Die Produktion der Katastrophe: Das Tunguska-Ereignis und die Programme der Moderne 9783839436578

The gigantic explosion that laid waste to large parts of the Siberian Tunguska region on 30 June 1908 is one of the most

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Die Produktion der Katastrophe: Das Tunguska-Ereignis und die Programme der Moderne
 9783839436578

Table of contents :
Inhalt
Dank
Einleitung: Tunguska-Potenziale
I. Tunguska-Wissenschaften
I.1 Spuren und Fakten
I.2 Katastrophe und Risiko
I.3 Kontingenz und Mythos
II. Tunguska-Fiktionen
II.1 Science und Fiction
II.2 Geheimnis und Verschwörung
II.3 Ereignis und Geschichte
Schluss
Quellenverzeichnis

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Solvejg Nitzke Die Produktion der Katastrophe

Edition Kulturwissenschaft | Band 116

Solvejg Nitzke (Dr. phil.), geb. 1985, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt »Zeit des Klimas« an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Repräsentationen des Klimas, literarische Ökologien und Katastrophen an der Schnittstelle von Literatur und Wissenschaft.

Solvejg Nitzke

Die Produktion der Katastrophe Das Tunguska-Ereignis und die Programme der Moderne

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT. Zugleich: Dissertation, Ruhr-Universität Bochum 2015

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Picture taken by a member of the expedition to the Tunguska event in 1929. [1] (original, black and white version of photo) / Vokrug Sveta, 1931 (current, color version of photo, detail) Korrektorat: Katrin Herbon, Bonn Satz: Francisco Bragança, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3657-4 PDF-ISBN 978-3-8394-3657-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Dank | 7 Einleitung: Tunguska-Potenziale | 11 Ein Ereignis ohne Ursache – Eine Art Forschungsüberblick | 13 Tunguska als populärer Mythos | 23 Tunguska zwischen Natur und Kultur | 31

I. T unguska -W issenschaften I.1 Spuren und Fakten | 43 Spurensuche im »Traceless Tunguska« | 45 Der Skandal der Lücke | 54 Modelle der Popularisierung | 58 Tunguska als Rätsel | 64 Privilegiertes Spurenlesen: Das Sherlock-Holmes-Paradigma | 70 Tunguska-Detektive | 79 Spurenerzählungen | 89 I.2 Katastrophe und Risiko | 95 Spuren der Katastrophe | 101 Katastrophenpotenziale – Tunguska in der Risikogesellschaft | 110 Tunguska und das Risiko des Weltuntergangs | 121

I.3 Kontingenz und Mythos | 137 Das Scheitern am Zufall | 137 Mythisches Denken als Alternative? | 143 Beziehungswahn und mythisches Sprechen – Tunguska als fantastisches Ereignis | 152 Die Arbeit am Tunguska-Mythos | 162

II. T unguska -F ik tionen II.1 Science und Fiction | 177 Gedankenexperimente und fiktionale Wissenschaften | 182 Kognitive Verfremdung und utopische Potenziale | 184 Tunguska als Novum | 193 Institutionen – Exklusion und Inklusion | 205 Die Produktion von Zukunft | 218

II.2 Geheimnis und Verschwörung | 227 Die Geheimnisse der Moderne(n) | 231 Sherlock Holmes als Verschwörungstheoretiker | 240 Verdächtige Wissenschaften – Tunguska-Geheimnisse | 254 Aufklärer – Tunguska-Detektive | 276 II.3 Ereignis und Geschichte | 283 Ist »Tunguska« ein Ereignis? | 283 Die Richtung der Zeit (Pynchon) | 295 Der Stillstand des Krieges (Kracht) | 317 Lebende Schöpfungsfehler (Sorokin) | 327

Schluss | 339 Quellenverzeichnis | 345 Primärquellen | 345 Sekundärquellen | 346

Dank

Eine Arbeit über die Entstehung von Wissen innerhalb von Netzwerken zu schreiben, ist wohl der sicherste Weg, um sich über die eigene Abhängigkeit von solchen Netzwerken bewusst zu werden. An dieser Stelle möchte ich also all jenen danken, die mich in den vergangenen Jahren mit Hinweisen und Fragen beim Schreiben unterstützt haben, die bereit waren, sich immer wieder neue (Verschwörungs-)Theorien anzuhören und mir ermöglicht haben, das Tunguska-Ereignis zu erforschen, ohne es erklären zu wollen. Mein besonderer Dank gilt Nicolas Pethes für die Betreuung der Arbeit. Ohne seine Hinweise, Ermutigungen und seine Bereitschaft, viel Zeit und Energie in die Entstehung dieser Arbeit zu investieren, wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Ebensolches gilt für Monika Schmitz-Emans, die mit ihren richtungsweisenden Fragen entscheidend zum Gelingen des Projekts beigetragen hat und sich bereit erklärt hat, das Zweitgutachten zu übernehmen. Ich danke der Research School der Ruhr-Universität Bochum, die mir nicht nur das Stipendium zur Verfügung stellte, mithilfe dessen ich unabhängig von anderen Verpflichtungen an diesem Projekt arbeiten konnte, sondern – dafür danke ich stellvertretend Ursula Justus – auch ein Rahmenprogramm bot, das mir immer wieder erlaubt hat, in den internationalen Austausch mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen zu treten. Für die Möglichkeit am Erasmus-Dozentenmobilitätsprogramm teilzunehmen und meine Thesen auf die Probe zu stellen, möchte ich Martin Sexl danken, der den Austausch mit der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck angestoßen hat, sowie den Studierenden des Seminars »Tunguska 1908 – Ein Ereignis zwischen Fakt und Fiktion«. Dem Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT danke ich für die Finanzierung der Drucklegung dieses Bandes. Schließlich möchte ich mich bei Uwe Lindemann bedanken, der mich – zu seiner späteren Verwunderung – darauf gebracht hat, Tunguska als Promotionsthema in Betracht zu ziehen, und dessen Rat für mich seit Beginn meines Studiums unverzichtbar ist. Meiner Familie danke ich für ihre Unterstützung und ihren Glauben daran, dass ich schon wissen werde, was ich da tue. Ohne Mark Schmitt und Maike Graeser, die die Arbeit mehrfach gelesen und mich

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Die Produktion der Katastrophe

über die Jahre immer wieder ermutigt und bestärkt haben, mein Vorhaben mit allem Enthusiasmus zu verfolgen, wäre nicht nur dieser Text ein anderer – Danke! Schließlich danke ich von ganzem Herzen meinem Mann, Kai Fischer, dafür, alles zu lesen, was ich schreibe, alles zu hören, was ich dazu zu sagen habe, dafür, die unbequemen Fragen zu stellen und mit mir das Leben jenseits der Katastrophe zu teilen.

»Das Wissen war zu allen Zeiten für die Ansichten der jeweiligen Teilnehmer systemfähig, bewiesen, anwendbar, evident. Alle fremden Systeme waren für sie widersprechend, unbewiesen, nicht anwendbar, phantastisch oder mythisch.« Ludwik Fleck »So hart sich das Objektive in der Welt anfühlt (z.B. einer rennt gegen die Wand), so aufschlussreich bleibt das Erzählen. Bücher sind insofern die letzte Wagenburg der Subjektivität, in deren ›Urgeschichte‹ die schärfsten Waffen gegen das FALSCHE IN DER WIRKLICHKEIT zu finden sind.« Alexander Kluge

Einleitung: Tunguska-Potenziale

Eins sei vorweggenommen: Diese Untersuchung wird und soll nicht zur Aufklärung des Tunguska-Ereignisses beitragen. Die Antwort auf die Frage danach, was die Explosion verursachte, die am Morgen des 30. Juni 1908 die Region der Steinigen Tunguska in Sibirien erschütterte, ist aus kulturwissenschaftlicher Perspektive weitaus weniger interessant als die Frage selbst. Diese hat eine Flut von Texten generiert, die aus einer zwar großen, jedoch weitgehend folgenlos gebliebenen Explosion ein Jahrhunderträtsel machten. Zwar lässt sich an einer Explosion, die 2.150 Quadratkilometer Wald zerstörte, jedoch keinen Krater oder andere eindeutige Spuren hinterließ, sicherlich auch ohne viel Aufhebens einiges Rätselhaftes erkennen – die hellen Nächte, die auf die Explosion folgten und in großen Teilen Europas sichtbar waren, tun ihr Übriges dazu. Doch es sind nicht vorrangig die Eigenschaften des Ereignisses, die das Interesse wecken und wachhalten, sondern die offenbare Unfähigkeit sämtlicher mit der Erklärung befasster Institutionen und Individuen, eine befriedigende Erklärung zu finden. Aus der Gegenüberstellung der spektakulären Energie des Ereignisses und seiner Unerklärtheit erzeugen die zur Untersuchung stehenden Texte Versionen des Phänomens, die selbst zu Ereignissen werden, welche die Programme moderner Wissensgenese empfindlich stören. Obwohl sie in der äußersten Peripherie Europas stattfand, wird die gigantische Explosion zu einer der verheerendsten Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Allerdings ist sie nicht aufgrund ihrer physischen Zerstörungskraft so verheerend, denn die Tunguska-Region in Zentralsibirien war zum Zeitpunkt des Ereignisses nahezu unbewohnt, sodass kaum Menschen zu Schaden kamen. Doch weil seine Ursache auch nach über 100 Jahren Forschung eine Leerstelle bleibt, bringt das Tunguska-Ereignis ein fundamentales Problem für das Selbstverständnis der Wissenskultur des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts zum Vorschein. Da es nicht möglich ist, die Ursache zu klären und damit die Katastrophe zu klassifizieren, manifestiert sich Tunguska als problematische Leerstelle innerhalb der modernen Ordnung des Wissens. Da es der institutionalisierten Wissenschaft nicht gelungen ist, durch eine Erklärung des Ereignisses Deutungsmacht zu beanspruchen, wird die Leerstelle

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Die Produktion der Katastrophe

zum Motor eines undisziplinierbaren Diskurses, der die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion und die Ordnung der funktional ausdifferenzierten Moderne offen infrage stellt. Die Aufmerksamkeit, die dem Ereignis bereits zuteil wurde, verstärkt offenbar das Bedürfnis, endlich Gewissheit über seine Ursache zu bekommen. So wird ein umfassendes Unbehagen sichtbar, das nunmehr nicht nur die Ursache betrifft, sondern auch die Fähigkeiten der Wissenschaften, Erklärungen zu finden und damit Wissen (und Kontrolle) über die Welt zu generieren. Solange niemand weiß, was passiert ist, kann nicht berechnet werden, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit ein solches Ereignis sich wiederholen wird. Der Schrecken, den das Tunguska-Ereignis auslöst, beruht somit nicht auf dem, was passiert ist, sondern auf dem, was nicht passiert ist, aber passieren könnte. Tunguska ist eine Katastrophe im Potenzialis, die in verschiedenen Zusammenhängen äußerst produktiv eingesetzt werden kann. Weil sie nicht durch die Praktiken der Wissensgenese diszipliniert werden kann, wird sie zur Variablen verschiedener Szenarien. Aber da die Frage nach der Ursache über einen so langen Zeitraum und in so unterschiedlichen Kontexten gestellt wurde, entsteht der Eindruck, dass entweder Wissen über die wahre Natur des Ereignisses verschleiert wird, weil es nicht in den herrschenden Diskurs gehört, oder dass sich das Ereignis selbst seiner Aufklärung entzieht. Dieser Eindruck wiederum ist keine Eigenschaft, die dem Ereignis selbst innewohnt; sie entsteht im Netzwerk der Texte, die nach der Ursache suchen. Diese lenken den Blick auf die Potenziale des Ereignisses – das, was hätte passieren können, was es bedeuten könnte und wer ein Interesse daran haben könnte, die Wahrheit zu verschleiern – und füllen sie mit Szenarien und Erzählungen, die das Ereignis und seine Unerklärtheit beziehungsweise seine Unerklärbarkeit in Szene setzen. Indem das Ereignis selbst eine Art Akteur1 wird, der die Wissenschaft und mit ihr die moderne Auffassung davon, was Wirklichkeit ist, herausfordert, erlaubt es die Untersuchung des Tunguska-Diskurses, zentrale Elemente des Selbstverständnisses der Moderne und ihrer Beziehung zur Welt zu analysieren. Diese Untersuchung widmet sich den Narrativen2 und Praktiken, die mit dem Tunguska-Ereignis verknüpft und von ihm ausgelöst werden, und stellt somit die Frage danach, welche Konsequenzen ein Wissen hat, dessen Gegenstand sich den etablierten Erkenntnisprozessen zu widersetzen scheint. Anstatt also an der Diskussion über die Ursache des Ereignisses teilzunehmen, bietet diese Arbeit erstmals einen systematischen Überblick über alle Aspekte des Tunguska-Diskurses, ohne diese von vornherein zu hierarchisieren. Indem damit das Scheindilemma der Unterscheidung von Fakt und Fiktion zunächst außen vor bleibt, wird es möglich, die Eigenschaften und 1 | Vgl. Latour 2002, 372 und Latour 2008, 38. 2 | Vgl. Koschorke 2012, 30 und 72.

