Mal in den Unterhaltungen von „Ereignis“ die Rede, wenn auch eher beiläufig. Angesprochen werden die ‚glücklichen Ereignisse‘ (ebd.), welche durch jene Gaben später bewirkt worden seien. Dem schließt sich ein erneutes poetologisches Räsonnement an, diesmal von der Baronesse vorgetragen (MA 4.1, 476f.). Sie teilt mit, welche Art von Geschichten sie nicht liebe: diejenigen, bei welchen wie in Tausendundeiner Nacht die eine die andere verdränge, ohne recht in sich gerundet zu sein. Es blieben dann „rhapsodische Rätsel“ (MA 4.1, 476), die die Einheit eines Gedichts vermissen lassen. Das verderbe den Geschmack. Die Kritik passt auf den Modus des Erzählens, die der Geistliche und seine jungen Gefolgsleute bisher geübt hatten. Demgegenüber wird gefordert, dass man „wenigstens an der Form“ sehen möge, „daß wir in guter Gesellschaft sind“. Die Geschichten sollten natürlich und „nicht gemein“ sein; sie sollten „so viel Handlung als unentbehrlich und so viel Gesinnung als nötig“ (ebd.) haben. Es deutet sich an, was dann vom Alten, der, wie nun zu sehen ist, auch anders erzählen kann, vollzogen wird: Es werden fortan Geschichten geboten, in denen sich Gesinnungen entwickeln, in denen sich moralische Wendungen ergeben – die junge Frau nimmt sich den Prokurator nicht zum Liebhaber, sondern zum Vorbild in Enthaltsamkeit; und Ferdinand erkennt das Unrecht seines Diebstahls und versucht, ihn wieder gut zu machen. Nicht der große Augenblick, nicht die

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Szene, die ereignishaft vor Augen tritt, steht im Mittelpunkt, sondern die Szenenfolge, die eine Versittlichung darstellt. Das sind andere, aber nicht, wie man immer wieder gemeint hat, deshalb bessere und in der Folge der Unterhaltungen privilegierte Erzählungen, auch wenn das Zeitgenossen wie Schiller oder Wilhelm von Humboldt so gesehen haben.17 Man hat die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten in die Nähe des Bildungsprogramms von Schillers gleichzeitig entstehenden Briefen über die Ästhetische Erziehung des Menschen rücken wollen oder sie als Alternativentwurf einer Formierung zur Geselligkeit gesehen.18 Aber die ersten der Erzählungen passen ja ersichtlich nicht dazu. Darf man sie deshalb gegenüber den folgenden vernachlässigen? Man tut wohl besser daran, die Unterhaltungen als Experimentierfeld für unterschiedliche Erzählweisen aufzufassen, statt sie ihrerseits in ein Entwicklungsschema mit teleologischer Ausrichtung hin zur Vermittlung ethischer Werte zu pressen. Auch das völlig andersartige Märchen spricht ja dagegen. Und: Die Struktur des Plötzlichen, Unvermittelten, unerwartet und unerklärbar vor die Augen Tretenden, kehrt in Goethes späterer Prosa als novellistische Einsprengsel in Romanen oder auch als Novelle wieder. Die Gestaltung des Ereignisses als Eräugnis, so ließe sich wiederum sagen, hat sich durch die moralischen Geschichten ästhetisch nicht erledigt. Ein abschließender, wenn auch in diesem Rahmen nur summarischer Blick auf die Wahlverwandtschaften und die Novelle Novelle mag dies zeigen.19

3 Das Ereignis in Goethes späterer Prosa. Einige Hinweise Goethes Pläne zu Erzählungen, die komplementär zu den Romanen gedacht waren, setzen sich fort. Am 11. April 1808 findet sich in den Tagebüchern die Notiz: „An den kleinen Erzählungen schematisirt, besonders den Wahlverwandt-

17 Vgl. die Dokumente zur Wirkungsgeschichte in MA 4. 1, 1057. 18 Dazu auch Reiner Wild in seinem Kommentar MA 4. 1, 1044ff. 19 Ich beziehe mich damit zurück auf meinen Aufsatz: Bild versus Geschichte. Zur Funktion des novellistischen Augenblicks in Goethes Romanen. In: Pfotenhauer, Helmut (Hg.): Sprachbilder. Untersuchungen zur Literatur seit dem 18. Jahrhundert. Würzburg 2000, S. 45ff. Vgl. auch Schneider, Helmut J. / Simon, Ralf / Wirtz, Thomas (Hg.): Bildersturm und Bilderflut um 1800. Zur schwierigen Anschaulichkeit der Moderne. Bielefeld 2001.

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schaften und dem Mann von 50 Jahren“.20 Aus dem ersten Projekt wird bekanntlich ein Roman mit novellistischen Zügen und einer darin eingeschlossenen Novelle, den Wunderlichen Nachbarskindern. Das zweite geht als Novelle in den Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre ein. Von den Nachbarskindern wird in den Wahlverwandtschaften berichtet, dass das Wasser sie zuerst auseinander und dann wieder zusammenbringt. Sie, die widerspenstige Braut, stürzt sich in die Fluten; er, der Bräutigam, rettet sie und bringt sie ans Land. „Sich vom Wasser zur Erde, vom Tode zum Leben […] gefunden zu haben, alles in einem Augenblick – der Kopf wäre nicht hinreichend, das zu fassen; er würde zerspringen oder sich verwirren […]“, heißt es resümierend im Text (MA 9, 481). Der Leser, der Goethes kleine Geschichten im Zusammenhang im Blick hat, fühlt sich an den Geistlichen der Unterhaltungen erinnert: In einem Augenblick offenbart sich ihm zufolge in derlei Erzählungen die menschliche Natur in ihren inneren Verborgenheiten; ein Augenblick, der eher Verwirrung stiftet, als dass sein Zusammenhang aufgeklärt werden könnte. Nicht das Feuer ist es hier, sondern die andere Elementarkraft, das Wasser, das den Menschen in solche anthropologische Extremsituationen versetzt. Und immer sind es die Augenblicke, in denen sich das Geschehen konzentriert; immer sind es die Augen, die das Äußerste erblicken, jedoch kaum fassen können. In der komplementären Szene, im dreizehnten Kapitel des zweiten Teils des Romans, ist das Wasser kein rettendes, sondern ein vernichtendes Element. Es ist die Szene, in der sich Ottilie mit Otto, dem Kind ihres Geliebten Eduard und dessen Ehefrau Charlotte, im Kahn auf den See begibt. Eduard glaubt, Charlotte würde „in diesem Augenblick“ (MA 9, 494) vielleicht zugunsten der Liebenden in eine Trennung willigen. Charlotte verweist ihn auf das Kind. Dieses scheint ihm plötzlich der Ehefrau und deren Freund, dem Major, zu gleichen. Es wurde von ihm aber in einer Nacht mit Charlotte gezeugt, in der er, seine Frau im Arm, nur an die geliebte Ottilie dachte. Ottilie korrigiert Eduard: Alle Welt sage, das Kind gleiche ihr. „Wär es möglich?“ versetzte Eduard, und in dem Augenblick schlug das Kind die Augen auf, zwei große, schwarze, durchdringende Augen, tief und freundlich. Der Knabe sah die Welt schon so verständig an; er schien die beiden zu kennen, die vor ihm standen. Eduard warf sich bei dem Kinde nieder, er kniete zweimal vor Ottilien. „Du bist’s!“ rief er aus, „deine Augen sind’s. Ach! Aber laß mich nur in die deinigen schaun […].“ (MA 9, 494f.)

20 Goethe, Johann Wolfgang: Tagebücher. Historisch-kritische Ausgabe. Herausgegeben von Andreas Döhler. Stuttgart 2004, Bd. 3.1, S. 428.

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Alles verwirrt sich in diesem leidenschaftlichen und erinnerungsschwangeren Moment. Ottilie selbst ist für einen Augenblick glücklich. Sie steht „verwirrt und bewegt“ (MA 9, 496). „Die Hoffnung“, heißt es dann in einem berühmten Satz, „fuhr wie ein Stern, der vom Himmel fällt, über ihre Häupter weg.“ Aber es drängt Ottilie doch zu Charlotte. Der Weg führt über den See. „Mit Gedanken ist sie schon drüben, wie mit den Augen“. Sie springt in den Kahn, im linken Arm das Kind, in der rechten Hand das Ruder. Sie verliert das Gleichgewicht. Das Kind stürzt in den See. Als Ottilie es wieder herauszieht, sind seine Augen geschlossen; es hat aufgehört zu atmen. Das Wasser erweist sich als ein „treuloses, unzugängliches Element“. In dem Augenblick kehrt Ottilies „ganze Besonnenheit zurück, aber um desto größer ist ihr Schmerz“. Sie kniet im Kahn „und hebt das erstarrte Kind mit beiden Armen über ihre unschuldige Brust, die an Weiße und leider auch an Kälte dem Marmor gleicht.“ (MA 9, 497) Das Geschehen erstarrt zum schaurigschönen Bild – nicht ganz unähnlich der Leichenschau am Ende der Geschichte des Bassompierre, nur mit ganz anderen semantischen Mitteln. Die Erzähltechnik des szenischen Stillstellens und der augenblicklichen Verdichtung bewährt sich auch hier, an dieser Schlüsselstelle des Romans. Nur dass die Geschichte dann – romanhaft – weitergeht: Der Tod Ottos ist der Anfang vom Ende Eduards und Ottilies. Der andere Eintrag in jener Notiz von 1808 verweist auf den späteren Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre. Der Mann von funfzig Jahren findet sich dort als eine Novelle des zweiten Buches. Der Roman ist erneut Schauplatz der komplementären Erzählweisen. „Parallelgeschichten“ hieß das noch in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (MA 4.1, 496). Die Baronesse hatte dort ihre Vorliebe für diese erklärt.21 Abschließend sei noch kurz – und ausschließlich unter den hier bereits vorgegebenen Prämissen – diejenige Erzählung Goethes beleuchtet, die er erstmals und zum einzigen Male programmatisch als Novelle bezeichnet. Bereits 1797 hatte Goethe mit Schiller den Plan zu einem epischen Gedicht, genannt Die Jagd, besprochen.22 Der Plan wurde wegen Bedenken Schillers und Wilhelm von Humboldts zurückgestellt. Ende 1826, Anfang 1827, also fast 30 Jahre später, wird er dann in Prosa realisiert. Aus dieser Zeit stammt denn auch jene später berühmt gewordene, durch Eckermann mitgeteilte Novellen-Definition Goethes:

21 Zu den Wanderjahren in diesem Zusammenhang verweise ich noch einmal auf meinen Aufsatz: Pfotenhauer: Bild versus Geschichte, S. 60ff. 22 Vgl. die Briefe vom April bis Juni 1797, MA 8.1, 321ff.

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Es kam sodann zur Sprache, welchen Titel man der Novelle geben sollte; wir taten manche Vorschläge, einige waren gut für den Anfang, andere gut für das Ende, doch fand sich keiner, der für das Ganze passend und also der rechte gewesen wäre. ‚Wissen Sie was‘, sagte Goethe, ‚wir wollen es die Novelle nennen; denn was ist die Novelle anders als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit. Dies ist der einzige Begriff, und so Vieles, was in Deutschland unter dem Titel Novelle geht, ist gar keine Novelle, sondern bloß Erzählung oder was Sie sonst wollen. In jenem ursprünglichen Sinne einer unerhörten Begebenheit kommt auch die Novelle in den Wahlverwandtschaften vor.‘ 23

Als der Text 1828 in den Druck geht, besteht Goethe auf der Gattungsbezeichnung: Nicht eine Novelle solle das Werk genannt werden, sondern ganz entschieden nur Novelle (MA 18.1, 1232f.). Trotz der Prägnanz der dazugehörigen Goethe’schen Definition wird aber bei deren Wiedergabe in den zahllosen Veröffentlichungen zur deutschen Novellistik seither fast immer einer ihrer wesentlichen Bestandteile unterschlagen. Es handle sich um eine „sich ereignete unerhörte Begebenheit“, betont Goethe, also eine unerhörte Begebenheit, die sich ereignet hat. Stets wird jedoch nur von der „unerhörten Begebenheit“ gesprochen. In unserem Zusammenhang indes wird klar, warum jener Zusatz wichtig ist: Im Begriff des Sich-Ereignens, des Ereignisses, steckt eben wiederum der des Eräugnisses und damit der Hinweis auf die narrative Gestaltung des augenblicklich Sichtbaren. Ein erstes solches Ereignis ist in dieser Jagdnovelle ein erlegter Tiger. Er war nach einem Brand aus den Jahrmarktsbuden der Residenz ausgebrochen und schien im Wald die ausreitende Fürstin mit ihrem Ritter Honorio zu bedrohen. Dieser erschießt das „Ungeheuer“ (MA 18.1, 366) mit seiner Pistole und widmet das Fell seiner Herrin. „Es würde mich immer an diesen schrecklichen Augenblick erinnern“, versetzt diese abwehrend. Nachdem eine Schaustellerin den Tod des Tieres beklagt hat und versichert, dass es zahm gewesen sei, erscheint der Fürst mit seinem Jagdgefolge.24 Nach dem ersten Erkennen verstummte man, und nach einigem Erholen ward, was der Anblick nicht selbst ergab, mit einigen Worten erläutert. So stand der Fürst vor dem seltsamen, unerhörten Ereignis, einen Kreis umher von Reitern und Nacheilenden zu Fuße. (MA 18.1, 369)

23 Eckermanns Bericht vom 29. Januar 1797, MA 19, 203. 24 Vgl. dazu auch, allerdings mit anderer Akzentuierung, meinen Aufsatz: Erzählte Löwen. Novellen als Schauplatz unseres inneren Afrika. In: Günther, Frederike Felicitas / Robert, Jörg (Hg.): Poetik des Wilden. Festschrift für Wolfgang Riedel. Würzburg 2012, S. 325ff.

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Die Definition wird also in der Erzählung selbst wörtlich zitiert. Der Akzent liegt auf dem Wort „Ereignis“. Es stellt sich daraufhin heraus, dass auch der Löwe aus der Menagerie ausgebrochen ist. Der Schausteller und sein Sohn bekräftigen die Ungefährlichkeit auch dieses Tieres. Vater und Sohn stimmen ein Lied an, um den Löwen zu besänftigen. Honorio sitzt dabei, „als wie zu jedem Ereignis gefaßt“ (MA 18.1, 374). Die novellistischen Signalwörter häufen sich. Aber der Schrecken und die Verwirrung legen sich. Das Tier lässt sich von dem Kind, ohne Unheil anzurichten, einen Dornzweig aus der Vordertatze ziehen. Das ist das endgültige Zeichen dafür, dass es keine Bestie ist. Der Löwe ist durch das Lied und die Musik befriedet. Haben die Menschen ihre eigene innere Natur in deren Verborgenheit, ihr eigenes „inneres Afrika“, wie Jean Paul an anderer Stelle sagt,25 in das Tier nur hineingesehen? In Goethes ironischen Worten scheint das anzuklingen: Ist es möglich, daß man in den Zügen eines so grimmigen Geschöpfes, des Tyrannen der Wälder, des Despoten des Thierreiches, einen Ausdruck von Freundlichkeit, von dankbarer Zufriedenheit habe spüren können so geschah es hier, und wirklich sah das Kind in seiner Verklärung aus wie ein mächtiger, siegreicher Ueberwinder, jener zwar nicht wie der Ueberwundene, denn seine Kraft blieb ihm verborgen, aber doch wie der Gezähmte, wie der dem eigenen friedlichen Willen anheimgegebene. Das Kind flötete und sang so weiter […]. (MA 18.1, 376)

Goethes letzter großer novellistischer Text vereint das Ungeheure des Augenblicks und die Erzählung von der Versittlichung und Humanisierung, die in der frühen Sammlung von Geschichten noch auseinandergefallen waren, und macht aus dem Experimentierfeld des Erzählens erst die eine Erzählung. Die erst nennt er Novelle.

25 Jean Paul: Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele. In: ders.: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Norbert Miller. München 1975, Bd. I.6., S. 1182.

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4 Epilog Mehr als hundert Jahre später – 1900 – greift ein anderer Autor Goethes Adaptation der Geschichte des Marschalls von Bassompierre noch einmal auf: Hugo von Hofmannsthal. Er zitiert aus den Unterhaltungen, aber er gestaltet die Erzählung auch aus. Im Mittelpunkt dieser Erweiterungen stehen Ereignisse als „Eräugnisse“ – die großen Augenblicke, in denen sich die Liebenden gegenüberstehen, und die Augen der Geliebten.26 Beim ersten intimen Stelldichein bleibt der Marschall zuerst einen Augenblick in der Türe stehen: Das Kaminfeuer erleuchtet die Szenerie. Er genießt den Anblick der jungen Frau, die mit großen Augen ruhig in die Flammen sieht. Und diese Orgie von Blicken und Augenblicken setzt sich nun fort. Strahlende Hingabe ist es, die aus den weit aufgerissenen Augen der Frau strömt.27 Sie entzieht sich ihm mit einer unbeschreiblich lebendigen Eindringlichkeit des Blickes und der Stimme. Im nächsten Augenblick aber fühlt er sich von ihr umschlungen. Mehr noch mit dem „empordrängenden Blick der unerschöpflichen Augen“ als mit den Lippen und Armen haftet sie an ihm.28 Und so fort. Immer da, wo Hofmannsthal über Goethes Text hinausgeht, ist es ein Schwelgen in solchen Ereignissen der Sichtbarkeit. Hofmannsthal scheint Goethe und dessen Lust an solchen Geschichten des Eräugnisses verstanden zu haben. Sein Erzählen macht sich dieses novellistische Prinzip überschwänglich fast zu eigen.

26 Hofmannsthal, Hugo von: Erzählungen – erfundene Gespräche und Briefe – Reisen. In: ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Herausgegeben von Bernd Schoeller. Frankfurt a. M. 1979, S. 132ff. 27 Ebd., S. 133. Sie entzieht sich ihm „mit einer unbeschreiblich lebenden Eindringlichkeit“. 28 Ebd., S. 134.

Linda Simonis

Literarische Texte als Gründungsereignisse Friedrich Nietzsche und Max Jacob

1 Äußerung, Text, Ereignis: begriffliche und methodische Vorüberlegungen Texte als Ereignisse zu verstehen, wie es der Titel des vorliegenden Bandes vorschlägt, ist nicht selbstverständlich. Denn Texte begegnen uns für gewöhnlich zunächst als materielle, gegenständliche Objekte, als beschriebenes oder bedrucktes Papier oder als Buch, als Dinge, die man anfassen kann. Als solche präsentieren sie sich zunächst als fixierte, gleichsam statische Gebilde, denen wenig Ereignishaftes eigen zu sein scheint. Bücher, die im Regal stehen, Papiere, die auf dem Tisch oder im Archiv liegen, sind keine Ereignisse. Als reglose Objekte scheinen sie eher in Differenz, wenn nicht geradezu im Gegensatz zu der Punktualität und Instantaneität des Ereignisses zu stehen. Solche „Wortdinge“,1 als die man Texte betrachten könnte, können freilich Ereignisse hervorrufen, wenn man mit ihnen zu hantieren beginnt, etwa wenn ich das Buch aus dem Fenster werfe und es einen zufällig vorbeigehenden Passanten trifft. Doch wer so argumentiert, stellt sich in gewisser Weise naiv. Die oben genannten Attribute des Gegenständlichen und Dinghaften bezeichnen nur die eine Seite dessen, was die Eigenart von Texten, insbesondere literarischen Texten, ausmacht. Letztere, so könnte man argumentieren, sind dann wirksam und kommen dann zur Geltung, wenn sie geschrieben oder gelesen werden. Es käme also darauf an, Texte in ihrem Vollzug, in actu, zu studieren. In dieser Perspektive tritt ein dynamisches Moment der Texte hervor, das auf eine mögliche Nähe und Affinität zum Ereignis verweist. Doch worin besteht diese Ereignishaftigkeit und wie lässt sie sich konzeptionell erfassen? Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass sich eine ganze Reihe theoretischer Ansätze der Literatur- und Kulturwissenschaft, insbesondere in den neueren Debatten, für die Ereignishaftigkeit von Texten interessiert und mitunter sogar die spezifische Eigenart von Texten aus dieser Dimension zu erschließen sucht. Als Theoretiker, die sich mit dem Ereignis bzw. dem Ereignishaften

1 Zanetti, Sandro (Hg.): Wortdinge / Words as Things / Mots-choses. In: Figurationen 14(2) (2013). http://figurationen.ch/hefte/wortdinge-wordsasthings-motschoses/ (9. März 2017). DOI 10.1515/9783110541854-013

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beschäftigt haben, sind beispielsweise Jacques Derrida und Niklas Luhmann zu nennen; aber auch Gilles Deleuze und Bruno Latour bieten aufschlussreiche Bezugspunkte, die sich für eine theoretische Beschreibung von Texten als Ereignissen fruchtbar machen ließen. Als theoretischen Ausgangspunkt meiner Überlegungen möchte ich im Folgenden den Ansatz Michel Foucaults wählen. Dieser erscheint mir besonders geeignet, in Verbindung mit der Ereignisdimension das Verhältnis von einzelnem Textereignis und größeren (diskursiven und institutionellen) Kontexten zu beleuchten, das vor allem im Zusammenhang der hier interessierenden Aspekte der Gründung und Erneuerung von Bedeutung ist. Aus dem breiten Spektrum der Arbeiten Foucaults greife ich dabei näherhin ein Element auf, das dazu dienen kann, den Status des Textes als Ereignis zu präzisieren. Ich beziehe mich auf den Begriff des Ereignisses, den Foucault in der Archéologie du savoir für sprachliche Äußerungen entwickelt hat.2 Der Begriff der Äußerung (énoncé), wie ihn Foucault versteht, kann sich dabei sowohl auf mündliche als auch auf schriftliche Äußerungen beziehen. Das Konzept der Äußerung geht somit von der Annahme aus, dass Texte kommunikative Ereignisse sind, die in unterschiedliche Rezeptionsund Diskussionszusammenhänge eintreten können. In der damit skizzierten Perspektive, wie sie der wissensarchäologische Ansatz Foucaults eröffnet, erweist sich das Auftauchen von Äußerungen als ein radikal kontingentes Geschehen,3 das sich weder auf die bewussten Intentionen eines Subjekts noch auf eine Teleologie geschichtlicher Prozesse zurückführen lässt. Dabei sind die solcherart auftauchenden sprachlichen bzw. textuellen Ereignisse durch ein eigentümliches Spannungsverhältnis charakterisiert: denn ungeachtet ihrer spontanen Emergenz ist der Raum, in den sie eintreten, kein offener, unbestimmter, sondern ein Raum, der der Ordnung der Institution angehört4 und als solcher durch Mechanismen der Auswahl und Begrenzung des Sagbaren bestimmt ist.5 Textuelle Äußerungen sind, anders gesagt, immer schon Teil

2 Vgl. Foucault, Michel: L’Archéologie du savoir. Paris 1969. Zum Zusammenhang von Äußerung und Ereignis bei Foucault siehe auch die Beiträge von Klaus-Michael Bogdal und Achim Geisenhanslüke in diesem Band. 3 Vgl. Kneer, Georg: Struktur und Ereignis bei Jürgen Habermas und Michel Foucault. In: ders. / Greshoff, Rainer (Hg.): Struktur und Ereignis in theorievergleichender Perspektive. Ein diskursives Buchprojekt. Wiesbaden 1999, S. 51–70, hier S. 63f. 4 Vgl. Foucault: L’Archéologie du savoir, S. 136. 5 Vgl. Blänkner, Reinhard / Jussen, Bernhard: Institutionen und Ereignis. Anfragen an zwei alt gewordene geschichtswissenschaftliche Kategorien. In: dies. (Hg.): Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens. Göttingen 1998, S. 9–16, hier S. 14–15.



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von Diskursen oder diskursiven Formationen, denen sie sich einschreiben oder von denen sie aufgesogen werden. Vor diesem Hintergrund möchte sich der folgende Beitrag textuellen Ereignissen zuwenden, in denen jenes Spannungsverhältnis von Spontanität und Institution, das die Äußerung im Foucault’schen Sinne charakterisiert, eine besonders markante Form annimmt. Es geht, genauer gesagt, um Äußerungen, die, obgleich sie aus institutionell bedingten und d. h. durch Machtkonstellationen geprägten Kontexten hervorgehen, ein spezifisches Potenzial der Veränderung und Erneuerung erkennen lassen. Jenen Äußerungen scheint eine Fähigkeit des ,Anfangenkönnens‘ eigen zu sein, die sie in Stand setzt, eine Operation zu vollziehen, die sich ex post als Intervention in die gegebene diskursive Landschaft darstellt und sich damit zugleich als Ereignis im genuinen Sinn, als Figur der Gründung und des Neubeginns erweist. Die folgenden Ausführungen nehmen das spezifische Profil und die Funktionsweise solcher Gründungsereignisse anhand von zwei Fallbeispielen in den Blick, die in gewisser Hinsicht als paradigmatisch gelten können: Friedrich Nietzsche und Max Jacob. In dem zuerst genannten Fall, bei Nietzsche, werden wir uns insbesondere auf einen bestimmten werkgeschichtlichen Moment, den Auftakt der mittleren Schaffensperiode konzentrieren, die mit den aphoristischen Schriften, der Morgenröthe (1881) und vor allem der Fröhlichen Wissenschaft (1882) ihren Einsatz nimmt. Ist die Vorstellung von Nietzsche als einem radikalen Denker und Neuerer6 mittlerweile zu einem Topos der Philosophiegeschichte geworden, so dass es einleuchten mag, ihn bzw. seine Texte als Agentur oder Vehikel einer tiefgreifenden Renovatio aufzufassen, ist dies im Falle Max Jacobs weniger offensichtlich. Bei Jacob scheint das Ereignis, um das es hier gehen soll, seine ‚Bekehrung‘, auf den ersten Blick eher dazu angetan, die Übernahme und Wiederholung einer vertrauten Konvention, den Eintritt unter das Dach der kirchlichen Institution ins Werk zu setzen. Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass sich bei Jacob ein eigener, nahezu idiosynkratischer Umgang mit der Figur der conversio beobachten lässt. Dabei wirkt sie, wie zu zeigen sein wird, nicht nur als eine lebensgeschichtliche Zäsur, die eine ‚Reform des Lebens‘ initiiert, sondern überdies auch als ein werkgeschichtlicher Einschnitt und Einsatzpunkt einer poetologischen Erneuerung. Die in der Folge zu untersuchenden Texte Nietzsches und Jacobs kommen nicht zuletzt darin überein, dass sie in doppelter Hinsicht auf die Dimension

6 Vgl. Deleuze, Gilles: Nietzsche et la philosophie. Paris 1962, S. 6–11, sowie Ottmann, Henning: Philosophie und Politik bei Nietzsche. Berlin / New York 1999, S. 309.

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des Ereignisses Bezug nehmen. Zum einen machen sie ein Ereignis zum Thema, das sie zu beschreiben und zu reflektieren versuchen. Zum anderen werden sie, indem sie die Ereignishaftigkeit des dargestellten Geschehens ausstellen und inszenieren, selbst zum Ereignis – sie präsentieren sich selbst als Moment des Unvermittelten, als Einschnitt und plötzliche Wende. Das Ereignis ist hier also sowohl etwas Thematisches als auch die Figur des Textes selbst, die Art und Weise seines Erscheinens. Im Zusammenhang dieser doppelten Ereignisdimension verdient eine weitere Eigenart der zu diskutierenden Texte nähere Aufmerksamkeit: deren spezifische Rhetorik und performative Verfasstheit. Erst im Rekurs auf bestimmte sprachliche und rhetorische Verfahrensweisen gewinnen jene Texte ihre Wirkungskraft, die ihnen den Ausdruck radikaler Ereignishaftigkeit verleiht. Es lohnt sich also, diese rhetorischen Elemente in den folgenden Analysen der Texte näher in den Blick zu nehmen.

2 Krankheit als Medium der Erneuerung – Friedrich Nietzsche Im August 1882 erschien im Verlag von Ernst Schmeitzner in Chemnitz ein Buch, auf dessen Cover in großen Lettern der Titel Die fröhliche Wissenschaft zu lesen war. Darunter stand, kleiner gedruckt, ein Name, der zu jener Zeit wohl den wenigsten potentiellen Käufern des Buchs bekannt gewesen sein dürfte: Friedrich Nietzsche. Eher schon war der Name des Verlegers Ernst Schmeitzner ein Begriff, mit dem sich eine gewisse Bekanntheit verband und der internationale Wirkung versprach, wie die zahlreichen, auf dem Titelblatt angeführten internationalen Dependenzen des Verlags: Paris, St. Petersburg, Rom, New York und London bekundeten.7 Steht somit schon der unscheinbare, nahezu unbekannte Verfassername in einer auffälligen Diskrepanz zu dem anvisierten Wirkungskreis des „Weltverlags“ Schmeitzner,8 so gilt dies umso mehr für das Geschehen der Publikation, bei dem es fraglich erscheint, ob man hier überhaupt von einem Ereignis oder Textereignis sprechen kann. Jedenfalls lässt die Veröffentlichung zunächst einmal jene Attribute der Durchschlagskraft und Resonanz vermissen,

7 Vgl. Eichberg, Ralf: Freunde, Jünger und Herausgeber. Zur Geschichte der ersten Nietzsche-Editionen. Frankfurt a. M. 2009, S. 35–36. Eine Abbildung des Titelblatts findet sich unter: https:// commons.wikimedia.org/wiki/File:FW82.jpg?uselang=de (8. März 2017). 8 Ebd., S. 35.



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die man mit einem Ereignis im starken Sinne verbindet. Das Auftauchen der Fröhlichen Wissenschaft in den Auslagen des Buchhandels hatte wenig Ereignishaftes: Das Buch fand nur wenige Käufer und vermutlich noch weniger Leser. Dieser Situation ausbleibender Wirkung vermochte auch der Umstand kaum abzuhelfen, dass der Verfasser „trotz (oder vielmehr auch wegen) der miserablen Verkaufszahlen“ schon bald, im Herbst 1885, eine zweite Auflage seines Werks vorzubereiten begann.9 Wie lässt sich das hier skizzierte Phänomen der Erstpublikation der Fröhlichen Wissenschaft und ihrer fehlenden bzw. nur eingeschränkten Ereignishaftigkeit aus der Perspektive des eingangs vorgestellten Foucault’schen Ansatzes beschreiben? Betrachtet man die Veröffentlichung als eine Äußerung (énoncé) im Sinne Foucaults, so haben wir es offenbar mit einer Äußerung zu tun, die nicht in den Diskurs ihrer Zeit Eingang findet. In Relation zu den einschlägigen Diskursformationen bleibt sie gewissermaßen außen vor, diesseits der Schwelle signifikanter Wahrnehmung und öffentlicher Aufmerksamkeit. Wie es scheint, bedarf es hier nicht einmal jener Mechanismen des Ausschlusses und der Verknappung, die Foucault als Prozeduren der Einschränkung und Disziplinierung der Rede herausgearbeitet hat;10 es ist vielmehr der schlichte Umstand der Nichtbeachtung und des Übersehenwerdens, der verhindert, dass Nietzsches Text zu einem Ereignis von größerer Wirkung und Tragweite werden kann. Die Fröhliche Wissenschaft gelangt also bei ihrem ersten Erscheinen gar nicht erst in die Position, als Herausforderung oder gar Gefahr der etablierten diskursiven Ordnung aufzutreten. Der Ansatz Foucaults erlaubt es, eine mögliche Erklärung für diese eigentümliche Außenstellung von Nietzsches Text zu geben und ein Stück weit zu erläutern, warum er in der diskursiven Landschaft seiner Zeit keinen Platz findet. Denn welchem Äußerungsregime oder Diskurs, so wäre aus dem Blickpunkt der Archäologie des Wissens zu fragen, könnte er sich einschreiben? Dem damaligen philosophischen Diskurs gegenüber musste dieser Text als ein Fremdkörper erscheinen, da er sich keinem der bestimmenden philosophischen Systeme der Zeit zuordnen ließ und überdies in einer Sprache verfasst war, die sich der Begrifflichkeit der akademischen Philosophie geradezu entge-

9 Kaufmann, Sebastian: „Die letzte Entscheidung über den Text zwingt zum scrupulösesten ,Hören‘ von Wort und Satz“. Textgenese und Druckgeschichte der Fröhlichen Wissenschaft. In: Benne, Christian / Georg, Jutta (Hg.): Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. Berlin / Boston 2015, S. 7–18, hier S. 13. 10 Vgl. Foucault, Michel: L’ordre du discours. Leçon inaugurale au Collège de France prononcée le 2 décembre 1970. Paris 1971, S. 12–19.

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gensetzte. Ebenso wenig konnte er einer (anderen) wissenschaftlichen Disziplin angehören; schon der programmatische Gestus des ‚großen Wurfs‘, mit dem die Fröhliche Wissenschaft auftritt, lag quer zum Selbstverständnis der sich zunehmend spezialisierenden und mehr und mehr vom Leitbild empirischer Forschung bestimmten Wissenschaften des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Auch in den literarischen Diskurs der Zeit passte die Äußerung dieses Textes schließlich nicht recht; auch hier erschien sie als ein idiosynkratisches und sonderbar hybrides Wesen, das sich in die geläufigen Klassifikationen der zeitgenössischen Belletristik nicht einfügen ließ. Foucaults Konzepte der Äußerung, des Diskurses und ihrer Regularien sind unterdessen nicht nur geeignet zu erklären, inwiefern die Fröhliche Wissenschaft aus dem unmittelbaren Rezeptionskontext ihrer Zeit herausfällt. Sie können auch einen ersten Hinweis geben, wie ein Text, der zunächst wirkungs- und folgenlos bleibt, zu einem späteren Zeitpunkt doch noch zu einem wirkungsmächtigen énoncé werden kann, d. h., im Blick auf unseren Fall, wie es doch noch zu dem „Ereignis Nietzsche“11 kommen konnte. Eine zunächst übersehene oder vergessene Äußerung kann zu einer späteren Zeit wieder aufgenommen, reaktualisiert werden und dann in eine nunmehr veränderte Diskurskonstellation eintreten, in der sie womöglich günstigere Bedingungen und ein geeigneteres Umfeld vorfindet, um ihre Wirkung zu entfalten. Als ein solcher Wiedereintritt des énoncé in den Diskurs lassen sich die verschiedenen, vielfältigen Stationen der Rezeption beschreiben, die Nietzsches Texte im 20. Jahrhundert erfahren haben, etwa im Umkreis der um 1900 aufkommenden Diskussionen um Kultur und Kulturphilosophie,12 im Kontext der Projekte der literarischen und künstlerischen Avantgarden,13 sodann, in ideologischer Verzerrung, in propagandistischen Schriften des Nationalsozialismus14 und schließlich, seit den 1960er Jahren, in den Kreisen französischer Philosophie und Kulturtheorie.15 Damit es zu einer solchen wirkmächtigen Reaktualisierung des Textes bzw. seiner Äußerung kommen kann, muss freilich noch ein weiteres Moment hinzukommen: eine bestimmte interne Verfasstheit und sprachliche Komposition, die den Text dazu disponiert, sich im gegebenen Fall als nachdrückliche, wirkungsvolle Äußerung zu erweisen, die zum Ereignis werden kann. Um diese textimma-

11 Vgl. Schmidt, Hermann Josef: Das Ereignis Nietzsche. Dortmund 1992. 12 Vgl. etwa Simmel, Georg: Schopenhauer und Nietzsche. Leipzig 1907. 13 Vgl. Hillebrand, Bruno: Nietzsche. Wie ihn die Dichter sahen. Göttingen 2000, S. 112–115. 14 Vgl. Langreder, Hans: Die Auseinandersetzung mit Nietzsche im Dritten Reich. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte Nietzsches. Kiel 1971 (Diss.). 15 Vgl. Pornschlegel, Clemens / Stingelin, Martin (Hg.): Nietzsche und Frankreich. Berlin / New York 2009.



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nente Dimension in den Blick zu rücken, ist es nützlich, die diskursanalytische Betrachtung durch eine Analyse der Rhetorik von Nietzsches Text zu ergänzen. Schauen wir uns also Sprache und Stil der Fröhlichen Wissenschaft genauer an: Dies ganze Buch ist eben Nichts als eine Lustbarkeit nach langer Entbehrung und Ohnmacht, das Frohlocken der wiederkehrenden Kraft, des neu erwachten Glaubens an ein Morgen und Uebermorgen, des plötzlichen Gefühls und Vorgefühls von Zukunft, von nahen Abenteuern, von wieder offenen Meeren, von wieder erlaubten, wieder geglaubten Zielen.16

Die zitierte Stelle, die Nietzsches zweiter Vorrede zur Fröhlichen Wissenschaft entnommen ist, bietet eine Selbstbeschreibung, die als Charakteristik eines Buchs, eines literarischen bzw. philosophischen Texts, ungewöhnlich erscheint. Das, was dieses Buch ausmacht, wird emphatisch als ein Erlebnis, als Erfahrung eines unvermittelten und unerwarteten Ereignisses präsentiert. Das Ereignis, das hier umrissen wird, ist ein Gründungsereignis: Es geht, wie das Bild des offenen Meeres anzeigt, um die Ankunft von etwas Neuem, einer neuen Haltung oder Perspektive des Denkens und Erkennens. Dabei ist auffällig, dass sich jenes Ereignis hier nicht, wie es der Vorstellung von Nietzsche als philosophischem Neuerer entspräche, als Handlung oder Tat eines Subjekts präsentiert. Es erscheint vielmehr im Modus des passiven Erlebens, als etwas, das sich gleichsam ohne Zutun des Subjekts bzw. Autors vollzieht, so als ob das Buch sich selbst schreiben würde bzw. geschrieben hätte. Dieser Vorstellung des Textes als eines Ereignisses, das den Schreibenden überkommt, über ihn hereinbricht, entspricht auch die Metaphorik der Naturvorgänge, die die Vorrede im gleichen Abschnitt evoziert: Es scheint in der Sprache des Thauwinds geschrieben: es ist Uebermuth, Unruhe, Widerspruch, Aprilwetter darin, so dass man beständig ebenso an die Nähe des Winters als an den Sieg über den Winter gemahnt wird, der kommt, kommen muss, vielleicht schon gekommen ist…17

In die gleiche Richtung eines unvermittelten, eigendynamischen Auftauchens des Textes, dessen Genese einer aktiven Tätigkeit des Autors kaum noch bedarf, deutet zudem die Motivik von Krankheit und Genesung die Nietzsche im gleichen

16 Nietzsche, Friedrich: Die Fröhliche Wissenschaft. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1988. Bd. 3, S. 346. Auf diese Ausgabe verweist im Folgenden die Sigle KSA. 17 KSA, Bd. 3, S. 345.

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Zuge beschwört: „Die Dankbarkeit strömt fortwährend aus, als ob eben das Unerwartetste geschehn sei, die Dankbarkeit eines Genesenden, –denn die Genesung war dieses Unerwartetste“.18 Das Neue stellt sich also, wie es scheint, gewissermaßen von selbst ein. Ganz so einfach und eindeutig ist es jedoch nicht. Der Eindruck einer gleichsam von selbst sich vollziehenden Genesung, die der Denkende bloß zu erleben und zu empfangen brauche, ist trügerisch. Nietzsche betont vielmehr, dass die gewünschte Genesung nur als Folge eines vorangehenden Aktes der Anstrengung zu erreichen sei und gleichsam aus einer intensiven Arbeit des Denkenden hervorgehe. Die Mühen dieses Akts der Vorbereitung stellt die Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft programmatisch heraus: „Fröhliche Wissenschaft“: das bedeutet die Saturnalien eines Geistes, der einem furchtbaren langen Drucke geduldig widerstanden hat – geduldig, streng, kalt, ohne sich zu unterwerfen, aber ohne Hoffnung –, und der jetzt mit Einem Male von der Hoffnung angefallen wird, von der Hoffnung auf Gesundheit, von der Trunkenheit der Genesung.19

Die Übungen, denen sich das denkende Ich im Vorfeld der Erneuerung unterziehen muss, werden hier vor allem als eine Form des Widerstands aufgefasst, der dabei keineswegs als eine nur passive Resistenz, sondern als eine aktive, alle Kräfte des Subjekts mobilisierende Form des Gegenhaltens erscheint. Auf die Mühen der Hervorbringung des Werks verweist auch die Metaphorik von Schwangerschaft und Geburt, in der Nietzsche in seinem Selbstkommentar in Ecce Homo die Entstehung des Zarathustra-Projekts umschreibt:20 Rechne ich dagegen von jenem Tage [gemeint ist der Zeitpunkt der ersten Idee des Zarathustraprojekts] an vorwärts, bis zur plötzlichen und unter den unwahrscheinlichsten Verhältnissen eintretenden Niederkunft im Februar 1883 […] so ergeben sich achtzehn Monate für die Schwangerschaft. Diese Zahl gerade von achtzehn Monaten dürfte den Gedanken nahelegen, unter Buddhisten wenigstens, dass ich im Grunde ein Elephanten-Weibchen bin.

Der Prozess der Hervorbringung des Neuen stellt sich also in den Selbstbeschreibungen Nietzsches als eine eigentümliche Verschränkung von Erleben und Handeln dar. Die Ankunft des Werks erscheint als ein Ereignis, das zwar gewünscht und durch geduldiges Aushalten vorbereitet, aber nicht erwartet oder

18 Ebd. 19 Ebd. (Hervorhebung im Original) 20 KSA, Bd. 6, S. 335–336.



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durch strategisches Kalkül herbeigeführt werden kann. Es überkommt den Autor als etwas gänzlich Unwahrscheinliches und Unerwartetes. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Nietzsche für sein Projekt einer Erneuerung des Denkens auf eine Figur zurückgreift, die in eigentümlicher Weise zwischen Erleben und Handeln, passiver Empfänglichkeit und aktivem Tun changiert: die Fröhlichkeit und das Lachen. Die aktive Seite dieses Geschehens besteht vor allem in einem Widerstand gegen den Ernst, zu dem Nietzsche in einem Aphorismus des Vierten Buchs programmatisch aufruft: Der Intellect ist bei den Allermeisten eine schwerfällige, finstere und knarrende Maschine, welche übel in Gang zu bringen ist: sie nennen es „die Sache ernst nehmen“, wenn sie mit dieser Maschine arbeiten und gut denken wollen. […] Und „wo Lachen und Fröhlichkeit ist, da taugt das Denken Nichts“: – so lautet das Vorurtheil […] gegen alle „fröhliche Wissenschaft“. – Wohlan! Zeigen wir, dass es ein Vorurtheil ist!21

Lachen und Fröhlichkeit bilden hier zunächst ein Gegenprogramm, das Nietzsche in ironischem Einspruch einer verbreiteten, jedoch aus seiner Sicht fehlgehenden Auffassung und Handhabung des Denkens entgegenhält. Der Ernst, den Nietzsche somit zurückweist, bezeichnet dabei nicht nur eine Meinung oder theoretische Konzeption, sondern vielmehr einen intellektuellen Habitus, der als solcher zugleich auf die Praxis und den Vollzug des Denkens zurückwirkt. Wer den Intellekt und dessen Tätigkeit im Zeichen des Ernstes begreift, wird auch, so der Tenor der zitierten Stelle, nicht anders als in diesem Modus denken können. Er liefert sich bzw. sein Denken jener „finsteren und knarrenden Maschine“ aus, gegen die Nietzsche das Lachen und die Fröhlichkeit aufzubieten sucht. Lachen und Frohsinn stellen für Nietzsche das Medium bereit, in der Mechanik des Intellekts diesen anderen Gang und neuen Elan hervorzubringen. Hier zeigt sich eine weitere Nuancierung, die Nietzsche gegenüber hergebrachten Vorstellungen des Intellekts vornimmt. Mit der Aufforderung zur Fröhlichkeit bringt er ein Moment des Affektiven zur Geltung, das als Voraussetzung, ja als integrales Element des anvisierten Denk- und Erkenntnisprozesses fungiert. Der Affekt steht so für Nietzsche nicht im Gegensatz zum Intellekt. Dieser kann vielmehr – insbesondere wenn es sich um einen positiven Affekt wie den der Fröhlichkeit handelt – darauf hinwirken, die Produktivität des Denkens anzuregen und zu stärken. Die Fröhlichkeit, die sich im Lachen ausdrückt, erhält für Nietzsche von daher auch den Status eines Heilmittels, einer Arznei, durch die sich der Denkende von den lähmenden, die intellektuelle Tätigkeit hemmenden Wirkungen des Ernstes zu befreien vermag. Der Habitus der Fröhlichkeit, für den Nietzsche

21 KSA, Bd. 3, Nr. 327, S. 555. (Hervorhebung im Original)

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plädiert, bestimmt dabei zunächst, jedoch nicht nur das Verhältnis des Philosophen zu sich selbst, zu seiner körperlichen und geistigen Befindlichkeit. In ihm manifestiert sich überdies eine spezifische Positionierung gegenüber der Tradition, gegenüber etablierten Konventionen des Denkens und Wissens. Nietzsches Plädoyer für den Frohsinn ist nicht zuletzt ein Einspruch gegen jenen ‚Geist der Schwere‘, der aus seiner Sicht die geläufige Auffassung des Denkens und den bisher vorherrschenden Gang seiner Geschichte bestimmt hat. Als Gegenmittel gegen diesen Ernst der Philosophie und Wissenschaft erhebt Nietzsche die gaya scienza, das frohe oder heitere Wissen, wobei er diesen Begriff der provenzalischen Sprache der mittelalterlichen Troubadors entlehnt und damit, wie er im Rückblick in Ecce Homo notiert, an „jene Einheit von Sänger, Ritter und Freigeist“ erinnert,22 die ihm in der Gestalt des Troubadour exemplarisch ausgeprägt erscheint. Der Eindruck des Ereignischarakters von Erneuerung und Ermächtigung, der sich den Lesern der Fröhlichen Wissenschaft aufdrängt, verdankt sich nicht zuletzt einer spezifischen Rhetorik des Textes, die dem Buch zumindest stellenweise den Charakter einer Programmschrift, eines Manifests verleiht. Zu dieser Rhetorik gehört zum einen die Einführung eines emphatischen Wir, das als fiktives Kollektivsubjekt als Träger der Gründungs- und Erneuerungsbewegung unterstellt wird, zum anderen eine spezifische literarische Bildlichkeit. Die Befreiung vom passiven Zustand des Ernstes artikuliert sich nicht zufällig, wie wir eingangs beobachtet haben, in einer räumlichen Metaphorik sich öffnender neuer Ausblicke und Horizonte des Denkens. In dem Maße, in dem der Denkende aus der Herrschaft des Ernstes heraustritt, ist er zugleich bereit, sich auf das Wagnis einzulassen, jene unbekannten Räume eines neuen Denkens zu erkunden. Die gleiche Metaphorik der Öffnung und Ausweitung des Horizonts findet sich bezeichnender Weise auch an einer anderen Stelle der Fröhlichen Wissenschaft (Fünftes Buch, Nr. 343), in jenem Passus, der die Reaktion des philosophischen Freigeists auf die Nachricht vom Tod Gottes umreißt. Die Wahrnehmung dieses Ereignisses koinzidiert dort mit einer über den Philosophen hereinbrechenden Stimmung der Heiterkeit, die im Bild einer Fahrt hinaus aufs offene Meer umschrieben wird: Stehen wir vielleicht zu sehr noch unter den nächsten Folgen dieses Ereignisses – und diese nächsten Folgen, seine Folgen für uns sind, umgekehrt als man vielleicht erwarten könnte,

22 KSA, Bd. 6, S. 333f.



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durchaus nicht traurig und verdüsternd, vielmehr wie eine neue schwer zu beschreibende Art von Licht, Glück, Erleichterung, Erheiterung, Ermutigung, Morgenröthe… In der That, wir Philosophen und „freien Geister“ fühlen uns bei der Nachricht, dass der „alte Gott todt“ ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagniss des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so „offnes Meer“.23

Auffallend sind hier zunächst die Metaphern des Lichts und der Morgenröte, die, gleichsam als klimatisch-meteorologische Attribute, die Stimmung der Heiterkeit anzeigen. Der Einbruch der Fröhlichkeit stellt sich dabei, in genauer Parallele zur Vorrede, als eine Erfahrung dar, in der Erleben und Handeln auf eigentümliche Weise verschränkt sind: Die Heiterkeit ist zunächst ein reaktiver Affekt, der auf das Ereignis „Gott ist tot“ antwortet und insofern dem Modus des Erlebens angehört. Unterdessen erschöpft sich die Fröhlichkeit keineswegs in diesem nur reaktiven Moment, sondern sie wird von dem sie erfahrenden Subjekt bejaht und als eine gleichsam selbst gewählte Einstellung angenommen. Das Erleben verwandelt sich so in eine Disposition zum Handeln, zur intellektuellen Aktivität, die sich am Ende des zitierten Passus in den Figuren des Aufbruchs und der Ausfahrt ins offene Meer manifestiert. Der erneuernde und befreiende Impetus, der sich für Nietzsche mit der Fröhlichkeit verbindet, beschränkt sich unterdessen nicht auf die hier zunächst betrachtete Ebene des individuellen Subjekts. Auf dem Spiel steht vielmehr eine Operation von weitreichenderer Tragweite. Wie die Formel vom Tod Gottes in dem zitierten Passus aus der Fröhlichen Wissenschaft anzeigt, haben wir es hier mit einem Ereignis zu tun, dass in seinen Konsequenzen über die individuelle Situation des denkenden Ich weit hinausreicht. Der Umschwung in die Heiterkeit bezeichnet zugleich eine epochale Zäsur in der Geschichte des Denkens, in der sich die Möglichkeit einer neuen Philosophie der Zukunft ankündigt.24 Was bei dieser Wende ideen- und diskursgeschichtlich auf dem Spiel steht, ist bekannt: Den polemischen Bezugspunkt des Projekts einer Philosophie der Heiterkeit, das die Fröhliche Wissenschaft entwirft, bildet die christliche Tradition und deren Manifestation als kirchliche Institution, die die Geschichte des europäischen Denkens nachhaltig bestimmt hat. Nietzsche sieht in der christlichen Tradition eben jene gegnerische Macht des Ernstes und der düsteren Affekte,

23 KSA, Bd. 3, S. 574. (Hervorhebung im Original) 24 Zu Nietzsches Projekt einer Philosophie der Zukunft vgl. Blättler, Christine: Der Philosoph der Zukunft ist Gesetzgeber. In: Pornschlegel, Clemens / Stingelin, Martin (Hg.): Nietzsche und Frankreich. Berlin / New York 2009, S. 275–290.

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gegen die er seinen freidenkerischen Einspruch zugunsten des Lachens und der Heiterkeit lanciert. Wichtiger als die konkrete inhaltliche Bestimmung der in dem zitierten Passus vorgebrachten Position ist freilich die Beobachtung, dass die kritische und polemische Absetzungsbewegung und der Einsatz des Neuen, die sich hier vollziehen, von der sprachlich-rhetorischen Bewegung des Textes, in dem sie sich artikulieren, nicht ablösbar sind und in gewisser Hinsicht überhaupt erst durch diese zustande kommen. Aus dem Einsatz des deiktischen Pronomens „wir“, das eine gemeinsame, kollektive Identität der (postulierten) Philosophen der Zukunft evoziert, in Verbindung mit den zahlreichen Ausrufen, dem affektbetonten Sprachduktus, der Topik der Seefahrt und des Wagnisses sowie der Metaphorik von Meer und Horizont geht hier eine sprachliche Dynamik hervor, die den Eindruck des Hereinbrechens des Neuen und den Effekt der Ereignishaftigkeit hervorrufen und zur Geltung bringen. Das Ereignis des Neuen wird so in den betreffenden Passagen der Fröhlichen Wissenschaft nicht nur auf der inhaltlichen Ebene als Thema eingeführt und erörtert, sondern es wird durch die genannten rhetorischen Verfahren auch in der sprachlichen Bewegung des Textes ins Werk gesetzt. Es wirkt hier gleichermaßen als ein für Gedankengang und Argumentation bestimmendes Motiv wie als eine Figur, die die rhetorisch-poetische Komposition des Textes steuert und diesen selbst zum Ereignis werden lässt. Im Blick auf das eingangs angesprochene Verhältnis von ereignishafter Äußerung und Institution ist bemerkenswert, dass das Ich der Fröhlichen Wissenschaft zwar zunächst von einem Ort außerhalb der Institution, außerhalb des etablierten Diskurses spricht, aber es artikuliert gleichwohl einen Anspruch auf diskursive Geltung und Institutionalisierung. Dies bekundet sich vor allem in der Art des Sprechens bzw. Schreibens: Wir haben es mit einer Redeform zu tun, die sich an die Communitas wendet und dabei zudem in der Wir-Form spricht, also ein kollektives Subjekt als Redeinstanz unterstellt bzw. postuliert. Auf diese Weise wird vorgreifend und performativ ein (fiktives) Kollektivsubjekt hervorgebracht, mit dem sich eine Potenz zur sozialen Konstitution und diskursive Wirksamkeit verbindet. Die Rolle des folgenreichen Textereignisses, die die Fröhliche Wissenschaft wie auch die übrigen Werke Nietzsches im Zuge der späteren Rezeption spielen werden, ist somit bereits im Kern in der Struktur und sprachlichen Verfasstheit des Textes angelegt.



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3 Konversion als Gründung – Max Jacob Haben wir es also bei Nietzsche mit einem Projekt zu tun, dessen spezifische Kontur nicht zuletzt aus der Negation einer religiösen Tradition hervorgeht und aus dieser Abstoßung seinen polemischen Elan gewinnt, möchte ich mich in der Folge dem Werk eines Dichters zuwenden, das einen poetischen Gründungsakt manifestiert, der sich – zumindest der Selbstbeschreibung zufolge – gerade umgekehrt aus einem Rückgriff auf religiöses Denken speist. Die Rede ist von dem Werk des jüdischen Dichters und Künstlers Max Jacob. Dabei handelt es sich insofern um ein aufschlussreiches Fallbeispiel, als in ihm der Impuls der Gründung und Erneuerung besonders deutlich sichtbar wird und dabei die Gestalt einer (wenngleich religiös getönten) poetischen und künstlerischen Operation annimmt. Es geht um das Projekt einer literarischen und künstlerischen Erneuerung. Als Einsatzpunkt und Anstoß dieses Projekts dient dabei bezeichnenderweise eine Figur, die gleichermaßen dem Register religiöser Erfahrung wie dem der poetischen Imagination angehört: die Vision. Diese begegnet dabei zunächst als ein Geschehen, das sich in der alltäglichen Erfahrungswelt des Dichters manifestiert. Die Rede ist hier von jener mystischen Erscheinung, die Jacob, seinen eigenen Äußerungen zufolge, im September 1909 in der Zurückgezogenheit seines Zimmers auf dem Montmartre begegnet ist und die er retrospektiv zu einem Schlüsselereignis erklärt. Ihm sei, so Jacob, an der Wand seines Zimmers die Gestalt eines schönen jungen Mannes erschienen. Jacob gibt dieser Gestalt einen Namen: er nennt sie „le Christ“.25 Die referierte Begebenheit deutet darauf hin, dass etwas, das in der individuellen Erfahrung als Ereignis wahrgenommen wird, der Sprache bzw. Kommunikation bedarf, um auch für andere, für ein weiteres Publikum, als Ereignis gelten zu können. Damit etwas in diesem weiteren, transsubjektiven bzw. kollektiven Sinn als Ereignis firmieren kann, muss eine Operation der Zuschreibung stattfinden, die ein Erlebnis oder Geschehen als solches auffasst bzw. bezeichnet. Entscheidend für die diskursive Wirkung ist hier also vor allem die sprachliche Äußerung, die das Erlebnis als Ereignis zur Geltung bringt. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um ein Ereignis im starken Sinne handelt, einen Einschnitt, Wendepunkt oder ein Moment der Gründung. Dabei bleibt das Ereignis als solches meist einem direkten Zugriff entzogen; es wird erst durch die sprachliche Beschreibung und

25 Vgl. Rodriguez, Antonio: L’art du doute. Une nouvelle évidence esthéthique. In: Jacob, Max: Œuvres. Édition établie, présentée et annotée par Antonio Rodriguez. Paris 2012, S. 15–23, hier S. 18.

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Darstellung greifbar.26 Die Rede, durch die jenes Erlebnis als Ereignis konstituiert wird, bedient sich typischerweise bestimmter rhetorischer Mittel und performativer Gesten, Formen des Bezeugens, Beteuerns, Bekräftigens und Attestierens, die das betreffende Geschehen sowie dessen Wahrnehmung und Beschreibung mit Glaubwürdigkeit und Autorität versehen. Dabei ist es zudem nützlich zu beachten, in welchen Hinsichten einem Geschehen eine solche einschneidende Bedeutung oder Valenz zugewiesen wird. Haben wir es bei Jacobs Vision auf den ersten Blick mit einer religiösen Erfahrung zu tun, so deutet schon die Art und Weise, in der der Dichter von seinem Erlebnis berichtet, darauf hin, dass er diesem offenbar noch andere, ästhetische und poetische Qualitäten abgewinnt. Dieser ästhetisch-poetischen Dimension der Vision und, damit verbunden, dem Vorgang der Transposition dieses religiösen Erfahrungsmoments in Kunst soll im Folgenden nähere Aufmerksamkeit gelten. Die Figur der Vision wirft für Jacob eine ästhetische Problemstellung auf, nämlich die Frage, wie etwas – insbesondere das Heilige – zur Erscheinung kommen, wie es sichtbar werden kann. In welchen Medien und durch welche Verfahrensweisen lässt sich ein solches Erscheinen bewirken? Als Maler denkt Jacob hier zunächst an Bildmedien, aber es geht auch um Formen der poetischen, sprachlichen Evokation. Die Vision wird für Jacob – so lässt sich werkgeschichtlich beobachten – zum Ansatzpunkt einer verstärkten poetologischen und ästhetischen Reflexion. Nach 1909 bekundet sich in Jacobs literarischen Äußerungen ein programmatischer Ton, er verfasst Texte, die den Status poetischer Manifeste beanspruchen: vor allem das Vorwort zu Le cornet à dés (1916) und Art poétique (1922).27 Der Rekurs auf das mystische Ereignis wirkt dabei zunächst, zumindest in einigen der Texte, als ein Mittel der Selbstautorisierung des Sprechers bzw. Verfassers, als etwas, das ihn ausweist, das Wort zu ergreifen und in den poetologischen Diskurs der Zeit zu intervenieren. Entscheidend in unserem Kontext jedoch ist, dass hierbei die uns interessierenden Figuren der Vision und, damit verbunden, der Gründung und Erneuerung selbst zum Gegenstand der poetischen Darstellung und Reflexion werden. Ich greife hier als Beispiel eine kurze Erzählung aus dem Cornet à

26 Dies gilt insbesondere für Gründungsereignisse. Vgl. Balke, Friedrich: Gründungserzählungen. In: Maye, Harun / Scholz, Leander (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaft. München 2011, S. 23–48, hier S. 26. 27 Vgl. Dickow, Alexander: Max Jacob et le symbolisme. In: Europe. Revue littéraire mensuelle 92 (2014), S. 104–115, hier S. 106.



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dés auf, die im scheinbar naiven Gewand einer Weihnachtsgeschichte (Conte de Noël) das Paradigma der Gründung qua Vision thematisiert:28 Conte de Noël Il y avait une fois un architecte ou un cheval: c’était un cheval plutôt qu’un architecte, à Philadelphie, à qui l’on avait dit: ‚Connais-tu la cathédrale de Cologne? Fais construire une cathédrale pareille à la cathédrale de Cologne!‘ Et, comme il ne connaissait pas la cathédrale de Cologne, alors, il fut mis en prison. Mais, en prison, un ange lui apparut, qui lui dit: ‚Wolfrang! Wolfrang! pourquoi te désoles-tu?‘ – ‚Il me faut rester en prison, parce que je ne connais pas la cathédrale de Cologne!‘ – ‚Il te manque le vin du Rhin pour bâtir la cathédrale de Cologne, mais fais-leur voir le plan, alors tu pourras sortir de prison;‘ et l’ange donna le plan, et il montra le plan, alors il put sortir de prison, mais jamais il ne put bâtir la cathédrale parce qu’il ne trouvait pas le vin du Rhin. Il eut l’idée de faire venir du vin du Rhin à Philadelphie, mais on lui envoya un affreux vin français de la Moselle, de sorte qu’il ne put bâtir la cathédrale de Cologne à Philadelphie; il ne fit qu’un affreux temple protestant. Weihnachtsgeschichte29 Es war einmal ein Architekt oder ein Pferd – ja, es war doch eher ein Pferd als ein Architekt, in Philadelphia, wo man ihm gesagt hat: kennst Du den Kölner Dom? Lass eine Kathedrale bauen, die dem Kölner Dom ähnlich ist. Und, da es den Kölner Dom nicht kannte, steckte man es ins Gefängnis. Aber im Gefängnis erschien ihm ein Engel und sprach: „Wolfrang, Wolfrang, warum grämst Du Dich?“ „Ich muss im Gefängnis bleiben, da ich den Kölner Dom nicht kenne.“ – „Es fehlt Dir der Wein des Rheins, um den Kölner Dom zu bauen, aber zeige ihnen den Grundriss und Du wirst aus dem Gefängnis frei kommen.“ Und der Engel gab ihm den Grundriss, so dass es aus dem Gefängnis entlassen wurde, aber niemals konnte es die Kathedrale bauen, da ihm der Wein vom Rhein fehlte. Da hatte es die Idee, Rhein-Wein nach Philadelphia kommen zu lassen, aber man schickte ihm nur einen schrecklichen französischen Wein von der Mosel, so dass es nicht den Kölner Dom in Philadelphia bauen konnte; es schuf nur einen fürchterlichen protestantischen Tempel.

Auffällig ist zunächst der ironische, ja burleske Ton der Anekdote, der das erzählte Geschehen von Anfang an in die Distanz rückt, ohne jedoch eine ernstere Bedeutung auszuschließen. Auch das Spiel mit der Identität des Protagonisten – mal ist es eher ein Architekt, dann eher ein Pferd – wirkt wie schon die Gattungsbezeichnung des Märchens im Titel als ein Signal, das deutlich macht, dass wir es hier mit einer literarischen Fiktion zu tun haben. Bis zu einem gewissen Punkt, nämlich der Befreiung des Pferdes aus dem Gefängnis, könnte man

28 Jacob, Max: Œuvres, édition établie, présentée et annotée par Antonio Rodriguez. Paris 2012, S. 377. 29 Übersetzung von mir, L. S.

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die Geschichte als eine religiöse Legende und damit als Teil religiöser Kommunikation auffassen. Dafür spricht nicht zuletzt die Erscheinung des Engels, die als visionäres Ereignis einen Wendepunkt im Verlauf des Geschehens markiert. Doch schon der Hinweis auf den „vin du Rhin“ lässt stutzig werden. Zwar ist der Wein seit der Antike religiös konnotiert (Dionysos), aber als Mittel der Inspiration, als das er hier in Anspruch genommen wird, gehört er mehr noch einem anderen Bedeutungsfeld an, dem der Kunst und Poesie. Man kann hier an Apollinaires Gedichtband Alcools30 denken, der nur wenige Jahre zuvor (1913) erschienen war, insbesondere das programmatische Gedicht Nuit rhénane. Die Schlusspointe der Anekdote stellt schließlich unmissverständlich klar, in welchem Register wir uns bewegen: Das Verdikt des „affreux temple protestant“ ist ein ästhetisches Urteil, kein religiöses, denn was hier kritisiert wird, ist nicht der Protestantismus als Glaube oder religiöse Lehre, sondern es geht vielmehr um dessen künstlerische und ästhetische Wirkungen. Der Ereignischarakter der Vision, den die Weihnachtsgeschichte herausstellt und zugleich ironisch beleuchtet, tritt noch deutlicher in einem anderen Text Jacobs hervor, einem Gedicht, das sich mit einem Ereignis der Epiphanie beschäftigt. Es sind, genauer gesagt, zwei längere Gedichte, in denen Jacob ein solches Ereignis des göttlichen Erscheinens thematisiert: Le Christ à Montparnasse31 und Le Christ au Cinématographe.32 Dabei ist der Schauplatz des zuerst genannten Gedichts, der Montparnasse, der in der Landschaft von Paris gewissermaßen das topologische Gegenstück zum Montmartre bildet, durchaus in Einklang mit der tradierten Topik visionärer Literatur. Dass der Montparnasse, der einen Berg und damit einen klassischen Topos des Heiligen bezeichnet, ein würdiger Ort der Epiphanie sein mag, leuchtet ein. Anders verhält es sich mit dem zweiten Gedicht, das einen weniger offensichtlichen Kandidaten als Ort des göttlichen Erscheinens geltend macht, das Kino. Schauen wir uns einen in unserem Zusammenhang relevanten Ausschnitt des Gedichts genauer an:33 LE CHRIST AU CINÉMATOGRAPHE […] C’était aux places à quatre-vingt-quinze centimes; Tu parlais charité devant les sombres crimes Que le Parisien veut tous les soirs en dessert.

30 Apollinaire, Guillaume: Alcools. Paris 2013 [1913]. 31 Jacob: Œuvres, S. 491–494. 32 Ebd., S. 488–490. 33 Ebd.



Literarische Texte als Gründungsereignisse  […] Ce spectacle stupide! il est béni pour moi, Puisque tu as daigné, pour augmenter ma foi, T’asseoir à mes côtés au milieu de ton peuple. Un fauteuil t’a porté! que sacré soit ce meuble! On me traite de fou! oui! J’entends le lecteur, Ou bien de sacrilège et l’on fait le docteur: Fous vous-mêmes, si la vérité vous fait rire. Le Seigneur est partout et dans des endroits pires: Sentir en soi son Dieu, l’écouter, lui parler, Qu’on soit dans un théâtre, dans la rue, au café, Ce miracle commun n’a rien qui scandalise; On parle à Dieu partout en dehors de l’église. Ma folie est ailleurs puisque fou l’on me croit. Sachez que je L’ai vu! que je L’ai vu deux fois: C’était rue Ravignan, chez moi, le sept octobre; – Non! je n’étais pas gris, je suis un homme sobre – Le sept octobre de l’année dix-neuf cent neuf; Je te prends à témoin, Seigneur, qui mis à neuf Mon âme de pécheur empli de turpitudes; […] Donc, la première fois, Tu vins dans ma maison. Et la seconde fois, au Cinématographe… „Vous allez donc alors au Cinématographe, Me dit un confesseur, la mine confondue. – Eh! mon père! le Seigneur n’y est-il pas venu?“ „Bande des habits noirs“, drame de Paul Féval; Le drame est dans mon cœur et non pas sur le film. Les agents et la gendarmerie à cheval Encerclent un voleur dans un mortel dilemme, Une taie sur la foule et des pleurs dans mes yeux! La tache était un nimbe, le nimbe entourait Dieu. Pourquoi cette venue? Sur l’écran! dans ce film au coin de cette rue? Christus im Kino […] Es war bei den Plätzen für 95 Centimes Du sprachst caritas vor den düsteren Verbrechen Die der Pariser jeden Abend als Dessert begehrt. […] Dies stupide Schauspiel! es ist mir gesegnet. Da Du Dich herabgelassen hast, um meinen Glauben zu erhöhen, Dich neben mich zu setzen mitten in deinem Volk. Ein Sessel hat Dich getragen! Dass dieses Möbelstück heilig sei! Man behandelt mich als Verrückten! Ja! Ich höre den Leser

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oder man spricht von Sakrileg und spielt den Arzt: Verrückte Ihr selbst, wenn Ihr über die Wahrheit lacht. Der Herr ist überall und an den schlimmsten Orten. In sich seinen Gott fühlen, ihm zuhören, zu ihm reden Ob man im Theater ist, auf der Straße, oder im Café, Dieses gemeine Wunder hat nichts Skandalöses; Man spricht zu Gott überall außerhalb der Kirche. Mein Wahnsinn ist anderswo, da man mich für verrückt hält. Wisst, dass ich Ihn gesehen habe! dass ich Ihn zweimal gesehen habe: Es war in der Straße Ravignan, bei mir, am 7. Oktober; – Nein! Ich war nicht angetrunken, ich bin ein nüchterner Mann – Der 7. Oktober des Jahres 1909; Ich nehme Dich zum Zeugen, Herr, der neu geschaffen hat meine sündhafte Seele, voller Schändlichkeiten. […] Also, das erste Mal, kamst Du in mein Haus. Und das zweite Mal, ins Kino… „Was, Sie gehen also ins Kino“, sagt mir ein Beichtvater mit bestürzter Mine. „Ja, mein Vater! Ist nicht der Herr dorthin gekommen?“ „Bande der Schwarz-Mäntel“, Drama von Paul Féval; Das Drama ist in meinem Herzen, nicht auf dem Film. Die Agenten und die Gendarmerie zu Pferd umzingeln einen Dieb in einem tödlichen Dilemma, Ein Schleier über der Menge und Tränen in meinen Augen! Der Flecken war ein Nimbus, der Nimbus umhüllte Gott Warum diese Ankunft? Auf der Kinoleinwand! In diesem Film an der Straßenecke?34

Wie die zitierten Strophen veranschaulichen, zielt die Titelformulierung „Christus im Kino“ nicht, wie man annehmen könnte, auf einen frühen Jesus-Film, sondern es sind sehr viel weltlichere und, wenn man so will triviale Umstände, unter denen hier das Ereignis der Epiphanie vorgestellt wird. Es geht um ein plötzliches, instantanes Erscheinen auf der Kino-Leinwand, das dem Betrachter inmitten eines Krimis, einer Verfilmung des populären Romans Les habits noirs von Paul Féval widerfährt. (Bei der betreffenden Vision handelt es sich, genauer gesagt, um ein doppeltes Geschehen: Sie ereignet sich gleichzeitig im Film als auch im Zuschauerraum, in dem die Gestalt Gottes bzw. Christus’ auf einem leeren Sessel neben dem lyrischen Ich Platz nimmt.) Diese Episode, die die Kernszene des Gedichts bildet, ist Teil eines ausführlicheren lyrischen Bekenntnisses, in dem der Sprecher eine Bilanz seines bisherigen Lebens zieht. Dabei ist

34 Übersetzung von mir, L. S.



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bemerkenswert, dass an der Stelle, an der das Ich auf die Erscheinung im Kino zu sprechen kommt, dieses Geständnis im Modus einer Beichte, eines Dialogs des Subjekts mit seinem Beichtvater, evoziert wird: „Vous allez donc alors au Cinématographe, Me dit un confesseur, la mine confondue. – Eh! mon père! le Seigneur n’y est-il pas venu?“ „Was, Sie gehen also ins Kino“, sagt mir der Beichtvater mit bestürzter Mine. „Ja, mein Vater! Ist nicht der Herr dorthin gekommen?“

Ungeachtet der Bestürzung des Priesters beteuert das Ich die Wahrheit seiner Vision. Eben dort, im Kino, mitten im schwärzesten film noir, sei ihm „le Christ“ erschienen, in eben jenem Moment, als die Polizisten den Verbrecher umzingelten und festnahmen. In seinen Beteuerungen beruft sich das Ich indessen nicht nur auf die Evidenz der sinnlichen Erfahrung, es führt zudem ein schlagendes theologisches Argument ins Feld: „Le Seigneur est partout et dans des endroits pires“. Der Herr ist überall und kann folglich überall erscheinen. Ebenso wie an den Orten und in den Gestalten des Heiligen und Sublimen, verkörpert er sich auch in den schlechten und schlimmsten. Vor Gott sind alle Formen und Medien gleich. Mehr noch: Für Jacob sind es gerade die niederen, die alltäglich-trivialen oder auch „sündhaften“ Medien, die ihn faszinieren und in denen ihm zufolge die Erscheinung von „Le Christ“ vor allem zu gewärtigen ist: im Rausch des Weins, im Rauch einer Tabakspfeife oder im Kino. Die christliche Idee der humilitas und die damit verbundene Hinwendung zum Niederen und Profanen wird hier also als Argument benutzt, um die künstlerische Darstellung der gewöhnlichen und trivialen Dinge des alltäglichen Lebens zu rechtfertigen. Dieses Plädoyer für die Darstellung des Einfachen, Minderen und Alltäglichen erinnert an eine grundlegende Überlegung, die Erich Auerbach in seiner Mimesis-Studie entwickelt.35 Erst das christliche Denken, so Auerbachs Argument, führe – in kritischer Auseinandersetzung mit Konventionen der antiken Rhetorik – eine Aufwertung der alltäglichen Lebenswelt der einfachen, unbedeutenden Menschen in die Ideenwelt und literarische Tradition der abendländischen Kultur ein, die sodann deren literarische und künstlerische Darstellung ermögliche und rechtfertige.36 An diese

35 Vgl. Auerbach, Erich: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. 11. Aufl. Tübingen 2015. 36 Vgl. ebd., S. 44–52, 94f., 153.

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 Linda Simonis

Argumentationsfigur schließt dann Siegfried Kracauer in seinem Kino-Buch an, wenn er das Kino bzw. den Film als ein Medium charakterisiert, das mehr noch als die Literatur in besonderer Weise disponiert ist, die Welt des Alltäglichen, der kleinen und minderen Dinge darzustellen.37 Doch kommen wir zurück zu Jacobs Gedicht. Die oben zitierten Zeilen des Gedichts beschwören nicht nur die Authentizität einer Vision, sie umschreiben überdies die Fähigkeit des Kinematographen, eine solche Vision hervorzurufen und vor Augen zu stellen. Damit aber wird die theologische Rede von der Allgegenwart des Herrn in eine ästhetische Rechtfertigung des Kinos umgemünzt. So niedrig oder verwerflich der Kinematograph in theologischer und moralischer Sicht auch sein mag – als eine Maschine, die Bilder erzeugt, und noch dazu bewegte, flüchtige Bilder ist er gewissermaßen dazu disponiert, den Vorgang des Sichtbarwerdens und Erscheinens ins Werk zu setzen. Damit entspricht er genau der Grundbedeutung des altgriechischen Verbs epiphaínesthai, das ‚sich zeigen‘, ‚erscheinen‘ bedeutet und von dem sich der Ausdruck Epiphanie wortgeschichtlich herleitet. So betrachtet ist der Kinematograph gleichsam das perfekte Medium der Epiphanie. Diese Nähe von Kino und Vision erklärt auch, dass Jacob zeitlebens vom Kino fasziniert war.38 Wie wir aus den Erinnerungen eines Freundes, André Salmon, wissen, begeisterte sich Jacob schon für die frühen Kinodarbietungen in den 1910er Jahren, die damals in Paris noch auf dem Marktplatz unter freiem Himmel vorgeführt wurden: Quand Max, malgré mes premières résistances, me traînait, tellement persuasif qu’il triomphait chaque fois, au cinéma en plein air de la rue de Douai, […] je demeurais stupide devant l’apparent plaisir manifesté par Max à la contemplation de ces mélos absurdes transposés pour la lanterne magique.39

37 Vgl. Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt a. M. 1964. Für den Hinweis auf Erich Auerbach und dessen Rezeption bei Kracauer danke ich Friedrich Balke. 38 Zu Jacobs intensiver Beschäftigung und Auseinandersetzung mit dem Kino vgl. Magnenat, Nadejda: Max Jacob et le cinématographe. Cahiers Max Jacob n°15–16 (2015). http://www.cahiersmaxjacob.org/cmj15-16/cmj15-16.html (3. Februar 2017). 39 Salmon, André: Souvenirs sans fin, deuxième époque (1908–1920). Paris 1956, S. 88: „Als Max, trotz meines anfänglichen Widerstrebens, mich zog, auf derart persuasive Weise, dass er jedes Mal gewann, zu dem Kino unter freiem Himmel in der Douai-Straße, […] blieb ich sprachlos vor der offensichtlichen Freude, die Max erkennen ließ bei der Betrachtung dieser absurden Melodramen, die man in die Laterna magica übertragen hatte.“ (Übersetzt von mir, L. S.)



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Diese Faszination für das Kino hat sicher auch damit zu tun, dass das Medium des Films in besonderer Weise geeignet erscheint, ein Geschehen als radikales Ereignis, in seiner Unvermitteltheit und Instantaneität vor Augen zu stellen. Bedenkt man dieses Interesse an der Darstellung und Inszenierung des Unvermittelten, Plötzlichen versteht man, warum es gerade der Krimi – etwa der Film Die Schwarzmäntel – ist, den Jacob als Schauplatz und Medium seiner Vision auswählt bzw. bevorzugt. Denn dieses Filmgenre bezieht seinen spezifischen Reiz nicht zuletzt daraus, dass es immer wieder Momente des Unerwarteten und Ereignishaften in den Ablauf des alltäglichen Geschehens hereinbrechen lässt und jene Ereignishaftigkeit zugleich als solche inszeniert. Es ist also neben der visuellen Dimension des Kinos vor allem dessen Fähigkeit, ein Geschehen als radikales Ereignis sichtbar zu machen, um das es hier geht. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass sich Jacob in dem zitierten Gedicht sprachlicher Mittel bedient, um die Wirkungsweise des Kinos vorzuführen und den Eindruck der Vision zu evozieren. Auch hier sind, ähnlich wie bei Nietzsche, rhetorische Verfahren am Werk, die die Effekte des plötzlichen Hereinbrechens und der Instantaneität hervorrufen. Charakteristisch für den Sprachgestus des Gedichts ist überdies eine Rhetorik der Authentizität und des Wahrsprechens, die an Traditionen der religiösen und literarischen Bekenntnisrede anschließt. Das Gedicht adaptiert die Form des Bekenntnisses indessen in einer Weise, die das herkömmliche Modell der (religiösen) confessio zugleich ironisch unterläuft. Ausgerechnet das Institut der Beichte, das Foucault zufolge den historischen Vorläufer einer weit über die kirchliche Institution hinausreichenden gouvernementalen Machtform bildet,40 wird zum Ort einer Äußerung, durch die sich das religiöse Subjekt der pastoralen Führung durch den Priester entzieht. Darüber hinaus lässt sich beobachten, dass Jacob das religiöse Muster der Konversion, das sich herkömmlich mit der Epiphanie verbindet, nicht einfach übernimmt. Anders als in der Tradition lässt sich das Ereignis der Epiphanie nicht auf einen religiösen Gehalt reduzieren, und es bleibt auch nicht bei dem einen und einmaligen Einschnitt, der eine Umkehr, einen Neu-Beginn des Lebens markiert. Vielmehr haben wir es bei Jacob mit einer ganzen Serie von Konversionen zu tun, die keineswegs nur religiös bestimmt sind, sondern gleichermaßen ästhetische und künstlerische Einschnitte und Wendepunkte bezeichnen. Das religiöse Visionserlebnis wird hier als Grundfigur einer neuen ästhetischen Darstellungsform interpretiert, einer ästhetischen Verfahrensweise, die Jacob zunächst anhand des Kinos erkundet, dann aber auch in experimentellen litera-

40 Vgl. Foucault, Michel: Sécurité, territoire, population. Cours au Collège de France. 1977–1978. Herausgegeben von Michel Sennelart. Paris 2004, S. 151.

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 Linda Simonis

rischen Formen41 nachzubilden und zu erproben versucht. Das visionäre Erlebnis gibt hier also den Anstoß zu einer weitergehenden poetologischen Reflexion, die dessen ästhetische Dimension entfaltet und es zu einem literarischen und poetischen Gründungsereignis macht. Vergleicht man rückblickend die Darstellung des Gründungsereignisses bei Nietzsche und Jacob fallen bei aller Unterschiedlichkeit des Zugangs einige signifikante Gemeinsamkeiten in den Blick: beide Autoren beschreiben das betreffende Ereignis zunächst im Modus des Erlebens und Wahrnehmens, nicht des Handelns oder Tuns. Bei beiden präsentiert sich das Ereignis als etwas, das zum Zeitpunkt seiner literarischen Aufzeichnung schon geschehen ist und das es durch die philosophische bzw. literarische Beschreibung und Reflexion gewissermaßen ex post zu erfassen und seinen Stellenwert zu erschließen gilt. Das Ereignis als solches ist schon geschehen, aber es ist der Text bzw. der Vorgang des Schreibens, der dessen Status als Gründungsereignis ermittelt und manifestiert. Darüber hinaus kommen Nietzsche und Jacob darin überein, dass sie sich vor allem für die ästhetische, in diesem Fall: visuelle Dimension der betreffenden Ereignisse interessieren. Bei beiden vollzieht sich die Erfahrung des Neuen im Modus des Schauens, in Form einer visuellen Szene oder Topographie, die sich vor den Blicken der Beobachter enthüllt. Dieses wahrnehmungsförmige, visuelle Moment bildet zugleich den Ansatzpunkt und das Vehikel der ästhetischen und poetologischen Reflexion, die sich in den analysierten Texten Nietzsches und Jacobs vollzieht. Zwar scheint bei Nietzsche das Interesse auf den ersten Blick mehr den denkgeschichtlichen und epistemologischen Implikationen des genannten Ereignisses zu gelten, doch, wie bei näherem Hinsehen auffällt, ist es nicht weniger ein ästhetisches Szenario, das Nietzsche evoziert: die Landschaft des Südens,42 das Meer, die sich öffnenden Räume und Horizonte. Die skizzierten Geschehnisse werden somit nicht zuletzt dadurch zu Ereignissen und Gründungsmomenten, dass sie als ästhetische und poetologische Figuren greifbar und wirksam werden.

41 Als literarische Umsetzung der Kinoerfahrung ist insbesondere der Band Cinématoma (1920) zu nennen, eine Sammlung von kurzen Geschichten, Briefen und Memoiren, die in ihrem Vorzug für die kurze Form, den Ausschnitt, die einzelne Szene der Darstellungsweise früher Kinofilme nachempfunden sind. Vgl. Jacob, Max: Cinématoma. In: ders.: Œuvres, S. 711–825. Siehe dort auch die Einleitung von Antonio Rodriguez, S. 713–716. 42 Zur Bedeutung des Südens für Nietzsche und seine Philosophie vgl. D’Ioro, Paolo: Le voyage de Nietzsche à Sorrente. Genèse de la philosophie de l’esprit libre. Paris 2012, S. 17–21, 33f.

Achim Hölter

Negativereignisse Scheitern als Sujet in den Künsten Durch alle Künste zieht sich der rote Faden der Metareferenz. Diese macht – unter anderem – mittels foregrounding sicht- und nachvollziehbar, wie ein Kunstwerk eines bestimmten Typs, z. B. ein literarischer Text, funktioniert. Das Stück im Stück, die erzählerische mise en abyme, aber auch viele andere Techniken und Motive der Metareferenz führen dem Rezipienten vor Augen, nach welchen poetologischen Regeln und welchen Erwartungsmustern sich ein literarischer Text konstituiert. Eine prägnante, bisher nicht in den Fokus getretene Spielart der Metareferenz, der eine Tendenz zur Punktualität und Ereignishaftigkeit eignet, ist die gewollte Inszenierung künstlerischen Scheiterns. Mozarts Dorfmusikantensextett, Michael Krügers Das Ende des Romans, Ludwig Tiecks Gedicht Bedeutung, Michael Frayns Farce Noises off oder Terry Gilliams Film Lost in La Mancha sind Beispiele für dieses Verfahren, Wesen und Gesetz der Kunst im Ereignis und im Moment des Scheiterns aufblitzen zu lassen. Mithin geht unter diversen Aspekten die Kunst aus diesen ironischen Ereignissen und Selbstvernichtungsmomenten bestätigt hervor.

1 Das Scheitern der anderen Hat nicht sollen sein – das Wort ‚scheitern‘ trägt im Deutschen, wenn man genau hinhört, noch das Splittern von Holz, von Schiffsbalken, mit sich.1 Deshalb liegt es auch nahe, dass gerade für den deutschen Sprachraum Hans Blumenberg eine Metaphorologie entwarf, die sich auf die berühmte Lukrez-Stelle (Lucr. II, 1–4) stützte, derzufolge es Vergnügen bereite, aus sicherer Position auf dem Land einem Schiffbruch zuzuschauen.2 War Lukrez damit eher ein Vorläufer der Theorie des Erhabenen, die den Lustgewinn aus der Nähe der Gefahr erklärt,3

1 Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 21., unveränderte Aufl. Berlin / New York, S. 641. 2 Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a. M. 1979. 3 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. B § 28. In: ders.: Werke in zehn Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. 4. Aufl. Darmstadt 1981, Bd. 8, S. 349. DOI 10.1515/9783110541854-014

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 Achim Hölter

so ist der „Schiffbruch mit Zuschauer“ heute fast zwangsläufig auch als Konstellation der Schadenfreude oder wenigstens als Disposition dazu lesbar. Erleben, wie ein Autor oder ein Text Schiffbruch erleidet, am besten aus der sicheren Entfernung des Kritikers oder gar des Laien, erscheint als Lust verheißende Indifferenzlage.

2 Pseudo-Scheitern auf zweiter Ebene 2016 kam der Film Hail Cesar von Ethan und Joel Coen in die Kinos, eine selbstbezügliche Hommage an Hollywood, die auf frappante Weise an heute wenig bekannte Klassiker des Metatheaters erinnert (oder dort Anleihen macht). Was die Filmhandlung zeigt, glaubt jeder über die Traumfabrik zu wissen: Ihre Protagonisten sind überschätzt, verwöhnt, überbezahlt und ganz allgemein völlig unfähig. Der Film, der aber ja selbst aus dieser Fabrikation stammt, zeigt in der ironischen Demontage ihr Funktionieren und demonstriert seine Macht dem realen Zuschauer am Ende durch eine Beinahe-Illusion. Zu diesem Zweck braucht es die Konvergenz zwischen gespielter und wirklicher Popularität und deshalb einen Schauspieler wie George Clooney. Dieser Akteur spielt einen Akteur namens Baird Whitlock, der nach seiner zwischenzeitlichen Entführung durch eine Kommunistengruppe am Ende des Films das Ende eines Films spielt.4 In einer Ben Hur-Variante spricht er als römischer Hauptmann angesichts des gekreuzigten Christus den Schlussmonolog, eine Apotheose des Christentums (das zuvor in einer Debatte unter Religionsexperten hinreichend diskreditiert wurde). Der von Clooney verkörperte Heide wird aus Enthusiasmus zum Christen und erklärt dies seinen Mitrömern in einer sich immer pathetischer steigernden Suada. Mitgefilmt ist die Reaktion der umstehenden Filmmitarbeiter, die, parallel zu der zustimmenden Begeisterung der Filmrömer, die schauspielerische Leistung des Mimen würdigen. Und während noch die Zuschauer im realen Kinosaal innerlich George Clooney akklamieren, dem es gelingt, die rhetorische Überzeugungskraft seiner Figur seinerseits glaubhaft zu transportieren, scheitert diese Figur am letzten Wort – „Glaube“. Die Produktion eines Films ist ganz auf punktuelles Gelingen eingerichtet; sie kann aber potentielles Misslingen auch punktuell kompensieren. Die Einstellung muss vermutlich wiederholt werden, bis sie klappt. Der Filmschluss zeigt also, wie der Film technisch funktioniert, gegebenenfalls mit Wiederholungen der takes.

4 Joel und Ethan Coen: Hail, Caesar! (USA, UK), Filmminuten 93–96.

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Im Film als Genre ist das Misslingen im Einzelnen beinahe der Normalfall, jedenfalls kein katastrophisches Ereignis, durch die Möglichkeit der Wiederholung sogar beinahe ein Nicht-Ereignis. Clooneys Monolog aber entspricht seiner Funktion nach einigen mehr oder minder bekannten metadramatischen Theaterstücken: Lope de Vegas Lo fingido verdadero (1608)5 und dessen etwas bekannterer Adaption Le véritable Saint Genest (1646) von Jean de Rotrou.6 Diese beiden Märtyrerdramen zeigen in ihrer Schlüsselszene, wie ein römischer Schauspieler zur Belustigung des Kaisers einen Christen nachahmen soll, durch die Identifikation mit seiner Rollenrede selbst konvertiert und folgerichtig anschließend selbst zum Märtyrer wird. Der Coen’sche Monolog spricht zwar nicht über den Film oder das Theater, doch ist er intrafiktional auch eine strukturelle Parallele zum Monolog des Theaterdirektors Emanuel Striese im Raub der Sabinerinnen, der in den selbstbewussten Satz mündet: „Sehen Sie […], das wird an einer Schmiere geleistet, und ich bin der Direktor!“7 Was wiederum mit dem Monolog des Theaterprinzipals Laroche zu parallelisieren ist, der in Richard Strauss’ Capriccio (1942) die Apotheose seines Berufsstands gegen alle Zweifel behauptet.8 Doch zurück zu den Brüdern Coen: Das pathetische Konstrukt des Binnenfilms Hail Cesar wäre natürlich 2016 too much; deshalb die ironische Distanzierung vom gespielten Hollywood der 1950er Jahre. Deshalb auch das Scheitern des Centurio-Darstellers im letzten Satz. Denn mit dieser Art Scheitern ist nichts verloren, sondern viel gewonnen, fehlt doch nichts außer einem bisschen Konzentration bis zur funktionierenden Illusion. Clooneys Whitlock scheitert nur für den Moment; das ist in die Produktionskosten einkalkuliert. Und auch im Sabinerinnen-Schwank der Brüder Schönthan, mehr aber noch in der bekannten Verfilmung mit Gustav Knuth aus den 1950er Jahren,9 steht das Funktionieren der Illusionskunst außer Frage. Die Schmiere ist zwar keine große Theaterkunst, aber in dem Moment, als der Direktor der Truppe seine Rede theatralisch beendet hat, ist sein Adressat, der Wirt Perchtramer (im Schwank: Herr Neumeister), klein und

5 Lope de Vega Carpio, Félix: Obras escogidas. Estudio preliminar, biografia, bibliografia, notas y apendices de Federico Carlos Sainz de Robles. Tomo III. 3a reimpresión Madrid 1990, S. 169– 204, hier S. 199f. und besonders das Gebet S. 202. 6 Rotrou, Jean de: Le véritable Saint Genest. Tragédie. Paris 1648, S. 76–83. 7 Schönthan, Franz und Paul von: Der Raub der Sabinerinnen. (Ende von Akt II). In: http:// www.zeno.org/Literatur/M/Sch%C3%B6nthan,+Franz+und+Paul+von/Drama/Der+Raub+der+ Sabinerinnen/2.+Akt/12.+Auftritt (24. April 2017). 8 Strauss, Richard: Capriccio. Ein Konversationsstück für Musik in einem Aufzug von Clemens Krauss. Berlin-Grunewald / London o. J., S. 67–69. 9 Der Raub der Sabinerinnen. Regie: Kurt Hoffmann. BRD 1953/54. – Zitat in: http://www.filmportal.de/film/der-raub-der-sabinerinnen_1d7ccaed1ca940f58d3f15bdee34dc08 (12. Februar 2017).

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 Achim Hölter

hässlich in die Ecke gekrochen. Soll heißen: Das Scheitern der Komödianten an den ökonomischen Umständen setzt ihren Triumph frei, sobald sie die Höhe der Metaebene erklimmen. Auf dieser Metaebene sitzen die Coen-Brüder im Regisseurssessel und schaffen damit die gleiche affirmative Kunst wie in den 1950ern. Es glaubt niemand, dass ‚in echt‘ etwas schiefgehen kann.

3 Persönliches Scheitern Es wäre ein Leichtes, Romane aufzuzählen, deren Hauptfigur im wesentlichen ihre Ziele nicht erreicht, ihre Wünsche nicht erfüllt, Romane, die im Selbstmord enden oder doch wenigstens in der Resignation. Die meisten Künstlerromane haben sogar eine solche melancholische Handlungslinie.10 Selbst wenn der Künstler Künstler bleibt, ist der strahlende Triumph kaum je zu Papier gebracht. Ob Heinrich Lee in Gottfried Kellers Der Grüne Heinrich, Frédéric Moreau in Flauberts Education sentimentale oder Lucien de Rubempré in Balzacs Illusions perdues, deren Titel bereits den Ausgang verrät – der romantische Intellektuelle muss sich irgendwann eingestehen, dass die Welt ohne ihn auskommt. Aber diese Art des Misslingens hat noch nicht zwingend etwas mit scheiternder Kunst zu tun, sondern eher mit dem Konzept des Entwicklungsromans und der Tatsache, dass die wenigsten Menschen im Leben erreichen, was sie sich vornehmen. Insofern ist der Roman als lebensähnliche Lebensgeschichte oder fiktionalisierte „Biographie“11 fast immer eine Misserfolgsstory. Dennoch manifestiert sich das Misslingen wenn nicht an einer Stelle, so doch in einem Ereignis, das das Eingeständnis zeitigt, zumeist gegen Ende der Geschichte also. In der zweiten Fassung des Grünen Heinrich wird nicht so sehr verbal als situativ, am Sterbebett der Mutter, beleuchtet, dass Heinrich Lee „nicht nur als Künstler, sondern auch moralisch gescheitert ist“.12 Bei Balzac wird die Rubempré-Geschichte in Splendeurs et misères des courtisanes fortgeführt; trotzdem ist in den Illusions perdues bereits ein Punkt erreicht, an dem der junge Mann sich selbst bis hin zur Selbst-

10 Das zur Zeit umfangreichste Motivlexikon führt keinen speziellen Artikel zu „fallimento“, verweist aber im Register (Ceserani, Remo / Domenichelli, Mario / Fasano, Pino [Hg.]: Dizionario dei temi letterari. Vol. III. Torino 2007, S. 2708) auf die häufigsten Kontexte, nämlich den ökonomischen und eben den künstlerischen. Zum romantischen Motiv des „pittore fallito“ vgl. Ghelli, Francesco: Arte, artista. Ebd., Vol. I. Torino 2007, S. 152–157, hier S. 154. 11 Vgl. z. B. Hillebrand, Bruno: Theorie des Romans. München 1980, S. 127f. 12 Ewig, Steffen / Red.: Art. Der Grüne Heinrich. In: Kindlers Neues Literatur Lexikon. München 1990, Bd. 9, S. 273–276, hier S. 275.

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mord-Absicht als Versager betrachtet, weil seine Karriere und seine finanzielle Lage an einem Tiefpunkt angelangt sind.13 Berühmt ist der Schluss von Goethes Torquato Tasso, an dem der Titelheld gegenüber dem Höfling Antonio seine Unterlegenheit bekennt. Es ist dies eine politische, eine menschliche, keine künstlerische Niederlage, und doch geht mit dem Fürstenprotégé auch der Dichter zu Grunde, der wegen seiner Unbeherrschtheit schon unter Arrest stand und nun anerkennen muss, dass die reine Künstlerexistenz sich weder durchsetzt noch akzeptiert wird. Insofern Goethe hier seine eigene Position am Weimarischen Hof mitreflektiert, ist also das menschliche Scheitern Tassos auch der Spiegel oder das Warnsignal für Goethes eigene Gefährdung. Die Bildlichkeit der Schlussverse im Munde Tassos greift denn auch auf die klassische Schifffahrtsmetapher zurück: Zerbrochen ist das Steuer, und es kracht Das Schiff an allen Seiten. Berstend reißt Der Boden unter meinen Füßen auf! Ich fasse dich mit beyden Armen an! So klammert sich der Schiffer endlich noch Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.14

Immerhin hängt Tassos Scheitern mit der Geiselhaft seines Manuskripts zusammen. Er muss menschlich zurückstecken, um sein Jerusalem-Epos zu befreien: Resignation rettet Kunst. Das Theater, so zeigt sich nicht nur in Goethes Künstlerdrama, ist eo ipso ereignisorientiert; Tassos Scheitern am Hofleben zeigt sich in den meisten Inszenierungen gestisch-mimisch, aber auch ikonisch, und nicht zuletzt momentzentriert: Der Dichter kann seine Übereilungen nicht ungeschehen machen, seine Worte nicht widerrufen. Goethes Tasso wird zudem zum Inbild des an den gesellschaftlichen Anforderungen zugrunde gehenden Intellektuellen. Diese Konditionen sind permanente, die undiplomatische Rebellion setzt ihnen Augenblickshandlungen entgegen. Die aus der Biographie des historischen Tasso bekannte persönliche Katastrophe ist im ernsten Drama als Zuspitzung im Schlussakt modelliert.

13 Die Relevanz der Motivik des Scheiterns, bei Balzac mit allen topischen Ingredienzien wie der Reise ohne Pferd oder Wagen und der Rückkehr aus der Kapitale in die Provinz zeigt sich insbesondere darin, dass die Epitexte zu den Romanen, insbesondere die Lexikoneinträge stets das Wort konkret einsetzen: „Mit ein paar geborgten Francs macht sich der gescheiterte Lucien zu Fuß nach Hause auf.“ Drews, Jörg / Red.: Art. Illusions perdues. In: Kindlers Neues Literatur Lexikon. München 1989, Bd. 2, S. 149–151, hier S. 150. 14 Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Ernst Beutler. München 1977, Bd. 6, S. 314.

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Wer hingegen an das vollständige, existenzielle und biografische Scheitern einer humoristischen Zivilperson als Dichter denkt, erinnert sich vermutlich an Wilhelm Buschs Schreiber Balduin Bählamm, dessen Name bereits seine Harmlosigkeit und Lebensuntüchtigkeit verrät. Im Park wird er allenthalben belästigt, zu Hause von der Ehefrau und den Kindern systematisch aus der kreativen Ruhe gebracht; der Weg aufs Land mit der Bahn ist eine Tortur, und fern der Stadt beginnt der Krach nur noch früher, gefolgt von Streichen der Landjugend und den Unbilden der Natur. Die Rückreise ist auch nicht dichtungsfördernd, darum sehen wir den zu Höherem strebenden Bählamm wieder auf dem Weg ins Büro: So steht zum Schluß am rechten Platz Der unumstößlich wahre Satz: Die Schwierigkeit ist immer klein, Man muß nur nicht verhindert sein.15

Busch liefert hier eine doppeldeutige Veräußerlichung der Redensart vom ‚verhinderten Genie‘, das gemeinhin an sich selbst und nicht an der Tücke des Objekts scheitert. Sein Fazit legt die eigentliche Schuld traditionsgemäß wieder dem Helden selbst bei, der die Umstände, die das Genie an der Entfaltung hemmen, anzuziehen scheint. Dabei trifft die Bilderzählung allerdings keine Entscheidung, insofern Bählamm wirklich das geborene Opfer ist, seine Umwelt aber auch wirklich boshaft. Dieses Scheitern ist also typologisch vorprogrammiert. Bählamm ist nicht Egoist und nicht Eremit genug, um als Poet erfolgreich zu sein. Die Zuspitzung des Karrieredesasters gewahrt der Leser/Zuschauer im Traumbild, das den zum Musenhimmel emporschwebenden Bählamm plötzlich mit einem Schreckbild konfrontiert, während Frau und Kinder sich an seine Beine gehängt haben.16 Im Traum der Sturz aus allen Hoffnungen, in der Wirklichkeit der morgendliche Weckruf – erst die abrupte Desillusionierung macht das Scheitern vollständig.

4 Showing failure vs. telling failure Plastischer sind Texte dann, wenn sie das Scheitern zeigen oder noch genauer, wenn sie an sich selbst das Scheitern sind. Das bedeutet nämlich für den Autor, mit Absicht schlechte Kunst zu erzeugen, und dies tut man nachgerade doch

15 Busch, Wilhelm: Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bearbeitet und herausgegeben von Friedrich Bohne. Hamburg 1959, Bd. 4, S. 80. 16 Ebd., S. 77f.

