Theorie als kulturelles Ereignis [Reprint 2012 ed.] 9783110880410, 9783110168044

Die Beiträge behandeln in systematischer und historischer Sicht epistemologisch orientierte Fragen nach dem gesellschaft

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Theorie als kulturelles Ereignis [Reprint 2012 ed.]
 9783110880410, 9783110168044

Table of contents :
Theorie – ein kompositorischer Akt. Dem Weilburger Kolloquium zum Geleit
Theorie als kulturelles Ereignis. Modellierungen eines Themas überwiegend am Beispiel der Systemtheorie
I. Theorie als kulturelle Errungenschaft?
Die Theoría der Griechen. Ein Modell und drei Fallbeispiele
Theorie als Lehrgedicht
Die Systemtheorie Wilhelm Diltheys
II. Irritationen und Überformungen
Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie. Zwischen Skepsis und Tradition
Interkulturelle Mystifikation von Theorie. Michail Bachtin und die Bachtinologie
Das Rätsel der Lust am Text. Roland Barthes und Julia Kristeva zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus
Der theoretische Text als Geste. Zur Performanz in den Texten der älteren Kritischen Theorie
III. Theoriegespenster: Wissenschaftskultur und Kulturwissenschaft
Kunst und Wissenschaft im Wien der Jahrhundertwende. Gesellschaftliche Grundlagen von Theoriebedarf
Konjunktur und konjunkturelle Einbrüche postmoderner Medientheorien
Autobiographie der Theorie. Jaspers, Gadamer und Feyerabend – ein heterogener literaturwissenschaftlicher Versuch
Paul Valéry – die Vergeblichkeit der Theorie und das okkasionell-theoretisierende Spiel
Epilog. Das Geschäft der Theorie
Hinweise zu den Autoren

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Theorie als kulturelles Ereignis

W G DE

Theorie als kulturelles Ereignis Herausgegeben von K. Ludwig Pfeiffer, Ralph Kray und Klaus Städtke Unter Mitarbeit von Ingo Berensmeyer

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2001

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Universität Siegen

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Theorie als kulturelles Ereignis / hrsg. von K. Ludwig Pfeiffer... Unter Mitarb. von Ingo Berensmeyer. — Berlin ; New York : de Gruyter, 2001 ISBN 3-11-016804-9

© Copyright 2001 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Alle P e r s o n e n a b b i l d u n g e n : Archiv des Projektes „ D e r a u k t o r i a l e D i s k u r s in v e r g l e i c h e n d e r Sicht", Geisteswissenschaftliche Z e n t r e n B e r l i n / Z e n t r u m für L i t e r a t u r f o r s c h u n g

Inhalt

I.

II.

Eberhard Lämmert Theorie - ein kompositorischer Akt. Dem Weilburger Kolloquium zum Geleit

1

K. Ludwig Pfeiffer Theorie als kulturelles Ereignis. Modellierungen eines Themas überwiegend am Beispiel der Systemtheorie

7

Theorie als kulturelle Errungenschaft?

43

Hans Kloft Die Theoria der Griechen. Ein Modell und drei Fallbeispiele

45

Peter Fuchs Theorie als Lehrgedicht

62

Alois Hahn Die Systemtheorie Wilhelm Diltheys

75

Irritationen und Uberformungen

105

Zdzislaw Krasnodçbski Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie. Zwischen Skepsis und Tradition

107

Klaus Städtke Interkulturelle Mystifikation von Theorie. Michail Bach tin und die Bachtinologie

131

VI

III.

Inhalt

Ursula Link-Heer Das Rätsel der Lust am Text. Roland Barthes und Julia Kristeva zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus

155

Alex Demirovic Der theoretische Text als Geste. Zur Performanz in den Texten der älteren Kritischen Theorie

167

Theoriegespenster: Wissenschaftskultur und Kulturwissenschaft

179

Heinz Steinert Kunst und Wissenschaft im Wien der Jahrhundertwende. Gesellschaftliche Grundlagen von Theoriebedarf

181

Jochen Venus Konjunktur und konjunkturelle Einbrüche postmoderner Medientheorien

205

Ralph Kray Autobiographie der Theorie. Jaspers, Gadamer und Feyerabend - ein heterogener literaturwissenschaftlicher Versuch

224

K. Ludwig Pfeiffer Paul Valéry - die Vergeblichkeit der Theorie und das okkasionell-theoretisierende Spiel

286

Epilog Das Geschäft der Theorie

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Hinweise zu den Autoren

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Eberhard Lämmert

Theorie - ein kompositorischer Akt Dem Weilburger Kolloquium zum Geleit Die Theorie, daß aller guten Dinge drei sind, hat ehrwürdige Zeugen menschlicher Kultur für sich. Sie reichen vom Dreitakt der christlichen Heilsgeschichte bis zu deren Derivaten bei Hegel und bei Marx. Auch die Bitte des Dionys, im Freundschaftsbunde der Dritte zu sein, reicht nach Schillers Quellenstudien bis zu einer antiken Biographie des Pythagoras zurück, und Ibsens lakonisches Wort vom „Dreiecksverhältnis" galt nach einer Notiz Lichtenbergs über dieses spezifische „Triangolo equilatero" schon im alten Italien als das beständigste „häusliche Glückseligkeitssystem aus Mann, Frau und Amant". Ohne alle weitere Spekulation über spezifische Zuordnungen darf man es also bei einem so anspruchsvollen Unternehmen wie einem Forschungskolloquium über Theorie als kulturelles Ereignis für einen Glücksfall halten, daß sich hier drei keineswegs gleichartige, wohl aber erfolgreich kooperierende Institutionen zusammentun, um Gutes zuwege zu bringen. Zuallererst ist dabei den drei Organisatoren dieses Kolloquiums aus Siegen, Bremen und Berlin, K. Ludwig Pfeiffer, Klaus Städtke und Ralph Kray, Dank zu sagen dafür, daß ihre umsichtige Vorbereitung und Zusammenarbeit uns in dieser schönen Stadt zusammenführt. Nicht zum ersten Mal erweist sich überregionale Kooperation damit auch als ein Katalysator, um Ideen verschiedenen Ursprungs zu prüfen und möglicherweise neu zu verbinden. Für alle drei Veranstalter dieses Kolloquiums gilt dies nicht erst seit gestern. Schon zu einer Zeit, als die Mauer und der Eiserne Vorhang solche Kooperation noch zur seltenen Ausnahme machten, hat das Siegener Graduiertenkolleg Literaturwissenschaftler aus der Akademie der Wissenschaften der DDR in seinen Kreis aufgenommen. Umgekehrt waren die Siegener im Osten der Stadt gern gesehene Gäste, und einmal sogar in solcher Zahl, daß die Begegnung zu einem denkwürdigen Ost-West-Gartenfest gediehen ist. Kommunikationsformen als Lebensformen - dieses Thema ihres Gradu-

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iertenkollegs haben die Siegener damals nicht nur bedacht, sondern auf eine besonders heilsame Weise praktisch werden lassen. Inzwischen ist K. Ludwig Pfeiffer im Berliner Zentrum für Literaturforschung ein gern gesehener Gast, und Ralph Kray kann mittlerweise schon als ,unser Mann' in Siegen gelten. - Von Bremen her ist Klaus Städtke bereits seit geraumer Zeit als Projektleiter und als Mitglied unseres Beirats an der Arbeit des Berliner Zentrums beteiligt, und wir danken seiner Vermittlung eine weitere Verstärkung aus Bremen für ein Vorhaben, das von der russischen Literatur her europäische Zusammenhänge des literarischen Lebens ins Auge fassen soll. Die Unterhaltung eines Netzwerkes überörtlicher Arbeitskontakte gehört zum Programm der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin. Das heißt aber nicht, daß wir nicht wählerisch wären in den Verbindungen, die wir pflegen möchten: Sie sind wie Theorien, mit denen wir uns hier beschäftigen wollen, eine Sache überlegter und dann geglückter Komposition. Helmut Kreuzer hat seit seiner aufregenden Übersiedlung von B o n n nach Siegen zusammen mit den Kollegen, die er hier zusammenzog, Siegen neben Konstanz zu einem zweiten Lustort für die Literaturwissenschaften in Deutschland gemacht. Das muß man nicht mehr als Geheimtip weitergeben. An der jungen Universität Bremen, die den Differenzierungsprozeß zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, für den die Humboldtsche Reformuniversität nach ihrer Zentrierung der philosophischen Fächer ein Jahrhundert gebraucht hat, in weniger als zwanzig Jahren durchmachen mußte, hat die Osteuropaforschung eine bemerkenswerte Standortfestigkeit finden können, so daß sie, zusammen mit Bochum und wiederum Konstanz, für uns der Ort einer besonders gewinnbringenden Partnerschaft geworden ist. Nun ist aber auch eine Triangel ein viel zu schmales Instrument, um ein anspruchsvolles Wissensgebiet auszumessen, und was wäre anspruchsvoller, als über die Grundfigur menschlicher Erkenntnisarbeit, die Theoriebildung und ihre Folgen, nachzudenken. Da bedarf es der Vielstimmigkeit und auch der Überschreitung von Ländergrenzen, und so sind wir Ihnen allen, die sich von diesseits und jenseits der Grenzen zu dieser Arbeit bereit gefunden haben, dankbar für Ihr Kommen und Ihre Beiträge in den nächsten Tagen. *

Theorie - ein kompositorischer Akt

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Da ,Theorie' in allen möglichen Erscheinungsformen unser gemeinsames Thema ist, können wir schon für die Charakteristik unserer Zusammenkunft daraus Gewinn ziehen. Denn in seiner ältesten griechischen Bedeutung bezeichnet ,theoria' den Aufzug von Abgesandten verschiedener Städte, um - nach Sandkühlers Enzyklopädie - „die heilige Ordnung" des Kosmos zu bedenken und zu verehren (Tosel 1990, S. 585). Unsere Anreise aus verschiedenen Gegenden, um ernsthaft über .Theorie' zu reden, kann daher schon selbst als ein kulturelles Ereignis gelten, und dazu, denke ich, ist auch der Ort, das natur- und kunstschöne Weilburg, gut gewählt. Warum aber - wo es doch zu einem guten Teil mathematische, physikalische und biologische Theorien sind, die uns die Beschaffenheit des Kosmos zu durchschauen helfen - sollen gerade Kulturwissenschaftler an dem Thema .Theorie und was aus ihr folgt' nicht vorübergehen? Sie dürfen es nicht, weil das praktische Verhalten des Menschen, einzeln und in Gesellschaft, zu hohem Grade von den Theorien abhängt, die er vom Leben im Ganzen und von seiner eigenen Situation darin entwickelt. Denn Theorie, so belehrt uns neuerlich der geniale, querschnittsgelähmte Mathematiker und Kosmologe Stephen W. Hawking mit Nachdruck: „Eine Theorie existiert nur in unserer Vorstellung und besitzt keine andere Wirklichkeit" (Hawking 1988, S. 23 f.). Diesen Satz können sogar die Materialisten bejubeln, und Karl Marx wäre so undialektisch nicht, ihn rundweg zu leugnen. Weil Kulturwissenschaftler aber nicht nur wie Physiker oder Biologen die Falsifikation älterer Theorien zu ihrer Sache machen, sondern gültige ebenso wie schon falsifizierte in ihrem jeweiligen historischen Milieu aufsuchen und bedenken, sind sie eher in der Lage, auch die Vorbedingungen und die Grenzen auszumachen, die dem menschlichen Erkenntnisvermögen in actu jederzeit, wenn auch jederzeit anders, gesetzt sind. Einen zweiten Grund, warum es dem Kulturwissenschaftler zufällt, den Ursprung und die kulturellen Konsequenzen einer Theorie abzuschätzen, deutet Hawking ebenfalls an: Der Maßstab für die Güte einer Theorie ist zum einen die geringe Anzahl ihrer beliebigen Elemente und zum anderen ihre Einfachheit. Beide Gütemerkmale müssen eher noch als anderen dem Literatur- und Kulturwissenschaftler auffallen. Denn es handelt sich neben allem anderen um ästhetische Kennzeichen. So nimmt es nicht wunder, gleichzeitig und schon vor Einsteins Entwurf einer .Speziellen Relativitätstheorie' im Jahre 1905 an den einzelnen Künsten Vorzeichen einer solchen Veränderung der Denk- und

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Anschauungsgewohnheiten wahrzunehmen: Im shifting view point der englischen und französischen Erzählkunst, im gleichzeitigen Profilund en face-Portrait der avantgardistischen Malerei, im Verlassen der Dur- und Moll-Tonarten zugunsten einer Zwölftonreihe mit frei gewähltem Ansatzpunkt und nicht zuletzt in der Simultaneität, die der Filmschnitt ermöglicht, tritt dieses neue Zeitbewußtsein, treten aber auch neue Einsichten in Lebenszusammenhänge an den Tag, die der Entwicklung des mathematisch-physikalischen Denkens entsprechen, ja womöglich ihm als spielerische Experimentierformen vorauseilen. Damit aber keineswegs schon genug. Soll eine gute Theorie möglichst viele ihrer Behauptungen in gegenseitige Beziehung setzen und dabei obendrein einfacher als bisher das Gewußte durchleuchten, dann trägt offensichtlich nicht nur ein intellektuelles, sondern auch ein ästhetisches Ungenügen am bisherigen Zustand des Erkennens zu ihrer Formulierung bei. Ein einziges Beispiel dafür sei hier zitiert, und zwar aus der strengsten und zugleich weitläufigsten aller Wissenschaften, der mathematischen Astronomie. Im Jahre 1543 veröffentlichte Georg Joachim Rheticus De Revolutionibus Orbium coelestium libri VI, die Kopernikus schon anderthalb Jahrzehnte vorher im Grundriß abgefaßt hatte. Die kulturelle Tragweite dieses Ereignisses kündigt sich schon darin an, daß dieses Werk anonym erscheinen mußte. Womöglich war es auch gut, daß Kopernikus selbst zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung bereits gestorben war, wenn man überblickt, was noch ein knappes Jahrhundert später Giordano Bruno und Galileo Galilei widerfuhr, als sie die neuen Theorien der Himmels- und der Erdbewegung vor irdischen Instanzen verteidigten. Spannend ist es aber nun zu sehen, daß Kopernikus seine Widerlegung des ptolemäischen Weltbildes, das die Erde immer noch zum festen Drehpunkt aller Himmelskörper machte und das auch den Renaissance-Mathematikern noch immer als Grundlage diente, nicht etwa mit mathematischen Argumenten eröffnet. Er beginnt vielmehr mit einem Ausfall gegen die monströse Umständlichkeit, zu der dieses System jeden zwänge, der ihm neuere Beobachtungen einfügen müsse. Nicht einzelne Fehler des Systems brandmarkt er in seiner Vorrede. Um es gleich als Ganzes aus den Angeln zu heben, beschreibt er es vielmehr unter Anspielung auf die erste Strophe von Horazens De arte poetica als ein Monster, das aus ganz disparaten Teilen zusammengezwungen ist. Horaz hatte Dichtern und Malern das Schreckbild einer mißratenen Komposition vorgehalten: ein Menschenhaupt mit Pferdenacken, darunter verschiedenem Gefieder und schließlich einem

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grauen Fischschwanz. Indem Kopernikus sich nun getreulich an die humanistischen Kommentatoren des Horaz hielt - so kommentiert nun seinerseits der kalifornische Wissenschaftshistoriker Robert S. Westman diesen Vorgang - , transferiert der geniale Astronom „the Horadan ideal of good poetry into the domain of astronomical practice: Just as one prefers a coherent to an incoherent literary work, so a theory of planets possessing mathematical coherence (symmetria, armoniae nexum) is to be preferred over one that does not" (Westman 1990, S. 182 f.). Für eine Theorie, nach der erstmals die Erde ihre Bewegung mit den anderen Himmelskörpern teilt und die immerhin den Menschen damit aus der Mitte des Universums rückt - Sigmund Freud nennt sie eine der drei großen Kränkungen, die die Wissenschaft der Menschheit angetan hat (Freud 1969, S. 283) - : für eine solche Theorie gelten ,symmetria' und ,armoniae nexum' keineswegs nur als willkommene Präsentationsform. Sie sind der Wahrheitsbeweis für ihre Überlegenheit über alles, was bisher zu diesem Thema gedacht und formuliert worden ist. Daß dann siebzig Jahre später Kepler dem Modell des Kopernikus mit seiner Berechnung elliptischer Bahnen erst Gleichgewicht und exakte Proportionen verlieh und daß Newton mit seiner Gravitationstheorie daraufhin für dieses Gleichgewicht die einfachste Formel fand, bezeichnet gut die weiterreichende Formbarkeit, die gerade den bedeutendsten Theorien wie dem Bau einer Kathedrale noch lange eignet. Eine solche Beziehung zwischen Komposition und sachlicher Tragweite einer Theorie ruft vollends die Kulturwissenschaftler auf den Plan. Für Justus Fetscher in Berlin liefert er soeben die Grundlage zu einer Habilitationsschrift über den Zusammenhang zwischen den Himmelsanschauungen und den ästhetischen Theoremen der europäischen Aufklärung. Solche an Textmerkmalen zu ermittelnden Affinitäten räumen der Literaturwissenschaft eine Zuständigkeit sogar für die Analyse physikalischer Theorien ein, zumal wenn sie komplette Weltdeutungen zur Folge haben. Nimmt man hinzu, daß dem Kopernikus seinerseits Visionen eines Sonnenkultes nachgewiesen sind, so erhält sein Impuls zum Entwurf einer mathematisch begründeten Heliozentrik sogar einen kulturgeschichtlichen Hintergrund, den uns allein steinerne und literarische Zeugen belegen können. Kurz gesagt: Man braucht Literatur- und Kulturwissenschaftler, um zu zeigen, daß und warum Theorien ein kulturelles Ereignis sind.

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Literatur Freud, S. (1969), Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Studienausgabe, Bd 1. Hg. A. Mitscherlich u.a. Frankfurt/M. Hawking, S. W. (1988), Eine kurze Geschichte der Zeit. Reinbek. Tosel, A. (1990), „Theorie-Praxis-Verhältnis". In: Sandkühler, H. )., Hg., Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Hamburg. Bd. 4. S. 585-592. Westman, R. S. (1990), „Proof, Poetics, and Patronage: Copernicus's Preface to De revolutionibus". In: ders./Lindberg, D. C., Hgg., Reappraisals of the Scientific Revolution. Cambridge. S. 167-205.

Κ. Ludwig Pfeiffer

Theorie als kulturelles Ereignis Modellierungen eines Themas überwiegend am Beispiel der Systemtheorie [...] elle m'a dit: „Vous avez l'air d'un type qui a définitivement choisi entre Luhmann et Habermas." [...] Je lui ai répondu: „Ce sont des clubs de football ou des marques de bière?" Elle a ri et m'a tendu sa coupe. Trink, in vino Veritas. [...] Mystère de la transsubstantiation. Ily a une matérialité de la communication, moi aussi j'ai lu tes philosophes allemands, en traduction certes mais bien déconstruits dans un numéro de Génitif que j'ai bêtement prêté. Luhmann alors n'est-ce pas? J'avais deviné et elle m'a conduit chez elle dans sa voiture. Oui Luhmann, le sens s'auto-engendre, se différencie dans le processus. Et puisqu'on est systémique autant expliquer par le contexte cette bascule dans l'adultère qui m'a saisi après presque vingt ans de monogamie. [...] Habermarx ou l'human... [...] Sociologisons. Bourdieu de Bourdieu... Fier de son ventre plat, c'est légitime. Je devrais inventer une gymnastique de l'abdomen pour les psychanalystes à pratiquer discrètement dans son fauteuil pour éviter les bouées. Saufqu 'on ne peut aller à la fois à Lacanpagne et à la mère. (Bodot 1994, S. 56f., 60f.)

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Die vorstehende Szene aus Elgran Bodots Kurzroman Extrémités bietet den inneren M o n o l o g eines Psychiaters (kursiv, bis auf in vino Veritas), der den Geständnissen eines Patienten lauscht. Wer den Verfasser nicht kennt, könnte in der Passage eine traditionelle Form literarischer Wissenschaftssatire erblicken. Wer ihn kennt, mag darin auch die verschlüsselte Beschreibung einer Situation vermuten, in der man bei nahezu allen Gelegenheiten zwanghaft zu Theorien greift, ohne v o n

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irgendeiner noch unmittelbar gepackt und auf längere Zeit überzeugt zu sein. Theorie als kulturelles Ereignis ist der Versuch einer anderen Verschlüsselung dieser Situation. Die Ausgangsthese könnte lauten: Wenn, wie das in den 70er und 80er Jahren laufend und verständlicherweise behauptet wurde, die (Geistes- und Sozial-)Wissenschaften in einer Theoriekrise stecken, dann besteht diese Krise jetzt nicht mehr (bloß) darin, daß Fächer „die Besonderheit ihres Gegenstandsbereiches und ihre eigene Einheit als wissenschaftliche Disziplin nicht begründen" können (Luhmann 1984, S. 7). Das Unternehmen Theorie als kulturelles Ereignis möchte vielmehr, ohne sich mit ihr zu identifizieren, die Tendenz einer diffusen Tradition der Wissenschaftskritik zuspitzen. Diese Tradition vermag, sei es in apokalyptischer Emphase wie bei Oswald Spengler („Der Tod einer Wissenschaft besteht darin, daß sie niemandem mehr Ereignis wird"), sei es in der mild-gereizten Kritik von Ludger Lütkehaus an der Unfröhlichkeit fußnotenversessener, den „Verlust ihrer Meinungsführerschaft" gekränkt beklagender geisteswissenschaftlicher Praktiken („Statt heiterer Nutzlosigkeit heißes Bemühn. Statt Selbstironie Prätention"), den psychokulturellen Stellenwert von Theorie (sicher nicht von Wissenschaft überhaupt) nicht mehr zu orten (Spengler 1923, 1969, S. 548, Lütkehaus 1994, S. 6). Auch wenn man ,psychokulturell' durch das objektiv(iert)er klingende .kulturell' ersetzt, verfügen die mit dem Etikett,kulturelles Ereignis' anvisierten Interessen über alles andere als präzise Perspektiven. .Kultur' ist zum begriffssimulierenden Joker geworden, den man - wie wir vorläufig auch hier - aus dem Ärmel zieht, wenn man härteren oder historisch geheiligten terminologischen Regelungen nicht mehr recht traut. Diskurs-, System- und Medientheorien haben zwischenzeitlich alles Geschehen vielfach (hinweg-)relationiert. Dadurch ist auch dem Wort .Ereignis' - unabhängig von seiner problematischen Verbandelung mit .Theorie' - jeder einigermaßen .konkrete' Sinn abhanden gekommen. Der Niedergang des Ereignisses wie auch wohl die fortbestehende Sehnsucht nach ihm spiegeln sich in neudeutschen Kunst- und Modewörtern wie .Medienereignis' und .Event' (vgl. Balke/Méchoulan/Wagner 1992). Skeptisch im Blick auf die Wiedererweckung von Ereignissen dürfte freilich schon der Blick in die Kritik der Ereignisgeschichte stimmen, wie sie u. a. die AnnalesSchule oder die Nouvelle Histoire vorgenommen haben (Villeneuve 1992). Insofern wehrt das gewählte Etikett zunächst lediglich die gegenläufigen Trends wissenschaftstheoretischer, -soziologischer und -historischer Optionen ab, welche unentwegt mit theoretischen Révolu-

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tionen (oder auch nur Paradigmenwechseln) hantieren oder Theorien zur allenfalls genetisch nicht beliebigen Abfolge von Lehrmeinungen vergleichgültigen. Sicher scheint freilich etwas anderes. Die Krise, wenn es sie denn gibt, steckt nicht im Mangel an gegenstands- und fachkonstitutierenden Theorien. Im Verlangen nach Gegenstands- und Fachkonstitution herrscht vielmehr ein verkappter Piatonismus, der mit der Geschichte der sog. Fächer u n d ihrer Gegenstände auch dann zu sorglos umgeht, wenn man Disziplinen nicht auf ihre Geschichte reduziert. Der Drang nach differenzierenden als grenzziehenden Begriffen schreibt Scholastik als Denkstil vielleicht mehr als nötig fort - eine Scholastik, deren positive wie negative Leistungen, nämlich enorme Erkenntnisfortschritte und Begriffsfetischismus, nach LeGoff die europäische Wissenschaftsgeschichte „auf ewig" geprägt haben (LeGoff 1986, S. 100). In der Territorialisierung der Disziplinen durch Theorie liegt auch eine gewisse Terrorisierung der Gegenstände. Die Skepsis im Blick auf institutionalisierte Theorie sucht daher seit langem auch theoriebewußte Philosophen heim. N. H a r t m a n n hatte das Gefühl, Theorie und Methodologie setzten als Epigonenarbeit ein, wenn die Zeit fruchtbarer Forschung vorbei sei (Hartmann 1933, 1949, S. 31). Die Spenglersche Frage hat ihren Widerhall von Gehlen (vor allem in der quasi-existentialphilosophischen Habilitationsschrift Wirklicher und unwirklicher Geist 1931) - und im Sinne eines bekannten späteren Gehlen-Wortes zeitgleich im Roman Musils, Brochs, Doderers, deren Reflexionsschärfe Gehlen den Philosophen anzusinnen sich a n m a ß - bis hin zu Schelsky, Lübbe, Blumenberg u n d anderen gefunden. Sie hat es mit Varianten der Intuition zu tun, daß - im Gegensatz zum Selbstlauf der Theorie - die Substanz der Wirklichkeit zwar imaginär, gleichwohl aber unbeugsam und als solche zu erfahren sei (Gehlen 1965, S. 8). Eine Art Zusammenfassung solcher bei den Genannten vielleicht eher verstreuter Motive hat diese Intuition bei dem diplomierten Physiker, promovierten Biologen und habilitierten Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer (1995) gefunden. Fischers „Wissenschaftspsychologie" (a.a.O., S. 17) ist ebenso problematisch wie symptomatisch. Wissenschaft ist - für die Öffentlichkeit jedenfalls - fremd und unheimlich geworden, sie „erfüllt" weder im allgemeinen, noch erfüllt sie „begeisternde seelische Funktionen" (S. 12). Fischer möchte demgegenüber die originäre Faszination des Forschens (S. 21 f.), die nicht zu tabuisierende und auch ethisch kaum zu kontrollierende Nachtseite, die süße Lust des technisch-theoretisch Anspruchsvollen (wie bei R. Oppenhei-