Einleitung: Tunguska-Potenziale

Auswirkungen des Tunguska-Ereignisses über disziplinäre Grenzen hinweg zu untersuchen. Das Ziel dieser Arbeit ist es, einen exemplarischen Entwurf einer geisteswissenschaftlich orientierten Analyse des Verhältnisses von Natur und Kultur zu entwickeln, der – Bruno Latour folgend – von der Mitte ausgeht.3

E in E reignis ohne U rsache – E ine A rt F orschungsüberblick Der Versuch, den folgenden Überlegungen einen Forschungsüberblick voranzustellen, führt bereits mitten in das Problem hinein, da er Unterscheidungen erfordert: zunächst die bereits getroffene zwischen der Untersuchung des Tunguska-Diskurses und der des Tunguska-Ereignisses. Das erleichtert die Aufgabe insofern, als es bisher keine kulturwissenschaftliche Forschung zu Repräsentationen des Tunguska-Diskurses gibt. Vielmehr erlaubt es die Identifizierung eines Tunguska-Diskurses erstmals, die Texte über das Ereignis selbst als Auswirkungen beziehungsweise Eigenschaften des Ereignisses zu betrachten. Des Weiteren wird es dadurch möglich, auch in solchen Texten, die nicht explizit auf das Tunguska-Ereignis Bezug nehmen, Elemente des Diskurses zu erkennen und zu untersuchen.4 Untersuchungen über das Ereignis jedoch gibt es in so vielen verschiedenen Kontexten, dass deren Ergebnisse sich oft gegenseitig ausschließen. Das Vorhaben wird zudem dadurch erschwert, dass das Tunguska-Ereignis beziehungsweise die Tunguska-Katastrophe selbst in einem denkbar eng gefassten Rahmen nicht allein aus der Explosion an der Steinigen Tunguska besteht, sondern aus einer ganzen Reihe bisher unerklärter Phänomene, die zeitgleich oder zeitnah mit der Explosion stattfanden und mit dem Ereignis assoziiert werden: »An explanation of the explosion at the Tunguska River does not mean a holistic explanation of the Tunguska meteorite phenomenon as a whole. Any hypotheses relating to the TM [Tunguska-Meteorite] must interpret the following aspects of the phenomenon: flight of a gigantic bolide over Central Siberia on 30 June 1908; destruction of the TM; geophysical effects connected to the TM (seismic and baric disturbances, magnetic storm, complex of atmospheric optic anomalies in the summer of 1908); isotopic and elemental anomalies in the catastrophe area possibly connected to precipitation of

3 | Vgl. Latour 2008, 106. 4 | Prominente Beispiele dafür sind die in Kapitel II.1 »Science und Fiction« untersuchten Romane Solaris von Stanisław Lem und Picknick am Wegesrand von Arkadi und Boris Strugatzki.

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Die Produktion der Katastrophe the TM matter; and environmental, including genetic, consequences of the Tunguska catastrophe« (Vasilyev 1998, 143).

Die Zusammenfassung des Physikers Nikolai Vasilyev in der Zeitschrift Planetary and Space Science zeigt, wie stark die Darstellung des Ereignisses von ihrem Kontext abhängt. Die Tatsache, dass er vom »Tunguska Meteorite Problem« spricht, schließt bereits eine ganze Reihe von Lösungsmöglichkeiten aus. Zwar benennt er Gründe für den Ausschluss solcher Theorien – »[they] obviously contradict hard facts« (ebd., 140) oder sind ausschließlich »of historical interest« (ebd.) –, aber es besteht kein Zweifel daran, welche Art von Ergebnis er für erwartbar, plausibel und möglich hält. Als Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften5 und Teilnehmer der Konferenz Tunguska966 an der Universität von Bologna ist seine Perspektive auf das Ereignis insofern eingeschränkt, als sie an die Praktiken naturwissenschaftlichen Arbeitens gebunden ist. Seine Review 7 kommt nichtsdestotrotz – typisch für Texte über das Tunguska-Ereignis – nicht ohne eine Bezugnahme auf alternative Hypothesen aus. Auch wenn die meisten davon umgehend verworfen werden, wird deutlich, dass sie in der Untersuchung des Ereignisses einen festen Platz haben. Das gilt nicht nur, weil auch solche Erklärungen, die wie die Jackson-RyanHypothese, nach der Tunguska durch ein schwarzes Loch ausgelöst worden sei, oft als Science Fiction verworfen werden, in etablierten wissenschaftlichen Kontexten entstanden sind.8 Vasilyevs Text verfolgt darüber hinaus ein bestimmtes Interesse: Die Zusammenführung englisch- und russischsprachiger Forschung zum Tunguska-Ereignis soll eine klaffende Lücke füllen und 90 Jahre nach dem Ereignis endlich einen »exchange of information within the frames of successfully developed scientific cooperation« (ebd., 129) ermöglichen. Damit werden seine Entscheidungen, was zu einer akzeptablen Erklärung des Tunguska-Ereignisses notwendig ist und welche Phänomene zum Ereignis gehören, dadurch gerechtfertigt, dass er einen Grund dafür liefert, warum bisher noch keine synthetische Theorie entwickelt werden konnte. Indem er die Einschränkungen wissenschaftlichen Austausches als Ursache für das bisherige Scheitern an der Erklärung nennt, greift er einen Topos des Tunguska-Diskurses (das unverfügbare Ereignis) auf und behauptet gleichzeitig die Deutungshoheit der Naturwissenschaften – der Physik im Speziellen. Wenn nämlich das Scheitern an einer Erklärung auf äußere Umstände – na5 | Er ist den Angaben des Artikels gemäß Mitglied der »Commission on Meteorites and Space Dust, Siberian Branch, Russian Academy of Sciences« (Vasilyev 1998, 129). 6 | Informationen über die Expeditionen und Konferenzen der Universität Bologna sind unter http://www-th.bo.infn.it/tunguska/ (vom 29.11.2016) zu finden. 7 | Vgl. auch Kapitel I.1 »Spuren und Fakten« sowie Kapitel II.3 »Ereignis und Geschichte«. 8 | Vgl. Jackson/Ryan 1973 sowie Kapitel II.2 »Geheimnis und Verschwörung«.

Einleitung: Tunguska-Potenziale

mentlich den durch den Eisernen Vorhang9 verhinderten Austausch zwischen den Wissenschaften – zurückgeht, dann bliebe deren Anspruch unangetastet und die Suche nach alternativen Erklärungen unnötig. Was in den Texten als Tunguska-Ereignis zu verstehen ist, beruht also zunächst auf der Entscheidung, welche Phänomene zum Ereignis gezählt werden und welche als peripher markiert und von der Untersuchung auszuschließen sind. Was als Tunguska-Ereignis gilt, folgt dabei keinesfalls allein der Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Darstellungen. Es gibt, das zeigt auch Vasilyevs Review, kein Ereignis an sich, das allein aufgrund der inbegriffenen Phänomene von einem pseudowissenschaftlichen oder einem populärkulturellen Tunguska zu unterscheiden wäre. Trotzdem ist die Auswahl der Phänomene nicht beliebig. Es gibt neben dem Namen, dem Ort und dem Datum des Ereignisses Elemente, die so eng mit Tunguska verknüpft sind, dass sie gleichzeitig Grund und Ergebnis der Beschäftigung mit diesem Phänomen darstellen. Sie alle wurden bereits genannt: die gigantische Explosion, die trotz ihres Ausmaßes seltsam folgenlos blieb; die fehlende Erklärung und die damit verbundene, bis heute andauernde Forschung; die Menge an unterschiedlichen Erklärungen, die von einem Meteoriten über schwarze Löcher bis hin zu einem havarierten Raumschiff außerirdischer Lebewesen reichen und trotz ihrer vermeintlich absurden Lösungsvorschläge Geltung beanspruchen. Allein anhand dieser Elemente lässt sich eine Version des Ereignisses erzählen, deren Reiz sowie Wiedererkennungswert so hoch sind, dass kaum ein Text um die Rätselbehauptung herumkommt oder der Versuchung, sie zu verstärken, widersteht. Texte über das Tunguska-Ereignis beginnen bemerkenswert häufig auf ähnliche Weise: »In the early morning of 30th June 1908, a powerful explosion over the basin of the Podkamennaya Tunguska River (Central Siberia), devastated 2150 ± 50 km² of Siberian taiga« (Longo 2007, 303). Die Information, mit der der Astrophysiker Guiseppe Longo seinen Text beginnt, findet sich als Minimalbeschreibung in verblüffend vielen und ebenso unterschiedlichen Texten. Martina Andrés Roman Schamanenfeuer beginnt im nahezu gleichen Wortlaut: »Am frühen Morgen des 30. Juni 1908 ereignete sich in Sibirien im Gebiet der Steinigen Tunguska eine verheerende Explosion, deren Auswirkungen in halb Europa zu spüren waren und deren genaue Ursache bis heute nicht geklärt wurde« (Schamanenfeuer, 6).10 Es handelt sich hier nicht um die Kopie einer wissenschaftlichen Darstellung durch die Autorin eines Fantasy9 | Der Umstand, dass die ersten internationalen Konferenzen Mitte der 1990er Jahre stattfanden, spricht deutlich dafür, dass es mehr als die Sprachbarriere war, die den Austausch bis dahin verhinderte, auch wenn diese historische Tatsache offenbar in den fachspezifischen Texten keinen Platz hat. 10 | Vgl. Kapitel II.2 »Geheimnis und Verschwörung«.

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Die Produktion der Katastrophe

romans. Longo bedient sich einer geradezu traditionellen11 Formulierung, die gleichzeitig über die Fakten des Ereignisses informieren und Interesse wecken soll. Diese Beschreibung des Ereignisses lässt sich beliebig variieren, um dem jeweiligen Zweck gerecht zu werden. Je dramatischer die Attribute der einzelnen Elemente dargestellt werden, desto dringlicher und aktueller lässt sich die Suche nach der Lösung des Ereignisses darstellen: »Im Morgengrauen des 30. Juni 1908 ereignete sich in der Einöde Westsibiriens ein Inferno, dessen Ursache mysteriös geblieben ist. Ein gewaltiger Knall zerriss die Stille der Taiga am Fluss Tunguska, dann brannte die Luft: Ein Hitzesturm knickte alle Bäume um – in einem Gebiet fast so groß wie das Saarland. Noch in Europa sahen Menschen den Nachthorizont leuchten. Trotz der vielen Zeugenberichte rätseln Wissenschaftler noch immer über die Ursache der Explosion. Am Montag präsentieren Geoforscher auf der Jahrestagung des Amerikanischen Geophysikalischen Union (AGU) in San Francisco nun Belege für eine erstaunliche Theorie: Demnach schossen in Tunguska vulkanische Feuerbomben aus dem Boden. Die Katastrophe könnte sich wiederholen, auch in Europa – und zwar ohne Vorwarnung« (Bojanowski, 13.12.2010 SPON).

Bojanowskis Einführung strotzt im Vergleich zu den anderen beiden Beispielen geradezu vor spektakulären Bildern. Nicht nur ruft er in der Beschreibung der Explosion das Höllenfeuer auf, er verbindet es mit der Möglichkeit einer Wiederholung des apokalyptischen Ereignisses mitten in Europa und schürt mit dem Zusatz »und zwar ohne Vorwarnung« eine Form von Angstlust, die typisch für Darstellungen des Tunguska-Ereignisses ist. Dabei handelt es sich hier um einen Zeitungsartikel, der neuere wissenschaftliche Erkenntnisse unterhaltsam auf bereiten soll, während Martina André in ihrem Roman ein fantastisches Szenario entwirft, in dem das Tunguska-Ereignis auf das Zusammentreffen zaristischer Geheimtechnologie mit schamanischer Energie zurückgeführt wird. Im ersten Fall scheint eine spektakuläre Inszenierung einer nüchternen vorzuziehen zu sein, um aus der Kontrastierung des Mysteriösen mit wissenschaftlicher Arbeit Leserinteresse zu generieren. André hingegen, deren Roman weitere, spektakulärere Darstellungen des Ereignisses enthält, beginnt ihren Text mit der vergleichsweise nüchternen Version, um seine enge Bindung an ›wissenschaftliche Fakten‹ herauszustellen. Unabhängig von ihrem Entstehungs- und Publikationskontext enthalten alle Texte über das Tunguska-Ereignis eine Bestandsaufnahme dessen, was über das Ereignis bekannt respektive von Interesse für den Text ist und welche verschiedenen Theorien geäußert wurden. Der Umfang dieser Bestandsaufnahme, der von einem einzigen Satz bis zum Umfang eines ganzen Buches reichen kann, korrespondiert nicht notwendig mit der Bedeutung, die das Er11 | Auch Verma 2005 und Baxter/Atkins 1976 bedienen sich bereits dieser Formulierung.

