Kultur als Ereignis: Fatih Akins Film »Auf der anderen Seite« als transkulturelle Narration [1. Aufl.] 9783839413869

Fatih Akins Film »Auf der anderen Seite« erzählt die Geschichte von sechs Figuren, deren kultureller und nationaler Hint

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Kultur als Ereignis: Fatih Akins Film »Auf der anderen Seite« als transkulturelle Narration [1. Aufl.]
 9783839413869

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Mobilität und Stillstand im Weltkino digital
Der Tod diesseits von Kultur – Wie Fatih Akın den großen Kulturdialog umgeht
Von Lücken, Grenzen und Räumen: Übersetzungsverhältnisse in Alejandro Gonzáles Iñárritus BABEL und Fatih Akıns AUF DER ANDEREN SEITE
Literarischer Essay: Immer nur das andere Leben
Überkreuzungen in globaler Zeit und globalem Raum in Fatih Akıns AUF DER ANDEREN SEITE
Transversale Spuren durch Generationen und Nationen
Erzählte Globalisierung. Gabentausch und Identitätskonstruktion in Fatih Akins AUF DER ANDEREN SEITE
Von der Form zum Material. Fatih Akıns doppeltes Spiel mit dem Genrekino in AUF DER ANDEREN SEITE und GEGEN DIE WAND
Autorinnen und Autoren

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Özkan Ezli (Hg.) Kultur als Ereignis

Özkan Ezli (Hg.)

Kultur als Ereignis Fatih Akıns Film »Auf der anderen Seite« als transkulturelle Narration

Gefördert mit Mitteln des im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder eingerichteten Exzellenzclusters der Universität Konstanz Kulturelle Grundlagen von Integration.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Özkan Ezli, Simone Warta Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1386-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung ÖZKAN EZLI Mobilität und Stillstand im Weltkino digital DENIZ GÖKTÜRK Der Tod diesseits von Kultur – Wie Fatih Akın den großen Kulturdialog umgeht LEVENT TEZCAN Von Lücken, Grenzen und Räumen: Übersetzungsverhältnisse in Alejandro Gonzáles Iñárritus BABEL und Fatih Akıns AUF DER ANDEREN SEITE ÖZKAN EZLI Literarischer Essay: Immer nur das andere Leben SELIM ÖZDOAN Überkreuzungen in globaler Zeit und globalem Raum in Fatih Akıns AUF DER ANDEREN SEITE BARBARA MENNEL Transversale Spuren durch Generationen und Nationen VALENTIN RAUER Erzählte Globalisierung. Gabentausch und Identitätskonstruktion in Fatih Akıns AUF DER ANDEREN SEITE KYUNG-HO CHA

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Von der Form zum Material. Fatih Akıns doppeltes Spiel mit dem Genrekino in AUF DER ANDEREN SEITE und GEGEN DIE WAND STEFAN VOLK Autorinnen und Autoren

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Einle itung ÖZKAN EZLI

»Die Sprachlosigkeit und Distanz, die es in unserem Land lange zwischen der einheimischen Bevölkerung und den so genannten Gastarbeitern und ihren in Deutschland geborenen Kindern gegeben hat, ist überwunden. Ihre Eltern kamen meist in übervollen Zügen aus ihrer Heimat hier in Deutschland an. Heute, in diesem besonderen, der Kultur gewidmeten Bahnhofsgebäude können wir sagen: Sie sind bei uns, sie sind in unserer Mitte angekommen. In der neuen Heimat. Und gehören dazu.«1

Mit diesen Worten schloss der damalige deutsche Innenminister Wolfgang Schäuble seine Eröffnungsrede zur letzten Plenarsitzung der ersten Phase der Deutschen Islam Konferenz (DIK) am 25. Juni 2009 am Berliner Hauptbahnhof. Mit der Zusammenführung von Migrationsgeschichte, Kultur, Rede und Ort generierte er evident-ereignishaft eine Geschichte, die in ihren Anfängen geprägt von Sprachlosigkeit und Distanz zwar schwierig war, aber nun durch die Identitätsbestimmung eines deutschen Islam zu Sprache, zur Integration als Ziel und somit in die Mitte der Gesellschaft gefunden habe. Man könnte Schäubles Aussage auch in die Formulierung übersetzen, dass die türkischen Migranten der ersten und zweiten Generation nunmehr über vierzig Jahre nach dem ersten Gastarbeitervertrag zwischen der deutschen und türkischen Regierung 1961 mit dem Zug aus der Türkei nach Deutschland unterwegs waren und nun als deutsche Muslime angekommen sind. Dieses zielgerichtete Migrations- und zugleich Integrationsnarrativ beruht auf einer klaren Trennung von Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft, von Auszug und Ankunft. Die Ankunft, die der ehemalige Innenminister hier anspricht, ist jedoch keine materiell-körperliche mehr, sondern eine identi1

Schäuble, Wolfgang: »Rede zur Eröffnung der 4. Plenarsitzung der Deutschen Islam Konferenz (DIK) am 25. Juni 2009«, auf: http://www.deutsche-islamkonferenz.de/SharedDocs/Anlagen/DE/DIK/Downloads/Sonstiges/schaeuble-plenum4,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/schaeuble-plenum4.pdf (Stand: 15.07.2010). 7

ÖZKAN EZLI

tätspolitisch-symbolische. Die viel beschworenen Zwischenräume deutschtürkischer Bindungen und ihre Problematisierungen in den 1980ern und 1990ern in Politik und Medien, Sozial- und Geisteswissenschaften, in Literatur und Film scheinen bei dieser langen Odyssee überwunden. An die Stelle des türkischen Gastarbeiters der ersten Generation, der in dem Poem Was will Niyazi in der Naunynstraße? (1973) von Aras Ören noch den Wunsch äußerte, Amerikaner werden zu wollen2, und an die Stelle der Kanaken der 1990er, die systemkritisch mit einer Mischung aus Dichtung und Wahrheit eine sprachpolitische globale Identität jenseits nationaler oder kultureller Zuschreibung evozierten3, ist ein neues Subjekt getreten und gesetzt worden: das muslimische Kultursubjekt, das sein Heil scheinbar nicht mehr im materiell besseren Leben oder im Protest findet, sondern in seiner angeblich ursprünglichen Identität als Muslim. Politische Ereignisse wie der von der Bundeskanzlerin Angela Merkel initiierte Integrationsgipfel 2006 und die damit verbundene Islam Konferenz von 2006 bis 2009 erzählen eine Entwicklungsgeschichte, die alle Ereignisse, die sich zwischen dem Anfang als Bruch und Misskommunikation und der Ankunft in der Mitte der Gesellschaft ereignet haben und ereignen, für »Verkleidungen [und] für bloße Zufälle [hält]; sie möchte alle Masken abtun, um endlich eine erste Identität aufzudecken«.4 Auch wenn in Fatih Akıns Film AUF DER ANDEREN SEITE (2007), der während der Zeit des Integrationsgipfels und der Islam Konferenz entstand, viele der hier genannten Aspekte wie Nationen, Migration, Kultur, Islam und Generationen eine Rolle spielen, finden wir die oben genannten Suchbewegungen nach Integration und erster und aktueller Identität nicht. Erzählt werden in diesem Film Geschichten von sechs Figuren, die zugleich sechs Handlungsstränge definieren. Dabei erstreckt sich der kulturelle wie nationale Background der Protagonisten vom Deutsch-Türkischen (Ali, Yeter [1. Generation], Nejat [2. Generation, Sohn Alis]) über das Türkisch-Türkische (Ayten [Linksaktivistin, Yeters Tochter]) bis zum Deutsch-Deutschen (Susanne [Alt68erin] und Lotte [Susannes Tochter]). Nejat ist ein zurückgezogen lebender

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Ören, Aras: Was will Niyazi in der Naunynstraße? Ein Poem, Berlin 1973, S. 28. Yıldız, Yasemin: »Kritisch ›Kanak‹. Gesellschaftskritik, Sprache und Kultur bei Feridun Zaimolu«, in: Özkan Ezli/Dorothee Kimmich/Annette Werberger (Hg.), Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur, Bielefeld 2009, S. 187-206, S. 195. Siehe im gleichen Band: Ezli, Özkan: »Von der interkulturellen zur kulturellen Kompetenz«, S. 207-230. Siehe auch: Günter, Manuela: »›Wir sind bastarde, freund ...‹ Feridun Zaimolus Kanak Sprak und die performative Struktur von Identität«, in: Sprache und Literatur 83.1 (1999), S. 15-28, bes. S. 21. Foucault, Michel: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: Ders., Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode, hg. v. Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt/M. 2009, S. 181-205, hier S. 85.

EINLEITUNG

Germanistikprofessor in Hamburg, sein Vater Ali ein verwitweter, einsamer Mann, der in Bremen lebt. Als Ali sich eine Prostituierte sucht, trifft er auf Yeter, die ebenfalls aus der Türkei stammt. Er beschließt, ihr Geld dafür zu geben, dass sie mit ihm zusammenlebt. Nejat hat dabei ein Unbehagen, bis er Yeter näher kennen lernt, die ihrer Tochter Ayten in Istanbul regelmäßig Geld schickt. Als Ali Yeter unabsichtlich tötet, macht sich Nejat, der mit seinem Vater wegen des Totschlags bricht, auf die Suche nach der Tochter. Diese ist aber längst in Deutschland, eine politische Aktivistin auf der Flucht vor der türkischen Polizei. Sie lernt die deutsche Studentin Lotte kennen und lieben, was wiederum deren Mutter Susanne, gespielt von Hanna Schygulla, nicht gutheißt. Durch ein Missgeschick landet Ayten in Abschiebehaft und wird nach einem erfolglosen Asylverfahren in die Türkei abgeschoben. Lotte reist ihr nach, um ihr zu helfen. Dabei kommt sie in Istanbul unerwartet durch Straßenkinder ums Leben. Während der Zeit, die Lotte mit Warten auf einen Gerichtsprozess vor ihrem plötzlichen Tod in Istanbul verbringt, sucht Nejat weiter nach der Tochter der Prostituierten Ayten. Er übernimmt während seiner Zeit in Istanbul einen deutschen Buchladen, in dem er auch Lotte begegnet. Sie zieht zur Untermiete bei ihm ein. Nach ihrem plötzlichen Tod reist ihre Mutter Susanne nach Istanbul, um mit den Menschen in Kontakt zu treten, die Lotte zuletzt kannten. Zur gleichen Zeit wird Nejats Vater Ali in die Türkei abgeschoben. Ohne seinen Sohn zu besuchen, reist er an seinen Herkunftsort am Schwarzen Meer von Istanbul aus weiter. Gegen Ende des Films sehen wir Nejat zu seinem Vater an die Schwarzmeerküste fahren, was zugleich die Anfangssequenz des Films war. Trotz der biographisch bedingten Dispositionen, die Migration, Familie, Nation und Kultur in diesem Film bündeln, und trotz der Reise-, Flucht- und Ankunftswege der Akteure zwischen den Nationen Türkei und Deutschland wird in Akıns Film weder der Mythos von der Rückkehr zu Geburtsort, Heimat und Identität bemüht, und ebenso nicht das Ankommen in einer Zielgesellschaft, noch handelt es sich bei diesem Film um einen Kulturdialog oder um einen Kulturkonflikt. Kultur wird in AUF DER ANDEREN SEITE vielmehr von einer Unbestimmtheit getragen, die moderne und vormoderne Vorstellungen von Kultur, wie sie beispielsweise Dirk Baecker in Wozu Kultur? (2003) ausführt5, in Relation setzt und Kultur dadurch evenementalisiert, zum Ereignis macht. Dies ist die These, die dem gesamten Band zugrunde liegt. Nach Michel Foucault bricht die Evenementalisierung die Evidenz gerade solcher linear-kausaler Narrationen6, wie sie zum Beispiel, wie oben beschrieben, die Islam Konferenz imaginiert hat, die Integrations- und Desinteg5 6

Baecker, Dirk: Wozu Kultur?, Berlin 2001, S. 24. Foucault, Michel: »Diskussion vom 20. Mai 1978«, in: Ders., Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode, Frankfurt/M. 2009, hg. v. Daniel Defert und François Ewald, S. 248-265, hier S. 253. 9

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rationsdebatten (Kulturdialog und Kulturkonflikt) auch über Deutschland hinaus in Europa bestimmen. Bruch mit der Evidenz bedeutet in unserem Fall die Abschwächung »des kausalen Schwerefelds« der nationalen und globalen Integration. Diese besteht darin, dass »um das als Prozess analysierte singuläre Ereignis herum ›ein Polygon‹ errichtet wird, bei dem die Anzahl der Oberflächen nicht im Vorhinein definiert ist und niemals mit vollem Recht als endlich betrachtet werden darf. […] Und es gilt in Betracht zu ziehen, dass man, je mehr man das Innere des zu analysierenden Prozesses zergliedert, umso mehr externe Beziehungen der Intelligibilität konstruieren kann und muss. Interne Zergliederung der Prozesse und Vervielfältigung der analytischen ›Vorbauten‹ gehen Hand in Hand.«7

An die Stelle der identitätspolitisch-symbolischen Ankunft und Integration lässt die theoretisch-politische Aufgabe der Evenementalisierung auch Fatih Akıns Film AUF DER ANDEREN SEITE durch die Vervielfältigung der Oberflächen in einen Möglichkeitsraum treten, der die Phänomene Nation, Kultur, Lokalität und Globalität aus Lebensgeschichten speisend in neue Verhältnisse jenseits einer Entweder-oder-Logik von Integration und Desintegration setzt. Diesem Raum widmen sich die Beiträge dieses Bandes aus den Bereichen Film- und Literaturwissenschaft, Soziologie, Filmkritik und Literatur. Mit jeweils methodisch unterschiedlichen Herangehensweisen tarieren die Autoren anhand der Analyse des Films AUF DER ANDEREN SEITE, der das Hauptmaterial aller Texte darstellt, differente und neue Verhältnisbestimmungen zwischen den oben genannten Abstrakta aus. Die Literatur- und Filmwissenschaftlerin Deniz Göktürk macht in ihrem einleitenden Beitrag »Mobilität und Stillstand im Weltkino digital« auf eine besondere Spannung zwischen Verortung und Entortung in Akıns Film aufmerksam, die nicht mehr mit den bisherigen zentralen Metapher des ›Fließens‹ und der ›Vernetzung‹ für Hybridität und Globalität erschlossen werden kann, sondern nach Göktürk vielmehr mit der der ›Reibung‹ (friction) nach Anna Tsing.8 Bedingt durch eine resistente Materialität im Film und durch die neuen digitextuellen Rezeptionsmöglichkeiten, die Göktürk parallel zu ihrer Filmanalyse minutiös aufarbeitet, avanciert der Film als DVD mit Zusatzmaterialien zum offenen Text, der in einem unaufhörlichen Prozess nationale, globale und lokale Rahmungen in sich verschränkt, die jedoch nie als Rückkehr oder Ankunft in eine alte oder neue Heimat gelesen werden können. Dies korrespondiert nach Göktürk mit der theoretisch-politischen Aufgabe der

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Ebd. Lowenhaupt Tsing, Anna: Friction. An Ethnography of Global Connection, Princeton 2005.

EINLEITUNG

Evenementalisierung nach Foucault, die kausale Evidenzen durch polymorphe Vervielfältigungen in Frage stellt. Wenn Göktürk Akıns Film digitextuell verortet, so zeigt der Religionssoziologe Levent Tezcan in »Der Tod diesseits von Kultur – Wie Fatih Akın den großen Kulturdialog umgeht«, in welchem gesellschaftspolitischen Verhältnis AUF DER ANDEREN SEITE besonders zum viel beschworenen ›Dialog der Kulturen‹ steht. Im politisch aktuellen Diskurs geht es darum, über einen makrologisch strukturierten Dialog eine dauerhafte Beziehung zwischen Kultursubjekten zu institutionalisieren. In Akıns Film finden wir dagegen eine mikrologisch strukturierte Dialogizität, die die ›kleinen Dinge‹ und ›die vielen Dialoge‹ im Blick hat, und die die vielfältigen wie komplexen Bindungen der Akteure zu Alltag, Dingen und anderen Personen aufzeigt. Zentral hierbei ist nach Tezcan der grundlegende Todesbezug im Film, dem auch im Foucault’schen Sinne eine besondere Sensibilität für das Ereignis zugrunde liegt. Mehrmals hat Fatih Akın während der Postproduktionsphase von AUF DER ANDEREN SEITE den Film BABEL des mexikanischen Regisseurs Alejandro Gonzáles Iñárritu gesehen. Er half ihm dabei, seinen eigenen Film im Unterschied zu BABEL narrativ anders zu strukturieren.9 Neben dem formalen Aspekt gibt es zwischen den beiden Filmen auch sehr viele inhaltliche Überschneidungspunkte und der Literaturwissenschaftler Özkan Ezli zeigt in seinem Beitrag »Von Lücken, Grenzen und Räumen: Übersetzungsverhältnisse in Alejandro Gonzáles Iñarritus BABEL und Fatih Akıns AUF DER ANDEREN SEITE« sowohl auf formaler als auch auf inhaltlicher Ebene, dass wir es trotz Einflussgrad und Ähnlichkeit in beiden Filmen mit zwei sehr differenten Erzähl- und Umgangsarten von Kultur und Welt zu tun haben, die den Raum der Übersetzungen und Kommunikationen zwischen Akteuren aus differenten kulturellen Kontexten unterschiedlich besetzen. Grundlage hierfür ist vor allem, wie unterschiedlich in beiden Filmen Ereignisse generiert und in die filmischen Narrative eingebunden werden. Der Roman Die Tochter des Schmieds des Literaten Selim Özdoan taucht mehrmals in AUF DER ANDEREN SEITE auf und gibt dem Verhältnis zwischen dem türkischen Gastarbeiter der ersten Generation Ali (Tuncel Kurtiz) und seinem Sohn Nejat (Baki Davrak) eine besondere Bedeutungsebene. Mit der Protagonistin Gül erzählt Özdoans Roman die Vorgeschichte der türkischen Arbeitsmigration nach Deutschland in der türkischen Provinz zwischen den 1940er und 1960er Jahren. Der Roman endet mit der Migration nach Deutschland. Gül hat ebenso wie Nejat die Mutter früh verloren. Ihre Figur steht aber zugleich für die Generation von Nejats Vater. In der literarischen Erzählung »Immer nur das andere Leben« in unserem Band erzählt Öz9

Rodek, Hans-Georg: »Ich hatte schon Zweifel an meinem Talent«, Interview mit Fatih Akın, in: Die Welt vom 20.09.2007. [http://www.welt.de/welt_print/ article1198145/Ich_hatte_sogar_Zweifel_an_meinem_Talent.html] 11

ÖZKAN EZLI

doan Güls Geschichte weiter, die zugleich die Erstveröffentlichung der ersten Seiten des Folgeromans von Die Tochter des Schmieds darstellt. In »Immer nur das andere Leben« wird auf eine ganz besondere Transformation im Leben der deutsch-türkischen Arbeitsmigranten in den 1970er und 1980er Jahren aufmerksam gemacht, die bis heute ihre Prägekraft im deutschtürkischen Leben in Deutschland nicht verloren hat. Wie bereits Aras Ören in den 1970ern beschrieben hat, war einer der Wünsche der ersten Gastarbeiter zu Anfang der Migration – von den amerikanischen Filmen beeinflusst –, wie die Amerikaner leben zu wollen. In Deutschland treten durch die Medialisierung türkischer Haushalte (z.B. Videorecorder) dann an die Stelle der amerikanischen melodramatische und komödiantische türkische Filme, die in der Diaspora die Begehrens- und damit verbunden die Identifikationsstruktur in eine andere Richtung lenken. Die Direktorin der Film und Medienstudien an der University of Florida Barbara Mennel geht in ihrem Beitrag »Überkreuzungen in globaler Zeit und globalem Raum« der komplexen Struktur von Zeit und Raum in Akıns Film nach. Geprägt von Dopplungen, Paarungen und Überschneidungen entwickelt der Film nach Mennel durch topographische, zeitliche und mobile Konstellationen der Filmfiguren ein dynamisches und bewegliches Netzwerk, das auch über das bekannte Modell des Accented Cinema von Hamid Naficy zum diasporischen Film hinausgeht. Die Autorin zeigt, dass die nicht-lineare Erzählweise dieses Netzwerks eine filmische Poetik generiert, die bei der Darstellung der Gleichzeitigkeit von transnationaler Mobilität und regionaler Bindung weder der globalen noch der regionalen Ebene eine definitorische und damit verbunden auch keine identifikatorische Hoheit zuspricht. In Mennels Beitrag zeigt sich auch auf formaler Ebene das produktive Spannungsverhältnis, das in allen Beiträgen des Bandes zu finden und mit der Logik der Vervielfältigung von Oberflächen beschreibbar ist. So hält auch der Soziologe Valentin Rauer in seinem Artikel »Transversale Spuren durch Generationen und Nationen« aus migrationssoziologischer Perspektive fest, dass AUF DER ANDEREN SEITE eine bzw. mehrere nationale Grenzen überschreitende Geschichte(n) erzählt, ohne jedoch eindeutig als kosmopolitisch und postnational definiert werden zu können. Grund für diese produktive Unbestimmtheit ist für Rauer die Kopplung der komplexen transnationalen Querung im Film mit der Darstellung von ähnlichen und sich überkreuzenden Lebens- und Generationsverhältnissen auf deutsch-türkischer, deutsch-deutscher und türkisch-türkischer Seite. Die Ausweitung der klassischen Migrationserzählung in den transnationalen Raum mit den Sichtweisen und Perspektiven verschiedener Generationen über unterschiedliche kulturelle Kontexte hinweg generiert eine kontingente Verfasstheit, die sich nach Rauer mit der theoretisch-politischen Aufgabe der Evenementalisierung, der Vervielfältigung von Oberflächen, sehr gut beschrieben lässt. 12

EINLEITUNG

»Erzählte Globalisierung. Gabentausch und Identitätskonstruktion in Fatih Akıns AUF DER ANDEREN SEITE« lautet der Titel des Beitrags des Literaturwissenschaftlers Kyung-Ho Cha. Er nimmt in seiner Filmanalyse die Bedeutung und evidente Zirkulation von Objekten im Film in den Fokus. Die Gegenstände Buch, Schuhe und Pistole nehmen nach Cha in AUF DER ANDEREN SEITE eine Gabenfunktion ein, die durch das Geben und Nehmen die Positionen und die Identitäten der Akteure in diesem Film nachhaltig mitbestimmen. Dabei nimmt die Zirkulation der Gaben als topologisches, biographisches und soziales Medium drei grundlegende Funktionen ein, die in ihrer Inszenierung und in ihrem Austausch die Globalisierung zum Ereignis verdichten. Im abschließenden Beitrag »Von der Form zum Material. Fatih Akıns doppeltes Spiel mit dem Genrekino in GEGEN DIE WAND und AUF DER ANDEREN SEITE« dieses Bandes beschreibt der Filmkritiker Stefan Volk das Verhältnis der Filme Akıns zum Genrekino als ein nicht klar definierbar Vielfältiges. Akın zitiert genreartige Elemente, unterläuft sie aber zugleich. Vergleichbar mit den sich kreuzenden Verhandlungsweisen differenter Kulturen, wie sie Akıns Protagonisten grundlegend auszeichnen, schöpft Akın auch selbst aus dem Vorrat unterschiedlicher Genres. So sind nach Stefan Volk die Filme Akıns stilistisch von einer formalen Diversifikation geprägt, die »ein Nebeneinander von konventionellen und experimentellen Erzählmustern, zarten, wilden und unbändigen Filmen, von Kunst und Kitsch« (S. 155) erlauben, die man in dieser Form im deutschen Kino selten findet. Fatih Akıns Film AUF DER ANDEREN SEITE war 2008 der deutsche Anwärter auf den amerikanischen Filmpreis Oscar. Mit Angela Merkel und Wolfgang Schäuble gesprochen, ist Akıns Kino in der Mitte der deutschen Gesellschaft angekommen. Doch zeigt uns der hier erbrachte genaue und vielfältige Blick auf diesen Film und seine evenementalisierende Grundstruktur, dass je mehr man analytisch in ein vermeintliches Zentrum dringt, desto mehr Außenstellen und Oberflächen entstehen, die die gesellschaftspolitisch, aber auch kulturtheoretisch dominierenden Abstrakta wie Nation, Kultur und Globalität in ein vielschichtiges Spannungsfeld versetzen, die ihre definitorischen und integrativen Hoheiten bricht. Der vorliegende Band Kultur als Ereignis geht auf den Workshop »Evenementalisierung von Kultur. Fatih Akıns Film AUF DER ANDEREN SEITE als transkulturelle Narration« vom 10. bis 11.12.2008 im Exzellenzcluster 16 ›Kulturelle Grundlagen von Integration‹ an der Universität Konstanz zurück, der dankenswerterweise auch die Finanzierung der Tagung übernommen hatte. An dieser Stelle möchte ich auch den Autoren für Ihre Vorträge und Texte für dieses Buch ebenso danken, wie für die anregenden Diskussionen im Umfeld von Tagung und Publikation. Und ganz besonders bedanken möchte ich mich bei unserer Lektorin im Exzellenzcluster Simone Warta für ihre vorzügliche Mitarbeit. 13

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Literatur Baecker, Dirk: Wozu Kultur?, Berlin 2001. Ezli, Özkan: »Von der interkulturellen zur kulturellen Kompetenz. Fatih Akıns globalisiertes Kino«, in: Ders./Dorothee Kimmich/Annette Werberger (Hg.), Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur, Bielefeld 2009, S. 207-230. Foucault, Michel: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: Ders., Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode, hg. v. Daniel Defert, François Ewald und Jacques Lagrange, übers. v. Hermann Kocyba, Frankfurt/M. 2009, S. 181-205. — : »Diskussion vom 20. Mai 1978«, in: Ders., Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode, hg. v. Daniel Defert, François Ewald und Jacques Lagrange, übers. v. Hermann Kocyba, Frankfurt/M. 2009, S. 248-265. Günter, Manuela: »›Wir sind bastarde, freund ...‹ Feridun Zaimolus Kanak Sprak und die performative Struktur von Identität«, in: Sprache und Literatur 83.1 (1999), S. 15-28. Lowenhaupt Tsing, Anna: Friction. An Ethnography of Global Connection, Princeton 2005. Ören, Aras: Was will Niyazi in der Naunynstraße? Ein Poem, Berlin 1973. Rodek, Hans-Georg: »Ich hatte schon Zweifel an meinem Talent«, Interview mit Fatih Akın, in: Die Welt vom 20.09.2007. [http://www.welt.de/ welt_print/article1198145/Ich_hatte_sogar_Zweifel_an_meinem_Talent. html] Schäuble, Wolfgang: »Rede zur Eröffnung der 4. Plenarsitzung der Deutschen Islam Konferenz (DIK) am 25. Juni 2009«, auf: http://www.deutscheislam-konferenz.de/SharedDocs/Anlagen/DE/DIK/Downloads/Sonstiges/ schaeuble-plenum4,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/ schaeuble-plenum4.pdf (Stand: 15.07.2010). Yıldız, Yasemin: »Kritisch ›Kanak‹. Gesellschaftskritik, Sprache und Kultur bei Feridun Zaimolu«, in: Özkan Ezli/Dorothee Kimmich/Annette Werberger (Hg.), Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur, Bielefeld 2009, S. 187-206.

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M obilit ät und St il lst and im W elt kino d igit al* DENIZ GÖKTÜRK

Für Akit Göktürk (1934-1988) »Je mehr die Welt dank Auto, Film und Aeroplan zusammenschrumpft, um so mehr wird freilich auch der Begriff des Exotischen relativiert; statt wie jetzt vielleicht noch an den Pyramiden und dem Goldenen Horn zu haften, bezeichnet er dann jeden beliebigen Weltpunkt, insofern er von einem anderen beliebigen Weltpunkt aus als ungewöhnlich erscheint. [...] Infolge der zivilisatorischen Annehmlichkeiten ist heute bereits nur der geringste Teil der Erdoberfläche terra incognita, die Menschen sind heimisch sowohl zuhause wie anderwärts oder auch nirgends zuhause.«1

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Frühere Versionen dieses Materials wurden als Vortrag auf den folgenden Tagungen vorgestellt: »Film Transnational. Europäische und amerikanische Perspektiven«, Universität Göttingen, 18.-19. Juli 2008; »Evenementalisierung von Kultur«, Universität Konstanz, 10.-11. Dezember 2008; »Culture, Politics and Performativity. Cinemas of the Middle East and South Asia«, University of California Davis, Middle East/South Asia Studies Program and Film Studies Program, 15.-16. März 2009. Ich danke den Veranstaltern und Teilnehmern dieser Tagungen für fruchtbare Diskussionen. Özkan Ezli, Peter Krämer, Andreas Langenohl und Barbara Mennel danke ich für Kommentare zu früheren Fassungen des Textes, die viel zur Klärung des Gedankengangs beigetragen haben. Kracauer, Siegfried: »Die Reise und der Tanz«, in: Ders., Schriften 5.1, Frankfurt/M. 1990, S. 289. 15

DENIZ GÖKTÜRK

1. Verortung und Entortung Können Filme Ortskenntnis vermitteln, die auf Google Earth nicht zu finden ist? Wie orientieren sich Zuschauer geographisch bei wechselnden Schauplätzen, besonders wenn das Weltkino in digitalem Format rezipiert wird? Bei der Vergegenwärtigung des Lokalen im Globalen kommt den visuellen Medien eine zentrale Rolle zu. Einem Vorschlag Martin Roberts’ zufolge, verdienen allerdings nur jene Filme die Kategorisierung als ›Weltkino‹ (world cinema), in denen »planetarisches Bewußtsein« zum Tragen kommt.2 Der Begriff des Weltkinos ist jedoch nicht abgekoppelt zu denken von der »globalen Kulturindustrie«, wie Roberts in seinem Vergleich von Zuschauerpositionen in Ron Frickes BARAKA (1992) und Dziga Vertovs DER MANN MIT DER KAMERA (1929) zeigt. Er bescheinigt dem globalen Ethnodokumentarfilm mit IMAX-Ästhetik und Weltmusik-Soundtrack in Anlehnung an Renato Rosaldo »imperialistische Nostalgie«.3 Der klassisch-modernistische Großstadtkompilationsfilm schneidet dagegen deutlich besser ab, was die Offenlegung des Apparats und die Partizipation des Publikums betrifft. Bei aller Rede von Interaktivität im digitalen Zeitalter sind die Grundfragen der Repräsentation, wer wen für wen ins Visier nimmt und welche Orte zu erkennbaren Schauplätzen avancieren, noch lange nicht abschließend geklärt. Welche Hinweise zur Positionsbestimmung geben uns Regisseure und Produzenten von ›Reisefilmen‹4, nicht nur im Hauptfilm, sondern auch im Zusatzmaterial? Am Beispiel von Fatih Akıns Film AUF DER ANDEREN SEITE (2007) und Intertexten analysiere ich im Folgenden das Zusammenspiel von Strategien der Verortung und Entortung, das Verhältnis von ortsgebundener Besonderheit und universeller Verständlichkeit im transnational mobilen europäischen Gegenwartskino. Die Spannung zwischen Verortung und Entortung in der medialen Imagination hat ihre Entsprechung in geopolitischen Konstellationen, wie uns Sozialwissenschaftler und Anthropologen in Erinnerung rufen. Saskia Sassen betont, dass nichts rein virtuell sei: Digitalisierung beruhe immer auf materiellen Infrastrukturen, auf der Konzentration von Kapital und Industrie in ›Weltstädten‹, die einhergehen mit Ungleichgewicht im Zugang zu Infor-

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Roberts, Martin: »Baraka. World Cinema and the Global Culture Industry«, in: Cinema Journal 37.3 (Spring 1998), S. 62-68. [http://www.jstor.org/stable/ 1225827] Ebd., S. 69. Zum Genre des ›Reisefilms‹ mit fließenden Grenzen zwischen Dokumentar- und Spielfilm vgl. auch Deeken, Annette: Reisefilme. Ästhetik und Geschichte, Remscheid 2004.

MOBILITÄT UND STILLSTAND IM WELTKINO DIGITAL

mation und Besitz.5 Ungeachtet dieser Verortung des Virtuellen, ist »die Produktion von Lokalität«6 immer relational und kontextgebunden zu denken, wie Arjun Appadurai in seiner Studie über die kulturellen Dimensionen der Globalisierung hervorhebt. Die Kategorien der Nachbarschaft, des Nationalstaats und der Diaspora sind für ihn durch vielfältige Flüsse (flows) und Risse (disjunctures) miteinander verbunden und vermittelt, nicht nur durch Migrationsbewegungen, sondern auch durch elektronische Medien. In einem späteren Essay betont Appadurai ferner die Notwendigkeit, Regionen neu zu denken in einer prozessorientierten Geographie, die ihr Augenmerk auf Aktion, Interaktion und Bewegung richtet. Dabei wären ›Grasswurzelaktivismus‹ und ›Globalisierung von unten‹ in die Forschung einzubeziehen.7 Anna Tsing weist unterdessen darauf hin, dass Menschen, Waren und Daten nicht ungehindert und gleichmäßig ›fließen‹; globale Verbindungen entstehen vielmehr an spezifischen Orten, im Dickicht alltäglicher Begegnungen (sticky materiality of practical encounters8). In ihren theoretischen Ausführungen zu Interaktionen zwischen lokalen und globalen Interessen ersetzt ›Reibung‹ (friction) als zentrale Metapher das ›Fließen‹ (flow). Ihre ethnographische Theorie beruht auf der Einsicht, dass es Widerstände in der Zirkulation gibt, die in dem Ungleichgewicht ökonomischer Ressourcen und machtpolitischer Interessen begründet liegen. Wie wir im Folgenden sehen werden, verschränken sich in der Analyse von kulturellen Texten lokale Spezifik und globale Vernetzung immer wieder in dynamischen Konstellationen. Die Spannung zwischen Mobilität und Stillstand und ihre Medialisierung durch Film und digitale Medien stehen im Zentrum dieses Essays. Die Präsentation eines Films auf DVD erlaubt den Zuschauern, interaktiv an der Imagination von Topographien zu partizipieren. Während der Audiokommentar des Regisseurs, gewissermaßen als Originalitätssiegel, in der Regel einen auktorialen Gestus der kreativen Kontrolle durchspielt, laden andere Extras auf der DVD, beispielsweise aus dem Hauptfilm herausgeschnittene Fragmente oder Dokumentaraufnahmen von Schauplatzsuche, Proben oder Dreharbeiten, zur kombinatorischen Mitarbeit ein. Die Zuschauer blicken hinter die Kulissen, folgen Verweisen und finden darüberhinaus ergänzendes Material auf 5

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Sassen, Saskia: »Electronic Space and Power«, in: Dies., Globalization and Its Discontents. Essays on the New Mobility of People and Money, New York 1998, S. 176-194. Appadurai, Arjun: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis/London 1996. Appadurai, Arjun: »Grassroots Globalization and the Research Imagination«, in: Public Culture 12.1 (Winter 2000), S. 1-19, hier S. 13. Lowenhaupt Tsing, Anna: Friction. An Ethnography of Global Connection, Princeton 2005, S. 1. 17

DENIZ GÖKTÜRK

Google, YouTube oder anderen DVDs. Wie bereits in Akıns früheren Filmen GEGEN DIE WAND und CROSSING THE BRIDGE spielt in AUF DER ANDEREN SEITE Musik, gewissermaßen als polyphoner Kommentar zu den filmischen Bildern, abermals eine wichtige Rolle und vermittelt zugleich lokalen Einsatz und ortsüberschreitende Resonanzen.9 Das Augenmerk auf »digitextuelle« 10 Interferenz und Zirkulation ermöglicht vielschichtig vernetzte Lektüren. Durch das »interaktive Klickvergnügen« wird der Film zum offenen Text; seine Geschlossenheit erweist sich als Illusion. Regionale Identifikation erscheint dabei als unaufhörlicher Prozess der Medialisierung in sich verschränkenden lokalen, nationalen und globalen Rahmen, niemals als Rückkehr zu beständigen Wurzeln in einer Heimat. Diese Öffnung der Bedeutung in der Lektüre korrespondiert mit der theoretisch-politischen Aufgabe, die Michel Foucault als ein »Zum-EreignisMachen« beschrieben hat.11 Das In-Frage-Stellen kausaler Evidenz ermöglicht, nach Foucault, einen »Polymorphismus der Elemente, [... ] der beschriebenen Beziehungen [... und] Referenzbereiche« zu erkennen. Diese polymorphe Denkweise – so mein Vorschlag in der folgenden Analyse – findet gewissermaßen in der digitalen Vernetzung ihre mediale Entsprechung. Dabei werden geopolitische Positionen in ihren Interdependenzen erfassbar; besonders die Schwarzmeerregion erschließt sich in Bild-Ton-Konstellationen evokativ als Kräftefeld an den Grenzen Europas. Der Film animiert Orte und Momente an der Peripherie und macht sie zum Ereignis. Die Analyse der Anfangsszene des Films AUF DER ANDEREN SEITE im folgenden Abschnitt entfaltet die geographische Positionierung und die Spannung zwischen Mobilität und Stillstand über den Verweis auf Tschernobyl. Der folgende Abschnitt über ›Vernetzung‹ ist der digitalen Präsentation und Rezeption von Filmen gewidmet, der Verschichtung der Bildebene mit Ton- und Kommentarspuren, die dem DVD-Publikum zur Auswahl angeboten werden. Dabei wird deutlich, dass die Wiederholbarkeit von Szenen mit Variationen seitens des Zuschauers, die Öffnung des Textes und 9

Zur Rolle der Musik in diesen Filmen vgl. Göktürk, Deniz: »Sound Bridges. Transnational Mobility as Ironic Melodrama«, in: Miyase Christensen/Nezih Erdoan (Hg.), Shifting Landscapes. Film and Media in European Context, Newcastle 2008, S. 153-171. 10 Anna Everett definiert ›Digitextualität‹ in Anlehnung an Julia Kristevas Konzept der ›Intertextualität‹ als Konvergenz der Medienindustrien (Film, Fernsehen, Musik und Printmedien) mit markanten Kontinuitäten und Brüchen zwischen ›alten‹ und ›neuen‹ Medien. Everett, Anna: »Digitextuality and Click Theory. Theses on Convergence Media in the Digital Age«, in: Dies./John T. Caldwell (Hg.), New Media. Theories and Practices of Digitextuality, New York/London 2003, S. 3-31. 11 Foucault, Michel: »Zum Ereignis machen«, in: Ders., Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode, hg. v. Daniel Defert, François Ewald und Jacques Lagrange, übers. v. Hermann Kocyba, Frankfurt/M. 2009, S. 252-254. 18

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Anlagerung von Fragmenten, prägend ist für die Struktur filmischen Erzählens heute. In dem Abschnitt über Musik und Medialisierung der Region wird die Reise ans Schwarze Meer als treibende Kraft des Films gelesen, das Schlussbild des Filmes als ironischer Blick auf Europa vom anderen Ufer. Die mediale Produktion des Lokalen sowie polyphone Resonanzen und Interdependenzen in der geopolitischen Imagination werden schließlich in Beziehung gesetzt mit dem Zusammenspiel der Medien und der Pluralisierung der Lektüren.

2. Tschernobyl an der Tankstelle Der Film beginnt ruhig. Eine kleine Hütte in der Sonne, dahinter eine Mauer, Bäume und Strommasten, davor eine Bank, ein Hund schnüffelt an einem Napf. Die Kamera fährt langsam nach rechts. Im Hintergrund ist ein Mann mit einem Radwechsel an einem Bus beschäftigt. Rotweiße Zapfsäulen kommen ins Bild, erst drei im Hintergrund, dann zwei in der Mitte und nochmal zwei im Vordergrund. Die versetzte Staffelung der Säulen erzeugt eine Tiefenstruktur des Bildes auf drei Ebenen – eine visuelle Vorausdeutung auf die dreiteilige Struktur des Films. Die verschlafene Tankstelle mit der Aufschrift ›Petrol‹ und dem stillgelegten Bus im Hintergrund ist ein Umschlagplatz der Energie, jedoch ohne Verkehr. Zunächst bewegt sich hier nur die Kamera. Dann fährt aus der entgegen gesetzten Richtung von rechts nach links ein weißes Auto ins Bild und hält in der Mitte an, gerahmt von den beiden Zapfsäulen im Vordergrund. Der Fahrer steigt aus. Ein Tankwart tritt hervor und grüßt auf Türkisch: »Bayramınız mübarek olsun!« (Gesegnetes Fest!) – »Saolun! Sizin de!« (Danke! Ihnen auch!) – »Doldurayım mı abi?« (Soll ich vollmachen, Bruder?) – »Doldur.« (Voll.) Der Fahrer geht nach hinten zum Laden, wo ihm ein weiterer Mann ›frohes Fest‹ wünscht und ihn willkommen heißt. Die Spannung zwischen Mobilität und Stillstand, die für den gesamten Film kennzeichnend sein wird, ist in dieser ersten Einstellung bereits angelegt. Den Eintritt des Reisenden in den Laden filmt die Kamera von innen. Die Musik, die leise im Hintergrund zu hören war, wird nun lauter, erweist sich als diegetisch und wird sogar zum Gesprächsgegenstand. Der Reisende, das Hemd offen, darunter weißes Unterhemd, verschwitzt und gedankenverloren die Auslage betrachtend, erkundigt sich: »Bu arkı nedir?« (Was ist das für ein Lied?) Der Ladeninhaber antwortet: »Kazım Koyuncu. Hiç duymadınız mı?« (Kazım Koyuncu. Haben Sie ihn noch nie gehört?) –»Hayır.« (Nein.) – »Burada Karadeniz’de çok tutulur.« (Man hält viel von ihm hier am Schwarzen Meer.) – »Tanımıyorum.« (Ich kenn ihn nicht.) – »Artvin’li. Iki sene önce kanserden öldü. Çok gençti. Sizin yaınızda.« (Er stammte aus Artvin. Vor 19

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zwei Jahren ist er an Krebs gestorben. Er war noch sehr jung. In ihrem Alter.) Der Reisende befasst sich mit Chipstüten im Regal, hebt kurz die Augenbrauen. Seine Mimik verrät, dass er den Vergleich distanziert gleichgültig zur Kenntnis nimmt. Da erklärt der Ladeninhaber weiter: »Hep Çernobil’den. Bunların hepsi yeni yeni ortaya çıkıyor.« (Alles wegen Tschernobyl. Das alles kommt erst jetzt zu Tage.) Der Dialog in türkischer Sprache legt nahe, dass wir uns in der Türkei befinden. Durch die deiktische Verwendung von ›hier‹ wird der Schauplatz in der Schwarzmeerregion verortet. Der Reisende bezahlt wortlos. Die Distanz der Kamera zu den Figuren unterstreicht seine neutrale Haltung. Wie der Regisseur in seinem Kommentar mehrfach betont, unterscheidet sich das Kamerakonzept in AUF DER ANDEREN SEITE durch die sehr viel sparsamere Verwendung von Nahaufnahmen (close ups) von Akıns früheren Filmen GEGEN DIE WAND oder IM JUL, erzeugt eine abgeklärte Grundstimmung und positioniert den Zuschauer als distanzierten Beobachter. Die Tankstellenszene nimmt als Prolog Themen und Strukturen des Films andeutungsweise vorweg. Der Reisende spricht zwar die Sprache, ist vertraut mit Festtagswünschen, versteht aber dennoch nicht alle Zeichen. Die Musik ist ihm fremd. Sein zögerliches Interesse kann stellvertretend gelesen werden, nicht nur für den Regisseur Fatih Akın, der eine ähnliche Begegnung auf seiner Reise zu Drehorten selbst erlebt hat, wie er im Zusatzmaterial auf der DVD erläutert, sondern auch für den Zuschauer, der die Szene auf einem internationalen Festival oder auf dem Fernseher irgendwo auf einem anderen Kontinent sieht und keine Sprach- oder Ortskenntnis mitbringt. Empathie für einen unbekannten, an Krebs jung verstorbenen Sänger kommt verhalten auf; der »touristische Blick«12 kann sich mit lokalen Geschichten nur bedingt identifizieren. Allerdings artikuliert der Tankwart zugleich die Präsenz des Globalen im Lokalen. Der Verweis auf den Reaktorunfall von Tschernobyl in der Ukraine am 26. April 1986 als Ursache vermehrter Krebserkrankungen in der Region deutet auf die Verknüpfung von Schicksalen über das Meer und nationale Grenzen hinweg. Tatsächlich sind die Ausmaße der Spätfolgen der Verstrahlung zwanzig Jahre nach der größten nuklearen Katastrophe in der Geschichte der Atomenergie nur schwer zu ermessen. Entscheidend ist die Interdependenz von global medialisierten Ereignissen und lokalen, weniger bekannten Schicksalen, die der Sesshafte dem Reisenden erläutert. Die klare Trennung zwischen ›einheimisch‹ und ›fremd‹ wird dadurch unterlaufen. Der Film nimmt einer Kritik, die auf klare Zugehörigkeiten pocht und eine strenge

12 Urry, John: The Tourist Gaze. Leisure and Travel in Contemporary Societies, London 1990. 20

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Unterscheidung von Innen- und Außenperspektive auf die Nationalkultur propagiert, gleich eingangs den Wind aus den Segeln.13 Für Ulrich Beck ist die nukleare Katastrophe von Tschernobyl »der anthropologische Schock«, der Beweis für die Allgegenwart der »Risikogesellschaft« schlechthin: »In der Moderne ist ein Gefährdungsschicksal entstanden, eine Art Gegenmoderne, die all unsere Begriffe von Raum und Zeit und sozialen Differenzierungen aufhebt. Was gestern noch ›weit weg‹ war, liegt heute und in der Zukunft ›vor unserer Haustür‹: zum Beispiel Tschernobyl. Kausalität kann sich über Jahrzehnte erstrecken. Die Wirkungen zeigen sich global, zeitlich versetzt und wiederum nur im Kampf um statistische Signifikanzen oder in der Tarnkappe der Vereinzelung. Nationalstaaten mögen zwar die Entscheidung der technisch-ökonomischen Entwicklung in eigener Regie privat oder staatlich organisieren. In ihren Folgen und damit in den Schlüsselfragen der Sicherheit und Gesundheit der Bürger haben sie im Atomzeitalter ihre Kompetenz eingebüsst. Wer noch von ›den inneren Angelegenheiten eines anderen Landes‹ redet, denkt in Kategorien, die unsere Wirklichkeit nicht mehr greifen.«14

Der Verweis auf Tschernobyl in AUF DER ANDEREN SEITE aktiviert demnach eine Schlüsselreferenz im Verständnis globaler Vernetzung. Ungleich Beck, in dessen Theorie der globalen Risikogesellschaft die Wolke von Tschernobyl als übermächtige Kraft der Homogenisierung erscheint, lenkt Akın in seinem Film das Augenmerk jedoch auf die räumlich und zeitlich versetzten symbolischen Verarbeitungsprozesse. In dieser Hinsicht hat der Film mehr Ähnlichkeit mit Christa Wolfs Erzählung Störfall. Nachrichten eines Tages15, die ebenso wie die erste Fassung von Becks Essay kurze Zeit nach der Katastrophe geschrieben und veröffentlicht wurde. Wolfs Ich-Erzählung widersetzt sich der homogenisierenden Wahrnehmung mit ortsgebundenen Reflexionen, fragmentarischen persönlichen Erinnerungen und intertextuellen Resonanzen. Im Verlauf eines Tages, während der Bruder der Erzählerin in einer entfernten Stadt an einem Gehirntumor operiert wird, verfolgt sie in einem kleinen Dorf in Mecklenburg die Nachrichten über den Reaktorunfall im Radio, kommuni13 In seiner Kritik zu AUF DER ANDEREN SEITE in der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet schrieb Vecdi Sayar, Akın betrachte die Türkei »von der anderen Seite« und appelliere mit seinem Film an das schlechte Gewissen westlicher Intellektueller. Sayar, Vecdi: »Cannes’ın Kıyısında«, in: Cumhuriyet vom 25. Mai 2007, zitiert in: Dönmez-Colin, Gönül: Turkish Cinema. Identity, Distance and Belonging, London 2008, S. 78. 14 Beck, Ulrich: »Der anthropologische Schock. Tschernobyl und die Konturen der Risikogesellschaft«, in: Merkur 450.8 (August 1986), S. 653-663. 15 Wolf, Christa: Störfall. Nachrichten eines Tages, Berlin/Weimar 1987. Zu Tschernobyl und Christa Wolfs Störfall vgl. auch Heise, Ursula K.: Sense of Place and Sense of Planet. The Environmental Imagination of the Global, Oxford 2008, S. 178-203. 21

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ziert sowohl per Telefon und Post als auch in Gesprächen am Ort und widmet sich alltäglichen Verrichtungen wie der – plötzlich gefährlich gewordenen – Gartenarbeit. Dabei wird deutlich, dass das Leben in der modernen Welt immer schon unentwirrbar mit Nachrichten von andernorts und Fern-Gesprächen verflochten ist, trotz praktischer, sensorischer und ideeller Verankerung an einem Ort. Beck betont in seinen Reflexionen die universale Wirkung der Katastrophe als Ereignis; die Wolke schwebt über Grenzen hinweg und lässt die Idee von nationaler Souveränität obsolet erscheinen. Gegen ein solches kausal bedingtes und homogenisierendes Verständnis von Globalisierung steht die exemplarische Inszenierung der Effekte über räumliche und zeitliche Entfernung hinweg, die in der Tankstellenszene in AUF DER ANDEREN SEITE (und allgemeiner im Medium der Literatur und des Films) zu finden ist. Die Bedeutung Tschernobyls zwanzig Jahre danach an dieser verschlafenen Tankstelle nahe dem türkischen Ufer des Schwarzen Meers ist nur durch genaues Hinhören auf die Zwischentöne von Gesprächen und Liedern zu erfassen. Der Verweis des Tankwarts auf Tschernobyl deutet auf eine Vervielfältigung des Ereignisses (siehe Foucault) und artikuliert im Sinne Appadurais eine Imagination der Welt aus regionaler Perspektive: »actors in different regions now have elaborate interests and capabilities in constructing world pictures whose very interaction affects global processes. Thus the world may consist of regions (seen processually), but regions also imagine their own worlds.«16

3. Der Zauber der Vernetzung Als DVD-Zuschauer können wir den Anfang des Films wiederholt sehen und dabei auch eine andere Tonspur wählen. Der Kommentar des Regisseurs beginnt mit der Warnung, dass Audiokommentare der Entzauberung dienen und deshalb nur für Filmstudenten bestimmt sind.17 Fatih Akın beschreibt die Totale, mit der AUF DER ANDEREN SEITE beginnt, als ›Antonioni-Einstellung‹ und stellt sich damit in die Tradition des großen europäischen Autorenfilms. Michelangelo Antonioni, der 1967 mit BLOW-UP die Goldene Palme beim Filmfestival in Cannes gewann, wird als Altmeister zitiert für einen Film, der vierzig Jahre später, am 23. Mai 2007, ebenfalls in Cannes startete, dort für das beste Drehbuch ausgezeichnet und damit als Weltklassekino prämiert wurde. Durch die Erwähnung Antonionis drängen sich in der Tat Assoziationen auf, beispielsweise zu IL GRIDO / DER SCHREI (1957), einem Film, der den Obstgarten durch die Tankstelle ersetzt und damit die Industrialisierung 16 A. Appadurai: »Grassroots Globalization«, S. 13. 17 AUF DER ANDEREN SEITE (D/TR 2007, R: Fatih Akın), Special Edition: 2 DVDs (Haupt-Disc und Bonus-Disc), Pandora Film 2008. 22

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der Landschaft sowie die Unrast und Obdachlosigkeit des modernen Menschen zum Sinnbild verdichtet. Akıns Kommentar zur Anfangsszene kulminiert in seiner Versicherung, dass AUF DER ANDEREN SEITE ein Kinofilm sei: »Diese Bilder sind alle gedacht für die Leinwand. Wenn ich mir das heute so resümiert anschaue, dann denke ich, die Sehgewohnheiten haben sich tatsächlich verändert. Also, durch DVD, durch Filme auf dem Computer zu gucken, bald kann man Filme jetzt schon auf Handy gucken, da macht das gar nicht mehr soviel Sinn, Filme zu drehen mit riesengroßen Totalen, wo man nur so winzige Punkte auf dem Bildschirm sieht. Dieser Film ist für die Leinwand gedacht. Dementsprechend sind wir großzügig mit den Räumen umgegangen.«18

Allerdings hören wir diesen Kommentar eben nicht im dunklen Kinosaal mit großer Leinwand, sondern vor dem Bildschirm des Fernsehers im heimischen Wohnzimmer mit der Fernbedienung in der Hand.19 Die emphatische Erklärung für das große Kino im alten Stil wird ironischerweise erst möglich durch die simultane Darbietung einer zusätzlichen Schicht des Films im digitalen Format der Filmpräsentation, das dem Zuschauer die Wahl erlaubt, den Film im Originalton oder mit Audiokommentar mehrfach und in Segmenten zu sehen. Wie so oft in der Mediengeschichte ersetzt das neue Medium nicht einfach das alte, sondern beide treten in ein komplementäres Verhältnis zueinander. So schreibt Laura Mulvey in ihrem Buch Death 24x a Second: »As digital production has merged the human and other bodies seamlessly into special effects the ›technological uncanny‹ has given way to the ›technological curiosity‹ and DVDs include ›add-ons‹ with background information, interviews and commentaries. These extra-diegetic elements have broken through the barrier that has traditionally protected the diegetic world of narrative film and its linear structure. Furthermore, as a DVD indexes a film into chapters, the heterogeneity of add-ons is taken a step further by non-linear access to the story. [...] Once the consumption of movies is detached from the absolute isolation of absorbed viewing (in the dark, at 24 frames a second, in narrative order and without exterior intrusions), the cohesion of narrative order comes under pressure from external discourses, that is, production context, anecdote, history. But digital spectatorship also affects the internal pattern of narrative: sequences can be easily skipped or repeated, overturning

18 Ebd. 19 Zu neuen Formen der Filmrezeption vgl. Klinger, Barbara: Beyond the Multiplex. Cinema, New Technologies, and the Home, Berkeley 2006, und dies.: »The DVD Cinephile. Viewing Heritages and Home Film Cultures«, in: James Bennett/Tom Brown (Hg.), Film and Television after DVD, New York 2008, S. 1944. 23

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hierarchies of privilege, and setting up unexpected links that displace the chain of meaning invested in cause and effect.«20

Die veränderten Sehgewohnheiten haben Auswirkungen auf die Struktur des visuellen Erzählens, selbst wenn es sich in alter Kinotradition versteht. Ohne mediendeterministisch den gesamten Film aufgrund technologischer Neuerungen erklären zu wollen, sollen im Folgenden die extra-diegetischen Extras und die nicht-linearen Rezeptionsformen, die die digitale Präsentation ermöglicht, in die Lektüre einbezogen werden. Der Prolog zu AUF DER ANDEREN SEITE endet mit einer kurzen Road Movie-Sequenz, in der wir erst den Fahrer im Profil sehen und dann Fahrtbilder durch die Windschutzscheibe des Autos. Das Auto fährt in einen Tunnel, dann hinaus aus dem Tunnel und hinein in den nächsten Tunnel. Der Bildschirm wird schwarz. Dieser dreimalige Wechsel von Hell und Dunkel, der in der schwarzen Leinwand kulminiert, eine abstrahierende Selbstreflexion auf das kinematographische Medium, deutet abermals auf die dreiteilige Struktur des Films voraus. Noch zweimal werden kurze Road MovieSequenzen den Erzählfluss unterbrechen, jedesmal unterlegt mit Variationen des musikalischen Leitmotivs in elektronischer Bearbeitung. Der Reisende aus der Anfangsszene des Films wird im Verlauf des ersten Teils vorgestellt als der Germanistikprofessor Nejat Aksu (Baki Davrak) aus Hamburg. Nach dem Tod Yeters (Nursel Köse), der Prostituierten, die seinen Vater Ali Aksu (Tuncel Kurtiz) zu domestizieren sucht und im Streit versehentlich tötet, reist Nejat nach Istanbul und beschließt, dort zu bleiben und eine deutsche Buchhandlung zu übernehmen. Am Ende des ersten Teils ›Yeters Tod‹ ist er wieder unterwegs in dem weißen Auto, das bereits aus dem Prolog an der Tankstelle bekannt ist. Diese Fahrtsequenz mit Landschaftsaufnahmen von ausgedehnten Feldern, weitem Himmel, mehrstöckigen Neubauten und Moscheen entlang der Straße dauert länger als die erste Fahrtsequenz des Films. Wie Fatih Akın in seinem Audiokommentar erklärt, wurden die Fahrtaufnahmen aus zwei Autos an drei Tagen während der 1.000 Kilometer langen Fahrt von Istanbul nach Trabzon an die Schwarzmeerküste gedreht. In einem der Autos liefen zwei Kameras vorne und hinten am Fenster. Die Kamera am hinteren Fenster ermöglichte Aufnahmen vom ersten Auto mit Baki Davrak als Fahrer – »Road Movie pur«, sagt Akın zufrieden im Audiokommentar. »Automobilität« bedeutet die Individualisierung der Reise; der Reisende ist nicht wie bei Zügen oder Flugzeugen an Fahrpläne gebunden, sondern bewegt sich selbstständig nach eigenem Zeitrhythmus fort, was zu einer Desynchroni-

20 Mulvey, Laura: Death 24x a Second. Stillness and the Moving Image, London 2006, S. 27f. 24

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sation subjektiver Temporalitäten führt.21 Diese Desynchronisation der Zeiterfahrung korrespondiert mit den versetzten Erzählsträngen und den verfehlten Begegnungen im Film in den ›Doppel-, Paar- und Kreuzformationen‹ der sechs Hauptfiguren Ali, Nejat, Yeter, Ayten, Lotte und Susanne.22 Wenn beispielsweise Nejat und Yeter in der Straßenbahn in Bremen sitzen, fahren unterdessen Lotte und Ayten auf der Suche nach Aytens Mutter Yeter mit dem Auto an ihnen vorbei, ohne sie zu sehen. Der zweite Teil ›Lottes Tod‹ kommt ohne Fahrtaufnahmen aus. Die dritte und letzte Sequenz von Nejats Reise ans Schwarze Meer folgt im dritten Teil gegen Ende des Films und endet schließlich mit dem Schlussbild von Nejat am Meeresufer. Nejat ist unterwegs in die Heimat seines Vaters, wie wir am Ende des Filmes erfahren. Für Fatih Akın hat die Reise ans Schwarze Meer ebenfalls familienhistorische Bezüge und führt ihn an die Orte, wo seine Großeltern und Eltern herkommen. Weniger abrupt, aber doch funktional vergleichbar den Zwischenspielen des Orchesters in GEGEN DIE WAND, markieren diese Sequenzen von der Reise ans Schwarze Meer als räumlich und zeitlich versetzter Strang den nicht linearen, gewissermaßen zirkulären Verlauf der Erzählung. Die Reise ans Schwarze Meer bildet die Rahmenhandlung für den gesamten Film. Durch Ton und Bild evozierte Empathieangebote finden sich eher hier, als in den offensichtlich politischen Szenen des Films. So bleibt beispielswiese die linke terroristische Zelle, der die Globalisierungsgegnerin Ayten (Nurgül Yeilçay) angehört, nebulös in ihren politischen Zielen; ihr Streit mit der Kirschkuchen backenden Alt-68erin (Hannah Schygulla), Lottes Mutter, in der gemütlichen Küche in Blankenese über die Europäische Union und Menschenrechte in der Türkei gerät zum karikaturartigen Kreuzfeuer politischer Slogans, das beim Zuschauer eher Desillusionierung über die Hohlheit der Phrasen als politische Solidarität bewirkt. Der Film scheint hier einen ähnlichen Standpunkt einzunehmen wie das vermeintliche Goethe-Zitat, das Nejat in seiner Vorlesung vorträgt (zweimal, da die Szene wiederholt wird), während ironischerweise die flüchtige Revolutionärin Ayten von ihm unbemerkt hinten im Hörsaal schläft: »Ich bin gegen Revolutionen, denn es geht genauso viel bewährtes Altes kaputt wie gutes Neues geschaffen wird.«23 Empathie und Engagement sind in der Vermittlung zwischen Altem und Neuem gelagert, was im Verhältnis der Generationen durchgespielt wird. Die Suche nach dem Alten, nach den Erfahrungen 21 »The car, one might suggest, is really Weber’s ›iron cage‹ of modernity, motorized, moving and privatized. […] The key process here is the shift from ›clock‹ time to ›instantaneous‹ time.« (Urry, John: Mobilities, Cambridge 2007, S. 120) 22 Für eine Analyse der Erzählstruktur und eine pointierte Zusammenfassung der komplexen Filmhandlung vgl. Barbara Mennels Beitrag in diesem Band. 23 Eine Entsprechung im Werk Goethes findet sich nicht. Das erfundene Zitat wurde vielleicht als falsche Fährte gesetzt, um die Lesefestigkeit von Germanisten zu testen. 25

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vorangegangener Generationen, ist auch die treibende Kraft für Nejats (und Fatih Akıns) Reise in die Türkei und ans Schwarze Meer. In Tagebuch eines Filmreisenden, einem von seiner Frau Monique Akın geführten Interview, das auf der Bonus-Disc der deutschen DVD-Ausgabe und auch auf der amerikanischen DVD-Ausgabe24 enthalten ist, kommentiert Akın die Wahl der Drehorte, insbesondere der Tankstelle in der Anfangssequenz: »Wenn ich meine Filme betrachte, gibt es meistens ein Gefälle zwischen den deutschen und den türkischen Drehorten. Die deutschen wirken immer etwas beliebiger und austauschbar, während die türkischen sehr speziell und ausgesucht erscheinen. Vielleicht, weil ich in Deutschland lebe und somit keinen visuellen Abstand mehr zu den Drehorten habe. Die Türkei ist immer noch Neuland für mich, das es zu entdecken und verstehen gilt. Ein gutes Beispiel hierfür ist das erste Motiv des Films, die Tankstelle am Schwarzen Meer. Ich weiß noch, wie Andreas [Thiel] den Ort für zu speziell gefunden hat, zu ausgesucht, zu romantisch, zu wenig realistisch. Später änderte er seine Meinung. Sırma, unsere türkische Ausstatterin, machte das Setting der Tankstelle glaubhaft.«

Interessant ist das Eingeständnis Akıns, dass es sich um eine alte, verlassene Tankstelle handle, die nicht mehr in Betrieb sei. Man drehte nicht an einer der modernen Tankstellen entlang der neuen Hauptverkehrsachse der Schwarzmeerregion, wo die großen Lastwagen halten, wie in einer der Fahrtsequenzen kurz zu sehen ist. Stattdessen wurde eine alte, verlassene Tankstelle aus der Vergangenheit reanimiert, die wahrscheinlich von der neuen Straße links liegen gelassen wurde. Wie Akın in seinem Kommentar berichtet, symbolisierte dieser Ort, insbesondere die Hütte im Anfangsbild des Films für den Kameramann Rainer Klausmann ›den Süden‹. Die Patina trägt zu der Atmosphäre von melancholischer Stagnation bei, die über der Szene liegt und auch vom Tankwart angesprochen wird, wenn er die Musik Kazım Koyuncus in Verbindung bringt mit Langzeitverstrahlung und schleichendem Tod. Der Blick hinter die Kulissen im Extramaterial auf der DVD ermöglicht dem Zuschauer, den Prozess der Ortswahl, Ausstattung und Inszenierung mit zu vollziehen, und die Szene nicht als mimetisches Abbild zu lesen. Diese Tankstelle gibt es in der Wirklichkeit so nicht. Die Szene ist daher ein gutes Beispiel für die mediale und affektive Produktion des Lokalen.