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mer, der nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich doch wieder beim Bau der Superwaffe mitmacht, weil das Thema „technically so sweet" sei, S. 21) revitalisieren. Dabei kommt ihm der Briefwechsel zwischen C. G. Jung und dem Physiker Wolfgang Pauli gerade recht. Der geniale Pauli schreibt als 20-Jähriger eine 400-Seiten-Darstellung der Relativitätstheorie, von der Einstein meint, sie zeige, daß Pauli die Theorie besser verstanden habe als er selbst. Unter Jungs Leitung aber wandelt sich Pauli vom theoretisch-scharfrichterlichen Saulus zum verbindlichen, mythische Zahlensymbolismen existentiell erlebenden Paulus (die Nummer seines Krankenhauszimmers macht ihm klar, daß er dieses nicht mehr lebend verlassen wird). Pauli möchte dann Natur und Archetyp versöhnen, also psychische Einheiten finden, die sowohl an Begriffen wie Naturkräften teilhaben (a.a.O., S. 66). Und hatte nicht auch Hermann Weyl angesichts einer mathematischen Theorie wie dem Hilbertschen Formalismus gefragt, wie dessen Reich der Schatten, das in neuem Gewände einhergehende blutleere, jedes Gehaltes beraubte Gespinst der alten Analysis jemals wieder eine „ernsthafte Kulturangelegenheit" werden könne, mit der sich irgendein Sinn verbinde (Heintz 1995, S. 67)? Man kann das Theorie-Problem so angehen; die Sache des vorliegendes Bandes ist es nicht. Man muß nicht das abgestumpfte Kriegsbeil des Irrationalismus-Verdachts ausgraben, um zu befürchten, daß das Kippen der Wissenschaftspsychologie in banale Affekte und missionarische Rhetorik, daß die Wiederholung des vielfach Gescheiterten nur schwer zu verhindern ist, wenn man liest: „Dann kommt es vielmehr darauf an, endlich die Gefühle zu mobilisieren, die den Dingen Wert beimessen und uns auf diese Weise die Orientierung geben, die wir alle vermissen. Und genauso, wie das Fühlen dem Denken den Weg weist, könnte auch der Eros dem Logos neue Richtung geben, wie Pauli vielfach betont" (Fischer 1995, S. 100). Ich lasse offen, ob die in den marktabhängigen Gefilden post(...)istischen Wissenschaftsbetriebs geäußerten Klagen über Theorie („Against Theory", „The Resistance to Theory" usw.) in denselben Kontext gehören. Manchmal wird da Theorie als eine finstere Verschwörung präsentiert, welche die Präzision historisch-philologischer Detailarbeit an die Wand drückt (vgl. eine Liste von Klagen, die Carroll 1990b, S. l f . auflistet, ohne sie freilich selbst einfach zu unterschreiben). Der Verdacht, die institutionalisierte Theoriebildung unterminiere eine kulturell nicht zu verachtende und geschichtlich signifikante Sicherheit der Könner- und Kennerschaft, dürfte schwerer

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wiegen. Die Nichtrezeption des erst - und vielleicht doch interessanterweise - 1998 wieder aufgelegten Buches von Michael Polanyi (1958, 1962) über die stummen, aber wirksamen Könnensdimensionen der Kultur („the tacit component") spricht eine deutliche Sprache. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich, wie eine Reihe von Untersuchungen belegt, die Schere zwischen hochelaborierten verbalen Kulturformen (darunter auch Theorie) und den von diesen eher gemiedenen nichtverbalen Praktiken immer weiter geöffnet. Spenglers Rede von den ereignislos gewordenen Wissenschaften hatte vornehmlich die exakten Wissenschaften ins Visier genommen. Sie gingen ihrer Selbstvernichtung durch die unendliche Verfeinerung ihrer Methoden entgegen. Man habe im 18. Jahrhundert ihre Mittel, im 19. ihre Macht geprüft; nach 200 Jahren „Orgien der Wissenschaftlichkeit" habe man all dies satt (Spengler 1923, 1969, S. 548). Mit dieser implizit theorievergleichenden Methode lag Spengler wohl ziemlich daneben. Wenn überhaupt, so trifft die Diagnose eher die Kulturwissenschaften, unter deren weitem Schirm sich ein Großteil der Geistes- und Sozialwissenschaften heute versammelt. In diesem Bereich ist es schon schwierig „zu beschreiben, woraus eine Theorie besteht" (Bense 1965, S. 16). Fischers die Archetypen mit den physikalischen Manifestationen der Körperwelt versöhnende Wissenschaftspsychologie mag in heruntertransformierten und operationalisierbaren Formen in tiefsitzenden und -schürfenden Bildkonfigurationen wiederkehren, wie sie C. Wright Mills' soziologische oder Clifford Geertz' wissenschaftliche Imagination und ihre katalysatorische Funktion für die Berührung mit dem mehr oder weniger Fremden charakterisieren - die Phantasie, so meinte schon der frühe Gehlen, ist die „eigentliche Weise des Bewußtseins im Problematischen" (Gehlen 1931,1978, S. 221). Zu den Verästelungen dieses Komplexes - zu Denkstilen, erkenntnisleitender Metaphorik usw. - gibt es eine Fülle von Materialien. Das Problem liegt woanders. Kulturwissenschaftliche Theorien haben es - bei aller Intellektualisierung etwa auch der Kunst nach Bense mit affektgeladenen Erfahrungen als ihren Gegenständen zu tun. Der Theoretiker ist demnach gehalten, Resonanzen der „spirituellen Erregungen" am und im Gegenstand (Bense 1965, S. 11) auch in der Theorie nicht vollends verstummen zu lassen. Bense fragt daher, wie es mit der „Sensibilität einer Theorie gegenüber ihrer Anwendung" beschaffen sein könnte, „in der ein konkreter Sachverhalt [...] beständig gewissen Erfahrungen, die in Affekten bestehen, durch das Mittel der Logik entzogen werden muß, ohne indessen während dieses Entzugs verletzt zu werden" (a.a.O., S. 16f.). Die Antworten auf diese Frage - wo

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sie denn nicht wohl doch allzu schwadronierend die Modernität der Geistes- als Grundlagenwissenschaften beschwören, welche die Umstrukturierungen der Zeiten auf den Begriff bringen (Fuhrmann/Kempf 1996, S. 7) - fallen meist ernüchternd aus. Dem frühen Gehlen boten die Geisteswissenschaften „das seltsame Schauspiel eines allbereiten, gegenstandsgleichgültigen, völlig folgelosen und vagen Verstehenkönnens, das die Flut des historisch-psychologischen Literaturmaterials niemandem zur Lust und niemandem zu Leide ausbreitet" (Gehlen 1931, 1978, S. 343). Arabisch-poetisch: „Sie ermüden, aber befriedigen nicht; sie schweifen herum, aber gelangen nicht an. Sie singen, aber erheitern nicht. Sie weben, aber in dünnen Fäden" (Gehlen ebd., aus Diltheys Einleitungin die Geisteswissenschaften zitierend; Motive dieser Art ziehen sich durch das gesamte Werk Gehlens). Dem ist schwerlich dadurch in einigermaßen nachvollziehbarer Form durch die Forderung Fischers abzuhelfen, man müsse, um etwa das „Denkgebäude" des großen Konrad Lorenz zu verstehen, die „Seelenverfassung seines Schöpfers" kennen (Fischer 1995, S. 118, Anm. 6; vgl. im Blick auf Oppenheimer und die Atombombe S. 120, Anm. 25). Zwar verspricht dies unterstellungshermeneutische Spannung. Aber Theorien drohen auch hier, ihren Verengungsprozeß zu Standpunktphilosophien oder Weltanschauungen seit dem 19. Jahrhundert auf andere Weise fortsetzend, zu bloßen Blickweisen zu schrumpfen (vgl. Gehlen 1957, S. 94, zur Psychoanalyse). Dies geht umso schneller, je mehr sie fehlende Wucht durch vermeintliche Wissenschaftlichkeit auszugleichen versuchen. Feyerabend hat in dieser Hinsicht fast zornig festgehalten, in der Physik und Kosmologie gehe das schönste Mythenbauen vor sich, während in den Sozialwissenschaften eine langweilige .wissenschaftliche' Theorie nach der anderen das Licht der Welt erblickt. Keiner fragt dort [in der Physik], ob ein Vorschlag .rational' sei - ob er interessant ist, ob er zu was führt etc. etc., d a r a u f k o m m t es an. (Feyerabend 1995, S. 215, mit drastischerem Nachsatz)

Im Rahmen dubioser Episoden oder Perioden hat man versucht, die Geisteswissenschaften und ihren Mangel an Wirkung und Wissenschaftlichkeit durch wissenschaftliche Mitwirkung an Lebenskämpfen und Weltanschauungen ,aufzunorden' (unter vielen anderen in immer noch eindrucksvollerWeise Rothacker 1927, 1965, S. 36, 39, 107-113). Wäre dies so - und vielleicht war es ja so - , dann wäre die Lage umso schwieriger, weil der radikale Verschleiß von Weltanschauungen und die triviale Brutalität heutiger Lebenskämpfe voll auf die sie vermeintlich instrumentierenden Theorien durchschlagen würden.

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In den vorstehenden Gesichtspunkten tut sich ein dilemmatischer Sachverhalt auf. Es ist mißlich, Theorie auf psychische oder lebensweltliche Konstellationen zu reduzieren; schwierig, sie direkt damit zu koppeln. Kappt Theorie andererseits den Bezug zum Erregungspotential kultureller Situationen (als einer diffusen Verschmelzung psychischer u n d sozialer Dimensionen), so riskiert sie die Verbannung ins Museum abgelebter imaginär-kognitiver Techniken. Diese Situation hat Georg Simmel vielleicht am eindrücklichsten beschrieben. In seinem Sinne kann man Theorie zu jener „Unzahl von Kulturelementen" rechnen, die nicht bedeutungslos, aber allzu oft „im tiefsten Grunde auch nicht bedeutungsvoll" sind (Simmel 1923, S. 264). Simmel erblickt eine „verhängnisvolle Selbständigkeit" in der Art, „mit der das Reich der Kulturprodukte wächst u n d wächst" und dabei in die „Beziehungslosigkeit" zu Produzenten und Rezipienten driftet. Der Marxsche Fetischcharakter der Waren gilt ihm nur als „ein besonders modifizierter Fall dieses allgemeinen Schicksals unserer Kulturinhalte" (a.a.O., S. 259 f.). Eigentlich von Subjekten für Subjekte geschaffen, geraten sie in eine degenerative „Zwischenform der Objektivität", in der sie sich ihrem Ursprung wie ihrem Zweck entfremden. Dieses Schicksal trifft bereits die Kunst. Die theoriegebundene Gelehrsamkeit trifft es noch härter. Auf sie wirft sich ein ungeheures, oft institutionell und ökonomisch begünstigtes Kräftereservoir, das den fetischistischen Eigenwert der Theorie erhöht und dem Außenbeobachter leicht wie eine „Verschwörung der Gelehrtenkaste" (S. 260f.) vorkommt. Verschwörungsthesen wirken heute meist lächerlich. Aber die Identität von Säulenheiligem u n d Gelehrtem (S. 250) schlägt allemal leicht in den „Selbstgenuß einer Technik" u m , die den Weg zu den Subjekten nicht mehr zurückfindet (S. 265). Blickt man von dort auf das Gesamtbild theoretischer Selbstgenüsse, so ist man, jedenfalls in einer sich ,cool' gebenden Einstellung, ohnehin geneigt, das kategoriale Reinheitsgebot der Theorie zu verabschieden. An die Stelle eines eindeutigen Wissens- oder Theoriebaums scheint dann „ein generelles Rutschen, Gleiten u n d Shiften" zu treten. Was immer die einzelne Theorie an Ansprüchen erheben mag: als Diskurs ist sie jederzeit in der Lage, „in einen anderen überzugehen, Fortsetzungen auf anderen Feldern zu finden, Aufpropfungen und Umsetzungen zu ermöglichen, Montagen, Kombinationen u n d Rekombinationen, ein wildes Tohuwabohu, in dem beinahe anything goes" (Hofbauer/Prabitz/Wallmannsberger 1995b, S. 25). Ein Tohuwabohu ist aber nur selten ein kulturelles Ereignis.

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Gerade im Kontext der entschwindenden Spuren bei Derrida (oder der von Medien verschluckten Ereignisse bei Baudrillard) ist freilich die Sehnsucht nach (Erfahrungen als) Ereignissen wiedererwacht (Derrida 1990). Derrida traktiert die Unüberschaubarkeit, ja Unidentifizierbarkeit des als Theorie E i n h e r k o m m e n d e n als schlichte Gegebenheit. Was immer Theorien von sich selbst behaupten m ö g e n : als Diskurse treten sie zwangsläufig als K o n t a m i n a t i o n e n und Inkorporationen, in medizinischer Metaphorik als „teratological c o i n c o r p o r a t i o n " (a.a.O., S. 67) auf. Theorie als eine Art Mißbildung ist der Normalfall. Wichtiger ist, als was Theorien fungieren oder fungieren sollten - als Landungsbrücken zu Ereignissen nämlich, d . h . zu dem, was sie irgendwo bewirkt oder relativ unbestreitbar bewirkt zu haben scheinen: [...] instead of treating pseudo-identities, labels, or slogans as little wooden horses in a merry-go-round where New Criticism, structuralism, poststructuralism, new socio-historicism, and then again formalism, nonformalism, and so on would follow one another, instead of these merry-go-round effects, it would be much more urgent, interesting and exciting too, at least less boring, to read and to elaborate theoretical configurations whose structure, writing, conceptual and institutional modes, and social and historical inscription were irreducible, precisely because of a certain force of transplant [...]. In view of the rise of journalistic and doxographic discourses from those who, within or outside the university, think they are witnessing a series of theoretical rounds, their hand on the gong, it is urgent to take interest in what, in the most inventive „theoretical" work, cannot be confined to these boxing rings, merry-go-rounds, and round-tables. (A.a.O., S. 78) Institutionen und Kultur werden durch theoretische Ereignisse gezeichnet, die zunächst als formlose Monstrosität schrecken mögen. D e r Band The Languages of Criticism and the Sciences of Man (nach einem Symposium an der J o h n s Hopkins University 1966) z . B . enthält kaum einen paradigmatisch theoretischen Beitrag. D e n n o c h wirkte er als „theoretical event" oder „event within theory", weil er den kulturtheoretischen Zuschnitt amerikanischer Universitäten verändert hat (a.a.O., S. 80, vgl. S. 82f.). U n d auch das etwas modisch pro d o m o deconstructionis Gesagte ist bedenkenswert: „Deconstruction is neither a theory nor a philosophy. It is neither a school nor a m e t h o d . It is n o t even a discourse, nor an act, nor a practice. It is what happens, what is happening today in what they call society, politics, diplomacy, economics, historical reality [ . . . ] . Deconstruction is the case" (S. 85).

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II Die Beiträge des vorliegenden Bandes haben die von Derrida skizzierte Situation zur Kenntnis genommen. Was theoretisch der Fall ist, läßt sich aber weder durch Derridas allzu großräumige Skizze eines Pauschalprogramms noch, wie gesagt, durch Kopplung von Theorie an die Seelenzustände ihrer Verfasser ermitteln. Dies erklärt die Orientierung des vorliegenden Bandes: Die Beiträge halten offen oder verdeckt, und anders als Simmel (oder Fischer), am Subjekt, an der (nichtpsychischen) Figur des Theoretikers ais Filter kultureller Situationen fest. Sie praktizieren Fallstudien, in denen Theorie als ereigniss(t)imulierende Kopplung von konzeptionellen und performativen Kompetenzen, womöglich von institutionellen und personalen Gruppierungen auftritt oder entsprechend schnell im Diskursbetrieb versandet. Man mag es dem leicht krankhaften Ehrgeiz einer Restprogrammatik zuschreiben, wenn der vorliegende Beitrag einen Versuch in diese Richtung am Beispiel der vielleicht machtvollsten Theorie der Gegenwart - der Systemtheorie - unternimmt. Auch in alteuropäischer Semantik wird man sich nicht anmaßen, hier von Aufstieg und Fall zu sprechen. Die Personalisierung betrifft Niklas Luhmann; seinem monumental-genialen Lebenswerk, das zu kritisieren von Herumnörgeln nur schwer zu unterscheiden ist, muß man auch dann, wenn man es wie hier nur in seinen ,kulturrelevanten' Sektoren berührt, einen selten so zwingend eingeforderten und ungebrochenen Respekt zollen. Daß sich überdies, nach mindestens 30-jähriger intensiver Theorie-Praxis, ein theoretischer Habitus zumindest leicht abgenutzt haben könnte, wäre alles andere als überraschend. Das Problem eines - eher ereignisträchtigen oder lediglich routinierten - Theorie-Stils nimmt aber etwas prägnantere Konturen an, wenn man es 1.) mit den Implikationen kulturell einschlägiger Theoriebestände, 2.) mit den Folgelasten vergleicht, welche von Vertretern der folgenden Generation zur (wiederum diskursiv, nicht psychisch zu sehenden) Rückgewinnung ereignishafterer Theorie-Momente - und sei es indirekt als Sinn für die ereignishafte Dramatik in den Gegenständen - abgearbeitet werden. Nach einem gedämpften, diskurstechnisch begrenzten und in seinen möglichen Reichweiten kaum abschätzbaren Beginn (Zweckbegriff und Systemrationalität, 1968 - in dieser Zeit, so DER SPIEGEL Nr. 45 vom 1. 11. 1971 in einem anonymen Zitat S. 202, sei der Bielefelder Professor „nur ein Geheimtip für professionelle Soziologen gewesen") setzte die Systemtheorie (Luhmanns, in Deutschland) gleichsam mit einem

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Paukenschlag ein. In den gesellschaftlichen Turbulenzen der späten 60er Jahre waren die Theorie und Praxis verbindenden Modelle der kritischen Theorie zweideutig und unscharf bis unbefriedigend geworden. Habermas' Sammelband Theorie und Praxis (Habermas 1963, 1971 nochmals erweitert und mit einer langen Einleitung zu einigen „Schwierigkeiten beim Versuch, Theorie und Praxis zu vermitteln" versehen) hatte dazu vieles geboten und ebenso vieles offengelassen. Gelegentlich erschallte - lassen wir offen, aus welcher Ecke - der Ruf vom „Elend der kritischen Theorie" (Rohrmoser 1970). In dieser Situation versprach - und gewährte - Luhmann eine neue Form „soziologischer Aufklärung", die mit dem ersten Band der diesbezüglichen Aufsatzsammlungen 1970 anhub. Gerade in ihrer kühlen Distanz räumten Luhmanns Partien in der Theorie-Diskussion mit Habermas (Habermas/Luhmann 1971) nachgerade dramatisch mit liebgewordenen Vorstellungen zur intentionalen Veränderung von Gesellschaft und Kultur auf. Globale Thesen von der zunehmenden Eigenkomplexität sozialer Systeme, welche die normative Geltung idealer Sprechsituationen und die Wahrheitsfähigkeit praktischer Fragen schon längst unterlaufen habe (Habermas/Luhmann 1971, S. 343), spezielle wie die beiläufige Vermutung, Habermas' Idee des herrschaftsfreien Diskurses sei „möglicherweise [...] gar nicht so gemeint, wie wir sie genommen haben: als realisierbares Interaktionsmodell" (a.a.O., S. 342), fußnotenartig-lapidar vorgetragene Bemerkungen von der Art, der Konsens der Vernünftigen müsse eo ipso noch lange kein vernünftiger Konsens sein (S. 327, Fn. 61), die Definition des vernünftigen Menschen von Kamiah und Lorenzen (in deren Logischer Propädeutik 1967 nach dem Frankfurter das zweite, Erlanger - und später vielleicht Konstanzer - Modell der personalen Vernünftigkeit oder einer Vorschule vernünftigen Redens) sei nach deren eigenen Kriterien unvernünftig (S. 333, Fn. 70) - sie bereiteten den Theorietypen der Betroffenen kein abruptes Ende, aber blockierten weitgehend die ihnen impliziten oder in ihnen imaginierten gesellschaftlich-kulturellen Handlungs- und Ereignisformen. Gerade darin bestand ihre eigene latente Ereignishaftigkeit: Habermas verleiht einem begründeten und vom SPIEGEL (S. 204) prompt zitierten Erstaunen darüber Ausdruck, daß die von ihm als konservativ (oder sozialtechnokratisch) eingeschätzte Theorie Luhmanns einen „eigentümlichen Appeal" auf den „Aktionismus" von links wie rechts ausübt. (Luhmann selbst hat einer solchen Sicht der „Luhmann-Rezeption" in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 27. 4. 1985, S. ZB 3, Vorschub geleistet. Dort spricht er von einer ersten, lin-

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ken Rezeption, die sich aus der Einfachheit der Grundideen kritischer Theorie und der Schwierigkeit ihrer Realisierung ergab. Im Blick auf die „persönliche Teilnahmslosigkeit" bei der Theoriekonstruktion liefert das Interview einige, wenn auch verständlicherweise sehr diffuse Materialien.) Und es mag sein, daß in einem schwer zu fassenden, weil z.B. nicht anwendungsorientierten, nicht auf ein „sozusagen direktes Verhältnis zu den Dingen" (Luhmann in einem Interview in der Tageszeitung vom 21. 10. 1986, S. 12) abzielenden, gleichwohl irgendwie „fundamentalen Pragmatismus" (Habermas, zit. im SPIEGEL, S. 205) der Systemtheorie der diesmal freilich sehr dunkle Kern auch unseres Pudels steckt. Der Spannungsreichtum (technisch: die Differenziertheit) dieses Pragmatismus ist in der Tat virtuell aufregender als die Grundidee des „freundlichen Zusammenlebens" {Frankfurter Rundschau), auf welche Habermas' Denken damals hinauszulaufen schien. Schwer abweisbar erscheint mir aber auch die Möglichkeit, daß ,seit Luhmann' eine intentional (oder neutraler: handlungs- bzw. sprechakttheoretisch) angelegte „Theorie des kommunikativen Handelns" von einer Geschichte solcher Versuche kaum mehr zu unterscheiden ist (vgl. Habermas 1981). Umgekehrt könnte daraus allerdings auch folgen, daß aktualisierende Exegesen von Theorie-Klassikern und ihrem immer wieder absinkenden, aber nicht gänzlich schwindenden Ereignispotential nicht durch die von Luhmann geforderte, praktizierte und purifizierte Fortschreibung eines Theoriestrangs zu ersetzen sind (vgl. Luhmanns Skepsis im Blick auf die Klassiker-Exegese, Luhmann 1984, S. 7). Ich komme darauf zurück. Man vergißt heute leicht, wie lange und intensiv Luhmann die ,Kopplung' vieler seiner Schriften (über Vertrauen, Macht, politische Planung, Liebe, ökologische Kommunikation) mit virulenten, gesellschaftlich-kulturellen, ja .persönlichen' Sachverhalten aufrechterhalten hat. Das Packende solcher Analysen entspringt nicht zuletzt der Spannung, mit welcher er das Pathos des Persönlichen systemisch demaskiert, ohne es völlig zu entzaubern. Man vergißt ebenso leicht, wie stark die erste Großform einer allgemeinen Theorie sozialer Systeme (1984) noch mit den Dramen personaler Modalisierung der Kommunikation durch Takt, mit „sublimen [!] Strategien des Forcierens von Situationsdefinitionen" (Luhmann 1984, S. 414) und auf der Gegenseite mit der „Sensibilisierung" von Systemen, kurz: mit Stilfragen aller Art (Erwartungsstile, Stil einer Methode, einer Theorie, z.B. „den Grad ihrer Abgehobenheit von Psychischem", a.a.O., S. 192) und mit der Spannung zwischen „erfahrbarer Realität" und den Bedingungen ausdifferenzierter Wissenschaft (a.a.O., S. 13) durchsetzt ist.