Einleitung: Tunguska-Potenziale

eignis für den jeweiligen Text hat,12 legt aber in jedem Fall seine Stoßrichtung fest. Häufig geht es wie bei André darum, ein eigentliches Tunguska-Ereignis von den verschiedenen Erklärungsversuchen zu isolieren und damit die im Text präsentierte Version des Ereignisses und zugleich den Text selbst zu legitimieren. Sich für einen Forschungsstand zu entscheiden, kommt damit einer Abwertung aller anderen Versionen gleich, weil sie mit einer Positionierung innerhalb des Feldes einhergeht. Dadurch entsteht eine Hierarchisierung der Zugriffe, die an sich bereits interessant ist, da sie die Ordnung des Wissens insofern reproduziert, als sie wissenschaftliche Praktiken als (einzige) legitime Quelle der Faktenbildung akzeptiert, sich jedoch vorbehält, andere Schlüsse daraus zu ziehen. Damit wird suggeriert, dass man sich auf allgemein anerkannte Fakten stützt, wodurch der eigene Ansatz, weil er vorgibt, auf diese Weise an der Legitimation wissenschaftlicher Forschung zu partizipieren, ebenso legitim erscheinen soll. Eine Zusammenfassung des Tunguska-Ereignisses kann, wie die Beispiele zeigen, nicht unabhängig vom Darstellungsinteresse des jeweiligen Textes erfolgen, sodass die Feststellung eines einzigen Forschungsstandes dem Interesse einer kulturwissenschaftlichen Untersuchung des Diskurses zuwiderläuft. Eine einführende Darstellung des Tunguska-Ereignisses und der Suche nach einer Erklärung kann demnach auch in dieser Arbeit nicht unabhängig vom Erkenntnisinteresse vorgenommen werden. Da aber, wie eingangs erwähnt, dieses Interesse nicht der Erklärung des Ereignisses gilt, besteht keine Notwendigkeit, eine Version des Ereignisses anderen vorzuziehen. Der Aufbau der Arbeit folgt somit nicht der Unterscheidung zwischen einem eigentlichen Ereignis und verschiedenen davon abzugrenzenden Versionen oder Lösungsansätzen, sondern den Themenfeldern, innerhalb derer das Ereignis Bedeutung gewinnt. Dadurch wird es möglich, Texte aus vollkommen unterschiedlichen Kontexten miteinander zu vergleichen, ohne ihren Anspruch, Wirklichkeit darzustellen, schon aufgrund fehlender institutioneller Anerkennung auszuschließen. Dieser Anspruch stellt eine weitere Leitunterscheidung dar, die bestimmend für den Auf bau dieser Untersuchung ist. Während die Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen, nicht- oder pseudowissenschaftlichen Texten nicht per se von Bedeutung ist, wird sehr wohl zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Inszenierungen des Tunguska-Ereignisses unterschieden. Damit soll nicht eine Trennung durch eine andere ersetzt werden. Vielmehr gründet sich diese Entscheidung auf para12 | Während das Tunguska-Ereignis als bloßes Element einer Aufzählung in seiner Bedeutung eher geschwächt wird (Walter 2010, 169; vgl. Kapitel I.2 »Katastrophe und Risiko«), kann ein einziger Satz als Moment of Divergence zum Ausgangspunkt einer alternativen Erzählung des 20. Jahrhunderts werden (vgl. Kracht 2008 sowie Kapitel II.3 »Ereignis und Geschichte«).

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Die Produktion der Katastrophe

textuelle Markierungen und die dadurch implizit getroffene Formulierung einer texteigenen Positionierung innerhalb des Diskurses. Zwar steht das Selbstverständnis alternativer Texte über das Tunguska-Ereignis nicht notwendig in Konkurrenz zu den Ergebnissen professioneller Wissenschaft; die prekäre Faktenlage erzwingt jedoch einen wechselseitigen Bezug, auch wenn ihre Legitimationstechniken vollkommen anderen Bedingungen unterliegen. Interessanterweise ergibt sich daraus eine Gemeinsamkeit, die die beiden Extrempunkte des Diskurses, fachspezifische wissenschaftliche Kommunikation und fiktionale Repräsentationen des Ereignisses, miteinander verbindet: Die Unerklärtheit des Ereignisses ist für beide nicht legitimitätsbedrohend. Während es im Medium der Fiktion ohne Weiteres möglich ist, jegliche Lösung für das Ereignis intradiegetisch als Wirklichkeit zu präsentieren, ist Tunguska im wissenschaftlichen Kontext nur insofern ein Problem, als es weitere Forschung erfordert. Kurz gesagt, Wissenschaft und Fiktion kommen sich nicht in die Quere. Problematisch sind diejenigen Texte, die die beiden Bereiche vermischen. Die heuristische Unterscheidung zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten erlaubt es zu zeigen, wie fundamental die Bedeutung narrativer Praktiken für die Darstellung des Tunguska-Ereignisses in allen Bereichen ist. So wird außerdem sichtbar, wie viel Einfluss literarische Verfahren auf die Möglichkeit haben, anhand dieses Ereignisses Alternativen zur herrschenden Wissensordnung zu etablieren und es als Katastrophe in Szene zu setzen. Nichtsdestotrotz erscheint es angebracht, einen Überblick über die für diese Arbeit relevanten Aspekte der Tunguska-Forschung zu geben, deren Bedingungen offengelegt werden müssen. Anstatt einem Anspruch auf Vollständigkeit zu folgen, dem selbst innerhalb der Teilbereiche des Tunguska-Diskurses nur bedingt zu genügen ist,13 soll dieser Überblick Orientierung für die folgenden Überlegungen bieten. Die meisten Darstellungen beruhen aufgrund der (aus unterschiedlichen Gründen) begrenzten Zugänglichkeit des Ereignisortes selbst auf Vermittlungen, sodass sich die für diese Arbeit grundlegende Konstellation eines Ereignisses ergibt, das innerhalb eines Netzwerks von Texten und medialen Zeugnissen entsteht. Das Hauptaugenmerk liegt hier also auf der Geschichte der Darstellung der Erforschung des Ereignisses, weil erst diese den Katalog möglicher, zu Tunguska gehörender Phänomene öffentlich zugänglich und damit zu einem Archiv von Elementen verschiedener Tunguska-Erzählungen macht. Dementsprechend sind die Dokumente, aus denen der Überblick über die Forschung entnommen wird, gleichzeitig Objekte der Untersuchung dieser Arbeit. Die Überblicksdarstellung ergibt ihrerseits eine Erzählung des Ereignisses. 13 | Für einen Überblick über die vorrangig naturwissenschaftliche Forschung siehe Vasilyev 1998 und Longo 2007, Verma 2005 bezieht teilweise auch außerwissenschaftliche Quellen mit ein.

Einleitung: Tunguska-Potenziale

Die jeweilige Version des Ereignisses ist in hohem Maße davon abhängig, wie die örtlichen und historischen Bedingungen des Ereignisses in Zusammenhang mit seiner Energie beziehungsweise seinen potenziell katastrophalen Ausmaßen und seiner Unerklärtheit gebracht werden. Der Ereignisort ist deswegen von großer Bedeutung für die Darstellung, weil er einerseits in sicherer Distanz zu den zivilisatorischen Zentren liegt und weil Sibirien andererseits zum Zeitpunkt des Ereignisses bereits ein semantisch besetzter Ort ist. In Abhängigkeit vom jeweiligen historischen Kontext steht es paradigmatisch für Peripherie, Wildnis und Exil. Die Weite Sibiriens wird so im Zusammenhang mit dem Tunguska-Ereignis zur Projektionsfläche, auf der sich verschiedene Szenarien abbilden lassen. Diese werden schließlich zu grundlegenden Narrativen der Themenfelder, um die sich die Tunguska-Versionen gruppieren lassen. Der Explosionsort an der Steinigen Tunguska ist nach wie vor schwer erreichbar. Das Epizentrum liegt mitten in der Tundra, erfordert die Durchquerung von Sümpfen, und es war trotz der gewaltigen Ausmaße der zerstörten Fläche ohne Führung der ortskundigen ewen­kischen Nomaden unmöglich, den Ort überhaupt zu finden. Die Bestimmung des Gebiets als Peripherie erfolgt selbstverständlich von einem Zentrum aus. Dieses liegt entweder innerhalb Russlands oder in Europa. Zwar lässt sich Ersteres als Teil des Letzteren beschreiben, die Geschichte Tunguskas und seiner Erforschung ist aber – wie es auch in Vasilyevs Review deutlich wird – eng mit der politisch-historischen Gegenüberstellung Russlands und Europas oder später Russlands und der ›westlichen Welt‹ verknüpft. Schon der Mineraloge Leonid Kulik, der erste Forscher, der sich dem Tunguska-Ereignis widmete, war in jeder Hinsicht von der Position des Ereignisorts betroffen.14 Die Anekdote, dass er nur durch Zufall von dem Ereignis erfahren habe, weil er einen Bericht darüber in einer alten Zeitung entdeckte, illustriert die Distanz, die zwischen Tunguska und den bedeutenden Zentren der Zeit lag. Der Zeitpunkt von Kuliks Expedition spiegelt diese Distanz auf einer weiteren Ebene: Zwischen dem Ereignis des Jahres 1908 und der ersten Expedition, die 192115 im Auftrag der Russischen Akademie der Wissenschaften durchgeführt wurde, liegen mit der Oktoberrevolution und dem Ersten Weltkrieg zwei der bedeutendsten Umwälzungen des 20. Jahrhunderts. Dass das Tunguska-Ereignis nur drei Jahre nach der Revolution des Jahres 1905 und im schwelenden Konflikt der Nationen um die Vorherrschaft in Europa beinahe unterging, verwundert kaum.

14 | Zu Leonid Kuliks Expeditionen und seiner Person siehe Verma 2005, 32-56; Vasilyev 1998. 15 | Erst bei der zweiten Expedition im Jahr 1927, also beinahe 20 Jahre nach dem Ereignis, wurde das Epizentrum der Explosion überhaupt erreicht.

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Die Produktion der Katastrophe

Kulik gelang es trotz eines enormen Aufwandes nicht, den »TunguskaMeteoriten«16 zu finden. Seine Expeditionen waren dennoch äußerst erfolgreich, denn sie lieferten erstmals Informationen über Ort und Ausmaß und die Spurenlage der Explosion. Außerdem erwies sich Leonid Kulik als äußerst geschickt darin, seinem Vorhaben sowie seinen Ergebnissen Popularität zu verschaffen. Die Bilder und Filmaufnahmen der zweiten Expedition sowie Berichte über den vermeintlich astronomischen Wert der Überreste des Meteoriten17 dienten nicht zuletzt dazu, ein Publikum zu schaffen. Er etablierte bereits zu Beginn der Erforschung mehrere zentrale Narrative des Diskurses – das des unermüdlichen Forschers, der keine Mühen scheut, um sein Ziel zu erreichen, welches wiederum eng mit dem des fehlgeleiteten Wissenschaftlers verknüpft ist, der aufgrund von Engstirnigkeit nicht sieht, was wirklich passiert ist. Zentral ist aber seine popularisierende Technik, das Ereignis von seinem Ort zu lösen und in einen bekannten Bereich zu transferieren: »Kulik was an excellent writer and speaker and made meteorites popular among the Soviet population. He made his Moskow audience shiver when, in a lecture, accompanied by Strukov’s ›moving pictures of the appalling desolation‹, he remarked: ›Thus, had this meteorite fallen in central Belgium, there would have been no living creature left in the whole country; on London, none left alive south of Manchester or east of Bristol. Had it fallen on New York, Philadelphia might have escaped with only its windows shattered, and New Haven and Boston escaped, too. But all life in the central area of the meteor’s impact would have been blottet out instantaneously‹« (Verma 2005, 49).

Kuliks narrative Verlegung des Ereignisses ist so effektiv, weil sie zunächst durch einen illustrativen Vergleich der Fläche einen Bezug zu bekannten Größen18 herstellt und diese dann in eine potenziell apokalyptische Bedrohung ummünzt. Die Frage, die diesem Vergleich zugrunde liegt – Was wäre passiert,

16 | »From his first determination of the basin of the Podkamennaya Tunguska River as the explosion Site Kulik (1922 and 1923) used the Term ›Tunguska Meteorite‹, for the TCB [Tunguska Cosmic Body], and continued searching for an iron body, similar to one found in Arizona.« (Longo 2007, 303) 17 | Verma zitiert eine Schlagzeile der New York Times des Jahres 1928, der zufolge sich der Wert auf 1.000.000 Dollar belaufe (vgl. Verma 2005, 48). Eine Schätzung, die sich angesichts dessen, dass bis heute nichts dergleichen gefunden wurde, lächerlich ausnimmt, jedoch in den Annahmen, es gäbe etwas Großes oder Wichtiges – wenn auch nicht unbedingt Materielles – zu entdecken, widerspiegeln. 18 | Typische Vergleichsgrößen der Fläche sind das Saarland (vgl. Bojanowski 2010) in deutschen und der Staat Rhode Island in englischsprachigen Texten (vgl. http://olkhov. narod.ru/tunguska.htm vom 29.11.2016).