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entweder ungern oder aus dem Bewusstsein absoluten Könnens. Hinter dem gezeigten Scheitern steckt denn auch in aller Regel eine poetologische Überzeugung und damit beinahe auch das Wissen um ein Besser-machen-Können. Man könnte Musils Mann ohne Eigenschaften und zahllose andere große und kleine Fragmente/Torsi als Dokumente des Scheiterns verstehen, aber sie stellen das Scheitern (wenn es eines war) nicht aus, sondern lassen es nur erkennen. Und ein gutgelauntes Scheitern wie etwa der Abbruch des Romans Florentin durch Dorothea Schlegel, die sich schon aktiv auf die Qualität von Fragmenten beruft, ist nicht wirklich populär: Befriedigenden Schluß! Sieh, mein Freund, bei diesem Wort mußte ich aufhören und konnte lange nicht weiterschreiben. Es war mir, als müßte ich mich besinnen, was denn wohl ein befriedigender Schluß sei? Was den meisten so erscheint, ist es nicht für mich. […] Meine Wirklichkeit und meine Befriedigung liegt in der Sehnsucht und in der Ahndung.17

Der Programmbegriff der ‚Ahndung‘ macht deutlich, dass im frühromantischen Horizont die indistinkte Zeiterstreckung, die Dauer (die geschilderte oder textuelle Wanderung) poetologisch über dem Punktuellen (dem Erreichen eines lokalen oder textuellen Ziels) rangiert, eine Ambiguität, die sich im Mythos von Sisyphos komprimiert findet, insofern die Vergeblichkeit seines Tuns zugleich iterativ und je wieder singulativ ist. Ein typisches Beispiel selbstreferentieller Inszenierung des Scheiterns, nicht offensiv, sondern artifiziell, ist Michael Krügers Novelle von 1982 mit dem Titel Das Ende des Romans, in der ein anonymer Ich-Erzähler davon berichtet, wie er zehn Jahre Vorbereitungszeit (das ist ironisch gemeint; der Erzähler ist offenbar in jungen Jahren nicht sehr zielstrebig gewesen) und zehn Jahre Schreibzeit (wieder ironisch: der Erzähler ist in mittleren Jahren nicht sehr produktiv) in das Projekt eines umfangreichen, allumfassenden Romans investiert hat, mit dem er ein für alle Mal ein literarisches Werk setzen will. Beim Stand von 800 Manuskriptseiten gerät der hochambitionierte, aber offenbar wenig disziplinierte Schriftsteller in seiner Klause am Starnberger See in eine Schreibkrise, die sich darin äußert, dass er jedwede Kritik akzeptiert und jeweils entsprechende große Partien aus seinem Opus magnum et unicum vernichtet. Am Schluss verschwindet ein obskurer Verleger mit dem Rest des Texts. Man weiß nicht so recht, was daraus wird, aber die postmoderne Pointe – wenn es eine ist – besteht natürlich darin, dass anstelle des unleistbaren Romanmonstrums eine wenig bedeutende Novelle übriggeblie-

17 Schlegel, Dorothea: Florentin. Zueignung an den Herausgeber. In: Kluckhohn, Paul (Hg.): Frühromantische Erzählungen. Leipzig 1933, Bd. 2, S. 239.

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ben ist, „ridiculus mus“ (Hor. Ars 139) sozusagen, die leicht satirische Geschichte eines Scheiterns. Hier ist sogar der große Moment verschenkt; das Buch scheitert auch im Verzicht auf das decouragierende Ereignis.18 Ähnlich und sehr viel klarer noch auf ein Negativereignis pointiert ist Michael Chabons Held, der fiktive Autor Grady Tripp. Dessen vierter Roman Wonder Boys, ein um drei Brüder zentriertes Megaprojekt, wächst Tripp über den Kopf. Das Manuskript umfasst inzwischen 2611 Seiten, ist nicht einmal zur Hälfte vollendet, und zerflattert am Ende einer Odyssee in Tripps 66er Galaxie im Wind eines trostlosen Parkplatzes, nachdem es sein langjähriger Freund und Lektor zugunsten des Romans von Tripps Student Leer abgelehnt hat. Ähnlich zahllose neuere fiktive Autoren, die in einen writer’s block geraten. Der Moment des Scheiterns bleibt emblematisch haften.19 Die Rhetorik kennt (und alle Leser kennen) den Kunstgriff der präteritio, der aktiven Redeausflucht, dergestalt, dass im Folgenden nicht über x gesprochen werden solle, eine Rede über y ganz unmöglich sei. Im Prinzip lieferte die Rhetorik damit bereits einen formalen Kniff für die nicht auf die momentane Wirkung, sondern eine jenseits des Effekts zielende Belletristik. Ein Buch, das beschreibt, was nicht geht, ist, wenn es nur genug Volumen und Substanz erzeugt, auch ein Buch. Marcel Bénabou hat 1986 solch ein Buch, ein Büchlein, geschrieben, unter dem Titel Warum ich keines meiner Bücher geschrieben habe. Der Grundgedanke dieses typisch postmodernen Produkts war von Borges entlehnt und ist auch als Motto zitiert: Welch ein mühseliger und geisttötender Irrsinn, auf fünfhundert Seiten eine Idee auszubreiten, die sich im Gespräch ohne weiteres in wenigen Minuten darstellen läßt. Besser tut man so, als existierten diese Bücher bereits, und gibt eine Zusammenfassung daraus oder einen Kommentar dazu.20

Das Ersetzen realer durch potentielle Texte, aus Lebenszeitersparnis oder aus Unvermögen, ist bei Borges keine ganz neue Idee. Jean Pauls Schulmeisterlein Wutz steht dafür Pate. Hier soll auch nicht aufs Neue über diesen Kunstgriff peroriert werden. Bei Bénabou aber besteht die Besonderheit darin, das Textschrei-

18 Allenfalls heißt es gegen Ende: „Noch eine gute Weile versuchte ich, eine ehrenhafte Haltung einzunehmen, dann brachen die Schranken des Selbstschutzes und ließen die Wasser der Resignation mich kräftig durchspülen.“ Krüger, Michael: Das Ende des Romans. Eine Novelle. Frankfurt a. M. 1992, S. 125. 19 Chabon, Michael: Wonder Boys. Roman. Deutsch von Hans Hermann. München 1998, S. 378f. 20 Bénabou, Marcel: Warum ich keines meiner Bücher geschrieben habe. Aus dem Französischen von Ulrich Raulff. Frankfurt a. M. 1993, S. 21.

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ben und Büchermachen in seinen Details zu thematisieren, und zwar als Scheitern. Wie in den 1980er Jahren auch bei Jacques Roubaud (La belle Hortense)21 oder in den nuller Jahren gerne bei Jasper Fforde (in den Thursday NextRomanen),22 werden die Produktions- und Existenzbedingungen literarischer Texte mittels narrativen foregroundings aus der Routine ins Bewusstsein geholt.23 Bénabous „Ich“ macht die Schwierigkeiten manifest, die im Schreiben der ersten Seite bestehen, in der thematischen und der stilistischen Mühe, und schließlich im Vollenden. Und indem dieses Ich die Probleme des Schreibens auf gut hundert Seiten ausbreitet, hat sich, ganz wie von selbst, analog zum Füllen der nötigen Redeminuten durch die Klage, kein Thema oder kein Know-How zu besitzen, wie von Zauberhand, aber arg vorhersagbar, am Ende der vergeudeten Redezeit doch eine Art Text angesammelt, ein Buch sogar, das man mit gutem Willen drucken und mit sehr gutem Willen, wie in der Schlussbemerkung suggeriert wird,24 als Roman deklarieren kann (denn spätestens die Postmoderne beutet die literaturwissenschaftlich begründete These, dass praktisch alles ein Roman sein kann, bis zur Unerträglichkeit aus). Kurz: Das Eingeständnis und die Dokumentation des Scheiterns, wenn sie nur irgendwie den Raum zwischen zwei Buchdeckeln füllen, kehren dieses Scheitern in einen Triumph um. Ob einen Triumph des Witzes oder einen Triumph der Dreistigkeit, einen Sieg des Geschäftssinns oder einen Sieg der liberalen Literaturtheorie, bleibt fraglich. Der Tag des Erscheinens im Buchhandel ist der Moment der Überwindung des Scheiterns. Das Scheitern auf der Textebene ist ontologisch verschieden, je nach Genre. Ein scheiternder Autor im heterodiegetischen Roman ist letztlich Objekt, allenfalls Protagonist einer Mitteilung über eine fiktionale Gestalt. Der Leser muss diese Information glauben (also, dass ein erfundener Romancier sein Schreibprojekt nicht vollendet). Dabei spielt der Moment, in dem sich das Nichtvollenden endgültig erklärt, von Fall zu Fall eine größere oder geringere Rolle; der Autorselbstmord ist hier die maximale Variante, der Verzicht auf ein Weiterschreiben die geringere, der schleichende Ausstieg aus der Künstlerexistenz wie in den obengenannten spätromantischen und realistischen Romanen die leise. Diese Handlungsoptionen lassen sich ebenso auf einer temporalen Skala abbilden mit extremer Dauer am einen und extremer Punktualität am anderen Ende. Ein scheiternder homooder autodiegetischer Dichter hingegen zeigt das Zugrundegehen seines Projekts

21 Roubaud, Jacques: La belle Hortense. Roman. Paris 1990 und zwei weitere Romane. 22 Fforde, Jasper: The Eyre Affair. London 2001 und sechs weitere Romane. 23 Vgl. Cuddon, J. A.: Dictionary of Literary Terms & Literary Theory. Revised by C. E. Preston. London 1998, S. 325f. 24 Bénabou: Warum ich keines meiner Bücher geschrieben habe, S. 131.

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im und am Projekt. Der Roman ist dann in der Regel paradox – er zeigt ein NichtGelingen, präsentiert sich aber selbst als abgeschlossenes Werk. Dieser Typ Text ist meist ambivalent: So könnte der Schluss von Thomas Manns Felix Krull zugleich einen gelungenen Roman über einen scheiternden Hochstapler oder einen auf halber Strecke steckenbleibenden Autobiographen repräsentieren. Ein scheiterndes lyrisches Gedicht zeigt sich (wenn es kein narratives Gedicht ist) selbst in seiner Unvollkommenheit. Dabei bleibt der Zeitindex meist eher blass entwickelt. Allenfalls ein abbrechendes Gedicht legt den Fokus auf die Sprechsekunde des Abbrechens selbst, wie die Aposiopese generell als rhetorische Figur des Scheiterns betrachtet werden kann. Ansonsten ist die lyrische Rede eher schwebend zeitlos. Was im Sprechen misslingt, misslingt sozusagen immer und nie bestimmt. Ganz anders das Drama: Hier wird der Moment der Handlung mimetisiert; also geht auch die aus dem Ruder laufende Theaterprobe hier und jetzt schief.

5 Gescheiterte Performance Daher nun zum rehearsal play, einer regelrechten Untergattung dessen, was wir heute als Metadrama bezeichnen. Jeder kennt Shakespeares Midsummernight’s Dream. Dort üben im dritten Akt die Handwerker unter der Anleitung von Peter Quince im Wald das Stück von Pyramus und Thisbe, das aufgrund des Stoffes zweifellos eine Tragödie sein soll, auch wenn es von Bottom, dem Weber, „comedy“ genannt wird (III.1). Wir wissen, dass Puck diese Probe durcheinanderbringt, aber wir sind uns auch sicher, dass selbst ohne die Intervention des Übernatürlichen das Theaterspiel der Laien ins unfreiwillig Komische abgleiten muss. Doch warum? Weil die Herren zu wenig Zutrauen zu den Konventionen des Theaters haben, so dass sie Löwe, Mond und Wand von Akteuren darstellen und verbal motivieren lassen. Die Probe an sich wäre bereits Distanzierung genug, aber Shakespeares Stück gipfelt im fünften Aufzug in der tatsächlichen Aufführung von Pyramus und Thisbe am Hof von Athen. Dies gibt Gelegenheit, die Übertreibungen, hilflosen Wiederholungen, misslungenen Metaphern und holpernden Metren und natürlich die Auftritte und Abgänge der eben genannten Requisiten zu belachen. Wir kennen aus dem Schlegel/Tieck-Shakespeare Verse wie „So hab ich Wand nunmehr mein Part gemachet gut, / Und nun sich also Wand hinweg begeben thut.“25 Oder auch: „Den wohlgehörnten Mond d’Latern

25 Shakespeare, William: Dramatische Werke. Übersetzt von August Wilhelm von Schlegel, ergänzt und erläutert von Ludwig Tieck. Berlin 1830, S. 253.

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z’erkennen giebt“.26 Es kann also kein Zweifel daran bestehen, dass wir einem gründlich misslingenden Theaterstück beiwohnen, dessen Fiasko sich bald abzeichnet und das nur durch die soziale Überlegenheit des Herrscherpaars gemildert wird: Hippolyta und Theseus geizen denn auch nicht mit ironischen Kommentaren, bitten, ihnen den Epilog zu ersparen und gleich mit dem Rüpeltanz zu enden. So kommen die Handwerker guten Willens zu ihrem Beifall, und das nicht unverdient, denn unterhaltsam waren sie, vor allem aber konvergierte das Stück im Stück mit dem Rahmen so, dass die Komik nicht als kritische Distanzierung wirkte, sondern als unmittelbare Komik. Und Fremdschämen, das die Laune verderben könnte, war um 1600 noch kein benanntes Phänomen. Der Shakespeare-Zuschauer macht sich zum Komplizen der Höflinge und lacht ganz einfach mit über das Gewollte, aber nicht Gekonnte. Als Abbild des realen Theaters aber blendet die Komödie permanent die gefürchtete und wohl auch allen an der Produktion Beteiligten vertraute Erfahrung des Bühnenfiaskos ein, und dieses mag Konsequenz eines grundsätzlichen oder dauerhaften Ungenügens sein, aber es manifestiert sich am Ende als traumatisches Ereignis. Sind die Handwerker nun gescheitert? Ästhetisch ja, auf ihrer Ebene, Shakespeare aber landet mit dem Sommernachtstraum dank der Handwerker und auf Kosten seiner Handwerker-Zeitgenossen einen seiner größten komischen Erfolge. Das Probenstück zeigt zwar implizit, wie man nicht Theater spielt (daran, wie naive Menschen es versuchen), aber zu behaupten, dass damit eine Satire auf Laientheater verbunden und mit dem Pyramus-und-Thisbe-Stück eine indirekte poetologische Botschaft verbunden sei, wäre wohl übertrieben. Außer natürlich: man schließt ganz simpel ex negativo aus einem schlechten Vers auf einen guten, aus einer schiefen Metapher auf eine gerade. Doch die zweckrationale Konstruktion, dass Metatheater oft poetologisch-programmatisches Theater sei, traut dem Nutzstreben der Literatur wohl zu viel zu. Eher ist der autoaffirmative Lustgewinn treibende Kraft bei der Selbstreferenz. Hugo von Hofmannsthal schrieb mit seinem Libretto für Richard Strauss’ Oper Ariadne auf Naxos ein weiteres Metatheaterstück, bei dem sich die Frage nach dem Scheitern wiederholt. Wir sehen und hören zunächst, wie der Komponist seine Opera seria sorgfältig vorbereitet hat und sich anschickt, die Früchte der ernsten künstlerischen Mühe zu ernten. Als der Hausherr aus reiner Willkür anordnet, das Stegreifstück der Komödianten gleichzeitig aufzuführen, steht

26 Shakespeare: Dramatische Werke, S. 254.

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zunächst nur die Empörung über eine maximale Absurdität im Raum.27 Dass dieses sinnlose Nebeneinander tatsächlich ins Werk gesetzt wird, und dass daraus eine wenn auch komplexe, so doch in den Kanon aufgenommene Oper entstanden ist, bedeutet in der Konsequenz einen künstlerischen Erfolg. Und doch muss man festhalten, dass die Absicht des Komponisten und der meisten seriösen Künstler an diesem speziellen Abend in der Binnenhandlung zunichtegemacht wurde. Hier scheitern die hehren Absichten; intratheatralisch bleibt das Ganze immer noch zweischneidig, nur die Oper der empirischen Urheber Hofmannsthal und Strauss gelingt. Auch Inszenierungen wiederum können ihr Teil dazu tun zu zeigen, wie brüchig der ästhetische Triumph ist, solange in dieser Binnenhandlung das verwöhnte Publikum noch während des Applauses aufsteht, um das Feuerwerk zu genießen. So kann die Nachgiebigkeit der KünstlerLakaien zu einem wahren Scheitern beitragen, denn am Ende ist die Aura der Kunst dem Geld gewichen. Dass solche inszenatorischen Bosheiten dem realen Publikum von heute einen Spiegel vorhalten, macht die Sache nicht besser: Die reale Oper, die sich dem privaten Sponsoring verpflichten muss, nimmt ihr Scheitern sehenden Auges in Kauf. Nun aber zum erklärten Scheitern: Ein explizit scheiterndes Theaterstück ist Tiecks Gestiefelter Kater (1797). In dem Moment, in dem der Dichter, der natürlich eine Bühnenfigur ist, dem Publikum, das natürlich ein künstliches Publikum zweiten Grades ist, expressis verbis sein Scheitern erklärt, steht das reale Tieck’sche Theaterstück auf des Messers Schneide: die Formel entspricht, auch wenn das Märchenstück strukturell verschachtelter gebaut ist, der von Shakespeares Komödie: Was in der Fiktion schiefgeht, kehrt sich in der Realität um in einen Bühnenerfolg. Doch ist das so? Tiecks Kater wurde von Anfang an als eine der genialsten Schöpfungen der Frühromantik gehandelt, als Fell gewordene romantische Ironie, und doch wurde und wird das Stück allenfalls hin und wieder von Schülertheatern einstudiert. An großen Häusern wurde es kaum je ausprobiert, und einen Erfolg hat es nie erzielt, nicht einmal, als der alte Ludwig Tieck für seinen Mäzen, den preußischen König, das Stück 1844 in Berlin aufführen durfte oder musste.28 Tieck ist also mit einem seiner größten Erfolge historisch gescheitert, und das, obwohl der Gestiefelte Kater, gemessen an seinen späteren Metatheaterstücken, schnörkellos und leicht verständlich war. Zwei Beispiele

27 Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Dramen V: Operndichtungen. Herausgegeben von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a. M. 1979, S. 192f. 28 Vgl. den Kommentar in: Tieck, Ludwig: Phantasus. Herausgegeben von Manfred Frank. Frankfurt a. M. 1985, S. 1381–1385.

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dafür: Nach dem zweiten Akt des Gestiefelten Katers folgt ein Zwischenspiel, das eine heftige interne Besprechung bei offenem Vorhang zeigt, wohlgemerkt: das negative Geschehnis ist in diesem Fall das Aufreißen des Vorhangs zur Unzeit. Zu oder als Beginn des dritten Akts erklärt nun Hanswurst, eine höchst kontroverse Figur, wie man weiß, dem Publikum, und zwar dem auf der Bühne und dem jenseits der vierten Wand: Der Vorhang war zu früh aufgezogen. Es war eine Privatunterredung, die gar nicht auf dem Theater vorgefallen wäre, wenn es zwischen den Kulissen nur nicht so abscheulich eng gewesen wäre. Sind Sie also illudiert gewesen, so ist es wahrlich um so schlimmer, sein Sie dann nur so gütig, diese Täuschung aus sich wieder auszurotten, denn von jetzt an, verstehn Sie mich, nachdem ich weggegangen bin, nimmt der Akt erst eigentlich seinen Anfang.29

Diese zugleich paradoxe und erhellende desillusionierende Ansage ist nur möglich, weil zuvor ein Fehler der Bühnentechnik simuliert wurde. Womit ein weiterer Standard des Metadramas anklingt – die Ausstellung der zahlreichen Bühnenberufe als institutionelle Selbstreferenz, und zwar in aller Regel im Moment des Nicht-Funktionierens: Der Vorhangaufzieher versagt, der Beleuchter leuchtet falsch, der Souffleur schläft ein. Mit solchen Aussetzern scheitert aber das Gesamtstück noch nicht. Bei Tieck hingegen ist dies ausdrücklich so vorgesehen und wird auch zum Thema gemacht. Nach dem Schlussakt tritt im Epilog der Dichter noch einmal auf, und es entspinnt sich dieser Dialog mit den noch im Saal verbliebenen Zuschauern: Dichter: Ich bin noch einmal so frei – Fischer: Sind Sie auch noch da? Müller: Sie sollten doch ja nach Hause gegangen sein. Dichter: Nur noch ein paar Worte, mit Ihrer Erlaubnis; – Mein Stück ist durchgefallen, – Fischer: Wem sagen Sie denn das? Müller: Wir haben’s bemerkt. Dichter: Die Schuld liegt vielleicht nicht ganz an mir –30

Als aber der Dichter als Sprachrohr der Romantiker, der er ist, den Zuschauern erklärt, sie hätten, um das Stück zu genießen, „wieder zu Kindern werden müssen“, zieht er sich endgültig dessen Unwillen zu: „Man trommelt von neuem.“

29 Tieck, Ludwig: Der gestiefelte Kater. Kindermärchen in drei Akten. Mit Zwischenspielen, einem Prologe und Epiloge. Herausgegeben von Helmut Kreuzer. Durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 1984, S. 43f. 30 Tieck: Der gestiefelte Kater, S. 61.

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Der Souffleur suggeriert dem Dichter, sich mit ein paar Versen wenigstens Respekt zu verschaffen, doch als der Dichter eine Xenie versucht – „Publikum, soll mich dein Urteil nur einigermaßen belehren, / Zeig erst, daß du mich nur einigermaßen verstehst“, wird er „aus dem Parterre mit verdorbenen Birnen und Äpfeln und zusammengerolltem Papier“31 beworfen. Die Unruhe der Zuschauer, das Trommeln, d. h. Trampeln (heute: Pfeifen oder Buhen) und schließlich das Werfen mit Obst („the vegetable motif“,32 mit P.  G. Wodehouse zu reden) sind die manifesten Steigerungsformen des Theater-Fiaskos. Wer beworfen wird, ist bewiesenermaßen gescheitert. Den endgültigen Schluss des Stücks spricht denn auch der Dichter im Abgehen: „O du undankbares Jahrhundert!“ Hier ist man wieder an der Schwelle zwischen Fiktion und Fakten angelangt – mit dem Aufbruch der gespielten Zuschauer endet auch der reale Theaterabend; das gespielte Eingeständnis eigenen Versagens offeriert der reale Autor zwar nur ironisch, aber wie alle Ironie soll dies ihn schützen. So ist simuliertes Scheitern meist auch eine Antizipation von Kritik, und insofern höchst ernst zu nehmen. Eines der erfolgreichsten Stücke der letzten Jahrzehnte auf den internationalen Bühnen ist Michael Frayns Noises off (Der nackte Wahnsinn).33 Die Komödie ist ein typisches rehearsal play, aber sozusagen die extended version. Akt 1 zeigt eine kleine Theatertruppe, die durch die englische Provinz tingelt, bei der Generalprobe der leicht anzüglichen, aber temporeichen Farce „Nothing on“. Dank der Unfähigkeit einiger Schauspieler, privater Konflikte und zufälliger Missgeschicke droht die Probe in eine Katastrophe zu münden. Akt 2 nutzt die Drehbühne und zeigt das Bühnenbild von hinten während der Premiere, die schlecht und recht läuft, wobei viel geplanter unfreiwilliger Slapstick zum Tragen kommt (das Sardinenmotiv). Akt 3 schließlich dreht den Prospekt wieder um; nunmehr erleben wir die letzte Vorstellung einer restlos demotivierten Truppe in einem bedeutungslosen Küstenort. Die Tournee ist gescheitert, die Truppe ist gescheitert, die meisten Figuren sind gescheitert. Aber Frayns Stück, dessen Buchversion das komplexe Nebeneinander der Perspektiven in Spalten abbildet, erntet Lacher ohne Ende. Seine Hauptgeste ist der desengaño, das Wegziehen der Maske oder Fassade; es zeigt dem amüsierten Publikum, wie es in seiner Abwesenheit auf und in seiner Anwesenheit hinter der Bühne zugeht, es desillusioniert – wie im Raub der Sabinerinnen – den hehren Künstlerberuf. Eigentlich ein höchst realistisches Drama, nur eben im Tür-auf-Tür zu-Rhythmus des Boulevardtheaters. Werner Wolf unterscheidet bekanntlich als Grundkategorien der ästhetischen Metareferenz intra-

31 Tieck: Der gestiefelte Kater, S. 62. 32 Wodehouse, P. G.: Very Good, Jeeves. London 1957, S. 88 (dort fälschlich: „vegetable motive“). 33 Frayn, Michael: Noises Off. A play in three acts. London u. a. 2013.

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textuelle vs. transtextuelle und explizite vs. implizite Konstruktionen, fictio- vs. fictum-Metareferenz (womit ungefähr ein Bezug auf Form/Status bzw. den Inhalt gemeint ist) sowie kritische vs. nichtkritische Prozeduren.34 Natürlich kann das künstliche Scheitern in all diese Antithesen eingespannt werden. Hauptsächlich wird es wohl explizit auftreten, um sicher bemerkt zu werden. Dem dient namentlich im komischen Metadrama aller Slapstick, das Clowneske, die ausgestellte Selbstdemütigung des performierenden Künstlers, die den Vorteil ausbeutet, dass das momentane Fiasko auch schnell wieder vergangen ist.

6 Fehler ohne Verantwortung In seinen Reflexionen über die Frage, ob unter den Meta-Versionen der Künste auch die Musik ihren Platz habe, hat sich Werner Wolf einer bekannten kleinen Komposition Mozarts gewidmet, die man als Musik über Musik einstufen kann, dem sogenannten Dorfmusikantensextett (KV 522). Insbesondere dessen Schlusssatz fällt dabei ins Ohr. Aber die Mozartforschung, wie sie Wolf zusammenfasst, hat wesentlich mehr ästhetische Auffälligkeiten registriert: „Apart from the final chord and some blatantly wrong notes at the end of the cadence in movement III, movement II, Menuetto Maestoso (!), contains a particularly humorous form of this kind of ‚parody‘, namely jarring notes in the horns.“35 Ganz zu schweigen vom finalen Rondo, das viele handwerkliche Fehler ansammelt, die am Schluss kulminieren, „which sports some enervating repetitions of banal phrases, a second attempt at the failed fugue from the beginning, a mock-effective general rest, and the well-known final discord, which again seems to be an effect of a failed performance.“36 Schon Wolfgang Hildesheimer hatte betont, Mozart ziele nicht auf inkompetente Instrumentalisten, sondern auf inkompetente Komponisten.37

34 Wolf, Werner: Metaisierung als transgenerisches und transmediales Phänomen: Ein Systematisierungsversuch metareferentieller Formen und Begriffe in Literatur und anderen Medien. In: Hauthal, Janine u.  a. (Hg.): Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Theoretische Grundlagen – Historische Perspektiven – Metagattungen – Funktionen. Berlin / New York 2007, S. 25–64, hier S. 40. 35 Wolf, Werner: Metamusic? Potentials and Limits of ‚Metareference‘ in Instrumental Music: Theoretical Reflections and a Case Study (Mozart’s ‚Ein musikalischer Spaß‘). In: Bernhart, Walter / Wolf, Werner (Hg.): Self-Reference in Literature and Music. Amsterdam / New York 2010, S. 1–32, hier S. 17. 36 Wolf: Metamusic? S. 21. 37 Vgl. Hildesheimer, Wolfgang: Mozart. Frankfurt a. M. 1980, S. 218: „Das Objekt dieser wahrhaft grandiosen Parodie ist ja nicht falsches Musizieren […] sondern stümperhaftes Komponieren“.

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In der Praxis (d. h. der Partitur) ist das nicht leicht zu unterscheiden. Aber eindeutig erkennbar ist: Mozart sind die Fehler nicht unterlaufen, sondern sie sind beabsichtigt – das ist das Kennzeichen für reale Metamusik. Dabei muss man tatsächlich beide Kategorien – Komposition und Performanz – einbeziehen, wobei vermutlich folgender Schluss der plausibelste ist: Mozart fingiert mit seinem kurzen, banalen, handwerklich unvollkommenen Sextett eine überambitionierte Musik und persifliert damit nicht nur unbegabte Zeitgenossen, sondern markiert Problemstellen, die in einer besseren Komposition anders gelöst wären. D.  h., wie zahlreiche Formparodien bietet sein Sextett implizit eine propositive Ästhetik. Bis hierhin ließe sich die Partitur als Übung verstehen und unter die Frage stellen: Was ist hier falsch? Da aber die scheiternde Musik raffiniert und daher unauffällig scheitern soll – ein Scheitern für Kenner – bestand und besteht die Gefahr, dass Hörer die Absicht nicht erkennen. Daher befand Mozart eine Demaskierung für notwendig, und die erfolgt in der punktuellen (!) Schlussdissonanz, die man nur sekundär auf Musikanten von Dorfniveau beziehen kann; primär ist es die Beglaubigung eines hoax, den Mozart auf diese Weise offenlegte. Heutige Instrumentalisten werden den Schluss mit entsprechender Mimik begleiten. Ein Beispiel, das eher an Mozarts Sextett erinnert, auch wenn es kein primäres Scheitern des Autors demonstriert, sondern das Scheitern einer ästhetischen Erwartung oder einer Kommunikation: In seinem satirischen Drama Prinz Zerbino (der Fortsetzung des Gestiefelten Katers) bringt Ludwig Tieck ein sechsstrophiges Gedicht, das später unter dem Titel Bedeutung auch in seiner Gedichtsammlung erschien: In den 6 × 6 Versen, die zunächst perfekt gereimt sind, geht es um die Naturverbundenheit eines romantischen Geistes (oder Publikums) und die Frage, wie dem Gesang der Vögel Bedeutung zuzuschreiben sei. Was aber will der Gesang der Nachtigall, die romantische Vogelstimme par excellence, „vernünftigen Leuten“ sagen? Bis hierhin funktioniert der Kreuzreim perfekt: „So Erd‘ und Himmel mit Farbengepräng / Was wollen sie wohl bedeuten? / Das bunte Gewimmel von Tongemeng, / Was spricht’s zu vernünftigen Leuten?“ Doch wo in den ersten fünf Strophen ein paargereimtes Couplet abschließt, heißt es als sinngemäße Antwort der Nachtigall am Gesamtschluss: „Ist alles nur leider sein selbst willen da, / Kräht nach unserm Sinne weder Hund noch Hahn.“38 Die Syntax ist gewaltsam, der Reim kaputt, ein Hund kann nicht krähen, weder er noch der Hahn haben mit der Nachtigall zu tun. Plötzlich dominiert die Redensart: Kein Hahn kräht nach dem Wunsch des Aufklärers. Das heißt im Klartext: Es siegt die naive Naturfreude des Romantikers, und wer zu viel fragt, wird düpiert. Dies aber zeigt das Gedicht im Entzweigehen seiner Struktur, analog zu der momentanen

38 Ludwig Tieck: Gedichte. 2. Teil. Dresden 1821, S. 249f. (Hervorhebung A. H.)

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Dissonanz am Ende von Mozarts Musik. Ohne das Ganze überzubewerten, ist es doch einigermaßen riskant, denn bei jedem eingebauten Fehler muss der Künstler darauf wetten, dass das ästhetische Defizit nicht auf seine Rechnung gesetzt wird. Die Absicht muss greifbar bleiben. Tiecks Gedicht Bedeutung scheitert, um das Scheitern seiner Leser zu zeigen. Robert Gernhardt arbeitete übrigens ähnlich, etwa in dem Vierzeiler: Ich leide an Versagensangst, besonders, wenn ich dichte. Die Angst, die machte mir bereits manch schönen Reim zuschanden.39

Der falsche Reim ist das Äquivalent zur finalen Dissonanz, ein Choc, der durch seine inkorrigible Plötzlichkeit das endgültige Scheitern der – wie auch immer miniaturhaften – Kunstbemühung beglaubigt.

7 Gewolltes Scheitern in allen Künsten oder doch nicht? Zum Schluss eine kurze Reflexion zur ästhetischen Ökonomie,40 die ja als basale Denkfigur ausgestellter Nicht-Vollendung gelten kann: Es ist beinahe erstaunlich, und dann doch wieder nicht, wenn aus einem gescheiterten Filmprojekt, deren es in der Filmhistorie viele gibt (Kubricks Napoleon etwa oder Something’s Got to Give von George Cukor), seinerseits ein Film wird. Terry Gilliam hat dies realisiert. Aus seinem 2000 begonnenen Cervantes-Projekt The Man Who Killed Don Quixote, das in eine Serie von Katastrophen am Set ausartete, entstand schließlich als eine spezielle Art von „making of“, die Dokumention Lost in La Mancha.41 Die Erklärung für die Exposition dieses ‚epic fail‘ liegt wohl darin, dass kaum zusätzliche Kosten entstanden, aber auch darin, dass gerade der Film sich zu einem offenen Genre entwickelt und zahlreiche Subgenres ausdifferenziert hat. Grundsätzlich

39 Gernhardt, Robert: Bekenntnis. In: ders.: Gedichte 1954–1994, S. 56; vgl. auch ebd. S. 105 das Gedicht Das Scheitern einer Ballade. 40 Dies unterstreicht offenbar die Sektion „Der Mehrwert des Scheiterns“ des XXXIV. Romanistentags 2015. In: http://www.romanistentag.de/index.php?id=920 (19. April 2017). 41 Keith Fulton und Louis Pepe, 2002, vgl. Heisterberg, Hendrik: Don Quijote im unsichtbaren Kino. Eine Analyse fehlgeschlagener Verfilmungen von Cervantes’ Don Quijote de la Mancha. Münster 2009.

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 Achim Hölter

könnte man formulieren: Alle Künste können Metareferenzen entwickeln, alle Metareferenzen als negative Verläufe oder Ereignisse konzipiert werden. Also wird man in allen Künsten implizites und explizites, selbstzweckhaftes und satirisches, in der Form oder im Gehalt des Werks verankertes und auch immer wieder auf andere Künstler/Werke perspektiviertes Scheitern als Sonderform der ästhetischen Metareferenz erkennen.42 Und doch gibt es eine Einschränkung materieller Natur, die für die Metabezüglichkeit allgemein noch nicht behandelt wurde, denn bisher ging es um geschehensdarstellende oder geschehensanaloge Kunst, was unter temporalem Aspekt43 als äquivalent mit ‚ereignisdarstellend‘ betrachtet werden kann.44 Betrachten wir daher als letztes die Metamalerei: Die Ikonographie selbstreferentieller Bilder ist breit gefächert; Allegorien wie die malende Pictura, der Evangelist Lukas oder der kopierende Affe gehören ebenso dazu wie Galerie- und Atelierbilder, Selbstporträts und natürlich das Bild im Bild.45 Was aber wenig üblich zu sein scheint, ist ein bewusst schlechtes, nicht-vollendetes Bild46 oder gar ein beim Scheitern gemalter Maler. Rembrandt oder Vermeer malen vielmehr die Apotheose des Gelingens. Ähnlich in der Architektur: Die künstliche Grotte ist ein Sinnbild des Verfalls, der Vergänglichkeit, nicht des scheiternden oder unfähigen Architekten, der Manierismus gestaltet das Abweichende, nicht das Funktionsunfähige. Vielleicht liegt dies (auch) an dem Zeitaufwand für ein

42 Vgl. die Übersicht der ‚Funktionspotentiale‘ in: Hauthal, Janine / Nadj, Julijana / Nünning, Ansgar / Peters, Henning: Metaisierung in Literatur und anderen Medien: Begriffsklärungen, Typologien, Funktionspotentiale und Forschungsdesiderate. In: Hauthal, Janine u. a. (Hg.): Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Theoretische Grundlagen – Historische Perspektiven – Metagattungen – Funktionen. Berlin / New York 2007, S. 1–22, hier S. 9. 43 Wenngleich ein einschlägiger Sammelband (Rathmann, Thomas [Hg.]: Ereignis. Konzeptionen eines Begriffs in Geschichte, Kunst und Literatur. Köln 2003) zu dem „Eindruck“ gelangt, „daß ein kohärentes Ereignis-Konzept nicht hat entwickelt werden können“ (Rathmann, Thomas: Ereignisse, Konstrukte, Geschichten. In: ebd., S. 1–19, hier S. 9), schält sich doch in einem anderen Werk (Acquier, Marie-Laure / Merlo, Philippe [Hg.]: La relation de la littérature à l’évènement [XIXe–XXIe siècles]. Paris 2012) mindestens heraus, dass in allen Beiträgen zu szenischen oder narrativen Texten die Kategorie der Temporalität im Zentrum der Analysen steht. 44 Vgl. Korthals, Holger: Zwischen Drama und Erzählung. Ein Beitrag zur Theorie geschehensdarstellender Literatur. Berlin 2003, S. 88: „Von einem Ereignis […] spricht die Narratologie üblicherweise angesichts der Existenz zweier isolierbarer Zustände A und B, für die gilt, daß B erstens zeitlich auf A folgt und zweitens ungleich A ist, daß also eine Veränderung in der Zeit stattfindet.“ 45 Asemissen, Hermann Ulrich / Schweikhart, Gunter: Malerei als Thema der Malerei. Berlin 1994. 46 Vgl. jedoch Neuburger, Susanne / Badura-Triska, Eva (Hg.): Bad painting. Good art. Köln 2008.

Negativereignisse 

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Gemälde und am Zeit- und Geldaufwand für ein Gebäude. Daher sei abschließend die für den vorliegenden Zusammenhang wichtige Erklärungshypothese formuliert, dass Kunstwerke, die keinen Verlauf haben (die nicht performt werden, also Kunstwerke im Raum nach der klassischen Differenzierung in Lessings Laokoon), weniger gerne als scheiternd inszeniert werden: Gemälde, Großplastiken, Architektur. Es ist schlicht zu teuer und vielleicht sogar im perpetuierten Gebrauch zu unangenehm oder zu unpraktisch. Denn Ironie muss man sich leisten können. Ausgestelltes Scheitern in literarischen Formen ist logischerweise ein Negativereignis in der Zeit; das Misslingen eines Bildes erfüllt schlicht eine andere Kategorie. So ließe sich gerade im Horizont ästhetischer Ökonomie, die Aufwand und Kommunikation in ein Verhältnis stellt, erklären, wie auch das Scheitern stets zu einem Sieg gewendet werden muss. Und dass es offenbar leichter, weil günstiger ist, ein gescheitertes Projekt doch zu vermarkten, wenn es ‚nur‘ ein Text ist. Authentisches Scheitern aber, ungeplant, unironisch, unbezahlt, scheint innerhalb des Kunstsystems nur an der äußersten Peripherie denkbar.

Dirk Kemper

„Gedankendienst mit der Waffe“ Ereignishaftigkeit und Ästhetizität in Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen Zugegeben, mein Thema scheint allen Leseerfahrungen, die wir heute mit den Betrachtungen eines Unpolitischen machen, zu widersprechen. Wer die sechshundertvierzig Seiten in der Neuen kommentierten Frankfurter Ausgabe1 bewältig hat, wird in der Regel erschöpft sein. Wie auch immer die inhaltliche Qualität des Gelesenen empfunden wird, deren Quantität allein bleibt doch eine Zumutung: zu viel, zu geschwätzig, Redundanzen, unendliche Wiederholungen, ein sich ständig perpetuierender Monolog anstatt stringenter Argumentation. Einhundertfünfzig Seiten hätten es auch getan! Wo in all dem soll ästhetische Qualität liegen? Und wo Ereignishaftigkeit in einem Text, der die Ereignisflut des Ersten Weltkriegs ganz bewusst ausblendet und auf der weit abgehobenen Ebene des „Kulturkrieges“ parliert? Auch Thomas Mann hatte Mühe, das fertige Textkonvolut begrifflich zu beherrschen. Die nicht enden wollende Reihe von Textsortenbegriffen in der im März 1918 abgeschlossenen „Vorrede“ zeugt von diesen Schwierigkeiten. Es sind Begriffe, die er anbietet und wieder ersetzt, ohne zu einer gültigen Formel zu gelangen: Versuchsweise nennt er die Betrachtungen „ein Memorandum, ein Inventar, ein Diarium oder eine Chronik“ (11f.), dann „ein Schreib- und Schichtwerk“ (12), dann wieder „ein Mittelding zwischen Werk und Erguß, Komposition und Schreiberei“ (12). Für den „feuilletonisierende[n] Ton“ (14) dieses „künstlerisch heillosen Gedankentumultes“ (14) ersucht er geradezu um Nachsicht. Der Text will sich unter keinen Begriff beugen, und das hat am ehesten mit seiner inneren Dynamik zu tun. Das Angebot „Schichtenwerk“ ist tatsächlich erhellend: 1. Der Weltkrieg ruft den Verfasser zum „Zeitdienst“ (22) ein, zum „Gedankendienst mit der Waffe“ (11). Die Situation zwingt zum Bekenntnis, zur geistigen Selbstentblößung „bis zur Prostituierung, bis zur Preisgabe der Biographie, bis zur vollständigen Jean-Jacqueshaften Schamlosigkeit“ (19).

1 Die Betrachtungen eines Unpolitischen werden unter Angabe der Seitenzahl im Haupttext zitiert nach: Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen. Herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke. Frankfurt a. M. 2009 (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, 13.1). DOI 10.1515/9783110541854-015

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 Dirk Kemper

2. Dieser Bekenntniszwang wird unter den Bedingungen des Krieges gleichsam auf Dauer gestellt, denn das Schlachtfeld für den „Gedankendienst mit der Waffe“ ist die „Öffentlichkeit“ in dem emphatischen Sinne, den wir seit dem 18. Jahrhundert kennen: Öffentlichkeit als „Richterstuhl der Vernunft“ und als vierte, kontrollierende Gewalt im Staat. Das verändert aber die Schreibstrategie wesentlich: Es geht nicht mehr um die persuasive Brillanz eines neuen Arguments, sondern um die Durchsetzung, Behauptung, Festigung der eigenen Position im diskursiven Feld. Jede Gegenstimme muss verdrängt, jede Polemik angenommen, jede Gelegenheit genutzt werden, das schon einmal oder mehrfach Gesagte erneut zu platzieren und zu bestätigen. Kurz, der performative Durchsetzungsdrang verdrängt den Anspruch auf inhaltliche Originalität. 3. Die von ihm gemeinte „Öffentlichkeit“ ist für Thomas Mann entschieden von Belang. Er teilt die Sphären: Für das Feuilleton, das sich dem Tagesgeschehen hingibt, zeigt er lediglich Verachtung. Er kämpft auf der Ebene des zweiten Krieges, des Krieges der Geister und der Intellektuellen, die die tiefere ­anthropologische oder geschichtsphilosophische Bedeutung dieses „Kulturkrieges“ kennen. Genau das heißt für ihn „Zeitdienst“: die Teilhabe am großen „europäischen Bruderzwist“ (52), und der währt, solange der Kriege währt, und darüber hinaus. 4. Ein dynamisierendes Ferment bildet ferner sein persönlicher „Bruderzwist“, die Fehde mit Heinrich, dem „Zivilisationsliteraten“, ein Streit, der sich nicht beruhigen will und zu immer neuen Runden herausfordert. 5. Nehmen wir schließlich hinzu, was zumindest als ein Vorbild im Hintergrund der Betrachtungen steht, nämlich Dostojewskis Tagebuch eines Schriftstellers von 1873 bis 1881. Hier leistete sich ein europäischer Großschriftsteller eine eigene Zeitschrift, in der er völlig frei von redaktioneller Kontrolle und Einschränkung in spontanen Wechseln und Verknüpfungen über alles parlierte, was seinen weltanschaulichen Interessen irgendwie entsprach. ­Dostojewskis Stil im Tagebuch kennzeichnet Thomas Mann als „krankhaft leicht“ und „unheimlich genial“; er gemahne aber auch an das „verkommene Schwatzen“ (46) einiger seiner Figuren, deren Rede damit aber keinesfalls abgewertet werden soll.



Ereignishaftigkeit und Ästhetizität 

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Zusammenfassend: Das „Schichtwerk“ der Betrachtungen, dem „Zeitdienst“ entsprungen, hat wenig Chancen, Ansprüche auf Literarizität und Ästhetizität zu erheben, was Thomas Manns Selbstanspruch natürlich nicht genügen konnte. In den spät geschriebenen Teilen mehren sich daher die Reflexionen über das eigene Schreiben, und im Aufsatz „Politik“, an dem er noch im Mai 1917 arbeitete, kommt ihm – weitgehend retrospektiv wohlgemerkt – die Idee, das eigene Zitieren unter literarisch-ästhetischen Gesichtspunkten zu betrachten. Im ersten Zugriff geht es dabei noch sehr deskriptiv zu. Nachdem er sich in offener rhetorischer Geste selber stoppt, eine Schrift von Paul de Lagarde noch weiter auszuschreiben, als er es schon getan hatte, bekennt er: meinesgleichen sieht sich natürlich auf Schritt und Tritt nach Hilfe um bei einem Werke der Not und Pein wie diesem, nach autoritären Stützen für sein Gefühl; er tut sich schwerlich genug damit, er ist voller Dankbarkeit für jede, die sich ihm bietet, und kümmert sich nicht viel um die Lesbarkeit seiner Komposition. (307)

Unter dem größeren Rechtfertigungsdruck, unter dem er zehn Monate später die „Vorrede“ schreibt, verwandelt er das so Beschriebene in eine poetologische Finesse: Künstlerwerk sind diese Abhandlungen ferner in ihrer Unselbständigkeit, ihrem Hilfs- und Anlehnungsbedürfnis, ihrem unendlichen Zitieren und Anrufen starker Eideshelfer und „Autoritäten“, – diesem Ausdruck schwelgender Dankbarkeit für empfangene Wohltat und des kindischen Triebes, dem Leser all das wörtlich aufzudrängen, was man sich zum Troste erlas, statt es den stummen und beruhigenden Untergrund der eigenen Rede bilden zu lassen. Übrigens scheint mir, daß bei aller Zügellosigkeit dieser Begierde ein gewisser musischer Takt und Geschmack in ihrer Befriedigung am Werke war: Das Zitieren wurde als eine Kunst empfunden, ähnlich derjenigen, den Dialog in die Erzählung zu spannen, und mit ähnlich rhythmischer Wirkung zu üben gesucht […]. (13)

Das Zitieren als „Kunst“ meint ein Verfahren, das sich nicht aus den rhetorischen Regeln der persuasiven Rede ableitet, sondern dem Anspruch einer hier immanent angedeuteten Poetik genügt. Der Beispiele wären viele und auch der Techniken, derer er sich bei dieser Kunstübung bedient; doch wir wollen uns auf eines konzentrieren, bei dem das Artifizielle im Ereignischarakter des Zitats liegt – und das zudem den Textanfang bildet.

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 Dirk Kemper

1 Thomas Mann will die Betrachtungen nicht unbedingt als „Kunstwerk“, in jedem Falle aber als „Künstlerwerk“ verstanden wissen: Wenn aber diese Aufzeichnungen kein Kunstwerk sind, so sind sie es am Ende darum nicht, weil sie, als Aufzeichnungen und Betrachtungen, nur allzusehr Künstlerwerk, Werk eines Künstlertums sind, – denn das sind sie in der Tat auf mehr als eine Weise. Sie sind es zum Beispiel als Erzeugnis einer gewissen unbeschreiblichen Irritabilität gegen geistige Zeittendenzen, einer Reizbarkeit, Dünnhäutigkeit und Wahrnehmungsnervosität, die ich von jeher an mir kannte, und aus der ich als Künstler, wie ich glaube, zuweilen Nutzen gezogen habe. Sie zeitigte aber von jeher den bedenklichen Nebenhang, unmittelbarschriftstellerisch, kritisch, polemisch auf solche Reize zu reagieren, und zwar auch dann, ja gerade dann, wenn nicht nur ein äußerer Hautkitzel in Frage stand, sondern wenn ich von innen her in gewissem Grad an dem Wahrgenommenen teilhatte: eine rein literarische Streitbarkeit oder Streitsucht, beruhend auf dem Bedürfnis nach Gleichgewicht und darum ihrerseits wieder zur erbosten Einseitigkeit nur allzu entschlossen, – ohne daß bei alldem die kritische Erkenntnis hinlänglich bewußtseinsfähig, des Wortes, der Analyse fähig, intellektuell reif genug wäre, um auf essayistische Erledigung ernstlich hoffen zu können. So, meine ich, entstehen Künstlerschriften. (11f.)

Während das Kunstwerk das Produkt der künstlerischen Tätigkeit meint, seine Beschaffenheit, seine Literarität im Sinne des russischen Formalismus (in Anlehnung an Eichenbaum: wie die Betrachtungen gemacht sind), liegt der Akzent beim Künstlerwerk ganz auf der Produktionsseite, beim Erzeuger und dem Vorgang des Erzeugens (wie die Betrachtungen gemacht wurden). Argumentativ wechselt Thomas Mann auf die Seite der αἴσθησις, der Wahrnehmung, zur Fähigkeit des Empfindens in Tiefe und Weite. Der Künstler wird zum zeitdiagnostischen Seismographen; die Differenz zum normalen Zeitgenossen liegt in seiner „Wahrnehmungsnervosität“. Damit vollzieht auch der Begriff der ‚Ästhetizität‘ eine subjektphilosophische Wende: Der Text weist nicht mehr artifizielle Qualitäten auf, die der Wahrnehmung zugänglich sind, vielmehr legt er Zeugnis ab von der besonderen Art seiner Erzeugung und von den besonderen Wahrnehmungsfähigkeiten seines Erzeugers. In diesem Sinne soll den Betrachtungen Ästhetizität unbedingt zugesprochen werden, denn sie sind Bekenntnis, geistige Selbstentblößung der besonderen Art. Sie bezeugen jedoch nicht in erster Linie Inhalte, Meinungen, Positionen des Verfassers im öffentlichen Meinungskampf, sondern die Wahrnehmungsweise des Autors, seine „Irritabilität“, die ihm eigene und individuelle Art des Welterlebens, seine eigene Weise, auf „Reize zu reagieren“. Damit werden die Inhalte keineswegs bedeutungslos, wohl aber zweitrangig. Das Ziel der Sprachgestaltung besteht nicht in der rhetorisch-artifiziellen Stärkung des inhaltlich Gesagten, denn die „kritische Erkenntnis“ muss gar nicht „hin-



Ereignishaftigkeit und Ästhetizität 

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länglich bewußtseinsfähig“ werden, sondern in der adäquaten Gestaltung der Ereignisse, die den vorgängigen Wahrnehmungsprozess ausmachten. Auf diese Weise kommen Ereignisse ganz anderer Art in den Blick als die tagespolitische Ereignisgeschichte des Weltkriegs in den Gazetten, die Thomas Mann ohnehin verachtete. Auf der Ebene des „Geistes“ aber, dort, „wo gleich gedacht, aber verschieden empfunden wird“ (52) und deshalb auch gestritten werden kann, sind es vor allem Lektüren, die zu Ereignissen werden. Ein Text wird zum Fund des lange Gesuchten und fordert ein bestätigendes Innehalten. Ein anderer wird zum Bestätigungsgrund der eigenen Haltung und erzwingt ein extensives Weiterzitieren. Ein dritter bietet ein Segment, das als signifikant empfunden wird und zur rhythmischen Wiederholung als Leitmotiv auffordert. Aus einem vierten schlägt Polemik gegen die eigene Position zurück und nötigt so zur spontanen Reaktion. Ein fünfter enthält eventuell die Geisteswelt eines „Eideshelfers“ und muss als „Resonanzraum“ (266) installiert werden. Die Bewältigung eben dieser Ereignisgeschichte stellt den „Zeitdienst“ (22) dar, den „Gedankendienst mit der Waffe des Schriftstellers“, die Teilhabe am Kulturkrieg im höheren Sinne. Nichts kann die Geschichte des eigenen Erlebens eines seismographisch Lesenden besser repräsentieren als das Zitieren. Wiederum nicht das Zitat selbst, sondern die Art des Zitierens kann „als eine Kunst empfunden“ werden. Diese liegt dann darin, den Ereignischarakter der Lektüre durch eine besondere Weise des Zitierens im Text zu repräsentieren, also einen vorgängigen Prozess in einen text-, dann leseimmanenten zu überführen: „Wahrnehmungsnervosität“ verwandelt sich in Zitierkunst. Entsteht so nicht auch Literarität, also die artifizielle Gemachtheit des Textes? Für Thomas Mann sehr wohl, denn es ist dieselbe Aisthesis des Künstlers, die ihn zur Literatur wie zu dem „bedenklichen Nebenhang“ des (zeit-)kritischen Essayismus befähigt. Zudem gilt es zu bedenken, dass zeitgenössisch auch nichtfiktionale Texte durchaus der Nobilitierung als Literatur fähig waren, und das von höchster Instanz. 1902 wurde der Literaturnobelpreis – der zweite überhaupt – dem Historiker Theodor Mommsen zugedacht, und zwar als „the greatest living master of the art of historical writing“. 1908 wurde der Philosoph Rudolf Eucken in gleicher Weise geehrt, wiederum mit einem Hinweis auf seine Darstellungsweise („the warmth and strength in presentation“2).

2 Zit. nach: All Nobel Prizes in Literature. In: http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/ (25. November 2016).

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 Dirk Kemper

Was wir eher in heuristischer Absicht als Ästhetizität des Künstlerwerks und als Literarität des Kunstwerks getrennt haben, konnte sich für Thomas Mann also sehr organisch zusammenschließen.

2 Die Betrachtungen eines Unpolitischen haben Thomas Mann vom Spätherbst 1915 bis zum Frühjahr 1918 ganz mit Beschlag belegt. Sie haben also während des Ersten Weltkrieges ein publizistisches Vorspiel von einem Jahr, in dem Mann unter anderem darum ringt, seinen Standpunkt zum Kriege zu definieren. Das gelingt ihm in Etappen. In seinem Aufsatz Gedanken zum Kriege, entstanden im Herbst 1914 und im November gedruckt, legt er sich mit der Opposition deutscher ‚Kulturʻ versus westlicher, kulturgefährdender ‚Zivilisationʻ das entscheidende Begriffsinstrumentarium zurecht. Damit unternimmt er einen großen Wurf, der eine neue Sicht der Dinge, einen neuen Diskurs über die Einschätzung der europäischen Völker und ihr Verhältnis zueinander stiften soll. Die von Mann behauptete Opposition der Begriffe ‚Kulturʻ und ‚Zivilisationʻ war nämlich bis zum Weltkrieg in der europäischen Begriffsgeschichte weitgehend unbekannt. Bis dahin bezeichnete im Englischen und Französischen ‚Zivilisationʻ das, was im Deutschen ‚Kulturʻ genannt wurde, und beide Begriffe repräsentierten das Überlegenheitsgefühl der europäischen Länder gegenüber anderen, also im Außen-, nicht im Binnenverhältnis.3 Mit seinem apodiktischen Überschreiben der Begriffsgeschichte will Thomas Mann zugleich auf performativer Ebene zeigen, was er inhaltlich behauptet, dass nämlich der Krieg dem Denken Befreiung, Entgrenzung und neue Freiheit gewähre. Die so grundierte Opposition von ‚Kulturʻ und ‚Zivilisationʻ blieb aber zunächst flächig auf synchroner Ebene stehen. Gesucht war eine Geschichtsidee, mit der die Opposition diachron zu vertiefen und damit erst zu legitimieren, ja zu nobilitieren wäre. Die nächsten Aufsätze und auch der Essay Friedrich und die Große Koalition von 1915 leisten keineswegs, was in dieser Beziehung als Desiderat offengeblieben war, und auch die Gedanken zum Kriege vom August 1915 vermögen nicht, die deutende Grundopposition historisch zu begründen.

3 Fisch, Jörg: Zivilisation, Kultur. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Herausgegeben von Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck. Stuttgart 1972–97, Bd. 7 (1997), S. 679–774.



Ereignishaftigkeit und Ästhetizität 

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Im Winter 1915/16 las Thomas Mann dann die Politischen Schriften Dostojewskis, wie sie in der bei Piper erschienenen Ausgabe Arthur Moeller van den Brucks seit 1907 vorlagen.4 Sie stellten die erste größere Auswahlübersetzung aus dem Tagebuch eines Schriftstellers dar, dessen vollständigen Text Alexander Eliasberg erst 1921–23 herausgab.5 Parallel zu dieser Lektüre vollzieht sich Entscheidendes. Ab September 1915 gibt Thomas Mann die Arbeit am Zauberberg vorläufig auf.6 Gleichzeitig entsteht die Idee eines größeren Werkes über den Krieg; im April 1916 ist der erste Beitrag dazu, „Der Protest“, abgeschlossen und im Juni nennt Mann bereits den Titel Betrachtungen eines Unpolitischen. Die Formulierung „Der Protest“ bezieht sich auf Dostojewskis Aufsatz Deutschland, das protestierende Reich von 1877, der in der deutschen Ausgabe der Politischen Schriften die Rubrik „Die deutsche Weltfrage und Anderes“ eröffnet. Hier findet Thomas Mann exakt, was er sucht, nämlich eine Geschichtsidee, die Deutschland aus der Tiefe der Zeit eine historische Mission zuschreibt. Mit dieser Mission ließ sich auch – aus der damaligen gedanklichen Perspektive Thomas Manns – Deutschlands Aufgabe im Weltkrieg markant begründen. Diese Geschichtsidee behandelt Mann wie ein Kleinod und feilt an ihrer Präsentation. Immerhin handelte es sich um den Textanfang des geplanten Kriegsbuches, das damals noch keine Vorrede hatte. Dieser Textanfang besteht aus einem langen Dostojewski-Zitat, das exakt die Hälfte des achtseitigen Aufsatzes ausmacht; dann folgt – optisch abgesetzt durch ein Spatium – etwas ganz Anderes. Zunächst zu Inhalt und Form des Zitats. Thomas Mann arbeitet in den Betrachtungen gerne mit einer Montage aus Direktzitaten, textnahen Paraphrasierungen und Halbzitaten. So auch hier. Inhaltlich zitiert und referiert er Dostojewskis bereits titelgebende These, dass nämlich Deutschland in der europäischen Geschichte eine Mission zufalle. Seit Arminius habe Deutschland gegen die römische Idee protestiert, die Idee einer „Allerweltsmonarchie“ (46). Das gelte für die Idee des Imperium Romanum, für deren Anverwandlung in Form der päpstlichen Universalmonarchie, für deren Säkularisation in Form der Französischen Revolution und schließlich auch für die politische Formel des Sozialismus. Die

4 In der Piper-Ausgabe ist das Tagebuch eines Schriftstellers auf drei thematische Bände in Auswahl aufgeteilt: F. M. Dostojewski: Politische Schriften. Übertragen von E. K. Rahsin. In: ders.: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Arthur Moeller van den Bruck. München / Leipzig 1907, Abt. I, Bd. 13; ders.: Literarische Schriften. Übertragen von E. K Rahsin. In: ders.: Sämtliche Werke. Abt. II, Bd. 12; ders.: Autobiographische Schriften. In: ders.: Sämtliche Werke. München 1919, Abt. II, Bd. 11. 5 Vgl. F. M. Dostojewskij: Tagebuch eines Schriftstellers. Herausgegeben und übertragen von Alexander Eliasberg. München 1921–23. 4 Bde. 6 Vgl. Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 39.

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 Dirk Kemper

Formel der „Allerweltsmonarchie“ sei zwar gefallen, „aber nicht die Idee; denn die Idee sei die Idee der europäischen Menschheit, aus ihr habe sich deren Zivilisation gebildet, für sie allein lebe sie überhaupt“ (46). Zur Hauptthese gibt Thomas Mann wieder Dostojewski ganz das Wort: „Der charakteristischste, wesentlichste Zug dieses großen, stolzen und besonderen Volkes bestand schon seit dem ersten Augenblick seines Auftretens in der geschichtlichen Welt darin, daß es sich niemals, weder in seiner Bestimmung noch in seinen Grundsätzen, mit der äußersten westlichen Welt hat vereinigen wollen, d. h. mit allen Erben der altrömischen Bestimmung. Es protestierte gegen diese Welt diese ganzen 2000 Jahre hindurch […].“ (47f.)

Soweit die historische Herleitung einer deutschen Mission, und dies im apodiktisch raunenden Duktus der Originalquelle. Doch Dostojewski leistet für Mann noch viel mehr, und zwar in der zweiten Hälfte des zuletzt zitierten Satzes. Diese nämlich im zweiten Kriegsjahr, im April 1916, zu zitieren, hieß, sie in einen völlig veränderten Verstehenshorizont versetzen: „[…] und wenn es [dieses Deutschland] auch sein eigenes Wort nicht aussprach – und es überhaupt noch nie ausgesprochen hat, sein scharf formuliertes eigenes Ideal, zum positiven Ersatz für die von ihm zerstörte altrömische Idee – so, glaube ich –“ (dies ist eine gewaltige Stelle; man spürt plötzlich, wo man ist: beim ersten Psychologen der Weltliteratur!) „so“, sagt er, „glaube ich, war es doch im Herzen immer überzeugt, daß es noch einmal imstande sein werde, dieses neue Wort zu sagen und mit ihm die Menschheit zu führen.“ (48)

Es bedurfte wahrlich keines äußeren Hinweises, um den Leser zu einer aktualisierenden Transformation dieser Stelle zu veranlassen. Doch wiederholt er dieselbe Technik nochmals im ausleitenden Satz des vierseitigen Zitatblocks: „Und damals entstand in ihm das dringende Bedürfnis, sich wenigstens äußerlich in einen einzigen festen Organismus zusammenzufügen: in Anbetracht der neuen herannahenden Phasen seines ewigen Kampfes mit der äußersten westlichen Welt…“ (49)

Dann folgt das absetzende Spatium, und Thomas Mann fährt mit eigener Stimme und Argumentation fort. Der Form nach eine typische Struktur von Primärtext und Exegese, denn allein der Umfang des Zitatblocks weckt die Lesererwartung, dass dieser nun ausgelegt, erläutert werden müsste. Und erläuterungsbedürftig wäre vieles: Die grobe Holzschnittartigkeit des Dostojewski’schen Geschichtsbildes; sein Begriff der „Allerweltsmonarchie“; seine Auffassung von dem, was „westliche Welt“ heißen soll; ferner die im Deutschen sich keineswegs erschließende Tiefe des Begriffs „eigenes Wort“ / „neues Wort“; und nicht zuletzt steht die Frage an, wie sich das Ganze mit Thomas Manns



Ereignishaftigkeit und Ästhetizität 

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Opposition von „Kultur“ und „Zivilisation“ verbinden soll. Letztere nämlich, um nur diesen einen Punkt aufzugreifen, war dem russischen Geschichtsdenken wie auch Dostojewski selbst durchaus fremd. Nichts davon interessierte Thomas Mann. Er zergliedert Dostojewski nicht, erläutert ihn nicht, kommentiert ihn nicht – kurz, um Exegese des Gedankens ist es ihm nicht zu tun. Der positiv adaptierte Gedankeninhalt bleibt für ihn unantastbar: Dessen Autorität soll bestätigt, nicht aber der Inhalt erläutert oder als richtig bewiesen werden. Eher schon erinnert seine Zitiertechnik an die Struktur von Evangelium und Predigt, wobei das Spatium die Akklamationsformel ersetzt. Der Vergleich ist nicht ganz von der Hand zu weisen, aber Thomas Mann bedient sich einer anderen Metaphorik: Es geht ihm um das Verhältnis von „Eideshelfern“ und Schwur, um das der ‚Anrufungʻ von „Autoritäten“ (13) und der Akklamation, also der Beschwörung dieser Autorität. Und allein in dieser Absicht, der „Beschwörung“ von Autorität, geht er auf das Zitat im zweiten Teil überhaupt ein. Deshalb kann er sich auch von Teilen der inhaltlichen Argumentation bei Dostojewski unbekümmert distanzieren, ohne seine Quelle zu desavouieren. Dass dessen „Deutung Freiheiten, Einseitigkeiten, ja Fehler“ (50) enthalte, ändert nichts an dem Befund, dass Dostojewskis „Aperçu […] tief und wahr“ bleibe (51). Mit der ‚kunstvollen‘ Art des Zitierens, mit der Wahrung absoluter Unantastbarkeit des Zitierten, der Verweigerung jeder historisch-philologischen Exegese, macht Thomas Mann sein Eröffnungszitat auf performativer Ebene zum textuellen Ereignis, indem es historisch dekontextualisiert und in Bezug zur aktuellen Situation des Kulturkrieges gesetzt wird. Es wird gesetzt, nicht hergeleitet; wirkt aus sich selbst, nicht aus seiner argumentativen Einbindung; ist in der Art seiner Präsentation Ereignis, das nicht rhetorischer Strategie, sondern kunstvoller Inszenierung bedarf. Es geht Thomas Mann – und das ist der Schlüsselbegriff – um die Beschwörung der „Wahrheitsintensität“ des Zitats, die von den Umständen des Zitierens abhängig gemacht wird: Dostojewskij schrieb seine Betrachtung unter dem Eindruck von Bismarcks Persönlichkeit, wenige Jahre nach dem deutsch-französischen Kriege, und sie war damals in hohem Grade wahr. In der Zwischenzeit verlor sie an Wahrheitsintensität; wir konnten sie lesen, ohne uns sonderlich von ihr betroffen zu finden, ja, ohne sie recht zu fühlen und zu verstehen. Heute brauchen wir sie nicht zu lesen und sind dennoch ihres Verständnisses und der Anschauung ihrer Wahrheit voll. Denn es ist ein kriegerischer Gedanke, von kriegerischer Wahrheit, und in Kriegszeiten erglüht dieser Gedanke vom „protestierenden Reich“ in seiner stärksten Wahrheitskraft, einleuchtend für jedermann (51).

Manfred Schmeling

Wie Bücher und Texte zum Ereignis werden Zur Fiktionalisierung kulturellen Wissens in den narrativen Labyrinthen der Gegenwart

1 Vom Mythos zum Text Ereignishaftigkeit lässt sich bestimmen als eine Erfahrung des Neuen. Wenn Ereignisse allgemein die „Unterbrechung oder Aufhebung einer Dauer“1 bedeuten, so gilt das nicht nur für die außerliterarische Welt, für Naturereignisse, Geschichte, soziales Leben etc., sondern auch für Texte, die in dieser Welt entstehen oder sie abbilden. Insbesondere gilt es für solche Phasen künstlerischer Entwicklung, in denen eine Kunstform durch eine neue abgelöst wird. Brüche und Veränderungen im Kontinuum der Kunst sind nicht nur auf ästhetischer Ebene spektakulär. Zahlreich sind die Fälle, in denen Künstler mit harten Bandagen um Erstrangigkeit und Deutungshoheit kämpften. Der Surrealismus mit seinen Skandalen – wir erinnern uns an die Ohrfeige, die André Breton von Yvan Goll erhielt – ist ein typisches Beispiel hierfür. Ich konzentriere mich in meinen Überlegungen ausschließlich auf ästhetische Prozesse, und zwar auf narrative Texte. Für literaturwissenschaftliche ­Perspektiven waren formalistische bzw. semiotische Theorien, die den Text in seinen Eigengesetzen betrachten – von Šklovskij und Tynjanov über den Strukturalismus bis hin zu Umberto Eco – von jeher ein Ansatzpunkt bei der Analyse der Wechselbeziehung von Textstruktur und Ereignis. Ereignisse im strukturellen und ästhetischen Sinne vollziehen sich nicht kontextfrei, sondern beruhen auf Traditionen, Normen, Maßstäben usw., von denen sie sich abheben. Der Fokus postmoderner Literatur ist bei narrativen Texten zwar nicht ausschließlich, aber doch intensiv auf die Art der Gestaltung ausgerichtet, wobei das, was ich die ‚Unterbrechungen des Linearen‘ nennen möchte, als allgemeines Merkmal von literarischer Innovation ins Bewusstsein tritt. Solche Unterbrechungen des Linearen entstehen durch ästhetische Ereignisse, durch erzähllogische Inkonsequenz, Reflexivität, Verschachtelungen, Spiel mit Subjektidentitäten usw. Sie

1 Kremer, Detlef: Ereignis und Struktur. In: Brackert, Helmut / Stuckrath, Jorn (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek 1995, S. 517–532, hier S. 517. DOI 10.1515/9783110541854-016

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wirken sich auf die Gesamtstruktur des Textes aus und produzieren bzw. steigern damit seinen Ereignischarakter. Neuheit etabliert sich ironischerweise nicht selten in Form einer Dekonstruktion des Alten, etwa in der produktiven Wiederverwendung mythologischer Motive. Ich werde zahlreiche Beispiele erwähnen, mich aber ausführlicher auf Romane von Walter Moers und Undine Gruenter konzentrieren. Ihre Romane sind ausgeprägt selbstreflexiv, strukturell kompliziert, enzyklopädisch aufgeladen, fiktionsironisch verspielt und als ästhetisches Ereignis eine besondere Herausforderung für den Leser. Sie leben – trotz postmoderner Prägung – von einer höchst archaischen Vorstellung: der Labyrinth-Idee. Das alte Muster hat sich unserem kulturellen Gedächtnis derart eingeprägt, dass kaum ein Bereich des sozialen Lebens existiert, der nicht auch in Kategorien des Labyrinthischen erfasst werden könnte.2 Die Idee hat auch innerhalb der Wissenschaft viele Liebhaber. Die Untersuchungen von Monika Schmitz-Emans sind repräsentativ für Forschungen, die sich auf moderne Schreibweisen im Zusammenhang mit narrativen oder visuellen Labyrinthen konzentriert haben. In zahlreichen Beiträgen zeigt sie, wie sich die „Arbeit am Mythos“ (Blumenberg) zur Arbeit am Text entwickelt. Ihr Aufsatz über „Das Labyrinth als Beschreibungsmodell für Texte“3 setzt theoretische Maßstäbe, was die Erforschung der textuellen Grundlagen labyrinthgestützter Schreibweisen betrifft. Ein von ihr gemeinsam mit Christian A. Bachmann herausgegebenes Buch über Labyrinthe als Texte / Texte als Labyrinthe,4 für das Studierende eigene Labyrinth-Texte produziert haben, macht deutlich, wie gut sich Wissenschaft und Kreativität zusammenfügen lassen. Derartige Projekte beweisen, dass die Auseinandersetzung mit dem Labyrinthischen auch in der akademischen Praxis zum ‚Ereignis‘ werden kann. Die Ereignishaftigkeit von Kunst bzw. Texten, das deutete schon das Surrealismus-Beispiel an, entsteht durch das Zusammenwirken endogener (ästhetischer) und exogener (sozialer) Prozesse. Weil sich die Semiotik des Labyrinth-Musters zwischen Horror und Spiel, Zwang und Freiheit, Konstruktion und Destruktion, Chaos und Ordnung bewegt, ist es unendlich vielfältig einsetzbar. Postmoderne Autoren sind jedoch kaum noch an stofflichen Überlieferungen, es sei denn in Form ironischer Reminiszenzen, interessiert, sondern was sie vor allem beschäftigt, ist das Labyrinth als kog-

2 Vgl. Schmeling, Manfred: Labyrinth. In: Brittnacher, Hans Richard / May, Markus (Hg.): Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart / Weimar 2013, S.401–407. 3 Schmitz-Emans, Monika: Text-Labyrinthe. Das Labyrinth als Beschreibungsmodell für Texte. In: Röttgers, Kurt / Schmitz-Emans, Monika (Hg.): Labyrinthe. Philosophische und literarische Modelle. Essen, S. 134–136. 4 Schmitz-Emans, Monika / Bachmann, Christian A. (Hg): Labyrinthe als Texte. Texte als Labyrinthe. Bochum 2009.



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nitives Schema (Suche), Topologie, Strukturmodell, kombinatorisches Muster, narrative Form u.  Ä. Derartige Modelle sind zwar immer noch auf bestimmte mythische Ereignisse beziehbar, aber die alten Geschichten werden nicht mehr um ihrer selbst willen erzählt. Ihr vor allem strukturelles Fortleben ist nicht nur in literarischen Texten zu beobachten, sondern zum Beispiel auch in den begehbaren Labyrinthen: in den Kirchen-Labyrinthen mit ihren initiatorischen Umläufen, in künstlerischen Installationen, in den Freizeit-Labyrinthen aller Art. Im Zusammenspiel körperlicher und kognitiver (bzw. spiritueller) ‚Bewegung‘ in den öffentlich begehbaren Labyrinthen gewinnt der Ereignis-Charakter labyrinthischer Strukturen gleichsam seine ursprüngliche, empirische Qualität zurück. Das ist wörtlich zu nehmen, denn neben dem Labyrinth als Gebäude sind LabyrinthTänze (u.  a. auf antiken Münzen strukturell abgebildet) überliefert. In der Forschung hat sich besonders Hermann Kern mit dieser Tradition des Labyrinth-Tanzes – vgl. Homers Beschreibung in der Ilias (18, 590–606) – auseinandergesetzt.5 Narrative Labyrinthe repräsentieren Ereignishaftigkeit grundsätzlich in doppelter Hinsicht. Inhaltlich als erzähltes Geschehen, Abenteuer, als ein Verirren, als Gefahr, Kampf, Tod oder Weg zurück zum Licht etc. In der Vorstellungswelt des Lesers werden entsprechende Geschehnisse gleichsam reaktiviert, wobei die Phantasie sich eher in der Innenperspektive, gewissermaßen im Labyrinth einnistet. Hier unterscheidet sich das Ereignis zumindest theoretisch vom ‚Erlebnis‘, das als solches ein Subjekt benötigt. Aber auch die Gestaltung wird zum Ereignis, besonders dann, wenn sie durch komplizierte kognitive und ästhetische Strategien bestimmt wird. Auf dieser Ebene ist das Labyrinthische weniger durch Ängste besetzt als durch Spielfreude, denn das Konstruieren oder Rezipieren solcher Gebilde verheißt – wenn man sich überhaupt darauf einlässt – eher einen Gewinn. Mythologisch betrachtet ist das Konstruieren von Labyrinthen und anderen Kunstobjekten eine Domäne des Daidalos, des Baumeisters am Hofe von König Minos. Letzterer monopolisiert in gewisser Weise den Gesamt-Mythos. Fast alle Einzelepisoden der Labyrinth-Sage haben etwas mit ihm, das heißt mit Kunst zu tun – mit einer Kunstfertigkeit, die, wenn sie genialem Schöpfertum entspricht und eigentlich allen Protagonisten zunächst aus einem Dilemma hilft, doch auch eine Tendenz zum Unheilvollen aufweist. Durch die Konstruktion der künstlichen Kuh vermag Pasiphae zwar den Liebesakt mit einem Stier zu realisieren, aber das nur um den Preis der Geburt eines Monstrums, des Minotaurus. René Hocke hat Daidalos als einen „maudit“ charakterisiert, der „auch unstet, wechselsüch-

5 Vgl. Kern, Hermann: Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen. 5000 Jahre Gegenwart eines Urbilds. 4. Aufl. München 1999 [1982], S. 49–67.

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tig, abenteuerhungrig“6 gewesen sei. Darüber hinaus sieht er im Labyrinth ein typisches Muster manieristischer Kunst, eine „vereinigende Metapher für das berechenbare und unberechenbare Element in der Welt“.7 Sein ManierismusVerständnis entwickelt er eher a-historisch: Manierismus als Form verstärkende, verkomplizierende, kombinatorische Strategie, die der „Vorliebe für schwere Zugänglichkeit, Unverständlichkeit, für paradoxe Metaphern und ‚Verdrehtheit‘“8 Ausdruck verleiht. Die moderne Ästhetik hat aus diesen Eigenschaften ihre nichtlinearen Schreibweisen entwickelt. James Joyce’ Dedalus-Romane sind ein Schulbeispiel für das Entwicklungspotenzial der Labyrinth-Idee innerhalb desselben Gesamtwerkes: Von Stephen Hero, dem eher klassischen Roman, über The Portrait of the Artist as a Young Man (1916) zum Ulysses (1914–1921) und zu Finnegans Wake (1929) beobachtet man eine fortschreitende Abstraktion, d.  h. eine Entstofflichung und sprachliche Verrätselung des Daidalos-Mythologems, das im Portrait noch als der „uralte Artifex“, im Ulysses dann – von kleineren Anspielungen abgesehen – eher als kartographisches bzw. strukturelles Muster und als besonderer Stil erkennbar ist. Der russische Formalist Viktor Šklovskij sprach einst von den Stolpersteinen der Kunst, die der Leser überwinden muss: Dabei benutzt die Kunst zwei Kunstgriffe: die Verfremdung der Dinge und die Komplizierung der Form, um die Wahrnehmung zu erschweren und ihre Dauer zu verlängern. Denn in der Kunst ist der Wahrnehmungsprozeß ein Ziel in sich und muß verlängert werden.9

Und damit der Wahrnehmungsprozess ent-automatisiert, und das bedeutet doch wohl: zum Ereignis wird, muss Kunst sich auffällig machen oder, wie Šklovskij es auch ausdrückt, sich „verseltsamen“. Ein Mittel dieser ‚Verseltsamung‘ sind labyrinthgestützte Schreibweisen, insbesondere in postmoderner Prosa. Die Ereignissubstanz des labyrinthischen Abenteuers wiederholt sich hier gleichsam in abstrakter Form auf der Diskurs-Ebene. Dass solche Schreibweisen Innovationsschübe auslösen, möchte man nicht vorbehaltlos unterschreiben. Zu beobachten ist allerdings, dass sie sich mit experimentellen Formen häufig verbünden, wenn bestimmte Gattungskonventionen sich überlebt haben. Impulsgeber für innova-

6 Hocke, Gustav René: Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchemie und esoterische Kombinationskunst. Reinbek 1959 / 1963, S. 207. 7 Hocke, Gustav René: Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst. Reinbek 1977 / 1983, S. 128. 8 Ebd., S. 101. 9 Šklovskij, Victor: Kunst als Kunstgriff. In: ders.: Theorie der Prosa. Herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt von Gisela Drohla. Frankfurt a.  M. 1966, S. 7–27, hier S. 12.



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tive narrative Formen war unter anderem der Nouveau Roman mit Romanciers wie Alain Robbe-Grillet (Dans le Labyrinthe) und Michel Butor (L’Emploi du Temps), die nicht zufällig die intensive, stoffliche und ästhetische Auseinandersetzung mit der Labyrinth-Idee gesucht haben. Vor dem Hintergrund seiner Schrift über die Prinzipien des ‚Neuen Romans‘,10 die sich vom realistischen Erzählen eines Balzac oder Flaubert verabschiedet, erscheint Dans le labyrinthe wie angewandte formalistische Theorie. Bereits der Titel des Romans suggeriert die Situation des (unzuverlässigen) Erzählers im Labyrinth und kennzeichnet damit die Distanz gegenüber einem Erzählmodus alter Art, der sich durch Allwissenheit, Bedeutungssicherheit, analogisches (z. B. symbolhaftes) Erzählen usw. auszeichnet. Nun ist Labyrinth nicht gleich Labyrinth. Nimmt man Umberto Ecos Bemerkungen über die im Verlaufe der Epochen gewachsenen Formen des Labyrinths als Grundlage11 – bekanntermaßen unterscheidet er zwischen dem uni-linearen knossischen Labyrinth-Typus, in dem man sich nicht verlaufen kann, weil das Labyrinth durch einen Mittelpunkt hindurch zwangsläufig zum Ausgang zurückführt, und einem zweiten Typus, dem Heckenlabyrinth des späten Mittelalters und der Renaissance, das aus Sackgassen und Abzweigungen besteht, und schließlich dem dritten Typus, dem postmodernen Rhizom-Labyrinth ohne Zentrum und mit unendlich vielen Ein- und Ausgängen –, geht man also von dieser Typologie aus, so kann man von einer Evolution der Labyrinth-Idee als Struktur sprechen. Die ersten beiden Typen sind durchaus lösungsorientiert, der letzte ist es nicht. Während sich das Labyrinthische bis in das 19. Jahrhundert hinein primär auf der Ebene des Erzählten, des Stofflichen abspielte und durch die klassischen narrativen Schreibweisen harmonisiert werden konnte (ein gutes Beispiel ist der Roman Germinal von Émile Zola, der ein labyrinthisches Bergwerk zum Schauplatz und den Kampf des Helden Etienne gegen Ausbeutung und Armut, sozusagen gegen einen kapitalistischen Minotaurus, zum Thema hat), zeichnen sich postmoderne Beispiele zumindest tendenziell dadurch aus, dass sie gewohnte Erzählkonventionen zugunsten labyrinthischer Procedere hinterfragen bzw. auflösen. Auch Kafkas Erzählung Der Bau ließe sich in diesem Sinne als postmodern bestimmen, beruht die unvollendet gebliebene Erzählung doch auf einem anti-aristotelischen Muster, das auf lineare Handlung und Groß-Ereignisse verzichtet und stattdessen das maulwurfartige Wesen im Bau mit redundanten Bewegungsvorgängen und Klein-Ereignissen (der „Zischer“) konfrontiert. Kafkas Verwendung des Labyrinth-Motivs hinterlässt diskursive Spuren: die Erzählansätze verlieren sich

10 Robbe-Grillet, Alain: Pour un nouveau roman. Paris 1963. 11 Eco, Umberto: Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘. 9. Aufl. München 2003, S. 64ff.

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immer wieder in Wiederholungen, Widersprüchen, Möglichkeitsmustern und Selbstthematisierungen.12 Es häufen sich nun die Fälle, eigentlich schon seit Borges’ La biblioteca de Babel (1940), in denen die Nähe zwischen Labyrinth und Bibliothek, Labyrinth und Literatur oder Labyrinth und Text die Schreibweisen bestimmt. Kein Wunder, dass sich das Thema auch aus wissenschaftlicher Sicht großer Beliebtheit erfreut: Monika Schmitz-Emans’ Aufsatz Lesen und Schreiben nach Babel. Über das Modell der labyrinthischen Bibliothek bei Jorge Luis Borges und Umberto Eco13 gehört zu den Klassikern in diesem Bereich der Forschung.

2 Walter Moers und das Labyrinth der Bücher Man kann kaum aktuell über literarische Labyrinthe sprechen, ohne sich auf die Romane Die Stadt der Träumenden Bücher (2009) und dessen Fortsetzung Das Labyrinth der Träumenden Bücher (2011) von Walter Moers14 einzulassen. Die Romane spielen in einem erfundenen Land namens Zamonien und werden im Paratext als Übersetzungen aus der zamonischen Sprache präsentiert. Beide Romane von Moers sind beschreibbar als Produkte literarischer Wucherung, hervorgerufen durch das kulturelle, ja das poetologische Wissen des Autors, das sich permanent in den Vordergrund der Handlung schiebt. Da dieses Wissen aber dem literarischen Spieltrieb untergeordnet bleibt, verrätselt ist und statt in logischen Zusammenhängen in Form phantastischer Geschehnisse und verwirrender Sprachakrobatik vermittelt wird, verliert sich schließlich auch der Leser im Labyrinth struktureller Proliferationen. Hinzu kommt, dass Moers mit hybriden Figuren aus dem Gruselkabinett der Tierwelt arbeitet. In einem Interview mit Holger Kreitling vom 20. 10. 2011 betont der Autor, dass ihm Romane über „richtige Menschen“ nicht liegen: „Meine Protagonisten müssen vierzehn Arme haben oder drei Gehirne oder so was“.15

12 Vgl. Schmeling, Manfred: Der labyrinthische Diskurs. Vom Mythos zum Erzählmodell. Frankfurt a. M. 1987, S. 287ff. 13 Schmitz-Emans, Monika: Lesen und Schreiben nach Babel. Über das Modell der labyrinthischen Bibliothek bei Jorge Luis Borges und Umberto Eco. In: Arcadia 27 (1992), S. 106–124. 14 Zitiert werden folgende Ausgaben: Walter Moers: Die Stadt der Träumenden Bücher. München 2004 (im Folgenden als STB + Seitenzahl) sowie ders.: Das Labyrinth der Träumenden Bücher. München 2011 (im Folgenden als LTB + Seitenzahl). 15 Kreitling, Holger: Was Walter Moers in seinem Giftschrank verbirgt. In: Die Welt, on-line vom 11. Mai 2016 (http://www.welt.de/13665678, 10. November 2016).



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Das Bild des Rhizoms, das Umberto Eco im Zusammenhang mit seiner Einführung in Il nome della rosa verwendet und das als Denkfigur zwischen Poststrukturalismus und Postkolonialismus Karriere gemacht hat, bei Moers wird es Ereignis. Moers schickt seinen Helden, einen jungen Dichter aus der Familie der Lindwürmer, Hildegunst von Mythenmetz, auf der Suche nach einem unbekannten Autor durch die unterirdischen Bücher-Labyrinthe und Katakomben der Stadt Buchhaim. Auslöser für die Such-Aktion ist ein geniales Brief-Manuskript, das Hildegunst von seinem mit 888 Jahren verstorbenen Dichter-Paten Danzelot von Silbendrechsler überliefert wurde. Was dann geschieht, ist so labyrinthischkomplex, dass man es nicht linear nacherzählen kann. Stationen der Handlung sind unter anderem düstere Antiquariate, Begegnungen mit gefährlichen Bücherjägern, Verlegern, Kritikern oder Buchgelehrten. Diese surreale Szenerie erinnert ein wenig an unsere aktuelle Bücherwelt mit ihren Messen, ihrer Rhetorik, ihren politischen Strategien und Skandalen. Animalische Gestalten treffen auf „Lebende Bücher“, wobei die Bücher anthropomorphe Eigenschaften besitzen und manchmal auch kannibalische Lüste entwickeln, beispielsweise dem Dichter in die Hand beißen. In Unhaim, einem Ort, an den man über eine Buchfalle in die Katakomben gerät, herrschen nur noch Chaos und Tod.

Abb. 1: Zeichnung von Walter Moers aus STB 183–184 (Walter Moers: Die Stadt der träumenden Bücher © 2004 Piper Verlag GmbH, München).

Hildegunst erlebt sogar, dass er von einem Buch durch Berührung vergiftet und während der bewusstlosen Phase in die unterirdischen Katakomben transportiert wird. Schließlich trifft er auf den Gelehrten Phistomefel Smeik, der ihn in neue Labyrinthe verschleppt. Dort begegnet er Homunkoloss, dem Schattenkönig, der im Schloss Schattenhall haust. Dieser rettet ihn aus den Fängen der ‚Gefährlichen Bücher‘ und verbrennt anschließend selbst im gleißenden Sonnenlicht – und mit ihm geht ganz Buchhaim in Flammen auf. Das alles geschieht im ersten Roman

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Die Stadt der träumenden Bücher. Die Fortsetzung Das Labyrinth der träumenden Bücher enthält trotz des Titels weit weniger topologische Labyrinth-Ereignisse als der Vorgänger-Roman. Er ist, strukturell betrachtet, gleichwohl nicht weniger labyrinthisch.

3 Das Labyrinth des Erzählens In einer „Warnung“ an die Leser zu Beginn der Stadt der Träumenden Bücher spricht Hildegunst von einer Reise, die „auf düsteren, labyrinthischen und gefährlichen Pfaden tief hinab, hinab in die Eingeweide der Erde“ (STB 9) führt. Die klassische Labyrinth-Idee – sei sie minoisch oder barock – hat hier ausgespielt: Wie ein monströser Ameisenbau verfügt [die Stadt] über ein unterirdisches Tunnelsystem, das sich viele Kilometer nach unten erstreckt, in Form von Schächten, Schlünden, Gängen und Höhlen, die sich in einem unentwirrbaren gigantischen Knoten verschlingen. (STB 43)

Dem „unentwirrbaren gigantischen Knoten“ entspricht strukturell Umberto Ecos Bild des „Rhizoms“. Es sind, zumindest aus wissenschaftlicher Sicht, weniger die phantastischen Abenteuer und unerwarteten Ereignisse innerhalb des erzählten Labyrinths – einige Rezensenten haben anlässlich der Träumenden Bücher sogar von Handlungsarmut und Langweile gesprochen – als vielmehr das Labyrinth des Erzählens, der ins Groteske gesteigerte extradiegetische Umgang mit Patronymen, Reminiszenzen, mit Genres, Worten, Sätzen, Schriftarten, intermedialen Konstruktionen usw., die die Lektüre zu einer anstrengenden machen. Denn Walter Moers liebt besonders das dädalische Element, die Kunstseite seiner Labyrinthgeschichten. Ein zentrales Motiv ist das „Orm“, das kein Ding ist, sondern einen Zustand genialer dichterischer Inspiration bezeichnet. Es ist der Weg zur dichterischen Perfektion, das Mysterium, die Kraft unendlicher Kreativität. Ganz am Ende der Geschichte glaubt der Erzähler Hildegunst von Mythenmetz, dass er nunmehr das Orm am eigenen Leibe erfahre (in gewisser Weise ist das Orm das Ziel einer Suche, der Weg heraus aus dem kognitiven Labyrinth): Dies war der Augenblick, in dem ich zum ersten Mal das Orm verspürte. Es fuhr mich an wie ein heißer Wind, aber der kam nicht aus den Feuern von Buchhaim, sondern aus der Tiefe des Weltalls. Er blies durch meinen Kopf und füllte ihn mit einem Wirbelsturm von Wörtern, die sich binnen weniger erregter Herzschläge zu Sätzen, Seiten, Kapiteln und schließlich zu jener Geschichte ordneten, die ihr nun gelesen habt, oh meine treuen Freunde. (STB 475)



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Der Autor verwendet sein kulturelles bzw. poetologisches Wissen generell nicht, um zu belehren, sondern um Komik zu erzeugen. Im Buch wimmelt es von Reminiszenzen. Der letzte Satz – „Denn hier hört die Geschichte auf“ (STB 476) – wird durch den zweiten Roman Das Labyrinth der Träumenden Bücher konterkariert, den Moers in einem „Nachwort des Übersetzers“ als „regelrechte Fortsetzung“ des ersten Romans charakterisiert. Man findet in dieser „Fortsetzung“ zahlreiche fiktionsironische Stellen, die auf den ersten Roman zurückverweisen: „Meine Lieblingsstelle steht in Die Stadt der Träumenden Bücher, […]. Die Szene, wo Colophonius Regenschein stirbt“ (LTB 178), sagt ein Protagonist. Geläufig sind uns solche transzendierenden Verfahren aus der Frühromantik, etwa aus Tiecks Spiel-im-Spiel-Komödien; sie rangieren unter anderem unter dem Label der ‚Romantischen Ironie‘. Derartige Bemerkungen über Schreiben und Lesen konfrontieren den Leser mit einem besonders ausgeprägten inhaltlichen und strukturellen Zug beider Romane, mit der literarischen Selbstreflexion. Vom Schreiben und Dichten ist fast ebenso häufig die Rede wie von den labyrinthischen Abenteuern. Verwirrend ist, dass der erlebende Hildegunst zugleich als der Produzent dieser seiner Geschichte auftritt. Es kommt zu Verschachtelungen von Diskurs-Ebenen (Metalepsen), zu Geschichten in der Geschichte, zu strukturellen und personalen Doppelgängereien. Ein Kapitel lautet „Ein Traum in einem Traum“, ein anderes „Mehrere Doppelgänger“ – Überschriften, die in ironischer Weise auf die komplizierte Erzähltechnik verweisen und die entsprechenden Verfahren bloßlegen. Es kommt zu logischen Inkonsequenzen, zu Wiederholungen, zu Austauschbarkeiten zwischen den Aktanten im Labyrinth. Es gibt kein lineares, kausal notwendiges Auseinanderhervorgehen von Ereignissen, sondern der Erzähler bzw. die Protagonisten bewegen sich wie in der „offenen Form“ des Stationen-Theaters von Ort zu Ort, von Labyrinth zu Labyrinth, von Kapitel zu Kapitel.

4 Die russische Puppe Der Bücherjäger Colophonius Regenschein, der das Buch im Buch, Die Katakomben von Buchhaim, geschrieben hat, ist der Impulsgeber für den Abstieg des Erzählers in die Bücherlabyrinthe. Auf seinen Spuren gerät Hildegunst von Mythenmetz gewissermaßen zwischen die Fronten, zwischen die Erzählebenen, zwischen Traum und Wirklichkeit. Hildegunst erzählt, was im Buch von Regenschein steht:

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Er hatte in den Labyrinthen so viel Unwahrscheinliches gesehen, dass er nichts, aber auch gar nichts mehr für unmöglich hielt. Wenn in diesem Buch die Grenze zwischen Wahrheit und Dichtung überschritten sein sollte, dann auf so subtile Weise, dass es mich interessierte, auf welcher Seite ich mich befand. Regenschein hatte mich mit seiner Geschichte vollständig in seinen Bann gezogen. Ich verschlang Kapitel um Kapitel […]. (STB 68)

Als Hildegunst später während eines Spaziergangs im Park von Buchhaim durch eine mystische „Trompaunenmusik“ in einen traumartigen Zustand versetzt wird, befindet er sich an dem Ort, den Regenschein in seinem Buch beschrieben hat: in den Bücherlabyrinthen der Katakomben (vgl. STB 127). Er glaubt sogar, er sei Regenschein, der eine zweite Exkursion in die Katakomben unternommen habe. Das Verwirrspiel mit den Fiktionsebenen und mit der Subjektidentität sind typische Merkmale des labyrinthischen Diskurses: „und jetzt wusste ich, in wessen Geschichte und in welcher Haut ich steckte: Ich war Colophonius Regenschein, der Bücherjäger. Das war unglaublich! Ich konnte Traum und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden.“ (STB 130) Im Labyrinth der Träumenden Bücher kommt es zu einer weiteren strukturellen und thematischen Verdoppelung der Katakomben von Buchhaim, nämlich in Form eines Puppenspiels, in dem Mythenmetz als Puppe präsentiert und das Labyrinth-Geschehen, wenn auch unter den Bedingungen des Puppentheaters, noch einmal in Ausschnitten präsentiert wird. Der Erzähler erzählt, wie er in einem Schaufenster die hässliche Nachbildung seiner Person in Form einer Puppe entdeckt: „es war ein Zettel an ihr befestigt, auf dem falsch geschrieben mein Name stand: MYTENMETZ. Und der Zusatz: SONDERANGEBOT!“ (LTB 190) In den entsprechenden Kapiteln enthalten sind weitere Mise-en-abyme-Szenen (vgl. das Kapitel „Ein Traum in einem Traum“) sowie ein seitenlanger dramaturgischer Text, die Puppetistischen Notizen von Hildegunst von Mythenmetz. Das ganze Werk endet zyklisch mit dem Satz: „Hier fängt die Geschichte an“, ein Hinweis, der im Übrigen im Verlaufe beider Romane toposartig wiederholt wird. Wenn sich der Erzähler immer wieder mal im „Ormrausch“, wie er schreibt, befindet, so charakterisiert Walter Moers damit zugleich seinen eigenen Schreibakt als eine Art Rauschzustand, der ebenso schön wie endlos ist. Das entscheidende Merkmal der Romane von Moers ist, wie gesagt, die Auseinandersetzung mit Büchern, mit der Literatur, mit dem Schreiben. Mitunter erinnert das Ganze an eine Art Bücherschlacht, wobei die Bücher teils Opfer, verletzliche, vergessene Objekte sind und sich teils als aktiv handelnde, aggressive, monströse Subjekte präsentieren. Ihnen sind die irgendwo zwischen Tier und Mensch angesiedelten Fabelwesen (Lindwürmer, Hundlinge, Riesenkakerlaken etc.) zugeordnet. Die Handlungsebene wird jedoch gleichsam überformt von einem pseudo-literarischen und pseudo-poetologischen Diskurs. Über die Materialität der Bücher hinaus – Bücher riechen, verstauben, sind dick oder dünn, alt



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oder neu etc. – thematisiert der Erzähler die Arbeit am Text, den Schreibakt, die Motive, Strukturen und Gattungen der Literatur. Das klingt alles sehr poetologisch, aber als Einführung in eine Poetik erweist sich diese Auseinandersetzung nun wahrhaftig als untauglich. Sie ist parodistische Rede, Verfremdung, Verzerrung, voller Spieltrieb und Komik.

5 Transtextuelle Verfahren und Fiktionsironie In einem 2011 publizierten Sammelband über Walter Moers’ Zamonien-Romane16 wird anhand von Ensel und Krete das Prinzip und die Funktion der Abschweifung untersucht.17 Abschweifungen stehen auch hier im Dienste des Labyrinthischen, wobei das Waldlabyrinth nach Auffassung der Verfasserin durch paratextuelle Verweisungen gespiegelt wird. Bis zu einem gewissen Grad gilt dieses Verfahren auch für die Buchlabyrinthe in den von mir untersuchten Romanen – etwa für erklärende Fußnoten oder für das „Nachwort des Übersetzers“ (STB o.  P.). Der fiktive Autor Walter Moers (fiktiv, denn er bewegt sich namentlich innerhalb der Fiktion, wenn er sich im Paratext als Übersetzer der Texte von Hildegunst von Mythenmetz präsentiert) überbietet sogar das eigene Verfahren, indem er im Labyrinth der Träumenden Bücher die Abschweifung innerhalb einer Abschweifung eigens thematisiert: „Ich sah mich gezwungen, diese Mythenmetzsche Abschweifung massiv zu kürzen. Selbst in dieser Form ist sie zum Verständnis der Handlung nicht unbedingt vonnöten. Der eilige Leser mag sie also getrost überspringen. A.  d.  Ü.“ (LTB 307) Ich bin allerdings nicht sicher, ob man noch von Abschweifungen sprechen kann, wenn diese den Text permanent, d.  h. in fast jeder Phase des narrativen Diskurses begleiten. In Die Stadt der Träumenden Bücher ist das der Fall. Die diskursiven Auseinandersetzungen mit Texten, das Spiel mit Namen von Dichtern, die poetologischen Kommentare, die eher belanglosen Fußnoten etc. besetzen mindestens ebenso viel Raum wie die weniger geistigen Erlebnisse in den Katakomben. Für den werdenden Dichter Mythenmetz geraten sie vielleicht sogar zum eigentlichen Ereignis. Zu den reflexiven bzw. intertextuellen Strategien des Romans gehören Mythenmetz’ Gespräche mit den Buchlingen, einer Spezies, die sich von Büchern geradezu ernährt. Es sind Wesen, die durch Lektüre am Leben gehalten werden. Es handelt sich um skurrile Gestal-

16 Lembke, Gerrit (Hg.): Walter Moers’ Zamonien-Romane. Göttingen 2011. 17 Thiem, Nina Franziska: Auf Abwegen. Von (para-)textuellen Abschweifungen in Walter Moers’ Ensel und Krete. In: Lembke, Gerrit (Hg.): Walter Moers’ Zamonien-Romane. Göttingen 2011, S. 215–232.

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ten, die berühmten Dichterpersönlichkeiten der deutschen Literaturgeschichte nacheifern. Ein gewisser Ojahn Golgo van Fontheweg meldet sich zu Wort: „Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war / Ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar“ (STB 210). Hinter dem Zitat verbirgt sich, nur schlecht versteckt, Johann Wolfgang von Goethe und sein Mephistopheles aus Faust I. Mythenmetz reagiert: Das war ein Zitat von Ojahnn Golgo van Fontheweg, rief ich. Klar war das Fontheweg, – dieser Platzhirsch der Zamonischen Klassik. Der Liebling aller Kritiker und der Schrecken aller Schulkinder. Das war eine Stelle aus Weisenstein, seinem bekanntesten Buch. Jahrzehntelang hatte mir Danzelot diese Verse eingebleut. (STB 210/211)

Der Titel Weisenstein erinnert eher an Wallenstein: Moers konstruiert permanent Stolpersteine für den Leser. Mit kleineren Abweichungen werden dann auch noch Goethes Ein gleiches („Über allen Gipfeln…“) sowie eine weitere Stelle aus dem Faust zitiert. Auszug aus Goethes Faust I: „Und wenn Natur dich unterweist / Dann geht die Seelenkraft dir auf.“18 Bei Moers heißt es: „Und wenn Natur dich unterweist / Dann geht des Ormes Kraft Dir auf“ (STB 299). Das Orm, auch die Tätigkeit des Ormens, sind somit poetologische Motive, die Moers mit Goethe assoziiert und auf seine eigenen schreibenden Protagonisten überträgt. Die poetologische Grundidee lautet: „Die Natur ist es, die den Dichter unterweisen muss, damit das Orm diesem überhaupt zugänglich ist.“19 Moers lässt noch weitere Klassiker auftreten, etwa Gofid Letterkerl – das Pseudonym für Gottfried Keller – mit dem Abendlied an die Natur. Dass Moers über die parodistische und intertextuelle Spielfreude hinaus durchaus auch ernsthaften Gedanken nachhängt, ließe sich ausführlicher anhand der Utopie des „Orms“ verfolgen, das in Die Stadt der Träumenden Bücher wie das Labyrinth eine Art Leitmotiv darstellt, aber eher ekstatischen Charakter hat. Moers hat in dem oben zitierten Interview im Übrigen den Klassikern den Vorzug vor den Modernen gegeben: „Ich hatte so genannte fortschrittliche Lehrer, die uns zwangen, unsere kostbare Lektüre-Zeit mit Grass, Böll oder Frisch zu

18 Goethe, Johann Wolfgang von: Faust I. In: ders.: Sämtliche Werke. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter. München 1986, Bd. 6.1, S. 546. 19 Vgl. hierzu die Darstellung von Tim-Florian Goslar: Zurück nach Arkadien. Die Kulturlandschaften Zamoniens in Die Stadt der Träumenden Bücher. In: Lembke, Gerrit (Hg.): Walter Moers’ Zamonien-Romane. Göttingen 2011, S. 261–279, hier S. 272.



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Abb. 2: Zeichnung Walter Moers aus STB 207 (Walter Moers: Die Stadt der träumenden Bücher © 2004 Piper Verlag GmbH, München).