24 THE EDGE OF HEAVEN (D/TR 2007, R: Fatih Akın), DVD: Strand Releasing 2008, Special feature: »The Making of THE EDGE OF HEAVEN«. 26

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4 . S c h w a r z m e e r k l ä n g e : R e m i x u n d Üb e r s e t z u n g Die melancholische Grundierung der Szene wird nicht zuletzt durch die Musik erzielt. Ebenfalls in Tagebuch eines Filmreisenden findet sich ein Kommentar Fatih Akıns zur Musik Kazım Koyuncus: »Während unserer Auflösungsreise am Schwarzen Meer verliebte ich mich in die Musik von Kazım Koyuncu. Ich war grad in einem Internet Café, als aus den Boxen sein Lied ›Ben Seni Sevduumi‹ lief. Ich fragte den Ladeninhaber, wer das sei. Und was dann folgte, war so ziemlich eins zu eins der Dialog wie am Anfang des Films. Kazım Koyuncu stammt von der Schwarzmeerküste und wird von den Menschen dort sehr verehrt. Sein früher Krebstod hat viele Menschen auf den Plan gerufen. Sie glauben, dass Kazım wie viele andere auch an den Spätfolgen der radioaktiven Verstrahlung von Tschernobyl gestorben ist. Der Supergau passierte nicht weit entfernt und die Zahl der Krebserkrankungen hat seither in der gesamten Region stark zugenommen. Offizielle Berichte über das wahre Ausmaß des Unfalls von Tschernobyl gibt es bis heute nicht. Fest steht, dass die damalige Regierung die Strahlung für unbedenklich erklärte, obwohl Werte wie nach einem Atombombenabwurf gemessen wurden. Aber was soll man auch von einer Regierung erwarten, deren Minister behauptet, radioaktiv verstrahlter Tee würde besser schmecken, nur um den hiesigen Teeexport nicht zu gefährden. Das Lied von Kazım Koyuncu ist das Leitmotiv für den gesamten Soundtrack. Ich hoffe, dass ich seinem Lebenswerk damit den nötigen Tribut zahle.«25

Dieser Kommentar ist synchronisiert mit Dokumentaraufnahmen von Kazım Koyuncus Konzertauftritten und seiner Beerdigung. Kazım Koyuncu (19712005) war in der Tat eine wichtige Identifikationsfigur in der östlichen Schwarzmeerregion. In seinen Folkrockkonzerten mit der Gruppe Zuai Berepe brachte er seit den frühen 1990er Jahren die dem Georgischen verwandte lasische Sprache auf die Bühne und machte sie attraktiv für ein überregionales junges Publikum mit Konzerten in Istanbul oder europäischen Städten in Holland, Deutschland oder England. Mit lasischen Liedern wie »Ella Ella« oder »Didou Nana« trat er noch während fortgeschrittener Krankheit vor tausenden Zuschauern auf.26 Koyuncu starb im Alter von 33 Jahren an Lungenkrebs. Auf YouTube finden sich zahlreiche Mitschnitte von seinen Konzerten und Fernsehauftritten sowie seiner Beerdigung, die einer Massendemonstration glich, außerdem auch Hommage-Clips von Fans, die seine Lieder mit Erinnerungsfotos synchronisiert haben (einige dieser Clips haben auf YouTube über eine

25 Ebd. 26 Siehe: http://www.youtube.com/watch?v=dWOjNcDioH0. Ironischerweise ist die Videosharingsite YouTube in der Türkei seit 7. März 2007 per Gerichtsbeschluss gesperrt, ein Verbot, das jedoch vielfach umgangen wird. 27

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Million Zuschauer gefunden).27 Der schmale, langhaarige Sänger mit lebhafter Bühnenpräsenz engagierte sich auch als Aktivist in Umweltfragen. Seine Lebensgeschichte wird erzählt in dem Dokumentarfilm von Ümit Kıvanç ARKıLARLA GEÇTIM ARANıZDAN: KAZıM IÇIN BIR FILM (Mit Liedern ging ich durch eure Mitte).28 Dort sieht man Szenen aus dem Dorf seiner Kindheit, den langen Weg durch die Wälder zur Schule, die Entwicklung als Gitarre spielendem Sänger und viele Auftritte in Istanbul und anderen Städten. In Interviews artikuliert er sein aktives Engagement gegen die Transformation der Landschaft durch die Küstenstraße, wo die Sandstrände häufig künstlichen Befestigungen mit Felsbrocken weichen mussten, so dass die Kinder nicht mehr in den Wellen viya spielen konnten, was auf Lasisch soviel heißt wie ›Surfen ohne Brett‹, ein Wort, das Koyuncu als Titel für eine CD verwendet. Auch der radioaktiv verstrahlte Tee, den die Regierung für ungefährlich erklärte, kommt zur Sprache. Schockierende Bilder zeigen das Ausmaß der Vermüllung der Region, für die Koyuncu sowohl die Regierung als auch den Mangel an Umweltbewusstsein und Verantwortung seitens der Bevölkerung kritisiert. Kazım Koyuncu tritt in AUF DER ANDEREN SEITE zwar nicht persönlich auf, sein Geist ist jedoch allgegenwärtig – er ist der abwesende Held des Films. Das musikalische Leitmotiv des Films, eingeführt im Prolog, ist ein sehnsuchtsvolles Liebeslied im Dialekt der türkischen Schwarzmeerregion »Ben Seni Sevduumi Dünyalara Bildurdum« (Ich habe den Welten / aller Welt mitgeteilt, dass ich dich liebe): »Ben seni sevduumi da dünyalara bildirdum Endurdun kalaruni babani mi eldurdum En dereye dereye de al dereden talari Geçti bizden sevdaluk al cebumden saçlari Kız evinun onine da sereceum kilimi Oldi hayli zamanlar görmedum sevduumi Yaz geldi bahar geldi oy açti yeil yapraklar Ben sana doyamadum doysun kara topraklar.«

Der elliptische Text von Maçkalı Hasan Tunç ist schwer übersetzbar: »Ich habe aller Welt mitgeteilt, dass ich dich liebe Du hast deine Stirn gerunzelt, als hätt’ ich deinen Vater getötet Geh hinunter zum Fluss und sammle Steine Für uns ist es vorbei mit der Liebe, nimm die Haare aus meiner Tasche

27 Siehe: http://www.youtube.com/watch?v=5yYx0k08_q0 28 ARKıLARLA GEÇTIM ARANıZDAN: KAZıM IÇIN BIR FILM (TR 2008, R: Ümit Kıvanç), 3 DVDs: Kalan Müzik 2008. 28

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Mädchen, ich werde meinen Teppich vor dein Haus breiten Es ist schon so lange her, seit ich meine Geliebte gesehen Der Sommer ist gekommen, der Frühling ist gekommen, die Blätter werden grün Ich konnte dich nicht bekommen, soll die schwarze Erde deiner satt werden.«

Die Einbeziehung der Welt in der Anredestruktur des Liedes verortet das Lokale im globalen Horizont. Die unerfüllte Sehnsucht nach der Geliebten schlägt sich in Todesphantasien nieder (»als hätte ich deinen Vater getötet«, »soll die schwarze Erde deiner satt werden«), bei aller Tragik und Melancholie handelt es sich jedoch offenbar um einen vorgespielten Scheintod – wie im Kino. Dieses Lied wird als Leitmotiv des Films mehrmals mit Variationen wiederholt. Für den elektronischen Remix zeichnet Shantel (Stefan Hantel) verantwortlich, ein DJ aus Frankfurt, der sich darauf spezialisiert hat – so Akın im Kommentar –, »Ethnomusik für westliche Ohren attraktiv zu machen.« Shantel ist in erster Linie bekannt für seine Arbeit mit Balkanklängen und Blasorchestern in einem Remix-Stil, den er »Bukowina Dub« nennt. Das musikalische Konzept für AUF DER ANDEREN SEITE sah den sparsamen Einsatz von Musik vor und die Verwendung von klassischen Schwarzmeerinstrumenten, Dudelsack und Quergeigen. Akın kommentiert: »Das klingt sehr anstrengend. Er [Shantel] hat das sozusagen übersetzt, elektronisch, damit das attraktiv klingt.« Ähnlich wie Alexander Hacke von den Einstürzenden Neubauten, dem Toningenieur in GEGEN DIE WAND, der im darauf folgenden Dokumentarfilm CROSSING THE BRIDGE vor der Kamera auftrat und eine musikalische Erkundungsreise durch Istanbul unternahm, ist auch Stefan Hantel ein Vermittler, der lokale Spezifik für ein internationals Weltmusik-Publikum übersetzt.29 Die Prolog-Szene an der Tankstelle wird gegen Ende des Films wiederholt. Alle Einstellungen sind identisch (wenngleich in einen anderen Kontext eingebettet), das gleiche Lied ertönt, allerdings singt diesmal eine andere, weibliche Stimme, obgleich der Tankwart wieder auf Kazım Koyuncu als Sänger verweist. Es handelt sich um sein Arrangement des Liedes. Die Sängerin in der Wiederholung ist evval Sam, die das Lied gemeinsam mit Kazım Koyuncu in der Fernsehserie GÜLBEYAZ gesungen hat. Das Duett findet sich in dem Dokumentarfilm ARKıLARLA GITTIM ARANıZDAN, außerdem auch auf You Tube.30 Die Begegnung von evval Sam und Kazım

29 Stefan Hantel fand Gefallen an Istanbul und drehte dort ein Musikvideo zu seinem Song »Disco Partizani«, eine wilde Vision von Migration, Mobilität und osteuropäischer Präsenz in der Stadt, die auf einem fliegenden Teppich gipfelt, der an einem Luxuskreuzfahrtdampfer vorbeisegelt. Siehe: http://www.youtube. com/watch?v=gViaOYgV8yI und http://www.bucovina.de 30 Siehe: http://www.youtube.com/watch?v=Vst61GIt11A 29

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Koyuncu wird inszeniert als Zusammentreffen zweier Menschen von der Schwarzmeerküste, die sich am Dialekt erkennen, auf einer belebten Straße in der Großstadt Istanbul. Die Aufwertung regionaler Folklore findet im urbanen Kontext statt, vermittelt durch Musikverlage wie Kalan Müzik, Auftritte in Clubs und auf europäischen Festivals sowie die Mediatisierung im Fernsehen. Die Fernsehserie GÜLBEYAZ (auf dem privaten Sender Kanal D unter der Regie von Özer Kızıltan produziert und 2002 erstmals gesendet), für die Kazım Koyuncu die Musik arrangierte und in der er auch als Schauspieler auftrat, trug sehr zur Popularität des Musikers bei und machte Charaktere aus der Schwarzmeerregion, ihren Dialekt, ihre Lieder und Bräuche dem allgemeinen Fernsehpublikum in der Türkei auf andere Art vertraut als durch die weitverbreiteten Lasenwitze (vergleichbar den Ostfriesenwitzen in Deutschland). Das Interesse für Regionalkulturen wird unter anderem gestärkt durch europäische Integrationsprozesse und den angestrebten EU-Beitritt der Türkei. Auf der Bonus-Disc der deutschen DVD-Ausgabe findet sich unter den Extras außerdem ein Fragment, das »aus dramaturgischen Gründen« aus dem Hauptfilm herausgeschnitten worden sei, so Akın, aber dennoch dem Zuschauer zu Hause auf der DVD zugänglich gemacht wird. Der Kurzfilm DAS SCHWARZE MEER ist streng genommen kein Paratext, da er ja ursprünglich als Teil des Hauptfilms gedreht wurde. Die Unterbrechung von Nejats Reise in Filyos, dem Ort am Schwarzen Meer, wo Akıns Vater herstammt, führt zur Wiederbegegnung mit Nejats Stiefschwester Emine (Tochter der zweiten Frau von Nejats Vater Ali, gespielt von Yelda Reynau). Da die Ehe der Eltern nicht von Dauer war, haben die beiden sich seit Kindheitstagen nicht mehr gesehen. Nun tritt Nejat unverhofft in das Internet-Café, das Emine betreibt, und sie erkennt ihn. Beim gemeinsamen Spaziergang durch den Ort lernt Nejat ihren Sohn kennen. Sie überredet Nejat, bei ihr zu übernachten. Über dem Fotoalbum mit Erinnerungen an gemeinsame Ausflüge und Schlittenpartien an der Weser erinnern sich die beiden an ihre kindliche Zuneigung. Sie verbringen eine leidenschaftliche Liebesnacht zusammen. Der Austausch von Kindheitserinnerungen in deutscher Sprache an einem türkischen Ort am Schwarzen Meer schafft eine besondere Vertrautheit. Am nächsten Morgen besuchen die beiden noch den Friedhof, am Hang gelegen, mit Blick auf das Meer. Sie stehen erst am Grab von Nejats Mutter, dann gehen sie noch zum Grab von Emines Mann. Sie erklärt, dass er an Krebs gestorben sei: »Alle sterben hier an Krebs.« Die Erwähnung dieses verfrühten Todes erinnert als Echo an die Geschichte von Kazım Koyuncu, die eingangs an der Tankstelle Gesprächsgegenstand war, und bestätigt den verbreiteteten Glauben an Spätfolgen von Tschernobyl in der Region. Der Entscheidung, die Sequenz aus dramaturgischen Gründen aus dem Hauptfilm zu eliminieren, lag wahrscheinlich die Überlegung zugrunde, dass eine weitere Figur die komplexe 30

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Erzählstruktur mit sechs Hauptfiguren und ihren verflochtenen Geschichten destabilisiert hätte. Die narrative Stringenz und die visuelle Korrespondenz, die zwischen Nejat und Ayten antizipierend etabliert wird, die sich zwar noch nicht getroffen haben, aber beide an zwei verschiedenen Stellen von hinten auf das Meer blickend gefilmt werden, würde durch die Einführung einer weiteren Figur aus dem Gleichgewicht gebracht. DAS SCHWARZE MEER hat als Kurzfilm eine eigene Stimmigkeit und Logik. Im Internet Café spielt das Lied »Ben Seni Sevduumi«, gesungen von evval Sam. Eine weitere Version des musikalischen Leitmotivs erklingt, als Nejat abends alleine auf einer menschenleeren Straße in Trabzon steht. Angelockt von der Musik, geht er in eine Bar im oberen Stockwerk eines Gebäudes. Dort sitzt evval Sam mit einem Musiker auf der Bühne und singt dasselbe Lied. Außer dem Kellner ist sonst niemand im Raum. Als das Lied zu Ende ist, klatscht Nejat und lobt das Lied als schön und »hüzünlü« (traurig, melancholisch). Die Sängerin zieht sich eine Jacke mit der Aufschrift ›Mexico 70‹ an und erklärt: »Buranın insanı acıyı sever.« (Die Menschen hier lieben das Leiden.) Beim Hinausgehen sagt sie noch: »Mesela Bob Dylan. Anneannesinin Trabzon’lu olduunu biliyor muydun?« (Bob Dylan zum Beispiel. Wusstest Du, dass seine Großmutter mütterlicherseits aus Trabzon kam?) Tatsächlich findet sich in Bob Dylans Autobiographie folgende Passage: »[My grandmother] lived back in Duluth on the top floor of a duplex on 5th Street. From a window in the back room you could see Lake Superior, ominous and foreboding, iron bulk freighters and barges off in the distance, the sound of foghorns to the right and left. My grandmother had only one leg and had been a seamstress. Sometimes on weekends my parents would drive down from the Iron Range to Duluth and drop me off at her place for a couple of days. She was a dark lady, smoked a pipe. The other side of my family was more light-skinned and fair. My grandmother’s voice possessed a haunting accent – face always set in a half-despairing expression. Life for her hadn’t been easy. She’d come to America from Odessa, a seaport town in southern Russia. It was a town not unlike Duluth, the same kind of temperament, climate and landscape and right on the edge of a big body of water. Originally, she’d come from Turkey, sailed from Trabzon, a port town, across the Black Sea – the sea that the ancient Greeks called the Euxine – the one that Lord Byron wrote about in Don Juan. Her family was from Kagizman, a town in Turkey near the Armenian border, and the family name had been Kirghiz. My grandfather’s parents had also come from that same area, where they had been mostly shoemakers and leatherworkers. My grandmother’s ancestors had been from Constantinople. As a teenager, I used to sing the Ritchie Valens song ›In a Turkish Town‹ with the lines in it about the ›mystery Turks and the stars above‹, and it seemed to suit me more than ›La Bamba‹, the song of Ritchie’s that everybody else sang and I never knew

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why. My mother even had a friend named Nellie Turk and I’d grown up with her always around.«31

Der Verweis auf Bob Dylan und seine unverhoffte Verbindung zum Schwarzen Meer ist in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. Zum einen wird die Region damit andeutungsweise in einen weiteren geographischen und historischen Zusammenhang gestellt und in überregionale Auswanderergeschichten eingebunden, die bis in den Mittleren Westen der USA führen. Zum anderen dient Bob Dylan als international bekannte Parallelfigur für Kazım Koyuncu, da beide regionale Volksmusik für die Rockbühne entdeckt, übersetzt und arrangiert haben. Dieses aus dem Spielfilm ausgekoppelte Fragment findet sich allerdings nur auf den Bonus-Discs der deutschen und der türkischen DVD Ausgaben. In der Übertragung für den englischsprachigen Weltmarkt fällt das Fragment und damit ein Stück Vertiefung lokaler Spezifik der universellen Verständlichkeit zum Opfer. Dem amerikanischen DVD-Vertrieb Strand Releasing war die Sequenz wahrscheinlich zu unwichtig für Zuschauer, die keinen Ortsbezug haben. Hier stößt die globale Zirkulation an die Grenzen der Übersetzbarkeit (translatability).32 Das Schwarze Meer mit seinen sechs Anreinerstaaten Türkei, Georgien, Russland, Ukraine, Rumänien und Bulgarien ist ein wichtiger Energietransitkorridor von strategischer Bedeutung. Bereits in der Antike verliefen Transportrouten für den Getreidehandel aus der Ukraine durch das PontEuxin; ohne die hier verschifften Resourcen wäre die Versorgung Athens nicht gewährleistet gewesen. 33 Das östliche Schwarze Meer galt historisch als Grenzregion zu den Barbaren; Kolchis, das heutige Georgien, war die Heimat der Medea, wo Jason und die Argonauten das Goldene Fließ raubten. Während des Kalten Krieges verliefen hier die Frontlinien zwischen dem NATO-Bündnis und der Sowjetunion. Mit dem Beitritt von Rumänien und Bulgarien Anfang 2007 ist auch die EU präsent am Schwarzen Meer und versucht ihren Einfluss in der Region zu vergrößern. Die Region ist eine Drehscheibe für den Transport von Erdöl und Erdgas mit massiven PipelineProjekten, um den Schiffsverkehrstau im Bosporus zu entlasten. Die Türkei ist an all diesen Projekten beteiligt, was eine gewaltige Transformation der Landschaft und Lebensverhältnisse in der Region zur Folge hat.34

31 Dylan, Bob: Chronicles, Vol. 1, New York 2005, S. 92f. 32 Apter, Emily: The Translation Zone. A New Comparative Literature, Princeton 2006. 33 King, Charles: The Black Sea. A History, Oxford 2004. 34 Hamilton, Daniel/Mangott, Gerhard (Hg.): The Wider Black Sea Region in the 21st Century. Strategic, Economic and Energy Perspectives, Washington, DC 2008; Bellér-Hann, Ildikó/Hann, Chris: Turkish Region. State, Market, and Social Identities on the East Black Sea Coast, Santa Fe 2001. 32

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Die musikalisch vermittelte Reise ans Schwarze Meer ist also die treibende Kraft des Filmes AUF DER ANDEREN SEITE. Das Schlussbild des Films, als Nejat auf das Meer blickt und auf seinen Vater Ali wartet, der zum Fischen ausgefahren ist, kann auf dem Hintergrund der Geopolitik ums Schwarze Meer auch als ironisch-distanzierter Blick auf Europa ›vom anderen Ufer‹ gelesen werden. Der Drehort dieser Schlussszene, das Dorf mit den grünen Teehängen, enthält, ebenso wie der Ort Filyos, Familiengeschichte für Akın. Seine Großeltern stammen aus diesem Dorf, Çamburnu. Das lokale Engagement geht soweit, dass Akın sich in den Kampf der Dorfbewohner gegen eine vom Staat geplante Mülldeponie eingeklinkt hat, die in einer stillgelegten Kupfermine oberhalb des Dorfes angelegt werden und den gesamten Müll der östlichen Schwarzmeerregion auffangen soll. Akın arbeitet derzeit an einem Dokumentarfilm DER MÜLL IM GARTEN EDEN über das Dorf Çamburnu.35 Der Film verspricht regionale Anliegen, die auch in dem Porträtfilm zu Kazım Koyuncu ARKıLARLA GEÇTIM ARANıZDAN zur Sprache kommen, für ein Weltpublikum zu übersetzen. Wie CROSSING THE BRIDGE zu GEGEN DE WAND wird auch dieser Dokumentarfilm in einem intertextuellen Komplementärverhältnis zu AUF DER ANDEREN SEITE stehen.

5 . Di e m e d i a l e P r o d u k t i o n d e s L o k a l e n In seinem 1913 veröffentlichten Essay »Philosophie der Landschaft« betonte der Soziologe Georg Simmel, dass Landschaft niemals naturgegeben sei, sondern erst in der Anschauung konstituiert werde: »Die Natur, die in ihrem tiefen Sein und Sinn nichts von Individualität weiß, wird durch den teilenden und das Geteilte zu Sondereinheiten bildenden Blick des Menschen zu der jeweiligen Individualität ›Landschaft‹ umgebaut.«36 Landschaft wird geformt durch den Künstler und im ästhetischen Erlebnis des Betrachters. Der Bilderrahmen umgrenzt einen »Ausschnitt aus der Natur«, der zugleich den ikonographischen Konventionen bereits existierender bildlicher Darstellungen gehorcht. Aus den einzelnen Elementen setzt sich die »Stimmung« der Land35 DER MÜLL IM GARTEN EDEN ist angekündigt für 2009, laut Internet Movie Database derzeit in Postproduktion [http://www.imdb.com/title/tt1205487 und [http://www.fatih4camburnu.com]. Vgl. dazu auch: Seibert, Thomas: »Mülldeponie an der Teeplantage«, in: Der Tagesspiegel vom 03.09.2007 [http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/Tuerkei;art1117,2372134]. Akın dreht derzeit auch Klimaschutz-Spots für Greenpeace in Istanbul. Brodde, Kirsten/Rigos, Alexandra: »Die Türkei ist so liberal wie nie«. Interview mit Fatih Akın, in: greenpeace magazin 5.07 [http://www.greenpeace-magazin.de/index. php?id=2559&no_cache=1&sword_list[]=akin]. 36 Simmel, Georg: »Philosophie der Landschaft«, in: Die Güldenkammer 3.2, S. 635-644. [http://socio.ch/sim/lan13.htm] 33

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schaft zusammen, die sich in der Anschauung des Betrachters vollzieht. Zwar bezog sich Simmel in seinem Essay nicht auf das Kino, sondern auf die Landschaftsmalerei, allerdings schrieb er zu einer Zeit, als das Kino sich als respektable Unterhaltung etablierte und die Zuschauer durch lebende Bilder von fernen Landschaften und exotischen Schauplätzen anlockte. Das Publikum des Kintop wusste allerdings schon damals, dass Schauplätze inszeniert und transponierbar waren. Western kamen nicht unbedingt aus Amerika, sondern wurden mit einschlägiger Ausstattung auch vor Berlin oder Paris gedreht.37 Selbst Aktualitäten mit dokumentarischem Anspruch wurden für den Kinematographen nachgestellt und vorgespielt. Genrespezifische Ikonographien waren nicht an geographische Orte gebunden, sondern durch bewegte Bilder transportabel geworden. In der Einleitung zu dem Sammelband Landscape and Film erinnert uns Martin Lefebvre daran, dass Landschaft im Film weit mehr ist als räumlicher Hintergrund.38 In Anlehnung an Simon Schamas Buch Landscape and Memory39 betont Lefebvre die imaginativen und symbolischen Qualitäten von Landschaft, die mythischen Sedimente, Schichten und Rahmen, die unsere Wahrnehmung präfigurieren.40 Chris Lukinbeal und Stefan Zimmermann unterstreichen im Hinblick auf filmische Geographie die Bedeutung von Montage und Ton in der Produktion von Affekten im Kino und verlagern den Schwerpunkt von einer auf Repräsentation bedachten Raumanalyse auf ein genaueres Studium des audio-visuellen Zusammenspiels in der Erzeugung von Affekten.41 Ikonographische Konventionen wie Ausschnitt, Bildaufbau und Perspektive bestimmen die Wahrnehmung von Orten. Dabei überlagern und schichten sich – mehr oder minder bewusst – Bilder im visuellen Gedächtnis sowohl des Regisseurs oder Kameramanns als auch des Zuschauers; Orte werden als zugänglich erkannt durch Vertrautheit mit Bildern von anderen Orten. In seinem Audiokommentar weist Akın darauf hin, dass die Einstellung mit Ayten auf 37 Göktürk, Deniz: Künstler, Cowboys, Ingenieure. Kultur- und mediengeschichtliche Studien zu deutschen Amerika-Texten 1912-1920, München 1998, S. 157204. 38 Lefebvre, Martin: »Introduction«, in: Ders. (Hg.), Landscape and Film, New York/London 2006, S. XI-XXXI, hier S. XII. 39 Schama, Simon: Landscape and Memory, London 1995. 40 M. Lefebvre: »Introduction«, S. XV. »… film contributes to this ›anchorage‹ of landscape in human life and participates in the process of ›imaginative projection‹ discussed by Schama, all the while being haunted as well by layers of past landscape projections.« (Ebd., S. XVI) 41 »Audio guides affective response. It saturates film and sutures the ›seen‹ into the ›scene‹; gives space depth through emotive becoming, and guides the unconscious experiential musings of the mind – turning the voyeur into a voyager of spaces seen and unseen.« (Lukinbeal, Chris/Zimmermann, Stefan: »Introduction: A Cinematic World«, in: Dies. [Hg.], The Geography of Cinema – A Cinematic World, Stuttgart 2008, S. 15-23, hier S. 21). 34

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dem Bahnhofsplatz in Bremen angelehnt ist an das langsame elektronische Zoomen von oben herab auf den Union Square in San Francisco in der Anfangssequenz von Francis Ford Coppolas THE CONVERSATION / DER DIALOG (1974). Der langsame Zoom auf die Schauspielerin von oben wird später wiederholt, wenn Lotte über den Taksim Platz in Istanbul geht, wodurch eine visuelle Parallele zwischen beiden Figuren entsteht, die sich beide in einer fremden Stadt orientieren. Die Anverwandlung von Einstellungen in der Etablierung von Orten von San Francisco über Bremen nach Istanbul macht deutlich, dass Geographie durch Kinematographie, aufzeichnende Bewegung durch den Raum, etabliert wird. Erst durch die Bewegung der Kamera, die den Blick lenkt, gewinnt der Zuschauer einen Zugang zu diesen Orten und sieht sie in Korrespondenz mit anderen Orten. Die Wiederholung von Einstellungen stellt Parallelen her zwischen voneinander weit entfernten Städten und verweist auf die intertextuelle und mediale Konstruktion von Ortsbewusstsein. Coppola selbst benennt in seinem Audiokommentar zu THE CON42 VERSATION die Wiederholung als Strukturprinzip seines Films. So wird die Tonaufnahme des Dialogs immer wieder abgespielt als Reflexion auf Technologien der Aufzeichnung und ihre Verwendung in einem allumfassenden Beschattungsapparat, wo der Beschatter schließlich selbst zum Opfer der Überwachungstechnologie wird. THE CONVERSATION wurde 1974 mit der Goldenen Palme in Cannes ausgezeichnet – im selben Jahr, in dem Fassbinders ANGST ESSEN SEELE nominiert war. Ähnlich wie Antonioni dient auch Coppola als Referenz, mit der sich Akın in die Tradition des Autorenkinos einschreibt. Fatih Akıns Filme sind nicht nur einer Neubelebung des deutschen Kinos zuzurechnen. Sie speisen sich aus einem cineastischen Fundus, der vom europäischen Autorenkino bis hin zu American Independent reicht. Unterdessen wird Akın auch in der Türkei als ›unser Mann in Cannes‹ gesehen; seine Filme sind dort ebenfalls im Kino und auf DVD präsent. Über nationale Vereinnahmungen hinaus ist das Kino ein wichtiges Medium für die Imagination von Europa als transnationalem Raum. Die filmische Montage vermag gleitende Übergänge zwischen weit entfernten Orten herzustellen, Fernes nahezurücken und Orte an der Peripherie Europas auf der Weltkarte und im Bewusstsein des Publikums zu etablieren. Mit Michael Haneke und Krzysztof Kielowski gehört Fatih Akın zu den Regisseuren, deren Filme sinnbildlich geworden sind für ein vielsprachiges, multilokales europäisches Kino auf Achse, das auf internationalen Festivals zirkuliert und zunehmend auch im angloamerikanischen Kontext wahrgenommen wird.43 Während es in den 42 THE CONVERSATION (USA 1974, R: Francis Ford Coppola), DVD: Paramount 2000. 43 Elsaesser, Thomas: European Cinema. Face to Face with Hollywood, Amsterdam 2005. 35

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späten 1990er Jahren darum ging, das Kino der Migration in Deutschland vom Paradigma eines problemfixierten sozialen Realismus zu erlösen und ironische Rollenspiele hinsichtlich Identitätszuschreibungen und territorialen Grenzen ins Blickfeld zu rücken44, sind inzwischen die Filme und umliegenden Debatten selbstbewusst mehrsprachig, multilokal und kosmopolitisch geworden. Das Internet ermöglicht, Besucherzahlen und Kritiken gebündelt zu erfassen und die Zirkulation von Filmen im internationalen Vergleich zu sehen.45 Auf dem Tomatometer, dem führenden Kritikenquerschnitt für die USA, schnitt THE EDGE OF HEAVEN, so der amerikanische Verleihtitel, sehr gut ab (»90 % fresh«). 46 Unter den 69 hier gesammelten Kritiken verglichen mehrere den Film mit Alejandro González Iñárritus BABEL (2006) aufgrund der sich kreuzenden Erzählstränge (»crisscrossing stories«), die an ein Bewusstsein globaler Verbundenheit appellieren.47 Ungleich diesem Melodrama, das alle Fäden im Schicksal der kriselnden amerikanischen Kleinfamilie zusammenlaufen lässt (nicht zuletzt durch die Starbesetzung mit Cate Blanchett und Brad Pitt) und so besonders beim 44 Göktürk, Deniz: »Migration und Kino. Subnationale Mitleidskultur oder transnationale Rollenspiele?«, in: Carmine Chiellino (Hg.), Interkulturelle Literatur in Deutschland, Stuttgart/Weimar 2000, S. 329-347. 45 AUF DER ANDEREN SEITE kam in den deutschen Boxofficecharts für 2007 mit 521.215 Besuchern auf Platz 53. Die beiden erfolgreichsten Filme an der deutschen Kinokasse in diesem Jahr waren HARRY POTTER UND DER ORDEN DES PHÖNIX (7.076.615) und KEINOHRHASEN (6.286.012), siehe: http://www.inside kino.com/DJahr/D2007.htm. In den USA spielte AUF DER ANDEREN SEITE, vertrieben von Strand Releasing, $ 742.349 ein (was ca. 70.000 Kinobesuchern entspricht), international liegen die Einspielergebnisse bei $ 17.711.671, siehe: http://www.boxofficemojo.com/movies/?id=edgeofheaven.htm. BABEL kam im Vergleich auf $ 135.330.182 weltweit. Der weltweit erfolgreichste Film des Jahres 2007 war PIRATES OF THE CARRIBEAN: AT WORLD’S END mit $ 961.000.000, ein Film, der das Drehen an realen Schauplätzen gänzlich durch digitale Simulation ersetzt hat. Die Pandora Film GmbH weigerte sich leider, die DVDVerkaufszahlen für den deutschsprachigen Markt zu veröffentlichen, so dass ein Vergleich zwischen Zuschauerzahlen im Kino und per DVD schwerfällt. Der einzige Anhaltspunkt über die Verbreitung der DVD, der von Pandora Film zu ermitteln war, lautet: »Im Schnitte kann man jedoch sagen, dass die DVDVerkäufe im Arthousebereich letztlich ca. 10 % der Gesamtbesucherzahl ausmachen.« Emailmitteilung von Björn Hoffmann am 29. Juli 2009. 46 Siehe: http://www.rottentomatoes.com/m/1193111-edge_of_heaven/ 47 »[...] much needed maturation of the Babel / Crash formula, but also fails to rattle your bones the way those movies did.« (Rosenblatt, Josh: »The Edge of Heaven«, in: Austin Chronicle vom 19.09.2008 [http://www.austinchronicle. com/gyrobase/Calendar/Film?Film=oid%3A672964]); »The Edge of Heaven is what the movie Babel so badly wanted to be.« (Hornaday, Ann: »The Edge of Heaven«, in: Washington Post vom 20.06.2008 [http://www.washington post.com/gog/movies/the-edge-of-heaven,1146476/critic-review.html#review Num1]) 36

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amerikanischen Publikum ein emotionales Verständnis für globale Interdependenzen wecken will, ist AUF DER ANDEREN SEITE ein dezentrierter, konsequent »polyglotter Film«,48 wo nicht alle Fäden entwirrt und gebündelt werden. Der von Andreas Thiel in seinem Interview auf der Bonus-DVD erwähnte Film Y TU MAMÁ TAMBIÉN (2002) von Alfonso Cuarón gäbe hinsichtlich der Haltung zu Leben und Tod sowie der Road Movie-Perspektive auf Landschaft und der Reise ans Meer einen interessanteren Vergleich ab. In einem globalen Horizont ergeben sich neue Annäherungen und Vergleichsmomente, die über deutsch-türkische Verortungen hinausreichen. Neuerdings finden sich Intertexte zunehmend auch in Ausstellungen, wo bewegte Bilder als Installationen präsentiert werden. Ursula Biemanns visuelle Strategien einer Contra-Geographie verkomplizieren Diskussionen über globale Zirkulation auf produktive Weise. In ihren Videoessays richtet sie das Augenmerk auf Mobilität und Immobilität von Körpern, Ressourcen und Bildern als Komplementärphänomene. Ihre Erkundungen reichen vom Leben in Grenzregionen von der US-mexikanischen Grenze in Juarez in PERFORMING THE BORDER (1999) bis hin zum südlichen Grenzgebiet zu Europa, das immer tiefer in den afrikanischen Kontinent hineinreicht (EUROPLEX, 2003, und SAHARA CHRONICLE, 2006-2007). Durch die Kombination von Mikro- und Makroperspektiven, Satellitenaufnahmen aus der Luft und Bildern aus der Alltagspraxis von Menschen am Boden, wirft sie einen systematischen Blick auf Fragen der Migration und Globalisierung, behält aber dennoch menschlichen Einsatz, Spezifik und Unberechenbarkeit im Auge. Die Synthese dokumentarischer Strategien mit künstlerischer Praxis und ästhetischer Manipulation erlaubt Biemann, ironische Diskrepanzen zwischen der Berichterstattung von Mainstream-Medien über geopolitische Ereignisse und Reibungsflächen am Ort zu beleuchten. BLACK SEA FILES (2005) dokumentiert das Leben entlang der Baku-Tbilisi-Ceyhan Ölpipeline in Begegnungen mit Arbeitern, Ingenieuren, Bauern, Politikern und Prostituierten. Der Fluss von Rohstoffen nach Westen korrespondiert mit der geopolitischen Neukonfiguration des Kaukasus und der weiteren Schwarzmeerregion als Grenz- und Pufferzone Europas nach dem Kalten Krieg. Abgesehen von Navigationsbildern vom Bosporus enthält BLACK SEA FILES keine Bilder vom Schwarzen Meer. Das Meer selbst bleibt ausgespart; umso mehr geht es um geopolitische Transformationen der Region. Die fragmentarische Erzählweise und die Doppelbildprojektion (split screen, dual channel projection) fordert den Zuschauer heraus, zwei Bilder simultan und konstrastiv zu lesen. Diese Strategien entwickeln sich Hand in Hand mit der Ausstellungspraxis im Museum und auf internationalen Ausstellungen, wo Videos mit mehreren 48 Wahl, Chris: Das Sprechen des Spielfilms. Über die Auswirkungen von hörbaren Dialogen auf Produktion, Rezeption, Ästhetik und Internationalität der siebten Kunst, Trier 2005, S. 139-182. 37

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Projektionsflächen räumlich installiert werden.49 Obgleich Film und Videokunst in unterschiedlichen Bereichen produziert und rezipiert werden und daher nicht von einem unmittelbaren Einfluss gesprochen werden kann, antizipiert der Videoessay BLACK SEA FILES die filmische Entdeckung der Region als transnationaler Raum in Filmen wie AUF DER ANDEREN SETE, aber auch Yeim Ustaolus internationale Koproduktionen, die sich auf widerspenstige Weise mit Alter und Tod befassen: BULUTLARı BEKLERKEN / WAITING FOR THE CLOUDS (2003) und PANDORA’NıN KUTUSU / PANDORA’S BOX (2008) sowie Özcan Alpers SONBAHAR / HERBST (2008), wo die Freundschaft zwischen einem tuberkulosekranken Ex-Häftling und einer georgischen Prostituierten in einem kleinen Ort am östlichen Schwarzen Meer durch russische Romane vermittelt wird. Mit Semih Kaplanolu’s BAL / HONEY (2010), einer Hommage an Leben und Tod in den Wäldern der östlichen Schwarzmeerregion, wurde zum ersten Mal seit 1964 ein türkischer Film bei den Berliner Filmfestspielen mit einem Goldenen Bären ausgezeichnet. Solche intermedialen Vernetzungen und Überblendungen fließen, zumindest für multimedial versierte Zuschauer, als Intertexte in die Lektüre von Filmen ein. Dem Zusammenspiel der Medien wird am ehesten ein Ansatz gerecht, der den Leser (nicht nur den Autor oder den Text) als Instanz der Bedeutungskonstitution ins Zentrum rückt, ein ›reader-centered approach‹ in ›poststrukturalistischer‹ Ausrichtung.50 Wichtig ist dabei vor allem die globale Pluralisierung und Diversifizierung der Leser- und Zuschauerpositionen, die die Möglichkeit einer allgemeingültigen, erschöpfenden Interpretation in Frage stellen. Über eine Rezeptionsästhetik formalistischer Prägung und ›Intertextualität‹ im Sinne Julia Kristevas geht ›Digitextualität‹ insofern hinaus, als die digitale Vernetzung eine Vervielfältigung von kombinatorischen Möglichkeiten und nicht-linearen Verzweigungen mit sich bringt, die alles bisher Bekannte weit hinter sich lässt.51 Die »Abschwächung 49 BLACK SEA FILES wurde 2007 in Doppelkanalprojektion auf der von Hou Hanru kuratierten 10. Istanbul Biennale gezeigt. Vgl. auch http://www.geobodies.org/ 01_art_and_videos/2005_black_sea_files sowie die Aufzeichnung der Vorführung und Diskussion mit Ursula Biemann an der University of California Berkeley: http://german.berkeley.edu/transit/2008/articles/biemannvideo.htm 50 Dixon, Deborah/Zonn, Leo/Bascom, Jonathan: »Post-ing the Cinema. Reassessing Analytical Stances Toward a Geography of Film«, in: Ch. Lukinbeal/S. Zimmermann (Hg.), The Geography of Cinema, S. 25-47. 51 »[Digitextuality] moves us beyond a ›new signifying system‹ of quotations and transpositions, to a metasignifying system of discursive absorption whereby different signifying systems and materials are translated and often transformed into zeroes and ones for infinite recombinant signifiers. In other words, new digital media technologies make meaning not only by building a new text th[r]ough absorption and transformation of other texts, but also by embedding the entirety of other texts (analog and digital) seamlessly within the new. What 38

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des kausalen Schwerefelds« von der Foucault in Bezug auf das Ereignis spricht, findet hier ihre mediale Korrespondenz.52 Die Welt liegt uns zu den Fingerspitzen – vorausgesetzt, dass wir einen Computer mit Highspeed Internetzugang zur Verfügung haben. So können Zuschauer bespielsweise Nejats Reise an der Schwarzmeerküste auf Google Earth geographisch nachvollziehen und von Nutzern geladene Fotos der Orte und Baustellen entlang der Küstenstraße sehen. Google Earth komplementiert den Film durch weitere Bildebenen, die die Transformation der Landschaft dokumentieren. Bei aller Verschichtung und Vervielfältigung der Oberflächen ist die narrative Struktur jedoch nicht überholt. Im Gegenteil, die zeitliche Dimension der intermedialen Schichtung und affektiven Verortung kann am ehesten im filmischen Erzählen entfaltet werden.

6 . L e b e n , T o d u n d Ki n o d i g i t a l . . . AUF DER ANDEREN SEITE wird präsentiert als zweiter Teil der Trilogie »Liebe, Tod und Teufel«. GEGEN DIE WAND war Liebe, AUF DER ANDEREN SEITE ist Tod, der Teufel steht noch aus. Das angestrebte Trilogie-Format kann im Gefolge von Kielowskis preisgekrönter »Trois Couleurs«-Trilogie gesehen werden. Tod? Zweimal, nach Yeters und Lottes Tod, sieht man Särge am Istanbuler Flughafen auf dem Förderband zum Flugzeug, in spiegelbildlicher Wiederholung – die Rückführung der Toten zum Begräbnis in die jeweilige Heimat. Wo gehören sie hin, diese Körper? Sie sind unterwegs, über den Tod hinaus. Das Menübild auf der amerikanischen DVD-Edition zeigt diese Einstellung von einem Sarg auf dem Förderband zum Flugzeug. Über die beiden im Film sichtbaren Leichen hinaus verweist der Film auf Tote, die unsichtbar bleiben, aber im Hintergrund agieren, ja gewissermaßen als Filmbilder über ihren Tod hinaus fortleben – Kazım Koyuncu und Andreas Thiel, der Koproduzent, Freund und Mentor Akıns, der während der Dreharbeiten in Istanbul starb und der in einer kleinen Rolle als deutscher Konsulatsbeamter in AUF DER ANDEREN SEITE zu sehen ist, außerdem in einem längeren Interview Famous Last Words, das Monique Akın drei Tage vor seinem Tod in Istanbul mit ihm geführt hat und das auf der Bonus-DVD enthalten ist. Der Tod als Unterbrechung der Erzählung rechfertigt auch die dreiteilige Struktur des Films, die mit anderen Episodenfilmen korrespondiert: von Fritz Langs DER MÜDE TOD (1921), wo, eingebettet in eine Rahmenerzählung, dreithis means is that earlier practices of bricolage, collage, and other modernist and postmodernist hybrid representational strategies and literary gestures of intertextual referentiality have been expanded for the new demands and technological wizardry of the digital age.« (A. Everett: »Digitextuality«, S. 7) 52 M. Foucault: »Zum Ereignis machen«, S. 253. 39

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mal dieselben Schauspieler an verschiedenen Schauplätzen einen Handel mit dem Tod vorspielen, bis hin zu Tom Tykwers LOLA RENNT (1998), in dem drei Versionen der Geschichte mit alternativen Enden erzählt werden. »Nach dem Spiel ist vor dem Spiel« – lautet das von Sepp Herberger geborgte Motto zu LOLA RENNT. In gewisser Weise ist Film immer ein zirkuläres Erlebnis; am Ende stehen wir wieder da, wo wir am Anfang waren. Figuren der Rückkehr, Wiederholung und Zirkularität werden durch die Möglichkeiten der digitalen Rezeption multipliziert. In ihrem Buch Death 24 x a Second: Stillness and the Moving Image charakterisiert Laura Mulvey die Dialektik zwischen Bewegung und Stillstand, zwischen Gegenwart und Abwesenheit, zwischen Leben und Tod, als die Grundspannung von Kino überhaupt. Kino beruhte schon immer auf dem Grundprinzip der Vergegenwärtigung abwesender Körper. Mulvey artikuliert pointiert, wie neue Rezeptionsformen im Kontext digitaler Medien einen neuen Blick auf alte Filme ermöglichen, Überlegungen, die besonders im Zusammenhang mit dem 100-jährigen Jubiläum der ersten öffentlichen Kinovorführungen aktuell wurden. Der Zelluloidstreifen setzt sich aus statischen Bildern zusammen, die als solche dem Kinozuschauer unzugänglich waren; erst Video und DVD und die Pausentaste auf der Fernbedienung ermöglichen dem gewöhnlichen Zuschauer, den Film zu stoppen, Momente festzuhalten und im Stillstand genauer zu betrachten.53 Spiegelbildlich wiederholt sich die Einstellung vom Sarg auf dem Gepäckband am Istanbuler Flughafen. Dann sehen wir, nach dem Zwischentitel ›Auf der anderen Seite‹, das Gepäckband ein drittes Mal im Bild, diesmal mit normalen Gepäckstücken. Es folgt eine Szene an der Passkontrolle. In dieser kurzen Einstellung sehen wir Ali Aksu (Tuncel Kurtiz) und Susanne Staub (Hannah Schygulla) ein paar Sekunden lang im gleichen Bild. Die Schauspielerin Hannah Schygulla, bekannt aus zahlreichen Fassbinder-Filmen wie KATZELMACHER (1969), DIE EHE DER MARIA BRAUN (1979), BERLIN ALEXANDERPLATZ (1980) und LILI MARLEEN (1981), hat ikonischen Status für das Neue Deutsche Kino. Tuncel Kurtiz hat einen vergleichbaren Erkennungswert für das türkische Kino, bekannt aus Yılmaz Güneys Filmen wie HUDUTLARıN KANUNU (Das Gesetz der Grenze, 1966), UMUT (Hoffnung, 1970) und SÜRÜ (Die Herde, 1979), unvergesslich auch als einer der neun Männer, die in der Migrantengroteske OTOBÜS (1976) von einem Schlepper aus Anatolien mit dem Bus nach Stockholm gebracht und dort auf einem belebten Platz ab53 »Everyone knows that celluloid consists of a series of still frames that have been, by and large, incaccessible to the film spectator throughout its history. Digital technology enables a spectator to still a film in a way that evokes the ghostly presence of the individual celluloid frame.« (L. Mulvey, Death 24x a Second, S. 26) 40

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gestellt werden. Die Idee, mit diesen beiden Kino-Veteranen zu arbeiten, sie in einem Film zusammenzubringen, war eine treibende Kraft am Anfang dieses Filmprojekts, wie Akın in Tagebuch eines Filmreisenden erklärt. Übrig blieb schließlich nur die kurze Szene, wo die beiden Reisenden nebeneinander an der Passkontrolle stehen, ohne sich zu begegnen. Dennoch deutet die Szene chiffrenartig auf Berührungspotentiale deutscher und türkischer Kinogeschichten. Tuncel Kurtiz’ emphatische Erklärung, dass man auch als »Orientale« »universell« sein könne, ist in diesem Zusammenhang richtungsweisend.54 Ali Aksu hat den Tod von Yeter verschuldet, ist deshalb in einem deutschen Gefängnis gesessen, wurde abgeschoben und musste seinen sorgfältig gehegten Tomatengarten in Bremen zurücklassen. Nach seiner Rückkehr in die Türkei sehen wir ihn in Istanbul am Bosporus sitzen mit dem Buch, das sein Sohn Nejat ihm in der ersten Szene mit den beiden gegeben hatte: Selim Özdoans Die Tochter des Schmieds (2005) in türkischer Übersetzung Demircinin kızı (die allerdings zur Zeit der Dreharbeiten noch nicht erschienen war). Er hat Tränen in den Augen, als er das Buch zuschlägt. Vielleicht berührt ihn die Geschichte einer Kindheit in Anatolien, eines Mädchens, dessen Mutter früh stirbt, das Thema der Halbwaisen, weil er Verbindungen zu Yeters Geschichte sieht. Vielleicht denkt er auch an seine früh verstorbene erste Frau und seinen Sohn Nejat, der ebenfalls als Halbwaiser aufgewachsen ist. Jedenfalls wird das Verständnis zwischen den Generationen in diesen Familiengeschichten, die durch transnationale Mobilität, Abwesenheiten und Übersetzungsschwierigkeiten gekennzeichnet sind, durch ein Buch vermittelt: ein weiteres Beispiel für intertextuelle und intermediale Konvergenz. Mit dem Schwerpunkt Tod, Kommunikation zwischen den Generationen und zirkulärem Neubeginn ist AUF DER ANDEREN SETE nicht zuletzt eine Metareflexion auf den Status von nationalem Kino im digitalen Zeitalter, wo Verortung und Entortung, lokale Spezifik und universelle Verständlichkeit sich überlagern und von Zuschauern im Zusammenspiel der Medien immer wieder neu konfiguriert werden.