Einleitung: Tunguska-Potenziale

wenn sich eine vergleichbare Explosion in X ereignet hätte?19 –, erlaubt die Verschiebung aller Paradigmen des Ereignisses und damit eine Vielzahl verschiedener Katastrophenszenarien.20 Kulik trug durch die spektakuläre Präsentation des Ereignisses zwar zur Popularisierung des Tunguska-Ereignisses bei, allerdings auch dazu, es als mysteriös und potenziell gefährlich zu markieren. Die während weiterer Expeditionen (1928, 1929-1930, 1938) entstandenen Aufnahmen der zerstörten Tundra sowie die Luftaufnahmen der riesigen, schmetterlingsförmigen Fläche umgestürzter Bäume verstärkten den bedrohlichen Eindruck. Dass Kulik in der Mitte dieser Formation nicht den erwarteten Krater fand, sondern aufrechtstehende, aber gänzlich von Ästen und Zweigen bare Baumstämme, trug ebenfalls zum Erstaunen über das Ereignis und seiner Wahrnehmung als beispielloses Rätsel bei. Die Zeugenberichte der Ewenken, die 1926 von Ethnografen erstmals aufgezeichnet wurden, tragen ebenfalls nur bedingt zur Aufklärung bei. Ähnlich wie die seit Ende der 1920er Jahre mit Tunguska in Zusammenhang gebrachten Lichtphänomene dienen sie in populären Darstellungen dazu, den Verdacht zu nähren, die Ursache des Tunguska-Ereignisses sei nicht innerhalb der Grenzen wissenschaftlicher Weltwahrnehmung zu finden. Dass im Laufe der Zeit immer mehr an unterschiedlichen Orten der Welt aufgezeichnete Anomalien mit dem Ereignis assoziiert werden, hat die Hoffnung Kuliks, bald eine Ursache finden zu können, insofern beendet, als die Erklärung der Explosion, wie Vasilyev es formuliert, längst nicht mehr ausreicht, um das Ereignis als Ganzes zu verstehen. Auch der Streit um die Plausibilität und Richtigkeit einer Hypothese war bereits fester Bestandteil des Tunguska-Diskurses, als Kulik die Ergebnisse der von ihm geleiteten Expeditionen vorstellte.21 Kuliks Bemühungen endeten mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Die fünfte, für 1940 geplante Expedition konnte nicht mehr stattfinden und die Forschung lag bis Kriegsende brach.22 Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs wurden in der Nachkriegszeit verschiedene Hypothesen geäußert und wieder verworfen, die jedoch nicht mehr allein innerhalb der scientific community entstanden. Die andauernde 19 | Es existieren auch Karten, die die (schematisierte) Zerstörungsfläche des Tunguska-Ereignisses über Karten bekannter Bezugsorte blenden (vgl. »Tunguska on Rome« der Universität Bologna, http://www-th.bo.infn.it/tunguska/Al-foto7.htm vom 29.11.2016). 20 | Vgl. Kapitel I.2 »Katastrophe und Risiko«. 21 | »There were critics as well. A few geologists continued to voice their doubts about a meteoritic origin of the Tunguska blast. They explained Kulik’s ›craters‹ as the result of permafrost and pointed out that similar holes are often found in other parts of Siberia« (Verma 2005, 49). 22 | Kulik starb 1942 in deutscher Kriegsgefangenschaft an Typhus.

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Ratlosigkeit über die Ursache erhöhte den Druck auf die Forschung und eröffnete damit den Raum für Hypothesen, die nicht unbedingt den traditionellen Vorstellungen des Möglichen folgten. Die Bemühungen, den wissenschaftlichen Diskurs frei von solchen Ansätzen zu halten und dennoch die Möglichkeit nicht zu übergehen, Tunguska als etwas vollkommen Neues zu verstehen, kennzeichnen seitdem die Tunguska-Forschung: »These ›non-traditional‹ approaches still consider an impact with the atmosphere of ›something‹ coming from external space. Several of them, though published in scientific journals, were found to be technically groundless, e.g. the hypotheses involving near critical fissionable material (Zigel 1983; Hunt et al. 1960), antimatter meteors (Cowan et al. 1965), and tiny black holes (Jackson and Ryan 1973). Others consider alien spacecrafts (Kazantsev 1946; Baxter and Atkins 1976). Kazantsev was the first who explained the lack of fragments or impact craters in Tunguska by an explosion in the atmosphere. Nevertheless, I think that here we can ignore such extremely ›non-traditional‹ hypotheses« (Longo 2007, 305; Hervorhebung SN).

Die von Kulik selbst in Gang gebrachte Popularisierung hatte zur Folge, dass das Interesse am Tunguska-Ereignis als Rätsel beziehungsweise als potenzielle Katastrophe nicht mehr zu bremsen war. Während des Kalten Krieges wurde zudem der technologische Fortschritt in einem Maße vorangetrieben, das Begeisterung und Ängste befeuerte. In Verbindung mit dem Tunguska-Ereignis führte er zu utopischen Szenarien, die trotz ihres ausgewiesen fiktionalen Charakters einen Anspruch auf wissenschaftliche Plausibilität vertraten und, wie Kazantsevs Beiträge belegen, sogar Hypothesen beisteuerten, die die Forschung vorantrieben. Seit 1989 ist es auch internationalen Forschungsteams möglich, Expeditionen zu unternehmen, sodass die Forschung seitdem von dem Versuch geprägt ist, die Ergebnisse der verschiedenen Expeditionen und Modellforschungen zu synthetisieren und zu ergänzen. Die Konferenz Tunguska 96,23 aus der die Sonderausgabe der Zeitschrift Planetary and Space Science hervorgegangen ist, stellt vorerst den Höhepunkt dieser Bemühungen dar. Versuche der Forschungsgruppe der Universität Bologna, den Tscheko-See als Krater des sogenannten Tunguska Cosmic Bodies (TCB) zu identifizieren und damit auch dessen Existenz zu belegen, stehen neben Hypothesen, die von einem terrestrischen Ursprung des Ereignisses in Form einer Gasexplosion24 oder vulkanischer Eruptionen, sogenannter Verne-Shots (nach Jules Verne), ausge-

23 | Vgl. http://www-th.bo.infn.it/tunguska/abstr3.html vom 29.11.2016 und Di Martino/Farinella/Longo 1998. 24 | Vgl. Kundt 2007.

Einleitung: Tunguska-Potenziale

hen.25 Die jüngste Publikation26 in der Zeitschrift Planetary and Space Science präsentiert zwar neue Belege dafür, dass es sich bei der Ursache mit größter Wahrscheinlichkeit um einen Meteoriten gehandelt habe, verlangt aber wie alle anderen Ansätze nach weiterer Forschung.

Tungusk a als popul ärer M y thos In der außerwissenschaftlichen27 Darstellung des Ereignisses überwiegen nach wie vor der ihm zugeschriebene Rätselcharakter und sein katastrophisches Potenzial. In den 100 Jahren seiner Erforschung hat sich Tunguska neben Atlantis, UFOs, Kornkreisen, Stonehenge und anderen ›rätselhaften‹ Phänomenen zum festen Bestandteil einer popkulturellen Mythologie des Mysteriösen entwickelt. Überwiegend taucht es in Kontexten auf, in denen es gar nicht vorrangig um das Tunguska-Ereignis geht, sondern es beispielsweise der Erzählanlass einer einzelnen Episode innerhalb einer Serie ist 28 oder als Gegenstand einer Aufzählung vorkommt. Es fehlt in kaum einer populärwissenschaftlichen Sammlung von »Rätseln der Menschheit«29 oder Weltuntergangsszenarien.30 In Science-Fiction- und Mystery-Serien wie Dr. Who oder Star Trek wird Tunguska oft nur en passant erwähnt, sodass sich von Fans dieser Serien erstellte Sammlungen von Verweisen auf das Tunguska-Ereignis z.B. auf verschiedenen Internetplattformen finden lassen.31 Zum Teil wird es 25 | Vgl. Morgan/Reston/Ranero 2004. 26 | Kvasnytsya et al. 2013. 27 | »Es gibt kein ›Außerhalb‹ der Wissenschaft, aber es gibt lange, schmale Netzwerke, welche die Zirkulation von wissenschaftlichen Fakten ermöglichen« (Latour 2008, 131). Hier sollen also solche Texte untersucht werden, die ihre Position als »außerwissenschaftlich« inszenieren. 28 | In der Science-Fiction-Serie Der Mysterious von Alfred Bekker, in der die Reise eines »Worgunmutanten« durch die Geschichte der Menschheit begleitet wird, ist »Tunguska« der sechste Band der Serie, die u.a. auch die Bände über »Nero«, »Attila«, »Marco Polo« und »Wallenstein« umfasst (vgl. Bekker 2005: Der Myterious. Band 6: Tunguska. Neuwied 2005). (Diese Serie erscheint im HJB-Verlag, in dem auch die Perry Rhodan-Reihe erscheint.) Vgl. auch Heftromanreihe »Professor Zamorra«, Band 757; Roger Clement: Tod über der Tunguska. Köln: Bastei 2003. 29 | Vgl. James/Thorpe 2002. Lars Fischinger: Historia Mystica. Rätselhafte Phänomene, dunkle Geheimnisse und das unterdrückte Wissen der Menschheit. München 2009. 30 | Vgl. z.B. Keulemans 2010 und Plait 2010. 31 | Eine häufig aktualisierte Liste findet sich z.B. bei Wikipedia unter dem Lemma »Tunguska event in popular culture« (siehe http://en.wikipedia.org/wiki/Tunguska_ event_in_popular_culture#Cartoon.2Fcomic vom 29.11.2016). Die auf der Seite auf-

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wie in Ghost Busters (1984) oder Hellboy (2004) dazu benutzt, übersinnliche Phänomene an ein reales Ereignis zu binden. Bei solchen Erwähnungen des Tunguska-Ereignisses geht es meist gar nicht darum, eine plausible Erklärung für das Ereignis zu finden, es wird vielmehr umgekehrt zum Beleg für die Möglichkeit einer Verbindung zwischen der realen und einer fantastischen Welt.32 Auch Dokumentationen wie Das Rätsel von Tunguska (2008)33 heben vor allem die Tatsache hervor, dass ›bis heute‹ niemand eine letztgültige Erklärung für das Ereignis liefern kann. Das gelingt insbesondere dadurch, dass wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Erklärungen gleichberechtigt nebeneinandergestellt werden. Obwohl in Das Rätsel von Tunguska vor allem Wissenschaftler zu Wort kommen, wird der Eindruck eines Scheiterns der Wissenschaft an Tunguska durch die Aufzählung der Erklärungsversuche und die Betonung, dass aufgrund der Spurenlage bisher keine Theorie Geltung beanspruchen kann, verstärkt. Während Vertreter der Fachdisziplinen diese Lücke beklagen, weil sie Raum für Spekulationen öffne,34 ermöglicht sie gleichzeitig sowohl literarischen wie nicht-literarischen Szenarien, die sich mit solchen alternativen Modellen auseinandersetzen, ihren Platz im Prozess der Wissensgewinnung zu behaupten.

geführten deutlich über 100 Beispiele umfassen jedoch bei Weitem noch nicht alle Texte, Filme etc., in denen Tunguska erwähnt wird, da sie auf englischsprachige Beispiele beschränkt sind (Stand August 2014). Verweise auf das Tunguska-Ereignis finden sich zudem häufig in Foren, die den jeweiligen Serien oder Filmen zugeordnet sind – so z.B. als »Trivia« zu Filmen der Internet Movie Database (imdb.com) oder Fanseiten wie www. ghostbustershq.com/ vom 29.11.2016. 32 | In Ghost Busters (1984) wird das Portal in eine höllische Parallelwelt geöffnet. Nach erfolgreicher Schließung desselben gratuliert Dr. Raymond Stantz (Dan Aykroyd) dem Geretteten, Louis Tully (Rick Moranis): »Congratulations Mr. Tully! You have been part of the biggest interdimensional cross-rip since the Tunguska blast of 1909 [sic!]« (Ivan Reitman [Regie]: Ghost Busters, USA 1984). Auch in Hellboy (2004) droht das Eindringen dämonischer Mächte durch ein Portal in eine Parallelwelt. Dieses soll Hellboy (Ron Perlman) mithilfe eines Monolithen öffnen, der während des Tunguska-Ereignisses auf die Erde kam (Guillermo del Toro [Regie]: Hellboy, USA 2004). 33 | Christoph Schluch (Regisseur) 2008. 43 Min. (Als »Big Bang Tunguska« auch ins Englische übersetzt). 34 | Vgl. auch Gasperini, Bonatti und Longo in einem Artikel anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Ereignisses. (27.06.2008 www.spiegel.de/wissenschaft/natur/ tunguska-explosion-der-tag-an-dem-sich-der-himmel-teilte-a-562316.html).