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verplempern.“20 Die Polemik gegenüber einer gewissen Moderne hindert ihn freilich nicht daran, seine eigene literarische Praxis alles andere als klassisch zu gestalten. Manches in seinen Romanen erinnert an die barocken Sprachwucherungen eines Rabelais, manches an die Experimentierfreude der literarischen Konstruktivisten des 20. Jahrhunderts. Dazu eine weitere Beobachtung: des Erzählers anagrammatische Spiele mit den Namen von Dichtern und Denkern und deren Protagonisten sind ein wichtiger Aspekt der komischen Wirkung seiner Romane. Auch eine eher böse Figur wie Phistomefel Smeik, die man mit Mephistopheles (und dem Geruch von Schwefel) assoziieren darf, im Roman eine Forscher-Figur, die über den Schattenkönig Homunkoloss (einer Mischung aus Frankensteins Monster und Wagners Homunkulus) herrscht, gerät in die Parodie-Falle. Als der Interviewer Walter Moers fragt, ob er eine Maschine verwendet, um aus einem Hölderlin einen „Dölerich Hirnfelder“ zu drechseln, antwortet dieser: „Ich benutze die Plastikbuchstaben eines ‚Scrabble‘-Spiels. Anagramm-Maschinen sind unfähig zur Schaffung von wirklich klangvollen oder komischen Namen. Dafür taugt das eigene Gehirn viel besser.“21 Der gedankliche Schritt vom Scrabble zum Labyrinth ist insofern möglich, als in beiden Fällen Zufall neben Konstruktivismus, Chaos neben Ordnung herrscht. Was Mythenmetz „kalkulierte Verrücktheit“ nennt – sein Paradigma ist die Unsinnspoesie – erinnert an René Hockes Beschreibung dädalischer Kunst. Kein bißchen rachsüchtig, lediglich völlig bescheuert war ein Buchling, der sich den Werken von Hulgo Bla verschrieben hatte. Hulgo Bla war ein herausragender Vertreter des Zamonischen Gagaismus, und auf diesen Gnom hatte die kalkulierte Verrücktheit dieser literarischen Spielart für meinen Geschmack schon etwas zu sehr abgefärbt. (STB 281)

Hildegunst hat seine helle Freude daran, dem Leser zu erzählen, wie der besagte Buchling mitten im Labyrinth ihn „mit völlig sinnlosen Versen überschüttete“ (STB 282). Aber es handelt sich in diesem Fall nicht um ein Zitat von Hugo Ball, wie man meinen könnte, sondern bereits um Parodie: der Unsinn wird gleichsam verdoppelt, potenziert: „tressli bessli nebogen leila / flusch kata / ballubasch / zack bitti zopp“ usw. (STB 283) Ein Stück weit betreibt der Autor – via Mythenmetz – also so etwas wie Selbstironie, denn seine eigenen Namensspiele haben mindestens ebenso viel Gagaistisches, ebenso viel „kalkulierte Verrücktheit“, wie die Unsinns-Verse von Hugo Ball, der im Cabaret Voltaire in Zürich vor einem Jahrhundert sein Lautgedicht

20 Vgl. Kreitling: Giftschrank. 21 Ebd.



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Gadji beri bimba deklamierte. In diesem Gedicht kommt das auch von Moers benutzte Wörtchen „gaga“ (das umgangssprachlich heute noch für ‚Verrücktheit‘ steht) übrigens dreimal vor. Es handelt sich somit um Texte, die den ‚informierten Leser‘ voraussetzen. Die Romane Die Stadt der Träumenden Bücher und Das Labyrinth der Träumenden Bücher haben bei aller Phantastik nicht den Status von Kinderbüchern, obschon sie auch von Kindern gelesen werden können. Es wimmelt nicht nur von Anspielungen auf konkrete Dichter, sondern die gesamte Poetik wird immanent abgehandelt, persifliert, ad absurdum geführt. Ich verzichte hier auf eine Aufstellung der vielen Textsorten und Gattungen, die in den Romanen zitiert oder von Mythenmetz erfunden werden. Letztere betreffen die System-Seite der Literatur, bei anderen intertextuellen Verweisen handelt es sich um konkrete Referenzen. Aber gerade auf dieser konkreten Ebene – etwa was die hundertfach vorkommenden, z. T. kuriosen Buchtitel und Autorennamen betrifft – geht es nie um die Vermittlung authentischer Fakten, sondern um verstellte, verzerrte oder erfundene Namen, eben um fiktives enzyklopädisches Wissen, das im Dienste der komischen Absichten des Autors steht. Trotzdem leben die Romane auch von der real existierenden literarischen Tradition. Das kulturelle Wissen wird hier lediglich verrätselt und versteckt. Umberto Eco hat in einer Auseinandersetzung mit einem Text von d’Alembert die Enzyklopädie als künstlich reduzierte Form des Weltwissens, als ein „Labyrinth der dritten Art“ definiert, d. h. als etwas, „was in Wirklichkeit nicht darstellbar ist, weil es ein Rhizom ist, eine unvorstellbare Globalität“.22 Wenn Mythenmetz gegen Ende der Stadt der Träumenden Bücher glaubt, „durch ein entlabyrinthisiertes Labyrinth zu spazieren“ (STB 455), d.  h. dem Bücherstress entronnen zu sein, so lässt sich diese Aussage gewiss nicht auf den narrativen Diskurs übertragen. Wenn Schreiben „Arbeit“ ist, wie der Autor im Interview sagt, so gilt das auch und gerade für die Umsetzung der Geschichte in eine kunstvolle Form, die als solche mehrfach durch handwerkliche Metaphern – „Silbendrechsler“, „Odenhobler“ u. ä. – ausgewiesen wird. Joyce benutzte in The Portrait of the Artist die Metapher des „Schmiedens“ im Zusammenhang mit Ikarus’ Anrufung des „uralten Artifex“. Solche Metaphern entsprechen der dädalischen Konvention des Labyrinths. Zu den ästhetischen Strategien von Walter Moers gehört noch viel mehr – insbesondere die visuellen Muster, die den Text begleiten oder transportieren. Sie bedürfen allerdings einer genaueren intermedialen Analyse, die hier nicht zu leisten ist. Ich nenne hier nur einige Beispiele visueller Gestaltung: es existieren zahlreiche Zeichnungen des Autors, die dem Text mehr oder weniger

22 Eco, Umberto: Im Labyrinth der Vernunft. Leipzig 1999, S. 109.

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zufällig beigefügt sind. Auf den Innenseiten der Buchdeckel befinden sich Labyrinth-Varianten aller Art. Werbetafeln und Plakat-Darstellungen in großer Zahl unterbrechen über Seiten hinweg den normalen Leseprozess (vgl. LTB 290 und 292). Die Form, die Größe, die Dichte von Schriftzeichen und auch die Farbwerte (zwischen Schwarz und Grau) ändern sich ständig und erschweren die Rezeption. Wiederholt kommt es zu Ansätzen Konkreter Poesie, etwa wenn ein nach und nach verklingender Hilfe-Ruf im Text durch sich verkleinernde Buchstaben ikonographisch nachempfunden wird (STB 154). Ein anderes Beispiel: auf zwei ganzen Seiten wiederholt der Erzähler in Kleinstbuchstaben genau vierhundertachtzig Mal die Zeile: „Sie wurden soeben vergiftet“: ein Mittel, um die allmähliche Wirkung des Giftes auf den Erzähler Mythenmetz zu visualisieren. Auf der nächsten Seite folgt der Satz: „Dann wurde mir schwarz vor Augen.“ (STB 156) Und diese Seite ist in der Tat total geschwärzt. Man kann die Romane von Moers als eine Art Hommage an das Buch und an die Buchlektüre im Allgemeinen betrachten. Es wäre aber falsch, damit Vorbehalte gegenüber modernen, z. B. elektronischen Medien, zu verknüpfen. Moers kennt auch die filmische Praxis und arbeitete in den letzten Jahren viel mit dem Fernsehen zusammen. Gleichwohl hat er ein haptisches, geradezu sinnliches Verhältnis zum Buch und schätzt die Buchmacherei als „Handwerkskunst“.23 „Wir arbeiten gerade an einer Comicfassung der ‚Stadt der träumenden Bücher‘. Da wollten wir unbedingt, dass das Lettering der Sprechblasen von Hand und nicht an einem Computer gemacht wird.“24 Die Selbstverortung des Autors ist interessant. Einerseits bewegt er sich ganz und gar in der literarischen Tradition des 18. und 19. Jahrhunderts, bei Goethe, Hölderlin, Keller usw., nicht zuletzt weil ihn, wie er selbst meint, die mentale „Überschaubarkeit“ dieser Epoche fasziniert. Diese Tradition bearbeitet er jedoch, zumeist parodistisch, auf der Inhaltsseite seiner Romane. Gleichzeitig bedient er sich einer Schreibweise, die gegen klassische Formen ästhetisch Widerstand leistet. Es geht bei Moers zwar immer noch um Sujets, Plots, Abenteuer etc., das heißt um Ereignis-Strukturen auf der Ebene der Geschichte, aber – und das mag man pauschal und etwas klischeehaft als Konsequenz der aktuellen ‚Unüberschaubarkeit‘ unserer posthumanen Epoche betrachten – die diskursiven Verknüpfungen folgen nicht mehr unbedingt den aristotelischen Gesetzen der Wohlgeformtheit, sondern der literarische Diskurs gerät ein Stück weit zum Selbstzweck, inszeniert seine eigenen Bedingungen als ästhetisches Text-Ereignis, verhält sich konstruktivistisch und kompliziert, durchbricht die Formimma-

23 Vgl. Kreitling: Giftschrank. 24 Ebd., S. 4.



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nenz usw. – und orientiert sich dabei an der Idee des Labyrinths. In den genannten Fällen ist das ein bewusster Akt. Der Diskurs wird von der labyrinthischen Topologie, als Konsequenz des Kunstwillens des Autors, gewissermaßen infiziert.

6 Undine Gruenter – Nachdenken über Labyrinthe und Texte Dass es sich bei vielen Schriftstellern um ästhetische Strategie handelt, geht geradezu mustergültig aus einem Roman von Undine Gruenter hervor, Das Versteck des Minotaurus (2001),25 der nicht nur als strukturelles Labyrinth angelegt ist, sondern den Stellenwert labyrinthischen Schreibens – also seine diskursiven Qualitäten – auf fiktionaler Ebene ausdrücklich thematisiert und von einer „Form labyrinthischen Denkens“ spricht, „die dem unendlichen Projekt der Moderne angemessen sei“ (VM 96). Im Unterschied zu den erfundenen Labyrinthen in den Romanen von Moers, hat das Geschehen in Undine Gruenters Das Versteck des Minotaurus allerdings einen realistischen Hintergrund. Ort der Handlung ist die „Cité des Platanes“, ein großer Gebäudekomplex aus klassizistischer Zeit, in der Nähe des Pariser Montmartre-Viertels gelegen. Die räumlichen Strukturen dieser Wohnanlage sind aufgelockert durch Treppen, kleine Gassen und Jugendstilüberdachungen. Als „labyrinthisch“ werden hingegen die verzweigten Kellerräume präsentiert, die in politischen Notzeiten als Schlupfwinkel dienten. Insoweit schildert Gruenter zugleich ein Stück architektonische Kulturgeschichte. Vor allem aber handelt es sich um einen Roman der „Suche“, eine Suche durch ein Labyrinth von Mutmaßungen und Ungereimtheiten. Wenn hier von einer Ereignishaftigkeit die Rede sein kann, die durch Texte ausgelöst wird, dann zunächst einmal auf inhaltlich-thematologischer Ebene, denn im Zentrum des Romans befindet sich ein banaler Glaskasten, in dem normalerweise die Ankündigen des Syndikats, der Interessenvertretung der Hausbewohner, angeschlagen sind. Plötzlich werden solche Ankündigungen von geheimer Hand durch wechselnde, scheinbar wenig sinnvolle, teilweise wie Tierfabeln konstruierte Texte ersetzt. Der Text wird Ereignis im kriminalistischen Sinne. Das Wörtchen „Anschlag“ wird in seiner Doppelwertigkeit als Text und terroristisches Ereignis narratologisch voll ausgekostet. Denn die Suche nach

25 Gruenter, Undine: Das Versteck des Minotaurus. München 2001 (im Folgenden als VM + Seitenzahl).

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den Urhebern dieser Botschaften entwickelt sich zu einer ebenso detektivischen wie labyrinthischen Angelegenheit. Viele Beteiligte haben mit Labyrinth-Texten zu tun: Louis Gonzáles, ein Romancier und Verfasser des Romans „Schwarze Spiegel im Labyrinth“, der bei seiner Suche nach den Urhebern der Anschläge vom Detektiv Dupoivre unterstützt wird, ein Psychoanalytiker, Mitbewohner der Cité und Verfasser des Textes „Miniatur der Begierden, Minotauren im Labyrinth“ und schließlich die Erzählerin selbst, die mit Labyrinth-Konzepten ihr ironisches Spiel treibt. Sie tut das in Form von Anspielungen, Abschweifungen in Kunstgeschichte, Philosophie und Literatur, inter- und intra-textuellen Verweisen, abgebrochenen Geschichten aus dem Cité-Alltag und von einem historischen Standpunkt zu Beginn des 21. Jahrhunderts aus, der die klassischen wie die modernen und postmodernen Labyrinthe als solche ausdrücklich thematisiert. Dabei konkurrieren verschiedene Erzählebenen miteinander. Text-Zitate wuchern wie Wurzelgeflechte. Literarische Fachbegriffe und Namedropping machen dem Leser das Lesen, je nach Informationsstand, mehr oder weniger schwer. Von Joyce und Borges über Aragon, Buñuel und Beckett bis hin zu Benjamin, Leiris und Deleuze wird ein kulturgeschichtlicher Bogen gespannt, der deutlich an postmoderne Themen anschließt. Die Darstellung des urbanen Raums liest sich wie eine Hommage an Benjamins Passagenwerk. Das Versteck des Minotaurus besteht somit ein gutes Stück weit aus fiktionalisierter Theorie und enzyklopädischem Spiel. Der theoretische Anspruch wird allerdings durch die Fiktion und die Brüche in der Erzähllogik ad absurdum geführt.26 Über die Struktur von Labyrinthen wird immer wieder nachgedacht. Das lineare Labyrinth ist in der Perspektive der Autorin schon längst nicht mehr zeitgemäß. Unter anderem erinnert sie an die surrealistische Zeitschrift Minotaure: Minotaure spiele auf eine Form des labyrinthischen Denkens an, die dem unendlichen Projekt der Moderne angemessen sei […]. PAS PERDUS heißt ein Buch von Breton, Verlorene Schritte, verloren in einem Labyrinth, das der einfachen Figur von Zeit und Weg: der Geraden, der Strecke von A bis Z, vorzuziehen ist. (VM 96)

Das Zitat beschreibt genau das, was der Roman praktiziert: den Verlust des Linearen. Die im Roman ins Spiel gebrachte, mehrere Teilnehmer voraussetzende Textsorte des Cadavre exquis (VM 23), deren Gestaltung dem Zufall überlassen ist,

26 Vgl. Schmeling, Manfred: Theorie – Theorie des Erzählens – Erzählte Theorie. In: SollteGresser, Christiane / Schmeling, Manfred (Hg.): Theorie erzählen. Raconter la théorie. Narrating Theory. Fiktionalisierte Literaturtheorie im Roman. Würzburg 2016, S.11–26.



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weil das vom Vorgänger Geschriebene immer wieder neu verdeckt wird, lässt sich geradezu als eine Metapher des labyrinthischen Diskurses deuten. Als Ganzes gesehen, zeichnet sich der Roman somit durch eine Schreibweise aus, die der Überwindungsideologie der klassischen Labyrinth-Idee entgegengesetzt und nicht mehr lösungsorientiert ist. Er endet mit einem letzten Text aus dem Arsenal der Anschläge, in welchem nach einer erotischen Szene zwischen dem Psychoanalytiker und einer Patientin zwar die „mathematisch geordnete Szenenfolge aus der Vorgeschichte des Minotauros“ (VM 186) in sieben Folgen präsentiert wird, aber dies nur in ironischem Kontrast zu dem oben zitierten „unendlichen Projekt der Moderne“. Die Geschichte ‚schließt‘ mit einer „neue(n) Verwicklung des Fadens, der doch herausführen sollte“ (VM 187). Der Ariadne-Faden, der als Motiv wiederholt im Roman auftaucht, mutiert gleichsam zum Rhizom. Labyrinthisches Erzählen ist ein Mittel ästhetischer Verfremdung, einer Verfremdung, die sich der Linearität des Denkens wie des Schreibens widersetzt. Die Dialektik des Auseinanderhervorgehens von Ereignissen wird zumindest partiell dem Kunstwillen der Romanciers geopfert, für die der Text als Prozess und Ereignis das eigentliche Ziel ist. Damit verknüpft ist bei Moers wie bei Gruenter, aber auch generell seit den Romanen von Alain Robbe-Grillet oder Michel Butor, ein Hang zum Intellektualismus und zum Spielerischen. Während das Labyrinth als Thema, Motiv, Mythos usw. die Ereignishaftigkeit traditionell auf der Inhaltsseite abbildet, hinterlässt es als Struktur-Modell deutliche Spuren auf der DiskursEbene. Die Auseinandersetzung mit den formalen Möglichkeiten, die Erneuerung des Erzählstils, sind zwar unter den Prämissen von Moderne und Postmoderne generell als ein Ereignis literaturgeschichtlicher Art einzuschätzen, aber die labyrinthischen Diskursformen dürften ihren Höhepunkt allmählich überschritten haben. Jedenfalls stellt sich die Frage, ob solche nicht-linearen Strategien des Erzählens vom Leser überhaupt noch als „Ereignis“, als „Unterbrechung einer Dauer“, das bedeutet: als ‚Neues‘ wahrgenommen werden oder ob sie inzwischen nicht selbst wieder für Wiederholung und Dauer und ästhetische Erschöpfung stehen. Mit dieser ambivalenten Situation zwischen ästhetischem Spieltrieb und Erschöpfungszustand konfrontiert uns Hildegunst von Mythenmetz, alias Walter Moers, in einer autoreflexiven Wendung innerhalb seines Romans Das Labyrinth der Träumenden Bücher. Die ebenso lyrische wie selbstironische Empfehlung, die der Kenner sogleich als Schiller- bzw. Beethoven-Parodie identifiziert, richtet sich an alle Labyrinthologen, Erzähler wie Leser: „Freude schöner Labyrinthe / Bücher im Elysium / Leder, Staub und alte Tinte / Steig hinab und komm drin um!“ (LTB 238)

Gertrud Lehnert

Ungewisse Geschlechter, überschriebene Texte Leerstellen, Streichungen, Überschreibungen als literarische Ereignisse

1 Ereignis Ereignisse können im allgemeinsten Sinne gefasst werden als das ‚Andere‘ zum Gewohnten, ein Nicht-Erwartetes, das plötzlich das zeitliche Kontinuum unterbricht und sich, wie Martin Seel betont, bemerkbar macht und irritiert.1 Seel unterscheidet daher „Ereignis“ im Sinne von „Zum-Ereignis-Werden“ von „Veränderungen oder Vorkommnissen“, die nicht auffällig geschehen, nicht aus dem gewohnten Gang der Dinge ausbrechen. Die (reale oder metaphorische) Aktivität des Ereignisses selbst wird mithin durch die Aktivität der Wahrnehmenden komplementiert: Ein Ereignis muss als solches wahrgenommen werden. Wahrnehmung ist ein prinzipiell präsentisches Geschehen, eine „Weise leiblicher Anwesenheit“2. Sie funktioniert zunächst über die Sinne, nicht über den Intellekt,3 erst danach kann man einzelne Sinneswahrnehmungen differenzieren und Ich und Objekt unterscheiden.4 Ästhetische Ereignisse unterscheiden sich von Ereignissen allgemein nach Martin Seel vor allem durch eine andere Weise, sich bemerkbar zu machen, nämlich im Modus des Erscheinens: Dieses Erscheinen [...] vollzieht sich als ein Spiel von Möglichkeiten der Wahrnehmung, das nicht zur Wahrnehmung einer bestimmten Wirklichkeit des Erkennens und Handelns ausgenutzt wird. Darüber hinaus aber lässt es den eigenen Prozeß sinnenfällig werden: Es

1 Seel, Martin: Ereignis. Eine kleine Phänomenologie. In: Müller-Schöll, Nikolaus (Hg.): Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien. Bielefeld 2003, S. 37–47, hier S. 38 passim. 2 Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München 2001, S. 31 und S. 42. 3 Vgl. auch Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik – Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a. M. 2004, S. 11. 4 Vgl. Böhme: Aisthetik, S. 42. DOI 10.1515/9783110541854-017

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geschieht nicht nur, es zeigt sich in einem Geschehen, das beim Rezipienten einen Sinn für die Gegenwart weckt.5

Auch wenn sich diese Beschreibung wohl vor allem auf die bildenden und performativen Künste bezieht, trifft sie auch zu für die Lektüre von Literatur, sofern man die Auffassung teilt, dass Literatur nicht (vorrangig) Informationen vermittelt, sondern Erfahrungen ermöglicht.6 Texte mit ihren symbolischen Zeichen verweisen grundsätzlich auf etwas, was sie nicht selbst sind, bzw. auf wieder andere Zeichen. Sie werden weniger unmittelbar visuell, atmosphärisch, körperlich wahrgenommen als vielmehr entziffert und deshalb in der Regel als ein „Was“ verstanden, nicht einfach als ein „Dass“ wahrgenommen. Allerdings gibt es bekanntlich eine Fülle literarischer Verfahren, die auf sinnliche Wahrnehmung und Erfahrung statt auf Erkenntnis zielen und deshalb durchaus ereignishaft wirken können, in Lyrik womöglich in höherem Maße als in Prosa. Anregend für die Überlegungen zur Ereignisfähigkeit von Texten ist darüber hinaus Martin Seels Feststellung, dass Kunst Ereignisse reproduzierbar mache.7 Das gilt ganz sicher für Literatur, deren Rezeptionsbedingung die Verbreitung in einem in großer Auflage produzierten, also letztlich von Beginn an reproduzierten medialen Format ist. Texte sind auf Dauer und Wiederholbarkeit gestellt und können dennoch ereignishaft wirken. Stefan Scherer hebt in strukturalistischer Perspektive den Doppelcharakter literarischer Ereignishaftigkeit sowohl als Prozess wie als Struktur hervor.8 Textuelle Ereignisse sind, wie alle Ereignisse, grundsätzlich performativ9: Sie drücken nicht (nur) etwas Vorgegebenes aus, sondern bringen etwas hervor, und

5 Seel: Ereignis, S. 42. 6 Vgl. dazu beispielsweise Rorty, Richard: Der Roman als Mittel zur Erlösung aus der Selbstbezogenheit. In: Küpper, Joachim / Menke, Christoph (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Frankfurt a. M. 2003, S. 49–66, sowie Harold Bloom: Die Kunst der Lektüre. Wie und warum wir lesen sollten. München 2000. 7 Seel: Ereignis, S. 45. 8 Scherer, Stefan: Ereigniskonstruktionen als Literatur (Eichendorff, Musil, Goetz). In: Rathmann, Thomas (Hg.): Ereignis. Konzeptionen eines Begriffs in Geschichte, Kunst und Literatur. Köln / Weimar / Wien 2003, S. 63–84, hier S. 63. 9 Unter „Performativität“ verstehe ich die Prozesshaftigkeit kultureller Phänomene; die Inszenierung von Formen, Farben, Bewegungen im Hier und Jetzt, das Erzeugen und das Verschieben von Bedeutungen in und durch solche Inszenierungen, kurz: ein produktives und rezeptives Tun. Bedeutung und Zeichenhaftigkeit spielen auch im Performativen eine Rolle. Auch Vollzüge können Bedeutung haben; aber in einer Perspektive, die auf das Performative fokussiert, ist das nachrangig.



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das tun sie im Modus der Plötzlichkeit.10 Auch wenn das Ereignis im Text selbst durchdacht konstruierte, auf Wirkung hin inszenierte Spontaneität oder Plötzlichkeit ist, vermindert das seine ereignishafte und damit präsentische Wirkung nicht.11 Wie Performativität bildet „Inszenierung“ eine unverzichtbare Schnittstelle zum Ereignis. „Inszenierung“ als anthropologische Kategorie im weiteren Sinne verfügt über eine ästhetisierende und eine sinnliche Komponente. Als eine spezifische Auswahl, Organisation und Strukturierung von Material oder Menschen bringt sie etwas zur Erscheinung, „was seiner Natur nach nicht gegenständlich zu werden vermag“.12 Martin Seel konkretisiert, Inszenierungen seien „absichtsvoll ausgeführte oder eingeleitete Prozesse“,13 die als Inszenierungen nur erkennbar seien vor dem Hintergrund „nicht inszenierter räumlicher und zeitlicher Verhältnisse“. Das können auch textkonstitutive Prozesse sein, also spezifisch literarische Verfahren. Die Ereignishaftigkeit von literarischen Texten kann dann beschrieben werden als das Ergebnis einer sprachlichen Inszenierung, die performativ einen Effekt hervorbringt bzw. etwas zur Erscheinung bringt, was von den Lesenden im Lektüreprozess als literarisches Ereignis erlebt wird. Offen bleibt dabei die Frage, inwiefern die Ereignishaftigkeit im individuellen Lektüreakt wiederholbar ist oder ob sie sich gleichsam abnutzt, wenn man das einst Unerwartete wiederholt rezipiert. Denn, so Scherer, ein Text lasse aufgrund seiner Fixierung die Einmaligkeit des Ereignisses zur Struktur gerinnen. So sei schließlich das Ereignis potentiell die Schaltstelle zu neuer Strukturbildung.14 Im Folgenden stelle ich zwei unterschiedliche Versionen literarischer Ereignisse vor: erstens Jeannette Wintersons 1992 erschienenen Roman Written on the Body, der eine unbestimmte, queere Subjektposition der Erzählfigur entwirft; zweitens den 2012 erschienen Gedichtzyklus Sonne from Ort von Uljana Wolf und Christian Hawkey, der durch Streichungen aus einem vorgängigen Zyklus entstanden ist. Beide Beispiele lösen unterschiedliche Lektüre-Reaktionen aus: Eine queere Identität befremdet und beunruhigt oder überrascht vor dem Hintergrund der heteronormativen kulturellen Ordnung, die identitäre Eindeutigkeit zum

10 Vgl. Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit. Frankfurt a. M. 1981. 11 „Ästhetische Anschauung ist eine radikale Form des Aufenthalts im Hier und Jetzt.“ Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens. München 2001, S. 62. 12 Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a. M. 1993, S. 504. 13 Seel, Martin: Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs. In: Früchtl, Josef / Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens. Frankfurt a. M. 2001, S. 48–62, hier S. 49. 14 Vgl. Scherer: Ereigniskonstruktionen als Literatur, S. 65.

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 Gertrud Lehnert

Maßstab macht (auch in der Literatur). Queerness – im Leben wie im Text – ist tendenziell ereignishaft. Die Streichungen von Uljana Wolf und Christian Hawkey innerhalb Elizabeth Barrett Brownings Sonnets from the Portuguese samt der Rilkeschen Übersetzung15 verblüffen, indem sie neue Texte aus den alten hervorbringen und viele mögliche Bezüge unterschiedlicher Stimmen herstellen, außerdem palimpsestartig nicht nur die konkrete Vorlage überschreiben, sondern indirekt auch die Tradition der europäischen Liebeslyrik spätestens seit dem Petrarkismus aufrufen und sowohl bestätigen wie auf überraschende Weise immer wieder konterkarieren.

2 Queer als Ereignis 2.1 Sprache und Geschlecht Wer nimmt wahr? Wer spricht? Wie im ‚wirklichen Leben‘ schreiben wir auch während der Lektüre literarischer Texte den Personen automatisch eine Identität und damit immer auch ein Geschlecht zu. In der Regel ist das eines der beiden Geschlechter, die kulturell als die einzigen gelten: Frau oder Mann.16 Gewöhnlich ist das einfach, da Wahrnehmungs- und Sprechinstanz vom Text deutlich markiert werden. Das ist nicht nur freie Entscheidung der Autor*innen, sondern Eigenart der Sprachen. Das Französische beispielsweise zwingt noch nachdrücklicher zu eindeutigen Positionierungen als etwa das Deutsche. Sprache, so betont Roland Barthes, übt Macht aus. Sie zwinge beispielsweise, das Maskulinum und Femininum zu entscheiden, das Neutrum oder das Komplexe ist mir untersagt; ebenso bin ich gezwungen, meine Beziehung zu einem Anderen dadurch zu kennzeichnen, dass ich entweder tu oder vous sage: affektive oder soziale Unentschiedenheit ist mir versagt. [...] Sprechen – und noch vielmehr einen Diskurs führen – heißt nicht

15 Barrett-Browning, Elizabeth: Liebesgedichte. Englisch und deutsch. Übertragen von Rainer Maria Rilke. Mit einem Nachwort von Felicitas von Lovenberg. Frankfurt a. M. 2006. 16 Stefan Hirschauer betont die Zuschreibungspraktiken: „Wir sehen nicht einfach ein Geschlecht, wir schreiben es andauernd zu.“ (Hirschauer, Stefan: Die soziale Konstruktion der Transsexualität. Über die Medizin und den Geschlechtswechsel. Frankfurt a.  M. 1993) Teresa de Lauretis betont: „The representation of gender is its production.“ (de Lauretis, Teresa: The Technology of Gender. In: dies.: Technologies of Gender. Essays on Theory, Film, and Fiction. Bloomington / Indianapolis 1987, S. 1–30, hier S. 3).



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kommunizieren, wie man allzu oft wiederholt, es heißt unterwerfen: die gesamte Sprache ist eine verallgemeinerte Rektion.17

Im Deutschen kann man sich leicht auf das generische Maskulinum beschränken, dessen Gebrauch bedauerlicherweise immer noch verbreitet ist und deshalb weniger auffällt als eine gendersensible Sprache oder gar die konsequente Verwendung des generischen Femininums, die in der Praxis ohnehin kaum vorkommt. Wie verblüffend das generische Femininum wirkt, führt literarisch Ann Leckie in ihrem Science-Fiction-Roman Ancillary Justice18 und den Fortsetzungen vor, verwirrenderweise in Kombination mit explizit maskulinen Berufs- bzw. Statusbezeichnungen: „The Lord“.19 Das Englische hat eine etwas größere Chance, Geschlecht in Erzähltexten nicht gleich zu verraten, da es wie das Deutsche Adjektive zum Beispiel nicht grammatisch angleicht, oder wenn im Text gendersensible Pronomina verwendet werden wie „s/he“ oder Possessiva wie „hirself“. Letztere sind aber nicht überraschend, weil sie zwar selten verwendet, aber für gendersensible Sprache eingeführt sind; sie irritieren nur (noch), weil sie ungewohnt sind. Ähnliches gilt für das Deutsche. Wenn aber die Ich-Erzählinstanz eines Romans einen genderneutralen Namen trägt wie beispielsweise Hilary Tamar, Rechtsprofessor*in in London in der Krimi-Reihe von Sarah Caudwell20, kann das Geschlecht der/des Erzählenden konsequent unbekannt bleiben.21 In Jeannette Wintersons Roman Written on the Body22 hat d*ie Erzähler*in noch nicht einmal einen Namen, und es wird erzählt von Liebes- – oder wenigstens von sexuellen – Beziehungen zu Frauen und zu Männern. Wer oder was also ist d*ie Erzähler*in? Man könnte den Roman tatsächlich als literarische Parallele zur zeitgleichen Gender- und daraus entstehenden Queer-Theorie betrachten, die die Frage nach Identität und Geschlecht

17 Barthes, Roland: Leçon / Lektion. Französisch und Deutsch. Antrittsvorlesung am Collège de France. Gehalten am 7. Januar 1977. Übersetzt von Helmut Scheffel. Frankfurt a. M. 1980. 18 Leckie, Ann: Ancillary Justice. London 2013. 19 Da die meisten militärischen Berufsbezeichnungen im Englischen weitgehend genderneutral sind, fällt es an anderen Stellen nicht sofort ins Auge. Eine andere Geschlechterordnung ist übrigens nicht intendiert, es bleibt bei männlich und weiblich. Was freilich grundsätzlich anders ist, ist Technik. D* Ich-Erzähler* war einmal ein Raumschiff, genauer: eine von vielen humanoiden Verkörperungen der „artificial intelligence“, die das gigantische Raumschiff steuerte. Der Posthumanismus wäre ein anderes Thema, um über textuelle Ereignisse zu sprechen. 20 Der erste Band erschien 1981 unter dem Titel Thus Was Adonis Murdered. 21 Deutsche Übersetzungen scheinen sie zu einer Frau gemacht zu haben, wie ich InternetKommentaren entnehme. 22 Winterson, Jeannette: Written on the Body. London 1992.

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neu stellte und diskutierte. Wenn Judith Butler23 erläutert, eine direkte Identitätsaussage („ich bin …“) lasse mehr offen als sie zu wissen gebe, benennt sie ein Problem, das aufgrund des Wunsches, Dinge und Identitäten klar zu benennen, meist vergessen wird. „Ich bin“ grenzt so viel ein wie aus und bleibt ohnehin als scheinbar absolute Aussage völlig unbestimmt. In diese Lücke springt das Konzept von Queerness, das auf Offenheit besteht, um sich normierenden Festlegungen zu entziehen. In diesem Sinne verwende ich den Gender Gap. Er ist eine Hilfskonstruktion, um sichtbar zu machen, dass ich mich nicht gleich mit einer Zuschreibung festlegen möchte, sondern viele Identitäten und Identifizierungen – auch wechselnde – für möglich halte und respektiere. Auch wenn der Gender Gap vielleicht bei manchen Lesenden mehr Anstoß erregt als strategische Unklarheit erzeugt, ist er m. E. der einzige Weg, um über Gender- bzw. Identitätspositionen, die in unserer Kultur immer gegendert sind, zu sprechen/schreiben. Das aus der LGBTTIQ-Community stammende Konzept von Queerness24 bezieht sich zunächst auf Identitäten, die sich der Heteronormativität entziehen, sie unterlaufen oder sich ihr entgegenstellen; es ist also eine identitätspolitische Kategorie. Queer ist prozesshaft, niemals eine stabile Bestimmung. Queer ist auch eine Inszenierung, hebt sich also immer ‚irgendwie‘ von alltäglicher Nichtinszeniertheit ab, ganz gleich ob als einzelnes Ereignis oder bereits zum Habitus geworden. Mittlerweile ist das Konzept in der Queer Theory erweitert worden auf das Unterlaufen von festen Bedeutungen, auf das „Queeren“ von vermeintlich unveränderlichen Selbstverständlichkeiten, auf Prozesse der Destabilisierung also. Queer kann dann z  B. auch Grenzen zwischen Menschlichem und NichtMenschlichem – also eine scheinbar festgefügte ‚Wahrheit‘ – in Frage stellen (wie es Donna Haraway mit ihrer Cyborg bereits in den 1980er Jahren begonnen hat und Karen Barad mit der Frage nach Queerness in der Natur fortsetzt25). Die Herkunft des Konzepts aus der gelebten lesbisch-schwulen Erfahrung einerseits

23 Butler, Judith: Imitation und die Aufsässigkeit der Geschlechtsidentität. In: Kraß, Andreas (Hg.): Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität. Frankfurt a. M. 2003, S. 144–168. 24 Vgl. zum Konzept queer z. B. Degele, Nina: Gender: Queer Studies. Eine Einführung, München 2008; Engel, Antke: Bilder von Sexualität und Ökonomie. Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus. Bielefeld 2009; Lehnert, Gertrud / Weilandt, Maria: Ist Mode queer? Eine Einleitung. In: dies. (Hg.): Ist Mode queer? Neue Perspektiven der Modeforschung. Bielefeld 2016, S. 7–16. 25 Haraway, Donna: Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature. New York 1991; Barad, Karen: Nature’s Queer Performativity. In: Kvinder, Køn og Forskning. Women, Gender, and Research 1–2 (2012), S. 25–53; als pdf online verfügbar: https://tidsskrift.dk/index.php/KKF/ article/download/51863/95446 (29. September 2016).



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sowie der (poststrukturalistischen) Gender-Theoriebildung andererseits ist allerdings in allen Konzepten noch mit enthalten.

2.2 Der Roman Written on the Body beginnt fulminant mit dem Satz: „Why is the measure of love loss?“26 Ein kurzer prägnanter Fragesatz; eine These, die den ganzen Roman zusammenfasst; eine These, die man sofort zu verstehen meint, um sich dann immer tiefer in ihre Rätselhaftigkeit zu verstricken.27 Der Satz steht allein in der ersten Zeile. Der nächste Absatz geht unvermittelt weiter mit einem ganz anderen Thema, das die Frage mitnichten beantwortet: „It hasn’t rained for three months.“28 Schon diesen Auftakt möchte ich als die Inszenierung eines textuellen Ereignisses bezeichnen, die auf Überraschung setzt und Neugier erzeugt. Der Roman verrät einiges über die Ich-Erzählfigur (im Folgenden als E* bezeichnet): mit wem sie Beziehungen oder Affären hatte, wen sie leidenschaftlich liebt, wen sie verlassen hat oder wer sie verlässt, mit welch skurrilen Menschen sie zu tun hat, auf welch seltsame Aktivitäten sie sich einlässt. Da ist z. B. der feministisch motivierte Überfall auf ein Pissoir: E* verscheucht die anwesenden Männer, bevor ihre/seine radikalfeministische holländische Freundin das Gebäude sprengt, um dann unterzutauchen und E* zur (natürlich misslingenden) Kommunikation mit Brieftauben zu zwingen. Unerwartet und witzig inszeniert, haben solche Szenen durchaus Ereignis-Potential. Auch andere Episoden des Romans sind ähnlich skurril, manche sind traurig oder melancholisch, manche ironisch, manche pathetisch. Die Gefühlslagen und Erzählmodi wechseln29 und kreuzen sich. Die Sprache ist poetisch, wissenschaftlich, ironisch – sie ist chamäleonartig und klingt doch unverwechselbar. Der Text ist außerdem durchsetzt von intertextuellen Bezügen etwa zu Shakespeare, Alexandre Dumas oder der europäischen Liebeslyrik.30 Irgendwann fällt auf: Wer spricht da eigentlich? Wer ist E*? Welchen Namen hat E*? Welches Geschlecht? Wie alt? Welcher Beruf? Welche Tagesabläufe? Welche Geschichte (außerhalb der Liebesbeziehungen)? Wie sieht E* aus? Nichts

26 Winterson: Written on the Body, S. 9. 27 Außerdem klingt – wie so oft bei Winterson – Shakespeare an. 28 Winterson: Written on the Body, S. 9. 29 Darin liegt eine durchaus überraschende Parallele zu manchen Texten der deutschen Romantik. 30 Lehnert, Gertrud: Wenn Frauen Männerkleider tragen. Geschlecht und Maskerade in Literatur und Geschichte. München 1997, S. 173–193.

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davon verrät sich. E* ist eine Erzählinstanz/Figur, die scheinbar ganz und gar greifbar wird und sich doch vollkommen entzieht. Anders gesagt: E* ist ausschließlich ein* Liebende*, ein* Verlassende* und Verlassene*, ein* Leidenschaftliche*, ein* Gelangweilte*, ständig auf der Suche, immer hundertprozentig und zugleich von Zweifeln durchzogen. E* wird niemals von der Perspektive anderer gespiegelt. E* ist namenlos. E* ist keine Person, sondern ein Konglomerat aus (textuell evozierten) Gefühlen. E* ist virtuose Sprache. Das Lektüre-Ereignis findet immer wieder statt, wenn man bemerkt, dass die Lese-Erwartungen nicht erfüllt werden, immer dann, wenn man überrascht wird; spätestens jedoch dann, wenn man plötzlich gewahr wird, dass das Geschlecht d* namenlosen E* nicht eindeutig ist. Zu Beginn schreibt man es automatisch zu, je nach eigener Orientierung oder auch je nach dem Wissen um die Biographie der Autorin. Beide Informationsquellen erweisen sich bei genauem Lesen als unzuverlässig. Weiß man, dass Winterson offen lesbisch ist, mag man dazu neigen, auch die Ich-Figur so zu sehen. Ist man selbst lesbisch, schwul oder transgender, liest man sie womöglich dem entsprechend. Neigt man eher der Heterosexualität zu, könnte man sie vielleicht zunächst ganz fraglos als Mann deuten – bis man bemerkt, dass E*s Verhaltensweisen oft eher traditionell weiblich konnotierten entsprechen. Wenn E* später von zwei Beziehungen zu seltsamen Männern erzählt, muss man die Einschätzung korrigieren oder variieren. Kurz, man bewegt sich lesend auf schwankendem Boden, in einer ständigen Suchbewegung – vorausgesetzt, man lässt sich auf das ein, was der Text sagt und verschweigt, statt eigene Meinungen und Vorstellungen in den Text zu lesen. Anders gesagt: Der Text macht ein Angebot, das man als Lesende ignorieren oder annehmen kann, je nachdem, wie sehr man sich auf ihn einlässt. Lässt man sich ein, kann man den Roman als ereignishaft erfahren, weil er nicht nur die erwartete Gender-Ordnung unterläuft, sondern auch andere Identitätskategorien spielerisch außer Kraft setzt. Damit widerspricht er verbreiteten Lese-Erwartungen und markiert sich als queer im Sinne eines ständig in Bewegung bleibenden identitätspolitischen Prozesses. Denn queer ist performativ, weil es sich selbst immer wieder neu und als neu hervorbringt, in einer „stylized repetition of acts“31 – was man auch als Inszenierung umschreiben könnte. Written on the Body ist deshalb ein performativer Text, weil er nicht einfach über etwas spricht, sondern inszeniert / tut / hervorbringt, wovon er spricht. Nur deshalb kann er zum Ereignis werden.

31 Butler, Judith: Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory. In: Case, Sue-Ellen (Hg.): Performing Feminisms. Feminist Critical Theory and Theatre. Baltimore / London 1990, S. 270–282, hier S. 270.



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3 Que(e)rende Texte Wenn die Ereignishaftigkeit von Texten darin besteht, Bedeutungen zu verschieben, zu verunklaren, zu vervielfachen, dann ist Lyrik zweifellos ein privilegierter Ort, an dem literarische Ereignisse stattfinden. Martin Seel bestimmt die Voraussetzung ästhetischer Wahrnehmung als „die Fähigkeit, etwas begrifflich Bestimmtes wahrzunehmen. Denn nur wer etwas Bestimmtes vernehmen kann, kann von dieser Bestimmtheit, oder genauer: kann von der Fixierung auf dieses Bestimmen auch absehen.“32 Der Gedichtzyklus Sonne from Ort von Uljana Wolf und Christian Hawkey setzt Instabilität in Szene. Anders als Wintersons Roman, der sie als subtiles Unterlaufen von gesellschaftlichen Rollenerwartungen realisiert, präsentiert sich die Instabilität des Gedichtzyklus als kreatives Umschreiben durch Löschung33 – und damit auch Überschreiben – eines literarischen Prätextes (bzw. Hypotextes in der Terminologie Genettes34). Der Hypertext wird nicht nur durch verbale, sondern auch durch visuelle Elemente konstituiert. Hinzu kommt, was Genette Architextualität nennt, nämlich Bezüge auf eine Gattung, in diesem Fall die europäische Sonettdichtung seit der Renaissance. Elizabeth Barrett schrieb die Sonette für ihren späteren Mann Robert Browning, der sie erst Jahre danach zu lesen bekam; noch später (1850) wurden sie publiziert. Sie sind also gewissermaßen eine Seite eines potentiellen literarischen Gesprächs, das jedoch zunächst literarisch einseitig blieb.35 Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen tritt ein anderer Mann in diesen Dialog ein: Rainer Maria Rilke antwortet quasi auf die Gedichte des Zyklus, indem er sie in eine andere Sprache übersetzt und sie sich damit gleichzeitig zu eigen macht.36

32 Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 51f. 33 Löschungen – „erasures“ – gibt es auch in der modernen Kunst. Ein spektakuläres Beispiel ist Robert Rauschenbergs Erased de Kooning Drawing (1953), die weiße Löschung einer Zeichnung, die de Kooning Rauschenberg auf seine Bitten hin eigens für diese Arbeit gegeben hatte. Rauschenberg rahmte das Ergebnis golden; es ist heute im Besitz des San Francisco Museum of Modern Art, siehe https://www.sfmoma.org/artwork/98.298 (29. September 2016). Danke, Änne Söll! 34 Der Hypertext entsteht durch Transformation eines Textes oder bestimmter seiner Elemente, sei es das „Handlungs- und Beziehungsschema“, sei es der Stil. (Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a. M. 1993, S. 16) 35 Allerdings kann man natürlich den literarischen Austausch zwischen Barrett-Browning und Browning als umfassendes literarisches Gespräch betrachten und es darunter subsummieren. 36 Was vielleicht nicht ohne eine Nuance von Gewalt ist, da sie an einen anderen Mann adressiert waren und sie außerdem der Autorin gehören. Aber die Frage der Machtverhältnisse in literarischen Übersetzungen ist eine ganz andere als die in diesem Aufsatz verfolgte und bedürfte einer eigenen Abhandlung.

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Eine andere Sprache: das Deutsche, aber außerdem die unverkennbare RilkeSprache, die so anders ist als die Barrett-Brownings, dieser aber vergleichbar im Hinblick auf den Grad von Pathos, wenn auch die Formen von Pathos sich wiederum unterscheiden. Barrett-Brownings Gedichte werden zu Rilkes Gedichten. Mehrere Jahrzehnte später klinkt sich ein weiteres Paar in den notwendig einseitigen Dialog des literarischen Paars zweiter Ordnung (Barrett-Browning – Rilke) ein, und zwar sozusagen geschlechter-chiastisch: sie antwortet auf Rilke, er auf Barrett-Browning. Damit bleibt die heterosexuelle Dynamik erhalten, nur in anderer Anordnung. Das ist ein Prozess, wie er so oder ähnlich in allen literarischen Begegnungen / Adaptationsprozessen vorkommt; als ereignishaft würde man ihn kaum bezeichnen. Allerdings handelt es sich hier um eine besonders ungewöhnliche Konstellation, die noch dadurch eine Pointe erhält, dass die Originalsonette erstmals als Sonnets From the Portuguese erschienen, also vorgaben, eine Übersetzung zu sein (und sich auch damit in die Tradition der Liebeslyrik einreihten). Mit anderen Worten: das Spiel bewegt sich zwischen unechten und echten Übersetzungen – tatsächlich eine interessante Serie von „faux amis“. Ausgehend von dem literarischen Doppel Barrett-Browning – Rilke vollführen Uljana Wolf und Christian Hawkey eine weitere Spiraldrehung. Schon der Titel des Bandes Sonne from Ort weist auf das transformierende Prinzip hin, und der Untertitel sagt explizit, dass es sich nicht um neuerliche Übersetzungen (im engeren Sinne) handelt, sondern um Ausstreichungen/Erasures englisch-deutsch nach den „Sonnets from the Portuguese“ von Elizabeth Barrett Browning und den Übertragungen von Rainer Maria Rilke. Das ist der einzige komplette Satz im ganzen Band, der zwar alle Paratexte der Insel-Ausgabe37 enthält, sogar das Nachwort von Felicitas von Lovenberg – aber wort- und buchstabenlos, typographisch sichtbar ausgestrichen bzw. durch Linien ersetzt. Auch sämtliche Gedichte – Originale und Übersetzungen – sind in der vorgegebenen lateinischen Nummerierung vorhanden, wenngleich nicht dem Buchstaben getreu. Die Erasures lassen Bruchstücke stehen. Folglich hat man sich mit 1. der visuellen Gestaltung, 2. der Tatsache der Löschung, die ja grundsätzlich ein gewaltsamer Eingriff ist, und 3. den vollkommen neuen Texten, die aus den Bruchstücken entstehen, zu befassen. Ich konzentriere mich im Wesentlichen auf die Texte. Der Einband sieht aus wie ein hübsches Schreibheft mit Blumen-Vogelmuster, wie man sie derzeit häufig findet, und ist angelehnt an die ältere Reihengestaltung der Insel-Bibliothek. Das Cover weist ein Titeletikett auf, dessen Linierung und

37 Barrett-Browning, Elizabeth: Liebesgedichte. Deutsch und englisch. Übertragen von Rainer Maria Rilke. Mit einem Nachwort von Felicitas von Lovenberg. Frankfurt a. M. 2006.



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möglicher Text durch das altmodische Tipp-Ex ausgelöscht scheint; nur das Wort „Insel“ ist ganz unten noch zu erkennen. Es verweist auf den Verlag, in dem die Rilkesche Übersetzung bzw. die gängige zweisprachige Ausgabe erschienen ist (unter dem Titel Liebesgedichte), aber das einsame „Insel“ könnte hier auch andere Assoziationen auslösen, nicht zuletzt die Erinnerung an das bis zur ihrer Liebesgeschichte mit Robert Browning sozial isolierte, ganz auf die Familie beschränkte ‚Inseldasein‘ von Barrett-Browning. Die Ausstreichungen im Band werden markiert von einer anderen Typographie – nicht Buchstaben, sondern Linien unterschiedlicher Art, deren unterschiedliche Formate – wie in der Legende einer Landkarte – auf der linken Klappe erläutert sind: gerade, gekrümmte, gepunktete Linien, die im Band in unterschiedlichen Kombinationen auftauchen. Es scheint, als wären die Zeichen eine weitere, entzifferbare Transformation oder auch Übersetzung in eine nicht buchstabenfixierte Sprache. Dazwischen stehen Textfragmente, allesamt Bestandteile der originalen Gedichte, gleichwohl nicht zwingend komplette Wörter: zuweilen sind es verstümmelte Wörter („Asphodill“ wird „Dill“, „hilflos“ wird „los“, „alles“ zu „s“). Das Spiel bringt neue Texte hervor: alle Wörter, die in den ausgestrichenen Gedichten stehen bleiben, ergeben einen neuen Sinn oder auch Unsinn. Das Zusammenspiel von Buchstaben und visuellen Zeichen ergibt eine reizvolle Mischung, die eine Leser*in freilich schnell vor ein Rätsel stellt: kann man die Linien wirklich „lesen“ – oder sind sie ein Scherz, der in die Irre führen soll? Zweifellos lesbar sind jedoch die neuen Texte oder auch Textfragmente, je nachdem, ob man von ihrer Eigenständigkeit oder der Versehrtheit der Prätexte ausgeht. Man kann sie lesen und verstehen, oder es wenigstens versuchen: jedes für sich, im Vergleich miteinander und im Vergleich mit den Prätexten. So entsteht ein fortlaufendes (Sich-)Verweben der Texte, das über die konkreten geschriebenen Texte selbst hinausgeht. Dieser Prozess mündet jedoch nicht in eine kohärente neue Textordnung. Diese konstituiert sich vielmehr als eine Suchbewegung, ein (gelingendes oder misslingendes) Frage- und Antwortspiel zwischen vier unterschiedlichen Versionen. Das Ergebnis – wenn man davon sprechen möchte – bleibt instabil. Verstärkend kommt hinzu, dass bereits Barretts Zyklus als zweifelnde Suchbewegung charakterisiert werden kann, in der Gewissheiten sich nur langsam durchsetzen. Auch darin kann man eine (inhaltliche) Instabilität erkennen, ferner – in formaler Hinsicht – ebenso im Strophen übergreifenden, oft drängenden Schreibfluss oder den vielen Ausrufe- und Fragezeichen, die den Fluss stoppen. Rilke übersetzt, verkürzt gesagt, auf den emotionalen Effekt hin, das heißt, er verändert des Öfteren die Syntax und damit die Position der Enjambements, die er deutlich häufiger verwendet, er setzt weniger rhythmische Pausen in der Mitte der Verse als Barrett, und er verändert Begrifflichkeiten und Bezüge.

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Beide beziehen sich ihrerseits affirmierend und variierend auf die europäische Sonett- bzw. Lyriktradition, gerade auch auf deren Anfänge, in der die Überhöhung der geliebten Person ebenso Programm ist wie die Verbindung von irdischer und göttlicher Liebe. Letztere findet ihr Echo besonders bei Barrett, bei Rilke würde ich eher von metaphysischer Erhöhung sprechen. Und die omnipräsenten Rilkeschen Engel sind eben eindeutig Rilke und bei Barrett nicht zu finden. Nichts davon ist in den Erasures zu finden; Religiöses bzw. Metaphysisches wurde gelöscht. Die Erasures brechen vielmehr die Liebesthematik herunter auf Bruchstücke, deren Witz, zuweilen Traurigkeit, oft Rätselhaftigkeit und nicht selten auch Banalität deutlich parodistische Züge tragen. Als durchgehendes Thema entfalten die neuen Texte so in krassem Gegensatz zu den Prätexten die Endlichkeit und zuweilen auch die Banalität der Liebe. Sehnsucht kommt nicht zu kurz, aber sie wird nie verabsolutiert. Man kann das Ganze auch als Palimpsest auffassen. Der Urtext wird bis auf einige Bruchstücke gelöscht. Die Reste bleiben erkennbar, ergeben einen neuen Sinn, der sich als Überschreibung des Ur-Textes aus dem Text ergibt, der einst da stand, aber nicht mehr zu erkennen ist. Da die Löschungen und das, was übrig bleibt, strategisch inszeniert sind, überschreibt dieser neue Text tatsächlich intentional den ursprünglichen Text, auch wenn er aus dessen „Resten“ besteht. In ungewöhnlichen Zusammenstellungen von Wörtern, zuweilen auch unzusammenhängenden, unvollständigen Sätzen ergibt sich gleichwohl ein neuer Sinn. So kommt schließlich ein fortgeführter, aber wechselseitiger Dialog zwischen allen Versionen zustande, die indessen nicht immer zueinander kommen bzw. sich im Einzelnen aufeinander beziehen, sondern die oft ein rätselhaftes Aneinander-vorbei-Reden inszenieren. Manchmal entstehen jedoch (scheinbar?) passende Bezüge: […] the winds are rough, […] Between our […] feet […]. […] Beweise […] Liebe […] alles war […] mein […] Kleid […].38

Auffallend ist, dass die englischen Texte fast durchgehend klare Zusammenhänge präsentieren, während die deutschen eine Neigung zur Parodie, zur Lücke und zu fast surrealen, expressionistischen oder an Nonsens gemahnenden Zusammenstellungen aufweisen: „[…] in breitem Brausen […] gab dir […] das Wort […] dein

38 Wolf, Uljana / Hawkey, Christian: Sonne from Ort. Ausstreichungen / Erasures. Engl.-dt. Nach den Sonnets from the Portuguese von Elizabeth Barrett Browning und den Übertragungen von Rainer Maria Rilke. Berlin 2012, S. 30 / 31, Gedicht Nr. XIII.



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[…] Palmenhai […].“39 Oder: „[…] Ich sitz […] in einem […] Kind […] so […] Bleib […] ich […] hell […] draußen sind […] verlorene Vögel […] los […].“40 Das zweifellos berühmteste Gedicht von Barretts Zyklus ist das Sonett XLIII, das so beginnt: „How do I love thee? Let me count the ways.“ Charakteristisch ist der Überbietungsgestus, der Vergangenheit und Zukunft umfasst, Religiöses einbezieht und in der Ewigkeit gipfelt: I love thee with a love I seemed to lose With my lost saints, – I love thee with the breath, Smiles, tears, of all my life! – and, if God choose, I shall but love thee better after death.41

Hawkey wendet dieses Pathos ewiger und unermesslicher Liebe mit sehr wenigen Wörtern aus dem ersten Quartett in sein prägnantes Gegenteil – ein ironischer Überraschungseffekt, der durchaus, so meine ich, als Ereignis erfahren werden kann. Das komplette neue Gedicht lautet so: […] Let me count the ways […] when feeling […] ends […]42

Uljana Wolf verwandelt mit etwas mehr Wörtern die Rilke-Version des Sonetts LXIII in eine absurde Parodie des ursprünglichen Pathos: […] Laß mich zählen […] meine […] Lampen […] oder […] alle […] meine Heiligen […]43

Sie nutzt geschickt die Steilvorlage, die Rilke ihr mit der Übersetzung von dem romantischeren „candlelight“ in das eher technikaffine „Lampenschein“ liefert. Das Ende der Liebe ist hier Thema, nicht ihre Dauer und Tiefe. Dieses Ende wird in der Erasures immer wieder aufgerufen oder angedeutet, häufig in kurzen trockenen Worten, die jedes Ewigkeitspathos konterkarieren. Damit werden die Prätexte – wenn man die Erasures konsequent darauf bezieht, was man freilich nicht tun muss – als fragwürdiges, nicht zeitgemäßes Ideal vorgeführt und zugleich auch jene Tradition der Liebesdichtung, die auf Dauer setzt, ganz gleich ob gelebte oder erinnerte Dauer. Aber sie bleiben dennoch Vorbild, das nie ganz zu löschen ist. Da die Um-Schreibungen in den Worten selbst schon enthalten sind, werden

39 Ebd., S. 39, Nr. XVII. 40 Ebd., S. 67, Nr. XXXI. 41 Barrett-Browning: Liebesgedichte, S. 92. 42 Wolf / Hawkey: Sonne from Ort, S. 90. Siehe Abb. nächste Seite. 43 Ebd., S. 91. Siehe Abb. nächste Seite.

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sie durch die Streichungen nur sichtbar gemacht – zur Erscheinung gebracht, um die Seelsche Terminologie zu verwenden. Zugleich sind sie komplett neue Texte, also quasi Palimpseste, die sich über die Originale legen.

Abb. 1: Wolf, Uljana / Hawkey, Christian: Sonne from Ort. Ausstreichungen / Erasures. Engl.-dt. Nach den Sonnets from the Portuguese von Elizabeth Barrett Browning und den Übertragungen von Rainer Maria Rilke. Berlin 2012, S. 90 / 91. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Kookbooks.

Die Gender-Positionen spielen in den Erasures keine erkennbare Rolle. Zwar werden Autor und Autorin genannt, aber die Texte selbst verraten meines Erachtens keine gegenderten Positionen oder Sprachgepflogenheiten. Wer in welchem Text spricht, lässt sich nur aufgrund der paratextuellen Zuordnung verstehen (oder vermuten).44

44 Das müsste in all seinen Facetten genauer analysiert werden, was freilich einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleibt: zunächst die vielfachen Bezüge zwischen Rilke und Barrett



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Kann man im Verfahren der Sonne from Ort eine queere Schreibpraxis entdecken? Zwar werden keine queeren Identitäten im Sinne einer Widerständigkeit gegen (oder Unterlaufen von) Heteronormativität inszeniert (obgleich das nicht einmal ausgeschlossen ist, denn lesen kann man sie so). Wenn man Queerness erweitert auf das De-Stabilisieren fester Zuschreibungen und Bedeutungen grundlegender und identitärer Art, auf eine grundsätzliche Verunsicherung und Verschiebung von festgefügten, kulturell meist nicht hinterfragten Normierungen und Identitäten – dann könnte sich Queerness schließlich auch auf Sprecherpositionen in Texten beziehen und vor allem auch auf das de-stabilisierende „Queeren“ vorgängiger, durchaus traditioneller Text-Ordnungen durch Praktiken des Neuschreibens mittels Ausstreichungen, wie es die Erasures brillant vorführen.

4 Kurzes Fazit Ereignishaft ist die Lektüre der Erasures deshalb, weil die neuen Texte immer wieder überraschen. Sie spielen virtuos mit Möglichkeiten von Sprache selbst und bringen performativ neue Möglichkeiten und Bedeutungen hervor, indem sie die Prätexte anders als üblich lesen – queerend, gegenläufig, Grenzen von Wörtern und Sätzen ignorierend, in einem kreativen Spiel mit Sprache. Das seinerseits eine aktive und offene Lektüre erfordert. Sie funktionieren ähnlich einem Palimpsest, denn zwar handelt es sich nicht um ein Überschreiben im konkret materiellen Sinne, sondern im Gegenteil um Streichungen. Aber die sind ja Teil des Palimpsests, und die gleichsam archäologische Arbeit der Auffindung neuer Bedeutungen in den alten ist auch eine Überschreibung, die ganz Neues hervorbringt – das die alten Texte enthalten, ohne es zu wissen. Darüber hinaus kann man das Verfahren auch als kritische Praxis verstehen, denn es legt offen, was auch in schriftlichen wie mündlichen Dialogen (also auch bei Lektüren, wenn man sie als Teil eines Dialogs versteht) passieren kann: Geäußertes wird falsch gehört, oder es wird nur teilweise verstanden. Der Austausch steht immer in der Gefahr, Fragment und Missverständnis zu sein, obwohl (vielleicht) Vollständigkeit und Klarheit angestrebt wird. Gespräche können extrem fragmentarischen Charakter haben, und sie können komplett scheitern, je nach momentaner Ein-

(und diese wieder im Verhältnis zur Tradition des Liebes-Sonetts), dann die zwischen allen vier Autor*innen sowie der Tradition. Daraus könnten dann evtl. im Einzelnen andere Befunde entstehen.

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stellung, unmittelbarem Interesse, Empathie usw. der Beteiligten, ganz abgesehen von deren Sprachkompetenz. Sie sind immer performative Ereignisse. Das Gleiche gilt für den literarischen Austausch über die Zeiten, die Sprachen, die Geschlechter hinweg. Auch Written on the Body überschreibt, streicht, generiert neue Möglichkeiten und entzieht sich am Ende mindestens ebenso nachdrücklich wie Sonne from Ort einem eindeutigen Verständnis, macht es jedoch nicht visuell sichtbar. Zwar handelt es sich „nur“ um das Innenleben – die Gefühle, die Imaginationen und die Wahrnehmungen (und Erinnerungen daran) – einer einzigen Figur. Lesend, wird man mit völliger Subjektivität konfrontiert, obgleich es so scheint, als finde alles im ‚wirklichen‘ Leben in Interaktion mit anderen Menschen statt. Über das, was die anderen Figuren ‚wirklich‘ denken oder warum sie was tun, erfährt man jedoch nichts – außer den Wahrnehmungen und Interpretationen von E*. Und als beispielsweise die Geliebte aus ihrem Leben verschwindet, weiß die Erzählfigur nicht, ob der Abschiedsbrief die Wahrheit sagt oder eine Lüge ist. Also zweifelt sie immer weiter und beginnt in Ermangelung eines materiellen Gegenübers den (vermutlich krebs-)kranken Körper der Geliebten zu imaginieren, ihn anatomisch – oder eben auch gemäß der literarischen Tradition etwa des Blason – in seine Details zu zerlegen und in einem quasi pervertierten Liebeslied zu besingen. Die Vielzahl literarischer Anspielungen (zum Beispiel auf die europäische Liebesdichtung in Prosa oder Vers) und auf Diskurse aus anderen Bereichen wie der Medizin (im 2. Teil) fächert Bedeutungen auf, unterläuft sie gleichzeitig und lässt sie grundsätzlich ungewiss erscheinen. Durch Zitationen entsteht ein Kaleidoskop und durch Überschreibungen ein Palimpsest, das vieles durchscheinen lässt, wovon jedoch nichts wirklich eindeutig entzifferbar ist. In Written on the Body wird eine Stimme vielstimmig, in Sonne from Ort kreuzen und durchkreuzen sich vier Stimmen mit unzähligen weiteren, ungenannten, überschriebenen, erinnerten, vergessenen. Ereignisse ereignen sich in all den Lektüren, die sich auf die Texte, auf ihre verwirrenden Vielstimmigkeiten und ihr strategisches Unterlaufen von Eindeutigkeiten einlassen.

Sieghild Bogumil-Notz

Poesie als Ereignis des narrativen Textes Günter Grassʼ Zunge zeigen und Amitav Ghoshs The Hungry Tide

1 Das Verhältnis von Text und Ereignis Folgen wir Derridas Seminarvortrag Une certaine possibilité impossible de dire l’événement,1 so gibt es drei Gründe, warum ein Text nicht über ein Ereignis berichten kann. Erstens erscheint im Text das Ereignis als Gewesenes, während eine seiner konstitutiven Eigenschaften gerade in der Gegenwärtigkeit besteht. Der Autor kann sich allenfalls mit Hilfe narrativer Strategien und anderer Schreibpraktiken auf ‚die Suche nach der verlorenen Zeit‘ begeben, um den präsentischen Charakter zu reproduzieren. Zweitens steht dem singulären Charakter des Ereignisses die durch Allgemeinheit geprägte Sprache selbst entgegen. Drittens schließlich ist das Ereignis als solches aufgrund seiner absoluten Einzigartigkeit durch eine Unmöglichkeit des Sich-Ereignens charakterisiert, die auch jedes Sprechen über das Ereignis unmöglich macht. Das Ereignis findet nur statt um den Preis seiner Wiederholbarkeit, seiner Substitution. Hier leuchtet Derridas These von der Absenz des Ursprungs und der Schrift als Spur auf. Einen analogen Gedanken formuliert Gilles Deleuze in seiner Leibnizanalyse, wo er die Absenz „cette part muette et ombrageuse de l’événement“2 nennt. Denn, so stellt Deleuze in Bezug auf Leibniz fest: „Nous ne pouvons parler de l’événement que déjà engagé dans l’âme qui l’exprime et dans le corps qui l’effectue.“3 Jedoch können wir nur vom Ereignis sprechen, weil es diesen Teil, der sich entzieht, gibt: „nous ne pourrions pas parler sans cette part qui se soustrait“.4

1 Derrida, Jacques: Une certaine possibilité impossible de dire l’événement. In: Nouss, Alexis (Hg.): Dire l’événement, est-ce possible? Séminaire autour de J. Derrida (avec J. Derrida et G. Soussana). Paris 2001, S. 79–112. Deutsche Übersetzung: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen. Aus dem Französischen von Susanne Lüdemann. Berlin 2003. 2 Deleuze, Gilles: Le pli. Leibniz et le baroque. Paris 1988, S. 142. Übersetzung (S. B.-N.): „diesen stummen und schattigen Teil des Ereignisses“. Deleuze verweist hier auf Maurice Blanchot: L’espace littéraire. Paris 1955, S. 160–161, der dieses Thema ebenfalls häufig aufgreift. 3 Deleuze: Le pli, S. 142. Übersetzung (S. B.-N.): „Wir können vom Ereignis nur sprechen, wenn es in der Seele, die es ausdrückt, und im Körper, der es ausführt, schon statthat.“ 4 Ebd. DOI 10.1515/9783110541854-018

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 Sieghild Bogumil-Notz

C’est l’exprimable de toutes les expressions, le réalisable de toutes les réalisations, Eventum tantum auquel âme et corps tentent de s’égaler, mais qui n’en finit pas d’arriver et ne cesse pas de nous attendre: virtualité et possibilité pures, le monde à la manière d’un Incorporel stoïcien, le pur prédicat.5

In dieser Weise definiert Deleuze die „Welt“, die die Leibnizsche Philosophie voraussetzt: als die ideale Präexistenz des Eventum tantum.6 Der Text als Ereignisbericht ist also eine contradictio in adiecto. Dennoch ist das Ereignis für den Text damit nicht verloren. Im Gegenteil, dieser gewinnt es in seiner Qualität als performatives Sprechen zurück und erhält damit zugleich einen neuen Status, nämlich den, ein kreativer Akt zu sein. Die Ereignishaftigkeit des Textes ist seit dem Wissen um die Autoreflexivität des Textes und dem Bewusstsein von dessen Autonomie eine in der Literaturwissenschaft bekannte Tatsache. Auch für den Leser ist sie seit jeher erfahrbar. Es bedarf zur Ereignishaftigkeit des Textes keines referentiellen Ereignisses, auf das er sich beziehen müsste. Hat der Text damit nicht dennoch endgültig das Ereignis verloren und kann daher nur sich selbst Ereignis sein? Keineswegs. Jedoch nimmt das ‚äußere‘ Ereignis im kreativen Text eine andere Form an, es zerfällt in Realitätseffekte, welche die Bausteine sind, mittels derer der Text als Ereignis erscheinen kann. Diese Realitätseffekte haben gleichsam die Funktion eines Zitats, mit dessen Hilfe die Ereignishaftigkeit des Textes in einer Art Spiegelung zu seiner mise en abyme wird. Es handelt sich dabei nicht um eine Spiegelung im Sinne einer naturalistischen Abbildungsästhetik, vielmehr um eine Vertiefung der Schrift in die Dreidimensionalität der Geschichte hinein sowie eine vertiefende Projektion der Geschichte auf die Ebene der Bedeutungsvielfalt der Schrift. In welcher Weise sich extratextuelle historische und intratextuelle Ereignishaftigkeit spiegeln und sich in Form einer prismatischen mise en abyme vertiefen, soll im Folgenden anhand von Günter Grass’ Zunge zeigen (1988) und Amitav Ghoshs The Hungry Tide (2004) verdeutlicht werden.

5 Ebd., S. 141. Übersetzung (S. B.-N.): „Er ist das Ausdrückbare allen Ausdrucks, das Realisierbare aller Realisationen, das Eventum tantum, dem Seele und Körper zu gleichen versuchen, das aber kein Ende nimmt anzukommen und nicht aufhört, uns zu erwarten: reine Virtualität und Möglichkeit, die Welt in der Art eines stoischen Unkörperlichen, das reine Prädikat“. 6 Ebd., S. 140: „Le monde est une virtualité qui s’actualise dans les monades ou les âmes, mais aussi une possibilité qui doit se réaliser dans la matière ou les corps.“ Übersetzung (S. B.-N.): „Die Welt ist eine Virtualität, die sich in den Monaden oder Seelen aktualisiert, aber auch eine Möglichkeit, die sich in der Materie oder den Körpern realisieren muß.“



Poesie als Ereignis des narrativen Textes 

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2 Günter Grass: Das prismatische Textereignis als Subjektkonstitution „Aufmerksamkeit“, sagt Paul Celan, Malebranche aus Walter Benjamins KafkaEssay zitierend, „ist das natürliche Gebet der Seele“.7 Günter Grass drückt es in seinen Aufzeichnungen, die er während seines Aufenthaltes in Kalkutta vom August 1986 bis Januar 1987 niedergeschrieben hat, nüchterner aus: „Alles, was ich habe und vorweise, kann nur Beleg meiner Aufmerksamkeit sein, mehr nicht“ (ZZ 72)8. Was hat er in Bezug auf diese Aufmerksamkeit vorzuweisen? Ein hybrides Buch, das ein Patchwork ist, bestehend aus Tagebucheintragungen, sie begleitenden Zeichnungen und einem langen Stadtgedicht. Die Kritik verschont den Autor nicht mit heftigen Diatriben: „Dieser Bericht und das (angehängte) Gedicht sind freilich ein phantastisches Desaster.“9 „An diesem Ort aber, der so unerhört schreit, klagt, anklagt und dennoch auch triumphiert, hat der Wortmächtige sein sonderbar neutralstes, tonlosestes Buch geschrieben“; es fehle an „Polemik“ und „Poesie“, Grass sei „trocken und farblos“, er gebe einen „Notizblock als Literatur“ aus, dem es darüber hinaus, resümierend formuliert, an konkreten Informationen fehle. Positive Stimmen sind selten: „Dass Grass bewusst auf jede literarische Ästhetisierung des Gesehenen verzichtet, um seine Leser jeder Möglichkeit zur Romantisierung der Armut zu berauben, wird dabei außer Acht gelassen“.10 Oder man hebt im Gegensatz zu den angeblichen Schwächen gerade seinen kraftvollen Ausdruck hervor: „Sicher scheint jedoch, dass ‚Zunge zeigen‘ an verstörender Ausdruckskraft kaum zu überbieten ist und somit den Leser auch nach Beendigung der Lektüre nicht aus der Verantwortung entlässt“.11 Ein amerikanischer Kritiker nennt das Buch eine „one-man show of a book“, und er trifft ins Zentrum der Haltung des Autors, wenn er fortfährt, das Buch sei „Mr. Grass’s tribute to Calcutta’s unparalleled ability to move and engage.“12 In der Tat, denn wie die Stadt so auch der Autor: er ist in ständiger Bewegung, ununterbrochen engagiert.

7 Celan, Paul: Der Meridian. In: Allemann, Beda / Reichert, Stefan / Bücher, Rolf (Hg.): Paul Celan. Gesammelte Werke in fünf Bänden. Frankfurt a. M. 1983, Bd. 3, S. 187–202, hier S. 198. 8 Grass, Günter: Zunge zeigen. Darmstadt 1988. Im Folgenden zitiert als ZZ + Seitenzahl. 9 Becker, Peter von: Die Rache der Göttin Kali. In: Der Spiegel 34 (1988), S. 154–162, hier S. 154; dort auch die Zitate des folgenden Satzes. 10 Neumann, Gregor: Bestandsaufnahme eines Missvergnügungsreisenden. Das Indienbild des Günter Grass. Berlin 2007, S. 15. In: crossasia-repository.ub.uni-heidelberg.de/62/ (4. Oktober 2016); siehe dort auch weitere Hinweise auf die kritischen Stimmen in der Literaturkritik. 11 Ebd., S. 17. 12 Blaise, Clark: Calcutta Is the Measure of All Things. In: The New York Times on the Web, May

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Namen und Plätze tauchen vor den Augen des Lesers auf, die dieser kaum kennt. Grass lässt ihn im Ungewissen, verloren in einem Chaos. Diese Evokationen wurden kritisiert als „fahrig vorbeihuschendes Erwähnen von Orten und Namen, die einem mit Kalkuttas Geschichte oder Topographie unvertrauten Leser (also fast allen Lesern) nichts bedeuten“.13 Man hat nicht erkannt, dass diese Schreibweise die Form der Interaktion des Autors mit Kalkutta und den übrigen Örtlichkeiten Indiens ist, die er aufsucht. Er ist vom Chaos überwältigt, auf das er allenthalben trifft. Entsprechend kann seine Schrift auch nur chaotisch sein, ohne jedoch der Platitude einer naturalistischen Abbildhaftigkeit zu verfallen. Schreiben wird für ihn zu einer Frage der Authentizität, die wiederum zum ­Textereignis wird. Der narrative Faden des Textes spult sich entsprechend der körperlichen Fortbewegung des Autors ab. Spontan macht Grass Notizen, schreibt auf, zeichnet. „Er schrieb und zeichnete, zeichnete und schrieb“ (ZZ 109; vgl. ZZ  60). Natürlich mögen dabei Einzelheiten erwähnt werden, die es nicht wert sind, festgehalten zu werden,14 z.  B. der allgegenwärtige Müll. Aber ebendies ist Kalkutta: „überall quillt Leben mit Müll“ (ZZ 108), oder wie es im Gedicht heißt: „die Stadt / […] lebenswütig / in ihren Müll vernarrt“ (ZZ 216). Vermischt mit diesen minutiösen Beschreibungen und diese einem basso continuo gleich begleitend, finden sich Gedanken über Gelesenes und noch zu Lesendes, über Literatur der damaligen ost- und westdeutschen Seite, über die Philosophie der Aufklärung, über Schopenhauer, den Antisemitismus in einigen Werken des 19. Jahrhunderts in Deutschland oder Tagebuchnotizen von Treffen mit Personen und Persönlichkeiten in Kalkutta und ihren Gesprächen. Gedanken, Diskussionen, Assoziationen, Träume, Imaginationen von Filmen und möglichen Büchern ‒ alles wird getreu aufgeschrieben, steht auf derselben narrativen Ebene wie die detaillierten Beschreibungen der Slums und der Unberührbaren, des Wetters oder des Umzugs von einem Vorort zum anderen. Es gibt keine Perspektivierung, was den irritierenden Eindruck der Oberflächlichkeit, des fehlenden Engagements und des Chaos hervorruft. Diese Schreibweise ist jedoch das Bild eines Gefühls, der Umgebung ausgesetzt zu sein, wie unter der Masse in dem Pendelzug, der Grass von seiner Wohnung in einer südlichen Vorstadt ins Zentrum Kalkuttas bringt: „Wie ausgeliefert, allem und jedem zu nah, weil Haut sich an Haut

21, 1989. In: http://www.nytimes.com/1989/05/21/books/calcutta-is-the-measure-of-all-things. html?pagewanted=all (5. Oktober 2016). 13 Becker: Die Rache der Göttin Kali, S. 156. 14 „teils unstimmige, teils unsinnige Details“ (Becker: Die Rache der Göttin Kali, S. 156.). Vgl. auch Honsza, Norbert: Ausbrüche aus der klaustrophobischen Welt. Zum Schaffen von Günter Grass. Wrocław 1989, S. 93: „viel Banales, Nebensächliches und Unwichtiges“.



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reibt, Schweiß sich mit Schweiß mischt. Und bleiben dennoch überall fremd, so abtastend wir begafft werden; Ferne und Nähe verlieren ihren Begriff.“ (ZZ 16) Auf der einen Seite Leben und Erleben als Ereignis, auf der anderen der Text als Ereignis, und zwar als Ereignis der besonderen Art, denn er erweist sich als irritierende Abhebung vom klassisch-traditionellen Berichten. Aber welcher Art ist das Engagement von Grass, abgesehen von den konkreten Hilfestellungen oder Vorträgen, von denen er berichtet (ZZ 99)? Auch in dieser Hinsicht erfüllt Grass nicht die Erwartungen einiger seiner Kritiker, denn er stellt seinen Lesern nicht die Stadt der Bücher, Intellektuellen, Dichter und Künstler vor. Er taucht vor allem in die Masse ein, die jeden Neuankömmling umfängt. Ein Dichter aus Bangladesch, Daud Haider, zeigt ihm das den Touristen verborgene Kalkutta: „die Stadt bis in die schwärzesten Winkel hinein“ – frühere Paläste, in deren verfallenen, gerade noch beziehbaren Ruinen mehrere Familien zusammengepfercht leben, die älteste Bade- und Feuerbestattungsstelle Kalkuttas mit den Leichenfeuern und dem Massenandrang von Pilgern, die sich am kassierenden Tempelpersonal vorbei bis zum Ganges schieben, oder die Slums, insbesondere Dhapa, „eine weitläufige Landschaft, die sich aus geschichtetem Müll erfindet“ (ZZ 32), zwischen dem eine Baracke als Schule dient. Das Ehepaar Karlekar leitet sie im Rahmen des von Mrs. Kalyani Karlekar gegründeten Calcutta Social Project. Ihm sowie dem Projekt hat Grass sein Buch gewidmet. Das Engagement von Grass besteht darin, dieses alles und andere Einzelheiten des Alltags, ein ganzes Kaleidoskop von Erfahrungen, Reflexionen und schließlich auch von Reiseeindrücken auf seinen Fahrten durch Indien zu beschreiben – alles im Stil der Flaubert’schen impassibilité –, damit der Text selbst zu diesen ereignishaften Erfahrungen wird. Das Engagement von Grass liegt darin, seiner Schrift so unmittelbar und hautnah den Stempel des Erlebten aufzudrücken, dass der Text dieselbe Aufmerksamkeit, die Grass dem Leben in seinem bestürzenden Mangel in der bengalischen Metropole und anderswo bezeugt, auch beim Leser hervorruft, damit für ihn in dieser mise en abyme das Leben in Kalkutta auch zum Ereignis wird. Grass taucht in dieses Elend ein, das für ihn unabdingbar zum Kapitalismus gehört, der sich in Indien fortsetzt: Leicht schräg auseinanderstrebend, gehalten von Drahtseilen ragen die blechernen, von spitzen Kappen beschirmten Schornsteine aus dem 19. Jahrhundert, als Engels die Lage der arbeitenden Klasse in England beschrieb, in unsere Zeit. […] der Slum [gehört] zur Fabrik und ihrem täglichen Auswurf: Dächer gefügt aus Teerpappe, Plastikfetzen, Sperrholz und restlichen Dachziegeln, mit Lumpen verstopft, jedes Dach anders verfilzt. (ZZ 34f.)

Das Elend ist das allbeherrschende Ereignis, das sich täglich vor den Augen des Autors wiederholt. An ihm führt im wörtlichen Sinn kein Weg vorbei. In derselben unabdingbaren Weise wird es zum Textereignis. Fern aller exhibitionistischen

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Perversion geht es um das Erlebbarmachen des Elends, damit sich der Leser in die Verantwortung genommen fühlt. Das bedeutet aber, dass an der Vorstellung des Elends unmittelbar die reziproke mise en abyme von Text und Leser sichtbar wird. So wie die verdichtete – die gedichtete ‒ Form der Schrift die sich wiederholende Ereignishaftigkeit der Geschichte spiegelt, so vertieft sich die Ereignishaftigkeit der Geschichte in die ethische Dimension der Schrift. Das alles überschattende Elend in Kalkutta verschlägt dem Autor die Sprache, der Wortgewaltige wird „tonlos“, wie es in der eingangs angeführten Kritik heißt.15 Er ringt um eine neue Sprache, für die Kalkutta auch zum Prüfstein wird: „zurück in Deutschland, alles, auch mich an Calcutta messen. Schwarz in schwarz am Thema bleiben“ (ZZ 61). Seine Betroffenheit wandelt sich in Scham, die er schließlich nur noch mittels einer Geste ausdrücken kann: Zunge zeigen. Der Titel des Buches verweist auf die hinduistische Göttin Kali, die schwarze Göttin des Todes, der Zerstörung, aber auch der Erneuerung. Grass nimmt Bezug auf ihre zerstörerische Kraft: Die Göttin, behängt mit einer Kette aus Schädeln, hält in ihrer Zerstörungswut, in der sie das Schwert schon angesetzt hat, um ihren Gemahl Shiva zu töten, plötzlich inne und zeigt als Zeichen der Scham ihre Zunge (ZZ 33). Möglicherweise „könnte Scham auch Einstein befohlen haben, die Zunge zu zeigen“ (ZZ 34). Einer der wenigen Vergleiche mündet unmittelbar in eine imaginierte Dialogskizze zwischen Einstein und Kali auf der Mülldeponie Dhapa. Die neutrale, emotionslose Sprache seines Tagebuchs erweist sich als ohnmächtig, die Zeichnungen drängen sich vor oder dazwischen: „Es ist, als müsste ich mir zeichnend ins Wort fallen“ (ZZ 54). Sie sind das beherrschende Element in dem Buch. Sie eröffnen und beschließen es und sind mit einem etwas größeren Seitenanteil, als das Tagebuch umfasst, zwischen Text und Gedicht eingefügt, so dass sie sowohl als ein quasi extradiegetisches Rahmengeschehen wie auch als intradiegetisches Textgeschehen betrachtet werden können, zumal nahezu alle Zeichnungen mit einem mehr oder weniger umfangreichen Schriftanteil versehen sind. Zum Teil sind es Passagen aus dem Tagebuch. Darauf ist später noch einmal zurückzukommen. Diese intermediale Korrespondenz verhilft entgegen der in der Kritik geäußerten Meinung16 durchaus zu einer Lesbarkeit der Bilder und darüber hinaus zu einer in der Regel möglichen Zuordnung von Text und Bild, wie zum Beispiel die Zeichnung eines Bullen, die sich auf Santiniketan bezieht, den Ort der von Tagore gegründeten Schule, die sich inzwischen zur Universität entwickelt hat. Dort ist deutlich erkennbar der Satz: „Was blieb von Santiniketan, von Tagores Ideen“. Er korrespondiert mit der Beschreibung des Autors bei seinem

15 Dieselbe Kritik findet sich bei Honsza: Ausbrüche, S. 90. 16 Vgl. Honsza: Ausbrüche, S. 95.



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Besuch der Tagore-Universität in Santiniketan: „Von Tagores Reformen sind nur noch Reste zu erkennen“ (ZZ 67). Diesem Verfall stellt Grass sowohl im Text wie auch in dem fast wörtlichen Eigenzitat auf der Zeichnung die Beständigkeit des hinduistischen Glaubens im Bild der Verehrung der Kuh gegenüber: „Immerhin ein Bulle hielt still“.17 Die Ironie des Autors und seine implizite Kritik an dem Kulturverfall drücken sich auch in dem kaum ausgemalten, gleichsam leeren Rinderkörper aus, der fast das ganze Bild einnimmt. Andere Bilder bedürfen nicht des Textes, sie sprechen für sich. Grundsätzlich aber gilt, dass sie dem Autor dazu verhelfen, noch mehr Distanz zum Geschehen / Gesehenen zu schaffen, als es der Text vermag. „Es ist“, schreibt Grass, „als wollte ich mich, weil mit Absicht weit weg, noch weiter wegzeichnen“ (ZZ 54). In den Zeichnungen tritt er noch weiter vor dem Leser zurück, damit sich dieser, der nun zum Betrachter geworden ist, umso näher auf das Geschehen einlassen kann. In dem Maß, wie die Bilder Distanz aufbauen, vertieft sich der Text in ihnen zu einem neuen Ereignisgrad, zumal hier das Programm – schwarz in schwarz – geradezu plakativ zur Ansicht kommt. Farbe und Dichte der breiten schwarzen Tuschestriche evozieren Masse, Anonymität und Chaos. Sie klären nichts, geben weiterhin keine Anhaltspunkte zur Orientierung, im Gegenteil, sie befördern Entsetzen und Bedrängnis. Die Zeichnung wirkt, weil sprachlos, direkter auf den Leser / Betrachter, aber er befindet sich auch hier verlassen an einem NichtOrt – die Menschen sind kaum erkennbar –, und die Schrift verliert sich unter der Aufdringlichkeit der schwarzen Striche in der Unlesbarkeit. Die mit Tusche gesetzten Buchstaben wirken selbst wie ein Teil des Mülls, der die Menschen auf den Zeichnungen fast zudeckt. Mehr noch: Auf den Zeichnungen wird die Schrift selbst zum Müll als Textereignis. Als Bild im Bild stellt die Schrift ihre Ohnmacht aus, während sich das Bild als ästhetisches Medium zu sehr in den Vordergrund stellt: es hält den Verfall fest, die Anonymität der Masse, die vom Müll kaum noch zu unterscheidenden Menschen. Doch fehlt nun eine neue Sprache, die, wie Celan sagt, „‚angereichert‘ von all dem“18 wieder zu Tage tritt und in der sich der Dichter Wirklichkeit entwerfen kann. Bereits Celan knüpft diese neue Sprache an die Ereignishaftigkeit: „Es war, Sie sehen es, Ereignis“.19 Anders ausgedrückt, auch Grass sucht nach der Sprache als Ereignis.

17 Die entsprechende Textstelle lautet: „Immerhin hält, während ich skizziere, ein Bulle still.“ (ZZ 67) 18 Celan, Paul: Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen. In: Allemann, Beda / Reichert, Stefan / Bücher, Rolf (Hg.): Paul Celan. Gesammelte Werke in fünf Bänden. Frankfurt a. M. 1983, Bd. 3, S. 185–186, hier S. 185. 19 Ebd.

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Das kompakte, andeutende Sprechen von Grass’ Gedicht in Zunge zeigen bedeutet den Versuch eines solchen ereignishaften Sprechens. Es ist gegenüber dem Prosatext und den Zeichnungen die dritte Variante, das verstörende und alle Ausdrucksmöglichkeiten zerstörende Ereignis Kalkutta unmittelbar zum Ausdruck zu bringen. Damit aber wird deutlich, dass dieses Erlebnis das Medium Buch selbst in seinen Grundfesten erschüttert. Die reine narrative Form war angesichts der Flut und Simultanität von Eindrücken und sie überlagernden Reflexionen, Träumen und Erinnerungen eine zu eindimensionale sukzessive Form, um den Ereignisschwall in seiner Ereignishaftigkeit zu ‚verbuchen‘. Der Erzähler / das poetische Subjekt – die Identität ist schon seit Beginn des Kalkuttaerlebnisses in Frage gestellt und multipel geworden – stellt sich vielmehr Sätze vor, „verschachtelt wie wir in den Pendelzügen nach Ballygunge“ (ZZ 17). Nicht in der Tagebuchprosa, wohl aber im Gedicht hat er sie eingesetzt (vgl. ZZ 224). Auf diese Weise nimmt das Buch letztlich eine neue Form an: Es ist ein Buch, das langsam seine Form gefunden hat, weil es für mich als Buchexperiment etwas Neues war. Ich habe alle meine Möglichkeiten ausgenutzt: nicht nur das Zeichnen, sondern auch die Prosa-Tagebuchform, in „Zunge zeigen“ sind meine Aufzeichnungen umgearbeitet, weitergeführt, verdichtet. Das Ganze ließ ich dann münden in ein langes Stadtgedicht. Und dabei spielen natürlich ganz andere Themen eine Rolle – das Hochwasser und die Kali-Puja oder Durga-Puja, die großen Feste.20

Das Gedicht erweist sich damit nicht als ein Anhängsel, wie in der eingangs zitierten Kritik angedeutet, sondern ist als Kulminationspunkt in der Darstellung der Erfahrung des Elends in Kalkutta, in der Suche nach seinem Ich, seiner Wirklichkeit und der Sprache als Ereignis zu betrachten. Das Gedicht besteht aus zwölf Teilen von jeweils sechs bis acht Strophen verschiedener Länge und trägt den Titel des Buches, was auf seine zentrale Stellung im gesamten Werk hinweist. Das kompakte Sprechen wird von Grass gleich zu Beginn mit einem Selbstzitat aus dem Tagebuch thematisiert: „schweißgetriebene Wörter, die eng stehn, / verschachtelt wie wir in den Pendelzügen / nach Ballygunge“ (ZZ 209). In der Verschachtelung der Wörter bekundet sich das Kalkuttaerlebnis als ein poetisches Textereignis. Der folgende Gedichtausschnitt kann als Beispiel dienen:

20 Zitiert nach Völkel, Katja: Günter Grass und seine Reisen nach Indien am Beispiel von Zunge zeigen. Technische Universität Dresden. Germanistisches Institut, SS 2002, S. 6. In: http://www. grin.com/de/e-book/42674/guenter-grass-und-seine-reisen-nach-indien-am-beispiel-von-zunge-zeigen (4. Oktober 2016).



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Zu Bündeln verschnürt: dicht bei dicht lagert Zukunft auf geborstenem Pflaster ab, Steig drüber weg, spring über Pfützen, die von der letzten Ausschüttung des Monsuns geblieben. Was suchst du? Dich hier – woanders verloren – zu finden, hieße dich aufzurufen, als Bündel dazwischengelegt: dir hat es die Sprache verschlagen. Und brabbelst dennoch […]. (ZZ 212f.)

Die Strophe bietet ein anschauliches Beispiel der kompakten Rede des poetischen Ich. Der erste Vers wird durch den intratextuellen Bezug verständlich, denn in den Tagebuchaufzeichnungen spricht Grass von den vielen unter freiem Himmel schlafenden Menschen, die in Lumpen gehüllt wie Bündel nebeneinander aufgereiht liegen. Nur die Füße sind sichtbar: „([…] Fußnoten sozusagen…)“ (ZZ 23), kommentiert sie Grass in einem Gespräch, in Klammern gesetzt, als handele es sich selbst um eine Fußnote. Eine Veränderung der sozialen Situation ist nicht in Sicht, diese Menschen werden auch die Zukunft bestimmen. Metonymisch werden sie den „Pfützen“ gleichgesetzt, wodurch sie zeitlich gesprochen als Überbleibsel einer vergangenen Periode, nicht nur des Monsuns, zugeordnet werden, während sie als „Ausschüttung“, ein an ‚Ausschuss‘ erinnernder Terminus, im Hinblick auf die Situation in Indien soziologisch klassifiziert sind. Schließlich kann man im Begriff der „Ausschüttung“ auch die Ablagerungen einer Moränenlandschaft konnotieren und diese Menschen damit geologisch als ein uraltes unabänderliches Naturphänomen abtun. Das poetische Subjekt verharrt nicht mehr in der distanzierten Haltung des Zeigens, es stellt provozierende Fragen; so wie es Grass bereits 1975 während seines ersten Kalkutta-Besuches in seiner Rede Nach grober Schätzung getan hatte.21 Die kurze exemplarische Analyse des Gedichts mag veranschaulichen, wie Grass in einer Art Engführung im Gedicht noch einmal alle Themen, Eindrücke, Erlebnisse, die er in seinem Tagebuch festgehalten hatte, in neuer Akzentuierung aufgreift, wobei vor allem auch der Anteil der Kolonialgeschichte an dem Elend Indiens hervorgehoben wird.

21 Vgl. Neuhaus, Volker: Günter Grass. 2., überarbeitete und erweiterte Aufl. Stuttgart / Weimar 1992, S. 183.

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Abschließend soll auf das Ende des Gedichts verwiesen werden, das weniger „einer apokalyptischen Vision“22 gleicht als vielmehr der Epiphanie als Textereignis, in welchem sich das poetische Ich während des Kali-Festes mit den ihre Grenze überschreitenden Slumbewohnern identifiziert:23 Kali-Puja war angesagt. Ich sah Calcutta über uns kommen. Dreitausend Slums, sonst in sich gekehrt, hinter Mauern geduckt oder ans Faulwasser der Kanäle gedrängt, liefen aus, griffen um sich, hatten bei Neumond die Nacht und die Göttin auf ihrer Seite. […] Ich, ungezählt ich, aus allen Gullys und abgesoffenen Kellern, über die Gleise: freigesetzt, sichelscharf ich. Zunge zeigen: ich bin. Ich trete über die Ufer. Ich hebe die Grenze auf. Ich mache ein Ende. Da vergingen wir (du und ich), wenngleich noch immer die Zeitung kam […]. (ZZ 231)

In der Feier des Kali-Festes ist für einen sehr kurzen Augenblick im Gedicht die Auflösung des poetischen Subjekts in der Masse als Textereignis möglich. Jedoch ist dieser Schluss ambivalent. Er kann sich auch autoreflexiv auf sich selbst beziehen und das Ende des Gedichts ankündigen. Diese Bedeutungsvariante kommt zwar abrupt, ist aber gestützt durch die zwei letzten Strophen mit ihrem ebenso plötzlichen Umschlag in die enttäuschende Einsicht, dass die Wirklichkeit, die auf banale Zeitungsnachrichten über belangloses Alltagsgeschehen geschrumpft ist, fortbesteht. Man möchte meinen, dass hier Cervantes mit seiner donquijotesken desengaño-Technik Pate gestanden hat. Nicht die Wirklichkeit konnte vom poetischen Subjekt verändert werden, wohl aber die Literatur durch die neue Form des Berichts als hybrides Textereignis.

22 Ebd., S. 184. 23 Die Identifizierung von Grass mit den Menschen in den Slums ist von der Kritik in der Regel nicht gesehen worden.



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3 Amitav Ghosh: Poesie als Sinnereignis der Narration Angesichts der Menschenmassen und des Elends der Ausgestoßenen auf den Müllbergen fließt Grass zu Beginn seines Gedichts unmittelbar die Kritik an Rilkes Elegien in die Feder. Die Klage über das Leid des Menschen, die Rilke in seinem Gedichtzyklus zum Ausdruck bringt, erscheint ihm zu larmoyant und inkommensurabel gegenüber dem Erlebnis des Exzessiven und der konkreten Armut. Die bekannte Kritik an dem Dichter in seinem Elfenbeinturm klingt an: „Nicht mehr ach, weh und oh und: Jeder / Engel ist schrecklich. […]“ (ZZ 231),24 zitiert er die Erste und Zweite Elegie in kritischer Ablehnung, während er zugleich noch einmal speziell die Zweite Elegie, aber auch den klagenden Duktus des gesamten Gedichtzyklus’ abschätzig paraphrasiert. Amitav Ghosh bezieht sich in The Hungry Tide überraschender Weise ebenfalls auf Rilkes Duineser Elegien, im Gegensatz zu Grass tritt er jedoch in einen produktiven Dialog mit dem „great German poet“ (HT 282).25 Er stellt den positiven Bezug her gerade angesichts der allergrößten Armut, in der nach der Teilung Indiens eine Minorität von hinduistischen Flüchtlingen aus Ost-Pakistan, dem gegenwärtigen Bangladesch, im Gangesdelta im Gebiet der Sundarbans lebt, sowie angesichts des historisch verbürgten Massakers von Marichjhapi, in dem sie umgebracht wurden. Nirmal berichtet von ihnen. Von Nirmal aber heißt es: „But as always, with Nirmal, […] the last word was reserved for Rilke“ (HT 287). Die Poesie wird zum herausragenden Textereignis in Ghoshs Narration. Sie bildet ihren Hypotext und nimmt innerhalb des Hypertextes die Form einer mise en abyme an, in der sich die Not und das Elend der Flüchtlinge und die Grausamkeit des Massakers in tiefer emotionaler Ereignishaftigkeit in den Menschen spiegeln: I saw them coming, young and old, quick and halt, with their lives bundled on their heads, and knew it was of them the Poet had spoken when he said: ‚Each slow turn of the world carries such disinherited Ones to whom neither the past nor the future belongs.‘ (HT 165; kursiv im Original)26

24 Das Bild vom schrecklichen Engel wird Grass an einer späteren Stelle noch einmal kritisch verwerfen, vgl. ZZ 227. 25 Amitav Ghosh: The Hungry Tide. Paperback London 2005. Im Folgenden zitiert als HT + Seitenzahl. 26 Das Rilke-Zitat findet sich in der Siebenten Elegie: „Jede dumpfe Umkehr der Welt hat solche Enterbte, / denen das Frühere nicht und noch nicht das Nächste gehört.“ Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke. Herausgegeben vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn. Frankfurt a. M. 1955, Bd. 2, S. 712.

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Während die extratextuellen historischen Ereignisse durch den Dialog eine emotionale und, worauf später einzugehen ist, eine existentielle Vertiefung erhalten, werden Rilkes Elegien zu einem überraschenden Textereignis von globaler Aussagekraft.27 Worum geht es in The Hungry Tide? Über den soeben kurz resümierten historisch-referentiellen Kontext hinaus ist eine Zusammenfassung des Inhalts kaum möglich, da sich der episch breit angelegte Erzählvorgang rhizomartig in eine Vielzahl von Handlungssträngen auffächert. Ähnlich den vielförmigen Wasserläufen des Gangesdeltas bilden sie eng miteinander verbundene Narrationen, die das Geschehen verschlungen weiterführen und es zugleich wie in einem Kristall prismenartig gespiegelt in die Ereignis- und Bedeutungsvielfalt des Lebens aufbrechen lassen. Das heißt, dass der Text in seiner Verzweigung und Verwicklung als das undurchdringliche Ereignis der unüberschaubaren Bewegtheit der Geschichte selbst erscheint. Dennoch lassen sich drei große Erzählstränge unterscheiden, die Ghoshs narrative Welt konstituieren: ein Rationalitäts-, ein Naturund ein Geschichts- und Geschichtennarrativ. Sie sind verschiedenen Protagonisten zugeordnet: Piyali Roy, genannt Piya, Fokir und seiner Mutter Kusum. Piya ist eine junge amerikanische Unterwasserbiologin indischen Ursprungs, zu dem sie keinen Bezug mehr zu haben meint. Ausgerüstet mit hochentwickeltem technologischem Instrumentarium kommt sie ohne bengalische Sprachkenntnis in das Gangesdelta, um Lebensraum und Gewohnheiten des vom Aussterben bedrohten Flussdelphins, des Irawadidelfins (lat. Orcaella brevirostris), zu erforschen. Dieses abenteuerliche Unternehmen wird mit dem Leben eines jungen Krabbenfischers, des Analphabeten Fokir verknüpft. Seit seiner frühesten Kindheit ist das Delta sein Lebensraum, dessen Labyrinth er bis in seine kleinsten Verästelungen hinein kennt. Noch vor dem Beginn ihrer Expedition rettet er Piya aus dem verschlammten Flussarm, in den sie gestoßen wurde. Es ist ein vorausdeutender Akt von tiefer Bedeutung. Piya stellt ihn als Bootsführer an. Aufgrund seiner Krabbenfischerei besitzt er eine perfekte Kenntnis des Fischbestands und leitet sie gezielt zu den Delphinkolonien, während sie seine außergewöhnlichen „abilities as an observer“ (HT 268) nutzen kann. Darüber hinaus bietet er ihr Schutz in der gefährlichen Umgebung und macht sie durch sein Verhalten indirekt mit der Lebensweise und der Mythenwelt der Einheimischen vertraut, in deren Bann sie mehr und mehr gerät. Unbewusst scheint sie von ihrem Ursprung angezogen zu sein. Als Fokir ein Lied summt, bittet sie ihn: „‚Sing. Louder. Sing‘. […] she felt a sense of perfect contentment as she sat there listening to his voice

27 Zugleich gewinnt diese intertextuelle Passage angesichts der akuten Flüchtlingswelle, die nach Europa strömt, unvorhergesehen an einer spezifisch europäischen Brisanz.