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Nun ist es aber fraglich, ob die „Zweigleisigkeit" eines Denkens, das alle möglichen Bereiche theoretisch anvisiert, ohne sich deren übliche, auch binnenwissenschaftlich übliche „Motivgrundlagen" anzueignen (Tageszeitung, 21. 10. 1986, S. 11), überall mit vergleichbaren Erträgen durchzuhalten ist. (Ich lasse bei der folgenden Diskussion eine Reihe großer Bücher, vor allem die allgemeine Gesellschaftstheorie auch aus Gründen subjektiver Überforderung beiseite und konzentriere mich auf das, was ich kulturtheoretisch für einschlägig halte.) Auffälligkeiten (deren vermeintliche ,Beobachtung' Luhmann wahrscheinlich zu Recht der Befangenheit alteuropäischer Residualsemantiken zuschreiben würde) finden sich vielleicht am deutlichsten im hochsensiblen Bereich der Kunst (Luhmann 1995a). Die Möglichkeit eines KunstiyjtewM hängt von der Identifizierbarkeit der durch eine Serie von zunächst willkürlichen, durch einmal getroffene Wahlen aber zunehmend eingeengten „Formfestlegungen" oder ,,-entscheidungen" (a.a.O., S. 121, 124 u.ö.) erzeugten Objekte ab. Wie immer die ersten Wahlen durch Gesellschaft' beeinflußt sein mögen: sie sind nicht von daher determiniert. Wohl aber determiniert die künstlerische Arbeit, elaborieren die Formentscheidungen das Kunstwerk als „ausgearbeitetes Objekt" (S. 121). Die Kunstwerke werden als System beobachtbar, weil sie eine „Serie von ineinander verschlungenen Unterscheidungen" oder „Verschiebungen" repräsentieren (S. 123). Das Kunstwerk kommuniziert, in und durch die Intensität formaler Wechselverhältnisse, den „zweckentfremdeten Gebrauch der Wahrnehmung" (S. 41), d.h. ein im Vergleich zu alltäglichen oder anderen systemischen Verhältnissen „irritierendes Verhältnis von Wahrnehmung und Kommunikation" (S. 42). Kunstwahrnehmung ist vornehmlich Beobachtung zweiter Ordnung, weil sie, nach der Identifikation des Werks als Objekt im Unterschied zu anderen Objekten (Beobachtung erster Ordnung), „den Leitfaden weiterer Beobachtungen" dem Kunstwerk selbst entnimmt (S. 119). In der Beobachtung der im Werk ,irritierend' durch komplexe Formentscheidungen vorstrukturierten Beobachtung bleiben „alle materiellen Realisationen", d.h. „Zwischenoperationen, die aus Marmor oder Farbe oder tanzenden Körpern oder Tönen" (S. 131) bestehen, außer Betracht. An dieser Stelle hält Luhmann inne: Soll man, um diesen Preis, von der „Einheit des Kunstmediums" (S. 177: des Kunstsystems?) sprechen? Man soll, denn sonst gäbe es kein System. Von den „inneren Medien der Formgebung" her gesehen gibt es zwar keine „Kommensurabilität" (S. 186). Aber im ,Hypermedium' Kunst werden die medial-materiellen Differenzen ge-

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tilgt: Kommunikation läuft über die Beobachtung irritierender (warum eigentlich nicht: faszinierender?), in Formentscheidungen manifest werdender Beobachtungsverhältnisse, in denen Form ganz formal mit Form spielt (S. 188). Noch die letzten Seiten des Buches schärfen den Lesenden ein: Kunst m u ß als einheitliches Thema behandelt werden; abzusehen ist „von den Unterschieden, die sich aus den verschiedenen Medien ihrer sinnlichen bzw. imaginären Realisierung ergeben" (S. 499). Wie es angesichts der ständigen Formexperimente noch zu interessanten Formvariationen kommen, wie man angesichts der „Unsicherheit der Kriterien" noch entscheiden kann, ob etwas als Kunstwerk gelungen oder mißlungen ist, das ergibt sich, wenn man eine Ermahnung befolgt: Nur die Uberwindung von Schwierigkeiten kann „einer Sache Bedeutung" geben: „Hoc opus, hie labor est" (S. 507). Eine nähere Betrachtung von Luhmanns Formbeschreibungen nährt allerdings den Verdacht, daß Luhmann diese systementscheidende Unterscheidung zwischen Kunst und (im gewöhnlichen Sinne) Medium bzw. Medien (die nicht zu verwechseln ist mit der, wie ich meine, weitaus plausibleren zwischen Form mit fester und Medium mit loser Kopplung) nicht durchhält. Er schildert Formen der Beobachtung und Wahrnehmungsirritation, wie sie vor allem im europäischen Roman bzw. komplexitätsanaloger Literatur inszeniert werden (a.a.O., S. 128, 143 ff.). Er favorisiert Formbeschreibungen, etwa zu komplexer Lyrik, die er mit jenem Typ von interpretierender Beschreibung untermauert, wie sie der New Criticism oder auch die werkimmanente Interpretation geliefert haben (S. 45 ff., 200 ff.). Natürlich hat dies alles eine gewisse Berechtigung, die man in Zeiten der Kritik an solchen Interpretationsweisen vielleicht manchmal unterschätzt hat. Aber trägt ihre Generalisierung den Begriff eines zu beobachtenden Kunstsystems? U n d wie verhält sich ein derartiges Kunstsystem zu (der Beschreibung ganz anderer Formen von) Erfahrungen, die möglicherweise dieser Art von Kunst, möglicherweise aber auch ganz anderen kulturell-ästhetischen Formen (vgl. unten zu R. Williams) zugehören? Zunächst gerät der Beobachtungsbegriff ins Rutschen. (Es ist, nebenbei gesagt, eigenartig, daß eine ansonsten von Differenzierungen und Unterscheidungen lebende Theorie nur einen, scheinbar homogenen, kognitiven Stil, den des Beobachtens, u n d einen basalen Operationstyp, den der Unterscheidung, ins Spiel bringt.) Als Gebrauch von Unterscheidungen definiert, soll Beobachtung Erleben u n d Handeln (letzteres im Gegensatz zum nicht unterscheidenden bloßen Verhalten) einschließen (a.a.O., S. 99). Wie aber verträgt sich dieser Begriff

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mit der Forderung, der Künstler müsse „spüren und schon im Spüren unbewußt differenzieren können", auf welche Formentscheidungen es ankommt (S. 68)? Wie steht es mit den Implikationen der Behauptung, daß des Künstlers „Genie" „zunächst einmal sein Körper" sei (S. 69)? Warum soll man „eine oft beschriebene Intensität des Erlebens" (S. 38) vor allem bei Musik, Tanz und Theater auch als Beobachtung bezeichnen? Wie verhält sich das Erleben von Performanzen dieser Art zu der in zweiter Ordnung beobachteten, d.h. konstruierten formalen Einheit des Kunstwerks als „ausgearbeitetem Objekt"? Natürlich kann man auch die „kunstvoll geschaffene Verdichtung von Beobachtungsverhältnissen" genießen (S. 117). Aber resultieren „Steigerungserfahrungen" (S. 117) aus der „Reziprozität des Beobachtens" oder auch und vielleicht doch eher aus der medial unterschiedlichen Manipulation und das heißt auch der Dämpfung - von Beobachtungsdistanzen? Ist also möglicherweise das Verhältnis von Beobachtung erster Ordnung (Erleben, Erfahrung, Intensitäten) und Beobachtung zweiter Ordnung (Interpretation als Kunstwerk, Systemkonstruktion) erheblich komplizierter oder zumindest variabler? Luhmanns Beobachter zweiter Ordnung fühlt sich schon gestört, wenn der Künstler als Hersteller eines Werks auch als dessen Performer (Schauspieler, Sänger, Tänzer) auftritt. Damit werde die Ablösung der Formen von der Person (oder auch der Gesellschaft) und ihre Verdichtung ins ,authentische' Werk erschwert (S. 123). Man müßte dann z.B. folgern, daß der historische Shakespeare, der Theatermanager, Schauspieler und - in einem nicht gerade modernen Sinne - der Autor nicht zum Kunstsystem zähl(t)en. Luhmann sieht auch, daß das Erhabene emphatisch auf bzw. gegen die metastasierende Tendenz zur Beobachtung zweiter Ordnung reagiert, diese also bremst (S. 145ff.). Das gehe eigentlich nicht an, meint er, denn sobald das Sublime Form annimmt, gewinnt es eine „andere Seite, von der aus es als modisch-lächerlich beobachtet werden kann" (S. 147; Kronzeuge dafür ist F. Schlegel). Das ist richtig, läßt aber außer acht, daß Codierungen des Erhabenen in ebenso variabler wie zäher Form weiterlaufen. Luhmann deutet das fußnotenweise mit dem von R. Williams entlehnten Ausdruck „breiterer kultureller Leistungen" an (a.a.O., S. 262, Fn. 77). Nimmt man diesen Begriff ernst, sieht man sich die von Williams in einer Reihe von Büchern entworfenen Szenarien dynamischer kulturell-medialer, ebenso prägnanter wie transitorischer Konfigurationen und ihre Verschiebungen an (etwa die These, daß „cultural production" weit weniger auf der eher literarisch ausgebildeten Beobachtung

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zweiter Ordnung als vielmehr auf schwer fixierbaren performativen Leistungen beruht, Williams 1981, Kap. 4, S. 87ff., 92f.), bedenkt man, daß auch die Appellverhältnisse in der Literatur komplexer zwischen Faszination und Beobachtung schwanken dürften (vgl. in Hart Nibbrig 1994 besonders die Beiträge von R. Gasché und W. Menninghaus), dann bräche die Vorstellung eines zu beobachtenden KunstíjítewM zwar nicht zusammen. Aber das Systemhafte des Systems erschiene dann als das, was es m.E. ist: eine systemtheoretisch frisierte Übernahme konventioneller literatur- oder kunstgeschichtlicher Perspektiven, ein Abhub kulturell-medialer Dynamiken, in welchen Konstruktionen eines Kunstsystems sich allenfalls kurz- bis mittelfristig halten können. Natürlich unternimmt etwa das,Theater' mit seiner Entwicklung vom höfischen Ereignis zur selbstbestimmten Zeit einer Aufführung, mit der Trennung von Bühne und Zuschauerraum, Schauspieler und Publikum, mit dem Bezahlen von „Eintritt" usw. (Luhmann 1995a, S. 276) Schritte in ein Kunstsystem. Sicherlich sorgte der europäische Fürstenstaat in dieser Hinsicht für „exzeptionelle Startbedingungen" (ebd.). Aber was Luhmann als Umstellungen und Ausdifferenzierungen hin zum Kunstsystem beschreibt, das ist der systemtheoretisch umformulierte Wandel strukturell-institutioneller Bedingungen, nicht die Verschiebungen im Mischungsverhältnis einer sehr ungenau ,ästhetisch' genannten Erfahrung. So zitiert Luhmann Ergebnisse Beltings, der im Blick auf die Malerei vom „Austausch der Aura des Sakralen gegen die Aura des Künstlerischen" spricht (ebd.). Damit aber suggeriert Belting eher die Persistenz, das Uberleben des ,Auratischen' (und zwar vermutlich auch über Benjamin hinaus) im Wechsel der institutionellen oder auch produktionstechnischen Kontexte, als daß er die Differenz zwischen dem Sakralen und dem Künstlerischen genau bestimmen würde. Mischformen wie die diversen ,Kunstreligionen' bieten dafür nur ein vielleicht eher überexplizites - Beispiel. Kann man also die auf Weber zurückgehende Theorie okzidentaler Rationalitätsausdifferenzierung ohne weiteres in die Kunst schlechthin hinein fortschreiben („hineincopieren")? Luhmann selbst scheint merkwürdig unentschlossen: Im Falle des Kunstsystems lassen sich gute (und gut bestreitbare) Gründe dafür angeben, daß ein solcher take off, der das Kunstsystem gegen Religion, Politik und Wissenschaft differenziert und zugleich eine Evolution unaufhaltsamer Strukturänderungen in Gang setzt, weltgeschichtlich einmal und nur einmal passiert ist - und zwar in der europäischen Frühmoderne. (A.a.O., S. 381)

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III Ist der institutionell-systemische ,take o f f ' in ein Kunstsystem hinein fraglich (und, wie Luhmann selbst andeutet, interkulturell extrem problematisch), so ist es die Reduktion der ins Ungefähre hinein ästhetisch genannten Erfahrung auf Beobachtung zweiter Ordnung erst recht. Die Spannweite möglicher Gegenpositionen kann man der Einfachheit halber mit einigen Zitaten andeuten: Pops Glück ist, daß Pop kein Problem hat. Deshalb kann man Pop nicht denken, nicht kritisieren, nicht analytisch schreiben, sondern Pop ist Pop leben, fasziniert betrachten, besessen studieren, maximal materialreich erzählen, feiern. Es gibt keine andere vernünftige Weise über Pop zu reden als hingerissen auf das Hinreißende zeigen, hey, super. Deshalb wirft Pop Probleme auf für den denkenden Menschen, die aber Probleme des Denkens sind, nicht des Pop. (Goetz 1986, S. 188) Literatur muß sein wie Rockmusik - wenn sie nicht sofort unter die Haut geht (und nicht etwa nur unter die Hirnhaut) und von dort ,ins Blut' und uns, den Rezipienten, wenigstens für die Dauer eines Songs oder eines Gedichtes zu einem anderen Menschen macht, dann ist's wohl Frankfurter Schule und nicht Lou Reed oder Van Halen. (Politycki 1995, S. ZB 2) Dergleichen könnte auch Nietzsche gelegentlich im Sinn gehabt haben: Will nicht jede Cultur den einzelnen Menschen heraus aus dem Stossen, Schieben und Zermalmen des historischen Stromes nehmen und ihm zu verstehen geben, dass er nicht nur ein historisch begrenztes, sondern auch ein ganz und gar ausserhistorisch-unendliches Wesen sei, mit dem alles Dasein begann und aufhören wird? Ich mag es nicht glauben, dass dies der Mensch sei, was da mit trübem Fleisse durch das Leben kriecht, lernt, rechnet, politisirt, Bücher liest, Kinder zeugt und sich zu sterben legt [...]. So zu leben heisst nur auf eine schlechte Art zu träumen. Nun ruft der Philosoph und der Künstler dem, der also träumt, ein paar Worte zu, Worte aus der wachen Welt; werden sie den unruhigen Schläfer wecken? Selten genug[.] (Nietzsche 1874, 1988, S. 813) Eine politisch korrekte Übersetzung könnte für heutige Verhältnisse lauten: If there is anything like a ,crisis in English studies', it is a crisis in confidence, and it is one that we have in part created by taking ourselves too seriously as a priesthood of a culture already made, and not seriously enough as professionals whose business is to make and remake that culture, even as we celebrate it. (Fish 1989, S. 214)

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Vielleicht ist aber auch alles ganz anders, nämlich so: „Alles in allem: Kultur ist eine Perspektive für die Beobachtung von Beobachtern. Sie richtet das Beobachten daher immer auf schon gegebene Phänomene" (Luhmann 1995b, S. 54). Die zitierten Sätze, so heterogen sie anmuten, teilen zwei Gemeinsamkeiten. Sie fixieren Kultur erstens nicht als Bereich bestimmter oder bestimmbarer Objekte. Auch für Luhmann ist das Kunstsystem nicht mit dem zu verwechseln, was man früher Kanon oder dergleichen genannt hätte. Er vermerkt ausdrücklich und zu Recht, daß es nicht gelingen könne, „Kultur" „auf der Gegenstandsebene zu fixieren und Kulturgegenstände von anderen Gegenständen zu unterscheiden" (a.a.O., S. 54). Louis Schneider hat das etwas drastischer so ausgedrückt:^...] by now just about everything has been thrown into ,culture' but the kitchen sink. But hold. The kitchen sink clearly has to be thrown in too" (Schneider 1973, S. 119). Die Kulturalisierung von Sitzgelegenheiten (Toiletten eingeschlossen) bis hin zu Mausefallen ist nicht aufzuhalten. Zum zweiten spielt in den Zitaten die Unterscheidung zwischen kultureller Praxis, Verhaltenskultur oder Erfahrung einerseits und kultureller Analyse oder Theorie oder eben Beobachtung andererseits keine, zumindest keine klare, oder eine polemisch negierte Rolle. Goetz und Politycki evozieren das kommentarlose oder jubilatorische Eintauchen in Medien, welche Beobachtungs-Distanzen kollabieren lassen. Bei Luhmann hingegen entsteht umgekehrt Kultur nur als Produkt distanzierter Beobachtung; bei Nietzsche und Fish ist es vorderhand unklar, wie die in ihren Zitaten zumindest schwelende Spannung zwischen den beiden Polen zu verorten ist.

IV Ich möchte diese Positionen weder akzeptieren noch widerlegen. Ich behandle sie vielmehr als vereinseitigte Symptome eines fortdauernden Problems. In den Texten von Goetz und Politycki geht es ,nur' um Erfahrungspraxis; sie gleichen sich der in verschiedenen Avantgarden geläufigen Aufhebung der Trennung von Leben und Kunst an. Luhmann hingegen verlagert Kultur in die Beobachtung (wiederum zweiter Ordnung) und gestattet ihr ansonsten lediglich den gesprächsweisen Austausch oder die schriftliche Fixierung solcher Beobachtungen. Diese Art der Beobachtung wird, wie gesagt, vor allem durch die Kunst erzwun-

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gen. Denn Kunst nötigt die Wahrnehmenden dazu, die Selbstreferenz der Information (also etwa der irritierenden Gleichzeitigkeit von Wahrnehmung und Kommunikation, die Motiviertheit der Selektion gerade dieser oder jener Information) stetig mitzubeobachten (vgl. auch Luhmann 1996, S. 123). Kunst inszeniert distanzierende Selbstreferenzen der Kommunikation, die in der Kunstbetrachtung ihrerseits beobachtet oder in den kunsthistorischen Disziplinen als Reflexe der Evolutionsetappen von Kunstsystemen aninterpretiert werden. Luhmanns Aufsatz „Kultur als historischer Begriff" verbannt andere Einstellungen und Wahrnehmungs- oder Partizipationsweisen (wie man sie im Goetz- und Politycki-Text antrifft) ins Museum kognitiv-emotionaler Stile oder traktiert sie als aktualisierte Archaik „vorkultureller Erlebnisformen, die nur nachträglich, nur von uns als Kultur beschrieben werden" (Luhmann 1995b, S. 49). Damit kommt es zu einem denk- und merkwürdigen Ergebnis: Zwar kann man Kultur nicht auf der Gegenstandsebene fixieren. Kunst aber entpuppt sich gleichwohl als Paradigma und primäre, wenn nicht einzige Verkörperung von Kultur, weil nur sie die von Kultur geforderte Komplexität der Beobachtung erzwingt. Durch die Kommunikationsmodalität geschieht daher eine Art Quasi-Vergegenständlichung der Kultur durch Kunst, erheben sich die Gestalten der Kunst als beobachtete Produkte eines selbstreferentiellen Pendeins zwischen Wahrnehmung und Kommunikation. In einer halbhermeneutischen Kehre fallen daher Kultur und Tradition als die gesellschaftlich auskristallisierten „Themenvorräte" der Kommunikation (Luhmann 1984, S. 224) zusammen: „Seit wir Kultur haben, haben wir Tradition" (Luhmann 1996, S. 53). Traktiert man drei einschlägige Texte Luhmanns (1995a, 1995b, 1996) als Interlinearversionen, so stellt sich heraus, daß das gelegentlich auch als Aktivierung von Selbsterlebtem, Erhofftem, Befürchtetem, Vergessenem oder als Einladung zum Mitschwingen bei musikalischer Unterhaltung (Luhmann 1996, S. 109, 123) bezeichnete „triviale" Erleben, daß also die ,vorkulturellen' Erlebnisformen schlichten Selbstgenusses allenfalls den Massenmedien, nicht aber eben der kulturfähigen Kunst angemessen sind. In der Kunst kann man gerade nicht auf „die Mitreflexion der duch die Sequenz der Information ausgeschlossenen Möglichkeiten" verzichten (a.a.O., S. 123). Und „Unterhaltung heißt eben: keinen Anlaß suchen und finden, auf Kommunikation durch Kommunikation zu antworten" (a.a.O., S. 107). Eine weitreichende Legitimität des selbstreferentiellen Beobachtungsverhaltens im Blick auf paradigmatische Formen von Kunst-Kultur läßt sich kaum leugnen. Künste, die sich durch raffinierte Illusions-

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techniken aller Art u n d deren ,Entblößung' (W. Iser) auszeichnen (Handhabung und Auflösung der Zentralperspektive, rhetorisches Raffinement, Techniken des Spiels im Spiel und der narrativen Selbstbespiegelung im Roman, Musik über Musik, wie sie nach Carl Dahlhaus scheinbar so gegensätzliche Komponisten wie der späte Beethoven und Rossini geschrieben haben, kurz: die Präsenz von - in einem neutralen Sinne - .Manierismen' aller Art) erfordern entsprechend differenziert beobachtende Rezeptionsweisen. Die Positionen von Politycki und Goetz könnten sich im systemtheoretischen Rahmen lediglich als paradox zugespitzte Selbstbeschreibungsversuche innerhalb des Kunst- oder des eher vorkulturellen Unterhaltungssystems behaupten. Historisch gesehen wären sie die Fortschreibung von Burckhardt- und NietzscheMißverständnissen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, vom ästhetischen Hedonismus der Burckhardtianer und von der Hyperbolik der Nietzscheaner, vom „Reisetypus des Ubermenschen in den Osterferien, [der sich] mit Zarathustra in der Tasche seines Lodenmantels, neuen Lebensmut einrauscht zum Kampf ums Dasein, selbst gegen die Obrigkeit" (Aby Warburg, zit. bei Maikuma 1985, S. 18, Fn. 27).

V Der Fall Nietzsche ist freilich nicht gänzlich auf dem Konto Warburgscher Ironie zu verbuchen. Nietzsche mag, in der Geburt der Tragödie zum Beispiel, den „theoretischen Menschen" und seine „alexandrinische Cultur" abgewertet haben. Im „wüsten Wissensmeer" verlange es den modernen Menschen nach einer Küste, wie sie etwa die napoleonische „Productivität der That" (Goethe) oder das leidenschaftliche Erlebnis zu bieten scheint (Nietzsche 1886a, 1988, S. 116 f.). Aber solche Sprüche zielen bei Nietzsche keineswegs auf ein vorreflexives Eintauchen in Erfahrungsströme jenseits von Beobachtung und Code. Sie umschreiben vielmehr, mit einer historisch motivierten Akzentsetzung zugunsten des von der „abgeirrten Cultur" (der Normalität) immer weniger Zugelassenen oder Codierbaren, zugunsten der Leidenschaften', eine für Nietzsche basale Doppelung menschlicher Weltkonstruktionen. Weil es keine unmittelbaren sinnlichen oder intellektuellen Gewißheiten gibt, pendeln wir zwischen Erlebnissen und deren Beobachtung. Als „Erfinder" schauen wir unseren Erlebnissen immer auch zu (Nietzsche 1886b, 1988, S. 29, 114). Insofern sind wir, in ironisch anmutender Uberbietung Luhmanns, „viel mehr Künstler" als wir wissen (a.a.O., S. 114).

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Durch Nietzsches Schriften zieht sich eine Doppelung von Leidenschaft und Konstruktion, Erlebnis und Beobachtung. Trotz der Schwierigkeiten, angesichts zertrümmerter Affektenlehren und Rhetoriken von einer zuverlässigen Koppelung zwischen Affekten und Medien überhaupt noch zu reden, haben sich Versuche in diese Richtung außerhalb der Systemtheorie zäh gehalten. Musil läßt den Mann ohne Eigenschaften mit Verbindungen zwischen „Genauigkeit und Seele" experimentieren; in der Psychologie hat etwa Mihaly Csikszentmihalyi (1990) „flow"-Erfahrung als Doppelung einer Art verflüssigter, aber konzentrierter Leidenschaft und bewußter Steuerung unter komplexen, herausfordernden Bedingungen beschrieben. In dieser Perspektive fehlt es dem Fernsehen an einem Stimulierungspotential für sowohl konzentrierte wie ,selbstvergessende' Absorption. Umgekehrt mögen sich Lesen, Genuß der Einsamkeit, Bergsteigen, chirurgisches Operieren, manche Sportformen und gelegentlich selbst Verbrechen in überraschender psychokultureller Nähe zueinander wiederfinden. Auch Luhmann bricht gelegentlich aus den systembezogenen Codes aus: In gekonnter Werbung mag „gute Form" die Information (der Code der Massenmedien ist Information/Nichtinformation) vernichten (Luhmann 1996, S. 87). Gute-Form-Werbung hätte dann im Sinne von Goetz - und im Gegensatz zu Packards geheimen Verführern - kein Problem; man betrachtet sie fasziniert, aber nicht irritiert oder distanziert. Auch andere massenmediale Gattungen drohen aus dem Code auszubrechen: In erotischen oder in Kriminalfilmen, auch im Sport, in der zum Mitschwingen einladenden Musik mag alles mögliche an „nicht-linearen Kausalitäten, dissipativen Strukturentwicklungen, negativen oder positiven feedbacks" ausgelöst werden (a.a.O., S. 109-113). Luhmann bannt das Uberborden solcher tendenziell systemsprengender Trends und erklärt sie zu „psychologischen", d.h. kontingenten, kommunikativ folgenlosen Effekten. „Psychologische Effekte" sind demnach „viel zu komplex und viel zu eigendeterminiert und viel zu verschieden, als daß sie in die massenmedial vermittelte Kommunikation einbezogen werden könnten" (a.a.O., S. 113 f.). Und auch nicht in die von der Kunst vermittelte: Wenn Kultur, wie es in den Sozialen Systemen noch etwas allgemeiner hieß, zwar keinen normativen Sinngehalt fixiert, wohl aber Sinnfestlegungen trifft, über die bzw. deren selbstreferentielles Spiel beobachtend kommuniziert wird (Luhmann 1984, S. 224), dann bleibt das, was „in literarischen und philosophischen Traditionen mit Titeln wie Genuß, Faktizität, Existenz benannt worden" ist, was in der religiösen Erfahrung unter „Transzendenz" figu-

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riert (a.a.O., S. 97), dann bleibt all dieses, sofern es nicht in Sinnsystemen semantisch zugerichtet wird, „momenthafter Impuls, dunkle Stimmung oder auch greller Schreck ohne Verknüpfbarkeit, ohne Kommunikabilität, ohne Effekt im System" (a.a.O., S. 98). Man fragt sich, ob solche Qualitäten, die man durchaus kommunikativer bestimmen könnte, ästhetische (als offene kunst-kulturelle) Erfahrung nicht besser treffen als ihre Verspannung ins (Kunst-)System.