Einleitung: Tunguska-Potenziale

Alexander Kasanzews 1946 erschienene Science-Fiction-Erzählung взрыв (Vzryv – Die Explosion)35 begründet die Tradition von außerwissenschaftlichen Texten über das Tunguska-Ereignis, die sich zwischen Wissenschaft und Literatur bewegen.36 Er ist der Erste, der die Auswirkungen der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki mit denen der Explosion in Sibirien in Zusammenhang bringt. Seiner Erzählung nach ist die Ursache der Explosion ein vom Planeten Mars stammendes Raumschiff, dessen mit Nuklearenergie betriebener Antrieb in der Atmosphäre über Sibirien explodierte. Sein Text ist vor allem deswegen bedeutsam, weil ein Teil seiner Erzählung wissenschaftlichen Ergebnissen vorgriff.37 Dadurch erschien auch der Rest seines Szenarios vielen so plausibel, dass die Raumschiffthese zum festen Bestandteil des Tunguska-Diskurses wurde. Die (scheinbare) Überschneidung beziehungsweise das von Autoren wie Felix Siegel behauptete Erkenntnispotenzial dieses Textes ist seitdem mindestens so bestimmend für Darstellungen des Tunguska-Ereignisses wie die desolate Beweislage vor Ort.38 Kasanzews Erzählung fungiert innerhalb des Diskurses als Scheideweg. Während Kuliks spektakuläre Darstellungen das Tunguska-Ereignis zwar popularisieren, die Deutungshoheit der (Natur-) Wissenschaft aber nicht aus der Hand geben, bietet die Raumschiffthese einen Ansatzpunkt für einen parallelen Zweig der Tunguska-Forschung. Sogenannte para- oder grenzwissenschaftliche Ansätze unterstellen häufig die bewusste Verschleierung von Wissen und hegen den Verdacht, dass die teilweise (und späte) Anerkennung von Kasanzews Leistung einen weiteren Versuch darstellt, die außerwissenschaftlichen Stimmen zum Schweigen zu bringen. Dabei spielt es keine Rolle mehr, ob und wie viele Berechnungen und Simulationen nachgewiesen haben, dass Azimuth und Einfallswinkel des Boliden gegen den Planeten Mars (oder einen anderen Planeten des Sonnensystems) als Ursprungsort sprechen. Der Verdacht beruht auf dem Zweifel an der Fähigkeit der eigentlich zuständigen Institutionen, über ihren Tellerrand zu sehen und die einzigartigen Eigenschaften des Ereignisses ›richtig‹ zu interpretieren. Interessanterweise wird in parawissenschaftlichen Kontexten die Unerklärtheit des Ereignisses selbst zum Beweis. Weil ›bis heute‹ keine Ursache 35 | In deutscher Übersetzung findet sich diese Erzählung z.B. in Krassa 1983; zuerst erschien sie 1960 unter dem Titel »Der Bote aus dem All« im Moskauer Verlag für fremdsprachige Literatur. 36 | An dieser Stelle ist es wichtig, zwischen Wissenschaft und Literatur und nicht zwischen Fakt/Wissenschaft und Fiktion zu unterscheiden, weil auch die wissenschaftlichen Szenarien (vgl. Kapitel I.2 »Katastrophe und Risiko«) fiktionale Anteile haben und sich die Selbstzuschreibungen zwischen diesen beiden Bereichen bewegen. 37 | Vgl. Longo 2007, 305; http://www-th.bo.infn.it/tunguska/Al-Kazantsev.htm vom 29.11.2016. 38 | Vgl. Kapitel I.1 »Spuren und Fakten«.

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bestimmt werden konnte, muss es sich um etwas handeln, das außerhalb der Wahrnehmungsfähigkeit einer wissenschaftlich geprägten Auffassung von Welt liegt. In einer oftmals sehr geschickten Imitation wissenschaftlicher Verfahren verschieben solche Texte die Parameter, anhand derer die mit dem Ereignis assoziierten Phänomene interpretiert werden, und plausibilisieren damit (mehr oder weniger erfolgreich) die von ihnen favorisierte Erklärung. Die Bandbreite solcher nicht-wissenschaftlichen, aber auch nicht-literarischen Texte über das Tunguska-Ereignis reicht von spielerischen Popularisierungen wie Surendra Vermas The Tunguska Fireball. Solving One of the Great Mysteries of the 20th Century (2005), der eine ganze Reihe von Lösungsansätzen diskutiert, dabei aber keine Deutungshoheit beansprucht, über erklärt parawissenschaftliche Lösungsversuche wie die Peter Krassas oder Angelika Jubelts, die verschiedene Varianten der Raumschiffthese vertreten, bis hin zu Verschwörungstheorien über die geheimdienstliche Vertuschung einer frühen Wasserstoff bombe, die über dem Gebiet explodiert sei, oder eines fehlgeschlagenen Experiments von Nikola Tesla. Anders als die »extremely non-traditional hypotheses« (Longo 2007, 305), die innerhalb der scientific community entstanden sind, müssen diese Texte ihren Deutungsanspruch außerhalb institutionell etablierter Praktiken legitimieren. So nutzen beispielsweise John Baxter und Thomas Atkins die Methode des Vergleichs, die auch Kulik anwendet, um das Ereignis narrativ von der Peripherie ins Zentrum zu verlegen und die Theorie Alexander Kasanzews zu unterfüttern. Die Verbindung zweier bisher nie dagewesener Ereignisse – Tunguska und Hiroshima – sowie die Ehrfurcht angesichts der Zerstörungskraft einer von Menschen gemachten Waffe verschmelzen in The Fire Came By zu einer »new perspective in which this theory appears increasingly acceptable and logical« (Baxter/Atkins 1976, 134). Anstatt eine Behauptung aufzustellen und sie auf Biegen und Brechen zu verteidigen, verfolgt dieser Text die Strategie, das scheinbar Unglaubliche dadurch zu plausibilisieren, dass er aufzeigt, wie viele technologische Errungenschaften der unmittelbaren Vergangenheit zunächst für unmöglich gehalten wurden: »The postwar scientific establishment had seen enough of the atomic age and considered enough of the new theories to know that today’s impossibility was tomorrow’s reality« (ebd., 94). Indem sie betonen, dass das von ihnen favorisierte Erklärungsszenario nur eine Möglichkeit darstellt, verhindern die Autoren ihre eigene Diskreditierung. Texten mit stark subjektivierter Perspektive wie Peter Krassas Feuer fiel vom Himmel. Mysteriöser UFO-Absturz in Sibirien (1983) oder Angelika Jubelts Tunguska. Das Rätsel ist gelöst? (2011) dient gerade die Inszenierung ihrer Diskreditierung durch ›herkömmliche‹ Wissenschaftler als Beweis ihrer ›unermüdlichen‹ Suche nach der Wahrheit. So soll die Glaubwürdigkeit des Textes erhöht werden. Die fehlende Ursache des Ereignisses wird somit in Verbindung mit dem Abenteurer-Forscher-Motiv zum Türöffner für Spekulationen, die mit den Me-

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thoden der institutionalisierten Wissenschaften kaum zu widerlegen sind, weil sie sich bewusst am Rand oder sogar außerhalb dieses Diskurses positionieren. Tunguska wird so auch oft zum Beweisstück innerhalb von Verschwörungstheorien, die von einer großangelegten Verschleierung von Wahrheit durch Wissenschaftler und Geheimdienste ausgehen. Solche Theorien finden häufig Eingang in Diskussionen verschiedener Internetforen oder sind Gegenstand privater Internetseiten39 und ihre verschwörungstheoretischen Überlegungen zum Teil selbst als nicht ernst gemeint markieren.40 Der rechtsextreme Verschwörungstheoretiker Axel Stoll41, der sich nach eigenen Angaben »in allen Naturwissenschaften zu Hause« fühlt und eine »ganzheitlich vernetzte Denkweise« vertritt42, lässt hingegen keinerlei Interesse an der Relativierung seiner Theorien erkennen. Er hält vielmehr die von vielen Wissenschaftlern vertretene Hypothese eines Asteroideneinschlags als Ursache des Tunguska-Ereignisses für gänzlich unglaubwürdig. Stattdessen sei die Ursache eine »ausgereifte 39 | Vgl. Patrizia Pfister »Das Jahrhunderträtsel von Sibirien. Fakten und Hypothesen zum Tunguska-Ereignis« (www.sax.de/~stalker/pad/200005/ vom 29.11.2016). Pfister vertritt die These, es habe sich um eine Raumschiff-Havarie gehandelt und auch der rege Kontakt außerirdischer Lebewesen mit der Erde sei belegt. Sie legt sich aber nicht endgültig fest. Indem sie aber im selben Atemzug erwähnt, welche »Auswirkungen es hätte, würde man anerkennen, dass 1908 ein außerirdisches Raumschiff in der Erdatmosphäre explodierte« und dass ein Vertreter der »Raumschiff-Hypothese« auf der Straße »überfallen und umgebracht« worden sei, weist sie zumindest auf die Möglichkeit einer Verschwörung hin. 40 | So warnt beispielsweise ein Artikel über Teslas angeblichen Todesstrahl, der auch als Ursache des Tunguska-Ereignisses gehandelt wird, seine Leser: »Due to the conspiracy-nature of this article, most of the sources (seen below) cannot be considered ›trustworthy‹ by FQTQ’s quality standards. Nonetheless, I hope you had as much fun reading and imagining this as we did writing it. Use and navigate the sources at your own risk – bring your critical thinking cap with you.« (»Nikola Tesla’s Death Ray«, https://futurism.com/%ef%bb%bfnikola-teslas-death-ray-2/ vom 29.11.2016)www.fromquarkstoquasars.com. 41 | Axel Stoll wurde dadurch bekannt, dass Videos seiner Vorträge beim rechtsextremen »Neuschwabenland (NSL) Forum« über Youtube verfügbar gemacht wurden. Seine esoterischen, antisemitischen Verschwörungstheorien – beispielsweise über die »reichsdeutsche Flugscheibenentwicklung«, die Besiedlung der Rückseiten von Mond und Mars durch Nationalsozialisten sowie den außerirdischen Ursprung der arischen Rasse – verbreitet er u.a. auch in Büchern wie Das Wissen um die wahre Physik: Bis heute unterdrückt (Extrem Verlag, 2005) und Hochtechnologie im Deutschen Reich (Kopp Verlag 2004). 42 | Diese Selbsteinschätzung trifft Stoll in Mo Asumangs Dokumentarfilm Die Arier (2014).

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Implosionsbombe«,43 die zugleich Ergebnis und Beweis für die militärische Zusammenarbeit des Deutschen Reichs mit dem russischen Zarenreich sei. Selbst dieses Extrembeispiel, in dem Wissenschaftler nichts anderes als »bezahlte Lügner«44 sind, imitiert, wenn auch rudimentär, Argumentationsverfahren des wissenschaftlichen Diskurses, um Glaubwürdigkeit zu suggerieren.45 Derartig geschlossene Verschwörungstheorien sind argumentativ kaum aufzubrechen, weil sie nur funktionieren können, wenn sie Anschlussfähigkeit verhindern.46 Für die Untersuchung des Tunguska-Diskurses sind parawissenschaftliche und Verschwörungstheorien nichtsdestotrotz wichtig, weil sie sich einerseits in Opposition zum vorherrschenden Diskurs der Wissensgenese positionieren und andererseits auf diese Weise die Motive des Geheimnisses und des (Verschwörungs-)Verdachts einführen.47 Sie nutzen eine vermeintliche Lücke des Wissenssystems, um ihre Politik und Weltauffassung zu legitimieren. Dabei erweisen sich Verschwörungsnarrative auch als Ergebnis höchst aufmerksamer, wenn auch ideologisch fragwürdiger Lektüren. Diese wiederum sind als Quasi-Parodie von Prozessen der Wissensgenese und -legitimation außerordentlich aufschlussreich. Fiktionalisierungen, die das Tunguska-Ereignis in ihr Zentrum stellen, haben viele Gemeinsamkeiten mit grenzwissenschaftlichen Darstellungen, besonders wenn sie sie zum Thema machen: Oft handelt es sich auch hier um stark subjektivierte Plots, die vor allem von der Überzeugung einer Figur ausgehen, die den parawissenschaftlichen und esoterischen Modellen zunächst außerordentlich skeptisch gegenübersteht. Die Plots enthüllen die Wahrheit einer von der Wissenschaft verworfenen These und belegen damit intradiegetisch die Wahrheit einer oder mehrerer Verschwörungstheorien. David Brins Earth und Bill DesMedts Singularity entwerfen beispielsweise Szenarien, die die Jackson-Ryan-Hypothese, die Explosion sei von einem mikroskopischen schwarzen Loch ausgelöst worden, zum Ausgangspunkt eines Agententhrillers nehmen, bei dem das Fortbestehen der Welt auf dem Spiel steht. In dem Computerspiel Geheimakte Tunguska besteht die Aufgabe des Spielers darin, zu verhindern, dass das von einem Geheimbund beschützte außerirdische Material dazu eingesetzt wird, die Menschheit zu unterwerfen. Die Episoden »Tunguska« und »Terma« der Fernsehserie The X Files entwerfen ein ähnliches Sze43 | »Axel Stoll NSL Forum vom 3. Mai 2013, Film 564« www.youtube.com/watch? v=uyYEanZnKQs (ab Min. 11) vom 10.10.2014. 44 | Ebd. 45 | Stoll betont, er sei »promovierter Naturwissenschaftler« (Die Arier 2014) und imitiert in seinen Vorträgen und Büchern wissenschaftliche Kommunikationsstrukturen und Belegverfahren. 46 | Vgl. Krause/Meteling/Stauff 2009, 28. 47 | Vgl. Kapitel II.2 »Geheimnis und Verschwörung«.