54 »Doulu olarak, daha önemlisi doulu kalarak bal gibi evrensel olunabilir. Bize ait doulu kültür kökenlerimiz büyük zenginlik. Ben Isveç’te oynadım, Mahabharata’da bir Hintli’yi oynadım, ama olabildiince kendi kültürümün kökenlerine indim. Evrensel olmak için en çok biz olmak zorundayız. Reddederek ve inkar ederek deil, ama uzlaarak, böylece herey kendi yörüngesine daha çabuk oturacak.« (Kurtiz, Tuncel: »Hayat içinde oluan aktörlük maceram«, in: Oyuncu: Tuncel Kurtiz, Ankara 1999, S. 13) 41

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Filme und Videos AUF DER ANDEREN SEITE (D/TR 2007, R: Fatih Akın), Special Edition: 2 DVDs (Haupt-Disc und Bonus-Disc): Pandora Film 2008 [enthält den Kurzfilm DAS SCHWARZE MEER; Monique Akın: Tagebuch eines Filmreisenden; »Famous last words« – über Andreas Thiel; Audiokommentar des Regisseurs]. BAL / HONEY (TR 2010, R: Semih Kaplanolu) BARAKA (USA 1992, R: Ron Fricke) BERLIN ALEXANDERPLATZ (D/I 1980, R: Rainer Werner Fassbinder) BLACK SEA FILES (CH 2005, R: Ursula Biemann) BLOW-UP (GB 1967, R: Michelangelo Antonioni) BULUTLARı BEKLERKEN / WAITING FOR THE CLOUDS (TR 2003, R: Yeim Ustaolu) CROSSING THE BRIDGE – THE SOUND OF ISTANBUL (D 2005, R: Fatih Akın) DER MANN MIT DER KAMERA (UdSSR 1929, R: Dziga Vertov) DER MÜDE TOD (D 1921, R: Fritz Lang) DER MÜLL IM GARTEN EDEN (in Produktion, R: Fatih Akın) DIE EHE DER MARIA BRAUN (D 1979, R: Rainer Werner Fassbinder) EUROPLEX (CH 2003, R: Ursula Biemann) GEGEN DIE WAND (D/TR 2004, R: Fatih Akın) GÜLBEYAZ (Fernsehserie, Erstausstrahlung 2002, R: Özer Kızıltan) Hantel, Stefan: »Disco Partizani«, Musikvideo auf: http://www.youtube.com/ watch?v=gViaOYgV8yI und http://www.bucovina.de HUDUTLARıN KANUNU (Das Gesetz der Grenze, TR 1966, R: Yılmaz Güney) IL GRIDO / DER SCHREI (USA/I 1957, R: Michelangelo Antonioni) IM JULI (D 2000, R: Fatih Akın) KATZELMACHER (D 1969, R: Rainer Werner Fassbinder) 44

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Koyuncu, Kazım: Konzertmitschnitte auf: http://www.youtube.com/watch?v= dWOjNcDioH0; http://www.youtube.com/watch?v=5yYx0k08_q0; http:// www.youtube.com/watch?v=Vst61GIt11A (Duett mit evval Sam) LILI MARLEEN (D 1981, R: Rainer Werner Fassbinder) LOLA RENNT (D 1998, R: Tom Tykwer) OTOBÜS (CH/TR 1976, R: Tunç Okan) PANDORA’NıN KUTUSU / PANDORA’S BOX (TR 2008, R: Yeim Ustaolu) PERFORMING THE BORDER (CH 1999, R: Ursula Biemann) SAHARA CHRONICLE (CH 2006/2007, R: Ursula Biemann). ARKıLARLA GEÇTM ARANıZDAN: KAZıM IÇIN BIR FILM (Mit Liedern ging ich durch eure Mitte, TR 2008, R: Ümit Kıvanç), 3 DVDs: Kalan Müzik 2008. SONBAHAR / HERBST (TR 2008, R: Özcan Alper) SÜRÜ (Die Herde, TR 1979, R: Zeki Ökten) THE CONVERSATION / DER DIALOG (USA 1974, R:. Francis Ford Coppola), DVD: Paramount 2000. THE EDGE OF HEAVEN (D/TR 2007, R: Fatih Akın), DVD: Strand Releasing 2008. UMUT (Hoffnung, TR 1970, R: Serif Gören/Yılmaz Güney) Y TU MAMÁ TAMBIÉN / LUST FOR LIFE (MEX 2001, R: Alfonso Cuarón)

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Der Tod di es s eit s von Kultur – Wie Fatih A kın d en groß en K ult urdialog u mgeht LEVENT TEZCAN

1. Prolog Sollte man die gegenwärtige globale Befindlichkeit in einem Satz zusammenfassen, dann würde die Formulierung ›Das Schicksal der Menschheit hängt in unserem Kulturzeitalter vom wechselseitigen Verständnis der Kulturen ab‹ wohl am ehesten passen. Die politische Öffentlichkeit ist jedenfalls dem gegenüber positiv eingestimmt und eine ständig wachsende Zahl von politischen, religiösen, intellektuellen Aktivitäten platziert sich, oft unbekümmert, im Kontext von Kulturdialog, um eben der Gefahr der Konfrontation von Kulturen zu begegnen. Ganz unabhängig von der Frage, ob sie meist ganz neue Inhalte und Orientierungen mit sich bringen, oder bestehende Ansätze sich mit dem attraktiven Kulturdialog neu etikettieren. Gerade der zweite Fall zeugt noch von der praktischen Anziehungskraft von Kulturdialog. Die Unkenrufe Samuel P. Huntingtons noch in den Ohren,1 treten wir, gezeichnet von einer eigenartigen Gefühlsmischung, panisch wie euphorisch, die Flucht nach vorne an und suchen unser Heil im ›Dialog der Kulturen‹ als Alternative zum viel beschworenen Clash of Civilisations. Verwundern dürfte es nicht, dass eine bestimmte Form des Redens über Kultur gegenwärtig stets von Dialog begleitet wird. Man könnte, ja müsste eigentlich, in dieser Hinsicht Huntington durchaus auch als einen Wortführer des Kulturdialogs ehren. Zu Unrecht wurde nicht wahrgenommen, dass sein Kulturansatz, der letztlich darauf hinausläuft, dass wir nunmehr in einer Welt leben, in der es nicht mehr möglich ist, partikulare Kulturmodelle (so wie das Westliche) den anderen (NichtWestlern) überzustülpen, eigentlich automatisch den Dialog als Alternative 1

Vgl. Huntington, Samuel P.: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York u.a. 1996. 47

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mit betont. Dass diese Relativierung des einen Kulturbegriffs zugunsten einer ›Vielfalt der Kulturen‹ allerdings nicht bereits eine Auszeichnung für sich ist, soll im Laufe der Argumentation deutlich werden. Um den Begriff des Kulturdialogs herum baut sich gegenwärtig ein Diskurs auf, an dem sich so machtvolle Institutionen beteiligen wie Regierungen, Kirchen und religiöse Gruppen sowie internationale Organisationen. Gerade bei sensationellen Ereignissen wie Terroranschlägen, dem Mord an Theo van Gogh, dem dänischen Karikaturenstreit etc. wird dieser Clash of Civilisations medial ausgeschlachtet und zur Lösung der Dialog angerufen. Um vorweg den Effekt dieses zum gesellschaftlichen Diskurs erhobenen Dialogs anzudeuten: Auf beiden Seiten der Medaille, also in ›Clash‹ und ›Dialog‹, werden die vielfältigen praktischen Handlungen sowie politische Differenzen an Subjekte kausal rückgebunden und in Identitäten gegossen, die sich gegenseitig in Stellung bringen, indem sie sich in ihrer Gegenüberstellung ihrer Selbst vergewissern. Überhaupt scheint sich der Dialog als das privilegierte Diskursformat im multikulturellen Zeitalter für die internationale Politik genauso gut zu eignen wie für die nationalen Integrationsregime. An Plausibilität mangelt es der affirmativen Rede vom Kulturdialog nicht. Schon der common sense schreibt es uns auf eine entwaffnende Weise vor: Wie könnte man, und wer überhaupt, denn auch nur so skeptische Töne gegenüber dem Dialog anklingen lassen? Es ist doch für jeden evident, dass der Dialog auf alle Fälle besser ist, als dass man im Namen von Kultur oder Religion Krieg gegeneinander führt.2 In diesem basalen Sinne besteht tatsächlich kein dringender Bedarf für weitere Problematisierung. Aber ist das alles, was es mit dem Dialog gegenwärtig auf sich hat? Ist dieser denn wirklich nicht mehr als eine Alternative zum Krieg, der ansonsten droht, die Gesellschaften und überhaupt die Welt auseinander zu treiben? Könnte es nicht sein, dass der Dialogeifer unter Umständen selbst Teil des Problems ist, nämlich das der Konfrontation, die er entschärfen will? Wird vielmehr, so wäre hier anders zu fragen, durch ein überambitioniertes Verlangen nach Dialog der Konflikt, der ›Clash‹ nicht indirekt zum Normalzustand erklärt? Sobald man die aktuell-politische Ebene allgemeiner, normativ aufgeladener Aussagen verlässt, können andere Fragen auftauchen, die diachron von der Geschichtlichkeit des Dialogs ausgehen: Wie fingen die Menschen, eine Gruppe von Menschen, an, wie kam es überhaupt dazu, dass sich in einer bestimmten historischen Epoche ein Dialogdiskurs herausbildete, dass man also dazu überging, die Beziehungen zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion gemäß einem Dialogmodell zu denken? Wie funktioniert 2

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In diesem Sinne zustimmend auch Bhatti, Anil: »›…zwischen zwei Welten schwebend…‹ Zu Goethes Fremdheitsexperiment im ›West-östlichen Divan‹«, in: Hans-Jörg Knobloch/Helmut Koopmann (Hg.), Goethe. Neue Ansichten, Würzburg 2007, S. 103-121 (hier zitiert nach: www.goethezeitportal.de).

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denn der Dialog als Diskurs überhaupt und welche Effekte erzeugt ein Diskurs? Ich gehe hier von dem Foucault’schen Verständnis von ›Diskurs‹ aus. Demnach besteht die Funktion des Diskurses nicht einfach darin, Tatbestände zu konstatieren, die als objektive Wahrheiten außerdiskursiv bereits vorlägen und darauf warteten, dass ihre Bedeutung von den ebenso außerdiskursiven Subjekten entdeckt und zum Ausdruck gebracht würde. Schaut man von hier aus auf den in seiner Erscheinung als selbstverständlich gedachten Dialog, so öffnet sich der Blick für andere Fragen: »Wer spricht da?«, fragt beispielsweise Armin Nassehi3 und bringt damit die kritische Pointe unverblümt zum Ausdruck. Denn Kulturen sprechen nicht, dafür werden sie zum Sprechen gebracht. Was geschieht dabei mit denen, die im Namen der Kultur sprechen, wenn sie sich im Akt dieses Sprechens, im Namen der Kultur ins Spiel bringen? Konstituieren sie sich denn nicht erst in diesem Akt als Kultursubjekte? Welche Art von Appell geht vom Sprechen von Kulturdialog an die anderen, an die Öffentlichkeit, an die Türken, Deutschen, Araber, Amerikaner etc.? Welche Art von Beziehungen unterhalten sie zueinander, welche Beziehungsform steht ihnen überhaupt zur Disposition? Was geschieht mit den mannigfaltigen Praktiken und Bezügen, die die Akteure zueinander und zu den Dingen unterhalten, in einem Identitätsdiskurs, der sich primär als Wahrheitsdiskurs konstituiert? Wie kann man die anderen Arten von Beziehungen, die man auch als die ›vielen kleinen Dialoge‹ bezeichnen könnte, noch neben dem ›großen Kulturdialog‹ würdigen? Diese Art von Beziehungen, die ›vielen Dialoge‹ des Alltags – Nachbarschaften, Freundschaften, funktionale Bekanntschaften wie Arbeitsbeziehungen, Marktbeziehungen oder Momente der Solidarität in existentieller Not wie in dem zu besprechenden Film – sind zweifelsfrei ebenfalls problembehaftet und konfliktgeladen. Und sie werden auch im Dialog durchaus registriert, können aber aufgrund ihrer mikrologischen Struktur nicht weiter thematisiert werden, weil der Dialog der Kulturen nach einer Makrologie verlangt. Erst der wohl präparierte, auf Dauer gestellte Dialog von Kulturen (und aus praktischen Gründen in letzter Instanz: der Religionen) vermag nämlich nach dem zugrunde liegenden Selbstverständnis für einen dauerhaften Frieden in den Beziehungen zwischen den Menschen mit unterschiedlichen Kulturen zu sorgen. Im vorliegenden Beitrag wird es um die Beziehung zu den ›kleinen Dingen‹, die ›vielen Dialoge‹ gehen, die eine spezifische Form von Erfahrung impliziert, an der es dem Dialog als großer Erzählung mangelt, wovon sich schließlich der große Dialog abhebt, um eine dauerhafte Beziehung zwischen den Kultursubjekten zu institutionalisieren. Die sozialwissenschaftliche Kul-

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Nassehi, Armin: »Dialog der Kulturen. Wer spricht?«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 28/29 (2006), S. 33-38. 49

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turforschung, jedenfalls sofern es sich um den islam- bzw. migrationsbezogenen Problembereich handelt, hat noch nicht einmal zu derartigen Fragen vorstoßen können, von adäquaten Antworten ist ganz zu schweigen. Da könnten uns, wie so oft, wieder einmal ästhetische Erzählung und Erfahrung aufhelfen. Der Film von Fatih Akın, ohne inhaltlich auf die Dialogthematik auch nur am Rande einzugehen, eröffnet eine Ausdrucksebene und einen Erfahrungsraum, mit denen man das metanarrative Konzept vom Dialog problematisieren oder zumindest überdenken könnte – sofern man an ihm als nützlichem Projekt festhalten möchte. Wir könnten auch genauso gut sagen, dass mit seinem Film ein anderer Zugang zum Dialog oder besser zu dem, was sich mithilfe des Dialogbegriffs überhastet in ein geschlossenes Konzept zwingt, gewinnen ließe.

2 . Di e S u c h e n a c h d e r » a n d e r e n S e i t e « ? »I want to change the world – am I political? My film hopes the world will change – is it political? Probably more philosophical, but I think everything is political in today’s world. In the times we live in, I think it’s impossible to separate life and politics and art. I believe in the stuff I believe in, but I might change my mind tomorrow. I try not to be dogmatic. Whatever people believe in – religion or politics – everything has limits, everything heads in one direction. I wanted to make a film about going to the other side of all that, going beyond all.«4

Zum Einstieg möchte ich die oben zitierte Aussage von Akın aufgreifen. Man möchte vielleicht etwas irritiert auf den dort ausgedrückten Veränderungswillen aufmerken, da dies in unserer postmodern abgeklärten Zeit, die einem Jahrhundert katastrophaler Folgen des revolutionären Veränderungswillens folgte, inzwischen weder in der Politik noch in der Wissenschaft selbstverständlich ist.5 Einerseits bemerkt er, dass jeder Künstler die Welt verändern will.6 Andererseits scheint die Aussage »I try not to be dogmatic« nahtlos an den Erfahrungshorizont unserer kulturellen Epoche anzuschließen, erweckt doch jedes bedingungslose Halten an einer Idee gegenwärtig den Fundamentalismusverdacht. Zur ernüchterten Selbsterkenntnis gehört zudem, dass man damit rechnen muss, angesichts neuerer Erfahrungen oder anderer Einsichten 4 5 6

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Internationales Presseheft zu AUF DER ANDEREN SEITE, auf: http://www.auf-deranderen-seite.de/THE_EDGE_OF_HEAVEN_presskit.pdf Jedenfalls zur Zeit der Veröffentlichung des Films. Obamas »change« war noch nicht eingetreten. Behrens, Volker: »Er möchte die Welt verändern. ›Das will doch jeder Künstler‹«, Interview mit Fatih Akın in: Hamburger Abendblatt vom 20.09.2007. [http://www.abendblatt.de/kultur-live/kino/article880163/Er-moechte-die-Weltveraendern-Das-will-doch-jeder-Kuenstler.html]

DER TOD DIESSEITS VON KULTUR

seine Meinung ändern zu können. Wer will, kann hier gerne die Spuren einer oft nicht weiter spezifizierten Postmoderne lesen. Wenn ich auf seine Sätze eingehe, dann geschieht dies nicht deshalb, weil Akın selbst, der diese Aussagen macht, als Autor des Films prinzipiell in einer privilegierten Position sei, die Idee oder Ideen, die den Film tragen, besser als alle anderen beurteilen zu können. Gleichwohl bringen sie andeutungsweise sehr wohl etwas auf den Punkt, was in dem Film bearbeitet wird. Ich will mich hier auf einen Punkt konzentrieren. Er betrifft das »beyond all«: »Whatever people believe in – religion or politics – everything has limits.« Was sind das für Grenzen, möchte man gleich fragen. Andererseits: Ist es nicht selbstevident, dass alles Grenzen hat, ist es dann zudem erst recht nicht weise von den Menschen, wenn alles, was sie glauben, seine Grenzen hat? Müsste man sich nicht damit begnügen, sie auf diese Grenzen aufmerksam zu machen? Ist es nicht gerade Hybris, jenseits aller Grenzen, »beyond all« gehen zu wollen? Wo liegt dieses »beyond« überhaupt? Noch sind wir nicht beim Film, sondern bei einer Reflexion über den Film, die, auch wenn sie vom Filmemacher selbst kommt, letztlich nicht das ausdrücken kann, was der Film selbst tut. Wäre es anders, hätte man den Film erst gar nicht gebraucht. Nichtsdestotrotz gibt uns Akın einen Wink, der auf eine Beunruhigung aufmerksam macht: »everything heads in one direction«. Wir sollten von diesem kurzen Statement nicht erwarten, dass es uns eine Analyse des Films liefert. Wohl scheint mir dieser Hinweis auf »heading in one direction« ein Schlüsselthema zu sein, das im Laufe des Filmes in unterschiedlicher Form bearbeitet wird. Im Text oben bleibt es offen, was mit der »one direction« gemeint ist. ›Limits‹, ›one direction‹, ›dogmatic‹, diese Begriffe umreißen ein Feld von Aussagen, das es zu überwinden gelte. Ihre negative Beladung bereitet den Akt des »Going beyond all« vor. Sie bestärkt den Willen danach, auf die ›andere Seite‹ zu gelangen. Wo liegt es aber, dieses »beyond«? Markiert es einen Ort, wo neue Utopien geschmiedet werden, weil es sich ja um einen »change« handeln soll? Würde man diesen metanarrativen Fragen folgen, wäre man sofort mit alten Fragen und Kategorien konfrontiert: Welches revolutionäre Programm soll dieser Utopie zur Geltung verhelfen, wer ist das Subjekt, das diesen Wandel herbeiführen soll, wo verlaufen die Frontlinien, welche Bündnisse kann man schließen? Das alles kennen wir bereits aus unserer jüngsten Geschichte. Tatsächlich liefern sie auch über die Figur der Revolutionärin Ayten einen Teil des Filmmaterials. Aber der Film selbst, der durchaus diese Ideen zum Stoff nimmt, bastelt nicht an einer solchen Utopie. Wie ist dann dieses »beyond«, zumindest im Vorfeld, zu verstehen? Soviel sei hier verraten: Vielleicht liegt dieses »beyond« doch nicht im Jenseits von Dingen? »Going be-

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yond all«, vielleicht bedeutet das, erst gar nicht hinüber zu gehen, sondern im Diesseits zu verharren, diesseits von den Dingen, bei den Dingen zu bleiben. An dieser Stelle möchte ich ansetzen. Und zwar möchte ich zeigen, in welchem Sinne Akıns Film meisterlich in ein höchst aktuelles politisches Feld interveniert und auf welche Art und Weise der Film unkonventionell politisch, subversiv arbeitet. Mit dem ›Feld‹ bezeichne ich, wie im Prolog bereits eingangs angerissen, die Schnittmenge von Elementen wie Kultur, Migration, Identität, partiell unterlegt mit Religion, die schließlich in den Dialog münden. Dabei wird mein Bemühen dem Unternehmen gelten, Relationen zwischen diesen Themen aufzuzeigen, um sie in einer Erzählung zusammenzubringen mit dem Bewusstsein, wie es auch der Film unterstreicht, dass das alles auch ganz anders hätte erzählt werden können. Mein Umgang mit dem Film dreht sich um drei Themen: den Tod, die Kultur/Identität, den Dialog. Allein der Tod wird explizit im Film behandelt. Ja, der Film handelt als der zweite Teil der von Akın geplanten Trilogie »Liebe, Tod und Teufel« explizit vom Tod. Kultur und Identität führe ich ins Feld, trage sie in der Interpretation von Außen an den Film heran, um die Sprengkraft des Filmes kontrastreich hervortreten zu lassen. Schließlich ist der letzte Punkt, das letzte Thema, das ich ansprechen möchte, der Dialog, der zwar nicht evident im Film erscheint, jedoch in seiner Latenz wirkmächtig ist. Darauf will ich jedenfalls die Aufmerksamkeit lenken. Ich bin der Ansicht, dass in diesem Film ein Blick auf die gemeinhin allzu schnell als ›Kulturbegegnung‹ behandelten Beziehungen kultiviert wird, der hilfreich sein könnte, den verkrampften Dialogdiskurs etwas zu entspannen: Anders denn der Dialog, so könnte mein Untertitel auch heißen.

3. Der Tod Jan Assmann hat in seinem Buch Der Tod als das Thema der Kulturtheorie7 den Tod als einen »Kulturgenerator ersten Ranges« bezeichnet. Die Kultur entspringt demnach der doppelten Eigenart der Menschen: Dem Sterbensbewusstsein einerseits und dem Unendlichkeitstrieb oder -sinn andererseits. Mit der Kultur schaffen wir Menschen einen Zustand von Permanenz gegen die alles vernichtende Macht des Todes. Mit Bestattungszeremonien, Schrift, Ritualen etc. schaffen sich die Menschen ein Gedächtnis, das eben dieses Gefühl von Dauer weitergibt. In dieser Aussage, die den Tod von der Produktseite her (der Kultur als Produkt) expliziert, ist allerdings eine weitere impliziert, die nicht ins Blickfeld gelangt.

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Assmann, Jan: Der Tod als Thema der Kulturtheorie, Frankfurt/M. 2000.

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Der Tod generiert die Kultur nicht nur, er unterbricht sie auch. Er ist der radikale Bruch, der hereinbricht und jede kulturelle Ordnung daran hindert, mit sich zufrieden zu sein, mit sich identisch zu sein, mit sich zusammenzufallen. Darum geht paradoxerweise wiederum wegen der absoluten Präsenz des Todes keine Ordnung, die von der Sterblichkeit her angeregt wird, vollkommen auf in ihrer Intention. Die kulturellen Produkte bleiben darum auch letztlich zerbrechliche Konstrukte, deren Integrität bereits in ihrem Inneren unterminiert ist. Als radikale Endlichkeit wartet aber der Tod nicht einfach an den äußeren Grenzen eines gewöhnlich ablaufenden Lebens, um etwa vereinbarungsgemäß einen Endpunkt an das Leben zu setzen. Sondern er gehört in jeden Augenblick.8 Mal pathetisch sich andeutend, oder mal, wie in diesem Film, plötzlich aus heiterem Himmel hereinbrechend von einer unglücklichen Ohrfeige oder einer Kinderhand geführt, die mit einer Pistole spielt. Diese Unvorhersehbarkeit verleiht aber dem menschlichen Dasein überhaupt erst den Seinssinn. Alles, was für uns Wert hat, hat ihn deshalb, weil es den Tod gibt. Ohne diesen Todesbezug gibt es kein Ereignis, das einen Anfang setzt, etwas Neues in die Welt setzt. Foucault, dessen Neologismus ›Evenementalisierung‹ der programmatische Titel dieses Buchunternehmens entnommen ist, hat unermüdlich auf die »Äußerlichkeit des Zufälligen«9 hingewiesen, das unser Wissen und überhaupt das, was wir sind, ausmacht. Es ist das Zufällige, das Unvorhersehbare, das jede Suche nach dem Ursprung, dem reinen Anfang, der nicht-entstellten Identität des souveränen, transparenten Subjekts vereitelt. Dieser Sensibilität für das Ereignis liegt ohne Zweifel der Sinn für den Todesbezug zugrunde. Perfiderweise ist es die so genannte ›Event-Kultur‹ (à la Disneyland), die keinen Platz für Evenementalisierung, namentlich: für den Todesbezug aufweisen kann, weil dort alles nach einem Plan und ohne echte Gefahr verlaufen soll. Dass der Film, der unser Anlass hier ist, genau auf der Würdigung des Todesbezugs gründet, liegt auf der Hand. In dem Film AUF DER ANDEREN SEITE bricht der Tod zweimal und beide Male fast stumm, lediglich von Flüchen begleitet, und nichtssagend herein. Einmal trifft er durch die Hand Alis Yeter, die Prostituierte, die mit Ali vor kurzem zusammenzog. Beim zweiten Mal erliegt Lotte einem Spiel türkischer Straßenkinder irgendwo in Istanbul. Der Tod selbst wird dabei nicht weiter gedeutet. In den jeweils auf die Todesfälle folgenden Szenen sehen wir die Särge im Transport auf deutschen oder türkischen Flughäfen und als weitere evidente, nicht ausgedeutete Szene des Todes wird eine Begräbniszeremonie gezeigt. Die transnationale Dimension ist dabei nahezu in jeder Szene des 8 9

Aus diesem Bewusstsein fügen Muslime jederzeit die Formulierung »so Gott will« hinzu, wenn sie ein Vorhaben äußern. Foucault, Michel: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: Ders., Von der Subversion des Wissens, Frankfurt/M. 1987, S. 69-90, hier S. 74. 53

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Filmes präsent: Sei es in Gestalt der Personen (Türken und Deutsche), sei es die Auswahl der Orte (Bremen, Hamburg, Istanbul, Trabzon), wo sich die Figuren bewegen, und überhaupt die sich verschränkende Kombination von Personen und Orten. Man kann sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass die transnationale Dimension der Beziehungen, die dermaßen präsent im Film ist, keine besondere Aufladung in den Dialogen erfährt. Als wollte Fatih Akın mit allen Mitteln vermeiden, dass der Film irgendwie auf der üblichen Identitätsachse interpretiert würde. Je weniger die Identitätslinie befolgt wird, desto stärker tritt die Ebene existenzieller Erfahrung hervor, die die Individuen angesichts des Todes machen, die schließlich den Figuren eigensinnige Räume der Begegnung eröffnet. Umso stärker treten denn auch die Geschichten hervor, die die Todesfälle ausgelöst haben, die ihren eigenen Weg gehen und (sicher auch ein Stück mit Hilfe des Regisseurs) nebeneinander herlaufen, um am Ende sich an einigen Punkten zu treffen, ohne in einer großen Erzählung über Migration, Identität, Interkulturalität oder Völkerfreundschaft zu münden. Wir erwarten zwar, dass da Fäden zusammenlaufen würden, ja wir wünschen es uns als Zuschauer, da wir uns nicht in unzähligen Erzählsträngen verlieren wollen. Aber sicher sind wir uns keineswegs, dass die Geschichten ihren Abschluss, ihre Auflösung finden, dass die Suche erfolgreich enden wird, dass kein Leid mehr geschehen wird, dass niemand mehr sterben wird, dass uns als Lohn unseres Ausharrens auf dieser Erde irgendwann ein Stück Ruhe gegönnt wird. Ungeachtet dieser Wünsche belässt uns der Film in einem Schwebezustand. AUF DER ANDEREN SEITE als ein Film über den Tod gelingt, weil der Schwebezustand ausgehalten wird, der auf den Todesbezug des Lebens antwortet. Dem Todesbezug will ich an zwei Beispielen kurz nachspüren: Einmal handelt es sich um Lottes Weg, den sie ›beherzten Schrittes‹ gehe, dass ihr Leben zum ersten Mal einen Sinn habe. Die Studentin Lotte hilft dem Flüchtling Ayten, die ohne Papiere eingereist ist; sie nimmt sie mit ins Haus, ohne ihre Mutter um Erlaubnis zu fragen. Sie verliebt sich in sie. Sie folgt ihr in die Türkei, als Ayten von der Polizei festgenommen und infolge ihres abgelehnten Asylverfahrens in die Türkei abgeschoben wird. Zum ersten Mal hat Lotte das Gefühl, dass ihr Leben Sinn mache, dass sie gebraucht werde. Ich hoffe, nicht zu viel hinein zu interpretieren, wenn ich sage, dass Lotte sich so wie ihre Mutter engagieren will. Dass sie gewissermaßen einen ähnlichen Weg einschlägt. Ein Tagebuch-Eintrag klagt über die Mutter, warum sie es nicht verstehe, obwohl sie doch dasselbe getan hatte. Als Susanne nach der Ermordung ihrer Tochter nach Istanbul kommt, erzählt sie Nejat, dass sie früher auch, im Alter ihrer Tochter, weggegangen sei, nach Indien. Was also naheliegt, ist, dass die Tochter gleich der Mutter den eigenen Weg geht. Sicher kann man den eigenen Weg gehen. Man muss sogar dafür dankbar sein, dass sich endlich die Gelegenheit bietet, den Entschluss zu fassen, den eigenen Weg zu ge54

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hen, um als Erwachsener zurück zu kommen. Die Mutter ist doch schließlich auch nicht zu Schaden gekommen. Gleichwohl gibt es keine Garantie dafür, dass sich die Dinge ähnlich entwickeln. Dass Lotte den Faden dort aufnimmt, wo ihre Mutter aufgehört hat, niemand kann dafür im Leben bürgen. Es kann alles am Ende ganz anders ausgehen. Sie trifft der Tod – aus heiterem Himmel, nicht von langer Hand geplant, sondern von der Hand eines verwahrlosten Straßenkindes, das in einem entfernten Land seinen täglichen Überlebenskampf mit allen Mitteln zu bestehen versucht. Damit nimmt die Geschichte einen ganz anderen Verlauf. Mein zweites Beispiel bezieht sich auf die linke Aktivistin Ayten. Ihr ideologisches Weltbild kennt auf eigentümliche Art und Weise keinen Todesbezug, weil die Antworten bereits vorliegen, weil die Gerechtigkeitsfrage schon immer vorab entschieden ist. Dafür bürgt nämlich die Geschichte in ihrem unaufhaltsamen Fortschritt. Das konnte man am besten in der Küchenszene beobachten, wo sie mit Susanne über die Türkei, Menschenrechte, EU diskutiert. Sie hört nicht richtig zu, braucht sie auch nicht, denn sie kennt bereits die richtige Antwort. Und erstaunlich identisch mit der Art und Weise, wie die Revolutionäre der 1970er Jahre die inhaltlich gleichen Argumente mit der gleichen Heilsgewissheit und dem gleichen pathetischen Gestus vorbrachten, spult sie ihr angelesenes, nicht mit Lebenserfahrung durchtränktes Wissen ab, das in keinster Weise irritiert werden kann. Ihr Universum ist, zumindest der Intention nach, ein geschlossener Zusammenhang von Aussagen, in dem nichts anderes sich ereignen kann als vorgesehen, also kein echtes Ereignis stattfinden kann. Wegen »heading in one direction« kennt ihr Denken keine andere Seite. Darum kann sie auch ihre Beziehung zu Lotte ohne Weiteres restlos instrumentalisieren, da der großen Sache der Revolution, also diesem weltlichen Gott, jede Art von Beziehung ohne Weiteres aufgeopfert werden darf. Bis der Tod tatsächlich hereinbricht! Natürlich besteht auch hier keine Notwendigkeit, dass ein Todesereignis die Haltung eines Menschen verändert. Auch diese Möglichkeit, dass der Effekt der radikalen Irritation der Begegnung mit dem Tod ausbleiben könnte, ist der Arbeit des Todesbezugs geschuldet. Wenn nämlich dieser Effekt sicher wäre, wenn wir also davon ausgehen könnten, dass die Begegnung mit dem Tod eine Gewähr für das Bewusstsein der Endlichkeit und radikalen Offenheit der Existenz wäre, wäre damit paradoxerweise gerade die Erfahrung der radikalen Offenheit der Existenz verkannt. Es mag also viele dramatische Geschichten geben, in denen der Tod nicht mehr ist, als dass er ein effektloses Rascheln in psychischen Systemen erzeugt. In dieser Geschichte ist es anders. Der Tod hebt Aytens Weltbild aus den Angeln.

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4. Kultur und Identität Mein zweiter Punkt betrifft die Kultur. Hier werde ich mich von dem Film ein gutes Stück entfernen. Mein Interesse für Kultur gilt jedoch einer ganz bestimmten Konzeption von ihr. Nicht die vielen verschiedenen Praktiken, die von kulturtheoretischem Interesse sind und auch in der kulturwissenschaftlichen Wende immer stärker gewürdigt werden, sondern die Reflexion auf die Praktiken als Teile einer Einheit ist, was mich interessiert. In dem Sinne, dass die Kultur unmittelbar mit Identität verknüpft wird, ja im Grunde von Identität aus expliziert wird. Ich bin mir nicht sicher, ob das in die Richtung geht, in der Kultur als Beobachtungsschema oder Unterscheidungsfolie wie sie bei Luhmann10 durchaus mit einem gehörigen Schuss Skepsis betrachtet wird. In Luhmann’schem Sinne ist Kultur ein »historischer Begriff«, der mit der modernen westeuropäischen Gesellschaft auftaucht und seine Funktion vor allem darin findet, die Erfahrung von Kontingenz (es gibt die Anderen, die anders leben und glauben) kontrollierbar und begreiflich zu machen. Das ist wie gegenwärtig in der globalisierten Weltgesellschaft – wenn man systemtheoretisch weiter argumentieren würde, dass »Beobachter und Sprecher sich wechselseitig wahrnehmen, aufeinander reagieren«11 und dabei notwendigerweise Kulturalisierungen hervorbringen. In den Diskursen von kultureller Identität, möchte ich hinzufügen, werden somit kollektive Subjekte kreiert, die sich wechselseitig als Kultursubjekte wahrnehmen und gegenseitig Authentizitätsansprüche erheben. Die ubiquitäre Rede von Kulturdialog verdankt ihre Entstehung der Kritik an der einen hegemonischen, europazentrierten Modernität, auf deren Beobachtung sich das Konzept von »multiple modernities«12 stützt. Demnach hat sich die Idee von einer Moderne überlebt, da in allen Traditionen kulturelle Urvisionen nun in die politische Arena getragen werden und nach dieser modernen Manier neues, partikulares Kulturbewusstsein geschaffen wird. Die Frage, die ich hieran anknüpfen will, lautet, inwiefern dieser analytische Anspruch, verschiedene Modelle von Modernitätsentwicklung zu konstatieren, die Rede von Einheiten fortsetzt. Jedenfalls zeugt die Multiplizität letztlich von den Einheiten. Und der Zweifel darüber ist berechtigt, inwiefern wir es hier mit einer tatsächlichen Multiplizität zu tun haben, oder anders gesagt: ob die Multiplizität der Modernität der Komplexität der Sache gerecht wird, oder man damit nicht lediglich selber eine bestimmte Linie im kulturalistischen

10 Vgl. Luhmann, Niklas: »Kultur als historischer Begriff«, in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 4, Frankfurt/M. 1999, S. 31-54. 11 A. Nassehi, »Dialog der Kulturen«, S. 36. 12 Vgl. Eisenstadt, Shmuel N.: Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000. 56

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Diskurs markiert und damit das »priesterliche« Interesse bedient.13 Vielleicht sollten wir lieber dem Aufruf von Gilles Deleuze und Félix Guattari Gehör schenken: »Seid weder eins noch multipel, seid Mannigfaltigkeiten!«14, sagen die Autoren. Können wir nicht mutmaßen, dass Akın in seinem Film weniger von multiplen Identitäten erzählt als vielmehr von Mannigfaltigkeiten? Dabei geht es mir nicht darum, zu zeigen, dass die Rede von vielen Kulturen falsch sei. Bei diesem Punkt sollte man sich vielleicht nicht lange aufhalten. Vielmehr dreht sich mein Anliegen um die Frage, was man mit einem solchen Konzept sieht und was nicht. Um es anders zu formulieren: Bekommen wir in der Welt großer Dinge so wie der kulturellen Einheiten, die komparativ aufeinander bezogen werden, das zu sehen, was der Film uns mit Blick auf die Begegnung zwischen Menschen durchaus mit unterschiedlicher Herkunft, Prägung und Glauben zeigt? Natürlich ist es eine problematische Angelegenheit, die Aussagen einer soziologischen oder politischen Theorie anhand eines Films prüfen zu wollen. Das ist auch nicht zulässig, sofern es tatsächlich um inhaltliche Aussagen geht. Dies ist jedoch keineswegs meine Absicht. Vielmehr will ich auf eine Vielzahl von Beziehungen hindeuten, bei denen es in erster Linie nicht um die Subjekte selbst geht, sondern um die Handlungen, die eigene Geschichten entwickeln und an bestimmten Punkten zusammenlaufen, ohne dass sie von großen Erzählungen gerahmt wären. Diese Geschichten kann man sicher, wie gewöhnlich, unter die Herrschaft von Subjekten bringen, dann hat man eine Kulturbegegnung zwischen Türken und Deutschen oder zwischen Islam und Christentum. Der so genannte ›Kulturdiskurs‹ operiert so, indem er darauf abzielt, eine unendliche Vielzahl von Beziehungen unter ein Dach zu bringen, um sie auf der Achse von durchgehenden Differenzen fassbar zu machen. Ich frage mich, ob und in welcher Weise darin ein Bewusstsein von Todesbezug noch wirksam bleibt. Denn im Diskurs von Kampf und Dialog stehen die Subjekte von vornherein stabil und sind gesetzt. Ihre Identitäten sind vorab stabilisiert und können lediglich in eine Dialogbeziehung zueinander treten. Sie können sich wechselseitig zu Wort melden und lediglich mit dem Anspruch auf Authentizität an den Anderen wenden sowie die Erwartung aussenden, dass der Andere sich auch authentisch präsentieren möge. Es kann sich nichts ereignen, weil der ganze Diskurs auf die Verbannung des Ereignisses angelegt ist. Die Alternative, die ich hier unterstreichen möchte, wäre, dass man den Geschichten in ihrer Singularität nachgeht, ohne sie als innere

13 Das ist jedenfalls die Kritik von Al-Azmeh am Konzept. Al-Azmeh, Aziz: »Comments on Eisenstadt. The Romance of Muslim Exceptionalism«, in: Erwägen Wissen Ethik 17.1 (2006), S. 18-20. 14 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1997, S. 41. 57

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Momente einer kohärenten Erzählung zu situieren. Hier sind wir exakt inmitten kulturwissenschaftlicher Reflexionen. Meiner Ansicht nach besteht die Stärke in AUF DER ANDEREN SEITE, aber auch in Akıns erstem Teil der Trilogie GEGEN DIE WAND, besonders darin, diesen hegemonialen Kulturdiskurs zu durchkreuzen. Dass der vorige Film GEGEN DIE WAND vornehmlich in einem Interpretationsrahmen behandelt wurde, in dem viel Gebrauch vom Zwischen-den-Stühlen-sitzen gemacht wurde, zeugt noch einmal von der Macht des Diskurses. Sicher hat sich der Film von seinem Stoff und der inhaltlichen Gestaltung her bereitwillig genau inmitten dieser Problematik interkultureller Beziehungen platziert. Er bot auch tatsächlich genügend Anlass für eine Lesart, die sich primär an Identitätsfragen von Migranten orientiert. Dennoch würde eine solche kulturalisierende Lesart dem Film nicht gerecht werden, in dem die existenzielle Ebene menschlicher Beziehungen aufgezeigt und bearbeitet wird, auf der Übergänge und zwischenmenschliche Austauschbeziehungen stattfinden. Wie in AUF DER ANDEREN SEITE wurde allerdings auch dort nicht der Fehler gemacht, die kulturelle Spezifizität etwa im Namen von einem etwaigen Universalismus zu ignorieren. Es wurde eben ihre Hypostasierung vermieden, was in unserer Zeit tatsächlich Not tut.15 Der Film AUF DER ANDEREN SEITE macht es derartigen Interpretationen schwer, die bei GEGEN DIE WAND noch etwas leicht ins Spiel kommen konnten. Eventuell war deswegen auch vielmehr die Rede vom globalen Kino, das sich nicht auf die Dichotomie von ›Deutsch/Türkisch‹ oder ›Migration/ Heimat‹ beschränken lasse, sondern sie übersteige. Allerdings muss man hier aufpassen, dass man dem lokalen und partikularen Kulturwesen nicht seinen globalen Zwillingsbruder gegenübergestellt. Das wäre jedenfalls meiner Ansicht nach nicht die Art und Weise, wie Akın auf die ›andere Seite‹ gelangen will. Es wäre schließlich ein anderes »heading in one direction«, das die partikularen Identitäten hinter sich bringt, um das gemeinsam Menschliche zu erreichen.

5 . D e r Di a l o g Damit bin ich an meinem dritten und letzten Stichwort angelangt. Eigentlich habe ich bislang immer wieder vom Dialog gesprochen. Nun will ich diese Gedanken bündeln.

15 Für eine eingehende Analyse vgl. Ezli, Özkan: »Vom Modell zur Individuation. Gegen die Wand. Eine Problematisierung kultureller Identitätszuschreibungen«, in: Monika Wohlrab-Sahr/Levent Tezcan (Hg.), Konfliktfeld Islam in Europa, Baden-Baden 2007, S. 283-301. 58

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Der Dialog als Diskursformat greift in seiner Codierung durch alle Beziehungen zwischen Türken und Deutschen, Migranten und Einheimischen, zwischen Muslimen und Christen, Muslimen und Nicht-Muslimen, Muslimen und Westlern etc. hindurch. In ihm werden die Akteure als Subjekte, als Kulturträger gegenseitig in Stellung gebracht, um eine Versöhnung zwischen ihnen herzustellen.16 Wer sich vollends, ohne kritische Distanz, im Rahmen eines Kulturdiskurses bewegt, wer die Kulturen primär aus der Perspektive kollektiver Identitäten behandelt, bedient letztlich das priesterliche Interesse bestimmter Akteure im Feld. Sicher, der Dialog ist ein Thema für sich und verlangt zu Recht nach einer eigenständigen Behandlung, die im Kontext einer Filmdiskussion schwerlich erbracht werden kann. Mein Anliegen ist jedoch recht pragmatisch. Im Film gibt es in der Tat viele, wenn auch relativ wortkarg geführte Dialoge, die völlig anders verlaufen und uns doch für diese Art von kleinen ›Dialogen‹ sensibilisieren könnten, die vor lauter Reden über den großen Dialog in Vergessenheit geraten sind. Einen einzigen will ich hier aufgreifen, und zwar den, in dem Nejat und Susanne über das Opferfest sprechen und in dem Abraham kurz ins Spiel kommt. Bevor ich darauf eingehe, sei darauf hingewiesen, dass die Figur Abrahams im großen Religionsdialog eine zentrale Rolle spielt. Er bezeugt die Gleichursprünglichkeit der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam. An seine Figur ist eng das Bewusstsein gemeinsamer Wurzeln gebunden, das die Bürgschaft für eine wechselseitige Verständigung und ein friedliches Zusammenleben abgeben soll.17 Hier will ich von der Frage absehen, warum denn die gemeinsame Herkunft auch schon für eine bessere Verständigung sorgen sollte, und ob diejenigen, deren Glauben keine gemeinsamen Wurzeln aufweisen können, bereits dazu verdammt seien, sich zu bekriegen. Ob denn nicht eher umgekehrt gerade die gemeinsame, umkämpfte Herkunft, die Grundlage für Konflikte war wie etwa im Falle des Dreißigjährigen Kriegs oder den Konflikten zwischen Sunniten und Schiiten? Ob nicht gerade diese monotheistischen Religionen trotz oder gerade wegen ihrer gemeinsamen Herkunft so kriegerisch gegeneinander waren und darum auch 16 Zum Dialog vgl. Tezcan, Levent: »Interreligiöser Dialog und politische Religionen«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 28/29 (2006), S. 26-32. 17 Als Beispiel für diese Genre sei an den offenen Brief von 138 muslimischen Gelehrten (»A Common Word between Us and You«) erinnert, der an die »Christen, Juden und alle Menschen« gerichtet ist (auf: http://www.acommonword. com/index.php?lang=en). Dort wird diese Gemeinsamkeit qua Stellen im Koran und der Bibel aufgezeigt. Außerdem wird ausdrücklich betont, dass der Weltfrieden von einer Verständigung zwischen Christen und Muslimen abhängig ist. Diese Verständigung wird primär in Vorstellungen über den Einen Gott exploriert. Man kann natürlich auch den Text weitgehend als ein Beispiel dafür lesen, wie die scheinbaren Gemeinsamkeiten erst recht, so auch in jenem Text, vom Dissens zeugen. 59

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den Dialog bitter nötig hatten und neuerdings wieder haben? Ich will diese Fragen hier nur angesprochen haben, um den naiven Glauben an die heilende Kraft der gemeinsamen Wurzeln zu relativieren. Dass damit nicht gleich einem solchen Vergleich bzw. der Gemeinsamkeit prinzipiell jedweder positiver Effekt abgesprochen werden kann, zeigt uns auch der Film. ›Gemeinsame Wurzeln‹ – das ist eine omnipräsente Metapher. Überhaupt funktioniert der große Kulturdiskurs im Allgemeinen und der Dialog im Besonderen mithilfe dieser Metapher ›Wurzeln‹ – und oft in Begleitung von ›Baum‹.18 Einmal haben wir diese gemeinsamen Wurzeln, die die Affinität zwischen uns bezeugen sollen. Eine weitere Verzweigung der Wurzelmetaphorik unterstreicht vielmehr die einzelnen, unsere eigenen Wurzeln, wie sie sich aus den gemeinsamen heraus entwickelt haben. Juden, Christen, Muslime, wir haben alle unsere eigenen Wurzeln. Wollen wir uns gegenseitig verstehen, dann müssen wir eine doppelte Bewegung vollbringen: Wir müssen einmal den Anderen in seiner Eigenart verstehen, seine Wahrheit durchdringen, um uns mit ihm verständigen zu können. Wir müssen den Anderen als Baum mitsamt seinen Wurzeln in die Betrachtung einbeziehen. Andererseits könnten wir die Wahrheit des Anderen nur verstehen, wenn wir uns unserer eigenen Wurzeln, unserer eigenen Identität bewusst werden würden. An den Ästen könnten wir uns dann gegenseitig berühren. Darum ist dieser Dialog zugleich ein Identitätsdiskurs, weil er gleichzeitig die eigene und die Identität des Anderen stets eifrig unterstreichen muss, damit die Parteien miteinander auskommen können. Dabei wird das Eigene und das Fremde in gegenseitiger Differenz erst recht festgesetzt. Eigentlich ist das Wort ›Auskommen‹ hier nicht passend. Denn Miteinander-Auskommen ist wenig voraussetzungsreich. Anil Bhatti hat in einer Feinanalyse des Westöstlichen Divan von Goethe gezeigt, warum in der GoethePerzeption sowohl der Verschmelzungsansatz (Ost und West werden eins, bringen etwas Neues hervor) als auch der Dialogansatz (Ost und West sitzen sich gegenüber und tauschen sich aus) zumindest dem lyrischen Teil des Werkes nicht gerecht wird. Im Divan, so Bhatti, wird sicher wahrgenommen, dass es kulturelle Differenz gibt. Aber sie wird nicht essentialisiert, sondern eingefroren. Dafür finden wir vielmehr heitere Experimente von Verschränkungen zwischen West und Ost. Das ästhetische Mittel, das Bhatti bei Goethe beobachtet, ist das performative Element der Verwandlung: »Wir sind auf dem Markt, auf dem Bazar, in der Agora, wo es darauf ankommt, dass wir miteinander auskommen. Der Umgang mit dem Anderen hat Priorität vor den 18 Vgl. auch den kritischen Hinweis von Bhatti, Anil: Diversität und Homogenisierung. Postkoloniale Anmerkungen aus Indien, in: http://www.goethezeitportal. de/fileadmin/PDF/kk/df/postkoloniale_studien/bhatti_diversitaet.pdf (2005, S. 13). 60

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Versuchen, unsere Identitäten durch hermeneutische Prozesse gegenseitig zu festigen. Indem Goethe in die Rolle des Beduinen hineinschlüpft, unterminiert er jenen hermeneutischen Akt, der zwischen den festen Polen des Eigenen und Fremden vermitteln soll. Das performative Element des Verwandelns zeigt die Grenzen der Dialogizität, welche ohne feste Identitäten nicht funktioniert, auf.«19

Was also dem Dialog der Identitäten, so möchte ich es formulieren, abgeht, ist der Sinn für die pragmatische Ebene, auf der zwar die Idee von Identität nicht verworfen werden muss, aber die Möglichkeiten eines Miteinander-Auskommens nicht auf einen Identitätsdialog zwischen Subjekten hin reglementiert werden. Darum ist hier der Modus der Verständigung nicht die überladene Hermeneutik des Fremdverstehens, die ohne die Durchdringung der Wahrheit des Anderen nicht funktioniert und darum stets nach Eindeutigkeit drängt, sondern das praktische Auskommen. Um diese Ebene des praktischen Auskommens sichtbar zu machen, verschreibt Bhatti selbst eine »hermeneutische Abstinenz«.20 Wir müssen nicht über die großen Einheiten wie Einheitsgott, gemeinsame Propheten, gemeinsame Wertvorstellungen etc. eine Zusammenkunft als Angehörige unterschiedlicher Religionen erreichen, wo doch die Austauschbeziehungen längst auf eine vielfältige Weise in verschiedenen Kontexten stattfinden. Vielmehr handelt es sich also um Praktiken, die wie in dem Film aus verschiedenen Anlässen auftauchen können und die Subjekte mitreißen. Dieser zweite Typus von Beziehungen lässt sich jedoch nicht restlos im Kontext eines Kultur- bzw. Religionsdialogs einfangen, auch wenn die zwischenmenschlichen Beziehungen immer schon kulturelle Färbungen mit sich führen. Nicht nur kulturtechnisch, sondern auch thematisch, als Stoff, spielen religiöse Erzählungen und ethische Vorstellungen explizit eine Rolle. Sie sind aber tendenziell eher thematische Anlässe einer offenen Kommunikation, als dass sie den Kern eines Dialogs bildeten. Es handelt sich dabei nicht um eine Vermittlung zwischen unterschiedlichen Wahrheitsvorstellungen, sondern um pragmatische Zusammenkunft bzw. Übereinkunft, die sich wieder auflösen kann. Die Macht der Wurzelmetaphorik darf man allerdings keineswegs unterschätzen. Sie ist verwandlungsfähig. So wurde die Einwurzelmetapher nicht zuletzt soziologisch relevanter Veränderungen (wie das Aufkommen zweiter oder dritter Generationen der Migranten oder dank der Erfahrung postkolonialer Intellektueller, die man nicht mehr eindeutig dieser oder jener Kultur zu19 Vgl. A. Bhatti, »Zwei Welten«, S. 16. Ähnliche transformative Effekte, die Bhatti am Beispiel des Divan überzeugend dargelegt hat, spürt Georg Stauth (»Helmut Ritter and Traugott Fuchs in Istanbul. Orientalism, life and ideas and life in exile«. Unveröffentlichtes Manuskript) bei den deutschen Exilanten Helmut Ritter und Traugott Fuchs in Istanbul auf. 20 Vgl. Bhatti, Anil: Culture, Diversity and Similarity. A Reflection on Heterogeneity and Homogeneity, in: Social scientist 37 (2009), S. 33-49. 61

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ordnen konnte) manchen doch zu eng. Schließlich hat man angefangen, von dem Dazwischen zu sprechen oder mehrere Wurzeln anzuerkennen. Selbst Fatih Akın, zwar nicht in seinen Filmen, aber in seinem Sprechen über sie, entkommt dieser Metaphorik nicht gänzlich; das beweist wiederum die Macht des Diskurses, in dem wir uns verfangen. »Es gab sehr lange den Versuch, meine Arbeit zu deuten als Suche nach den Wurzeln, die Suche nach der eigenen Identität, die Suche nach der Heimat. […] Das stimmt so nicht. Ich habe gemerkt, dass Identität etwas ist, was permanent in Bewegung ist, was auch in Bewegung sein sollte. Und ich kann inzwischen switchen, – also ich flieg’ da rüber und bin da eine Zeit lang und komm’ wieder zurück.«21

Zwar bezeugt diese Aussage, dass das statische Konzept von Identität, die Suche nach den einen Wurzeln, so nicht mehr haltbar ist. Ich frage mich jedoch, ob Akın damit seinem eigenen Film wirklich gerecht wird. Wird da noch überhaupt »geswitcht«?22 Haben wir denn einfach mit dem Effekt einer globalen Situation zu tun, wonach wir nun mehrere Identitäten mit mehreren Wurzeln haben und je nach dem diese oder jene ins Spiel bringen? Ist denn damit der Sachverhalt adäquat wiedergegeben, wenn wir der Identität Beine machen, also wenn wir sie mobiler einsetzen, wenn sie schneller wird und sich ständig verändert? Sie bleibt doch letztlich ein Prozess, der sich verändert, dabei immer seinen Kern behält, weil er ein Subjekt markiert, das als Ich spricht und souverän über seine Möglichkeiten switchend verfügt. Geht es aber eigentlich noch alleine oder primär um die Identität? Ich meine: im Film jedenfalls nicht! Dort handelt es sich um eine Erfahrung, die vom Tod her kommt, die jede Identität, jeden Prozess radikal in Frage stellt und neue Beziehungen auftauchen lässt, die nicht mehr restlos in die Identitätskategorien hineingepresst werden können. Umgekehrt bedeutet dies notwendigerweise nicht, dass die Identitäten verschwinden würden, dass wir uns nun ›rein‹ als Menschen ohne partikulare Färbungen begegnen könnten. Wie das Übersteigen der Identitätskonzepte, das Going beyond, filmtechnisch umgesetzt wird, kann von Experten analysiert werden. Ich möchte meinerseits kurz auf das oben erwähnte Beispiel mit Abraham eingehen. Genau in 21 »Permanent in Bewegung. Fatih Akın wandert mit seinem neuen Film zwischen zwei Welten«, auf: http://www.3sat.de/dynamic/sitegen/bin/sitegen.php?tab= 2&source=/kulturzeit/themen/113286/index.html 22 Bei GEGEN DIE WAND ging das noch für einige Szenen auf, wo das Switchen jedoch sehr instrumentell eingesetzt wurde. Um ihren deutschen Liebhaber abzuschütteln, droht ihm Sibel, die sich sexuell ausleben wollte, mit Berufung auf ein sozial wirksames Klischee: »Lass die Finger von mir! Ich bin eine verheiratete Frau, ich bin eine verheiratete türkische Frau. Wenn du mir zu nahe kommst, bringt mein Mann dich um, verstehst du!?« Das Switchen besitzt stets diese instrumentelle Dimension. 62

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diesem Beispiel finden wir eine andere Form von Dialog oder, um einen neutraleren Begriff zu gebrauchen, eine andere Form von Austauschbeziehungen. Eigentlich bietet das Abraham-Beispiel den Anlass, um einen stets angestrebten ›gelungenen‹ Kulturdialog zu entfalten. Zumindest deutet sich dies an: Gegen Ende des Films, im Mietzimmer ihrer verstorbenen Tochter, sieht Susanne aus dem Fenster Männer in eine bestimmte Richtung gehen. Mit einem erschöpften Ton fragt sie Nejat, wohin die Leute gehen. Als Nejat die offizielle Opfergeschichte erzählt und erklärend dazu äußert, dass die Männer am Tag des Opferfests zum Gebet in die Moschee gehen, erwidert Susanne: »Diese Geschichte gibt es bei uns auch.« Das ist eine der wenigen Stellen im Film, wo eine Wir-Sie-Verständigung aufkommt. Ein Hauch von interkulturellem Dialog, der tatsächlich auch nach dem gewohnten Muster verlaufen könnte: Man erkennt eine gemeinsame Geschichte und legt dabei die Gemeinsamkeiten und Differenzen bei der Rezeption in unterschiedlichen Traditionen offen. Die Dinge nehmen aber in dem Film einen anderen Verlauf. Eine andere Form von Kommunikation entfaltet sich. Mir scheint, dass die Abraham-Geschichte hier für eine Anknüpfung einen Anlass liefert. Nejat geht auf die Aussage von Susanne nicht ein, fragt nicht, wie die Geschichte im Christentum erzählt werde. Vielmehr handelt es sich um eine besondere Art Anteilnahme, die sich zwischen den beiden vom Schicksal zusammengeführten Menschen entwickelt. Diese Form der schicksalsgebundenen Anteilnahme hat der französische Philosoph Gilles Deleuze in seinem Buch über Nietzsche in starke Worte gefasst: »Es gibt einen Moment, in dem es sich weder darum handelt, zu übersetzen, noch zu interpretieren, in Phantasmen zu übersetzen, Signifikat und Signifikant zu interpretieren, nein, darum geht es nicht. Es gibt einen Moment, in dem es notwendig ist, teilzunehmen und sich mit dem Kranken zu vereinigen, man muss soweit gehen und an seinem Zustand teilnehmen. Handelt es sich dabei um eine Art von Sympathie, Empathie oder um Identifikation? Es ist sicherlich viel komplizierter. Was wir empfinden, ist eher die Notwendigkeit einer Beziehung, die weder legal, vertragsmäßig oder institutionell ist.«23