VI Kulturtheoretisch bietet die Systemtheorie offenbar eine Dreiheit inkommunikabler (und daher weitgehend zu vernachlässigender) Qualitäten, rasch kommunizierbarer (daher aber auch trivialisierbarer und alteuropäisch anmutender) Semantiken und Themenvorräte (etwa die Inflation' des Identitätsproblems in allen möglichen Diskursen) und einer eisernen, freilich ausgebleichten Ration einer um Beobachtung und Selbstreferenz kreisenden kunst-kulturellen Begrifflichkeit. D e m Auseinanderdividieren der Kultur in inkommunikable Effekte und banale Semantiken paßt sich die Beschreibungsrichtung der Theorie an. Es verschwindet all das, was Ästhetiken von Hegel bis Adorno, aber auch etwa jene Deweys oder neopragmatischer Ansätze als .lebendige' oder gar leidenschaftliche Erfahrung in den und durch die Medien der Kultur beschäftigt hat. Es fehlt eine Dimension zwischen Lärm, grellem Effekt und beobachtetem Sinn, weder lediglich inkommunikabel noch auch rasch thematisierungsfähig zugerichtet, eine Dimension, die als prozessuales Produkt von Nietzsches Dynamik ineinandergeschichteter Faszination und Beobachtung gesehen werden könnte. Man kann Luhmanns Position - zumal sie auch einiges an historischen Motivationen beanspruchen darf - nicht .widerlegen'. Man kann nur hoffen, daß eine Kostenrechnung mit anderer historisch-theoretischer Justierung (und sei sie auch partiell alteuropäisch) systemtheoretische Attraktivität etwas schmälert. In Nietzsches emphatischem Kulturbegriff dominiert die bei Luhmann auf die Verstärkerfunktionen der Unterhaltung abgeschobene Dimension .leidenschaftlicher' Erlebnisse etwa die Musik als Selbstgenuß der (natürlich auch in und durch Beobachtung mitkonstruierten) Leidenschaften (Nietzsche 1886b, 1988, S. 92). Diese Akzentuierung ist, auch bei Burckhardt, vornehmlich negativ motiviert. Sie entspringt einer Art Kontaktverlust mit der kulturellen Produktion des 19. Jahrhunderts. Wagner, der für Nietzsche in dieser

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Hinsicht am ehesten Abhilfe zu schaffen schien, wird zur größten Enttäuschung (für Burckhardt gehört Wagner eigentlich zur Berliner Geschäftswelt). Die erstickte Faszination zeitgenössischer Kultur unterbindet bei Nietzsche und Burckhardt vor allem die Beziehung zum Theater, welches sich als Medium performativer Erregung und kommunizierbarer affektiver Codes noch bis ins 18. Jahrhundert bei Lessing oder auch im theoretischen Pathos des frühen und im theatralischen Pathos vielleicht des ganzen Schiller halten konnte. Die scheinbaren Widersprüche zwischen Nietzsches Faszination mit dem Theatralischen und seine wütende Theaterkritik lassen sich so entzerren. Die erstickte Faszination zerstört auch den Glanz der Feste, der lebensweltlichen Formen des Theatralischen, über die sich Goethe in Dichtung und Wahrheit etwa noch länger als über sonst etwas auslassen konnte. Burckhardt kann mit den banal politisierten Festen seiner Zeit nichts mehr anfangen. Er stilisiert, vielleicht auch deswegen, das „italienische Festwesen in seiner höhern Form" zum „wahren Ubergang aus dem Leben in die Kunst", das heißt zum Inbegriff von Kultur (Maikuma 1985, S. 237). Wohlgemerkt: die Feste der italienischen Renaissance bewerkstelligen für Burckhardt keine Rückkehr zur vermeintlichen dionysischen Urnatur, sondern werden als bewußtes, gleichwohl leidenschaftliches Kunstwerk inszeniert (a.a.O., S. 238f.). Ahnliches gilt für das Versickern der Konversationskultur, jene Durchmischung von Geselligkeit und Kunst, die Burckhardts frühe Bonner und Berliner Zeit zur glücklichsten seines Lebens macht (dazu Heimpel bei Burckhardt 1905, I960, S. 14). Der Zusammenhang und das Auseinanderdriften von Kultur, Geschichte und Politik wird in zwei Extremen und deren Zwischenstufen codiert. Heimpel beschreibt sie im Blick auf Burckhardt als die Suche der Schönheit außer und trotz, im Blick auf Ranke in der Geschichte (Burckhardt 1905, 1960, S. 15), also in der Geschichte der Sieger. Die Vorformen der Systemtheorie im 19. Jahrhundert verhalten sich dieser Unterscheidung gegenüber neutral. Sie neigen aber aufgrund ihrer utilitaristischen Trends und zivilisatorischen Fortschrittssemantik dazu, das Kulturproblem überhaupt zu neutralisieren. Herbert Spencer hat die Ausdifferenzierung von Nationen und Gesellschaften in heterogene Komplexitäten und, im Gegenzug, den Druck zu normalisierender Kommunikation eindringlich beschrieben. Für die - etwa gar teilnehmende - Beobachtung des „dynamischen Elements im Leben", der „Menschheit im Konkreten" (zit. bei Durant 1926, 1958, S. 348, 367), das heißt auch der Kultur, bleibt demgegenüber kaum Platz. Für Burckhardt wie für die Kunst- und Sozialphilosopherv des 19. Jahrhun-

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derts in der Art Carlyles, Ruskins, Morris' oder auch Matthew Arnolds ist die Differenz zwischen Kunst und Gesellschaft nicht eine beobachtend zu treffende Unterscheidung, sondern eine quälende Diskrepanz. Ihre z.T. individualpathologische Verarbeitung dieser Diskrepanz macht im Rahmen biologisch-soziologisch langfristiger und bei Spencer noch mit einem Fortschrittsmarker versehenen Evolution keinen Sinn. Spencer kann sich ein volles oder vollständiges Leben („how to live completely") nur als Optimierung des Lebenskampfes unter industriellen Bedingungen vorstellen. Diese Vorstellung - und das zeigt Spencer im 19. Jahrhundert in gleichsam nackter Form - wird in Arbeits· und Kommunikationssystemen entwickelt, die vom kulturellen .Leben', was immer dieses sei, vollständig abgekoppelt sind. Aus Spencers evolutionären Bilanzen fallen ästhetische Kulturformen heraus: Wo immer die „kleinen angenehmen Gestalten und Farben des Seins" (Durant 1926, 1958, S. 346) in Erscheinung treten, müssen sie sich „those kinds of culture" unterordnen, welche „bear directly upon our daily duties" (Spencer 1966, S. 88 f.). Diese Art von latentem, aber gelegentlich plattem Utilitarismus im Rahmen großflächiger evolutionärer Differenzierungen kann sich Luhmann im späten 20. Jahrhundert nicht mehr leisten. Er verabschiedet die positiven oder negativen Konnotationen von Evolution als fortschrittliche oder dekadente Entwicklung. Aus Spencer lasse sich „herauslesen", daß Evolution nicht als unilinearer, kontinuierlicher, nur endogener, nicht als irreversibler oder notwendiger Prozeß verläuft (Luhmann 1978, S. 421). Theoriegeschichtlich vollstreckt Luhmann Spencers Tendenz, Menschen „in der Umwelt des Gesellschaftssystems (und erst recht: aller anderen Systeme)" zu placieren. Und er hat recht, wenn er meint, es sei „nicht einzusehen, weshalb der Platz in der Umwelt des Gesellschaftssystems ein so schlechter Platz sein sollte" (Luhmann 1994, S. 55). Alles hängt dann freilich davon ab, was man unter die Systeme zählt. Die Nobilitierung der Kunst zum System (die für jemand wie Valéry freilich das Ende der Kunst bedeutete) ist, theorietechnisch gesehen, zunächst lediglich das modernisierte Äquivalent zum anti-ästhetischen Utilitarismus Spencers. Äquivalente dieser Art setzen die Entscheidung, ja die Unterstellung voraus, eine von alteuropäisch-lebensweltlichen Trübungen gereinigte, Unterscheidungen unabhängig davon nahelegende Beobachtung müsse zur alleinigen Situierungsinstanz ästhetischer Erfahrung erhoben werden. Die Entscheidung blockiert eine andere, systemtheoretisch nicht vorgesehene Unterscheidung zwischen verschiedenen Wahrnehmungsund Beobachtungsformen bei verschiedenen ,Künsten'. Daher werden

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manche der üblicherweise oder inzwischen den Künsten zugerechneten Medien, wie die (ihrerseits wohl enorm zu differenzierende) Musik oder der Film, bei Luhmann gerne im Kontext der unterhaltenden Massenmedien erwähnt. Eine aus solchen Vorgaben entspringende Theorie läßt sich zwar mit den in Sprangers Lebensformen vorsichtig angedeuteten, aber in karikaturaler Form auch sattsam bekannten Implikationen theoretischer Lebensform nicht einfach verrechnen. Sie ist dagegen aber, wie ich gleich zumindest ansatzweise belegen möchte, auch nicht gänzlich abzuschirmen. Burckhardt mag sich aus der Suche nach Formen emphatischer Kulturerfahrung seiner eigenen Zeit ausgeklinkt haben. Es ist nicht mehr die aktuelle Kultur selbst, sondern die Kulturgeschichte (neben den Restformen kultureller, strikt begrenzter Kleingruppengeselligkeit, der Abende am Klavier und beim Rotwein, der Umgang mit den sog. einfachen Leuten), welche die Doppelung von Beobachtung und Leidenschaft ermöglichen. Bei Burckhardt resultiert solche Erfahrung aus Situationen kultureller Heterogenität. In diesen hat sich das Interesse an beobachtender' Kulturgeschichte selbst zur geschichtlich motivierten, ja fast erzwungenen Leidenschaft gewandelt: Die gewaltigen Änderungen seit dem 18. Jahrhundert nötigen die eigene Zeit zur Konstruktion eines Gegengewichts, „wenn sie nicht alle Besinnung verlieren soll" (Burckhardt 1905, 1960, S. 34). Kulturgeschichte als Imagination vergangener dramatischer Heterogenität, von der es kein „systematisches Bild" gibt und die sich vornehmlich „rittlings über der Scheide zweier Epochen" ereignet (Constantin zwischen heidnischer Antike und Christentum, das Unheimliche und Gottverlassene von Renaissanceexistenzen usw.), diese Kulturgeschichte vergegenwärtigt kein stillgestelltes imaginäres oder auch hermeneutisch angeeignetes Museum; sie erfährt - oder imaginiert - das Fortwirken der vergangenen „Zivilisation" als „nächste Mutter der unsrigen" (Burckhardt 1859, 1978, S. 7), auch und gerade wenn sie in manchem völlig unverständlich erscheint. Diese Art der Imagination konstruiert - ganz im Sinne der Systemtheorie - keine historischen Kontinuitäten, sondern ist und dies nicht im Sinne der Systemtheorie - gepackt von den unvorhergesehenen Parallelen etwa zwischen der Spätantike und dem 19. Jahrhundert bis hinein in die Physiognomie der Menschen. Für Burckhardt stand daher in der Kultur der Renaissance in Italien nicht der vielzitierte vierte Abschnitt „Die Entdeckung der Welt und des Menschen", sondern der dritte zur „Wiedererweckung des Altertums" in einem nicht winckelmannschen Sinn im Vordergrund. Eine solche Verschränkung

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von Personen u n d Kulturen schleppt keineswegs „Denkvoraussetzungen" mit sich herum, die Luhmann zu Recht für „heute schlechterdings unakzeptabel" hält (Luhmann 1994, S. 55): die Beschreibung der Menschen nach dem Dingschema, nach hierarchisierbaren Eigenschaften. Die Verschränkung ist weit mehr von den Spielräumen der Selbstentwürfe gefesselt, welche der Forderung Luhmanns, den „Reichtum der Welt" und, wie ich hinzufügen möchte, ihrer Inszenierungsspielräume zu beschreiben (a.a.O., S. 53), in erheblichem Ausmaß nachk o m m e n . Zweifellos überschattet ein Bewußtsein der Nachträglichkeit, das Empfinden, in einer lediglich traditionsbezogenen Kultur der Rückschau, des Aufschubs ,nach der Kultur' zu leben, überschattet also ein kulturell generalisiertes Freudsches Unbehagen die okzidentalen Kulturen seit langer Zeit. Ralf Konersmann meint bestätigen zu können, daß das „Unbehagen" an solcher Kultur den europäischen Formen der Daseinsorganisation unveräußerlich sei (Frankfurter Rundschau, 28. 6. 1994, S. 10). Gleichwohl müsse sich, so Konersmann, die Kulturphilosophie von anderen kulturwissenschaftlichen (oder historischen) Disziplinen dadurch unterscheiden, daß sie ihre Gegenstände nicht nur diskursgerecht herrichte, nicht bloß .wissen' oder b e o b a c h ten' wolle. Wenn sich in der Kulturgeschichte so etwas wie eine Rückkehr zum Subjekt (Roger Chartier) ereignet, so ist damit die partielle Nichtreduzierbarkeit ästhetisch-kultureller Erfahrung u n d Praxis auf Beobachtungsperspektiven theoretischer Diskurse gemeint. Natürlich können Gelehrsamkeit, Theorie u n d Analyse nicht die distanzierte, in vielem jedenfalls leidenschaftslos beobachtend wirkende Haltung einmotten. Sie verschmelzen nicht mit ästhetisch-festlicher Erfahrung, sondern dekomponieren sie. D e n n o c h entspringt die extreme Distanz, wie sie Philologie und ästhetische Erfahrung schon im 18. Jahrhundert aufzuweisen scheinen (vgl. Schlaffer 1990, S. 196-211, 224f.) und wie sie Durant in erheiternd-deprimierender Form bei Spencer beschreibt, nicht nur den rationalen Standards der Wissenschaft, sondern eher institutionellen und sozialen Rahmenbedingungen und ihren zwar erwartbaren, aber keineswegs zwangsläufigen Wirkungen. In dieser Hinsicht ist die Differenz in der Göttinger Professorenschaft zwischen dem abgeschotteten Christian Gottlob Heyne und dem selbst als Physiker sehr leidenschaftlichen Lichtenberg etwa aufschlußreich. Ich neige dazu, die bei Lichtenberg, Burckhardt, Nietzsche (vgl. aber auch die Beiträge von A. Demirovic u n d H. Steinert für weitere Beispiele) sich abzeichnenden Lebensformen theoretischer (oder auch historisierender') Existenz für die kulturell manifesten Formen jenes erotisch-

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obsessiven Verhältnisses zur Theorie zu halten, das Peter Fuchs (in seinem Beitrag für diesen Band S. 68) auch Luhmann bescheinigt. Man könnte dann das Thema des vorliegenden Bandes auch so formulieren: Was besagt es, wenn (die Innenseite der) Theorie zur Passion wird, sich aber um die kulturell ebenso wandelbaren wie zähen Formen der Passionen und Obsessionen nicht mehr mit der gleichen Leidenschaftlichkeit kümmert? In älterer, gleichsam halbsystemtheoretischer Terminologie hat Hugo Fischer die systembezogene „Partikularisierung" von Menschen und Kommunikation beschrieben. Er hat aber - nicht dagegen, sondern daneben - geltend gemacht, daß Kunst und „kulturelles Kraftfeld", im Rahmen systemischer Realitäten in die „Stellungslosigkeit" getrieben, dadurch nicht „aus dem Felde" ihres „Spannungsund Perspektivreichtums" und deren offenen Horizonten, also in eine den „praktischen Realitäten" analoge Systemhaftigkeit gedrängt werden (Fischer 1965, S. 15, 25, 248 f., 297-300). Die Göttin der Theorie, d.h. Frau Spencer Brown (vgl. den Beitrag Fuchs) beobachtet in dieser Perspektive nicht die verschiedenen Differenzen von Wahrheit, Doxa und praktischen Lebensinterpretationen von außen. Sie gedeiht und verdirbt, als eines ihrer hochausdifferenzierten (,abgehobenen') Momente, in den von Systemen ge-, aber nicht erdrosselten, ja oft wohl verschärften kulturellen Spannungen.

VII Vielleicht hat sich Dilthey mit Hegel den falschen herausgesucht, als er ihn als jenen Typ des Berufsphilosophen bezeichnete, in dessen Adern kein Blut fließt. Ein kulturelles, vielleicht schon längst banalisiertes und daher ohne Schamgefühle kaum mehr anzugehendes Theorie-Problem - das .Verhältnis' des Theoretikers zum .Gegenstand' - hat Dilthey damit gleichwohl dingfest gemacht (vgl. aber auch H o m a n n 1996, S. 192 f., 198). Manche haben erste kulturelle Defizite bereits beim .Leser' Aristoteles festgestellt. Dieser hielt u.a. und für nicht nur die damalige Zeit erstaunlicherweise dafür, daß die Aufführung einem Drama nicht wesentlich sei. Er hätte damit, in der Preisgabe des ästhetisch Performativen, auch so etwas wie den kulturellen Performanzbezug der Theorie eingeläutet. Die These wird, ähnlich wie Burckhardts andere Folgerungen, verständlicher, wenn man annimmt, daß Aristoteles die dramatische Produktion seiner Zeit kaum gekannt und schon gar nicht geschätzt hat. Im 19. Jahrhundert liefert Herbert Spencer den

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Theoretiker, bei dem der oft schon komische Kontaktverlust (s.o.) mit weiten Bereichen der kulturellen Produktion unübersehbar geworden ist. Das vielgescholtene 19. Jahrhundert hat aber immerhin noch die kulturellen Prägnanzformen

leidenschaftlichen Theoretisierens - in w e l c h e n

textuellen oder medialen Formen auch immer - zu bieten (neben Burckhardt, Nietzsche in England Carlyle und andere usw.). Ich habe den Eindruck, daß sich ein entsprechender Bedarf auch in den Fort- und Umschreibungen gegenwärtiger Systemtheorie zu "Wort meldet. Er schimmert, wie mir scheint, in den Appellqualitäten durch, mit denen die Begriffe .Beobachter' und ,Kultur' aufgeladen werden. Offiziell genießt das Beobachten die Freiheit der Unterscheidungen, gilt selbst aber als eine offenbar homogene kognitive Operation. Gleichwohl ist es möglicherweise leichter, sich unter der Teilnahme am hermeneutischen Traditionsgeschehen bei Gadamer, unter dem „Begreifen, was mich ergreift" Staigers sich (irgend)etwas vorzustellen als herauszufinden, was der Beobachter eigentlich tut. Man könnte z.B. W. Isers Wirkungsästhetik bis hin zu seiner literarischen Anthropologie als Theorie charakterisieren, welche die Textlektüre im Begriff des Spiels als kontinuierliche Ubergänge zwischen Verstrickung (von der vollständigen Absorption bis zum verständnislosen Aussteigen aus der Lektüre) und einer permanentem Unterscheidungsdruck ausgesetzter distanzierender Beobachtung bestimmt (vgl. z.B. Iser 1991, S. 466). Auch der Metapher des „Seismographen" bei Aby Warburg wird man, selbst wenn man sie und ihre Ausweitung zur Vorstellung eines Kulturkosmos nicht mehr teilt, Doppelungen dieser Art entnehmen können: Der Kultur-Seismograph ist sich der Heterogenität nicht nur seines kulturellen Bodens, sondern auch seiner selbst („aus Holzstücken zusammengesetzt", zit. bei Maikuma 1985, S. 2) bewußt. In den kleinen Pausen zwischen der Registrierung der Wellen und ihrem Weitergeben entstehen Strukturierungsmöglichkeiten zwischen dem Distanzverlust im Umgang mit „Pathosformeln" und deren Genesung zur Sophrosyne, zur Mäßigung, zur Analyse (Maikuma 1985, S. 17f.). In dieser Hinsicht ist es kulturtheoretisch auffällig, daß Luhmann vornehmlich selbstreflexive Literatur in den Blick genommen hat, in denen Beobachtung als distanzierende Relativierung, als Vielfalt der Unterscheidungen gleichsam exemplarisch vorgebildet ist. Diese Art der Literatur ist aber selbst nur ein Moment in disparaten kulturellen Szenerien. Daraus folgt, daß sich die Analyse etwa von Codierungen der Intimität nicht auf deren textuelle Formen beschränken sollte. Film und Musik könnten sowohl den für Massenmedien als auch für Kunst

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(falls man diese Unterscheidung überhaupt auf eine Art treffen will) konstitutiven Systembegriff und die entsprechenden Codes (schön/häßlich, gelungen/mißlungen, Information/Nichtinformation z.B.) in verschiedenen Weisen sprengen: Musik lädt zum „Mitschwingen" ein, so daß es sich fragt, wo das mitzubringende und durchs (Massen-)Medium zu verstärkende Wissen in diesem Falle anzusiedeln wäre (Luhmann 1996, S. 109). Was der Film an Vertrautem in die „Welt der Imagination" (a.a.O., S. 99) von Zuschauern hineintransportiert, durchschlägt sehr leicht den Systemmechanismus der Unterhaltung, in der - nach Luhmann - die Spuren von Erzeugungsmechanismen getilgt werden (weil sonst Unterhaltung sich in die kognitiv aufwendigere und kommerziell unrentable selbstreferentiell-reflexive Kommunikation der Kunst verwandeln würde). Im Film kann sich eine zweite Lektüre nur „lohnen", wenn „der Filmseher [wie der Leser] sich auf die Darstellungsleistungen" oder „auf die Bewunderung" solcher Leistungen „konzentrieren" will (a.a.O., S. 105). Das scheint mir die Spannweite legitimer, theoretisch thematisierbarer Film-Interessen doch arg zu verengen. Die Spannung zwischen den vorkulturell-unbewußt-bewundernden und den kulturellbewußt beobachtenden Dimensionen bringt auch den leidenschaftlichen Theater- und Filmemacher und kühlen Systemtheoretiker D. Schwanitz einigermaßen außer Atem. Sicherlich beobachten sich, wie Schwanitz will, in einem Stück wie Hamlet die Figuren oft wechselseitig. Sie werden ihrerseits von Zuschauern beobachtet, die sehen, was die Figuren nicht sehen. Daß nur solches geschieht, daß nur - wieder einmal - eine „neue kulturelle Erfahrung" vom Typ der Ablösung einer Ontologie der Evidenz durch eine standortgebundene Optik inszeniert wird, ist hingegen albern (Schwanitz 1995, Bd. 1, S. 73 f.). Wie gut sich Beobachtung und action selbst à la Hollywood vertragen, kann man dem Hamlet-Film von Mei Gibson entnehmen. Eine Theorie müßte mit der unterscheidungstreibenden Komplexität von Beobachtungssituationen ebenso umgehen, wie sie den Beobachtungskollaps in der Verlebendigung von Evidenzerfahrungen und der „Lebendigkeit des Phantastischen" (Iser 1993, S. 17, 23f.) spüren lassen sollte. Ein ebenso (,englisch'-)nüchternes wie emphatisches Modell der ebenso komplex-modernen wie archaischen Musik hat in dieser - den Zusammenbruch einer Sjitowunterscheidung zwischen Kunst und Massenmedium einschließenden - Hinsicht Nicholas Cook mit Music, Imagination, and Culture vorgelegt (Cook 1990, vgl. vor allem S. 8,17, 37, 69, 95-98,161, 165,171,176-179 mit tentativen, aber nicht durchzuhaltenden literaturwissenschaftlichen Anleihen bei der Wirkungsästhetik W. Isers).

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Natürlich kann niemand gleichermaßen intensive Beziehungen zum Spektrum heterogener Kulturpraktiken unterhalten. Die Segmentkultur ist - auch - eine Tatsache. Aber einzelne kulturelle oder auch einzelwissenschaftliche Trends müssen nicht unbedingt und zum Nachteil eines beziehungsreicheren kulturellen Kraftfeldes durch systemische, sozialgescbichtlich naheliegende (Vor-)Ent- oder Unterscheidungen zusätzlich geadelt werden. Einen im Rahmen einer themen- oder „symbolbezogenen Definition von Kultur" überraschend dramatischen Hinweis hat Luhmann selbst gegeben: Während die semantische Karriere von Kultur begann mit einer Polemik gegen die Folgen der industriellen Revolution und gegen den politischen Leichtsinn der Französischen Revolution, könnte es heute eher darum gehen, an Hand von Regionalvergleichen sich die evolutionäre und strukturelle Unwahrscheinlichkeit der modernen Gesellschaft vor Augen zu führen. Das würde heißen, nicht nur die symbolischen Aspekte der heute überzeugenden Kultur darzustellen, sondern auch die andere, die diabolische Seite eben dieser Kultur mitzureflektieren. (Luhmann 1995b, S. 54)

Man muß aber nicht den Teufel bemühen (Kultur ist „weder ein Geschenk des Himmels noch eine Gabe der Hölle", Baecker 1998, S. 241), um die Andersheit der Kultur, ihren Mangel an System, die Schwäche und Labilität vermeintlich unterscheidungssichernder kultureller Gedächtnisse und das daraus entspringende Unbehagen („unease") der Systemtheorie an der Kultur zu gewärtigen und eine Art Sinn für kulturelle Dramatik - meinetwegen durch einen in der Systemtheorie selten genauer bestimmten „kultivierten Beobachter" - zu entwickeln (vgl. Baecker 1997a, S. 37, S. 44 mit Bezug auf Simmeis Tragödie der Kultur, S. 48, 1997b, S. 110, 1998, S. 245). Baecker hält an Kultur als Kommunikation fest, die einen besonderen Typ von Beobachtung realisiere: die Beobachtung von Sachverhalten als Unterscheidungen und dieser Unterscheidungen auf ihre Form (Baecker 1996, S. 8f.). Aber auch dann lassen sich die systemtheoretischen Pflöcke nicht mehr so fest einrammen. Da diese Art von Beobachtung auch anderswo geleistet wird, erhebt die kulturelle Kommunikation zusätzlich Einspruch gegen die „Zweiwertigkeit aller Unterscheidungen" (a.a.O., S. 9,1997b, S. 113, 115, 121, 124 mit der Rehabilitierung der grellen Effekte, die Luhmann aus kultureller Kommunikation verbannen wollte). In der „unnachahmlichen Plastizität und Permeabilität der eigenen Operationen" (Baecker 1996, S. 11) ist Kultur „systematisch ebenso fröhlich wie unglücklich" (S. 10). Sollte es, wofür einiges nicht nur für die Gegen-

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wart spricht, dahin gekommen sein, „daß als kulturelles Ereignis nur noch erfreut und gefällt, was zutiefst verstört" (Baecker 1998, S. 214, allerdings insgesamt mit anderer Akzentuierung im Blick auf „Zivilisation"), dann wird verständlich, warum gegenwärtige Systemtheorie angesichts zivilisatorischer Normalisierung (die „Richtigkeit" der Gesellschaft, Baecker 1997b, die „Herrschaft der Verlautbarung" und die äußerst ungewisse „Erreichbarkeit des Bewußtseins", Fuchs 1998) nunmehr verstärkt den Dramen solcher Verstörungen nachspürt. Bei Fuchs machen sie sich an den apart-extremen Formen japanischer und autistischer Kommunikation und nicht nur da geltend. Denn diese stehen stellvertretend für einen - im Vergleich zu Luhmann - anders zu präzisierenden, zu ziselierenden und auch zu erprobenden Kommunikationsbegriff, der sich auf „Sinnverteilungsmechanismen der ,subliminalen' Art", auf „Verschmutzungsformen am Rande .sauberer' Autopoiesis, Verwirbelungen unklarer Art, hybride Kontexte" und vorprädikative Formen einläßt (Fuchs 1995, S. 9-11). Kommunikation (als Moment sozialer Systeme und darin Derridas ,Schrift' vergleichbar) „nimmt nicht wahr, empfindet nichts, verzeiht nichts, denkt nichts" (a.a.O., S. 39). Als formalisierte Prozessoren und (auch) Referenzpunkte des sozialen Geschehens sind Personen normalerweise eingespannt in die Polarität von (nichtssagendem) Lärm und (auch nicht sehr viel sagendem, weil auf kommunizierbare Semantik getrimmtem) Sinn (S. 43). In zivilisatorischen Prozessen, in denen Personen sich als Identitäten nicht zur Geltung bringen, in denen sie vermeinliche Einzigartigkeit nicht kommunizieren können, müssen sie sich notdürftig als diffuse und sich selbst in ihren Binnenstrukturen weithin unbekannte, nur in ihren Symptomen greifbare psychophysische Einheiten jenseits der alles beherrschenden Sozialität begreifen (a.a.O., S. 71 f., 1998, S. 173). Fuchs hat insoweit Luhmanns Ausschluß der Person aus der Gesellschaft seinerseits, wenn auch mit gesteigerter Eindringlichkeit „vollstreckt" (vgl. a.a.O., S. 72, Fn. 70). Aber er demonstriert auch, daß diese Unterscheidung - welche systemtheoretisch unweigerlich gemacht wird, obwohl sie sich doch nur einer Empfehlung oder Instruktion, überhaupt eine (irgendeine?) Unterscheidung zu treffen, verdankt - wenig mehr als eine (fast würde man sagen: lediglich eurozentrisch) plausible heuristisch-historische Annahme ist. Die Unterscheidung gerät im japanischen Kontext ins Rutschen, weil schon die japanische Sprache die Vorstellung eines - und sei es auch nur intrapsychisch - von sozialen Rollen abgetrennten individuellen Systems ständig unterläuft. So ist etwa das Gefühl der Einsamkeit weit stärker als seine oft quasi-substantialistische europäisch-romantische Va-