Einleitung: Tunguska-Potenziale

nario, das jedoch eine Verschwörung der (US-)Regierung mit außerirdischen Lebewesen zugrunde legt. In Martina Andrés Roman Schamanenfeuer sowie Wolfgang Hohlbeins Rückkehr der Zauberer ist die Ursache des Ereignisses (teils) magischer Natur. Gemeinsam haben diese Texte, dass sie das Tunguska-Ereignis, seine Erforschung und/oder seine Folgen als Geheimnis in den Mittelpunkt der Handlung stellen. Demgegenüber erfüllt das Tunguska-Ereignis in der klassischen Science Fiction eine gänzlich andere Funktion.48 Hier steht das Ereignis nicht als Geheimnis im Mittelpunkt, sondern als Gelegenheit, andere Versionen von Welt, Zukunft oder Wissensordnung(en) zu imaginieren. Stanisław Lems Roman Die Astronauten entwirft anhand des Tunguska-Ereignisses eine Allegorie auf den Kalten Krieg. Er greift Kasanzews Raumschiffmotiv auf, verlegt aber dessen Ursprung auf die Venus. Die Expedition auf den Nachbarplaneten ergibt, dass sich die konkurrierenden Systeme der Venusianer gegenseitig ausgelöscht haben, bevor es überhaupt zu einer Invasion der Erde kommen konnte. In der 1956 noch fernen Zukunft des frühen 21. Jahrhunderts eröffnet sich den Menschen so ein Blick auf ihre eigene unrühmliche Vergangenheit und den Lesern ein Blick auf die mögliche Zukunft des Systemstreits. In Der Montag fängt am Samstag an von Boris und Arkadi Strugatzki wird Tunguska, ganz ähnlich wie in Ghost Busters, en passant erklärt.49 Es geht aber auch in diesem Roman nicht um die Erklärung des Tunguska-Ereignisses selbst. Wichtiger ist hier der Grund, weshalb das bisher noch nicht möglich war: ein Mangel an Fantasie.50 Dadurch wird innerhalb des Romans aber eine alternative, von Fabeltieren bevölkerte Wirklichkeit begründet, in der Magie zum Gegenstand und zur Methode wissenschaftlicher Arbeit wird. Lems Solaris stellt, ohne explizit das Tunguska-Ereignis zu nennen, das Dilemma eines wissenschaftlichen Problems in den Mittelpunkt, auf das auch nach über 100 Jahren Forschung keine Antwort gefunden werden kann. Auch in Picknick am Wegesrand der Brüder Strugatzki wird nicht Tunguska, sondern die Auswirkung des Nicht-Wissens thematisiert. Beide Romane, Solaris in einer fernen Galaxie und Picknick am Wegesrand auf der Erde, entwickeln das katastrophische Potenzial des Ereignisses nicht (ausschließlich) in Hinblick auf seine physische Zerstörungskraft, sondern auf seine Funktion als Störung der modernen Wissensordnung. Der damit einhergehende Zweifel an der Fähigkeit, qua Wissen über Welt und Wirklichkeit verfügen zu können, stellt in vielerlei Hinsicht eine fundamentalere Infragestellung dieser Ordnung dar als der Verschwörungsverdacht, der,

48 | Vgl. Kapitel II.1 »Science und Fiction«. 49 | Hier wird es durch »Kontramots« (Montag, 271), rückwärts durch die Zeit reisende Außerirdische, erklärt. 50 | Ebd., 272.

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indem er unterstellt, dass etwas nicht gewusst werden darf, dennoch annimmt, dass es gewusst werden kann. In den Romanen von Thomas Pynchon, Christian Kracht und Vladimir Sorokin überlagern sich schließlich Science-Fiction-, Katastrophen- und RätselPotenziale des Tunguska-Ereignisses.51 Im Entwurf alternativer Geschichten des 20. Jahrhunderts werden in diesen Romanen die Bedingungen und Folgen einer gänzlich modern gewordenen Welt hinterfragt. Sorokins Version der Geschichte des 20. Jahrhunderts unterscheidet sich nicht in den Ereignissen, sondern in der Erzählhaltung. Im Zentrum der Eis-Trilogie (Ljod. Das Eis, BRO und 23000) stehen keine Menschen, sondern die »Bruderschaft des Lichts«, die Menschen als bloße »Fleischmaschinen« sieht und ihre Vernichtung vorbereitet. Diese misanthropische Teleologie unterstellt menschlichem Handeln absolute Gefühl- und Sinnlosigkeit und macht das Tunguska-Ereignis zum Vorboten eines längst überfälligen Endes, das jedoch erst unter den Bedingungen der vollends globalisierten Welt zustande kommen kann. Thomas Pynchons Against the Day verkehrt anhand des Tunguska-Ereignisses die Verhältnisse von Zentrum und Peripherie und enthüllt so die Eindimensionalität einer in Geschichte repräsentierten Wirklichkeit, die allein auf einer einzigen Perspektive beruht. Tunguska, so legt der Roman nahe, ist ein Beleg dafür, dass Zeit und Wirklichkeit dynamische Konzepte sind. Gleichzeitig markiert das Ereignis hier den Endpunkt der Möglichkeit, diese Konzepte zu erkennen. In Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten löst das TunguskaEreignis indirekt einen dauerhaften Kriegszustand aus, dem die Beteiligten nicht entkommen können, weil er kein Außen mehr zulässt. Die Auflösung der Grenzen und Unterscheidungen der modernen Wissensordnung ist auch das Thema eines gewissermaßen aus der Reihe fallenden Textes. Michael Hampe stellt in Tunguska oder das Ende der Natur anhand des Tunguska-Ereignisses die Frage danach, ob es überhaupt eine Natur gibt, die zur Erklärung des Ereignisses herhalten kann. Die ungeklärte Ursache wird hier in einem Totengespräch zwischen einem Physiker, einem Philosophen, einem Biologen und einem Mathematiker zum Anlass, das Verhältnis von Mensch und Natur zu hinterfragen. Im Gespräch diskutieren die Figuren als Vertreter des jeweiligen Wissensregimes verschiedene Theorien über die Ursache des Ereignisses und versuchen, daraus Rückschlüsse auf die Beziehung von Natur und Kultur zu ziehen. Auch dieses Gespräch bringt keine Einigung über die Ursache – zu unvereinbar scheinen die Positionen, dass selbst die Ewigkeit des Todes nicht ausreichen würde, um zu einem Ergebnis zu kommen.. Trotzdem fügt der Text – abgesehen davon, dass es sich dabei um den einzigen philosophischen Beitrag handelt – dem Diskurs eine interessante Variante hinzu: Einer der Diskutanten schlägt vor, das Tunguska-Ereignis als 51 | Vgl. Kapitel II.3 »Ereignis und Geschichte«.

Einleitung: Tunguska-Potenziale

»illegale Kontingenz« (Hampe 2011, 203) zu betrachten. Damit bliebe das Ereignis unerklärbar, weil es sich keinem (Natur-)Gesetz zuordnen ließe. »[D]as Ereignis, gedacht als ›illegale Kontingenz‹ – das ist der Gegenbegriff zum Gesetz und zum abstrakten Sein. Wenn wir die Wirklichkeit als Gegenwart, als illegale Kontingenz denken, dann sind wir am Ende der Natur, am Ende des Seins, dann gibt es auch das Nichtseins des Todes nicht mehr, sondern nur noch gegenwärtige Einmaligkeiten« (ebd., 204).

Diese Erklärung des Ereignisses hebt alle anderen auf, weil sie sich jedweder Unterscheidung entzieht. In der Verabsolutierung von Kontingenz und der Absage an Gesetzlichkeiten, mit denen sich Wirklichkeit beschreiben ließe, wird Tunguska, und mit ihm alle Ereignisse der Natur, zu einem Wunder.52 In letzter Konsequenz kann also das Tunguska-Ereignis vom Gegenstand popkultureller Mythisierung und Rebellion gegen ›die Wissenschaft‹ zum Anlass werden, das moderne Verständnis von Natur und Wissen(-schaft) selbst als Mythos zu entlarven.53

Tungusk a z wischen N atur und K ultur Das anhaltende Interesse am Tunguska-Ereignis zeugt von der Produktivität des Rätsels als Kern eines Narrativs.54 Die Feststellung, dass ›bis heute‹ noch keine befriedigende Erklärung für die Ursache gefunden wurde, eröffnet einen Raum, der innerhalb der modernen Ordnung des Wissens nicht vorgesehen ist. Parawissenschaftliche Spekulationen und fiktionale Alternativmodelle sind Formen, die das Narrativ des unerklärbaren Ereignisses annehmen kann; zur Störung wird es aber nicht, weil alternative Versionen des Ereignisses existieren, sondern weil sich diese aufgrund der Effektivität des zugrundeliegenden Narrativs der Disziplinierung entziehen. Das Tunguska-Narrativ verhindert also, indem es Alternativen thematisiert, die Aufklärung des Ereignisses. Nur so wird es möglich, Tunguska zu instrumentalisieren, um grundsätzliche Voraussetzungen der Programme der Moderne infrage zu stellen. Betrachtet man Tunguska – beziehungsweise seine Unerklärbarkeit – als Narrativ, gelingt es erstens, die Reproduktion der in der Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Erklärungsansätzen implizierten Hierarchie zu vermeiden, um sie stattdessen selbst zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. Zweitens muss 52 | Vgl. Hampe 2011, 297. 53 | Vgl. Kapitel I.3 »Kontingenz und Mythos«. 54 | Vgl. Koschorke 2012, 30 und 76.

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man seine Inszenierung als Störung der Ordnung ernst nehmen. Letzteres wird möglich, weil »ein starkes Narrativ […] das kulturelle Gedächtnis in einer Weise formen [kann], dass es sogar offensichtliche Tatsachen nicht mehr zur Kenntnis nimmt oder von der Gesamtansicht auf die Welt isoliert« (Koschorke 2012, 259). Das heißt, dass Tunguska aufgrund der »Prägekraft des Narrativs« (ebd.), ungeachtet einer möglichen endgültigen wissenschaftlichen Erklärung, im kulturellen Gedächtnis immer ›ungeklärt‹ bleiben wird. Für den Erfolg des Narrativs spielt die Formel ›bis heute‹ eine zentrale Rolle, denn sie legt nahe, dass angesichts des Fortschritts der Wissenschaften eigentlich schon eine Erklärung gefunden worden sein müsste. Es wirft denjenigen Institutionen Versagen vor, die mit der Erklärung solcher Phänomene betraut sind, die sich als ›Natur‹ nicht unmittelbar auf menschliches Verhalten zurückführen lassen. Diesem Vorwurf liegt ein spezifisches Verständnis von Moderne zugrunde. Es beruht auf Trennungen, die Aufgabenbereiche voneinander differenziert, indem sie Praktiken zur Herstellung von Wissen sanktioniert. In der modernen Verfassung,55 wie Bruno Latour sie beschreibt, bilden ›Natur‹ und ›Gesellschaft‹ die übergeordneten Gegenpole, denen alle Phänomene, Begebenheiten und Handlungen zugeordnet werden müssen. Dinge gehören darin entweder zur Natur, zur Seite der Objekte, oder zur Gesellschaft, das heißt zur Seite der Subjekte dieser Ordnung. Aus der grundsätzlichen Trennung von Natur und Kultur ergeben sich wiederum Trennungen zwischen Mythos und Logos, Experten und Laien, Fiktion und Realität und infolgedessen Aufgabenbereichen und Zuordnungen für die Modernen. Die Verfassung enthält, indem sie es negiert, jedoch das Wissen um die soziale Konstruiertheit der Natur und umgekehrt die nicht immer durch menschliches Einwirken erklärbare Form von Kultur. Dass dieses Paradox die Ordnung nicht gefährdet, beruht auf zwei – ebenfalls unbedingt voneinander zu trennenden – Praktiken: Vermittlung und Reinigung. In der modernen Verfassung ist es niemals möglich, gleichzeitig Natur und Gesellschaft, Reinigung und Vermittlung zusammen zu denken, und so ist das Paradox nicht (mehr) sichtbar. Das heißt, dass Fakten (z.B. im Labor) zwar produziert, repräsentiert, anerkannt und autorisiert werden, dieser Prozess aber im endgültigen Faktum selbst nicht mehr sichtbar sein kann und darf. Es löst sich sozusagen von seiner Entstehungs55 | Drei »konstitutionelle Garantien« (Latour 2008, 43) begründen und stabilisieren diese Ordnung: »1. Garantie: Auch wenn wir die Natur konstruieren, ist es, als konstruierten wir sie nicht. 2. Garantie: Auch wenn wir die Gesellschaft nicht konstruieren, ist es, als konstruierten wir sie. 3. Garantie: Natur und Gesellschaft müssen absolut getrennt bleiben; die Arbeit der Reinigung muß absolut getrennt bleiben von der Arbeit der Vermittlung« (Latour 2008, 45). Die ersten beiden Garantien erscheinen zunächst widersprüchlich, sind es aber nur so lange, bis die dritte Garantie sie voneinander getrennt hat (vgl. ebd., 46).