Was für eine Art von Beziehung kann es sein, die jede uns bekannte Form von Beziehung (legal, vertragsmäßig, institutionell) übersteigt? Ist es Liebe, liegt doch dieses starke, zugleich mysteriöse und allbekannte Wort so nahe. Deleuze argumentiert nahezu mechanisch: »Leute rudern gemeinsam, die nicht als einander liebend angesehen werden können, die sich bekämpfen und gegenseitig auffressen wollen. Zusammen rudern bedeutet, 23 Deleuze, Gilles: »Nomaden-Denken«, in: Ders., Nietzsche. Ein Lesebuch, Berlin 1979, S. 105-121, hier S. 110. 63

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miteinander teilen, sich in einer Sache teilen, außerhalb aller Gesetze, Verträge und Institutionen. Eine Strömung, eine Bewegung des Strömens oder der ›Deterritorialisierung‹«.24

So entspinnt sich das Gespräch zwischen Susanne und Nejat, die aus existenzieller Not, nennen wir es im Rückblick ›Schicksal‹, zusammen geführt werden und eine gemeinsame Ebene ertasten. Dabei ist diese Gemeinsamkeit nicht auf ein externes Ziel hin orientiert, sie ist die Sache selbst, wie das Rudern der Leute, die in einem Boot zusammen sitzen. Die Funktion der Abraham-Geschichte besteht nicht primär darin, dass mit ihr ein Inhalt übermittelt wird, den die Anderen nun interpretieren sollen. Mit der Erwiderung der Frage, der Anschlussmöglichkeit, ist bereits die Funktion der Geschichte im spezifischen Dialogkontext erfüllt. Im Film wird nicht nur die offizielle Geschichte nicht weiter verfolgt. Vielmehr wird im Laufe des Dialogs der Rahmen des religiösen Gesetzes verlassen, indem die Liebe des Vaters zu seinem Kind, die Intimität, als etwas Absolutes gesetzt wird. Denn auf die Aussage Susannes, dass es die Opfergeschichte Abrahams auch bei ihnen gebe, erwidert Nejat die Logik des hier angedeuteten Kulturdialogs unterbrechend, dass diese Geschichte für ihn als Kind beängstigend gewesen sei und er seinen Vater gefragt habe, wie er sich an Abrahams Stelle verhalten würde. Auf Susannes daraufhin folgende Frage, wie denn der Vater auf die Angst des Sohnes, vom eigenen Vater geschlachtet zu werden, reagiert habe, gibt Nejat die Antwort seines Vaters, die aus einer orthodoxen religiösen Sicht heraus als ›häretisch‹ bezeichnet werden kann: Er würde sich selbst Gott zum Feind machen, um ihn zu schützen.25 Was die Besonderheit dieses Dialogs ausmacht und die Größe Akıns hier noch einmal unterstreicht, ist die Tatsache, dass die Haltung, sich der Vertiefung der Angelegenheit im Sinne eines Fremdverstehens zu weigern, auch umgekehrt gilt: Die häretische Geschichte wird im Kontext des Films ebenso nicht als eine häretische hypostasiert. Dabei fehlt es an Anknüpfungspunkten für eine islamische ›Häresie‹ keineswegs, gab es doch genügend fromme Mystiker, die aus Gottes Liebe rebellisch wurden und auch mit Gott zankten.26 Manch einer empfand aus Gottes Liebe gar Zuneigung und Verständnis 24 Ebd., S. 111. 25 Diese Gedanken finden sich ebenfalls im Text von Özkan Ezli in diesem Band. Sie sind aus gemeinsamen Diskussionen entstanden. Ihr wahrer Urheber lässt sich meinerseits nicht feststellen, so möge der Leser diese Verdopplung verzeihen. 26 Vgl. Ritter, Helmut: Das Meer der Seele. Mensch, Welt und Gott in den Geschichten des Fariduddin Attar, Leiden 1978; Schimmel, Annemarie: Wanderungen mit Yunus Emre, Köln 1993; Kermanie, Navid: Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte, München 2006; vgl. auch meinen kurzen Essay: »Wo selbst Engel zittern, da hilft nur ein Narr. Aber Wie?«, in: 64

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für den Teufel, der doch monotheistischer sei als Gott selbst, da er außer Gott sich vor niemandem niederwerfen will.27 Die Paradoxie der ganzen Sache hier besteht darin, dass diese ›häretische‹ Variante zugleich äußerst fromm ist. Die ›häretische‹ Haltung ist nicht einfach eine Negation, sondern eine Art Überschreitung. Über eine Parallele zwischen der sufischen, aber zugleich teuflisch frommen Rebellion und der Aussage von Ali im Film könnte man durchaus nachdenken. Akın kommt es nicht so sehr auf die Inhalte der Erzählungen an; er überlädt die Szenen nicht. Wir finden kaum globale Positionen in Sachen Glaube, Opfer, Liebe, sondern sehen vielmehr, wie in der oben besprochenen Szene, den Gestus oder das Angebot, einfach anzuschließen an ein Gespräch, das die Handlung nicht abstrakt vom Gesetz her behandelt, sondern an das konkrete Schicksal der Person bindet und damit einen pragmatischen Zusammenhang schafft. Ein solcher Dialog muss nicht auf Fremdverstehen hin angelegt sein. Er drängt nicht danach, Positionen abzustecken, Differenzen und Gemeinsamkeiten festzustellen, um auf deren Grundlage die interkulturellen Beziehungen dauerhaft sicher zu stellen. Gleichzeitig wird die situative Möglichkeit einer solchen Vertiefung wiederum nicht umgekehrt mit einem Anti-SinnReflex ausgeschlossen. Eigentlich funktioniert meiner Ansicht nach die Abraham-Geschichte auch im interreligiösen Dialog auf eine ähnliche Weise. Sie schafft einen Raum, wo die Menschen einfach zusammen rudern. Nur, im Dialogdiskurs ist es ungemein schwierig, wenn nicht unmöglich, diese Leistung zu würdigen. Dort denkt man eher, dass dieser Schritt erst der Anfang sei für einen ›echten Dialog‹, bei dem es ›eigentlich‹ um den Austausch großer Konzepte geht. Die doppelte Weigerung im Film muss man besonders würdigen; in ihr besteht durchaus ein Angebot, das die in Identitätsverkrampfungen eingefangenen Denkmuster aufzulockern hilft. Damit Deutsche und Türken oder Christen und Muslime miteinander auskommen, müssen sie nicht erst ihre Wahrheit wechselseitig kennenlernen. Die Solidarität, die zwischen den Figuren des Films entsteht, entspringt nicht aus der eifrigen Arbeit des Fremd- und Selbstverstehens, obwohl sie in kleineren Dialogen28 situativ stets etwas übereinander erfahren. Das Kennenlernen, Sich-Solidarisieren geschieht praktisch. In dieser Bewegung ist zugleich die zweite Weigerung enthalten. Es wird keine Anti-Haltung präferiert: Der Glaube wird beispielsweise nicht verworMichael N. Ebertz/Richard Faber (Hg.), Engel unter uns. Soziologische und theologische Miniaturen, Würzburg 2008, S. 127-132. 27 Vgl. H. Ritter, Das Meer der Seele, S. 539. 28 Den Hinweis auf die ›vielen Dialoge‹ im Film verdanke ich Leslie Adelson. Ihrer Anregung, diese unterschiedlichen Dialoge genauer unter die Lupe zu nehmen, konnte ich hier leider nicht nachkommen. 65

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fen; ihm wird nicht eine bessere Alternative, etwa die Vernunft gegenübergestellt, die uns vor den Irrungen des Glaubens bewahren sollte. Die Erfahrung der Überschreitung, wie Foucault es trefflich auf den Punkt gebracht hatte, enthält nichts »Dämonisches, das gerade alles verneint«29. Überschreitung vernichtet die Grenze nicht, sie ist »kein Triumph über Grenzen, die sie auslöscht«. Nein, sie »bejaht das begrenzte Sein«30. Die Moschee steht noch, die Besucher eilen zu ihr, um dem religiösen Gebot zu entsprechen. Ihr Gebetsgang wird weder pathetisch überhöht, wie dies in vielen westlichen Medien oft geschieht, noch in irgendeinen kulturkritischen Zusammenhang gebracht. Hier kommt die Religion nicht in Gestalt von ›großen Dingen‹ wie Gott, Seele, Erlösung etc. ins Spiel. Vielmehr wird sie in Gestalt von Gebet und Opferfest als konkrete Praktik in die Welt von Ding-Beziehungen eingebaut. Sie ist nicht mehr und nicht weniger als ein weiterer Teil einer Welt, in der gegessen, geliebt, getrauert, gereist, gestritten und auch gestorben wird. Eine Analogie zu den ›kleinen Dingen‹ des Lebens nach Nietzsche könnte man hier durchaus bemühen.31 Um es anders auszudrücken: Zwischen dem häretischen Satz des Vaters und dem weiteren Fortlauf des Gebetsgeschehens und überhaupt dem Themenspektrum von Religion ist keine Verbindung vorgesehen. Im Gegenteil, es handelt sich tatsächlich um zwei weitere von vielen Fäden oder Bewegungen, die sich teilweise berühren, um dann wieder einen eigenen Weg zu gehen oder ihn abrupt zu beenden. Es ist vielleicht diese Haltung der Weigerung Akıns gegenüber den ›ideomotorischen‹ Vertiefungen,32 die überhaupt die Art und Weise, wie die religiösen Motive in seinen Filmen auftauchen, kennzeichnet. Die Religion begegnet uns kaum als Institution, kaum als Einheit 29 M. Foucault, »Nietzsche«, S. 33. 30 Ebd. 31 »[D]iese kleinen Dinge – Ernährung, Ort, Clima, Erholung, die ganze Casuistik der Selbstsucht – sind über alle Begriffe hinaus wichtiger als Alles, was man bisher wichtig nahm. Hier gerade muss man anfangen, umzulernen. Das, was die Menschheit bisher ernsthaft erwogen hat, sind nicht einmal Realitäten, blosse Einbildungen, strenger geredet, Lügen aus den schlechten Instinkten kranker, im tiefsten Sinne schädlicher Naturen heraus – alle die Begriffe ›Gott‹, ›Seele‹, ›Tugend‹, ›Sünde‹, ›Jenseits‹, ›Wahrheit‹, ›ewiges Leben.‹ […] Aber man hat die Grösse der menschlichen Natur, ihre ›Göttlichkeit‹ in ihnen gesucht […] Alle Fragen der Politik, der Gesellschafts-Ordnung, der Erziehung sind dadurch bis in Grund und Boden gefälscht, dass man die schädlichsten Menschen für grosse Menschen nahm, – dass man die ›kleinen‹ Dinge, will sagen die Grundangelegenheiten des Lebens selber verachten lehrte […]« (Nietzsche, Friedrich: »Warum ich so klug bin«, in: Ders., Ecce Homo, KSA 6, Berlin 1999, S. 278297, hier S. 295f.). Für eine Soziologie der ›kleinen Dinge‹, die sich an Nietzsche inspiriert vgl. Stauth, Georg/Turner, Bryan: Nietzsche’s Dance, Oxford 1988. Überhaupt verdanke ich den Hinweis auf ›kleine Dinge‹ und die Anregung zu »Dingbeziehungen« Georg Stauth. 32 Vgl. hierzu den Beitrag von Özkan Ezli in diesem Band. 66

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von Geboten, sondern viel eher in Form von Praktiken. Beispielsweise schließt der Film KURZ UND SCHMERZLOS damit ab, dass der Sohn mit seinem Vater betet. Aber diese Szene erscheint als etwas, was völlig zu dieser Welt von Beziehungen gehört und nicht etwas Jenseitiges verfremdet. Soziologisch kann man es als Wiederherstellung eines sozialen Bandes verstehen. Das lässt wiederum die Religion von ihrer weltlichen Seite her erscheinen. Auf ähnliche Weise wird in AUF DER ANDEREN SEITE der religiöse Ritus ›Opferfest‹ gewürdigt, und zwar paradoxerweise angestoßen von einer Konversation über die häretische Haltung des Vaters. Nejat beschließt erst infolge seiner Konversation mit Susanne über das Opferfest zu seinem Vater zu fahren, am Tag des Opferfests. Er tut damit genau das, was Türken am Opferfest gewöhnlich tun, und zwar unabhängig davon, ob und wie gläubig sie sind (vergleichbar mit dem Weihnachtsfest in Deutschland). Damit wird letztendlich dem Gedanken des Opferfests entsprochen: Gemeinschaftlich mit seiner Familie und Verwandten zusammen zu sein, sich mit anderen Menschen wieder zu vertragen. Um es abstrakter zu formulieren: Die Welt der Nützlichkeit verlassen, in der wir funktionieren; die durch die Arbeitsteilung getrennte Gemeinschaft wieder zusammenbringen. Hier steht Religion als Erfahrung von Immanenz vollauf im Diesseits.

6. Schlussbetrachtungen Was tut man, wenn man keine Wurzelpflege mehr betreiben will? Was geschieht mit dem Baum? Welche Metapher würde zu Akıns Unternehmen besser passen? Mir scheint sich ›Rhizom‹ dafür zu eignen. Das ›Rhizom‹ verbindet anders als der Baum einen beliebigen Punkt mit einem anderen beliebigen Punkt.33 »Wir sind des Baumes überdrüssig geworden«,34 sagen Deleuze und Guattari und nennen eine Reihe von Eigenschaften. Es handelt sich nicht um eine Struktur mit binären Positionen, sondern viele verschiedene Wege, die sich treffen, aber auch wieder verzweigen. Nicht die Tiefe, sondern Oberflächenbeziehungen. Nicht das Subjekt, dem Handlungen zugerechnet werden, sondern Mannigfaltigkeiten selbst. Wenn Akın seine Figuren auf die Suche schickt, mündet ihre Suche in keine größere Erzählung, die eine Synthese schaffen könnte. Nicht die Suche nach Heimat, Herkunft, Wurzeln bestimmen den Duktus des Films. Vielmehr steht die Handlung mit Eigenwert selbst im Zentrum: Dinge/Handlungen nach eigenem Wert auf der Immanenzebene einschätzen, anstatt sie auf transzendente Gesetze und Ziele zu binden. So wird auch ein Blick auf Dinge kulti-

33 G. Deleuze/F. Guattari, Tausend Plateaus, S. 36. 34 Ebd., S. 27. 67

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viert, die im Spannungsfeld Kultur vorkommen, ohne dass man sie mit großen Begriffen wie ›Kulturbegegnung‹ oder ›Dialog‹ aufladen muss. Darin besteht die politische Relevanz dieses Films, auf die Akın selbst hingewiesen hatte. Er wollte selbst »beyond all« gehen. Man kann auch sagen: Er blieb diesseits von großen Konzepten, in einer intimen Würdigung des Todes, der stumm einschlägt und die wohlgeordneten Strukturen und Ideen durcheinander wirbelt. Umso mehr hält Akın den Blick für kleine Dialoge, Begegnungen, Landschaften und Bewegungen frei. Die Identitäten können bestehen bleiben. Bei allen inneren Verwicklungen bleiben Türken Türken und Deutsche Deutsche. All die Verwicklungsspiele, die Akın zwischen den Orten (Türkei, Deutschland, Bremen, Istanbul) und den Personen (türkischer Germanistikprofessor aus Deutschland, türkischer Flüchtling in Deutschland, deutscher Buchhändler in Istanbul) auffährt, sind meiner Ansicht nach nicht dafür da, um am Ende die Identitätskostüme für immer abzulegen oder als zweite Variante ein buntes Kleid mit vielen Flicken zu nähen oder auch etwas Drittes aus ihnen zu schaffen. Ebenso wenig sind sie dafür da, damit sich die Figuren in ihren besonderen Identitäten gegenseitig anerkennen sollen. Das Opferfest bleibt bestehen, wird ohne Pathos dargestellt. All das wird nicht angegriffen, nicht in Zweifel gezogen. Nur die Art und Weise, wie wir uns in einer Welt großer Einheiten und trotz aller Wurzeln, die es gibt, doch flott bewegen können, dafür sensibilisiert uns Akın. Am Ende des Filmes sitzt Nejat am Ufer; er wartet auf die Rückkehr seines Vaters. Vom Sturm, der sich zusammenbraut, ist die Rede. Er schaut auf das weite Meer hinaus. Wir stellen Fragen: Was wird im nächsten Moment geschehen? Wird er noch seinen Vater sehen oder wird der Tod wieder unerwartet zuschlagen und ihm den Vater nehmen? Ganz unerwartet käme der Tod für uns im Film nicht mehr. Wir sind ein wenig abgeklärt, rechnen mit ihm. Ah nein, das sind nicht die Fragen, die ich stellen möchte. Nejat sitzt am Meer, er sitzt einfach da.

Literatur »A Common Word between Us and You«, auf: http://www.acommonword. com/index.php?lang=en Al-Azmeh, Aziz: »Comments on Eisenstadt. The Romance of Muslim Exceptionalism«, in: Erwägen Wissen Ethik 17.1 (2006), S. 18-20. Assmann, Jan: Der Tod als Thema der Kulturtheorie, Frankfurt/M. 2000. Behrens, Volker: »Er möchte die Welt verändern. ›Das will doch jeder Künstler‹«, Interview mit Fatih Akın, in: Hamburger Abendblatt vom 20.09.2007. [http://www.abendblatt.de/kultur-live/kino/article880163/Ermoechte-die-Welt-veraendern-Das-will-doch-jeder-Kuenstler.html] 68

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Bhatti, Anil: Diversität und Homogenisierung. Postkoloniale Anmerkungen aus Indien, in: http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/kk/df/ postkoloniale_studien/bhatti_diversitaet.pdf (2005, S. 13). — : »›…zwischen zwei Welten schwebend…‹ Zu Goethes Fremdheitsexperiment im ›West-östlichen Divan‹«, in: Hans-Jörg Knobloch/Helmut Koopmann (Hg.), Goethe. Neue Ansichten, Würzburg 2007, S. 103-121 (hier zitiert nach: www.goethezeitportal.de). — : Culture, Diversity and Similarity. A Reflection on Heterogeneity and Homogeneity, in: Social scientist 37 (2009), S. 33-49. Deleuze, Gilles: »Nomaden-Denken«, in: Ders., Nietzsche. Ein Lesebuch, Berlin 1979, S. 105-121. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1997. Eisenstadt, Shmuel N.: Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000. Ezli, Özkan: »Vom Modell zur Individuation. Gegen die Wand. Eine Problematisierung kultureller Identitätszuschreibungen«, in: Monika WohlrabSahr/Levent Tezcan (Hg.), Konfliktfeld Islam in Europa, Baden-Baden 2007, S. 283-301. Foucault, Michel: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: Ders., Von der Subversion des Wissens, Frankfurt/M. 1987, S. 69-90. Huntington, Samuel P.: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York u.a. 1996. Internationales Presseheft zu AUF DER ANDEREN SEITE, auf: http://www.aufder-anderen-seite.de/THE_EDGE_OF_HEAVEN_presskit.pdf Kermanie, Navid: Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte, München 2006. Luhmann, Niklas: »Kultur als historischer Begriff«, in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 4, Frankfurt/M. 1999, S. 31-54. Nassehi, Armin: »Dialog der Kulturen. Wer spricht?«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 28/29 (2006), S. 33-38. Nietzsche, Friedrich, »Warum ich so klug bin«, in: Ders., Ecce Homo, KSA 6, Berlin 1999, S. 278-297. »Permanent in Bewegung. Fatih Akın wandert mit seinem neuen Film zwischen zwei Welten«, auf: http://www.3sat.de/dynamic/sitegen/bin/site gen.php?tab=2&source=/kulturzeit/themen/113286/index.html Ritter, Helmut: Das Meer der Seele. Mensch, Welt und Gott in den Geschichten des Fariduddin Attar, Leiden 1978. Schimmel, Annemarie: Wanderungen mit Yunus Emre, Köln 1993. Stauth, Georg: »Helmut Ritter and Traugott Fuchs in Istanbul. Orientalism, life and ideas and life in exile«. Unveröffentlichtes Manuskript. Stauth, Georg/Turner, Bryan: Nietzsche’s Dance, Oxford 1988.

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Tezcan, Levent: »Interreligiöser Dialog und politische Religionen«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 28/29 (2006), S. 26-32. — : »Wo selbst Engel zittern, da hilft nur ein Narr. Aber Wie?«, in: Michael N. Ebertz/Richard Faber (Hg.), Engel unter uns. Soziologische und theologische Miniaturen, Würzburg 2008, S. 127-132.

Filme AUF DER ANDEREN SEITE (D/TR 2007, R: Fatih Akın) GEGEN DIE WAND (D/TR 2004, R: Fatih Akın) KURZ UND SCHMERZLOS (D 1998, R: Fatih Akın)

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Von Lüc ken , Gr enz en und R ä umen: Übers etzungs ve rhältni ss e in Alej andro Gonz ál es Iñá rritus B A B E L und F at ih A kın s A U F D E R A N D E R E N S E I T E * ÖZKAN EZLI

1. Prolog Der deutsch-türkische Regisseur Fatih Akın und der mexikanische Filmemacher Alejandro Gonzáles Iñárritu gehören mit ihren Filmen wie GEGEN DIE WAND (2003), AUF DER ANDEREN SEITE (2007) und AMORES PERROS (2000), 21 GRAMM (2003) und BABEL (2006) zu den wichtigsten Vertretern eines globalisierten Kinos, das bislang besonders unter den Prämissen seiner transnationalen und transkulturellen Wertigkeit gelesen wird.1 In dieser Lesart wird das Weltkino vereinheitlichend als eine Emanzipation von national geprägten Kinos gesehen. Mein Beitrag versucht hingegen mit einem klaren Fokus auf das Material der Filme und ihrer Narrativität, differente Erzähl- und Umgangsweisen mit Kultur und Welt in ihrer Mehrdeutigkeit in abstrakter wie auch pragmatischer Form mikroanalytisch aufzuarbeiten. Auf solch einer Ebene zeigen sich die Filme AUF DER ANDEREN SEITE und BABEL äußerst different, obwohl beide identische inhaltliche Strukturen wie Familien, intime Beziehungen, Verlusterfahrungen an mehreren unterschiedlichen Orten/

* 1

Ich danke Deniz Göktürk, Barbara Mennel und Levent Tezcan für interessante Gespräche und Anregungen, die die Entstehung dieses Textes begleitet haben. Vgl. Faulstich, Werner: »Die Überwindung des strafenden Gottes. Analyse und Interpretation von ›Babel‹ (2006) als transkultureller Film«, in: Ricarda Strobel/Andreas Jahn-Sudmann (Hg.), Film transnational und transkulturell, München, S. 185-200. Siehe im selben Band auch den Beitrag: Jahn-Sudmann, Andreas: »Film und Transnationalität. Forschungsperspektiven«, S. 15-26. 71

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Schauplätzen behandeln. Auch die narrativen Elemente gleichen sich auf den ersten Blick. Beide Filme werden verschachtelt erzählt. Doch sind die Konnexionen zwischen den narrativen und inhaltlichen Elementen in beiden grundlegend unterschiedlich. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, mit Hilfe des Vergleichs dieser Filme Welt- und Kulturerschließungen aufzuzeigen, die den Raum der Übersetzungen und Kommunikationen zwischen Akteuren aus differenten kulturellen Kontexten unterschiedlich besetzen und somit die politisch virulenten Fragen und Forderungen nach globaler oder nationaler Integration mehrdeutig beantworten.

2. Globale Integration als Expansion von Innenräumen Es gäbe Lücken, die keine Übersetzung füllen könne, räsoniert der mexikanische Regisseur Alejandro Gonzáles Iñárritu im Dokumentarfilm COMMON GROUND: CONSTRUCTION NOTES (2006) und macht dabei zugleich auf eine Grundthematik seines Films BABEL aufmerksam: die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Kommunikation. BABEL ist der letzte Teil einer Trilogie, die mit AMORES PERROS (2000) begonnen hatte und mit dem Film 21 GRAMM (2003) als zweitem Teil fortgeführt wurde. Wenn im ersten Film drei ineinander verschachtelte Geschichten, sich geographisch und sozial auf den ›Moloch‹ Mexiko City konzentrierten, und im zweiten Teil in einem ebenso verschachtelt erzählten Psychothriller drei Personen mit dem Tod konfrontiert wurden, »so weiten sich Handlungsort und Anspruch in BABEL zu einer weltumspannenden, unverkennbar fatalistischen Darstellung von mehreren, zunächst scheinbar lückenhaft zusammenhängenden Geschichten in vier Ländern und fünf Sprachen«.2 In einer entlegenen einsiedlerischen Wüstenlandschaft in Marokko kauft ein Ziegenhüter ein Gewehr von seinem ein paar Wüstenhügel weiter entfernten Nachbarn. Er gibt es seinen zwei Söhnen Ahmed und Yussef, um die Ziegen vor den Schakalen zu schützen. Auf den Berghügeln zielen die Kinder von weitem auf einen aus der Ferne näher kommenden Touristenbus, um auszuprobieren, ob man mit dem Gewehr, wie der Nachbar versicherte, auch auf die Distanz von drei Kilometern treffen könne. Die Kinder sehen, wie der Bus hält und fliehen vor Angst. Später werden wir sehen, dass der Schuss eine amerikanische Touristin schwer verletzt hat. Doch bevor wir davon erfahren, springt der Film nach San Diego (Südkalifornien), wo sich die ältere mexikanische Haushälterin Amelia um die Kinder eines abwesenden Ehepaars kümmert. Weil ihr eigener Sohn auf der anderen Seite der Grenze in Mexiko hei2 72

Everschor, Franz: »Babel«, Filmkritik in: film-dienst 25 (2006).

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raten wird, überredet sie ihren Neffen Santiago, sie und die Kinder, für die sie keinen Babysitter finden kann, zu der Hochzeitsfeier an der Grenzstadt Tecate zu fahren. Cut. In der nächsten Sequenz sehen wir das amerikanische Paar Susan und Richard in Marokko auf einer Touristentour in einer kargen Wüstenlandschaft. Gegen Ende dieser Sequenz wird Susan im Touristenbus von einer Kugel getroffen. Nach der losen Zusammenführung der marokkanischen und amerikanischen Sequenzen führt ein weiterer Sprung den Zuschauer nach Tokio, »wo eine taubstumme japanische Schülerin mit dem Freitod ihrer Mutter, ihrem Gefühl der Vereinsamung und ihrer erwachenden Sexualität zurechtzukommen versucht«3. Im weiteren Verlauf des Films wird auch diese Geschichte lose mit den beiden vorhergehenden Geschichten verknüpft. Diese unglaubliche Reichweite von der marokkanischen Einöde über die USA und Mexiko bis nach Japan und dort in den Tokioter Stadtteil Shibuya unterstreicht nicht nur den evident globalen Rahmen dieses Films. Vielmehr erlauben die untereinander stark differierenden Drehorte dem Zuschauer, Assoziationen von unterschiedlichen menschheitsgeschichtlichen Zeitschichten, die von biblischen Eindrücken in Marokko über die Hochzeit im Schwellenland Mexiko bis zu einem der dichtest bevölkerten und modernsten Stadtteile der Welt Shibuya reichen. Die Orte sind sozusagen eingebunden in eine Repräsentationslogik, sie stehen für etwas anderes und das, was man von ihnen sieht, wirkt supplementär. Intensiviert wird diese Logik durch den Einsatz und die Funktion der gesprochenen Sprache(n). Denn neben den Orten und den Zeitschichten, die Welten, Kulturen und eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zeigen sollen, spielt auch die gesprochene Sprache eine zentrale Funktion in diesem Film. In Marokko wird der berberisch-arabische Dialekt gesprochen, die Nanny spricht mit den Kindern von Susan und Richard sowie mit ihren eigenen Verwandten auf der Hochzeit in Tecate Spanisch. Und selbstredend wird in Tokio Japanisch gesprochen – d.h. der allgemein gut gebildete Zuschauer versteht den Film zu zwei Dritteln nur mit Hilfe der Untertitel. In dieser Zusammensetzung der Orte, Zeiten und Sprachen zeigt sich die ursprüngliche Intention Iñárritus beim Verfassen des Drehbuchs zu BABEL: die kulturellen Unterschiede zwischen den Menschen aufzeigen zu wollen. In der Drehzeit des Films, die mit vielen Reisen und Castings vor Ort verbunden war, habe er und sein Team jedoch einen unglaublichen Wandlungsprozess vom Nicht-Verstehen zum Verstehen durchlaufen. So konnte er überrascht ein Jahr nach Abschluss der Postproduktion feststellen, dass BABEL nicht wie anfangs intendiert ein Film über die Unterschiede, sondern einer über die Gemeinsamkeiten der Menschen geworden sei.4 Diese prekäre Spannung zwi3 4

Ebd. COMMON GROUND: UNDER CONSTRUCTION NOTES (USA 2006, R: Alejandro Gonzáles Iñárritu), DVD BABEL: Universum Film. 73

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schen unübersetzbaren Lücken und gelingender Kommunikation zeichnet den Film grundlegend aus und bemüht durch diese bipolare Oppositionalität eine Logik von Übersetzungsverhältnissen zwischen Identität und Differenz, zwischen Integration und Desintegration, die sich in vielen Sequenzen ablesen lässt und die sich meiner Ansicht nach in der Kameraarbeit widerspiegelt. In einer der ersten Sequenzen des Films sehen wir das amerikanische Protagonisten-Paar an einem Tisch in einer touristischen Raststätte in der marokkanischen Wüste sitzen. Nachdem sie ihr Essen bestellt haben, fragt Susan Richard, was sie denn eigentlich hier wollen. Richard versteht zunächst die Frage nicht oder will sie nicht verstehen. Susan wiederholt ihre Frage und Richard antwortet ihr: »To be alone«. Susan wendet ihren Blick von Richard ab und sieht an den Nebentischen andere Touristen. In die Einstellung, die die Touristen fotografiert, spricht Susan nüchtern kommentierend »Alone« aus dem Off hinein. Im weiteren Gespräch wird sich andeuten, dass dieses Paar eine existentielle Erfahrung extradiegetisch, eine backwoundstory, trennt und bindet. Denn Richard wird im Laufe des Gesprächs zu Susan sagen, dass sie ihm wohl nie verzeihen werde. Sie darauf hin, dass er genau wüsste, worum es geht. In flüsterndem Ton entgegnet Richard, dass er keinen Streit wolle. Susan: »Okay.« Sie schüttelt mit feuchten Augen ihren Kopf, öffnet die Cola und schließt diese Sequenz mit der Aussage: »You just let me know when you’re ready to argue. If you’re not gonna run away again.« Mit dem Ende dieses Gesprächs endet auch die Sequenz. Die darauf folgende Sequenz setzt mit der Lautenmusik des argentinischen Filmmusikers Gustavo Santaolalla ein und verbindet das vorhergehende Gespräch, das einen vergangenen inneren Konflikt aktualisiert hatte, mit unterschiedlichen totalen Einstellungen, die die Wüste mit der Musik zeigen. In der dritten Einstellung sehen wir dann in einer Totalen aufgenommen, einen Bus von weitem angefahren kommen, in dem auch Susan und Richard sitzen. Darauf folgen Innenaufnahmen im Bus, die weiterhin begleitet von der Musik, jetzt zusätzlich mit ätherisch-elektronischen Anklängen einzelne Touristen im Bus fotografieren bis die Einstellungen sich auf Susan konzentrieren, die innerlich müde trauernd am Fenster aus dem Bus in die karge Landschaft blickt. Dabei wird ihr Gesicht von der Fensterscheibe gespiegelt. Aus ihrer sich selbst spiegelnden Trauer reißt sie der Anblick gänzlich verschleierter Frauen auf der Straße. Sie hebt ihren Kopf verwundernd nachdenklich und streckt ihre Hand nach der Richards aus; die Kamera hält dies metaphernreich als eine versöhnende Geste fest. Die Hand Richards nach wenigen Sekunden losgelassen, lehnt sie ihren Kopf wieder an die Fensterscheibe des Busses. Kurze Zeit danach wird ihr von irgendwo draußen ins Schlüsselbein geschossen.

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VON LÜCKEN, GRENZEN UND RÄUMEN

Allein in diesen hier kurz beschriebenen zwei Sequenzen, beide dauern zusammen vier Minuten, zeigen sich viele Elemente, die den Film BABEL grundlegend strukturieren. Gerahmt werden beide Sequenzen durch zwei differente Grenzziehungen: einer innerlich-intimen Grenze/Lücke zwischen Susan und Richard und einer äußerlich-kollektiven Grenze/Lücke zwischen den touristischen Businsassen und den total verschleierten Frauen außerhalb des Busses in der kargen Wüstenlandschaft. Die erste Grenze wird im Gespräch zwischen Susan und Richard durch Schuss-Gegenschuss Nahaufnahmen gezogen – wir sehen über das ganze Gespräch hinweg in den wechselnden close ups immer nur eine Person – und der Ort der Grenze wird durch eine sprachliche Sprachlosigkeit als unsichtbare Grenze in die Akteure gelegt. Diesen intensiven Nahaufnahmen der Gesichter, die versuchen, Innenräume zu schaffen, folgen mit dem Einsatz der Musik totale Außenaufnahmen, in denen wir bei jeder Einstellung in die Tiefe Umrisse von einzelnen Menschen sehen und in der letzten Außenaufnahmen-Einstellung dieser Sequenz den Bus. Menschen und Bus sind hier verschwindend klein aufgenommen. In der gezeigten Reihenfolge erweitern die totalen Außenaufnahmen der Wüste mit der Musik den zuvor im Gespräch gesetzten Innenraum. Der aufgenommene Raum und die Landschaft erfüllen hier eine repräsentative Funktion. Dieser Innenraum expandiert mit den darauf folgenden Innenaufnahmen im Bus zu einer Kollektivität, die nun durch die Geschlossenheit des fahrenden Busses mit den Fensterscheiben eine ›Crystal Frontier‹ nach Außen hat.5 Susans touristischer fremdmachender Blick auf die verschleierten Frauen führt die zweite Grenzziehung und Lücke ein, die eine äußerlich-kollektive ist. Diese beiden Grenzziehungen werden im Laufe des Films im Dorf Tazarine, wohin Susan nach ihrer Schussverletzung gebracht wird, intensiver zusammengeführt. Gegen Ende des Films werden sich Susan und Richard aussprechen und umarmen, bevor die Verletzte in einer spektakulären Hubschrauberszene aus dem Dorf ausgeflogen wird. Zugleich wird auch in dieser letzten Szene für kurze Zeit die ›Crystal Frontier‹ überschritten, denn die marokkanischen Dorbewohner stehen dabei wie ein Ring um den Hubschrauber. Sprachfindung und Körperfindung fallen hier zusammen. Oder anders formuliert: Bevor eine Kommunikation stattfinden kann, muss ein Dissens (backwoundstory), ein Konflikt in der Vergangenheit vorgelegen haben, der Wel5

Eine Grenze, die das Sehen der anderen Seite ermöglicht, der anderen Person (Susan-Richard), der anderen Kultur (westlich-muslimisch), jedoch ohne Berührung und Körper. Siehe zu ›Crystal Frontier‹ in BABEL auch: Thiess, Sebastian: »Crystal Frontier. Ethnicity, Filmic Space, and Diasporic Optic in Traffic, Crash, and Babel«, in: Ders. (Hg), E pluribus unum? National and Transnational Identities in the Americas/Identidades nacionales y transnacionales en las Americas, Münster 2009, S. 205-228. Als weiterführende belletristische Lektüre zu ›Crystal Frontier‹: Fuentes, Carlos: Die gläserne Grenze, Frankfurt/M. 2000. 75

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ten, Kulturen und Akteure voneinander trennte. Die Vorrangigkeit der Vergehen strukturiert hier teleologisch den Film: Die unausgesprochene Schuldigkeit Richards Susan gegenüber. Der abgefeuerte Schuss der beiden marokkanischen Kinder auf den Touristenbus, der in der Medienberichterstattung im Film als ein terroristischer Akt ausgelegt wird: eine Misskommunikation in globalpolitischer Form. Alle Geschehnisse und Ereignisse die darauf folgen, sind an diese mit Schuld beladenen Vorentscheidungen gebunden. Dadurch generiert der Film eine Kausallogik, die das Verstehen dessen, was unübersetzbar scheint, ins Zentrum rückt. Strukturell identisch erzählt Iñárritu die Episode in Japan. Wir sehen in einer der ersten Sequenzen die junge Chieko mit ihrem Vater, der sie von einem Volleyballturnier abgeholt hat, im Auto durch Shibuya fahren. Auch diese Szene setzt mit einem einfachen Missverständnis zwischen Vater und Tochter an und weitet sich während des Gesprächs schnell zu einer inneren vergangenen Wunde, dem Selbstmord von Chiekos Mutter, der sich vor dem Film ereignete, aus, die ganz am Ende des Films ebenso durch eine doppelte Umarmung von zuvor gesetzten Lücken in inneren und äußeren Grenzen überwunden gezeigt wird. An die Stelle der Wüste tritt hier der dicht bevölkerte und medial überversorgte Tokioter Stadtteil Shibuya. Mit einer identischen Logik der Bilder wie in der marokkanischen Episode wechselt im weiteren Verlauf der Japan-Geschichte nach dem Gespräch im geschlossenen Auto die Kameraarbeit zwischen Nahaufnahmen und Großstadtaufnahmen und die gesetzte innere Lücke und Grenze zwischen Vater und Tochter expandiert zu einer kollektiv-äußerlichen, die ihre bildliche Darstellung im Wechsel von anonymen Großstadtaufnahmen mit Nahaufnahmen von Chieko findet. Vergleichbar haben wir es hier auch mit Folgen von close ups und long shots zu tun, die zwischen der Fokussierung auf einen unartikulierten Innenraum in den Akteuren und dem Verlorensein in einer hochtechnisierten Stadt als Wüste von Infrastruktur, Bauten und Menschen pendelt. Am Ende sehen wir Chieko, nachts nackt auf dem Balkon im 17. Stock. Ihr Vater tritt in die Wohnung ein und sieht seine Tochter. Er nähert sich ihr auf dem Balkon vorsichtig und beide berühren sich das erste Mal im Film an den Händen, woraufhin Chieko ihren Vater umarmt. Die Kamera bleibt nicht bei dieser versöhnlichen existentiellen Einstellung, sondern zoomt sich rückwärts von den beiden weg und nimmt dabei die Metropole als Umarmung der Umarmung auf. Wie in der marokkanischen Episode stehen hier Umgebung und die Körper der Akteure im Dienste der zuvor gesetzten Innenräume, die sie zugleich repräsentieren. Und trotz der Zusammenführungen der Akteure gegen Ende der Episoden und des Films wirken die gelingenden Kommunikationen in beiden Fällen sehr prekär. Denn es wirkt, als ob die doppelten Grenzziehungen, die Lücken zwischen den Akteuren und den Kulturen, die in den Anfängen der Episoden gesetzt werden, gegen Ende nicht durch- oder über76

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schritten, sondern übersprungen werden müssen. Darin sind sie den narrativen Anschlüssen und Vernetzungen zwischen Lokalitäten im Film vergleichbar, die keine konsistenten Übergänge, sondern Sprünge sind. Die erste Episode in BABEL endet mit dem Wegrennen der Kinder auf den Berghügeln nach dem Abfeuern des Schusses auf den Bus. Cut. Oder besser: Jump. Wir sehen Kinder in einer Wohnung in San Diego rennen, die sich im Spiel sich vor ihrer Nanny verstecken. Ein anderer unter vielen weiteren Sprüngen: Auf den Schuss in Susans Schlüsselbein und Richards Hilferufe im Bus folgen Aufnahmen eines Volleyballturniers von taubstummen Spielerinnen in Japan. Die unübersetzbaren Lücken in BABEL generieren eine Spannung, ein asymmetrisches Übersetzungsverhältnis zwischen Subjekten, Landschaften und Kulturen, dem Iñárritu versucht, mit nichtalltäglicher emotionaler Tiefe der Akteure entgegen zu steuern. Ein Film im andauernden Ausnahmezustand. Die negativ besetzten Lücken in BABEL sind meiner Ansicht nach der grundlegenden Asymmetrie zwischen Subjekt und Lokalität in diesem Film geschuldet. Vor den Dingen und den Landschaften steht die vergangene Wunde. Das Subjekt, die ›Crystal Frontier‹ und die nichtmenschlichen Gegenstände dienen als Repräsentationen der Innenwelten, die in sich noch einmal prekär sind und keine Übergangsräume schaffen. Die Multiplikation der Grenzen generiert Lücken, die entweder durch absolutere Grenzziehungen gemieden werden können, wie wir es z.B. in der politischen Diktion des ›Kampfes der Kulturen‹ finden oder wie es durch Sprünge überwunden werden zu können geglaubt wird, wie es der Dialog der Kulturen oder eine allgemeine »celebrity hybridity« versucht. Iñárritus Film wiederholt mit dem französischen Soziologen Bruno Latour gesprochen die grundlegenden Techniken der Moderne: die der Trennung (Desintegration) und der darauf folgenden Vermittlung (Integration).6 BABEL beginnt mit Darstellungen stark untereinander differierender Regionen und setzt dabei zugleich den Rahmen der Welt als Globalität. Die Waffe, die am Anfang verkauft wird, gehörte Chiekos Vater und wird im Film als Bindungselement begriffen. Einer Logik der Trennung folgt in BABEL eine prekär vernetzte Welt. Mit diesem Einstieg wird zugleich eine Vermittlungsebene über die Innenräume der Akteure angebahnt. Diese Innenräume expandieren stetig im Laufe des Films, bis alle Lokalitäten und Nationen zu Wüsten werden und dadurch der Sozialromantik Platz machen, dass sich im Leid und in der Einsamkeit alle Menschen gleichen. BABEL vernichtet so Orte und Räume, um die Welt als geschlossenes Bild, als Globalität begreifen zu können. Mit der unaufhörlichen Expansion der Innenräume, der Entweder-oder-Logik von Verstehen und Nichtverstehen wird hier Welt verunmöglicht. Die Welt ist

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Vgl. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen, Frankfurt/M. 1998, S. 24. 77

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hier in Stellung gebracht und sie kann nur noch die Sprache des Verstehens oder Nichtverstehens sprechen. Für Alejandro Iñárritu ist Übersetzung Kommunikation und ist nur über die Sprache erfolgreich (Konsens) oder nicht erfolgreich (Dissens). Nach dem japanischen Literaturwissenschaftler und Historiker Naoki Sakai generiert der unbedingte Konnex von Übersetzung als Kommunikation erst die zu kommunizierenden, als voneinander getrennt gedachten Identitäten und erschafft so eine besondere politische Raumaufteilung7, die ich in den kurzen Sequenzanalysen mit der Distanz der Akteure zueinander, der Positionierung dieser, dem Wechsel von close ups und long shots und dem daraus resultierenden geringen Bezug zu Körper, Umgebung und Dingen versucht habe aufzuzeigen. Diese Trennungen unterliegen einer Kausallogik, die alle Reichweiten der Geschehnisse und Ereignisse im Film an eine Verstehens- und Erlösungsnarration grundlegend koppelt und kulturelle und menschliche Kontakte nur als integrierende, gelingende (Verstehen) oder desintegrierende, nicht gelingende (Nichtverstehen) begreifen kann. Die aufgezeigte Logik der Trennung und Zusammenführung in BABEL ist auf der Suche nach den ersten Brüchen und Misskommunikationen, die alle Ereignisse, die dazwischen sich ereignen, als »Verkleidungen [und] für bloße Zufälle [hält]; sie möchte alle Masken abtun, um endlich eine erste Identität aufzudecken«. 8 Es geht um lineare Genesen, wenn es um die Geschichten von geschlossenen Subjekten, Kulturen und Welten geht. Und es geht in BABEL darum, gegen die sichtbar gemachten Differenzen, gegen die Sprachverwirrung und die kulturellen Misskommunikationen eine emotionale einheitliche Notwendigkeit, eine emotionale Evidenz zu setzen, die alle Menschen miteinander verbindet und in eine einzige Welt integriert. Globale Integration impliziert einen Zwang zum emotionalen Bekenntnis, der mit der Fokussierung auf emotionale Bindungen Bedeutungen und Wirkmächtigkeiten alltäglicher menschlicher Bindungen zu Dingen, Räumen und Orten außer Acht lässt. Fatih Akın hat sich während der Postproduktionsphase von AUF DER ANDEREN SEITE (2007) den Film BABEL viermal angesehen. Er hatte im Schneideraum mit seinem Cutter Andrew Bird zu dieser Zeit mit sehr ähnlichen Konsistenz- und Übersetzungsproblemen zu kämpfen, entschied sich aber für ein ganz anderes Paradigma der Weltbeobachtung, als wir es in BABEL zwischen Grenzen und Lücken vorfinden. Akın zeigt eine andere Verhandlung von Subjekt, Kultur, Körper und Dingen auf, die mit der theoretisch-

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Vgl. Sakai, Naoki: Translation and Subjectivity. On »Japan« and Cultural Nationalism, Minneapolis 1997, S. 66. Foucault, Michel: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: Ders., Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode, hg. v. Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt/M. 2009, S. 181-205, hier S. 85.

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politischen Aufgabe der Evenementalisierung (»Zum-Ereignis-Machen«) nach Michel Foucault am besten zu greifen ist.

3 . Di e W e l t z w i s c h e n S p r a c h e u n d Kö r p e r AUF DER ANDEREN SEITE erzählt die Geschichten von sechs Figuren, deren kultureller wie nationaler Hintergrund sich vom Deutsch-Türkischen über das Türkisch-Türkische bis zum Deutsch-Deutschen erstreckt.9 Ebenso wie in BABEL spielen Familien, intime Beziehungen, Verlusterfahrungen und mehrere unterschiedliche Schauplätze die inhaltlich-strukturell tragenden Rollen in diesem Film. Zudem sind beide Filme verschachtelt erzählt. Diese narrative Technik in AUF DER ANDEREN SEITE ist, wie der Produzent Andreas Thiel bemerkte, von den mexikanischen Filmen Y TU MAMÁ TAMBIÉN / LUST FOR LIFE (2001) von Alfonso Cuarón und der am Anfang genannten Trilogie Iñárritus beeinflusst10. Doch zeigt schon die erwähnte Anfangssequenz, die den Film zeitlich und strukturell rahmt, eine Differenz zu BABEL, die meiner Ansicht nach in Akıns Film grundlegend ist für die Bearbeitung und Übersetzung von Lokalität, Mobilität, Familie, Beziehungen, Bindungen und schließlich von Integration und Kultur.11 In der ersten Szene des Films sehen wir, wie die Kamera sich mit einer Totalen von einem schuppenartigen Haus, das für den Kameramann Rainer Klausmann den Süden symbolisiert12, nach rechts schwenkend zu einer Tankstelle bewegt. Von rechts fährt entgegen der Kamerabewegung ein Auto an die Tankstelle heran. Auto und Kamera kommen zeitgleich zum Stehen. Wir sehen den Protagonisten Nejat aus dem Auto steigen, in die Tankstelle eintreten, Verpflegung für seine Reise einkaufen, von der der Zuschauer noch nicht weiß, wohin sie führt und warum. Er erfährt erst gegen Ende des Films, dass Nejat unterwegs zu seinem Vater ist, um sich mit ihm zu versöhnen. Dieser ganze Ablauf wird mit einer Totalen aufgenommen, die im Verkaufsraum der Tankstelle mit einer Halbtotalen fortgeführt wird. Wir sehen den Protagonisten Essensartikel aussuchend im Gespräch mit dem Inhaber der Tankstelle über den türkischen Musiker Kazım Koyuncu13, der mit Anfang Dreißig an 9 10 11 12 13

Siehe hierzu und zur Zusammenfassung der Filmhandlung die Einleitung dieses Bandes, S. 8-9. »Famous last words« – über Andreas Thiel, DVD AUF DER ANDEREN SEITE (D/TR 2007, R: Fatih Akın): Pandora Film 2008. Siehe zur Produktion des Lokalen und Globalen auch die Beiträge von Deniz Göktürk und Barbara Mennel in diesem Band. Siehe den Audiokommentar von Fatih Akın, DVD AUF DER ANDEREN SEITE (D/TR 2007, R: Fatih Akın), Pandora Film: 2008. Für eine eingehendere Beschreibung der Funktion von Kazım Koyuncu im Film siehe den Beitrag von Deniz Göktürk in diesem Band. 79

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Krebs verstarb, sich der Kamera nähern. Durch diese Einstellung, die Bewegung aufnimmt, weil die Kamera sich nicht zu den Akteuren bewegt, entsteht Raum durch die Bewegung und Bewegung durch den Raum. Nach dieser Szene ist Nejat wieder mit dem Auto unterwegs. Im Unterschied zu BABEL sind hier weder die Subjekte, noch die Fahrzeuge geschlossen, was auf eine andere Reihenfolge zurückzuführen ist. Der Raum, die Dinge und die Lokalitäten stehen und kommen vor den Akteuren. Die Subjekte, oder die Innenräume, stehen nicht am Anfang und können dadurch auch nicht wie in BABEL repräsentativ expandieren. Sie sind Teil des Raums, d.h. an die Umgebungen und Dinge gebunden und mit ihnen verwoben. Als am Anfang des Films Nejat seinen Vater in Bremen besucht, schenkt er ihm den Roman Die Tochter des Schmieds von Selim Özdoan in türkischer Sprache.14 Währenddessen bereitet Ali für seinen Sohn ein Fischgericht vor. Gegen Ende des ersten Teils von dreien im Film wird Nejat auf der Suche nach Yeters Tochter in Istanbul einen deutschen Buchladen erwerben; Ali wird im letzten Teil des Films nach seiner Abschiebung aus Deutschland von Istanbul aus weiter an seinen Herkunftsort fahren, um zu fischen. In beiden Fällen handelt es sich um eine Rückkehr zu den Dingen, mit denen man verbunden ist. Differente Wiederholungen binden und zeigen auch die Bindungslogik in diesem Film.15 So werden auch die Lokalitäten, Städte und die mit ihnen verbundenen Akteure erst durch sich wiederholende Übergangsräume eingeführt. Der erste der drei Teile des Films mit dem Titel ›Yeters Tod‹ spielt zwischen Bremen und Hamburg und wird mit der 1. Mai-Demonstration in Bremen eingeführt. Der zweite Teil ›Lottes Tod‹ beginnt mit der weitaus gewalttätiger inszenierten 1. Mai-Demonstration in Istanbul. Interessanterweise expandiert auch der Raum vom ersten Teil über den zweiten bis zum dritten, der denselben Titel wie der Film insgesamt trägt: ›Auf der anderen Seite‹. Wenn in Bremen und Hamburg mehr die geschlossenen Räume wie Alis Wohnung in Bremen und 14 Sein Vater, der alles andere als literarisiert wirkt, wird dieses Buch in Istanbul nach ihrem angeblichen Bruch lesen und dabei seine eigene Vorgeschichte wiederfinden. Özdoan erzählt in seinem Roman eine türkische Familiengeschichte zwischen den vierziger und sechziger Jahren in der türkischen Provinz. Die letzten Seiten des Romans sind der Arbeitsmigration der Protagonistin Gül nach Deutschland gewidmet. Ähnlich wie bei Akın spielen in diesem Roman Dinge, Landschaften und Alltag eine besondere Rolle. Das Subjekt ist ebenso ein gebundenes und in Beziehungen verwobenes. Siehe hierzu: Ezli, Özkan: »Von der interkulturellen zur kulturellen Kompetenz. Fatih Akıns globalisiertes Kino«, in: Ders./Dorothee Kimmich/Annette Werberger (Hg.), Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur, Bielefeld 2009, S. 207-230; ders.: »Von der Identitätskrise zu einer ethnographischen Poetik. Migration in der deutsch-türkischen Literatur«, in: Text+Kritik IX, Sonderband: Literatur und Migration (2006), S. 61-73. 15 Siehe hierzu auch den Beitrag von Kyung-Ho Cha in diesem Band. 80

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der dazugehörige recht geschlossen wirkende Garten, Nejats Privatwohnung und der Hörsaal an der Uni in Hamburg, die geschlossenen Züge und Busse, die die Protagonisten benutzen, dominieren, nehmen die Außenaufnahmen im zweiten Teil in Istanbul stark zu und dominieren regelrecht den letzten Teil des Films, wie die letzten Sequenzen mit der Fahrt an die Schwarzmeerküste und der letzten Einstellung im Film mit dem Blick aufs Meer eindrücklich zeigen. Diese Expansion des Raums ist jedoch nicht als ein Repräsentationsraum oder als eine Emanzipations- oder Integrationsbewegung aus der Enge in das Offene und in das ideell Integrierende zu lesen, wie es mit den Innenräumen in BABEL geschieht. Zum einen, weil die Kamera ihre distanzierte Haltung mit der durchgehenden Dominanz von long shots durchhält und zum anderen, weil der Film durch die Geschichten des Sorgetragens um den anderen zwischen den Akteuren Räume schafft, die über das Verstehen und Nichtverstehen, über die Sprache hinausgehen. Denn die Bewegungen der Akteure von einem Ort zum nächsten implizieren nicht Versuche, sich selbst, den anderen, seine und die andere Kultur zu verstehen oder innere Verwundungen zu versprachlichen, wie es ein zentrales Anliegen in Iñárritus Film BABEL ist. Vielmehr sind es die körperlichen Handlungen, die in diesem Film dem Sprechen gleichwertig aufgenommen sind, die Lücken in Räume verwandeln, die die intimen Beziehungen wie auch den Umgang mit Kultur prägen. »Eh, sen imdi kimi di ediysin?« (Wen bumst Du zur Zeit?), fragt Ali seinen Sohn Nejat, den Germanistikprofessor, im türkisch-lasischen Akzent. Sie sitzen Eis essend vor dem Bremer Bahnhof auf einer Parkbank. Die Kamera nimmt sie mit einer Totalen auf. Auf die Frage von Ali hebt Nejat den Kopf, hört auf, sein Eis zu essen und blickt verdutzt durch seine Sonnenbrille in Richtung Kamera. Sein Vater wendet sich ihm näher zu und wiederholt die Frage mit einer ausholenden Handbewegung: »Kimi bum bum ediysin, da?« (Wen Du bumst, meine ich?) Nejat antwortet ihm: »Baba, gentlemen adam böyle birey konumaz.« (Baba, ein Gentleman spricht nicht über so was) Ali wendet seinem Sohn ein wenig beleidigt den Rücken zu und antwortet im Akzent eines deutschen Gastarbeiterdeutschs: »Ach so, das wusste ich nicht.«, fügt aber auf Türkisch hinzu: »Seninle de birsey konuulmaz ki!« (Mit Dir kann man aber auch über nichts reden!). Nejat isst wie sein Vater routiniert sein Eis zu Ende, klopft bei der Verabschiedung auf den Rücken seines Vaters und empfiehlt ihm das Buch zu lesen, dass er ihm geschenkt habe. Sein Vater grummelt zurück, dass er das tun werde. Die ganze Szene lebt von einer Einstellung, die beide auf der Parkbank und im Hintergrund den Bremer Bahnhof zeigt. Keine Schuss und Gegenschuss-Aufnahmefolge, die die Akteure trennen würde. Selbst der Gesprächsverlauf reißt keine innenräumliche Lücke zwischen den beiden auf. Vielmehr kommentieren die zu Ende geführten Handlungen das Gespräch diametral und schaffen einen Raum, eine Übersetzung neben der Sprache, denn beide essen ihr Eis weiter wie vorher und Nejat 81