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against the percussive counterpoint of the dolphin’s breathing“ (HT 157). Im Schweigen des Textes ereignet sich ihre Rückkehr zum Ursprung. Er ist zugleich das Handlungsfeld ihrer Lebensaufgabe. Das Zusammensein mit Fokir auf dem Boot wird „one of the most exciting experiences“ (HT 268) ihres Lebens, was Kanai, ein Übersetzer aus Delhi, dessen Avancen sie nicht beachtet ‒ oder nicht bemerkt, die Ambivalenz wird bis zum Schluss aufrechterhalten ‒, ironisch kommentiert: „And all that while, you couldn’t understand a word he was saying, could you?“ (HT 268) Die Ironie trifft sie nicht, denn für sie findet Kommunikation jenseits der Sprache auf der Ebene des Schweigens statt: „But you know what? There was so much in common between us it didn’t matter“ (HT 268). Piya hat das Gefühl einer perfekten Zusammenarbeit mit Fokir, nicht obwohl, sondern gerade weil keiner den Anderen kennt. Das gegenseitige Fremdsein liegt jedoch nicht daran, dass sie keine gemeinsame Sprache sprechen oder einer jeweils anderen Kultur angehören, sondern weil es eine Eigenschaft des Menschen ist, sich gegenseitig auszuschließen. Piya kommentiert die „immeasurable distance that separated her from Fokir“ (HT 159) wie folgt: What was he thin-about as he stared at the moonlit river? The forest, the crabs? Whatever it was, she would never know. […] The two of them, Fokir and herself, they could have been boulders or trees for all they knew of each other: and wasn’t it better in a way, more honest, that they could not speak? (HT 159)

Eine kommunikative Begegnung kann sich nur ereignen, wenn ein gemeinsames Handlungsfeld gegeben ist, in dem die absolute Verschiedenheit nebeneinander bestehen kann, wie Piyas durch perfekte technologische Mittel unterstützte rationale wissenschaftliche Forschungsarbeit neben Fokirs primitivem, sich der Natur anpassendem Krabbenfang (HT 139–141). Durch seine Krabbenfischerei ist ihr Schicksal in doppelter Weise beschieden. Einmal durch den bereits erwähnten Rettungsakt; zum anderen dadurch, dass dieser eine mise en abyme in einem späteren Ereignis findet, das für Piya eine zweite Rettung, und zwar als Forscherin, bedeutet. Fokir führt sie zu einem einzigartigen Ort, der für ihr Delphinprojekt von entscheidender Bedeutung ist: But it was not her own intention that brought her here today; it was the crabs ‒ because they were Fokir’s livelihood and without them he would not have known to lead her to this pool where the Orcaella came. […] Perhaps it was the crab that ruled the tide of her destiny. (HT 142)

Es ist ein begrenztes Rückzugsgebiet der Flussdelphine vor dem Gezeitenwechsel, wo Piya ihre Anpassungsfähigkeit aus nächster Nähe und über Stunden hinweg

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beobachten kann. Eine Sternstunde in ihrer Forschungsarbeit. Das gemeinsame, aber absolut verschieden genutzte Handlungsfeld ermöglicht eine perfekte Kommunikation, die folglich auch Fokir bemerkt: „[…] she saw something in his expression that told her that he too was amazed by the seamless intertwining of their pleasures and their purposes“ (HT 141). Die Natur dieses Lebensraumes übt eine immer größere Anziehungskraft auf Piya aus, der sie nach einem kurzen Kampf während eines Zyklons vollends unterliegt, wobei es zu einer Fusion mit Fokir kommt, der den Sturm jedoch nicht überlebt: She tried to break free from his grasp, tried to pull him around so that for once, she could be the one who was sheltering him. But his body was unyielding and she could not break free from it, especially now that it had the wind’s weight behind it. […] She could feel the bones of his cheeks as if they had been superimposed on her own; it was as if the storm had given them what life could not; it had fused them together and made them one. (HT 390)

Das Zitat sagt es deutlich: Aktant ist die Natur, sie tritt als Textereignis hervor, die Protagonisten dienen lediglich als ihre Stützen, so wie es in der Figur Fokirs anschaulich wird, der im wörtlichen – ereignishaften – Sinn die Gewalt des Sturms auf seinem Rücken trägt. Der Mensch und die Natur bilden eine unauflösliche Einheit. Darum ist Piyas Kampf gegen Fokir identisch mit ihrem Aufbegehren gegen den Sturm. Das Zitat zeigt aber auch, dass die Fusion keine Anthropomorphisierung der Natur bedeutet. Diese bleibt als das Handlungsfeld der agierenden Personen deutlich von ihnen unterschieden. In ähnlicher Weise treten auch die anderen Naturphänomene als Textereignisse hervor: die verschlungenen Wasserarme, die Krokodile, der Mangrovenwald mit seinen Tigern oder die den Dschungel ständig überflutenden Gezeiten, welche die Ufer in einen nie austrocknenden Schlamm verwandeln. Selbst der in Fokirs Lebensbedingungen exemplarisch evozierte Überlebenskampf der Flüchtlinge reiht sich bruchlos in die prismenartige Auffächerung des Textes als Naturereignis ein. Dieselbe bruchlose Einordnung erfährt auch der durch das Aufeinandertreffen des in Symbiose mit der Natur lebenden Fischers und der rationalen Wissenschaftlerin hervorgerufene Schock der Kulturen. Die scharfe Entgegensetzung der Protagonisten wird abgeschwächt durch den Text als Naturereignis, da der natürliche Raum die Oppositionen aus menschlicher Perspektive neu bestimmt, zum Beispiel jene zwischen stark und schwach, geschickt und ungeschickt, erfahren und unerfahren und andere mehr. Das Überdimensionale der Natur wird dadurch humanisiert, wie es auch später in Bezug auf die historische Ereignishaftigkeit gezeigt werden kann. Die sich um Fokirs Mutter Kusum aufbauende Historiennarration scheint in radikaler Opposition zum Text als Naturereignis zu stehen. Mit ihrer Einbettung in die extratextuelle historische Realität bietet sie dem Leser im Gegensatz zu den



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Naturereignissen zunächst einen referentiellen Orientierungsrahmen, wodurch ihr eine gewisse Bedeutung zuzukommen scheint. In der Tat laufen in der Narration um Kusum alle narrativen Geschichtsfäden chronologisch zusammen von der Teilung Indiens 1947 über den Unabhängigkeitskrieg von Bangladesch 1971 und der daraus resultierenden Flüchtlingswelle der Hindus nach Indien, die von der indischen Regierung weiter nach Zentralindien transportiert wurden, bis zum Massaker von Marichjapi 1979 und darüber hinaus bis in die Erzählzeit hinein, die die Gegenwart des Lesers konnotieren lässt. Dadurch erfährt das Gangesdelta geographisch eine Öffnung bis nach Pakistan, während die Flüchtlingsgeschichte in das sozio-politische Gefüge Indiens eingeordnet wird, das auch einen kurzen Einblick in das Intellektuellenleben in Delhi vermittelt. Mit Blick auf Kusum erweist sich The Hungry Tide als eine weit verzweigte Familiensaga. Die vordergründige historische Referentialität des Textes wird jedoch in zweifacher Hinsicht zurückgenommen. Zum einen findet sich die Ereignishaftigkeit der Natur weniger historisch verbürgt. Die Natur wird gerade dadurch zum authentischen Textereignis, dass sie in die historische Realität der Deltabewohner, in ihren kulturellen und sozio-politischen, aber auch den mythenverwobenen Kontext eingelassen ist. Durch die Realitätseffekte wird nicht nur der geringste Anflug von Nostalgie nach einem verlorenen Paradies unterbunden, es werden auch die beiden intradiegetischen Geschichts- und Geschichtenereignisse zu einer in sich kohärenten Gesamtnarration vereint. Denn während Kusums Geschichte mit der Geschichte der Flüchtlinge aus Bangladesch verbunden ist, mündet die mit Fokirs Hilfe geleistete Forschungsarbeit von Piya in deren Bemühungen, mit öffentlicher Unterstützung eine Projektstelle zum Erforschen, Schutz und Erhalt der Delphine und der zahlreichen Fischarten im Deltagebiet einzurichten. Zum anderen wird die scheinbar alles beherrschende Referentialität des Textes unmittelbar durch die Form ihrer erzählerischen Vermittlung in den Hintergrund gerückt. Denn die Ereignisse werden von Nirmal in seinem Tagebuch berichtet (HT 386). Die subjektive Perspektive wird durch den Dialog mit Rilkes Elegien noch stärker hervorgehoben. Dieser steht in Opposition zur Realitätsreferenz des Textes und bewirkt auf der Produktions- wie auch der Rezeptionsebene das am tiefsten greifende Textereignis, indem der Intertextualität die Funktion einer Bedeutungsverschiebung zugewiesen wird, wie das obige Zitat bereits erkennen ließ. Die referentiellen Ereignisse werden durch den Dialog mit dem „Dichter“ aus ihrer geschichtlichen Faktizität auf die Ebene des dialogischen Textgeschehens verschoben, auf der sie sich als Emotionalität ereignen, welche sie im Menschen jeweils hervorrufen. Ein anschauliches Beispiel bietet Nirmal, der wenige Stunden vor dem Massaker mit größter Furcht, die ihm unerklärlich ist, den Sonnenaufgang über der Deltalandschaft betrachtet. Die Erste Elegie hilft

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ihm, den Grund seiner Angst zu erkennen, womit zugleich eine weitere durch die Poesie ausgelöste Sinnverschiebung erkennbar wird: „beauty is nothing but the start of terror we can hardly bear, and we adore it because of the serene scorn it could kill us with…“ (HT 69; kursiv im Original)28

Wie bereits zu Beginn zeigt sich auch in diesem Zitat, dass der Dialog mit Rilkes Elegien eine existentielle Ereignishaftigkeit erfahrbar macht, die über die Verschiebung der historischen Ereignishaftigkeit auf die Ebene der Emotionalität als Textereignis hinausgeht. Die Poesie schafft den Sinn der Narration, durch sie wird Erkenntnis zum Textereignis. Indem sie den Menschen mit seiner Angst in den Mittelpunkt der Vorkommnisse stellt, bewirkt sie eine Humanisierung des geschichtlichen Geschehens, die dieses aus seiner Abstraktheit in die ereignishafte Betroffenheit des Menschen versetzt. Diese Humanisierung der Geschichte geschieht als ein Textereignis, das, genau und damit notwendigerweise oxymorontisch formuliert, auf der Ebene des Schweigens stattfindet. Intertextualität bedeutet in Ghoshs Narration, dass sich Text durch Text, die Narration durch die Poesie bis ins Schweigen hinein vertieft. In der Naturnarration um Fokir war die Poesie vor allem durch den mythischen Gesang repräsentiert, in Nirmals Geschichtsnarration sind es Mythen, Legenden, in erster Linie aber Rilkes Elegien. Der Text erhält damit eine Doppelbödigkeit, welche die Sprache desavouiert. Ihr wird die Fähigkeit, tiefe Emotionalität und Humanisierung auszudrücken, abgesprochen (HT 99). Entsprechend rekurrent tritt die Sprachkritik auf. Sie findet ihren konzentrierten Ausdruck in folgendem Bild: „[…] words are just air […]. When the wind blows on the water, you see ripples and waves, but the real river lies beneath, unseen and unheard“ (HT 258). Auf dieser unsichtbaren und unhörbaren – unerhörten – Ebene findet nicht nur die wahre, weil sinnvolle Kommunikation statt, hier gewinnt die Welt überhaupt ihren Sinn, denn es zeigt sich, dass alles, was existiert, miteinander verbunden ist: „the trees, the sky, the weather, people, poetry, science, nature“ (HT 282f.). Den Grund für diese Verbundenheit nennt wiederum Rilke: „Life is lived in transformation“ (HT 225; kursiv im Original).29 Sprache ist lediglich die unvollkommene und unbefriedigende Übersetzung dieser wahren Welt, die bewirkt,

28 Die Erste Elegie: „Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen, / und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, / uns zu zerstören.“ (Rilke: Sämtliche Werke 2, S. 685) 29 Die Siebente Elegie: „Unser / Leben geht hin mit Verwandlung.“ (Ebd., S. 711)



Poesie als Ereignis des narrativen Textes 

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„we’re not comfortably at home In our translated world.“ (HT 206; kursiv im Original)30

Der Text wird zum Fluktuationsereignis. Er schwebt in der Sinnerwartung, die Ghosh bereits am Ende des ersten Kapitels „The Tide Country“ wiederum mit einem Bild aus den Elegien verdeutlicht. Es charakterisiert Natur und Mensch des Gezeitenlandes gleichermaßen und lässt sie zu einer Einheit verschmelzen. Denn, so kommentiert Ghosh, der Mangrovenwald tritt nur bei „fallendem“ Wasser ans Tageslicht hervor, und so erfasst uns wie bei Rilkes hängenden Kätzchen und dem Frühjahrsregen, der auf dunkles Erdreich fällt, Rührung vor dem Fallenden: „we, who have always thought of joy as rising … feel the emotion that almost amazes us when a happy thing falls.“ (HT 8)31

Abschließend gesagt, mögen die vielen verschiedenen Textereignisse erstaunen. Es wurde jedoch bereits darauf hingewiesen, dass die Narration sich insgesamt als ein Ereignis präsentiert, das sich rhizomartig oder, um im Bild zu bleiben, urwaldmäßig in viele einzelne Narrationen ausbreitet. Mit den Geschichten und der Geschichte jagen sich die Textereignisse, extra- und intradiegetisch, vertieft, gespiegelt, transformiert durch die Poesie, die den narrativen Faden wiederholt ins Schweigen hineinträgt. Es geht dem Erzähler wie Nirmal, von dem gesagt wird: „He hunted down facts in the way a magpie collects shiny things. Yet when he strung them all together, somehow they did become stories – of a kind“ (HT 283). Identitätsgrenzen werden verwischt, Gattungsgrenzen überschritten. Dennoch ist der Leser nie verloren, immer wieder werden klare Grenzen gezogen. Wie die Mangrovenwälder gemäß den Gezeiten sichtbar und unsichtbar werden, so treten die Identitäten und Begrenzungen der linearen Narration deutlich hervor bzw. von Zeit zu Zeit in die Unkenntlichkeit zurück. Thematisch wie auch formal gibt es zwar Berührungspunkte mit der Grass’schen Begegnung mit Kalkutta: Der Schock der Kulturen, das Problem der Armut, die Sprachkritik, die Identitätsfrage, das transgenerische Schreiben, das Problem der Sprachohnmacht könnten unter anderem genannt werden. Jedoch

30 Die Erste Elegie: „[…] dass wir nicht sehr verlässlich zu Haus sind / in der gedeuteten Welt.“ (Ebd., S. 685) 31 Die Zehnte Elegie: „[…] wir, die an steigendes Glück / denken, empfänden die Rührung, / die uns beinah bestürzt, / wenn ein Glückliches fällt.“ (Ebd., S. 726; kursiv im Original)

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verhandelt Grass diese Topoi in einer Schreibweise, in der er durch Querverweise, Spiegelungen oder die Technik der mise en abyme ebenfalls die Linearität aufzubrechen sucht, dennoch aber die enge Verwobenheit als eine Gesamtnarration nicht erreicht – vielleicht auch nicht erreichen will, da er allein dokumentarisch seinen Augen die Wahrheit zutraut und nicht wie Ghosh der Poesie.

Natalia Bakshi

Ereignishaftigkeit und Kontext Narratives Palimpsest in Thomas Glavinics Roman Die Arbeit der Nacht Ein literarisches ‚Palimpsest‘ definiert der Moskauer Literaturtheoretiker Valerij Tjupa als „ein Textgewebe, durch welches wie durch eine aufliegende Schicht die Figurenkonstellation, Motivstruktur und einzelne Motive, Normen und andere Merkmale eines anderen Textes hindurchscheinen“.1 Gemeint ist die Aufschichtung unterschiedlicher Texte, die gleichzeitig in einem Text koexistieren, denn „das Palimpsest ist eine nicht syntagmatische (diachrone), sondern paradigmatische (synchrone) Struktur“.2 Das Palimpsest kann als eine „Hierarchie der Texte dargestellt werden, die durch einander hindurchleuchten bis hin zum Archetext“.3 Dieser Terminus des ‚Palimpsests‘ meint also eine Sonderform von Intertextualität. Als allgemeine Textqualität kommt Intertextualität zunächst allen Texten zu, denn intertextuelle Bezüge ergeben sich unabweisbar bereits durch die Textsorte bzw. Gattung, die verwendete Sprache und andere grundlegende Aspekte. Aber auch als artifizielle poetische Praxis wäre ‚Intertextualität‘ der weitere Begriff gegenüber dem literarischen ‚Palimpsest‘. Postmoderne Intertextualitätsspiele etwa entfalten einen weiten Allusionshorizont, indem eine Vielzahl von fremden Texten in den eigenen hineingezogen und das freie Spiel doppelter Codierungen eröffnet wird, die durch die wechselseitige Bespiegelung von anspielendem und angespieltem Text entstehen. Die so in Bezug gesetzten Texte können untereinander vollkommen heterogen sein, ja ihre überraschende Andersartigkeit kann zuweilen den eigentlichen Reiz des postmodernen Spiels ausmachen. Genau hier liegt der Unterschied zum literarischen Palimpsest nach Tjupa. Zwar meint auch die Palimpsestmetapher ein intertextuelles Gefüge, doch mit dem Unterschied, dass die eingebundenen Texte nicht beliebig oder heterogen

1 Тjupa, Valerij: Poetika palimpsesta v „Doktore Živago“. In: Novyj filologičeskij vestnik 25 (2013), S. 141–152, hier S. 141. 2 Тjupa, Valerij: Narrativnaja intriga „Doktora Živago“. In: Novyj filologičeskij vestnik (25) 2013, S. 72–91, hier S. 77. 3 Šatin, Jurij: Mineja i palimpsest. In: Ars interpretandi: Sbornik statej k 75-letiju J. N. Čumakova. Novosibirsk 1997, S. 222. DOI 10.1515/9783110541854-019

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sind, sondern (teil-)homogen im Hinblick auf durchscheinende Elemente eines Archetexts. Tjupas Begriff bezeichnet also ein konkretes poetisches Verfahren, das sich als Palimpseststruktur im literarischen Text niederschlägt. Er unterscheidet sich damit deutlich vom weiten Intertextualitätskonzept Kristevas wie von der Typologie der Transtextualität, die Genette unter dem Schlagwort „Palimpseste“4 entwickelt. Die Wahrnehmung eines Textes als literarisches Palimpsest stellt ein Ereignis dar, das die Sinnkonstitution durch den Leser schlagartig verändert. Ein Text wie der im Folgenden zu analysierende Roman Die Arbeit der Nacht von Thomas Glavinic kann sich hermetisch geschlossen geben und der Sinnkonstitution entziehen, bis seine Palimpseststruktur plötzlich erkannt und der Archetext wahrnehmbar wird. Man kann von einem kommunikativen Ereignis sprechen, das nicht durch den Narrator, sondern durch den Rezipienten hervorgerufen wird. Der Text wird zum Interpretationsereignis. Der Rezipient verfügt danach über ein sinnbildendes Potenzial, das dem Potenzial des Autors gleicht. Dennoch ist der Rezipient von dem Interpretationscode des Textes, von einem bestimmten „Vektor des Dialogs“ (Tjupa meint damit eine bestimmte Richtung, die im Text vorgegeben ist) mit ihm abhängig. Genau in diesem Sinne – als ein „Vektor des Dialogs“ – ist die Palimpseststruktur des Textes zu verstehen. Der Roman Die Arbeit der Nacht erschien 2006 und wurde sofort zum österreichischen Bestseller. Er handelt von einem jungen Mann namens Jonas, der an einem sommerlichen Tag in seiner Wohnung in Wien aufwacht und feststellt, dass es in der Stadt kein Lebewesen mehr gibt, weder Mensch noch Tier. Im landläufigen Sinne mag man die Gattung des Textes vielleicht gar nicht als ‚Roman‘ bestimmen, denn statt um Handlungen zwischen verschiedenen Figuren geht es auf 250 Seiten nur um eine einzige Person, die versucht, zuerst in Wien und dann auch in anderen Ländern einen anderen Menschen zu finden. Der Text endet mit dem Tod von Jonas, der nach 47 Tagen Einsamkeit und vergeblicher Suche Selbstmord begeht, indem er von der Spitze des Stephansdoms springt.

1 Der Roman wurde von Anfang an im Gattungskontext der Robinsonade wahrgenommen, in deren Tradition er sich zweifellos einschreibt. Glavinic ist Vertreter einer deutschsprachigen Linie dieser Gattung, zu der auch Die Wand von Marlen

4 Vgl. Genette, Gerard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a. M. 1993.



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Haushofer (1963) und Großes Solo für Anton von Herbert Rosendorfer (1967) gehören. In beiden Romanen bleiben die „Helden“ ebenfalls allein in der Welt, nachdem die Menschen unter rätselhaften Umständen verschwunden sind. Mit dem robinsonadetypischen Dasein auf einer einsamen Insel ist die Situation in all diesen Texten vergleichbar. Eine Kurzdefinition der Robinsonade von Axel Dunker lautet: „Romantypus, in dem das Schicksal eines auf eine einsame Insel verschlagenen Einzelnen oder einer Gruppe geschildert wird“.5 Bei der Betrachtung der Gattungseigenschaften der Robinsonade können angrenzende Gattungen herangezogen werden. Dazu gehören die Abenteuerliteratur, der Bildungsroman und die Parabel. Die Robinsonade selbst ist eine Modifizierung der Utopie. Vor allem ist der Robinsonade Parabelhaftigkeit eigen, zu der die Merkmale der Erbaulichkeit und Allegorizität gehören. Ein untrennbarer Bestandteil der Parabel ist auch ein lehrreicher Vorfall. Genau so ein Vorfall ereignet sich am Anfang von Glavinics Roman, als Jonas entdeckt, dass er völlig allein geblieben ist. Das Weltbild in der Parabel ist nach Tjupa imperativ,6 d.  h. dass die Hauptperson nicht einer Prädestination unterliegt, sondern eine Wahl trifft, ein sittliches Gesetz erfüllt oder erfüllen soll. So empfindet gleich anfangs auch Jonas, der in dem Geschehen ein Zeichen sieht, die Notwendigkeit, eine Entscheidung zu treffen und damit das Rätsel zu lösen. In diesem Erwartungshorizont befindet sich anfangs auch der Rezipient, der neue erklärende Ereignisse erwartet. Aber dieser Erwartungshorizont des Rezipienten wie der Hauptfigur wird durch das Ausbleiben solcher Ereignisse gebrochen. Die handelnden Personen einer Parabel, so Averincev, „haben nicht nur keine äußeren Züge, sondern auch keinen ‚Charakter‘ im Sinne einer geschlossenen Kombination seelischer Eigenschaften; sie zeigen sich nicht als Gegenstände künstlerischer Beobachtung, sondern als Subjekte ethischer Wahl“.7 Der Charakter fehlt auch der Hauptperson von Glavinic, er ist maximal externalisiert, seine Innenwelt wird zwar ansatzweise gezeigt, aber nicht psychologisch begründet. Ein weiteres wichtiges Konstituens der Robinsonade ist die Prüfungssituation in extremen Umständen mit dem Ziel, die Hauptfigur am Ende in veränderter Form, als abgehärteten Sieger, darstellen zu können. Nicht die Situation an sich ist wichtig, sondern deren Telos, das erlösende Ereignis oder zumindest eine mögliche Perspektive darauf. Während man in den beiden anderen genannten Romanen (Die Wand von Haushofer und Großes Solo für Anton von Rosendorfer) Nachklänge des für

5 Dunker, Axel: Robinsonade. In: Lamping, Dieter (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart 2009, S. 622. 6 Tjupa, Valerij: Diskurs. In: Diskurs. Žanr. Мoskva 2013, S. 66. 7 Averincev, Sergej: Pritča. In: Literaturnyj enciklopedičeskij slovar. Moskva 1987, S. 305.

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die Robinsonade typischen aufklärerischen Pathos finden kann – die Helden entscheiden sich für das Leben trotz allem –, wird im Roman von Glavinic der aufklärerische Optimismus zusammen mit der romantischen Vorstellung von Auserwähltheit durch Skeptizismus und Ausweglosigkeit ersetzt. Von den Veränderungen in der Außenwelt (leere Straßen, Häuser, Bahnhöfe und Flughäfen) gleitet die Erzählung langsam in die Innenwelt der Hauptperson. Den Übergang markieren die Kameras, die Jonas in unterschiedlichen Stadtteilen aufstellt, damit sie eventuell andere Menschen registrieren, falls es noch welche geben sollte. Eine dieser Kameras registriert eine ungewöhnliche Handlung des schlafenden Jonas. Die Beobachtung seiner selbst im Schlaf bringt Jonas auf die Idee, dass der Schlafende eine ganz andere Person sei, die ihm feindlich gegenüberstehe und ihn besiegen wolle. Ab diesem Moment wird die Aussenwelt nur noch zur Kulisse für den wütenden Kampf mit dem Schläfer, ein Kampf, der unweigerlich mit einer Niederlage für beide enden wird.

2 Es wäre interessant, außer den offenbaren Wurzeln in der Robinsonade in Glavinics Text die weniger vordergründige christliche Tradition zu verfolgen, auf die die apokalyptische oder vielmehr postapokalyptische Ausgangssituation hinweist. Auch sie trägt zum Palimpsest-Charakter des Textes bei. Religiöse Konnotationen besitzen schon die wenigen Namen im Text. Jeder einzelne scheint zufällig zu sein, aber alle zusammen bilden eine signifikante Einheit mit christlichen Konnotationen. So heißt die Hauptfigur Jonas, was an den Propheten Jona erinnert und auf Hebräisch ,Taube‘ oder ,Zeichen‘ heißt und eben die von Jonas gestellte Frage nach der Zeichenhaftigeit des Geschehens aufwirft. Seine Geliebte trägt den Namen der Mutter Gottes, sie heißt Marie. Über ihre Schwester erfahren wir nur, dass sie mit einem gewissen Malachias verheiratet war, dessen Name an den Propheten erinnert und auf Hebräisch ,Bote‘ oder ,Bote Gottes‘ bedeutet. Der Name Malachias, der im Buch ein einziges Mal erwähnt wird, stellt jedoch noch einen ganz anderen Verweis dar, nämlich auf Children of the Corn von Stephen King, wo die Kinder den Kukuruz-Dämon anbeten und sich biblische Namen zulegen. Eine der Hauptpersonen dort heißt Malachias. Religiöses findet sich auch auf der Handlungsebene. Am Anfang denkt Jonas, die ihn umgebende Situation sei nur eine Prüfung und man solle das richtige Passwort finden, damit alles wieder seine Ordnung bekäme. Er versucht, einen Brief an Gott zu schreiben, und sucht im Internet die Seite www.gott.com. Zudem führt die Handlung Jonas dreimal in den Stephansdom, und zwar zum ersten Mal



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in der Hoffnung, jemanden dort zu finden, zum zweiten, um auf die Aussichtsplattform auf dem Dach hochzufahren, und zum dritten, um von dieser Aussichtsplatform herunterzuspringen und Selbstmord zu begehen. All das weist auf den christlichen Kontext hin. Die Geschichte des Propheten Jona ist ein spiegelbildlich verkehrter Prätext zur Geschichte der Hauptfigur bei Glavinic. Das Buch Jona ist unter den Prophetenbüchern in vieler Hinsicht einzigartig. Es ist das einzige Buch, in dem nicht die Prophezeiung, sondern das Leben des Propheten im Vordergrund steht. Dabei wird keine historische Narration vorgelegt, sondern eine lehrreiche Parabel geboten. Jona selbst ist der seltene Fall des ,erfolglosen‘ Propheten, dessen Prophezeiung nicht in Erfüllung geht. Die Geschichte beginnt damit, dass Jona den Auftrag Gottes erhält, nach Ninive zu gehen und der Stadt das Strafgericht Gottes anzudrohen. Die Stadt soll zerstört werden. Jona versucht, dem Auftrag zu entgehen, indem er zwar auf das Schiff steigt, aber in eine andere Richtung fährt. Das Schiff gerät in einen gewaltigen Sturm, Jona entlarvt sich als der Schuldige, der den Zorn Gottes auf sich gezogen hat, und bittet die Matrosen, ihn ins Meer zu werfen. Im Meer wird Jona bekanntlich von einem Walfisch verschlungen, in dessen Bauch er drei Tage verbringt, bevor er schließlich ausgespuckt wird. Er hört zum zweiten Mal die Stimme Gottes, der ihn nach Ninive schickt. Diesmal predigt er dort wirklich Reue. Seine Predigt löst bei den erschrockenen Bewohnern eine Bußbewegung aus, und Gott begnadigt die Stadt. Jona flieht im Zorn aus der Stadt und baut sich ein Zelt hinter der Stadt, wo er sich verstecken will. In der Nacht wächst über dem Zelt ein Baum, der Jona vor Hitze schützt, aber eine Nacht danach trocknet er aus. Der verzweifelte Jona wünscht sich den Tod, worauf Gott ihm sagt: „Dich jammert die Staude, um die du dich nicht gemüht hast, hast sie auch nicht großgezogen, die in einer Nacht ward und in einer Nacht verdarb; und mich sollte nicht jammern Ninive, eine so große Stadt, in der mehr als 120.000 Menschen sind, die nicht wissen, was rechts und links ist, dazu auch viele Tiere?“ (Jona 4, 10f.) Damit endet das Buch Jona. Weder die Reaktion von Jona auf die Worte Gottes, noch die weiteren Handlungen Gottes sind in den Text aufgenommen. Die Episode mit dem dreitägigen Aufenthalt im Bauch vom Walfisch wird im Neuen Testament als Prophezeiung über Tod und Auferstehung Christi interpretiert. Jona wird auch dadurch ausgezeichnet, dass seine Prophezeiung falsch ist, denn sie wird nicht erfüllt. Wenn man aus dieser biblischen Perspektive Jonas bei Glavinic betrachtet, so scheint er auf inversive Weise ein Prophet zu sein, der überlebt hat, nachdem Gott alles Lebende vernichtet hatte. Wie Jona im Bauch des Wals, bleibt auch Jonas einsam in der Hoffnung auf Rettung. Doch hat die Welt der Romanfigur im Gegensatz zur alttestamentarischen des Jonas nur eine Dimension. Der Versuch, Gottes Internetseite zu finden, sowie der sinnlose Besuch im Stephansdom, wo Jonas nicht weiß, was er tun soll – das ist seine Art des „Gebets“ und Aufrufs zu Gott. Im

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biblischen Text hingegen findet sich eine Reihe von Ereignissen, deren jede eine eigene Form der Kommunikation mit Gott ist: Jona flieht vor Gottes Auftrag; Jona bittet Gott um Hilfe im Bauch des Walfischs; Jona predigt Buße im Auftrag Gottes in Ninive; er bittet Gott um den Tod wegen dessen Barmherzigkeit für Ninive und seiner deshalb falschen Prophezeiung. Der Text endet mit einer Frage, die Gott an Jona stellt. All diese Begebenheiten legen eine einzige Schussfolgerung nahe: Gott rettet die Menschen in seiner Barmherzigkeit trotz der Prophezeiungen und Bitten von Jona. Daran sind drei Instanzen beteiligt: Gott, der Prophet und die Menschen, und sie stehen in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander. Die Spanunng wird aber durch Gottes Barmherzigkeit aufgelöst. Im Roman von Glavinic ist die Situation eine vollkommen andere, was ein Beispiel für Palimpsestinversion, d. h. komplette Umkehrung des Prätextes darstellt. Es gibt die Hauptperson und die Spannung, aber die Menschen und Gott fehlen. Die Innenwelt des Romans ist übertrieben eindimensional, und die Anspielung auf das Buch Jona betont und verkompliziert diese Eindimensionalität. Auch Jonas fühlt sich gezwungen, in die Tiefen des Meeres zu gehen, aber das sind keine biblischen Meere, sondern der La Manche-Tunnel, den er durchqueren muss, um nach England zu gelangen, wo er die Sachen von Marie abholen kann. Ein Traum ist in der Bibel ein heiliger Zustand, in dem Mensch und Gott kommunizieren. Aber gerade der Traumzustand wird für Jonas zur Quelle seiner Krankheit. Ein Verhältnis zum anderen, zum Mitmenschen, eine notwendige Bedingung jeder normalen Existenz, hat Jonas nicht. So sucht er diesen anderen in sich selbst und findet ihn im Schläfer. In der christlichen Tradition bekommt der Mensch im Traum Hinweise für sein Leben. So nimmt sich auch zunächst der Hinweis von Jonas’ Oma auf ein gewisses Umirom aus, das sich am Ende als Mittel gegen Narkolepsie entlarvt und ihn schließlich tötet. Der Schläfer versucht, im Traum die Wand durchzubrechen, was Jonas als ein Zeichen interpretiert. Aber als er die Wand an dieser Stelle durchbricht, findet er dort nur eine aufblasbare Puppe. Der Prophet Jona sucht Gott nicht, sondern wird gegen seinen Willen ausgewählt. Jonas scheint auch auserwählt zu sein, aber von wem und wofür, bleibt ein Rätsel. Die paranoide Schizophrenie wird zur Kehrseite dieser Auserwähltheit. Die Anspielungen auf den dreidimensionalen christlichen Chronotopos betonen die eindimensionale Welt von Jonas. Der Prophet Jona war der einzige Prophet, der in die Hölle abgestiegen ist – so die Überlieferung der Kirchenväter. Denselben Abstieg in die Hölle imitiert Jonas, indem er die Leiche der vor vielen Jahren verstorbenen Frau Bender ausgräbt. Aber gemäß der Logik der eindimensionalen Welt findet er im Grab außer dem Skelett nichts. Als einen Aufstieg zu Gott kann man die Liftfahrt von Jonas zum Dach des Stephansdoms betrachten. Aber auch dieser Aufstieg endet nach den Gesetzen der eindimensionalen Welt mit dem Sturz hinunter. Es scheint kein Zufall, dass das ganze Geschehen inner-



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halb von 47 Tagen abläuft, d. h. fast genauso lang dauert wie die Fastenzeit in der katholischen Kirche. Nur endet die Handlung nicht mit der Auferstehung. Die doppelte Lesart ist auch bei der Episode mit dem Eurotunnel wichtig. Jonas fährt Moped durch den Tunnel, um nach England zu gelangen, wohin seine Geliebte abgereist ist. Er fährt Moped und fühlt seine Auserwähltheit, dann trifft er auf seinem Weg ein Hindernis. Es ist ein Zug, den er nicht umfahren kann, so dass Jonas 15 km in voller Dunkelheit zu Fuß laufen muss. Er kommt aus dem Tunnel in der Nacht bei Gewitter und tobendem Meer. Und dieser Moment wird zum Wendepunkt im Text. Hier kreuzen sich die Robinsonade und die Parabel über den Propheten. Wie Robinson fühlt sich Jonas nach Sturm und Schiffsbruch auf fremde Ufer geworfen. Der Schläfer, der bis dahin mehr oder weniger harmlos war, wird nach der Überquerung des Meeres nicht zum Freitag der Robinsonade, sondern zum richtigen Feind, der Jonas den Krieg erklärt. Er durchsticht die Reifen des einzigen Fahrrads, während Jonas schläft. Nachdem Jonas sich ein Auto besorgt hat, fährt er ihn in die falsche Richtung, verbraucht das ganze Benzin ohne Möglichkeit, wieder zu tanken. Er steckt ihn in den Kofferraum, den Jonas beim Aufwachen als Sarg empfindet. Und schließlich fesselt er ihn und lässt ihn auf dem Schiff. Er macht alles, um zu verhindern, dass Jonas Maries Haus erreicht. Dem Haupthelden gelingt es zwar, den Feind vorläufig zu besiegen, wie es der Gattungstradition entspricht, aber es ist offenbar, dass dieser Krieg insgesamt verloren geht, denn Held und Feind sind dieselbe Person. Andererseits ist der Aufenthalt in Dunkelheit und Meerestiefe der Wendepunkt bei dem Propheten Jona. Das ist sein Versuch, vor seiner Berufung und vor Gott zu fliehen. In diesem Sinne kann man die Reise von Jonas auch als Flucht vor sich selbst, vor einem Anderen in sich betrachten, der ihn aber auf fremdem Ufer einholt. Während Jona aller Wahrscheinlichkeit nach sich mit Gott versöhnt und am Leben bleibt, kann Jonas mit dem feindlichen Anderen in sich nur im Tod Versöhnung finden. Für die Lektüre des Romans als Palimpsest des Buches Jona erscheint nicht nur die Konfrontation zwischen der Hauptperson und der Welt bedeutsam, wie es in der Robinsonade der Fall ist, sondern vor allem die vollkommene und grenzenlose Einsamkeit des Protagonisten in der eindimensionalen Welt ohne Gott. In dieser Welt fehlt nicht nur alles Lebende, es verschwindet auch der Andere, der den Lebenssinn ausmacht.

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3 Die intertextuellen Verweise des Romans begrenzen sich nicht nur auf Anspielungen auf die Robinsonade einerseits und das Buch Jona andererseits. Der Sturz Jonas’ vom Stephansdom wird auf vier Seiten beschrieben, auf denen wir auch Anspielungen auf zwei weitere, für die österreichische Literatur wichtige Texte finden – auf den Roman Schlafes Bruder von Robert Schneider und die Spiegelgeschichte von Ilse Aichinger. Im Moment des Todes erinnert sich Jonas, wie die Hauptperson in der Kurzgeschichte Aichingers, an die Hauptereignisse seines Lebens in umgekehrter Perspektive, in der der Moment der Geburt mit dem Moment des Todes zusammenfällt. Nicht zufällig sieht der fallende Jonas einen Spiegel vor sich. Aber das Letzte, was er sieht, ist nicht seine eigene Geburt, sondern ein Moment aus der frühen Kindheit, in dem er im Kinderwagen geschoben wird und ein Mädchen mit hellen Locken an ihm vorbeigefahren wird. Er weiß, dass er sie viele Jahre danach lieben wird. Dieser Moment der Wahrnehmung seiner Lebensliebe in der Kindheit sowie das Motiv des Zusammenfallens von Liebe und Tod verweisen auf Schlafes Bruder von Schneider, wo die Hauptfigur, ein Musiker-Außenseiter aus einem kleinen österreichischen Dorf, den Herzensklang des neugeborenen Mädchens hört, das er sein Leben lang lieben und deretwegen er nicht schlafen wird, denn „wer schläft, liebt nicht“. Dieser Tod aus Schlaflosigkeit widerfährt auch Jonas. An Schneider erinnert auch das Spiel mit den Namen. Die Hauptfigur bei Schneider hat ebenfalls einen biblischen Namen, nämlich Elias. Nach der Überlieferung hat der Prophet Elias den Jungen Jona auferweckt. Auf diese Weise wird der an Schlafmangel sterbende Jonas zum Erben des schlafunwilligen Elias. Den Selbstmord begeht Jonas mit dem Handy von Marie in der Hand und mit ihrem Koffer zwischen den Beinen. Einerseits spricht die Vielzahl der intertextuellen Anspielungen auf den letzten Seiten des Romans für die postmoderne Konstitution des Textes und ein Sich-selbst-Feiern der Literatur. Andererseits kann man den Abgang der Hauptperson, dessen Beschreibung mit zahlreichen literarischen Anspielungen versehen ist, als symbolischen Abgang der Literatur und des literarischen Gedächtnisses interpretieren, das der Held repräsentiert. Der Text endet mit dem letzten Gedanken von Jonas abrupt. Der Narrator, der die ganze Geschichte auktorial berichtet und dabei unsichtbar bleibt, bricht die Narration mit dem Sturz des Helden unvermittelt ab, ohne den Trost zu lassen, dass es nur ein literarisches Werk war, in dem zwar der Held stirbt, der Narrator aber bleibt. In dieser eindimensionalen Welt ohne Gott, ohne Menschen, ohne Hoffung verweist der Tod des Helden neben dem Ende der Literatur zugleich auch auf den Tod des Narrators.



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Der Roman von Glavinic ist ein Text, in dem eine eigentliche Geschichte fehlt, der aus sich heraus nicht verstanden werden kann. Die Geschichte spielt sich nicht in dem isolierten Text, sondern allein in dem Kopf des literaturgeschichtlich bewanderten Lesers ab. Aus dem durch den Leser eröffneten Kontext gewinnt der Text seine Ereignisqualität: der Text feiert sich selbst oder löst sich selber auf.

Yun-Young Choi

Text als kollektives Ereignis Eine Analyse des Kunstpansori Sacheon-ga von Jaram Lee

1 Text als kollektives Ereignis Wenn man den Text als Ereignis auffasst und vom Moment seiner schriftlichen Fixiertheit abstrahiert, können viele Aspekte des Textes, wie z.  B. seine Singularität, Unbestimmtheit, Kontingenz, Zeitgebundenheit oder Relevanz, auf neue Weise erläutert werden. In der Forschung wird Ereignishaftigkeit oft in Gegensatz zu Begriffen wie Struktur, Kontinuität oder Evidenz gesetzt, um ihre Bedeutung zu erschließen.1 Im vorliegenden Beitrag wird ein anderer, bisher vernachlässigter Aspekt der Ereignishaftigkeit des Textes thematisiert, und zwar der kollektive Aspekt des Ereignisses. Interessant ist diese Annäherungsweise im Hinblick darauf, dass der Ereignisbegriff mit der zunehmenden Autonomisierung der Kunst seit der Romantik im deutschsprachigen Raum häufig in Bezug auf den Individualitätsbegriff diskutiert wurde. Jedoch sind nicht nur geniale Individuen oder Künstler, sondern auch Kollektive bei der Betrachtung der Produktion und Rezeption von Ereignissen von Bedeutung, wobei hier mit Kollektiv nicht nur eine bestimmte soziale Schicht oder Klasse gemeint ist, sondern auch die „Multitude“ im Sinne von Hardt und Negri, d. h. „eine irreduzible Vielfalt“, die sich trotz sozialer Unterschiede gerade am Ort des Ereignisses bildet und als Gemeinschaft fühlt.2 Das Interesse an einem durch die Kunst ermöglichten kollektiven Ereignis kann man mit Walter Benjamins Hinweis auf die traditionelle Erzählkunst als Medium des Austauschs von Lebenserfahrung in Verbindung bringen. In seinem Essay Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows hat er die Veränderungen der Erzählgattung in der Moderne beobachtet und sie am Beispiel des Gegensatzes zwischen dem herkömmlichen ‚Erzähler‘ und dem modernen ‚Romancier‘ exemplifiziert. Benjamin fasst den Wandel der die Epik betreffenden Weltverhältnisse und Vermittlung der Erfahrung wie folgt zusammen:

1 Kremer, Detlef: Ereignis und Struktur. In: Brackert, Helmut / Stückrath, Jörn (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek 1995, S. 517–532; Foucault, Michel: Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode. Frankfurt a. M. 2009, S. 251f. 2 Hardt, Michael / Negri, Antonio: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire. Frankfurt a. M. 2004, S. 123. DOI 10.1515/9783110541854-020

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Der Erzähler nimmt, was er erzählt, aus der Erfahrung; aus der eigenen oder berichteten. Und er macht es wiederum zur Erfahrung derer, die seiner Geschichte zuhören. Der Romancier hat sich abgeschieden. Die Geburtskammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit, das sich über seine wichtigsten Anliegen nicht mehr exemplarisch auszusprechen vermag, selbst unberaten ist und keinen Rat geben kann. Einen Roman schreiben heißt, in der Darstellung des menschlichen Lebens das Inkommensurable auf die Spitze treiben.3

In diesem Beitrag wird, anders als bei Benjamin, der Gegensatz zwischen Erzähler und Romancier eher typologisch als geschichtlich betrachtet, da die Motivation, von Lebenserfahrungen zu erzählen und die Erzählung mit anderen zu teilen, eine grundsätzliche Eigenschaft des Menschen als homo narrans ist. Während die moderne Kunst auf der einen Seite eine tendenziell inkommensurable Originalität und Individualität anstrebt, existiert auf der anderen Seite weiterhin unterschwellig das Bedürfnis nach Kommensurabilität und Austausch von Lebenserfahrung.4 Auch in der zeitgenössischen Kunst gibt es unterschiedliche Bemühungen um eine solche Kommensurabilität. Ein Beispiel dafür sind gegenwärtige Erneuerungen der traditionellen koreanischen Gattung des Pansori.

2 Kollektives Ereignis und Pansori als Gattung Das Wort „판소리 Pansori“ ist ein Kompositum von „판 Pan“ und „소리 Sori“. „Pan“ bedeutet wörtlich Platz und im übertragenen Sinne energetisches Feld. „Pan zu machen“ oder „Pan zu bilden“ bedeutet, einen Platz für eine festartige Veranstaltung oder für ein Ereignis zu schaffen. „Sori“ bedeutet Stimme und – metonymisch – Lied oder Musik. „Pansori“ wird entweder als „epische Gesänge“, „gesungene Romane“ 5 oder „traditionelles, koreanisches Musiktheater“ übersetzt. Die Gattung entstand wohl im 17. Jahrhundert in Form von Volksstücken, die zu einer feierlichen Gelegenheit mit verschiedenen anderen Kunstvorführungen wie Musik oder Akrobatik zusammen aufgeführt wurden, und entwickelte sich im 19. Jahrhundert in Korea zu einer eigenständigen Kunstform. Der Ursprung der Stoffe ist unbekannt. Die Struktur und Handlungen wurden durch die Aufführungspraxis allmählich festgelegt und mündlich überliefert. Im 19. Jahrhundert kamen zum einfachen Volk Gelehrte und Adlige (Yangban) als Publikum hinzu.

3 Benjamin, Walter: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Bd. 1. Frankfurt a. M. 1977, S. 385–410, hier S. 389. 4 Dies machen nicht zuletzt neue Medien wie SMS, Facebook oder Twitter deutlich. 5 Pansori – Die gesungenen Romane Koreas. Aus dem Koreanischen von Chung Kyo-chul und Matthias R. Entreß. Thunum 2005, S. 7.



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Das Pansori übernahm in der Folge die Lebensvorstellungen und Themen der Yangban und gewann dadurch in Sprache, Stoff und Thematik an Vielfalt und Feinheit. Seine Themen und Stoffe stammen zwar aus Mythen oder Volkssagen, wurden aber im Laufe der Zeit konfuzianistisch und buddhistisch eingefärbt. Mit dem Anfang des 20. Jahrhunderts etablierten sich fünf bzw. sechs Stücke als Standard-Repertoire und wurden zu dieser Zeit auch schriftlich fixiert. Die Aufführung eines Pansori besteht aus drei Teilen: Aniri (Erzählung), Chang (Gesang) und Nerumsae oder Balim (Gestik). Der Sänger versucht mit Hilfe eines Minimums an Requisiten, lediglich einem Fächer und einem Schweißtuch, alle Figuren und unterschiedlichen Charaktere darzustellen. Das Pansori ist als Kunstgattung sowohl durch eine dynamische und antithetische Struktur als auch durch die Spannung und Entspannung des Publikums charakterisiert. Die kontrastierenden Stimmungen erlauben es dem Publikum, sich in die wechselhafte Handlung einzufühlen, aber auch, sich von Vorgängen und Charakteren zu distanzieren und emotional zu befreien. Stilistisch und inhaltlich gesehen, ist das Pansori voll von Witzen, Satiren, Anspielungen und Kritik. Formal gesehen, handelt es sich um ein Miminaltheater, das in der Regel nur von einem Sänger in Begleitung eines Trommlers aufgeführt wird (s. Abb. 1).

Abb. 1: Pansori des Sängers Mo Heunggap. Unbekannter Maler aus dem 19. Jahrhundert6

6 In: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mo_Heunggap-ui_pansorido.jpg?uselang=ko (24. Januar 2017).

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Im Laufe des 20. Jahrhunderts verlor das Pansori im Zuge der allgemeinen Modernisierung Koreas und angesichts der Flut von westlicher Musik an Popularität. Heute wird es zur so genannten traditionellen Stimmkunst gezählt. Es ist mehr oder weniger musealisiert. Es wurde zum koreanischen Nationalkulturerbe erklärt und 2003 auch als UNESCO-Weltkulturerbe (The Intangibel Cultural Heritage of Humanity) anerkannt (s. Abb. 2).

Abb. 2: Pansori Heungbuga, aufgeführt von Ahn Suk-seon (Seoul 2006)7

Hinsichtlich des Themas ‚Text als Ereignis‘ sind vor allem zwei Charakteristika von Pansori besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Der erste Aspekt ist die performative Ereignishaftigkeit von Pansori. Jede Aufführung eines Pansori wird am jeweiligen Ort jedes Mal zu einem neuen ästhetischen Ereignis. Ein Pansori wird je nach Aufführungssituation vor neuem Publikum unterschiedlich präsentiert. Im Vergleich zu anderen Performanzkünstlern, deren Auftritte ebenfalls durch Einmaligkeit und Präsenz gekennzeichnet sind, verfügt der Pansorisänger über eine verhältnismäßig große Gestaltungsfreiheit, die mit der Form des

7 In: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Korean_music-Pansori-Heungbuga-01.jpg (24. Januar 2017).



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Minimaltheaters, dem Auftritt nur eines Performers mit einem Trommler, zusammenhängt. Pansori meint hier also eher die performative Praxis als die schriftliche Textfassung, denn die Texte werden in jeder Aufführung spontan vorgetragen und entstehen dadurch neu. Demgemäß legt die jüngere Forschung ihren Schwerpunkt auch auf den performativen Kunstcharakter von Pansori, das zuvor vornehmlich aus der Perspektive der Literatur-, Musik- oder Theaterwissenschaft erforscht wurde.8 Dieser Tendenz entspricht, dass der deutsche Übersetzer eines neueren Pansori-Buches für seine Übersetzungen als Vorlage nicht die fixierten Textfassungen wählte, sondern Transkriptionen von Schallplattenaufnahmen.9 Entsprechend seiner eigenen Stimmung oder der des Publikums kann der Sänger vor Ort das Pansori kreativ gestalten. Es gab sogar den Fall, dass ein Sänger mit dem Publikum ein Volkslied improvisierte. Ein Pansorisänger hat die Aufgabe, sein Pansori immer zeitgemäß und situationsgerecht anzupassen. Wenn er das alte, tradierte Pansori ohne Variation wiederholt, wird er abschätzig als Kopiestimme bezeichnet. Der zweite Aspekt der Ereignishaftigkeit von Pansori hängt mit dem besonderen Charakter seiner Kollektivität zusammen. Die Freiheit des Sängers liegt nicht zuletzt darin begründet, dass der Pansoritext selbst viele Freiräume enthält, die „공소 leere Stellen“ heißen. Der Sänger kann sie nach seinem eigenen Ermessen füllen oder verlängern, vermehren oder betonen, aber auch kürzen oder weglassen. Im Hinblick auf den kollektiven Charakter von Pansori ist zu berücksichtigen, dass auch der Trommler und das Publikum die leeren Stellen des Pansori spontan füllen und dadurch die Aufführung aktiv mitgestalten können. Dieser offene Charakter von Pansori erlaubt eine komplexe Interaktion von Sänger, Trommler und Publikum. Dabei spielt das „추임새 Chuimsae“, wörtlich: die „Stimme zur Erhebung“, eine große Rolle. In der Praxis werden Interjektionen wie „얼쑤 Erlsu“ oder „흥 Heung“, auch zustimmende Worte wie „좋다 gut“ oder „그렇지 stimmt“ oft für Chuimsae benutzt. Als Reaktionen sind die Chuimsae flexibel und unterschiedlich. Der Trommler hat eine Vermittlungsfunktion, da er den Sänger nicht nur begleitet und ermuntert, sondern durch seine Musik auch mitgestaltend wirkt. Häufig eingesetzte Chuimsae des Trommlers sind etwa Zwischenrufe wie „소리 잘 한다 Du singst gut!“, „이토록 슬프단 말이냐 wie traurig die Lage wäre!“ oder „어 찌 해야할꼬 Was wollen wir da anfangen?“ Seine Vermittlerrolle ist nicht auf die Beziehung zum Sänger beschränkt, sondern umfasst auch die zum Publikum. Er

8 Lee, Eun Hee: Das Performative in der Pansorization des epischen Theaters – Am Beispiel von Sacheon-ga und Ukchuk-ga. In: Brechtwah-Hyundae-yeonkeok (= Brecht und das moderne Theater) 32 (2015), S. 82f. 9 Vgl. Pansori – Die gesungenen Romane Koreas.

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nimmt die Rolle des Partnerperformers, ja des Dirigenten ein, denn der Trommler regt das Publikum an, nicht zu schweigen, sondern seinerseits Chuimsae zu geben und damit die Aufführung mitzugestalten. Die Chuimsae werden vom Sänger und Trommler eingeleitet, drücken eine einfühlende Haltung in die Handlung oder in die Schicksale der Figuren aus, sind deshalb meist emotional gefärbt und werden vom Trommler und Publikum zustimmend beantwortet. Durch die Häufung und Wiederholung dieser wechselseitigen Prozesse entsteht im Pansori zwischen Sänger, Trommler und Publikum am Ort eine affektive, energetische Gruppenstimmung. Der Erfolg eines Pansori hängt unmittelbar von den Chuimsae und von der kollektiven Gestaltung ab. Die Benjamin’sche Kommensurabilität entsteht hier nicht nur in der unmittelbaren mündlichen und künstlerischen Kommunikation mit dem Publikum, sondern auch in der Überlieferung der Stoffe von Sänger zu Sänger und damit in der geteilten Erfahrung.10 Die zeitgenössische Sängerin Jaram Lee sagte bezüglich der Geschichtlichkeit der Stoffe und künstlerischen Kollektivität: Ich habe in den letzten zwanzig Jahren die fünf klassischen Stücke immer wieder geübt, aber ich werde jedes Mal frisch überrascht, wenn ich die versteckten Witze von verschiedenen früheren Sängern oder die Schärfe der mit der Zeit immer feiner geschliffenen und gehäuften Satiren neu entdecke.11

Pansori ist also eine Kunstgattung, in der das Publikum bekannte Geschichten gemeinsam erneut hört und in der es mittels der teilnehmenden und sympathisierenden Präsenz einen gemeinsamen Kontext herstellt, so dass es sich am Ende als Kollektiv empfinden kann. Der Terminus „귀명창 Ohrmeister“, der die Kenner des Pansori im Publikum bezeichnet und früher im Plural existierte, zeigt den Stellenwert des Publikums an.

3 Jaram Lee und das moderne Pansori Sacheon-ga Nach der Klärung der Grundlagen des traditionellen Pansori soll in diesem Abschnitt ein modernes, kreatives Kunstpansori vorgestellt werden. Dieses Phänomen kann man als Ereignis in der Gattung Pansori betrachten, da es die tradierte, grundlegende Struktur und Identität des Pansori in Frage stellt und sein Wesen neu reflektieren lässt. Unter den modernen Kunstpansoris seit dem Jahr

10 Vgl. Benjamin: Der Erzähler, S. 389. 11 Lee, Jaram: Programmheft mit Texten zum Sacheon-ga. Seoul 2009, S. 6.



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2000 ist der Versuch von Jaram Lee von großer Bedeutung, vor allem im gattungsinternen Sinne, da sie die vom Aussterben bedrohte Kunst des Pansori wiederbelebte. Zudem wurden seit dieser Zeit, meist von jungen Künstlern, verschiedene Diskussionen darüber geführt, ob und wie das Pansori erneuert werden könnte. Gemeinsam ist den Erneuerungsversuchen, dass sie Sprache und Stil des Pansori zeitgenössisch adaptieren. Inhalte und Stoffe werden nicht mehr dem alten Repertoire entnommen, sondern neu entdeckt oder erfunden. Auch wird das Pansori vor modernen Bühnenbildern inszeniert. Oft wird eine gattungshybride Inszenierung versucht, die das Pansori mit dem modernen Theater, der Oper oder dem beim jungen koreanischen Publikum beliebten Musical verknüpft, so dass man ernsthaft nach der Identität des Pansori fragen muss. Vor allem die Versuche von Jaram Lee wurden im Laufe der Zeit aber anerkannt und hoch bewertet.12 Ihr Erfolg lässt sich in drei Worten zusammenfassen: Modernisierung, Internationalisierung und Popularisierung des Pansori. Jaram Lee nimmt die Stoffe nicht mehr aus der Klassik, sondern bezieht sie kühn aus unterschiedlichen Quellen, auch aus der ausländischen Literatur, und schreibt darauf basierend selber neue Kunstpansori. Insbesondere wurden ihre Brecht-Adaptionen vielfach gelobt: Sacheon-ga (2007) nach Der gute Mensch von Sezuan und Ukchuk-ga (2011) nach Mutter Courage und ihre Kinder. Im Zentrum der folgenden Darlegungen steht Sacheon-ga, die Adaption des Theaterstücks Der gute Mensch von Sezuan. Brecht war in Korea lange der einflussreichste deutsche Dramatiker. Besonders in den 1970er und 1980er Jahren, in denen es in Korea viele soziale Bewegungen wie die Studentenbewegung und die Arbeiterbewegung gab, besaß er den Status einer kulturellen Ikone. Seine Stücke wurden in Korea als intellektuelle und sozialkritische Lehrstücke mit Respekt und Leidenschaft aufgenommen, entweder in Form von Übersetzungen oder von Adaptionen. Seit den 1990er Jahren ließ jedoch das Interesse des koreanischen Publikums an Politik und Gesellschaft nach. Zwar werden Brechts kritische Theaterstücke noch häufig inszeniert, aber langsam als zur ‚Klassik‘ gehörig betrachtet, wodurch sie an sozialkritischer Brisanz verlieren.

12 Jaram Lee ist im Bereich des klassischen Pansori ebenfalls eine anerkannte Sängerin und zeigt in einem youtube-Video ihre für das Pansori typische Stimme, die von einer Deformation der Stimmbänder durch jahrelanges Üben geprägt ist.

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Abb. 3: Jaram Lee in Sacheon-Ga (2009)13

Lee gelingt es, Brechts Drama durch eine kreative Bearbeitung und Adaption wieder in ein lebendiges Verhältnis mit dem koreanischen Publikum zu setzen, wobei ihr Interesse allerdings eher in der Aktualisierung des Pansori als in derjenigen Brechts liegt. Sie geht von derselben Ausgangsfrage wie Brecht aus: Wie kann man heute überleben und gleichzeitig gut sein? Lees Pansori hat mit vierzehn Szenen und einem offenen Ende eine ähnliche Handlung, Figurenkonstellation und Struktur wie das Original. Ihr Stück verliert jedoch die zeitgenössische koreanische Realität nicht aus den Augen und wird auf das Hier und Jetzt bezogen: Drei Götter kommen nach Sacheon (das ist der koreanische Ortsname von Sezuan, der in diesem Fall auf Seoul verweist) und suchen nach einem guten Menschen. Sie finden ihn endlich in Sun-deuk (Shen Te), deren Name „Guttugendhaft“ bedeutet, und sie schenken der Frau Geld. Mit diesem Geld kann sie aber unter den ausbeuterischen Bedingungen des kapitalistischen Systems kein guter Mensch bleiben, sondern muss sich in den kaltblütig-kapitalistisch denkenden und handelnden Vetter Nam Jaesu (Shui Ta) verwandeln, um ihren Imbissla-

13 Mit freundlicher Erlaubnis des DoosanArtCenter, Seoul.



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den und ihr Baby zu schützen. Die Gemeinsamkeit des deutschen Stücks und der koreanischen Bearbeitung liegt in der Wirklichkeitskritik als Zeitkritik: Sacheonga thematisiert die Probleme der gegenwärtigen koreanischen Gesellschaft, vor allem die Unmenschlichkeit und Unmoral in den neokapitalistischen Verhältnissen, die Beauty Culture bzw. den Lookism, darüber hinaus soziale Ungleichheit, politische Korruption, Probleme von Arbeitern etc., und übt auch Religionskritik. Doch auch ein Unterschied muss gesehen werden: Während Brecht fremde Stoffe gern zum Zweck der Verfremdung übernahm, geht es bei Lees Adaption im Blick auf das Publikum weniger um Verfremdung des Vertrauten als um Assimilation des Fremden. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass Lee dafür ausgerechnet Brecht, den Verfechter des Verfremdungseffekts wählt, der seinerseits etwas Chinesisches aufnahm, um im Westen Bekanntes zu verfremden. Lees Brecht-Adaption verfolgt vor allem die Intention, aktuelle Zeitbezüge in eine traditionelle koreanische Kunstform einzuführen. Dabei ist sich die Künstlerin bewusst, dass die Erzählungen beim Publikum den Eindruck von Allgemeinmenschlichkeit und Alltagsnähe erwecken. Damit soll ein sympathisierendes Verständnis beim Publikum hervorgerufen werden. Lee selbst sagt dazu: „Schließlich liegt unser Zweck darin, das Publikum durch Geschichten und Figuren in sein eigenes Leben hineinblicken zu lassen. Denn unser Leben ist das größte und wichtigste Ereignis.“14 In diesem Sinne versucht sie, Brechts Stück zeitlich, räumlich, stofflich, formal und in der Figurenzeichnung an die koreanische Tradition zu assimilieren, um der Gattung des Pansori aktuelle Brisanz und Sympathie zurückzugeben. Die Unterschiede zwischen dem traditionellen Pansori und dem neuen Kunstpansori lassen sich leicht erkennen. Wenn früher die akustische, musikalische Dimension im Vordergrund stand und das Publikum deswegen auch als „Hörpublikum“ bezeichnet wurde, werden nun der visuelle und der performative Aspekt deutlich verstärkt. Lees Kunstpansori ist vom Inszenierungsplan her geräumiger angelegt und von einem Regisseur und einem professionellen Aufführungsteam inszeniert. Es ist kein Ein-Personen-Theater mehr, sondern die Aufführung wird von einer Veranstaltungsfirma finanziert und durchgeführt. Der gattungstypische Kern des Pansori bleibt derselbe, da es durchaus von einer erzählenden und singenden Person vorgeführt wird. Zudem werden vom Publikum nach wie vor Chuimsae erwartet, und an diesen wird der Erfolg des Pansori gemessen. Jedoch haben sich die Art und die Ausdrücke von Chuimsae zeitgemäß angepasst: Zum traditionellen „얼쑤 Erlsu“ tritt ein neuer wie „맞다 stimmt“ hinzu. Bei Sacheon-ga begleiten das Pansori nicht nur ein koreanischer Trommler, sondern auch westliche Instrumente wie Drums, Elektrogitarre etc. Neu ist ebenfalls der

14 Lee, Jaram: Lied eines Fremden. Broschüre. Seoul 2016, S. 4.

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Einsatz von drei Schauspielern, welche die drei Götter darstellen und in der surrealen, stimmkargen Inszenierung jeweils Christentum, Buddhismus und Konfuzianismus repräsentieren. In dieser ironisch mystischen Inszenierung im Nebel werden die Religionen mit Tanz und Pantomime sowohl in ihrer Abstraktheit als auch in ihrer Wirklichkeitsfremdheit und -ferne gezeigt. Damit wird die Funktion(slosigkeit) der Religion in der modernen koreanischen Wirklichkeit thematisiert. Durch diese ironische Distanzierung werden die Götter am Ende zum Objekt des Lachens und der Kritik des Publikums ausgesetzt. Anfänglich wurde Lees Stück noch als hybride Gattungsmischung bewertet, im Laufe der Zeit aber als repräsentatives modernes Kunstpansori anerkannt.15

4 Das Epische und das kollektive Ereignis An dieser Stelle muss man in Bezug auf die Modernisierung des Pansori durch Lee einige Fragen stellen: Spielen epische Elemente darin noch eine wichtige Rolle? Was versteht man hier unter dem Epischen, und wie verhält es sich zu dem von Brecht? Diese Fragen beziehen sich einerseits auf das Verhältnis des Alten und Neuen sowie andererseits auf das des Eigenen und des Fremden. Einige Forschungen gehen bereits auf diese Problematik ein: So vergleicht Yeon-Soo Kim u.  a. die Darstellungstechnik im Pansori mit der Rolle der Gestik im epischen Theater Brechts und stellt die Gestik des Pansorisängers, die vom Publikum eine distanzierte Haltung verlangt, als Mittel epischer Verfremdung heraus.16 Dem gegenüber analysiert San-hyo Kim schwerpunktmäßig die Schlussszene von Sacheon-ga, in der Lee ein offenes Ende anbietet und das Publikum auffordert, selbst über die Wirklichkeit und deren Ursachen zu reflektieren – dies ganz im Gegensatz zu den traditionellen Pansoristücken, deren problemlösende, am Ende versöhnliche Handlungen meist mit einem Happy End abschließen.17

15 Park, Sung Wahn: The Achievements and Tasks of Creative Pansori in the 21st Century. In: Hankuk Geontong Munwha (= The Journal of Cultural Heritage) 14 (2004), S. 205–253, hier S. 238ff. 16 Kim, Yeon-Soo: Brechts episches Theater und Lee Jarams Pansori: Vergleichende Lektüre von Der gute Mensch von Sezuan. In: Dokil Munhak (= Deutsche Literatur) 133 (2015), S.153–179, hier S. 159f. 17 Kim, San-hyo: The experiment is very meaningful between tradition and creative art – Lee Jaram’s original Pansori Sacheon-ga. In: Gukakwon-Nonmungip (= Journal of the National Center for Korean Traditional Performing Arts), 26 (2012), S. 81–95.



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Das Zusammentreffen der epischen Elemente aus Brechts Stück und dem koreanischen Pansori ist in Lees Bearbeitung jedoch viel komplizierter und hinterlässt tiefere Wirkungen. Wie schon angedeutet, ist das klassische Pansori bereits sui generis eine ‚epische‘ Gattung. Es besteht aus verschiedenen heterogenen Elementen: aus narrativen Teilen, Gesang und Theater. Darüber hinaus spielt in Sacheon-ga sowohl im erzählenden Aniri-Teil als auch im Gesangsteil Chang die Sängerin allein fünfzehn verschiedene Rollen. Dies entspricht wegen der wechselnden und bewusst nicht vollständig erfolgten Verwandlungen Brechts Konzept des ,Epischen‘, da sich das Publikum in die Figuren nicht restlos einfühlen kann. Zudem distanziert sich die Sängerin auch selbst von den Figuren durch Kommentare, die sie an das Publikum richtet. Anhand einer Analyse der Prologszene lassen sich diese epischen Elemente genauer beobachten: Guten Tag, ich bin die Sängerin Jaram Lee. Früher als Kind (in einer bekannten Fernsehwerbung) war mein Name Yesol, und inzwischen bin ich 30 Jahre alt. Als ich Yesol war, war mein Traum, später eine gute Hausfrau zu werden. Aber mit dem Alter weiß ich nun gar nicht, wie man als guter Mensch leben kann. Nun wird die Sängerin Jaram Lee plötzlich den Ton ändern und die Geschichte erzählen.18

Wenn man diesen Prolog mit Brechts Vorspiel in Der gute Mensch von Sezuan vergleicht, in dem der Wasserverkäufer Wang das Publikum direkt anspricht und sich vorstellt,19 kann man die Konvergenzen und Divergenzen von Lee und Brecht gut erkennen: In Lees Stück folgt der Akt des Sich-Vorstellens als episches Mittel dem typischen Vorstellungsschema des Pansori. Dieser Akt vollzieht sich in drei Stufen: Die Sängerin stellt sich zuerst als Person mit dem persönlichen Namen Jaram Lee vor und erzählt von ihrem Jugendtraum und den Schwierigkeiten, ihn als Erwachsene zu realisieren. Dabei spricht sie nicht nur das Publikum an und versucht, sein Vertrauen zu gewinnen, sondern bezieht auch die Wirklichkeit mit ein, die außerhalb des Pansoristücks besteht. Anschließend kündigt sie selbst ihren bevorstehenden Rollenwechsel von der Privatperson zur künstlerischen Rolle der Sängerin an, um dann in die Figurenwelt des Pansori einzutreten. Dieser Wandel zeigt sich auf sprachlicher Ebene vor allem daran, dass sie von sich selbst nicht mehr als Ich, sondern als Jaram Lee, also in der dritten Person, spricht und auf diese Weise sich von sich selbst distanziert. Später verwandelt sie sich noch

18 Lee: Programmheft, S. 1. 19 „Ich bin Wasserkäufer hier in der Hauptstadt von Sezuan. Mein Geschäft ist mühselig. Wenn es wenig Wasser gibt, muß ich weit danach laufen.“ Brecht, Bertolt: Der gute Mensch von Sezuan. In: ders.: Gesammelte Werke. Herausgegeben von Werner Hecht u. a. Frankfurt a. M. 1989, Bd. 6, S. 177.

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in die verschiedenen Figuren des Stücks, die durch je verschiedene Mimik, Gestik und vor allem in Aniri und Chang stimmlich dargestellt werden. Diese mehrfachen Verwandlungen bewirken, dass sich das Publikum niemals ganz in die Figuren einfühlen kann. Das Publikum wird also aufgrund der multiplen Existenzen der Sängerin in einem Schwebezustand gehalten zwischen der illusionären Kunstwelt und der realen Welt. Noch wichtiger ist aber, dass der Rollenwechsel der Sängerin nicht nur zu einer distanzierenden Haltung im Sinne Brechts führt, sondern im nächsten Schritt eine Mitgefühl provozierende Haltung gegenüber der Sängerin bewirkt. Das Publikum identifiziert sich wegen des wiederholten Rollenwechsels weniger mit den einzelnen Figuren oder theatralischen Szenen, sondern konzentriert sich vielmehr auf die Performance der Sängerin selbst und zeigt dabei eine mitfühlende Haltung. Es ist sich sowohl seiner eigenen Publikumsrolle als auch der Künstlerrolle von Lee bewusst. Im modernen Kunstpansori von Lee sind also die Konzentration auf die Performance der Sängerin und der Charakter der kollektiven Präsenz von Sänger und Publikum verstärkt, da die traditionell vermittelnde Funktion des Trommlers als Dirigent durch den Einsatz mehrerer Musiker abgeschwächt wird. Die Schlussszene ist ebenfalls anders als bei Brecht auf das Mitdenken und Mitfühlen des Kollektivs hin konzipiert, so dass man nicht einfach von einem offenen Ende sprechen kann. Obwohl Lee kein typisch pansoriartiges, problemlösendes Ende bietet, vermittelt die Schlussszene immerhin eine zugleich harsche und witzige Kritik an den inkompetenten Göttern sowie eine Mitgefühl provozierende Wendung, mit der das Publikum eine gemeinschaftsstiftende Katharsis erfahren soll. Die Bösen und Schuldigen werden auf traditionelle Weise durch ein Volksgericht verurteilt, und zwar in der Form eines illokutionären Sprechaktes: Liebe Freunde in dieser Welt. Während ich dies hier erzähle, erblicke ich überall düstere Dinge. Kyunsik, der die Liebende betrügt, soll in der Mitte des Rathausplatzes gehängt werden, wie ein Schwein am Spieß. Erst wenn die arglistige Frau Bang im kochenden Öl wenigstens zehn Sekunden badet, kann ich mir Luft verschaffen. Wenn ich es mir gründlich überlege, so will ich die dumme Sun Deok in einen Graben mit Stacheln werfen, damit sie zur Vernunft kommen kann. Zudem will ich den Schurken Nam Jasu zum Südpol schicken. Herrn B. aus Europa, der diese schlimme Geschichte überall verbreitet, will ich auf die Folterbank bringen. Alle sind mitschuldig. Wie kann man das Leben so oder so beurteilen? Wer weiß, was noch kommt? Die Geschichte geht zu Ende. Auch Ihre Ohren schmerzen sicherlich, Jaram Lees Hals ebenso.20

20 Lee: Programmheft, S. 6.



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Darüber hinaus kann man den Verfremdungseffekt im Pansori mit seinen affektiv orientierten Inhalten, Strukturen und Prozessen finden, die mit dem kollektiven Ereignis verbunden sind. Der Regisseur Lee Yun-Taek, der in Deutschland O gu. Ein Totenritual, ein Theaterstück mit dem Stoff einer schamanischen Totenzeremonie, aufgeführt hat, sagte diesbezüglich, dass der V-Effekt seit jeher in der koreanischen Kultur stark verwurzelt sei.21 Zum Beispiel ist die traditionelle Totenzeremonie nicht einseitig von Trauer geprägt, sondern sie wird auch von entgegengesetzten Affekten bestimmt, so dass man während der Trauerfeier extrem gegensätzliche Gemütsbewegungen erleben und zum Tod eine gewisse Distanz gewinnen kann. Die Familie des Verstorbenen begrüßt zunächst die Gäste, wobei man das sogenannte Gok singt, das Trauerlied der Wiederholungen von „Aigu, Aigu“. Aber der Ort der Zeremonie, meist das Haus des Toten, wird nicht ausschließlich von dieser traurigen Stimmung beherrscht. Denn die Gäste bleiben oft einige Tage lang bei der Familie des Toten, wobei sie trinken, sich unterhalten und ggf. laut und lustig Karten spielen, um über Nacht mit der Familie wach zu bleiben und sie zu trösten. Der Regisseur Lee Yun-Taek sagte einmal: „Ich stelle [in meinem Theater] den Tod als stärksten emotionalen Schock aus der Distanz dar und bin dabei überzeugt, dass ich aus dem Tod ein Spiel machen und als Reaktion darauf Erkenntnisse über das Leben gewinnen kann.“22 Die affektive Struktur des Pansori basiert ebenfalls auf dem wiederholten Wechsel polarer Emotionen, und das Publikum erfährt extreme Gefühlsausschläge: Es lacht bei den Satiren über die Heuchelei der bösen Nachbarn oder der Götter, ist mal traurig über das Unglück der Figuren, dann wieder wütend über die gesellschaftlichen Verhältnisse etc. Da das traditionelle Pansori ohne eine vierte Wand in der gemeinsamen Präsenz von Sängerin, Trommler und Publikum aufgeführt wird und sich das Publikum auf das Zentrum der Aufführung, die Sängerin, konzentriert, ist die affektive Kommunikation sehr intensiv. Das moderne Pansori wird wegen des Mangels an passenden Aufführungsorten oft auf einer Theaterbühne gespielt, aber dabei ist die Aufführung ebenfalls auf die Einfühlung des Publikums in die dargestellten Gefühlslagen der Sängerin ausgerichtet. Die Sängerin stimuliert ihrerseits das Publikum zum Mitdenken, Mitmachen und vor allem Mitfühlen. Sie versucht, die Emotionen des Publikums hervorzulocken, indem sie die leeren Stellen vom Trommler und Publikum mit Chuimsae füllen lässt. Es handelt sich

21 Lee, Yun-Taek: Brecht und koreanisches Theater. In: Brechtwah Hyundae-yeonkeok (= Brecht und das moderne Theater) 6 (1998), S. 109. 22 Ebd.

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um das grundlegende Pansoriprinzip von Leere und Füllung. Dadurch entsteht eine kollektive und kollaborative Wirkung in Bezug auf das Verstehen der realen Verhältnisse, zuerst durch das Erkennen und dann durch das Mitfühlen. Eine Theaterkritikerin berichtete über die Reaktionen des Sacheon-ga-Publikums: „Das Publikum reagiert mit ganzem Körper und allen fünf Sinnen. Das Publikum bewegt den Kopf und Fuß nach dem Rhythmus und lacht, applaudiert und gibt Chuimsae.“23 Man gewinnt durch die affektgeleiteten Bewegungen des Körpers am Ende Distanz zu den Dingen und Verhältnissen. Lees Pansori war im In- und Ausland ein großer Erfolg und wurde zu vielen internationalen Theater- und Performancefestivals eingeladen, so zu dem polnischen International Theatre Festival KONTACT, dem Chicago-World-Music-Festival, dem Théâtre National Populaire, dem Avignon Festival und anderen. Lee selbst erhielt beim polnischen Festival den Preis für die beste schauspielerische Leistung. Ein von Asien angeregtes Schauspiel von Brecht wird in Korea adaptiert und wieder im Westen aufgeführt. Am meisten vermisst Lee an europäischen Aufführungen das Chuimsae. Deswegen möchte sie es dem Publikum beibringen: „Es gibt im Pansori Chuimsae. Durch das Chuimsae des Publikums gewinnt die Sängerin Kraft und Energie. Wollen Sie Chuimsae lernen?“24 Das heißt nicht, dass sie mehr Applaus vom Publikum oder eine bessere Bewertung erwartet, sondern sie wünscht sich die aktive Teilnahme des Publikums an der Aufführung. Denn das Pansori bedeutet ihr: ehrliche, wahrhafte Kommunikation mit meinem Nachbarn im Modus des Hier und Jetzt.25 Der kollektive Ereignischarakter des Pansori ist auch für sie von besonderer Wichtigkeit.

23 Kim, Hyang: Review: Über Sacheon-ga. In: Kongyeonkwuairon (= Performance and Theory) 35 (2009), S. 216–222, hier S. 216. 24 Vgl. Interview von Jaram Lee mit dem Theaterkritiker Su-Hyun Kim über die Aufführungen in Australien. In: http://curtaincall.tistory.com/233 (30. Januar 2017). 25 Kim: Über Sacheon-ga, S. 221.

Peter Goßens

Wunder

Epiphane Ereignisse und Zeugenschaft in Anne Webers Kirio In Wirklichkeit ist nicht zu bestreiten, daß viele Wunder stattgefunden haben […]. Augustinus1

In ihrem jüngsten Roman erzählt Anne Weber von Kirio, der „ein Wunder vollbrachte, ohne es zu merken“ (125).2 Während Kirio in einer Dachkammer des Hauses schlief, versuchte sich ein junger Mann − aus Angst vor einem vermeintlich drohenden Weltuntergang am Ende des alten Jahrtausends – mehrfach durch einen Sprung aus dem sechsten Stockwerk das Leben zu nehmen. Doch „[w]ie durch ein Wunder, nein, durch ein Wunder war er unversehrt geblieben“ (130). Für Boileau, der Kirios Vermieter war und in der Etage unter dem gescheiterten Selbstmörder wohnte, war der Urheber dieses ‚Wunders‘ eindeutig: Ohne Kirio, der sich bei jedem Sprung des Selbstmörders mit allen Kräften gegen die Schwerkraft stemmte, wäre dieser niemals so sachte aufgekommen und das auch zweimal nacheinander. Schon die ersten drei Stockwerke hätte er kaum überlebt, und erst recht nicht die zweiten, von den Messerstichen ganz zu schweigen. Stattdessen hat er, ein paar Wochen später aus dem Krankenhaus entlassen, seine Arbeit als Kindergärtner in der Rue de Crimée wieder aufnehmen können. (134)

Kirio ist eine bemerkenswerte, eine merkwürdige Figur: Kirio war weder besonders groß noch besonders klug noch ausgesprochen schön. Er fiel nicht weiter auf, doch dann fiel er sehr schnell aus der Reihe und nicht selten auch aus der Rolle. Entgegen allen Gesetzen zwischenmenschlicher Perspektive, wurde er immer gewaltiger, je näher man ihm kam. (9)

Er ist eine märchenhafte Phantasiegestalt, die ebenso aus dem Geist der Erzählerin geboren wird wie in der Phantasie ihrer Leser: „Es ist anzunehmen, dass ich im Verfasser dieses Buches ebenso wie in seinem Leser stecke; in Dornröschen,

1 Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate dei). Aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme. München 1978, S. 761 (Buch 22, 8). 2 Weber, Anne: Kirio. Roman. Frankfurt a. M. 2017. Zitate aus dem Roman werden im Fließtext und in den Fußnoten lediglich mit der Seitenzahl nachgewiesen. DOI 10.1515/9783110541854-021

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in Peter Handke und in Karl dem Großen.“ (67) Letztlich, so Anne Weber in einem Gespräch mit ihrem Lektor Sascha Michel, ist Kirio ein „Rätsel“, aber sicher ist: „Er ist ganz ohne Arg. Wahrscheinlich ist er, was man einen guten Menschen nennt, aber er weiß es nicht.“3 Der durch Kirio verhinderte Suizid ist sicherlich das auffälligste Ereignis, von dem im Roman berichtet wird; es wird ausdrücklich als ‚Wunder‘ bezeichnet. Doch auch fast alle anderen Ereignisse, von denen der Roman erzählt, erscheinen in der Sicht der Beteiligten als ‚wunderbar‘: Schon sein erster Schrei als Baby wird zu einem Wunder, auch wenn die kommentierende Erzählerfigur ihre Zweifel hat: Dann stieß es den Schrei aus. Einen Schrei, wie man ihn, außer vielleicht in Büchern, noch von keinem Kind vernommen hatte und der durch das ganze Dorf gellte und bis in die Weinkeller und Dachböden drang. So so, ein Babyschrei. Ein Wunder sieht aber anders aus, oder? Das war auch nicht das Wunder. Das Wunder war, was im Stockwerk darüber geschah oder vielmehr nicht geschah. Und wovon außer mir bis heute keiner erfuhr. (22f.)

Nichts im Leben des Helden erscheint kontingent,4 vielmehr spielt alles einer großen übergeordneten Absicht in die Hände, die in Gestalt von Kirio ,das Gute‘ in die Welt bringt. „Es ist, als würde sein Wesen auf seine Umgebung ausstrahlen, als würde seine Anwesenheit genügen, um das Schlimme abzuwenden.“5 Dabei ist Kirio selbst kein aktiver Held, kein Retter, der bewusst antritt, Wunder zu vollbringen und Gutes zu tun. Vielmehr sind es die Anderen, Außenstehende, die seine Taten wahrnehmen und ihrer Mitwelt von der Besonderheit auch noch des Alltäglichsten berichten. So ist es Boileau, der den Zusammenhang zwischen Kirios unruhigem Schlaf und den wiederholten Suizidversuchen seines Mitbewohners bemerkt und sich entschließt, von diesem Ereignis zu berichten. Auch hier ist es wieder die kommentierende Erzählerinstanz, die Boileau bei seinen Schreibambitionen beobachtet: Boileau hat große Ambitionen, aber eine kleine – fast schon keine – Phantasie. Come on, Boileau! Stürz dich ins Leere! Morgen werden die Zeitungen voll von dir sein, übermorgen

3 Anne Weber im Gespräch mit ihrem Lektor Sascha Michel. In: http://www.fischerverlage.de/ interview/anne_weber_im_gespraech_mit_ihrem_lektor_sascha_michel/2642697 (1. März 2017). 4 „Gewiss werden sich Leute finden, die in einem solchen Ereignis einen Zufall (mich am Werke?) sehen. Ist dann aber nicht alles Zufall, was geschieht? Denn genauso gut könnte das Kind rein zufällig nicht geschrien haben und der Schädel der Mutter folglich gespalten worden sein. Der Zufall ist eine der schönsten Einrichtungen, die wir haben, behaupte ich.“ (23) 5 Weber im Gespräch.

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wird die Académie française dir einen Degen an den Gürtel hängen, und falls es in fünfzig Jahren noch Briefmarken geben sollte, wird dein Gesicht sie zieren. Kirio hat schon größere Wunder vollbracht als dieses. Also schreib! … Gut, der erste Satz ist eine Hürde. (148)

Boileaus erster Satz schließlich ist ein Zitat – er greift auf den ersten Satz aus Marcel Prousts À la recherche du temps perdu zurück, ebenfalls ein Text voller Epiphanien; danach gerät er zumindest vorläufig in eine Schreibkrise: „Lange bin ich früh schlafen gegangen“, schreibt er. Lange bin ich früh schlafen gegangen! Ich glaub’s nicht. Aber wie gesagt, er hat wenig Phantasie. Übrigens fürchte ich, dass dies nicht nur sein erster, sondern auch sein letzter Satz gewesen ist, denn er hebt schon wieder den Kopf und sieht eine ganze Weile lang nicht so aus, als wüsste er, wie es weitergehen soll. (148)

Nicht nur der erste Satz, auch Boileaus Schreibkrise findet sich in Prousts Recherche wieder, dessen Held Marcel erst dann das erste Mal zum Schreiben findet, als sich die Ansicht der Kirchtürme von Martinville für ihn von einem äußerlichen Objekt zu einer dynamischen Form entwickelt und er vom Gefühl der Ohnmacht befreit wird, nicht selbst schreiben zu können. Die Passage vom Ende des ersten Teils der Recherche setzt folgendermaßen ein: Combien depuis ce jour, dans mes promenades du côté de Guermantes, il me parut plus affligeant encore qu’auparavant de n’avoir pas de dispositions pour les lettres, et de devoir renoncer à être jamais un écrivain célèbre.6

Während die direkte Auseinandersetzung mit seiner Umwelt Marcel jede Hoffnung nimmt, das Wahrgenommene in einen Kontext zu stellen und ihm damit eine Form von abstrakter Wahrheit geben zu können, löst die nachfolgende Kutschfahrt bei dem Jungen das Bewusstsein für einen größeren Zusammenhang aus, bei dem sich nun die anderen wahrgenommenen Details − die Kirchtürme, die Lichtreflexe auf einem Stein, ein Dach, ein Glockenton, aber auch der Duft von Blättern – mit dem Formenspiel der Kirchtürme verbinden: En constatant, en notant la forme de leur flèche, le déplacement de leurs lignes, l’ensoleillement de leur surface, je sentais que je n’allais pas au bout de mon impression,

6 Proust, Marcel: À la recherche du temps perdu. Édition publiée sous la direction de Jean-Yves Tadié. Nouvelle Edition. Tome 1: Du côté de chez Swann. Paris 1987, S. 176.

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que quelque chose était derrière ce mouvement, derrière cette clarté, quelque chose qu’ils semblaient contenir et dérober à la fois.7

Für Marcel bleibt die Ansicht der Türme von Martinville jedoch nicht nur ein optischer Eindruck. Vielmehr bricht die äußere Form der Türme in seiner epiphanen Wahrnehmung auseinander und führt zu einer Form sprachlichen Ausdrucks, die den Helden rauschartig gefangen nimmt: [J]’eus une pensée qui n’existait pas pour moi l’instant avant, qui se formula en mots dans ma tête, et le plaisir que m’avait fait tout à l’heure éprouver leur vue s’en trouva tellement accru que, pris d’une sorte d’ivresse, je ne pus plus penser à autre chose.8

Diese Erfahrung ist es nun, die Marcel in die Lage versetzt, seine vielfältigen Eindrücke, die er rational nicht verarbeiten konnte, zu einem „petit morceau“ Prosa werden zu lassen, das Proust im Anschluss an die folgende Passage als Zitat wiedergibt: Sans me dire que ce qui était caché derrière les clochers de Martinville devait être quelque chose d’analogue à une jolie phrase, puisque c’était sous la forme de mots qui me faisaient plaisir, que cela m’était apparu, demandant un crayon et du papier au docteur, je composai malgré les cahots de la voiture, pour soulager ma conscience et obéir à mon enthousiasme, le petit morceau suivant que j’ai retrouvé depuis et auquel je n’ai eu à faire subir que peu de changements […].9

Auch bei Boileau dauert die Schreibkrise nur kurze Zeit an, dann gelingt es ihm, den Bericht über seine Begegnung mit Kirio, seine Epiphanie, aufzuschreiben, so dass sich auch der kommentierende Erzähler bei Anne Weber aus der Erzählung zurückzieht: „Dann aber klappert er munter los, und von jetzt an will ich ihn, auch wenn es mir schwerfällt, kommentarlos klappern lassen.“ (148) Die erzählte Geschichte ist schließlich nicht weniger als der Bericht einer Bekehrung, in der Boileaus Realitätswahrnehmung angesichts seines Mieters Kirio und dessen Umwertung aller Werte der kapitalistischen Gesellschaftsordnung seinerseits ins Wanken gerät: Wir seien alle hoch verschuldet, war seine Antwort. Verstehe, sagte ich höhnisch. Die Schuldenkrise! Genau, sagte er. Die Schuldenkrise. Ich möge im Übrigen beachten, dass ich nicht nur bei den Menschen in der Schuld stünde, die ärmer seien als ich, sondern dass ich auch denen

7 Ebd., S. 178. 8 Ebd. 9 Ebd., S. 179.

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Freundlichkeit schulde, die weniger freundlich seien als ich. Was aber meinen Schuldenberg nicht wesentlich vergrößern dürfte. Bei letzterem Satz hatte Kirio ein Lächeln auf den Lippen, von dem ich noch unfreundlicher wurde. Das sei aber noch nicht alles. Auch bei den Tieren stünde ich in der Schuld, sagte er. Bei welche Tieren?, wollte ich wissen. Bei allen. Bei allen. Natürlich. Klar. Und bei den Steinen, sagte er. Ich wollte es aufgeben und den armen Irren stehen lassen. Stattdessen ging ich an seiner Seite die Straße herunter und machte mich weiter über seine Reden lustig, aber es war, als verschickte ich Papierpfeile: Er merkte nichts davon oder reagierte jedenfalls nicht darauf. Da kippte plötzlich etwas in mir um, und ich sagte: Kirio! Du wirst meine erste gute Tat. (151)

Boileaus Wandlung vom zynischen Vermieter zum ‚guten Menschen‘ ist, wie auch Marcels veränderte Wahrnehmung der Türme von Martinville, ein Ereignis, dem typische Elemente einer epiphanen Erfahrung zugrunde liegen. Die Darstellung einer solchen epiphanen Erfahrung ist dabei ästhetisch überformt, es geht nicht um die wirklichkeitsgetreue Wiedergabe eines bestimmten Ereignisses, sondern um dessen rhetorisch überzeugende Inszenierung im Sinne einer bestimmten Darstellungskonvention. Rainer Zaiser findet in der Martinville-Episode bei Proust einen entscheidenden Schlüssel, um die Funktion der mémoire involontaire jenseits der gängigen Erinnerungsmodelle mit dem Konzept der Epiphanie zu beschreiben.10 Ein zentrales Kennzeichen epiphaner Ereignisse liegt für ihn in der Wechselwirkung zwischen einem Geschehen, einem Ereignis, einerseits und dem unvermittelten Erleben, der Wahrnehmung dieses Ereignisses durch ein Subjekt andererseits. Als wesentliche Strukturmerkmale der Epiphanie sieht Zaiser, dass eine epiphane „Erfahrung […] plötzlich und unerwartet“ auftritt und „das erlebende Subjekt in einen außergewöhnlichen Glückszustand“ versetzt. Hinzu kommt aber, dass das epiphane Ereignis als solches von kurzer Dauer ist. Das Subjekt hat dagegen das Gefühl „an der Ewigkeit teilzuhaben“ und in dieser Vision eine Form von ‚Erleuchtung‘ zu erfahren. Die „aus der Erfahrung gewonnene Erkenntnis verweist auf ein transzendentes Ziel, allerdings auf keinen religiösen oder metaphysischen Ort, sondern auf ein künstliches Paradies, auf die ästhetische Vollendung des Lebens in einem literarischen Werk“.11

10 Zaiser, Rainer: Die Epiphanie in der französischen Literatur. Zur Entmystifizierung eines religiösen Erlebnismusters. Tübingen 1995, S. 309–317, hier bes. S. 311. 11  Ebd., S. 278f.

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Der Ereignisstatus der Epiphanie, das hat Hans-Ulrich Gumbrecht betont, findet gerade in der ästhetischen Transformation seinen Ausdruck. Gumbrecht beschreibt die Ereignishaftigkeit der Epiphanie folgendermaßen: Schließlich gibt es drei Aspekte, unter denen dem Element der Epiphanie während des ästhetischen Erlebens der Status eines Ereignisses zukommt. Erstens wissen wir nie, ob und wann es zu einer solchen Epiphanie kommen wird. Zweitens können wir, wenn sie stattfindet, nicht voraussagen, welche Form sie annehmen und wie intensiv sie sein wird: Es gibt keine zwei identischen Blitze und kein Konzert, das ein und dieselbe Partitur mit dem gleichen Klangvolumen umsetzen würde wie ein anderes. Vor allem aber ist die Epiphanie ästhetischen Erlebens ereignishaft, weil sie in ihrem Entstehen zugleich vergeht.12

Auch wenn das epiphane Erleben eines Kunstwerkes wie die Erfahrung eines religiösen Ereignisses vergänglich ist, wird das zufällige und in seiner erlebbaren Intensität wechselhafte Ereignis erst durch seine Materialisierung in Form eines Kunstwerkes bzw. eines literarischen Textes als Gegenstand epiphanen Erlebens nachvollziehbar. Die ereignishafte Epiphanie ist somit einerseits der Ursprung einer bestimmten, womöglich metaphysischen Erfahrung, aber zugleich auch der Ausgangspunkt seiner Materialisierung, in der Spuren dieser Erfahrung ihren Ausdruck finden. George Steiner fasst dieses komplexe Zusammenspiel folgendermaßen zusammen: Der Künstler und der Dichter und der Musiker übersetzen diese Erkenntnis in lebendige und gelebte Form. Sie erheben das Postulat auf Metaphysik, wobei sich das Metaphysische auch auf das Religiöse ausdehnt. Die „Verifikationstranszendenz“, die das zur Folge hat, ist eine Disziplin des Nichtwissens. Sei es in spezifisch religiösem, für uns jüdisch-christlichem Sinne oder in der allgemeineren platonisch-mythologischen Gestalt, die Ästhetik ist formgewordene Epiphanie. Es „schimmert etwas durch“.13

Auch Boileaus Bericht von einer Begegnung mit Kirio entspricht diesem Modell einer epiphanen Erfahrung: Das Verhältnis der beiden wandelt sich, als Boileau Kirio als besonders guten Menschen erkennt. Von dieser Erfahrung geht die Verwandlung Boileaus aus, der als einer der ersten Außenstehenden an die besonderen Qualitäten Kirios glaubt und zu einem ‚Jünger‘ im neutestamentlichen Sinne wird.

12 Gumbrecht, Hans Ulrich: Präsenz. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Jürgen Klein. Frankfurt a. M. 2012, S. 346. 13 Steiner, George: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Mit einem Nachwort von Botho Strauß. Aus dem Englischen von Jörg Trobitius. München 1990, S. 294.

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Doch erst das Erlebnis des konkreten Wunders der Suizid-Vermeidung löst in ihm, der als Schreibender eigentlich kein besonderes Talent hat, das Verlangen aus, von der Wundertätigkeit Kirios zu berichten. Allerdings schreibt Boileau, ganz im Sinne der Epiphanie, nicht von dem konkreten Erlebnis des Wunders, sondern von seiner eigenen Bekehrung, die er rhetorisch im Koordinatensystem der epiphanen Erfahrung ansiedelt. Er berichtet von der Plötzlichkeit, mit der sein Bild von Kirio sich verändert hat, und er selbst zum Propheten des Glücks und der Freundlichkeit wird, er betont die übernatürliche Entrückung des Wundertätigen, die sich einer gewöhnlichen Weltwahrnehmung entzieht, und markiert den erfüllenden Augenblick, in dem er seinen eigenen Fehler erkennt und ‚erleuchtet‘ wird. Für diese Erfahrung versucht Boileau eine rhetorisch wie ästhetisch angemessene Form zu finden, die sich äußerlich an Prousts Modell eines epiphaniebedingten Schreibens orientiert. Anders als James Joyce, der die Epiphanie zwar als literarisches Element entdeckt, aber daraus keinen „transzendenten Zusammenhang mit einem sinnsetzenden Prinzip“14 ableitet, ist Proust ein Autor, bei dem die epiphane ‚Erfahrung‘ zur „unmittelbare[n] Wirklichkeitserfahrung“15 wird und damit die Wahrnehmung der Welt in ästhetischer Weise verändert. Daher lautet die zentrale, zugleich auch abschließende Frage, die sich mit dem transzendenten Ziel der epiphanen Erfahrung im Kunstwerk verbindet und die auch der Erzähler in Anne Webers Text stellt: „Wie war es also in Wirklichkeit?“ (216) Anders als in Formen des realistischen Erzählens steht die Erzählung des epiphanen Ereignisses vor der Schwierigkeit, dass sie eine nichtsprachliche Erfahrung, ein ‚Nichtwissen‘ in Rede übertragen muss, ohne dass ein konkretes Handlungsmoment oder ein vornehmlich konkreter Wirklichkeitsbezug zum Tragen kommt. Schon die Erzähltheorie hat darauf hingewiesen, dass bei der Erzählung von Ereignissen keine normalen Formen mimetischer Unmittelbarkeit zu finden sind, sondern dass der ‚Realitätseffekt‘ gerade durch den Verzicht auf herkömmliche narrative Strukturen erzeugt wird.16 Die Darstellung der Wirklichkeit eines Ereignisses gewinnt ihre authentische Gegenwärtigkeit durch Formen der Unschärfe und eine multiperspektivische Fokalisierung, die sich gegen die herkömmlichen Vorstellungen von ‚Sinn‘ als Modell einer Ordnung in der Wirklichkeit stellt. Roland Barthes hält in diesem Sinne fest: La „représentation“ pure et simple du „réel“, la relation nue de „ce qui est“ (ou a été) apparait ainsi comme une résistance au sens; cette résistance confirme la grande opposition

14 Zaiser: Epiphanie, S. 372. 15 Ebd., S. 373. 16 Vgl. Martínez, Matías / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 9., erweiterte und aktualisierte Aufl. München 2012, S. 53.

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mythique du vécu (du vivant) et de l’intelligible; il suffit de rappeler que dans l’idéologie de notre temps, la référence obsessionnelle au „concret“ (dans ce que l’on demande rhétoriquement aux sciences humaines, à la littérature, aux conduites) est toujours armée comme une machine de guerre contre le sens, comme si, par une exclusion de droit, ce qui vit ne pouvait signifier – et réciproquement.17

Gerade um dieses Element der Unschärfe bei der Wahrnehmung des Realen, des ‚Hindurchschimmerns‘ einer anderen Form von Gegenwart, wie George Steiner sagt, geht es auch Anne Weber. Auch wenn die Erzählung von der Bekehrung Boileaus den Anschein erweckt, sie handele von einem realen Ereignis, so ist ihr, genau wie den anderen erzählten Wundern, nichts Intelligibles eigen: Bei Boileau „kippte plötzlich etwas“. Ebenso wird das Wunder des Babyschreis und das Wunder der Suizid-Verhinderung, die von jeweils anderen Erzählern berichtet werden, als entscheidender Moment einer Veränderung bemerkt, ohne dass diese Veränderung konkret mit einer allgemein wahrnehmbaren Handlung Kirios in Verbindung steht. Vielmehr sind es ausschließlich die Erzähler, die von diesem Geschehen berichten. Die Person Kirio gerät dabei zunehmend aus dem Feld der Wahrnehmung, obwohl ihn die Erzähler als besonderen Menschen erkennen und Boileau dessen Wundertätigkeit in seinem Bericht als εὐαγγέλιον zu fixieren versucht. Diese Unschärferelation ist in der Struktur von Anne Webers Roman selbst angelegt. Denn die Autorin erzählt das Leben ihres Helden nicht in Form eines kohärenten Narrativs, sondern entwickelt den Roman Kirio als ein sich stetig weiter in den Dimensionen der Unschärfe verlierendes Spiel, bei dem sowohl die kommentierende Erzählinstanz als auch der Leser den sicheren Boden der Kohärenz unter den Füßen verlieren und auch der Held der Geschichte selbst am Ende verschwindet. Um ihre Geschichte zu erzählen, gliedert Weber die Erzählung von Kirio in zwei Ebenen, auf denen zum einem nach dem Subjekt des Geschehens, nach dem ‚Wer‘, zum anderen nach dem Modus, nach dem ‚Wie‘ des Geschehenen gefragt wird. Der Bericht vom verhinderten Suizid ist Teil dieser zweiten, modalen Erzählebene; er findet sich in einem Kapitel, das schon mit dem Titel fragt, „Wie Kirio ein Wunder vollbrachte“ (125, Hervorhebung P. G.). Andere Kapitel dieser modalen Ebene berichten zunächst von alltäglichen Geschehnissen aus dem Leben des Heiligen, angefangen bei der gattungstypologisch impliziten ‚Verkündigung‘ durch einen Telefonanruf bei der Mutter Kirios, die sich selbst auch als „Erzählerin Number One“18 bezeichnet:

17 Barthes, Roland: L’effet de réel. In: Communications 11(1) (1968), S. 84–99, hier S. 87. 18 Zu Beginn des Kapitels heißt es: „Bonjour! (Dies ist nicht Kirio speaking, sondern myself, die Erzählerin Number One).“ (11)

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Am Morgen meines siebenunddreißigsten Geburtstags bekam ich einen Anruf. […] Haben Sie mir eine gute oder schlechte Nachricht zu verkünden? […] Sie werden einen Apfel bekommen, der steigt. […] Neun Monate später kam Kirio zur Welt. (12f.)