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riante an die Abwesenheit anderer Personen gekoppelt. Fuchs weiß oder m u ß wissen, denn er zitiert beispielsweise David H u m e (a.a.O., S. 64, Fn. 52), daß die Verabschiedung psychisch-sozialer System-Oppositionen zugunsten einer soziablen Verhaltenskultur eine vielleicht relativ seltene, keineswegs aber dem Westen fremde Gedankenfigur ist. Die den Japanern zu Recht unterstellte wechselseitige Wahrnehmung der Personen in wechselnden Rollen mit „psychisch entsprechend dividualen", polykontexturalen Effekten (a.a.O., S. 66) läßt sich in sozialer Systemreferenz als „Schonungsphänomen" (S. 52), als „kommunikationsstrukturelle Empathie[!]" (S. 53), genausogut aber auch in psychischer Systemreferenz als „ein hoch trainiertes, übersensitives Verstehen" (S. 52) beschreiben. Komplementär dazu erscheinen auch die sozialen Systeme in der Form komplexer, immer auch ,anpsychisierter' „Du des Du"-Beziehungen (S. 66). In japanischer Kommunikation n e h m e n die hybriden Kontexte, die Referenzüberschneidungen so überhand, daß sie ihrerseits normalitätsbildend wirken. Paradigmatische Form einer Durchmischung dessen, was systemtheoretisch als psychische u n d soziale Systemreferenz auseinanderzuhalten wäre, ist die japanische Schrift - bzw. besser die Schriftkultur oder gar -kunst (also die Ubergänge von Schrift in Kalligraphie). Hier gleiten die sozialen Zurechnungsroutinen ins Bodenlose (S. 83). Systemtheoretisch hat das Bewußtsein mit Kommunikation nichts zu tun. Hier aber drängen sich „kommunizierte Bewußtseinsseltsamkeiten" auf (S. 83), u n d dies mehr als der Systemtheorie (nicht schlicht der „Soziologie", wie Fuchs schreibt) lieb ist. Japanische ,Soziologen' und ,Psychiater' bzw. ihre Bücher (etwa Chie Nakane über die Strukur der japanischen Gesellschaft oder Takeo Doi über die Strukturen psychisch-sozialer Abhängigkeit) stehen sich daher relativ nahe. (Gerüchteweise hört man, daß dies auch im Westen vorgekommen sein soll, daß es da .große', ja klassische Werke gibt. Aber sie stehen wohl derzeit, vermutlich weil ihre deskriptiv suggestiven Erträge überwiegend alteuropäischen Begrifflichkeiten geschuldet sind, nicht hoch oder gar nicht im Kurs. Da nützt es nichts, wenn Neider der Systemtheorie sagen, deskriptiv sei sie ihren Vorgängern allemal unterlegen.) Nichts ist z.B. verräterischer und irreführender als der Titel der amerikanischen Übersetzung („The Anatomy of Self. The Individual Versus Society") von Takeo Dois Omote to Ura (was zunächst nur Vorder- und Rückseite bzw. die entsprechende Tür bezeichnet, ein weitergehendes konnotatives Kammerflimmern, ja die Erhebung zum Prinzip eines ständigen personal-sozialen Oszillierens aber natürlich nicht ausschließt, sondern in der flexiblen

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Handhabung einer labilen Differenz geradezu erzwingt). Aber indem die Systemtheorie, im Blick auf einen Ausdruck wie „the individual versus society", lediglich „versus" durch einen Schrägstrich ersetzt und mit dem Begriff „Referenz" oder Formulierungen wie den Personen als ,Umwelt' von Systemen ergänzt, kommt sie vom konnotativsedierenden Bann vermeintlich stabiler Basalunterscheidungen meist nicht los. Demgegenüber ist bei Fuchs eine Redramatisierung der Systemtheorie angesagt. Er hält fest, daß Phänomene artistischer, ästhetischer Art analog zur japanischen Kommunikation als „Effekte dividualer Kommunikation" (1995, S. 87), als Kommunikation mit einem „psychischen Fenster" (S. 115) betrachtet, als „Virtuosität des Erlebens" vielleicht unterstellt, jedenfalls als „virtuose Kommunikation" (S. 116) beobachtet werden können. Will man das beobachten und will man darüber schreiben, so scheint sich, bei allem Durchhaltevermögen der leitenden Kategorien, der systemtheoretische Denk- und Schreibstil ,dramatisch' zu verändern. Es ist folgenreich (denke ich, auch wenn es banal klingt), wenn Theorie auch syntaktisch Fragen und Ausrufe, wenn sie stilistisch Emphasen aller Art (von unerhört bis ungeheuer) nicht scheut. „Einzigartige Erfahrungen" (Fuchs 1998, S. 173), falls es sie denn gibt, werden dadurch nicht kommunikabel, aber im theoretischen Gestus andeutbar. Eine „Ähnlichkeiten" zwischen Psychoanalyse und sich selbst entdeckende Systemtheorie (vgl. a.a.O., S. 36 u.ö.) wird das „Brodeln des Begehrens" (S. 83), wird „unsere Binnenerfahrungen von Begehren, Begierde, Verlangen" im ,,[F]ressen, [S]aufen und [H]uren" (S. 174, Fn. 146; vgl. S. 174 insgesamt und S. 184) nicht als Code rehabilitieren oder zu einem „Fundamentalbegehren" an sich, ohne Kommunikation (S. 184), reanthropologisieren. Das geht schon deswegen nicht, weil die moderne „polykontexturale" Gesellschaft die Adressierbarkeit von Kommunikationen derart vervielfältigt hat, daß alle „Zurechnungsroutinen und -Strategien" erodieren (S. 239). Aber diese Erosion erzeugt ihrerseits einen solchen Druck, daß die Gesellschaft, die durch ihre alles überflutenden Kommunikationen zum „Megaspieler", zum „superhumanen Leviathan" (S. 189) aufsteigt, sich entweder radikal neu gruppieren (S. 240) - oder, faute de mieux, an der vorläufig fortgesetzten Verwendung von Laios, Jokaste, Odipus und ihren kulturellen Dramen auf der Bühne wie im Leben als weiterhin „quälbaren Adressen" (S. 184-188) wird festhalten müssen. (Dabei gewährt Fuchs Laios und Jokaste Vorrang, weil der Laios-Komplex Kommunikation und ihr Abschneiden - Odipus wird ausgesetzt und an den

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Füßen verstümmelt - berücksichtigt. Erst nachdem auch Ödipus kommuniziert, wird er zu einer quälbaren Adresse.) O b Luhmann das als diabolische Seite der Kultur im Sinn hatte, steht dahin. Aber eine Theorie, die sich in ihren Denk- und Schreibgesten darauf einläßt, ist Systemtheorie nur im Blick auf ihre rahmenden (das englische Verb ,frame' wäre in seiner Mehrdeutigkeit hier besser) Kategorien. Die Ambivalenzen zwischen Rahmen und Gerahmtem, Werk und Parergon, reiner und anhängender Schönheit, mit denen sich Kant in der Kritik der Urteilskraft (§ 14) herumschlug, holen auch sie ein, sofern sie nicht nur kategorialer Rahmen, sondern auch M o m e n t in einer kulturellen Schreibpraxis ist oder sogar sein will. In dieser Hinsicht erinnert sie, in ihren neueren Varianten, an deskriptiv-ereignishafte Intensitäten, wie sie in früheren .unsauberen' Verschränkungen von soziologischer und ... (psychologischer, anthropologischer, ästhetischer) Theorie - in gegensätzlichen Thesen, aber analogen Formen und kulturellen Wirkungen - bei Theoretiker-Typen wie Gehlen oder Adorno auftraten.

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I. Theorie als kulturelle Errungenschaft?

Hans Kloft

Die Theoria der Griechen Ein Modell und drei Fallbeispiele

Wenn die Begriffe Theorie und Kultur zur Diskussion stehen, kommt man gemeinhin um die alten Griechen nicht herum. Was die Theorie angeht, sind Wort und Sache bei ihnen ursprünglich zu Hause. Theoria als Schau, zunächst diejenige elementarer religiöser Zusammenhänge (Nilsson 1967, S. 549f.; Rausch 1982, S. 12ff.), die sich wohl schon in vorsokratischer Zeit zu einem allgemeinen Begründungswissen ausweitet (Mittelstraß 1996, S. 259), kann sich im griechischen Umkreis zu einem besonderen Lebensstil entwickeln: Der bíos theoretikós, der auf geistige Erkenntnis aus ist, in sich selbst ruht und das höchste menschliche Glück bedeutet. Er wird bei Aristoteles scharf vom bíos philhédonos und bíos politikós, vom genußvollen auf der einen und vom politischen Leben auf der anderen Seite geschieden (Aristot. Nie. eth. 1095b 14 ff., 1177a 12 ff. mit den Bemerkungen von Dirlmeier ad loc.) und bezeichnet ein Ideal, das in der Form der vita contemplativa über die Antike hinaus bis weit ins Mittelalter gewirkt hat. Wie sich in diesem Falle die Theorie von ihrem ursprünglichen Horizont gelöst hat und den gewandelten Zeitverhältnissen angepaßt wurde, so hat auch der Begriff der Kultur im Verlaufe der Geschichte charakteristische Veränderungen erfahren. Dabei geht es in diesem Zusammenhang nicht um die bewundernswerten Objektivationen, um Kunst und Literatur der Griechen oder einer griechischen Kulturgeschichte, hinter der nicht allein bei J. Burckhardt ein mehr oder minder elaboriertes theoretisches Modell steht. Kultur als der Physis, der Natur abgerungene menschliche Existenzweise entsteht durch Begreifen {lògos) und Herstellen (téchne). Sie realisiert sich im Handwerk und in der Wirtschaft ebenso wie im staatlichen Zusammenleben, in Moral und Religion. So haben es die griechischen Philosophen, Demokrit, Protagoras und Kritias allmählich zu sehen gelernt und damit die Anschauung von göttlichen Kulturträgern in Gestalt eines Herakles oder

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eines Prometheus auf einen Prozeß der Zivilisation zurückgeführt, der von Menschen bestimmt wird (vgl. Nestle 1941, S. 197, 283 ff., 412 ff.) und erkennbare Regelhaftigkeiten aufweist.

I. Dies sind nun, universalgeschichtlich gesehen, in der Tat außerordentliche geistesgeschichtliche Leistungen, und man verkleinert sie in keiner Weise, wenn man gegen eine graecophile Uberschätzung, wie sie in der klassischen Altertumswissenschaft lange Zeit üblich war, die Bedenken, Ergänzungen und Korrekturen setzt, die Theorie und Kultur wieder auf den Boden der geschichtlichen Wirklichkeit zurückführen können. Als ein solcher Versuch hat sich zumindest in Teilen die marxistische Kritik verstanden, die in wohlbekannter Manier gegen die Theorie die Praxis ins Feld zu führen wußte und an der sozio-ökonomischen Basis und den Produktionsverhältnissen (Jürß 1982, S. 164 ff.) die Bedeutung und den Wert der Theorie maß. In dem seinerzeit weitverbreiteten und einflußreichen Buch des Marxisten G. Thomson, The First Philosophers, das 1955 in London erschien, wird das theoretische Ringen der Vorsokratiker unter der Uberschrift „Falsches Bewußtsein" abgehandelt: „Als eine Klasse von Müßiggängern hatten diese Intellektuellen keinerlei Anteil an der produktiven Arbeit, so daß folglich ihre Theorien auch von der Praxis getrennt waren" (Thomson 1974, S. 290). Aber es ist nicht nur die Praxisferne, welche das theoretische Bemühen charakterisiert. Das Denken entsteht nach Thomson sehr wohl als analoger Prozeß der Abstraktion, wie ihn ebenfalls die Warenproduktion in Form des Geldes aufweist (a.a.O., S. 293). Aber es wird notwendigerweise illusionär, wenn ihm diese Abhängigkeit verborgen bleibt und die Theorien als reine Denkvorgänge ausgegeben werden. So bildet sich .falsches Bewußtsein', das naturgemäß seinen Vertretern als solches verborgen bleibt. Die Kritik der Theorie aus dem Blickwinkel der Praxis ist bekanntlich nicht auf marxistische oder dem Marxismus nahestende Denkpositionen beschränkt, wiewohl die (vermeintliche) Verfügung über das, was Praxis eigentlich beinhaltet, eine Entlarvung der Theorie aus dieser Ecke wohlfeil macht (vgl. Kambartel bei Mittelstraß 1996, S. 289f.). In der köstlichen Anekdote um den „weltfremden" Philosophen Thaies, wie sie Piaton im Theaitet berichtet, werden Vorbehalte greifbar, die von der Antike an die Theorie und den bíos theoretikós begleitet haben.

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So erzählt man sich von Thaies, er sei, während er sich mit dem Himmelsgewölbe beschäftigte und nach oben blickte, in einen Brunnen gefallen. Darüber habe ihn eine witzige und hübsche thrakische Magd ausgelacht und gesagt, er wolle da mit aller Leidenschaft die Dinge am Himmel zu wissen bekommen, während ihm doch schon das, was ihm vor der Nase und den Füßen läge, verborgen bleibe. (Plat. 174 AB; Blumenberg 1987, S. 13f.).

Hans Blumenberg hat diesen denkwürdigen Fall des ersten namentlich bekannten griechischen Philosophen zum Ausgangspunkt einer Urgeschichte der Theorie genommen und in den Brechungen, welche die Anekdote bis hin zu Martin Heidegger erfahren hat, das ganze Dilemma, aber auch die Relevanz der Theorie in der ihm eigenen witzighintergründigen Form beleuchtet, einer Theorie, die Abstand halten m u ß , u m die Dinge richtig sehen zu können. Der Abstand, die notwendige Differenz ist es, welche die Konfrontation von Theorie und Praxis nach wie vor fruchtbringend u n d nötig macht (Schuller 1998, mit Beispielen u n d Lit.), wie sonst lassen sich Genese, Profil und Reichweite der theoretischen Konstrukte anders bestimmen? G. Thomsons globaler Hinweis auf die Abstraktion, die sowohl im philosophischen Denken wie im Warenverkehr des frühen Griechenland maßgebend gewesen seien, macht auf Zusammenhänge aufmerksam, die sehr wohl das Entstehen u n d die Absicht der griechischen theoria zu erhellen vermögen. Es k o m m t etwas Zweites hinzu. Blickt man über den griechischen Horizont hinaus, dann kann man leicht erfahren, daß in dem gesamten Bereich, den wir ganz undifferenziert Praxis nennen (Bien 1989, S. 1277 ff.), sehr wohl Botschaften enthalten sind, die von Zeitgenossen entschlüsselt und verstanden wurden, und dies ohne große theoretische Explikation. Jan Assmann, der intime Kenner altägyptischer Verhältnisse, spricht in diesem Zusammenhang von einer implizierten Axiomatik (Assmann 1993, S. 13 ff.), welche die Politik u n d Gesellschaft des Pharaonenreiches durchzieht. Das charismatische Königtum gewinnt seine Konturen in den sinnfälligen Geschichten u m die Geburt und die Taten der großen Könige, in ihrer Sorge u m die rechte O r d n u n g {ma'at) u n d um Gerechtigkeit nach innen wie auch in ihrem sieghaften Auftreten gegenüber äußeren Feinden (Erman/Ranke 1923, 1969, S. 60ff.). Sein Palast, sein Ornat, Krone, Waffen u n d Herrschaftsabzeichen dokumentieren die königliche Ausnahmestellung und offenbaren einen vielfach verborgenen oder verschütteten Sinn (vgl. Assmann 1996), der sich aus der Zeichenhaftigkeit der Dinge selbst erschließen läßt.

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Nun lassen sich derartig gespeicherte Informationen nicht nur im Bereich der altägyptischen Kultur finden (vgl. Kloft 1998, S. 135 ff.), zu deren Entschlüsselung Assmann in so überzeugender Weise beiträgt. Es ist unverkennbar, daß die „Arbeit am Mythos", welche hier zur Debatte steht, auch im griechischen Bereich zu einer Aufwertung gegenüber dem lògos und zu einem tieferen Verstehen seiner besonderen Zeichenhaftigkeit geführt hat (Vidal-Naquet 1989, S. 205f.). So hat man, um ein Beispiel zu geben, die Odipusgeschichte als .theoretisches Modell' interpretiert (Green 1984, S. 90 ff.), welches die Struktur einer doppelten Differenz (Geschlechter, Generationen, Vereinigung, Trennung) besitzt und zentrale Konflikte, sowohl individuelle wie gesellschaftliche, aufdeckt; besser gesagt: Der Mythos vermag den Konflikt in dramatischer und affektvoller Weise zu transportieren und erweist sich so der logischen Beweisführung durchaus überlegen. Er stellt „ein Konzept von Verhältnissen des Menschen zu seinen Erfahrungen mit der Welt dar" (Ch. Jamme), welches .Aufklärung' in verborgene Naturzusammenhänge zu bringen sucht und einen kulturellen Prozeß sui generis darstellt.

II. Zweifellos geht von diesen Bemühungen, das Verborgene in den Kulturen zum Sprechen zu bringen und in seiner ursprünglichen Intentionalität für uns heute zu erschließen, eine besondere Faszination aus. Die Semantik der Strukturen im jeweiligen historischen Kontext zu erschließen, bedeutet eine Herausforderung, der sich auch und vor allem der Historiker zu stellen hat. Wir sind auf diesen scheinbaren Nebenpfad nicht zuletzt deshalb eingegangen, um zu zeigen, mit welchen Einwänden und Konnotationen die oft so hochgelobte Theoriefähigkeit der Griechen zu rechnen hat. Gemessen an einer latenten Axiomatik und an der Sinnstruktur des Mythos, läßt sich nun die theoria angemessener präzisieren und an folgenden Kriterien festmachen: - Die Anbindung an das Verb theorein - schauen, theorós - der Zuschauer (Snell 1955, S. 20f., 403; Rausch 1982, S. 26ff.) konditioniert die theoria als eine zunächst sakral-festliche, sodann als eine besonders intensive Form der Wahrnehmung, die über das Auge auf den Kern einer Sache geht. Damit ist keineswegs ein Insichversenken, ein affektiver Modus des Sehens' (Snell) gemeint, vielmehr der helle Blick auf die Außenwelt, eine Art ,skoptischer Obsession'

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(P. Gay), welche die frühgriechische Literatur, Homer, Hesiod, die ionischen Naturphilosophen, um Beispiele zu geben, ganz allgemein auszeichnen. - Vom Sehen her entwickelt sich ein anschauliches Denken, welches in den Versuch mündet, die Gegenstände zu verallgemeinern, sie in ihrem Wesen, das heißt in ihrem Grund {arche) zu verstehen. Damit gewinnt die theoria den Charakter einer ,begründungsorientierten Wissensbildung' (Mittelstraß), die sich auf den Kosmos, die Zahlen, den Körper, auf Staat und Gesellschaft beziehen kann. Theoriebildung bleibt damit nicht allein eine Sache der Philosophie im engeren Sinne, sondern umschreibt eine Denkbewegung, die Kosmologie, Medizin, Mathematik, Geschichte und Staatslehre als Wissensbereiche zu formen beginnt. W. Nestle hat in diesem Zusammenhang von „Rationalismus" und „Aufklärung" gesprochen (Nestle 1941, S. 486ff.). Man tut gut daran, den neuzeitlich geprägten Begriffen zunächst auszuweichen und diesen Prozeß im Hinblick auf den Mythos anders zu akzentuieren. Der Mythos, ob wir Herakles, Odipus oder Pandora als Paradigmen nehmen, ist eine Chiffre, die Vordergrund und Hintergrund im naiven Erzählen zusammenbindet und sich der Deutung weitgehend enthält. Die theoria dagegen bringt Zusammenhänge zur Anschauung, versucht, hinter den einzelnen Phänomenen das Allgemeine, den Grund - und das heißt nach griechischer Anschauung: das nach wie vor Wirksame - auszumachen und somit der chaotischen Welt eine gewisse Ordnung und Regelhaftigkeit abzugewinnen. In der gedanklichen und verbalen Explikation liegt der Unterschied zwischen den allmählich sich herausbildenden theoretischen und den mythischen Modellen, wobei nichts über zutreffend und unzutreffend (im modernen Sinne) oder über die Nähe bzw. Distanz des theoretischwissenschaftlichen Bemühens zum religiösen Denken (vgl. Jaeger 1953) ausgesagt ist. - Es ist nun ungemein folgenreich gewesen, daß Piaton den begründenden Anfang der Dinge in die Ideen verlagert und damit die philosophische Schau metaphysisch verortet hat. Darauf ist in unserem Zusammenhang ebensowenig einzugehen wie auf die Grundlegung einer theoretischen Wissenschaft durch Aristoteles, der sie, wie J. Ritter ausgeführt hat, zwar auch theologisch begründet, aber dieses Wissen nichtsdestoweniger mit dem „praktisch-tätigen Leben" (Ritter 1988, S. 14) zu verbinden wußte. Damit stand der Weg zu den sogenannten angewandten Wissenschaften offen. In diesem Kontext systematisierte und führte er die vielfältigen Ansätze weiter, die bei

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den Vorsokratikern bereits vorhanden und von Piaton weitergedacht worden waren.

III. „Im Sinn des Menschen liegt wesenhaft die Sorge des Sehens", so hatte Martin Heidegger den berühmten aristotelischen Eingang der Metaphysik (980a21) übertragen und damit der menschlichen Suche nach Wissen, den Aristoteles als Ausgangspunkt seines Denkens nennt, eine existentialistische, heideggersche Wende unterlegt (Blumenberg 1987, S. 152f.). Die konkreten Leistungen dieses Sehens, der Theorie, die Heidegger als ein „Vernehmen der Ferne" bestimmt hatte, treten unter diesem Blickwinkel, möglicherweise mit Bedacht, in den Hintergrund. Unsere Absicht ist es dagegen, im folgenden einige Beispiele aufzubieten, welche die Abhängigkeit der theoretischen Modelle von ihrem soziokulturellen Umfeld deutlicher hervortreten lassen. Dabei kann die ontologische Dimension auf sich beruhen bleiben. Erd- und Seebeben gehören in der ägäischen Welt bekanntlich seit Alters her zu den tagtäglichen, bedrückenden Erfahrungen der Menschen. Sie stellen das „außergewöhnliche Normale" (Waldherr 1997) dar mit verheerenden Wirkungen auf den Inseln und auf dem Festland (Capelle 1924, S. 344ff.). Gegen den Volksglauben, welcher den ,Erderschütterer' Poseidon und seinen Dreizack für die Beben verantwortlich machte, entwickeln die ionischen Naturphilosophen über mehrere Entwicklungsstufen eine Reihe natürlicher Ursachen, von aitíaiphysikai, die sie in ihr Weltbild einpassen. Thaies von Milet (f 547/6 v.Chr.) bestimmt das Schaukeln der Erdscheibe auf dem umgebenden Meer als Ursache. Anaxagoras (f 428/7) geht ebenfalls von einer Erdscheibe aus, unter welche der Äther gerät und als luftförmige Substanz von unten in die zerklüftete Erde drängt. Auf diese Weise kommt es zu Kompressionen und Explosionen. Hier ist schon die ungemein folgenreiche Theorie des Pneuma angelegt, die dann Aristoteles in seiner Meteorologie weiterentwickelt (Capelle 1924, S. 367ff.). Andere Theorien gehen von einem Konglomerat von zusammengepreßten Wassermassen (Demokrit) oder vom Erdfeuer aus, welches die Erdkruste austrocknet und brüchig werden läßt (Antiphon in der Nachfolge Heraklits). Wie so vieles andere sind diese .Vorstufen' einer Erdbebentheorie in erster Linie aus dem Referat des Aristoteles bekannt, der in seiner Meteorologie die vorhandenen Ansätze ausbaut. Er macht die Lehre vom pneuma, das er sich in den

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unterirdischen Erdgängen eingesperrt denkt, zum Ausgangspunkt zusätzlicher Erklärungen und bezieht darauf die Phänomene Dunkelheit, ungeheures Tosen, gleichzeitiges Auftreten von Land- und Seebeben. Durch Aristoteles wird die Seismologie zu einem Bestandteil der Meteorologie, und dies deshalb, weil das Pneuma als luftförmige Substanz in der Atmosphäre wurzelt. Der weitere Weg dieser naturwissenschaftlichen Richtung (Theophrast, Poseidonius, Seneca) braucht hier nicht weiter verfolgt zu werden. Die Entwürfe, so naiv sie auch heute anmuten, dienen nicht zuletzt dazu, die menschliche Hilflosigkeit und Angst gegenüber diesen Naturgewalten abzubauen (Waldherr 1997, S. 31 ff.). Das denkwürdige Ende des römischen Naturforschers Plinius, der zu Tode kam, weil er die Umstände des Vesuvausbruches im Jahre 79 n.Chr. aus der Nähe erkunden wollte (Plin. ep. 6, 16 mit dem Kommentar von SherwinWhite 1966, 371 ff.), mag als Beispiel für eine derartige Absicht in Erinnerung gerufen werden. Ohne Frage spielt besonders auf diesem Feld das Moment des Beherrschenwollens eine Rolle. Vor über 75 Jahren hat W. Capelle, einer der besten Kenner der Materie, sein Urteil über die seismographischen Theorien in folgenden Worten zusammengefaßt: Auch angesichts der heutigen exakten Erdbebenforschung, bleibt es der unvergängliche Ruhm des griechischen Genius, gestützt auf zahlreiche feine Beobachtungen, immer aufs neue den Versuch gewagt zu haben, die wahren Ursachen solcher gewaltigen Naturkatastrophen wie sie die Erdbeben für den Menschen bedeuten, auf rein verstandesmäßigem Wege, im Bund mit kühner, oft genialischer, Spekulation, zu ergründen. (Capelle 1924, S. 374).