Einleitung: Tunguska-Potenziale

geschichte und wird damit von einem Hybrid verschiedener Anstrengungen zum ›reinen‹ Faktum. Faktizität ist demnach keine Eigenschaft von Dingen, sondern das Ergebnis sowohl von Vermittlung zwischen den Polen von Natur und Kultur als auch der nachträglichen Reinigung oder Trennung. Mit einem Begriff Ludwik Flecks lässt sich Moderne, wie sie sich bei Latour darstellt, als »Denkstil«, das heißt als ein »gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen« (Fleck 1980, 130) beschreiben. Diese Betrachtungsweise betont die Effizienz der modernen Verfassung in Hinblick auf das Endprodukt und seine Machtausübung.56 Das Programm der Moderne erzeugt eine Gruppe von zugehörigen Individuen, die dieses gleichermaßen tragen und von ihm in ihren Vorstellungen davon, was möglich, plausibel oder schlicht denkbar ist, geleitet werden. »Obwohl das Denkkollektiv aus Individuen besteht, ist es nicht deren einfache Summe. Das Individuum hat nie, oder fast nie das Bewußtsein des kollektiven Denkstils, der fast immer einen unbedingten Zwang auf sein Denken ausübt und gegen den ein Widerspruch einfach undenkbar ist« (Fleck 1980, 56-57). Das heißt für die Moderne als Denkkollektiv, dass sich die ihr zugehörig fühlenden Individuen als ›Moderne‹ identifizieren können, ohne sich darüber bewusst zu sein, dass ihr Bild von Wirklichkeit von einem Denkstil abhängt. Als Programm ist die Verfassung der Moderne unter normalen Umständen unumstößlich. Hat die Behauptung einer (übernatürlichen) Ursache keinen Platz innerhalb des Denkstils, ist ihre Äußerung zwar nicht gänzlich unmöglich, sie geht aber mit der unmittelbaren Diskreditierung des Sprechers und seinem Ausschluss aus dem Denkkollektiv einher. Wichtig für den Tunguska-Diskurs ist, dass es mithilfe der Inszenierungen des Ereignisses und seiner Erforschung möglich wird, diesen Widerspruch denkbar zu machen. Die Aufklärung des Tunguska-Ereignisses eignet sich dafür besonders, weil es im Programm der Moderne inakzeptabel wäre, das Rätsel ungelöst zu lassen.57 Es liegt in dieser Welt und ereignete sich in der (verhältnismäßig) unmittelbaren Vergangenheit, dementsprechend gilt der Imperativ der Aufklärung ungebrochen. Wo also ›Stonehenge‹ aufgrund zeitlicher und ›schwarze Löcher‹ aufgrund räumlicher Distanz einen gewissen Grad an Unerklärtheit aushalten, wird das ›Tunguska-Rätsel‹ zum Affront. In der Inszenierung des Ereignisses als potenzielle Katastrophe, die von wissenschaftlicher wie außerwissenschaftlicher Seite vorangetrieben wird, wird Tunguska also als Rätsel

56 | Außerdem lässt sich damit zeigen, warum Latour davon spricht, dass wir »nie modern gewesen [sind]« (Latour 2008, 20) – die Vorstellung, nicht-modern zu sein, nimmt sich wesentlich nachvollziehbarer aus, als es die Forderung täte, damit aufzuhören, sich als modern zu denken. 57 | Vgl. Kapitel I.1 »Spuren und Fakten«.

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zum Risiko.58 Das Rätsel als solches zu belassen, stellt innerhalb des modernen Denkstils selbst eine Katastrophe dar, weil so die Fähigkeit der Modernen, über Wirklichkeit zu verfügen, infrage gestellt würde. Das bezieht sich auf die Fähigkeit zur Kontrolle kontingenter natürlicher Ereignisse – dieser Anspruch zeigt sich besonders im Phantasma der Prävention eines Tunguska-ähnlichen Ereignisses – und ebenso auf das moderne, dezidiert säkulare Verständnis von Wirklichkeit. In Latours Terminologie lässt sich das Tunguska-Ereignis damit als Natur-Kultur-Hybrid beschreiben, der sich der Arbeit der Reinigung, also der Etablierung als Faktum entzieht. Für die Untersuchung des Diskurses bedeutet das einmal mehr, dass die Trennung zwischen wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen sowie zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten rein heuristische Bedeutung hat. Die Analyse wird zeigen, dass sich diese Trennungen in den konkreten Texten nicht durchhalten lassen. Folgt man Koschorkes Annahme, dass die »Analyse fundamentaler gesellschaftlicher Unterscheidungen in die Rekonstruktion von Narrativen übergeht« (Koschorke 2012, 354), so rekonstruiert der Tunguska-Diskurs das Narrativ einer fortschrittlichen Moderne, die das Ereignis immer nur noch nicht erklären konnte, das des Tunguska-Ereignisses als Prüfstein moderner Erklärungsfähigkeit und das Narrativ vom Tunguska-Ereignis als Beleg für deren beschränkten Zugriff auf Wirklichkeit gegenüber. Weil die Ursache innerhalb der Grenzen des herrschenden Denkstils ›bis heute‹ nicht gefunden werden konnte, können Versionen von Tunguska Gegenmodelle entwerfen, die zwar konkurrierenden Wissensregimes entstammen, jedoch in ihrer Argumentation den Regeln des Programms gehorchen. Diese Texte gehen häufig über die reine Feststellung der Unerklärtheit und die Besetzung der Leerstelle mit eigenen Erklärungsansätzen hinaus und machen sich moderne Praktiken der Wissensgenese zu Eigen. Keine der vorgeschlagenen Hypothesen über die Ursache des TunguskaEreignisses konnte bisher als gültig etabliert werden. Das liegt jedoch nicht daran, dass keine wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Ereignis gesammelt werden konnten, sondern daran, dass es nicht ›gereinigt‹ werden konnte und, so die These dieser Arbeit, aufgrund des Erfolgs des Narrativs im kulturellen Gedächtnis nicht mehr von seiner Geschichte zu trennen ist. Die Entstehung und Produktion von Fakten ist im Programm der Moderne ein ebenso mühsamer wie komplexer Prozess, der Latour zufolge in der Transformation »of anything and everything into inscriptions« (Latour 1990, 22) besteht. Wissenschaftliche Arbeit beruhe im Gegensatz zu einer primitiven vormodernen Methode59 demnach nicht auf einer kategorisch modernen Rationalität, sondern in jeder Hinsicht auf praktischer »writing and imaging craftsmanship« (ebd., 58 | Vgl. Kapitel I.2 »Katastrophe und Risiko«. 59 | Vgl. Latour 1990, 20; Kapitel I.3 »Kontingenz und Mythos«.

Einleitung: Tunguska-Potenziale

21). ›Wissenschaft‹ finde nicht vor Ort statt, sondern in der Diskussion und im Austausch dieser Inskriptionen.60 »[T]he ›things‹ you gathered and displaced have to be presentable all at once to those you want to convince and who did not go there. In sum, you have to invent objects which have the properties of being mobile but also immutable, presentable, readable and combinable with one another« (ebd., 26; Hervorhebung im Original).

Die Praktik des Drawing Things Together steht im Zentrum des Prozesses, an dessen Anfang die zu erforschenden ›Dinge‹ und an dessen Ende die von der sozialen Dimension gereinigten Fakten stehen. Die Verfassung der Moderne stellt sicher, dass Dinge, die diesen Prozess durchlaufen haben, sich jeder Verfügbarkeit insofern entziehen, als sie nicht mehr verhandelbar sind. Die einzige Möglichkeit, an den etablierten Tatsachen zu rütteln, besteht darin, sie durch neue zu ersetzen: »Das unter den Vorzeichen der wissenschaftlichen Fortschrittserzählung ungültig gewordene Wissen wird dann als kulturbefangen abqualifiziert und gleichsam in die Zuständigkeit des zweiten Narrativs überwiesen, während der jeweils aktuelle Wissensstand den Tatsachen als solchen entspricht« (Koschorke 2012, 285).

Auf der Ebene der Fakten stellt das Programm der Moderne also sicher, dass konkurrierende Wissensregime in einem asymmetrischen Verhältnis stehen.61 Da aber die Spurenlage des Tunguska-Ereignisses diese Form der Etablierung von Fakten verhindert, wird die Aufmerksamkeit auf die Verfahren gelenkt, die dieses Wissen herstellen sollen. Im fachspezifischen Umgang mit dem Ereignis zieht das die Forderung nach weiterer Forschung und neuen Untersuchungsmethoden nach sich, außerhalb dieses Diskurses erlaubt es aber Zweifel an den Prämissen, unter denen das Wissen gewonnen werden soll. Unter ›normalen‹ Umständen bliebe die Untersuchung trotzdem den Experten vorbehalten, Tunguska bietet aber zwei Ansatzpunkte, das Verfahren des

60 | »Scientists start seeing something once they stop looking at nature and look exclusively and obsessively at prints and flat inscriptions. In the debates around perception, what is always forgotten is this simple drift from watching confusing three-dimensional objects, to inspecting two-dimensional images which have been made less confusing« (Latour 1990, 39). 61 | Ein Reflex, der auch in der Kommunikation über das Tunguska-Ereignis immer wieder sichtbar wird: Indem den nicht-wissenschaftlichen Versionen ein kultureller oder – schlimmer noch – Unterhaltungswert zugestanden wird, wird implizit dessen Wertlosigkeit in Hinblick auf das ›tatsächliche‹ Ereignis behauptet.

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Spurenlesens und die Ebene der Inskriptionen, die es erlauben, nicht-wissenschaftliche Überlegungen zu legitimieren. Da es nicht möglich ist, direkt auf das Tunguska-Ereignis zuzugreifen, muss seine Ursache aus den Spuren gefolgert werden, die es vor Ort hinterlassen hat.62 Das Verfahren des Spurenlesens stellt deswegen einen Ansatzpunkt dar, weil es kein exklusiv naturwissenschaftliches ist. Carlo Ginzburg zeigt, dass das Gegenteil der Fall ist – das moderne Indizienparadigma entwickelte sich aus der Praxis des »Jägerwissen[s]«. »Charakteristisch für dieses Wissen ist die Fähigkeit, in scheinbar nebensächlichen empirischen Daten eine komplexe Realität aufzuspüren, die nicht direkt erfahrbar ist« (Ginzburg 2011, 19). Anders als die ausschließlich an Universalien interessierte »galileische Wissenschaft« (ebd., 31), so Ginzburg, beruhe eine von materiellen Spuren oder Indizien ausgehende Wissenschaft auf der »Erkenntnis des Individuellen« (ebd., 32). Ginzburgs Spurenparadigma übersieht dabei keinesfalls die Unterschiede zwischen Jägerwissen und Wissenschaft, sondern verfolgt, ähnlich wie Latour, das Ziel, das moderne Verständnis von Wissenschaft und Wirklichkeit anhand der Untersuchung ihrer materiellen Bedingungen gewissermaßen zu ›erden‹.63 »Eine subtile Verwandtschaft vereinte sie [die stärker an die Alltagspraxis gebundenen Formen von Wissen, SN]; alle entstanden aus der Erfahrung, aus der Konkretheit der Erfahrung. Darin bestand die Stärke dieses Typs von Wissen; und seine Schwäche bestand in der Unfähigkeit, sich der mächtigen und schrecklichen Waffe der Abstraktion zu bedienen« (ebd., 35).

Latour hingegen sieht in der Abstraktion keine ›schreckliche Waffe‹, sondern eine Fortsetzung der praktischen Dimension des Indexparadigmas. Demzufolge besteht wissenschaftliche Arbeit mindestens so sehr darin, Spuren zu lesen, wie darin, sie zu legen. »Die Wissenschaften sprechen nicht von der Welt. Sie konstruieren künstliche Repräsentationen, die sich immer weiter von der Welt zu entfernen scheinen und die sie dennoch näher bringen« (Latour 2002, 43). Um also ein Ding aus der Welt in ein Zeichen in einem wissenschaftlichen Text zu transformieren, muss der Raum, der das Ding umgibt, in ein Laboratorium, »ein konstruiertes, den Wissenschaften angemessenes 62 | Vgl. Ginzburg 2011, 38. 63 | Sowohl Ginzburg als auch Latour nehmen diese Metapher durchaus wörtlich – Latours auf dem Boden hockende Podologen, die »sich dem seltenen Vergnügen des ›Erdschmeckens‹ hin[geben]« (Latour 2002, 76), erinnern dabei sehr an Carlo Ginzburg, der »hinter [dem] Indizien- und Wahrsageparadigma […] den vielleicht ältesten Gestus in der Geschichte des menschlichen Intellekts [erahnt]: den des Jägers der im Schlamm hokkend [sic!] die Spuren der Beute untersucht« (Ginzburg 2011, 21).