In diesem Kapitel mit dem Titel „Wie Kirio den Schatten der Welt erblickte (und wie dieser Licht für ihn war)“ vollbringt Kirio auch sein erstes Wunder, die Verhinderung des „Matrizids“ (24) durch seinen ersten Schrei. Die nachfolgenden „Wie“-Kapitel berichten von weiteren Stationen seines Lebens, dem allmählichen Sichtbarwerden seiner Person bis hin zum Wunder der Suizidverhinderung: aus immer neuen Perspektiven wird von seiner Schulzeit, seiner Pubertät und den ersten Erfahrungen seines Lebens in der Stadt berichtet.19 Auf die „Erzählerin Number One“ folgen andere Erzähler; Weber inszeniert ihren Text als multifokales Nebeneinander verschiedener Erzählstimmen, die von den Ereignissen aus dem Leben Kirios berichten. Nach dem jeweiligen Bericht verliert sich ihre Spur, genau wie die Spur des Helden aus dem Blick gerät. Die Erzählungen der modalen Reihe nach dem ‚Suizid-Wunder‘ kommen dann teilweise ohne den Helden aus: „Wie Kirios Geschichte ohne Kirio klingt“ (163) heißt das darauf folgende Kapitel. Im Kapitel „Wie das Fernsehen um Kirio kam“ (187) verschwindet der Held in einem „schwarzen Loch […] ungefähr so tief wie der Kaninchenbau in Alices Wunderland“ (195), so dass ihn schließlich im darauffolgenden „Wie“-Kapitel nicht einmal der Tod in der Märchenstadt Hanau wiederfinden kann: „Wie der Tod Kirio nicht fand“ (207). Das zunehmende Entschwinden des Helden korrespondiert mit der zweiten Erzählebene, auf der der Verlauf der Erzählung mit eingeschobenen exegetischen Reflektionen über die Person Kirios, aber auch über die Rolle des Erzählers durchbrochen wird. Doch auch den Fragen danach, wer Kirio ist, gelingt es nicht, die Wahrnehmung des Objekts zu verschärfen − im Gegenteil: schon die Kapitelüberschriften, die vordergründig als Sprachspiel daherkommen, machen die wachsende Unschärfe in der Wahrnehmung des Helden deutlich. Während das erste Kapitel noch selbstbewusst „Who’s who“ (7) fragt, heißt es im dritten Kapitel „Hu’s hu“ (21). Schließlich transformiert die Frage nach der Person dann zu einem Schemen: „Hu!“ (43), „Hu? Anyone in there?“ (65), „Hu? Winter?“ (103), dann zu einem überraschenden Wiederauftreten des Protagonisten: „Juhu! / ‚Es gibt mich doch.‘“ (135) und mündet schließlich in seinem Verschwinden: „Uhu“ (155), „Pirou“ (171), „Hanau“ (197) in der unendlichen Realitätsfiktion eines Kinderspiels:

19 Die Titel der Kapitel lauten: „Wie Kirio das Lycée abbrach (und nicht abriss)“ (31), „Wie das weibliche Geschlecht Kirio entdeckte“ (49), „Wie Kirio die Stadt eroberte“ (85).

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Der kleine Tänzer stellte sich vor Kirio, Kirio stellte sich vor den kleinen Tänzer, der kleine … Dann war der Kreis, in dem die beiden eben noch gefangen waren, leer. Mind the gap! Eine Ringeltaube pickte die Reiskörner auf. (217)

Auch wenn es dieser Schluss anders nahelegt: Es sind nicht die Märchen der Brüder Grimm oder von Lewis Caroll, die Pate für dieses Buch gestanden haben, sie sind nur ein Teil des postmodernen detektivischen Spiels („Mind the gap!“), das sich Anne Weber mit dem Leser, aber auch mit dem Roman als Gattung erlaubt: Wer bin ich? Vielleicht wird es sich im Laufe dieser Geschichte herausstellen. Im Moment wüsste ich es selbst nicht mit Gewissheit zu sagen. Aber ich habe die Hoffnung, einem Detektiv in die Hände gefallen zu sein. Einem Leser mit detektivischen Gespür. Und am besten einem ebensolchen Autor. (7)

Wie schon in anderen ihrer Bücher, etwa dem „bürgerlichen Trauerpuppenspiel“ August,20 greift Weber auch bei Kirio auf ein altes Gattungsmodell zurück, dass sie – anders als andere moderne Texte – nicht nur im Titel anzitiert,21 sondern strukturell zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit macht. Im Interview mit ihrem Lektor spricht Weber sehr ausführlich von der Vorlage, die ihrer ‚wunderbaren‘ Geschichte von Kirio zugrunde liegt. Anders als es die Eingangspassage ihres Buches glauben machen kann, ist es kein Detektivroman, auch wenn ein Autor von Kriminalromanen – Gilbert Keith Chesterton – einen nicht unerheblichen Einfluss auf sie ausgeübt hat. Doch um von ihrem Helden zu erzählen, hat sich Anne Weber an einem der ältesten Erzählmuster orientiert, in denen die Wahrheiten und Scheinbarkeiten einer hagiographischen Chimäre zu einem glaubhaften bzw. einem vom Leser oder Zuhörer zu glaubenden Text werden: [I]m Grunde folge ich ja fast in allem der Vorgehensweise der klassischen Heiligenvita, […] und das auch noch chronologisch: Es beginnt mit Kirios Kindheit, vielmehr beginnt es noch vor seiner Kindheit mit der Verkündigung seiner Geburt (bei mir allerdings über das Telefon), es geht weiter mit seiner Jugend und Schulzeit und schon sehr früh mit den von ihm vollbrachten Wundern und Rettungen. Eine der Abweichungen ist, dass Kirio nicht missionarisch tätig wird, ganz einfach deshalb, weil er keine Religion hat, die er verbreiten will, er ist ja gewissermaßen ein religionsloser Heiliger. Darin besteht natürlich die größte

20 Weber, Anne: August. Ein bürgerliches Trauerpuppenspiel. Frankfurt a. M. 2011. 21 Vgl. etwa Plenzdorf, Ulrich: Die Legende von Paul und Paula. Filmerzählung. Frankfurt a. M. 1974; Timm, Uwe: Der Mann auf dem Hochrad. Legende. Köln 1986 sowie: Mädler, Peggy: Legende vom Glück des Menschen. Roman. Berlin 2011.

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‚Abweichung‘. Aber ansonsten bin ich mehr oder weniger den Stationen eines ‚gewöhnlichen‘ Heiligenlebens gefolgt. Auch wenn das Ergebnis dann bei mir trotzdem ein bisschen anders aussieht.22

Schon die für Anne Weber bedeutendste intertextuelle Vorlage, die Legenda aurea des Jacobus de Voragine, gewinnt ihre hagiographische Authentizität dadurch, dass sie sich auf theologisch geprüfte Quellen beruft und damit nicht unbedingt wahr, aber zumindest wahrhaftig, auf jeden Fall aber glaubhaft wird.23 In der Legende erhält das vermeintlich Unglaubwürdige seine diskursive Beglaubigung gerade durch die andauernde Bestätigung der epiphanen Erscheinung durch einzelne Zeugen, die glaubhaft von ihrer individuellen Erfahrung berichten und damit ihrer Mit- und Nachwelt die Wundertätigkeit des Heiligen oder eben auch das Wunder selbst aus unterschiedlicher Perspektive mitteilen. Dabei steht nicht die Wahrhaftigkeit bzw. die Realität des Zeugnisses zur Diskussion, vielmehr wird die Authentizität der epiphanen Erscheinung durch die Erzählung der Augenzeugen theologisch verifiziert, ohne dass das jeweilige Geschehen in sich real oder wahr sein muss. Immer wieder greifen die Autoren von Legenden dabei auf das Modell einer multifokalen Zeugenschaft zurück. Schon Jacobus de Voragine stützt seine Sammlung auf zahlreiche Quellen und nennt diese Vorgänger als Belege und damit verifizierende Zeugen in seinem Text. Als Kanon verschiedener Zeugnisse steht die Legenda aurea damit in der christlichen Tradition, die für die Heiligsprechung eines Menschen die Beglaubigung des epiphanen Ereignisses und damit seiner Wundertätigkeit durch Augenzeugen zur Bedingung macht. Am Beginn dieser Tradition epiphaner Zeugenschaft steht der Bericht von der Auferstehung Christi im Johannesevangelium (Joh. 20, 1–18), bei der zunächst drei Augenzeugen das leere Grab in Augenschein nehmen und das Wunder nicht erkennen, da sie den theologischen Kontext nicht herstellen können. Nach Maria Magdalena kamen Simon Petrus und der sog. Lieblingsjünger, ein beispielhaft Glaubender, zum Grab: Da kam Simon Petrus ihm nach und ging hinein in das Grab und sieht die Leinentücher liegen, und das Schweißtuch, das auf Jesu Haupt gelegen hatte, nicht bei den Leinentüchern, sondern daneben, zusammengewickelt an einem besonderen Ort. Da ging auch der andere Jünger hinein, der als Erster zum Grab gekommen war, und sah und glaubte. Denn

22 Weber im Gespräch. 23 Vgl. Häuptli, Bruno W.: Einleitung. In: Jacobus de Voragine: Legenda aurea. Goldene Legende. Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar von Bruno W. Häuptli. Freiburg im Breisgau / Basel / Wien 2014, S. 13–67, hier S. 26f.

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sie verstanden die Schrift noch nicht, dass er von den Toten auferstehen müsste. Da gingen die Jünger wieder zu den anderen zurück. (Joh. 20, 7–10)24

Erst als Maria Magdalena das Grab zum zweiten Mal aufsucht, wird ihr das Wunder durch zwei Engel und Jesus selbst erfahrbar gemacht. Anschließend ist sie in der Lage, den Jüngern von der Epiphanie des auferstandenen Jesus und seinen Worten zu berichten: „Maria Magdalena geht und verkündigt den Jüngern: ‚Ich habe den Herrn gesehen‘, und was er zu ihr gesagt habe.“ (Joh. 20, 18) Auch hier sind es mehrere Zeugen, die von dem Ereignis berichten können, aber erst durch ihre epiphane Engelserscheinung gewinnt die Zeugin Maria Magdalena die Möglichkeit, von den metaphysischen Dimensionen des Ereignisses zu sprechen. Damit wird aus dem Bericht über das leere Grab die Darstellung einer Epiphanie, deren Wahrheitsgehalt durch eine theologische bzw. metaphysische Dimension – hier die Engel und Jesus selbst, der mit Maria Magdalena spricht – beglaubigt ist. Die rhetorischen und strukturellen Fiktionalisierungstendenzen, die wir u. a. bei Proust, aber eben auch in der Erzählung Boileaus kennengelernt haben, tun dem Wahrhaftigkeitsanspruch der Legende dabei keinen Abbruch. Die „Legende als Lesetext“, so Bruno W. Häuptli, „erhebt grundsätzlich einen Wahrheitsanspruch, auch wenn dieser in groteskem Mißverhältnis zum Wahrheitsgehalt steht. Zweifel am beanspruchten Wahrheitsgehalt von Legenden besteht grundsätzlich nicht, die Bezeichnung hebt sie lediglich als Lesetext ab von Kirchengeschichten und Chroniken.“25 Die Erzählung über das Leben der Heiligen ist historisch vielmehr dazu gedacht, dem mythologisch geprägten Denken der Spätantike eine eigenständige christliche Mythologie an die Seite zu stellen.26 Die Legenda aurea ist in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts (ca. 1264) entstanden und integriert das Leben der mythischen Heiligen seit dem Tode Christi in den Verlauf des Kirchenjahres. Damit stellt sie der biblischen Zeitstruktur in Form der Märtyrer- und Heiligengeschichten eine menschliche Glaubenshistoriographie an die Seite. Wesentlich für die Rezeption der Legendensammlung ist ihre Funktion als Lese- bzw. Vorlesetext während der christlichen Andachten, um den Gläubigen ein Vorbild für die Sinnhaftigkeit ihres Glaubens zu geben: „Man liest es den Leuten vor, damit sie glauben, aber würde man es ihnen nicht vorlesen, glaubte man nicht daran.“27 Insofern ist der Anspruch an die theologische Wahrhaftigkeit

24 Zitiert nach: Die Bibel. Nach Martin Luthers Übersetzung. Lutherbibel, Revidiert 2017. Mit Apokryphen. Stuttgart 2016. 25 Häuptli: Einleitung, S. 27. 26 Nickel, Rainer: Nachwort. In: Jacobus de Voragine: Legenda aurea. Lateinisch / Deutsch. Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Rainer Nickel. Stuttgart 1988, S. 269–280, hier S. 272. 27 Augustinus: Vom Gottesstaat, S. 761 (Buch 22, 8).

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zwar vorderhand gegeben, im Zentrum steht jedoch die Einordnung des Geschehenen in ein christliches Heilsgeschehen, in dem dann auch das Unwahrscheinliche als letztlich göttliches Wunder angesehen werden kann. Ein wesentlicher Zweck der Legende ist also das Sprechen über eigentlich Unaussprechbares, über das Wirken einer höheren Macht, über Gottes Wirken in der Welt und am Menschen. In der Legende erhält die Unbegreiflichkeit dieses Wirkens ihren Sinn, den der Leser oder Hörer erkennen und angenehmen soll.28

Ähnlich ist es auch bei Anne Weber, die mit Kirio das Bild eines „seltsamen Heiligen“ geschaffen hat, der nicht das Streben nach Heiligkeit und damit der Zugehörigkeit zu einer höheren metaphysischen Vorstellung verfolgt, sondern sein Wirken in einer authentischen Gegenwärtigkeit lebt: „Er ist gut. Er kann nicht anders. Er folgt keinen Dogmen und keinen Riten, sondern einfach seiner arglosen, in gewisser Weise unschuldigen Natur.“29 Anne Webers Heiliger ist damit ein Heiliger im modernen Sinne: Seine Gestalt ist angelehnt an die Heiligenfiguren der Kirchengeschichte, ohne dass er selber zu einem solchen Heiligen wird. Vielmehr, auch darauf hat Weber hingewiesen, ist seine Hagiographie konzeptionell an die Vorstellungen angelehnt, die Gilbert Keith Chesterton in seinem Buch über Franz von Assisi entworfen hat. Für Chesterton gab es drei Modelle der modernen Heiligengeschichte: Neben der Profanierung zu einem „menschenfreundlichen Helden“,30 die den religiösen Aspekt weitgehend ausblendet, nennt er als Gegenmodell die religiöse Überhöhung, die allerdings für ‚normale‘ Sterbliche kaum verständlich ist, denn es „bedürfte eines Heiligen, um das Leben eines Heiligen“31 aus dieser Perspektive zu beschreiben. Und schließlich gibt es ein drittes Modell, bei dem sich der Verfasser „in die Lage des durchschnittlichen modernen Außenstehenden und Fragenden“32 versetzt. Er kann von dem Standpunkte eines Mannes ausgehen, der den heiligen Franziskus bereits bewundert; aber nur um jener Dinge willen, welche ein solcher Mann bewundernswert findet. Mit anderen Worten, er kann voraussetzen, dass der Leser mindestens ebenso aufgeklärt ist wie Renan oder Matthew Arnold, und im Lichte dieser Aufklärung mag er vielleicht versuchen, das zu beleuchten, was Renan und Matthew Arnold dunkel gelassen haben. Er

28 Nickel: Nachwort, S. 271. 29 Weber im Gespräch. 30 Chesterton, Gilbert Keith: Der heilige Franziskus von Assisi. Übertragen von J. L. Benvenisti. München 1927, S. 6. 31  Ebd., S. 7. 32  Ebd.

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kann versuchen, das, was verstanden wird, zu benutzen, um das, was nicht verstanden wird, zu erklären.33

Anne Weber ist einen vierten Weg gegangen: Das Verstehen ihres Heiligen in einer kohärenten Geschichte, in der ein ‚aufgeklärter‘ Erzähler seine Perspektive auf den Heiligen darlegt, hat sie zugunsten einer multipolaren diskursiven Offenheit suspendiert. Ihre Heiligengeschichte stellt nicht nur den Lebensweg des Heiligen aus der Perspektive mehrerer Erzähler vor, sondern lässt auch die metaphysische Relevanz seiner Wunder als eine Folge der individuellen Besonderheit Kirios erscheinen. Eine zentrale übergeordnete Erzählinstanz wird dabei Kommentator einer Geschichte, in der sie einerseits zwar mit der Stimme des Autors als extradiegetischer Erzähler spricht, andererseits aber auch die Arbeit des Autors kritisch in Frage stellt und sich damit noch weiter der diegetischen Struktur entzieht. Daher sind es eigentlich die Stimme dieses Erzählers und der Ort, an dem er lokalisiert werden kann, worauf sich Anne Webers Nachforschungen in Kirio richten. Hier wird ein Heiliger beschrieben, der staunt und staunen macht, ein „Jongleur de Dieu“, kein verbissener Fanatiker, sondern ein fröhlicher Mensch, ein Spieler, der schon deshalb kein Langweiler ist, weil er einen radikal anderen Blick auf die Welt hat als andere Leute, weil er die Welt auf den Kopf stellt.34

Der Erzähler ist der eigentliche Heilige, ein Spieler, der alle Fäden in der Hand hat, nach dem der Roman schon im ersten Satz fragt: „Wer bin ich?“ und der den Leser am Ende erstaunt zurück lässt: „Und am Ende werden wir alle wissen, mit wem oder was wir es zu tun haben.“ (7)

33 Ebd., S. 7f. 34 Weber im Gespräch.



Wirkungen

Martin Sexl

Lektüreereignisse Lesen als ästhetische Erfahrung Mit dem Begriff Ereignis wird an dieser Stelle – teilweise abweichend vom alltäglichen Sprachgebrauch – ein Geschehen bezeichnet, das man beobachten kann, das einem vor Augen tritt, das eräugt werden kann. Ein Ereignis findet als einzelnes Vorkommnis statt, es passiert und stößt einem gleichsam zu, ohne dass man die (völlige) Kontrolle darüber gewinnen könnte. Das Ereignis ist, und hier wird Jacques Derrida gefolgt,1 ein singuläres, individuelles und nicht wiederholbares Geschehen, das nicht in einer Struktur aufgeht, das (noch) nicht begreifbar und benennbar ist, das (noch) keine Bedeutung hat und gleich einem Zufall in System, Struktur und Bedeutung einbricht. Ein Ereignis ist immer ein Ereignis für eine wahrnehmende Person (d. h. etwas ereignet sich nicht in der Realität, sondern in der Wahrnehmung), und damit zusammenhängend muss das, was für eine Person ein Ereignis ist, nicht zwangsläufig auch für eine andere ein solches sein. Das Ereignis ist immer unerwartet oder unverhofft. Jeder Versuch, es zu benennen, zu beschreiben oder zu interpretieren geht einher mit Zuschreibungen, die das Ereignis – das in dem Moment schon kein Ereignis mehr ist – in ein Netz von Bedeutungen einbinden, das eine sozial verfügbare Struktur bildet. Streng genommen kann über das Ereignis nichts gesagt werden, weil alles, was gesagt werden kann, einer Struktur bedarf. Das Ereignis ist für die Struktur bedrohlich, weil es nicht in diese integriert werden kann, und daher hat die Struktur – oder der Diskurs, um es mit Michel Foucault zum Ausdruck zu bringen – eine Reihe von „Prozeduren“ entwickelt, die eine „Dimension des Diskurses bändigen: die des Ereignisses und des Zufalls“.2 Das Ereignis ist immer eine Abweichung, eine abjection,3 die – weil sie individuell und singulär ist – nicht nur etwas (Ver-)Störendes hat, sondern auch etwas Körperliches, weil es etwas ist, das immer einer Person zustößt. Von einem Ereignis kann man nur sprechen, wenn das in Frage kommende Geschehen auch von jemandem (mit den Sinnen) wahrgenommen wird. Das Ereignis macht etwas mit

1 Derrida, Jacques: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. In: ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M. 1976, S. 422–442. 2 Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M. 1991, S. 17. Der Zufall ist auch ein Ereignis, aber nicht jedes Ereignis ist zufällig. 3 Kristeva, Julia: Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection. Paris 1980. DOI 10.1515/9783110541854-022

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einer Person, macht etwas mit uns, das wir (noch) nicht in Worte fassen können. Wir erleben und erfahren etwas, das wir (noch) nicht begreifen können. Wer über das Ereignis spricht, muss daher auch über Erfahrung sprechen. Die Erfahrung oder das Erfahrungswissen einer Person besteht aus deren Handlungskompetenzen (in einem spezifischen Bereich), die sich durch das Erleben vieler Situationen (in diesem Bereich) entwickeln. Erfahrung bleibt meist unreflektiert und widersetzt sich ihrer sprachlichen Formulierung.4 Phänomenales Wissen und praktisches Wissen (Know How) bilden das Erfahrungswissen einer Person im Gegensatz zum propositionalen Wissen (zum Know That, zum Aussagewissen). Know How hat neben der individuellen Komponente auch eine soziale, weil mit dem Begriff auch ein, wenn auch von handelnden Personen nicht ablösbarer, sozial verfügbarer Fundus von Kenntnissen und Kompetenzen bezeichnet werden kann, der reflektiert, bewusst weiterentwickelt, an neue Situationen durch planendes Handeln angepasst, gezeigt und von Person zu Person weitergegeben werden kann. Gleichwohl bleibt Erfahrungswissen Michael Polanyi zufolge implizit, ein tacit knowledge,5 das sich in – in Handlungen umgesetzte – Interpretationen von Sinneswahrnehmungen verkörpert, also Körperwissen ist. Weil Sinneseindrücke, Ereignisse und Erfahrungsprozesse unterschwellig wahrgenommen werden, sind Ereignisse auch nicht – oder nicht so einfach – beobachtbar. An einem Beispiel formuliert: Einen Nagel können wir deshalb treffen und in Holz einschlagen, weil wir ein ‚Ereignis‘ (in Form von gereizten Nervenzellen) in der Handfläche und im Unterarm empfinden, das uns nicht bewusst ist, das wir aber unterschwellig wahrnehmen. Erst durch eine Interpretationsleistung werden die an sich bedeutungslosen Empfindungen in bedeutungsvolle übersetzt, und das Gewahrwerden der Nervenreize in der Hand verwandelt sich in ein Gespür am Hammerkopf, der auf den Nagel trifft.6 Die Empfindungen in der Handfläche werden in ihrer Bedeutung am Hammerkopf, auf welchen sich unsere Aufmerksamkeit richtet, wahrgenommen.7

4 Perger, Josef: ‚Erfahrung‘. In: Hierdeis, Helmwart / Hug, Theo (Hg.): Taschenbuch der Pädagogik. Baltmannsweiler 1997, Bd. 1, S. 268–288. 5 Polanyi, Michael: Personal Knowledge. Chicago 1958; ders.: The Tacit Dimension. New York 1966; ders.: Knowing and Being. London 1969; ders.: Implizites Wissen. Frankfurt a. M. 1985. 6 Der Begriff Gespür scheint mir hier treffender als Gefühl zu sein, denn er lässt die Tatsache durchklingen, dass es Materialkenntnis und Übung braucht, um, u. a., handwerkliche Tätigkeiten ausführen zu können, und er vermeidet zudem Bedeutungen des Begriffes Gefühl im Sinne von Emotion. 7 Polanyi: Knowing and Being, S. 138ff. Prinzipiell ist das, was beim Einschlagen eines Nagels genau passiert, beschreibbar (und eine Formulierung oder Analyse für Orthopäd/inn/en oder

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Wir wissen also etwas, was wir nicht sagen können. Darum ist es auch so schwer, jemandem den Klang einer Klarinette zu beschreiben, wie Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen feststellt: Vergleiche: wissen und sagen: wieviele m hoch der Mont-Blanc ist – wie das Wort „Spiel“ gebraucht wird – wie eine Klarinette klingt. Wer sich wundert, daß man etwas wissen könne, und nicht sagen, denkt vielleicht an einen Fall wie den ersten. Gewiß nicht an einen wie den dritten.8

Das heißt jedoch keineswegs, dass Sprache bei Erfahrungsprozessen und beim Erfahrungserwerb bedeutungslos wäre, im Gegenteil: Sprachhandlungen spielen dabei eine vielfältige Rolle, und das reicht von einfachen „Winken“9 – wie „Schau einmal genau hin!“ oder „Schlag nicht zu fest drauf!“ – bis zu komplexen und exemplarischen Schilderungen (Erzählungen) von erlebten Situationen. Die These, die in diesem Beitrag diskutiert werden soll, lautet, kurz zusammengefasst, folgendermaßen: Literarische Texte und literarische Sprache sind eine spezifische Form und Möglichkeit, erfahrungsbasierte Wissensprozesse auf der einen Seite zu artikulieren sowie auf der anderen Seite auch zu durchbrechen und dadurch letztlich zu erweitern. Im letzteren Sinne gewinnt die Lektüre literarischer Texte Ereignischarakter im eigentlichen Sinn.10 Nötig ist also eine wirkungsästhetische Perspektive, die – u.  a. aufgrund der bereits genannten Tatsache, dass die durch Ereignisse ausgelösten Erfahrungsprozesse implizit sind –, nicht allein einer Zeichentheorie bedarf, sondern auch einer Handlungstheorie, die Lesen als eine Handlung begreift. Handlungen müssen, wenn man sie untersuchen möchte, beobachtet werden, was im

Physiotherapeut/inn/en unter Umständen auch nötig), aber während des Vorgangs wäre es kontraproduktiv, die fokale Aufmerksamkeit (Polanyi spricht von focal awareness) auf das zu richten, was uns bei Handlungen subsidiary aware ist. Richtet man die Aufmerksamkeit beim Einschlagen eines Nagels auf die sensorischen Wahrnehmungen in der Handfläche, wird man im buchstäblichen Sinne ein blaues Wunder erleben. Dann ergeht es einem wie dem „jungen Mann“ in Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater, der in dem Moment jegliche Anmut verliert, als er genau diese eigene Anmut im Spiegel entdeckt (Kleist, Heinrich von: Über das Marionettentheater – Aufsätze und Anekdoten. Frankfurt a. M. 1995, S. 13). 8 Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. In: ders.: Werkausgabe in acht Bänden. Frankfurt a. M. 1953, Bd. 1, S. 225–618, hier S. 284. 9 Ebd., S. 575. 10 Der Begriff „Lektüre“ wird hier ganz bewusst verwendet, denn erst, wenn ein Text gelesen wird und etwas mit seinen Leser/inne/n macht, kann man im strengen Sinne von einem Ereignis sprechen.

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Handwerk oder im Sport möglich erscheint, beim Lesen weit weniger. Denn was beobachtet man eigentlich, wenn man Leseprozesse beobachtet? Es hilft hier weder eine Ausdifferenzierung in unterschiedliche Handlungsrollen der Literatur weiter (Schreiben, Verlegen, Vermitteln etc.)11 noch eine Beobachtung dessen, was einem in der Regel in den Sinn kommt, wenn man an den Begriff „literarisches Ereignis“ denkt (nämlich Lesungen, Performances, Poetry Slams, szenische Umsetzungen u. Ä. m.). Auch die Untersuchung paratextueller Rahmungen, die Ereignishaftigkeit mit produzieren (z. B. Klappentexte oder Verlagsankündigungen) und die Rezeption von Leser/inne/n bis zu einem gewissen Grade natürlich auch steuern, hilft wenig bei der Beantwortung der Frage, was beim Lesen geschieht. Nötig ist vielmehr eine Theorie, die den Ereignischarakter und die Erfahrungsqualität auch des stillen Leseprozesses zu erklären imstande ist.12 Eine literarische (Handlungs-)Theorie ist allerdings mit massiven erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten konfrontiert: Erfahrungsprozesse beim Lesen sind implizit und die Beobachtung von Leser/inne/n bringt wenig, weil etwa von feststellbaren neurologischen oder physiologischen Reaktionen nicht – oder zumindest nicht unmittelbar – auf die bedeutungsvolle Verarbeitung von Lektüren Rückschlüsse gezogen werden können. Zudem sind Prozesse der Verarbeitung von Gelesenem, auch wenn sprachliche Bedeutungen sozialer Natur sind, immer individuelle Konstrukte, da Leser/innen unterschiedliche Biografien haben und in jeweils unterschiedliche Kontexte eingebunden sind.13 Diese Kontexte sind zudem von einer so hohen Komplexität und Vielfältigkeit, dass es unmöglich ist, Wahrnehmungen und Erfahrungen sowie Veränderungen in diesen allein auf

11 Wie sie u. a. Siegfried J. Schmidt vorschlägt, programmatisch zuerst in Schmidt, Siegfried J.: Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft. Band 1: Der gesellschaftliche Handlungsbereich Literatur. Braunschweig / Wiesbaden 1980. 12 Auch wenn sich das Angebot an Lesungen und die Poetry-Slam-Formate in den letzten 20 bis 30 Jahren vervielfacht haben mögen und Literatur „erlebbar und zum Ereignis machen“ (Wegmann, Thomas: Es werde …: Literatur! Tendenzen in der Präsentation und Vermarktung zeitgenössischer Literatur. In: kulturpolitische mitteilungen 109 (2005), S. 28–31, hier S. 28), so wird Literatur dabei nicht zwangsläufig erfahren. Es kann auch sein, dass ein gewisser kulturindustrieller Zwang zum Event dahintersteht, der Erfahrung nicht unbedingt fördert, sondern vielleicht sogar erschwert. Zudem gilt, dass das „stille[n] Lesen, das den Leseakt seit dem 19. Jahrhundert dominiert“ (Moser, Sibylle: Intermedialität und synästhetisches Textverständnis. In: Mikulaš, Roman / Wege, Sophia (Hg.): Poetogenesis. Schlüsselkonzepte und Anwendungen der Kognitiven Literaturwissenschaft. Münster 2016, S. 55–79, hier S. 56), immer noch der Normalfall der Literaturrezeption sein dürfte. 13 Vgl. dazu Cesarotto, Roswitha: Reader, Embodiment, and Narrative: Shared Literary Reading Experience. In: Mikulaš, Roman / Wege, Sophia: Poetogenesis. Schlüsselkonzepte und Anwendungen der Kognitiven Literaturwissenschaft. Münster 2016, S. 101–120, hier S. 110.

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Lektüren zurückzuführen: Lektürewirkungen werden immer von anderen Einflüssen überlagert, weil man einen Roman selten ohne Unterbrechung liest, mit anderen darüber spricht, ins Kino geht, Zeitung liest, sich über das Wetter ärgert etc.14 Die Schwierigkeiten werden noch größer, wenn man bedenkt, dass sich Leser/innen durch Lektüren verändern. Der dabei entstehende hermeneutische Zirkel verunmöglicht einen fixen archimedischen Punkt, auf den man sich bei der Analyse stützen kann. Letztlich sind Lektüren also immer auch kontingent. Nun haben unterschiedliche Literaturtheorien durchaus Begriffsinstrumentarien entwickelt, um die Differenz zwischen individuellem (Text-)Ereignis respektive dessen Konkretisierung in der Lektüre auf der einen und der (Text-)Struktur auf der anderen Seite adäquat konzeptualisieren zu können. Manfred Frank versucht, mit dem Begriff des „Stils“ das irreduzibel Individuelle eines Textes von dessen „Struktur“ abzugrenzen;15 Jan Mukařovský unterscheidet zwischen dem „Artefakt“ (dem Werk als Ding) und „ästhetischem Objekt“ (der Konkretisierung des Werks im Bewusstsein der Rezipient/inn/en);16 bei Wolfgang Iser findet sich der Begriff der „Leerstelle“, die Leser/innen zu Vorstellungstätigkeit auffordert, damit Sinn entstehen kann;17 und Hans Robert Jauß spricht in analoger Weise vom Text als eine „Partitur“, die erst zur Aufführung kommen muss18 – um nur einige wenige Ansätze zu nennen. Diese Ansätze interessieren sich aber entweder nicht wirklich für die Seite der Rezeption (weil diese allenfalls als eine Form des Zugangs zu Textbedeutungen angesehen wird) oder, wenn doch, nicht für

14 Allenfalls bei sehr kurzen Texten könnte man eine laborähnliche Situation herstellen, was dazu führt, dass sich viele der nicht sehr zahlreichen Literaturwissenschaftler/innen, die empirisch arbeiten oder gearbeitet haben, auf kürzere Textformen oder Textteile konzentrieren oder konzentriert haben. Gerhard Lauers Diktum, dass der „Gang der Literaturwissenschaftler […] nicht mehr nur einer in die Bibliotheken“ sein wird, sondern „auch einer in die Labore“ (Lauer, Gerhard: Das Spiel der Einbildungskraft. Zur kognitiven Modellierung von Nachahmung, Spiel und Fiktion. In: Anz, Thomas / Kaulen, Heinrich (Hg.): Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte. Berlin 2009, S. 27–37, hier S. 35), wenn man Lektüreprozesse untersuchen will, muss demnach erweitert werden: Literaturwissenschaftler/innen müssen vor allem in die freie Wildbahn hinaus. 15 U. a. in Frank, Manfred: Was ist ein literarischer Text, und was heißt es, ihn zu verstehen? In: Kolkenbrock-Netz, Jutta / Plumpe, Gerhard / Schrimpf, Hans Joachim (Hg.): Wege der Literaturwissenschaft. Bonn 1985, S. 10–25. 16 Mukařovský, Jan: Kunst, Poetik, Semiotik. Frankfurt a. M. 1989. 17 Iser, Wolfgang: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. München 1972; ders.: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 1976. 18 Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: ders.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a. M. 1970, S. 144–207.

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Rezeptionsprozesse von Normalleser/inne/n, die in der Regel keine Spuren ihrer Lektüren hinterlassen. Anders verhält es sich mit der Empirischen Literaturwissenschaft in der Tradition Siegfried J. Schmidts, welche die Differenz zwischen Text und Lektüre als eine zwischen Medienangebot und Realisierung des Angebots fasst und sich auch für Normalleser/innen interessiert, oder mit der Kognitiven Literaturwissenschaft.19 Aber auch diese beiden (nahe verwandten) Theorien verlassen entweder nur selten die Ebene programmatischer Entwürfe und theoretisch-abstrakter Überlegungen oder rücken wiederum sehr oft Textanalysen in den Vordergrund. Und wenn empirisch mit Leser/innen gearbeitet wird, dann sind die Untersuchungen doch recht häufig auf kürzere Texte und Textsorten oder auf kurze Textteile beschränkt, um jenen Grad an Validität zu erreichen, der gerade in der Empirischen und Kognitiven Literaturwissenschaft verlangt wird, weil man sich dort dezidiert von hermeneutischer (Text-)Interpretation abgrenzen möchte, der man häufig Unwissenschaftlichkeit vorwirft.20 Das heißt, Fragen nach der Differenz oder vielmehr der Kluft zwischen ereignishafter Lektüre und literarischen Texten sowie nach deren Wirkungen in alltäglichen Lektüresituationen alltäglicher Leser/innen werden zwar immer wieder gestellt, aber der Gang in die empirische Forschung als eine Konsequenz daraus ist aus den bereits genannten Gründen mit großen erkenntnistheoretischen und methodischen Hürden verbunden.21 Weil jene Erfahrungsprozesse, die bei der Lektüre von Leser/inne/n gemacht werden, nicht beobachtbar und implizit sind, bleibt der empirischen Rezeptionsforschung nur der Weg, Leser/innen nach ihren Lektüren zu befragen.22 Dabei sind neben dem bereits genannten Problem, dass

19 Als Ein- und Überblick über die Kognitive Literaturwissenschaft, der die deutsch- sowie die (weit lebendigere und umfangreichere) englischsprachige Debatte gleichermaßen umfasst, sei der Beitrag „Kognitive Literaturwissenschaft“ von Thomas Eder empfohlen, und zwar in: Feger, Hans (Hg.): Handbuch Literatur und Philosophie. Stuttgart / Weimar 2012, S. 311–332. Sehr umfassend und weit ausgreifend informiert auch Nünning, Vera: Reading Fictions, Changing Minds. The Cognitive Value of Fiction. Heidelberg 2014. 20 Wobei „kognitive Zugänge hermeneutische Konzepte nicht ersetzen, sie aber präzisieren helfen“ (Lauer: Das Spiel der Einbildungskraft, S. 27). 21 Nicht zuletzt deshalb, weil die philologischen Fächer mit den Methoden der empirischen Sozialwissenschaft – und mit sozialwissenschaftlichen Disziplinen insgesamt – in der Regel wenig oder gar nicht vertraut sind. Auf jeden Fall ist man zu interdisziplinärem Denken (und interdisziplinärer Zusammenarbeit) gezwungen, wenn man sich mit Prozessen des Lesens beschäftigt. 22 Dort, wo die Kognitive Literaturwissenschaft konkrete Leseprozesse empirisch untersucht, betont sie zwar die Tatsache, das „[z]entrales und konstitutives Merkmal von ‚Erfahrungshaftigkeit‘ […] die anthropomorphe ‚Körperlichkeit‘ eines Subjekts (‚embodiment‘, ‚embodiedness‘) [ist]“ (Zerweck, Bruno: Der cognitive turn in der Erzähltheorie: Kognitive und ‚Natürliche‘ Nar-

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Erfahrung ein hochkomplexes Körperwissen ist (das, wie gesagt, mit Sinneswahrnehmungen verknüpft und in prinzipiell unabschließbaren Kontexten verankert ist), die unaufhebbaren Brüche zwischen Ereignis (bzw. Erfahrung), Erinnerung und Aussage (Schilderung, Erzählung) zu beachten. Hinzu kommt ein methodisch nicht auflösbares Problem, das gerade bei der Erforschung von Lektüren von komplexeren und längeren Texten (etwa Romanen) deutlich zutage tritt: die Untrennbarkeit von Datenerhebung und Dateninterpretation sowie die wechselseitige Beeinflussung von Subjekt der Forschung und seinen ‚Forschungsobjekten‘ (den Leser/inne/n), die bedingen, dass Daten nicht einfach erhoben werden, sondern durch die dialogische Situation, in der sich Forscher/in(nen) und Leser/ in(nen) befinden, gemeinsam erst generiert werden.23 Bei qualitativen Verfahren (Leitfadeninterviews, qualitative Interviews, Gruppendiskussionsverfahren etc.) – und diese sind in der Rezeptionsforschung unabdingbar, weil die Komplexität, die Individualität und die Erfahrungsqualität von literarischen Lektüren durch quantitative Verfahren nicht adäquat beschreibbar sind – ist dieses Problem prinzipiell nicht aus der Welt zu schaffen, zumal ja auch die Forscher/innen selbst in einem hermeneutischen Zirkel stehen: Auch sie sind in ihren Lektüren und im Dialog mit Leser/innen einem Prozess der unaufhörlichen Wandlung ausgesetzt. Aber erst im Lesen und im Dialog mit Texten, Lektüren und Leser/inne/n emergieren bedeutungsvolle Prozesse interpretierter Erfahrung.24

ratologie. In: Nünning, Ansgar / Nünning, Vera (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier 2002, S. 219–242, hier S. 227), scheint aber doch in den mir bekannten Fällen (wobei meine Kenntnis diesbezüglich zugegebenermaßen nicht allzu umfangreich ist) davon auszugehen, dass Leser/innen ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen auch explizieren können. Der implizite Charakter von Prozessen des Erfahrungswissens scheint nur selten thematisiert zu werden. 23 Wer Rezeptionsprozesse untersucht, muss mit Leser/innen in einen Dialog eintreten, in dem ein Teil der wissenschaftlichen Wahrnehmungs- und Forschungskategorien erst gemeinsam entwickelt wird. Die spezifische Wirklichkeit eines Ereignisses wird also im Forschungsprozess nicht einfach beschrieben und analysiert, sondern theoriegeleitet hervorgebracht. Theoriebildung ist also selbst letztlich ein unabschließbarer Prozess, der in der empirischen Forschung einen Text entstehen lässt, der mehr als eine/n Autor/in hat und seinerseits erst interpretiert werden muss. Dabei entstehen „dichte Beschreibungen“ im Sinne von Clifford Geertz (vgl. G ­ eertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Frankfurt a. M. 1987). In der „Grounded Theory“ findet sich eine Terminologie, die die Verwobenheit von Forscher/in und Leser/in und die Entwicklung von Theorien in situ sowie die Rückkopplungsprozesse zwischen (Hypo-)Thesenbildung durch die/den Forscher/in und den Lektüreerfahrungen von Leser/ innen klassifizieren kann (vgl. Strauss, Anselm: Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Datenanalyse und Theoriebildung in der empirischen soziologischen Forschung. München 1998). 24 Von Emergenz kann man dann sprechen, wenn in einem System neue Strukturen durch das Zusammenwirken seiner Elemente entstehen, die nicht auf bestimmte Eigenschaften der Elemente zurückgeführt werden können, gleichwohl aber von diesen Eigenschaften abhängig sind.

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Auch wenn hier nicht der Platz ist, darauf näher einzugehen, so darf man dabei nicht vergessen, dass literarische Erfahrungsprozesse und Lektüren niemals in einem machtfreien Raum passieren. Mit Michel Foucault soll darauf hingewiesen werden, dass nicht alle Leser/innen gleichermaßen und gleichberechtigt Zugang zum literarischen Diskurs haben – weil sie beispielsweise nicht jenen Bildungshintergrund oder jenes (ökonomische) Potential aufweisen, die nötig sind, um Zugang zu Literatur zu finden oder mit einigermaßen komplexen Texten zurecht zu kommen. Verallgemeinert formuliert: Erfahrung hat mit Einübung in Handlungsmuster (Sozialisation) zu tun, die über „Prozesse der Ausschließung“25 organisiert werden. Eine Antwort auf die Frage, wie sich ästhetische Erfahrung im Lesen konstituiert, muss auch Antworten auf die Fragen inkludieren, wer was unter welchen Umständen liest und wer darüber entscheidet. Dabei spielen etwa bürgerliche Eliten eine Rolle, die in der Lage sind, einen Habitus (Pierre Bourdieu) in literarischen Institutionen und geisteswissenschaftlichen Fakultäten auszubilden. Ich selbst habe in einem Gruppendiskussionsverfahren,26 das mehrere Jahre (mit monatlichen Treffen) dauerte, mit sechs in ihrem Beruf erfahrenen Kranken-

So determinieren die Gesetze der Phonetik zwar die Lexik, das Vokabular kann jedoch nicht auf phonetische Regeln zurückgeführt werden. Analog kann aus der Lexik keine Grammatik entwickelt werden, aus der Grammatik keine Stilistik und aus der Stilistik keine Poetik. Literatur (als eine Struktur von Elementen im Sinne Saussures bzw. als Organisation von Material im Sinne der Russischen Formalisten) ist zwar von den Gesetzen der Sprache (im weitesten Sinne) abhängig, aber doch ist eine literarische Form nicht durch diese Gesetze erklärbar. Damit eine literarische Form emergiert, bedarf es Leser/innen. Vgl. dazu Iser, Wolfgang: Mimesis – Emergenz. In: Kablitz, Andreas / Neumann, Gerhard (Hg.): Mimesis und Simulation. Freiburg im Breisgau 1998, S. 669–684; Krohn Wolfgang / Küppers, Günter (Hg.): Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung. Frankfurt a. M. 1992; Stephan, Achim: Emergenz. Von der Unvorhersehbarkeit zur Selbstorganisation. Dresden / München 1999; Wägenbaur, Thomas (Hg.): Blinde Emergenz? Interdisziplinäre Beiträge zu Fragen kultureller Evolution. Heidelberg 2000; Wege, Sophia: Die Kognitive Literaturwissenschaft lässt sich blenden – Anmerkungen zum EmergenzBegriff der Blending Theory. In: Mikulaš, Roman / Wege, Sophia: Poetogenesis. Schlüsselkonzepte und Anwendungen der Kognitiven Literaturwissenschaft. Münster 2016, S. 243–260. 25 Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 11. 26 Das Gruppendiskussionsverfahren zählt zu den ‚weichen‘ Verfahren in den Sozialwissenschaften und wird selten als Methode eingesetzt, da die Kontextabhängigkeit der Gespräche sowie deren nicht steuerbare Dynamik komplexes, wenig strukturiertes und daher grundsätzlich interpretationsbedürftiges Datenmaterial hervorbringen und den Versuchen wissenschaftlicher Validität enge Grenzen setzen (vgl. dazu Loos, Peter / Schäffer, Burkhard: Das Gruppendiskussionsverfahren. Opladen 2001; Volmerg, Ute: Kritik und Perspektiven des Gruppendiskussionsverfahrens in der Forschungspraxis. In: Leithäuser, Thomas u. a. (Hg.): Entwurf zu einer Empirie des Alltagsbewußtseins. Frankfurt a. M. 1981).

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pflegerinnen deren implizites Berufswissen erhoben und darauf aufbauend literarische Texte gelesen, und zwar Antigone (Sophokles), Der Tod des Iwan Iljitsch (Leo Tolstoi) und King Lear (William Shakespeare).27 Die literarischen Texte wurden für die Krankenpflegerinnen nicht nur eine Möglichkeit, für ihr Erfahrungswissen eine Sprache zu finden, sondern zur selben Zeit dieses Wissen und damit ihre soziale Wirklichkeit und ihren (in erster Linie beruflichen) Kontext neu und verändert wahrzunehmen: Lesen (bestimmter) literarischer Texte ist also auf der einen Seite sowohl eine Form der bestätigenden Rückversicherung der eigenen Erfahrung durch ihre Artikulation in der Reflexion von Lektüren als auch, auf der anderen Seite, deren Verfremdung. Allerdings kann, genau genommen, nur für den Aspekt der Wahrnehmungsund Erfahrungsverfremdung der Begriff des Ereignisses (in einem engeren Sinne) in Anschlag gebracht werden, denn erst dann kann sinnvoll vom Individuellen, Unwiederholbaren, Innovativen und Zufälligen gesprochen werden, das nicht in einer Struktur aufgeht und Erwartungs- wie Erfahrungshorizonte durchbricht und verändert. Das heißt jedoch nicht, dass der Aspekt der Wahrnehmungs- und

27 Die Ergebnisse dieses Projekts sind im Detail nachzulesen in Sexl, Martin: Literatur und Erfahrung. Ästhetische Erfahrung als Reflexionsinstanz von Alltags- und Berufswissen. Eine empirische Studie. Innsbruck 2003. Eine knappere Darstellung dieser Ergebnisse bietet Sexl, Martin: Sophokles, Shakespeare und Tolstoi im Krankenhaus. Krankenpflegerinnen lesen literarische Texte. Innsbruck 2006. Pflegepersonal wurde deshalb ausgewählt, weil das Konfliktpotential zwischen zwei unterschiedlichen Berufsgruppen mit unterschiedlichem Ausbildungshintergrund – dem Pflegepersonal und der Ärzteschaft – in Kliniken und Krankenhäusern ungewöhnlich groß ist. Da Pflegepersonal eher aus einer Tradition des Erfahrungswissens kommt, die Ärzteschaft aus einem naturwissenschaftlichen Kontext, ist die Problematik der Formulierung impliziten Wissens hier besonders stark ausgeprägt. Verstärkt werden Kommunikationskonflikte durch Hierarchien, Geschlechterrollenkonflikte und Statusunterschiede, Strukturprobleme, Kollision von Normen und Werten oder Ressourcenmangel. Als Beispiel sei eine nicht selten vorkommende Situation in einer Klinik genannt: Eine erfahrene, ältere Krankenpflegerin muss auf Anordnung eines jungen, unerfahrenen Arztes einer Patientin ein Medikament verabreichen, von dessen Wirkungslosigkeit oder sogar schädlicher Wirkung sie überzeugt ist. Vgl. dazu Josefson, Ingela: The Nurse as Engineer – the Theory of Knowledge in Research in the Care Sector. In: Göranzon, Bo / Josefson, Ingela (Hg.): Knowledge, Skill and Artificial Intelligence. London / Berlin 1988, S. 19–30. In Antigone oder King Lear (man denke etwa nur an die erste Szene der Tragödie Shakespeares oder an Antigones Weigerung, Kreons Verbot des Begräbnisses ihres Bruder Polyneikes Folge zu leisten) kann vieles entdeckt werden, das anschlussfähig ist für berufliche Erfahrungszusammenhänge von Krankenpflegerinnen, wobei insbesondere die dilemmatischen Situationen (etwa das Schuldlos-Schuldigwerden bei Sophokles) in den beiden Texten den Krankenpflegerinnen eine Form von Spiegel wurden, die Dilemmata im eigenen Beruf als solche erkennen und reflektieren zu können.

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Erfahrungsbestätigung durch Lektüren weniger wichtig ist. Denn dieser bietet eine Möglichkeit, Erfahrungswissen erst einmal erfahrend bewusst zu machen, zu artikulieren und dadurch zu reflektieren. Eine auf den Innovationswert von Literatur und Kunst abzielende Ästhetik – und die Rezeptionsästhetik von Jauß gehört, wie viele andere auch, zweifellos dazu – unterschätzt den zentralen Stellenwert von literarischen Texten, für implizite Routinen der Erfahrung eine Sprache zu finden, also eine Sprache zu finden für das, was man schon weiß, aber (noch) nicht sagen kann. Verkörperte Routinen sind für unser Handeln auf allen Feldern des Lebens – das reicht vom Alltag über die Ausübung sportlicher und beruflicher Tätigkeiten bis zum Spielen eines Musikinstruments – zentral. Es mag sein, dass etwa das Klavierspiel erst künstlerisch im eigentlichen Sinne wird, wenn sich Können mit dem Unerwarteten und Neuen verbindet, aber für das Können braucht es das Einüben grundlegender Techniken, die oft wiederholt werden müssen.28 Dasselbe gilt für das Lesen von (literarischen) Texten: Auch hierfür bedarf es jahrelanger Übung, um mit einigermaßen komplexem Sprachmaterial zurechtzukommen. Routinen dürfen nicht mit Automatismen verwechselt werden, denn Automatismen sind gleichsam blind ausgeführte Handlungsabläufe, die Entwicklung eher behindern. Damit Routinen davor gefeit sind, zu Automatismen zu werden, benötigt man Sprache als Möglichkeit der Reflexion, und zwar eine Sprache, die der spezifischen Erfahrungsqualität und der ‚Unsagbarkeit‘ des tacit knowledge gerecht wird: Wer auf die Frage nach dem Klang einer Klarinette, um noch einmal an Wittgensteins Beispiel zu erinnern, mit Frequenzen, Tonhöhen und Sinuskurven antwortet, verwendet – auch wenn die Antwort exakt und wissenschaftlich richtig sein mag – die falsche Sprache. Wer selbst die Erfahrung depressiver Stimmungen nicht gemacht hat, kann mit der Formulierung „Sie war deprimiert“, die man vielleicht in atemlos geschriebenen Kommentaren von Ärzt/inn/en oder schlechten Romanen finden kann, wenig anfangen. In einem besseren Roman findet man vielleicht einen Satz wie „Sie ging schleppend zur Kaffeekanne hinüber, die Tasse schwer in ihrer Hand“,29 der einem anhand eines anschaulichen Beispiels etwas schildert, das an Alltagserfahrungen anschlussfähig ist. Oder: Wenn aufgrund der ungewöhnlichen Atmung einer Patientin die Frage auftaucht, ob sie an einem Lungenemphy-

28 Zudem gilt es die bekannte Tatsache zu bedenken, dass Neues nur auf der Folie des Gewohnten wahrgenommen werden kann. Eine Abweichung, die nicht als Abweichung von Normen oder Konventionen erkennbar ist, wird nicht als Abweichung wahrgenommen und bleibt daher unwirksam. 29 Gefunden in Sennett, Richard: Handwerk. Berlin 2008, S. 242f.

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sem leidet, dann nützt eine Fachdefinition wenig. Hilfreicher ist vielleicht aber der metaphorische Vergleich „Die Atmung einer Patientin mit Lungenemphysem klingt wie zerbrechende, kleine, trockene Ästchen.“30 Diese Analogie verbindet eine bekannte Erfahrung mit einer noch unbekannten, wodurch die unbekannte plötzlich ‚lesbar‘ und formulierbar wird. Die unbekannte Sinneserfahrung wird in eine bekannte übersetzt.31 Um dies tun zu können, braucht man Kompetenz in zweierlei Hinsicht: Man muss erfahren haben und wissen, wie kleine, trockene Ästchen klingen, wenn man auf diese tritt, und man muss mit Sprache umgehen können, und zwar mit einer literarischen Sprache. Für den, der diese Kompetenzen hat, wird (literarische) Sprachverwendung zu einer Art von Geste,32 die auf etwas anderes verweist, das damit sozusagen erst ins Blickfeld gerät. (Literarische) Sprache ist also eine Möglichkeit, Erfahrungswissen nicht nur zu artikulieren, sondern dieses auch auf neue Bereiche zu übertragen, wobei es letztlich um eine Erweiterung von Handlungskompetenzen geht, also darum, Wissen und Gefühle aus Situationen, in denen eine Handlung als richtig angesehen wird, auf analoge Situationen auszudehnen, in denen unklar ist, welches die richtige Handlung ist. […] Man beginnt mit einer Anfängersituation, die jeder bewältigen kann, und dehnt seine Fertigkeit aus, indem man lernend immer weitere Kreise zieht.33

Dieser Prozess der Ausdehnung vollzieht sich nicht nach bewussten Regeln, sondern vielmehr nach einem Verfahren von trial and error, wobei dieses keineswegs blind herumtappend angewandt wird, sondern wohlüberlegt. Es mag sein, dass diese zwei kleinen Beispiele noch nicht allzu viel erklären, weil sie der Komplexität von Prozessen der Artikulation und Weitergabe von Erfahrungswissen nicht einmal annähernd gerecht werden und auch den Unterschied zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen (alltagssprachlichen, wissenschaftlichen etc.) Texten unberücksichtigt lassen. Allerdings können sie vielleicht doch andeutungsweise zeigen, dass die Sprache in diesen Prozessen

30 Den eine Krankenpflegerin aus dem genannten empirischen Projekt geäußert hat. 31 Die grundlegende gedankliche Operation – und das ist für die Vergleichende Literaturwissenschaft natürlich besonders interessant – beim In-Beziehung-Setzen von etwas Bekanntem mit etwas Unbekanntem ist der Vergleich, der das Gemeinsame wie auch das Unterschiedliche der (beiden) Vergleichsglieder identifiziert, allerdings meines Erachtens – zumindest, was die in diesem Beitrag diskutierte Thematik betrifft – tendenziell die Identifikation von Ähnlichkeiten und Analogien (denn diese löst ein ‚Aha-Erlebnis‘ im Erkennen aus) gegenüber der Beobachtung von Differenzen und Unterschieden favorisiert. 32 Vgl. Flusser, Vilem: Geste. Versuch einer Phänomenologie. Frankfurt a. M. 1994. 33 Varela, Francisco J.: Ethisches Können. Frankfurt a. M. 1994, S. 32f.

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anders beschaffen sein muss als die begriffsorientierte Sprache der Wissenschaften. Bei literarischen, also fiktionalen Texten (oder auch Spielfilmen, Theaterstücken etc.) sind zwei Dinge entscheidend: Erstens sind diese Texte oft von ausreichender Komplexität, die jener unseres alltäglichen Handelns gerecht wird. Zweitens haben diese Texte eine Eigenschaft – und zwar ihre Fiktionalität –, die es erlaubt, dass wir uns dem Geschilderten und Dargestellten in einer direkteren Form aussetzen können, als uns dies im Alltag möglich wäre.34 Wer Madame Bovary von Gustave Flaubert liest – um ein beliebiges Beispiel zu nennen –, kann Menschen beim Handeln ‚zuschauen‘ und ihre Gedanken und Gefühle ‚lesen‘, ohne selbst in die Handlung involviert zu sein und das Risiko des Ernstfalls eingehen zu müssen. Daher können sich Leser/innen auch sehr direkt mit Depressionen, Ehebruch und Selbstmord auseinandersetzen, weil das Gelesene in einem gefahrlosen Raum beobachtet werden kann und dabei sogar Dinge zugänglich werden – etwa Gedachtes und Gefühltes anderer Menschen, das auf intradiegetischer Ebene nicht kommuniziert wird –, die im Alltag unzugänglich bleiben. Das bedeutet nun aber nicht, dass Leser/innen sich einfühlen und nachvollziehend miterleben müssen, im Gegenteil: Gerade die Distanz zum Geschehen kann eine (Selbst-)Erkenntnis auslösen, wobei dieser Erkenntnisprozess kein Widerspruch ist zum Lesevergnügen, das man empfindet.35 Wenn wir uns die Lesesituation vorstellen, dann sehen wir jene doppelte Struktur der Metapher und der Analogie, von der bereits die Rede war und die für jede Form der Artikulation und des Übersetzens von Erfahrungsprozessen wesentlich ist: Leser/innen literarischer Texte bringen zwei Erfahrungswelten miteinander in Verbindung – und zwar unwillkürlich und notwendigerweise: die der Welt des Romans und ihre eigene mit all den Erfahrungen, Wünschen, Gefühlen, Schwierigkeiten und Begehrlichkeiten, die ein Mensch erlebt und empfindet. Auch wenn es paradox klingen mag, so ist den Leser/inne/n in der Lektüre die eigene Erfahrungswelt fremd und das im Roman Dargestellte bekannt – die eigene Erfahrungswelt wäre also jene Seite der metaphorischen Relation, die wenig texturiert und ‚unbekannt‘ ist, während das Romangeschehen die stärker texturierte und im Moment des Lesens ‚bekannte‘ Seite darstellt. Madame Bovary

34 Vgl. dazu Mellmann, Katja: Das ‚Spielgesicht‘ als poetisches Verfahren. Elemente einer verhaltensbasierten Fiktionalitätstheorie. In: Anz, Thomas / Kaulen, Heinrich (Hg.): Literatur als Spiel. Berlin / New York 2009, S. 57–78. 35 Und zudem erfährt man auch noch Einiges über die französische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, über das Landleben und den Ärzteberuf dieser Zeit oder über Besitzverhältnisse und unterschiedliche soziale Schichten.

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ist also, vereinfacht formuliert, eine Metapher für implizites Erfahrungswissen der Leser/innen.36 Bislang wurde die Identifikation von Ähnlichkeiten und Analogien beim Lesen in den Vordergrund gerückt. Zum Abschluss der hier vorgestellten, zugegebenermaßen fragmentarischen, Überlegungen soll noch die Frage in den Raum gestellt werden, wie die Wahrnehmung von Leser/innen und ihr implizites Erfahrungswissen irritiert und verfremdet werden, wie also ein Ereignis ausgelöst werden kann. Selbstverständlich spielen die Merkmale eines Textes – deren Analyse kann mit strukturalistischen, hermeneutischen und insbesondere rezeptionsästhetischen Ansätzen geleistet werden – dabei eine zentrale Rolle, aber die kontextuelle Einbettung von Lektüren ist ebenso wichtig: Vom selben Text oder (Kunst-)Werk wird man nicht immer und überall in gleicher Weise irritiert, und die spezifischen und identifizierbaren Merkmale eine Textes oder (Kunst-)Werkes sind möglicherweise für die Irritation gar nicht entscheidend.37 Eine Theorie der Irritation und Verfremdung von Erfahrung(swissen) von Leser/inne/n durch Literatur, die sich nicht auf die Literatur, sondern auf die Erfahrung der Leser/innen konzentriert, sich den Differenzen zwischen der

36 Für gelingende Prozesse der Formulierung von Erfahrung muss die Sprache literarischer Texte im Übrigen nicht reicher an (innovativen) Stilfiguren sein als unsere Alltagssprache. Allein schon die Tatsache, dass wir es mit fiktionalen oder als fiktional wahrgenommenen Texten zu tun haben, kann manchmal ein Garant dafür sein, dass ein metaphorisches Verhältnis in der Wahrnehmung aufgespannt wird – gerade die Fiktionalisierung von Vertrautem lässt einen das Vertraute als unvertraut erleben und damit erkennen. Ebenso wenig sind ausschließlich psychologische Romane wie Flauberts Madame Bovary geeignet, Erfahrung zu versprachlichen und zu kommunizieren. Manchmal ist sogar das Gegenteil richtig: Im genannten Projekt wurde mit den Krankenpflegerinnen, wie schon gesagt, die auf die psychologisierende Darstellung von Handlungsmotiven der Protagonist/inn/en verzichtenden Dramentexte Antigone und King Lear gelesen, die Handlungsaspekte in den Vordergrund rücken. Obwohl die Krankenpflegerinnen keine geübten Leser/innen waren, kamen sie mit den beiden scheinbar unzugänglichen, weil ‚alten‘ Texten gut zurecht, während für den Umgang mit den psychologisierenden Dramen oder Texten des 19. und 20. Jahrhunderts, die voller intertextueller Anspielungen sind, meines Erachtens mehr Texterfahrung nötig ist. Aber hier mag ich mich auch täuschen – Erfahrungen mit sechs Leserinnen sind nicht verallgemeinerbar. 37 Besonders gut ist dies bei den Ready-Mades von Marcel Duchamp beobachtbar (und auch wenn man Werke der bildenden Kunst nicht mit literarischen Texten so ohne weiteres in Beziehung setzen kann, sei mir dieser Ausflug in die Welt der Kunst aus Gründen der Verdeutlichung erlaubt): Die Frage, was etwa den berühmten Flaschentrockner von Duchamp, der als Kunstwerk hinter einer Kordel abgesperrt im Centre Pompidou zu bewundern ist und auf dem Kunstmarkt exorbitante Preise erzielen könnte, von jenem baugleichen Gebrauchsgegenstand unterscheidet, den es nebenan im Kaufhaus Bazar de l’Hôtel de Ville zu kaufen gibt, kann nicht durch eine Analyse der Merkmale des Objekts beantwortet werden.

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impliziten Erfahrungswelt von Leser/inne/n und den in Texten repräsentierten Wirklichkeiten widmet und die Frage stellt, was sich beim Lesen eigentlich genau ereignet, wenn Leser/innen durch verfremdende Verfahren irritiert werden – die also schlussendlich auch erklären kann, wie es zu einen Leseereignis im engeren Sinne kommt –, hat mit noch größeren Schwierigkeiten zu kämpfen als jenen, die bei der Analyse von ästhetischen Erfahrungsprozessen ganz allgemein auftreten. Grundsätzlich hat man es ja schon mit dem erkenntnistheoretischen Problem zu tun, dass die ästhetische Erfahrung beim Lesen immer schon eine durch Sprache vermittelte ist.38 Hinzu kommt, dass ein Lese-Ereignis ja gar nicht als solches festgehalten werden kann, denn wenn ein Ereignis dadurch charakterisiert ist, dass es nicht in der Struktur (konventionalisierter, sozialer etc.) Bedeutungen aufgeht, und gleichzeitig ästhetische Erfahrung immer nur durch die Befragung von und den Dialog mit Leser/innen zugänglich gemacht werden kann und daher eine Sprache finden muss, dann ist ein Lese-Ereignis allenfalls als Spur bemerkbar.39 Inzwischen klassisch gewordene Theorien der Verfremdung (etwa von Bertolt Brecht oder Viktor Šklovskij) helfen nur bedingt, solche Spuren zu beschreiben, weil sie auf das Werk blicken, also (wie viele formalistische und strukturalistische Theorien) Textstrukturen oder (wie Brecht) die Bühne in den

38 Und darum sind Theorien des ästhetischen Ereignisses, die sich Werken der (bildenden) Kunst oder der Musik widmen, für die Erklärung von Wahrnehmungsirritationen und -erschütterungen nur bedingt geeignet. Das betrifft insbesondere ästhetische Theorien des Erhabenen, des Schocks oder der Intensität, wie etwa jene von John Dewey, Theodor W. Adorno oder JeanFrançois Lyotard. Allerdings versuchen diese Theorien, etwas begrifflich zu erfassen, was durchaus auch für die vorliegenden Ausführungen von Interesse ist. Vgl. dazu etwa Ludger Heidbrink, der an Beispielen aus der Musik und der modernen Kunst Intensität als etwas beschreibt, „was die Regel der Normalität aufhebt und über das Mittelmaß unserer Aufmerksamkeit und Eingebundenheit hinausgeht“ (Heidbrink, Ludger: Intensität als Kategorie ästhetischer Erfahrung. In: Musik & Ästhetik 3 (1999), S. 5–27, hier S. 5). Heidbrink zeigt, dass Intensität als eine Kategorie der Kunsterfahrung und nicht der Kunst beschrieben werden muss, denn die „Erschütterung unseres Weltverhältnisses vollzieht sich nicht in der Kunst, die als ästhetische Alternative der Lebenspraxis wirksam wird, sondern mit Hilfe der Kunst, die uns kurzzeitig ein neues Verhältnis zur Lebenspraxis einnehmen läßt“ (ebd., S. 8). Nicht die Kunst, sondern ihre Rezipient/inn/ en befinden sich durch eine „ästhetische Intensitätserfahrung“ in einem „Ausnahmezustand“, der „zwar von der Kunst angestoßen wird, aber erst im Kontext der Lebenspraxis zur Geltung kommt“ (ebd., S. 25). Kunsterfahrung kann also erschüttern, aber diese „Erschütterung ist wie die Erfahrung ästhetischer Intensität ein flüchtiges Ereignis, durch das sich nicht fundamental neue Welt- oder Lebensentwürfe gewinnen lassen, wohl aber temporäre Alternativsichten auf die Alltagspraxis“ (ebd., S. 26). 39 Analog zu jenen subatomaren Teilchen, die im Teilchenbeschleuniger des Europäischen Kernforschungszentrum CERN zwar gesucht werden, aber nur als Spuren in einem Detektor zu finden sind, von denen auf die Beschaffenheit der Teilchen zurückgeschlossen werden muss.

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Blick nehmen  –, auch wenn beispielsweise Šklovskij durchaus mit den Begriffen der Wahrnehmung und des Empfindens operiert40 und Brecht die Haltung des Zuschauers thematisiert.41 Diesen Theorien fehlt eine spezifische Methodologie – und diese muss ausgreifen in nicht-philologische Fächer –, die es erlauben würde, den Blick vom Werk weg hin dezidiert auf die Rezipient/innen zu richten. Umgekehrt scheint die Kognitive Literaturwissenschaft dort, wo sie Leser/innen empirisch untersucht, stärker auf Routinen als auf Individuelles abzuzielen – und vielleicht ist es auch gar nicht anders möglich. Zudem bleiben die bereits erwähnten erkenntnistheoretischen Hürden vielleicht für immer bestehen: Von physiologischen oder neurologischen Reaktionen auf Literatur kann, wie bereits festgehalten, nicht direkt auf die Bedeutung dieser Reaktionen für Leser/innen geschlossen werden, und wenn Leser/innen nach diesen Bedeutungen befragt werden, wird in den Aussagen wiederum nicht direkt das Spezifische an der Ereignishaftigkeit des Lesens sichtbar. Das Ereignis des Lesens bleibt also immer in Teilen unzugänglich, was jedoch vielleicht auch die Faszination der ästhetischen Erfahrung erklärt, die ja nicht nur eine Kraft der Veränderung ist, sondern auch etwas gleichsam ‚Intimes‘.42

40 Šklovskij, Viktor: Kunst als Verfahren. In: Striedter, Jurij (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 1969, S. 3–35. 41 Brecht, Bertolt: Kleines Organon für das Theater. In: ders.: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Frankfurt a. M. 1967, Bd. 16, S. 659–708. 42 Sibylle Baumbach möchte ich an dieser Stelle für die Hinweise zur Kognitiven Literaturwissenschaft danken, Nadine Isser für die genaue Lektüre des Manuskripts.

Sabine Gross

Wissensbrüche als Schaltstellen im Text Zur Ereignishaftigkeit der Lese-Erfahrung Realistische Erzähltexte versuchen in der Regel, ihre eigene Ereignishaftigkeit unsichtbar zu machen, die Aufmerksamkeit der Leser*innen auf den Inhalt der Darstellung, das gegenständliche Geschehen zu lenken und nicht auf den Diskurs, den Text der Geschichte, also die Präsentation und das, was diese beim Lesen auslöst. Sie lenken somit ab vom Lesevorgang als Ereignis und hin zur Handlung im Text, wobei der Text sich präsentiert, als sei er transparent, ein Fenster auf eine existierende Wirklichkeit, nicht die sprachliche Erschaffung einer Fiktion. Diese hier als Ausgangspunkt dienende These stimmt natürlich nur als Vereinfachung. Auch realistische Texte weisen vielfache Brechungen dieser inhaltsorientierten Ästhetik auf. Doch lassen sich Erzähltexte grundsätzlich zwischen zwei Polen situieren: Der eine Pol markiert die Transparenz, den Text als unauffälliges Medium, das sich selbst zurücknimmt und die Aufmerksamkeit auf den Inhalt, auf das Erzählte richtet und damit auf die diegetischen Ereignisse der durch den Text dargestellten, entworfenen Welt. Der andere Pol ist der sprachreflexive Text, der uns mehr oder weniger nachdrücklich auf das Gemachtsein der Darstellung hinweist, der autoreferentiell die Illusion unterläuft und es uns schwer oder unmöglich macht, aus den Textdaten eine Welt von Figuren und Ereignissen zu konstruieren – und der sich damit, indem er Aufmerksamkeit auf den Lesevorgang lenkt, selbst als Ereignis darbietet oder, genauer gesagt, als Bewusstmachung eines Ereignisses, das zwischen Text und Leser*in zu situieren ist. Lesen ist immer Handlung, Ereignis, eine Transformation des Textes in der Rezeption, in unseren Köpfen.1 Wenn ich im Folgenden von der Ereignishaftigkeit des Textes spreche, dann als Abbreviatur für Texte, die diese Rezeption, den Lesevorgang, zum einen bewusst machen und zum anderen unsere Aufmerksamkeit nicht in erster Linie auf die dargestellte fiktive Welt lenken, sondern zurückbinden an die Form des Textes und den Ablauf der Lesereaktion, die er in uns auslöst.

1 Vgl. hierzu den Beitrag von Martin Sexl in diesem Band, in dem der aktuelle Stand der empirischen Leseforschung zusammengefasst wird. DOI 10.1515/9783110541854-023

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1 Raymond Queneaus längst zum Klassiker avancierte Stilübungen (Exercices de style, 1947) in denen eine banale alltägliche Begegnung im Bus in 99 im weitesten Sinne stilistisch definierbaren Varianten erzählt wird, machen diese Verschiebung deutlich. Die von Queneau mit diesem Text bewusst choreografierte anfängliche Lese-Reaktion ist (nicht nur bei mit diesem Text konfrontierten Studierenden) sinngemäß ein „Das ist ja wieder die gleiche Geschichte“ – bis man beim Weiterlesen merkt, dass es ja eben nicht die gleiche Geschichte ist, sondern auf der Basis desselben Ereignisses eine immer andere Geschichte, ein anderer Text. Eben diese Variationen des Textes, die man nach anfänglicher Verblüffung und möglicherweise Frustration mit steigendem Vergnügen und gespannter Erwartung liest, sind es, die den Text selbst zum Ereignis und die Vielfalt der rhetorischen Strategien sichtbar machen.2 Der prototypische Garant für die ‚Unsichtbarkeit‘ der Textkonstruktion ist der traditionelle Erzähler des 19. Jahrhunderts, eine Rolle, die sich insbesondere in Genres der Unterhaltungsliteratur ungebrochen bis in die Gegenwart erhalten hat. Dieser Erzähler ist weitgehend unauffällig, gewöhnlich zuverlässig und vermittelt uns Wissen zu passenden Zeitpunkten, gewissermaßen als Antwort auf Fragen, die wir gerade zu formulieren im Begriff sind. In dieser Kalibrierung erhalten der Erzählvorgang wie die dargestellten Figuren und Ereignisse den Anschein von Natürlichkeit. Dazu gehören nicht zuletzt Formen der Nicht-Information. Das schließt auf der semantischen Ebene Negationen ebenso ein wie darüber hinaus das Aussparen oder strategische Vorenthalten von Informationen. Im Folgenden präsentiere ich eine durchaus eklektische Beispielgalerie, die meine Überlegungen zur Ereignishaftigkeit von Texten und Leseakten anschaulich machen soll. Viele Aussagen darüber, was in einer vom Text geschaffenen Welt nicht der Fall ist, müssen zwangsläufig vom Erzähler stammen, der zudem eine Wissensabstufung herstellen kann, beispielsweise im folgenden, handwerklich beeindruckend präzisen Satz aus Fontanes Effi Briest. Der Erzähler konturiert hier so elegant wie unauffällig die Mehrschichtigkeit einer Wiedersehensszene zwischen Innstetten und Effi, indem er sowohl Wissensdiskrepanzen als auch den Figurencharakter einbindet in das Bild, das er den Leser*innen vermittelt: „Innstetten war in einer ihm sonst fremden Erregung, und so kam es, daß er die Verlegenheit nicht sah, die sich in Effis Herzlichkeit mischte.“3 In einem weiteren

2 Queneau, Raymond: Stilübungen. Aus dem Französischen von Ludwig Harig und Eugen Helmlé. Frankfurt a. M. 2007. 3 Fontane, Theodor: Effi Briest. München 1983, S. 179 (21. Kapitel).



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Beispiel aus Effi Briest korrigiert der Erzähler in einer Kombination aus Figurenfokalisierung und auktorialem Wissen nicht nur die irrige, aber relevante Wahrnehmung einer Figur, sondern verallgemeinert darüber hinaus das konkrete Verhalten einer anderen Figur zu einer Charakterisierung, die uns den Grund der gesamten Beziehungskonfiguration unter den Hauptfiguren noch einmal deutlich macht: Crampas wurde einen Augenblick verlegen, weil er glaubte, das alles sei in einer gewissen Absicht gesprochen, was aber nicht der Fall war. Innstetten hielt nur einen seiner kleinen moralischen Vorträge, zu denen er überhaupt hinneigte.4

Solange die Erzählung den Wissensbereich des Erzählers flexibel und überzeugend einbindet, bleiben solche Informationen für uns als Leser problemlos im Rahmen der diegetischen Ereigniswelt des Textes. Ein weniger subtiles, erklärend antizipierendes Beispiel aus einem Roman von Jeffrey Archer: „What he couldn’t know was that he and Ralph Elliot would be rivals for the rest of their lives.“5 In solchen Feststellungen oder Informationen spricht der Erzähler über den Kopf der Figuren – über die Fokalisierung durch Figuren – hinweg mit uns und vermittelt uns oft entscheidendes Wissen auf eine Art, die für uns plausibel ist. Keines der bisher angeführten Beispiele würde uns beim Lesen stutzig machen. Wie ist es in Fällen, wo Texte uns zentrale Ereignisse vorenthalten? Das Wichtigste ist, dass sie es unauffällig tun. In Kleists Marquise von O. ist das entscheidende Ereignis – die Vergewaltigung der Marquise durch den Grafen F, die die Handlung in Bewegung setzt – hinter einem zu Recht berühmt gewordenen Gedankenstrich versteckt, der bei der Erstlektüre wohl keinem Leser auffallen wird. In Effi Briest werden die regelmäßigen geheimen Treffen Effis mit ihrem Liebhaber Crampas auf eine Weise ausgespart, die ein problemloses und befriedigendes späteres Auffüllen vorbereitet und ermöglicht. Effi, so heißt es in einer Formulierung, die der jungen Ehefrau tugendhafte Disziplin zuschreibt, „hielt darauf, daß sie der ärztlichen Verordnung [von Strandspaziergängen] streng nachkam“.6 Dass Effi diese Strandspaziergänge nur während Crampas’ Anwesenheit durchführt, wird ganz nebenbei erwähnt, während zweimal darauf hingewiesen wird, dass das Kindermädchen Roswitha, das Effi zum Abholen entgegenkommt, diese nicht am verabredeten Ort vorfindet:

4 Ebd., S. 129 (16. Kapitel). 5 Archer, Jeffrey: Sons of Fortune. New York 2003, S. 34. 6 Fontane: Effi, S. 171 (Kapitel 20).

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Die Spaziergänge nach dem Strand und der Plantage, die sie, während Crampas in Stettin war, aufgegeben hatte, nahm sie nach seiner Rückkehr wieder auf und ließ sich auch durch ungünstige Witterung nicht davon abhalten. Es wurde wie früher bestimmt, daß ihr Roswitha bis an den Ausgang der Reeperbahn oder bis in die Nähe des Kirchhofs entgegenkommen solle, sie verfehlten sich aber noch häufiger als früher. „Ich könnte dich schelten, Roswitha, daß du mich nie findest.“7

Das bereitet die Möglichkeit vor, später die entscheidende Information über die Dauer der Affäre – die Briefe, die Effi aufgehoben und mittlerweile längst vergessen hat – nachzuliefern zu einem Zeitpunkt, wo sie maximale Wirkung auf uns entfaltet, so dass im Nachhinein die Aussparung ‚sichtbar‘ wird. Es gehört zum Standard-Werkzeug der schriftstellerischen Arbeit, sorgfältig verborgene Leerstellen zu schaffen, die uns erst später, wenn weitere Entwicklungen sie füllen, als solche bewusst werden. Sei es bedingt durch diese geschickt angebrachten Aussparungen oder durch das Mitteilen von Informationen – oft in der Negation –, die über den Bewusstseinshorizont der Figuren hinausgehen: Wir fühlen uns in solchen Texten als Leser*innen verlässlich ‚aufgehoben‘ im souveränen Wissen einer übergreifenden Erzählinstanz. Mitteilungen über Dinge, von denen die Figur unmöglich wissen kann, werden ergänzt durch die strategische Zurückhaltung eines Erzählers, der damit eine spätere Pointe oder dramatische PlotEntwicklung anbahnt. Breite Fokalisierung wie Einschränkung des Mitgeteilten stehen auf diese Weise also gleichermaßen im Dienst der Ereignisdarstellung im Text. Anders ist es, wenn der Horizont des mitgeteilten Wissens sich plötzlich und merkbar verengt, wenn der Erzähler sein Informationsprivileg unvermittelt zurücknimmt. Der britische Schriftsteller Jeffrey Archer setzt diese Technik in so vielen seiner Romane ein, dass sie als seine persönliche Handschrift gelten kann. Gelegentlich geschieht dies auf eine Weise, die zwar auffälliger ist als in den angeführten Fontane-Beispielen, aber doch im Rahmen der Figurenfokalisierung plausibel erscheinen kann. Wenn es als Abschluss eines Kapitels heißt: „But an idea was beginning to form in her mind“,8 dann verlassen wir uns darauf, dass wir in der Folge erfahren, was für eine Idee das ist. Wenn es anderswo heißt: „Before he was taken away to prison, he made one further request of his solicitor“,9 ohne dass die tatsächliche Bitte mitgeteilt wird, fällt uns das Vorenthalten der Informa-

7 Ebd., S. 173f. (Kapitel 21); siehe auch S. 171 (Kapitel 20). 8 Archer, Jeffrey: Not a Penny More, Not a Penny Less. London 1978, S. 178. 9 Archer, Jeffrey: Crime Pays. In: ders.: To Cut A Long Story Short. New York 2001, S. 117–149, hier S. 129.



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tion deutlicher auf. Ebenso in: „He listened carefully to her request and, although puzzled by it, could see no cause for any alarm.“10 Gelegentlich lässt Archer die Aufklärung mit wenig Abstand folgen – gerade genug, dass uns das Aussparen der Information bewusst wird. In The Prodigal Daughter heißt es: „he agreed to the one request Florentyna made of him, although he knew that Pete Parkin and Ralph Brooks would be furious when they heard.“11 Den Inhalt der Bitte erfahren wir verspätet auf der folgenden Seite. Doch der Abstand kann (ähnlich wie bei Fontane) auch deutlich größer sein, wie es der Fall ist beim folgenden Kapitelende, das uns ohne Antwort auf die naheliegende Frage lässt, um welche Dokumente es sich handelt: „‚I also have a document of my own that I wish you to witness,‘ said Nick. He took out several pieces of lined prison paper from an inside pocket and passed them across to his solicitor.“12 Dass es sich bei dem hier so geheimnisvoll eingeführten Dokument um ein Testament handelt, enthüllt der Text erst ca. vierhundert Seiten später, als es eine entscheidende Rolle in dem dramatischen Gerichtsfall spielt, der den Höhepunkt und die Auflösung einer kompliziert gesponnenen Handlung mit Intrige und Gegenintrige darstellt. In seinem Roman Sons of Fortune variiert Archer seine Vorliebe für diese Spannung und Erwartung generierenden Stolpersteine. Wiederholt lässt er Figuren anfangen zu sprechen, dann allerdings folgt auf die ersten Worte in direkter Rede eine Dreipunkt-Ellipse, die eindeutig ein Erzählereingriff ist, so dass das Gesagte uns damit vorenthalten wird. In Kapitel 12 setzt Rebecca, eine der Hauptfiguren, an: „Because there’s another problem…“ Damit endet der Absatz. Zwei Seiten später finden wir eine weitere Äußerung von Rebecca, auch als Absatzende: „But it’s a problem for me […] because there’s something else I haven’t told you…“13 Hier wird man sich beim Lesen beinahe unausweichlich der Textkonstruktion bewusst. Was Archer solcherart in zahlreichen Texten praktiziert, die häufig dem Genre des Kriminalromans nahestehen, ist eine Verletzung der Fairness-Regeln, die für die klassische detective story formuliert wurden und vorschreiben, den Leser*innen seien keine Informationen vorzuenthalten, die zur Auflösung des

10 Archer, Jeffrey: As the Crow Flies. New York 1991, S. 387, ähnlich nochmals auf S. 388, wo dieselbe Figur „remained puzzled by the clause Mrs. Trentham had insisted on inserting as it made no sense to him”, ohne dass wir erfahren, was denn dieser zusätzliche Paragraph in dem Vertrag besagt. 11 Archer, Jeffrey: The Prodigal Daughter. New York 1993, S. 412. 12 Archer, Jeffrey: A Prisoner of Birth. New York 2008, S. 195. Enthüllung auf S. 588. 13 Archer: Sons of Fortune, S. 90, 92. Beide Ellipsen im Original.

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Falls nötig sind.14 Aber er verschiebt auch in diesen Momenten die Aufmerksamkeit der Leser*innen von dem, was im Text geschieht, auf die Mitteilung – in diesen Fällen die auffällig lückenhafte Mitteilung – des textlichen Geschehens. Einerseits dient sein Verfahren der Spannungserzeugung und belässt uns damit letztlich im Rahmen der Diegese – wir wollen wissen, was der Erzähler hier strategisch für sich behält, wie es mit der Handlung weitergeht und welche Rolle dieses geheimnisvolle Detail spielt. Andererseits aber macht er uns auf den Text der Erzählung selbst aufmerksam; wir bekommen den Eindruck, als kokettiere der Erzähler mit seinem Wissensprivileg und unserer Neugier. Ähnliches lässt sich auch über den Ich-Erzähler in Peter Høegs Frøken Smillas fornemmelse for sne ausführen, einem jener literarischen Krimis, die die Konventionen dieses Genres nur zum Teil erfüllen und gleichzeitig deutlich überschreiten. Hier finden sich wiederholt erzählerische Momente wie die folgenden, nach denen der Text zunächst meist abrupt zu ganz anderen Ereignissen oder Gedanken wechselt: As I close the report, I have an idea. I open it again and page through to the medical report. There I see something. And then I know that it’s been worth all the trouble.15 At the North Harbor I make several purchases and pack up a box that they will deliver to Moritz’s villa, and from a phone booth I make a call that I know is one of the crucial actions in my life.16

Natürlich hat die Protagonistin das Recht, uns diese Informationen vorzuenthalten – ja, innerhalb ihres Wissenshorizonts ist das durchaus plausibel. Und doch ist diese Darstellungsweise und narrative Organisation zugleich eine Aufforderung an uns, über den Inhalt der Kiste wie auch des Anrufs zu rätseln. Wir können dieses Angebot zum aktiven Mitkonstruieren zwar in der Zuversicht auf spätere Auflösung ablehnen, doch fällt es uns vermutlich zunächst auf.

14 Nachzulesen beispielsweise bei Knox, Ronald A.: A Detective Story Decalogue [1929]. In: Haycraft, Howard (Hg.): The Art of the Mystery Story. New York 1992, S. 194–196. Regel VIII lautet: „The detective must not light on any clues which are not instantly produced for the inspection of the reader. Any writer can make a mystery by telling us that at this point the great Picklock Holes suddenly bent down and picked up from the ground an object which he refused to let his friend see.“ (Ebd., S. 196). Im jahrzehntelang tonangebenden „Detection Club“ lautet ein Bestandteil des Eids, den neue Mitglieder als Teil des Aufnahmerituals ablegen müssen: „Do you solemnly swear never to conceal a vital clue from the reader? Candidate: I do.“ The Detection Club Oath. In: Haycraft: The Art of the Mystery Story, S. 197–199, hier S. 198. 15 Høeg, Peter: Smilla’s Sense of Snow. Übersetzt von Tiina Nunnally. New York 1993, S. 85. 16 Ebd., S. 241.



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2 Derartige Spiele mit Leser*innen können vereinzelt oder als charakteristische Strategie (wie bei Archer) auftreten. Sie können aber auch unsere Rezeption eines Romans entscheidend beeinflussen. Stewart O’Nans Roman A Prayer for the Dying17 ist in der Du-Form als ein ausgedehntes Selbstgespräch geschrieben, in dem den Leser*innen dennoch Entscheidendes vorenthalten wird. Der Erzähler ist Jacob Hansen, Sheriff, Prediger und Totengräber einer amerikanischen Provinz-Stadt im 19. Jahrhundert, durch dessen Verschulden sich die Diphterie in der Stadt ausbreitet. Nach seiner Tochter erkrankt auch seine Frau, und eine Weile steht es schlecht um sie. Und dann? Nun sind es Form und Wahrnehmung der Ereignisse, die selbst zu Ereignissen werden, wie sich im Nachhinein erweisen wird. Die folgenden Zitate geben erste Hinweise: Marta sitzt in dem blauen Kleid, das dir so gut gefällt, auf dem kleinen Sofa und hat Amelia auf dem Schoß. Du nimmst deinen Whiskey mit und setzt dich zu ihnen. […] Du legst den Arm um sie, gibst ihr einen Kuss auf ihre kühle, rot geschminkte Wange. „Wie fühlst du dich?“ Viel besser. Das muss am Schlaf liegen.18

Es klingt nach Familienidylle. Und warum sollte die Frau nicht geschminkt sein und kühle Wangen haben? Beim Lesen wird man zunächst kaum darauf achten, dass die Fragen des Sheriffs als direkte Rede in Anführungszeichen stehen, die Antworten der Frau allerdings nicht. Auch die folgende Passage signalisiert familiäre Harmonie: Nach dem Abendessen spielt Marta auf dem Harmonium und ihr beide singt dazu. Sie fällt vom Hocker, doch du stützt sie, setzt ihre Füße auf die Pedale, legst ihre Finger auf die Tasten und hilfst ihr, das eingestrichene C zu finden. […] Amelia spielt auf dem Fußboden mit ihrer Maispuppe.19

Das wirkt, wenn man nicht sehr genau liest, nicht weiter befremdlich – das Stützen und Helfen ebenso wie das gemeinsame Singen erscheinen als Teil einer intakten Beziehung, obwohl man sich über das Maß der Ungeschicklichkeit wundern kann, das dazu führt, dass Marta vom Musikhocker fällt.

17 O’Nan, Stewart: A Prayer for the Dying. New York 1999. Im Folgenden wird aus der deutschen Übersetzung von Thomas Gunkel zitiert: Das Glück der anderen. Reinbek 2001. 18 O’Nan: Glück, S. 151. 19 Ebd., S. 163.

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Sechzig Seiten später allerdings stellt sich in der folgenden Passage die Situation endgültig anders dar: [Du] gibst [Marta] einen Kuss. Sie sieht dich mit milchigen Augen an, ihr Gesicht zu einer Grimasse erstarrt, die Lippen geöffnet, sodass ihre makellosen Zähne zu sehen sind. Du hättest mehr Balsamierflüssigkeit verwenden sollen.20

Hier wird die Form der Erzählung selbst zum Ereignis, ohne allerdings die diegetische Illusion zu sprengen: Die hiermit deutlich gewordene Irreführung des Lesers durch die Darstellung, in der die geschehene familiäre Katastrophe als Familienidylle erscheint, das Aussparen des Todes der Ehefrau entspringt, das wird hier klar, einem zunehmenden Realitätsverlust Hansens, der die Gewissheit nicht erträgt, dass er den Tod seiner Frau und seiner kleinen Tochter mitverursacht hat. Die Du-Stimme platziert den Leser zwischen die grässliche Wirklichkeit und Hansens zunehmende psychische Verwirrung, in der er die Tochter wieder aus ihrem Sarg ausgräbt, die tote Frau parfümiert und so mit den beiden ein groteskes Familienleben inszeniert. Die Darstellung verschiebt sich ins Wahnhafte. Wenn ich nun ein weiteres ähnlich gelagertes Beispiel anführe, sind die Leser*innen dieses Aufsatzes durch eben diese Bemerkung schon vorgewarnt, anders als die Leser*innen von John Sandfords Kriminalroman Field of Prey, die einem Mörder namens Roger Axel (R-A) begegnen und seinem Freund und Mitbewohner namens Horn, der nach einer schweren Verletzung bei einem gemeinsamen Mordversuch im Rollstuhl sitzt, mit Axel trinkt und Gespräche führt. Die beiden kennen sich offenbar gut. Horn spricht offen mit Axel und nimmt kein Blatt vor den Mund. Vielleicht wundert man sich zwischendurch, dass Axel sich so wenig um die körperlichen Bedürfnisse Horns kümmert, ihn nicht aus dem Rollstuhl abends in ein Bett hebt, dass Horn zwar mit Axel trinkt, aber selten etwas zu essen scheint. Dennoch: die Dialoge wirken plausibel, und die erste Reaktion des Polizisten, der Verdacht schöpft und Axels Haus besucht, ist kaum auffällig: „[H]e noticed the figure in the wheelchair. Horn was looking right at him, and Shaffer blurted, ‚What the hell?‘“21 Der Grund für sein Erstaunen wird nicht näher ausgeführt, und unsere Aufmerksamkeit wird unmittelbar danach auf der Handlungsebene davon in Anspruch genommen, dass Axel Shaffer erschießt. So halten wir uns beim Lesen nicht länger bei diesem Detail auf und lesen in der Folge noch zahlreiche weitere Unterhaltungen zwischen Horn und Axel, in denen Horn kritisiert, lobt, kommentiert und Ratschläge gibt. Erst mehr als zweihundert

20 Ebd., S. 223. 21 Sandford, John: Field of Prey. New York 2014, S. 81.



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Seiten später müssen wir erkennen, dass Horn vor fünfzehn Jahren an der damaligen Verletzung gestorben ist und seitdem als Toter Axel Gesellschaft leistet: [Axel] loaded Horn’s mummified corpse into the back of the Suburban, on a plastic sheet, tossed the head on top of the pile, and tied up the bundle. Horn was still wearing the clothes he’d been killed in, though you couldn’t see much blood after fifteen years of rot.22

Die Stimme und Horns geisterhafte Präsenz bleiben auch nach der Entsorgung seiner vertrockneten Leiche erhalten und dokumentieren Axels pathologische geistige Aufspaltung: Back home, he found Horn sitting in the living room, in the wheelchair: He no longer had the duct tape around his neck, which had held his head upright for the past decade and a half. R-A was not especially surprised. „You didn’t think you’d get rid of me that easy, did you?“ Horn asked. „No, I really didn’t,“ R-A said.23

Tatsächlich fühlt sich Axel in der Gesellschaft des nun nicht mehr physisch vor ihm sitzenden Horn sogar wohler: „Could try it sometime, if the cops don’t get you first,“ Horn said. Horn was looking a lot better, like he’d looked eleven or twelve years earlier, when he was alive. R-A was beginning to regret not getting rid of the body years before.24

Die Wende und Aufklärung der Beziehung zwischen beiden Figuren, wie sie während fast des gesamten Romans dargestellt wurde und sich uns darstellte, ist vielleicht der dramatischste Lese-Eindruck in diesem Roman. Er zwingt uns dazu, alles, was wir bisher gelesen haben, neu zu bewerten, im Geiste (oder tatsächlich blätternd) die vorigen Schilderungen der Beziehung nachträglich auf Hinweise darauf zu untersuchen, dass Horn nicht lebendig, sondern als mumifizierte Leiche Axel fünfzehn Jahre Gesellschaft geleistet hat. Natürlich ändert es in einem weiteren Schritt auch unsere Einschätzung von Axel als Schurke des Romans, dass er eingebildete Dialoge mit einem makabren Wohngenossen geführt hat. Doch die erste Reaktion dürfte sich auf unsere eigene Leseerfahrung und die Souveränität beziehen, mit der Sandfords Text uns hinters Licht geführt hat. Archers relativ deutliche Auslassungen sowie die aufwendige und detailbewusst ausgetüftelte Doppelbödigkeit bei O’Nan und Sandford, die uns durch

22 Ebd., S. 300. 23 Ebd., S. 302. 24 Ebd., S. 317.

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große Abschnitte der Romane hindurch eine bestimmte Situation vorspiegeln und dabei auf eine nachträgliche Enthüllung, ein Umkippen in eine radikal andere Situation hin angelegt sind, die uns zu einer allmählichen oder schlagartigen Uminterpretation zwingt: Immer beruht die Wirkung darauf, dass wir einem Erzähler prinzipiell das Recht zugestehen, uns umfassend oder selektiv mit Informationen zu versehen. Bei Archer und Sandford begegnen wir der gezielten Zurückhaltung eines Erzählers, der eine spätere Pointe oder dramatische PlotEntwicklung inszeniert, indem er seine Informationsvergabe einschränkt. Es sind diese Zurückhaltung und der durch sie ermöglichte Überraschungseffekt, die maßgeblich dazu beitragen, dass sich der Status des Textes von der Darstellung zum Ereignis verschiebt und die diegetische Illusion durchbrochen wird. Dies ruft beim Lesen entweder Bewunderung und Anerkennung hervor, oder aber Frustration und das Gefühl, betrogen worden zu sein. Positiv verlagern wir im Augenblick der verblüfften Erkenntnis unsere Aufmerksamkeit auf den Text und den von ihm ausgelösten Leseakt, wenn wir das handwerkliche Geschick und die geheime Zweigleisigkeit anerkennen, mit der wir in die Irre geführt worden sind. Ein Ich-Erzähler, der in der vorgeblichen Wiedergabe früherer Begebenheiten Informationen auslässt, die ihm auf seinem späteren Wissensstand zur Verfügung stehen, stellt mit dieser Spaltung zwischen erzählendem und erlebendem Ich einen Sonderfall des Verhältnisses von Geschehen zu Geschichte dar, in dem Ereignisse (story) in Diskurs (discourse) transformiert werden.25 In Bernhard Schlinks Bestseller-Roman Der Vorleser erzählt der Ich-Erzähler Michael retrospektiv zunächst die Geschichte einer frühen Liebesbeziehung, in der bestimmte Reaktionen seiner zwanzig Jahre älteren Geliebten Hanna rätselhaft bleiben. Erst Jahre später wird Hannas mysteriöses Verhalten in Nachhinein plötzlich erhellt und plausibel gemacht: Als der Ich-Erzähler sie als angeklagte SS-Lageraufseherin in einer Gerichtsverhandlung wiedersieht, erkennt er, dass sie Analphabetin ist. Das erzählende Ich hätte diese Information, die dem erlebenden Ich nicht zugänglich war, natürlich bereits vorwegnehmend liefern können, doch der Grund für die Auslassung ist klar: Ort und Zeit der Enthüllung liefern eine dramatische Pointe und sind zudem relevant für die Frage nach der Schuld der Angeklagten. Mit Sicherheit hat diese eindrückliche Wendung zum Erfolg des Romans beigetragen. Die diskursive Platzierung dieser Information nötigt uns als Leser*innen, nicht nur unsere Einschätzung Hannas und der Beziehung zu revidieren, sondern zugleich das bereits Gelesene in einem neuen Licht zu

25 Die Terminologie wird uneinheitlich verwendet. Vgl. die Zusammenstellung in Martínez, Matías / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 9. erweiterte und aktualisierte Aufl. München 2012, S. 28.



Wissensbrüche als Schaltstellen im Text 

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sehen. Die Konstruktion wird für einen Moment sichtbar und gewinnt Bedeutung für unseren Umgang mit dem Text, während sich unsere Aufmerksamkeit vom geschilderten Ereignis auf unsere eigene Lese-Erfahrung verschiebt, in der nun der Text selbst das Ereignis darstellt. Dass es für einen Ich-Erzähler, der in der fiktionalen Gegenwart, der zeitlichen Null-Ebene des diegetischen Geschehens erzählt, kaum möglich ist, uns hinters Licht zu führen, darauf weist gleich die erste Regel in den bereits erwähnten „Zehn Geboten für den Detektivroman“ von Ronald A. Knox hin: „The criminal […] must not be anyone whose thoughts the reader has been allowed to follow.“26 Und doch hat gerade diese Regel vereinzelt Autoren zum Gegenanschreiben herausgefordert. Unter ihnen finden wir die Altmeisterin des klassischen Detektivromans, Agatha Christie, die in The Murder of Roger Ackroyd erfolgreich ein Tabu durchbrochen hat: Am Schluss des Romans stellt sich heraus, dass der IchErzähler, aus dessen Sicht die Detektivhandlung erzählt wird, der Mörder war – ein Triumph erzählerischer Raffinesse, der Leser*innen noch stärker, als dies ohnehin in diesem Genre der Fall ist, auf die kunstvoll listige Form der Darstellung verweist.27 In einer virtuosen Variante jüngeren Datums präsentiert uns Jonathan Kellerman in einer Kombination aus innerer Fokalisierung und innerem Monolog die Innensicht einer jungen Mutter, die nach einem Restaurantbesuch von einem Mann verfolgt und bedroht wird, während sie sich hilflos und allein mit ihrem Baby und ihm in einem Park befindet.28 Hier nimmt die Geschichte eine Wendung, die uns alles Vorhergegangene mit neuen Augen sehen lässt. Die junge Mutter, deren Gedanken wir die ganze Zeit verfolgt haben, ist, wie sich nun herausstellt, eine Auftragsmörderin, die den ganzen Ablauf perfekt vorausgeplant hat. Indem Kellerman dies alles mit großem handwerklichem Geschick aus der sich als trügerisch (oder doch zumindest strategisch inflektiert und unvollständig) erweisenden Innensicht schildert, verbindet er die Irreführung der Leser*innen mit einer Volte, die mitten in den dramatischen Ereignissen – die junge Mutter erschießt den Mann – die Textanlage selbst in den Mittelpunkt unseres Interesses rückt. Aufgrund des plötzlich von Grund auf anderen Szenarios erscheint uns derselbe Text neu und anders, wird damit qua Text auffällig. Zwischen dem von Kellerman geschilderten „Was“ und unserer auf das „Wie“ gerichteten bewundernden Frage „Wie hat er das bloß hingekriegt?“ wird unsere Aufmerksamkeit hin und hergezo-

26 Knox: Decalogue, S. 194. 27 Auch Knox weist auf „some remarkable performances by Mrs. Christie“ hin. Ebd., S. 194. 28 Kellerman, Jonathan: The Things We Do for Love. In: Parker, Robert (Hg.): The Best American Mystery Stories 1997. Boston / New York 1997, S. 153–164.

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gen. Unser Leseinteresse wird nicht völlig von den inhaltlichen Ereignissen abgezogen, richtet sich nun aber zusätzlich auf das, was sich am Interface von Text und kognitiver Verarbeitung abspielt. Hier sei nur am Rande darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit, den Text selbst zum Ereignis werden zu lassen, nicht auf erzählende Prosa beschränkt ist. Peter Handkes Publikumsbeschimpfung, uraufgeführt am 8. Juni 1966 unter der Regie von Claus Peymann in Frankfurt am Main im Theater am Turm, macht radikal den Text und das Theater selbst zum Inhalt des Ereignisses. Es gibt keine Figuren, Dialoge und Handlung; zudem wird die Darbietung auf der Bühne weitestgehend aller erwartbaren Dimensionen – Kostüme, Interaktion untereinander, aber auch Requisiten, Bühnenbild und Beleuchtung – beraubt. Diese doppelte Verweigerung wiederum wird im Text thematisiert, der die Zuschauer*innen in großer Ausführlichkeit auf alles hinweist, was ihnen nicht geboten oder vorenthalten wird. Kurze Auszüge aus den insgesamt 67 Absätzen fortlaufenden Textes machen deutlich, auf welche Art die Verweigerung selbst zum Ereignis wird, vermittelt über insistente Negationen der klassischen Bühnenillusion, die in Europa vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend die Norm bildete: Ihnen wird nichts vorgespiegelt. […] Sie sehen kein Bild von etwas. Sie sehen auch nicht die Andeutung eines Bildes. […] Die Leere dieser Bühne ist kein Bild von einer anderen Leere. Die Leere dieser Bühne bedeutet nichts. […] Diese Bühne stellt nichts dar. Sie stellt keine andere Leere dar. Die Bühne ist leer. Sie sehen keine Gegenstände, die andere Gegenstände vortäuschen. Sie sehen keine Dunkelheit, die eine andere Dunkelheit vortäuscht. Sie sehen keine Helligkeit, die eine andere Helligkeit vortäuscht. Sie sehen kein Licht, das ein anderes Licht vortäuscht. […] Sie erleben hier keinen Raum, der einen anderen Raum vortäuscht. Sie erleben hier keine Zeit, die eine andere Zeit bedeutet. Hier auf der Bühne ist die Zeit keine andre als die bei Ihnen.29

29 Handke, Peter: Publikumsbeschimpfung und andere Sprechstücke. Frankfurt a.  M. 1996, S. 18f. Wie unterschiedlich diese Verschiebung der Ereignishaftigkeit von der Handlung auf die Bewusstmachung von Erwartungen wirken kann, zeigte sich an der Reaktion des Publikums: Die Uraufführung wurde überwiegend mit anhaltendem Applaus begrüßt. In der zweiten Vorstellung am 9. Juni fassten die Zuschauer das Stück als Aufforderung zum Eingreifen auf, was zu Tumult auf der Bühne führte.