IV. Beobachtung - Spekulation - Theoriebildung: Der Weg, den Capelle auf dem Gebiet der Seismographie festgestellt hat, läßt sich auch auf anderen Feldern ausmachen. Der natürliche Befund, so wie er sich dem Betrachter bietet, erschließt Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten auf einer höheren Ebene. „Die Sonne hat die Breite eines Menschenfußes", heißt es bei Heraklit (Diels/Kranz Bd. 1, S. 151, 22.3), und H. Fränkel, der feinsinnige Interpret frühgriechischer Literatur, kommentiert diesen erstaunlichen Sachverhalt folgendermaßen: „Man legt sich auf den Rücken, streckt ein Bein in die Luft, und deckt mit der Breite des Fußes die Sonne von Rand zu Rand zu" (Fränkel 1962,

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S. 433). Bei Heraklit führen der Vergleich und der simple Meßvorgang auf das Problem von Abgrenzungen und Ausgrenzungen, das heißt auf Aussonderung dessen, was sich, wie die Seele, dem Meßvorgang entzieht. Dies muß uns an dieser Stelle nicht weiter interessieren. Aber die Argumentationsrichtung ist hier wie auch anderen Orts eindeutig, mit den Worten J.-P. Vernants: Es ist nicht mehr das Ursprüngliche, von dem aus ein verklärendes Licht auf das Alltägliche fallt, sondern das Alltägliche, das das Ursprüngliche begreiflich macht, indem es Erklärungsmodelle dafür bereitstellt, wie die Gestalt und die Ordnung der Welt zustande gekommen ist. (Vernant 1982, S. 104).

Die Modelle, die auf diese Weise entstehen, beziehen sich nun nicht allein auf Objekte, sondern auch auf typische Bewegungen und Interferenzen, die zwischen Objekten Beziehungen herstellen. Das oben angesprochene pneuma ist dafür ein sprechendes Beispiel. Der Hauch, das lebendige und lebensvermittelnde Wehen, das Wärme und Kälte, Erfrischung und Ermattung bringt, zeigt sich in der äußeren Natur, es findet sich aber auch im menschlichen Organismus, der nach Anschauung des Hippokrates dann gesund ist, wenn das Pneuma sich im Fluß befindet (Nestle 1941, S. 242). Das angeborene Pneuma koordiniert nach Aristoteles nicht allein die Bewegung im organischen Leben auf bestimmte Ziele hin (Saake 1974, S. 388ff.). Es fließt neben dem Blut auch durch die Arterien und transportiert Lebenskraft über die Lunge und das Herz in die entlegensten Körperteile (Schneider 1969, S. 412f.; Solmsen 1971, S. 207ff). Qualität und Bewegung des Pneuma beleben nicht nur den menschlichen Organismus, sondern ermöglichen die Kommunikation des Körpers als eines durch das Pneuma vernetzen Systems. Das fruchtbare Moment dieser griechischen Theorie liegt nun darin, daß eine meteorologische Erscheinung zu einer dynamischen Kategorie nicht allein in der Medizin weiterentwickelt wurde, die in der einflußreichen späthellenistischen Ärzteschule der Pneumatiker (Kudlien 1968, S. 1097ff.) ihren wichtigsten Ausdruck fand. Der Begriff macht bekanntlich eine große Karriere im Bereich der stoischen Philosophie, deren Anhänger (Zenon, Chrysipp und vor allem Poseidonios) im Pneuma den ,göttlichen Geist', den Funken erkennen, der die Materie belebt und zwischen dem Makro- und Mikrokosmos die Verbindungen schlägt. Die Teilhabe (méthexis, participatio) des Menschen an der Gottheit realisiert sich über das Pneuma (Saake 1974, S. 393 f.), ein Gedanke, der im Christentum, in der Gnosis und in der

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synkretistischen Philosophie der späten Antike überhaupt besondere Beachtung und spezifische Ausformungen erhält (a.a.O., S. 3 9 5 f f ) . Vom göttlichen Pneuma beseelt, das aus der Erdspalte aufsteigt, vermag die delphische Pythia ihre Weissagungen zu verkünden (a.a.O., S. 389). Den Jüngern Jesu teilt sich nach dem Bericht der Apostelgeschichte (Acl. 2, 3 ff.) das hágionpneuma, der Heilige Geist, im Brausen des Windes und in Form von Feuerzungen mit und befähigt sie, in fremden Sprachen zu reden und die frohe Botschaft zu verkünden (a.a.O., S. 399). Hier wäre nun das Spezifische und das Verbindende einer christlichen Pneumalehre weiter auszuführen (vgl. Kleinknecht 1959, S. 3 9 4 f f ) . Uns geht es um etwas anderes: Das Pneumamodell besitzt seine überragende Bedeutung in den vielfältigen Anwendungs- und Ubertragungsmöglichkeiten. In der Meteorologie, der Medizin, der Philosophie und der Religion verstehen es die jeweiligen Theoretiker, den elementaren Hauch zu einer mehr oder minder umfassenden Qualität weiterzuentwickeln. Er wird kosmisch-universale Kraftsubstanz, besitzt feinste Körperlichkeit, Luftförmigkeit, Wärme und Feuerhaltigkeit, Eigenbewegung und Spannung (a.a.O., S. 352f.). Parallel dazu lassen sich aus dem ursprünglichen Wehen des Windes auch prägnante Bewegungen deduzieren wie Transportieren, Versorgen, Vernetzen, Anschließen, Partizipieren. Auf diese Weise entsteht, was man gemeinhin nicht zur Kenntnis nimmt, eine einsichtige Theorie der Bewegung, sozusagen eine antike Strömungslehre, die Vermittlung und Abhängigkeit von Dingen und Verhältnissen offenlegt, die auch den politischen und gesellschaftlichen Bereich betreffen und verständlich machen können.

V. Die Behauptung wird einsichtiger, wenn wir uns unserem letzten Beispiel, dem Körper {soma, corpus) in seinen theoretischen Konnotationen zuwenden. Er ist als unmittelbarer Erfahrungsgegenstand lange vor den alten Griechen zum Ausgangspunkt von Welterschließung und allgemeinen Ordnungskategorien gemacht worden, wobei das Absehen von der eigenen Leiblichkeit, die Distanz, die nötige Voraussetzung des theoretischen Erkennens bildet (Heintel/Macho 1987, S. 302 ff.). Die altägyptische Religion kennt die Vorstellung vom Himmelskörper in Gestalt einer Göttin. Vom menschlichen Fuß, dem Un-

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terarmknochen (Elle), der H a n d u n d dem Finger entwickeln sich die Längenmaße (vgl. Dilke 1991, S. 45ff.). Die Ästhetik des griechischen Tempels beruht, wie man längst erkannt hat, nicht zuletzt auf einem ausgewogenen Verhältnis der benutzten Längenmaße. Wesentlicher aber ist in unserem Z u s a m m e n h a n g die allmähliche Erschließung des Körpers als einer ,kleinen Welt' (Diels/Kranz Bd. 2, S. 153, 68.34; Schweizer 1964, S. 1029) u n d eines komplexen internen Systems, das aus einzelnen Grundbestandteilen zusammengesetzt ist, aus átoma, den Primärkorpuskeln in der griechischen Atomistik (Diels/Kranz Bd. 1, S. 442, 51.4; Jürß 1984, S. 116, 123 f., 206f. u.ö.) oder auch Säften: Blut, Schleim, schwarze u n d gelbe Galle, deren richtiges Verhältnis Gesundheit, deren Störung Krankheit bewirkt. Der Schüler u n d Schwiegersohn des Hippokrates mit N a m e n Polybos wurde mit diesem Entwurf „der Begründer der Humoralpathologie" (Nestle 1941, S. 242), die als Lehre von den vier Temperamenten eine bemerkenswerte Rezeption in der Kunst- u n d Kulturgeschichte der Neuzeit erf u h r und in der Physiognomik J o h a n n Caspar Lavaters eine ansehnliche Breitenwirkung gegen Ende des 18. Jahrhunderts erzielte (vgl. H o h l 1992, mit Lit.). U m v o m Faszinosum Melancholie - schwarze Galle abzusehen, die nach griechischer Anschauung ein Krankheitssymptom darstellt (Kudlien 1967, S. 76ff.): Entscheidend ist auch hier wieder die Beziehung zwischen den Teilen bzw. Grundqualitäten, den Säften samt den Eigenschaften, die sie repräsentieren, wie feucht u n d trocken, warm und kalt, süß u n d bitter mit ihren vielfältigen Mischungsmöglichkeiten. Unausgewogenheit u n d Deregulierung, etwa durch übermäßige oder fehlende Nahrungszufuhr, durch Schlafmangel oder Uberanstrengung stört das Gleichgewicht, die isonomia, u n d verursacht das Vorherrschen, die monarchia, eines Teils auf Kosten eines anderen. Ein gewisser Alkmaion aus Kroton, der Überlieferung nach ein Schüler des Pythagoras, hat diesen Sachverhalt wie folgt beschrieben: A l k m e o n (sagt), gesundheitsbewahrend sei die Isonomie (die Gleichanteiligkeit, das Gleichgewicht) der „Kräfte", (das heißt) des Feuchten, Trocknen, Kalten, Warmen, Bitteren, Süßen und der übrigen; die Alleinherrschaft aber unter ihnen sei krankheitsverursachend, denn verderblich wirke die „Monarchie" je eines v o n beiden (Gegensätzen). U n d zwar entstehe eine Krankheit entweder „durch etwas" [Ursache], (das heißt) durch das Übermaß an Wärme oder Kälte, oder „aus etwas heraus" [Veranlassung], (das heißt) wegen der Fülle oder des Mangels an Speisen, oder „in etwas" [Bereich], „..." Blut oder Mark oder Gehirn. (Eine Krankheit) entstünde bei

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diesen aber manchmal auch aus äußeren Ursachen, Wässern mit bestimmten Qualitäten oder der Gegend oder aus Anstrengungen oder einer Zwangssituation oder ähnlichem. D i e Gesundheit dagegen bestünde in der gleichmäßigen Mischung der Qualitäten. (Diels/Kranz Bd. 1, S. 215 f., 24.4; Kudlien 1967, S. 56, 162)

Monarchia u n d isonomia, die gleiche Zuteilung, entstammen, worauf F. Kudlien hingewiesen hat (Kudlien 1967, S. 60), der politischen Sprache des 6. u n d 5. Jahrhunderts v.Chr. Sie sind in der medizinischen Analyse verwendbar, weil es sich hier wie dort u m einen einheitlich gedachten Organismus im Verhältnis zu seinen Teilen handelt. Eine theoretische Ausdifferenzierung in beide Bereiche, die medizinische und die politische, konnte sich in der Folgezeit mit unterschiedlicher Dichte herausbilden. Herophilos (355-280 v.Chr.), der Leibarzt Ptolemaios' I., erweiterte die Säftelehre um eine Vierkräftetheorie, „wonach die ernährende Kraft ihren Sitz in der Leber, die erwärmende im Herzen, die denkende im Gehirn und die empfindende in den Nerven haben sollte" (Schneider 1969, S. 412). Die Beobachtung, daß den unterschiedlichen Körperorganen ganz bestimmte Funktionen zuzuordnen seien und daß man durch gezielte Therapie und einer ausgeglichenen Lebensweise - diaita - zur Gesundheit k o m m e n könne, eröffnete der griechischen Medizin die Bereiche der Diätik, Aitiologie und Therapie (Kudlien 1967, S. 62 f.). Empirischer Befund und philosophische D e u t u n g wirkten dabei zusammen und schufen ein theoretisches Konstrukt, das Grundlage für die medizinische Praxis war und in dieser Gemengelage beachtliche Erfolge vorweisen konnte. Für die politische Ebene ist entscheidener, daß dieses Körpermodell mit seinen unterschiedlichen und unterschiedlich zu gewichtenden Organen samt ihren Beziehungen sich auf die politische Gemeinschaft und den Staat übertragen ließ. Die berühmte Fabel v o m Magen und den Gliedern, die nach dem Bericht des römischen Geschichtsschreibers Livius der Diktator Menenius Agrippa im Jahre 494 v. Chr. den Mitgliedern der Plebs vorträgt (2, 32), welche im Begriffe standen, die städtische Gemeinschaft aufzugeben, illustriert anschaulich den ideologischen Wert des Organismusmodells. Danach wollten die einzelnen Glieder dem untätigen Magen nicht mehr zu Diensten sein und für sich selbst sorgen. Diese Konspiration führte naturgemäß in die Auszehrung, nicht nur des Magens, sondern eben auch der Zubringerorgane, die n u n nicht mehr von ihm versorgt werden konnten. Bei Livius vermag die Fabel die verfeindeten Gruppen wieder zusammenzubrin-

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gen u n d concordia herzustellen, was mit der Einrichtung des Volkstribunates als Interessenvertretung des Volkes auch gelingt. Fabula docet: Einigkeit und Konsens k o m m t allen, auch den subalternen, dienenden Teilen zugute, die ihre Stellung u n d die damit verbundenen Aufgaben im Gesamtsystem nicht zuletzt zu ihrem eigenen Nutzen wahrnehmen müssen. Der Staat - bleiben wir im antiken Kontext: das Gemeinwesen (pòlis, res publica) - ist ein Körper, der Kopf, Herz, Arme, Beine u n d innere Organe besitzt, die aufeinander angewiesen sind; dieses Modell lag gegen Ende der römischen Republik und zu Beginn der Kaiserzeit vor (vgl. Kloft 1985, S. 177ff., Kienast 1994, S. 281 f.) und konnte mit Gewinn auf die Gesellschaftsstruktur des Imperium R o m a n u m bezogen werden: Der Prinzeps (Kopf), der Senat (Herz), das Militär (Arme), die Bauern (Füße), die Verwaltung (innere Organe). Die Explikation des Körpermodells hat man im Mittelalter dem kaiserzeitlichen Autor Plutarch zugeschrieben (vgl. Kloft/Kerner 1992), der das Organismusmodell als politische Empfehlung in Form eines Fürstenspiegels dem Kaiser Trajan unterbreitet haben soll. Das eingängige Bild v o m Staatskörper hat dann im späten Mittelalter u n d in der frühen Neuzeit die politische Theorie stark beeinflußt, eben weil hier antikes Erbe, vermeintlich oder real, vorlag (Eismann 1994). Einer ständischen und hierarchisch verfaßten Gesellschaft flöß so zusätzliche Autorität zu, was innovative Ausblicke nicht ausschloß. Das Modell war vielseitig. Nikolaus von Oresme, der bedeutendste ökonomische Theoretiker des ausgehenden Mittelalters (vgl. Salin 1967, S. 39 ff.), versteht in seinem Tractatus de origine, natura, iure et mutationibus monetarum das Corpusmodell auf den notwendigen Geldaustausch zwischen Krone und Untertanen auszuweiten. Das Geld, moneta, wirkt gleichsam als Pneuma, welches die einzelnen Glieder vernetzt, sie am Leben erhält u n d aus Rücksicht auf das Gesamtwohl einigermaßen gleichmäßig verteilt werden sollte (Eismann 1994, S. 62 f f ) . Das ist durchaus volkswirtschaftlich im umfassenden, wenn man so will: vorwissenschaftlichen Sinne gedacht. Man sieht: Auch die Theorie des geregelten Finanzausgleiches, die heute den Politikern und Ö k o n o m e n so große Kopfschmerzen bereitet, besitzt im organologischen Modell einen respektablen Vorläufer.

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VI. Die Frage: Was leistet die jeweilige Theorie? führt nicht allein auf den historischen Bedingungshorizont zurück, dem sie ihre Entstehung und ihre Wirkung verdankt, sondern läßt auch einen Blick tun auf den kulturellen Zusammenhang, in welchem das theoretische Konstrukt steht. Die sinnliche Erfahrung führt, so dürfen wir unsere Beispiele interpretieren, zum Versuch der Klassifizierung von Phänomenen mit dem Ziel, Ordnungen zu erkennen und gegebenenfalls herzustellen. Der Körper als Mikrokosmos verweist auf den Makrokosmos des Alls ebenso wie auf die Stadt und das Reich, macht Lenkung und Abhängigkeiten, die Notwendigkeit unterschiedlicher und abgestufter Funktionen ebenso einsichtig wie Zusammenwirken, Verteilen und Rückkoppeln. In diesem Sinne erweist sich das Corpusmodell in seiner Vielseitigkeit geradezu als eine Art antiker Systemtheorie, das den handgreiflichen Vorteil besitzt, am eigenen Leibe erfahrbar zu sein. Wie viele andere Theorien gründet die Körperspekulation im griechischen Denken des 5. Jahrhunderts v.Chr. (vgl. Nestle 1927, S. 193ff.). Das macht zusätzliche Bemerkungen zu den bisher vorgetragenen Erklärungsversuchen notwendig, um den historischen Kairos noch etwas präziser zu verstehen. J. Burckhardt verstand die Entstehung wissenschaftlichen Fragens und Forschens bei den Griechen als Akt des Einmischens in verschiedene Lebensbereiche (Burckhardt 1929, Bd. 2, S. 441 ff.), die auf diesem Wege nicht nur systematisiert wurden, sondern im gewissen Sinne auch zur Gestaltung aufriefen. Das „Könnensbewußtsein" der Griechen (Meier 1995, S. 470 ff.) richtete sich aber nicht nur allein auf die Gesellschaft und die politischen Verfahrensweisen, ein Prozeß, in dessen Verlauf es in Athen zu einer reflektierten Staatsordnung kam, sondern zeigte sich schon viel früher in den mannigfachen Denkanstrengungen und Theorieversuchen. Sie zielten darauf ab, die chaotisch anmutende Mannigfaltigkeit der Welt auf Ursachen zurückzuführen, durch Verallgemeinerungen die Phänomene zu ordnen und in gewissem Sinne auch zu bewältigen. Das theoretische Bemühen der Griechen besitzt damit durchaus Züge eines Herrschaftswissens; nur daß dieses Wissen nicht in eine plumpe und despotische Vergewaltigung der Dinge einmündet, sondern eher den Charakter der ,Platzanweisung', der ,Verortung' besitzt, wie Vemant sehr schön gezeigt hat (Vernant 1982, S. 121 ff.). Und wie der Kosmos dem nachschaffenden Denken seine abgestimmte Ordnung offenbart, so gewinnt auch der soziale

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Raum, die griechische Polis, allmählich ihre Form durch Verallgemeinerungen und Abstraktionen, die menschlicher Satzung entspringen und etwas Allgemeingültiges auf den Weg bringen: eine Rechtsordnung, die für alle Bürger gilt, eine Vereinbarung über Maße und Gewichte, die auf dem Markt das Tauschen gültigen und nachprüfbaren Normen unterwirft, ein Geldsystem, das Sach- und Personalleistungen verobjektiviert (vgl. Simmel 1900, 1989, S. 375ff; Kloft 1997, S. 244ff.). Die Entstehung der Polis als einer organisierten Gemeinschaft und die Geburt des theoretischen Denkens bilden die beiden Seiten ein und derselben Medaille (Vernant 1982, S. 132 ff.).

VII. Beide Vorgänge verdanken sich einem neuartigen soziokulturellen Klima und lassen sich nicht isolieren. Besonders durch die Sophistik wurden im 5. Jahrhundert die philosophischen Theorien Gemeingut und kultureller Bestand der Polis. An den W o l k e n des Aristophanes, die auf den Dionysien des Jahres 423 v.Chr. in Athen aufgeführt wurden, läßt sich sehr schön zeigen, auf welche Weise zeitgenössische Theoreme unter die Leute gebracht werden konnten. Sokrates, der .Großmogul' des neuen und jugendverderbenden Denkens, als den ihn Aristophanes schildert, übermittelt seine Weisheit dem dummen und einfältigen Bauern Strepsiades, der mit den hohen Ideen nichts anzufangen weiß und sie in seine Lebenswelt herunterdekliniert. Wie hat man sich etwa das Zirpen, den Gesang der Schnaken zu erklären? Sokrates weiß Rat: [ . . . ] D e r D a r m k a n a l der S c h n a k e n ist S e h r e n g : d a d r ä n g t die e i n g e p r e ß t e L u f t N u n m i t G e w a l t sich d u r c h , d e m B ü r z e l z u ; U n d weil die Ö f f n u n g p l ö t z l i c h sich erweitert, F ä h r t m i t M u s i k der W i n d z u m L o c h h e r a u s .

Worauf Strepsiades die persönliche Nutzanwendung zieht: [ . . . ] S o wär ein S c h n a k e n l o c h ' n e Art T r o m p e t e ! H e i l d e m a p o s t e r i o r i s c h tiefen F o r s c h e r ! Wer s o d u r c h d r i n g t d e n H i n t e r n einer S c h n a k e , K r i e c h t leicht a u c h d u r c h die G ä n g e der J u s t i z . (Z. 1 6 0 - 1 6 9 in der Ü b e r s e t z u n g v o n L. Seeger)

Das geht auf die zoologischen Anstrengungen der Sophisten. In ähnlich witziger Weise werden im folgenden Theorien über Regen, Don-

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ner und Blitz vorgeführt, die Nestle auf den Sophisten Diogenes von Apollonia zurückgeführt hat (Nestle 1941, S. 464 ff.)· Sie stellen eine gelungene Persiflage und Attacke auf die meteorologischen Überlegungen der Naturphilosophen dar, welche die Götter aus ihrem Kosmos eliminieren und natürliche Ursachen an ihre Stelle setzen. Die Art und Weise, wie Aristophanes die Naturtheorien vom Sockel holt und sie ins Konkrete wendet, stellt ein beredtes Beispiel für die Verbreitung und Vulgarisierung theoretischer Systeme dar. Die alte Komödie macht spielerisch klar, was man den Zuschauern an intellektueller Arbeit zumuten konnte zu einer Zeit, als die glanzvolle Herrschaft Athens durch den verheerenden Peloponnesischen Krieg tiefe Erschütterungen erfuhr. Angesichts bedrückender äußerer Umstände die Fähigkeit des Lachens zu behalten, dies darf als ein Zeichen tiefer Kultur gelten, die in der Weltgeschichte seinesgleichen sucht: Nicht allein das Finden und Entwickeln von Theorien, sondern auch der unverkrampfte Umgang mit ihnen erscheint nach wie vor in hohem Maße bedenkenswert. „[D]ie Philosophie wird antike Züge annehmen, hoffentlich mit Resten ihrer Heiterkeit und Freiheit", so hatte es Arnold Gehlen am Schluß von Urmensch und Spätkultur (1964, S. 264) prophezeit. Die Rückkehr zur sokratischen Heiterkeit folgte bei Gehlen aus dem Verzicht auf den Entwurf neuer Ideen, aus der Absage an eine bloße „Intellektualisierung einer vom Handeln abgefilterten Kultur", um sich den klaren Blick auf das „unversehrbar Normative" freizuhalten (256). Den Weg einer derartigen theoretischen Enthaltsamkeit muß man nun nicht unbedingt mitgehen. Wer Gehlen kannte - ich hatte das Glück, ihn über fünf Jahre aus unmittelbarer Nähe an seiner Wirkungsstätte, der Technischen Hochschule Aachen, erleben zu dürfen - weiß, daß Heiterkeit nicht gerade zu seinen hervorstehenden Eigenschaften zählte. So schwingt in dem Entwurf auch eine gewisse adhortado ad se ipsum mit. Daran ließe sich halten: Ein wenig von dem heiteren und gelassenen Abstand, wie ihn Gehlen wünschte, könnte unserem Bemühen hier und jetzt nicht schaden.

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Peter Fuchs

Theorie als Lehrgedicht Der Titel, den ich mir für diesen Essay ausgesucht habe, er ist seltsam. Er ist vor allem dann kurios, wenn er auf die soziologische Systemtheorie bezogen wird. Ihr wird oft genug die Hesse-Metapher vom Glasperlenspiel entgegengehalten, womit denn wohl gemeint ist, daß Niklas Luhmann ein magister ludi, seine Schüler discipuli ludi seien, die das virtuose Spiel der Begriffe beherrschten, das Schiebe- und Regelwerk einer labyrinthischen Denkungsart, die - wie faszinierend auch immer - endlos weit von der Realität entfernt sei und vom gesunden Menschenverstand sowieso. Unter diesen Umständen ist es ziemlich leichtfertig, in diesen Nagel- und Qualbalken der Systemtheorie weitere Nägel einzuschlagen und sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob große Theorie nicht eines Tages in ein Lehrgedicht umschlagen oder einmünden müsse, also zur Nichtwissenschaft, bestenfalls zur Philosophie mutieren könne oder vielleicht schon längst mutiert sei. 1 Ich hätte das auch nicht getan, würde es auch jetzt nicht tun, wenn ich nicht vor einigen Jahren auf einem der nächtlich schummrigen Flure der Universität Bielefeld gestanden und mit Niklas Luhmann diskutiert hätte. Plötzlich sagte er mit jenem listig-schelmischen Blick, über den er mitunter verfügt: „Eigentlich müßte die Theorie zum Lehrgedicht werden!" 2 Nun war ich damals Student und noch nicht daran gewöhnt, daß jemand wie Luhmann eigentlich immer genau sagt, was er sagt. Ich nahm den Satz hin, ich fand ihn intuitiv überzeugend, aber ich machte mir weiter keine Gedanken. Ich nahm ihn als eine im gewissen Sinne provokative Ballung, die sich auf die Kombinationskraft der Theorie, auf ihre Kompositorik, auf den Zusammenklang ihrer Motive richtete, auf ihre Ästhetik, ihre Sinnlichkeit. Kurz, ich nahm den Satz als Metapher, also als etwas, das sich genau nicht übersetzen und kommentieren läßt. A m Rande einer Tagung erzählte mir dann Ralph Kray von der Idee zu dieser Konferenz, und weil er von Ästhetik und solchen Dingen

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sprach, fiel mir jener Satz wieder ein, und weil ich mittlerweile nicht mehr Student war und Luhmann sehr viel besser kennengelernt hatte, konnte ich nicht mehr einfach glauben, daß die Aussage Theorie als Lehrgedicht nur metaphorisch sei. Das war keine uneigentliche Rede, das konnte nur eigentlich gemeint sein, und die Frage, zu der mich dann das Gespräch mit Herrn Kray anregte, das war genau diejenige: Was konnte Luhmann damit gemeint haben? Das Motiv des Lehrgedichtes klingt schließlich großartig, kosmologisch, in einem gewissen Sinne abschließend, und diese Großartigkeit, dieser kosmologische Anspruch, dieses von den Göttern her zu den Menschen Sprechen, das ist Luhmanns Sache nun wirklich nicht. Guter Geist sei trocken, pflegte er mitunter zu sagen, und ein Lehrgedicht, das kann nicht in diesem Sinne trocken sein. Da ich Herrn Kray aber leichtsinnigerweise den Arbeitstitel Theorie als Lehrgedicht genannt hatte und er in ganz ungebührlicher Begeisterung zustimmte, daß dies ein guter, ein verheißungsvoller Titel sei, wurde ich unter sozialen Zugzwang gesetzt. Ich hatte ein Wort, mehr nicht, wenn es auch ein großes Wort war. Die Frage, die ein Systemtheoretiker sich unter diesen Voraussetzungen stellt, ist die nach den Unterscheidungen, die das Wort zum Begriff machen: Was unterscheidet das Wort und wovon unterscheidet sich diese Unterscheidung?