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entsorgt sogar die Eisschale ganz am Ende der Szene. Dieser Raum zwischen Nejat und Ali wird weder durch die Sprache noch über die Kameraeinstellung getrennt. Nejat wird sich einige Sequenzen später von Ali zwar sichtbar lösen, weil kein Mörder sein Vater sein könne. Doch wird der hier kurz beschriebene Raum, der weder sichtbar noch unsichtbar ist, und das Übersetzungsverhältnis zwischen den beiden nicht wirklich getrennt. Denn seine stärkste Expansion wird der von beiden geteilte Raum mit einer bemerkenswerten Kopplung zum kulturellen Narrativ der Opfergeschichte Abrahams vor dem Ende des Films im Gespräch zwischen Nejat und Susanne erfahren. Wir sehen Susanne und Nejat in seiner Istanbuler Wohnung, wie sie vom Fenster aus Menschen beobachten, die zum Opferfest zum Gebet in die Moscheen gehen. Susanne fragt, warum denn dieses Opferfest begangen werde. Nejat erzählt ihr daraufhin die koranische Version der Opfergeschichte Abrahams. Susanne entgegnet, dass es dieselbe Geschichte auch bei ihnen gebe. Ein Kulturdialog scheint sich anzudeuten und eine kulturelle Lücke könnte geschlossen werden. Doch wird das Gespräch anders weitergesponnen, denn hier stehen sich nicht zwei Menschen mit unterschiedlichen Kulturen gegenüber, sondern Personen, die vergleichbare vorindividuelle familiäre Bindungen in sich tragen, die im Film vorher verräumlicht wurden. Die Logik der gleichzeitigen Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit der Räume in diesem Film zeigt sich auch in den Gesichtern der Akteure. Denn das Reden über ein verbindendes kulturelles Narrativ, die Opfergeschichte Abrahams, löst bei Nejat keinen Kulturdialog, sondern ein Eingedenken an den eigenen Vater aus: Auf die Aussage, dass es diese Geschichte auch bei »ihnen«, also im Christentum, gebe, erinnert sich Nejat unwillkürlich an seine Kindheit. Früher habe ihm sein Vater oft die Opfergeschichte erzählt und er habe ihn immer gefragt, wie er sich denn anstelle Abrahams verhalten hätte. Auf die Frage Susannes, was sein Vater geantwortet habe, erwidert Nejat, dass er immer gesagt habe, dass er sich sogar Gott zum Feind erklären würde, um ihn zu schützen. Ebenso berührt wie Nejat selbst von der memoire involontaire an seinen Vater ist, zeigt sich auch Susanne, die Nejat fragt, ob sein Vater noch leben würde. Nejat überlässt darauf Susanne seinen Buchladen für ein paar Tage und bricht mit dem Auto an die Schwarzmeerküste zu seinem Vater auf – womit wir uns wieder am Anfang des Films befinden. Wenn in BABEL Gesprächsenden mit Sequenzenden und mit wechselnden close ups, getrennten Akteuren, zusammenfallen, ist für den Rezipienten von Iñárritus Film die Bedeutung und der zentrale Konnex von Sprache als Ausdruck und Innenraum klar. Das gegenseitige Bekenntnis/Eingeständnis von Fehlern, Schuld und Misskommunikation und die symbolischen Umarmungen werden so zum Ziel und zur Lösung deklariert, die für Subjekt und Kultur gleichermaßen gelten. Der kommunikative Dissens durchzieht Innenraum

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(Subjekt) und Außenraum (Kultur) und kann nur durch Beziehungs- und Kulturdialoge in einen prekären Konsens überführt werden. Trotz der ebenso wie in BABEL biographisch bedingten Dispositionen von Migration, Familie, Nation und Kultur, geht es in Akıns Film hingegen primär nicht um Kultur- und Beziehungsdialoge oder um Kultur- und Beziehungskonflikte. Kultur und Akteur werden in AUF DER ANDEREN SEITE vielmehr von einer produktiven Unbestimmtheit getragen, die moderne und vormoderne Vorstellungen von Kultur, Familie und Beziehungsbindungen, wie sie Dirk Baecker in Wozu Kultur?, Richard Sennett in Verfall und Ende des öffentlichen Lebens und Niklas Luhmann in Liebe als Passion ausführen16, in Relation setzt und Kultur dadurch evenementalisiert, zum Ereignis macht. Nach Michel Foucault bricht die Evenementalisierung die Evidenz linear-kausaler Narrationen 17, die wie im Falle von BABEL von der gesetzten Vielfalt der Kulturen ausgehend eine doch einheitliche Welt evident beschreiben wollen. Diese kausale Logik von Vielfalt zu Einheit oder von Einheit zu Vielfalt bestimmt auch die Integrations- und Desintegrationsdebatten (Kulturdialog und Kulturkonflikt) in Europa.18 Wenn es in den neuen europäischen Integrationspolitiken im Rahmen veränderter globalpolitischer Umstände nach dem 11. September 2001 um transkulturell ausgerichtete nationale Integrationen geht, wie beispielsweise die Vorstellung und Zielsetzung einen ›deutschen Islam‹ zu schaffen, handelt auch BABEL in vergleichbarer Weise von globaler Integration. Ähnlich wie in den meisten klassischen Integrationstheorien, besteht auch der Ausgang bei BABEL in einer problematischen Differenz, die gelöst werden muss. Grundlage dieser Logiken ist eine Technik der Trennung und der darauf folgenden Vermittlung, die kulturellen, nationalen oder subjektiven Identitäten als Integrationsziele Vorrang gewährt und ihnen Ursprünglichkeit und Authentizität attestiert, die für Foucault aus wissenschaftlicher Perspektive auf die Trennung der Geistesgeschichte von der Sozialgeschichte zurückzuführen ist: »Wir alle sind lebende Subjekte. Wogegen ich mich wende, ist die These, daß zwischen der Sozialgeschichte und Geistesgeschichte ein Bruch bestehe. Demnach soll

16 Baecker, Dirk: Wozu Kultur?, Berlin 2001, S. 24; Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Tyrannei der Intimität, Frankfurt/M. 2004; Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/M. 1994. 17 Foucault, Michel: »Diskussion vom 20. Mai 1978«, in: Ders., Geometrie des Verfahrens, S. 248-265, hier S. 253. 18 Siehe hierzu den Beitrag von Levent Tezcan in diesem Band. 83

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die Sozialgeschichte beschreiben, wie Menschen handeln ohne zu denken, und die Geistesgeschichte soll beschreiben, wie Menschen denken ohne zu handeln.«19

Gegen diese Trennung von Denken und Handeln hat Foucault in seinen Werken beginnend mit Wahnsinn und Gesellschaft (1961) über Überwachen und Strafen (1975) bis hin zum letzten Band von Sexualität und Wahrheit (1983) methodisch auf eine gleichwertige Bündelung von Reflexion und Körper gesetzt, die er in einem Interview aus dem Jahre 1979 als eine ›Evenementalisierung‹, als ein »Zum-Ereignis-Machen« von Geschichte beschreibt: »Ich versuche im Sinne eines ›Zum-Ereignis-Machens‹ (évenementalisation) zu arbeiten. Auch wenn das Ereignis eine von den Historikern wenig benutzte Kategorie ist, so frage ich mich doch, ob nicht auf eine bestimmte Art und Weise das zum Ereignis-Machen ein nützliches Verfahren darstellt. Was ist darunter zu verstehen? Zunächst ein Bruch der Evidenz. Dort wo man versucht wäre, sich auf eine historische Konstante zu beziehen oder auf ein unmittelbar anthropologisches Merkmal, oder auch auf eine Evidenz, die sich allen auf die gleiche Weise aufdrängt, geht es darum, eine ›Singularität‹ auftreten zu lassen. Zu zeigen, dass es gar nicht so ›notwendig war, dass …‹, […] Der Bruch mit den Evidenzen, denjenigen Evidenzen, auf denen unser Wissen basiert, unser Konsens, unsere Praktiken. Dies ist die theoretisch-politische Aufgabe, die ich als Zum-Ereignis-Machen bezeichne.«20

Evidenz ist das, was ins Auge springt, was wir sofort verstehen, oder besser: zuordnen und identifizieren können, weil es etwas repräsentiert. Die Expansion der konfliktbeladenen Innenräume in BABEL zwingt zum einen die Körper der Akteure, die Landschaften und die Dinge in eine repräsentative und zum anderen die narrative Struktur des Films in eine heilsgeschichtlich integrierende und teleologische Ordnung, die dabei anthropologische Konstanten konstituiert. Die Evenementalisierung schwächt dieses kausale Schwerefeld, indem an die Stelle einer kausalen Logik eine mehrwertige tritt, die Evidenzen bricht. Dies gelingt nach Foucault, indem um das »als Prozess analysierte singuläre Ereignis herum ›ein Polygon‹ errichtet wird, bei dem die Anzahl der Oberflächen nicht im Vorhinein definiert ist und niemals mit vollem Recht als endlich betrachtet werden darf. […] es gilt in Betracht zu ziehen, dass man, je mehr man das Innere des zu analysierenden Prozesses zergliedert, umso mehr externe Beziehungen der Intelligibilität konstruieren kann und muss. Interne

19 Foucault, Michel/Rux, Martin: »Wahrheit, Macht, Selbst. Ein Gespräch (25. Oktober 1982)«, in: Luther H. Martin/Huck Gutman/Patrick H. Hutton (Hg.), Technologien des Selbst, Frankfurt/M. 1988, S. 15-23, hier S. 15. 20 M. Foucault: »Diskussion vom 20. Mai 1978«, S. 252. 84

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Zergliederung der Prozesse und Vervielfältigung der analytischen ›Vorbauten‹ gehen Hand in Hand.«21

In den beiden analysierten Gesprächen zwischen Ali, Susanne und Nejat finden keine hermeneutischen Vertiefungen in das Innenleben der Akteure statt, die diese von der Außenwelt (Orte, Dinge etc.) trennen würden. Vielmehr vervielfältigen sich die Oberflächen und Interpretationsräume im Laufe des Films, die Generationen, Religionen, Dinge und alltägliche Verrichtungen mit den Akteuren koppeln und somit ein Innen/Außen-Verhältnis generieren, das nicht einheitlich, sondern bedingt durch die Bedeutung der Ereignisse mannigfaltig ist und Mannigfaltigkeiten generiert.22 Beispielsweise wird die Sequenz des Gesprächs zwischen Susanne und Nejat zur Opfergeschichte Abrahams mit totalen Einstellungen eingeführt, die nicht die Akteure an den Anfang setzen, sondern mit Einstellungen ansetzen, die unscheinbar wirkend Minarette und Kirchtürme in Istanbuler Straßenecken umgeben von anderen Häusern zeigen. In der letzten Einstellung vor dem Gespräch sieht man sogar ein Minarett neben einem Kirchturm. Doch muss man auch genauer hinsehen, um das zu sehen. Trotz der luziden Vorausbahnung des Gesprächs als ein möglicher Dialog der Kulturen entfaltet sich dieses, wie gezeigt wurde, keineswegs in dieser Logik. Das Gespräch setzt die Vorrangigkeit der Dinge nicht in ein getrennt repräsentatives Verhältnis von Islam und Christentum, da die Akteure weder Kollektiv- noch Kultursubjekte sind. So stehen die Einstellungen vor dem Gespräch mehr für eine Evidenz und Vielschichtigkeit des Alltags. Religion ist eine Seite von vielen. Sie ist Material und Bestandteil der sich mannigfaltig entwickelnden Kommunikation zwischen Susanne und Nejat. Hier und an vielen anderen Stellen des Films greift die theoretischpolitische Aufgabe des »Evenementalisierens«, »je mehr man das Innere des zu analysierenden Prozesses zergliedert, umso mehr externe Beziehungen« entstehen. Diese Unschärfe der Kultur problematisiert grundlegend die teleologisch ausgerichteten Integrationsvorstellungen von Welt und Gesellschaft. Denn auch wenn der Film mit seiner Rahmenhandlung und mit der Auswahl seiner Akteure sich auf den deutsch-türkischen Konnex in all seinen Variationen konzentriert und am Ende sogar in der Türkei endet, wird hier keineswegs das Motiv der Ankunft oder der Rückkehr bemüht. Vielmehr entfaltet der Film durch die ereignishaften Todesfälle auf beiden Seiten (deutsch/ türkisch) eine ateleologische Struktur der Gemeinschafts- und Gesellschaftsbindung, die nicht nach der Identität, sondern nach der bedürfnisorientierten Bindung fragt, zu der Dinge und Räume ebenso gehören wie Personen. In hochmodernen komplexen Wissensgesellschaften, in denen die Fragen von 21 Ebd. 22 Siehe zum Konnex von Bindungen, Mannigfaltigkeit und Dialog den Beitrag von Levent Tezcan in diesem Band. 85

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Kultur und Weltkultur verhandelt werden, spielt die Übersetzung eine zentrale Rolle. Wenn sich diese allein auf die Sprachen konzentriert, fokussiert sie Individuen als kollektive Kultursubjekte, mit denen dann folglich entweder ein Dialog oder ein Konflikt zu führen ist. Entweder sind alle Menschen gleich oder es gibt unübersetzbare Lücken. Wenn jedoch der Akt der Übersetzung Alltag, Bedürfnisse, Bindungen und Körper – sozusagen das Soziale – auch implizieren kann, dann wird Kultur zum polyglotten Mechanismus, der durch eine verräumlichende Technik, nach Lotman durch einen stereoskopischen Charakter, Nichtverstehen (Lücken) in Mannigfaltigkeiten übersetzen kann, die auf neue Bindungsmöglichkeiten zielen: »Wachsendes Nichtverstehen oder zunehmend inadäquates Verstehen kann von technischen Defekten im System der Kommunikationen zeugen; es kann aber ein Anzeichen sein, dass dieses System komplizierter wird, dass es fähig ist, komplexere und wichtigere kulturelle Funktionen zu erfüllen.«23

Wenn die Literaturwissenschaftlerin Leslie Adelson in ihrem Buch The Turkish Turn in Contemporary German Literature kulturelle Begegnung am Beispiel deutsch-türkischer Literatur als eine Form des touching tales jenseits dichotomischer Kulturunterscheidung beschreibt24, so wäre diese Formulierung in unserer Lesart von AUF DER ANDEREN SEITE sehr gut in touching spaces zu übersetzen. Denn der grundlegende Unterschied zwischen diesem Film und BABEL ist, dass in Iñárritus Film bedingt durch Sprach- und Raummangel Hände und Körper sich berühren müssen, um die Multiplikation der Grenzen zu schlichten und zu übersetzen. Doch sind Berührungen und Umarmungen von kurzer Dauer und die Lücken werden sich erneut auftun. Die Multiplikation und Vervielfältigung der Räume und Bindungen hingegen verwandelt vorhandene Lücken und Übersetzungshindernisse zwischen Generationen, Beziehungen und letztlich auch Kulturen in Übergangsräume und Übersetzungsverhältnisse, die die Grenzen als Markierungen begreifen, mit denen Umgangsformen entwickelt und neue Bindungen geschaffen werden können, und nicht als etwas, was es zu vertiefen oder zu überwinden gilt. AUF DER ANDEREN SEITE vernichtet nicht Orte, Dinge und Räume, wie es in BABEL geschieht, sondern schafft sie vielmehr, um die Welt als offenen Möglichkeitsraum zwischen Sprache und Körper denken zu können.

23 Lotman, Jurij M.: »Der Platz der Filmkunst im Mechanismus der Kultur«, in: montage/av: Jurij Lotman/Das Gesicht im Film, Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation (1998), S. 92-106, hier S. 95. 24 Adelson, Leslie: The Turkish Turn in Contemporary German Literature. Toward a New Critical Grammar of Migration: Towards a New Critical Grammar of Migration, Basingstoke 2005, S. 44. 86

VON LÜCKEN, GRENZEN UND RÄUMEN

Literatur Adelson, Leslie: The Turkish Turn in Contemporary German Literature. Toward a New Critical Grammar of Migration, Basingstoke 2005. Baecker, Dirk: Wozu Kultur?, Berlin 2001. Everschor, Franz: »Babel«, Filmkritik, in: film-dienst 25 (2006). Ezli, Özkan: »Von der interkulturellen zur kulturellen Kompetenz. Fatih Akıns globalisiertes Kino«, in: Ders./Dorothee Kimmich/Annette Werberger (Hg.), Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur, Bielefeld 2009, S. 207-230. — : »Von der Identitätskrise zu einer ethnographischen Poetik. Migration in der deutsch-türkischen Literatur«, in: Text+Kritik IX, Sonderband: Literatur und Migration (2006), S. 61-73. »Famous last words« – über Andreas Thiel, DVD AUF DER ANDEREN SEITE (D/TR 2007, R: Fatih Akın): Pandora Film 2008. Faulstich, Werner: »Die Überwindung des strafenden Gottes. Analyse und Interpretation von ›Babel‹ (2006) als transkultureller Film«, in: Ricarda Strobel/Andreas Jahn-Sudmann (Hg.): Film transnational und transkulturell, München 2009, S. 185-200. Foucault, Michel/Martin, Rux: »Wahrheit, Macht, Selbst. Ein Gespräch (25. Oktober 1982)«, in: Luther H. Martin/ Huck Gutman/ Patrick H. Hutton (Hg.), Technologien des Selbst, Frankfurt/M. 1988, S. 15-23. — : »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: Ders., Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode, hg. v. Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt/M. 2009, S. 181-205. — : »Diskussion vom 20. Mai 1978«, in: Ders., Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode, hg. v. Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt/M. 2009, S. 248-265. Fuentes, Carlos: Die gläserne Grenze, Frankfurt/M. 2000. Jahn-Sudmann, Andreas: »Film und Transnationalität. Forschungsperspektiven«, in: Ricarda Strobel/Ders. (Hg.), Film transnational und transkulturell. München 2009, S. 15-26. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen, Frankfurt/M. 1998. Lotman, Jurij M.: »Der Platz der Filmkunst im Mechanismus der Kultur«, in: montage/av: Jurij Lotman/Das Gesicht im Film, Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation (1998) S. 92-106. Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/M. 1994. Sakai, Naoki: Translation and Subjectivity. On »Japan« and Cultural Nationalism, Minneapolis 1997. Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Tyrannei der Intimität, Frankfurt/M. 2004. 87

ÖZKAN EZLI

Thiess, Sebastian: »Crystal Frontier. Ethnicity, Filmic Space, and Diasporic Optic in Traffic, Crash, and Babel«, in: Ders. (Hg), E pluribus unum? National and Transnational Identities in the Americas/Identidades nacionales y transnacionales en las Americas, Berlin 2008, S. 205-228.

Filme 21 GRAMM (USA 2003, R: Alejandro Gonzáles Iñárritu) AMORES PERROS (MEX 2000, R: Alejandro Gonzáles Iñárritu), DVD: Warner Home Video 2000. AUF DER ANDEREN SEITE (D/TR 2007, R: Fatih Akın), DVD: Pandora Film 2008. BABEL (USA 2006, R: Alejandro Gonzáles Iñárritu), DVD: Universum Film 2006. COMMON GROUND: CONSTRUCTION NOTES (USA 2006, R: Alejandro Gonzáles Iñárritu), DVD BABEL: Universum Film 2006. GEGEN DIE WAND (D/TR 2004, R: Fatih Akın) Y TU MAMÁ TAMBIÉN / LUST FOR LIFE (MEX 2001, R: Alfonso Cuarón)

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Imm er nur d as and er e Leb en SELIM ÖZDOAN

So wie der Schmied damals der erste im Viertel war, der ein Radio hatte, so ist Fuat der erste in der Heimstraße, der einen Videorecorder kauft. Doch anders als bei seinem Schwiegervater ist es nicht so, dass sich die Familie auf einmal nicht mehr vor Besuch retten kann. Die Nachbarn kommen zwar, doch sie schauen, staunen, bewundern und nur Tage oder höchstens Wochen später kauft nahezu jeder so ein Gerät. Der Schmied war seinerzeit reich, hier arbeiten alle in derselben Fabrik. Binnen Monaten kursieren Kassetten, der türkische Metzger, der nebenbei noch Obst und Gemüse verkauft, hat auf einmal hinter der Kasse zahlreiche Videos zum Verleih. Niemand in der Heimstraße schaltet mehr den Fernseher ein, um eines von den deutschen Programmen zu verfolgen. Früher, in einem anderen Leben, haben sie alle im Kino Humphrey Bogart gesehen, Cary Grant, Ava Gardner, Kirk Douglas, Bette Davis, Gina Lollobrigida, Elizabeth Taylor, Robert Mitchum. Natürlich gab es damals auch Erol Ta, Fatma Girik, Filiz Akın, Ayhan Iık, doch es waren die amerikanischen Filme, die vor fast zwanzig Jahren ihre Wünsche nährten, ihre Vorstellungen von anderen Ländern und besseren Zeiten. Filme, die Fuat danach streben ließen, endlich Whisky zu trinken und ihn nicht nur schwarzweiß auf der Leinwand zu sehen, ohne ihn auch nur riechen zu können. Filme, die Saniye zu der Ansicht verleiteten, in Europa würde man sich zu jeder Gelegenheit in Schuhen auf das Bett schmeissen. Filme, die wie alle Geschichten, die erzählt werden, glauben machten, es gäbe noch eine andere Welt, als die, in der sie lebten, eine Welt, wo sich das Leben anders anfühlte als jenes, das sie kannten. Ein Leben, wo selbst ihre Herzen anders schlagen würden, gesünder, glücklicher, heiterer, ein Leben, das größer war als eins, in dem es Sorgen gab, Kummer, Trauer und Alltag. 89

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Was sie auf die Suche geschickt hatte, war nicht nur die Not gewesen, sondern auch die Sehnsucht nach diesem anderen Leben, das in Greifweite schien, immer in Greifweite, wieso sollten sonst andere davon erzählen können. Das Kino hat vor zwanzig Jahren ihre Träume genährt, hat sie getränkt mit Vorstellungen, hat zu Neid beigetragen und dazu, dass die Welt kleiner schien. Als Filmrolle war es nicht schwer, über den Ozean zu kommen, die Wege schienen offen. Nun sitzen Familien abends vor dem Fernseher, an den Wochenenden schauen sie fünf oder sechs Filme hintereinander, es ist kein Vergleich zu den Doppelvorstellungen damals im Kino, doch die Hauptdarsteller dieser Filme tragen keine ausländischen Namen mehr, sie heißen Kemal Sunal, Orhan Gencebay, Tarık Akan, Hülya Koçyigit, Yılmaz Güney, Müjde Ar, Türkan oray, Cüneyt Arkın, Ferdi Tayfur, brahim Tatlıses. Filme, in denen ein berühmter Sänger einen Musiker spielt, der im Gefängnis sitzt und einer Sängerin Stücke schickt, die er für sie komponiert hat, Stücke, die eine Sehnsucht spiegeln, wie man sie nur hinter solchen Mauern spüren kann, Stücke, die klagen über diese Trennung von einer anderen Welt, klagen, dass einem das Herz mit jedem Tag schwerer wird und Fuat gleich nochmal nachschenkt. Was bleibt uns schon auf der Welt, es ist Abend geworden, du bist so weit von der Heimat, was sollst du sonst tun außer trinken? Wie könnte das eine Sünde sein? Die, die trinken, sterben, aber leben die anderen etwa ewig? Steck dir noch eine an und zieh den Rauch tief ein, damit er sich von innen auf die Melancholie legen kann. Filme, in denen die Frau bei der Geburt stirbt und der Mann durch ein Leben zahlloser Schmerzen muss, nur weil er seiner Tochter etwas Glück bescheren möchte. Filme, in denen sich der Sohn des Bauern in die Tochter des Großgrundbesitzers verliebt, in denen Byzans erobert wird, Filme, die von Blutrache handeln oder in denen jemand über Nacht im Gefängnis ergraut. Diese Filme mit den Geschichten die wohlbekannt scheinen, Filme, in denen sich ein Mann und eine Frau unsterblich ineinander verlieben, doch ihre Familien tragen seit Generationen eine blutige Fehde gegeneinander aus. Anders als in vielen der amerikanischen Filme, ist Liebe hier nicht die Antwort. Sie baut keine Brücken und überwindet keine Schluchten, sie führt nicht dazu, dass es einem am Ende des Films ganz warm ums Herz wird. Sie führt zu noch mehr Toten, noch mehr Leid und noch weniger Hoffnung. Hier ist Liebe kein romantisches Ideal, sondern eine Narretei, die die Menschen erfasst und sie unbarmherzig Richtung Tod schleift, weil sie es wagen, gegen die Gesetze und Traditionen zu verstoßen. Filme, bei denen die Helden am Ende sterben,

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ihr Blut sich in den Staub der Straße mischt und die Hinterbliebenen ahnen, dass dieser Schmerz nie richtig verblassen wird. Gül sieht diesen Film, in dem eine junge Frau wegen eines Verbrechens, das sie nicht begangen hat, zum Tode verurteilt wird und vor Gericht die ganze Zeit schweigt. Noch nie hat ihr jemand zugehört, noch nie hat ihr jemand geglaubt oder gar an sie geglaubt. Liebe, das ist ein Lied, das ihr Großvater mal für sie gesungen hat, als sie noch klein war, eine ferne Erinnerung, der Klang einer brüchigen Stimme, die schief singt. Alles andere sind nur Worte ohne Gefühle dahinter, so wie das ganze Gebrabbel vor Gericht. Sie sieht keinen Ausweg und hält den Mund. Und wem würde man auch schon glauben, einem Dienstmädchen, das unzählige Male vergewaltigt wurde, ohne sich zu wehren oder den reichen Herrschaften. Gül sitzt vor dem Fernseher und versteht, versteht, wie sie selbst als kleines Mädchen den anatolischen Blues verstanden hat. Natürlich kann man die Wahrheit sagen, natürlich kann man aufrecht sein und ein reines Herz haben, aber was zählt das schon und was ändert das? Was zählt das vor Menschen in Roben, die glauben, richten zu können. Die Belohnung einer guten Tat ist die gute Tat, man darf nach nichts trachten in dieser Welt, die einem nichts schenkt. Doch es gibt auch Komödien, in denen zum Beispiel ein von Rheuma geplagter Mann Regen vorhersagen kann und so zu einem Dorfheiligen wird, von allen verehrt und gefürchtet. Filme, die Ceyda und Ceren genauso viel über das Land ihrer Eltern erzählen, wie die amerikanischen Filme damals Gül und Fuat über die Vereinigten Staaten erzählt hatten. Filme, die nicht nur eine andere andere Welt sind, sondern aussehen wie etwas, das man tatsächlich betreten könnte. Ein Ort, an dem das eigene Herz Frieden finden wird, trotz aller Widrigkeiten. So wie die Schwestern die Kassette des Sommers beschwingt immer wieder und wieder hören, schauen sie Filme unzählige Male, Liebesfilme, in denen gesungen wird, und in denen Menschen sich verlieben, als würden sie von einem Felsen erschlagen werden. Auch Gesine schaut sich zusammen mit Ceren einige dieser Filme an, man muss die Worte nicht verstehen, um zu begreifen, worum es geht, doch ihr ist es zu mühselig und zu langweilig, sich zwei oder drei dieser Filme hintereinander anzusehen. Die Zeit der Pferdebücher ist bereits vorbei für die beiden Mädchen. Ceren versucht zwei Wochen lang Gesine türkisch beizubringen, damit sie diese Filme besser mit ihrer Freundin teilen kann, doch sie merkt schnell, dass sie nicht erklären kann, wie diese Sprache funktioniert und Gesine ist erschrocken darüber, dass sie mit englischen Worten keine Probleme hat, sich diese Vokabeln aber einfach nicht merken kann. 91

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›Danke‹, ›bitte‹, die Namen einiger Gerichte, ›gut‹ und ›ich bin satt‹, mehr wird nach zwei Wochen täglichen Unterrichts nicht übrig bleiben. Gesine und Ceren sehen sich seltener, dafür verbringt Ceren mehr Zeit mit ihrer Schwester und den Kindern der Nachbarn. Es dauert manchmal Wochen, bis der Metzger die Filme zurückbekommt, da die Kassetten in der Straße weitergegeben werden. Jeder sagt Bescheid, dass er nun diesen oder jenen Film hat und zwar von dem und dem und der Metzger notiert es auf einer speckigen Karteikarte, auf der der Name des Films steht und kassiert die Leihgebühr. – So ist die Technologie, sie schreitet fort, immer weiter, sagt Fuat, denk mal an die Jahre, in denen wir hier nach dem Brüllen des MGM Löwen kein Wort mehr verstanden haben. Denk mal an die hektischen Samstagvormittage, nur damit wir Einkäufe erledigt kriegen, bevor der Brief aus der Türkei im Fernsehen kommt, kaum länger als ein richtiger Brief. Vorbei die Tage, an denen wir uns Ehen vor Gericht angesehen haben, weil sonst nicht anderes lief, vorbei die Zeit, wo wir uns die Zeit mit dem Streit von Mann und Frau um Geld und Kinder, mit Beschuldigungen, Verrat und Untreue der Deutschen vertreiben. Jetzt können wir selber entscheiden, was auf den Bildschirm kommt. Die Technologie schreitet fort, bald wird man überall gleichzeitig leben können, auf Knopfdruck wird alles zu dir ins Wohnzimmer kommen, alle Filme aus der ganzen Welt, alle Zeitungen, bald wird es alles geben, sie verschiffen es oder schicken es mit Lastern. Bald wirst du nicht mehr denken: ›Ach, hätte ich doch dies oder das.‹ Wie damals: ›Ach gäbe es doch Auberginen, gäbe es doch türkische Zeitungen, gäbe es doch Hammelfleisch.‹ Bald wird es ›gibt es nicht‹ nicht mehr geben. Fülle, das beschert die Technologie dem Menschen, Fülle. So wie wir jetzt auf dem Weg in die Türkei nicht mehr schwitzen, weil der Wagen eine Klimaanlage hat. Jeden Tag erfinden sie etwas Neues, behütet wie Augäpfel mögen sie sein, diese Deutschen und Amerikaner und Japaner, sie werden die ganze Welt verändern. An den Wochenenden sitzt man gemeinsam in einem Wohnzimmer, ein, zwei, drei Familien, Erwachsene, Jugendliche, Kinder, es gibt Gebäck und Tee, Cola und Fanta, es gibt Sonnenblumen und Kürbiskerne, geröstete Kichererbsen und es gibt Gespräche. Während die Filme laufen, unterhält man sich, mal wird das Thema interessanter und nur noch die Kinder, die in einem Halbkreis auf dem Boden direkt vor dem Fernseher sitzen, verfolgen den Film. Die anderen verlieren sich einer Unterhaltung über Südostanatolien, Mitgift, türkische Geschichte oder auch nur in Klatsch und Tratsch über die Schauspieler oder nicht anwesende Nachbarn. Bis wieder eine spannende Stelle kommt oder ein gelungener Witz, dann sind alle wieder gebannt, doch schon bald wird wieder geredet und die Frau des Hauses achtet darauf, dass 92

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die Teegläser und die kleinen Kristallschüsseln mit den Knabbereien nicht leer bleiben. Da die Filme sowieso die Straße hoch und runterwandern, verpasst letztlich niemand eine Stelle. Die Sprache der Kinder ändert sich, bald fluchen sie alle wie Kemal Sunal in seinen Filmen. Nicht die Art Flüche, die gleich Frau und Familie beleidigt, die Art Flüche, die man nur in den Mund nimmt, wenn man nicht zurückschreckt vor einer Schlägerei, sondern solche, die hauptsächlich aus Tiernamen bestehen. Tiere, die man meist in einem Stall finden kann, Tiere, die offensichtlich der Verachtung wert sind, da sie sich haben domestizieren lassen. Die Kinder rufen sich gegenseitig Ochsen und Söhne von Eseln und kugeln sich dabei vor Lachen, weil sie verbotene Worte aussprechen und die Lacher aus den Filmen noch in ihnen nachklingen. Damals hat das Radio des Schmieds das Leben verändert, es hatten alle an den Sommerabenden vor ihren Häusern gesessen und dem Klang des Lautsprechers auf dem Dach des Schmieds gelauscht und es hatte lange gedauert, bis Gül begriffen hatte, das in dem Kasten, den ihr Vater mitgebracht hatte, keine kleinen Menschen eine Art Theater spielten. Die Kinder heute wachsen ganz anders auf, selbst die, die noch nicht in der Schule sind, können die Recorder bedienen und wissen, dass im Fernseher niemand wohnt. Wie schnell hat sich alles geändert, so schnell, dass Gül manchmal denkt, es war zu schnell, um es überhaupt zu merken. Man muss stehen bleiben und zurückschauen, sonst fließt das Leben dahin wie Wasser in einem Bach. Nichts kann man festhalten, selbst wenn das Wasser hier gebändigt ist und in Leitungen fließt, es fließt nur schneller und verschwindet, ehe man ›nass‹ sagen kann.

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Überkr euzung en in glob al er Zeit und glob ale m Raum in Fatih A kın s A U F D E R A N D E R E N S E I T E * BARBARA MENNEL

1. Prolog Während der letzten fünf Jahre des 20. Jahrhunderts erschienen Filme der Kinder so genannter ›türkischer Gastarbeiter‹ auf der deutschen Filmleinwand. Zu diesem Zeitpunkt gehörte der Begriff ›Gastarbeiter‹ schon zum veralteten Vokabular der vergangenen westdeutschen Regierung. Das Anwerbeprogramm für Arbeitskräfte aus der Türkei vom Ende der 1950er bis zum Anfang der 1970er Jahre sollte den Arbeitskräftemangel des so genannten westdeutschen ›Wirtschaftswunders‹ beheben. Mitte der 1990er Jahre führten die Filme der zweiten und dritten Generation ein bis dato unbekanntes Subjekt in den deutschen Film ein: Jung, lautstark, multi-ethnisch und selbstbewusst ›deutsch‹ erschienen die neuen Minoritätsfiguren auf der Leinwand. Verschwunden war das ikonische Bild des einsamen, leidenden und schweigsamen ausländischen Arbeiters wie in Rainer Werner Fassbinders exemplarischem Film ANGST ESSEN SEELE AUF (1974). Regisseure wie Buket Alaku, Fatih Akın, Thomas Arslan, Aysun Bademsoy, Seyhan Derin, Aye Polat, Yüksel Yavuz, und der türkische Regisseur Kutlu Ataman begannen Filme zu machen, die nach Deniz Göktürk eine Entwicklung vom »Kino der Pflicht« (cinema of duty) zu den »Freuden der Hybridität« (pleasures of hybridity) aufzeigen.1 Was vor einem Jahrzehnt eine Gruppe junger Filmemacher an den *

Frühere Versionen dieses Artikels habe ich als Vortrag in den folgenden Zusammenhängen gehalten: »Prises de Rue/Street Takes: Streets and Roads in Contemporary European Cinemas/Rues et Routes dans les cinemas européens contemporains«, organisiert vom Project on European Cinemas, McGill University, Kanada, 17.-20. September, 2008; »Evenementalisierung von Kultur: Fatih Akıns Film ›Auf der anderen Seite‹ als transkulturelle Narration«, Universität Konstanz, 10. Dezember 2008, organisiert von Özkan Ezli; University of Ten95

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Peripherien der deutschen Gesellschaft war, ist inzwischen ein integraler Bestandteil des nationalen deutschen Kinos geworden und Fatih Akın – der Regisseur von AUF DER ANDEREN SEITE (2007) – ihr national und international bekanntester Regisseur. Der Goldene Bär, den Akın bei den Berliner Filmfestspielen 2004 für seinen Film GEGEN DIE WAND (2004) erhielt, bestätigte seinen Status als einer der wichtigsten Regisseure des deutschen Kinos im Allgemeinen und des türkisch-deutschen Kinos im Besonderen. Akıns filmisches Œuvre ist vielfältig. Dazu gehören der Ghetto-Gangsterfilm KURZ UND SCHMERZLOS (1998), Road Movies wie IM JULI (2000), Dokumentarfilme wie WIR HABEN VERGESSEN ZURÜCKZUKEHREN (2001) und CROSSING THE BRIDGE – THE SOUND OF ISTANBUL (2005), aber auch Immigrationsmelodramen wie SOLINO (2002), das die Geschichte einer italienischen Familie in Deutschland über zwei Generationen erzählt, und die Komödie SOUL KITCHEN (2009). Die Filme GEGEN DIE WAND und AUF DER ANDEREN SEITE stellen den ersten und zweiten Teil seiner Trilogie »Liebe, Tod und Teufel« dar. Obwohl die Geschichte Akıns als Teil dieser Generation von türkischdeutschen Regisseuren als eine bi-nationale Geschichte in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs zusammengefasst werden könnte, zeige ich in diesem Artikel am Beispiel von AUF DER ANDEREN SEITE, wie seine Filme an einer transnationalen filmischen Praxis teilnehmen. Das türkisch-deutsche Kino begann im Schatten des Mauerfalls, ein Symbol des Kollapses des Ostblocks und einem wichtigen Moment der Globalisierung, als Nationalstaaten begannen, gegenüber zunehmenden globalen Bewegungen von Kapital, Information, Produkten und Arbeitskräften an Macht zu verlieren.2 Diese Globalisierungsprozesse produzieren kulturelle Dynamiken, welche wir in transnationa-

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nessee, Knoxville, 30. März 2009, organisiert von Maria Stehle. Ich möchte mich bei all diesen Organisatoren für ihre Gastfreundschaft und die Möglichkeit für intellektuellen Austausch bedanken, wie auch bei Leslie Adelson, Deniz Göktürk und David Lee für produktive Kritik und hilfreiche Hinweise für frühere Fassungen. Für die englische Fassung vgl. »Criss-Crossing in Global Space and Time: Fatih Akın’s The Edge of Heaven«, in: Transit. A Journal of Travel, Migration and Multiculturalism in the German-Speaking World (März 2010), http://german.berkeley.edu/transit/2010/articles/MennelCrissCrossing.html, keine Seitenangaben. Göktürk, Deniz: »Turkish Delight – German Fright: Migrant Identities in Transnational Cinema«, in: Transnational Communities – Working Paper Series (January) [An Economic & Social Research Council Programme at the University of Oxford], S. 1-14, hier S. 1. [http://www.transcomm.ox.ac.uk/workingpapers/mediated.pdf] Für eine weiter und tiefer gehende Diskussion dieser Prozesse vgl. Beck, Ulrich: What is Globalization?, Oxford 2000; Sassen, Saskia: Globalization and Its Discontents. Essays on the New Mobility of People and Money, New York 1998.

ÜBERKREUZUNGEN IN GLOBALER ZEIT UND GLOBALEM RAUM

len Zusammenhängen theoretisieren können.3 Globale Märkte bestimmen zunehmend filmische Produktionen und ihren Vertrieb. Die extreme Abhängigkeit von Finanzierung und gleichzeitige Unabhängigkeit von einer nationalen Sprache durch den Einsatz von Untertiteln – beides im Vergleich zu Literatur – kennzeichnet visuelle Kultur und somit Film. Transnationale Filme sind gleichzeitig ein Medium, um Globalisierungsprozesse kritisch darzustellen. AUF DER ANDEREN SEITE reflektiert explizit die Kräfte und die Möglichkeiten der Globalisierung in der ästhetischen Sprache des transnationalen Kinos. Der Film fängt die Effekte wichtiger Dynamiken von Globalisierung ein, z.B. transnationale Mobilität, digitale Medien, und die zunehmende Geschwindigkeit von Transport und Informationstechnologie, welche die Wahrnehmung von Zeit und Ort, erzählerische Konventionen, und die Struktur von Intimität und Familienbeziehungen verändert haben. Jedoch schätzt AUF DER ANDEREN SEITE auch das, was Globalisierung angeblich hinter sich zurücklässt: die bibliophile Welt der Bücher; Nationalkultur, die auf einem Kanon beruht; traditionelle linke Politik, welche sich auf klare politisch-philosophische Programme bezieht; regionale Anbindung; ein Verständnis von Raum und Zeit, welches von vorwissenschaftlichem Wissen und nicht von Überwachungstechnologien bestimmt ist; und letztlich religiöse und mythische Glaubensvorstellungen, die mit humanistischen Werten verbunden sind und menschliches Verständnis ermöglichen. Die nachfolgenden Ausführungen zu AUF DER ANDEREN SEITE analysieren sowohl die ästhetische Umsetzung der Auswirkungen von Globalisierung, als auch die Inszenierung der Kräfte, die ihnen widerstehen. Das Spannungsfeld, welches der Film entwirft, stellt Kultur unter den Bedingungen der Globalisierung produktiver dar als eine einseitige Ablehnung oder Befürwortung.

2. Akzent und Dialekt AUF DER ANDEREN SEITE fängt die Auswirkungen der Globalisierung mit seiner komplexen Erzählstruktur ein, welche auf der Mobilität der Figuren beruht und sich in ihren Akzenten und Dialekten widerspiegelt. Wichtige filmtheoretische Ansätze, wie zum Beispiel Hamid Naficys Entwurf eines »Kinos mit Akzent« sind zwar produktiv, aber können letztendlich einen Film wie AUF DER ANDEREN SEITE nicht vollständig erfassen. Naficy argumentiert in 3

Für eine Einführung in die Diskussion über transnationales Kino im Allgemeinen vgl. Ezra, Elizabeth/Rowden, Terry: »General Introduction. What is Transnational Cinema?«, in: Dies. (Hg.), Transnational Cinema. The Film Reader, London 2006, S. 1-12. Für eine Diskussion über deutsches Kino als transnationales Kino vgl. Halle, Randall: German Film after Germany. Toward a Transnational Aesthetic, Urbana 2008. 97

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seinem einflussreichen Buch An Accented Cinema: Exilic and Diasporic Filmmaking, dass Filme von Exilanten in der Diaspora die Charakteristiken des Akzents miteinander teilen, wobei sich ›Akzent‹ nicht auf die Sprache der filmischen Figuren, sondern auf »die Vertreibung von Filmemachern und deren handwerkliche Produktionsweisen« (displacement of the filmmakers and their artisanal production modes) bezieht.4 Obwohl türkisch-deutsche und in Deutschland lebende türkische Regisseure in Naficys Buch besprochen werden, entsprechen die Filme von Akıns Generation türkisch-deutscher Filmmacher dieser Beschreibung nicht. Naficys Bezeichnung ›vertrieben‹ (displaced) impliziert, dass es für diejenigen, die vertrieben sind, einen Ort gäbe, an dem sie zuhause wären, der für sie in diesem historischen Moment allerdings nicht erreichbar ist. Wenn auch die Perspektive auf Deutschland der zweiten und dritten Generation türkisch-deutscher Filmemacher nicht immer mit der kulturell-dominanten absolut übereinstimmen mag, so eröffnet sie doch für einige der Filmemacher kosmopolitsche und transnationale kulturelle Perspektiven. Naficys Modell erfasst die Realität und filmische Produktion von Filmemachern, die aus ihren Heimatländern vertrieben wurden. Sein Modell basiert auf der Hoheit von Nationalstaaten und kann somit nicht die gesamte Dynamik von Migration in einer globalisierten Welt erfassen, in welcher Migration sowohl integral als auch divers ist, und in der sich die Bewegungen der Subjekte in einer globalen Welt migratorisch in verschiedenen Richtungen überkreuzen. Auch wenn ›Akzent‹ sich in Naficys Entwurf nicht auf Dialoge von Figuren bezieht, so ist die zentrale Funktion des Akzents für seinen theoretischen Entwurf und für einen Film wie AUF DER ANDEREN SEITE weder Zufall, noch einfach nur eine Metapher. Die Akzente der individuellen Figuren in AUF DER ANDEREN SEITE sind hörbar und stumm, tauchen auf und verschwinden, je nachdem, wo sich die Figuren befinden, und welche der drei Sprachen, Deutsch, Türkisch oder Englisch, sie sprechen. Das heißt dass alle Figuren, Nejat, Ali, Susanne, Lotte, Ayten und Yeter, an irgendeinem Punkt im Film mit einem Akzent sprechen, der von zeitlichen und geographischen Koordinatoren abhängig und nicht an bestimmte Figuren und ihre Herkunft gebunden ist. Diese topographische, zeitliche und mobile Konstellation der Filmfiguren ergibt somit ein bewegliches und dynamisches Netzwerk, in welchem ›Akzent‹ die Verbindung von Zeit, Ort und Figuren markiert: Nicht als absolute, sondern temporäre Verrückungen aus einer normativen und nicht-markierten Sprache. Diese fortfahrenden und sich wiederholenden Verrückungen zeigen, inwiefern die dem Film zugrunde liegende Struktur vielfältiger ist als die des »Kinos mit Akzent«, das eine lineare Bewegung vom Heimatland in die Dias-

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Naficy, Hamid: An Accented Cinema. Exilic and Diasporic Filmmaking, Princeton 2001, S. 4.

ÜBERKREUZUNGEN IN GLOBALER ZEIT UND GLOBALEM RAUM

pora und eine zeitliche Entwicklung aus der Vergangenheit in die Gegenwart voraussetzt. AUF DER ANDEREN SEITE arbeitet nicht nur mit Akzenten, wenn eine Figur eine Fremdsprache als Resultat transnationaler Bewegung spricht, sondern auch mit Dialekten, die regionale Verwurzelung ebenso wie Stillstand markieren. Wenn beispielsweise Nejat in der Schwarzmeerregion ankommt und eine alte Frau fragt, ob sie wisse, wo sein Vater sei, verortet ihr Dialekt sie in der Region. Der Film zeigt auf diese Weise die Gleichzeitigkeit von transnationaler Mobilität und regionaler Verwurzelung. Die verschiedenen Akzente und Dialekte verweisen auch auf das Publikum: Um einen Akzent oder Dialekt identifizieren und lokalisieren zu können, muss man mit einer Sprache vertraut sein. So kann zum Beispiel die Antwort der alten Frau von türkischen Muttersprachlern, besonders von denen aus der Schwarzmeerregion, lokalisiert werden, aber nicht von Zuschauern, die auf Untertitel angewiesen sind. In Naficys einflussreichem Modell bezieht sich ›Akzent‹, wie angedeutet, auf die filmische Ästhetik, welche einerseits das Resultat der Flucht aus dem Heimatland in das Exil ist und andererseits die handwerkliche Ausrichtung dieser exilierten Regisseure im Kontrast zu dem Studiosystem von Hollywood definiert. Naficys Begriff des Akzents beruht somit auf einer Korrelation von nationaler Identität, Territorium und Sprache. Im Gegensatz zu diesem Modell unterwandert Akıns Film die Annahme, dass Identität an ein nationales Gebiet gebunden sei. In Aytens Akzent drückt sich, wenn sie Englisch spricht, nicht die Sprache ihres Exils, sondern die globale Sprache der Figuren aus. ›Akzent‹ ist hier nicht mehr Teil einer binären Konstellation von ›dominant versus dominiert‹, sondern wird stattdessen zu einem Symptom von Mobilität. Die Vielfältigkeit des Akzents im Gegensatz zum lokalen Dialekt reflektiert das Spannungsfeld transnationaler Bewegung und regionaler Verbundenheit in der Globalisierung.

3. Verdopplungen, Paarungen und Überschneidungen Das Auftauchen und Verschwinden von Akzenten betont die temporale und räumliche Organisation der filmischen Erzählung des Films, in welcher die Mobilität der Figuren funktioniert. Die Anlage der Figuren beruht auf Dopplungen von Eltern/Kind-Paarungen: ein Vater/Sohn-Paar (Ali/Nejat) und zwei Mutter/Tochter-Paare (Yeter/Ayten und Susanne/Lotte). In diesen Paarungen verursacht die Person, die die andere angeblich begehrt, ihren Tod: Wenn Ali Yeter tötet, verstirbt eine der beiden Mütter in den Mutter/Tochter-Paaren, während Ayten unbeabsichtigt den Tod Lottes bewirkt, womit die Tochterfi99

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gur in der anderen Mutter/Tochter-Konstellation stirbt. Diese beiden Todesfälle ergeben eine Überkreuzungsfigur zwischen den beiden Mutter/TochterPaaren und ermöglichen nicht-biologische mütterliche Beziehungen zwischen Yeter und Nejat sowie Susanne und Ayten. Die Zeitstrukturen in AUF DER ANDEREN SEITE sind räumlich organisiert.5 Die Komposition von Verdopplungen, Paarungen und Überschneidungen – oft mit Variationen – ist mit der kontrapunktischen Komposition von Stillstand und Bewegung der Figuren verbunden, welche die An- und Abwesenheit von Akzenten bewirkt.6 Auf der Handlungsebene bewegen sich die Figuren zwischen Bremen, Hamburg, Istanbul und der Schwarzmeerregion, aber metaphorisch zwischen verschiedenen emotionalen and psychischen Verfassungen. Bewegung und Stillstand spiegeln auf geographischen und zeitlichen Ebenen psychologische Prozesse wider. Zeitliche Abläufe der Handlung strukturieren räumliche Strategien in Parallelen, Überschneidungen, Zusammenziehen, Auseinanderziehen und Überkreuzungen.

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Dem Film wohnt generell eine räumliche Dimension inne, die im türkischdeutschen Kino besonders wichtig ist, was sich auch in der Sekundärliteratur widerspiegelt. Vgl. Baer, Nicholas: »Points of Entanglement: The Overdetermination of German Space and Identity in Lola + Bilidikid and Walk on Water«, in: Transit, 2008-2009, ohne Seitenangaben, http://german.berkeley.edu/ transit/index.html; Fenner, Angelica: »Turkish Cinema in the New Europe: Visualizing Ethnic Conflict in Sinan Çetin’s Berlin in Berlin«, in: Camera Obscura 15.2 (2000), S. 105-148; Gallagher, Jessica: »The Limitation of Urban Space in Thomas Arslan’s Berlin Trilogy«, in: Seminar. A Journal Germanic Studies 42.3 (September 2006), S. 337-352; Göktürk, Deniz: »Turkish Women on German Streets: Closure and Exposure in Transnational Cinema«, in: Myrto Konstantarakos (Hg.), Spaces in European Cinema, Portland, OR 2000, S. 64-76. Ezli beobachtet in AUF DER ANDEREN SEITE die Funktion der Kameraeinstellung für die Schaffung von filmischem Raum: »Die Personen sind durch die Einbeziehung des Raumes gebunden und verwoben, was medial durch die Dominanz totaler Einstellungen (long shot) zum Ausdruck gelangt.« (Ezli, Özkan: »Von der interkulturellen zur kulturellen Kompetenz«, in: Ders./Dorothee Kimmich/Annette Werberger (Hg.), Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur, Bielefeld 2009, S. 207-230, hier S. 222) Edward Said hat den Begriff ›Kontrapunkt‹ aus der Musik in die Diskussion von kultureller Produktion im Exil importiert. Für diesen Artikel ist der Begriff besonders wegen seiner Anbindung an Musik von Bedeutung, da er die Bewegung verschiedener Figuren erfassen kann. Said, Edward: »Reflections on Exile«, in: Granta 13 (1984), S. 159-172. Noah Isenberg bezieht sich ebenfalls auf diesen Begriff in seiner Analyse der Filme von Edgar G. Ulmer, in denen Bewegung, Raum und eine Pluralität des Sehens (plurality of vision) wichtige Rollen spielen. In diesem Zusammenhang erweitert er auch den Begriff des Exils, da »Ulmer kein ›echter‹ Exilant nach Saids Typologie sei.« (Ulmer may not be considered a ›true‹ exile according to Said’s typology). Isenberg, Noah: »Perrenial Detour. The Cinema of Edgar G. Ulmer and the Experience of Exile«, in: Cinema Journal 43.2 (Winter 2004), S. 3-25, hier S. 4.

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Die Verdopplung organisiert als Strukturprinzip nicht nur die Figurenkonstellation, sondern auch die Erzählstruktur des Films. Individuelle Szenen werden wiederholt und sind in den verschiedenen zeitlichen Erzählsträngen eingebettet. AUF DER ANDEREN SEITE beginnt mit einer Aufnahme an einer Tankstelle in der Schwarzmeerregion, die jedoch nicht den Anfangspunkt der Handlung darstellt, und gegen Ende des Filmes wiederholt wird. Tankstellen sind Haltepunkte, die Bewegung ermöglichen. Die erste Aufnahme im Film führt eine unbekannte Figur als Fremden und Reisenden ein. Doch zeigt diese Öffnungszene sehr effizient die Dialektik des Unbekannten und des Vertrauten: Auch wenn die Tankstelle in der Anfangssequenz zunächst lokal unverankert erscheint, wird sie sehr schnell durch den ersten Dialog lokalisiert. Der Tankwart erzählt von Kazım Koyuncu, einem in der Türkei sehr bekannten Sänger aus eben dieser Region, der in relativ frühem Alter an Krebs verstorben ist, wahrscheinlich an den Nachwirkungen von Tschernobyl. Diese Erklärung verankert die Aufnahme in einem Ort und damit in einer regionalen Kultur und ihrem politischen Kontext, welcher sich durch die Musik auf weiteren Ebenen des Films entfaltet.7 Mit der Thematik der Politik und des Todes verweist der Tankwart auf die Tatsache, dass sich globale Katastrophen lokal manifestieren. Diese Öffnungsszene beginnt keinen linearen Erzählstrang und funkioniert so als ein filmischer Auftakt, der dem Titel für das erste Kapitel vorgeschoben wird. Die Privilegierung der Öffnungsszene positioniert sie als Schlüsselszene, die auch auf eine Meta-Ebene verweist, welche sich auf die Wichtigkeit der nicht-linearen Erzählstruktur dieses Filmes bezieht, da die Verdopplungen von Aufnahmen die Konventionen linearer Erzählweise unterwandern, aber auch eine filmische Poetik schaffen. Mit dem Begriff ›filmische Poetik‹ greife ich hier in eine theoretische Debatte ein. In filmtheoretischen Ansätzen dominiert immer noch das Modell Hollywoods, d.h. das der industriell produzierten erzählerischen Filme. Traditionell werden Schnitte, Raum, Zeit und Kulisse als die Faktoren angesehen, die Kontinuität schaffen und dadurch Realität inszenieren sowie Identifikation ermöglichen.8 Diesem theoretischen Paradigma zufolge unterwandern Filme Kontinuität, indem sie anhand Brecht’scher Mittel auf den filmischen Apparat verweisen, zum Beispiel durch nicht-lineare Erzählstränge, jump cuts, Zeitlupe und Zeitraffer. In AUF DER ANDEREN SEITE funktionieren die Verdopplungen und Wiederholungen hingegen eher wie ein musikalischer Refrain, besonders wenn es sich um Wiederholungen mit Variation handelt, und nicht als 7

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Für eine tiefer gehende Diskussion darüber, auf welche Weise der Film – auch vom Aspekt der Musik ausgesehen – Regionales inszeniert vgl. den Beitrag von Deniz Göktürk in diesem Band. Für Definitionen von Kontinuität als Vorraussetzung von Identifikation im klassischen Kino vgl. Bordwell, David/Thompson, Kristin: »Film Style«, in: Dies., Film Art. An Introduction, New York 2004, S. 175-412. 101

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Brecht’sche Verfremdungseffekte.9 Der Film beruht auf parallelen musikalischen und visuellen Strukturen, wie z.B. der Kapitelstruktur. Eine lineare Erzählweise, welche auf einer Zeitabfolge basiert, deren Handlung in einer Topographie stattfindet, die mit einem Blick erfasst werden kann, ist nicht mehr die Voraussetzung für Illusion, Phantasie und Identifikation im Zeitalter digitaler Medien. Die Qualität des Hypertexts von Computerspielen und DVDs erlaubt Benutzern, zwischen verschiedenen Zeitabfolgen und Handlungsabläufen zu navigieren und damit auch verschiedene Positionen von Identifikation einzunehmen. Die Verbindung von Musik und Kapiteln findet sich bereits in Akıns GEGEN DIE WAND, wo die Kapiteleinteilung durch musikalische Zwischenspiele geschaffen wird, welche die Erzählung unterbrechen, aber die Kulisse und die Komposition wiederholen.10 Diese Anbindung an und Heraufbeschwörung von literarischen und musikalischen Strukturen mag eine Antwort darauf sein, dass das Publikum einen Film nicht mehr nur als solchen auf der Leinwand erfährt, sondern immer häufiger auch als digitalen Text, der vom Web heruntergeladen werden kann oder in YouTube zerstückelt ist. Über diese Texte haben Konsumenten die Macht der Chronologie und der Organisation, was sie von der Kontinuität von Ort und Zeit unabhängig macht. Auf DVDs ist ein Film willkürlichen Kapiteleinteilungen unterworfen, mit zusätzlichem Material und Kommentaren von Autoren versehen, und wird mit verschiedenen zusätzlichen Texten in verschiedenen Regionen vertrieben. Beispielsweise sind die Materialien auf den DVDs von Akıns CROSSING THE BRIDGE und AUF DER ANDEREN SEITE im deutschen Vertrieb (Zone 2) andere als im amerikanischen Vertrieb (Zone 1). Letztlich ermöglichen DVDs auf diese Weise verschiedene Variationen desselben Filmtexts im Kontrast zu dem non-digitalen Zelluloidfilm, welcher von Anfang bis Ende in einem Kino gesehen wurde. Die erzählerischen Wiederholungen mit Variationen, die sich auch in den Paarungen der Figuren spiegeln und die temporalen Überschneidungen produzieren, sind von einem digital geschulten Publikum lesbar. Zuschauer sind Auch Deniz Göktürk argumentiert in Bezug auf Akıns Film GEGEN DIE WAND, dass die musikalischen Zwischenszenen nicht als Brecht’sche Verfremdung gelesen werden sollten. Stattdessen schlägt sie vor, diese Szenen als »Musikvideo Ästhetik« (music video aesthetic) zu verstehen, für die eine »Quelle der Inspiration« (source of inspiration) vom »indischen Kino« (Indian cinema) komme, »in dem dramatische Handlung oft von Lied- und Tanzszenen unterbrochen ist, welche emotionale Pausen schaffen, und die Handlung betonen oder einen Kontrapunkt anbieten« (where dramatic action is frequently interspersed with song and dance sequences that provide emotional relief, and underscore or counterpoint the narrative). Göktürk, Deniz: »Sound Bridges. Transnational Mobility as Ironic Drama«, in: Miyase Christensen/Nezih Erdoan (Hg.), Shifting Landscapes. Film and Media in European Context, Newcastle 2008, S. 153-171, hier S. 159. Alle Übersetzungen aus dem Englischen sind von mir. 10 Vgl. Fußnote 9.