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3 Was sagt ein Text, was sagt er nicht, wie sagt er, was er nicht sagt? Abschließend möchte ich kurz auf einen Text eingehen, der ein kaum überbietbares Beispiel genussvoller ästhetischer Irritation darstellt, die sich an der textuellen Ausführung des verwegenen Plans entwickelt, eine Darstellung des Nichts zu liefern – Donald Barthelmes vierseitigen Text Nothing: A Preliminary Account. Die Negation hat hier einen fundamental anderen Status als in den Fontane-Beispielen oder auch in Handkes Publikumsbeschimpfung. Es ist das Nichts selbst, das benannt werden soll, aber das geht nur in der Verneinung, und diese wiederum richtet sich unausweichlich auf Einzelnes, Vorhandenes, auf Nicht-Nichts. Der Text ‚scheitert‘ – und darin liegt sein Reiz – in seinem vorgeblichen Unterfangen gleich mehrfach: zum einen an der Übermacht des Vorhandenen, zum anderen in der Art, wie immer wieder kleine, aber detailintensive Beschreibungen auftauchen und sich gewissermaßen gegen die scheinbare Verweigerung des Benennens zu behaupten suchen. Bereits der Anfang des Textes inszeniert diese Spannungen zwischen benannten Objekten und Diskurs, zwischen Kategorie und phänomenaler Individualisierung: It’s not the yellow curtains. Nor curtain rings. Nor is it bran in a bucket, not bran, nor is it the large reddish farm animal eating the bran from the bucket, the man who placed the bran in the bucket, his wife, or the raisin-faced banker who’s about to foreclose on the farm. None of these is nothing. A damselfish is not nothing, it’s a fish, a Pomacentrus, it likes warm water, coral reefs – perhaps even itself, for all we know. Nothing is not a nightshirt or a ninnyhammer, ninety-two, or Nineveh.30

Der Umgang mit diesem Text und seinen Aussagen bringt uns immer wieder in den beunruhigenden, weil Paradoxa einschließenden und kognitiv nur mit erhöhtem Aufwand zu bewältigenden Bereich doppelter Negationen. „None of these is nothing“:31 Der Sinn dieser Aussage oszilliert zwischen ‚Das Aufgezählte ist etwas, ist vorhanden, ist nicht nichtexistent‘ und ‚Es gibt ein definierbares Nichts, und die genannten Dinge erfüllen nicht die Bedingungen dafür‘. Der letzte Satz des Textes neigt eher zur zweiten Möglichkeit: „Nothing is not a nail.“32 Die ersten Sätze des Textes bilden den Anfang einer Aufzählung, ja einer Liste – doch was ist es, das sie aufzählen? An welchem Punkt begreifen wir, dass

30 Barthelme, Donald: Nothing: A Preliminary Account. In: ders.: Sixty Stories. New York 1982, S. 245–248, hier S. 245. 31 Ebd., S. 245. 32 Ebd., S. 248.

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mit „It“ das „Nothing“ der Überschrift gemeint ist? Gleichzeitig aktivieren die ersten Worte irritierenderweise durch die Formulierung unsere Erwartung einer traditionellen medias-in-res-Schilderung. Und vor dem Ende des dritten Satzes werden wir konfrontiert mit einer kleinen Explosion von Details, die nicht nur eine Situation, sondern eine Handlung andeuten, alle eingeführt mit bestimmten Artikeln, die uns die starke Erwartung von Bekanntem nahelegen – eine Erwartung, die der Text aber zugleich sabotiert. Nach dem letzten Satz des obigen Zitats, der unsere Aufmerksamkeit durch die insistenten Alliterationen der ansonsten völlig unverbunden genannten Einheiten oder Objekte auf die Form lenkt, erscheint übergangslos eine der weiteren Mikroszenen mit narrativem Potenzial: It is not a small jungle in which, near a river, a stone table has been covered with fruit. It is not the handsome Indian woman standing next to the stone table holding the blond, kidnapped child. Neither is it the proposition esse est percipi, nor is it any of the refutations of that proposition. Nor is it snuff. Hurry.33

Ein kleiner Dschungel? Wer hat das Kind gekidnappt und warum? Unsere Fragen bleiben unbeantwortet. Immer wieder erscheinen solche Szenen, die sozusagen den Kampf aufnehmen gegen die dominante Ausrichtung des Textes, die Obsession durch das Nichts, die sich als unbedingt der Vergeblichkeit geweihter Versuch manifestiert, das Nichts durch den negierenden Einzelblick auf alle Gegenstände und Kategorien dieser Welt in den Griff zu bekommen. Barthelmes kurzer Text verweist ausschnitthaft auf Endlosigkeit. Dass der Autor über Sisyphus schreibt, machen die letzten Zeilen des Textes unmissverständlich deutlich: What a wonderful list! How joyous the notion that try as we may, we cannot do other than fail and fail absolutely and that the task will remain always before us, like a meaning for our lives. Hurry. Quickly. Nothing is not a nail.34

Barthelmes Nothing ist ein Text, der sich selbst als Ereignis inszeniert. Er erinnert uns daran, dass jeder Text unendlich viel mehr auslässt, als er zu sagen vermag, und bringt uns die essentielle Leerstellenhaftigkeit, ja, das radikale Zu-Kurz-Greifen jeden Textes der Welt gegenüber zu Bewusstsein. Sprache besitzt in hervorragendem Maße die Eigenschaft, in der Benennung imaginativ Welt herzustellen – eine Eigenschaft, die ihr Komplement in der darauf gerichteten kognitiven Konstruktionsfähigkeit ihrer Benutzer*innen findet. Barthelmes Text aktiviert immer

33 Ebd., S. 245. 34 Ebd., S. 248.



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wieder unser Bemühen, ja, unsere spontanen Versuche, Welt zu konstruieren, nur um sie dann abzubrechen und ins Leere laufen zu lassen. Und er macht etwas explizit, das in meinen oben angeführten Beispielen funktioniert, ohne thematisiert zu werden: dass – im Gegensatz zu visuellen Medien und Künsten – Information durch Negation ein Privileg von Schrifttexten ist. Er stellt damit (wenn auch durch den Filter der Negation) das sprachliche Analogon dar zu einer Serie von siebzehn Zeichnungen (jeweils im Format 150 × 30 cm) der New Yorker Künstlerin Elise Engler, die 1997–98 entstanden. Unter dem Titel „Everything I own“ bilden sie den gesamten damaligen Besitz der Künstlerin, 13127 Objekte, ab.35 Ein Artikel des Filmwissenschaftlers Edward Branigan macht bereits im Titel deutlich, dass auch das filmische Erzählen sich in diesem Punkt entscheidend von sprachlichen Narrativen unterscheidet: „Here Is a Picture of No Revolver“.36 Eben diesen Unterschied präsentiert Barthelme in einer wunderbaren Passage zum wortefresserischen „Hipphilosamus“ als gleich doppelte epistemologische Aporie. Während es auf frustrierende Weise unmöglich ist, die Nichtanwesenheit des Hipphilosamus zu beweisen, macht auf einer zweiten Stufe die Nichtexistenz dieses nur als Wort existierenden Wesens den gesamten Versuch kategorial nichtig. We are aware of the difficulties of proving a negative, such as the statement „There is not a hipphilosamus in my living room,“ and that even if you show us a photograph of your living room with no hipphilosamus in it, and adduce as well a tape recording on which no hipphilosamus tread is discernible, how can we be sure that the photograph has not been retouched, the tape cunningly altered, or that both do not either pre- or postdate the arrival of the hipphilosamus? That large, verbivorous animal which is able to think underwater for long periods of time?37

In diesem wie in allen anderen Details verwickelt uns der Text in eine oszillatorische, ja schwindelerregende Spannung von Willkür und Notwendigkeit. Natürlich gestehen wir zu, dass „nothing“ nicht „bran in a bucket“ ist (siehe oben) – aber warum wird ausgerechnet der Eimer mit Kleie zur (Nicht-)Repräsentation des Nichts ausersehen und nicht die Millionen von anderen Gegenständen, die sich anbieten? Die Mini-Geschichten, die wie unversehens entfaltet werden, sind Explorationen von Nischen, die sich innerhalb dieser Willkür auftun und sogleich wieder schließen, ähnlich wie das bilinguale Wortspiel, das uns von der Referenz zum Wort zurückführt, indem es Brot und Schmerz, Senf und Senfpflas-

35 In: http://eliseengler.com/installations/view/24 (14. Oktober 2016). 36 Branigan, Edward: Here Is a Picture of No Revolver. In: Wide Angle 8 (34) (1986), S. 8–17. 37 Barthelme: Nothing, S. 247.

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ter unter dem Vorzeichen der Negation aneinander rückt: „it’s not pain or pain or the mustard we spread on the pain or the mustard plaster we spread on the pain […].“38 Aber bei all diesen Verweigerungen – von Kontext, von Vollständigkeit, von einer Welt, die nicht in der Negation erscheint –, bei all diesen Manövern, die uns den Weg zu im Text repräsentierten Ereignissen verstellen und uns auf das Ereignis des Textes selbst zurückverweisen: Immer wieder eröffnet sich in Andeutungen die Möglichkeit, den Text diegetisch zu lesen, als Inszenierung nicht nur eines Leseaktes, sondern eines Ausschnitts von Welt im Text. Es sind Andeutungen, die sich summieren: der absurde, aber dringliche Impuls, eine vollständige Liste des Nichts herzustellen; der dreimal angesprochene gelbe Vorhang, hinter dem sich Geheimnisvolles verbirgt; die nebensächlich-selbstverständliche Nennung des Psychiaters.39 Im Text erscheint als „Wir“ ein Ich, das beim Lesen für uns virtuelle Gestalt annimmt, das sich auf Freunde bezieht, das Ungeduld und andere Affekte zum Ausdruck bringt: Our list can in principle never be complete, even if we summon friends or armies to help out (nothing is not an army nor is it an army’s history, weapons, morale, doctrines, victories, or defeats – there, that’s done).40

In den drei letzten Worten geht Aussage in Kommentar über: „there, that’s done“ ist, mit Brecht gesprochen, eine gestisch reiche Aussage. Hier wird sprachlich nicht benannt oder beschrieben, sondern gehandelt, hier blitzt in der Stimme des Textes eine individuelle Psyche auf, werden Erleichterung und Befriedigung darüber spürbar, einen weiteren Bereich der Liste – den des Militärs – abhaken zu können. Barthelmes eigenwilligem Text, der die Repräsentation eines Inhalts wirkungsvoll sabotiert, der uns in seiner Verweigerung von Weltschilderung so nachdrücklich auf seine Existenz als Text und unsere Begegnung damit verweist, gelingt es gleichzeitig, ein Psychogramm eines Subjekts zu erstellen: obsessiv und intellektuell; manchmal überwältigt, aber auch freudig besessen von der Aufgabe, das Nichts zu katalogisieren; zu Abschweifungen neigend; sich freiwillig oder unfreiwillig in einem Zimmer mit gelben Vorhängen aufhaltend, die wiederholt in den Blick geraten und Phantasien oder Zwangsvorstellungen auslösen. An die Stelle eines kohärenten Systems von Erzählzeit in einer Handlung setzt

38 Ebd., S. 246. 39 Ebd., S. 247. 40 Ebd., S. 247.



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der Text eine Eigenzeit, die uns auf die reale Zeit des Lesens verweist statt auf die Zeiten inhaltlichen Geschehens. Barthelmes Text ist ein Gegenentwurf zur ordnenden Zeit des Märchens, das wir als Prototyp des Erzählens verstehen dürfen, vom „Es war einmal…“ zum „… so leben sie noch heute“. Der Text nennt philosophische und literarische Größen (Rilke, Heidegger, Sartre, Kierkegaard, Beckett, Shakespeare) und distanziert sich gleichzeitig von ihren Ansprüchen wie auch von umfassenden Zeitsystemen. Neunmal heißt es in diesem kurzen Text „Hurry“ und „quickly, quickly“. Der Rhythmus bezieht sich nicht nur auf etwas, was im Text passiert, sondern auf unsere Begegnung mit ihm: wir fühlen uns angesprochen, zu einer Eile angespornt, die sich für uns im Lesen ereignet. In all dem ist Nothing, auch wenn Barthelme sich in vielem der Postmoderne zuordnen lässt, ein Text der Moderne, in dem sich das Kunstwerk als Objekt vom Werk als Medium dargestellter Ereignisse emanzipiert. Wie hier aus dem erzählten, berichteten Nichts etwas wird, darin spannt sich eben der Bogen vom Ereignis im Text zum Text als Ereignis und zurück.

Franz Lebsanft

„¡Ay, ay, ay, ay!“ Linguistische Notizen zum Ereignischarakter von Sprache und Dichtung am Beispiel von Federico García Lorcas Pequeño vals vienés I’ll wear a mask for you Leonard Cohen

1 Vor fast sechzig Jahren beschloss Roman Jakobson sein Schlussreferat Linguistics and Poetics zu dem berühmten Kolloquium über Style in Language mit den folgenden Sätzen: If there are some critics who still doubt the competence of linguistics to embrace the field of poetics, I privately believe that the poetic incompetence of some bigoted linguists has been mistaken for an inadequacy of the linguistic science itself. All of us here, however, definitely realize that a linguist deaf to the poetic function of language and a literary scholar indifferent to linguistic problems and unconversant with linguistic methods are equally flagrant anachronisms.1

Wenn einem umfangreicheren Band zu Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts zu trauen ist – und ich hege keinen Zweifel daran –, dann gehört dieser Beitrag noch immer zum Kanon der Literaturtheorien und wird dort unter den freilich in die Jahre gekommenen „textimmanenten Ansätzen“ verbucht.2 Ich kann nicht

1 Jakobson, Roman: Closing Statement: Linguistics and Poetics. In: Sebeok, Thomas A. (Hg.): Style in Language. New York / London 1960, S. 350–377, hier S. 377. 2 Luisier, Annette: Strukturalismus: Roman Jakobson, Jan Mukařovský, Roland Barthes. In: Schmid, Ulrich (Hg.): Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2010, S. 55–75. Nach dem Muster dieses Bandes bebildern Grünnagel, Christian / Ueckmann, Natascha / Febel, Gisela (Hg.): García Lorcas Drama Bodas de sangre und die Literaturtheorie. 17 Modellanalysen. Stuttgart 2016 das vielleicht berühmteste Theaterstück Lorcas mit den vielen Facetten des in der Literaturwissenschaft bewundernswert reichhaltigen „Methodenpluralismus“ (ebd., S. 13f.). Ein solcher Ansatz kann hier nicht verfolgt werden, da eine linguistische Theorie dichterischen Sprechens in der Lage sein sollte, alle Gesichtspunkte eines solchen Pluralismus prinzipiell in sich aufzunehmen, selbst wenn die Anwendung der Theorie im Fall einer konkreten Interpretation diesem Anspruch ‚empirisch‘ nicht gerecht wird. Auf der Ebene des (linguistisch definierten, DOI 10.1515/9783110541854-024

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beurteilen, ob Literaturwissenschaftler heute noch immer – wenn sie es denn im Anschluss an Jakobson jemals waren – davon überzeugt sind, dass die genauere Kenntnis linguistischer Methoden für ihre Theoriebildung notwendig sei. Was hingegen Linguisten betrifft, so fürchte ich, dass ein sich gegenüber der Dichtung und ihrer Theorie taub stellender Fachkollege heute keineswegs einen Anachronismus darstellt, sondern eher die Regel ist. Das hat selbstverständlich seine Gründe. Man kann diese anhand des Coseriu’schen Modells der Sprachkompetenz3 recht gut erläutern. Eingebettet in die „Allgemeine Ausdrucksfähigkeit“ umfasst demnach die „Sprachkompetenz in ihrer Gesamtheit“ die „psychisch-physische“ und die „kulturelle Sprachkompetenz“, wobei letztere sich in eine „allgemein-sprachliche“, eine „einzelsprachliche“ sowie eine „Text- oder Diskurs-Kompetenz“ auffächert. Es ist nun offensichtlich, dass die heutige Linguistik den Schwerpunkt einerseits auf die psychisch-physische Sprachkompetenz und andererseits, bei der kulturellen Sprachkompetenz, auf die „allgemeinsprachliche Kompetenz“ legt und beide Bereiche mit Methoden bearbeitet, die den Kognitionswissenschaften und der allgemeinen Handlungstheorie entlehnt sind. Ohne eine solche Fokussierung wären etwa die neueren, spektakulären Forschungen zur Sprachevolution nicht möglich.4 Natürlich wäre es denkbar, dass sich eine solchermaßen ausgerichtete Linguistik auch für die allgemeine Ausdrucksfähigkeit interessiert – zu der im Übrigen weit mehr als die bei Coseriu genannte „Fähigkeit zu sprachbegleitenden Tätigkeiten“ gehört –, doch scheint das nicht der Fall zu sein, und zwar obwohl heutige Erforscher der Sprachevolution die Sprach- und Kulturtheorien des 18. Jahrhunderts von Rousseau oder Herder immerhin nicht völlig ignorieren.5 Doch selbst wenn es anders wäre, so käme zwar eine allgemeine ‚künstlerische‘ Kompetenz des Menschen immerhin in den Blick, nicht jedoch deren historische und individuelle Konkretisierungen. Dazu bedürfte es der linguistischen Beschäftigung mit der Text- oder DiskursKompetenz. Diese Beschäftigung gibt es selbstverständlich, und zwar in den an

s. dazu weiter unten) ‚Diskurses‘ ist das individuelle Sprechen stets eingebettet in eine Fülle von ‚Umfeldern‘ (Bühler, Coseriu), die verstehensrelevante Wissensbestände ins Spiel bringen, denen man nur mit den Spezialkenntnissen eines „Methodenpluralismus“ beikommt. 3 Coseriu, Eugenio: Sprachkompetenz. Tübingen 1988, S. 65. 4 Ich verweise beispielhaft auf die Arbeiten von Tomasello, Michael: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Frankfurt a.  M. 2006; ders.: Warum wir kooperieren. Berlin 2010; ders.: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Frankfurt a. M. 2011. 5 Man vgl. z. B. die über das Register zu erschließenden, allerdings recht spärlichen Hinweise in Tomasello: Die kulturelle Entwicklung.



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einzelne Sprachen gebundenen Philologien wie der Germanistik oder der Romanistik, doch ist sie eben nicht typisch für die Interessen der Linguistik insgesamt. Innerhalb der Romanistik nun spielt die Text- oder Diskurs-Kompetenz gleichwohl eine gewisse Rolle, wobei die von Coseriu vorgenommene Differenzierung zwischen „Text“ und „Diskurs“ vor dem Hintergrund seiner an Aristoteles und Humboldt anknüpfenden Reinterpretation der Saussure’schen Trichotomie von langage, langue und parole zu lesen ist. Dabei kreuzt Coseriu die drei Ebenen der kulturellen Sprachkompetenz mit den aristotelischen Gesichtspunkten der „Tätigkeit“ (der ἐνέργεια), des „Wissens“ (der δύναμις) und des „Produkts“ (des ἔργον).6 „Sprechen und Verstehen“ sind – so führt Coseriu aus – zunächst einmal ἐνέργεια „im eigentlichen Sinne, d. h. eine kreative Tätigkeit, die sich eines vorhandenen Wissens [also der δύναμις] bedient, um etwas Neues zu sagen, und die neues sprachliches Wissen schaffen kann“.7 Die individuelle sprachliche ἐνέργεια, die Coseriu „Diskurs“ nennt, schafft als ἔργον, d. h. als Produkt oder Werk, den „Text, der in der Erinnerung bewahrt, der aufgezeichnet oder der aufgeschrieben werden kann“.8 In dieser Terminologie benennt „Diskurs“ also einen Vorgang, „Text“ das Ergebnis dieses Vorgangs.9 Wenn Coseriu mit Humboldt das Wesen der Sprache in der ἐνέργεια, in der Tätigkeit, nicht im ἔργον, im Werk, erkennt,10 dann besteht die sprachphilosophische und sprachästhetische Pointe darin, dass das dichterische Werk als Werk ‚tot‘ ist und nur im ‚aktuellen‘ Wiederoder Neuvollzug – in der verstehenden (heute zumeist leisen) Lektüre oder der Deklamation bzw. Rezitation – tatsächlich ‚wiederbelebt‘ wird. Im Anschluss an Bühler hat Jakobson seine bis heute gelehrten „sprachlichen Funktionen“, darunter die poetische Funktion, als „functions of verbal communication“,11 d.  h. also – wenn man das Coseriu’sche Dreiebenenmodell

6 Coseriu: Sprachkompetenz, S. 75. 7 Ebd., S. 71. 8 Ebd. 9 Vgl. auch die Diskussion zur Abgrenzung der Konzepte bei Lebsanft, Franz / Schrott, Angela: Diskurse, Texte, Traditionen. In: ders. / dies. (Hg.): Diskurse, Texte, Traditionen. Modelle und Fachkulturen in der Diskussion. Göttingen 2015, S. 11–46, hier S. 19–21. 10 Siehe in Coseriu: Sprachkompetenz, S. 11 das berühmte Zitat aus Humboldt, Wilhelm von: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. In: ders.: Werke in fünf Bänden. Herausgegeben von Andreas Flitner und Klaus Giel. Darmstadt 1963, Bd. 3, S. 368–757, hier S. 416, 418: „Man muss die Sprache nicht sowohl wie ein todtes Erzeugtes, sondern weit mehr wie eine Erzeugung ansehen […]. Sie selbst ist kein Werk (Ergon) sondern eine Thätigkeit (Energeia).“ Eine ausführliche Interpretation Humboldts bietet Coseriu, Eugenio: Geschichte der Sprachphilosophie, Bd. 2: Von Herder bis Humboldt. Herausgegeben von Jörn Albrecht. Tübingen 2015, S. 450–454. 11 Jakobson: Linguistics and Poetics, S. 357.

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zugrunde legt – als Diskurs- bzw. Textfunktionen konzipiert. Dabei scheint großen Teilen der scientific community allerdings entgangen zu sein, dass Jakobsons besonders prominente These von der poetischen Funktion als „the set (Einstellung) toward the Message as such, focus on the message for its own sake“12 mit dem Korollar der Projektion des „principle of equivalence from the axis of selection into the axis of combination“13 von Coseriu einer radikalen Kritik unterzogen wurde, die diesen „zu einer vollständigen Ablehnung der Konzeption Jakobsons“ bewog, und dies vor dem Hintergrund, sich auf diese Weise „mit dem einzigen ‚weißen Raben‘ anzulegen, mit dem einzigen Linguisten, der wirklich auch etwas von Literatur versteht“.14 Coserius Gegenthesen lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Dichterisches Sprechen stellt nicht eine Funktion, eine Modalität unter vielen dar, sondern ist Sprache „schlechthin“, „denn nur in ihm findet man die volle Entfaltung aller sprachlichen Möglichkeiten“.15 Demgegenüber stellen andere Formen des Sprechens – z. B. die wissenschaftliche oder die Alltagsrede – Reduktionen der Potenzen des dichterischen Sprechens dar. 2. Die volle Entfaltung aller sprachlichen Möglichkeiten beruht auf der Aktualisierung der Zeichenrelationen, die in einer Sprache über die Bühler’sche Trias von Darstellung, Kundgabe und Appell hinaus überhaupt denkbar sind.16 Zugrunde liegt dabei das aus Hjelmslev ererbte Prinzip der „Evokation“, denn im dichterischen Sprechen stehen Zeichen im jeweils näher zu bestimmenden (und hier nur summarisch aufzählbaren) Verhältnis zu anderen Zeichen, Gruppen von Zeichen, Zeichensystemen, Texten und schließlich zur außersprachlichen Welt und Kultur.17 Auf diese Weise entstehen im Sprechen Zeichen von Zeichen mit einer ihnen eigenen Form von Inhalt, die Coseriu „Sinn“ nennt.18

12 Ebd., S. 356. 13 Ebd., S. 358. 14 Coseriu, Eugenio: Textlinguistik. Eine Einführung. 2. Aufl. Tübingen 1981, S. 58. Die folgende Darstellung beruht auf diesem Werk, dessen Grundlagen wesentlich früher vorgestellt wurden: Coseriu, Eugenio: Thesen zum Thema ‚Sprache und Dichtung‘. In: Stempel, Wolf-Dieter (Hg.): Beiträge zur Textlinguistik. München 1971, S. 183–188. Die Diskussion zu diesen Thesen ist unter dem Titel: Sprache, Dichtung und Text, ebd., S. 279–297 abgedruckt. 15 Coseriu: Textlinguistik, S. 110. 16 Ebd., S. 109f. 17 Ebd., S. 68–101. 18 Ebd., S. 102.



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3. Jakobsons Idee, das Wesen der poetischen Sprache als „Hinwendung auf das Gesagte selbst“ zu verstehen, ist zwar nicht annehmbar im Sinne eines nur kunstfertigen, „besondere[n] Interesse[s] an der sprachlichen Gestaltung“, gleichwohl jedoch, wenn man damit das dichterische Sprechen als ein absolutes, „ein Sprechen an sich, ein Sprechen, an dem nur das Gesprochene allein Gültigkeit besitzt“, begreift. 19 Ich hatte ausgeführt, dass der dichterische Text – als erinnerter, aufgezeichneter oder aufgeschriebener – im Humboldt’schen Sinne ein ‚totes Werk‘ ist, das in der verstehenden, leisen oder lauten, rezitierenden Lektüre zum ‚Leben‘ erweckt wird. Die antike und moderne Rhetorik hat das schon immer gewusst, wie die Lausberg’sche Theorie der „Wiedergebrauchsrede“ mit ihrer Dialektik aus Wiederholung und Einmaligkeit in wirklich unüberbietbarer Trockenheit ausführt, was möglicherweise auch zu ihrer Unterschätzung geführt hat. Wiedergebrauchsreden als „fixierte Reden zwecks wiederholbarer Evokation kollektiver, als sozial relevant geltender Bewußtseinsakte“, bemerkt Lausberg und dampft dabei kulturelle Entwicklungen von Jahrtausenden in einen Satz ein, entsprächen dem, „was in Gesellschaften gelockerter Sozialordnung als ‚Literatur‘ und ‚Dichtung‘ auftritt“.20 Die angesprochene Dialektik, welche die aristotelische Begrifflichkeit von ‚Aktualisierung‘ und ‚Potentialität‘ aufgreift – „Die Aktualisierung einer Wiedergebrauchsrede verbraucht zwar nicht die Potentialität dieser Wiedergebrauchsrede, hat jedoch mit dem Verbrauch die Nichtwiederholbarkeit dieses konkreten Aktes gemeinsam.“21–, exemplifiziert Lausberg allerdings nicht mit dichterischer, sondern mit alltäglich-rechtlicher Rede:

19 Ebd., S. 64. Mit Jakobsons Ausführungen zur poetischen Funktion müsse, so Coseriu, gemeint sein: „Das Verweilen bei dem in der Sprache selbst gesagten, wobei die Zeichen nicht einfach als Instrumente zur Bezeichnung von etwas anderem verwendet werden, sondern als das erscheinen, was sie wirklich sind, in der vollen Realisierung ihrer funktionellen Möglichkeiten.“ (Ebd., S. 111) Insofern dürfte Coserius Jakobson-Interpretation allerdings kaum die referentielle Funktion völlig ausschließen, wie das Andreas Kablitz in Kunst des Möglichen. Theorie der Literatur (Freiburg im Breisgau / Berlin / Wien 2013, S. 58) vorschlägt, wonach die Jakobson’sche poetische Funktion „an die Stelle von Referentialität Selbstreferentialität“ setze. Es ist mir im Übrigen nicht klar, ob Kablitz die angeblich an die referentielle Funktion gebundene „zentrale Leistung der Sprache schlechthin: die Informationsvergabe“ (ebd., S. 61) als These allein Jakobson zuschreibt oder eine solche Bestimmung selber für zutreffend hält; Coseriu – mit dessen Sprachphilosophie sich Kablitz nicht auseinandersetzt – hat einer solchen These bekanntlich – und wie ich meine, zu Recht – vehement widersprochen. 20 Lausberg, Heinrich: Elemente der literarischen Rhetorik. 5. Aufl. München 1976, S. 17 (§ 16). 21 Ebd., S. 17 (§ 19).

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 Franz Lebsanft

So ist das „Ja“ in der Trauungsverhandlung als rechtliche Formel eine Wiedergebrauchsrede. Die Aktualisierung dieser Wiedergebrauchsrede ist damit aber ein für allemal vollzogen und mit Bezug auf die Konkretheitsmerkmale nicht wiederholbar.22

Die antike Rhetorik ließ die „Lehre von der Verarbeitung“ in der pronuntiatio, d. h. dem „Halten der Rede mit der Stimme und den begleitenden Gesten“ gipfeln.23 Dem entsprach die vorbereitende Übung der declamatio, bei der es nicht nur auf die pronuntiatio ankam, sondern auch auf „die Fähigkeit, improvisierte (ex tempore) Reden zu halten“.24 Die heute vollständige Ausklammerung der „Sprechkünste“,25 d.  h. nicht nur der praktischen Sprecherziehung, sondern auch der Theorie des literarischen Sprechens aus der literaturwissenschaftlichen Lehre hat zur Ausblendung des rhetorisch begründeten Ereignischarakters von Dichtung zweifellos beigetragen.26 Die aus der Rhetorik bekannte „Wiederholung“ ist nun ein Gesichtspunkt, den einer der russischen Formalisten, nämlich Sergej Bernštein in seiner Theorie der Deklamation,27 auch ohne den hier skizzierten antiken Hintergrund, durchaus thematisiert hat und den Jakobson in Linguistics and Poetics, allerdings ohne Nennung Bernšteins, aufgreift. In beiden Fällen wird jedoch die Aktualisierung des tradierten Textes als etwas Sekundäres betrachtet. So formuliert Bernštein:

22 Ebd. 23 Ebd., S. 26 (§ 45). 24 Ebd., S. 146 (§ 470). ‚Improvisation‘ ist bekanntlich kein Begriff der antiken Rhetorik, sondern zunächst der italienischen Musik als „das simultane Erfinden und klangliche Realisieren von Musik“, s. s.  v. „Improvisation / Improvisieren“. In: Mecke, Ann-Christin / Pfleiderer, Martin / Richter, Bernhard / Seedorf, Thomas (Hg.): Lexikon der Gesangsstimme. Laaber 2016, S.  296. Bekanntlich hat sich die romanische oral poetry-Forschung des Konzepts bedient, um die mouvance der von Aufführung zu Aufführung variierenden, gesungenen Chanson de geste zu beschreiben, s. bereits Rychner, Jean: La chanson de geste. Essai sur l’art épique des jongleurs. Genève / Lille 1955, S. 33: „Les récits étaient mouvants parce que l’art du jongleur n’est pas scripturaire, mais oral, et qu’une récitation chantée tient toujours quelque chose de l’improvisation, n’est jamais tout à fait identique à elle-même; selon les circonstances, le jongleur chantera une version plus ou moins complète, plus ou moins ornée, l’improvisation amènera sur ses lèvres d’autres mots, et ainsi de suite.“ 25 Siehe Meyer-Kalkus, Reinhard: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert. Berlin 2001. 26 Mein germanistischer Lehrer Paul Hoffmann formuliert zu Recht: „Das erste und fundamentale Erfordernis adäquater Lyrik-Rezeption – kaum der Begründung bedürftig, dennoch nicht selten mißachtet – heißt: das Gedicht muß laut gelesen werden.“ (Hoffmann, Paul: Symbolismus. München 1987, S. 163) Wertvolle Hinweise zu Sprechstimme und Sprecherstimme liefern, jeweils s. v., Mecke / Pfleiderer / Richter / Seedorf (Hg.): Lexikon. 27 Bernštein, Sergej: Ästhetische Voraussetzungen einer Theorie der Deklamation (1927). In: Stempel, Wolf-Dieter (Hg.): Texte der russischen Formalisten, Bd. 2: Texte zur Theorie des Verses und der poetischen Sprache. München 1972, S. 338–385 (russisch und deutsch).



Linguistische Notizen zum Ereignischarakter von Sprache und Dichtung 

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Die Deklamation stellt eine „reproduktive“, „interpretierende“, „ausführende“ und in diesem Sinne sekundäre Kunst dar: zur Verwirklichung von Werken dieser Kunstart ist das Vorhandensein anderer Kunstwerke unerläßlich, die für die „reproduktive“ Kunst als „Material“ sui generis dienen.28

Entsprechend unterscheidet Jakobson zwischen, einerseits, abstraktem „verse design“ (Versmuster) bzw. je einzelner „verse instance“ (Versrealisierung), und, andererseits, „delivery design“ (Vortragsmuster) bzw. „delivery instance“ (Vortragsrealisierung)29 und er stellt dazu ganz im Sinne Bernšteins, jedoch mit Worten Wimsatts und Beardsleys fest: There are many performances of the same poem – differing among themselves in many ways. A performance is an event, but the poem itself, if there is any poem, must be some kind of enduring object.30

Im Kontext des Themas „Text als Ereignis“ verdient eine solche Formulierung besondere Beachtung, denn hier wird an „event“ als Prädikation von „performance“ – bei zwei Substantiven also, denen die Akt-Objekt-Ambiguität inhärent ist – der Vorgang als Transitorisches, Ephemeres, Einmaliges hervorgehoben, gegen den das Ergebnis des „enduring object“ des Gedichts ausgespielt wird. Auch in dieser Hinsicht kann man, wie ich das mit Berufung auf Humboldt getan habe, eine Gegenposition einnehmen, und mir scheint, dass die sogenannte „Ästhetik des Performativen“, freilich mit ganz anderer sprachtheoretischer Begründung, dasselbe tut, wenn sie den Ereignisbegriff gegen den Werkbegriff phänomenologisch und theoretisch stark macht.31 Das schließt natürlich nicht aus, dass das Ereignis, das als Vorgang erlebt wird, normalerweise im Nachhinein reifiziert wird, und genau das spiegeln die lexikalisierten Bedeutungen der Ausdrücke Ereignis, event, événement wider.32

28 Bernštein: Ästhetische Voraussetzungen, S. 349. An die Kunst der Improvisation, wie sie für die oral poetry typisch ist, denkt Bernštein überhaupt nicht. 29 Ich wähle jeweils in Klammern die Übersetzungen der Begriffe von Meyer-Kalkus, Reinhart: Koordinaten literarischer Vortragskunst. Goethe-Rezitationen im 20. Jahrhundert. In: Leupold, Gabriele / Raabe, Katharina (Hg.): In Ketten tanzen. Übersetzen als interpretierende Kunst. Göttingen 2008, S. 150–198, hier S. 172. 30 Jakobson: Linguistics and Poetics, S. 364f.; s. Wimsatt, William K. / Beardsley, Monroe C.: The Concept of Meter. An Exercise in Abstraction. In: PMLA 74 (1959), S. 585–598, hier S. 587f. 31 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. 2004, S. 19, 22, 28, 29 usw. 32 Frz. événement mit der ursprünglichen Vorgangs-Bedeutung ‚ce qui arrive‘ ist laut Rey, Alain: Dictionnaire historique de la langue française. 3 Bde. Paris 2000, s. v., erstmals 1461 belegt und ersetzt mfrz. évent. Tatsächlich lässt sich événement in einer Glosse zur Consolatio philosophiae bereits ca. 1350 belegen, in: http://www.atilf.fr/dmf s. v. (1. November 2016). Man vgl. noch, mit

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 Franz Lebsanft

2 Betrachten wir vor dem Hintergrund dieser theoretischen Überlegungen ein berühmtes Beispiel eines vermeintlich ‚dauerhaften Gebildes‘ aus der spanischen Dichtung des 20. Jahrhunderts, den Pequeño vals vienés (Kleiner Wiener Walzer) von Federico García Lorca. Die Fassung, die Martin von Koppenfels in seiner im Jahr 2000 erschienenen Neuübersetzung des Gedichtzyklus Poeta en Nueva York präsentiert, ist das Ergebnis einer Lorca-Philologie, auf deren lange und kontroverse Geschichte zu der äußerst verwickelten Textüberlieferung ich nicht eingehen kann.33 Sie lautet:34 Pequeño vals vienés 1

En Viena hay diez muchachas, un hombro donde solloza la muerte y un bosque de palomas disecadas. Hay un fragmento de la mañana en el museo de la escarcha. Hay un salón con mil ventanas.

2

¡Ay, ay, ay, ay! Toma este vals con la boca cerrada.

3

Este vals, este vals, este vals, de sí, de muerte y de coñac que moja su cola en el mar.

inzwischen z. T. überholten sprachhistorischen Hinweisen, Jauß, Hans Robert: Versuch einer Ehrenrettung des Ereignisbegriffs. In: Koselleck, Reinhart / Stempel, Wolf-Dieter (Hg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung. München 1973, S. 554–560. 33 Zur Textgeschichte und ihrer Erhellung s. die Einleitung von Millán, María Clementa (Hg.): Federico García Lorca. Poeta en Nueva York. 25. Aufl. Madrid 2008, S. 1–105. Sie nennt ebd., S. 21, Anmerkung 7 die wichtigsten Beiträge der Lorca-Philologie aus den 1970er und 1980er Jahren. 34 García Lorca, Federico: Dichter in New York. Gedichte, spanisch und deutsch. Übertragung und Nachwort von Martin von Koppenfels. Frankfurt a. M. 2000, S. 162, 164. Der Text beruht auf den Ausgaben von Maurer, Christopher (Hg.): Federico García Lorca: Poeta en Nueva York / Poet in New York. New York 1998 und Hernández, Mario (Hg.): Federico García Lorca: Poeta en Nueva York y otras hojas y poemas. Madrid 1990; er ist mit dem von Millán: García Lorca, S. 227–229 identisch. Die Nummerierung der Strophen füge ich hinzu. Auf das Gedicht hat mich erstmals, in weit entfernten Tübinger Studienzeiten, Bärbel Fink-Lebsanft aufmerksam gemacht; es wurde damals noch mit anderer Textdisposition in der Übersetzung von Enrique Beck gelesen: García Lorca, Federico: Poeta en Nueva York / Dichter in New York. Frankfurt a. M. 1963, S. 114–117.



Linguistische Notizen zum Ereignischarakter von Sprache und Dichtung  4

Te quiero, te quiero, te quiero, con la butaca y el libro muerto, por el melancólico pasillo, en el oscuro desván del lirio, en nuestra cama de la luna y en la danza que sueña la tortuga.

5

¡Ay, ay, ay, ay! Toma este vals de quebrada cintura.

6

En Viena hay cuatro espejos donde juegan tu boca y los ecos. Hay una muerte para piano que pinta de azul a los muchachos. Hay mendigos por los tejados. Hay frescas guirnaldas de llanto.

7

¡Ay, ay, ay, ay! Toma este vals que se muere en mis brazos.

8

Porque te quiero, te quiero, amor mío, en el desván donde juegan los niños, soñando viejas luces de Hungría por los rumores de la tarde tibia, viendo ovejas y lirios de nieve por el silencio oscuro de tu frente.

9

¡Ay, ay, ay, ay! Toma este vals del „Te quiero siempre.“

10 En Viena bailaré contigo con un disfraz que tenga cabeza de río. ¡Mira qué orillas tengo de jacintos! Dejaré mi boca entre tus piernas, mi alma en fotografías y azucenas, y en las ondas oscuras de tu andar quiero, amor mío, amor mío, dejar, violín y sepulcro, las cintas del vals.

Koppenfels bietet diese Übersetzung: Kleiner Wiener Walzer 1

In Wien gibt es zehn kleine Mädchen, eine Schulter für den schluchzenden Tod

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 Franz Lebsanft und den Wald der sezierten Tauben. Es gibt dort im Rauhreifmuseum ein Bruchstück des Morgengrauens. Und einen Ballsaal mit eintausend Fenstern. 2

Ay, ay, ay, ay! Nimm diesen Walzer mit dem geschlossenen Mund.

3

Diesen Walzer, Walzer, Walzer, voller Ja, voller Tod, voller Kognak, der seine Schleppe durchs Meerwasser schleift.

4

Ich liebe dich, liebe dich, liebe dich, mit dem toten Buch und dem Sessel, auf melancholischen Gängen, in der Rumpelkammer der Lilie, in dem Bett, das der Mond uns gemacht hat, und im Tanz, den die Schildkröte träumt.

5

Ay, ay, ay, ay! Nimm diesen Walzer, der sich rückwärts bäumt.

6

In Wien, da gibt es vier Spiegel, darin spielt dein Mund mit den Echos. Es gibt einen Tod für Piano, der malt die Jungen blau an. Es gibt auf den Dächern dort Bettler. Dazu frische Tränengirlanden.

7

Ay, ay, ay, ay! Nimm diesen Walzer, der in meinen Armen stirbt.

8

Denn ich liebe dich, ich liebe dich, Geliebter, in der Rumpelkammer, wo die Kinder spielen, und träume von ungarischen Lichtern im Gemurmel des lauen Nachmittags, und im dunklen Schweigen deiner Stirne seh ich Schafe und Lilien aus Schnee.

9

Ay, ay, ay, ay! Nimm diesen Walzer, der sagt „Ich liebe dich ewig“.

10 In Wien werde ich mit dir tanzen, mein Kostüm wird einen Flußkopf haben. Schau, meine Ufer aus Hyazinthenpflanzen! Meinen Mund lasse ich zwischen deinen Beinen,



Linguistische Notizen zum Ereignischarakter von Sprache und Dichtung 

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meine Seele auf Lilien und Photographien. In den dunklen Wellen deines Ganges, mein Geliebter, mein Geliebter, will ich lassen die Bänder des Walzers, Geige und Grab.

Natürlich fehlt der Platz, um die Übersetzung, die nicht nur lexikalisch und syntaktisch möglichst ‚treu‘ sein will, sondern auch versucht, zwar kein metrisches, jedoch ein rhythmisches, zum Teil auch ein klangliches Äquivalent zum Ausgangstext zu schaffen, genauer zu betrachten. Ich möchte wenigstens je ein Beispiel für eine bessere und eine meines Erachtens auch problematischere Entscheidung geben. Zunächst zur guten Lösung. In der ersten Strophe bietet Vers 2 eine ‚dunkle‘ [o]-Sonorität, die auf dem evokatorischen Verfahren der Nachahmung der durch die Bedeutung vermittelten außersprachlichen Referenz von sollozar ‚schluchzen‘ durch die Ausdruckssubstanz des gesamten Verses beruht. Wenn man so will, erhält erst auf diese Weise das keineswegs lautmalend gebildete Verb (sollozar < singultiāre) eine Funktion, die Coseriu dieser Analyse gemäß – und vermutlich im Anschluss an Platons Sophistes – „ikastisch“ nennt:35 un hombro donde solloza la muerte.

Koppenfels schafft ein wirklich gutes Äquivalent, indem er die Syntax verdichtet und zusätzlich zu einer ebenfalls dunklen [u]-Sonorität eine Alliteration des [ʃ]-Lautes schafft: eine Schulter für den schluchzenden Tod.

Die mich etwas weniger überzeugende, gleichwohl vertretbare Entscheidung betrifft in der ersten Strophe Vers 3: y un bosque de palomas disecadas.

Koppenfels übersetzt dies mit:

35 Coseriu: Textlinguistik, S. 82 weist darauf hin, die Problematik sei „seit Platos Kratylos wohlbekannt“. Eine systematische Diskussion der ikastischen Technik scheint mir jedoch eher in Sophistes 235d (Platon: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck. Hamburg 1958, Bd. 4, S. 207) vorzuliegen, in der die „ebenbildnerische Kunst“ (εἰκαστικὴν […] τέχνην) definiert wird; vgl. Liddell, Henry George / Scott, Robert / Jones, Henry Stuart: A Greek-English Lexicon. Oxford 1940, s. v. εἰκαστικός „the art of copying or portraying“. Dass in unserem wie in den von Coseriu angeführten Fällen die Ikastik Jakobsons Projektion von der Paradigmatik auf die Syntagmatik entspricht, ist im Übrigen offensichtlich.

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 Franz Lebsanft

und den Wald der sezierten Tauben.

Es ist zwar richtig und für das Verständnis auch wichtig, dass disecar zunächst ‚zerlegen [von Tieren und Pflanzen]‘ bedeutet. Das Verb hat jedoch auch die zweite, metonymische Bedeutung ‚präparieren, ausstopfen‘36 und insofern sind palomas disecadas ‚ausgestopfte Tauben‘, seelenlose, aber körperlich wenigstens scheinbar intakte Tiere, was für das Verständnis des Gedichts, das in der letzten Strophe in der völligen Dissoziation von Seele und Körper gipfelt, nicht ganz unerheblich ist. Die Polysemie von disecar, welche die Übersetzung nicht aufrecht erhalten kann, ermöglicht allein in der ersten Strophe weitere evokatorische Zeichenrelationen. Eine inhaltliche Relation zwischen einzelnen Zeichen37 verknüpft „palomas disecadas“ durch die Semantik des Zerlegens mit dem „fragmento de la mañana“, also dem „Bruchstück des Morgengrauens“ (oder vielleicht einfacher: „des Morgens“); entsprechend die Semantik des Präparierens oder Ausstopfens den „bosque de palomas disecadas“, also „den Wald“ dieser Tauben, mit dem „museo de la escarcha“, d.  h. dem „Rauhreifmuseum“. Vermutlich ist damit das Beziehungsgeflecht der aufgerufenen Bilder jedoch noch gar nicht ausgeschöpft, denn Teil-Ganzes-Beziehungen, entweder nur angedeutet durch eine Synekdoche wie in Vers 2 („un hombro“ / „eine Schulter“) oder ausgeführt wie in Vers 1 („En Viena hay diez muchachas“ / „In Wien gibt es zehn kleine Mädchen“) und in Vers 6 („Hay un salón con mil ventanas“ / „Und einen Ballsaal mit eintausend Fenstern“), finden sich eben an diesen weiteren Stellen. Diese erste Strophe und das ganze Gedicht, das ohne den französischen Symbolismus nicht denkbar ist, zielt vor allem auf eine spezifische ‚Gestimmtheit‘ des Rezipienten, doch es verzichtet keineswegs darauf, durch die Verrätselung der z. T. kühnen Bilder hindurch eine konkret nachvollziehbare ‚Wirklichkeit‘ aufscheinen zu lassen.38 So mögen einer kalten Winternacht Tauben zum Opfer gefallen sein und der anbrechende Tag noch Reste des morgendlichen Raureifs zeigen. Mit der Andeutung einer solchen, konstruktiv gemeinten Übersetzungskritik bediene ich mich einer nach systematischen Kriterien verfahrenden Linguistik des dichterischen Sprechens, die nichts anderes ist als der Versuch, diesem Sprechen, das in der Rezitation aktualisiert wird, ein angemessenes, sich wiederum

36 Real Academia Española: Diccionario de la lengua española. 23. Aufl. Barcelona 2014, s. v. disecar1: „1 Dividir en partes un vegetal o el cadáver de un animal para el examen de su estructura normal o de las alteraciones orgánicas“; „2 Preparar los animales muertos para que conserven la apariencia de cuando estaban vivos“. 37 Man vgl. Coseriu: Textlinguistik, S. 69f. 38 Man vgl. zu der Referenzproblematik den Abschnitt „Mallarmé“ in Hoffmann: Symbolismus, S. 120–139.



Linguistische Notizen zum Ereignischarakter von Sprache und Dichtung 

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zunächst im Sprechen verfertigendes, analytisch fortschreitendes Verstehen an die Seite zu stellen. Wenn es mir im vorgesehenen Rahmen gelingen soll zu erläutern, worin ich die Pointe des in dem vierfachen estribillo vorkommenden „¡Ay, ay, ay, ay!“ (und damit meines Ansatzes) sehe, kann ich allerdings nicht mit der – wie auch immer andeutenden oder oberflächlichen – Diskussion von Einzelphänomenen einzelner Verse fortfahren, sondern muss das gesamte Gedicht in den Blick nehmen. Koppenfels publiziert unser Gedicht zusammen mit einem zweiten im Kapitel IX des Poeta en Nueva York, das die Überschrift Huida de Nueva York (Dos valses hacia la civilización) (Flucht aus New York [Zwei Walzer in Richtung Zivilisation]) trägt. Ganz offensichtlich ruft Lorca mit dem nach New York transportierten „vals vienés“ einen ‚anderen Ort‘, eine Heterotopie auf,39 in der zumindest das Aussprechen einer heute offensichtlichen, damals tabuisierten Normtransgression40 möglich ist, die dennoch zum Teil wesentlich verschlüsselter ist, als dies in der Übersetzung erscheint, die in der achten Strophe, Vers 1 „Porque te quiero, te quiero, amor mío“ das geschlechtlich ambivalente „amor mío“ mit „Geliebter“ wiedergibt. Suchte man ein auf den Pequeño vals vienés rückprojizierbares Analogon einer Transposition aus der Neuen in die Alte, Wiener Welt, in der wiederum Lorcas kulturelle Konstellation geradezu aufscheint, dann wäre sie in Stanley Kubricks Eyes Wide Shut zu finden. In Kubricks letztem Film begleitet Schostakowitschs Waltz 2 aus der Suite for Variety Orchestra41 das Leben des New Yorker Ehepaars Bill und Alice Harford, die bekanntlich amerikanische Wiedergänger des Wiener Ehepaars Fridolin und Albertine aus Schnitzlers Traumnovelle sind.42 Das Gedicht besteht in der von Koppenfels in Übereinstimmung mit der Lorca-Philologie gewählten Disposition aus zehn Strophen. Auf die sechszeili-

39 Foucault, Michel: Des espaces autres. In: ders.: Dits et écrits (1984). Paris 1994, Bd. 4, S. 752– 762. 40 Gumbrecht, Hans Ulrich: Präsenz. Berlin 2012, S. 333, betrachtet das Gedicht in dieser Hinsicht als Dokument, weil es „seinen Leser intuitiv erleben lässt, wie das Leben eines homosexuellen Mannes in den westlichen Gesellschaften der dreißiger Jahre emotional und sogar körperlich amputiert gewesen sein muss“. 41 Heyer, Mark: Dmitri Schostakowitsch. Werkverzeichnis. Hamburg 2014, S. 170. Waltz 2 entstammt der Filmmusik zu Michail Kalatosows Film The First Echelon (Первый эшелон) von 1956, s. ebd., S. 168 Suite from „The First Echelon“, Op. 99a. 42 S. dazu Lee Gengaro, Christine: Listening to Stanley Kubrick. The Music in His Films. Lanham / Toronto / Plymouth 2013, S. 231–233; Gorbman, Claudia: Ears Wide Open: Kubrick’s Music. In: Powrie, Phil / Stilwell, Robynn (Hg.): Changing Tunes. The Use of Pre-Existing Music in Film. Aldershot / Burlington 2006, S. 3–18, hier S. 7: „Although the piece was composed in the mid1930s, it nevertheless evokes the Old World; it is more folksy than the ‚Blue Danube‘.“

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gen, wechselnde Metren verwendenden und assonierenden Strophen 1, 4, 6 und 8 folgt jeweils – als Strophen 2, 5, 7 und 9 – der zweizeilige estribillo, dessen erster Vers stets gleich „¡Ay, ay, ay, ay!“ lautet, dessen zweiter Vers wiederum stets identisch mit „Toma este vals“ beginnt, jedoch eine dann immer andere Ergänzung erfährt, die mit derselben Assonanz schließt wie die sechste Zeile der jeweils vorausgehenden Strophe. Die Strophe 3 („Este vals, este vals, este vals, […]“) hebt sich von den bisher besprochenen metrischen Schemata ab. Sie bildet eine einmalige, dreizeilige Apposition zum ersten estribillo („¡Ay, ay, ay, ay! / Toma este vals con la boca cerrada.“). Die Assonanz der Apposition teilt mit dem estribillo denselben betonten Vokal (das [a]), doch haben wir es mit endbetonten Versen (versos agudos) zu tun („vals“ / „coñac“ / „mar“), was einerseits in materieller Relation zum endbetonten „¡Ay, ay, ay, ay!“ des estribillo, andererseits zu den letzen drei Versen der zehnten und letzten Strophe steht, die ebenfalls endbetonte Verse bilden („andar“ / „dejar“ / „vals“).43 Um die evokatorischen Qualitäten der besonderen Struktur der zehnten Strophe zu erfassen, ist zuvor ein zweiter Blick auf die ‚konkrete Wirklichkeit‘ des Gedichts notwendig. Diese Überlegung beruht darauf, dass metrisch-rhythmische und semantisch-referentielle Charakteristika zueinander in enger Beziehung stehen. Es ist unschwer zu erkennen, dass die Strophen 1, 6 und 10 parallel mit einem „En Viena“ anheben. Dabei sind die Strophen 1 und 6, wenn man so will, deskriptiv, wie ich das weiter oben für Strophe 1 etwas genauer ausgeführt habe: „En Viena hay“ („In Wien gibt es“). Das gesamte Gedicht läuft natürlich auf das handlungsorientierte, utopische „En Viena bailaré contigo“ („In Wien werde ich mit dir tanzen“) der letzten Strophe zu, deren Phantasie vorbereitet wird durch die Aufforderung zum Tanz im vierfachen estribillo, aber auch durch die Liebeserklärungen der Strophen 4, Vers 1 und 8, Vers 1 („Te quiero, te quiero, te quiero“ bzw. „Porque te quiero, te quiero, amor mío“). Diese Formulierungen werden wörtlich aufgenommen, wenn es in Strophe 10, Vers 8 heißt: „quiero, amor mío, amor mío, dejar“. Die Subtilität der Wiederholung des polysemen Verbs querer, das ‚lieben‘ und ‚wollen, begehren‘ bedeutet, besteht darin, dass die in den Strophen 4 und 8 zwischen den beiden semantischen Möglichkeiten oszillierende Interpretation in der Strophe 10, Vers 8 durch die syntaktische Konstruktion zu dem ‚wollen‘ verdeutlicht wird. Lorca lädt die krude Bildersprache der letzten Strophe mit mythologischen und möglicherweise auch biblischen Reminiszenzen auf; so setzt er einerseits in den Versen 2 und 3 einen karnevalesken Flussgott in Szene, andererseits spielt er dank der Mehrdeutigkeit von „orillas“ in

43 García-Posada, Miguel: Lorca: Interpretación de Poeta en Nueva York. Madrid 1981 bietet S. 196f. eine knappe metrische Analyse des Gedichts.



Linguistische Notizen zum Ereignischarakter von Sprache und Dichtung 

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Vers 4 (‚Ufer‘, ‚Webkante, Saum‘) möglicherweise auf das kostbare aaronitische Priestergewand an.44 Dabei unterwirft sich diese Sprache mehrfach einem größeren metrisch-syntaktischen Bogen, den Lorca zu Beginn der zehnten Strophe dadurch auf das Äußerste spannt, dass er mit den Zeilen 2 und 3 einen immerhin möglichen, wenn auch in der spanischen Dichtung sehr seltenen Dreizehnsilber (tredecasílabo) durch ein krasses Enjambement in zwei kürzere Verse aufbricht: con un disfraz que tenga cabeza de río. (mein Kostüm wird einen Flußkopf haben.)

Im weiteren Verlauf überspielt die Strophe 10 die zeilenübergreifende syntaktische Struktur der Verse 7 bis 9 nicht nur durch das Enjambement, sondern verklammert diese, wie bereits gesagt, durch die endbetonten [a]-Assonanzen, die in den Versen 7 und 8 zu dem einzigen ‚perfekten‘ und damit hervorgehobenen Reim des Gedichts, „andar“ / „dejar“, gesteigert werden. Mit dieser ‚Aufhebung‘ endet der Walzer des maskulinen „amor“ mit der femininen „muerte“, wie wir in typisch ‚romanischer‘, durch die Sprachstruktur vorgegebener Umkehrung der ‚germanischen‘ Verhältnisse sagen müssen.45 Das wäre, so meine ich, ein schöner Schluss, wenn ich nicht den Obertitel meines Beitrags „¡Ay, ay, ay, ay!“ genannt hätte. Das offensichtliche Auseinanderfallen von Körper und Seele, das in Strophe 10 das Bild der Präsenz der Körper (Vers 5: „Dejaré mi boca entre tus piernas“) mit der Absenz der sich „en fotografías y azucenas“ („auf Lilien und Photographien“) verflüchtigenden und erstarrenden Seele verknüpft (Vers 6), dehnt sich aus auf den – dies ist eine poetische Lehre der etwas älteren französischen Dichter – einen seelischen Zustand, einen état d’âme symbolisierenden Walzer, der „violín y sepulcro“ („Geige und Grab“; Vers 9) ist. Wenn man von diesem Schlusspunkt an den Anfang des Gedichts zurückkehrt, dann wird man gewahr, dass der bereits etwas ausführlicher diskutierte Vers 2 der ersten Strophe, „un hombro donde solloza la muerte“ („eine Schulter für den schluchzenden Tod“), eine Paronoma-

44 Reina, Casiodoro de / Valera, Cipriano de (Übersetzer): La Biblia, que es los sacros libros del vieio y nuevo Testamento. Amsterdam 1602, Exodus 28, 33: „Y abajo en sus orillas harás granadas de jacinto, y púrpura, y carmesí, por sus bordes alrededor; y entre ellas campanillas de oro alrededor.“ 45 Coseriu: Textlinguistik, S. 71 exemplifiziert die „Relationen mit Gruppen bzw. Kategorien von Zeichen“ u. a. mit den unterschiedlichen Anthropomorphisierungen der romanischen und germanischen Wörter für den Tod, allerdings nicht mit diesem Gedicht.

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sie in absentia durch das nicht genannte hombre enthält. Das Pathos des Verses realisiert nun das bedeutungsarme, aber sinnerfüllte „¡Ay, ay, ay, ay!“, das, wie das für die schriftliche Fassung eines Gedichts eben üblich ist, keine prosodischrhythmische Notation enthält, aber in der Rezitation eine solche erhalten muss. Es kann kaum anders sein, als dass die repetitive Interjektion, die Trauer und Schmerz ausdrückt, wie das Wörterbuch nüchtern definiert,46 im Walzerrhythmus zu lesen ist, mit einem vollen ersten und einem beginnenden, abbrechenden zweiten Dreivierteltakt, jeweils betont auf dem ersten Viertel. So würde man sich wohl ausdrücken, wenn es sich um eine musikalische Notation handelte – metrisch liegt bei diesem verso agudo ein spanischer Fünfsilber mit ‚daktylischer‘ Struktur vor, die sich im Übrigen in der jeweils zweiten Zeile der vier estribillos, allerdings mit einem verso llano, fortsetzt (Strophe 2: „Toma este vals con la boca cerrada.“; Strophe 5: „Toma este vals de quebrada cintura.“; Strophe 7: „Toma este vals que se muere en mis brazos.“; Strophe 9: „Toma este vals del ‚Te quiero siempre.‘“) und darüber hinaus vor allem in den „Te quiero“-Versen der Strophen 4, 8 und 10. Aus linguistischer Sicht und nüchterner betrachtet, handelt es sich bei dem „¡Ay, ay, ay, ay!“ um Ikastik als „Nachahmung durch die Form des Zeichens“,47 und diese Form erfüllt als Zeichen zweiter Ordnung den – wiederum linguistisch gesprochen – ‚Sinn‘ des Gedichts, für den die jeweils zweiten Zeilen des estribillo in ihrer sich steigernden Bedeutungshaftigkeit gleichwohl nur ein unvollkommenes Äquivalent bieten. In der Tat schließt die bedeutungsarme Interjektion alle diese, aber auch alle denkbaren Interpretationen eines ersterbenden Walzers sinnhaft in sich ein. Es fällt schließlich noch auf, dass die Übersetzungen des Gedichts – und auch diejenige von Koppenfels – das „¡Ay, ay, ay, ay!“ nicht übertragen, sondern einfach beibehalten. Das hat in der Tat seine Berechtigung, denn Lorca ist ein Meister in der Verwendung dieser ‚typisch spanischen‘ Interjektion, die er aus seinen andalusisch-folkloristisch getränkten Gedichten in einen Wiener Walzer transponiert, möglicherweise ein Akt der Selbstbehauptung, nachdem die einst engen Freunde Buñuel und Dalí den Folklorismus des Romancero gitano kritisiert hatten.48 Auch dies ist ein evokatorisches Verfahren, bei dem ein Zeichen außerhalb seiner eigentlichen Verwendungszone gebraucht wird.49

46 Real Academia Española: Diccionario, s. v. ay: „aflicción o dolor“. 47 Coseriu: Textlinguistik, S. 88. 48 Siehe dazu Sánchez Vidal, Agustín: Buñuel, Lorca, Dalí. El enigma sin fin. 2. Aufl. Barcelona 1996. 49 Coseriu: Textlinguistik, S. 88ff.



Linguistische Notizen zum Ereignischarakter von Sprache und Dichtung 

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3 Es war nur eine Frage der Zeit, bis Lorcas Gedicht vertont und mit einer Walzermelodie unterlegt wurde, und so ist möglicherweise Leonard Cohens beachtliche Übersetzung und die musikalische performance von Take This Waltz heute bekannter als das spanische Gedicht. Auch Cohen behält die vierfache spanische Interjektion bei, der er mit einer fallenden Melodie, die möglicherweise dem von Quirino Fidelino Mendoza y Cortés komponierten Lied Cielito lindo nachempfunden ist:50

, drei vollständige Dreivierteltakte unterlegt, mit Betonung auf dem jeweils eine halbe Note ausfüllenden ersten und letzten „ay“, dem in beiden Fällen jeweils eine – im Gesang den Abbruch des zweiten daktylischen Verses des Gedichts nachahmende – Viertelpause folgt:51

50 Ich verwende eine der zahlreichen im Internet zu findenden Partituren. In: http://escuelapedrerahuertas.blogspot.de/ (1. November 2016). Gumbrecht: Präsenz, S. 327 möchte sogar behaupten, Lorcas Pequeño vals vienés sei eines von den Gedichten, die „entlang der rhythmischen Struktur des Volkslieds Cielito lindo geschrieben“ seien. 51 Ich verwende die Partitur von Sony / ATV Music Publishing und EMI Music Publishing 1988. Meine Mitarbeiterin Thea Göhring hat die Transposition nach H-Dur vorgenommen, da dies die Tonart ist, in der Cohen tatsächlich singt.

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So hat die anglophone Neue Welt das nach Europa geflohene Gedicht wieder zurückgeholt. Doch auch dies ist immer noch kein Schlusspunkt, denn spanische Sänger haben die Cohen’sche Vertonung wiederum mit dem spanischen Text verbunden.52 Was nur diesen einen Vers betrifft, so hält sich Ana Belén an die Cohen’sche Lösung:

Demgegenüber bleibt der andalusische Sänger Enrique Morente durch die sich über den gesamten ersten und den Beginn des zweiten Takts erstreckende, pathetische Dehnung sowie den Verzicht auf die erste der beiden Viertelpausen näher an dem daktylischen Eindruck des Gedichts:

52 Ureña, Juan Carlos: Transmusicalidad poética: Lecturas musicales del poema. In: Hispanic Poetry Review 10 (2015), S. 80–98, hier S. 93: „Como los cantes de ida y vuelta, el texto de Lorca [des Pequeño vals vienés] se transformó en un poema de ida y vuelta: nació en América en español como parte de Poeta en Nueva York (escrito en el corazón de la Gran Depresión) y, décadas más tarde, regresó a España con música y en inglés, generando versiones en español de artistas como Enrique Morente y Ana Belén.“ Die im Folgenden verwendeten Partiturausschnitte hat Thea Göhring angefertigt, wofür ich ihr sehr herzlich danke.



Linguistische Notizen zum Ereignischarakter von Sprache und Dichtung 

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Silvia Pérez Cruz wiederum löst die gesamte rhythmische Struktur durch eine Vermehrung der in eine spiegelbildlich auf- und absteigende Melodie überführten „ay“’s auf:

Die Fixierung des Gesangsvortrags auf auditiven und audiovisuellen Datenträgern ermöglicht beim Abspielen dem Zuhörer, immerhin ein Surrogat des jeweiligen Vortrags zu rezipieren. So vermittelt der beim Abspielen entstehende Nachklang des ursprünglichen und einmaligen Ereignisses das nicht nur analytische, sondern zweifellos auch ästhetische Vergnügen, dass die performances der populären Künstler das Gedicht Lorcas als – wie Hugo Riemann den Gesang einmal nannte – „gesteigerte Rede“ zur Geltung bringen.53 Die auf diese Weise von Sänger zu Sänger und von Vortrag zu Vortrag variierenden, neu entstehenden ‚Ereignisse‘ genauer zu betrachten, vor allem im Kontext der Skandierung des ganzen Gedichts, wäre freilich ein Thema für andere Studien.

53 Riemann, Hugo: Hugo Riemanns Musik-Lexikon. 8., vollständig umgearbeitete Aufl. Leipzig 1916, S. 361: „Gesang ist gesteigerte Rede.“

Young-Ae Chon

Form und Ereignis Zur inneren Dynamik der poetischen Form und ihrem Zusammenhang mit der Geschichte am Beispiel koreanischer Sijo-Gedichte

1 Einleitung Nicht nur die inhaltliche Aussage, sondern auch die Form der Poesie beeindruckt uns, weil diese – ob im Kleineren, ob im Größeren – die Wirkung und sogar den Gehalt der literarischen Mitteilung entscheidend mitbestimmt. Zu den bedeutsamsten und doch zu wenig beachteten Aspekten poetischer Form gehört die Zäsur. Die Versform des Alexandriners etwa mit ihrem deutlichen Einschnitt in der Mitte, der den Lauf des Rhythmus bricht und einen Vers in zwei Teile spaltet, markiert nicht bloß eine Atempause, sondern trägt zur Aussage des Verses bei. In dem folgenden Beispiel – bekannten Zeilen von Gryphius – lässt sich an dem kleinen Einschnitt sogar der durch den Dualismus geprägte Zeitgeist des Barock ablesen: DU sihst / wohin du sihst nur Eitelkeit auff Erden. Was dieser heute baut / reist jener morgen ein: Wo itzund Städte stehn / wird eine Wisen seyn1

Die ,aufgespaltenen‘ Verse werden in diesem Beispiel zur festen Form eines Sonetts verbunden, einer Form, die aufgrund ihrer Langlebigkeit in der Geschichte der Lyrik herausragt, über das Barock als die Hochzeit des Alexandriners weit hinaus. Interessanterweise ist die paneuropäische Gattung des Sonetts (ital. sonetto, span. soneto, engl./frz. sonnet) ihrerseits durch eine charakteristische Zäsur oder Wende geprägt, zwar nicht innerhalb eines einzelnen Verses, aber zwischen Versgruppen oder Strophen. Durch eine dem bisherigen Verlauf plötzlich zuwiderlaufende Argumentation, durch unerwartete Kontraste oder einen Wechsel der Tonart erlaubt es diese Zäsur, eine Steigerung bzw. Intensivierung der Bedeutung zu erzielen ‒ sei es am Übergang von zwei Quartetten zu zwei Terzetten (einer octave zu einem sestet), sei es am Übergang von drei Quartetten

1 Gryphius, Andreas: Es ist alles Eitel. In: Gedichte des Barock. Herausgegeben von Ulrich Maché und Volker Meid. Stuttgart 1980, S. 114. DOI 10.1515/9783110541854-025

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zu einem Zweizeiler (drei quartets zu einem couplet). Die Zäsur ist oftmals die Stelle, wo sich etwas Entscheidendes ereignet. Beachtenswert – auch im Blick über Europa hinaus – ist dieses Aussetzen von der Regelmäßigkeit der Form nicht nur, weil es als Bruch entscheidend der Aussage dient, sondern weil der Bruch mit der Regel wiederum zur Regel geworden ist. Der Bruch ist ein regelrechter ‒ inhaltlicher oder formaler – Bruch mitten in der Konformität. Selbst eine so kleine lyrische Form wie das Haiku, wohl die kleinste Gedichtform überhaupt, beinhaltet – genauer betrachtet – mit ihren bescheidenen Silbenzahlen 5–7–5 schon einen ähnlichen Mechanismus in sich. Auch dafür ein Beispiel: 閑かさや  |  岩にしみ入る  |  蝉の声 Sisukasaya  |  iwanisimiiru  |  seminokoe O die Stille,  |  den Fels durchdringen  |  Zikadengesänge2 Basho (1644–1694)

Die ersten fünf Silben rundet oft ein Giresi [切字; wörtlich: schneidendes Schriftzeichen] ab, das die erste Einheit deutlich von den beiden folgenden trennt. Zugleich besteht zwischen der zweiten und der dritten Einheit, d.  h. den sich anschließenden sieben Silben und den letzten fünf, wie zwischen der ersten und letzten Einheit eine überraschende inhaltliche Inkohärenz. Dies bedingt die Performativität wie auch die Poetizität des Haiku. Es entsteht auf diese Weise eine Art Momentaufnahme, das Bild eines Augenblicks, in dem sich etwas ereignet. Davon lebt diese kurze Form. Das Haiku ist also ebenfalls durch einen Bruch geprägt. Es handelt sich bei ihm eigentlich um ein Fragment, ein Bruchstück des Waga [和歌; wörtlich: Harmonisches Lied, Silbenzahl 5–7–5 / 7–7] oder des Haikai-Renga [俳諧連歌; HaikuKettenlieder, wörtlich: Possen- bzw. scherzhafte Verse-Kettenlieder]:3 lediglich um den Eröffnungsvers [發句; Hokku], dem weitere Verse nicht mehr folgen (vergleichbar mit eventuell verselbständigten Königsverspaaren [Šãh-bãyt] ohne die

2 Sofern nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen ins Deutsche von mir (Y.-A. Ch.). 3 Haikai-Renga ist, wenn man es vom Haiku ausgehend betrachtet, eine mit dem Sonettenkranz vergleichbare Sammlung und – da von vielen Autoren der Reihe nach verfasst – eine sublime Form der Geselligkeit, die aber auf einem ,intentionalen Fehlverständnis‘ des vorangehenden Haiku beruht und ‒ das ,Fehlverständnis weiterführend‘ oder das vorangehende ,korrigierend‘ ‒ weitergeht. Auf diese Weise bildet sich eine höchst raffinierte Kette. Wörtlich ist das Haiku [俳 句] die Abkürzung des Haikai-Renka-Eröffnungsverses [俳諧連歌發句].



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eigentliche Ghasele4), oder: den Rest eines Waga, dessen Kommentarteil [7–7] abgeschnitten wurde. Diesen zu rekonstruieren oder überhaupt erst zu konstruieren ist der Leser aufgefordert – vergleichbar dem ersten Satz einer kurzen Erzählung Kafkas mit dem Titel Die Bäume: Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.5

Das Haiku ist gewiss ein extremes Beispiel. Doch auch in anderen Gedichtformen lassen sich solche – fast regelkonformen – Momente der Unterbrechung oder des Aussetzens von der Regelmäßigkeit finden, die der Intensivierung der poetischen Aussage dienen und schließlich sogar deren Kern bilden können. Dies ist in der Poesie ein weit verbreitetes Phänomen. Sie duldet Monotonie offenbar am wenigsten. Als ein Beispiel und weiteren Beleg für diese Beobachtung möchte ich im Folgenden eine traditionelle koreanische Gedichtgattung vorstellen. Ich umreiße zunächst ihre Form und setze diese anschließend in Bezug zur jeweiligen Zeitgeschichte, wie sie ihrerseits in der kleinen Form widergespiegelt wird.

2 Die Gattung Sijo 2.1 Etablierung einer Form Die koreanische traditionelle Gedichtform Sijo [sprich: Sidscho] entstand mutmaßlich vor über tausend Jahren: gegen Mitte der Koryeo [sprich: Korea]-Dynastie (918–1392). In der darauffolgenden Joseon [sprich: Chosun]-Dynastie (1392–1910) etablierte sie sich dauerhaft und wurde als einzige poetische Gattung über die sechshundert Jahre, die das Herrschergeschlecht regierte, tradiert. Sie verschwand dann aber mit dem Untergang der Dynastie abrupt und ist heute, sieht man von einzelnen Wiederbelebungsversuchen ab, weitgehend ausgestorben. Das Sijo ist eine dreizeilige Gedichtform aus rund 45 Silben mit dem Silbenschema 3–4–3–4 / 3–4–3–4 / 3–5–4–3. Es ist also deutlich länger als ein Haiku

4 Es würde so aussehen: aa [xa xa xa xa xa…]. 5 Kafka, Franz: Sämtliche Erzählungen. Herausgegeben von Paul Raabe. Frankfurt a. M. / Hamburg 1970, S. 19. (Hervorhebung Y.-A. Ch.)

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und nicht so streng und anspruchsvoll wie dieses, also eine insgesamt flexiblere und variablere Form, bei der indes die Formvariante im dritten und letzten Vers [종장終章], vor allem in dessen erster Hälfte – in Bezug auf die Silbenzahlen 3 und 5 – relativ strikt, insbesondere die erste Silbenzahl – 3 – sogar ganz strikt eingehalten wird. Denn hier liegt bei dieser Form der Wendepunkt, der mit dem Übergang vom zweiten Quartett zum ersten Terzett in einem Sonett vergleichbar ist. 이몸이 죽고죽어 일백번 고쳐죽어 imomi jukgojugeo ilbaekbeon gocheojukeo 백골이 진토되어 넋이라도 있고없고 baekgori jintodoeo neokirado iskoeopgo 님향한 6 일편단심이야 가실줄이 있으랴 nimhyanghan ilpyeondansimiya gasiljuli isserya Mein Körper kann sterben und sterben, hundertmal wieder sterben Meine weißen Gebeine können zu Staub zu Lehm zerfallen mit oder ohne Seele Meine Treue dem geliebten Herrn gegenüber würde um keinen Deut verblassen JUNG Mongju (1337–1392)

Und in einer möglichst interlinearen Übersetzung: Mein Leib kann sterben und sterben, hundertmal wieder sterben; Weißes Gebein kann zu Staub zu Lehm zerfallen – mit oder ohne Seele, Dem Geliebten gegenüber die Treue wird mir verblassen nie um einen Deut.

Der Geliebte in der Interlinearübersetzung wie im Original weist in der traditionellen koreanischen Poesie öfters – und hier ganz bestimmt – auf den König hin. Es ist ein Lied über die Treue gegenüber dem alten König, und zwar kurz vor einem bevorstehenden Dynastiewechsel durch Usurpation. Mit diesem Sijo weist ein treuer Untertan die Aufforderung zur Kollaboration mit dem neuen Herrscher unmissverständlich zurück. Die Aufforderung kam zuvor von einem Sohn des Usurpators ebenfalls in Form eines Sijo,7 und kurz nach diesem klaren Nein wurde der treue Untertan ermordet. In vollem Bewusstsein des Risikos, das damit einherging, wurde also das Nein in Form des Sijo formuliert. Das Treuelied wurde im Jahr 1392 verfasst und war gleich in aller Munde. Dazu trug sicher bei, dass die Treue bzw. Loyalität gegenüber dem Herrscher an

6 Hier und in den folgenden Sijo-Zitaten wurde der Wendepunkt durch Kursivierung hervorgehoben. 7 „이런들 어떠하리 저런들 어떠하리 / 만수산 두렁칡이 얽혀진들 어떠하리 / 우리도 이같이얽혀 한 백년 살아보세 Was macht dies aus, was macht das aus, / Das wilde Geranke auf dem Berg Mansu (= Langlebigkeit) geruht zusammenzuwachsen / Auch wir können so zusammen hundert Jahre geniessen.“ So fragte YI Bangwon, der Sohn des Usurpators, den treuen Untertan Jung zuvor ebenfalls in Form eines Sijo.



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erster Stelle des überlieferten konfuzianistischen Tugendkatalogs stand. Noch heute kennen das Lied alle Koreaner und lernen es auswendig. Eine Erklärung für diesen Erfolg bietet neben dem Inhalt auch die höchst effektvolle Form, da sie auf der natürlichen Rhythmik der Sprache basiert und das Lied sozusagen mundgerecht macht. Die erste Entstehung der Gattung Sijo lässt sich im Einzelnen nicht genau zurückverfolgen; aber ihre Etablierung zu Beginn der JoseonDynastie ist außerordentlich anschaulich. Durch einen politisch hochbrisanten Gedichtdialog wurde die poetische Form Sijo für viele Jahrhunderte unerschütterlich geprägt. Das Sijo wurde von Gelehrten gepflegt, die oftmals zugleich Poeten und Politiker waren. Die ersten Vertreter dieser Gattung waren YI-Yulgok und YI Toegye, beide über die Rolle des Poeten und Politikers hinaus auch jeweils Vertreter des Konfuzianismus. Das Sijo gehört in seinen Anfängen ganz deutlich, in der Hauptsache auch noch später, zur Gelehrtendichtung. Es bietet oft Naturbilder, ist aber zugleich von der konfuzianischen Gesinnung durchdrungen.

2.2 Adaption und Fortführung Die anfängliche Gelehrtendichtung wurde später überwiegend von Frauen adaptiert und als Medium der Vermittlung von Empfindungen benutzt. Zu der Zeit, als es im sozialen Leben noch keinen Raum für Frauen gab, als ein Mädchen schon mit sieben Jahren nicht mehr gemeinsam mit einem Jungen in einem Zimmer bleiben durfte, wurde einer bestimmten Schicht von Frauen – unter besonderem Aspekt – fast dieselbe Bildung wie Männern gewährt: damit sie nämlich den Gelehrten Gesellschaft leisten konnten als Gesellschafterinnen, als Gisaeng [≒ Geisha]. Sie waren so die Trägerinnen und zugleich Nutznießerinnen der damaligen Poesie. Diesen Frauen verdankt das Sijo viel; es gab zunehmend herausragende Sijo-Verfasserinnen. Die bedeutendste war HUANG Jini, die Mitte des 16. Jahrhunderts lebte; von ihr wurden zwar nur sechs Sijo tradiert sowie vier chinesische Gedichte, aber diese wenigen Texte prägten die Eigenart der Gattung nachhaltig. Die meisten von ihnen lernen Koreaner bis heute auswendig, derart groß ist ihre Bedeutung in der koreanischen Literaturgeschichte. Ein Beispiel: 청산리 벽계수야 수이감을 자랑마라 choeongsanri Byeokgyesuya suigameul jarangmara 일도(一到) 창해 하면 다시 오기 어려워라 ildo – changhae hamyeon dasiogi eoryeowora 명월이 만공산하니 쉬어간들 어떠리 myeongwol-i mangongsanhani suieogandl eoddeori

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Grüntalwasser8 hinter dem grünen Berg, sei nicht stolz auf [dein] leichtes Gehn Erreichst du einmal das Meer, so kannst du nie wiederkehren. Heller Mond füllt leeren Berg; wie wäre es? Eine Pause [bei mir]? HUANG Jini9

Die an den Fluss gerichtete Frage im letzten Vers ist hochgradig bedeutsam – nicht nur wegen der unmöglichen Aufforderung zum Rasten, sondern auch wegen des Doppelsinns der ersten drei Silben. Denn „heller Mond“ ist auch der Beiname der Gesellschafterin Jini. Neben dem Aspekt der Verführung, der im Text zum Ausdruck kommt, ist die Geste der poetisch verklausulierten Selbstbehauptung – im Hinblick auf die Zeit und den damaligen Status von Frauen – unerhört und beispiellos. Etwas Unmögliches, etwas Unzumutbares macht hier eine Frau in Form von – naiv aussehender, aber kunstvoller – Poesie. Dieses Unmögliche und Unzumutbare ereignet sich in den ersten drei und fünf Silben der letzten Zeile, mit denen der bis dahin regelmäßige Lauf der Silben im Wendepunkt des Sijo unterbrochen wird. Diesem selbstbewussten, liebenden Subjekt gegenüber steht am Anfang des Gedichts „Grüntalwasser“. Damit wird nicht nur der Fluss angerufen, sondern auch der Geliebte der Verfasserin, ebenfalls ein hoher Gelehrter, der natürlich kein Gewässer, sondern ein Mann mit Eigennamen ist. „Grüntalwasser“ ist ein subtil ausgesuchtes oder erfundenes Homonym und wird noch durch eine adverbiale Bestimmung ergänzt, um den Eindruck zu verstärken, es handle sich um Landschaftspoesie. So vollzog sich die Etablierung des Sijo durch die Gelehrten und die Adaption und Fortführung durch eine Frauenschicht. Im Laufe der Zeit kam es zu einer zunehmenden Popularisierung: zur Erweiterung durch die breite Schicht des Volkes.

2.3 Erweiterung zum Prosa-Sijo Durch das Volk wurde das Sijo – sowohl stofflich als auch formal – nochmals erweitert. Die Beliebtheit und Pflege im größeren Kreis brachte eine inhaltliche Erweiterung und Lockerung der Form mit sich. In den Händen des Volkes wurde das Sijo zum Mittel der Darstellung seines Lebens und Lebensgefühls; dementsprechend wurde auch die Form weiter gelockert und die Textlänge vergrößert

8 Wörtlich: Blautalwasser. In Korea unterscheidet man zwischen Blau und Grün wenig, besonders wenn es um Landschaftsdarstellungen geht. 9 Geburts- und Todesjahr sind unbekannt.



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– manchmal sogar in Prosa umgeformt. Somit entstand im 18. Jahrhundert die Untergattung des „Prosa-Sijo“: 창 내고쟈 창을 내고쟈 이 내 가슴에 창 내고쟈 고모장지 세살장지 들장지 열장지 암돌져귀 수돌저귀 배목걸새 크나큰 장도리로 쑹닥 바 가 이 내 가슴에 창내고쟈 잇다감 하 답답할 제면 여다져 볼가 하노라 Ein Fenster will ich bauen, ein Fenster will ich einbauen in diese meine Brust. Ob ein Grobgitterfenster oder Feingitterfenster, ob ein Hebefenster oder Schiebefenster, auf die weibliche Angel, auf die männliche Angel, auf die Riegel schlag’ ich mit einem Riesenhammer plumps! und will ein Fenster einbauen in diese meine Brust. Manchmal, wenn’s mir so eng wird, will ich es mal öffnen, mal schließen. Unbekannter aus der späten Joseon-Dynastie

Die Dreizahl der Silben zu Anfang des dritten und letzten Verses bleibt immerhin unverändert. Ansonsten kann man die Form aber kaum noch wiedererkennen. Anders gesagt: Die Zahl von drei Silben zu Anfang der dritten Zeile ist unantastbar, obwohl ein Prosa-Sijo nun praktisch beliebig verlängert werden darf. Auch das Sujet ist weit von dem entfernt, was bis dahin als „poetisch“ galt. So wie sich die Etablierung des Sijo einem politischen Ereignis verdankte, so hatte auch die spätere Formwandlung des Sijo viel mit der Wandlung der Gesellschaft zu tun. Hier wären insbesondere zwei historische Ereignisse zu nennen: die japanische Invasion von 1592 und die chinesische von 1643, von deren verheerenden Auswirkungen sich das Land – über hundert Jahre hinweg – nur langsam erholen konnte. Der Dynastie selbst drohte fast der Untergang. Im 18. Jahrhundert, nachdem sich das Land wieder einigermaßen erholt hatte, wurde man sich der Notwendigkeit einer Erneuerung des Landes auch mit Blick auf das Nationalbewusstsein dringend bewusst. In diesem politischen wie gesellschaftlichen Klima richtete sich der Fokus zunächst auf die aktuelle Not des Volkes, dann allmählich auf die alltäglichen und praktischen Dinge überhaupt. Mit dem Zusammenbruch des Bestehenden in der Gesellschaft kam es beim Sijo zu weiteren Lockerungen der Form; der Umfang konnte nun praktisch unendlich lang ausgedehnt werden. Was bestehen blieb, war jedoch die erste Silbenanzahl des dritten Verses, in dem die Wende geschieht. Ein Wendepunkt, der ebenso bedeutsam ist, wie es die Angel an einer Tür ist.

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2.4 Abruptes Verschwinden Als 1910 die Joseon-Dynastie – wegen der japanischen Besatzung – endete und es daraufhin zu einer kurzen, aber jähen tabula rasa in der langen Geschichte Koreas kam – bis dahin war das Land seit seiner Gründung im Jahre 668 ein Einheitsstaat gewesen –, verschwand u. a. auch die poetische Form des Sijo. Während der Kolonisation und danach war das Land im – zuerst erzwungenen, dann aber auch freiwilligen – Umbruch zur Moderne kulturell und geistig zahlreichen fremden Einflüssen, vor allem auch westlichen Strömungen ausgesetzt, so dass man kaum mehr Muße hatte, sich mit der Tradition zu befassen. Mehrere Jahrzehnte hindurch blieb die koreanische Gesellschaft in mehrfacher Hinsicht überfordert. Viel von der Tradition war verlorengegangen. Auch das Sijo wurde über lange Zeit praktisch nur in Buchform überliefert, und die Bemühungen um die Wiederbelebung dieser Gedichtform blieben punktuell. Vor diesem Hintergrund sind manche jüngeren Versuche vor allem im Ausland umso bemerkenswerter, z. B. die „Teaching Sijo“-Projekte in den USA.10 Diese Sijo-Gedichte aus der Hand amerikanischer Jugendlicher befassen sich zwar formbewusst, aber inhaltlich ziemlich frei mit der traditionellen koreanischen Gedichtform. Zwei Beispiele: I face my cruelest enemy, whose hateful words stain my skin Staring into her hungry eyes; my oldest, closest friend I turn away from the mirror, never to hear her lies again.11

Die Verfasserin dieses Sijo ist Studentin an einer Militärakademie. Das folgende Gedicht, mit dem Titel Still American, wurde von einem Hispanic-Jugendlichen verfasst und von der Sijo-Hip-hop-Gruppe „Elephant Rebellion“ vertont und vorgetragen: They say go, return to land that I don’t know. It makes no sense. Born and raised American, so Mexico is still foreign. Culture kept, but this is my home. Emigrant, no: Latino.12

10 Programme für die Schulklasse wie für die SchullehrerInnen, vor allem von der Initiative Sejong Cultural Society. 11 Bogdewic, Eva: Confrontation. In: Letters. The Literary Magazine of Randolph-Macon Academy. April 2014, S. 38. Hervorhebung nicht im Original. In: https://www.sejongculturalsociety. org/videos/sijo (24. Dezember 2016). 12 Santos, Roberto: Still American. In: https://www.youtube.com/watch?v=INSQ2axdaRc (24. Dezember 2016).



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Dieses Sijo wurde von dem Gedicht Grüntalwasser von Huang Jini inspiriert, und es zeigt, wie leicht sich ein Lebensgefühl in dieser Form fassen lässt, ungefähr so, wie die Koreaner früherer Zeiten – über tausend Jahre lang – dem Sijo ihre Gesinnung und ihr Gefühl anzuvertrauen pflegten. Noch beachtenswerter sind einige wenige, aber hochkarätige Sijo-Adaptionen aus Deutschland. So hat der Komponist Roland Breitenfeld das Sijo von Huang Jini beeindruckend zweisprachig vertont: gleichzeitig wird es von einer Gagok-Sängerin koreanisch gesungen und von einem Bariton deutsch gesprochen – auf dem instrumentalen Klangteppich eines koreanisch-westeuropäischen Ensembles.13 Und Reiner Kunze, inspiriert von dem oben angeführten Sijo Jung Mongjus („Mein Körper kann sterben […]“), hat ein eigenes Sijo geschrieben unter dem Titel Koreanische Legende in altem Stil: Dem könig, dem er treue schwor, die treue haltend, schied der weise vom verschwörer. Seines mörders blick er mied rücklings auf die brücke reitend ins gezückte schwert, ins lied14

Die alte „Legende“ aus einem fernen Land wurde als Stoff genommen, um diesen in kunstvolle Poesie zu verwandeln, die nicht bloß eine fremde Legende vermittelt, sondern von der Entstehung des Liedes selbst handelt und ihr eine prägnante Gestalt verleiht.15

3 Parallele Erscheinungen zur Ergänzung: Klassische koreanische Dichtung auf Chinesisch Die ersten und meisten Sijo-Verfasser waren, wie angedeutet, Gelehrte. Sie waren zugleich diejenigen, die auch die Dichtung einer anderen asiatischen Tradition pflegten: der klassisch-chinesischen. Diese gehörte bei ihnen schon zur Bildung, lange bevor die koreanische Schrift im Jahre 1443 erfunden wurde, und auch in der Zeit danach.16 Die Gelehrten waren klassisch ausgebildet. In formaler Hin-

13 Breitenfeld, Roland: Sidcho, das keinen Trost weiss / 위로를 모르는 시조 für Gagok (Gesang), Bariton, Daegeum, Gayageum, Haegeum, Janggo, Klavier und Tonband nach dem gleichnamigen Gedicht von Reiner Kunze (2010). 14 Kunze, Reiner: lindennacht. gedichte. Frankfurt a. M. 2007, S. 82. 15 Nähere Ausführungen hierzu in Chon, Young-Ae: „im lied jedoch“ – in der globalisierten Welt. Zu den Korea-Gedichten Reiner Kunzes. In: Neue Rundschau 120/3 (2009), S. 193–212. 16 Die koreanische Schrift erfand übrigens der weise König Sejong für das Volk. In der Präambel des Hunminjeongeum (1443), einer Erklärung der neuen Schrift, steht, dass die Schriftzei-

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sicht bewegten sie sich frei im traditionellen asiatischen Bildungsgut: etwa der Poesie-Kanon Shijing [詩經], den sie durchaus kannten, bot ihnen hierbei Orientierung. Inhaltlich setzten sie aber eigene Akzente, wobei auf dem Landschaftsbild nach wie vor das Hauptgewicht lag. Neben Zweizeilern wurden Vierzeiler bevorzugt. Dort lautete eine wichtige Regel: „Gegenüberstellung [對]“, und zwar unabhängig davon, ob ein Vers aus fünf Einheiten oder sieben bestand. Es wurde eine Wende im dritten Vers gesetzt, vergleichbar einem Sonett: 俗客不到處 登臨意思淸 [cheong, rein] 山形秋更好 江色夜猶明 [myeong, hell] 白鳥高飛盡 孤帆獨去輕 [gyeong, reicht] 自慙蝸角上 半世覓功名 [myeong, Ruhm]17 Wo ein Wanderer kaum hinkommt, da oben finde ich meinen Sinn reiner vor; der Berg ist im Herbst schöner; der Fluss scheint in der Nacht heller. Ein weißer Vogel fliegt hoch und verschwindet; ein einsamer Kahn fährt dahin – allein leicht schwebend. Wie schäme ich mich, auf dem Schneckenhorn verging mir ein halbes Leben – höchstens lächerlichen Ruhm suchend. KIM Bushik (1075–1151)

Die regelkonformen Landschaftsdarstellungen in den ersten beiden Versen laufen parallel zueinander. Im dritten Vers bleibt der Blick zwar noch auf der Landschaft, wird aber einmal nach oben gerichtet, um darauf auf das lyrische Ich zurückgelenkt zu werden. (Man erinnere sich an einen ähnlichen Blickwechsel und den dementsprechenden Rhythmuswechsel in dem Gedicht Auf dem See von Goethe!) Die Perspektive wird entscheidend erweitert. Es kommt zur Reflexion, und der Schluss im vierten Vers beinhaltet die eigentliche Moral des Gedichts. Dieses Gedicht ist ein typisches Beispiel für die tradierte Dichtung auf Chinesisch in Korea. In anderen Gedichten kann die Wende sogar noch stärker markiert werden:

chen „dem Volk zuliebe zu ihrem alltäglichen Gebrauch“ entwickelt wurden, weil Chinesisch zu einem anderen Sprachsystem gehörte und daher für das Volk schwierig war. 17 Die Reimwörter sind hier und in den folgenden chinesischen Zitaten kursiv markiert. Das zweite und das vierte Wort sind homonym (Hervorhebung Y.-A. Ch.).



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雨歇長堤草色多 [da, viel] 送君南浦動悲歌 [ga, Lied] 大同江水何時盡 [jin, erschöpft] 別淚年年添錄波 [pa, Welle] Nach dem Regen werden am Ufer Gräser grüner; nach dem Abschied erklingen da Lieder trauriger: Wann würde jener Fluss verfließen, das Wasser alle? Übers Jahr, übers Jahr nur vermehrt es die Träne [des Abschieds]. YI Gyubo (1168–1241)

Hier sind der dritte und vierte Vers ein Zitat, das im Chinesischen nicht mit Anführungszeichen markiert wird. Die Wende ist also deutlicher. Was hiermit zitiert ist, soll ein – zu großem Wagnis genommener – Schlager von damals sein, während der erste und zweite Vers eine regelrechte Landschaftsdarstellung in gehobener Sprache ist.18 Auch auf diesem Gebiet vollzog sich im 18. Jahrhundert ein Blickwechsel auf das, was früher als ,nicht poetisch‘ galt: auf das Volkstümliche, Alltägliche, das Praktische usw.: 菠薐傳數名 [myeong, Name] 其始出波羅 [ra, Seide, (Pe)rsien] 俄國有俗稱 [ching, Name]19 恐是赤根訛 [wa, falsch entlehnt] Der Spinat hat mehrere tradierte Namen; der erste stammt jedoch aus Persien. Sigmchi [Spinat], der gängige bei uns, ist aber ein falsch entlehnter von Jeokgnchi [Rotwurzel]. KIM Chang-up (1658–1721)

Dieses Gedicht ist eines von siebzig Pflanzengedichten, die womöglich als enzyklopädisches Handbuch fungieren sollten. In den Versen wurde das volkstümliche Leben dargestellt, aber auch Wissen gesammelt. (Bei allen Gelegenheiten schrieb man Gedichte. Nicht nur seinen Absichten und Empfindungen gab man Ausdruck, sondern es wurden auch Kenntnisse in Verse gebracht; selbst die Staatsprüfung legte man in Versen ab. Geprüft wurde der Grad der Ausbildung wie die Kompetenz in dieser Hinsicht.) Wenn auch erweitert, so war die klassisch-

18 Vgl. 이종묵[Lee, Jong-mook]: 우리` 한시를 읽다 [Uri Hanshirl ilgda: Unsere Dichtung im Chinesischen lesen]. Seoul 2009, S. 52. Diesem Buch verdankt sich auch meine Auswahl der Gedichtzitate im Chinesischen im Folgenden. 19 名 [myeong] und 稱 [ching] bedeuten jeweils Name, und beides zusammen [名稱 myeongching] bedeutet ebenso Name. In dem Gedicht geht es um Namenskunde.

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chinesische Dichtung von koreanischen Verfassern nach wie vor Gelehrtendichtung, die Gesinnung vermittelte: 鳥獣哀鳴海嶽嚬 [bin, düster] 槿花世界己浸潤 [yun, versunken] 秋燈埯券懷千古 [go, alt] 難作人間識字人 [in, Mensch] Selbst Tiere mit Flügeln weinen; Berge und Meere sehen düster aus. Ein Universum der Ewigen Blume20 ist untergegangen – hilflos. Im Licht einer Herbstlampe schlag’ ich das Buch zu und blicke auf die uralte Geschichte zurück, Wie schwer ist es, als Gelesener zu leben und zu handeln. HUANG Hyun (1855–1910)

Hiermit trauerte der Verfasser 1910 um den Untergang des Landes. Aus dieser Trauer heraus verübte er Selbstmord, unmittelbar davor verfasste er das Gedicht. Seitdem gilt es für Intellektuelle als Musterbild der (patriotischen) Gelehrtengesinnung, markiert aber zugleich auch das Ende der Tradition der in Korea auf Chinesisch geschriebenen Dichtung. Viel radikaler als im Fall von Sijo brach hier die Tradition ab.21 Selbst in diesen einfachen kurzen Versen findet sich die Wende. Unabhängig davon, was die Verse inhaltlich vermittelten, galt diese Regel, solange die Form in Korea existierte.

4 Schluss: Chinesische Dichtung selbst Die Regel von der Wende bzw. Gegenüberstellung galt in klassischer chinesischer Lyrik selbstverständlich auch in China selbst – ganz gleich, ob ein Gedicht vom Kaiser persönlich verfasst wurde oder von einem unbedeutenden Untertan. Nur zwei von zahllosen Beispielen seien hier angeführt. Beispiel 1: Der große Kaiser, der Tang-Kaiser Xuanzong in der Heimat des Konfuzius:22 夫子何爲者 栖栖一代中 [jung, Mitte, während] 地猶鄒氏邑 宅即魯王宮 [gung, Palast] 歎鳳磋身否 傷麟怨道窮 [gung, erschöpft] 今看兩楹奠 當與夢時同 [dong, das Gleiche]

20 Wörtliche Übersetzung des volkstümlichen Namens der Nationalblume Koreas. 21 Man lernt heute kaum mehr Chinesisch, sondern Englisch. 22 唐玄宗: 經魯祭孔子而歎之 [Eine Andacht für Konfuzius und Klage beim Durchzug durch das Land RO].



Form und Ereignis 

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Was war sein Hauptgeschäft, Konfuzius’, Ihm verging sein Leben bloß hektisch. Das Grundstück gehört nach wie vor zum Bezirk vom Land CHU, Wo sein Wohnhaus stand, steht nun aber der Palast des Königs von RO. Ich trauere um den verletzten Phoenix, klage um unser Verfehlen; ich trauere dem mythischen Tier nach und dem Ende des Tao. Zwischen zwei Säulen mache ich nun die Andacht; der Traum sollte wohl der gleiche wie damals bleiben. Xuanzong (685–762, reg. 712–756)

Die zwei ersten Verse der zweiten Strophe enthalten eine Anspielung auf Konfuzius selbst, der mit den Metaphern der mythischen Tiere das Ende des Tao [道 = Weg] beklagt haben soll. Beispiel 2: Der Meister, der „Unsterbliche Dichter“ LI Bai,23 in ähnlicher Situation:24 不向東山久 [gu, ewig] 薔薇幾度花 [hua, blühen] 白雲還自散 [san, zerstreut] 明月落誰家 [ga, Haus] Den alten Ostberg hab ich lange nicht aufgesucht. Wie oft hat die Rose inzwischen geblüht. Selbst weiße Wolken haben sich zerstäubt – Heller Mond, wem fällst du in den Hof? LI Bai (701–761)

Ob kurz oder lang, ob vom Kaiser verfasst oder von einem Trinkerpoeten,25 es findet sich wiederum der erwähnte Wendepunkt: wie in der Mitte des Pentameters, der zweiten Zeile eines Distichons, oder aber, besonders anschaulich, schon zwischen den zwei Versen des Distichons, dem Hexameter und seinem Pentameter. Der mit einer formalen Zäsur verknüpfte Wendepunkt ist, wie die vorstehenden Beispiele gezeigt haben, gerade für die Lyrik von elementarer Bedeutung. „Jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert, / liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt“,26 schreibt Rilke 1922 in den Sonetten an

23 Der Name wird auch als Li Po oder Li T’ai-po [李太白] transkribiert. 24 李白 / 李太白: 憶東山 [In Erinnerung an Ostberg]. 25 Er hatte verschiedene Beinamen wie Shixian [신선, 神仙, Unsterblicher Dichter] oder Jiuxian [주선, 酒仙, Unsterblicher des Weins]. 26 Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Ernst Zinn. Frankfurt a. M. 1955ff. Bd. 1, S. 758.

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Orpheus. Immer wieder scheint sich an Zäsuren in Gedichten etwas Entscheidendes zu ereignen, etwas, das die Textstruktur bestimmt und ein weites Relationsfeld eröffnet. Oftmals wird erst von dort her die eigentliche Aussage erkennbar und ergibt sich eine Einsicht in ‚Sein‘ und ‚Werden‘ (oder die ,Geschichtlichkeit‘) einer Sache. Sofern sie beim Rezipienten zu einer Erkenntnis beiträgt, kann man die Zäsur auch im Bild des ,Risses‘ begreifen, durch den eine ,Wahrheit‘ erscheint oder aufscheint. Ob diese Wahrheit dabei in einer grundsätzlichen Einsicht in die Vergänglichkeit alles Irdischen besteht (wie bei Gryphius), in der plötzlichen Aufmerksamkeit auf den die Stille hörbar machenden Zikadengesang (wie bei Basho) oder in der Entdeckung der eigenen, auch durch den Tod nicht zu besiegenden Treue gegenüber dem König (wie bei Jung Mongju), ist unter dem Gesichtspunkt der poetischen Form sekundär. In allen Fällen ereignet sich die Wahrheit im Modus einer entdeckenden Wahrnehmung des Lesers.27 Die Poesie, die nach Goethe „ein Gemeingut der Menschheit“ ist,28 stellt aufgrund der für sie charakteristischen Kunst der Zäsur für eine solche Wahrnehmung ein besonderes Medium bereit. Das Ereignis der Wahrheit wird in ihr bedingt durch die innere Dynamik ihrer Form.