I Die Antwort ist zunächst, daß der Begriff in sich die Unterscheidung, in der er unterschieden wird, wiederholt. Das Lehrgedicht ist unterschieden vom Gedicht, es ist unterschieden von der Lehre, und der Begriff kombiniert das Unterschiedene. Das ist, wie man sagen könnte, eine Weder/Noch-Figur, die als Weder-plus-Noch formuliert wird: weder Lehre noch Gedicht, aber dennoch Lehre und Gedicht. 3 Das erinnert an die paradoxen Figuren des Cusaners, das ist sein «ow-aliud, erinnert aber auch an Glanvilles „Dasselbe ist das Andere!"; das erinnert auch an die Differenz, aus der die Systemtheorie lebt, an die Unterscheidung von System und Umwelt, deren Einheit in ihr selbst (das System ist die Differenz) wiederholt wird, Ausgangspunkt jener minimalen Ontologie, die im autologischen Schluß zu dem Ergebnis kommt, daß derjenige, der System und Umwelt unterscheidet, selbst ein System ist. Das ist ja schließlich die zentrale Münchhausiade der Systemtheorie. Mit dieser Figur zieht sie sich aus dem Sumpf der Ontologie,

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sie sich selbst mit einer Ontologie des Minimums, eine Figur, die im übrigen stark verwandt ist mit der Hegeischen Idee des absoluten Unterschieds, einer Ununterschiedenheit, die sich in sich unterscheidet und damit eine Welt der dialektischen Vollzüge inszeniert. 4 Aber damit ist nicht viel mehr gesagt, als daß das Wort „Lehrgedicht" formtheoretisch fasziniert, daß Luhmann, als er es auf seine Theorie bezog, nicht einfach ein Larifari-Wort heranzog, sondern einen seltsam gebauten Begriff, der wohl nahe liegt am Spiel der Paradoxien und Zirkularitäten, an dieser Ökonomie der Umkehrungen und Wiedereintritte, an diesen Verschleifungen von Selbst- und Fremdreferenz, durch die die Theorie ihre inkongruenten Perspektiven gewinnt, ihr Überraschungspotential. So müßte man jedenfalls heute sprechen, wenn man mitsieht, daß die Lehre, das systematische Reden über die Welt, das aufklärerische Displacement, sich scharf getrennt hat vom Gedicht, in dem die Welt, das, was sich aufgeklärt über sie sagen läßt, verschwindet zugunsten einer extremen Selbstreferenz der Zeichen, zugunsten eines, wenn man so sagen darf, nur noch aus den Augenwinkeln informierenden Schweigens, an dem sich dann die Ungeheuerlichkeit endloser Kommentare und Kommentare kommentierender Kommentare entzündet. 5 Das lehrende Gedicht, die gedichtete Lehre, das ist heute ein Topos unter Verdacht. Und genau das führte ja in jene Verwunderung, daß jemand, der nicht leichtsinnig zu sprechen pflegt, Theorie unter diese Kategorie des Argwohns, wie spielerisch auch immer, einreiht. Schließlich kann man nicht erwarten, daß die Zusammenführung von Gedicht und Lehre unter Bedingungen einer polykontexturalen Gesellschaft eine Art Steinerschen Mehrwert der Primarität ergibt - die Lehre wird nicht geheiligt durch das Gedicht, das Gedicht nicht geheiligt durch die Lehre. Übrig bliebe nur, daß Luhmann mit diesem Wort vom Lehrgedicht auf den Umstand hinweist, daß die soziologische Systemtheorie hohe Anteile der Selbstreferenz, der Autologie, der freischwebenden Konstruktion beinhaltet und daß darin nicht ein Mehrwert der Primarität liegt, aber ein Mehrwert intellektuell goutierbarer Ästhetik. Die Theorie, würde das bedeuten, wäre attraktiv nicht nur auf Grund ihrer Leistungsfähigkeit, sondern auch auf Grund ihrer Schönheit oder gar auf Grund ihrer Erhabenheit. Das ist gewiß eine Beschreibung, die wir aus der Geschichte großer Theorien kennen, vor allem abgelebter Theorien: Schönheit, Eleganz, Einfachheit, Integrität, Erhabenheit. Mit solchen Bestimmungsstücken werden Gründe für Nichtvergessen sozial praktiziert. Aber andererseits: Wenn eine Theo-

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rie, die ja noch im Werden begriffen ist, in einem historischen Durchsetzungsprozeß erst überhaupt Gründe für Nichtvergessen schaffen muß, dann wäre der Hinweis auf Schönheit und ähnliche ästhetische Kategorien eine Art Suizid-Versuch. Wenn es aber darum nicht geht, worum dann?

II Blickt man zurück auf das, was Lehrgedicht genannt wurde, und konzentriert man sich dabei auf das, was uns als Origo, als Ursprung, als déhiscence dieser uns heute merkwürdig anmutenden Form überliefert ist, dann stößt man einerseits auf Hesiods Werke und Tage, einen Text, der eher in die Gattung des Belehrend-Erbaulichen einzuordnen ist; dann aber sofort auf das nur fragmentarisch überlieferte Lehrgedicht des Parmenides, von dem gesagt wird, es stehe im Ausgang der abendländischen Philosophie, es sei die erste Philosophie des Seins und dann des Nichtseins, der Basistext einer über zwei Jahrtausende dauernden und nach wie vor anhaltenden Überlieferungs- und Diskussionsgeschichte. 6 Parmenides, so spitzen manche es zu, hat jene Urverfehlung begangen, die heute unter dem Titel „Ontologie" diskutiert wird. Von ihm aus okkupiert die Unterscheidung von Sein und Nichts die Tradition, in der wir uns bewegen, gegen die wir anstrampeln, die wir aber auch feiern als das einmalige Abenteuer, in das sich das denkende Europa verwickelt hat. Wenn das so ist, wird man erst einmal geneigt sein, das Luhmannsche Diktum „Theorie als Lehrgedicht" nicht auf Parmenides zu beziehen. Das Sein ist nicht seine Sache, wird man festhalten dürfen. Jenseits der Minimalontologie „Es gibt Systeme" ist diese Theorie radikal in der De-Ontologisierung, spätestens seitdem sie den Beobachter und den Beobachter des Beobachters eingeführt hat und auch noch den Beobachter beobachtet, der mit der Unterscheidung von Sein und Nichts arbeitet. Und dann sieht sie, daß dabei ,Dinge' herauskommen, die auch anders beobachtet werden könnten, eine Sicht der Welt, in der die Beobachter parallelisierbar sind, ausrichtbar auf das Seiende, über das man im Irrtum befindlich sein kann, allerdings in einem prinzipiell aufklärbaren Irrtum. Die Folge dieser Beobachtung für Systemtheorie ist, daß die Theoretiker, durch die sie sich schreibt, eine starke Idiosynkrasie gegen Seinsannahmen entwickelt haben - man könnte sagen: habituell.

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Dennoch, wenn Luhmann in jener Bielefelder Nacht vom „Lehrgedicht" sprach, dann kann er sich eigentlich nur auf Parmenides bezogen haben, auf diesen prominenten Text der Geistesgeschichte. Mag sein, daß von dort aus Assoziationen zum Parmenides des Plato, zur sokratischen Auseinandersetzung um das Lehrgedicht, vorliefen 7 , aber die Quelle selbst, davon gehe ich versuchsweise aus, wird ihm vorgeschwebt sein. Er kann nicht nicht wissen, daß sie einem einfallt, wenn vom Lehrgedicht die Rede ist. Nun werde ich niemals wissen, mit welchen Phantasmen Luhmann intern umging, aber da nun einmal das Wort gefallen ist vom ,Lehrgedicht', und da nun einmal das Lehrgedicht des Parmenides das Paradigma eines Lehrgedichtes liefert, habe ich mich entschlossen, ad fontes zu gehen und nachzuschauen, ob es Zusammenhangs- oder Spiegelungsverhältnisse zwischen Parmenides und der modernen soziologischen Systemtheorie gibt. Ad fontes - das ist angesichts einer nun nahezu 2500 Jahre währenden Überlieferungsgeschichte, angesichts akribisch philologischer Textarbeit auch noch in diesem Jahrhundert, angesichts all der wichtigen Philosophen, die sich auf Parmenides bezogen und ihre Einsichten in die Uberlieferungsgeschichte einbauten, ein leichtsinniger Ausdruck. Ohne deren Rüstzeug, von dem mir nur die armselige Kenntnis des Altgriechischen zur Verfügung steht, ist es bodenlos frech, über Parmenides zu reden. Dennoch werde ich es tun. Und ich kann es tun, weil die Arbeit der Philosophen und Philologen erwartungsgemäß, wenn man an Gadamer denkt, kein gültiges Verstehen der Fragmente produziert hat. Das immense Maß an Wissen über diesen kurzen Text hat zugleich das Nichtwissen vermehrt. Das bietet die Chance, sehr viel zu vergessen, und ich nutze diese Chance. Es kommt ja nicht darauf an, eine Deutung des Parmenides zu geben, sondern nur darauf, einer Spur zu folgen, die ein Soziologe gelegt hat und der ein anderer Soziologe jetzt nachspürt. Interessant ist, daß einer der Gründe für den Einmaligkeitsrang von Parmenides sich darin findet, daß er eine nicht-empirische Theorie mit Gewißheitsanspruch entwickelt. Nicht-empirisch, das bezieht sich zunächst darauf, daß in der Tradition des Anaximander die Gültigkeit von Aussagen über die Welt an Erfahrungstatsachen gemessen wurde. Gerade deshalb konnte es zu keinem absoluten Gültigkeitsanspruch dieser Aussagen kommen, da die Einheit des Verschiedenen nicht selbst empirisch darstellbar ist. Die Einheit des Verschiedenen (als Realität etwa) ist schließlich paradox. Darauf reagiert übrigens vor Parmenides Xenophanes mit einer Skepsis, die sehr modern anmutet. Will man dennoch die Einheit des Verschiedenen formulieren, und das tut

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offenbar Parmenides, ist man genötigt, eine Theorie zu bauen, die in ihren wesentlichen Hinsichten formal ist und ihre Bezwingungsgründe in der Konsistenz der Begriffe (also in ihren logischen Ableitungsverhältnissen) hat und nicht im Verweis auf die Tatsächlichkeiten dieser Welt. Eine nicht-empirische Theorie dieses Typs taugt dann auch nicht für Direkterklärungen der Welt. Das können wir heute sehr schön sehen an der Theorie Sigmund Freuds, deren Zentralbegriff des Unbewußten sich per definitionem jeder Empirie entzieht, aber eben auch, das ist die erste These, an der soziologischen Systemtheorie.8 Denn wenig ist deutlicher als der Umstand, daß die zentralen Begriffe dieser Theorie sich keiner Empirie fügen, daß sie zwar Beobachtungen formieren, aber selbst nicht beobachtet werden können. Selbstverständlich ist so etwas wie Autopoie$is, und das sagt Luhmann selbst, ein Begriff, in den die Unbeobachtbarkeit eingebaut ist, oder ist Kommunikation nach geläufigem Verständnis dezidiert unbeobachtbar oder nur falsch beobachtbar, in der Weise einer méconnaissance, einer Verkennung, weil psychische Operationen keinerlei Kontakt mit kommunikativen Operationen unterhalten. Es gibt den Begriff der Beobachtung, aber zu ihm gehört, daß jede aktuelle Beobachtung sich nicht selbst beobachten kann (und das gilt für alle Beobachtungen), und daß jede Beobachtung, die das beobachtet, unter das Gesetz der différance fällt, also verschoben und nachträglich ist. Die Metapher vom blinden Fleck ist hier mittlerweise eine Katachrese.9 Und da ist dann der Begriff des Systems, also der Begriff einer Differenz, eines Schieds, einer Barre, die unüberschreitbare Grenzen markiert - für Fremdbeobachtung, aber auch, wie sich schnell zeigen ließe, für Eigenbeobachtung. Die Minimalontologie des Systems, von der ich oben sprach, wie ist sie denn anders gewonnen als aus einer selbstimplikativen Unterscheidung? Wer System und Umwelt unterscheidet, unterscheidet sich als System sofort mit. Und dies, ohne daß jemals jemand ein System gesehen hätte! Wenn man mitsieht, wie oft beklagt wird (jedenfalls von Nichttheoretikern), daß diese Theorie nicht anwendbar sei, eben ein Glasperlenspiel, eine Art Belustigung müßiger Geister, dann entspricht das der wohl anerkannten Einschätzung, die man auch Parmenides zuteil werden läßt: Er habe eine nicht-empirische, also pragmatisch bedeutungslose Theorie angefertigt. Uns interessiert weniger, ob das zutrifft schließlich entstand dabei eine Kosmogonie und eine Kosmologie und ein über Jahrtausende anschlußfahiger Text - , sondern vielmehr, daß Parmenides vielleicht der erste Theoretiker war, der eine Witterung für

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die formalen Gesichtspunkte einer Theorie hatte, für ihr Innenleben, für die Nichtbeliebigkeit von Konsistenzzwängen, die aus Unterscheidungen resultieren, die aufeinander bezogen werden. Er hatte Sinn für complicatio und explicatio in der Theorie, man könnte auch sagen: für das Arrangement von Unterscheidungen, das als Arrangement überzeugt und nicht als Repräsentation einer gleichsam ergreifbaren Welt. Ich würde hinzufügen, er war der erste Theoretiker, der Theorie selbst als sinnliche Qualität wahrnahm in einer spezifischen Form von Aisthesis, ästhetisch also. Und dazu paßt, daß Luhmann einmal in einem anderen Gespräch erwähnte, daß er theoretische Texte, ja Texte überhaupt farbig strukturiert wahrnehme. Und für ihn wie für mich, das freilich dann in einem nicht mehr erwähnenswerten Maße, steht ein nicht nur obsessives, sondern ein erotisches Verhältnis zur Theorie nicht nur in einem vagen Hintergrund.

III Die Witterung für die Innenseite der Theorie, und ich denke, die meisten haben nur Witterungen für die Außenseite, für die Fremdreferenz einer Theorie - diese Witterung für die Innenseite zeigt sich bei Parmenides in einer außerordentlich schwierigen und raffinierten Figur. Wenn die Theorie nicht-empirisch ist (metaphysisch wäre ein anderer Begriff dafür), dann liefert sie kein Bild der Welt, dann ist sie nicht evident im rhetorischen Sinne dieses Wortes, sondern unanschaulich, mithin abstrakt. Gleichzeitig aber kann keine Theorie die empirische Welt ausschließen, jeder theoretische Solipsismus (so auch der radikale Konstruktivismus) landet bekanntlich im performativen Widerspruch. Die Frage ist dann, wie kann eine nicht-empirische Theorie über das reden, was sie einschließt und doch ausschließt? Oder anders: Was ordnet die Theorie, nur sich selbst oder auch die Beobachtung einer Welt, die in ihr empirisch nicht abgebildet werden kann? Oder beides zugleich? Ich glaube,' jeder, der die Diskussion um die soziologische Systemtheorie kennt, spürt, daß diese Fragen, so sehr sie aus dem Altertum kommen, alles andere als altertümlich sind. Und alles andere als altertümlich ist die Antwort des Parmenides: Sie ist eine Umkehrung der Theorie, die Konstruktion einer inversen Figur, die - modern ausgedrückt - besagt, daß die Bedingung der Möglichkeit der Wahrheit zugleich die Notwendigkeit der Unmöglichkeit von Wahrheit in der em-

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pirischen Welt ist. Oder knapper und klarer: Die Theorie ist gültig, wenn sie nachweist, daß die empirische Welt der Menschen auf einer fundamentalen Irrtumsnotwendigkeit aufbaut. Oder auch: Die Theorie ist in der Wahrheit zuhause, wenn die Menschen in der Unwahrheit leben. Die Wahrheit der Theorie (alétheia) ist an die Unwahrheit der menschlichen (sterblichen) Weltinterpretationen (dóxai) geknüpft. Alétheia und dóxai bilden ein Schema, dessen Seiten sich wechselseitig stützen. Da der Dichterphilosoph sterblich ist, haust er in der Falschheit, im Irrtum. Eben deshalb wird er im Proömium des Lehrgedichtes „auf den kundevollen Weg der Göttin gebracht". Interessant ist, am Rande bemerkt, daß dieses Bringen durch und durch weiblich ist: Hippoi tai me phérousin ... Stuten tragen den wissenden Mann (Z. 1); koûrai d'hodòn higemóneuon ... Jungfrauen wiesen den Weg (Z. 5); die Heliaden beeilen sich zum Geleit. Am Tor der Bahnen von Tag und Nacht wartet Dike, die unerbitterliche Göttin des Rechts, die erst überzeugt werden muß, das Tor zu öffnen, und dann erst kommt die Göttin, die die Wahrheit und die Unwahrheit kennt. Sie ist offenbar ein extern beobachtendes System, eine dea ex machina, die das Schema Wahrheit/ Unwahrheit {alétheia/dóxai) beobachten kann. An diesem Proömium des Lehrgedichtes ist mindestens zweierlei instruktiv. Einmal scheint sich die Wagenfahrt einzuordnen in mythischarchaische Initiationserzählungen. Aber das unterscheidende Merkmal (eben das Besondere des Parmenides) besteht darin, daß die Fahrt (diese Erfahrung) nicht ein Schmuck- und Beiwerk ist, eine Art Allegorie, sondern notwendig. Der Dichterphilosoph kann nicht in der Welt der dóxai die Wahrheit sagen, denn er gehört ihr an, er ist selbst sterblich und irrend, wir erinnern uns: notwendig irrend, wenn die Theorie wahr ist. Er muß irgendwie einen Vorgang der Externalisierung seiner selbst bei gleichzeitigem Erhalt seines immanent sterblichen Status entwickeln. An diesem Paradox kommt es zur Morphogenese der Fahrt zur Göttin. Es bleibt in der Logik der Theorie kaum eine andere Wahl. Dann aber (und auch daran zeigt sich mir der Rang an Theoriesensibilität des Parmenides) muß er eine Beobachterin einführen, jene Göttin, die das Schema alétheia/dóxai beobachtet - von außen, sonst sähe sie das Schema nicht, und von außen, das heißt, von einem Ort her, der sich vom Schema selbst unterscheidet. Die Göttin wohnt nicht im markierten Raum, im marked space der Unterscheidung. Sie ist weder Wahrheit noch Täuschung, womit wir denn Heideggers Annahme erledigen, sie selbst sei Aletheia, die Göttin der Wahrheit. Und sie ist auch nicht, wie andere sagen, Dike, die Göttin des Rechts, denn die

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verhält sich, wie wir heute sagen würden, orthogonal zur Sphäre der Wahrheit. Sie hat gar nichts mit ihr zu tun. Die Göttin, die das Schema beobachtet, wir lassen sie jedenfalls namenlos und würden allenfalls spekulieren, daß sie heute Frau Spencer-Brown heißen könnte. Jedenfalls lassen sich ihre Anweisungen an Parmenides lesen als: „Draw a distinction!" und: „Ich lehre dich die Unterscheidung!" Die Paradoxie, daß sie die Wahrheit und die Täuschung beobachtet von einer Stelle aus, die nicht die Wahrheit und nicht die Täuschung ist, erzwingt den Vermittler, der in der Täuschung beheimatet ist, aber durch die Fahrt zu einer Göttin hingerissen wird, die ihm das Schema (und nicht die Wahrheit) offenbart. Die hier wichtigste Textstelle ist, was ihre Übersetzung anbetrifft, aber auch die griechische Schreibung bestimmter Wörter, hoch umstritten: „all' émpês kaì taûta mathéseai, bös tà dokoûnta/chrên dokimös eînai diapantòs pùnta perènta" (Ζ. 3l£). „Dennoch wirst du in Bezug auf diese Meinungen (der unverläßlichen Meinungen der Menschen) verstehen lernen, daß das Gemeinte gültig ist, insofern es allgemein ist." Die Unwahrheit ist also auch wahr, die eine Seite des Schemas okkupiert die andere, alétheia ist ohne dóxai nicht zu haben. Und das ist erneut die Figur einer sich selbst bestätigenden Theorie. Wir sehen auch, daß Parmenides ein Denker der Binarität ist, der die Paradoxie des ausgeschlossenen Dritten und die der Einheit des Binären ins Narrative auflöst, in Gestalten. Und auch darin ist er, wie ich gegen Ende des Essays noch eben skizzieren werde, unglaublich modern. Aber zuerst sollte die Frage beantwortet werden, was diese Konstruktion einer nicht-empirischen Theorie, die ihre Gültigkeit aus ihrer Inversion in die dóxai der Sterblichen bezieht, mit der soziologischen Systemtheorie gemein hat. Oder anders gefragt: Welche theoretische Figur (und wirklich im Sinne der Beobachtung der Innenseite der Theorie) hat Ähnlichkeit mit einer der zentralen Figuren der Systemtheorie?

IV Es ist genau die Figur einer systematischen Täuschung des Gegenstandsbereiches über sich selbst mit dem Gegenbild einer formal konsistenten, nichtempirischen Theorie, die die Täuschung als notwendig beschreibt und sich selbst damit als nicht-täuschend. Die Menschen sehen Menschen, sehen sich handeln und reden, glauben zu kommunizieren, glauben Bestandteile des Sozialen zu sein, und sie sind und tun nichts von alledem - sagt

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die Theorie. Das Wirklichkeitserleben der Menschen ist schlichtweg falsch. Etwas anderes geschieht, aber dieses Andere, das sehen nicht die Menschen, das sieht nur die Theorie, aber sie sieht es nicht im Sinne von Wahrnehmung, die sich auf Tatsachen bezieht, sondern als Produktion eines Beobachtungssyndroms, das intern konsistent ist und genau daraus seine Plausibilität gewinnt. Und keine Theorie, auch nicht diese, pumpt sozusagen richtiges Erleben in die falsch erlebenden Systeme, die ja richtig erleben, was sie erleben, oder genau das erleben, was sie erleben, und nicht irgendetwas anderes. Das kann die Theorie heute noch mitformulieren, wie wir wissen, weil ihr Begriffe wie Autologie, Selbstreferenz etc. zur Verfügung stehen. Aber dennoch kommt es mir nicht wie ein Zufall vor, daß Luhmanns Theorie, wenn er sie schreibt, einen so stark narrativen Duktus hat, einen so erzählenden Grundton, eine Neigung zur Entfaltung der Paradoxic in, sagen wir, historischen Gestalten, zur Erzählung semantischer Prozesse - ganz gegen die Rede vom Ende der großen Erzählung. 10 Das sage ich jetzt natürlich ungeschützt dahin, aber wenn es denn so sein sollte, dann wäre dies die moderne Form der Parmenidischen Fahrt nur daß keine Göttin auftaucht. Immerhin finden sich auch die Metaphern der Fahrt, ins Moderne gewendet, bei Luhmann: Jener berühmte „Flug über den Wolken" ist ein bezeichnendes Beispiel. Im übrigen findet sich die parmenidische Konstruktion gespiegelt in dem Umstand, daß die Systemtheorie ebenfalls die Wahrheit beobachtet - als Schema, als wahr/unwahr, als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, und eben deshalb nicht sagt, sie selbst sei wahr, sie selbst sei in der Wahrheit, sondern nur: daß sie sich austesten lasse an der Anschlußfähigkeit ihrer Operationen, also an Fruchtbarkeit, an der Wirkung ihrer Perspektiven. Dabei baut sie sich selbst ein in das, was sie beobachtet, in die Unterscheidung von wahr und unwahr, insoweit sie sich als Moment der Wissenschaft auffaßt. Die Theorie, die diese seltsame Lage konstruiert, konstruiert sich als weder drinnen noch draußen - als Weder/Noch, und wir hatten vorhin schon zur Kenntnis genommen, daß der Titel „Lehrgedicht" eine solche Weder/ Noch-Figur darstellt. Die Theorie schwebt eigentümlich innerhalb und außerhalb des Schemas wahr/unwahr, so wie die Theorie des Parmenides eigentümlich schwebt in und außerhalb der Unterscheidung von alétheia und dóxai. Vielleicht darf man sagen, sie ist in dieser Schwebung: Dichtung und gedichtet. Was aber ist die zentrale Lehre der gedichteten (und dichtenden) Göttin? Was ist die Wahrheit, die im Schema alétheia/dóxai mitgeteilt wird?