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nicht auf Chronologie angewiesen, um Erzähltes zu erfassen, genauso wenig bedürfen sie der Einheit von Raum und Zeit. Die Verdopplungen, Paarungen und Überschneidungen der Zeiteinheiten spiegeln sich in den Strukturen der sozialen Beziehungen wider und entwerfen so ein Bild des Wandels der familiären, aber auch der zeitlichen und räumlichen Verhältnisse unter den Bedingungen der Globalisierung.

4 . Di e Z e i t - R a u m - K o m p r i m i e r u n g in der Globalisierung AUF DER ANDEREN SEITE erzählt seine Geschichte mit einer partiellen Überschneidung von Zeit und Raum, wobei jeder Erzählstrang die Perspektive einer anderen Figur darstellt. Das Auseinanderziehen der Zeit repräsentiert eine paradoxe Konsequenz von dem, was der Geograph David Harvey die »ZeitRaum-Komprimierung« (time-space compression) in der Globalisierung genannt hat, ein Resultat zunehmender Geschwindigkeit von Transport- und Kommunikationstechnologien.11 Diese Komprimierung von Zeit und Raum drückt sich in der Wiederholung von Szenen aus, etwa in den zwei Szenen, in denen Särge mit Verstorbenen zwischen Deutschland und der Türkei verschickt werden. Die erste Aufnahme zeigt ein türkisches Flugzeug auf dem Istanbuler Flughafen und einen Sarg (mit Yeters Leichnam) in einer Totale, der auf dem Rollband von rechts nach links aus dem Flugzeug transportiert wird. Die Aufnahme mit derselben Komposition erscheint im zweiten Kapitel (es gibt keine Verdopplung von Aufnahmen in einem Kapitel). In dieser Aufnahme, mit derselben Kulisse und Komposition, wird ein Sarg (mit Lottes Leichnam) auf dem Laufband in das Flugzeug von links nach rechts hinein transportiert. Relativ bald zeigt eine dritte Aufnahme wie Gepäck aus dem Flugzeug ausgeladen wird, und dann, nach einem Schnitt, sehen wir Ali und Susanne in Istanbul ankommen. Die Reihenfolge dieser drei Szenen spiegelt auch die Kapitelstruktur des Films wider, in der zwei Erzählstränge des Todes dominieren, die sich im dritten Erzählstrang der Versöhnung dialektisch auflösen. Die Rückführung eines türkischen Toten in sein Heimatland oder seine Heimatregion ist ein weit verbreiteter Topos. Im türkischen Kino bestimmt die Reise, um den Toten in das Heimatland oder die Heimatregion zu bringen, die Handlung in Ali Özgentürks Film BALALAYKA (2000) und Yeim Ustaolus GÜNESE YOLCULUK (Reise zur Sonne, 1999).12 In türkisch-deutscher Lite11 Harvey, David: The Condition of Postmodernity, Cambridge, MA 1990, S. 240323. 12 Für eine Diskussion von REISE IN DIE SONNE im Zusammenhang mit Europäischem Kino, in dem sie die Unterstützung des Films von Eurimages betont, vgl. 103

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ratur und Film erzählt Güney Dals Europastraße 5 (1981) die Geschichte Selims, welcher den Körper seines verstorbenen Vaters per Auto in die Türkei zurückbringt. Akıns Film IM JULI (1999) zeigt, wie Isa mit seinem toten Onkel im Kofferraum nach Istanbul fährt.13 Die Toten, welche für die Handlungsstränge dieser Filme und Bücher zentral sind, werden unter schweren Bedingungen von einem Land in das andere oder von einer Region in die andere transportiert. Da in AUF DER ANDEREN SEITE die Toten direkt per Flugzeug transportiert werden, aber die Reisezeit nicht dargestellt wird, ersetzt der Schnitt die Zeit zwischen dem Tod und der Beerdigung und den Raum zwischen zwei Ländern. Durch die Ähnlichkeit der Aufnahmen betont die Komposition das Moment der Überkreuzung und des Überschneidens, welches der rhetorischen Struktur des Chiasmus ähnlich ist, die Leslie Adelson mit der »Formel des Austauschs in Arabisch« (formulaic exchange in Arabic) illustriert, in dem »Gruß und Antwort fast spiegelgleich sind« (greeting and reply are nearly mirror opposites).14 Die rhetorische Figur wird im Film explizit ausgesprochen. Zwei Islamisten, die Yeter bedrohen, tragen diesen traditionellen Austausch früh im Film an Yeter heran, aber sie verweigert sich, indem sie vorgibt, kein Türkisch zu sprechen oder zu verstehen. Am Ende der Begegnung beteiligt sie sich doch an der Grußformel: »Selamünaleyküm« (Friede sei mit Dir) und »Aleykümselam« (Mit Dir sei Friede).15 Dieser Moment wird später variiert wiederholt: Die Islamisten bieten Yeter drohend die Möglichkeit an, zu büßen und der Prostitution abzuschwören, so wie die türkische Regierung ihrer Tochter Ayten später ebenfalls anbieten wird, zu büßen und ihrem angeblichen Terrorismus abzuschwören. Im gesamten Film wird der Chiasmus des Todes (die implizierte Überkreuzung von toten Körpern im Luftraum) durch eine hoffnungsvollere Überkreuzung im Gleichgewicht gehalten, die um Vergebung und Buße organisiert ist. Susanne macht es möglich, dass Nejat seine vorhaltungsvolle Position gegenüber seinem Vater aufgibt, indem sie ihn über sein Verhältnis zu seinem Vater befragt, nachdem er ihr Bayram (Opferfest) erklärt hat. Ihre Frage: »Lebt Ihr Vater noch?« variiert Nejats frühere Frage an Yeter, ob sie Kinder Göktürk, Deniz: »Anyone at Home? Itinerant Identities in European Cinema of the 1990s«, in: Framework 43.2. (Herbst 2002), S. 201-212. 13 Für eine Diskussion von Dals Europastraße 5 vgl. Adelson, Leslie A.: »Minor Chords? Migration, Murder, and Multiculturalism«, in: Robert Weninger/ Brigitte Rossbacher (Hg.), Wendezeiten, Zeitenwenden. Positionsbestimmungen zur deutschsprachigen Literatur 1945-1995, Tübingen 1997, S. 115-129. 14 Vgl. Leslie Adelsons Diskussion der chiastischen Struktur in Emine Sevgi Özdamars Erzählung Mutterzunge. Erzählungen (Berlin 1990). Adelson, Leslie A.: The Turkish Turn in Contemporary German Literature. Toward a New Critical Grammar of Migration, New York 2005, S. 156. 15 Ebd. 104

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habe. Dieses Interesse von Susanne an Nejats Verhältnis zu seinem Vater und Nejats Frage an Yeter über ihre Tochter ist Teil des Chiasmus im Film, der dessen räumliche und zeitliche Organisation widerspiegelt. Diese Struktur verknüpft die ästhetische und erzählerische Komposition des Films. Mobilität wird unter Globalisierung – Überkreuzungen in Raum und Zeit – nicht nur phänomenologisch erfasst, sondern erhält auch eine symbolische Dimension, die der Film mit älteren linguistischen und poetischen Traditionen verbindet. AUF DER ANDEREN SEITE reflektiert die kulturellen Charakteristiken des jetzigen globalen Moments nicht nur durch die Gleichzeitigkeit von Akzent und Dialekt, sondern auch durch die Komprimierung von globalem Raum und globaler Zeit im Kontrast zur Ausdehnung von lokalem Raum und lokaler Zeit. Flüge zwischen Deutschland und der Türkei strukturieren die Erzählung, aber ihre Distanz und somit die Zeit verschwindet in einem Schnitt: Ayten fliegt aus der Türkei nach Deutschland; Nejat, Lotte und Susanne fliegen aus Deutschland in die Türkei; Ayten und Ali werden aus Deutschland in die Türkei abgeschoben. Im Gegensatz zum ›Schrumpfen‹ der Zeit in transnationaler Mobilität wird die Zeit der lokalen Reisen im Zug oder im Auto verlängert. Wiederholte unbewegliche Einstellungen, die ein Gefühl der Dauer schaffen, zeigen Nejats Reisen per Zug oder Auto lokal zwischen Bremen und Hamburg oder in der Türkei, wo sie die Verschiedenheit zwischen unterschiedlichen Regionen betonen. Besonders die Szenen, die an ein Road Movie erinnern, in denen Nejat in der Schwarzmeerregion Auto fährt, feiern Mobilität im Raum. Road Movies sind traditionell mit der Weite des amerikanischen Westens verbunden, erscheinen aber immer seltener aus Hollywood, sondern in letzter Zeit häufiger aus Europa, besonders aus Osteuropa.16 Zum Teil ist dies ein Resultat von Förderungskriterien der EU, zum Teil der Möglichkeit für Ost-Europäer zu reisen; aber letztendlich ist auch dies ein Ergebnis veränderter räumlicher Vorstellungsmöglichkeiten in Europa.17 AUF DER ANDEREN SEITE reproduziert somit nicht nur die Komprimierung von Zeit und Raum unter den Bedingungen der Globalisierung, sondern zeigt auch auf, wie solche Prozesse gleichzeitig die kognitive Wahrnehmung in regionalen Zusammenhängen ändern, wo sich Zeit und Raum im Vergleich auszudehnen scheinen. Der Chiasmus, eine traditionelle rhetorische Figur, organisiert die filmische Komprimierung von Raum und Zeit. Akıns Artikulation der veränderten Zeit- und Raumwahrnehmungen durch ältere rhetorische 16 Zum Thema ›Europa und Road Movies‹ vgl. Mazierska, Ewa/Rascaroli, Laura: Crossing the New Europe. Postmodern Travel and the European Road Movie, London 2006. 17 Ich danke Holly Raynard dafür, dass ich einer Diskussion über Jan Svráks JIZDA (Die Fahrt, 1994) beiwohnen durfte, welchen sie das »erste tschechische Road Movie« nannte. Ihre Diskussion sprach Fragen der Mobilität, der räumlichen Umorganisierung von Ost-Europa und Genre an. 105

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Formen impliziert, dass diese qualitativen Neuerungen nichtsdestotrotz von traditionellen diskursiven Strukturen erfasst werden können.

5. Evolution und Revolution AUF DER ANDEREN SEITE inszeniert nicht nur die verschiedenen Veränderungen der Wahrnehmung von Zeit und Raum, die mit Globalisierung einhergehen, sondern integriert auch Verweise auf vergangene Modelle evolutionärer und revolutionärer Geschichte. Im ersten und zweiten Kapitel des Films sehen wir, wie Nejat eine Vorlesung an der Universität hält. Die erste der beiden Szenen beginnt mit einer Aufnahme von Nejat, dann bewegt sich die Kamera auf Ayten zu, die auf einer hinteren Bank sitzt und schläft. Die Szene endet mit Ayten scharf im Vordergrund und Nejat unscharf im Hintergrund. Die zweite Aufnahme dieser Szene beginnt mit der schlafenden Ayten scharf im Vordergrund und Nejat unscharf im Hintergrund, dann bewegt sich die Kamera, bis wir Nejat zentral im Bild sehen, während er seine Vorlesung hält. Beide Szenen überschneiden sich zeitlich, aber treiben die Handlung vorwärts, eine Wiederholung mit einem Unterschied – oder, um es anders auszudrücken: eine langsame zeitliche Vorwärtsbewegung, die auf einer zeitlichen Überschneidung beruht. Wir hören nur einen Auszug aus Nejats Vortrag, der jedoch in zwei verschiedenen Kapiteln des Films wiederholt wird. Nejat erklärt die Tatsache, dass Johann Wolfgang von Goethe der Evolution zugestimmt und Revolution abgelehnt habe, mit dem folgenden angeblichen Zitat: »Wer wollte schon eine Rose im tiefsten Winter blühen sehn? Alles hat doch seine Zeit: Blätter, Knospen, Blüten… Nur der Thor verlangt nach diesem unzeitgemäßen Rausch«.18 Helge Martens erklärt Goethes Position folgendermaßen: »Goethe 18 Nach Roger Hillman ist das Zitat selbst jedoch nicht als von Goethe nachweisbar. Vgl. Hillman, Roger: »Akın’s ›The Edge of Heaven‹ and the Ever Widening Periphery«, Vortrag beim Workshop »Rethinking German-Turkish Cinema. Third German Studies«, 26.-27. März 2010, Department of Germanic Studies, University of Texas at Austin, organisiert von Sabine Hake. Dieser Vortrag wird in Zusammenarbeit mit Vivien Silvey in Artikelversion in German as a Foreign Language erscheinen, in einer speziellen Ausgabe zu Migrantenfilm und Migranten im Film vgl. http://gfl-journal.de. Eine exzellente Untersuchung des »Verhältnisses von Schreiben zu Raum« (the relationship of writing to space) im geographischen Denken des 19. Jahrhunderts in Bezug auf die Strukturierung in Goethes Romanen liefert Andrew Piper. Er zeigt auf, »in welcher Weise Karten und Romane in einem größeren bibliographischen Universum Anteil daran hatten, eine neue Wahrnehmung von Raum und Selbst nach den Prizipien von Stratifizierung, Unterscheidung, und Beziehungen« herzustellen (how maps and novels participated within a larger bibliographic universe to create a new sense of space and self according to the principles of stratification, discreti106

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war das Regellose zuwider: Der Tod, die ungegliederte Gebirgswelt, gewaltsamer Aufruhr. Er bevorzugte das evolutionäre Weltbild, das genauen und nachvollziehbaren Gesetzen unterworfen ist.«19 Das vermeintliche GoetheZitat bezieht sich hier auf den »Basaltstreit« des späten 18. Jahrhunderts, in dem sich zwei Schulen – ›Neptunisten‹ und ›Plutonisten‹ – gegenüberstanden, die die Entstehung der Welt grundsätzlich verschieden interpretierten. Die ›Neptunisten‹ – nach Neptun, dem römischen Gott des Meeres, benannt –, glaubten, dass alle geologische Stratifizierung eine Sedimentierung des Ozeans darstellte. Die ›Plutonisten‹ – nach Pluto, dem römischen Gott der Metalle und der Unterwelt benannt –, sahen geologische Stratifizierung als Resultat der Sedimentierung verschiedener Gebirgsformationen. ›Pluto‹ und ›Vulkane‹ wurden zu Metaphern für Revolution, ›Neptun‹ und ›Wasser‹ für Evolution. Diese zwei verschiedenen Positionen werden in Akıns Film von Ayten, die mit der Revolution verbunden ist, und Nejat, der mit Evolution und Konservierung in Verbindung steht, verkörpert. Am Ende des Films erreicht Nejat das Meer, Symbol der Evolution. Ayten schläft im Vordergrund des Bildes, während Nejat seine Vorlesung hält. Dass beide Figuren gemeinsam im Bild zu sehen sind, betont die Tatsache, dass das, was sie suchen, vor ihnen sichtbar, aber nicht erkennbar ist. Die Wiederholung der Aufnahme weist den Zuschauer auch darauf hin, dass sich die Bedeutung der Bilder durch die Erzählung ändert und dass wir nur das erkennen, was für uns einen Sinn ergibt. Das erste Mal, als wir die Aufnahme von Nejats Vorlesung sehen, erkennen wir Ayten nicht. Die Figuren können sich auch in dem Moment nicht erkennen, als sich die Wege von Nejat und Yeter und Lotte und Ayten kreuzen, als Lotte mit Ayten im Auto fährt und ihre Mutter sucht, während im Hintergrund die Straßenbahn mit Nejat und Yeter vorbeifährt. Hier sehen wir die Überkreuzung von zwei Paaren in einer Aufnahme, also in einem filmischen, einheitlichen Raum, in dem ein Paar von rechts nach links, an dem anderen Paar von links nach rechts vorbeifährt. So wiederholt der Film die Struktur des Chiasmus, welcher Zeit organisiert hat, auch in seiner räumlichen Struktur. Das vermeintliche Zitat Goethes und dessen zeitlich verschobene Wiederholung verweisen auf die Zeitstruktur des Films, welche von Wiederholungen mit Variationen organisiert wird. Inhaltlich jedoch bezieht sich das Zitat auf einen Konflikt über geschichtliche Ent-

zation, and relationality in the nineteenth century). Piper, Andrew: »Mapping Vision. Goethe, Cartography, and the Novel«, in: Jaimey Fisher/Barbara Mennel (Hg.), Spatial Turns. Space, Place, and Mobility in German Literary and Visual Culture, Amsterdam 2010, S. 27-51, hier S. 27. 19 Martens, Helge: »Goethe und der Basaltstreit«, 11. Sitzung der HumboldtGesellschaft (13.6.1995), http://www.humboldtgesellschaft.de/druck.php?name =goethe 107

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wicklung – Evolution oder Revolution – eine Spannung, welche der Film in der Gegenwart inszeniert.

6 . Bi b l i o p h i l i e i m Z e i t a l t e r d e r G l o b a l i s i e r u n g Einhergehend mit der Darstellung verschiedener Vorstellungen von geschichtlicher Entwicklung, die dem modernen wissenschaftlichen Verständnis vorangingen, spielen in AUF DER ANDEREN SEITE Literatur (Bücher, Lesen, Schreiben) und die materielle Dimension von Büchern (Bibliophilie) sehr wichtige Rollen.20 In jeder der verschiedenen Paarungen von Eltern und Kind gibt es einen emotionalen Moment, in dem ein tiefer gehendes Verstehen durch einen geschriebenen Text ermöglicht wird. Nach Lottes Tod liegt Susanne auf Lottes Bett in Nejats Wohnung und liest Lottes Tagebuch. Wir lernen, dass Lotte mehr Einsicht in sich selbst und ihre Mutter hatte, als wir von ihrer Figur bis zu dem Punkt annehmen konnten. Susanne liest: »…Auch wenn Mama das nicht immer begreift, was ich nicht verstehe... Sie sieht sich selbst in mir«. Nachdem Susanne den Auszug aus dem Tagebuch gelesen hat, erscheint ihr eine Vision ihrer toten Tochter Lotte. Auf den nächsten Schnitt folgt eine Aufnahme, in welcher Ali Selim Özdoans Buch Die Tochter des Schmieds (2005) (»Demircinin Kızı«, 2007) auf Türkisch liest, das ihm sein Sohn geschenkt hat.21 Diese aneinander gereihten Szenen positionieren den türkischen, lesenden Vater in der urbanen, türkischen Öffentlichkeit im Kontrast zur deutschen Mutter in der türkischen Privatsphäre. Ali ist vom Buch emotional berührt, das eine indirekte Kommunikation mit seinem Sohn darstellt. Der türkisch-deutsche Autor Selim Özdoan gehört Akıns Generation von Filmemachern und Schriftstellern an. Sein Buch, welches im Film auf Türkisch erscheint, aber zur Zeit des Films nur auf Deutsch veröffentlicht worden war, erzählt die Geschichte von Gül und ihrer Entwicklung von einem Kind zu einer verheirateten Frau bis zu dem Tag, an dem sie ihre Arbeitsmigration nach Deutschland in den 1970er Jahren vorbereitet. Özkan Ezli zeigt auf, dass diese Art von Literatur der Kindergeneration ein Interesse und Verständnis gegenüber ihrer Elterngeneration vor der Migration signalisiert.22 In AUF DER 20 Obwohl Özkan Ezli nicht den Begriff ›Bibliophilie‹ benutzt, betont er die »haptisch[e]« Qualität von Nejats Verhältnis zu Büchern, als er zum Beispiel in den deutschen Buchladen in Istanbul kommt und dort »beim Vorbeigehen die Rücken der Bücher [...] streichelt« (Ö. Ezli: »Fatih Akıns globalisiertes Kino«, S. 226). 21 Özdoan, Selim: Die Tochter des Schmieds, Berlin 2005; ders.: Demircinin Kızı, Istanbul 2007. 22 Özkan Ezli unterteilt die türkisch-deutsche Literatur in drei Phasen. In der ersten Phase vom Anfang der 1970er Jahre bis zum Anfang der 1980er Jahre charakte108

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SEITE erscheint der Akt des Lesens als eine medialisierte Form der Kommunikation zwischen Vater und dem von ihm entfremdeten Sohn und zwischen der Mutter und ihrer toten Tochter. Der Moment, in dem Ali liest, verweist durch die noch nicht existierende Übersetzung des Buches auf die Zukunft, aber auch auf die Vergangenheit, welche in dem Buch enthalten ist. Wie in einer optischen Täuschung erscheint das Buch auf Türkisch, aber mit dem Design des deutschen Titelblatts. Dieser Moment komprimiert den relativ langen Zeitraum literarischer Übersetzungen mit den simultanen Übersetzungen im Film. Im Gegensatz zur Literatur ermöglichen filmische Untertitel ein globales Miteinander von verschiedenen Sprachen in einem Film. Die fiktive Übersetzung des Buchs schafft jedoch auch einen weiteren Signifikanten, der im Text des Filmes wiederholt auftaucht: Der türkische Name ›Gül‹ bedeutet ›Rose‹.23 Gül ist nicht nur der Name der Hauptfigur in Die Tochter des Schmieds, sondern auch derjenige Name, den Ayten annimmt, als sie nach Deutschland kommt; und es ist auch ein Kosename, den Ali freundlich gegenüber Yeter benutzt, nachdem er sie das erste Mal besucht hat. ›Gül‹, übersetzt als ›Rose‹, verweist auch auf die rhetorische Frage, die Nejat in seiner Vorlesung stellt: »Wer wollte schon eine Rose im tiefsten Winter blühen sehn? Alles hat doch seine Zeit: Blätter, Knospen, Blüten… Nur der Thor verlangt nach diesem unzeitgemäßen Rausch«. Diese Verbindungen gehen über die vom Film gezeigten Raum- und Zeitrahmen hinaus. So stehen auch Gül im Roman und Ayten im Film für die Wahl zwischen angemessener evolutionärer Entwicklung oder forcierter revolutionärer Umwälzung. Der Roman beschreibt Gül in einem ethnographischen Stil, was die Geschichte der Migration mit realistischen Mitteln darstellt. Sie hat jedoch begrenzte Handlungsfreiheit im Netz der geschichtlichen Kräfte, die sich um sie herum in ihrem alltäglichen Leben manifestieren. In AUF DER ANDEREN SEITE ist ›Gül‹ zu einem Namen geworden, der zu keiner Einzelfigur gehört: Zum ersten Mal hören wir ihn, als Ali sich bei Yeter bedankt, dann sehen wir ihn in Aytens Pass als ihren Decknamen, und zuletzt wird es der Name, den Lotte ANDEREN

risiert das Leiden und die Identitätskrise die literarische Produktion. Die zweite Phase, vom Ende der 1980er Jahre bis in die Mitte der 1990er Jahre wird das Thema der Migration auf einer Meta-Ebene verhandelt. Die letzte Phase sei mit der Konzentration auf die Migrationserfahrung der Elterngeneration durch einen ethnographischen Blick charakterisiert. Ezli argumentiert, dass die Migrationserfahrung nicht das Zentrum von Özdoans Roman ausmache, sondern dass der Roman stattdessen eine Geschichte über ein heimatloses Leben darstelle, zum Beispiel, wenn die Hauptfigur Gül entfremdet bei ihren Schwiegerfamilie lebe, jedoch ohne ihren Ehemann, der schon nach Deutschland migriert ist. Ezli, Özkan: »Von der Identitätskrise zu einer ethnographischen Poetik. Migration in der deutsch-türkischen Literatur«, in: Text+Kritik IX, Sonderband: Literatur und Migration (2006), S. 61-73. 23 Ich bedanke mich bei David Lee, der mich bei meinem Vortrag an der University of Tennessee, Knoxville, darauf aufmerksam gemacht hat. 109

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benutzt, als sie irrigerweise annimmt, Ayten mit einem falschen Namen beschützen zu können. Der Name ›Gül‹ treibt im Film Figuren in die Irre mit einer verwirrenden Maskerade, globaler Mimikry und wohlgemeinten Missverständnissen. Bücher in ihrer Funktion als Medialisierung der Kommunikation in den Beziehungen zwischen den Figuren, aber auch in Bezug auf Literatur, in ihrer materiellen und bibliophilen Dimension, sind besonders mit der Figur Nejats eng verbunden. Im Zusammenhang von Globalisierung ist es ironisch, wie sehr ihn sein enges Verhältnis zu Büchern zu einer mobilen Figur macht, da Bücher sein Zuhause in Hamburg und Istanbul konstituieren. Die Aufnahme in Hamburg zeigt ihn von Büchern umgeben, ohne einen Zusammenhang räumlich zu definieren (zum Beispiel als Zimmer einer Wohnung), so dass es offen bleibt, ob es sich um sein Büro zuhause oder an der Universität handelt.24 Diese Ambivalenz von Privat- und Arbeitsleben zeigt sich auch in der Inszenierung des deutschen Buchladens in Istanbul. Die Aufnahmen sind in warme Farben und in diffuses Licht getaucht. Deutsche Literatur ist von ihrem ›korrekten‹ geographischen Ort, dem deutschen Nationalstaat, abgelöst. Diese Art von bibliophiler Mobilität erinnert an eine Mediengeschichte, in der Bücher als mobile Träger von Kultur funktionieren. AUF DER ANDEREN SEITE enthält sowohl die Geschichte der Medien als auch die der Zeit, um so auf ihre Veränderungen im Zuge der Globalisierung zu reflektieren. Mit dieser Integration einer längeren Geschichte der Aspekte, die sich während des Globalisierungsprozesses wandeln, geht der Film über viele typische theoretische und kulturelle Abhandlungen von Globalisierung hinaus, welche Globalisierung als von vergangenen kulturgeschichtlichen Prozessen abgelöst darstellen.

24 Zuschauer interpretieren die Aufnahme von Nejat in einem Zimmer in Hamburg verschieden. Einige sehen ein Zimmer in einem Zuhause, andere ein Büro an der Universität. Während die Aufnahme nicht unbedingt ambivalent gemeint sein muss, verweist doch die Tatsache, dass Zuschauer die Kulisse verschieden interpretieren auf die Nähe von Arbeit mit Literatur und Muße mit Literatur. Für Nejat bedeuten Bücher ein Zuhause, was für intellektuelle Arbeit generell gemeint sein kann. Wenn wir davon ausgehen, dass Nejat bei der Arbeit gezeigt wird, dann ist die materielle Dimension der Arbeit so inszeniert, dass sie ein Heimatgefühl ausdrückt. Wenn wir aber davon ausgehen, dass Nejat hier zuhause gezeigt wird, dann deutet die Uneindeutigkeit der Kulisse darauf hin, dass seine Heimat nur aus Büchern besteht. Dass Bücher und Literatur mehr als nur seinen Beruf signalisieren, wird deutlich, als er ohne offensichtliche Bedenken seinen Beruf als Professor für Deutsche Literatur an den Nagel hängt, welcher doch einen relativ hohen Status hat, um den Buchladen in Istanbul zu kaufen. Der Kauf des Buchladens wiederum ist ein Ergebnis seiner Liebe zu Büchern, der Bibliophilie, die auch Sammelleidenschaft beinhalten kann. Das drückt sich auch darin aus, dass er Lotte ein Buch leiht, anstatt sie zu zwingen, es zu kaufen, obwohl er ihr sagt, dass der Laden keine Bibliothek sei. 110

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7. Generationen Die Bewegung der Erzählung hin zu Versöhnung und gegenseitigem Verständnis zwischen Kindern und Eltern (biologisch und gewählt) in AUF DER ANDEREN SEITE eröffnet neue Möglichkeiten für die Konflikte zwischen den Generationen, ein Thema, dass für viele türkisch-deutsche Filme eine zentrale Rolle spielt. So ist die Elterngeneration in Fatih Akıns früheren Filmen KURZ UND SCHMERZLOS (1998) und IM JULI (2000) abwesend und funktioniert in GEGEN DIE WAND (2004) als Feindbild. Seine Filme SOLINO (2002) und WIR HABEN VERGESSEN ZURÜCKZUKEHREN (2000) sind Ausnahmen. Akıns frühere Filme haben dies mit den Filmen anderer Filmemacher seiner Generation gemeinsam: In Thomas Arslans GESCHWISTER (1997) sind die Eltern verständnislos und hilflos, in Yüksel Yavuz’ APRILKINDER (1998) und in KLEINE FREIHEIT (2003) ganz abwesend. Im letzt genannten Film funktionieren zwei junge Männer mit unterschiedlichem Migrationshintergrund als Ersatzeltern füreinander. In Aye Polats AUSLANDSTOURNEE (1999) wird die Erzählhandlung vom Tod des Vaters und der Abwesenheit der Mutter in Gang gebracht und die homosexuelle Hauptfigur ersetzt die Eltern. Seyhan Derins Filme ICH BIN DIE TOCHTER MEINER MUTTER (1998) und ZWISCHEN DEN STERNEN (2003) beruhen ebenfalls auf Konflikten zwischen Eltern und Kindern. Die Soziologin Lydia Potts beschreibt, wie die türkische Arbeitsmigration nach Deutschland für die zweite Generation ein »Doppeltrauma« geschaffen hat.25 Oft bewirkte der Verlust der Eltern das erste Trauma, als die Eltern nach Deutschland emigrierten und die Kinder zurückließen, welche von Großeltern, Tanten und Onkeln, oder älteren Geschwistern großgezogen wurden. Das zweite Trauma entstand, als die Kinder Jahre später mit den Eltern vereinigt wurden, aber einander unbekannt waren. Arbeitsmigration schafft intime Fernbeziehungen mit Eltern oder anderen Familienmitgliedern, die phantasievoll ausgeschmückt werden, und gleichzeitig Ersatzverwandtschaften, die im lokalisierbaren Hier und Jetzt der Zurückgebliebenen stattfinden.26 Die spezielle Form des »Doppeltraumas« in der Arbeitsmigration von der Türkei nach West-Deutschland ist Teil eines größeren Kontexts von Arbeitsmigration unter den Bedingungen von Globalisierung, in dem »Ketten der Fürsorge« eine »Internationalisierung von Intimität« bewirken, besonders im 25 Potts, Lydia: »Mothers’ Dreams, Daughters’ Lives and the State«. Unveröffentlichter Vortrag, gehalten bei »Turkey at the Cross Roads: Women, Women’s Studies and the State«, Istanbul und Bodrum, Türkei, 27.5.-3.6.2005. Institute for Teaching and Research on Women, Towson University, in Zusammenarbeit mit der Orta Dou Teknik Üniversitesi, Ankara, Türkei. 26 Mario Rizzis experimentaler Dokumentarfilm THE CHICKEN SOUP (2008) enthält Interviews mit chinesischen und indonesischen Frauen, welche ihre Kinder zurücklassen, um in Ehen und einer Art Zwangsarbeit in Taiwan für eben diese Kinder Geld zu verdienen, und sie dann oft in dem Prozess verlieren. 111

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Zusammenhang von weiblicher Arbeitsmigration in Haushaltsberufen.27 Frauen aus ärmeren Herkunftsländern emigrieren in reichere Länder in Berufe der Fürsorge und Pflege (Kindermädchen, Haushaltskraft, Putzfrau oder Krankenpflegerin) und versorgen dort die Kinder und Eltern von Frauen (und Männern), was ihnen Berufstätigkeit ermöglicht, während die Kinder der Migrantinnen von älteren Kindern, Großeltern, weiblichen Verwandten oder Migrantinnen aus wiederum vergleichsweise ärmeren Ländern versorgt werden. Im türkisch-deutschen Kino verbinden medialisierte Beziehungen die Figuren von Kindern und Eltern über räumliche und zeitliche Distanzen. Lesen und Schreiben, zum Beispiel in Briefen, strukturiert und dominiert die Erzählstimme in Derins ICH BIN DIE TOCHTER MEINER MUTTER.28 Wie die Briefe in Derins Film verweisen Lesen und Schreiben in AUF DER ANDEREN SEITE auf den Film selbst als medialisierte Form der Kommunikation zwischen den Generationen. In AUF DER ANDEREN SEITE wird die biologische Familie parallel zur Ersatzfamilie dargestellt, da beide Familien im Geschlechterverhältnis spiegelbildlich unvollständig sind. Die letzte und wichtigste Versöhnung zwischen den Figuren, besonders zwischen Nejat und seinem Vater Ali, aber auch zwischen Susanne und Ayten, findet am Ende des Films statt. Eine wichtige Szene zeigt die Motivation für Nejats Suche nach seinem Vater, die dritte Suche im Film. Susanne und Nejat stehen am offenen Fenster in seiner Wohnung in Istanbul, welches inneren und äußeren Raum miteinander verbindet. Männer laufen die Stufen in der Stadt hinab, um an dem Opferfest Bayram teilzunehmen. Als Susanne Nejat nach seinem Vater fragt, antwortet er, dass er Angst empfand, als sein Vater ihm als Kind die Opfergeschichte des Propheten Abraham erzählte. Sein Vater versprach ihm, dass er sogar Gott zu seinem Feind machen würde, um Nejat zu beschützen. Diese Erinnerung motiviert Nejats Abreise, um nach seinem Vater in der Schwarzmeerregion zu suchen, während Susanne seinen Buchladen übernimmt. Durch diese erzählerische Entwicklung erhalten die früheren Aufnahmen von Nejats Fahrt an die Schwarz27 Für eine Diskussion von »Ketten der Fürsorge« (chains of care) und »Internationalisierung von Intimität« (internationalization of intimacy) vgl. Hochschild, Arlie Russell: »Global Care Chains and Emotional Surplus Values«, in: Will Hutton/Anthony Giddens (Hg.), On the Edge. Living with Global Capitalism, London 2000, S. 130-146; Rotkirch, Anna: »The Internationalisation of Intimacy: A Study of the Chains of Care«, Vortrag auf der 5th Conference of the European Sociological Association (Helsinki 28.8.-1.9.2001), http://www.walt. helsinki.fi/staff/rotkirch/ESA%20paper.htm 28 Zu Derins Film vgl. Eren, Mine: »Traveling Pictures from a Turkish Daughter. Seyhan Derin’s I’m My Mother’s Daughter«, in: Eva Rüschmann (Hg.), Moving Pictures/Migrating Identities, Jackson 2003, S. 39-54; Mennel, Barbara: »Local Funding and Global Movement. Minority Women’s Filmmaking and the German Film Landscape of the Late 1990s«, in: Women in German Yearbook 18 (2002), S. 45-66. 112

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meerküste Bedeutung, da sie jetzt in einem erzählerischen Kontext eingebettet sind. Dadurch fällt die familiäre Aussöhnung mit der erzählerischen Integration von Bildern für den Zuschauer zusammen und schafft somit einen emotionalen und intellektuellen Ruhepol. Diese Reise bringt uns zum letzten Bild des Films, in dem Nejat auf das Meer hinausblickt und auf seinen Vater wartet. Die Geschichte von Abraham, der seine Treue zu Gott durch seine Bereitschaft, seinen Sohn zu opfern, bewies, die Bayram (Opferfest) unterliegt, existiert gleichermaßen in Judentum, Christentum und Islam, und dieser Moment der Offenbahrung verbindet somit die individuelle Familienversöhnung mit einer harmonischen Einstellung zu den drei Weltreligionen. 29 In dem Konflikt auf der Meta-Ebene zwischen radikaler Politik, die Ayten verkörpert, und humanistischen Werten, die Nejat symbolisiert, privilegiert diese Szene die humanistische Weltanschauung gegenüber einem radikalen Politikverständnis. Der Feiertag Bayram folgt dem islamischen Kalender, der auf dem Mondkalender beruht, im Unterschied zum gregorianischen Kalender. Der Verweis auf Bayram und den dem Feiertag zugrunde liegenden Kalender umrahmt den Film, da die ersten Worte, die wir in diesem Film hören, »Glückliches Bayram« sind, als Nejat an der Tankstelle ankommt. Bayram motiviert seine letzte Reise und wir sehen ihn in derselben Szene (mit einem musikalischen Unterschied) an der Tankstelle ankommen. Bayram, ein wichtiges Datum im islamischen Kalender, umrahmt den Film als ganzen, aber auch die zwei parallelen Zeitabläufe, welche beide am 1. Mai beginnen, was einerseits auf dem gregorianischen Kalender beruht, aber andererseits auch ein wichtiges Datum der politischen Vorstellung internationaler Arbeitersolidarität markiert. Der Film verbindet somit auch zwei der wichtigsten Themen der Gastarbeitergeschichte: das der Arbeiterwelt mit dem der Religion.30 Darüber hinaus reflektiert diese zeitliche Organisation des Films den geschichtlichkulturellen Austausch zwischen verschiedenen Modellen von Chronologie, 29 Diese Schlüsselszene ermöglicht auch eine Lesart des Films, die von dieser Szene aus den ganzen Film durchleuchtet, besonders in Bezug auf das Thema ›Tod‹ – den zweiten Teil von Akıns Trilogie. Für eine solche Lesart siehe den Beitrag von Levent Tezcan in diesem Buch. Dieser kurze Teil meines Artikels ist von der Vortragsversion seines Beitrags beeinflusst. 30 Diese Beobachtung verdanke ich Özkan Ezli, was eine produktive Lesart der beiden voneinander getrennten Eröffnungszenen in Bremen und Istanbul ermöglicht. Diese beiden separaten temporalen und geographischen Anfangspunkte der Erzählung sind beide spannungsgeladen und gleichzeitig dynamisch in der Welt der Sexualität und Politik angesiedelt. Im Vergleich dazu werden die Handlungsstränge gegen Ende des Films in der religiösen und familiären Versöhnung gebündelt. Für eine weiterführende Diskussion, auf welche Weise die türkische Arbeitsmigration nach Deutschland das Verhältnis zum Islam in den verschiedenen Generationen verändert hat, vgl. Ezli, Özkan: »The Development of Turkish Islam in Germany«, http://www.aicgs.org/analysis/c/ezliapr07.aspx 113

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Zeitmessung und Geschichte. AUF DER ANDEREN SEITE artikuliert eine transnationale ästhetische Filmsprache, welche die Komprimierung von Zeit und Raum unter Globalisierung mit ihrer Geschichte verbindet. Innerhalb dieses komplexen Zeit- und Raumrahmens werden wir Zeugen der Umstrukturierung familiärer Zusammenhänge als Folge zunehmender Migration. Organisiert um verschiedene Traumata von Tod und Liebe, Radikalismus und Missverständnissen, irrender Suche und zufälligen Begegnungen interpretiert der Film die »Ketten der Fürsorge« in der »Internalisierung von Intimität« jedoch als hoffnungstragendes und emphatisches Miteinander, in welchem biologische Familienstrukturen Platz für neue Formen der Intimität und Emphatie machen. Die transnationale Bewegung der Figuren ist nicht nur von ökonomischen Zielen, sondern auch von menschlicher Fürsorge bestimmt. Somit erfasst der Film die sozialen, kulturellen und psychischen Dimensionen der Migration.

8. Epilog AUF DER ANDEREN SEITE sprengt die verschiedenen Kategorien, in denen das europäische und globale Migrations- und Minderheitenkino seit der Mitte der 1990er Jahren akademisch erfasst wird. Mit seinen vielsprachigen Dialogen und Schaupielern, die verschiedenen Nationalitäten angehören, multinationalen Schauplätzen und Beziehungen stellt der Film herkömmliche Definitionen des nationalen Kinos in Frage. Obwohl in AUF DER ANDEREN SEITE lesbische Liebe und politischer Aktivismus zentrale Rollen spielen, kann der Film weder dem klassisch lesbisch-schwulen noch dem traditionellen links-politischen Kino – beides wurzelt in den Politikvorstellungen der 1970er Jahre – zugeordnet werden. Aber auch die Kategorie des türkisch-deutschen Kinos mit seiner biographischen Dimension erscheint letztlich unzureichend, um der multi-nationalen Komplexität der Beziehungen und der zentrifugalen Referenzen gerecht zu werden.31 AUF DER ANDEREN SEITE zeigt die gleichzeitige Verbindung von lokaler Zugehörigkeit und globaler Mobilität auf, die transnationale Kultur charakterisiert und illustriert so das, was Harvey die »Zeit-Raum-Komprimierung« nennt. Die alternativen Familienverbindungen reflektieren die Umstrukturie31 Diese verschiedenen Kategorien werden zur Zeit theoretisch neu verortet. Für eine eingehende Rekonzeptualisierung von türkisch-deutschem Kino im Zusammenhang von türkisch-deutscher Literatur und Film vgl. Ö. Ezli: »Fatih Akıns globalisiertes Kino«. Die Zunahme von globaler Filmkultur hat paradoxerweise gerade das Interesse am nationalen Kino geweckt, wie zum Beispiel in den folgenden neueren Veröffentlichungen zu sehen ist: Hjort, Mette (Hg.): Cinema and Nation, London 2000, und die ca. 15 Titel im Routledge Verlag in der Serie »National Cinema«, welche zwischen 1998 und 2009 herausgegeben wurden. 114

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rung von sozialen Beziehungen als Resultat von Migration, die phantasiebesetzte Intimität über lange Strecken und Ersatz-Beziehungen in lokalisierten Orten schafft. Die facettenreiche Darstellung von Globalisierung ist weitaus ambivalenter, komplexer, und schließlich auch produktiver als die Position, welche die Figur Ayten im Film artikuliert: »Es ist Globalisierung und wir kämpfen dagegen«. Der Film zeigt Globalisierung weder als eine totalisierte Weltvorstellung, in deren Bezug man sich nur in einer Gegenposition verorten kann, noch verneint er Globalisierung, indem er eine Illusion eines verschwundenen Ganzen heraufbeschwört, z.B. durch Bezug auf nationale Geschichte, wie im europäischen »heritage cinema«.32 Statt eines rückwärts gewandten Blicks in die Vergangenheit schafft es AUF DER ANDEREN SEITE, die Komplexität der »Zeit-Raum-Komprimierung« darzustellen, aber nicht als eine, die vollständig von vergangenen Verständnissen abgeschnitten ist, sondern die mit ihnen in Verbindung steht. Die traditionelle rhetorische Form des Chiasmus und des Konflikts zwischen Evolution und Revolution sind Modelle, die mit der Gegenwart in Dialog stehen. In diesen Raum- und Zeitkonstrukten entfalten sich zwischenmenschliche Beziehungen, die die Umwandlungen von sozialen Verhältnissen in den zunehmenden und globalisierten Migrationen widerspiegeln. AUF DER ANDEREN SEITE greift somit in die gegenwärtige Diskussion über die Auswirkungen globaler Migration ein, indem die soziale Umorganisierung weder als von der Vergangenheit abgelöst dargestellt wird, noch als die sozialen Zusammenhänge zerstörend. Insofern ist der Film ein Hoffnungsträger für soziale Beziehungen und kulturelle Verknüpfungen im globalen Zeitalter. Das letzte Bild des Films, in welchem Nejat mit dem Rücken zum Publikum schweigend auf die Wiederkehr seines Vaters vom Schwarzen Meer wartet, lebt von dieser Hoffnung, auch wenn sie die Ambivalenz des Möglichen in sich birgt.

Literatur Adelson, Leslie A.: »Minor Chords? Migration, Murder, and Multiculturalism«, in: Robert Weninger/Brigitte Rossbacher (Hg.), Wendezeiten, Zeitenwenden. Positionsbestimmungen zur deutschsprachigen Literatur 1945-1995, Tübingen 1997, S. 115-129. 32 Für eine Diskussion über das Verhältnis von ›heritage cinema‹ zu ›national cinema‹ in Bezug auf Englisches Kino vgl. Higson, Andrew: English Heritage, English Cinema, Oxford 1990. Für eine Diskussion über das Verhältnis von deutschen Filmen, die nach 1990 gedreht wurden und sich mit dem Holocaust beschäftigen, und dem ›heritage cinema‹ vgl. Koepnick, Lutz: »Reframing the Past. Heritage Cinema and Holocaust in the 1990s«, in: New German Cinema 97 (Herbst 2002), S. 47-82. 115

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— : The Turkish Turn in Contemporary German Literature. Toward a New Critical Grammar of Migration, New York 2005. Baer, Nicholas: »Points of Entanglement: The Overdetermination of German Space and Identity in Lola + Bilidikid and Walk on Water«, in: Transit 2008-2009, ohne Seitenangaben, http://german.berkeley.edu/transit/index. html Beck, Ulrich: What is Globalization?, Oxford 2000. Bordwell, David/Thompson, Kristin: »Film Style«, in: Dies., Film Art. An Introduction, New York 2004, S. 175-412. Eren, Mine: »Traveling Pictures from a Turkish Daughter. Seyhan Derin’s I’m My Mother’s Daughter«, in: Eva Rüschmann (Hg.), Moving Pictures/Migrating Identities, Jackson 2003, S. 39-54. Ezli, Özkan: »Von der Identitätskrise zu einer ethnographischen Poetik. Migration in der deutsch-türkischen Literatur«, in: Text+Kritik IX, Sonderband: Literatur und Migration (2006), S. 61-73. — : »The Development of Turkish Islam in Germany«, auf: http://www.aicgs. org/analysis/c/ezliapr07.aspx — : »Von der interkulturellen zur kulturellen Kompetenz. Fatih Akıns globalisiertes Kino«, in: Ders./Dorothee Kimmich/Annette Werberger (Hg.), Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur, Bielefeld 2009, S. 207-230. Ezra, Elizabeth/Rowden, Terry: »General Introduction. What is Transnational Cinema?«, in: Dies. (Hg.), Transnational Cinema. The Film Reader, London 2006, S. 1-12. Fenner, Angelica: »Turkish Cinema in the New Europe. Visualizing Ethnic Conflict in Sinan Çetin’s Berlin in Berlin«, in: Camera Obscura 15.2 (2000), S. 105-148. Gallagher, Jessica: »The Limitation of Urban Space in Thomas Arslan’s Berlin Trilogy«, in: Seminar. A Journal Germanic Studies 42.3 (September 2006), S. 337-352. Göktürk, Deniz: »Turkish Delight – German Fright: Migrant Identities in Transnational Cinema«, in: Transnational Communities – Working Paper Series (January) [An Economic & Social Research Council Programme at the University of Oxford], S. 1-14. [http://www.transcomm.ox.ac.uk/ working papers/mediated.pdf] — : »Turkish Women on German Streets. Closure and Exposure in Transnational Cinema«, in: Myrto Konstantarakos (Hg.), Spaces in European Cinema, Portland, OR 2000, S. 64-76. — : »Anyone at Home? Itinerant Identities in European Cinema of the 1990s«, in: Framework 43.2. (Herbst 2002), S. 201-212.

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ÜBERKREUZUNGEN IN GLOBALER ZEIT UND GLOBALEM RAUM

— : »Sound Bridges. Transnational Mobility as Ironic Drama«, in: Miyase Christensen/Nezih Erdoan (Hg.), Shifting Landscapes. Film and Media in European Context, Newcastle 2008, S. 153-171. Halle, Randall: German Film after Germany. Toward a Transnational Aesthetic, Urbana 2008. Harvey, David: The Condition of Postmodernity, Cambridge, MA 1990. Higson, Andrew: English Heritage, English Cinema, Oxford 1990. Hillman, Roger: »Akın’s ›The Edge of Heaven‹ and the Ever Widening Periphery«, Vortrag beim Workshop »Rethinking German-Turkish Cinema. Third German Studies«, 26.-27. März 2010, Department of Germanic Studies, University of Texas at Austin. Hjort, Mette (Hg.): Cinema and Nation, London 2000. Hochschild, Arlie Russell: »Global Care Chains and Emotional Surplus Values«, in: Will Hutton/Anthony Giddens (Hg.), On the Edge. Living with Global Capitalism, London 2000, S. 130-146. Isenberg, Noah: »Perrenial Detour. The Cinema of Edgar G. Ulmer and the Experience of Exile«, in: Cinema Journal 43.2 (Winter 2004), S. 3-25. Koepnick, Lutz: »Reframing the Past. Heritage Cinema and Holocaust in the 1990s«, in: New German Cinema 97 (Herbst 2002), S. 47-82. Martens, Helge: »Goethe und der Basaltstreit«, 11. Sitzung der HumboldtGesellschaft (13.6.1995), http://www.humboldtgesellschaft.de/druck.php ?name=goethe Mazierska, Ewa/Rascaroli, Laura: Crossing the New Europe. Postmodern Travel and the European Road Movie, London 2006. Mennel, Barbara: »Local Funding and Global Movement. Minority Women’s Filmmaking and the German Film Landscape of the Late 1990s«, in: Women in German Yearbook 18 (2002), S. 45-66. — : »Criss-Crossing in Global Space and Time: Fatih Akın’s The Edge of Heaven«, in: Transit. A Journal of Travel, Migration and Multiculturalism in the German-Speaking World (März 2010), http://german.berkeley.edu/ transit/2010/articles/MennelCrissCrossing.html, keine Seitenangaben. Naficy, Hamid: An Accented Cinema: Exilic and Diasporic Filmmaking, Princeton 2001. Özdamar, Emine Sevgi: Mutterzunge. Erzählungen, Berlin 1990. Özdoan, Selim: Die Tochter des Schmieds, Berlin 2005. — : Demircinin Kızı, Istanbul 2007. Piper, Andrew: »Mapping Vision. Goethe, Cartography, and the Novel«, in: Jaimey Fisher/Barbara Mennel (Hg.), Spatial Turns. Space, Place, and Mobility in German Literary and Visual Culture, Amsterdam 2010, S. 2751. Potts, Lydia: »Mothers’ Dreams, Daughters’ Lives and the State«. Unveröffentlichter Vortrag, gehalten bei »Turkey at the Cross Roads. Women, 117

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Women’s Studies and the State«, Istanbul und Bodrum, Türkei, 27.5.3.6.2005. Institute for Teaching and Research on Women, Towson University, in Zusammenarbeit mit Orta Dou Teknik Üniversitesi, Ankara, Türkei. Rotkirch, Anna: »The Internationalisation of Intimacy. A Study of the Chains of Care«, Vortrag auf der 5th Conference of the European Sociological Association (Helsinki 28.8.-1.9.2001), http://www.walt.helsinki.fi/ staff/rotkirch/ESA%20paper.htm Said, Edward: »Reflections on Exile«, in: Granta 13 (1984), S. 159-172. Sassen, Saskia: Globalization and Its Discontents. Essays on the New Mobility of People and Money, New York 1998.

Filme ANGST ESSEN SEELE AUF (D 1974, R: Rainer Werner Fassbinder) APRILKINDER (D 1998, R: Yüksel Yavuz) AUF DER ANDEREN SEITE (D/TR 2007, R: Fatih Akın) AUSLANDSTOURNEE (D 1999, R: Aye Polat) BALALAYKA (TR 2000, R: Ali Özgentürk) BEN ANNEMIN KIZIYIM / ICH BIN DIE TOCHTER MEINER MUTTER (D 1998, R: Seyhan Derin) CROSSING THE BRIDGE – THE SOUND OF ISTANBUL (D 2005, R: Fatih Akın) GEGEN DIE WAND (D/TR 2004, R: Fatih Akın) GÜNESE YOLCULUK / REISE ZUR SONNE (TR/NL/D 1999, R: Yeim Ustaolu) IM JULI (D 2000, R: Fatih Akın) JIZDA / DIE FAHRT (CS 1994, R: Jan Svrák) KARDELER / GESCHWISTER (D 1997, R: Thomas Arslan) KLEINE FREIHEIT (D 2003, R: Yüksel Yavuz) KURZ UND SCHMERZLOS (D 1998, R: Fatih Akın) SOLINO (D 2002, R: Fatih Akın) SOUL KITCHEN (D 2009, R: Fatih Akın) THE CHICKEN SOUP (I 2008, R: Mario Rizzi) WIR HABEN VERGESSEN ZURÜCKZUKEHREN (D 2001, R: Fatih Akın) ZWISCHEN DEN STERNEN (D 2003, R: Seyhan Derin)

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Trans v ers al e Spu ren du rch Gen erat ion en und Nationen VALENTIN RAUER

1. Prolog Der Film AUF DER ANDEREN SEITE erzählt von Menschen in Bewegung. Die Rückkehr zweier Protagonisten in ihr Heimatland beendet den Film. Es hat den Anschein, als würden mit diesem Ende die auf der ›falschen Seite‹ lebenden Protagonisten an ihren wahren Bestimmungsort – auf die ›richtige Seite‹ – zurückkehren. Doch ziehen die Lebensläufe der Protagonisten im Verlauf des Films Spuren, die quer, transversal zu den Grenzen von Nationen und von Generationen verlaufen, ohne dabei die Prägekraft solcher Kollektivsingulare 1 zu verleugnen. Der Film ermöglicht daher eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie und wo sich Lebensläufe und Leidenschaften trotz zunehmend delokalisierenden Vorstellungswelten verorten können. AUF DER ANDEREN SEITE ist also keine klassische Erzählung von Fremdheit, Wurzellosigkeit und Heimatverlust, sondern ein Film über De- und Relokalisierungsprozesse in einer sich zunehmend globalisierenden Welt.2

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Der Begriff stammt von dem Historiker Reinhart Koselleck und benennt die Entstehung und Konsequenzen von Konzepten wie ›die Geschichte‹, ›die Nation‹ oder ›die Generation‹. In der europäischen Neuzeit transformierten sich vielfältige reale ›Geschichten‹ in eine ›Geschichte‹ oder vielfältige Lebensweisen in ›eine Nation‹. Diese begriffliche Vereinheitlichung hatte zur Konsequenz, dass ›die Moderne‹ oder ›die Nation‹ als handelnde Wesen imaginiert werden. ›Die Moderne‹ wollte beispielsweise die gesamte Welt in die ›Aufklärung‹ oder zum ›Kommunismus‹ etc. ›führen‹. Vgl. Koselleck, Reinhart: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt/M. 2006. Appadurai, Arjun: »Global Ethnoscapes. Notes and Queries for a Transnational Anthropology«, in: Richard G. Fox (Hg.), Recapturing Anthropology. Working 119

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Um diese Prozesshaftigkeit zu erläutern, werden in diesem Beitrag die visuellen und narrativen Brechungen herausgearbeitet, die den Film zu einer gesellschaftsanalytischen Miniatur machen, und von deren Interpretation die klassische Einwanderungs- und Migrationssoziologie sich inspirieren lassen könnte. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich bei AUF DER ANDEREN SEITE um eine komplexe, die nationalen Grenzen querende Geschichte, die den Blick auf aktuelle Transnationalisierungsprozesse der Lebenswelten richtet, ohne dies im Gegenzug als naiven Kosmopolitismus oder Postnationalität zu romantisieren. Der Film stellt indirekt nicht nur kritische Fragen an den methodologischen Nationalismus der klassischen Integrations- und Assimilationsforschung, sondern bietet auch inspirierende Sichtweisen, die bei der Suche nach neuen Ansätzen hilfreich sein könnten. Um dieses kritische Inspirationspotential mit Blick auf die klassischen Nations- und Generationskonzepte aufzuzeigen, werden im Folgenden zunächst die aktuellen Ansätze zu Nation und Generation skizziert. In einem zweiten Schritt werden jeweils die filmischen Brechungen mit diesen klassischen Annahmen herausgearbeitet und analysiert.