27 Zur Wahrheit als Ent-deckung vgl. Heidegger, Martin: Vom Wesen der Wahrheit (1930). In: ders.: Wegmarken. Frankfurt a. M. 1967, S. 73–97. 28 Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Herausgegeben von Regine Otto. 2. Aufl. München 1984, Gespräch vom 31. Januar 1827, S. 198.

Dorothy M. Figueira

The Translation of the Bhagavad Gita as a German Literary and Philosophical Event1 In 1785, Charles Wilkins translated the Bhagavad Gita into English.2 It was the first and perhaps the most important translation from Sanskrit ever made. The view of Indian religion and philosophy that German intellectuals would initially form was based on this rendition. Excerpts from Wilkins’s translation were quickly translated into German by Johann Gottfried Herder and appeared in Zerstreute Blätter in 1792. With these translations, Herder announced his enthusiasm for Indian thought, in particular as it pertained to his larger Enlightenment universalist project. In 1802, the entirety of Wilkins’s translation was then rendered into German by Friedrich Meier who in his introduction compared the Sanskrit text’s teaching to ideas found in Plato, Spinoza and Jacob Boehme. More excerpts from the Gita were then translated directly from the Sanskrit by Friedrich Schlegel in 1808, appearing in the appendix to Über die Sprache und Weisheit der Inder. Those portions Schlegel chose to translate highlighted themes he personally found most captivating in Indian thought, namely, the Hindu conception of God and its understanding of the individual’s union with the divine. It was these themes that had initially brought him to Indian thought and the study of Sanskrit and ultimately drove him away from it and into the embrace of Catholicism. Almost forty years would elapse between Wilkins’s translation and the next significant treatment of Indian speculative thought. In 1823, A. W. Schlegel, the first chair of Sanskrit at Bonn, published the original Sanskrit text of the Gita along with a Latin translation.3 The French Sanskritist A.  S. Langlois wrote a scathing review of Schlegel’s translation4 to which two thinkers who were to have a significant influence on German pedagogical projects responded and thereby initiated an intense debate. First, Wilhelm von Humboldt reacted in detail to Lan-

1 A more expansive analysis of the European reception of the Gita can be found in Figueira, Dorothy M.: The Exotic. A Decadent Quest. Albany / New York 1994. 2 Wilkins, Charles: The Bhagvat-Geeta, or Dialogues of Kreeshna and Arjoon; in Eighteen Lectures; with Notes. Translated from the Original, in the Sanskreet, or Ancient Language of the Brahmans. London 1785. 3 Schlegel, August Wilhelm: Bhagavad-Gita, id est ΘΕΣΠΕΣΙΟΝ ΜΕΛΟΣ sive Almi Chrishniae et Arjunae colloquium de rebus divinis. Textum recensuit, adnotationes criticas et interpretationem Latinam adiecit. Bonn 1823. 4 Langlois, Alexandre Simone: Bhagavad Gita id est thespesion melos […] traduit par M. A. G. Schlegel. In: Journal Asiatique 4 (1824), p. 105–116, 236–252. DOI 10.1515/9783110541854-026

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glois’s attack on Schlegel’s translation.5 Humboldt then followed this response with two lectures on the Bhagavad Gita6 to which G. W. F. Hegel wrote two extensive review articles in his Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik of 1827.7 Hegel commented specifically on Schlegel’s view, seconded by Humboldt, that the Gita was the only classical Sanskrit poem with any philosophical content. There is no need to summarize here the plot or the epic context of the Gita; it is a text familiar to most readers, given the exoticism of our times. Moreover, the Sanskritists’ arguments over specifics (origin, age, homogeneity), which continue to this day, must remain peripheral to our discussion. For our needs we need only remark that the Gita is a mystical poem embedded in the Mahabharata, examining the Soul’s (Atman’s) oneness with God (Brahman). The Gita explores the various paths to recognizing the Soul’s union with the Divine through the philosophical schools of samkhya and yoga. The Samkhya doctrine may be described as a path to perfection reached with the reasoning intellect. The more important path discussed by the Gita is that of yoga or self-concentration through non-intellectual meditation. Principally at issue in the initial reception of the Gita was the understanding of the concept of yoga. Throughout his translation, Wilkins defined yoga as “junction,” “devotion,” and “mental application of the mind”. In his Latin translation, Schlegel chose the term devotio as the primary “equivalent” for yoga. In the following discussion, I will look at the scholarly contours of the event of the Gita’s translation in Germany.8 It is misleading to see it, as some scholars have

5 Humboldt, Wilhelm von: Ueber die Bhagavad-Gîtâ. Mit Bezug auf die Beurtheilung der Schlegelschen Ausgabe im Pariser Asiatischen Journal. In: Gesammelte Werke. Berlin 1968, vol. 5, p. 158–189. 6 Ibid., p. 190–232, 325–344. 7 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Über die unter dem Namen Bhagavad-Gita bekannte Episode des Mahabharata von Wilhelm von Humboldt. In: Werke in zwanzig Bänden. Theorie Werkausgabe. Edited by Eva Moldenhauer and Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1970. Vol. 11: Berliner Schriften 1818–1831, p. 131–204. 8 I acknowledge that the term ‘Ereignis’ has several connotations in recent theory. I am not viewing the Ereignis as a contingency which converts into a necessity or gives rise to a principle demanding fidelity (Badiou, Alain: Being and Event. New York 2007). I approach, rather, the connotation one finds in Slavoj Žižek where the ‘event’ is seen as a surprising emergence of something new which undermines a stable scheme (Žižek, Slavoj: Event. A Philosophical Journey through a Concept. London 2014, p. 7). For Žižek, the event offers a change of the very frame through which we perceive the world and engage in it (p. 14). But, perhaps, more to the point, my use of ‘Ereignis’ here follows that of Gadamer. It is an event that appropriates us into itself. It jolts us, knocks us over, and sets up a world of its own, into which we are drawn (Gadamer in Conversation. Ed. and transl. by Richard Palmer. New Haven 2001, p. 71).



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done, as a purely philosophical debate, since the discussion revolved in large part around issues of a philological nature – namely, the problems of translation, artistic commensurability, and cultural values as they cut across national, disciplinary, and institutional boundaries. The event of the Gita’s translation also provides an excellent opportunity to broaden our understanding of German orientalism. Wilhelm von Humboldt, in addition to being the Prussian minister of state, was a Sanskrit scholar capable of responding to Langlois’s attack on Schlegel’s Latin translation of the Gita. In a letter to Schlegel on June 17, 1825, he commented on the specific issues of translation that Langlois’s review had raised. Langlois’s main dissatisfaction had stemmed from Schlegel’s translation methodology. Langlois felt that each word in the original language should have been rendered by a single term in the target language. Rather than the many renderings that Schlegel gave to the term yoga (destinatio, exercitatio, applicatio, devotio, disciplina activa, mysterium, facultas mystica, maiestas, and contemplatio), Langlois preferred the single term dévotion. Humboldt subsequently repeated his defense of Schlegel’s translation in two lectures in 1825 and 1826, presented at the Royal Prussian Academy of Sciences in Berlin and later published in the academy’s proceedings.9 Here Humboldt framed his argument by asserting that translating was, in principle, an impossible undertaking, because different languages do not constitute synonyms of identically structured concepts. A good translation was only an approximation in terms of replicating the beauty and the sense of the original. Humboldt believed that Schlegel had captured important qualities of the original, such as its syntactical simplicity, brevity, emphases, lightness, and elegance. Humboldt also raised the important point that words (and especially philosophical terms) are multifaceted and defy translation into one word. So Schlegel’s decision to render a term with representations of its different aspects as appropriate to each occasion of its use provided the only reasonable solution. He then addressed the specific problem addressed by Langlois concerning the translation of the term yoga. Here he reiterated that Langlois found it impossible to find in any language a single translation suitable for this term. While he readily admitted having problems with certain choices that Schlegel had made, Humboldt agreed that anyone who knows the Sanskrit word yoga through translation cannot grasp its true meaning. It possesses a semantic range that does not correspond precisely to any term in Latin, German, or any other language. But Humboldt added that he felt it was impossible to eliminate every blemish in a translation.

9 Humboldt: Ueber die Bhagavad-Gîtâ, p. 190–232, 325–344.

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Humboldt concluded, therefore, that the translator could choose from two possible methods, of which only one could be adopted. Either the translator did what Langlois demanded and sought in the target language one word corresponding to the original concept and aided comprehension by appending a commentary, or the translator could do what Schlegel had attempted – render an original term by different words in the target language that approximate the different uses of the original term. Humboldt understood linguistic diversity not as a matter of sounds and signs but as an issue of worldview.10 He perceived language not as an object but rather as an activity (energeia)11 whose inner form consisted of structures articulating specific thought principles. Thus, when Humboldt spoke about translation technique, he also addressed the nature of language, its origins and development, and its relationship to national identity. By claiming that a people’s spirit is found in their speech,12 he argued that language was the outgrowth of a nation’s spiritual strength. The national character of a language rested on its disposition (Naturanlage).13 By drawing the connection between a Volk and its language, Humboldt further developed Herder’s conception of the parallel development of thought and language. Yet, Humboldt rejected the reverse teleology of Herder and the Romantics who looked to India as the source of universal wisdom. Humboldt viewed history as a matter of inquiry, not an a priori preconception. He also challenged Hegel’s conception of history as a progressive self-manifestation of the Weltgeist. However, Humboldt’s philosophy of language and its relation to the formation of national identity reflected concerns not unique to his thought. Similar attitudes concerning translation and the philosophy of language were voiced by A. W. Schlegel in his response to Humboldt.14 Schlegel was an experienced translator whose renditions of Dante, Calderón, Ariosto, Petrarch, Camões, and the Classics had set the standards for European translations of the time. He was well aware of the pitfalls of translation. Schlegel had initially intended to translate the Gita into Greek. He renounced this plan, however, and rendered it in Latin because he considered Latin to be a particu-

10 Humboldt, Wilhelm von: Ueber das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung. In: Gesammelte Werke. Berlin 1968, vol. 4, p. 1–34. 11 Humboldt, Wilhelm von: Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. In: Gesammelte Werke. Berlin 1968, vol. 7, p. 1–344; p. 46. 12 Ibid., vol. 7, p. 14. 13 Ibid., vol. 7, p. 170. 14 Humboldt’s letter first appeared in the Indische Bibliothek where Schlegel followed it with his own response to Langlois’s review. See Schlegel, August Wilhelm: Indische Bibliothek, vol 2, part 2 (Bonn 1826), p. 218–253; part 3 (Bonn 1828), p. 328–372.



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larly suitable language for translating the subtlety of meaning found in Sanskrit. Schlegel felt that sublimity could not be translated, because the translator would have to re-create what the first author had achieved. In his response to Langlois’s review,15 Schlegel questioned where the translator would find the fullness of sound, the flow or “happy succession” of consonants and vowels, that originated together in the idea and formed part of its essence. In India, he noted, the development of language and the formation of ideas were immeasurably different from anything with which Europeans were familiar. For this reason, Schlegel sought to retain the context-dependent semantic variants of the original Sanskrit. Like Humboldt, Schlegel also believed that language mirrored the soul of a nation and that the Geist, embodied in a nation’s literature, could not be perfectly communicated. Schlegel felt he had explored all the available options, had compared their shortcomings and weaknesses, and had selected the one method that appeared the most acceptable. Given the choice of retaining a Sanskrit term because it was untranslatable, he found this option unprofitable, since such indirect translations require contextual assistance that burdens the narrative flow. He deemed Langlois’s demand for a convergent translation unfeasible, because often no equivalents present themselves in the target language, and when equivalents are found and used, the richness of the original is lost. Schlegel devised, therefore, the third option, a refractive translation, whereby a complex expression in the source language is rendered, according to context, by various expressions in the target language. He was not blind to the disadvantage of this method in terms of its arbitrariness. He even commented upon the difficulty he had rendering the term yoga.16 However, Schlegel felt that refractive translation permitted the many-sidedness of a term to be adequately grasped. Both Humboldt’s letter and Schlegel’s response reframed Langlois’s criticism into a debate on issues regarding the nature of translation in general – that of the transferability of meaning from one worldview to another. In subsequent publications on the Gita, Humboldt further addressed such concerns. In the essay “On the Episode of the Mahabharata known by the name Bhagavad Gita,”17 Humboldt began by distinguishing the ways of thinking that he found peculiar to India. He drew attention to what might seem to Western non-specialist readers to be the Sanskrit text’s apparent contradictions. Humboldt maintained

15 Ibid. 16 Schlegel, August Wilhelm: Bhagavad-Gita. Bonn 1823, p. 145. 17 Humboldt, Wilhelm von: Ueber die unter dem Namen Bhagavad-Gîtâ bekannte Episode des Mahâ-Bhârata. In: Gesammelte Werke. Berlin 1968, vol. 5, p. 190–232.

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that the poem’s philosophical system pivots around two main dicta: (1) that the spirit is simple and imperishable by nature and separate from the body, which is complex and perishable and (2) that anyone who strives for consummation must perform any and all acts without regard for their consequences and with perfect equanimity.18 Here, Humboldt correctly understood that actions in the Gita, once freed from passion and intuition, function as mere products of nature or precepts of duty. He did not, however, perceive the whole system of Indian thought as resting upon pure intellectuality. Rather, he cited the Gita’s (3.3) view that there are two operative systems, one of action and the other of insight. Humboldt recognized well that the Gita warned about the bonds of action rather than actions themselves. He acknowledged the weight given to action as preferable to non-action and reaffirmed that the Sanskrit text does not suggest anything as vain as the suppression of action. By preferring to translate yoga as Vertiefung rather than Schlegel’s translation of devotio, Humboldt hoped to convey the mystic mood characteristic of the yogi.19 He felt that Schlegel’s translation, while adequate, lost too much of the term’s original meaning. Moreover, he felt that the Latin term was too narrow and inapplicable in those instances where yoga should be understood as active energy, a constant orientation of the mind toward the deity, once it has withdrawn from all other objects, thoughts, movements, or bodily functions. Humboldt correctly noted that, while the practice of yoga should lead to nirvana, understood by Humboldt as non-thinking, he warned that nirvana should not be interpreted as the suppression of all earthly thoughts20 or as a permanent state defining man’s entire contemplative life. Rather, he emphasized the importance that the Gita always places upon action and reminded his reader that the setting of the poem, after all, is a battlefield. Humboldt elucidated how Krishna’s message proceeds from the principle that truth cannot be found by means of discursive or rationalizing reason. Such a doctrine teaches direct insight through inner perception. It demands firmness, exertion, and steadfastness of spirit. The Gita presents two paths to salvation because humanity is composed of countless dispositions; some proceed in accordance with reason and others through action.21 Both paths, however, ultimately aim at the transformation of human nature into godly nature, and Humboldt reiterated that this goal cannot be obtained merely through intellectual exercise. In short, Humboldt’s explication of the Gita defended Indian philosophy against any accusation of fatalism

18 Ibid., p. 193–194. 19 Ibid., p. 222–224. 20 Ibid., p. 227. 21 Ibid., p. 232.



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and predestination independent of the will. This is an important distinction to note since Hegel, in his response to this essay, would discount Humboldt’s correct presentation of the Gita’s message and seek to cut Indian philosophy to fit his own schema. Hegel’s judgments on Indian thought evolved during the process of rewriting his lectures on the history of philosophy, becoming more detailed in later versions. In the 1825–26 version, he added a section on India, in which he dealt less with the acceptability of the Indian philosophy purportedly promulgated in the poem. Hegel’s analysis of India was intimately bound up with his criticism of the Romantics. He responded negatively to their infatuation with the Orient and sought to demythologize India’s prestige in Europe. What rankled Hegel most was that Romantic orientalism articulated both a sentimental nostalgia for origins as well as a blatant disregard for the present. According to Hegel, the Orient only represented vestiges of the past and offered no tools for deciphering contemporary life.22 Hegel’s critique of Indian philosophy was embedded within his more general critique of the notion of an Urvolk, the belief in an Asian origin of European mythology (as promulgated by Creuzer and Görres) and the neo-Catholic belief (defended by Friedrich Schlegel) of continuous revelation. Hegel structured his reading of the Gita in order to attack what he considered the Romantic ego-centered concept of faith. The event of the Gita’s translation had forced Hegel to acknowledge that a real philosophy did, in fact, exist in India. The spirit moved from East to West, eventually reaching Berlin. Hegel now had to address Indian philosophy and the part it played in the German present. It is well-known that Hegel viewed philosophy itself as occurring within a process of un­folding, with his system as the complete realization of this movement. In this dynamic view of history, earlier developments are taken up (aufgehoben) into what succeeds them.23 The study of the history of philosophy thus parallels the study of philosophy itself. For Hegel then the Orient represents the first stage of development and any investigation of India is necessarily coeval with the examination of the roots of the Western tradition. As such, Hegel had to deal with it. As we have noted, the Gita instructs that the individual soul’s (Atman’s) recognition of its intrinsic identity with the Universal or God (Brahman) effects salvation. Hegel disregarded this pivotal identification. Instead, he described

22 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Vol. I: Die Vernunft in der Geschichte. Edited by Johannes Hoffmeister. 5th ed. Hamburg 1955, p. 138ff. 23 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Edited by Johannes Hoffmeister. 2nd ed. Leipzig 1944, vol. 1, p. 14.

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the soul’s union with Brahman as a permanent state of abstraction, a union where the self “plunges into itself”,24 experiencing an intuition of nothing (das Anschauen des Nichts).25 To reach union with Brahman, Hegel maintained, the Indian extinguishes all awareness of content and attains abstract unity through utter stupefaction and insensibility.26 Hegel thus read the Gita’s message as a call to immobility and inaction.27 Correcting Schlegel’s translation of yoga as devotio and Humboldt’s translation as Vertiefung, Hegel defined yoga as abstract devotion, withdrawal and isolation from the world leading to a passive immersion into Brahman. For Hegel, the yoga described in the Gita falls into the contentlessness of subject and object and leads to a loss of consciousness.28 He claimed that, at best, the Gita encouraged one to perform work senselessly and stupidly.29 In other words, it exemplified for Hegel the negative attitude of the Indian mind as well as the negative nature of its religion.30 As such, yoga, interpreted as a quietistic exercise, was diametrically opposed to Hegel’s vision of history. Moreover, Hegel identified Brahman with pure nothingness.31 His definition of the Indian Absolute thus precluded the possibility of a free individuality manifesting itself in India.32 Indian substantiality presented the opposite of European reflection and the vanity of the subject.33 As onerous as this vanity was, Hegel found it to be far preferable to its Indian alternative,34 where the subject is obliterated and humiliated, where individuality disappears, and where eternal happiness is understood as the loss of the Self.35 Hegel’s reading of the Gita aimed at demonstrating how its premises had contributed to the stultification of the spirit in India and its pure retreat the void.36

24 Hegel: Über die unter dem Namen Bhagavad-Gita bekannte Episode, p. 142. 25 Ibid., p. 183. 26 Ibid., p. 151. 27 Ibid., p. 157–158. 28 Ibid., p. 151. 29 Ibid., p. 152. 30 Ibid., p. 163. 31 Ibid., p. 190. 32 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Vol. II: Die orientalische Welt. Edited by Georg Lasson. 3rd ed. Hamburg 1968, p. 399. 33 Ibid., p. 333. 34 Ibid., p. 334. 35 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, vol 1, p. 227. 36 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Vol. II: Die orientalische Welt, p. 225. Hegel imposed a similar negative characterization upon Indian cultic practices, which he described as the physical destruction of concrete vitality through macerations, etc. Everything is petrified into distinctions, and caprice holds sway. There is no ethical life or human dignity.



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A number of scholars and philosophers have addressed Hegel’s idiosyncratic interpretation of Indian philosophy. Unfortunately, there is no time here to address in greater detail their analyses. Suffice it to say that Hegel fostered a fatalistic reading of India that already existed in nineteenth-century European orientalism. The point I want to make is that he pushed this reading of India to the extreme. I also want to emphasize how the emplotment of India in German thought involved discussions of translation theory, not just philosophy and religion. In fact, translation becomes the pivotal event and it structures the initial Western reception of the Gita. Hegel’s ability to draw the conclusions that he did depended in large measure on the use he made of translations and the theory that justified such usage. It is, therefore, pertinent to touch briefly upon this purely “literary” dimension. Hegel’s difficulty in accepting the translation for the term yoga was not due to mere semantic quibbling. It stemmed from far deeper theoretical concerns. Indeed, Hegel claimed that the reading of the Bhagavad Gita and the reception of Indian thought in general are problematized by the very issue of the (im)possibility of translation itself. Hegel believed that meaning is not transferable; original theological and mythological meaning is, of necessity, lost.37 According to Hegel, one cannot render the term yoga into the German language, since the concept did not exist in German culture and religion.38 A word in our language is given our specific conceptions and not that of other people with their own conceptions.39 In this respect, Hegel agreed with Humboldt regarding the impossibility of translation. However, his reasons were different. When Humboldt talked about the impossibility of translation, he was making an aesthetic judgment rather than positing a philosophical pronouncement. Humboldt focused on the loss of philosophical depth and exactitude, as well as on the aesthetic parameters in terms of “blemishes,” associated links, contextual values, and the non-translatability of world­views. However, Hegel’s theory of translation was predicated upon the need to judge incommensurability. It corresponded well with his need, expressed throughout his discussion of the Gita, to set value judgments upon Indian philosophy in light of his own philosophy. He constructed his reading of the Gita,

The spirit wanders in the world of dreams and the highest value is annihilation (ibid., p. 378). Hegel consistently viewed Indian ascetics as placing themselves beyond good and evil. They tear themselves from nature through a process of depersonalizing ascesis, instead of using their intellect to situate themselves as individuals within the world (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, vol. 1, p. 333). 37 Hegel: Über die unter dem Namen Bhagavad-Gita bekannte Episode, p. 188. 38 Ibid., p. 150–151. 39 Ibid., p. 149.

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and the conclusions he drew from it concerning the value of Indian philosophy, to highlight their incommensurability. The impossibility of exact translation opens up the possibility of alternative and creative translations. Thus, Hegel was unconstrained in offering imprecise and fragmentary renditions that also happened to support a judgment on Indian philosophy that was grounded in a defense of his own philosophical system. In this manner, Hegel employed an idiosyncratic translation to support a vision of fatalism and a denial of Indian morality. His response to the event of the Gita’s translation is therefore crucial for our understanding of his approach to translation in general. The foreign text retains little legitimacy when subject to such a theory. The hermeneutical process breaks down, the reader’s prejudices are never called into question, and the text functions as a mold into which these prejudices are poured. It is indeed ironic that Hegel, the virulent critic of the Romantic emplotment of India, engaged in a translation practice that legitimated a reading that was no less fantasiste than that of the Romantics he sought to debunk. The examination of the initial reception of the Bhagavad Gita shows the degree to which translation theory played a role in the critical dismissal of Indian philosophy in the West. Humboldt’s reading of the Gita in the original Sanskrit was syncretic; he sought to highlight the universality of its message. His “enlightened” approach places him in direct opposition to the hermeneutical position articulated by Hegel. In this sense, the event of the Bhagavad Gita’s translation heralds the ideological shift away from Enlightenment universalism to later epistemological or psychological categories, such as subject / object or Self / Other. Hegel never allowed the Gita’s message to challenge his own philosophical system. To the end, he insisted on the radical alterity of East-West representations. His relation to the text was predicated upon the incommensurability of cultures. He worked from the vantage of the superior position he ascribed to Western philosophy, with his own philosophy as its acme. Hegel’s project consisted, therefore, of a good deal more than merely distancing India and avoiding the temptation of viewing the Self in “an Aryan mirror”.40 Yet, despite this assumption of superiority, there is clearly a defensiveness that works as a consistent subtext in Hegel’s commentary. The exotic (and equally the Romantic) must be discredited in order to prove that truth is rational and develops historically, even broadening its scope through the only means devised to explicate its meaning – institutionalized philology and philosophy. The event of the initial Gita translation can be viewed then as foregrounding the hermeneutical problems involved in address-

40 Olender, Maurice: The Languages of Paradise. Race, Religion, and Philology in the Nineteenth Century. Translated by Arthur Goldhammer. Cambridge 1992, p. 30.



The Translation of the Bhagavad Gita 

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ing the Other. The German commentary on the initial translation of the Bhagavad Gita questioned how philosophical thought could be understood outside its own tradition. In the critical detour from Enlightenment universalism, Humboldt supported the hermeneutic tradition, while Hegel foreclosed the very possibility of such understanding when he rejected the notion of a common standard of meaning and imposed the model and methodological apparatus of one culture upon another. The impossibility of understanding the Other with a European mode of understanding is nothing more than a movement to colonize the consciousness of the Other. Any hermeneutical project is thus aborted. If, as Hegel maintained in his discussion on translating philosophical terms, understanding is impossible, how are we then to interpret any encounter with the Other? Hans-Georg Gadamer warned of the impossibility of objectively understanding the Other in its own identity and posited two essential processes to deal with this impossibility in understanding by historically reconstructing the original context and discovering a message beyond a text’s content.41 The latter necessitates a willingness to accept the message. In the circular movement of hermeneutical understanding, the text demands flexible expectations, sharing (in the form of play) in the common meaning of tradition and interpretation. This movement allows for the anticipation of meaning. The distance between the reader and the text does not appear as an unyielding obstacle, but rather as what sets the hermeneutical process in motion. It is precisely this process that Hegel short-circuited. He sanctioned our refusal to engage in the play or to conscience alternative forms of inquiry. An examination of the event of the Bhagavad Gita’s translation bears witness to this process. Advancing the truth claim of Western philosophy became inseparable from defending the preeminent position of the individual Western philosopher and translator. An unfortunate result of this ambition was that the scholarly reception of Indian philosophy was repressed and marginalized. The resulting lacuna could then be filled with popular notions of the esoteric and occult East and we have seen where that led Germany in subsequent years.

41 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Tübingen 1960.

Norbert Oellers

Dichtung zum Zeitvertreib – Ereignisse des Zugänglichen und Unzugänglichen Goethe in Venedig 1790 Am 18. Juni 1788 kehrte Goethe aus Italien, wo er sich fast zwei Jahre aufgehalten hatte, an seinen Dienstort Weimar zurück, nachdem ihn sein oberster Vorgesetzter, Herzog Carl August, schon Monate zuvor an seine Pflichten im Herzogtum Sachsen-Weimar und Eisenach erinnert hatte. Für die Erinnerung hatte Goethe am 17. März 1788 gedankt: „Ihren freundlichen, herzlichen Brief [der nicht überliefert ist] beantworte ich sogleich mit einem fröhlichen: ich komme!“1 So beginnt der lange Antwortbrief. Die Rückreise aus Rom, die Goethe fünf Wochen später antrat, dauerte dann noch einmal zwei Monate. Fremd erschien dem Heimkehrer das einst Vertraute: die Menschen, die Stadt, das Herzogtum. Eine nicht geahnte Distanz zu Charlotte von Stein wurde ihm (so scheint es) jäh bewusst, als er sie einen Tag nach seiner Rückkehr wiedersah. Nach fast einem Jahr erinnerte er sich, im Brief an die einst Geliebte vom 1. Juni 1789: Wie sehr ich dich liebe […], hab ich durch meine Rückkunft aus Italien bewiesen. […] Leider warst du, als ich ankam, in einer sonderbaren Stimmung und ich gestehe aufrichtig: daß die Art wie du mich empfingst, […] für mich äusserst empfindlich war. (WA IV 9, 123)2

Aber nicht nur Charlotte von Steins Verhalten ließ Goethe bedauern, dass er Italien verlassen hatte, sondern auch die Einsicht, dass sich in Weimar während seiner Abwesenheit nicht viel geändert hatte, während er ein ganz Anderer geworden war. Zu den Neuigkeiten im Leben Goethes, die seine Wiedereingewöhnung in die Residenzstadt eher erschwerten als erleichterten, gehörte das schon Mitte Juli 1788 einsetzende Liebesverhältnis mit Christiane Vulpius.

1 Goethe, Johann Wolfgang: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 7 I. Herausgegeben von Volker Giel. Berlin 2012, S. 255. 2 Die Zitation im laufenden Text erfolgt nach der Weimarer Ausgabe: Goethe, Johann Wolfgang: Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abteilung I–IV. 133 Bände in 143 Teilen. Weimar 1887–1919 unter Verwendung der Sigle WA sowie der Angabe der Abteilung, der Band- und Seitenzahl. DOI 10.1515/9783110541854-027

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 Norbert Oellers

Immer wieder hat Goethe in den folgenden Wochen und Monaten seiner Sehnsucht nach Italien Ausdruck verliehen, insbesondere in Briefen an Vertraute, wie an die Herzoginmutter Anna Amalia, die im August 1788 für fast zwei Jahre nach Italien aufgebrochen war: Er sei ihr „mit eignen Gedancken und Empfindungen“ nachgefolgt (so am 1. September 1788; WA IV 9, 16), am 31. Oktober klagt er: „Warum bin ich doch zurückverschlagen!“ (Ebd., 47) Und Heinrich Meyer erfährt, was er schon weiß: „Ich kann und darf nicht sagen wieviel ich bey meiner Abreise von Rom gelitten habe, wie schmerzlich es mir war das schöne Land zu verlaßen“ (Brief vom 19. September 1788; ebd., 26). Und Herder, der im August 1788 ebenfalls nach Italien aufgebrochen war, bekommt zu lesen: Daß meine Römischen Freunde an mich denken, ist sehr billig; auch ich kann eine leidenschaftliche Erinnerung an jene Zeiten nicht aus meinem Herzen tilgen. Mit welcher Rührung ich des Ovids Verse oft wiederhole, kann ich dir nicht sagen: Cum subit illius tristissima noctis imago, / Quae mihi supremum tempus in urbe fuit. (27. Dezember 1788; ebd., 67)

Fast 30 Jahre später hat Goethe die beiden ersten Verse aus dem 1. Buch von Ovids Tristia zusammen mit den zwei folgenden Versen und den Versen 27–30 an den Schluss der Italiänischen Reise gesetzt. Die Übersetzung von Friedrich Wilhelm Riemer, Goethes engem Mitarbeiter, ist den lateinischen Versen vorangestellt, beginnend „Wandelt von jener Nacht mir das traurige Bild vor die Seele, / Welche die letzte für mich ward in der Römischen Stadt, / […].“ (WA I 32, 338) Dass Goethes Klage auch bestimmt war, Herder, der sich in Rom nicht recht wohl fühlte, aufzumuntern, schwächt die Intensität der Sehnsucht, die sich in ihr bekundete, nicht im mindesten ab. Das Jahr 1789, in dem Goethe und Christiane Vulpius Eltern wurden und ihr Zusammensein auf Dauer einrichteten, ein Jahr, in dem Goethe nicht sonderlich viel zu tun hatte als Mitglied des Geheimen Consiliums (der botanische Garten in Jena wurde geplant, die Schlossbaukommission nahm ihre Arbeit auf, die Probleme des Ilmenauer Bergwerks wurden verhandelt), gehört auch unter poetischen wie naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten nicht zu den gewohnt reichen Jahren der Goethe’schen Existenz. Gewiss, es entsteht die Metamorphose der Pflanzen, es entstehen die meisten der Römischen Elegien, und Torquato Tasso wird endlich im August 1789 zu Ende gedichtet, aber die geplanten großen Würfe des fortgesetzten Faust und des fortgesetzten Wilhelm Meister bleiben ebenso aus wie eine gänzlich neue größere Dichtung (die gab es erst 1793 mit dem Epos Reineke Fuchs). Im Februar 1790 erhielt Goethe einen nicht überlieferten Brief von Friedrich Hildebrand von Einsiedel-Scharfenstein, dem Hofmeister der Herzoginmutter Anna Amalia, der zu deren Begleitung auf ihrer Italienreise gehörte. Einsiedel



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begrüßte Goethes Idee (übermittelt in einem ebenfalls nicht überlieferten Brief), er wolle der Gesellschaft auf ihrer Rückreise entgegenkommen und sie nach Weimar zurückbegleiten. Präzise Daten der Rückkehr (noch befand sich Anna Amalia in Neapel) hatte Einsiedels Brief wohl nicht erhalten. Aber Goethe rüstete sich schnell zu seiner zweiten Italienreise: „Wenn Sie […] nichts dagegen hätten“, schrieb er am 28. Februar 1790 an den Herzog, der sich in Berlin aufhielt, „so machte ich mich gleich auf“ (WA IV 9, 178). Und am 1. März noch einmal drängender: „Ich mache mich Reisefertig um aufzubrechen, wenn Sie es gut finden, es macht mir diese Exkursion viel Freude.“ (Ebd., 182) Ein paar Tage wartete Goethe noch in Weimar, dann brach er am 10. März, begleitet von seinem Diener Paul Goetze, auf. Drei Wochen später traf er in Venedig ein und wartete auf Anna Amalia.3 Die Herzoginmutter hielt sich, nachdem sie am 4. April erfahren hatte, dass Goethe in Venedig auf sie wartete, noch acht Tage in Neapel auf, nahm dann ihre Rückreise über Rom auf (wo sie wieder einige Tage verweilte); erst am 6. Mai 1790, fünf Wochen nach Goethe, traf sie in Venedig ein. Von diesen fünf Wochen soll nun etwas berichtet werden. Drei Tage nach der Ankunft schrieb Goethe vermutlich den ersten Brief aus der Lagunenstadt, an Herzog Carl August, schon missmutig: „Von Ihrer Frau Mutter habe ich noch keine Spur und Einsiedel hat mir einen Gasthof angezeigt, der gar nicht in Venedig existirt. Durch einen Zufall bin ich in eine gute Wohnung gekommen […].“ (Ebd., 197) Bis heute ist nicht bekannt, wo Goethe Unterkunft fand, „am Rialto“ schreibt er am 3. April an Herder (ebd., 199). Und schon stand für ihn fest, was er dem Herzog „im Vertrauen“ gestand: „daß meiner Liebe für Italien durch diese Reise ein tödtlicher Stos versetzt wird. […] die erste Blüte der Neigung und Neugierde ist abgefallen […]. Dazu kommt meine Neigung zu dem zurückgelaßnen Erotio [Christiane Vulpius] und zu dem kleinen Geschöpf in den Windeln [dem am 25. Dezember 1789 geborenen Sohn August], die ich Ihnen beyde, wie alles das meinige, bestens empfehle.“ (Ebd., 197f.) Der Verdruss hält an, in dem erwähnten Brief an Herder vom 3. April spricht Goethe vom „Sauleben dieser

3 In diesem Zusammenhang mag die folgende Bemerkung angebracht sein: Es ist nicht zu verstehen, dass Ettore Ghibellino in seinem 362 Seiten dicken Buch J. W. Goethe und Anna Amalia. Eine verbotene Liebe (2. erweiterte Aufl. Weimar 2004) auf Goethes Wunsch und dessen Erfüllung, Anna Amalia aus Italien abzuholen, nicht näher eingeht. Vielleicht hat er da etwas für seine These, Goethe sei nicht Charlotte von Stein in Liebe, sondern Anna Amalia in Leidenschaft zugetan gewesen, übersehen? Es ist kein Ruhmesblatt für die Germanistik, dass einige Vertreter des Faches der abwegigen These Ghibellinos öffentlich Beifall gezollt haben.

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Nation“; doch er wolle „das Wassernest nun recht durchstören“ (ebd., 198f.). Das geschah. Paul Goetze, der Diener, hat nach Goethes Diktaten aufgeschrieben, was dieser in den Tagen vom 1. bis zum 26. April in Venedig unternommen hat. Er eilte durch Kirchen, Paläste und Klöster und studierte dort u. a. „die Gemählte der alten Meister nach Anleitung des Zannetti“, wie es bei Goetze heißt4 (gemeint ist der Kunstführer Della pittura veneziana e delle opere pubbliche de’ veneziani maestri libri V Antonio Maria Zanettis, des Leiters der Bibliothek von San Marco, von 1771). Am 4. Mai in einem Brief Goethes an Caroline Herder, in dem er eine knappe Bilanz seines Venedig-Aufenthalts vor der Ankunft der Herzoginmutter zieht, heißt es: „An Gemälden habe ich mich fast kranck gesehen […].“ In demselben Brief ist von einem sonderbaren Fund, den Goetze „auf dem Judenfriedhof“ gemacht habe, die Rede: von einem „Stück Thierschädel“, durch dessen Untersuchung Goethe „einen großen Schritt in der Erklärung der Thierbildung vorwärts gekommen“ sei (WA IV 9, 204). Über den in Weimar erhaltenen Schafschädel aus Venedig und Goethes Fragment gebliebene Abhandlung Versuch über die Gestalt der Thiere ist hier nichts weiter zu sagen. Goethe sah in Venedig -zig Gemälde und trieb naturwissenschaftliche Studien; damit waren die Tage nicht zu füllen. Es fehlte, was der Dichter bei seinem früheren Italien-Aufenthalt fast zwei Jahre gewohnt war: der gesellschaftliche Umgang mit Menschen, die ihm nahe waren, vor allem Künstler und liebende Frauen, von denen er im Nachhinein in den Römischen Elegien berichtet hat. Goethe langweilte sich in Venedig, als er auf Anna Amalia wartete. Am 30. April beantwortete er einen nicht überlieferten Brief Charlotte von Kalbs, in dem er versicherte: „Mein sehnlichster Wunsch ist Weimar bald wiederzusehen und die schöne Jahrszeit mit meinen Freunden zuzubringen.“ (Ebd., 202f.) Natürlich fehlte ihm in erster Linie die geliebte Christiane, der er, wie als sicher angenommen werden kann, nun schon fast zwei Jahre treu war.5

4 Goethe, Johann Wolfgang: Tagebücher. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. II 2. Herausgegeben von Wolfgang Albrecht und Edith Zehm. Stuttgart / Weimar 2000, S. 750. 5 Goethe hätte sicher auch noch im Mai 1790 dem Herzog schreiben können, was er ihm kurz vor seiner Abreise nach Venedig geschrieben hatte: dass er, Goethe, anders als der Herzog, der gelegentlich wegen seiner sexuellen Betriebsamkeit mit Geschlechtskrankheiten zu tun hatte, einen „penem purissimum“ habe und sich daher vor üblen Krankheiten „sicher fühle“ (WA IV 51, 89; Nachträge zur Weimarer Ausgabe. Herausgegeben von Paul Raabe. München 1990). Damit zitierte Goethe Sueton, der in seiner Schrift Vita Horati von Kaiser Augustus berichtete, dieser habe gelegentlich Horaz einen „purissimum penem“ genannt.



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Nun aber endlich zu Goethes poetischen Bekenntnissen, die ihn den Verdruss in und an Venedig im April 1790 ertragen ließen – Ereignissen des Zugänglichen und Unzugänglichen, wie sie da stehen, in den Venetianischen Epigrammen. Was ‚Ereignis‘ meint, deckt sich zunächst mit der Bedeutung des von Goethe häufig gebrauchten Wortes: „Geschehen, Vorkommnis“.6 Dass Goethe die Leere der Zeit mit Dichten ausfüllt, ist in diesem Sinne als Ereignis anzusehen. Ereignisse des Zugänglichen sind demnach die Ergebnisse der selbstverständlich als Ereignis anzusehenden poetischen Tätigkeit Goethes, sind die Epigramme ‚als solche‘, sind das ‚Vorkommnis‘ (das Ereignete), das jedermann, der es vor Augen hat und weiter: der das Gesehene liest oder hört, zugänglich ist, auch wenn der Inhalt der Verse nicht verstanden wird. Das Feld der zugänglichen Poesie erweitert sich in dem Maße, in dem ihre ‚Bedeutung‘ bestimmt und die Eigentümlichkeit ihrer Form definiert wird. Die Grenze lässt sich einfach bestimmen, am einfachsten mit Überzeugungen des alten Goethe: „Die Schönheit kann nie über sich selbst deutlich werden.“ (WA I 42.2, 139) Oder: „Das Vortreffliche ist unergründlich, man mag damit anfangen was man will.“ (Ebd., 134) Oder: „Die Kunst ist eine Vermittlerin des Unaussprechlichen; darum scheint es eine Thorheit, sie wieder durch Worte vermitteln zu wollen.“ (WA I 48, 179) Schließlich: Das Eigentümliche der schönen Kunst (ihre Form) bleibt (wie das Wahre und Gute) „ein Geheimniß den meisten“ (ebd., 182). Goethes Venetianische Epigramme sind in diesem Sinne wie jede Poesie ein Ereignis des Unzugänglichen; sie sind es im Besonderen, weil sie, anders als die zum großen Teil im selben Jahr entstandenen Römischen Elegien, dem Interpreten kaum die Möglichkeit geben, sich den Texten durch biographische ‚Ereignisse‘, die wenigstens den Stoff (oder Inhalt) der Texte erklären, zu nähern. Von einem Ereignis des Unzugänglichen spricht der Chorus mysticus am Ende von Faust II: „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichniß; / Das Unzulängliche / Hier wirds Ereigniß; / […].“ (WA I 15, 337)7 Hier? Gemeint ist das Gleichnis, die symbolische Dichtung, in der das Besondere und das Allgemeine in Eins fallen.8

6 Vgl. Goethe-Wörterbuch. Bd. 3. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Stuttgart / Berlin / Köln 1998, Sp. 263f. 7 Vgl. dazu Goethe-Wörterbuch, Sp. 264f., außerdem Albrecht Schönes Kommentar in: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe). Frankfurt a. M. 1994, Bd. 7.2 (Faust. Kommentar), S. 814f. 8 Vgl. dazu Schmidt, Jochen: Goethes Faust. Erster und Zweiter Teil. Grundlagen – Werk – Wirkung. 2. Aufl. München 2001, S. 54.

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Es ist wahrscheinlich, dass Goethe schon bei seinem Antritt der Reise nach Venedig im Sinne hatte, wenn er dort zum Dichten käme, seine Übungen in Distichen, die er Ende 1788 mit den Erotica Romana (die 1795 zum größten Teil in Schillers Horen erstveröffentlicht wurden) begonnen hatte, fortzusetzen. Die Dichtart, die Goethe aus den Elegien Catulls, Tibulls, Martials, des Horaz und des Properz kennen gelernt hatte und unter Anleitung seiner Freunde Carl Ludwig von Knebel, Carl Philipp Moritz und auch Wielands (später half ihm für einige Zeit August Wilhelm Schlegel) mit Freuden fast perfekt erlernt hatte. Er könne von diesem „Genre nicht laßen“, versichert er schon im Mai 1789 in einem Brief an Knebel (WA IV 9, 111). Diese Dichtart sollte wohl auch die Form neuer lyrischer Werke bestimmen. Kaum in Venedig angekommen, im schon genannten Brief an den Herzog vom 2. April 1790, heißt es: Ich fürchte meine Elegien haben ihre höchste Summe erreicht und das Büchlein möchte geschloßen seyn. Dagegen bring ich einen Libellum Epigrammatum mit zurück, der sich Ihres Beyfalls, hoff ich, erfreuen soll. (Ebd., 98)

Und im Brief an Herder heißt es einen Tag später: „Meine Elegien sind wohl zu Ende; es ist gleichsam keine Spur dieser Ader mehr in mir. Dagegen bring᾿ ich Euch ein Buch Epigrammen mit, die, hoff᾿ ich, nach dem Leben schmecken sollen.“ (Ebd., 199) Dass er auf der Reise nach Venedig Werke der genannten lateinischen Dichter im Gepäck hatte, ist mühelos zu zeigen und natürlich längst gezeigt worden. Darum nur dies: Aus Martial stammt das „schmecken“-Zitat, das auch als Motto der frühen Fassung der Epigramme verwendet wurde: „Hominem pagina nostra sapit.“9 (Übersetzung: Unsre [oder: meine, oder: jede] Seite [des Geschriebenen] schmeckt nach Mensch [oder: dem Menschen]). Die Epigramme, die Goethe im April 1790 in Venedig schrieb (100 seien es, schrieb er am 4. Mai 1790 an Caroline Herder; viel mehr kamen später nicht hinzu) – die Epigramme schmecken, wie jede Kunst, nach dem Leben, wenn sie, wie es sich gehört, als Lebensmittel verstanden werden. Freilich dachte Goethe wohl nicht daran (d. h. nicht an die Kunstform der Epigramme), sondern an das von ihm, dem ungeduldig Wartenden, Erfahrene, zu dem vor allem das von ihm Gedachte zu zählen ist. Was erwartete er in Venedig? Wollte er das Gewesene der Elegien in das Seiende von Epigrammen überführen? Dazu hätte er Anregungen von außen gebraucht, die er offenbar in dem gewünschten Ausmaß vergeblich erwartete.

9 Musen-Almanach für das Jahr 1796. Herausgegeben von Schiller. Neustrelitz [1795], S. 205.



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Goethes Venetianische Epigramme sind dem Inhalt nach keine Fortsetzung der Römischen Elegien; sie sind poetische Reflexionen nicht nur über gedachte Beziehungen von Liebenden und Eigentümlichkeiten gaukelnder Frauen, sondern auch über den politischen Zustand Venedigs und das Weltgeschehen, wie es der Dichter sah und beurteilte (etwa, mit Blick auf die Französische Revolution): Alle Freiheits-Apostel sie waren mir immer zuwider, Denn es suchte doch nur jeder die Willkühr für sich. Willst du viele befrein, so wag es vielen zu dienen! Wie gefährlich das sei, willst du es wissen? versuchs. (Nr. 50)10

Seine Sicht der Dinge mag die Interessenten biographischer Details heute noch beschäftigen; sie sind indes nichts anderes als Stoff für die Form, die natürlich nicht mit dem Wort „Distichen“ abgetan sein kann, aber, wie gesagt, nach Goethes Überzeugung ein Geheimnis den Meisten bleibt, wie die „Anagogia“, die nach dem mittelalterlichen vierfachen Schriftsinn der Bibel das Hinaufgeführtwerden aus dem Alltag in eine andere Welt bezeichnet – ein Ereignis des Unzugänglichen. Das Alltägliche, wozu der mangelnde Umgang mit Menschen gehörte, störte Goethe in Venedig. Dass er keine Post bekam, ärgerte ihn. Dass ihn die Venetianische Malerschule irgendwann nicht mehr anregte, wie er in einem Brief an Herder vom 15. April andeutete, machte ihn unruhig, er wünschte sich schon nach zwei Wochen „Erlösung aus diesem Stein- und Wasserneste“ (WA IV 9, 200). Da waren schon einige der Epigramme geschrieben, die nun nach Weimar gingen. Ob sie den Grundstock der etwas über 20 Epigramme enthaltenden Sammlung bildeten, die schon im Juniheft 1791 in der Deutschen Monatsschrift unter der Überschrift Sinngedichte veröffentlicht wurden, ist fraglich; denn von den zehn Epigrammen, die Goethe seinem kurzen Brief an Carl Ludwig von Knebel, seinem ‚Urfreund‘11 und Metriklehrer, am 23. April vorausschickte, sind nicht weniger als acht (von insgesamt 103) zuerst Ende 1795 in Schillers Musen-Almanach für das Jahr 1796 erschienen, zwei erst aus dem Nachlass. Das erste der an Knebel geschickten Epigramme (in der MusenalmanachSammlung ist es das 36. Epigramm, ohne eine Variante zur Brief-Fassung) beginnt:

10 Die Epigramme werden mit den Nummern, mit denen sie im Erstdruck des o. g. Musen-Almanachs (S. 207–260) erschienen sind, zitiert. 11 Vgl. Goethes Formulierung zu einem Geburtstagsgedicht für Knebel am 30. November 1817 („Lustrum ist ein fremdes Wort“; WA I 4, 44) in seinen „Aufklärenden Bemerkungen“ (ebd., 83).

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Müde war ich geworden, nur immer Gemählde zu sehen, Herrliche Schätze der Kunst, wie sie Venedig bewahrt. Denn auch dieser Genuß verlangt Erholung und Muße; Nach lebendigem Reiz suchte mein schmachtender Blick.

Was der schmachtende Blick fand, belebte die leere Zeit, vertrieb die Ermüdung; schuf Ereignisse, die, da sie aus der Imagination (der schöpferischen Phantasie) des Autors kamen, nur diesem in ihren Zusammenhängen bewusst, also zugänglich waren, während der Leser und Hörer der Verse, wenn er entschieden ist, ihren unmissverständlichen vordergründigen Inhalt und ihre mögliche Bedeutung für nebensächlich zu halten, sich hinwenden kann zur Form, d. h. in erster Linie zur Sprache und zur ‚Komposition‘ des Einzelnen und Ganzen mit dem Ziel (oder auch nur: der Hoffnung), teilzuhaben an dem ‚Spiel‘, aus dem sich ergab, was nun vorliegt. In wenigen seiner Werke hat Goethe so wie in den Venetianischen Epigrammen ganz im Sinne Schillers Dichtung als ernstes Spiel betrieben, wobei dessen Bestimmung, der Ernst der Poesie bestehe in ihrem ‚Gehalt‘, das Spiel schaffe die Form,12 für jedermann die Grundlage einer ‚vernünftigen‘, d.  h. verständigen Rezeption des Vorliegenden sein kann. Gehalt? Was soll das: „Kehre nicht, o Kind, die Beinchen hinauf zu dem Himmel, / Jupiter sieht dich der Schalk, und Ganymed ist besorgt“? Nur aus einem Distichon besteht dieses Epigramm, am 23. April 1790 Knebel zugeschickt und für die Veröffentlichung (als Nr. 38) in die Erstveröffentlichung gebracht. Über den ‚Gehalt‘ (nach Klärung des Inhalts: ist ein bestimmtes Kind, das Goethe in Venedig gesehen hat, gemeint? Wer war Ganymed?) lässt sich nun allerlei sagen, Philosophisches, Anthropologisches oder sonst was, ohne dass damit der Zweizeiler als poetisches Opusculum auch nur berührt würde. Die Form also? Gibt es da ein Geheimnis, das zu lösen wäre, aber den meisten ungelöst bleibt? Eine Beschreibung der Form des Distichons fällt nicht schwer, aber sie ist notwendig, wenn der Leser glaubt, sein Vergnügen am übermittelten Spiel verständlich machen zu können; natürlich geht das nur auf Kosten der unmittelbaren Freude am Spiel. Aber das Gesehene und Empfundene und nun Beschriebene vermag vielleicht Augen zu öffnen und Wege zu weisen. Zum zitierten Distichon nur dies: Ungewöhnlich für einen Hexameter (im Deutschen) ist, dass die ersten drei Versfüße nicht Daktylen, sondern Trochäen sind, und deren Funktion (um nicht zu sagen ‚Bedeutung‘) ist seit alters her, geschwind, wenn nicht hastig in ein Geschehen einzuführen oder es zu beschreiben. Die anscheinend spon-

12 Vgl. etwa Schillers Brief an Goethe vom 17. August 1797. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 29, S. 119.



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tane (ganz und gar ‚natürliche‘, also spielerische) Handlung des Kindes findet in dieser Form einen adäquaten Ausdruck. (Dass es „Kehre“ und nicht etwa „Wende“ heißt, gibt dem beschriebenen Vorgang in Bezug auf das folgende „Kind“ ein besonderes Gewicht.) Es folgt die Hinwendung zum Himmel, den es ja nicht gibt (weshalb mit ihm wie mit dem, was das Kind nicht tun soll, kunstvoll gespielt wird). Der Himmel wird belebt vom Obergott mythischer Zeit, der als ‚Schalk‘ sowohl erniedrigt wie erhöht wird, und von seinem Mundschenk, dessen Besorgnis auf der Verführbarkeit seines Herrn zu gründen scheint. Es lässt sich nicht vermeiden, Inhalte zu referieren; die Bedeutung ergibt sich von selbst. Zum Spiel, zur Form noch dies: Zu achten ist auf den Pentameter: „Jupiter sieht dich der Schalk, und Ganymed ist besorgt.“ Wem der Vers gefällt, muss sagen, warum es sich gar nicht um einen gewöhnlichen Pentameter zu handeln scheint, bei dem dritte und vierte Hebung/Betonung unmittelbar aufeinander zu folgen pflegen. Aber die metrische Ordnung ist ja gar nicht gestört, sie ist nur eine besondere: „Jupiter sieht dich der Schalk, und Ganymed ist besorgt.“ Die offensichtlich gewollte Betonung der gewöhnlich unbetonten Konjunktion gibt dem poetischen Spiel und damit der Freude an ihm eine überraschende Wendung, indem sie die Besorgnis Ganymeds nicht mehr eindeutig auf den Schalk Jupiter und sein Tun konzentriert, sondern den Besorgten selbst dem Rezipienten des Epigramms nahebringt, dass dieser entscheide, was von dem Gesagten zu halten sei. Wem gilt die Sorge? Wer die Geschichte kennt, bedarf nicht der Betonung des „und“, wer sie nicht kennt, wird so auf die vom Dichter gelegte Fährte geführt: Ganymed, Jupiters Geliebter, fürchtet, dass der Gott ihm untreu werden könne. In allen Fassungen der Venetianischen Epigramme, die vor allem für den Druck in den Werkausgaben von 1801 und 1806 einer Revision, insbesondere metrischer Art, unterzogen wurden, hat sich an dem Wortlaut des Jupiter/GanymedEpigramms nichts geändert. Der kurze Weg auf dem weiten Feld der Deutung eines Distichons soll abgebrochen werden, um noch auf ein paar andere Aspekte des Goethe’schen Zeitvertreibs in Venedig aufmerksam zu machen, wobei ich mich auf einige in den Briefen aus Venedig erwähnte Epigramme beschränke. An Herder schrieb Goethe am 15. April 1790, er habe dem Herzog ein Epigramm „besonders geschickt“ (WA IV 9, 200), bei dem es sich möglicherweise um die sieben metrisch überaus korrekten Distichen des Fürstenlob-Gedichts handelte, von dem bereits im Brief an den Herzog vom 10. Mai 1789 die Rede war: „Klein ist unter den Fürsten der Deutschen mein Fürst ich gesteh es. / Kurz und schmal ist sein Land mäßig nur was er vermag.“ Etc. (WA I 1, 315 und 452). Das Gedicht sollte ursprünglich wohl zu den Römischen Elegien kommen, wo es als Fremdkörper besonders aufgefallen wäre. Goethe hielt es dann zurück und mischte es später (1800) im 7. Band seiner Neuen

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 Norbert Oellers

Schriften unter die Venetianischen Epigramme – ein Jahrzehnt nach dem Ereignis der zu vertreibenden leeren Zeit in Venedig, aus der heraus die EpigrammenSammlung nach dem Lobgedicht, das nun auch fremd wirkt, entstanden war. Ein Epigramm, das Goethe zu Lebzeiten gar nicht veröffentlichte, das aber eine enge Beziehung zu seinem Venedig-Aufenthalt hat, wenn auch nicht zu dem, was er in diesen Wochen sonst dichtete, schrieb er am 4. Mai 1790 in einem Brief an Caroline Herder. Es zeigt immerhin die Situation, in der und aus der heraus die Venetianischen Epigramme im eigentlichen Sinne entstanden sind: Weit und schön ist die Welt, doch o! wie dank᾿ ich dem Himmel, Daß ein Gärtchen beschränkt zierlich mir eigen gehört. Bringet mich wieder nach Hause! Was hat ein Gärtner zu reisen? Ehre bringt᾿s ihm und Glück, wenn er sein Gärtchen besorgt. (WA IV 9, 205)

Die Epigramme, die Goethe am 23. April 1790 für Knebel aufschrieb, behandeln, ja sind (wie das schon kurz erläuterte) die ausgefüllte Muße nach den anstrengenden Kunstbetrachtungen. Sie kreisen um eine „Gauklerin“, die Bettine heißt und deren Kunststücke (wie das Hinaufkehren der Beinchen) in unmittelbaren Bezug zu den Kunstwerken, die müde gemacht haben, gesetzt werden. Ihr Vorteil: Da sie nur fürs Sehen (nicht auch fürs Denken) bestimmt sind, beleben sie – wie es die Dichtkunst, die von ihr handelt, tun soll, aber nicht tun kann. Denn mit einigen Gedanken mag sich ein Leser oder Hörer sicher beschweren, wenn er die folgenden Verse aus der Bettine-Reihe aufnimmt: „Gern überschreit᾿ ich die Gränze, mit breiter Kreide gezogen, / Macht sie Bottegha das Kind, drängt sie mich artig zurück.“ (Nr. 42) Was heißt „Macht sie Bottegha“? Die wenigsten Leser, die den Vers im Musen-Almanach (oder einem späteren Druck) lesen, werden eine Antwort haben. Goethe gibt sie im Brief an Knebel in einer Anmerkung: „Far Bottegha heißt bey Taschenspielern und Gaucklern: die zudringenden Zuschauer vor Anfang des Spiels nach Verhältniß entfernen und sich den nöthigen Raum verschaffen, den einige vorher mit Kreide bezeichnen.“ (WA IV 9, 364) Das Epigramm verliert an Qualität, weil es ein Rätsel aufgibt, anders als die anderen Epigramme, darunter: „Zürnet nicht ihr Frauen daß wir dies Mädchen bewundern: / Ihr genießt in der Nacht, was sie am Abend erregt.“ (WA I 5.2, 380) Dieses Epigramm lernte die Öffentlichkeit allerdings auch erst lange nach Goethes Tod kennen. Welche Epigramme Goethe mit seinen Briefen an Herder vom 15. April und an Charlotte von Kalb vom 30. April 1790 nach Weimar geschickt hat, ist nicht bekannt, weil Antworten auf die Zusendungen nicht überliefert sind. Es sei nun genug der Bemerkungen zu den poetischen Ereignissen des Zugänglichen, die sich so oft ins Unzugängliche heben, während Goethe unge-



Dichtung zum Zeitvertreib – Ereignisse des Zugänglichen und Unzugänglichen 

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duldig auf die Herzoginmutter Anna Amalia in Venedig im Frühjahr 1790 wartete. Doch soll nicht vergessen werden, das Motto zu zitieren, das der Dichter 1806 aus überlegener Distanz, ernsthaft und ironisch, den Venetianischen Epigrammen im ersten Band seiner ersten von Cotta verlegten Werkausgabe vorangestellt hat: „Wie man Geld und Zeit verthan, / Zeigt das Büchlein lustig an.“

Bettina Gruber

Masse als Ereignis Zur spezifischen Modernität eines Erzählmotivs

1 Von den vielen Facetten, welche das Ereignishafte in moderner Literatur annehmen kann, ist eine der charakteristischsten die Masse. Als ereignishaft lässt sich die Verwandlung der „latenten“, also einer abstrakt vorhandenen, aber nicht physisch anwesenden Menge von Menschen in eine präsente, aktuelle Massenansammlung unter mehreren Aspekten beschreiben: Sie ist flüchtig, plötzlich, kontingent, meist überraschend, spektakulär, unter Umständen schockierend, disruptiv, insofern sie den Alltag unterbricht, und sofern sie revolutionär ist, stellt sie eine nachhaltige Zäsur dar.1 Die Massenerhebung, Revolte oder Revolution kann daher als paradigmatischer historischer Ereignistypus der Moderne gelten. Das Sujet der Masse, das mit Beginn des 19. Jahrhunderts in der Literatur auftaucht, ist selbstverständlich nicht zu trennen von den historischen Bedingungen, die ermöglichen, dass es in den Blick gerät. Die Erkenntnis, „daß erst die Französische Revolution und die damit in Zusammenhang stehenden Kriege mit Napoleons Aufstieg und Niederlage die Geschichte zum Massenerlebnis gemacht haben“, ist für das Verständnis des Auftretens der Masse in der Literatur unab-

1 Aus den Bedeutungen, die im Sprachgebrauch der Soziologie dem Begriff „Masse“ beigelegt werden, hat die Soziologie schon früh zwei Grundbedeutungen des Begriffs isoliert. Er meint einmal „eine konkrete, begrenzte und überschaubare Menge (Ansammlung) von Menschen“, dann aber auch „eine latente, aber aufgrund gemeinsamer Werthaltungen […] unter bestimmten Umständen jederzeit aktivierbare [Menge] von Menschen“ (Hartfiel, Günter: Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart 1972, S. 472). (Die „Massen“ der „Massenmedien“ bilden daher eine historisch relativ neue Form der latenten Masse.) Alle davon abgeleiteten Definitionen gründen sich im Prinzip ebenfalls auf die Unterscheidung einer präsenten (konkreten, aktuellen) von einer latenten (abstrakten) Masse, also auf den Unterschied von „crowd“ und „mass“. – Neuestens Hauswald, Rico: Soziale Pluralitäten. Zur Ontologie, Wissenschaftstheorie und Semantik des Klassifizierens und Gruppierens von Menschen in Gesellschaft und Humanwissenschaft. Münster 2014. Rico Hauswald weist darauf hin, dass das „Konzept einer Masse etwas Graduelles“ hat, indem es sich nicht über die Bestimmung als „eine hinreichend große Zahl von Menschen, die raumzeitlich hinreichend nah beieinander sind“ hinaus präzisieren lässt (ebd., S. 186). Das ist schärfer formuliert, geht aber über die Bestimmungen der älteren Forschung nicht hinaus. DOI 10.1515/9783110541854-028

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dingbar.2 Zugleich fällt dieses Auftreten mit jenem Ausdifferenzierungs- oder Autonomisierungsschub zusammen, der die Evolution moderner Literatur entscheidend vorantreibt. Spricht man im Bereich von Literatur- oder Medienwissenschaften von „Massenszenen“, so ist zwangsläufig die präsente Masse gemeint. Es ist ausschließlich diese Masse, die zum Ereignis wird, indem sie sich aus der latenten Masse konstelliert, wenn sich ein geeigneter kairos ergibt. Diese Masse ist keineswegs nur eine Ansammlung von Menschen. Sie muss sich bilden, sie agiert und bewegt sich, und irgendwann löst sie sich auch wieder auf. Diese Kombination aus Bewegung und zahlenmäßiger Menge sowie die Unberechenbarkeit der Bewegung machen sie aus. Nur punktuell von einem einheitlichen Willen getrieben, ist sie ein ephemeres Phänomen. Dieser seit der Romantik begegnende Massentyp bildet damit einen deutlichen Gegensatz zur ‚statischen‘ und zur ‚domestizierten‘ Masse. Für die beiden letztgenannten Typen sei je ein vormodernes Beispiel genannt, was nicht heißen soll, dass sie in der Moderne nicht literarisch in Erscheinung treten können. Sie bilden jedoch eine Kontrastfolie zu all dem, was eine prononciert moderne Ästhetik am Massenphänomen interessiert.

2 Das erste Beispiel entnehme ich Dantes Paradiso. Es repräsentiert den Gegenpol zu diesen Interessen, indem es eine statische ‚Ansammlung‘ entwirft, auf die bezeichnenderweise der alltagssprachliche Begriff Masse kaum anwendbar scheint. Dante befindet sich im dreizehnten Gesang im „Sonnenhimmel“, umgeben von dem Reigen der Seligen, den er mit Sternbildern, nämlich dem des Großen und Kleinen Bären, vergleicht.3 Jede hier mögliche Bewegung ist geordnet und wiederkehrend: „Revolution“ im vormodernen, astronomischen Sinn des Wortes.4 Die Menge der Seligen bewegt sich in einer vorgeschriebenen, ornamentalen Figuration. Sie ist bildhaft zweidimensional. An anderer Stelle, im

2 Hösle, Johannes: Alessandro Manzoni. Die Verlobten. München 1975, S. 6. 3 Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Stuttgart 2007, S. 314. 4 „Die Revolution, anfangs aus dem naturalen Sternenlauf abgeleitet und kreisförmig in die naturhafte Bewegung der Geschichte eingelassen, gewinnt seitdem [seit dem 18. Jahrhundert] eine unumkehrbare Richtung.“ Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft in der Frühen Neuzeit. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik historischer Zeiten. Frankfurt a. M. 1989, S. 17–37, hier S. 35.



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achtzehnten Gesang des Paradiso, nimmt sie die Form einer Inschrift an, die sich in einen Adlerkopf umformt.5 Wir befinden uns hier exakt auf der Grenze zwischen „Ereignis“ und „Struktur“; die das Ereignis kennzeichnende „Möglichkeit zu neuer Strukturbildung“ ist hier praktisch nicht gegeben bzw. bleibt ein Oberflächenphänomen.6 Die Umbildung des Musters, das die Seelen beschreiben, ist noch kein Ereignis im modernen Sinn, weil sie in der Harmonie des Himmels folgenlos bleibt. Auch der Strukturbegriff mit seinen Konnotationen von Starre und Abstraktheit greift hier nicht vollständig. Die statische Masse stellt im Hinblick auf literarische Ereignishaftigkeit einen Grenzfall dar. Es ist konsequent, dass sie ihren Platz in den Sphären des alteuropäischen Himmels findet, denn die zur Struktur tendierenden Aspekte werden im Sinne eines kosmischen Ordnungsdenkens gegenüber jeder Temporalisierung, die mit Unruhe gleichzusetzen wäre, privilegiert. Diese hat ihre Stätte in Purgatorio und Inferno, die zwar den modernen literarischen Konzeptionen von Masse insbesondere in ihrer Bildlichkeit näherkommen, aber vom Ereignisstatus ebenfalls durch die Unmöglichkeit, genuin neue Strukturbildungen hervorzubringen, getrennt sind. Auch sie unterliegen, ihrer Mannigfaltigkeit zum Trotz, dem Gesetz des Ewig-Gleichen. Ausgeprägter, aber immer noch nicht voll ausgebildet, ist der Ereignischarakter im Falle der ‚domestizierten‘ Masse. Um diesen Figurationstypus zu illustrieren, greife ich nochmals auf ein vormodernes Beispiel zurück, das uns in Miltons Paradise Lost in die Hölle führt. Hierfür ließen sich, leichter als für die statische Masse, auch moderne Beispiele finden. Die ‚domestizierte‘ Masse ist eine obrigkeitlich formierte, aber ereignishaft in Bewegung befindliche Masse. Sie ist hoch strukturiert und dynamisch zugleich. Ihr typisches Erscheinungsbild ist das der Paraden totalitärer Staaten. So numberless were those bad Angels seen / Hovering on wing under the cope of Hell, / ’Twixt upper, nether, and surrounding fires; / Till, as a signal given, the uplifted spear / Of their great Sultan waving to direct / Their course, in even balance down they light / On the firm brimstone, and fill all the plain: / A multitude like which the populous North / Poured never from her frozen loins to pass / Rhene or the Danaw, when her barbarous sons / Came like a deluge on the South, and spread / Beneath Gibraltar to the Lybian sands. / Forthwith, from every squadron and each band, / The heads and leaders thither haste where stood / Their great Commander – godlike Shapes and Forms / Excelling human; princely Dignities; […]

5 Dante: Komödie, S. 333. 6 Kremer, Detlef: Ereignis und Struktur. In: Brackert, Helmut / Stückrath, Jörn: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek 1995, S. 517–532, hier S. 532.

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Then straight commands that, at the warlike sound / Of trumpets loud and clarions, be upreared / His mighty standard. That proud honour claimed / Azazel as his right, a Cherub tall: / Who forthwith from the glittering staff unfurled / The imperial ensign; which, full high advanced, / Shone like a meteor, streaming to the wind, / With gems and golden lustre rich emblazed, / Seraphic arms and trophies; all the while / Sonorous metal blowing martial sounds: / At which the universal host up-sent / A shout that tore Hell’s concave, and beyond / Frighted the reign of Chaos and old Night. / All in a moment through the gloom were seen / Ten Thousand banners rise into the air, / With orient colours waving: with them rose / A forest huge of spears; and thronging helms / Appeared, and serried shields in thick array / Of depth immeasurable. Anon they move / In perfect phalanx to the Dorian mood / Of flutes and soft recorders – such as raised / To highth of noblest temper heroes old / Arming to battle, and instead of rage / Deliberate valour breathed, firm, and unmoved / With dread of death to flight or foul retreat; / […] Thus they, breathing united force with fixèd thought, / Moved on in silence to soft pipes that charmed / Their painful steps o’er the burnt soil. And now / Advanced in view they stand – a horrid front / Of dreadful length and dazzling arms, in guise / Of warriors old, with ordered spear and shield, / Awaiting what command their mighty Chief / Had to impose. […]7

Zur Ordnung gerinnen können bei Milton sogar die satanischen Schlachtreihen und als solche gewinnen sie unverkennbar die Anerkennung der auktorialen Instanz. Werden die sich sammelnden Scharen der Teufel und Dämonen in ihrer Formierungsphase noch mit „Heuschrecken“ verglichen, dem typischen Bild der ungeordneten, unkontrollierbaren und gegen-menschlichen Bedrohung, so gewinnt die Armee als Verbund strukturierter Einheiten am Schluss eine heroische Statur. Der Formierungsprozess hegt die Bedrohung des unkontrollierbaren und subjektlosen Ereignisses ein und wandelt den Insektenschwarm in einen Gegner, dem – obwohl aus der Hölle stammend – Bewunderung nicht versagt werden kann. Paradise Lost zieht darüber hinaus einen Vergleich zwischen Satan und antiken Heroen sowie orientalischen Despoten („Sultan“), wobei im Sinne des Orientalismus der Zeit wiederum ein durchaus bewundernder Akzent zum Ausdruck kommt. Die das Ereignis kennzeichnende zeitlich disruptive Struktur fehlt ebenfalls nicht: der Aufmarsch der Truppen ist geradezu filmisch gekennzeichnet durch das Sich-Entfalten der „like a meteor“ schimmernden „kaiserlichen“ Standarte, das Einsetzen martialischer Militärmusik, den aufsteigenden Kriegsschrei sowie das den Sprachfluss jäh sistierende Zum-Stehen-Kommen der Truppen in Erwartung der Rede ihres Anführers. Dieser Ereignishaftigkeit haftet etwas stark Ritualisiertes an. Der Truppenaufmarsch ist eine Inszenierung von Ereignishaftigkeit, ein Spektakel mit berechenbaren Effekten. In dieser Eigenschaft kann es Eingang

7 Milton, John: The Poetical Works. With Introductions by David Masson. Reprinted from the 1892 Edition. Hawai 2002, S. 50f. (v. 344–359) und S. 54f. (v. 531–555, 558–566).



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in Miltons geordneten Kosmos finden. Auch die Beschreibung der Schlacht im Himmel ist Teil einer solchen Strategie der ‚gedämpften‘ Ereignishaftigkeit. Klar ist ja, wer gewinnt. Somit ist das Ereignis von vornherein in ein narratives Kontinuum eingeordnet, das Überraschungen allenfalls im Detail zulässt. Es hat seinen festen Platz in einer übergeordneten Schöpfungsvernunft, in der es zwar spektakulär, aber nicht genuin neu und damit auch nicht wirklich kontingent sein kann.

3 Von der Faszination für das irrationale, ungesteuerte, weitgehend subjektlose Massenereignis, wie sie die Romantiker erfüllen wird, ist die Konzeption Miltons weit entfernt. Deren Perspektive bedeutet ein Novum auch gegenüber Aufklärung und Empfindsamkeit, die sich auf das Individuum und die ihm entsprechenden moralischen Fragen kaprizieren. Mit der Romantik dagegen wird die Masse in der Literatur wahrnehmbar. Allerdings geht es hier noch nicht um die hin und her schwappenden Bevölkerungen der wachsenden Städte, um schubsende Passanten und beobachtende Flaneure, wie Walter Benjamin sie in einem zu Recht vielrezipierten, wenn auch methodisch idiosynkratischen Essay beschrieben hat.8 Hier geht es um die aufbegehrende, revoltierende oder hetzende Masse, denn nur sie wird in einem starken Sinn – real und literarisch – ‚Ereignis‘. Im Zentrum der folgenden Analysen stehen die Massenszenen in Alessandro Manzonis I Promessi Sposi, die als exemplarisch für die in der Romantik entwickelte Massendarstellung gelten können – eine Annahme, die aufgestellt werden kann, weil Manzoni einerseits Metaphern und Verfahren nutzt, die sich bis weit über die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts fortsetzen, und dafür andererseits auf kurz zuvor bereits bei Walter Scott entwickelte Modelle zurückgreifen kann.9

8 Benjamin, Walter: Über einige Motive bei Baudelaire. In: ders.: Illuminationen. Frankfurt a. M. 1977, S. 185–229. Benjamin geht neben Baudelaire auf Marx, Engels, Sue, E. T. A. Hoffmann und Poe ein. Idiosynkratisch ist sein Vorgehen insofern, als er erstens die Bedeutung der Menge im Werk Baudelaires aus deren Abwesenheit ableitet und zweitens den „Choc“, den der Passant im Verkehr erfahre, ohne Not generalisierend mit dem verbindet, den „der“ Arbeiter an „der“ Maschine erleide. Der selbstauferlegte Zwang, seine Beobachtungen in ein historisch-materialistisches Korsett zu zwängen, beschädigt hier die Überzeugungskraft seiner Argumentation und macht das Zeitgebundene des Ansatzes scharf sichtbar. 9 Die Achse Manzoni-Scott wird bereits bei Hempel, Wido: Manzoni und die Darstellung der Menschenmenge als erzähltechnisches Problem in den Promessi Sposi, bei Scott und in den historischen Romanen der französischen Romantik. Krefeld 1974, thematisiert. Hempel liefert viele wertvolle Beobachtungen, fasst jedoch den Begriff der Menge nicht ausschließlich ereignishaft auf.

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Sein Roman ist in dieser Hinsicht auch ein Stück Diskursgeschichte, was der Souveränität und Originalität von Manzonis Erzählkunst keinen Abbruch tut. Es soll an dieser Stelle aber nicht primär um Diskurs- oder um Motivgeschichte gehen, sondern um den Beitrag, den das Sujet der ‚Ereignismasse‘ zur Evolution der literarischen Moderne leistet. Die Anschlüsse an zentrale Aspekte dieses Evolutionsprozesses sind erkennbar in einer grundlegenden Problematisierung von Subjekthaftigkeit und der Reichweite persönlicher Moral, die zugleich begleitet wird von einer Faszination durch Unberechenbarkeit und Plötzlichkeit sowie durch eine (bei Manzoni und Scott erst beginnende) Hypostasierung reiner Wahrnehmung.

4 Das Ereignis der Revolte wirft seine Schatten bereits voraus, als sich Manzonis biederer ländlicher Protagonist der Großstadt Mailand nähert. Der erste Städter, dem Renzo begegnet, überrascht ihn durch seine Höflichkeit; er hält diese aber für normal, da er von dem Ausnahmezustand, den die Unruhen hervorgerufen haben, nichts weiß: „[…] e non sapeva che era un giorno fuor dell’ordinario, un giorno in cui le cappe s’inchinavano ai farsetti.“10 Diese Umkehr des gültigen Sozialverhaltens – die Träger der „cappa“, eines Kleidungsstücks, das Autorität und Rang anzeigt, verneigen sich vor denen, die lediglich ein Wams tragen – setzt sich unmittelbar fort, als Renzo Brot und Mehl auf der Straße findet – und das in einem Jahr der Knappheit. Die Szene scheint dem Protagonisten im Zeichen der verkehrten Welt: „Che sia il paese di cuccagna questo?“11 – ein Motiv, das auf die Durchschlagung des Ordnungs- und Zeitkontinuums in der Revolte vorausweist.12 Die Vorhut der aufständischen Menge, ein mehlbeladenes Paar und ein Junge mit Brotkorb, werden diesem Vorzeichen entsprechend außerordentlich negativ geschildert. Alle drei erscheinen „in una figura strana“: von ihrer Last gebeugt, die Frau dabei seltsam deformiert.13 Ihr unsinniges Verhalten – sie beschimpft

10 Manzoni, Alessandro: I Promessi Sposi. Storia Milanese del Secolo XVII. 4. Aufl. Torino 1906, S. 146. 11 Ebd., S. 145. 12 „Proprio all’ingreso della città Renzo fa il primo incontro con una realtà per lui traumatica, che capovolge interamente tutte le sue conoscenze di ciòche accade nel mondo, nel momento storico e in genere“. Barberi-Squarotti, Giorgio: Il romanzo contro la storia. Studi sui Promessi Sposi. Milano 1980, S. 184. 13 Manzoni: Promessi Sposi, S. 146.



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den Jungen und lässt dabei mehr Mehl wegfliegen, als „ci sarebbe voluto per farne i due pani lasciati cadere dal ragazzo“14 – präludiert die Vernunftlosigkeit der Masse als Ganzes, die im Folgenden immer wieder herausgestellt wird. Die „insensatezza“ der Machthabenden, die zur Entstehung der Hungersnot entscheidend beigetragen hat, setzt sich auf Seiten des Volkes fort.15 Ma quando questo arriva a un certo segno, nasce sempre […] nasce un’opinione ne’ molti, che non ne sia cagione la scarsezza. Si dimentica d’averla temuta, predetta; si suppone tutt’ a un tratto che ci sia grano abbastanza, e che il male venga dal non vendersene abbastanza per il consumo: supposizioni che non stanno nè in cielo nè in terra; ma che lusingano a un tempo la collera e la speranza.16

Die Meinung der Vielen erscheint als vernunftmäßig unbegründet („supposizioni che non stanno nè in cielo nè in terra“) und als ein plötzliches Umschlagen und Verdrängen („tutt’ a un tratto“). Die Schuld an der Verknappung wird von der „moltitudine“ nicht dort gesucht, wo der reflektierende Erzähler sie findet, nämlich in einer ökonomischen Problemkonstellation, sondern – quasi kontagiös – bei bestimmten Gruppen, die in irgendeiner Form mit dem verknappten Gut in Berührung stehen.17 Gli incettatori di grano, reali o immaginari, i possessori di terre, che non lo vendevano tutto in un giorno, i fornai che ne compravano, tutti coloro in somma che ne avessero o poco o assai, o che avessero il nome d’averne, a questi si dava la colpa della penuria e del rincaro, questi erano il bersaglio del lamento universale, l’abbominio della moltitudine male e ben vestita.18

Diese unvernünftige Masse („moltitudine“ oder „popolo“) ist der Differenzierung nach Gründen nicht fähig, sondern sie fragt ausschließlich nach Schuld, weil sie die Ursachen in persönliche Kategorien verlegt, um damit ein handgreifliches Ziel für ihren Unmut zu schaffen. Zudem wird diese Schuld nicht auf das Konto der aus der Erzählerperspektive viel eher verantwortlichen Instanz, nämlich der spanischen Besatzung und der kriegführenden Militärs, geschrieben, sondern auf das der leichter erreichbaren Bäcker und Getreidehändler. Dieser Vorgang der Schuldverschiebung ist die grundlegende Reaktion der Masse auf Notsituationen,

14 Ebd. 15 Ebd., S. 148. 16 Ebd. 17 Die „moltitudine“ repräsentiert an dieser Stelle nicht die Unterschichten, sondern ein breiteres soziales Spektrum: es ist die Rede von der „moltitudine male e ben vestita“ (ebd.). 18 Ebd.

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wie der Erzähler sie interpretiert. Sie zieht sich durch den gesamten Text und wiederholt, ja steigert sich in den Kapiteln, die der Pestepidemie in Mailand gewidmet sind. Diese Verblendung über die Ursachen produziert in beiden Fällen einen ganzen Apparat von angeblichen Sachinformationen, die als verbürgte Tatsachen gehandelt werden. Si diceva di sicuro, dov’erano i magazzini, i granai, colmi, traboccanti, appuntellati; s’indicava il numero de’ sacchi, spropositato; si parlava con certezza dell’immensa quantità di granaglie che veniva spedita segretamente in altri paesi; ne’ quali probabilmente si gridava, con altrettanta sicurezza e che con fremito uguale, che le granaglie di là venivano a Milano.19

Das Subjekt dieser Aussage ist ein Kollektivsubjekt, dessen Glaubwürdigkeit dadurch diskreditiert wird, dass in jedem dieser Sätze eine Diskrepanz deutlich wird: zwischen dem, was Leser und Erzähler wissen, und dem, was „man“ als Gewissheit hinstellt, und zwar als so gewiss, dass sogar die Anzahl der angeblich zurückgehaltenen Säcke genannt wird. Der letzte Nebensatz ironisiert das on dit schließlich vollständig, indem er die Vermutung aufstellt, in anderen Ländern bzw. Orten würde mit gleicher Überzeugung von der Verbringung des Korns nach Mailand gesprochen. Diese Annahme gibt die Vermutungen der Mailänder „moltitudine“ endgültig der Lächerlichkeit preis. Indem die Menge die Mailänder Hungersnot – genau wie später die Pest – weitgehend irrealen Gründen zuschreibt, erzwingt sie, dass die Administration in Gestalt von Großkanzler Ferrer sich zum Exekutor ihrer Wünsche macht. „Fece [der Großkanzler] come una donna stata giovine, che pensasse di ringiovinire, alterando la sua fede di battesimo.“20 Der Erzähler spricht der Menge auch hier nur ein unbestimmtes moralisches Bewusstsein zu – „il popolo sentendo in confuso che l’era una cosa violenta“ –, das mit einer Neigung zu Gewalt und Lynchjustiz einhergeht, die sich im Verlauf des Textes bedrohlich konkretisiert. Die gezwungenermaßen wieder eingeführte Preiserhöhung für Getreide wird zum Anlass, der die vorhandene Unzufriedenheit explodieren lässt. „I fornai respirarono; ma il popolo imbestialì.“21 Mit diesem Satz ist die Vorgeschichte der Massenunruhen abgeschlossen, die dem Leser in zwei Strängen präsentiert wurde: einmal in Renzos Begegnung mit der ihre Beute fortschleppenden Familie, dann in den Angaben des Erzählers zum historischpolitischen Hintergrund. Es ist bezeichnend für Manzonis Erzähltechnik und narratives Geschick, dass dieser Einschnitt nicht etwa mit einem Kapitelschluss

19 Ebd, S. 148f. 20 Ebd., S. 148. 21 Ebd., S. 150.



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zusammenfällt, sondern sich mitten im Kapitel findet. Die tatsächliche Diskrepanz zwischen den reflexiv-moralischen Passagen, in denen der Verfasser seine frühe aufklärerische Prägung zu erkennen gibt, und den romantisch-modernen wird dadurch überspielt. Statt der latenten kommt nun die präsente Masse auf die Szene. Die Darstellungstechnik wechselt von einem diskursiv-deskriptiven zu einem dramatisierenden Verfahren, das durch die dominante Verwendung direkter Rede und häufiger, kurzer, oft stychomythischer Perioden gekennzeichnet ist, die an Regieanweisungen denken lassen. Der Hauptakteur der folgenden Textpassagen bis zum Höhepunkt – der Ankunft Ferrers – ist nicht mehr Renzo, sondern die Masse selbst. Der Erzähler betont zunächst das weitgehend Unbewusste ihres Konstitutionsvorgangs. Die Menschen sind hingerissen und dominiert – „trasportati“, „predominati“22 – von einer allgemeinen Wut. Sie erscheinen in dieser Wendung nicht als aktiv Handelnde, sondern als Objekte ihrer Emotion, was sich auch in der passiven grammatikalischen Konstruktion ausdrückt. Sie rotten sich ohne Absprache – „senza essersi dati l’intesa [!], quasi senza avvedersene“23 –, also ohne konkret identifizierbare Intention zusammen. Manzoni ist hier vollkommen zeitgemäß: Er befindet sich im Einklang mit den vor-Freudianischen Konzepten zum Unbewussten, die seit dem späten achtzehnten Jahrhundert im Umlauf sind. Das „quasi senza avvedersene“ weist dabei auf Leibniz’ „petites perceptions“ zurück.24 „Attraversò la piazzetta, si portò sull’orlo della strada, e si fermò, con le braccia incrociate sul petto, guardando a sinistra, verso l’interno della città, dove il brulichìo era più folto e rumoroso. Il vortice attrasse lo spettatore.“25 In dem Moment, in dem die aufrührerische Masse tatsächlich auftritt, wird Reflexion und Moral von einer naturereignishaft inszenierten Unmittelbarkeit abgelöst. Der bis dahin kontemplative, staunende und zurückhaltende Held wird von einem „Strudel“ an- und in ihn hineingesogen. Dieser verfügt über eine unwiderstehlich stärkere Attraktion als der stille Hof des Klosters, wo er eigentlich einen Brief hätte abgeben sollen. Die Eigendynamik, die das Ereignis entfaltet, bildet von jetzt ab den Fokus der Narration. Mit der Masse tritt ein Akteur auf, der für eine Behandlung als moralisches Subjekt ungeeignet ist. Als „il pubblico“, „il popolo“, „i molti“, „i più“, „volgo

22 Ebd. 23 Ebd. 24 Vgl. Lütkehaus, Ludger: Tiefenphilosophie. Texte zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud. Hamburg 1995; Gruber, Bettina: Romantische Psychoanalyse? Freud, C. G. Jung und die Traumtheorien der Romantik. In: Alt, Peter-André / Leiteritz, Christiane (Hg.): Traum-Diskurse der Romantik. Berlin / New York 2005, S. 334–358. 25 Manzoni: Promessi Sposi, S. 147.

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profano“, „la folla“ löscht sie die Subjekthaftigkeit des Einzelnen vorübergehend aus, während sie selbst allenfalls momenthaft als agierendes Subjekt aufgefasst werden kann. Viel eher fungiert sie, systemtheoretisch gesprochen, als Medium für ephemere und sich in ständig wechselnden Formationen konkretisierende Formen. Soweit Manzoni dem Muster des Bildungsromans folgt, ist sie damit auch das Medium, in dem und gegen das der Protagonist sich bewähren muss, was ihm nur mit knapper Not gelingt. Die Ereignismasse steht zum Subjekt quer und bedroht seine Vorstellung von sich selbst als (moralische) Einheit. Ihre Thematisierung erlaubt damit den Anschluss an ein zentrales philosophisches wie ästhetisches Motiv der Moderne, die subjektkritische Beunruhigung über Leistungsfähigkeit, Grenzen und Wesen des eigenen wie des fremden Ich. Bemerkenswert ist dabei, wie eng Manzonis Beschreibungen den viel späteren Konzeptionen z. B. Le Bons oder Canettis entsprechen. Die romantische Wahrnehmung prägt auch den soziologischen und interdiskursiven Diskurs über die Ereignismasse auf lange Sicht.

5 Die Ereignismasse interagiert eng mit einer Kategorie, die, wie Karl Heinz Bohrer gezeigt hat, für die ästhetisch avancierte Literatur sowohl der erweiterten als auch der emphatischen Moderne konstitutiv ist, nämlich jener der „Plötzlichkeit“.26 Bohrer macht dies exemplarisch an einer Bemerkung Heinrich von Kleists in Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden fest: „Vielleicht, daß es auf diese Art zuletzt das Zucken einer Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte.“27 Das Massenereignis ist in dieser Plötzlichkeit vor allem bedrohlich. Nicht zufällig definiert Kierkegaard in enger zeitlicher Nähe das Dämonische als das Plötzliche. Im jungen Begriff des Flashmobs ist das Beunruhigende dieser Verbindung von Masse und Jähheit treffend impliziert. Die Massen, die sich bei Manzoni im Zusammenhang mit der in Mailand ausgebrochenen Pest bilden, sind noch

26 Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a. M. 1981. 27 Kleist, Heinrich von: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. In: ders.: Werke und Briefe in vier Bänden. Herausgegeben von Siegfried Streller in Zusammenarbeit mit Peter Goldammer, Wolfgang Barthel, Anita Golz und Rudolf Loch, 2. Aufl. Berlin / Weimar 1984, Bd. 3, S. 453–459, hier S. 455.



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weit unheilvoller als die der Brotrevolte. Die populäre Vorstellung, der zufolge die Krankheit von Hexern, sogenannten „untori“ (wörtlich „Einöler“, von „ungere“, einölen, ölen) durch „Einschmieren“ mit einer todbringenden Salbe oder Lotion übertragen werde, führt beim geringsten Verdacht zur Bildung von Flashmobs oder dem, was Canetti als „Hetzmasse“ bezeichnete: Die Hetzmasse bildet sich im Hinblick auf ein rasch erreichbares Ziel. Es ist ihr bekannt und genau bezeichnet, es ist auch nah. Sie ist aufs Töten aus, und sie weiß, wen sie töten will. […] Es genügt, dieses Ziel bekanntzugeben, es genügt zu verbreiten, wer umkommen soll, damit eine Masse sich bildet. […] Man muß dazu sagen, daß die Todesdrohung, unter der alle Menschen selber stehen und die in mancherlei Verkleidungen immer wirksam ist, auch wenn sie nicht kontinuierlich ins Auge gefaßt wird, eine Ablenkung des Todes auf andere zum Bedürfnis macht. Die Bildung von Hetzmassen kommt diesem Bedürfnis entgegen.28

Die unter solchem Druck stehende latente Masse schließt sich bereitwillig zur Hetzmasse zusammen, sobald sich eine Gelegenheit ergibt, und explodiert buchstäblich bei der kleinsten Geste: der alte Mann, der in der Kirche als „untore“ angegriffen und vor Gericht geschleppt wird, weil er die Kirchenbank mit seiner Mütze abstaubt, oder die französischen Reisenden, die interessiert den Marmor des Doms berühren und nur durch einen Zufall nicht gelyncht werden. Uno che passava, li vede e si ferma; gli accenna a un altro, ad altri che arrivano; si formò un crocchio, a guardare, a tener d’occhio coloro, che il vestiario, la capigliatura, le bisaccie, accusavano di stranieri e, quell ch’era peggio, di francesi. Come per accertarsi ch’era marmo, stesero essi la mano a toccare. Bastò. Furono circondati, afferrati, malmenati, spinti, a furia di percosse, alle carceri. Per buona sorte, il palazzo di giustizia è poco lontano dal duomo: e per una sorte ancor più felice, furono trovati innocenti, e rilasciati.29

Die belanglose Geste der zur Berührung ausgestreckten Hand, auf die explosionsartig der Einwortsatz „Bastò.“ folgt, transponiert Kleists oben zitierte geschichtstheoretische Vermutung über die möglichen verheerenden Folgen eines Zuckens der Oberlippe und Spielens an der Manschette ins Narrative. Diese Gleichheit der Ereigniskonstruktion ist umso signifikanter, als Manzoni Kleists Werk nicht kannte. Sie wird noch augenfälliger, wenn man die Szene, in der Renzo selbst von einer sich mit erschreckender Geschwindigkeit bildenden Menge beinahe als „untore“ gelyncht wird, mit der des mörderischen Mobs in der Kirche in Kleists Das Erdbeben in Chili vergleicht.

28 Canetti, Elias: Masse und Macht. Frankfurt a. M. 1980, S. 49f. 29 Manzoni: Promessi Sposi, S. 383 (Hervorhebung B. G.).

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Doch, ehe Donna Constanze diese sinnreiche zur Rettung erfundene Maßregel noch ausgeführt hatte, rief schon eine Stimme, des Chorherrn Predigt laut unterbrechend, aus: Weichet fern hinweg, ihr Bürger von St. Jago, hier stehen diese gottlosen Menschen! Und als eine andere Stimme schreckensvoll, indessen sich ein weiter Kreis des Entsetzens um sie bildete, fragte: wo? hier! versetzte ein Dritter und zog, heiliger Ruchlosigkeit voll, Josephen bei den Haaren nieder, daß sie mit Don Fernandos Sohn zu Boden getaumelt wäre, wenn dieser sie nicht gehalten hätte. […] Nun traf es sich, daß in demselben Augenblicke der kleine Juan, durch den Tumult erschreckt, von Josephens Brust weg, Don Fernando in die Arme strebte. Hierauf: Er ist der Vater! schrie eine Stimme; und: er ist Jeronimo Rugera! eine andere; und: sie sind die gotteslästerlichen Menschen! eine dritte; und: steinigt sie! steinigt sie! die ganze im Tempel Jesu versammelte Christenheit!30 „Che diamine…?“ cominciava Renzo, alzando anche lui le mani verso la donna; ma questa […] lasiò scappare il grido che aveva rattenuto fin allora: „l’untore, dagli! dagli! dagli all’untore!“ „Chi? io? ah strega bugiarda! sta zitta,“ gridò Renzo; e fece un salto verso lei, per impaurirla e farla chetare. Ma s’avvide subito, che aveva bisogno piuttosto di pensare ai casi suoi. Allo strillar della vecchia accoreva gente di qua e di là; non la folla che, in un caso simile, sarebbe stata tre mesi prima; ma più che abbastanza per poter fare di un uomo solo quel che volessero. Nello stesso tempo, s’aprì di nuovo la finestra, e quella medesima sgarbata di prima ci s’affacciò questa volta, e gridava anche lei: „pigliatelo, pigliatelo; che dev’essere uno di que’ birboni che vanno in giro a unger le porte de’ galantuomini.“31

In beiden Fällen sind es die in jähen Schreien ausgestoßenen ungerechtfertigten Anschuldigungen, die bei Kleist tatsächlich eine Katastrophe, das andere Mal bei Manzoni beinahe eine herbeiführen. Beängstigend ist an dieser Stelle nicht nur das Plötzliche als solches, sondern insbesondere seine enge Verbindung mit radikaler Kontingenz. Es kommuniziert darüber mit der Kategorie des Bösen und bildet ein Indiz der absoluten Ungeborgenheit des Individuums, das mit einer Welt konfrontiert ist, die wie eine geladene Waffe jederzeit ‚losgehen‘ kann. Während diese Plötzlichkeit bei Manzoni, wenn auch erzähltechnisch sehr verhalten, noch in eine Welt zwar unerkennbarer, aber unbezweifelbarer göttlicher Vorsehung eingebettet ist, fällt dieser tröstliche Rahmen bei Kleist ersatzlos weg.

30 Kleist, Heinrich von: Das Erdbeben in Chili. In: ders.: Werke und Briefe in vier Bänden. Herausgegeben von Siegfried Streller in Zusammenarbeit mit Peter Goldammer, Wolfgang Barthel, Anita Golz und Rudolf Loch, 2. Aufl. Berlin / Weimar 1984, Bd. 3, S. 158–174, hier S. 171f. 31 Manzoni: Promessi Sposi, S. 421f.



Masse als Ereignis 

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6 In ihrer Jähheit und Nicht-Subjekthaftigkeit wird die Ereignismasse praktisch zwangsläufig und habituell der Natur verglichen, und zwar einer Natur, die von rousseauistischem Wohlwollen denkbar weit entfernt ist. Bei Kleist ist der Bezug in der narrativen Parallelkonstruktion zu finden, die auf die Naturkatastrophe die soziale, auf das Erdbeben die Lynchhandlungen des Mobs folgen lässt. Metaphorisch und vergleichend operiert dagegen Manzoni ebenso wie Scott in The Heart of Midlothian: While these arguments were stated and replied to, and canvassed and supported, the hitherto silent expectation of the people became changed into that deep and agitating murmur, which is sent forth by the ocean before the tempest begins to howl. The crowded populace, as if their motions had corresponded with the unsettled state of their minds, fluctuated to and fro without any visible cause of impulse, like the agitation of the waters, called by sailors the ground-swell. The news, which the magistrates had almost hesitated to communicate to them, were at length announced, and spread among the spectators with a rapidity like lightning. […] The assembled spectators of almost all degrees, whose minds had been wound up to the pitch which we have described, uttered a groan, or rather a roar of indignation and disappointed revenge, similar to that of a tiger from whom his meal has been rent by his keeper when he was just about to devour it. This fierce exclamation seemed to forebode some immediate explosion of popular resentment […].32 Metton [i servitori] la stanga, metton puntelli, corrono schiuder le finestre, come quando si vede venire avanti un tempo nero, e s’aspetta la grandine, da un momento all’ altro. L’urlìo crescente, scendendo dall’alto come un tuono, rimbomba nel voto cortile.33

Der Vorgang der Sammlung der Menge wird dem Abrinnen von Wassertropfen an einer Schräge verglichen – „[…] come gocciole sparse sullo stesso pendìo“34 –, also einem Vorgang, der mit naturgesetzlicher Notwendigkeit erfolgt. Formierung und Aktion der Masse entziehen sich auch dadurch wieder den subjektzentrierten Beschreibungsmustern aufklärerischer Moraldiskurse, schließen gleichzeitig allerdings an die mechanistischen und atomistischen Denkmuster der Aufklärung an. Figurieren die Individuen als Wassertröpfchen, so steht das Bild der Wassermasse als Kollektivsymbol für die Masse als Ganzes, deren „Transsubjektivität“ immer wieder herausgestellt wird. So sind die wenigen intentional handelnden

32 Scott, Walter: The Heart of Midlothian. Ed. by Claire Lamont. Aylesbury 1982, S. 42. 33 Manzoni: Promessi Sposi, S. 158. 34 Ebd., S. 150.

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Agitatoren, die von der Stimmung profitieren wollen, mit diesem Wasservergleich ausdrücklich nicht mitbezeichnet. Tra tanti appassionati, c’eran pure alcuni più di sangue freddo, i quali stavano osservando con molto piacere, che l’acqua s’andava intorbidando; e s’ingegnavano d’intorbidarla di più, con que’ ragionamenti, e con quelle storie che i furbi sanno comporre, e che gli animi alterati sanno credere; e si proponevano di non lasciarla posare, quell’acqua, senza farci un po di pesca. Migliaia d’uomini andarono a letto col sentimento indeterminato che qualche cosa bisognava fare, che qualche cosa si farebbe.35

Manzoni rechnet die bewusst agierenden Elemente mithin explizit nicht zur Masse.36 Das soziale Phänomen der Aggregation einer Menschenmenge wird bereits quasi kybernetisch wahrgenommen. Soziales geht dabei scheinbar in Natur über, aber eben nur scheinbar. Der Status des Massenereignisses bleibt immer ambivalent, da es wahrnehmungs- und erzähltechnisch den ständigen Perspektivenwechsel nahelegt. Der Kultur-Natur-Gegensatz wird ambivalent gehalten, die Kultur-Natur-Grenze nach beiden Seiten hin immer wieder überschritten. Der Massenausbruch wird damit zugleich auf einer Grenze von Handlung und Ereignis angesiedelt, eine prekäre Situierung, die bereits erlaubt, die Komplexität der Welt des Sozialen zu erahnen. Im Zusammenhang damit kann die zeitlich naheliegende Entstehung der Soziologie gesehen werden, wie Wolf Lepenies sie beschrieben hat, nämlich als dritte „Wissenskultur“ der Moderne.37 Die Entdeckung des Massenereignisses und die Entdeckung der Gesellschaft als Bereich von beunruhigender Eigendynamik, der nicht auf ein Netz moralischer Verpflichtungen reduziert werden kann, gehen Hand in Hand. Die intellektuelle und literarische Qualität in der Darstellung von Massenereignissen wäre demnach daran zu bemessen, wie sehr dieser „dritte Charakter“ des Massenausbruchs begriffen und damit dessen spezifische Ereignishaftigkeit erfasst wird.

7 Alle beschriebenen Faktoren verstärken einen für die gesamte Literaturästhetik der Moderne gültigen Aspekt, den der wachsenden Faszination durch reine Wahrnehmung. Das Ereignis im etymologischen Sinn ist, was gesehen, vor die

35 Ebd. 36 Ebd. 37 Lepenies, Wolf: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. Frankfurt a. M. 1985.



Masse als Ereignis 

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Augen gestellt wird, also durch eine Sinneswahrnehmung wirkt. In dieser Hinsicht haftet dem Ereignisbegriff etwas Un-, ja Antiintellektuelles und theoretisch nicht Reduzibles an. Als letztes Beispiel sei die Geräuschkulisse angeführt, die Manzonis revoltierende Masse produziert. Die Zusammenrottung beliebiger Menschen erscheint akustisch als ein „bisbiglio confuso“,38 ein diffuses Hintergrundwispern, in dem die verschiedensten Sprechakte sich zur Unverständlichkeit überlagern und gegenseitig neutralisieren. Entsprechend der Verweigerung von Subjekthaftigkeit, Kohärenz und Vernunft ist die Geräuschkulisse nicht die diskursive, strukturierte, rhetorisierte Volksrede, wie wir sie bei Shakespeare finden, etwa in der Rede des Mark Anton in Julius Caesar oder in Heinrichs St. Crispin’s Day Speech in Henry V. Es ist vielmehr ein diffuses „Rauschen“, das nicht in Sinn überführt werden kann. Genau diese Unauflösbarkeit, dieser Rest prädestiniert für eine moderne Ästhetik, soweit diese sich dadurch definiert, dass sie sich von der Herrschaft des Theoretischen, Begrifflichen und Philosophischen löst und zum Wortsinn von aisthesis zurückstrebt.