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Ein weiteres, ein streng binäres und sehr komplexes Schema. Es unterscheidet zwischen einem absoluten Einschluß und einem absoluten Ausschluß. Der Einschluß legt fest, „daß es (das Seiende) ist und daß nicht ist, daß es (das Seiende) nicht ist". Und mit diesem Totaleinschluß (der so tautologisch ist wie Wittgensteins These, die Welt sei alles, was der Fall ist) wird zugleich ausgeschlossen, daß das Nicht-ist ein Pfad der Erkenntnis und der Erfahrung sein könnte. Der Weg ist nicht begehbar. Erkannt werden kann nur, was ist, und nicht, was nicht ist. Wer sich auf die Seite des Nicht-ist schlägt, ist auf dem Unweg. Nur die andere Seite der Unterscheidung ist méthodes, ist Wahrheitsweg. Es geht also nicht einfach nur um den Satz vom ausgeschlossenen Dritten, um das tertium non datur, wie man verschiedentlich angenommen hat, sondern um ein secundum non datur: Es ist, und es ist nicht, daß es nicht ist.11 Und wiederum ist die Unterscheidung selbstimplikativ. Sie schließt in sich selbst aus, daß sie nicht ist. Indem sie unterscheidet, unterscheidet sie sich als seiend (weil erkennend) gleich mit. Die Ontologie des Parmenides startet minimalistisch. Ich erinnere erneut daran, daß eben dies die Figur der Minimalontologie der soziologischen Systemtheorie darstellt - Es beobachtet, es ist\ Und dann formuliert die Göttin eine zweite, sehr seltsame Wahrheit: „daß es nicht ist und daß es sich gehört, daß es nicht ist" (hê d'hös ouk éstin te kaì hös chreón esti me eînat). Das Problem ist das Wort chreón. Es wird sehr unterschiedlich übersetzt, etwa als „nötig-sein", „notwendig-sein", als modale Kategorie dessen, was sich nicht anders verhalten kann im Sinne der aristotelischen Modallogik, oder eben auch als: „Es gehört sich nicht!" Mag die Übersetzung von chreón als nötig, notwendig richtig sein, einiges spricht ja dafür, so gefällt mir dennoch die andere besser, die vom Sich-gehören spricht: Es ziemt sich, daß das Nichtseiende nicht ist. Mir gefällt das besser, weil die zweite Wahrheit am Scheideweg, den die Göttin entwirft, eine Präferenz markiert: als ein Sollen, als eine sittliche Gebotenheit, der dann, wie wir wissen, das denkende Abendland nicht folgte. Es ließ sich durch den Unweg faszinieren, durch das Nichts, durch das Verbot, die zweite Seite des Schemas ernst zu nehmen. Es gefiel sich im ,Abgründeln', nicht darin, die Weisung der Göttin zu befolgen: Draw this distinction! Aber markiere nur die eine Seite der Unterscheidung. Schaut man auf die soziologische Systemtheorie, dann ist diese Figur die Bezeichnung des Systems, also der Differenz. Das Nichtsystem wird immer als Umwelt mitbezeichnet, das System ist die Differenz, aber es ist die Differenz, es steht immer auf seiner eigenen Seite.12 Und

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es gehört sich, daß es nicht auf seiner Nicht-Seite steht in der Unterscheidung, die das System erzeugt. Das System ist in einem genauen Sinne auto-poietisch. Und wenn Sie mir, einem Systemtheoretiker gestatten, dies zu beobachten, dann ließe sich vielleicht sagen: Es ist auto-poetisch. Von woher ich das dann sagen kann, bleibt rätselhaft. Ich verweise auf Parmenides und seine unbekannte Göttin. Sie gibt eine formale Theorie, die in die Unterscheidung von alétheia und dóxai führt. Die Notwendigkeit der dóxai begründet die Richtigkeit der formalen Theorie. Die Theorie wird, nachdem sie lange schon gestartet ist, auf ihren eigenen Anfang stoßen und ihn mit einer Kosmologie auffüllen. Wir haben schon gesagt, daß jene unbekannte Göttin den Namen Frau Spencer-Brown zu Recht tragen würde - heute in den so göttinnenlosen Zeiten. Ich weiß nicht, ob diese Skizze am Ende gezeigt hat, daß Luhmann wußte, was er sagte, als er von „Theorie als Lehrgedicht" sprach. Ich habe mich gehütet, ihn zu fragen. Er hätte beteuern können, daß all dies nicht so ist, und ich möchte keine Zweifel an seiner Aufrichtigkeit wecken. Außerdem sind die Spiegelungsverhältnisse zwischen jenem Dichterphilosophen und diesem Soziologen so hübsch, daß ich sie mir ungern zerschmettern lasse. Bei beiden finde ich einen Tanz von Kraft um die Mitte kleiner, aber mächtiger Unterscheidungen, einen Tanz habe ich gesagt, und dabei möchte ich es bewenden lassen. Wenn jemandem Nietzsche dabei einfällt oder einige der Lehrgedichte des Zenbuddhismus, soll es mir recht sein. Immerhin: Was, wenn nicht ein Tanz, ist ein kulturelles Ereignis?

Anmerkungen 1 Mich würde das nicht weiter schrecken, weil m e i n Eindruck o h n e h i n der ist, d a ß das, was die Funktion der Philosophie gewesen ist, m e h r u n d m e h r durch die Produktion von universalen Theorien außerhalb der Philosophie ü b e r n o m m e n wird, von d e n e n d a n n die akademische Disziplin Philosophie irgendwann erfahrt. Das Staunen findet heute woanders statt. 2 Er hat das irgendwo auch schriftlich geäußert, w e n n mich nicht alles täuscht. Aber gegen die Möglichkeit der T ä u s c h u n g steht ja mein authentisches Erleben. Da ich dies schreibe, h a b e n wir mit dieser Versicherung ein Problem, aber das gehört schon z u m T h e m a meiner A u s f ü h r u n g e n . 3 Ich bin kein F a c h m a n n dafür, aber dieses W e d e r / N o c h scheint in der Logik als „Nicodscher J u n k t o r " (aber auch als Peirce-Pfeil) a u f z u t a u c h e n . Vgl. dazu M a n n 1993, S. 101, A n m . 13. Ich selbst begreife Systeme als W e d e r / N o c h s , als Un-jekte; vgl. Fuchs 1999.

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4 Vgl. Kreß 1996, S. 44ff. 5 Vgl. zur Theorie der Displacements Fuchs 1993. Vgl. ferner den Text über Lyrik in Luhmann/Fuchs 1989; Fuchs/Schmatz 1997. 6 Ich zitiere im weiteren aus jenen berühmten 161 Versen, die nur fragmentarisch und überwiegend in Zitaten des Simplikios überliefert sind, nach Mansfeld 1963, S. 312-333. 7 Vgl. zu diesem wichtigen, aber hier nicht mehr bearbeitbaren Vorlaufen Brzoska 1992; Gardeya 1991; und selbstverständlich Heidegger 21992. 8 Vgl. dazu Fuchs 1998a. 9 Im Vorübergehen mache ich auf darauf aufmerksam, daß die Systemtheorie an die Metaphorik der Visualität und des Raumes stark geknüpft ist. Die Ursache dafür ist die Ausgangsunterscheidung selbst: System/Umwelt. Sie setzt die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen, und das ist, wie ein alter philosophischer Topos besagt, die Setzung des Raumes selbst. Vgl. etwa Simon 1989, S. 98. Siehe auch Jokisch 1996, S. 48 ff. 10 Vgl. insbesondere Luhmann 1998. 11 Jeder Insider der Theorie weiß, daß dies genau die Eigenschaft von Operationen ist: secundum non datur. 12 Aber auch das ist schon metaphorische Rede, das System ist die Barre, der Schied, es ist insofern Un-jekt. Literatur Brzoska, A. (1992), Absolutes Sein. Parmenides' Lehrgedicht und seine Spiegelung im Sophistes. M ü n s t e r u n d H a m b u r g . Fuchs, P. (1993), Moderne Kommunikation. Zur Theorie des operativen Displacements. F r a n k f u r t / M . - (1998a), Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie. Die Herrschaft der Verlautbarung und die Erreichbarkeit des Bewußtseins. F r a n k f u r t / M . - (1999), Intervention und Erfahrung. F r a n k f u r t / M . Fuchs, P . / S c h m a t z , F. (1997), „Lieber Herr Fuchs, lieber Herr Schmatz". Eine Korrespondenz zwischen Dichtung und Systemtheorie. O p l a d e n . Gardeya, P. (1991), Piatons Parmenides. Interpretation und Bibliographie. W ü r z b u r g . Heidegger, M . ( 2 1992), Parmenides. Gesamtausgabe, II. A b t e i l u n g : Vorlesungen 1923-1944, Bd. 54. F r a n k f u r t / M . J o k i s c h , R. (1996), Logik der Distinktionen. Zur Protologik einer Theorie der Gesellschaft. O p l a d e n . K r e ß , A. (1996), Reflexion als Erfahrung. Hegels Phänomenologie der Subjektivität. Würzburg. L u h m a n n , N . (1998), Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde., F r a n k f u r t / M . L u h m a n n , N . / F u c h s , P. (1989), Reden und Schweigen. F r a n k f u r t / M . M a n n , C h . (1993), „A Universe C o m e s i n t o Being". I n : Mind & Logic, Colour, Vagueness, Semiotics. Acta Analytica 10, S. 93-120. M a n s f e l d , J., H g . (1963), Die Vorsokratiker I (Griechisch/Deutsch). Stuttgart. S i m o n , J. (1989), Philosophie des Zeichens. Berlin u n d N e w York.

Alois Hahn

Die Systemtheorie Wilhelm Diltheys 1. Grundsätzliches Im Jahre 1883 fand ein höchst wichtiges Theorieereignis in Deutschland statt. Ich denke an die Veröffentlichung des ersten Bandes der Einleitung in die Geisteswissenschaften von Wilhelm Dilthey. Der Autor gilt heute vor allem bei Philologen als eine Zentralfigur der Hermeneutik und bei Soziologen zumeist als ein Gegner der Soziologie. Beides ist nicht ganz falsch. Oder besser gesagt, beides ist so falsch, wie Halbwahrheiten zu sein pflegen. Übersehen wird in diesem Fall, daß das Werk eine Grundlegung einer systemtheoretisch orientierten Soziologie darstellt, und daß die unter der Rubrik Hermeneutik abgebuchte Verstehenslehre Diltheys ein Moment einer Theorie von Sinnsystemen ist; wobei Dilthey ähnlich wie Luhmann davon ausgeht, daß Sinn und Verstehen unlösbar aufeinander bezogen sind, daß Sinn sowohl der Operationsmodus von Bewußtsein als auch von Gesellschaft ist, daß aber gleichwohl die den jeweiligen Systemen entsprechenden Sinnvollzüge zwar aufeinander bezogen sind, sich aber nicht bruchlos ineinander transformieren lassen. Hermeneutik ist insofern ein Verfahren zur Registrierung von .Kopplungs'-Vorgängen zwischen operativ geschlossenen Systemen. Die Emphase, mit der Dilthey - vor allem im Spätwerk - den Verstehensbegriff aufgeladen hat, sollte nicht über die Tatsache hinwegsehen lassen, daß die Funktion des Verstehens primär darin besteht, Anschlüsse zwischen Ereignissen innerhalb eines Systems einerseits und Kopplungen zwischen verschiedenen Systemen andererseits zu stiften, daß es also nicht auf totale Kongruenzen, sondern auf Sicherung von Untersteilbarkeiten ankommt. Gerade die Unmöglichkeit totaler Entsprechung erzwingt laufende Neujustierungen von Ereignis zu Ereignis, ohne daß es je zu einer dauerhaften Dekkungsgleichheit von Intention, Mitteilung und Verstehen kommen könnte. Der berühmte Zirkel ist also eine frühe Fassung dessen, was die neuere Systemtheorie unter rekursiven Verfahren versteht, wobei

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Rekurrenz eine spezielle Form von Selbstreferenz autopoietischer Systeme darstellt. Die hier notwendigen sinnhaften Kopplungen von Ereignissen aber sind nach Dilthey (auch hier wieder durchaus im Einklang mit der neueren Systemtheorie) jeweils unterschiedlich, je nachdem, ob es sich um Kopplungen zwischen Bewußtsein und Gesellschaft oder verschiedenen Subsystemen der Gesellschaft handelt. Die Subsysteme der Gesellschaft werden bei Dilthey einerseits als funktional ausdifferenzierte Systeme der Kultur vorgeführt, andererseits als Organisation von Interaktionen. Auch hier ist die Parallele zu Luhmann frappant, der ja auch zwischen Organisationen, Interaktionen und Gesellschaft unterscheidet. Die Parallelen werden jedenfalls dann unübersehbar, wenn man sich ans Grundsätzliche hält und bedenkt, daß die jeweils verwendeten Termini nicht immer identisch sind. Der Sprachgebrauch Diltheys ist häufig schwankend und tastend, terminologisch oft vage, für unseren Geschmack eher etwas blumig und zudem im Spätwerk zunehmend von der Frage überlagert, wie speziell dichterische und künstlerische Werke verstanden werden können. Man muß also auf die Funktion der Begriffe im Gesamtkontext der Theoriearchitektur achten, um diese Ähnlichkeit der Orientierungen zu erfassen. Wie läßt sich aber die in der Tat polemische Zurückweisung der Soziologie bei Dilthey verstehen, wenn die hier vorgeschlagene Theorieintention des Autors richtig wiedergegeben ist? Die Antwort ist leicht zu finden. Wenn Dilthey von Soziologie spricht, meint er natürlich nicht das, was wir heute möglicherweise mit diesem Terminus verbinden, sondern ganz präzise das, was der Erfinder dieses Ausdrucks, Auguste Comte, unter diesem Begriff verstand (und mit ihm die gesamte damalige westliche Tradition, also insbesondere auch Herbert Spencer). Die Kritik der .Soziologie' ist also bei Dilthey die Zurückweisung ihrer positivistischen Variante. Das wird explizit deutlich, nachdem Georg Simmel seinerseits eine Soziologie vorlegt, die mit der Comteschen nur noch den Namen gemein hat. Das erst posthum bekannt gewordene Urteil Diltheys ist berühmt. Die Soziologie Simmeis falle keinesfalls unter seine Kritik, im Gegenteil! Sie sei ja nichts anderes als die Fortführung seiner (Diltheys) eigener Sozialtheorie. Wir werden die Gründe, die Dilthey zu seiner Positivismuskritik veranlaßten, im folgenden noch eingehender behandeln. Hier mag der Hinweis auf das Zentrum der Differenz genügen. Im Kern wirft Dilthey Comte vor, daß er zwischen verschiedenen Systemtypen nicht unterscheidet. Sinnsysteme, also das, was Dilthey für den Gegenstand der Geisteswissen-

Die Systemtheorie Wilhelm Diltheys

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Schäften (im Plural!) erklärt, differieren hinsichtlich ihres Operationsmodus fundamental von organischen Systemen. Vor allem Unterschied in den methodischen Verfahren von Geistes- und Naturwissenschaften gilt es nach Dilthey also einen 5#i:/mnterschied im Auge zu behalten, nämlich den zwischen Sinnsystemen und solchen, die mit anderen Operationsmodi arbeiten. Die Verschiedenheit der Methoden ist demgegenüber relativ und sekundär. N u n unterscheiden sich zunächst v o n den Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften dadurch, daß jene zu ihrem Gegenstande Tatsachen haben, welche im Bewußtsein als v o n außen, als Phänomene und einzeln gegeben auftreten, wogegen sie in diesen v o n innen, als Realität und als lebendiger Zusammenhang originaliter auftreten. Hieraus ergibt sich für die Naturwissenschaften, daß in ihnen nur durch ergänzende Schlüsse, vermittels einer Verbindung v o n Hypothesen, ein Zusammenhang der Natur gegeben ist. Für die Geisteswissenschaften folgt dagegen, daß in ihnen der Zusammenhang des Seelenlebens als ein ursprünglich gegebener überall zugrunde liegt. D i e Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir. [... ] Der erlebte Zusammenhang ist hier das erste, das Distinguieren der einzelnen Glieder desselben ist das N a c h k o m m e n d e . Dies bedingt eine sehr große Verschiedenheit der M e t h o d e n , vermittels deren wir Seelenleben, Historie und Gesellschaft studieren, v o n denen, durch welche die Naturerkenntnis herbeigeführt worden ist. (Dilthey 1894, «1974, S. 143f.)

Es liegt auf der Hand, daß dies auch der zentrale Unterschied Diltheys zur sog. Südwestdeutschen Schule des Neo-Kantianismus (also v.a. Windelband und Rickert) ist: Diesen ging es um unterschiedliche Erkenntnisinteressen, Dilthey insistiert auf der Verschiedenheit von Systemtypen, denen die Verschiedenheit der Methoden Rechnung tragen muß. Der zweite Einwand Diltheys gegen Comte hängt ebenfalls mit der unterschiedlichen Konzeption von Evolution und Differenzierung zusammen. Für Dilthey sind die Kultursysteme, die sich in der Moderne gegenüber den archaischen Formen von Gesellschaft ausdifferenziert haben, nicht lediglich Resultat von Arbeitsteilungen, sondern Formen von Ausdifferenzierung von Bedeutungssystemen. Genau dies verbietet es nach Dilthey, als Einheit der Systeme Handlungen anzusetzen. Diese stellen eben operative Kopplungen von Bedeutungen dar, die zu ganz unterschiedlichen Systemen gehören können und dort auch völlig verschiedene Konsequenzen haben. Der bisher vorgetragene Text stellt eigentlich bereits das Wesentliche dessen dar, was ich in bezug auf Dilthey sagen wollte. Der Rest hat lediglich die Aufgabe, das alles zu verdeutlichen, zu vertiefen und am

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Text zu belegen. Ich werde mich dabei auf drei größere Komplexe konzentrieren: die Diltheysche Verstehenstheorie, seine Theorie der Ausdifferenzierung von Kultur- und Organisationssystemen und seine Theorie der psychischen Systeme, die er vor allem unter dem Aspekt ,autobiographischer Zusammenhänge' abhandelt.

2. Verstehen, Handlung und Sinnsysteme 2.1 Wurzeln des Interesses an verstehender Soziologie Wenn man unter ,Verstehen' die Erfassung subjektiv gemeinten Sinns faßt, ist damit zunächst angedeutet, daß äußeren Handlungen Intentionen sozial zugeordnet werden, die sich aus den Handlungen als solchen noch nicht eindeutig ergeben. Gesellschaften unterscheiden sich erheblich in bezug auf das Interesse, das sie der Differenz zwischen inneren Einstellungen und äußeren Handlungen widmen. Die Einheit einer Handlung selbst ist niemals eine Naturtatsache, sondern Ergebnis sozialer Zuschreibung von Bedeutung und insofern bereits Resultat von Kommunikation. O h n e solche Investition gäbe es nur den ununterbrochenen Strom von Bewegungen. Vielleicht läßt sich das auch so ausdrücken: Handlung verdankt sich sozialer Interpunktion, die aus einem Geschehenskontinuum diskrete Bedeutungseinheiten hervorhebt. Nur ein Bruchteil unseres Tuns oder Handelns hat den Status einer Handlung. Man kann nun davon ausgehen, daß zumindest in einfachen Gesellschaften der Innen-Außen-Differenz keine Verschiedenheit der Bedeutung von Handlungen und Intentionen korrespondiert. Damit meine ich nicht, daß dort Bewußtsein und Kommunikation tatsächlich identisch wären, sondern daß man der Differenz keine systematische soziale Aufmerksamkeit zollt. Es gibt für die Thematisierung von sozialer Bedeutung einer Handlung und individueller Bedeutungsaktualisierung keine institutionellen Vorkehrungen. Handlungen müssen dort nicht im emphatischen Sinne verstanden werden. Die Erfassung einer Handlung als solcher und ihre Bedeutung schießen zusammen. Explizite Deutungsbemühungen wären in solchen Verhältnissen weder möglich, noch zulässig. Das gilt im übrigen auch für alltägliche Kommunikationen in der Gegenwart. Auf die Aufforderung eines Polizisten, den Führerschein vorzuzeigen, kann man nicht hermeneutisch reagieren, z . B . mit der Frage: „Wie verstehen Sie das eigentlich? Meinen Sie das ehrlich?" Ei-

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nen Gast, der zu einer Einladung Blumen mitbringt, kann man ebenso nur in Ausnahmefällen mit der Frage konfrontieren, wie man sich die Bedeutung dieser Handlung vorzustellen habe. Auf Befehle reagiert man mit Gehorsam oder Befehlsverweigerung, auf Küsse mit Küssen oder Ohrfeigen. Hermeneutik wird durch Anschluß (oft direkt im Sinne einer körperlichen Reaktion) überflüssig. Wo sie doch sich einstellt, verweist sie auf ein Problem oder ist als Provokation gedacht oder wirkt jedenfalls so. Ein Teil der Störungen alltäglicher kommunikativer Abläufe, wie sie etwa Garfinkel absichtlich in seinen Forschungsdesigns konzipiert hat, belegen das deutlich. Die soziale Voraussetzung dafür, daß die Verstehensproblematik kulturell dramatisch wird, ist ganz generell ein hohes Ausmaß sozialer Differenzierung. Kontakte mit anderen Kulturen führen für sich genommen nicht notwendig zu einer Berücksichtigung individueller Verschiedenheit von Handlungsbedeutungen und damit zur Verschärfung des Verstehensproblems. In der Regel ist wenigstens hochkulturelles Niveau sozialer Differenzierung die Mindestvoraussetzung. Aber auch zwischen den verschiedenen Hochkulturen variiert das Ausmaß erheblich, in dem Verstehensproblemen Aufmerksamkeit gezollt wird. Jedenfalls ist der Differenzierungsgrad nicht die einzige entscheidende Variable. Aus meiner Sicht spielen aus diesem Grund nicht ableitbare kulturelle und historisch kontingente institutionelle Gegebenheiten eine zentrale Rolle. Für Europa sind in diesem Zusammenhang vermutlich Institutionen der Selbstthematisierung wie etwa die Ohrenbeichte und die daraus entstandenen religiösen und nicht-religiösen Formen der Befassung mit sich selbst von entscheidender Relevanz gewesen. Hier gab es einen sozialen Ort, wo die Differenz von Bedeutungen für die gleiche Tat systematisch erwogen wurde, hier war Grundlage der Kommunikation, daß es mehr Motive als Handlungen gibt, und hier entsteht ein eigenes Diskursuniversum, das der Erfassung von subjektiv gemeintem Sinn dient. Die Wichtigkeit der Identifikation von Motiven und subjektiv gemeintem Sinn von Aktionen entspringt zumindest seit der Sündenlehre des Abälard dem Glauben, daß der subjektiv gemeinte Sinn über Schuld und Verzeihung entscheidet. Verstehen wird sozial relevant, weil es heilsrelevant ist. Wenn Max Weber der Soziologie die Aufgabe zuweist, den subjektiv gemeinten Sinn von Handlungen verstehend zu deuten, so hängt dies eben auch mit vorgängigen Kulturwertideen zusammen, wie sie vor allem die abendländische Tradition seit dem 12. Jahrhundert und dann speziell die protestantische seit der Reformation charakterisiert hat. Der Betonung der

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Notwendigkeit des Verstehens seitens der Kulturwissenschaft korrespondiert die vorgängige (universalgescbichtlich sicherlich kontingente) Dramatisierung der Innenwelt in der Kultur, der die Kulturwissenschaftler selbst angehören. In einer Kultur, für welche die kommunikative Auslotung des Seeleninnenraums zentral ist, muß auch die sie deutende Soziologie auf der Basis dieser Unterscheidung operieren. Dilthey hat den Zusammenhang der auf Verstehen gerichteten Geisteswissenschaften in Deutschland im Gegensatz zu den Sozialwissenschaften Westeuropas immer wieder unterstrichen. D a ß dies auch mit einer Differenz im Ausmaß der Relevanz von Seeleninnenräumen in den entsprechenden Nationalkulturen zusammenhängt, deutet Dilthey in seiner Analyse des Deutschen Idealismus im Vergleich zur Klassik in England, Frankreich und Spanien an. Spanien, so schreibt er, habe unter Karl V. und seinem Sohne große dichterische Schöpfungen hervorgebracht. Was in dieser Gesellschaft von Leidenschaften des Ruhms und der Herrschaft, der Liebe und Ehre gewaltig sich bewegte, das Spiel um die höchste Macht, der blutige Fall ehrgeiziger Großen [...]: das alles spiegelte sich in der unerschöpflichen glänzenden Imagination der Shakespeare und Calderón, und zwar ward es von ihnen aufgefaßt unter dem Gesichtspunkt eines fertigen Nationalgeistes: dieser sprach aus ihren Werken in seiner Größe wie mit seinen Vorurteilen. Gänzlich andere Bedingungen gaben der deutschen Dichtung ihren eigenartigen Charakter: ein zersplittertes Land. Kriegerische Größe nur in Preußen unter Friedrich, welcher einen mächtigen Aufschwung des nationalen Selbstgefühls hervorrief, dann aber die Richtung desselben auf Gesellschaft und Staat rücksichtslos unterdrückte. Eine Breite und Kultur der Mittelklassen, welche diesen ein geistiges Ubergewicht gab, während sie sich von der eigentlichen Staatsleitung ausgeschlossen sahen. Innerhalb dieser Mittelklassen gelangen die Menschen früh in eine fertige Lebensstellung. Es gibt für sie keine großen Ziele, aber auch keinen schweren Kampf ums Dasein. So wird ihr ganzer Lebensdrang, ihre ganze Energie in den besten Jahren ihrer Kraft nach innen gewandt: persönliche Bildung geistige Auszeichnung werden ihre Ideale. [...] [Es war] die Literatur, welche gegenüber einem überkommenen, unbefriedigenden Vorstellungskreis diese Lebensund Weltansicht selber hervorbrachte: in ihr suchte der Lebensdrang einer kräftigen geistvollen Nation einen Ausweg, welcher durch ihre Lage leidenschaftlich nach innen gewandt war. [...] So war dasselbe Maß von Kräften 50 Jahre hindurch bei uns in diesem dichterischen Gestaltungsdrang tätig, welches in anderen Ländern, nach außen gewandt, Staaten gründete, die sozialen Verhältnisse eines ganzen Erdteiles änderte. [...] [N]ach Wohlsein, nach Glück, nach Entfaltung inneren Wertes und freier Kraft streben alle

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Generationen der Menschen. In diesem Sinn gestalten sie die äußeren Bedingungen ihres Daseins u m , die physischen, die sozialen, die politischen. Aber aus diesen äußeren Bedingungen fließen Glück u n d Wert erst, w e n n sie auf die innere Welt unserer Seele, auf uns selbst bezogen werden. Die Umgestaltung dieser inneren Welt ist also der zweite, nicht m i n d e r wichtige Faktor f ü r die Gestaltung eines befriedigten Daseins. U n d w e n n n u n gar die äußeren Bedingungen, wie damals in Deutschland der Fall war, stark u n d unveränderlich uns gegenüberstehen; d a n n wirft sich die ganze geistige Kraft einer Generation darauf, dies Selbst umzugestalten. Indem Problem der Entwicklung unserer Kraft ist alsdann unsere äußere Lage wie eine stetige Größe, diese Tiefe des Selbst a Ilei η veränderlich [...]. (Dilthey 1867,