2. Nation Mit der Verwendung des Begriffs ›Migration‹ wird stillschweigend eine in ›Nationen‹ differenzierte Welt vorausgesetzt. Migration, d.h. Aus- und Einwanderung, meint die dauerhafte oder temporäre Bewegung von Menschen über nationale Grenzen hinweg. Wenn keine nationalen Grenzen überschritten werden, hieße diese Bewegung ›Umzug‹. Diese enge begriffliche Kopplung von ›Migration‹ an ›Nation‹ ist keineswegs selbstverständlich und erfordert eine Klärung des dabei vorausgesetzten Nationskonzepts. Nationen sind keine Dinge, die man ›sehen‹ oder ›be-greifen‹ könnte. Vielmehr sind sie, so die berühmte Formulierung von Benedict Anderson, »imaginierte Gemeinschaften«.3 Sie existieren nur als Vorstellung und nicht als tatsächlicher, ›be‹-greifbarer Gegenstand. Gleichwohl sind sie nicht nur als Einbildung oder Fiktion zu begreifen. Nationen werden in sozialen Praktiken der Ein- und Ausschließung und mit kulturellen Performanzen, wie Erzählungen, Bilder, Ritualen oder Filmen als real vorausgesetzt.4 Jede Grenz-

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in the Present, Santa Fe 1991, S. 191-210; Hannerz, Ulf: Cultural Complexity. Studies in the Social Organisation of Meaning, New York 1992. Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/M. 1988. Vgl. Turner, Victor: The Anthropology of Performance, New York 1986; Bourdieu, Pierre: Was heißt Sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien 1990; Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2004; sowie die Beiträge in dem Sammelband: Wirth, Uwe (Hg.): Performanz.

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TRANSVERSALE SPUREN DURCH GENERATIONEN UND NATIONEN

kontrolle ist eine soziale Praktik, welche die Imagination von einer Nation in der sozialen Welt ›realisiert‹. Auch jeder Film, der sich visuell oder narrativ auf nationale Gemeinschaften bezieht, stellt eine kulturelle Praktik dar, die performativ etwas als Realität voraussetzt und dieses Vorausgesetzte gleichzeitig im Zuge seiner narrativen Praxis als Realität erzeugt. Diese performativ hervorgebrachten ›real existierenden‹ Nationen existieren also nicht als ›Natur‹ qua biologischer Fortpflanzung, sondern sie realisieren sich im Zuge von Vorstellungen über einen gemeinsamen Ursprung und der dauerhaften Gemeinschaftsbildung. Als Realität (um-)gesetzt werden sie in Ein- und Ausgrenzungspraktiken. 5 In öffentlichen Ritualen, Texten und Filmen wird eine willkürliche Summe von Personen als ›einheitliche Nation‹ repräsentiert. In diesem Sinne sind Nationen ein soziokulturell realisierter Mythos, der sich über Ex- und Inklusionsmuster als Gemeinschaft selbst setzt.6 In der europäischen Neuzeit hatten insbesondere Rituale und Erzählungen eine mythopoetische Funktion, um nationale Imaginationen zu stimulieren. 7 Für Max Weber besteht beispielsweise »ethnische« Identität aus nichts anderem, als der Erinnerung an gemeinsame Todeserfahrungen im Kriege oder bei Katastrophen.8 Trauerfeiern und Begräbnisse realisieren in ihrem Vollzug Kollektivität. In der kollektiven Erinnerung an eine gemeinsame Vergangenheit entsteht erst das ›Gemeinsame‹. Aus diesem Grund wurden Staatsbegräbnisse opulent inszeniert oder Mahnmale errichtet. Inzwischen finden sich auch aktuelle Ansätze, die eher alltägliche Nationalisierungspraktiken in den Vordergrund rücken. Danach haben die Sauberkeitsvorstellungen und Putzpraktiken in Gestalt der ›deutschen Hausfrau‹ durchaus die nationalisierende Konsequenz, sich als Wir-Gruppe abzugrenzen.9

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Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2002; Alexander, Jeffrey C. et al (Hg.): Social Performance. Symbolic Action, Cultural Pragmatics, and Ritual, Cambridge 2006. Eder, Klaus et al.: Die Einhegung des Anderen. Türkische, polnische und russlanddeutsche Einwanderer in Deutschland, Wiesbaden 2004. Rauer, Valentin: »Symbols in Action. Willy Brandt’s Kneefall at the Warsaw Memorial«, in: J. C. Alexander et al. (Hg.), Social Performance, S. 538-574; ders.: »Magie der Performanz. Theoretische Anschlüsse an das CharismaKonzept«, in: Pavlina Rychterova et al. (Hg.), Das Charisma. Funktionen und symbolischer Repräsentationen, Berlin 2008, S. 129-154. Barthes, Roland: Mythen des Alltags, Frankfurt/M. 1993; Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt/M. 1996; Münkler, Herfried: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2008. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundrisse der verstehenden Soziologie, Tübingen 1980, S. 235-240. Reagin, Nancy R.: Sweeping the German Nation. Domesticity and National Identity in Germany, 1870-1945, New York 2007. 121

VALENTIN RAUER

Doch all diese Praktiken und Performanzen bleiben von begrenzter Reichweite, wenn sie nicht vor einem Publikum stattfinden. Symbolisches Handeln ist immer an ein Publikum gerichtet. Mit dem Aufstieg der Presse als Massenmedium ergaben sich neue Formen der Inszenierung nationalisierender Praktiken. Inzwischen sind es nicht mehr Aufmärsche und Rituale, sondern vor allem Fernsehbeiträge und Filme, die nationale Mythen fortschreiben und bearbeiten. 10 Oder, um Walter Benjamins berühmte Formel zu paraphrasieren: Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit nationaler Mythen üben Filme eine außerordentliche bedeutungskonstitutive Funktion aus.11 Filmische Bilderwelten und narrative Plots sind es, die als ein technisch vielfach reproduzierbares ›social drama‹12 eine besondere kollektive, realitätserschaffende Potentialität innehaben.13 Vor diesem Hintergrund ist der Film AUF DER ANDEREN SEITE in vielfacher Hinsicht sehr bemerkenswert. Die imaginierte Gemeinschaft der Nation wird in variationsreichen Details gleichzeitig realisiert und transzendiert. Auf den ersten Blick erzählt der Film über internationale Migration und Migrationsfolgen zwischen Deutschland und der Türkei. Doch es migriert nicht nur eine ›Wir-Gruppe‹ in das Land ›der Anderen‹, wie man es in klassischen Migrationsfilmen erwarten würde, sondern die Migrationsbewegungen überkreuzen sich.14 Die Hamburger Studentin Lotte reist aufgrund des abgelehnten Asylgesuchs ihrer Freundin Ayten von Hamburg nach Istanbul. Der Germanistikprofessor Nejat, Sohn des verrenteten Gastarbeiters Ali Aksu aus Bremen, übernimmt in Istanbul einen deutschen Buchladen, weil ihn der Professorenberuf in Deutschland nicht mehr ausfüllt. Er migriert also von Deutschland in die Türkei, wo er gerade keinen türkischen, sondern einen deutschen Buchladen übernimmt. In dem Film ist die klassische Unterscheidung von Empfänger- und Sendeland somit durch Überkreuzungen invertiert. Zudem wandern in dem Film die Migranten nicht nur zu Lebzeiten, sondern auch als Tote. So werden zwei Kapitel des Films mit den Bildern von Särgen auf Rollfeldern von Flughäfen eingeleitet. Die Särge befinden sich auf 10 Dörner, Andreas: Zur Inszenierung politischer Identitäten in der amerikanischen Film- und Fernsehwelt, Konstanz 2000. 11 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und weitere Dokumente, Frankfurt/M. 2007. 12 Schechner, Richard: Ritual, Play and Performance, New York 1977; Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt/M. 1995. 13 Blumenberg, Hans: »Wirklichkeitsbegriff und Wirklichkeitspotential des Mythos«, in: Manfred Fuhrmann (Hg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971, S. 11-66. 14 Vgl. zu dieser Unterscheidung und Fatih Akıns Werk: Ezli, Özkan: »Von der interkulturellen zur kulturellen Kompetenz. Fatih Akıns globalisiertes Kino«, in: Ders./Dorothee Kimmich/Annette Werberger (Hg.), Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur, Bielefeld 2009, S. 207-230. 122

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Gepäckförderbändern der Turkish Airline und der Lufthansa. Dabei reisen die Toten jeweils in entgegen gesetzte Richtungen von und nach Deutschland bzw. von der und in die Türkei. Bereits dieses Bild – der reisende Sarg auf einem Flughafenrollfeld – knüpft an ein klassisches hochgradig nationalisiertes Symbol an. Der Sarg auf dem Rollfeld eines Flughafens erinnert an die toten Soldaten, die fernab der Heimat ›für ihr Vaterland gefallen‹ sind. Zu einer massenmedialen Ikone und zu einem kollektiven Gedächtnis haben sich die Bilder von in Särgen heimkehrenden Soldaten im Zuge des Vietnamkrieges entwickelt. Es waren u.a. diese Bilder der massenhaften Särge, auf die sich die Antikriegsbewegung immer wieder erfolgreich stützte. Solche symbolischen Bilder erzeugen ein stärkeres imaginäres Vermögen, als Argumente und politische Statements. Auf den ersten Blick reisen in AUF DER ANDEREN SEITE die Toten in ihren Särgen tatsächlich wie gefallene Soldaten an ihren ›wahren‹ Bestimmungsort ›heim‹. Es wäre also eine klassische Rückkehrerzählung. Der Leichnam der als Prostituierte arbeitenden Yeter wird nach ihrer Ermordung von Deutschland in die Türkei geflogen. Der Leichnam der deutschen Studentin Lotte kehrt von Istanbul nach Hamburg zurück. Beide Protagonistinnen scheinen sich offenbar zu Lebzeiten auf der ›falschen Seite‹ befunden zu haben. Als Tote treffen sie an ihrem ›wahren Bestimmungsort‹ – in ihrer Heimat – wieder ein. Doch diese scheinbare Rückkehrerzählung ist gebrochen. So stehen eben nicht, wie sonst üblich, die Beerdigungsrituale im Vordergrund. Der Film zeigt die Toten im Transit. Anstatt ihre ›ewige Ruhestätte‹ zu finden, fahren die Särge auf Förderbändern von Rollfeldern. Das die ewige Ruhestatt initiierende Beerdigungsritual bleibt als performative Leerstelle unbesetzt.15 Die Särge vollziehen stattdessen eine »komplexe Querung«16 der Grenzen zwischen Lebens- und Todeswelten. Diese Grenzen sind keineswegs identisch mit den Grenzen der beiden Nationalstaaten, sondern bilden ein verflochtenes Netz, das dem ähnelt, was der Migrationssoziologe Ludger Pries als »transnationaler sozialer Raum« bezeichnet.17 Der transnationale soziale Raum widerspricht der klassischen These von nationaler Integration. Integration setzt die Eingliederung in das Zielland und das Vergessen des Herkunftslandes voraus. Im transnationalen Raum überspannt die Lebenswelt der Migration beide Länder, sowohl das Her- als auch das Ankunftsland.

15 Oder wird im Falle Yeters nur im Zusammenhang von Nejats Suche und nicht als rahmendes bedeutungsgenerierendes Ritual eingeblendet. 16 Ezli, Özkan: »Von der Identitätskrise zu einer ethnographischen Poetik. Migration in der deutsch-türkischen Literatur«, in: Text+Kritik IX, Sonderband: Literatur und Migration (2006), S. 61-73, hier S. 65. 17 Pries, Ludger: »Transnationale Soziale Räume. Theoretische-empirische Skizze am Beispiel der Arbeitswanderung Mexico-USA«, in: Zeitschrift für Soziologie 25.6 (1996), S. 456-472. 123

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Der deutsch-türkische Germanistikprofessor Nejat, der als Hochschullehrer für deutsche Literatur eigentlich das Idealbild einer nationalen Integrations- oder gar Assimilationsgeschichte symbolisieren dürfte, übernimmt von einem deutschen Buchhändler dessen Laden in Istanbul. Gegen Ende des Films, nach der erfolglosen Suche nach Yeters Tochter, begibt sich Nejat auf die Suche nach seinem Vater Ali Aksu, der aufgrund von Totschlag aus Deutschland abgeschoben wurde. Die letzte Einstellung zeigt, wie Nejat am Strand sitzend auf das Meer blickt und auf die Rückkehr seines Vaters vom Fischfang wartet. Ob dieser zurückkehren wird oder vielleicht doch auf See umgekommen ist, bleibt offen. Auch mit dieser letzten Einstellung, Nejat als Rückenfigur auf das Meer blickend, wird die (potentielle) letzte Ruhestätte im Ungewissen belassen und in Bewegung gezeigt. Das Bild kombiniert einen Kontrast zwischen ewiger Ruhestätte und permanenter Bewegung des Meeres. Motivisch erinnert diese Schlusseinstellung an die zahlreichen aufs Meer blickenden Rückenfiguren im Werk des deutschen Romantikers Caspar David Friedrich. Die Bilder setzen sich mit der Frage nach dem Tod und der Unendlichkeit auseinander. So heißt es beispielsweise zur Ästhetik des Todes- und Unendlichkeitsmotivs bei Friedrichs »Durch den Tod zum ewigen Leben – dieser Weg kann nur ästhetisch angedeutet, nicht mehr als Dogma abgebildet werden.«18 Ähnliche Bedeutungszuschreibungen sind jedoch auch in der arabischen Literatur und Mystik mit Blick auf die Metapher des Meeres zu finden. So symbolisiert das Meer dort u.a. das »Schwinden des Ichbewusstseins« und die »Entwerdung«.19 Im Zuge dieser letzten Einstellung aktualisiert sich ein kollektives Bildgedächtnis, das die Kultur- und Nationsgrenzen zugleich zitiert und überschreitet.20 Die komplexen Querungen und Grenzüberschreitungen zeigen sich also nicht nur in den Bewegungen der Figuren, sondern auch in den aktualisierten Bildern. Die Migrationsbewegungen von Nejat, Ayten oder Lotte verlaufen keineswegs wie sonst in der internationalen Migration üblich, von einem Entsende- zu einem Aufnahmeland. Anders als in den klassischen Annahmen der Integrations- und Assimilationsforschung beschränken sich die Richtungen der Migration nicht auf die Bewegung von A nach B. Auch wird keine klassische Rückkehr von B nach A erzählt. Stattdessen ›be-wohnen‹ die Protagonis18 Busch, Werner: »Caspar David Friedrich«, in: Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, hg. v. Etienne François und Hagen Schulze, München 2001, S. 515-530, hier S. 530. 19 Ezli, Özkan: Kultursubjekte und Subjektkulturen in Autobiographien und Reisebeschreibungen. Kulturanalytische Problematisierungen westeuropäischer, türkischer und arabischer Texte, Zugelassene Dissertation, Universität Tübingen 2008, S. 125-126. 20 Zu diesem bedeutungsgenerierenden Spiel zwischen Differenz und Wiederholung vgl. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München 1997. 124

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tinnen je nach politischen und persönlichen Leidenschaften sowohl A als auch B. Sie wohnen und reisen in transnationalen Lebenswelten.21 Ihr Leben ist nicht auf die Integration in eine Nation ausgerichtet. Die Lebenswelten der Protagonisten überspannen nationale Sichtweisen und Symbolwelten. Sie integrieren sich weder ausschließlich in das eine noch in das andere Land, sondern leben und sterben translokal.

3. Generation Wer von Nationen wie ›Deutschland‹ oder der ›Türkei‹ spricht, imaginiert eine Sammlung von Menschen als ein räumlich und zeitlich unveränderbares (Gemein-)Wesen. Diese raumzeitliche Ewigkeitsfiktion steht im markanten Gegensatz zur historisch prozessualen Realität. Die ›deutsche‹ oder die ›türkische Jugend‹ der 1920er Jahre hat mit der jeweiligen Jugend der 1960er Jahre nur wenig ›gemein‹. Dennoch wird angesichts nationaler Identität eine inhaltlich jeweils willkürlich begründete ›deutsche‹ oder ›türkische‹ Kontinuität über Raum und Zeit, d.h. eine »kollektive Identität«22 vorausgesetzt. Im Zusammenhang mit Nationen hat sich jedoch ein Begriff entwickelt, der es erlaubt, gleichzeitig das Neue und das Ewige zu denken: ›Generation‹. Der Generationsbegriff löst das Paradox von Nationen, sich zugleich als identisch und different, als zugleich neu und alt zu imaginieren. 23 Das Denken in Generationen ist, so der Soziologe Joachim Matthes, das zentrale Konzept zur »gesellschaftlichen Regulierung von Zeitlichkeit«24. Mit Hilfe des Denkens in Generationen kann der gesellschaftliche Wandel in ›ordnende‹ und ›geordnete‹ Bahnen gelenkt werden. Die jeweils ›junge Generation‹ oder die jeweils ›zweite Generation‹ wird stets als von der Vorgängergeneration sich unterscheidend definiert. Der Begriff der Generation setzt das Differente voraus. Gleichzeitig ist das Abstammungsprinzip in den Generationsbegriff per Definition eingelassen. Die zweite Generation steht in unmittelbarer Konti21 Faist, Thomas: »Jenseits von Nation und Post-Nation. Transstaatliche Räume und Doppelte Staatsbürgerschaft«, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 7.1 (2000), S. 109-144; Rauer, Valentin: »Additive versus exklusive Zugehörigkeiten. Migrantenverbände zwischen nationalen und transnationalen Positionierungen«, in: Ludger Pries (Hg.), Jenseits von Identität oder Integration. Grenzen überspannende Migrantenorganisationen, Wiesbaden 2010, S. 61-86. 22 Giesen, Bernhard: Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation, Frankfurt/M. 1999. 23 Zum soziologischen Verständnis von Generation vgl. Mannheim, Karl: »Das Problem der Generation«, in: Ders., Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hg. v. Kurt H. Wolff, Neuwied/Berlin 1964, S. 509–565. 24 Matthes, Joachim: »Karl Mannheims ›Das Problem der Generationen‹, neu gelesen. Generationen-›Gruppen‹ oder gesellschaftliche Regelung von Zeitlichkeit?«, in: Zeitschrift für Soziologie 14 (1985), S. 363-372. 125

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nuitätsfolge zur ersten Generation. Das Denken in Generationskategorien wäre auch als moderne Form des mythischen Tricksters im Sinne Claude LéviStrauss’ zu begreifen. Trickster dienen im Mythos dazu, Paradoxien und Inkommensurables wegzuerzählen. Um ein Beispiel zu geben: Als Trickster galten häufig Zwillinge, da sie sowohl als identische Einheit als auch als differente Zweiheit wahrnehmbar seien. 25 Wie ein moderner Trickster symbolisieren Generationen den Bruch und das Neue unter der Bedingung von Ewigkeit und Kontinuität. Sie behaupten das Neue, um es an das Alte zu binden und gleichzeitig zu entbinden.26 Der Wortstamm der ›Gene‹ in ›Generation‹ setzt zum einen biologistische Vorstellungen von Vorfahre und Kontinuität voraus. Zum anderen verzeitlicht das ›Gen‹ symbolisch diese Kontinuitätsfunktion und betont den Bruch. Dieses Imaginationspotential der symbolischen Überwindung von Paradoxien und zeitlichen Regulierungsmustern ist zentral in die Bild- und Erzählstruktur von AUF DER ANDEREN SEITE eingelassen. Die Protagonisten wechseln nicht nur die Seiten der Einwander- und Zielländer, sondern sie wechseln auch die Seiten der generationalen Perspektiven und sämtlichen damit zusammenhängenden Paradoxien zwischen Brüchen und Kontinuitäten. Die deutsche Studentin Lotte zeichnet sich durch eine intensive Sehnsucht nach einem authentischen politischen Engagement aus, um ihrem Leben Sinn zu verleihen. Diese Sehnsucht projiziert sie in das Leben ihrer Mutter Susanne Staub. Susanne ist eine ehemalige Angehörige der so genannten ›68er-Generation‹ und bewohnt gemeinsam mit ihrer Tochter ein Haus in gutbürgerlicher Stadtrandlage. Mit besonderen intertextuellen Verweisen verstärkt Fatih Akın die Generationseffekte. So wird Lottes Mutter Susanne von der Schauspielerin Hanna Schygulla gespielt. Hanna Schygulla verkörpert allein durch ihre tragenden Rollen in Rainer Werner Fassbinders Filmen den generationalen Bruch der 1950er und 1960er Jahre in der Bundesrepublik. Sie gilt als eine Ikone des Autorenkinos der deutschen Nachkriegszeit. Mit diesem impliziten Verweis auf die Filme Fassbinders kommentiert Akıns Film indirekt die spezifisch deutsche Sichtweise auf Migration und Integration im Werk Fassbinders. Um ein Beispiel herauszugreifen: Einer von Fassbinders wichtigsten Filmen erzählt ebenfalls eine Geschichte von Gastarbeit in der Bundesrepublik. Der Film trägt den Titel ›Angst essen Seele auf‹ (1973)27, wodurch bereits im grammatisch fehlerhaften Titel der Verweis auf sprachliche, d.h. kulturelle 25 Lévi-Strauss, Claude: Mythos und Bedeutung. Gespräche mit C. Lévi-Strauss, Frankfurt/M. 1980. 26 Nash, Laura L.: »Greek Origins of Generational Thought«, in: Daedalus 107.4 1987, S. 1-21. 27 ANGST ESSEN SEELE AUF trug den Arbeitstitel: ›Alle Türken heißen Ali‹. Der Film gilt allgemein als eine der zentralen Arbeiten im Werk Fassbinders. 126

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Entwurzelungen markiert ist. Die sprachlichen Defizite und kulturellen Asymmetrien führen in dem Film zu einer Beziehung zwischen einem jungen Gastarbeiter Ali und der verwitweten Putzfrau Emmi Kurowski, deren Lebensalter das sechzigste Jahr bereits überschritten hat. Emmi könnte Alis Mutter sein. Sie gehört zur Vorgängergeneration. Der scheinbare ›Skandal‹ dieser Beziehung wird auf die Spitze getrieben, indem sowohl auf der national-kulturellen Ebene als auch auf generationaler Ebene sich ›Unvereinbares‹ vereint: die ›falsche‹ Kultur mit der ›falschen‹ Generation. Die fehlerhafte Konjunktion des Titels betont den Mangel kultureller Kompetenz als Ursache all dieser vielfältigen Unvereinbarkeiten. Die Spannung generiert der Film aus seiner unterlegten Entweder-oder-Logik. Die gezeigten Lebensformen des Sowohl-als-auch scheitern am Ende. Anders als bei Fassbinder werden in AUF DER ANDEREN SEITE nicht nur die erste Gastarbeitergeneration thematisiert, sondern auch deren Kinder. Die zweite Generation in Gestalt von Nejat spricht nicht mehr eine auf Infinitive reduzierte Sprache, wie in ANGST ESSEN SEELE AUF, sondern hat es bis zum Germanistikprofessor ›geschafft‹. Nach klassisch soziologischen Maßstäben assimilieren sich die zweite und dritte Generation sukzessive. Demgemäß spricht Nejat als Repräsentant der zweiten Generation nicht mehr unvollständige Sätze, sondern ist als Germanistikprofessor an der Sprach- und Kulturvermittlung in Deutschland in einer zentralen Position beteiligt. Gleichwohl bleibt es irreführend, deshalb AUF DER ANDEREN SEITE als Assimilations- und Integrationserzählung zu lesen. Der Film folgt nicht der Alternative von ›entweder‹ assimiliert ›oder‹ marginalisiert. Vielmehr wird die klassische Erzählung von defizitärer kultureller Integration in einem transnationalen Raum ausgeweitet und mit den Sichtweisen und Perspektiven verschiedener Generationen multipliziert. Damit lässt sich eine Erzählstrategie beobachten, die dem gleichkommt, was Michel Foucault einst in seiner Ereignistheorie als »kausale Demultiplikation«28 bezeichnet hat. Kausale Demultiplikation bedeutet, dass institutionelle Tatsachen nicht nur als institutionelle und ahistorische Gesetzmäßigkeit vorausgesetzt werden. Vielmehr ›ereignen‹ sie sich immer wieder aufs Neue. Institutionen, wie beispielsweise die ›erste Generation‹ oder eine ›ethnische Kultur‹, rekonstituieren sich, indem sie sich stets wieder »zum Ereignis […] machen«.29 Für die Darstellung und Thematisierung solcher institutionellen Arrangements ist es nun bedeutsam, dass dieser Ereignischarakter – ihre Evenementalisierung – berücksichtigt wird. Die erste Generation oder eine ethnische Kultur konstituieren sich über singuläre historische Ereignisse, die erst 28 Foucault, Michel: Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode, hg. v. Daniel Defert, François Ewald und Jacques Lagrange, übers. v. Hermann Kocyba, Frankfurt/M. 2009, S. 252-253. 29 Ebd., S. 252. 127

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über narrative Figuren zu einer kausal anmutenden Institution gerinnen. Historisch hätte ihre Geschichte immer auch anders verlaufen können. Diese grundsätzlich kontingente Verfasstheit von Institutionen gerät jedoch oftmals in Vergessenheit. Mit der Formulierung der »kausalen Demultiplikation« deutet Foucault eine Vorgehensweise an, die diese kontingente Verfasstheit adäquater berücksichtigt. Die Narrativierung von scheinbar unverrückbaren institutionellen Tatsachen als Ereignis führt die vormalige kontingente Situation wieder vor Augen. Ein solches Vorgehen der kausalen Demultiplikation fördert das Denken in Kontingenzen und vermindert den Glauben an scheinbare Kausalitäten. Einwanderergenerationen verursachen damit nicht mehr quasi gesetzmäßig ein jeweils spezifisches soziales Handeln. Vielmehr sind sie eine Folge von kontingenten Ereignissen, denen nachträglich eine Kausalität zugerechnet wird. Eine zu dieser Evenementalisierung analoge Erzählstrategie lässt sich mit Blick auf die Generationsverläufe in AUF DER ANDEREN SEITE ablesen. So verweist beispielsweise bereits der Titel ›Auf der anderen Seite‹ im Kontrast zu ›Angst essen Seele auf‹ nicht auf ein sprachliches Defizit, sondern auf den Bruch mit tradierten Sichtweisen. ›Auf der anderen Seite‹ bedeutet nicht nur eine räumlich indexikale Bestimmung, sondern auch ein ›Abwägen‹ unterschiedlicher Positionen sowie die stets offene Richtung eines Handlungsverlaufs. Die ›andere Seite‹ ist eine Positionsbestimmung ohne vorausgesetzte Wertungen und kulturelle Kausalitäten. Assimilation und Integration setzen demgegenüber immer die Entscheidung für eine eindeutige und singuläre kulturelle Monoperspektive voraus, die das Handeln der individuellen Akteure zu verursachen scheint.30 In diesem Sinne nimmt Lotte die generationsspezifisch geprägte Sichtweise ihrer Mutter wieder ein. Susanne bereiste damals als ›68erin‹ bereits Istanbul auf dem Weg nach Indien. Susannes Tochter Lotte stellt sich in einem Telefonat mit ihrer Mutter aufgrund ihres politischen Engagements für Ayten explizit in die Nachfolge dieser Generation. Damit betont sie einerseits die Kontinuität und verkörpert andererseits den Bruch mit ihrer Mutter. Sie will implizit die unvollendeten Ideale ihrer Mutter wieder aufnehmen und weiterführen und muss deshalb mit den aktuellen Sichtweisen ihrer Mutter brechen. Die Perspektiven der Lebenswege überkreuzen und invertieren sich gegenseitig. Auch die Integrations- und Assimilationsgeschichte der zweiten Generation, verkörpert durch die Gestalt Nejats, nimmt eine unerwartete Wendung. Im soziologischen Sinne wäre davon auszugehen, dass mit steigendem Grad des 30 Für eine ausführlichere Diskussion der Assimilations- und Integrationstheoreme im Zeichen des methodologischen Nationalismus: Rauer, Valentin: Die öffentliche Dimension der Integration. Migrationspolitische Diskurse türkischer Dachverbände in Deutschland, Bielefeld 2008. 128

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Bildungserfolgs die Herkunftsorientierung abnimmt. Mit jeder neuen Einwanderergeneration steigt also die Wahrscheinlichkeit der Assimilation in das Ankunftsland.31 Im Falle Nejats scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Obzwar im kulturellen Zentrum Deutschlands ›angekommen‹, übernimmt er einen Buchladen in Istanbul. Nicht aus einem Defizit oder Mangel, sondern aus einer Überdrüssigkeit an seinem Professorenleben kehrt er in das Land seines Vaters zurück. Während Lotte aus einer gewissen Orientierungslosigkeit und Langeweile versucht, das politische Engagement ihrer 68er-Mutter gleichzeitig zu tradieren und zu überbieten, verwandelt Nejat die Entweder-oder-Logik der Assimilation in eine Sowohl-als-auch-Logik des transnationalen Raumes. Eine weitere generationale Beziehung wird mit der Beziehung von Yeter zu ihrer Tochter Ayten erzählt. Yeter versucht als Prostituierte ihrer in der Türkei lebenden Tochter eine bessere Bildung zu finanzieren. Als Ayten in politische Schwierigkeiten gerät, versucht sie, ihre Mutter in Deutschland zu finden. Sie reist nach Deutschland, wird dort inhaftiert und wieder in die Türkei abgeschoben, wo sie wiederum inhaftiert wird. Auch diese Erzählung erweitert den nationalen Raum der assimilatorischen Entweder-oder-Logik von erster- und zweiter Einwanderergeneration transnational auf. Ayten reist ihrer Mutter nicht im Sinne einer so genannten ›Kettenmigration‹, d.h. einer Familienmigration nach. Vielmehr ist ihre Reise ihrem politischen Engagement in der Türkei und der prekären Lebenssituation dort geschuldet. Gleichwohl scheint es Ayten sozial ›besser‹ zu gehen, als ihrer in Deutschland lebenden Mutter. Es handelt sich also nicht um eine erste und zweite Generation der sukzessiven Integration, sondern um einen transnationalen sozial prekären Lebensraum einer Mutter und ihrer Tochter. Insgesamt überkreuzen sich die jeweiligen Seiten der Generationsfolgen im doppelten Sinne. Ein Kind der 68er-Generation versucht das Engagement seiner Mutter fortzuführen, bricht deshalb mit ihr und stirbt ungewollt durch die Hand eines Straßenkindes in Istanbul. Eine Bremer Prostituierte versucht ihrer in Istanbul politisch aktiven Tochter eine bessere Bildung zu ermöglichen. Auch sie stirbt plötzlich durch die Gewalt des Mannes, bei dem sie sich Schutz erhoffte. Ein nach den Kriterien der Assimilationsforschung ›erfolgreich‹ integrierter Professor kehrt in das Herkunftsland seines Vaters, eines ehemaligen Gastarbeiters, zurück. Die drei biographischen Verläufe sind jeweils durch ihre kontingenten Bruchlinien gekennzeichnet. So sind generati-

31 Esser, Hartmut: Aspekte der Wanderungssoziologie. Assimilation und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten. Eine handlungstheoretische Analyse, Darmstadt 1980. Kritisch vgl. dazu: Esch, Michael G.: »Integration als Ideologie. Am Beispiel muslimischer Einwanderer. Sozialgeschichte«, in: Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts 19.2 (2004), S. 82-93. 129

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onslogische Kausaliäten in keinem der beschriebenen Fälle die spezifische Ursache für die Ereignisse in den jeweiligen Biographien. Es handelt sich nicht um die Erzählung von Generationskonflikten, gepaart mit kultureller Fremdheit und der deshalb erfolgten Rückkehr in die Heimat. Generation und Integration sind jeweils nur Sichtweisen, die in einer spezifischen Situation ihre präfigurierende Geltung reklamieren. Sobald die Situationen und Positionen gebrochen sind und die Seiten gewechselt werden, wird aus der Integrationssituation Fremdheit und aus der vermeintlichen Fremdheit, wie im Falle Lottes, Intensität und Engagement. Gemäß des narrativen Plots sind die politischen Generationen und die Einwanderergenerationen weder national auf ein Land beschränkt noch sind sie durch eine eindeutige soziale Aufstiegsgeschichte in Richtung des Ankunftslandes lesbar. Statt Generationen und Nationen als Institutionen zu erzählen, ist das Leben der Protagonisten durch multiple Brüche und Kontinuitäten gekennzeichnet, die der sozialen Realität in globalisierten transnationalen Räumen sehr viel näher kommen, als der Vorstellung von national institutionalisierten Containergesellschaften.

4. Fazit Der Film AUF DER ANDEREN SEITE enthält eine doppelte Brechung mit institutionellen Kausalannahmen: zum einen in Bezug auf die Regulierung von Zeitlichkeit durch politische Generationen und zum anderen in Bezug auf Einwanderergenerationen. Generationsbedingte Einschränkungen der Sichtweisen verwandeln sich durch den jeweiligen Seitenwechsel, d.h. durch die Variation des eigenen Standpunktes. Dabei gehen historische Generationen wie die 68er und Einwanderergenerationen eine implizite Beziehung ein. Es ist, als ob der Film suggeriert, dass Standpunktwechsel möglich sind, auch wenn die zweite oder dritte Generation qua Geburt von den Erfahrungen der ersten Generation oder von den Erfahrungen der 68er prinzipiell ausgeschlossen sind. Damit steht nicht mehr die Entweder-oder-Logik im Zentrum der durch Generationen strukturierten Zeitlichkeit, sondern das Sowohl-als-auch des Standpunktwechsels. 32 Der Film macht Kultur ›zum Ereignis‹, indem er die Sichtweisen multipliziert und die monokausalen Zuschreibungen von institutionellen Festschreibungen aufbricht. Der linearen Logik von der Ersten bis zur Dritten Generation und vom Herkunftsland zum Aufnahmeland wird ein Arrangement unterschiedlich intensiv verknüpfter Ereignisse entgegengesetzt. Auf diese Weise setzt der Film grenzüberschreitende transnationale so-

32 Vgl. ausführlicher: V. Rauer: Die öffentliche Dimension der Integration, S. 220223. 130

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ziale Handlungsräume ins Bild. Er ermöglicht keinen substantiellen Einblick in eine vermeintlich begrenzte Kultur, sondern gibt Über-Blicke über die Vielfalt von kulturellen Verknüpfungen, Fissuren oder Brüchen. Damit operiert AUF DER ANDEREN SEITE auf komplexe Weise mit klassischen migrationssoziologischen Konzepten der Nation und Generation. Erzählt wird sowohl von nationalen Generationserfahrungen als auch von den unterschiedlichen Vorstellungen von Einwanderergenerationen. Die nationale Generation, die deutschen ›68er‹, werden mit den Einwanderergenerationen kontrastiert und gleichzeitig verwoben. Die Protagonisten finden sich sowohl in nationalen Kategorien auf der ›anderen‹ Seite als auch in generationalen Kategorien in ›anderen‹ Zeiten. Ohne wertende Asymmetrien werden die jeweiligen Sichtweisen als Spur der ›Anderen‹ in den Handlungsverlauf einerseits eingelassen und andererseits invertiert. Anstatt von einer nationalen Rückkehr- und (Des-)Integrationsgeschichte zu erzählen, spannt der Film grenzüberschreitende, biographisch familiäre Bögen, die sich transgenerational überkreuzen. In die jeweiligen Handlungsverläufe sind die nationalen und generationalen Grenzen zugleich sichtbar und aufgehoben. Die Grenzen werden visuell und erzählerisch prominent in den Fortgang der Geschichte integriert, gleichzeitig werden sie jedoch auch überschritten und durch sich überkreuzende Bewegungen neutralisiert. Darüber hinaus erzählt der Film von der Unterscheidung zwischen Leben und Tod. Diese Unterscheidung symbolisiert wie keine andere eine Entwederoder-Logik. Die Seiten zwischen Leben und Tod lassen sich nicht wechseln. Der Film ist auch als ein Plädoyer zu verstehen, die Entweder-oder-Logik des Todes nicht schon zu Lebzeiten auf die Lebenswelten zu übertragen. Der Standpunkt eines Toten ist nicht reversibel einnehmbar. Spuren hinterlassen nur Menschen in Bewegung. Diese Spuren müssen keineswegs parallel zu nationalen und generationalen Gräben verlaufen. Sie können die nationalen und generationalen Gräben auch überqueren und die Seite wechseln. An den Übertrittstellen ergeben sich Widerstände, Kreuzungspunkte und Verflechtungsmuster, welche die scheinbare Unumkehrbarkeit der national reduzierten Integrationsvorstellungen konterkarieren. Mit der Visualisierung und Narrativierung solcher transversalen Spuren konstituiert der Film ein imaginäres Vermögen, dem angesichts der aktuellen Globalisierung der Lebenswelten bisher zuwenig Beachtung geschenkt wurde.

Literatur Alexander, Jeffrey C. et al. (Hg.): Social Performance. Symbolic Action, Cultural Pragmatics, and Ritual, Cambridge 2006.

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— : Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt/M. 1995. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundrisse der verstehenden Soziologie, Tübingen 1980. Wirth, Uwe (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2002.

Filme ANGST ESSEN SEELE AUF (D 1974, R: Rainer Werner Fassbinder) AUF DER ANDEREN SEITE (D/TR 2007, R: Fatih Akın)

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Erzäh lte G lobal isi erung. Gab entaus ch und Identität sk onstruktion in F at ih A kıns A U F D E R A N D E RE N S E I T E KYUNG-HO CHA

1. Prolog In einem Interview, aufgezeichnet kurz nach der Premiere von AUF DER ANDEREN SEITE, erzählt Fatih Akın von seiner Begegnung mit Emir Kusturica auf den Filmfestspielen in Cannes im Jahre 2005, die einen nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterlassen hatte: »Aber auf jeden Fall, generelles Ding: Ich war mal in diesen Jurys. Und Emir Kusturica hat mir mal gesagt: ›Cinema, my friend, is the combination of room and a person.‹ Sagt Kusturica. ›Room and a person, that’s cinema.‹ Ich denk’ die ganze Zeit: Was meint er, was meint er, was meint er? Und oft weiß man ja passiv, was die Leute meinen, aber man weiß es nicht aktiv. Bis ich halt, glaub’ ich, irgendwann vielleicht geschnallt habe, was er meint. Okay, ich muss diesen Film [d.i. AUF DER ANDEREN SEITE, K.C.] so machen, dass Kusturica hinterher sagt: ›Yes, my friend, this is a[n] example for cinema.‹«1

»Room and a person, that’s cinema.« – Kusturicas filmtheoretische Bemerkung betrifft die Diegese, das ist die Welt, die im und durch den Film entsteht. Kusturicas Hinweis in die Tat umsetzend, achtet Akın in AUF DER ANDEREN SEITE darauf, die Balance zwischen Raum und Figur zu halten. So ver1

AUF DER ANDEREN SEITE (D/TR 2007, R.: Fatih Akın). Sämtliche Angaben basieren auf dem Film. Das zum Teil stark von ihm abweichende Drehbuch wurde zu Rate gezogen. Akın, Fatih: Auf der anderen Seite. Drehbuch, hg. v. Fred Breinersdorfer und Dorothee Schön, Berlin 2008. 135

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zichtet er auf close ups, die den Raum hinter dem Körper verschwinden lassen und ihn der Person unterordnen würden, und zeigt die Bilder fast ausschließlich in der Totalen. Das Verhältnis von Raum und Figur ist kein statisches. Die Wandel, die es vollzieht, sorgen dafür, dass die Erzählung im Fluss bleibt. Im Film befinden sich die Figuren in einer ständigen Bewegung, weil sie eine Person suchen: einen Vater, eine Mutter, eine Geliebte. Das Arrangement von Raum und Figur wird jedoch nicht nur durch die Einstellung garantiert. Materielle Objekte übernehmen darüber hinaus die Aufgabe, das Verhältnis von Raum und Figur zu verdichten. Sie tun dies, indem sie die Raum-Figur-Beziehung symbolisieren. Zum einen wird eine Person in diesem Raum verortet, zum anderen ist der Raum ein integraler Teil ihrer Identität. Ein Beispiel für eine solche Manifestation ist das Buch, das Nejat (Baki Davrak) seinem Vater Ali Aksu (Tuncel Kurtiz) schenkt. Akın hat dies selbst wie folgt beschrieben: »Also gute Bücher liest Du und Du hast ’nen Raum und Du kannst Dir Deinen Teil dazu denken. Und das war eigentlich so ’nen bisschen – es gibt viele Elemente: Der Sohn schenkt dem Vater ein Buch, er nimmt halt ’nen Buchladen an – das macht dieses Literarische auf jeden Fall. Die Struktur des Films ist ja sehr literarisch.«2

Der Buchladen, den Nejat in Istanbul übernimmt, ist ein Raum der Intimität und Vertrautheit. 3 Auf der Ebene der Erzählung ist das Buch ein Medium, das diesen Raum hervorbringt. Die Dinge im Film besitzen eine weitere Funktion: Sie können anderen die Identität des Gebenden mitteilen. Über das Buch, das der Literaturwissenschaftler seinem Vater schenkt, schenkt er ihm einen Teil seiner Welt, in der er lebt. Dies ist ein weiteres Merkmal der Dinge. Sie verbleiben nicht an einem Ort, sondern wechseln ihre Besitzer. Infolge dessen zirkulieren sie zwischen den Räumen und verbinden unterschiedliche Schicksale miteinander. Die vorliegende Analyse untersucht die Beziehung von Ding, Figur und Raum hinsichtlich ihrer Funktion für die Konstruktion der diegetischen Welt im Film. Sie konzentriert sich auf drei Objekte, die neuralgische Punkte der Filmhandlung besetzen. Neben dem bereits erwähnten Buch sind es die Schuhe, die Yeter Öztürk (Nursel Köse) ihrer Tochter nach Istanbul schickt, und die Pistole, die Ayten Lotte anvertraut. Der Artikel gliedert sich in drei Teile: Die Leitfrage des ersten Abschnitts (›Gabe – Figur – Raum‹) betrifft den nar2 3

AUF DER ANDEREN SEITE (D/TR 2007, R.: Fatih Akın), DVD: Pandora Film 2008. Der Buchladen erscheint nahezu als eine physische Extension seiner emotionalen und kognitiven Persönlichkeit, wie an seiner ersten Reaktion bei seinem Besuch zu sehen ist.

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rativen Charakter der Dinge: Was erzählen die Dinge über die Identität des Gebenden und den kulturellem Raum, in dem sich sein Leben abspielt? Es wird der Vorschlag unterbreitet, diese Dinge als Gaben zu betrachten. Zu diesem Zweck wird auf die Theorien der Gabe von Marcel Mauss und Jacques Derrida eingegangen, in denen das Verhältnis von Sache und Person verhandelt wird. Buch, Schuhe und Pistole werden einer strukturalistischen Analyse unterzogen und entsprechend ihrer unterschiedlichen sozialen Systeme (Familie, Freundschaft) klassifiziert. Im zweiten Teil (›Die Sorge des Anderen. Zur Ethik der Globalisierung‹) wird der sich zwischen Deutschen und Türken abspielende Gabentausch in eine Analogie zum globalen Warentausch gesetzt. Globalisierung zeichnet sich dadurch aus, dass kein Ereignis mehr lokal beschränkt ist, sondern weit reichende, nicht vorhersehbare Auswirkungen auf einer globalen Ebene besitzt. Die neu hergestellten Verbindungen betreffen nicht nur die Waren, sondern auch Menschen, deren biographische Geschichten sich vermischen. Im Film treten Menschen aus unterschiedlichen Teilen der Welt durch die Gaben in einen Kontakt miteinander. Indem sie die Gabe annehmen, erlauben sie dem Anderen, in das eigene Leben einzutreten und Teil der eigenen Geschichte zu werden. Vor dem Hintergrund der tragischen Folgen, die die Globalisierung, wie der Tod Lottes zeigt, nach sich ziehen kann, wird erörtert, welche ethische Antwort AUF DER ANDEREN SEITE für diesen negativen Effekt möglicher Weise anbietet. In der Gestalt von Lottes Mutter, so der Vorschlag, deutet sich eine ethische Haltung an, bei der das Fremde in das eigene Leben integriert wird. Diese Ethik wird als die ›Sorge des Anderen‹ bezeichnet. Im letzten Teil (›Kontingenzbewältigung. Akıns Kino der Globalisierung‹) wechselt die Perspektive der Untersuchung. Nicht mehr die diegetische Welt auf der Ebene der Filmhandlung, sondern die extradiegetische Dimension des Kinos und der cineastischen Erfahrung, welche den Zuschauer miteinbezieht, wird hier erörtert. Die abschließende These lautet, dass Akıns Kino als ein Kino der Globalisierung zu begreifen ist, das die Globalisierung einerseits zu einem kulturellen Ereignis macht, dessen Kontingenzcharakter exponiert wird, und andererseits die ästhetische Bändigung und Bewältigung eben dieser Kontingenz darstellt. Dafür wird auf Foucaults Konzept der événementalisation zurückgegriffen, um den Ereignischarakter der filmisch in Szene gesetzten Globalisierung und ihrer Auswirkungen zu unterstreichen.

2. Gabe – Figur – Raum Zweifelsohne ist Großzügigkeit eine der Eigenschaften, die die Figuren in AUF DER ANDEREN SEITE auszeichnet. Am Anfang schwenkt die Kamera auf

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das Buch auf dem Küchentisch, das Nejat seinem Vater Ali schenkt.4 Später erfährt der Zuschauer, dass Yeter Öztürk (Nursel Köse) ihrer in der Türkei lebenden Tochter Schuhe schickt. Buch und Schuhe sind Gaben, die innerhalb der Familie von einem Kind zu einem Elternteil und vice versa verschenkt werden. Nach Marcel Mauss ist eine Gabe ein fait social total, das eine Verbindung (nexum) zwischen Gebendem und Beschenktem stiftet. In vormodernen Gesellschaften dient sie dazu, den Zusammenhalt eines Clans zu sichern und die soziale Zugehörigkeit eines Individuums zu bestimmen. Die Gabe ist kein neutraler Gegenstand, sondern eine Verkörperung der Seele des Gebenden. Das heißt, mit jeder Gabe gibt der Gebende einen Teil seiner selbst. Diese soziale mélange von Gebendem und Empfänger kann als eine Verschmelzung von Seelen aufgefasst werden. Unter den Maori ist die Sache beispielsweise der Träger der Seele des Gebenden, weshalb die durch sie hergestellte Bindung »eine Seelenbindung«5 ist. Daraus folgt wiederum, »daß jemand etwas geben soviel heißt, wie jemand etwas von sich selbst geben.«6 Anders als in modernen kapitalistischen Gesellschaften sind Sache und Person also nicht getrennt. Trotzdem ist der Gabentausch nach Mauss insofern ein Vorläufer des kapitalistischen Warenverkehrs, als auch in ihr eine Gabe erwidert werden muss. Der Unterschied zwischen beiden Tauscharten besteht lediglich darin, dass die auf der Einhaltung eines vereinbarten Termins beruhende fristgerechte Rückzahlungsforderung sowie die ausgehandelte Äquivalenz von Material- und Tauschwert eine Erfindung des modernen Marktes ist. Wenn eine Gabe erwidert werden muss, dann hat dies einen anderen Grund als im Falle der Ware. Die Ursache liegt in der besagten Identität von Sache und Person. Eine einseitige Besitznahme der Gabe verbietet sich, da die Gefahr besteht, von dem Geist des Gebenden ›besessen‹ zu werden, d.h. unter den Bann einer anderen Person zu geraten, der man durch die Annahme einer Gabe Eintritt in das eigene Leben gewährt hat. In Mauss’ eigenen Worten: »Es ist vollkommen logisch, daß man in einem solchen Ideensystem dem anderen zurückgeben muß, was in Wirklichkeit ein Teil seiner Natur und Substanz ist; denn etwas von jemand annehmen heißt, etwas von seinem geistigen Wesen, von seiner Stelle annehmen. Es aufzubewahren wäre gefährlich und tödlich, und zwar nicht al4

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Die türkische Übersetzung wurde 2007 veröffentlicht. Beim Dreh der Szene war sie noch nicht erschienen. Akın wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass eine türkische Übersetzung mit dem Titel Demircinin Kızı geplant war. Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, in: Ders., Soziologie und Anthropologie, Frankfurt a.M./ Berlin/Wien 1978, Bd. 2, S. 10-144, hier S. 26. Der Verfasser dankt Özkan Ezli für die Diskussion zum Thema der ›Gabe‹. Ebd., S. 26f.