38 Manzoni: Promessi Sposi, S. 151.

Mária Bátorová

Die Politik des Ereignisses Dissidentisches Schreiben bei Dominik Tatarka

1 Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden verschiedene Mitteleuropa-Konzepte entworfen. In der Konzeption von Friedrich Naumann aus dem Jahre 1915 bestand Mitteleuropa aus Deutschland und den angrenzenden Staaten, wobei Österreich als Bestandteil von Deutschland und die Slaven als destruktives Element wahrgenommen wurden.1 1925 bezeichnete der tschechoslowakische Philosoph Tomáš Garrigue Masaryk als Mitteleuropa die kleinen Staaten zwischen Deutschland und Russland.2 Daran anschließend äußerte Milan Kundera in seinem 1984 veröffentlichten Essay Der entführte Westen, dass Russland Mitteleuropa dem Westen „entwendet“ habe.3 Von 1986 stammt ein Konzept, in dem die Österreicher Emil Brix und Edward Busek die kleinen, überwiegend an der Donau liegenden Staaten (neben einigen skandinavischen) bis hin zum Balkan mit Wien im Zentrum als Mitteleuropa bezeichnen.4 Dieses Konzept vertritt auch Robert Menasse bis heute in Essays und Diskussionen. Was unterscheidet die Staaten Mitteleuropas von denen Westeuropas? Es sind Staaten, die im Laufe ihrer Geschichte oftmals unter der Hegemonie fremder, größerer Mächte standen. Dies hatte zur Folge, dass sie, wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten, stark auf eine eigene Identität pochten. Diese Tendenz kam in Mitteleuropa Mitte des 19. Jahrhunderts auf, als man während der Revolutionen von 1848 erstmals staatliche Souveränität zu erlangen suchte. Aber nicht allen Staaten gelang es, sich politisch unabhängig zu machen. In diesen Staaten übernahmen deswegen oftmals die Bereiche Literatur und Bildung quasi-staatliche Funktionen, indem sie eine nationale Identität zu formulieren und fördern suchten. Nicht zuletzt aus diesem Grund sind die mitteleuropäischen Literaturen und Kulturen durch viele gemeinsame Themen und Motive verbunden, auch

1 Naumann, Friedrich: Mitteleuropa. Berlin 1915. 2 Masaryk, Tomáš Garrigue: Světová revoluce. Praha 1925. 3 Kundera, Milan: Der entführte Westen oder: Die Tragödie Mitteleuropas. In: Busek, Emil / Wilfinger, Gerhard (Hg.): Aufbruch nach Mitteleuropa. Rekonstruktion eines versunkenen Kontinents. Wien 1986, S. 133–144. 4 Vgl. Busek, Erhard / Brix, Emil: Projekt Mitteleuropa. Wien 1986. DOI 10.1515/9783110541854-029

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wenn sie andererseits in verschiedenen geschichtlichen Kontexten und Abhängigkeiten standen und stehen. Eine zentrale Frage, welche das Selbstverständnis dieser Literaturen und Kulturen im 20. Jahrhundert betrifft, fokussiert das von Kundera skizzierte Problem, ob Mitteleuropa eher zum Westen oder zum Osten zählen sei. Es ist eine Frage, die sich nach 1945 scheinbar von selbst beantwortete, da zu dieser Zeit die Vorstellung von einer Teilung der Welt in die Blöcke West und Ost vorherrschte. So wurde auch Mitteleuropa, trotz enger historischer, kultureller und literarischer Verbindungen zwischen den Staaten, geteilt. Hinzu kam eine ideologische Spaltung, da im „Osten“ weiterhin das politische System des Totalitarismus vorherrschte, während im „Westen“ ein demokratischer Neuanfang gemacht wurde. Die politische Struktur, die in den totalitären Regimen des sogenannten Ostblocks zu dieser Zeit vorherrschte, lässt sich mit Blick auf die Arbeiten von Adam Michnik5 und Hannah Arendt6 wie folgt skizzieren: Grundlegend für die Manipulation der Menschen ist die Forderung der Regierungen nach grenzloser Loyalität. Gezielt wird auf den Einzelnen, für den die Einheitspartei als universaler Sinngeber Alpha und Omega sein soll. Um diese Forderung durchzusetzen, versucht man ihn von seiner Familie oder anderweitigen menschlichen Beziehungen zu isolieren. In hierarchischer Hinsicht lässt sich das totalitäre Regime als Pyramide mit einem Führer wie Hitler oder Stalin an der Spitze beschreiben, der systematisch Gewalt ausübt und durch ideologische Infiltrierung die Menschen manipulieren lässt. Innerhalb der großen Pyramide gibt es weitere mit kleinen „Hitlern“ und „Stalins“ an der Spitze, die ebenfalls Loyalität und Gehorsam verlangen. Fehlt die Zustimmung Einzelner zu diesem System oder beharren sie gar auf ihrer Freiheit, macht man sie gefügig durch immer weiter sich steigernde Strafen: vom Abhören über das Scherbengericht, Berufsverbot und Gefängnis bis hin zur Todesstrafe. Eine Wende in diesem System, d. h. das Ende des Totalitarismus stalinistischer Prägung, vollzog sich auf dem 20. Jahrestag der KPdSU am 25. Februar 1956, als der damalige Erste Sekretär des Zentralkommitees, Nikita Chruschtschow, in einer Rede die Verbrechen Stalins demaskierte und damit eine grundlegende

5 Michnik, Adam: Zlosť a hanba, smútok a radosť. Bratislava 2006. 6 Den Begriff der „totalen Herrschaft“ bearbeitete Hannah Arendt. Vier Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg hat sie die erste Version der Handschrift Der Ursprung des Totalitarismus veröffentlicht. In ihrem Hauptwerk erkannte sie in der Existenz von Massen und Ideologien wichtige Voraussetzungen des Totalitarismus. Den Begriff „totaler Herrschaft“ verwendet sie für politische Regime, wenn sie mit der Regierung eines Führers verbunden sind und wenn der Führer an der Spitze der gesellschaftlich-politischen Pyramide steht. Hier wurde die tschechische Übersetzung herangezogen: Arendtová, Hannah: Původ totalitarismu I–III. Praha 1996, S. 679.



Die Politik des Ereignisses 

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Neuorientierung in der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik des sogenannten Ostblocks initiierte. Seither sprach man vom sozialistischen Humanismus. Die bis dahin herrschende literarische Doktrin des sozialistischen Realismus muss somit auch als Bestandteil des von Stalin inaugurierten Totalitarismus verstanden werden.

2 Die Zeit der sowjetischen Hegemonie über die Tschechoslowakei bildet den Rahmen für die hier zu untersuchenden Formen dissidentischen Schreibens in den 1950er Jahren und im Kontext des Jahres 1968. Oppositionelle Autoren entwickelten in diesem Rahmen sowohl textuelle Verfahren als auch Praktiken des Umgangs mit ihren Texten, die in hohem Maße geeignet waren, Aufmerksamkeit zu erregen. Ihre Arbeiten gewannen deshalb immer wieder eine forcierte Ereignishaftigkeit. Mit besonderer Deutlichkeit lässt sich dies am Werk des slowakischen Autors Dominik Tatarka erkennen, der im Folgenden im Zentrum der Überlegungen stehen soll. Seitenblicke auf den polnischen Schriftsteller Czesław Miłosz sowie den tschechischen Dichter Pavel Kohout sollen die Befunde ergänzen. Politik und Kultur der sogenannten Ostblockstaaten wurden nach dem Zweiten Weltkrieg weitestgehend durch die Richtlinien des Zentralkomitees der KPdSU in Moskau bestimmt. Nach der „volksdemokratischen“ Beschlagnahmung des Privateigentums in der Tschechoslowakei im Februar 1948 zentralisierte die kommunistische Einheitspartei die Macht binnen kurzer Zeit. Die Auswirkungen auf den Bereich der Kultur waren erheblich: Die Intellektuellen konnten sich entweder an die Vorgaben und Bestimmungen halten und so weiter als Kulturschaffende tätig sein, oder aber sie ablehnen, was dazu führte, dass sie über Jahre „kaltgestellt“ und totgeschwiegen wurden. Teilweise „entledigte“ man sich auch unbequemer, prominenter Bürger durch Justizmorde, so an ehemaligen Vorkriegskommunisten sowie an elitären Intellektuellen oder Antifaschisten. Zugleich begann auch der Wiederaufbau des durch den Zweiten Weltkrieg zerstörten Landes, und diese Aufbauarbeit begeisterte die Jugend und die Studenten, so dass die von der sozialistischen Regierung begangenen Ungerechtigkeiten und Verbrechen zunächst kaschiert werden konnten.7

7 Eine ähnliche Situation schildert Karl Schlögel in seinem Buch über Russland: Schlögel, Karl: Terror und Traum [Moskau 1937]. München 2008.

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Auch in der Slowakei wurden die Literatur sowie die anderen Bereiche der Kultur direkt vom Zentralkomitee der KP gesteuert. Der Schriftsteller wurde als „Ingenieur der menschlichen Seele“ angesehen. Jedes Werk musste gemäß der Doktrin des sozialistischen Realismus verfasst werden, d.  h. sich an die Triade „Parteilinie, Volkstum und Idee“ halten. Viele Schriftsteller beugten sich den strikten Vorgaben, damit ihre Werke überhaupt erscheinen konnten. Dies gilt auch für die frühen Werke von Dominik Tatarka, etwa Prvý a druhý úder (Erster und zweiter Schlag, 1950) oder Družné letá (Gesellige Jahre, 1954). 1952 spannte man Schriftsteller dafür ein, die öffentliche Meinung gegen den sogenannten „Nationalbourgeois“ zu mobilisieren, indem sie genötigt wurden, sich entsprechend der Parteilinie in Zeitungen zu äußern. Auch Tatarka, der später zur Opposition gehören sollte, beteiligte sich daran, ebenso wie sein Schriftstellerkollege Ladislav Mňačko und der Schauspieler Andrej Bagar. Das zu diesem Zweck verfasste Pamphlet Prudšie nenávidieť nepriateľa – vrúcnejšie milovať stranu (Eifriger den Feind zu hassen – heißer die eigene Partei zu lieben)8 erwähnte Tatarka in den folgenden Jahren nur einziges Mal, als er sich dafür mit dem Hinweis rechtfertigte, dass es damals um seine Existenz ging: Man hätte ihn sonst vernichtet. Ebenfalls Anfang der 1950er Jahre beginnt bereits die erste Phase der Dissidentenbewegung und der „inneren Emigration“, zu der aber Tatarka noch nicht gehörte.9 Die Dissidentenbewegung ist in der Entwicklung der Kulturen und Literaturen Mitteleuropas ein geschichtlich-kulturelles Ereignis, das in bestimmten einzelnen Texten – z. B. Samisdats, also im Selbstverlag publizierten Schriften – zum Ausdruck gekommen ist und die nächste Entwicklung stark geprägt hat. Diese Rolle konnte der Bewegung nicht zuletzt deshalb zukommen, weil viele der von ihr produzierten Texte selbst ereignishafte Qualitäten entwickelten. In diesen ging es weniger um Strukturbrüche rein ästhetischer Art als vielmehr darum, in politischer Absicht den herrschenden autoritativen Diskurs zu unterbrechen bzw. zu subvertieren. Sie zielten nicht einfach auf literarische Neuerungen in Bezug

8 Pravda 26. November 1952, Jhrg. XXXIII, Nr. 286. Siehe das Original in der Beilage Nr. 5 zur Monographie Bátorová, Mária: Dominik Tatarka – slovenský Don Quijote. Bratislava 2012, S. 277. 9 Der Dichter Pavol Strauss und der der Partei angehörende Romanautor Jozef Hnitka sowie mehrere Autoren des späteren katholischen Untergrunds wie Jan Silan gehörten zur ersten Welle der slowakischen Dissidentenbewegung. Der Begriff des Dissidenten als Terminus für die „andersdenkende“ Schicht der Bevölkerung, darunter Intellektuelle und Künstler, entsteht in dieser Zeit. Abgesehen von der Ausnahme der Jahre 1968–1970, in denen sie kleine Beiträge für den Rundfunk oder Zeitschriften publizierten, konnten die erwähnten Schriftsteller entweder gar nicht oder nur im Ausland publizieren (Strauss in Italien, Hnitka in Kanada).



Die Politik des Ereignisses 

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auf Themen oder Formen, sondern – mit einer Unterscheidung Bachtins – auf die dialogische Unterwanderung der monologischen Ideologie, eine Subversion etwa in Gestalt der Satire, der aufgrund ihrer inneren Doppelbödigkeit immer schon eine polyphone Struktur eignet. Nach dem Tod Stalins und der Rede Chruschtschows begann eine Tauwetterperiode. Die politische Lage in Russland und in den anderen Staaten Mittel- und Osteuropas entspannte sich, und es ergaben sich für zwei Jahrzehnte gewisse Freiheiten. Dort, wo man die Freiheiten zu sehr ausdehnte und die politische Situation sich anspannte, wie dies 1956 in Ungarn der Fall war, griff die Sowjetunion ein. In anderen Staaten verfuhr man gewissermaßen zweigleisig: Einerseits wurde Literatur im Geiste des sozialistischen Realismus produziert, andererseits erschienen Texte, die sich davon entfernten. Bereits 1953 publizierte der polnische Emigrant Czesław Miłosz in London in englischer Sprache den Essay The Captive Mind (Das versklavte Bewusstsein), womit er einen neuen kritischen Ton anschlug. In der tschechischen Literatur war es der dem Sozialismus verpflichtete junge Dichter Pavel Kohout, der als erster in diese neue Richtung ging: Der Prozess der Befreiung der Tschechischen Literatur von der stalinistischen Ideologie beginnt 1954 mit einer heftigen Diskussion über Kohouts Lyrik, die ihn zum Idol seiner Generation gemacht hat. Dann schreibt er das Theaterstück Die Septembernächte. Das Stück wird gedruckt und sogar ein Jahr vor dem XX. Parteitag der KPdSU […] gespielt. Kohout hat den Sprung in die neue Zeit geschafft – irritierend kurios.10

In der Slowakei begann der Befreiungsprozess in der Literatur 1955 mit dem Artikel Slovo k súčasníkom o literatúre (Ein Wort zu den Zeitgenossen über die Literatur) von Dominik Tatarka, der in der Zeitschrift Kultúrny život (Das Kulturleben) veröffentlicht wurde.11 Ähnlich den Texten von Miłosz und Kohout schildert Tatarka darin die manipulativen Praktiken unter dem Joch der sowjetischen Hegemonie, wobei er besonders betont, dass, im Unterschied zu den allgegenwärtigen Forderungen nach Kollektivismus in der Kunst, für deren ästhetische Qualität gerade individuelle Andersartigkeit erforderlich sei. 1956 veröffentlichte Tatarka, ebenfalls in Kultúrny život dann den wichtigen satirischen Traktat Démon súhlasu (Dämon der Zustimmung), der 1963 in Buch-

10 Serke, Jürgen: Die verbannten Dichter. Berichte und Bilder von einer neuen Vertreibung. Hamburg 1982, S. 99ff.; vgl. ebd., S. 104. 11 Tatarka, Dominik: Slovo k súčasníkom o literatúre. In: Kultúrny život č. 47, Ročník X, 1955, S. 6–7.

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form erschien.12 Der Text liefert eine schonungslose Analyse der „roten Totalität“. Dabei zeigt Tatarka nicht nur die Schizophrenie der gesamten slowakischen Gesellschaft, sondern stellt auch die Praktiken des sozialistischen Systems und dessen Manipulation der Kultur, insbesondere der Literatur, dar. Eine Veranlassung für die Niederschrift von Démon súhlasu war zweifellos das schlechte Gewissen Tatarkas, das daraus resultierte, dass er sich in den 1950er Jahren für Zwecke der Propaganda hatte einspannen lassen. In diesem Sinne hat Václav Havel in seiner Einleitung das Werk als „Schrei“ bezeichnet. Am Beginn des Traktats findet sich die Metapher eines Kopfes, aus dem das Gehirn herausgebrochen ist. Dieses Bild dient als Ausgangspunkt, um die realen Gegebenheiten der zeitgenössischen Politik zu beschreiben, angesichts derer „der Kopf brummt“ (S. 57).13 Der Mensch erlebe äußerst drastische Dinge, diese ließen „das Gehirn aus dem Kopf herausspringen“, so dass der Kopf „platze“ und der Mensch sich gleichsam „hirnlos“ verhalte. Mit diesem Bildkomplex korrespondiert auch der erste Satz des Textes: „Ich bin zu Bruch gegangen“. Er verweist nicht nur auf eine Flugzeugkatastrophe (zerschmetterter Kopf, Tod, Obduktionskommission usw.), sondern im metaphorischen Sinne auch auf das Scheitern der eigenen Existenz. Eine auf Retrospektive und Assoziation basierende Struktur ist für Tatarkas Texte typisch. In diesem Fall ist die Rückschau sogar mehrstufig und mehrschichtig. Das Sujet des Textes (die Flüge zu politischen Sitzungen und Tagungen, der Diskussionsbeitrag über die Wahrheit des politischen Systems, die Flucht, der Besuch bei einer Freundin, die Revolution der Jugend etc.) ist nur scheinbar erfunden. Indem diese inhaltlichen Elemente strukturell in den narrativen Rahmen der Flugzeugkatastrophe eingebunden werden, bei der namhafte kommunistische Politiker ums Leben kommen, werden tatsächlich die Mechanismen des Regimes geschildert: die Heuchelei und Schizophrenie der Beteiligten und deren Überheblichkeit. Der Text dreht sich um zwei Figuren: zum einen um den Schriftsteller Bartolomej Boleráz (etymologisch verweist dieser Name auf „Schmerz“, zugleich ist er die Bezeichnung für ein Heilkraut), zum anderen um seinen tyrannischen Vorgesetzten Valizlosť Mataj (auch dieser Name hat Symbolkraft: der Vorname enthält das Wort „Übel“ bzw. „Wut“, der Nachname erinnert an das Verb „mátať“: spuken)14 und dessen Kollaboration mit dem Regime. Ihre Beziehung ist von Hassliebe geprägt.

12 Die späteren deutschen Übersetzungen des slowakischen Textes rekurrieren auf folgende Ausgabe: Tatarka, Dominik: Démon súhlasu. Bratislava 1991. 13 Alle Übersetzungen aus den slowakischen Texten, die im Folgenden zitiert werden, stammen von mir (M. B.). Die Seitenzahlen im Text verweisen auf die slowakischen Ausgaben der Texte. 14 Die Namen der Figuren sind leicht übertragbar auf konkrete Namen von damaligen realen Politikern und Schriftstellern.



Die Politik des Ereignisses 

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Das Bild einer allgemeinen, kollektiven, entstellten Wahrheit, die im Namen eines Unbekannten proklamiert wird, zeichnet der Autor am Beispiel von Valizlosť Mataj, wenn dieser die Rednertribüne besteigt. Boleráz kommentiert diese Szene folgendermaßen: Wenn wir privat miteinander reden, verstehen wir uns als gleichwertig und auf Augenhöhe. Aber wenn Mataj über mir steht, am Tisch des Vorsitzenden oder auf einer Tagungs- oder Konferenztribüne, dann wird unsere Beziehung unterbrochen. Mataj dreht sich wie auf einer unsichtbaren Achse, erstarrt in einer unbegreiflichen Pose. Mataj geht von einer vorgegebenen These aus, die ihm von anderen und immer wieder anderen Personen eingegeben wird. Mataj durchdringt diese These sehr luzide, entwickelt sie weiter und denkt sie zu Ende, radikal und schonungslos. […] Aus Bescheidenheit oder Gehorsamkeit überprüft er die Richtigkeit der vorgegebenen These nicht. […] Eine Haltung einzunehmen und sich um die eigene Achse zu drehen, wurde bei ihm zu einem unbewussten, konditionierten Reflex. (S. 43f.)

Tatarka schildert nicht nur die Zeit des Personenkultes in den 1950er Jahren, die mit diesem Wort kaum schon angemessen beschrieben ist, und Menschen, die damals ihre eigene Persönlichkeit verloren haben, etwa solche, die in ihrer Forschungstätigkeit resignieren wie der Akademiker auf S. 54. Er verweist über den konkreten Zeitbezug hinaus auch auf eine institutionalisierte Führung, wie es sie bis heute gibt, eine Führung, die eine Haltung und ein Denken produziert, welche das Leben zur Erstarrung bringen. Die Schlüsselfrage, um die sich der Essay dreht, lautet: Wer wird für den Schaden, der durch ein solches System verursacht wird, die Verantwortung tragen? Der Zustimmung einflüsternde Dämon ist ständig anwesend. Die Zustimmung unterstützt das erstarrte Denken und immer gleiche Handeln der Menschen und führt letztendlich zu Apathie und Lethargie gegenüber öffentlichen Angelegenheiten. Die im Vorhinein erfolgte Zustimmung unterminiert die bürgerlichen Grundrechte und die Demokratie. Obwohl Boleráz innerlich protestiert, bleibt er immer an der Seite von Mataj. Sein Schweigen und Nichtstun bedeuten letztlich Zustimmung: Als ich mir die Punkte des Programms angeschaut habe, habe ich mich gefragt: Warum soll ich hingehen? Fünfmal die Hand heben (so viele Programmpunkte waren es), fünfmal abstimmen über Dinge, die ich sowieso nicht ändern kann, das kann ja auch jemand anderes für mich tun. Wir haben es so unglaublich gut durchorganisiert, die Organisatoren haben das Programm so minutiös vorbereitet, dass du mit ihm nur einverstanden sein kannst. (S. 18)

Diesem System stellt Tatarka zwei andere Modelle der Existenz entgegen. Das erste skizziert er als „Anstalt“, in die Boleráz nach seiner Rede gebracht wird – eine

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Rede, auf die „eiserne Stille“ folgt und nach der es niemand wagt, sich seiner Meinung anzuschließen. Aus der Sitzung flüchtet er auf einen Turm und springt von diesem in das Rettungstuch der Feuerwehrleute, wobei er ruft: „Ich bin ein Mensch, Mensch. Ich bin ein Charakter. Charakter!“ (S. 67). In dieser Anstalt, so der Kommentar des Erzählers, vervollständigen wir die Menschen durch das Gegenteil von dem, was ihnen draußen fehlt. Optimismus wird durch Traurigkeit ergänzt, wir vereinigen die Menschen, die entzweit sind. In unserer Anstalt heilen wir die höchstakute Krankheit unserer Zeit – den Zwiespalt, den man umgangssprachlich auch Charakterlosigkeit oder Heuchelei nennt. (S. 68)

Das zweite Modell ist das einer Existenz in „Natürlichkeit“ im damals aktuellen Sinn Jan Patočkas. Dieses wird von Boleráz verkörpert, der als einziger fähig ist, zu reflektieren und das Ergebnis seiner Reflexionen zu kommunizieren. Er vermag zuzugeben, dass er unter verzerrten Bedingungen und in entstellten Beziehungen lebt und alles andere als glücklich ist. „Mit einem Wort, wir wollen voneinander – er von mir und ich von ihm – nur eine Kleinigkeit, nur dass wir unsere Natürlichkeit ändern“ (S. 42). Oder: „Die Wahrheit ist das – kann nur das sein, mit dessen Zustimmung unsere Natürlichkeit wächst und sich entwickelt. Und hieraus wiederum wachsen und entwickeln sich die Stämme, die kleinen und die kleinsten Völker“ (S. 82). Hierzu gehört auch die kurze Sentenz: „Als ich noch ein normaler Mensch war, durchströmte dieser Fluss meine Seele wie ein Lied, verband mir alle, die ich geliebt habe, mit den schönsten Jahren meines Lebens“ (S. 84). Die beiden alternativen Modelle werden nicht ohne Ironie und parodistische Absicht behandelt. Die Metapher der „roten Totalität“ hat in Démon súhlasu die Struktur der surrealistischen Bilder von Salvador Dalí: So fliegt etwa der Kopf eines Toten mit herausgeflossenem Gehirn hin und her; zwei leidenschaftlich diskutierende Personen sind unter einem Mantel verdeckt; auf der Tribüne steht jemand, der sich ähnlich den Augen eines Chamäleons zu allen Seiten zu drehen vermag; von einem Stadtturm springt eine andere Person mit dem Ruf, dass sie ein Mensch und Charakter sei; irgendwo hinter dem Fenster steht eine verlassene Frauengestalt; ein Hubschrauber hat sich mit der Spitze zuerst in die schwarze Erde hineingebohrt usw. Trotz der surrealen Komposition der literarischen Bilder handelt es sich gleichwohl um eine realitätsnahe Darstellung des Kummers eines Intellektuellen, der unter dem Diktat der Ideologie leben muss. Der Text beschreibt einen Menschen, der nicht mehr weitermachen kann. Seine Physiognomie ähnelt dem expressiven Ausdruck im Gemälde Der Schrei von Edward Munch, worauf indirekt auch die Worte Václav Havels in der Einleitung zu Tatarkas Werk hinwei-



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sen. Démon súhlasu zeigt „einen Verrückten, einen Verräter, eine gedemütigte, sich abmühende und gescheiterte Person“ (S. 63). Es sind Menschen, die von der Macht wie Tiere gehetzt werden, ähnlich den Karikaturen auf den Capriccios von Francesco Goya. Sie sind eine zugespitzte Darstellung der modernen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts unter den Bedingungen eines restriktiven politischen Systems. In engem Zusammenhang mit der nicht-linearen Struktur von Dämon der Zustimmung stehen nicht nur die Retrospektive und die Hyperbel, sondern auch das Paradox und der semantische Gegensatz. Dadurch treten die Absurdität der geschilderten Welt sowie das Parodistische und Ironische des Textes in den Vordergrund. Der Text enthält zahlreiche onomatopoetische Ausdrücke und hyperbolische Verbindungen im Zusammenhang mit der Beziehung Held – Clown (S.  29). Man findet Formulierungen wie: „entkräftet durch die gänzlich zum Prinzip gewordene Gewalt“ (S. 46) oder „wir treiben uns voran in die Richtung, die wir gerade eben sehen, einmal links, und gleich wieder links“ (S. 47). Oder: „die staatliche volksdemokratische Lüge“ (S. 52), „der zustimmende Dämon der Nicht-Zustimmung“ und ein anderes Mal „der nicht-zustimmende Dämon der Zustimmung“ (S. 57). Es heißt: „Die Zustimmung ist ein langer Weg zur Erkenntnis, doch noch länger, ja fast unendlich ist der Weg des Schweigens“ (S. 64). Oder: „die gegenseitige Schwäche verbindet uns auf das Stärkste“ (S. 36). Und schließlich: „Sie trinken aus dem Bedürfnis heraus, wenigstens irgendwann einmal die Wahrheit sagen zu können“ (S. 37). Dem „offiziellen“ Leben stellt Tatarka ein Beispiel aus dem privaten Bereich gegenüber, wobei er die psychische Gewalt des Terrors anhand der Beziehungen in einer Familie verdeutlicht: Meine Nächsten haben es nicht ertragen, mit einem Verräter zusammenzuleben. Mit einem Verräter, der an seinem Verrat wie an einem Prinzip festhielt. Sie suchten und fanden eine andere Gesellschaft, eine Gesellschaft von Menschen, die dieser Verrat auf die eine oder andere Weise getroffen hatte. Ohne dass ich sagen kann wie, traten sie mit den Verrätern in einen öffentlichen Prozess ein. Und sie wurden verurteilt. Und ich verlangte im Namen meiner heiligen Überzeugung und Prinzipien für sie die höchste Strafe, ich verlangte für meine Frau und meinen Sohn die Todesstrafe. Nach dieser meiner Tat ist von mir selbst nur ein hässliches Prinzip geblieben: sich auf andere verlassen und zustimmen. (S. 10)

Tatarka erschuf in Dämon der Zustimmung eine Karikatur des unfreiwilligen Gehorsams. Die Technik der satirisch-ironischen Übertreibung und gleichzeitigen surrealen Verfremdung ließ den Text in der damaligen kulturellen Öffentlichkeit der Tschechoslowakischen Republik zu einem literarisch-politischen Ereignis werden. Dabei gründete das historische Wirkungspotential des Textes vor allem in seiner ereignishaften Schreibweise, die mit den Erwartungen des sozialisti-

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schen Realismus deutlich brach. Indem er auf satirische Weise die Mechanismen der politischen Macht enthüllte, gewann der Text eine subversive Qualität. Tatarka gehört zu den sogenannten Dichtern des Sujets. Nach Oscar Cepan sind damit Prosaiker gemeint, die viele Figuren verwenden, wie sie für Poesie typisch sind, wodurch der Inhalt schwer verständlich wird.15 Dieser Figurengebrauch kann sogar in Werken festgestellt werden, die unter Maßgabe des sozialistischen Realismus geschrieben wurden, auch wenn dieses Verfahren dort vom Autor stärker kontrolliert und eingeschränkt wurde. Tatarka zog daher Vorwürfe von Seiten der kommunistischen Behörden auf sich, und es drohten ihm Strafen sowie der Ausschluss aus der Partei und dem Schriftstellerverband. Es ist kein Zufall, dass die meisten der erwähnten ‚dissidenten‘ Texte Essays sind, bietet sich doch das Genre des Essays in besonderer Weise an, die politischen Einstellungen der Autoren zu den damaligen Entwicklungen zu kommunizieren. Dies geschieht nicht zuletzt durch die Form des Essays selbst, welche Aktualität, persönliche Einstellung, Subjektivität (Ich-Form) und Expressivität der Äußerung vereint, wobei einerseits die Authentizität der Aussagen, andererseits aber auch das Ereignishafte des Textes, auch und gerade mit Blick auf seine politischen Aussagen, unterstrichen wird.16 Tatarka wie Miłosz haben in ihren Essays auch eigene Erfahrungen mit dem sozialistischen System geschildert.

3 Am Vorabend der zweiten Phase der Dissidentenbewegung veröffentlichte Tatarka 1968 einen zweiten Text, der ebenfalls zum Ereignis wurde. Der Text entstand unter gänzlich anderen Bedingungen, und auch die literarischen Bezüge waren andere. Sie bestanden weniger in typologischen Beziehungen zu zeitgenössischen Autoren, sondern vor allem in genetischen Verbindungen zu Texten von Aurelius Augustinus und Albert Camus. Im Mai 1968, als Tatarka den Essay Obec Božia (Civitas Dei oder Die Gemeinde Gottes) schrieb,17 gab es eine Zeit der

15 Čepan, Oscar: Básnici sujetu [Dichter des Sujets]. In: Dejiny slovenskej literatúry V, Veda: Bratislava 1984, S. 742. 16 Zum Essay als ereignishafte Schreibweise vgl. auch die Ausführungen von Petra Gehring in diesem Band. 17 Die Handschrift des Essays Die Gemeinde Gottes befindet sich in dem nicht bearbeiteten Nachlass von Tatarka, den er selbst an das Archiv Památník národního písemnictví in Prag verkauft hat, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Zum ersten Mal vollständig zitiert in der Beilage zu Bátorová: Dominik Tatarka. In der Version, die am 7. 5. 1968 auf Seite 3 der sozialisti-



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Hoffnung. Es schien, als hätte die wirtschaftliche und – in deren Folge – die ideologische Krise zu politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzungen geführt. In diese Zeit fällt das Scheitern des Fünfjahresplans 1961–1965. Zum anderen trug die Revision der politischen (Schau-)Prozesse der Jahre 1949–1954 zur Entspannung bei, denn die Verurteilten waren in den Jahren 1963 und 1964 rehabilitiert worden. Als Reaktion auf den eingeschränkten slowakischen Einfluss in den zentralen Regierungsorganen der Tschechoslowakischen Republik vollzog sich zu dieser Zeit in der Slowakei eine nationale Emanzipation. 1960 wurde die Funktion des Volksbeauftragten aufgehoben, der die staatliche Souveränität der Slowakei verletzt hatte. Der Zwiespalt innerhalb der Kommunistischen Partei führte im Januar 1968 zur Wahl des Slowaken Alexander Dubček zum ersten Sekretär der Partei. Hierdurch kam es zu einer Demokratisierung innerhalb des politischen Systems. Hinzu kam, dass Dubček von der Bevölkerung stark unterstützt wurde.18 In Obec Božia heißt es über die „totalitäre Pyramide“: Bis jetzt herrschten in dieser Republik die Sekretäre, die Orts-, Bezirks- und Kreissekretäre, die wichtigsten Wächter des staatlichen Geheimnisses, mit dem Hauptsekretär und Präsidenten, dem wichtigsten Wächter der ideologischen und säkularen Macht und des staatlichen Geheimnisses, an der Spitze dieser Pyramide. Diese Hierarchie führte die Republik in einen Zustand der Armut und Passivität. (Handschrift, S. 7)

Diese Charakteristika betreffen den Kommunismus.19 Tatarka setzt sie in Bezug zu den beiden Weltkriegen, dem Nazismus, den humanitären Katastrophen in Armenien, Biafra und Rwanda, den Genoziden an Armeniern, Juden und Zigeunern sowie weiteren Tragödien, die im kollektiven Gedächtnis der Menschheit präsent bleiben.20

schen Zeitung Smena erschien, trug der Artikel den Titel Obec božia – obec človečia (Gemeinde Gottes – Gemeinde des Menschen). 18 Siehe hierzu: Pešek, Jan / Barnovský, Michal: Aktéri jednej éry na Slovensku 1948–1989. Jan Pešek a kolektív. Vydavateľstvo Michala Vaška. Prešov 2003, S. 15. 19 Siehe hierzu: Courtois, Stéphane / Werth, Nicolas / Panné, Jean-Louis / Paczkowski, Andrzej / Bartošek, Karel / Marcolin, Jean-Louis: Čierna kniha komunizmu. Zločiny, teror, represálie. Vydavateľstvo Agora 1999, S.  13ff. Courtois unterscheidet streng zwischen den Ideen des Kommunismus, die sehr alt sind, und der Praxis, welche den Kommunismus institutionalisierte. 20 Zu anderen wichtigen Motiven wie z. B. Angst, Geheimnis, Nähe, gute ­zwischenmenschliche Beziehungen und Freiheit vgl. Bátorová, Mária: Dominik Tatarka: the slovak Don Quixote (Freedom and dreams). Frankfurt a. M. u. a. 2016, S. 161–177 (Kap. 9: Politische Systeme des 20. Jahrhunderts und Die Gemeinde Gottes).

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Der Beginn von Die Gemeinde Gottes wirkt theatralisch, er erinnert an die Rede von Figuren aus griechischen Tragödien, die vor ihrem Tod zur Menge sprechen:21 Ich stürze hinab, in meinen persönlichen Untergang, mit der Freiheit eines frei fallenden fünfzigjährigen Steines. Vor einem endgültigen Eintauchen in den See, unter dessen Wasserfläche, bot sich mir noch einmal die Möglichkeit, laut und öffentlich meinen Traum und mein Ideal eines gesellschaftlichen Systems für meine Republik zu äußern: Es sollte eine innerlich freie und gerechte Republik sein, nicht ein entmenschlichter staatlicher Mechanismus, der den Menschen zermalmt. (Handschrift, S. 1)

Das Drama des Autors besteht in der Spannung zwischen der Prophezeiung des eigenen Untergangs und dem Mut, dessen ungeachtet nicht zu schweigen. Schon die Artikulation des Traums und der Vision, die der politischen Wirklichkeit konträr entgegengesetzt sind, würde für die Bestrafung des Autors ausreichen. Und Tatarka geht noch weiter: Er spricht auch über die Strafe, ja, setzt sie voraus, d. h. er begeht bewusst „sozialen Selbstmord“. Er begibt sich auf den Weg, der am Galgen endet. Später schreibt er an seine Freundin: „wahrhaftig ist auch der Galgen, an den ich gehängt wurde“.22 Das Ereignishafte ist in Die Gemeinde Gottes daher noch auf andere Weise präsent als in Der Dämon der Zustimmung. Hier liegt diese Qualität nicht allein in der Aufmerksamkeit, die der Text aufgrund seiner ungewohnten Schreibweise bei der Veröffentlichung produziert. Der Text referenzialisiert sich vielmehr dezidiert auf die Person des Autors hin, so dass er dessen Schicksal mit bestimmt. Die textuelle Ereignishaftigkeit von Die Gemeinde Gottes manifestiert sich in einem Akt des politischen und persönlichen Widerstandes, dessen Folgen bewusst in Kauf genommen werden. Nur wenige Monate nach seiner Prophezeiung spricht Tatarka im August 1968, also nach dem Einmarsch der Soldaten des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei, bei einer Demonstration auf dem Hauptplatz von Bratislava zu Studenten, die ihn auf ihren Händen hoch über ihren Köpfen durch die Menge tragen. Es ist das letzte Mal, dass der Autor in der Öffentlichkeit auftritt. Anschließend gibt er alle staatlichen Preise zurück und bleibt für neunzehn Jahre in der „inneren Emigration“ in Bratislava, ohne Reisepass und ohne Rechte. 1977 unterschreibt er als zweiter, gleich hinter Václav Havel, die Charta 77. Tatarka ist im Prager Frühling 1968 die Stimme, die den Rhythmus der gesellschaftlichen Prozesse beeinflusst und auf die vor allem die junge Gene-

21 Vgl. Kerényi, Karl: Wege und Weggenossen. München / Wien 1985, S. 98f. 22 Tatarka, Dominik: Navrávačky. Köln 1988, S. 7.



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ration hört. Wie konnte Tatarka, als er im Mai 1968 den Essay Obec Božia publizierte, in dieser Atmosphäre der Hoffnung auf demokratische Veränderungen seinen eigenen Untergang voraussagen? Warum hat er das alles in dieser Weise geschildert, obwohl die Folgen absehbar waren? Vielleicht war es die Nähe der Studenten, die ihn vergötterten: Wir möchten direkt und offen sagen: In der Slowakei gibt es keine andere Persönlichkeit, der wir mit so großem Ehrgefühl und mit ebensolchem Respekt zuhören würden. Es gibt keine andere Persönlichkeit, deren Bekenntnis wir, als wäre es unser eigenes, so uneingeschränkt annehmen, wie das Ihre […]. Fasziniert verfolgen wir den Zenit Ihrer Lebenswallfahrt: Dominik, Wunder und Fruchtbarkeit dieser Tage, in denen wir mit jedem Gefühl bis in das Mark gefühlt haben, was für einen ausdrucksvollen Geschmack die Freiheit hat […].23

Obec Božia fordert die bürgerlichen Grundrechte ein, d.  h. die Akzeptanz des Rechts der Menschen auf Freiheit, und zwar unabhängig von Rasse, Religion oder politischer Überzeugung. Das alles ist in vielerlei Hinsicht mit dem christlichen Universalismus identisch. Ein Unterschied besteht jedoch darin, dass sich der Universalismus des Christentums von vornherein auf eine transzendente Instanz bezieht und von dorther legitimiert. Diesen Bezug kennen die bürgerlichen Freiheitsrechte nicht. Gleichwohl bereitete auch die christliche Dissidentenbewegung in der Slowakei, die in der kommunistischen Ära mehr oder weniger blutige Opfer im Kampf für die bürgerliche Freiheit brachte, zusammen mit anderen Kräften den Weg für die heutige Demokratie. Die Gemeinde Gottes wurde in der Atmosphäre der Freiheit des Jahres 68 geschrieben und wurde zu einem Ereignis für die junge Generation. Ereignisqualität gewann der Essay vielleicht weniger durch eine verfremdende Schreibweise als vielmehr durch seine inhaltlichen Forderungen und die öffentlichen Auftritte des Autors im Zusammenhang mit ihm. Gerade dadurch wuchs dem Text eine einschneidende Bedeutung zu. Die Werke an der Grenze zwischen politischer Publizistik und Literatur stellen bei Tatarka, nicht anders als bei Miłosz oder Kohout, nur einen Teil der schöpferischen Arbeit dar. Neben diesen politisch engagierten Arbeiten behaupten diejenigen, die primär aufgrund ihrer ästhetischen Qualität wirken, ihren eigenen Wert. Doch haben die ersteren ihre besondere Bedeutung zweifellos darin, dass sie für eine größere Öffentlichkeit zur rechten Zeit die gegenwärtige

23 Zitat nach Bútora, Martin: „Krásny chlap“ alebo o pestovaní charakteru. (Dominik Tatarka očami slovenských študentov a českého disentu) [„Ein schöner Mann“ oder über das Pflegen des Charakters. (Dominik Tatarka, gesehen mit den Augen slowakischer Studenten und der tschechischen Dissidentenbewegung)]. In: Slovenská literatúra 40, 2–3 (1993), S. 118–122.

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Situation beim Namen genannt haben. Vor allem in diesem Augenblicksbezug liegt ihre spezifische Ereignishaftigkeit begründet. Das betrifft den Essay Das versklavte Bewusstsein von Miłosz oder Die Septembernächte von Pavel Kohout ebenso wie Tatarkas Satire Dämon der Zustimmung oder seine politische Vision Die Gemeinde Gottes. Das Einschneidende dieser Texte war unmittelbar schon den Zeitgenossen bewusst. Dass sie überdies Epoche gemacht haben, lässt sich zumindest rückblickend für die Geschichte der mitteleuropäischen Dissidentenliteratur sagen.

Kurt Röttgers

Identität als Textereignis 1 Medialität In der Moderne ist es üblich gewesen, Identität in den Rahmen von Kontinuitätsvorstellungen einzufügen, sei es, dass es psychologisch um die immer problematische und daher prophylaktisch-pädagogisch oder therapeutisch zu sichernde Identität ging. Sei es, dass es sozial um die Identität von Kollektiven, von Nationen, Kulturen und dgl. ging, die politisch und polizeilich oder militärisch gegen Fremdheitsbedrohungen rassischer, religiöser u. a. „Artfremdheiten“ zu sichern wäre. Sei es, dass es um historische Identität von störungsfrei zu erzählenden Geschichten ging, d. h. um die narrative Absicherung von Geschichtensubjekten. Sei es schließlich, dass es philosophisch um die Identität durch Identifikation von Objekten und deren Subjekten des Handelns und Erkennens ging. Wir stellen in der medialitätszentrierten Postmoderne die Perspektive um auf den Aspekt der Konstituierung eines Selbst im kommunikativen Text. Also stellt sich nicht mehr die Frage, wie das als unzweifelhaft anzunehmende Subjekt in seiner Identität zu sichern sei, sondern nun ist die Frage, wie im Zwischen des Sozialen Selbst und Anderer gemacht sind, d. h.: Wie wird man zum Selbst? Eine erste und einfache Antwort lautet: indem man spricht und jemanden hat, der einem zuhört.1 In diesem Sinne sind Selbst (der Sprechende) und Anderer (der Hörende) korrelative Begriffe in einem durch Sprache getragenen sozialen Prozess im Zwischen. Nur in einem sprachlichen (mündlichen oder schriftlichen) Text, der sie aufeinander bezieht und sie darein verwickelt und der deswegen kommunikativer Text heißt, sind Selbst und Anderer existent. Die Mitte, das Zwischen, das Medium bestimmt die Funktionspositionen von Selbst und Anderem als Positionen im Text. Diese Bestimmung ist von Anfang an asymmetrisch: Selbst

1 Volker Schürmann schildert in seinem Buch über Plessner den Begriff der Exzentrizität, der die Plessner’sche Anthropologie charakterisiert, als „Ansprechbarkeit“. Schürmann, Volker: Souveränität als Lebensform. Plessners urbane Philosophie der Moderne. München 2014, S. 95, 98, passim). Insofern wäre bereits Plessners Anthropologie eine postanthropologische Anthropologie.  Anmerkung: Eine erweiterte Fassung unter dem gleichen Titel ist als Festgabe für Monika Schmitz-Emans im Internet erschienen: https://ub-deposit.fernuni-hagen.de/receive/mir_ mods_00000578. DOI 10.1515/9783110541854-030

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spricht, Anderer hört zu. Es gibt keinen sozusagen freischwebenden Anderen ohne ein Selbst, das sich auf ihn, ihn anredend, bezieht. Aber es gibt auch kein Selbst ohne einen Anderen. Wenn alle reden und keiner hört mehr zu, dann gibt es dort auch kein Selbst, was in einigen aberwitzig so genannten „sozialen“ Netzwerken tatsächlich der Fall zu sein scheint. Und auch im unwahrscheinlicheren, umgekehrten Fall, alle lauschen, aber keiner hat etwas zu sagen, ist ein Selbst nicht vorhanden, und natürlich fehlt auch der ihm korrelative Andere. Statt also von „dem“ Menschen oder dem in sich selbst konstituierten, autonomen Subjekt oder von dem zerbrechlichen Individuum der Neuzeit zu sprechen und dann zu fragen, auf welche Weise dieser zu einem Selbst wird, möchte man also nun eine ganz andere Frage stellen, die auf einer radikalen Perspektivenveränderung beruht, nämlich die Frage nach dem Medium, nach der Mitte, von der her erst begreifbar wird, als was Selbst und Anderer fungieren. Wenn das alles nun so auf neue Weise von der Mitte her gesehen wird, dann müssen wir auch die psychischen Eigenschaften anders beschreiben. Sie sind dann weder Akzidenzien von Substanzen, wie traditionelle Philosophen das gesehen haben mögen, aber auch Physiognomiker oder Anhänger der Konstitutions-Typen-Theorie. Sie sind auch nicht anderweitig an oder in Körpern lokalisierbare und von dort aus kausal wirksame Merkmale. Man wird nicht umhin können, sie als Effekte von Zuschreibungen, also von Performanzen, Text-Gesten zu interpretieren. Man muss sich vor der klassisch-metaphysischen Vorstellung hüten, dass hinter dem Selbst, d. h. dem Selbst-im-Text, ein irgendwie substantielleres Selbst stünde, gewissermaßen ein Hinter-Selbst, welches das Selbst sagen lässt, was es im kommunikativen Text sagt. Dieses fingierte Selbst hinter dem sagenden Selbst wäre ein sagenwollendes Selbst, was im Sagenwollen virtuell schon sagt, was das Selbst-im-Text tatsächlich sagt. Für den Schauspieler auf der Bühne ist das Modell brauchbar: er sagt, was der Dramen-Text ihm zu sagen aufgibt. Aber für normale soziale Situationen ist eine solche klassische Annahme unnötig und verstehenshinderlich. Unnötig ist sie; denn was sollte das sagende Selbst wohl anderes sagen, als was das sagenwollende Selbst hinter ihm ihm vor-sagt. Aber nur das sagende Selbst erscheint im Text, das wollende hinter ihm bleibt verborgen. Dieses sagenwollende, virtuelle Sagen mit seiner SelbstVerdopplung2 nennt man auch „Meinen“. Das Meinen tritt insbesondere dann auf den Plan, wenn Missverständnisse im Text auftauchen; dann sagt man zuweilen, man habe sich wohl missverständlich ausgedrückt, eigentlich hätte man etwas anderes „gemeint“. Und so scheint dieses Meinen die Instanz hinter dem Text –

2 Zum Doppelgänger s. Röttgers, Kurt: Derridas Doppelgänger. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie 6 (2012), S. 137–159.



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das doppelte Selbst – zu beschwören. Tatsächlich handelt es sich nicht um eine Selbstverdopplung, sondern um eine Textverdopplung, ein alternativer Text wird an die Stelle des ersten, missverstandenen gesetzt. Man legitimiert diese Textverdopplung durch ein Meinen hinter dem Sagen, gemeint von einem Selbst hinter dem Selbst. Verstehenshinderlich ist diese Selbstverdopplung zu einem HinterSelbst, weil wir, da Selbst und Anderer korrelative Begriffe sind, auch einen virtuellen Anderen als Komplement des virtuellen Selbst benötigen: der SelbstVerdopplung muss eine Anderen-Verdopplung korrespondieren. Aber so produzieren wir weitere Schwierigkeiten: denn wo ist dieser andere Andere? Wenn wir unterstellen, er sei reine Imagination des Selbst hinter dem Selbst, dann fragt sich, warum das Hinter-Selbst das Selbst-im-Text überhaupt noch zum Reden veranlasst, hat es doch seinen Gesprächspartner in Virtualität immer schon zur Hand. Verlassen wir nun diese klassische Vorstellung und kehren zu unserem Gegenvorschlag zurück. Selbst und Anderer sind danach, wie gesagt, Funktionspositionen im kommunikativen Text. Die Funktionspositionalität impliziert aber auch, dass die konkrete Besetzung dieser Positionen normalerweise in einem gelingenden Text wechselt: momentan rede ich, dann halte ich inne und höre, was du dazu zu sagen hast. Das Ganze wird noch etwas komplizierter dadurch, dass das Soziale im vollen, über bloße Intersubjektivität hinausgehenden Sinne die Position des (beobachtenden oder intervenierenden) Dritten impliziert. Und auch seine Position ist verschieden besetzbar, ja die Besetzungen unterliegen einem Rotationsprinzip, z. B. kann das bisherige Selbst zum Dritten werden, wenn der bisherige Dritte sich als Selbst auf den Anderen bezieht usw. Nun könnte man versuchen – und der Individualismus der Moderne hat es vielfach getan (s. die Gesellschaftsvertragstheorien) – von den Besetzern der Positionen auszugehen und von dorther das Soziale zu konstruieren. Man würde dann zu der Frage vorstoßen: Was befähigt ein Subjekt dazu, die Position des Sprechenden (des Selbst) oder die des Hörenden (des Anderen) einzunehmen? Die Spannbreite möglicher Antworten reicht dann von entwicklungs- und sprachpsychologischen Ansätzen über grammatikphilosophische bis hin zu anthropologischen und urgeschichtlichen Ansätzen. In keinem Fall aber kommt man an der kulturellen Vorgegebenheit der Sprache (als System und als Prozess, d.  h. als kommunikativer Text) vorbei. Und das verweist auf die Dominanz des Sozialen, die selbst die individualistisch ansetzenden Theorien in Rechnung stellen müssen. Die freischwebenden, individuellen „Seelen“ gibt es eben nicht. Nach der Moderne jedoch erfolgte die Umstellung von der hinter all diesen Tendenzen der Sicherung von Identitätskontinuitäten stehenden und lauernden Subjektzentrierung auf eine Zentrierung des Sozialen in Medialität. Nietzsche,

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am Beginn dieses Übergangs, dieser Epochenschwelle oder dieses „anderen Anfangs“, um mit Heidegger zu sprechen, karikierte und kritisierte die Subjektzentrierung als einen der Grundirrtümer der abendländischen Metaphysik, verleitet durch grammatische Strukturen unserer Sprachen, nämlich diesen Rückschluss „vom Werk auf den Urheber, von der That auf den Thäter […]“.3 „Der Glaube an den Thäter […]: wie als ob, wenn alles Thun vom ‚Thäter‘ abgerechnet würde, er selbst noch übrig bliebe. Hier soufflirt immer die ‚Ich-Vorstellung‘ […]“.4 Sowohl diesen „Thäter“ hinter der „That“, unabhängig von ihr und vorgängig zu ihr, als auch die substantielle Einheit dieses „Thäters“ in der „That“ als ein Subjekt hält Nietzsche für eine lediglich sprachstrukturell nahegelegte Fiktion: „Jetzt, ziemlich spät, sind wir reichlich davon überzeugt, daß unsere Conception des Ich-Begriffs nicht für eine reale Einheit verbürgt.“5 Und wenn wir diese Gedankenanregung aufnehmen und fortsetzen, dann müssen wir sagen: Es gibt keinen Texter „hinter“, „vor“ oder „neben“ dem Text, keinen transzendenten Autor, dem es freistünde, in den Text einzugehen oder es bleiben zu lassen. Autor ist er nur als Autor-im-Text. Selbst dort, wo Nietzsche davon spricht, dass man (wie z. B. in Ecce homo) „Schauspieler seiner selber“6 sein müsse, um die Menge zu bewegen, handelt es sich um eine Verdopplung des Autors im Text, genauer um die textimmanente Erzeugung der Fiktion der Text-Transzendenz, nicht aber um die Behauptung der Ontologie eines Autors unabhängig von jeder Textfunktion. Im Sinne Nietzsches würde es aber auch nichts nützen, zum Text einen VorTexter anzunehmen, der den Text denkt, bevor er zum Text wird; denn auch dem Denken liegt nicht der Eine große Denk-Urheber, mit Namen Cogito, zugrunde, sondern „bei allem Denken [scheint] eine Vielheit von Personen betheiligt […]“.7 Angesichts des auch heute noch beliebten Gedankens einer moralischen Besserung hält Nietzsche daher fest: Wir glauben nicht daran, daß ein Mensch ein Anderer wird, wenn er es nicht schon ist: d. h. wenn er nicht […] eine Vielheit von Personen […] ist. In diesem Falle erreicht man, daß eine andere Rolle in den Vordergrund tritt, daß ‚der alte Mensch‘ zurückgeschoben wird.8

3 Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München / Berlin / New York 1980, Bd. III, S. 621. 4 Ebd. XII, S. 250. Hervorhebung im Original. 5 Ebd. XIII, S. 258f., 383, 250, 182. 6 Ebd. III, S. 513; s. auch Haag, Simone Bettina: Das Denken (in) der Bewegung. Nietzsches ‚Gipfel der Betrachtungen‘. Hamburg 2008, S. 84. 7 Nietzsche: Kritische Studienausgabe XI, S. 595. 8 Ebd. XIII, S. 332.



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Auch den für Nietzsche wichtigen Gedanken eines Willens-zur-Macht sollte man entpsychologisieren. So sagt er dazu: Ein Quantum Kraft ist ein eben solches Quantum Trieb, Wille, Wirken – vielmehr, es ist gar nichts anderes als eben dieses Treiben, Wollen, Wirken selbst, und nur unter der Verführung der Sprache und der in ihr versteinerten Grundirrthümer der Vernunft, welche alles Wirken als bedingt durch ein Wirkendes, durch ein ‚Subjekt‘ versteht und missversteht, kann es anders erscheinen.9

Wenn aber nun – befreit von der Vorstellung eines Absichten pflegenden und dann verwirklichenden Subjekts, vorgängig zu allen Absichten und ihren Realisierungen und ontologisch von diesen unabhängig – nunmehr ein Wille-zurMacht seine Realität allein im Prozess der Konfrontation von Kraftquanten hat, dann eröffnet diese Vorstellung das Konzept eines medialen Feldes der gewiss asymmetrischen Begegnung von Kraftquanten, von denen eines momentan, aber keineswegs ontologisch gesichert für immer, herrschend ist. Diese strukturelle Asymmetrie – in Absetzung von jeder demokratistischen Gleichheitsemphase – ist nicht stabil, sondern einem permanenten Wandel und einer Verschiebung der Gesamtkonstellation im Werdensprozess ausgesetzt, justamente so wie die Besetzung der Funktionspositionen im kommunikativen Text, in dem einer redet und der Andere zuhört, aber beides nicht für immer.10 Für Nietzsche, bedenken wir es recht, ist der Wille-zur-Macht Moment einer asymmetrischen Struktur eines Zwischen, eines Feldes, und zwar nicht zwischen Subjekten, Individuen, Personen oder gar „des“ Menschen, wie immer das üblicherweise changierend bezeichnet wird, sondern eines Feldes zwischen Kraftquanten; die postanthropologische Sozialphilosophie des kommunikativen Textes spricht daher ebenfalls nicht von Menschen oder dgl., sondern von Funktionspositionen, die freilich von Menschen besetzt werden können, aber zum Glück in wechselnder Besetzung. Mit dem Subjekt-Begriff wird daher auch der Begriff der Selbsterhaltung des Subjekts, der für die Moderne so wichtig war, hinfällig. Schon 1885 hatte es daher bei Nietzsche geheißen, dass nicht Wesen sich selbst erhalten wollen, „sondern der Kampf selber erhalten will, wachsen will und sich bewußt sein will. […] nicht ein Subjekt, sondern ein Kampf sich erhalten will.“11 Es entspricht genau dem,

9 Ebd. V, S. 279. 10 Röttgers, Kurt: Das Soziale als kommunikativer Text. Eine postanthropologische Sozialphilosophie. Bielefeld 2012; ferner demnächst zur Usurpation der Asymmetrie ders.: Eine modaltheoretische Interpretation von Allmacht. In: Stoellger, Philipp / Kumlehn, Martina (Hg.): Wortmacht/Machtwort. Deutungsmachtkonflikte in und um Religion. Würzburg 2017. 11 Nietzsche: Kritische Studienausgabe XII, S. 40. Hervorhebung im Original.

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was die Sozialphilosophie des kommunikativen Textes als die Selbsterhaltung, Anschließbarkeit und Fortsetzbarkeit des Textes bezeichnet. Für Identität kann das nur heißen, Identität nicht mehr auf Subjekte (oder Individuen oder Personen oder „den“ Menschen oder dgl.) zu beziehen, sondern die Perspektive umzustellen, nämlich Identität auf das Soziale selbst zu beziehen, also auf den sozialen Prozess im Zwischen, m. a. W. auf den kommunikativen Text. Wenn folglich das Soziale über das Zwischen, d. h. über Medialität definiert ist und wenn die Positionen dieses relationalen Prozesses, des kommunikativen Textes, als Selbst, Anderer (und Dritter) definiert sind, dann stellt sich die Frage, ob überhaupt und wie dann noch von einer Identität eines solchen Selbst gesprochen werden darf oder wie Identität gegebenenfalls anders zu lokalisieren sei. Denn die Funktionspositionen im kommunikativen Text sind nicht fest an bestimmte Personen vergeben, sondern die Besetzung der Positionen wechselt. Können wir dann überhaupt noch von einer Identität des Selbst sprechen, oder bleibt uns nur die Redeweise, dass sich in den wechselnden Positionen eine Identität einer Person trotz verschiedener Positionseinnahmen durchhält? Schließlich bleibt die Option, dem Prozess und nur dem Prozess die Identität zuzuschreiben. Selbst die funktionale Bestimmung von Identität, die Luhmann vorschlägt,12 meint eine „Nichtaustauschbarkeit im Hinblick auf eine einzelne Funktion und strukturell als Kompatibilität verschiedener Strukturen“. Vielleicht bleibt am Ende nichts anderes übrig, als zufolge der Prozessualität Identität nicht mehr als Kontinuitätsgewähr, sondern im Gegenteil als ein die Kontinuität brechendes Ereignis zu begreifen.13 Genau unter diesem Gesichtspunkt soll also hier exemplarisch ein Identitäts-Textereignis beschrieben werden.

2 Der andere Anfang (Blanchot) Heidegger sprach vom „anderen Anfang“, der die Seinsvergessenheit der abendländischen Metaphysik und mehr noch das ihr korrespondierende Getriebe der Machenschaften durch ein seinsgeschichtliches Denken überschritte. Maurice Blanchot vollzog diesen anderen Anfang in seiner Überwindung der Trennung von Dichten und Denken. Auch er sah es als einen Grundfehler an, dass seit Sokrates und Platon Philosophie als Lehre und Belehrung auftrat. Zwangsläufig führte das zu einem in Institutionen eingeketteten Denken, und

12 Luhmann, Niklas: Rechtssoziologie. Reinbek 1972, S. 358. 13 Röttgers, Kurt: Identität als Ereignis. Zur Neufindung eines Begriffs. Bielefeld 2016.



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zuletzt dann gar zu einer Identität von Philosoph und Philosophieprofessor: Kant, Fichte, Hegel, Heidegger u. a. – Aber es gab immer auch die anderen auf der Unterseite des Betriebs: Montaigne, Pascal, Spinoza, die Frühromantiker und Nietzsche. Auch sie schrieben; abgesehen von dem frühromantischen Symphilosophieren realisierten auch sie die Autor-Leser-Differenz. Aber sie schrieben keine Lehrbücher, die methodisch einem Ariadne-Faden vom Ursprung zum Ziel folgten, sondern sie schrieben oft fragmentarisch, aphoristisch und mit Lücken im Text als Orten der Denk-Ergreifung des Lesers. Lehrbuchschreiber neigten oft zu einem Dogmatismus, weil sie Abwege und Umwege mieden, nicht kannten oder allenfalls in die Fußnoten verbannten. Monomanisch gesteigert wird diese Schreibpose dort, wo jemand nicht seine Einsichten oder Meinungen unterbreitet und verlegen lässt, sondern sich quasi zum Sprachrohr der bzw. seiner Natur macht: der Fall Rousseau. Während Mohammed im Koran noch die Worte Allahs spricht, spricht der gottgleiche Rousseau nur noch Rousseau.14 Während der Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift Biester noch konstatierte, dass die Zigeuner eine „Abneigung von aller Zwangsarbeit und sitzenden Lebensart“ hätten und er das nur zu verständlich fände; denn „von Natur kann kein Mensch Zwangsarbeit und Sitzen lieben“15, waren Denker seit Kant der Sesshaftigkeit verpflichtet. Und ihre Studenten ebenso. Der zigeunerische Weg, „la pensée voyageuse“16 oder die nomadische Vernunft17 sind verbannt, so wie seinerzeit der griechische Architekt Daedalos den labyrinthischen Tanz der Minoer in ein Steingehäuse umwandelte. Sesshaftes Denken, besetzendes und besitzendes Denken, verwandelt die Bewegung des Textes in eine Zuweisung von Orten.18 Die denkerische Bemühung zielt darauf, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Das kann zweierlei bedeuten. Entweder – und das ist der Hauptstrom des Abendlandes gewesen – dem Unsichtbaren die Unsichtbarkeit zu rauben, das Geheim-

14 Perfekte Selbstgenügsamkeit ist eigentlich eine Eigenschaft Gottes. Und in der Tat benennt Rousseau in den Rêveries als Gottgleichheit die Eigenschaft des selbstgenügsam Glücklichen. Wörtlich heißt es dort: „De quoi jouit-on dans une pareille situation? De rien dʼextérieur à soi, de rien sinon de soi-même et de sa propre existence, tant que cet état dure on se suffoit à soi-même comme Dieu.“ Rousseau, Jean-Jacques: Les Rêveries du promeneur solitaire. Herausgegeben von Henri Roddier. Paris 1960, S. 71. 15 Biester im 21. Jg. dieser Zs. (1793), zit. bei Röttgers, Kurt: Kants Kollege und seine ungeschriebene Schrift über die Zigeuner. Heidelberg 1993, S. 93. 16 Blanchot, Maurice: L’entretien infini. Paris 1969, S. 3. 17 White, Kenneth: L’esprit nomade. Paris 1987. 18 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Ausgabe IV, S. 155: „Wir haben jetzt das Land des reinen Verstandes nicht allein durchreiset, und jeden Theil davon sorgfältig in Augenschein genommen, sondern es auch durchmessen, und jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt.“

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nis auszusprechen, Transparenz von jeglichem zu zelebrieren, also das, was Baudrillard das Obszöne genannt hat.19 Aber diese totalisierende Demaskierung und Offenlegung aller Geheimnisse in absoluter Transparenz ist eine Illusion. Um Heidegger zu beschwören: durch die Vervielfältigung richtiger Aussagen über Seiendes kommen wir der Wahrheit des Seyns um keinen Schritt näher, anders als sowohl die Positivisten (Herschel und John Stuart Mill mit ihrer Methode der Residuen) als auch die fortschrittsgläubigen Neukantianer glaubten (mit ihrer unendlichen Annäherung an die Wahrheit). Das Unsichtbare sichtbar zu machen, kann aber auch heißen: die Unsichtbarkeit des Unsichtbaren erscheinen zu lassen. Das traute Heidegger der Dichtung zu, vor allem derjenigen Hölderlins. Und er entwarf den Gedanken einer Sigetik, einer Schweigelehre, die die Wahrheit des Seyns erschweigt anstatt nur Richtigkeiten über Seiendes auszuplaudern. Aber vielleicht ist ja der letzte Satz des Tractatus logico-philosophicus einfach nicht wahr, und zwar weil es Metaphorik gibt, die dem Sinn verleiht, worüber man nicht reden kann und die Ausdrucksnot des aussagenden Redens in den Diskursen durch Transdiskursivität beheben kann. Allerdings stand die klassische Auffassung vom philosophischen Text unter dem Postulat „clare et distincte“. Der Text hätte ein methodischer zu sein, sorgsam einen Schritt nach dem anderen setzend wie der Akrobat auf dem Drahtseil über den Niagara-Fällen, stur das Ziel vor den Augen und den Füßen, keine Sprünge, kein Torkeln, keine Devianzen. Die Methode des philosophischen Diskurses ist auf Kontinuität als einer Form von Identität festgelegt. Und das gilt natürlich auch und vielleicht sogar gesteigert für die Hegelsche Dialektik, gesteigert, weil, was wie ein unvereinbarer Widerspruch auftritt – das Sein und das Nichts – in die Kontinuität einer Logik, einer geregelten Denkbewegung eingefangen wird. Während Hegel oftmals betont, dass Etwas unmittelbar, d. h. ohne Mitte, in sein Gegenteil übergeht, stellt Blanchot die Frage nach genau dieser Mitte, nach diesem Zwischen, das das Wörtchen „unmittelbar“ zukittet und verdeckt. Aber dieser Abgrund zwischen dem Sein und dem Nichts, die so harmonisch-hegelsch sich zu einer Kontinuität in Eintracht verbinden, ist nach Blanchot gewissermaßen nichtiger als das Nichts, weil es die Kontinuität aufsprengt. Spruch und Widerspruch sind quasi wie Selbst und Anderer Positionen des Textes; aber was genau ist dieser Leerraum zwischen Spruch und Widerspruch? Es gibt Texte, für die der Gemeinplatz, dass die Alltagssprache ihre eigene Metasprache sei, fraglich wird, z. B. der kommunikative Text der Freundschaft. Für sie wird man wohl sagen müssen, dass der Metatext ein Schweigen ist. Das wusste bereits Novalis: „Freundschaft, Liebe, und Pietät sollten geheimnißvoll

19 Baudrillard, Jean: Die fatalen Strategien. München 1985, S. 59ff.



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behandelt werden. Man sollte nur in seltnen, vertrauten Momenten davon reden, sich stillschweigend darüber einverstehn – Vieles ist zu zart, um gedacht, noch mehreres um besprochen zu werden.“20 Und das wusste auch bereits Nietzsche: „Man darf über seine Freunde nicht reden: sonst verredet man sich das Gefühl der Freundschaft.“21 Und dieser Aphorismus trägt die Überschrift „Silentium“. Und Derrida kommentiert Nietzsche: „[…] muss ihre [der Freunde] Rede ein stillschweigend mitvernommenes Schweigen atmen.“22 Der Metatext des Miteinander-Redens im kommunikativen Text ist in diesen Fällen das Miteinander-Schweigen. Also muss, wer den kommunikativen Text thematisiert, das mitlaufende Schweigen kennen. Einerseits wäre es ein abgründiger Metatext, andererseits ist für eine Philosophie der Immanenz dieser Abgrund nichts anderes als die Lücken, die Brüche, das Klaffen und Gähnen des Chaos und die Faltungen im fortlaufenden Text. Die Leitfrage der abendländischen Philosophie nach der Wahrheit, nämlich des Seienden, die dann verkam zur Suche nach der Richtigkeit von Aussagen, hatte Heidegger ersetzt durch die Grundfrage nach dem Seyn der Wahrheit. Blanchot nimmt diese Kehre des Denkens auf und nennt diese Frage „la question la plus profonde“, was der deutsche Übersetzer im Unkenntlichmachen der Spur von Heidegger zu Blanchot mit „die tiefste Frage“ wiedergibt.23 Diese Grundfrage – „la plus profonde“ – ist eine Frage, die sich nicht stellt und die niemand gestellt hat. Diese Frage, die sich der Dialektik von Spruch und Widerspruch entzieht, weil deren Fragen sich maximal bloß auf die Gesamtheit des Seienden beziehen, stellt sich als Frage jenseits der Totalität allen Fragens, also stellt sie sich eigentlich nicht. Blanchot nennt diese Frage, die sich nicht stellt, den Schatten des Fragens nach der Totalität des Seienden. Und er nennt diese Frage auch „la question du neutre“.24 Aber es kann damit nicht die Bewandtnis haben, dass nun im Text zwischen Reden und Gegenreden die Frage nach dem Neutralen einfach und gewissermaßen statisch interpolierend eingefügt werden könnte. Zwischen dem Sagen und dem Ungesagten des intermittierenden Ereignisses begibt sich eine ständige rhythmische Bewegung des Hin und Her. Sie ist zufolge der Struktur des minoischen labyrinthischen Tanzes und seiner Superposition einer zyklischen und einer diastolischen Bewegung so, dass weder die diastolische noch die

20 Novalis: Schriften, 2. Aufl. Darmstadt 1965, II, S. 422. 21 Nietzsche: Kritische Studienausgabe II, S. 489. 22 Derrida, Jacques: Politik der Freundschaft. Frankfurt a. M. 2000, S. 86. 23 Blanchot, Maurice: Das Neutrale. Zürich, Berlin 2010, S. 123. 24 Blanchot: L’entretien infini, S. 21.

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zyklische Bewegung je wieder zu ihrem Ursprung zurückkehrt. Oder um es mit ­Kierkegaard zu sagen: Wiederholung ist unmöglich.25 Und schließlich können in diese abgründige Zwischenposition auch Textereignisse eintreten, die einen Bruch, eine Enthauptung, bewirken. Die Frage, die sich nicht stellt, tritt dann auf als ein Text, den niemand lesen wollte, ja vielleicht als ein Text, den niemand schreiben konnte. Bei Blanchot ist wie bei vielen Denkern der Spätmoderne und der Postmoderne das archische Prinzip des herrschaftsbegründenden Einen Ursprungs, d. h. in der Neuzeit des Cogito, aufgegeben.26 Ist der Ursprung tatsächlich nur als Einer zu denken, oder dürfen wir uns viele, plurale Anfänge denken? Blanchot knüpft an eine Bemerkung von Albert Camus an: „Je me révolte, donc nous sommes.“27 Diese Region der Nicht-Ursprünglichkeit ist zugleich die des unendlich wiederholten und nie identischen Beginnens: Denn das Absurde der menschlichen Existenz lässt sich nicht benennen oder aussprechen; es begegnet inmitten des Existenzvollzugs. Dort aber, in unserem Zwischen, anders gesagt: im Text, als Manifestation des Absurden, lässt es sich auch nicht beseitigen. Die Mitte, das Medium, ist primordial. Und sie ist in dieser Primordialität die Bewegung, der Prozess unseres sozialen Selbst in seiner Vielfalt. Dieser Struktur kommt eine pensée voyageuse à la Nietzsche nahe. Nietzsches Übermensch ist kein in den Boden der Zukunft gerammter Pflock („mir nach, ich bin der Übermensch“), sondern der Übermensch ist das Ereignis eines Zero-Symbols. Nämlich dass der alte Adam – der Mensch der Moderne – verschwinden muss. Was also sind die Merkmale dieser neuen Mitte? Ihr Text ist plural, vielstimmig: Selbst und Anderer des kommunikativen Textes wechseln unentwegt die Besetzungen; das macht den Text ereignishaft, diskontinuierlich. Und es macht ihn offen, d.  h. aber auch verletzlich durch das Außerhalb des Textes, mag dieser nun intervenierend, intertextual der Text eines Dritten sein, oder mag es das Schweigen sein: ein mystisches, ein erotisches oder ein gewaltförmiges.

25 C. Constantius (d. i. S. Kierkegaard): Die Wiederholung. In: Kierkegaard, Søren: Die Krankheit zum Tode. Furcht und Zittern. Die Wiederholung. Der Begriff der Angst. Herausgegeben von Hermann Diem und Walter Rest. München 1976, S. 327–440. Vgl. dazu Röttgers, Kurt: Es wiederholt sich. In: Balke, Friedrich / Rölli, Marc (Hg.): Philosophie und Nicht-Philosophie. Bielefeld 2011, S. 209–225. 26 Schürmann, Reiner: Le principe d’anarchie. Bienne, Paris 2013; Röttgers, Kurt: Die Möglichkeit einer an-archischen Praxis. In: http://www.fernuni-hagen.de/imperia/md/content/philosophie/textdokumente/an-archisch.pdf; auch (leicht gekürzt) als: Die Möglichkeit einer anarchischen Praxis. In: Alkemeyer, Thomas / Schürmann, Volker / Volbers, Jürgen (Hg.): Praxis denken. Wiesbaden 2015, S. 51–79. 27 Blanchot: L’entretien infini, S. 264.



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Ein solcher Text findet seine angemessene Form im Fragmentarischen und im ­Sprachexperiment. Die Fragmente sind untereinander auf geheime Weise verbunden, manchmal als offenkundiges, manchmal als verborgenes Geheimnis; offenkundig wäre es, wenn es redend auf ein Schweigen verweist – verborgen bleibt es, wenn es enigmatisch auf Nichts verweist. Es ist evident, dass ein solcher Text unaufhörlich different ist, Einheit wäre für die Fragmente ein Unfall oder ein Versagen, wobei gerade dem Versagen ja sogar die Differenz als Schatten des Gelingens eingeschrieben ist. Wenn also der Text das Unsichtbare sichtbar macht, d. h. sich auf die Welt, insoweit sie in Unsichtbarkeit verharrt, bezieht, entreißt er der Welt nicht ihren Sinn; denn die Welt hat keinen Sinn, den man ihr entreißen oder behutsam entnehmen könnte, um ihn dem Text einzupflanzen, ihn quasi mit dem entnommenen Sinn zu impfen: „[…] le monde: le dehors du sens et du non-sens.“28 Im Grunde bezieht sich der Text gar nicht auf dieses Jenseits seiner selbst, sondern der Text knüpft an andere Textualität an, aber er negiert oder ignoriert auch nicht dieses Jenseits von Sinn oder Unsinn, sondern zelebriert die Differenz. In Abwandlung von jenem „Es denkt“ von Lichtenberg, Rimbaud und Nietzsche sagt daher Blanchot auch „[…] la différence écrit.“29 Das Differenzprinzip, welches das Medium prägt, entreißt die Identität dem Kontinuitätsdenken und macht Identität zum Ereignis.30 Daher müssen wir den Text nicht vom genialen Subjekt her denken, das in der Bewegung des sozialen Prozesses mehr oder weniger mit sich auf kontinuierliche Weise identisch ist, sondern von der Dynamik des Bruchs im kommunikativen Text, der die Besetzung der Funktionspositionen als ereignishafte Identitätszuweisung zu verstehen lernen lässt. Nicht länger kann die Frage sein: Wollte Blanchot „Blanchot“ werden, sondern aus welchen Textverweisungen entstand für uns Leser jener „Blanchot“?31 Blanchot nimmt auch Bezug auf Bataille, wie wir oben auch, und zwar er genau in der Weise, die er selbst fordert, nämlich die ungestellte Frage aufzuspüren, das Ungesagte im Zwischenraum des Textes anklingen zu lassen. Das hatte Odo Marquard seinerzeit als die eigentliche Aufgabe der Hermeneutik bezeichnet, „aus einem Text herauszukriegen, was nicht drinsteht: wozu – wenn man

28 Ebd., S. 247. 29 Ebd. 30 Vgl. Röttgers: Identität als Ereignis. 31 Von der Transformation des Individuums in den Text bei Rousseau spricht Monika SchmitzEmans: „Dieser ist damit ein Double des Autor-Ichs […]“. Schmitz-Emans, Monika: Überleben im Text? Zu einem Grundmotiv literarischen Schreibens und einigen Formen seiner Reflexion im poetischen Medium. In: Colloquia Germanica 26 (1993), S. 135–161, hier S. 136.

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doch den Text hat – brauchte man sie sonst?“32 Insofern verhält sich der kommentierende Text nicht dann treu zum Original, wenn er möglichst treu wiedergeben möchte, was darinnen steht; Treue in dem Sinne ist unmöglich, selbst ein Zitat ändert ja im gewandelten Kontext seinen Sinn. Bei Bataille geht es um Grenzerfahrungen, und Blanchot versteht das so: „L’expérience-limite est la réponse que rencontre l’homme, lorsqu’il a décidé de se mettre radicalement en question.“33 Solch eine immerhin ungefragte Frage ist keine Skepsis, in der ja der Mensch nur sein epistemisches Leistungsvermögen infrage stellt, sondern es ist die Frage jenseits von Sein und Nichts, durch die er sich selbst fraglich wird. Sie lässt sich auch nicht übersetzen in die Frage „Was soll ich tun / was muss ich lassen?“. Denn dazu wird alles gesagt sein. So löst sich auch das Konzept des Schaffens eines Werks auf: désœuvrement! Solches ist nun allerdings kein Aufruf zum Nichtstun, also zu einer existentiell begründeten Faulheit („Null Bock“). Désœuvrement ist, im Bewusstsein der Sterblichkeit, der Verzicht auf Macht, auf Handlungsmacht. Der Tod nämlich ist diejenige Negation unseres Daseins und unserer Handlungsmacht, die als Negation nicht zu negieren ist. Für Blanchot ist das die eigentliche Botschaft der Azephalität, der Kopflosigkeit bei Bataille oder eines Lebens-„oben-ohne“. Denn die Ohne-Macht ist ja nicht einfach die quasi liberalistische Befreiung von Machtstrukturen „derjenigen da oben“, eine Bestreitung, die bekanntlich immer für ihre Negation der Macht eine eigene (Gegen-)Macht in Anspruch nehmen muss. Es ist die Befreiung von dem Oben. Azephalität macht außerdem den Satz „ich sterbe“, von oberhalb meiner selbst gesprochen, unsinnig. Wie jenes Ich, das angeblich da ist, bevor es im Cogito seinen Existenzbeweis liefert, so ist auch jenes Ich nicht mehr, wenn der Tod da ist. Vom Tod lässt sich nur im Tempus des Futurs sprechen. Also ist die Grenzerfahrung des Todes keine Erfahrung und für das Ich kein Beweis, dass da ein Ich zuvor gelebt habe. Noch einmal zurück zum Ereignis. Leute sagen, es geschieht doch nichts. Heidegger nannte es die Alltäglichkeit der Machenschaften. Es geht einfach so weiter. Kontinuität garantiert Identität, oder wie die Bayern sagen „Mir san mir“, mit dem erläuternden Folgesatz „und do san mir dahoam“. Aber mit Blanchot lässt sich fragen: wer ist dieses „mir“, für den sich nichts die Kontinuität der Identität infrage Stellendes ereignet? Zur Beantwortung bezieht sich Blanchot auf die Philosophie des Alltagslebens von Henri Lefebvre. In ihr gibt es gewiss die Alltäglichkeit des Geredes der Leute. In diesem kommunikativen

32 Marquard, Odo: Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist. In: ders.: Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart 1981, S. 117ff. 33 Blanchot: L’entretien infini, S. 302.



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Text tauchen aber „plötzlich“ irgendwelche Gerüchte auf. Wer hat sie in die Welt gesetzt, welches Subjekt ist verantwortlich für ihren Ursprung? Eingebettet in das Bett des alltäglichen Geredes gibt es keinen Autor des Gerüchts; vielleicht hat irgendwer irgendetwas gesagt. Das Gerücht als Gerücht aber ist getragen von der Unverantwortlichkeit des Man. Was aber, wenn das Gerücht Eingang findet in die sogenannten „sozialen“ (in einem anderen Sinne von „sozial“ eher: asozialen) Medien? Hier erst wird das Gerücht zum Ereignis, weil es die Homogenität zerbricht: momentan entsteht etwas: Blanchot sagt (er spricht natürlich noch von Zeitungen): das Drama, d.  h. der Handlungszusammenhang „du fait divers“.34 In der Rezeption der Botschaften im Medium entsteht der Eindruck „etwas ist geschehen“. Und genau das – im Medium des Geredes anonym unverantwortlich entstanden – erzeugt nun medial die Subjekte, die so oder so zur Stellungnahme herausgefordert sind. Mit Ereignissen werden Identitäten erzeugt. Man kann das Problem noch etwas zuspitzen. Wenn das Man Heideggers oder das Alltagsgerede der Leute bei Lefebvre auf der Homogenität des Immergleichen beruht, wenn aber außerdem, genau in dieser anonymen Medialität, die Überzeugung herrscht, dass die „Zeit vergeht“ (die Zeit vergeht und nichts passiert), wie lassen sich Bewegung und Immobilität zusammen denken? Einige glauben, in Nietzsches Formel der Wiederkehr des Gleichen den Schlüssel gefunden zu haben, andere reden von den unveränderlichen Strukturen von Rationalität. Mindestens hinsichtlich des „Gipfels der Betrachtungen“,35 also des Gedankens der Wiederkehr bei Nietzsche sind Zweifel erlaubt. Wenn „es“ wieder-kehrt, wieso ist es dann noch „das Gleiche“ – oder umgekehrt: Braucht oder erlaubt das Immergleiche (z.  B. die unveränderbare Rationalität) eine Wiederkehr; ist es nicht immer schon präsent? Nietzsches Gedanke ist wahrscheinlich ein ganz anderer, der sich nicht an der kontinuierlich gleichen Begegnung mit einem Etwas festmachen lässt, sondern strukturell zu denken ist als die immer wieder neu auftretende Ereignishaftigkeit. Nicht ein bestimmtes Ereignis oder eine Folge derselben kehrt wieder, begibt sich erneut (das wäre die kosmologische Deutung Nietzsches), sondern die Kontinuität brechende Ereignishaftigkeit. Das hätte dramatische Konsequenzen für das Selbst im kommunikativen Text des Sozialen: Als Position wiederholt es sich unendlich, in seiner Besetzung ist es immer wieder nicht-identisch. Differenz und Wiederholung zugleich.36 Die Identität des Selbst besteht gerade in seiner vom Medium induzierten Nicht-Identität.

34 Ebd., S. 363. 35 Haag, Simone Bettina: Das Denken (in) der Bewegung. Nietzsches ‚Gipfel der Betrachtungen‘. Hamburg 2008. 36 Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung. München 1992.

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Wir haben gesehen, dass der Text notwendigerweise plural ist, weil er fragmentiert erscheint durch ein Zwischen, ein Medium inmitten des Textes und die Differenz als Konstituens enthält und zuteilt. Konkret zeigt sich das z. B. darin, dass im kommunikativen Text Selbst etwas sagt, d. h. die Rolle und Funktion des Sagenden innehat, dass er sich dann unterbricht und eine Leere, einen Abgrund des Nichts erscheinen lässt (wird es einen Anschluss geben?). Das gibt dem bisherigen Anderen, dem Hörer, dem Anderen eines Selbst, die Gelegenheit, das Wort zu ergreifen, dadurch zum Selbst zu werden, d. h. diese Funktionsposition einzunehmen.37 Der interessante Fall aber, den Blanchot auch diskutiert, wäre folgender. Die antwortende Rede im kommunikativen Text ist identisch(?) mit der ersten Rede, an die sie anschließt, und doch ist sie nicht identisch, die vielleicht noch so minimale Differenz im Munde des Anderen (als Selbst!) ist nun eine Differenz im Selbst. Das Selbst ist nicht identisch, sondern immer schon durch die Differenz im Text gebrochen. Als dasselbe ist es nicht mehr homogen, sondern ereignishaft abweichend. In Blanchots Sicht ist aber gerade das, der ereignishafte Bruch des Kontinuums, das Eigentümliche gelingender Kommunikation, d. h. des kommunikativen Textes des Sozialen. Die Wiederholung erzeugt, anders als das Wort zu besagen scheint, eine „différence infini“; „car ce qu’il a dit en tant que ‚Je‘ à la première personne, c’est comme s’il l’avait exprimé à nouveau en tant qu’ ‚autrui‘, et qu’il eût été ainsi porté dans l’inconnu même de sa pensée, là où celle-ci, sans s’altérer, devenait pensée absolument autre.“38 Es sind nicht nur Selbst und Anderer entgegengesetzte Funktionspositionen im Medium des kommunikativen Textes, sondern komplementär gilt auch, dass dieses Selbst immer auch schon der Andere „ist“. Insofern muss der, der eine kontinuierliche Identität in der Besetzung der Funktionsposition des Selbst anstrebt,39 die Wiederholung fürchten. Denn selbst wenn Selbst zweimal dasselbe sagt, ist es im Fortgang des Textes eben nicht dasselbe. Eine letzte Bemerkung: Blanchot unterscheidet strikt die Produktion eines literarischen Werks von Kulturproduktion. Ein Werk bezieht sich als textuelle Anschlussproduktion auf literarische Werke. Kultur dagegen ist eine Gesamtheit, die sich auf Gesamtheiten wie z. B. Nationen bezieht. Kultur kennt Fremdheit nur als Außerhalb, das sie negiert oder abwehrt. Die Werke dagegen haben die Diffe-

37 Das „unendliche Gespräch“ drückt es so aus: „Où est l’autre, lorsque deux hommes en viennent à parler, parlant à la mesure de ce qu’ils ne peuvent dire directement? L’un des deux est l’autre, qui n’est ni l’un ni l’autre.“ Blanchot: L’entretien infini, S. 591. 38 Blanchot: L’entretien infini, S. 501. 39 Röttgers: Eine modaltheoretische Interpretation von Allmacht.



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renz als ihren eigentlichen Daseinsgrund: das desœuvrement. Genau deswegen kann der literarische Text kreative Ereignisse generieren. Die Kultur dagegen will eine Kontinuität der Aneignungen.40 Das hat eine unangenehme Folge: Literaturwissenschaft ist, was den Daseinsgrund des literarischen Schaffens betrifft, indiskret und was den Aneignungscharakter von Kultur betrifft in der Form der Literaturgeschichte korrumpiert und ein Verrat an textueller Praxis. Als Praxis der Differenz und des Ereignisses enttäuscht der Text immer wieder die Hoffnung auf eine gesicherte Identität. Insofern das entwerkende Werk die Gestalt des Buches annimmt, insofern ist sein Text doch immer auch jenes Wagnis, das einem Torkeln am Rande des Abgrunds gleicht. Es ist weder drüben noch gesichert hier, noch gar, was Heidegger vom Ereignis des Seyns im anderen Anfang fordert: Sprung in den gründenden Abgrund.

40 „Was du ererbst von deinen Vätern hast, / Erwirb es, um es zu besitzen.“ Goethe, Johann Wolfgang: Faust I, Z. 682f.

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DOI 10.1515/9783110541854-031

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 Auswahlbibliographie

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Personenregister A Achleitner, Friedrich 109, 116–119 Adorno, Theodor W. 73, 157, 171–174, 372 Aichinger, Ilse 326 Albert-Birot, Pierre 36 Althusser, Louis 87, 149 Andrade, Oswald de 36 Anna Amalia, Herzogin von SachsenWeimar-Eisenach 440–442, 449 Apollinaire, Guillaume 228 Aratus, Solensis 42 Archer, Jeffrey 377–379, 381, 384 Arendt, Hannah 468 Arensberg, Walter Conrad 13f. Arent, Wilhelm 12 Aristoteles 269, 280, 395, 397 Arminius 161, 261 Äsop 42 Assmann, Jan 17 Auerbach, Erich 166, 231f. Augustinus, Aurelius 80, 343, 354, 476 Augustus 185f., 442 Austin, John Langshaw 53, 133–135, 137, 144 B Bacon, Francis 77, 159f., 165–168, 186 Badiou, Alain 428 Bagar, Andrej 470 Ball, Hugo 135, 278f. Barrett-Browning, Elizabeth 288, 293–298 Barthelme, Donald 387–391 Barthes, Roland 38f., 54, 62, 65–84, 288f., 349f. Bataille, Georges 34, 491f. Baudelaire, Charles 131, 455 Baudrillard, Jean 488 Beardsley, Monroe C. 399 Becker, Jürgen 36 Belén, Ana 410 Bénabou, Marcel 242f.

DOI 10.1515/9783110541854-032

Benjamin, Walter 132f., 169, 282, 303, 329f., 334, 455 Bense, Max 140f., 167f., 171 Bergson, Henri 96 Bernštein, Sergej 398f. Blanchot, Maurice 87, 301, 486–494 Bloch, Ernst 167, 169 Blumenberg, Hans 235, 266 Boccaccio, Giovanni 200f., 204 Boccalini, Traiano 192 Böhme, Gernot 285 Böhmermann, Jan 129 Bohrer, Karl Heinz 9, 69, 145, 287, 460 Boileau, Nicolas 12, 16, 23, 29f., 188f., 191, 195 Borges, Jorge Luis 42, 242, 270, 282 Bossuet, Jacques Bénigne 95 Bourdieu, Pierre 366 Brecht, Bertolt 335–342, 372f., 390 Breton, André 136f., 144, 265, 282 Brinkmann, Rolf Dieter 150–156 Budé, Guillaume 185 Bühler, Karl 394–396 Buñuel, Luis 282, 408 Butler, Judith 142, 290, 292 Butor, Michel 269, 283 C Callières, François de 192 Calvino, Italo 36, 123, 127 Campos, Haroldo de 40–45 Camus, Albert 476, 490 Canetti, Elias 460f. Carl August, Großherzog von SachsenWeimar-Eisenach 439, 441 Carroll, Lewis 109–116 Cassirer, Ernst 27 Caudwell, Sarah 289 Cavacchioli, Enrico 11 Celan, Paul 303, 307 Cervantes Saavedra, Miguel de 251, 310 Chabon, Michael 242 Chesterton, Gilbert Keith 352, 355 Christie, Agatha 385

500 

 Text als Ereignis

Chruschtschow, Nikita 468, 471 Cicero, Marcus Tullius 25, 186 Coen, Ethan und Joel 236–238 Cohen, Leonard 393, 409f. Colbert de Beaulieu, Jean-Baptiste 179 Corneille, Pierre 181, 187 Coseriu, Eugenio 394–397, 403f., 407f. Creuzer, Friedrich 433 Cukor, George Dewey 251 D Dalí, Salvador 408, 474 Dante, Aligheri 37–39, 452f. Debord, Guy 139–141 De Kooning, Willem 293 Deleuze, Gilles 96, 214f., 282, 301f., 493 Derrida, Jacques 1, 24f., 31, 39, 120, 130–135, 141f., 144, 147, 149, 214, 301, 359, 489 Descartes, René 87, 147 Desmarets de Saint-Sorlin, Jean 187 Dewey, John 372 Domínguez, Óscar 38 Dostojewski, Fedor Michailowitsch 256, 261–263 Dubček, Alexander 477 Duchamp, Marcel 371 E Eco, Umberto 265, 269–272, 279 Emerson, Ralph Waldo 170 Engler, Elise 389 Enzensberger, Hans Magnus 15 Eucken, Rudolf 259 Euklid 113 Euler, Leonhard 124–126 F Féval, Paul 229f. Fforde, Jasper 243 Fiedler, Leslie A. 151, 156 Fischer-Lichte, Erika 53, 56, 132f., 145, 399 Fischer, Lothar 140 Flaubert, Gustave 8, 238, 269, 305, 370f.

Folgore, Luciano 36 Fontane, Theodor 376–379, 387 Fontenelle, Bernard Le Bovier de 186, 191 Foucault, Michel 1, 78, 85–94, 115, 147–150, 156, 182, 214f., 217f., 233, 359, 366, 405 Frank, Manfred 76, 82, 363 Frayn, Michael 235, 248 Freud, Sigmund 54, 88, 149f., 459 Furetière, Antoine 188, 192, 194 G Gadamer, Hans-Georg 428, 437 García Lorca, Federico 393, 400–411 García Márquez, Gabriel 37 Genette, Gérard 2, 293, 320 Gernhardt, Robert 251 Ghosh, Amitav 301f., 311–318 Gilliam, Terry 235, 251 Glavinic, Thomas 319–327 Goethe, Johann Wolfgang von 35, 42, 47, 67, 197–211, 239, 276, 280, 422, 426, 439–448, 495 Goetz, Rainald 11f., 36 Góngora y Argote, Luis de 42f. Görres, Joseph 433 Gottsched, Johann Christoph 50, 191 Grass, Günter 276, 301–311, 317f. Gruenter, Undine 266, 281–283 Guéret, Gabriel 192 Guimarães Rosa, João 41 H Handke, Peter 151, 155f., 344, 386f. Haushofer, Marlen 321 Havel, Václav 472, 474, 478 Hawkey, Christian 287f., 293–299 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 31f., 34f., 73, 87, 428, 430, 433–437, 487f. Heidegger, Martin 31, 85–88, 90, 93, 130f., 391, 426, 484, 486–489, 492f., 495 Herder, Johann Gottfried 194, 394, 427, 430, 440f., 444f., 447f. Herschel, William 488

Personenregister 

Hervey, James 95 Hildesheimer, Wolfgang 10, 249 Hjelmslev, Louis 396 Hnitka, Jozef 470 Hocke, Gustav René 267f., 278 Høeg, Peter 380 Hofmannsthal, Hugo von 211, 245f. Hölderlin, Friedrich 6, 67, 85, 91–94, 278, 280, 488 Homer 41, 43, 115, 181, 267 Horaz 23–31, 40f., 442, 444 Huet, Pierre Daniel 188 Hugo, Victor 33 Humboldt, Wilhelm von 206, 208, 395, 397, 399, 427–437 Hyppolite, Jean 85 I Ingarden, Roman 30f. Isou, Isidore 137f. J Jacob, Max 111, 213, 215, 225–234 Jacobus de Voragine 353f. Jakobson, Roman 65, 393–399, 403 Jauß, Hans Robert 7f., 363, 368, 400 Jean Paul Richter 47–64, 70, 210, 243 Joyce, James 37, 42–45, 268, 279, 282, 349 Juvenal 191 K Kafka, Franz 147, 269, 415 Kant, Immanuel 50, 71, 90, 199, 235, 487 Keller, Gottfried 238, 276, 280 Kellerman, Jonathan 385 Kermani, Navid 49 Kierkegaard, Søren 35, 391, 460, 490 King, Stephen 322 Klee, Paul 119 Kleist, Heinrich von 50, 167, 361, 377, 460–463 Knox, Ronald Arbuthnott 380, 385 Knuth, Gustav 237 Kohout, Pavel 469, 471, 479f.

 501

Kolář, Jiří 116 Koppenfels, Martin von 92, 400–405, 408 Kremer, Detlef 4, 48, 66, 265, 329, 453 Kristeva, Julia 35, 37, 320 Krüger, Michael 235, 241f. Kubrick, Stanley 251, 405 Kundera, Milan 467f. Kunzelmann, Dieter 141f. L La Fontaine, Jean de 180 Lagarde, Paul de 257 Lamartine, Alphonse de 95 Langhans, Rainer 129, 142, 143, 144 Latour, Bruno 214 Lausberg, Heinrich 397 Lautréamont (eigentl. Isidore Lucien Ducasse) 77 Le Bon, Gustave 460 Leckie, Ann 289 Lee, Jaram 329, 334–342 Lefebvre, Henri 492f. Leibniz, Gottfried Wilhelm 77, 301f., 459 Leiris, Michel 138, 282 Leopardi, Giacomo 95 Lessing, Gotthold Ephraim 253 Lichtenberg, Georg Christoph 63f., 491 Lipps, Theodor 54 Locke, John 51, 159, 167 Lope de Vega Carpio, Félix 237 Lörincz, Csongor 4 Lovenberg, Felicitas von 294 Ludwig XIV. 12, 179, 182f., 185–189, 193–195 Luhmann, Niklas 1, 65, 214, 486 Lukrez (eigentl. Titus Lucretius Carus) 235 Lully, Jean-Baptiste 187 Lyotard, Jean-François 85, 90, 372 M Maecenas, Gaius Cilnius 26 Majakowski, Wladimir 15 Malebranche, Nicolas 95, 303 Malewitsch, Kasimir 119

502 

 Text als Ereignis

Mallarmé, Stéphane 31f., 40–45, 95, 98–104, 106f. Mann, Heinrich 256 Mann, Thomas 244, 255–263 Manzoni, Alessandro 455–465 Maples Arce, Manuel 36 Marinetti, Filippo Tommaso 11f., 16 Marin, Louis 182 Marquard, Odo 491f. Marsicano, Alberto 45 Martial, Marcus Valerius 444 Marx, Karl 87, 139, 148–150 Masaryk, Tomáš Garrigue 467 McLuhan, Marshall 156 Menasse, Robert 467 Mendoza y Cortés, Quirino Fidelino 409 Mersch, Dieter 1, 4f., 51, 58f., 131–133, 145 Michnik, Adam 468 Mill, John Stuart 488 Miłosz, Czesław 469, 471, 476, 479f. Milton, John 453–455 Mňačko, Ladislav 470 Moers, Walter 266, 270–281, 283 Mommsen, Theodor 259 Montaigne, Michel de 157–171, 174, 487 Morente, Enrique 410 Moritz, Carl Philipp 199, 444 Mozart, Wolfgang Amadeus 235, 249–251 Munch, Edward 474 Musil, Robert 241 N Newman, Barnett 90 Nietzsche, Friedrich 85, 88, 167, 213, 215–225, 233f., 483–485, 487–489, 491, 493 Novalis (eigentl. Friedrich von Hardenberg) 73–75, 77, 488 O O’Nan, Stewart 381–383 Ossian (eigentl. Macpherson, James) 68, 95 Ovid 17, 440

P Pascal, Blaise 68, 99, 186, 487 Perec, Georges 109, 119–128 Pérez Cruz, Silvia 411 Perrault, Charles 12f., 16, 179–196 Peymann, Claus 386 Philostrat, Flavius 33 Picabia, Francis 36 Pignatari, Décio 44 Pindar 23, 25, 28–31, 107 Platner, Ernst 50 Plato 25, 57, 112, 169, 171, 186, 348, 403, 427, 486 Polanyi, Michael 360f. Pomerand, Gabriel 138 Pound, Ezra 33, 41–44 Prado, Paulo 36 Prem, Heimrad 140f. Prévert, Jacques 38 Priessnitz, Reinhard 117 Proust, Marcel 345–347, 349, 354 Q Queneau, Raymond 15, 18, 124, 128, 376 R Rabelais, François 278 Racine, Jean 189, 191 Rathmann, Thomas 4, 252 Rauschenberg, Robert 293 Reich, Charles A. 155 Reich-Ranicki, Marcel 151, 156 Rembrandt, Harmensz van Rijn 252 Ricœur, Paul 1, 3 Riemer, Friedrich Wilhelm 199, 440 Rilke, Rainer Maria 14, 42, 288, 293–298, 311f., 315–317, 391, 425 Rimbaud, Arthur 32–35, 37, 42, 491 Robbe-Grillet, Alain 269, 283 Rodó, José Enrique 33 Ronsard, Pierre de 24, 27–31, 40f. Rosendorfer, Herbert 321 Roth, Dieter 117 Rotrou, Jean de 237 Roubaud, Jacques 120, 243 Rousseau, Jean-Jacques 167, 394, 463, 487, 491

Personenregister 

S Sandford, John 382–384 Sarduy, Severo 39 Saussure, Ferdinand de 123, 366, 395 Scherer, Stefan 48, 286f. Schiller, Friedrich 47, 69, 199f., 204, 206, 208, 283, 444–446 Schlegel, August Wilhelm 77, 244, 427–437, 444 Schlegel, Dorothea 241 Schlegel, Friedrich 18, 65–84, 427, 433 Schleiermacher, Friedrich 77 Schlink, Bernhard 384 Schmidt, Siegfried J. 362 Schmitz-Emans, Monika 48, 52, 79, 107, 115, 124, 266, 270, 481, 491 Schneider, Robert 326 Schnitzler, Arthur 405 Schönthan, Franz und Paul von 237 Schopenhauer, Arthur 167, 304 Schostakowitsch, Dmitri 405 Scott, Walter 455f., 463 Seel, Martin 9, 66, 70, 285–287, 293 Seneca, Lucius Annaeus, Philosophus 104, 106f. Shakespeare, William 244–246, 291, 367, 465 Silan, Jan 470 Simmel, Georg 168f. Šklovskij, Victor 265, 268, 372f. Sloterdijk, Peter 169 Sollers, Philippe 34–39 Sontag, Susan 1 Sophokles 93, 367 Spinoza, Baruch de 427, 487 Stalin, Josef 468f., 471 Stanitzek, Georg 1, 65 Steinberg, Saul 121 Stein, Charlotte von 439, 441 Sterne, Laurence 111 Stirner, Max 156 Strauss, Pavol 470 Strauss, Richard 237, 245f. Sturm, Helmut 140 Sueton 442

 503

T Tassoni, Alessandro 180 Tatarka, Dominik 467–480 Tenniel, John 110, 116 Teufel, Fritz 129, 142, 144 Tibull 24, 444 Tieck, Ludwig 235, 244, 246–248, 250f., 273 Tjupa, Valerij 319–321 Tolstoi, Leo 367 Tynjanov, Jurij 265 Tzara, Tristan 136, 138 U Ulrich von Württemberg 92 V Valéry, Paul 65, 95–99, 102–107, 169 Vauban, Sébastien Le Prestre de 196 Verlaine, Paul 33 Vermeer van Delft, Jan 252 Verne, Jules 119 Vulpius, Christiane 439–441 W Walser, Martin 151, 156 Walther von der Vogelweide 105 Warnsdorff, H. C. 126 Weber, Anne 343–356 Wiener, Oswald 117f. Wimsatt, William K. 399 Winterson, Jeannette 287, 289, 291–293 Wittgenstein, Ludwig 169, 361, 368 Wolf, Uljana 287f., 293–299 Z Zimmer, HP 140f. Zola, Émile 269