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lein deshalb, weil es unerlaubt ist, sondern weil diese Sache – die nicht nur moralisch, sondern auch physisch und geistig von der anderen Person kommt –, [...] magische und religiöse Macht über den Empfänger hat.«7

In seiner Lektüre von Essai sur le don hat Jacques Derrida das Konzept der Gabe aus seinem ursprünglichen ethnographischen Kontext herausgelöst und philosophisch umgedeutet. Er hebt die Bedeutung hervor, die die Gabe für die Konstitution des Subjekts besitzen kann. Wie Mauss nimmt er an, dass der Gebende mit jeder Gabe auch einen Teil seiner eigenen Identität preisgibt. Der Empfangende nehme eine andere Identität an, wenn »man etwas, was man ist, überträgt oder dem anderen gibt, der dieses nimmt – oder wird.«8 Hinsichtlich des performativen Prozesses der Identitätsbildung – im Sinne eines ›Ich bin, was ich gebe‹ – kehrt Derrida die Perspektive um, indem er im Gegensatz zu Mauss betont, dass nicht das Subjekt die Identität einer Gabe bestimmt, sondern, umgekehrt, die Gabe die Identität des Gebenden: ›Ich gebe, also bin ich.‹ Die Subjekte einschließlich ihrer Beziehungen seien das Produkt des Gabentausches, in dem sie sich erst herausbilden können: »Vielmehr sind Subjekt und Objekt stillgestellte Effekte der Gabe: Gabenstillstände.«9 Ausgehend von diesen Theorien der Gabe wird hier eine Perspektive vorgeschlagen, die die Dinge in AUF DER ANDEREN SEITE in den Vordergrund stellt und somit die Handlung nicht auf der Grundlage der Figurenkonstellationen rekonstruiert, sondern anhand der Dinge, durch die den Figuren ihre Schicksale zugeschrieben werden. Die Gabe wird im Film lokalisiert. Es handelt sich in der Regel um ihren Herkunftsort, wo sie mit dem Gebenden noch eine ungeschiedene Einheit bildet. Diese Räume können daher nicht neutral sein. Es handelt sich um Räume der Intimität, in denen sich Biographien formen. Gleichzeitig sind sie keinesfalls isolierte Inseln, in denen nur der Takt einer inneren Zeit schlägt. Es wird nun zu zeigen sein, wie Biographie und Geschichte, Lebens- und Weltzeit sich in ihnen kreuzen. Diese Orte sind immer auch historische Schauplätze, in die die Geschichte in den Schauplatz der Filmhandlung einwandert. Buch – Nejat – Hamburg (Deutschland): Bei dem bereits erwähnten Buch, das Ali von seinem Sohn erhält, handelt es sich um die türkische Übersetzung von Selim Özdoans Die Tochter des Schmieds. Der deutsch-türkische Germanistikprofessor Nejat gibt seinem Vater damit einen indirekten Hinweis auf ihre eigene Migrationsgeschichte. Der im Jahre 2005 veröffentlichte Roman des »Kölner Schriftstellers« Özdoan erzählt die in den 1950er und 1960er Jahren handelnde Geschichte Güls. Gül, die nach dem frühen Tod ihrer Mut7 8 9

Ebd. Derrida, Jacques: Falschgeld. Zeit geben I, München 1993, S. 68f. Ebd., S. 37. 139

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ter jung heiratet, wandert mit ihrem Ehemann nach Deutschland aus.10 Ali gehört wie die Romanfigur Gül der ersten Generation türkischer Einwanderer an; wie sie verlor Nejat seine Mutter früh, und zwar im Alter von sechs Monaten. Im Film wird Nejat als ein homme de lettre vorgestellt. Seine Verbindung mit dem Buch ist nicht nur seiner Profession als Literaturwissenschaftler geschuldet, sondern einer im Film offen zutage tretenden Neigung zum Eskapismus. Letztere offenbart sich in vielen Szenen. Diese Weltflucht, die in einer Weltfremdheit fußt, bestimmt seinen Lebensrhythmus. Oft sieht ihn der Zuschauer alleine: im Auto durch die Landschaften der Schwarzmeerküste fahrend oder im Pendelzug zwischen Bremen und Hamburg. Oder aber er wird inmitten von Büchern gefilmt, etwa in seiner Wohnung, wo sie sich in den Regalreihen stapeln. Die melancholische Stimmung um diese Figur lässt sie weder unnahbar noch mysteriös erscheinen, aber trotzdem wirkt sie auf eine seltsame Weise stets abwesend und distanziert. Der Gegensatz von Bücherwelt und Landschaft lädt zu einer weiteren Deutung ein: Deutschland, das ist die trockene Bücherwelt, das zurückgehaltene Leben; die Türkei dagegen, das ist die lebendige Seelenlandschaft, die einen Sog von Bildern und Bewegungen hervorruft. Diese beiden Seiten, das Leben und die Bücher, die jeweils als ›deutsch‹ und ›türkisch‹ codiert sind, befinden sich lange Zeit in einem Zwiespalt zueinander. Es ist daher kein Zufall, dass Nejat erst als Besitzer einer deutsch-türkischen Buchhandlung in Istanbul eine Perspektive für sein Leben findet. Auf diese Weise kann er die beiden Seiten seiner Existenz miteinander versöhnen.11

10 Die Tochter des Schmieds taucht an mehreren Stellen des Films auf. Im Abspann steht die Leseempfehlung des Regisseurs, womit erneut auf den literarischen Charakter des Films hingewiesen wird. 11 Das Buch erscheint noch einmal zu einem späteren Zeitpunkt: Man sieht Ali in Istanbul, der sich auf dem Weg nach Trabzon befindet, wo er nach Verbüßung seiner Haftstrafe und der Abschiebung aus Deutschland seinen Lebensabend verbringen wird. In der Szene hat er gerade die Lektüre des Buches beendet. »Die ganze Welt ist eine Fremde, die wir irgendwann verlassen werden,« heißt es an einer Stelle am Ende des Romans. Darin wird geschildert, wie ein Bekannter ihres Vaters die Romanheldin Gül nach Istanbul bringt, von wo aus sie die Reise nach Deutschland antreten wird. Ebd.: »Auch das geht vorbei, Kleines, weine nicht. Der Herr möge Dich und die deinen wieder zusammenführen. Es ist schwer, in die Fremde zu gehen. […] Es ist ein hartes Los, aber man muß nicht weinen. Wir leben. Dem Herrn seis gedankt, wir leben, wir stehen auf unseren eigenen Füßen. […] Eines Tages könnte einer von uns beiden nicht mehr hier sein, um zu lächeln. Wir werden alle von diesem Ort scheiden, also lächle. Die ganze Welt ist eine Fremde, die wir irgendwann verlassen werden.« Die Tränen, die Ali bei der Lektüre des Romans vergießt, werden durch die Erinnerung an seinen Sohn ausgelöst, zu dem der Kontakt abgebrochen ist. Seine frühere türkische Heimat ist ihm zur Fremde geworden, während er aus Deutschland, 140

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Schuhe – Yeter – Hamburg (Deutschland): Die Schuhe, die Yeter ihrer Tochter Ayten schickt, markieren einen ähnlichen Bruch zwischen Eltern und Kind. Ayten weiß nicht, dass ihre Mutter als Prostituierte arbeitet. Denn mit den Schuhen täuscht ihre Mutter eine falsche Identität als Schuhverkäuferin vor. Im Gegensatz zum Buch tauchen diese Schuhe im Film nicht auf, sondern werden nur in einem Gespräch zwischen Yeter und Nejat erwähnt. Nichtsdestotrotz entfalten sie ihre fatale Wirkung im weiteren Verlauf der Handlung. Als Ayten sich in Hamburg auf die Suche nach ihrer Mutter begibt, liefern die Schuhe den einzigen Hinweis auf ihren möglichen Aufenthaltsort. Mithilfe eines Telefonbuchs ermittelt Ayten die Adressen sämtlicher Schuhläden der Stadt. Die Abwesenheit der Schuhe im Film ist kein Zufall, da sie zu einer Identität gehören, die ebenfalls nicht existiert und daher nicht im Film dargestellt werden kann. Der Schuhladen ist eine Atopie, die auf Aytens Karte nicht verzeichnet sein kann; er ist ebenso imaginär wie Yeters Existenz als Schuhverkäuferin. Wenn es sich bei Buch und Schuhen um Gaben handelt, deren ursprüngliche Funktion ist, eine Verbindung (nexum) herzustellen, so gelingt dies nur zum Teil. Denn sie können das Zerwürfnis nicht verhindern oder geben sogar den Anlass für kommunikative Missverständnisse zwischen Sender und Empfänger, wie im Falle Aytens. Wie unvollständig die Beziehungen sind, zeigt sich an einem weiteren Umstand. Um eine Verbindung aufrechtzuerhalten, ist es notwendig, die Gabe zu erwidern und die Kommunikation am Laufen zu halten, und gerade dies geschieht nicht. Weder Ali noch Ayten haben die Gelegenheit, ihrerseits zu schenken, und das heißt: einen Teil ihres Selbst zu geben und in die Beziehung einzubringen. Ein vergleichbares Problem zeichnet einen anderen wichtigen Gegenstand aus, der zwar keine Gabe im engeren Sinne ist, aber nichtsdestotrotz einer Person vertrauensvoll mitgegeben wird und über eine identifikatorische Funktion verfügt: die Pistole. Pistole – Ayten – Istanbul (Türkei): Die Pistole, die Lotte an die anderen Mitglieder der linksextremistischen Gruppe übergeben soll, gelangte in Istanbul in Aytens Besitz. Auf einer Demonstration gegen die türkische Regierung wird ein verdeckter Ermittler in Zivil enttarnt, der von den Protestanten angegriffen wird. Im Handgemenge verliert der Polizist seine Waffe, mit der Ayten vom Schauplatz des Geschehens flüchtet, um sie schließlich auf dem Dach einer Istanbuler Wohnung zu verstecken. Aytens Aggressivität besitzt eine traumatische Vorgeschichte. Das Familienleben der Öztürks wird während des Pogroms in Mara im Dezember des Jahres 1978 zerstört.12 Zu den Towo sich vermutlich der größte Teil seines früheren Familienlebens abspielte, verbannt wurde. 12 Ultranationalistische Gruppierungen begannen am 22. Dezember 1978 das Massaker an der alevitischen Stadtbevölkerung. 141

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desopfern unter der alevitischen Bevölkerung gehört auch Aytens Vater. Yeter Öztürk flieht nach Deutschland und lässt ihre Tochter zurück, die zum Zeitpunkt des Pogroms acht Jahre alt ist. Während ihres Studiums schließt sich Ayten einer linksextremistischen Gruppe an, die vom türkischen Staat verfolgt wird, und entwickelt sich zu einer extremistischen Globalisierungskritikerin – trotz der Schuhe, die ihr aus dem wohlhabenden Deutschland zugeschickt werden. Wenn man, mit Mauss gesprochen, annehmen darf, dass eine Gabe von dem Geist des Gebenden beseelt ist, so wohnen der Pistole die Hassgefühle Aytens inne. Als sie Lotte ihr Geheimnis anvertraut und ihre Freundin die Waffe aus dem Versteck holt, nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Unfreiwillig und ahnungslos wird Lotte zu einem Akteur in einer fremden Geschichte. Aber man wird nicht ungestraft Teil einer anderen Erzählung. Die Ereignisse in Mara, die die zerstörerische Saat von Gewalt und Lüge in die Familie der Öztürks pflanzte, bekommt Lotte auf fatale Weise zu spüren. Das historische Trauma verdichtet sich in der Waffe, die in die Hände der zornigen Tochter gelangt, die insgeheim ihren Vater rächen will. Wenn man, wiederum Mauss’ Theorie folgend, davon ausgehen kann, dass der Empfänger die Gabe retournieren muss, weil er sonst von ihrem Geist bzw. dem des Senders besessen wird, so erklärt sich daraus die Fluchwirkung der Waffe, die Lotte mit tragischer Härte trifft. Dem Hass, der ursprünglich dem Feind gilt, fällt eine Unschuldige zum Opfer. Will man die Aufgabe der Gabe medientheoretisch bestimmen, so ließen sich drei Funktionen unterscheiden: Als topologisches Medium bringt sie einen Raum hervor, in dem Gabe und Gebender noch eine ungeschiedene Einheit bilden; als ein biographisches Medium fungiert es als ein symbolischer Repräsentant für ein persönlich-historisches Schicksal; als ein soziales Medium verbindet es die Personen miteinander und stiftet damit eine gemeinsame Geschichte bzw. eine globale Schicksalsgemeinschaft.13

13 Die Gaben sind im buchstäblichen Sinne Medien, d.h. sie bewegen sich in der ›Mitte‹ zwischen zwei Punkten, zwischen Sender und Empfänger. Als erzählende Dinge wandern sie jedoch nicht durch bereits vorzufindende Räume, sondern sie sind es, die die diegetische Welt durch ihre Präsenz kreieren. Sie erschaffen einen Chronotopos, d.h. Raum und Zeit werden zu einem Narrativ, durch das sich eine menschliche Bindung ereignen kann. Vgl. zu dem Verständnis des Mediums als Boten zuletzt: Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt/M. 2008. Vgl. zum Chronotopos: Bachtin, Michael M.: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt/M. 1989. 142

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3 . Di e S o r g e d e s A n d e r e n . Zur Ethik der Globalisierung Die Pistole unterscheidet sich von Buch und Schuhen nicht nur hinsichtlich ihrer thanatologischen Funktion als ein Instrument des Todes, wohingegen die beiden anderen Gegenstände ›wahre‹ Gaben sind, die aus einem Gefühl der Liebe entspringen. Sie ist auch das einzige Objekt, das außerhalb der Familie zirkuliert: der Polizist, Ayten, Lotte. Dies verdient insofern, hervorgehoben zu werden, als Gaben für gewöhnlich familiäre Objekte sind.14 Im nicht-familiären Charakter dieser Gabe drückt sich im Film die Globalität des Gabenaustausches aus. Die Pistole verbindet unterschiedliche Kulturund Gesellschaftskreise miteinander. Nicht nur in kultureller, sondern auch in sozialer Hinsicht treten zwei unterschiedliche Personenkreise in Kontakt zueinander. Auf der einen Seite das deutsche Bürgertum und auf der anderen Seite eine Arbeiterfamilie, deren Mitglieder durch die historischen Ereignisse traumatisiert wurden. Interkulturelle Gaben stehen für das Verständnis einer offenen Gesellschaft, welche sich durch »Durchlässigkeit, Verschiedenheit und Vielfalt der Kulturen« auszeichnet, wie Iris Därmann pointiert schreibt: »Gaben sind ohne Frage ›Reise‹- und Transmissionsphänomene, die nicht auf Dauer an einem festen Ort residieren, sondern zur Weitergabe bestimmt sind.«15 An dieser Stelle soll nun der Vorschlag unterbreitet werden, die Pistole als ein Symbol für die negativen Aspekte der Globalisierung zu interpretieren. Wenn eine Folge der Globalisierung ist, dass selbst alltägliche Ereignisse nicht mehr lokal beschränkt sind, sondern sich auf einer globalen Achse abspielen, wo sie ihre Komplexität entfalten16, dann betrifft diese Globalität nicht nur klimatische Veränderungen oder die Marktzirkulation von Waren und Arbeitskräften, sondern auch Biographien, die sich leichter mit anderen Lebenserzählungen vermischen können. Lotte ist eine Figur der Globalisierung par excellence, denn mühelos überschreitet sie Grenzen. Ein nahezu unerschöpflicher Vorrat an Vertrauen ermöglicht es ihr, schnell in einer anderen Kultur aufzugehen und die eigene angestammte Identität von sich zu streifen. Als sie Ayten bei sich zuhause aufnimmt, beobachtet ihre Mutter (Hanna Schygulla) ihre Handlungen mit Misstrauen. Dass enthusiastische Großzügigkeit ohne Maß, die sich bei ihrer Tochter zum heldenmütigen Aktionismus steigert, blind machen kann, wird von ihr klar erkannt. Doch verhallen ihre Warnungen ungehört im Sturm jugendlicher 14 Hyde, Lewis: The Gift. Imagination and the Erotic Property of Life, New York 1979, S. 69. 15 Därmann, Iris: Theorien der Gabe zur Einführung, Hamburg 2010, S. 27. 16 Vgl. zur Komplexität globaler Prozesse: Urry, John: Global Complexity, Cambridge 2003. 143

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Weltveränderungserregung. Mehr noch: Aus den ermahnenden Worten ihrer Mutter hört Lotte die Stimme der ›German Angst‹ heraus. Entgegen der Skepsis ihrer Mutter will sie Ayten mit allen Mitteln unterstützen. Deutsche zu sein, erscheint ihr in der heutigen Zeit als provinziell und damit als überholt, wie aus dem folgenden Streitgespräch ersichtlich wird. Susanne Staub: »Ist ja sehr großzügig, einfach so ’ne fremde Frau bei uns wohnen zu lassen.« Lotte: »Wir müssen der helfen, Mama!« Susanne Staub: »Du kennst sie doch gar nicht.« Lotte: »Das ist deutsch, Mama, genau das! Die ist illegal hier! Sie wird verfolgt in ihrem Land!«

Im Handlungsstrang ›Ayten-Lotte‹ werden die Illusionen der Globalisierungsversprechen deutlich gemacht. Dazu gehört unter anderem die Hoffnung, dass im Zuge des Globalisierungsprozesses eine internationale Angleichung in Menschenrechtsfragen erfolgt. In diesem Sinne wird die Ablehnung von Aytens Asylantrag unter anderem damit begründet, das angesichts des möglichen baldigen Beitritts der Türkei in die Europäische Union keine Verfolgungen mehr zu befürchten seien. [Richterin:] »Im Zuge des beabsichtigten Beitritts der Türkei zur Europäischen Union kann auch nicht mehr davon ausgegangen werden, dass Sie [d.i. Ayten, K. C.] bei der Rückreise in die Türkei nach einem erfolglosen Asylverfahren mit körperlichen Misshandlungen, also mit Folter zu rechnen haben.«

Der Gegensatz zwischen einer affirmativen und einer kritischen Haltung gegenüber der Globalisierung spitzt sich auf der Figurenebene in dem Gegensatzpaar von Susanne Staub und Ayten zu. Zwei gänzlich unterschiedliche Menschen stehen sich hier gegenüber: Die linksextremistische Ayten und die bürgerliche Susanne, die zudem eine Faszination für das ›alte Europa‹ besitzt. In einer Szene, die nicht in den Film aufgenommen wurde und im Drehbuch nachzulesen ist, erzählt sie, wie sie vor ihrer Pensionierung als Restauratorin arbeitete. Eine, wie sie sagt, sehr europäische Angelegenheit: [Susanne Staub:] »I worked for the state to protect old buildings … Denkmalschutz we say. This something very European, the protection of architecture.«17

17 Akın, Auf der anderen Seite (Drehbuch), S. 60. Ihr früherer Beruf wird im Film nicht genannt. Ihr Interesse an alten Gebäuden deutet sich lediglich in Istanbul an, als sie gegenüber Nejat ihr Bedauern über den Zerfall der Fassade des Nachbarhauses artikuliert. 144

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Revolution versus Denkmalschutz – diese Ideale stoßen in den beiden Figuren aufeinander. So nimmt es nicht wunder, dass ihre erste Begegnung in einem Streit endet. Ausgelöst wird er, als sich Susanne Staub nach den politischen Aktivitäten ihres Gastes erkundigt. Für Ayten ist Globalisierung die Fortführung der Kolonisierung mit anderen Mitteln. Die Europäische Union ist ein Beispiel par excellence für diesen Vorgang. »It’s [d.i. die EU, K.C.] globalization, and we are fighting against it!« Als Susanne die Hoffnung äußert, dass sich die Lage in der Türkei mit der Aufnahme in die Europäische Union verbessern könnte, löst dies einen Wutanfall bei Ayten aus, in dem das Gespräch sein abruptes Ende findet: »Fuck the European Union!« Die Widersprüche der beiden Figuren – Susanne Staub spricht sich zwar für die Globalisierung aus, doch möchte sie ihre Familie vor fremden Einflüssen abschotten; Ayten kämpft gegen die Globalisierung an und übersieht, dass sie von der Gastfreundschaft Lottes, die das humanistische Prinzip der Globalisierung verinnerlicht hat, profitiert – heben sich am Ende auf. Nach Lottes Tod entsagt die geläuterte Ayten der Gewalt und verlässt die linksextremistische Vereinigung. Aus einer Person, die, wie es Susanne Staub formuliert, »gerne kämpft« (»likes to fight«), ist ein Mensch geworden, der gelernt hat, Hilfe anzunehmen. Auch Susannes Haltung ändert sich. Sie geht auf Ayten zu und möchte für sie sorgen. Die Idee der Charitas, das ist die Bereitschaft, der am Tode ihrer Tochter mitschuldigen Fremden zu helfen und sie bei sich aufzunehmen, stellt eine reine Gabe dar. Sie ist deshalb rein, weil es sich um eine Gabe an jemanden handelt, der nicht zur Familie gehört und mit der keine Verpflichtungen verbunden sind. Eine neue Bindung ist zwischen den einstigen Konkurrenten und Vertretern unterschiedlicher Lebensnarrative und politischer Auffassungen geworden. Ayten nimmt den Platz Lottes ein, Susanne Staub den von Yeter Öztürk. Als sie beide den Buchladen verlassen, um sich auf den Weg nach Çukurcuma zu machen, schwenkt die Kamera auf die leere Stelle an der Pinnwand, wo vorher das Porträt Yeter Öztürks hing. In einem Interview mit Katja Nicodemus verwendet Hanna Schygulla häufig das Wort ›Gebende‹18 in Bezug auf ihre Rolle: »Diese Frau ist am Anfang auch nicht toller als alle anderen. […] Dann macht sie einen Riesenschritt, springt über den eigenen Schatten und ist in der Lage, einer anderen zu geben, was sie braucht.«19

AUF DER ANDEREN SEITE ist kein Film, der Partei für oder gegen die Globalisierung ergreift. Vielmehr bilanziert er und nimmt eine Diagnose der gegenwärtigen Verhältnisse vor. Der ethische Gestus des Films, der die Charaktere 18 Nicodemus, Katja: Interview mit Hanna Schygulla, in: ›Die Traumfrau‹, in: Zeit-Magazin, Nr. 7, vom 11.2.2010, S. 10-14, hier S. 14. 19 Ebd. 145

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ungeachtet ihrer Mängel sympathisch wirken lässt, verweigert sich jeder Programmatik, sei sie nun politischer oder ökonomischer Art. Die Ethik des Films ist insofern eine existentialistische, als er mit einem Plädoyer für das endet, was sich als eine kulturübergreifende Sorge des Anderen auffassen ließe.20 Der Tod Lottes markiert nicht das Ende, sondern den Beginn einer neuen Bindung.

4. Kontingenzbewältigung. Akıns Kino der Globalisierung AUF DER ANDEREN SEITE stellt die Globalisierung und ihre Folgen mit filmischen Mitteln dar. Die Gaben und Geschichten zirkulieren zwischen den Menschen wie die Waren auf dem Weltmarkt.21 Sich ständig in Bewegung befindend, reisen sie entweder von Deutschland in die Türkei (Buch, Schuhe) oder verbleiben in einer Stadt (Pistole). Jede Erzählung spielt mal auf der einen, mal auf der anderen Seite des Bosporus. Im Laufe der Handlung wechseln sie zwischen Deutschland und der Türkei: Die türkische Übersetzung von Die Tochter des Schmieds wird zuerst in einer Wohnung in Bremen und später in Istanbul gezeigt; die Schuhe, die in die Türkei geschickt werden, täuschen das erfolgreiche Leben in Deutschland vor; die in Hamburg zuletzt zunehmenden Spannungen zwischen Susanne Staub und ihrer Tochter lösen sich in Istanbul auf; die Waffe wechselt von türkischen in deutsche Hände und wird schließlich zum zentralen Indiz in einer deutsch-türkischen Untersuchung, die den zum Politikum avancierten Tod Lottes aufklären soll. Buch, Schuhe und Pistole stehen für unterschiedliche Formen der globalen Vernetzung: für den Austausch von Bildung und Wissen (›Buch‹), von kapitalistischen Waren (›Schuhe‹) und von (militärischen) Waffen (›Pistole‹).22 Globalisierung ist insofern ein ambivalentes Phänomen, als sie einerseits mit dem Versprechen auftritt, eine große Erzählung, d.h. ein gemeinsames Narrativ für eine vereinte Menschheit anzubieten, andererseits aber diese 20 Vgl. zur Diskussion bezüglich einer ethischen Haltung mit globaler Geltung: Chow, Rey: »›Menschlich‹ im Zeitalter der Wegwerfmenschen. Der ambivalente Import von Verwandtschaft und Erziehung in Li Yangs ›Blind Shaft‹«, in: Gabriele Dietze/Claudia Brunner/Edith Wenzel (Hg.), Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht, Bielefeld 2009, S. 295-308. 21 Narrativ operieren die Objekte als Boten zwischen den Personen und ›erzählen‹ auf diese Weise von der Beziehung zwischen Sender und Empfänger. Auf der Ebene des Diskurses (discours) fungieren die Gegenstände als Mittler zwischen den metonymisch weitergegebenen und angereicherten biographischen und historischen Einzelerzählungen. 22 Diesen Hinweis verdanke ich Ingrid Kleeberg. 146

ERZÄHLTE GLOBALISIERUNG

Hoffnung im Widerspruch zu einer Wirklichkeit liegt, die aus inkommensurablen lokalen Einzelgeschichten besteht, die von sozialen Ungleichheiten und kulturellen Unterschieden handeln.23 Die Begegnungen und Trennungen darzustellen, um zu zeigen, was Menschen zusammenhält und wie sie sich entfremden, und welche unverhofften Wandel diese Beziehungen durchlaufen können, ist das Hauptanliegen des Films. Mit Michel Foucault ließe sich sagen, dass die Globalisierung durch die Inszenierung der Dinge und ihres Austausches zu einem Ereignis gemacht wird (événementalisation). »Das Zum-Ereignis-Machen besteht […] darin, die Zusammenhänge, die Zusammentreffen, Unterstützungen, Blockaden, Kraftspiele, Strategien u.s.w. wiederzufinden, die zu einem bestimmten Zeitpunkt dasjenige formieren, das ausschließlich als Evidenz, Universalität oder Notwendigkeit fungieren sollte.«24

Die menschlichen Beziehungen, genauer: ihre Erzählungen, in denen Familien- und Nationengeschichte zusammen vorliegen, haben Auswirkungen von globalem Ausmaße. Ihr »Polymorphismus«25 der Elemente, Beziehungen und Referenzbereiche macht sie zu kontingenten und diskontinuierlichen Ereignissen. Die ästhetische Antwort auf die Steigerung der Kontingenz in einer globalen Welt liefert aber nicht der Film, sondern das Kino. Zwischen Film und Kino besteht bekanntlich ein wichtiger Unterschied, da die Erfahrung innerhalb der diegetischen Welt des Films und die cineastische Erfahrung des Zuschauers außerhalb von ihr weit auseinander gehen können. AUF DER ANDEREN SEITE verfügt über eine streng komponierte Handlung, in der alles konstruiert und nichts dem Zufall überlassen wird. Die Kontingenz der Globalisierung wird in der diegetischen Welt konstruiert. In der extradiegetischen Welt des Kinos wird die Kontingenz dagegen nicht nur eingefangen, sondern auch gebändigt. Für den Zuschauer gilt, dass in der Kunst die Kontingenz der Globalisierung gezähmt und die Einheit der Differenzen sichtbar gemacht werden können. 23 Systemtheoretisch ausgedrückt liegt das Paradox der Globalisierung darin, dass die Kommunikationsmöglichkeiten autopoetisch zunehmen, damit aber auch der Grad an Kontingenz, welche jede Kommunikation auszeichnet. Mit dem Zuwachs an Kommunikationsmöglichkeiten steigt auch das Risiko des Scheiterns von Kommunikation. Vgl. zur Autopoesis von Globalisierungsprozessen: Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1999, bes. Bd. 2, S. 806-812. 24 Foucault, Michel: »Zum Ereignis machen«, in: Ders., Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode, hg. v. Daniel Defert und François Ewald, übers. v. Hermann Kocyba, Frankfurt/M. 2009, S. 252-254, hier S. 252. 25 Ebd. 147

KYUNG-HO CHA

Die Unübersichtlichkeit der Lebensläufe der Figuren in der diegetischen Welt ist keine für den Zuschauer in der extradiegetischen Welt. Er bleibt außerhalb des Geschehens und sieht deshalb mehr als die Figuren. Während der Zuschauer in Akıns Kino der Globalisierung eine allwissende Position einnimmt, bleiben die Ereignisse für die Protagonisten auf der Handlungsebene undurchschaubar und unberechenbar. Und genau darin, in der Unwissenheit der Helden, besteht die Tragik des schicksalhaften Geschehens. Chaotisch und tragisch ist das Leben, gelassen und geordnet die Kunst. Das Kino avanciert damit zum universalen Medium und zur letzten Möglichkeit, eine große, aus mehreren Mikrogeschichten bestehende Erzählung in Zeiten der Globalisierung zu stiften. Akıns Kino ist der Ort, wo die Menschen unterschiedlicher Herkunft dieselbe Geschichte miteinander teilen können. In den Worten Kusturicas: »›Room and a person, that’s cinema. […] Yes, my friend, this is a example for cinema.‹«26

Literatur Akın, Fatih: Auf der anderen Seite. Drehbuch, hg. v. Fred Breinersdorfer und Dorothee Schön, Berlin 2008. Bachtin, Michael M.: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt/M. 1989. Chow, Rey: »›Menschlich‹ im Zeitalter der Wegwerfmenschen. Der ambivalente Import von Verwandtschaft und Erziehung in Li Yangs ›Blind Shaft‹«, in: Gabriele Dietze/Claudia Brunner/Edith Wenzel (Hg.), Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht, Bielefeld 2009, S. 295-308. Derrida, Jacques: Falschgeld. Zeit geben I, München 1993. Foucault, Michel: »Zum Ereignis machen«, in: Ders., Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode, hg. v. Daniel Defert, François Ewald und Jacques Lagrange, übers. v. Hermann Kocyba, Frankfurt/M. 2009, S. 252254. Hyde, Lewis: The Gift. Imagination and the Erotic Property of Life, New York 1979. Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt/M. 2008. Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, in: Ders., Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, Frankfurt/M./ Berlin/Wien 1978, S. 10-144. 26 Interview mit Fatih Akın, auf: AUF DER ANDEREN SEITE (D/TR 2007, R: Fatih Akın), DVD: Pandora Film 2008. 148

ERZÄHLTE GLOBALISIERUNG

Nicodemus, Katja: Interview mit Hanna Schygulla, in: ›Die Traumfrau‹, in: Zeit-Magazin Nr. 7 vom 11.2.2010, S. 10-14. Özdoan, Selim: Die Tochter des Schmieds, Berlin 2005. Urry, John: Global Complexity, Cambridge 2003.

Filme AUF DER ANDEREN SEITE (D/TR 2007, R: Fatih Akın), DVD: Pandora Film 2008.

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Von der Form zu m M ateri al. Fatih Akın s dopp elte s Sp iel mit dem G enre kino in G E G E N D I E W A N D und A U F DE R A N D E R E N S E I T E STEFAN VOLK

Als Fatih Akın in seinem zweiten Spielfilm IM JULI (1999) seine Protagonisten zum ersten Mal auf die Reise von Hamburg nach Istanbul schickte, tat er dies noch im Stile eines wohl kalkulierenden Reiseunternehmers. Sein ungleiches Liebespaar, der verklemmte Referendar Daniel und die flippige Schmuckverkäuferin Juli, schaute durch Touristenaugen auf die Stadt am Bosporus. Schon die Starbesetzung mit Moritz Bleibtreu und Christiane Paul ließ erahnen, dass sich hier kein innerseelischer Konflikt Bahn brach, sondern vor dem kulturübergreifenden Setting lediglich auf liebenswerte, humorvolle und durchaus intelligente Weise ein lukratives Genre bedient wurde. Die Gegensätze zwischen dem biederen, akkuraten Daniel und der spontanen, chaotischen Juli wurden überdeutlich zugespitzt und spiegelten sich entsprechend vorhersehbar im urbanen Symbolpaar Hamburg-Istanbul. »Viele werden sagen«, unkte Akın damals schon vor den Dreharbeiten, »was macht der jetzt für’n trivialen Schwachsinn, reine Kunstfiguren und so weiter.«1 Eine Kritik, die trotz Akıns präventiver Vorwegnahme durchaus berechtigt bliebe, wollte man in IM JULI mehr sehen als eine harmlose, lebensfrohe Liebeskomödie. Ganz anders verläuft dagegen Akıns zweiter filmischer Hamburg-Istanbul-Trip im Berlinale-Gewinner GEGEN DIE WAND (2004). Die beiden Städte verwandeln sich darin von metaphorischen zu beinah naturalistischen Schauplätzen einer authentischeren und entsprechend undurchsichtigeren Dramaturgie. In der Scheinehe zwischen Cahit, dem 40-jährigen Gelegenheitsarbeiter mit Belmondo-Charme und Schimanski-Attitüde und der jungen Sibel, die durch die ›getürkte‹ Hochzeit der Enge ihres türkischen Elternhauses entflie1

Zitiert nach: Koll, Horst Peter: »Im Juli«, Filmrezension, in: film-dienst 17 (2000). 151

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hen möchte, mangelt es zwar gewiss nicht an Reibungspunkten. Anders aber als Daniel und Juli personifizieren Cahit und Sibel keine entgegen gesetzten Lebensprinzipien. Vielmehr treten sie als zwar extreme, aber psychologisch weitgehend stimmige und vor allem vielschichtige Charaktere einander gegenüber. Dennoch verzichtet Akın auch bei diesem aus Not und Zufall geborenen – vielleicht also schicksalhaft miteinander verbundenen – Ehepaar nicht auf genretypische Kontrastierungen. Die Vorher-Nachher-Bilder, in denen der Drehbuchautor und Regisseur Cahits Wohnung einmal als zugemüllte Absteige und kurz darauf als mustergültig ausgestattete, sorgsam dekorierte Altstadtperle mit lachsfarbenem Teppichboden ausleuchtet, markieren den Übergang vom Junggesellen- zum Eheleben derart plakativ, dass man sich an die innenarchitektonische Rache erinnert fühlen mag, die Doris Day in BETTGEFLÜSTER (1959) an ihrem Lieblingsfeind Rock Hudson übt, nachdem dieser sie beauftragt hat, seine Bleibe für ihn neu einzurichten. Immerhin war es ja Sibel, die Cahits Wohnung aufräumen und neu möblieren ließ. Tatsächlich scheinen hier also Gegensätze, wie man sie aus romantischen Hollywoodkomödien kennt, aufeinander zu prallen: männlich-verwilderte und weiblichhausmütterliche Lebensauffassungen. Beim Anblick der sich türmenden Geschirrberge blickte Sibel zunächst noch sichtlich erschüttert drein. Jetzt ist es Cahit, der die Metamorphose seiner Wohnstatt ziemlich angepisst mit den Worten kommentiert: »Ist ja voll der krasse Tussenalarm hier, ist ja unglaublich.« Während solche Polarisierungen im Genrekino, dem Akıns erste drei Spielfilme – der Krimi KURZ UND SCHMERZLOS (1998), die Komödie IM JULI und die Familiensaga SOLINO (2002), in deren Mittelpunkt zwei italienische Einwanderergenerationen stehen – noch verhaftet waren, ein narratives Grundmuster bilden, das die Erzählform prägt, bleiben sie in GEGEN DIE WAND kurze Episoden, die das Liebesdrama mit tragikomischen Elementen unterfüttern. Treiben die Figurenkontraste in romantischen Komödien wie IM JULI einen trivial-dialektischen Erzählmotor an, der entlang des Dreiaktschemas von Exposition, Konflikt und Auflösung auf ein Happy End zusteuert, lässt sich GEGEN DIE WAND mit solch einem narrativen Raster nicht adäquat erfassen. Zu ähnlich sind sich Cahit und Sibel trotz aller Unterschiede. Cahits Verbitterung und Sibels manische Lebenslust erscheinen bisweilen als zwei Seiten derselben Medaille. Zumal ihre Stimmungen auch unversehens ins Gegenteil umschlagen können. Etwa dann, wenn Sibel im einen Moment noch davon spricht, dass sie leben und ficken möchte, und zwar nicht nur mit einem, und im nächsten Augenblick eine Flasche zerschlägt, um sich die Pulsadern aufzuschneiden, nur weil Cahit sich weigert, sie zu heiraten. Oder wenn der lebensmüde Cahit, von der Liebe überwältigt und überfordert, zwei Gläser zerschlägt und mit blutüberströmten Armen ekstatisch zu tanzen beginnt. 152

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Bis aufs Blut reizen die beiden ihre Gefühlsskala aus; in jede Richtung. Darin gleichen sie einander. Ihre Individualität, die sich vor allem aus dem kraftvollen, ungeschliffenen Spiel von Birol Ünel und der erfrischenden, auch ein wenig dilettantischen Darbietung Sibel Kekillis speist, büßen sie dadurch nicht ein. Dass Kekilli ebenso wie Ünel und Akın umgehend mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet wurde, verdeutlicht, dass Akın in GEGEN DIE WAND nicht zuletzt als Schauspielregisseur überzeugt, der seinen Darstellern den Freiraum lässt, ihre Filmfiguren mit ihrer je eigenen Persönlichkeit zu prägen, die Charaktere in ihre eigene Aura zu hüllen, ohne sich vom Drehbuch fest vorgeschriebenen Rollen anpassen zu müssen. Es ist das intensive, körperliche und dabei recht authentisch wirkende Spiel, das, in Verbindung mit Akıns ungeduldiger, rotziger, handwerklich gleichwohl routinierter Inszenierung, GEGEN DIE WAND seine außergewöhnliche atmosphärische Wucht verleiht. Die Präsenz auf der Leinwand korrespondiert mit der in der Diegese gelebten Radikalität, die Sibel und Cahit zu einer amour fou verkettet, die außer Kontrolle geraten muss. Auch das stellt eine narrative Konvention dar, wenngleich eine, die eher der Nouvelle Vague als dem klassischen Genrekino geschuldet ist. Es zeichnet Akıns eigenwilligen Liebesfilm aus, dass er sich auch hiervon letztlich nicht vereinnahmen lässt, und seine Helden ganz am Ende eben doch nicht gegen die Wand fahren. Eine Katastrophe erspart er seinem Publikum am Schluss ebenso wie er ihm – anders als noch in IM JULI – kein genretypisches Happy End mehr gönnt. Aus Eifersucht erschlägt Cahit in der Kneipe einen ehemaligen Bettgefährten Sibels. Genau in dem Moment tritt Sibel lächelnd und mit einem Jahrmarktherz, auf dem ›Ich liebe Dich‹ steht, durch die Tür: ein klassischer Genreeffekt, der für tragische Fallhöhe sorgt. Cahit, für den das Herz gedacht war, landet im Gefängnis. Sibel schneidet sich einmal mehr die Pulsadern auf. Als Cahit Jahre später Sibel in Istanbul besucht, hat sie ein neues Leben begonnen mit Mann und Tochter und einer Brille auf der Nase, die signalisiert, wie erfolgreich sie sich eingegliedert hat in ein gemäßigteres, kontrollierteres Dasein. Mit dieser vielsagenden äußerlichen Verwandlung Sibels kehrt Akın einen oft verwendeten Genretopos um: die Metamorphose von der ›grauen Maus‹ zur ›schönen Prinzessin‹, die ihren durchaus erotischen Ausdruck gemeinhin darin findet, dass das Mädchen sich, von der Brille befreit, als verführerische Frau entpuppt. Bei Sibel funktioniert das anders herum: die Brille bändigt sie, verwandelt sie allerdings nicht in ein naives Mädchen, sondern in eine selbstbewusste ›Geschäftsfrau‹, die durchaus in der Lage ist, für eine letzte gemeinsame Nacht mit Cahit, den sie noch immer liebt, ihre Augengläser noch einmal abzulegen. Hinterher aber setzt Sibel die Brille wieder auf und Cahit wartet vergeblich darauf, dass sie mit ihm in den Bus steigt, der ihn in seine Geburtsstadt Mersin bringen soll. Schließlich fährt er alleine davon; ein bisschen wie der ›lonesome cowboy‹. 153

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Auf den ersten Blick ganz ähnlich endet auch AUF DER ANDEREN SEITE (2007), die dritte Hamburg-Istanbul-Reise des Kinoregisseurs Fatih Akın. Wie Cahit ist auch Nejat (Baki Davrak) unterwegs zur Heimat seiner Vorväter. Und wie Cahit wartet am Ende auch Nejat. Auf seinen Vater, der draußen auf dem Meer ist. Diesmal jedoch lässt Akın offen, ob das Warten umsonst sein wird oder Nejats Vater Ali (Tuncel Kurtiz), der lange Zeit nur wie ein Phantom durch Nejats Gedanken und den Film geisterte, nun doch wieder in dessen Leben zurückkehrt. Akın setzt die Wiedervereinigung von Vater und Sohn zwar nicht ins Bild, aber den cineastischen Boden dafür hat er bereitet. Wenn Nejat am Schluss, in Alis geradezu arkadischer Heimat angelangt, in einer idyllischen Bucht auf das Meer hinausblickt, wo er seinen Vater auf einem Fischerboot wähnt, ist AUF DER ANDEREN SEITE nur noch einen Schnitt vom Happy End entfernt. Auch im Erzählton rückt Akın mit AUF DER ANDEREN SEITE wieder ein Stückchen näher ans Genrekino. Die Verve, mit der er GEGEN DIE WAND so eindringlich, mitreißend, bisweilen aber auch allzu zynisch, allzu brachial inszenierte, weicht nun einem ruhigeren, reiferen, konventionelleren Erzählrhythmus. Die Charaktere fallen weniger laut, weniger grell aus, wirken zurückhaltender, geerdeter, andererseits aber auch wieder etwas stärker typisiert, sind durchschaubarer. Anders als GEGEN DIE WAND lebt AUF DER ANDEREN SEITE denn auch weniger vom Schauspiel als vom Plot, genauer: seiner Montage. Wie Akıns Stammcutter Andrew Bird verriet, hätte aus AUF DER ANDEREN SEITE durchaus auch eine recht gewöhnliche Filmerzählung werden können, hätte Bird die lineareren, genrekonformeren Vorgaben von Akıns Script nicht durch die raffinierte, kunstvolle Weise, in der er im Schnitt die unterschiedlichen Handlungsstränge zu einem komplexen Netz miteinander verwob, durchbrochen. »Das Drehbuch funktionierte auf der Leinwand nicht so gut. Wir haben die Struktur dann neu erfunden«, erläuterte Bird die Genealogie des Plots, der dem fertigen Film nun seinen unverwechselbaren Charakter verleiht. In dieser Form passt AUF DER ANDEREN SEITE in keine Schublade mehr, oszilliert er zwischen Romanze, Road Movie, Polit-, Psychodrama und Kulturstudie. Gerade auch die Art und Weise, in der Akın darin und schon in GEGEN DIE WAND türkische und deutsche Kultur miteinander verknüpft, veranschaulicht den genre-untypischen, unmittelbaren Zugang, den er in diesen beiden Filmen wählt. Ähnlich wie bei der Charakterisierung seiner Protagonisten entfernt sich der Autorenregisseur auch im Bild, das er von der Kulturlandschaft zeichnet, von stereotypen Gegensatzpaaren wie dem geordneten Hamburg und dem quirligen Istanbul, mit denen er in IM JULI noch hantierte. Zwar greift Akın auch in GEGEN DIE WAND und AUF DER ANDEREN SEITE, den ersten beiden Teilen seiner »Liebe, Tod und Teufel«-Trilogie, wiederholt

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kulturelle Klischees und die Topoi einer kulturellen Identitätssuche auf, entkräftet sie aber gleichzeitig durch die Art, in der er sie verwendet. Wesentlich dabei ist, dass die deutsch-türkischen Protagonisten, Sibel, Cahit oder auch Nejat, die im Cultural-Clash-Kino mit den Gegensätzen der Kulturen jonglieren müssten, hier eine Bipolarität gar nicht empfinden. Türkische und deutsche Kultur sind für sie keine nationalen oder geographisch lokalisierbaren Einheiten, zwischen denen man hin und her reisen könnte, sondern sie haben sie, untrennbar miteinander vermengt, immer mit in ihrem seelischen Gepäck. Deshalb kann für Sibel ein Leben in Istanbul gleichzeitig eine Flucht vor einer türkischen Kultur bedeuten, wie ihre Eltern und ihr Bruder sie verstehen. Deshalb kann ihre moderne und selbständige Cousine Selma ihr als Alternative zur (Schein-)Ehe vorschlagen, zu ihr nach Istanbul zu kommen, weil sie dort fernab von familiären Zwängen ein eigenständiges Leben führen könnte. Und deshalb kann auch Nejat von Hamburg, wo er als Germanistikprofessor arbeitet, nach Istanbul ziehen, um dort einen deutschen Buchladen zu eröffnen, ohne dadurch gleich ein anderer zu werden. Natürlich schickt der als Sohn türkischer Eltern in Hamburg aufgewachsene Akın, der sich, wie er selbst sagt, an einem Tag als ›deutscher Türke‹ und am anderen schon wieder als ›türkischstämmiger Deutscher‹ fühlt, Nejat auch auf eine Reise auf den Spuren seines Vaters. Aber ›türkischer‹ lässt er ihn dadurch trotzdem nicht werden. Zu welch absurden Situationen dagegen kulturelles Einheitsdenken führen kann, zeigt sich beispielhaft in jener Szene in GEGEN DIE WAND, in der Cahit um Sibels Hand anhält. Wenn Cahit mit einem Freund, der sich als sein Onkel ausgibt, unsicher auf dem Wohnzimmersofa sitzt, während Sibels Vater schweigend die Stirn in Falten legt, ihr Bruder bohrende Fragen stellt und überall ein Fauxpas lauert, weil Cahit keine Ahnung hat, wie man sich in einer solchen Situation eigentlich benehmen sollte, könnte das beinahe einer klassischen Cultural-Clash-Komödie entnommen sein. Beinahe. Der ganz und gar unperfekte Schwiegersohn Cahit wurde jedoch von Sibel gerade deshalb als Scheingatte ausgewählt, weil er in den Augen ihrer Eltern ein Türke ist, auch wenn Cahit selbst das nicht so empfindet, ja seine türkische Wurzeln eher verleugnet. Die unterschiedlichen Lebenskulturen, die bei Akın hier aufeinanderprallen, lassen sich eben nicht mehr einfach in eine deutsche und eine türkische auseinander dividieren. Und ähnlich wie Akıns Protagonisten Einflüsse unterschiedlicher Kulturkreise auf jeweils individuelle Weise in ihren Persönlichkeiten miteinander verweben, schöpft Akın in GEGEN DIE WAND und AUF DER ANDEREN SEITE aus dem Vorrat unterschiedlicher Genres, ohne sich deshalb einem davon anzuschließen. Das Genrekino fungiert in den beiden Filmen nicht mehr, wie etwa noch in IM JULI, als vorgegebene Passform, in die sich Akıns Filmerzählungen einzufügen haben. Vielmehr dient es dem Regisseur als Erzählhalde, 155

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narratives Material, dessen er sich kreativ bedient, indem er sich aus den unterschiedlichsten Genretöpfen jeweils das herausgreift, was er für seine Filme gerade braucht. Der Bruch mit dem Genre vollzieht sich in GEGEN DIE WAND und AUF DER ANDEREN SEITE daher meist weniger auf der Ebene einzelner Einstellungen oder Szenen als vielmehr entlang des Kontextes, in den sie gestellt werden. Verlagert man den Fokus aber vom Gesamtbild auf dramaturgische Details, zeigen sich auch diese beiden Filme Akıns sehr wohl vom Genrekino beeinflusst. Als Ali, Nejats Vater in AUF DER ANDEREN SEITE, mit Yeter (Nursel Köse), einer Prostituierten, der er ein Monatsgehalt bezahlt, damit sie bei ihm lebt, in Streit gerät, Ali zuschlägt, Yeter fällt; – da weiß der genrekundige Zuschauer, dass Yeter tot sein muss. Wenn eine so unglücklich stürzt, steht sie nicht mehr auf. Und wenn, wie später im Film, irgendwo eine Pistole herumliegt, wird sie – das lehrte Hitchcock schon – irgendwann auch benutzt. Jeder, der schon einmal einen Western gesehen hat, ahnt auch, was als nächstes passieren wird, wenn Cahit in einer der ersten Szenen von GEGEN DIE WAND an der Theke einer Kiez-Kneipe eine Bekannte rüde abblitzen lässt, und dann von einem Fremden angesprochen wird, der, nur ein Stückchen weiter, neben ihm an der Bar sitzt. Die Kamera blickt in einer Naheinstellung seitlich den Tresen entlang. Im Vordergrund sieht man Cahit, wie er Bier aus einer Flasche in sich hineinkippt. Im Hintergrund dreht sich der Andere zu ihm. »Hey du! Hey du Penner ich rede mit dir«, blafft er. »So eine geile Frau und du scheuchst sie raus. Bist du ’n Schwuler oder was?« Cahit schaut nicht zu ihm hinüber, reagiert erst gar nicht. »Anscheinend bist du schwul«, stichelt der Andere. Cahit greift sich währenddessen mit einer Hand einen Bierdeckel, wirbelt ihn in die Luft und fängt ihn wieder auf. Zweimal macht er das, als ließe ihn alles andere kalt. Aber die Zwischenschnitte auf das besorgte Gesicht des Barmanns, der die Szenerie angespannt beobachtet, verraten, dass Ärger in der Luft liegt. Der Fremde hat keine Chance. Behäbig steht Cahit auf, geht zu ihm hinüber, zieht den Barhocker unter ihm weg, und tritt ihm, als er schon am Boden liegt, mit voller Kraft ins Gesicht. Einer der Gäste, die das beobachten, trägt passender Weise sogar einen Cowboyhut. Doch jetzt, auf dem Höhepunkt dieser Saloonszene, bricht Akın mit den Genreregeln. Wenn im klassischen Western der Held den Fremden, der ihn provozierte, vielleicht ebenfalls verprügeln, vielleicht sogar erschießen würde, bliebe er doch stets Herr der Lage; ebenso kaltblütig wie cool. Cahit dagegen gerät außer sich, verliert die Kontrolle. Am Ende schreitet er deshalb nicht triumphierend aus der Kneipe, sondern wird unsanft vor die Tür gesetzt. Auch die Totale, in der man sieht, wie Cahit auf die staubige Straße katapultiert wird, ist eine klassische Westerneinstellung; allerdings eine für Verlierertypen.

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Indem Akın diese beiden gegenläufigen Westernversatzstücke aneinander koppelt, treibt er einmal mehr sein doppeltes Spiel mit dem Genre: Er zitiert es und unterläuft es zugleich. Zudem stellt er sich damit in die Tradition von Film Noir und Nouvelle Vague. Aus diesem Fundus schöpft er auch in der unmittelbar anschließenden Szene, in der die Kamera seitlich auf Cahit gerichtet ist, während er am Steuer seines Autos sitzt. Die auffälligen jump cuts, die schnell aufeinander folgenden Bildsprünge, die Akın und Bird hier erzeugen, erinnern an den Anfang von Godards AUSSER ATEM (1960). Anders aber als Godards Autodieb Michel hat Cahit dem Zuschauer nichts zu sagen; er ist ganz mit sich selbst beschäftigt. Und anders als der von Belmondo verkörperte Kleinganove wird Cahit auch nicht von der Polizei verfolgt, sondern ausschließlich von sich selbst, und weil er diesen Verfolger nicht abschütteln kann, muss die rasante, einsame Flucht so enden, wie gescheiterte Verfolgungsjagden in Actionstreifen gerne enden: mit einer ungebremsten Fahrt gegen die Wand. So wie Akın hier einzelne Genreelemente aufgreift und ihnen eine neue Richtung gibt, versteht er es bisweilen auch, einem im Grunde konventionellen Genrefilm einen charmanten, eigenen Dreh zu verleihen. Die lockere Komödie SOUL KITCHEN (2009) etwa ist so ein kluges, warmherziges Genreprodukt. Nicht nur weil Moritz Bleibtreu darin eine Hauptrolle spielt, liegt der Vergleich mit IM JULI nahe. Einen Rückschritt muss man in dieser erneuten Hinwendung zum Genrekino ebenso wenig vermuten wie einen Fortschritt. Es zeigt sich vielmehr, dass Akın eben nicht der zweite Fassbinder ist, den – nicht erst nachdem er Hanna Schygulla für AUF DER ANDEREN SEITE vor die Kamera holte – manche gerne in ihm sehen würden. Eine unverwechselbar individuelle, starre Handschrift sucht man bei Akın vergebens. Das, was einige dafür halten, erweist sich bei genauerem Hinsehen als Ergebnis kreativen Teamworks. Statt eines stilistischen Markenzeichens prägt das Œuvre Akıns eher die formale Diversifikation, das Nebeneinander von konventionellen und experimentellen Erzählmustern, zarten und wilden, harmlosen und unbändigen Filmen, Kunst und Kitsch, wie man es sonst im deutschen Kino selten findet. Ein Grenzgänger ist Akın dabei in den Geschichten seiner Filme auch auf kulturellem Gebiet, als Reisender zwischen Hamburg und Istanbul. Heimat sucht er mit seinen Protagonisten auch hier weder auf der einen noch auf der anderen Seite, sondern wenn schon, dann im Unterwegs, Hin-und-Her, Durcheinander, Nebeneinander, Miteinander. Das kann dann auch in einer Kneipe namens ›Soul Kitchen‹ in Hamburg-Wilhelmsburg stattfinden. Es braucht deshalb auch nicht seltsam anmuten, wenn Akın die Chiffre eines verstaubten Kulturverständnisses aufruft, neu kodiert und seine Kinokomödie im internationalen Presseheft als einen ›dirty Heimatfilm‹ ankündigen lässt. Denn eigentlich ist gerade das typisch Akın.

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Filme A BOUT DE SOUFFLE / AUSSER ATEM (F 1960, R: Jean-Luc Godard) AUF DER ANDEREN SEITE (D/TR 2007, R: Fatih Akın) GEGEN DIE WAND (D/TR 2004, R: Fatih Akın) IM JULI (D 1999, R: Fatih Akın) KURZ UND SCHMERZLOS (D 1998, R: Fatih Akın) PILLOW TALK / BETTGEFLÜSTER (USA 1959, R: Michael Gordon) SOLINO (D 2002, R: Fatih Akın) SOUL KITCHEN (D 2009, R: Fatih Akın)

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Autorinnen und Autoren

Kyung-Ho Cha ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt »Seelenwanderung und literarische Kommunikation« am Institut für Neuere Deutsche Philologie der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Literatur und Evolutionsbiologie um 1900, literature and science, Wissensund Wissenschaftsgeschichte, Walter Benjamin sowie Kino und Migration. Er ist Mitherausgeber des Bandes Der entstellte Blick. Anamorphosen in Kunst, Literatur und Philosophie (München 2008). Weitere Publikationen (Auswahl): »Made in Germany. Feridun Zaimolu, Fatih Akın, die Bild-Zeitung und der Streit um das Adjektiv deutsch«, in: Sprache und Literatur 36 (2005), S. 78-97; Humanmimikry. Poetik der Evolution, München 2010; »›Das Walten dieser Boten‹. Zur Wissensgeschichte vormoderner Medien und Ethik der Neigung bei Walter Benjamin«, in: Daniel Weidner (Hg.), Profanes Leben. Zur Dialektik der Säkularisierung bei Walter Benjamin, Frankfurt/M. 2010, S. 239-262. Özkan Ezli ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenzcluster 16 ›Kulturelle Grundlagen von Integration‹ an der Universität Konstanz und leitet dort das Projekt »Narrative des Sozialen und Politischen in der deutsch-türkischen Literatur und im deutsch-türkischen Film: Eine andere deutsche Literatur- und Kulturgeschichte«. Seine Forschungsschwerpunkte sind autobiographische Texte und Reiseliteratur im transkulturellen Vergleich (deutsch, arabisch und türkisch) und seit 2008 das Narrativ der Migration in Literatur, Film und Religion. Er promovierte zum Thema »Kultursubjekte und Subjektkulturen in Autobiographien und Reisebeschreibungen. Kulturanalytische Problematisierungen westeuropäischer, türkischer und arabischer Texte der Moderne« und ist Mitherausgeber des Bandes Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur (Bielefeld 2009). Weitere Publikationen (Auswahl): »Von der Identitätskrise zu einer ethnographischen Poetik. Migration 159

KULTUR ALS EREIGNIS

in deutsch-türkischer Literatur«, in: Text+Kritik IX, Sonderband: Literatur und Migration (2006), S. 61-73; »Transcultural Movements in Contemporary German(-Turkish) Literature«, in: Asiatische Studien LXII.4 (2008), S. 11351146; »Transgressions, or the Logic of the Body. Mohamed Choukri’s Work. A Fusing of Eros, Logos and Politics«, in: Angelika Neuwirth/Andreas Pflitsch (Hg.), Arabic Literature. Postmodern Perspectives, London 2010, S. 461-470. Deniz Göktürk ist seit 2001 Associate Professor für Germanistik an der University of California, Berkeley. Ihre Forschungsschwerpunkte sind kulturelle Aspekte von Globalisierung in Literatur, Kino und digitalen Medien. Neben Buchpublikationen zu deutschen Amerika-Texten, zu transnationalen Beziehungen im deutschen Kino und zu Istanbul als europäische Kulturhauptstadt veröffentlichte sie literarische Übersetzungen aus dem Türkischen. Sie ist Mitherausgeberin des Bandes Transit Deutschland: Debatten zu Nation und Migration (München 2010). Barbara Mennel ist Direktorin der Film- und Medienstudien an der University of Florida, wo sie in den Abteilungen ›Sprachen, Literatur und Kultur‹ und ›Englisch‹ als Associate Professor tätig ist. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Film, Stadtforschung, Migration und feministische Theorie. Sie ist Mitherausgeberin des Bandes Spatial Turns. Space, Place, and Mobility in German Literary and Visual Culture (Amsterdam 2010). Weitere Publikationen (Auswahl): The Representation of Masochism and Queer Desire in Film and Literature, New York 2007; Cities and Cinema, New York 2008; Queer Cinema. Schoolgirls, Vampires, and Gay Cowboys (erscheint bei Wallflower Press, London 2011). Selim Özdoan ist Schriftsteller und lebt in Köln. Nach dem Abitur hat er sein Studium der Völkerkunde, Anglistik und Philosophie abgebrochen. Seitdem hatte er zahlreiche Jobs und ist seit 1995 als Schriftsteller tätig. Auswahl an letzten Veröffentlichungen: Die Tochter des Schmieds, Berlin 2005; Zwischen zwei Träumen, Bergisch-Gladbach 2009; Ein Glas Blut, Hamburg 2010. Valentin Rauer ist Soziologe und arbeitet z. Zt. als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Goethe-Universität Frankfurt/M. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kultursoziologie, Migration, Medien und Performanz. Er promovierte an der Universität Konstanz zum Thema »Die öffentliche Dimension der Integration. Migrationspolitische Forderungen türkischer Dachverbände in deutschen Printmedien«, Konstanz 2006. Weitere Publikationen (Auswahl): »Symbols in Action. Willy Brandt’s Kneefall at the Warsaw Memorial«, in: Jeffrey C. 160

AUTORINNEN UND AUTOREN

Alexander et al. (Hg.), Social Performance. Symbolic Action, Cultural Pragmatics and Ritual, Cambridge 2006, S. 538-574; »Additive versus exklusive Zugehörigkeiten. Migrantenverbände zwischen nationalen und transnationalen Positionierungen«, in: Ludger Pries/Zeynep Sezgin (Hg.), Jenseits von ›Identität oder Integration‹. Grenzen überspannende Migrantenorganisationen, Wiesbaden 2010, S. 67-92. Levent Tezcan, Soziologe, ist Assistant Professor am Department ›Culture Studies‹ der Tilburg School of Humanities, Niederlande, und Mitglied im Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. Kultur und Konflikt, Soziologie des Islam in Europa. Publikationen (Auswahl): Religiöse Strategien der ›machbaren‹ Gesellschaft. Verwaltete Religion und islamistische Utopie in der Türkei, Bielefeld 2003; Das Islamische an den Studien zu Muslimen in Deutschland. Ein Literaturessay, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003); Kultur, Gouvernementalität der Religion und der Integrationsdiskurs, in: Soziale Welt, Sonderband 17 (2007), Baden-Baden. Stefan Volk lebt als freier Journalist, Film- und Literaturkritiker in Freiburg im Breisgau. Er hat über transmediale Vergleichsmöglichkeiten von literarischen Vorlagen und Literaturverfilmungen promoviert und schreibt u.a. regelmäßig für die Fachzeitschriften Filmdienst und Filmbulletin, die Berner Zeitung sowie die Magazine Bücher und HörBücher. Er hat mehrere film- und literaturdidaktische Arbeiten veröffentlicht, darunter einen Band zur Filmanalyse im Unterricht (Paderborn 2004). Im Herbst 2010 erscheint im SchürenVerlag sein Buch über Skandalfilme der Kinogeschichte.

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Kultur und soziale Praxis Sylke Bartmann, Oliver Immel (Hg.) Das Vertraute und das Fremde Differenzerfahrung und Fremdverstehen im Interkulturalitätsdiskurs Dezember 2010, ca. 240 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1292-9

Gabriele Cappai, Shingo Shimada, Jürgen Straub (Hg.) Interpretative Sozialforschung und Kulturanalyse Hermeneutik und die komparative Analyse kulturellen Handelns Juni 2010, 304 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-793-6

Lucyna Darowska, Thomas Lüttenberg, Claudia Machold (Hg.) Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität November 2010, 136 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1375-9

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Kultur und soziale Praxis Claudia Schirrmeister Bratwurst oder Lachsmousse? Die Symbolik des Essens – Betrachtungen zur Esskultur November 2010, 230 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1563-0

Doris Weidemann, Jinfu Tan Fit für Studium und Praktikum in China Ein interkulturelles Trainingsprogramm August 2010, 188 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1465-7

Ayfer Yazgan Morde ohne Ehre Der Ehrenmord in der modernen Türkei. Erklärungsansätze und Gegenstrategien Dezember 2010, 350 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1562-3

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Kultur und soziale Praxis Aida Bosch Konsum und Exklusion Eine Kultursoziologie der Dinge Januar 2010, 504 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1326-1

Anne Broden, Paul Mecheril (Hg.) Rassismus bildet Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft Mai 2010, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1456-5

Nesrin Z. Calagan Türkische Presse in Deutschland Der deutsch-türkische Medienmarkt und seine Produzenten August 2010, 302 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1328-5

Kathrin Düsener Integration durch Engagement? Migrantinnen und Migranten auf der Suche nach Inklusion Januar 2010, 290 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1188-5

Jörg Gertel Globalisierte Nahrungskrisen Bruchzone Kairo Juli 2010, 470 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1114-4

Jörg Gertel, Ingo Breuer (Hg.) Alltags-Mobilitäten Aufbruch marokkanischer Lebenswelten

Martina Grimmig Goldene Tropen Zur Koproduktion natürlicher Ressourcen und kultureller Differenz in Guayana Januar 2011, ca. 320 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-89942-751-6

IPSE – Identités Politiques Sociétés Espaces (Hg.) Doing Identity in Luxemburg Subjektive Aneignungen – institutionelle Zuschreibungen – sozio-kulturelle Milieus Juli 2010, 304 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1448-0

Anne-Christin Schondelmayer Interkulturelle Handlungskompetenz Entwicklungshelfer und Auslandskorrespondenten in Afrika. Eine narrative Studie August 2010, 380 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1187-8

Tina Spies Migration und Männlichkeit Biographien junger Straffälliger im Diskurs November 2010, 438 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1519-7

Asta Vonderau Leben im »neuen Europa« Konsum, Lebensstile und Körpertechniken im Postsozialismus Juni 2010, 238 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1189-2

Dezember 2010, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-89942-928-2

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