Einleitung: Tunguska-Potenziale

Universum« (ebd.), verwandelt werden. Innerhalb dieses Raumes erlaubt eine »äußerst ökonomische Metonymie […] mittels eines winzigen Teils das unermeßliche Ganze zu fassen« (ebd., 49).64 Die Kette von Referenzen, die dadurch entsteht und vom zu erforschenden Objekt über das Labor zum wissenschaftlichen Text führt, erzeugt eine indexikalische Beziehung zwischen den einzelnen Gliedern, sodass man die Richtung der Schritte erkennen und ihr wie einer Spur folgen kann. Am Ende dieser Abstraktionsarbeit ist »[d]er Raum […] zur Tabelle geworden, die Tabelle zum Wandschrank, der Wandschrank zum Begriff, der Begriff zur Institution« (ebd., 49). Nur so kann sichergestellt werden, dass zwischen dem erforschten Objekt und dem kommunizierbaren Zeichen ein Bezug besteht, der Rätselhaftigkeit ausschließt und beanspruchen kann, Wirklichkeit zu repräsentieren. »Wichtig ist, daß diese Kette reversibel bleibt. Die Nachvollziehbarkeit der Schritte muß es im Prinzip erlauben, sie in beiden Richtungen auszuführen. Unterbricht man sie an irgendeinem Punkt, so ist auch der Transport, die Produktion, die Konstruktion, gewissermaßen die Leitfähigkeit des Wahren unterbrochen« (Latour 2002, 85; Hervorhebung im Original).

Aus der Kette der Referenzen, die Wissenschaftler herstellen, indem sie Spuren legen und dadurch zu einem Teil der Kette der zirkulierenden Referenzen werden, kann kein einziges Element herausgenommen werden, ohne die Aussagekraft zu gefährden und die Kette zum »Lügen«65 zu bringen. Trotzdem könne der Eindruck entstehen, das Ergebnis der Forschung, die Tatsache, lasse sich getrennt von ihr betrachten, weil die Arbeit der Reinigung am Ende, ganz im Sinne der Verfassung der Modernen, die Vermittlung unsichtbar und damit unbedeutend mache. Will man verstehen, wie wissenschaftliche Tatsachen entstehen, kann die Arbeit der Vermittlung nicht länger ›bereinigt‹ werden, weil die Fähigkeit, »Wirklichkeit zu referieren«, auf der Eigenschaft der Kette beruht, eine Verbindung zum Ausgangsobjekt herzustellen, die über eine bloße Repräsentation hinausgeht. Das abstrakte Faktum, welches in Form einer Tabelle oder eines Diagramms am Ende der Kette steht, »ist nicht realistisch, und es ist nicht ähnlich. Es vollbringt etwas anderes, Besseres. Es vertritt die Ausgangssituation, mit der er einer Serie von Transformationen verbunden bleibt und deren Spur wir zurückverfolgen können« (Latour 2002, 82; Hervorhebung im Original).

64 | Dazu bedarf es verschiedener Schritte, die Bruno Latour in seinem Essay »Zirkulierende Referenz« anhand einer Forschungsgruppe beschreibt, die im Amazonasgebiet den Übergang von Urwald zu Savanne erforscht (vgl. Latour 2002, 36-95). 65 | Vgl. ebd., 92.

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Auf der Ebene der Inskription schließlich kann das abstrahierte Faktum zum Gegenstand von Diskussion und Verhandlung werden. Die Kette der Referenzen muss sichtbar sein, solange es gilt, andere von der Richtigkeit der eigenen Ergebnisse zu überzeugen. Finden sie Anerkennung, setzt die Arbeit der Reinigung ein. Der Prozess der Vermittlung muss unsichtbar werden, damit das Endprodukt des Produktionsprozesses mit der Wirklichkeit identisch werden kann. »[W]issenschaftliche Errungenschaften [teilen] die Seinsart vieler sozialer Erzeugnisse, dass sie zwar nur unter spezifischen kulturellen Vorzeichen entstehen konnten, dann aber ihre kulturelle ›Ladung‹ wie einen Ballast abwarfen und kulturell indifferent werden« (Koschorke 2012, 348). Nur so ist es in Übereinstimmung mit dem Denkstil möglich, dass das Ergebnis wissenschaftlicher Arbeit Eingang in den Kanon des Wissens findet. Dieser Kanon wiederum lässt sich laut Koschorke als »vielschichtiges narratives Arrangement« (ebd., 285) interpretieren. »Als Schauplatz epistemischer Kämpfe betrachtet, normiert er den Weltbezug von Wissenssystemen und hat dabei zwischen zwei Rücksichten zu vermitteln: einerseits auf Referenz, das heißt die Sachgeltung des Wissens, das Einlass in den kanonisierten Bestand findet; und andererseits auf Kohärenz, das heißt auf den inneren Zusammenhalt des betreffenden Wissenssystems« (ebd.; Hervorhebung im Original).

Die Theorien über das Tunguska-Ereignis können also deswegen keinen Eingang in den Kanon (gesicherten) Wissens finden, weil die Vermittlung zwischen Referenz und Kohärenz nicht gelingt. Dadurch entsteht in der Kommunikation der (mangelnden) Erkenntnisse über das Ereignis der Eindruck der Unerklärbarkeit des Ereignisses innerhalb wissenschaftlicher Maßgaben. An dieser Stelle setzen die Versuche an, das Ereignis auf alternative Weise zu erklären. Dafür stehen, wie bereits erwähnt, zwei Ansatzpunkte zur Verfügung, die es erlauben, Anspruch auf Teilnahme am Diskurs zu erheben. Weder das Verfahren der Spurensuche noch die Ebene der Inskriptionen sind exklusiv wissenschaftlich: Das Spurenlesen wird dafür zu eng mit dem Alltagswissen und, mehr noch, mit nicht-modernen Praktiken verknüpft. Es bietet zudem in der Verbindung zur Detektiverzählung ein Arsenal von Figuren und Erklärungsmustern, in das sich das Tunguska-Rätsel scheinbar nahtlos einfügen lässt.66 Die Ebene der Inskriptionen ist in Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit von noch größerer Bedeutung: »Fiction – even the wildest or the most sacred-ancl things of nature – even the lowliest-have a meeting ground, a common place, because they all benefit from the same ›optical consistency‹« (Latour 1990, 28). Die Inszenierung einer eigenen, alternativen Spurensuche muss wie die wissenschaftliche Arbeit in Text (und Bild) 66 | Vgl. Kapitel I.1 »Spuren und Fakten«.

Einleitung: Tunguska-Potenziale

transformiert werden, um am Diskurs teilnehmen zu können. Diese scheinbar banale Übereinstimmung entwickelt in Bezug auf Tunguska ungeheure Wirkkraft, weil die außerwissenschaftlichen Texte oft ihren Mangel an Referenz durch Kohärenz wettmachen. Das gelingt umso besser, je unabhängiger die Texte die Plausibilität ihrer Erklärung von Sachgeltung machen. In Bezug auf Tunguska ist das Störungspotenzial einer (literarischen) Fiktion sogar höher als das eines Textes, der in seinem Anspruch auf Deutungshoheit mit wissenschaftlichen Ansätzen zu konkurrieren versucht, da die Integrationskraft des Wissenskanons stark genug ist, um eine außerwissenschaftliche Lösung ohne Schaden aufzunehmen. Das Tunguska-Narrativ kann dort sein katastrophisches Potenzial am besten entfalten, wo ein Mangel an Referenz die intradiegetische Wirklichkeit nicht diskreditieren kann – Tunguska ist Referenz genug, um eine Infragestellung der Programme der Moderne zu plausibilisieren. Es vermag selbst aus der Peripherie (eines Textes)67 die Eindimensionalität der epistemischen und ästhetischen Bedingungen von Moderne zu offenbaren.

67 | Vgl. Kapitel II.3 »Ereignis und Geschichte«.

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I. Tunguska-Wissenschaften

I.1 Spuren und Fakten

Die mittlerweile über ein Jahrhundert andauernde Suche nach einer Erklärung für das Tunguska-Ereignis ist längst kein rein wissenschaftliches Problem mehr. Abseits institutionalisierter wissenschaftlicher Kommunikation und gleichermaßen abseits markiert fiktionaler Versionen des Ereignisses beziehungsweise seiner Erklärung existiert eine ganze Reihe von Texten und Erklärungsansätzen, die keiner der beiden Sphären zuzuordnen ist. Ihr kann dennoch aufgrund der besonderen Eigenschaften des Ereignisses die behauptete Legitimität nicht von vornherein abgesprochen werden. Zwischen den institutionell abgesicherten Polen der Tunguska-Wissenschaft und -Fiktion wuchert eine Masse von Hybriden, die nicht nur aufgrund ihrer Menge, sondern aufgrund ihres vehement vertretenen Anspruchs, Wissen über Tunguska aufzudecken oder zu enthüllen, nicht ohne Weiteres verworfen werden kann. Diese Ansätze aufgrund des vermeintlich unsicheren oder hybriden Status des präsentierten Wissens für para- oder pseudowissenschaftlich und damit für ungültig zu erklären, scheitert im Falle des Tunguska-Ereignisses, weil die Spurenlage des Ereignisses es erzwingt, den unsicheren Status aller über das Ereignis gewonnener Fakten offenzulegen. Dadurch wird verhindert, die »kulturelle Ladung« (Koschorke 2012, 348) der wissenschaftlichen Erkenntnisse abzuwerfen. Das Tunguska-Ereignis lässt sich, wenn überhaupt, nur unter größten Anstrengungen rein wissenschaftlich betrachten, das heißt unter Absehung aller, mit Latour gesprochen, gesellschaftlichen Aspekte des Phänomens – seiner sozialen, historischen und kulturellen Auswirkungen. Diese kulturelle Ladung klebt gleichsam an jeder Darstellung des Ereignisses und lässt eine Betrachtung zu, die Tunguska selbst als Hybrid auffasst und dementsprechend von einer Produktion hybrider Text- und Wissensformen ausgeht. Diese Perspektive folgt der Annahme, dass die Texte über die bekannten Fakten des Ereignisses (Name, Datum, Ort, Explosion) hinaus Gemeinsamkeiten aufweisen beziehungsweise das Ereignis eine zumindest argumentative, wahrscheinlicher sogar eine narrative Darstellung erfordert. Zur Untersuchung stehen also die Strategien, mit denen die Texte, die außerhalb der disziplinären Wissenschaftskommunikation erscheinen, ihre Legitimität gegenüber den etablierten

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Die Produktion der Katastrophe

Wissenschaften behaupten. Dabei ist von besonderem Interesse, welche Narrative sie zugrunde legen oder erzeugen, um ihren eigenen Deutungsanspruch zu vertreten und zu verteidigen. Die entscheidende Eigenschaft des Ereignisses ist in diesem Zusammenhang die desolate Spurenlage: »To this day the matter which might be unambiguously assigned to the TM has not been found. The situation is not so hopeless, as there are some grounds to suspect availability of traces of matter – though a large amount of work is necessary to obtain convincing proof« (Vasilyev 1998, 139). Die Feststellung, dass aufgrund des Ausmaßes der Explosion und der daran anknüpfenden Phänomene erwartbare Spuren wie Krater, Gesteinsreste oder dergleichen bisher fehlen, generiert bereits an sich ein hohes Maß an Aufmerksamkeit. Die Frage im Zentrum aller Tunguska-Texte lautet also: Was kann gleichzeitig so großen Schaden anrichten und hinterlässt dennoch keine (eindeutige) Spur? Diese Frage wird in vielen Texten zum Rätsel erklärt, um ein Narrativ aufzurufen, das im Zusammenhang mit einer wissenschaftlichen Untersuchung zunächst fehl am Platze zu sein scheint: die Detektiverzählung. Nicht nur steht in diesem narrativen Schema die Spur im Mittelpunkt – die Detektiverzählung reproduziert das Scheindilemma zwischen Fiktion und Wissenschaft, das für die Darstellungen des Tunguska-Ereignisses zentral ist. Indem die fehlende Ursache des Ereignisses als Rätsel zum Mittelpunkt eines Falles wird, lässt sich mithilfe der Konventionen der Kriminalerzählung die Temporalität institutioneller Wissensproduktion stören: Während die Verbindung der Spuren zu einem plausiblen Kausalzusammenhang mit extradiegetisch gültiger Referenzialität in den Wissenschaften – je nach Perspektive – noch nicht gelungen oder eben gescheitert ist, stellt das (literarische) Umfeld des Rätselnarrativs ausreichend Handlungsmuster und fähige Akteure zur Verfügung, die den Erfolg einer alternativen Lesart der Spuren oder gar die grundsätzliche Unerklärbarkeit des Ereignisses wahrscheinlich werden lassen. Die Untersuchung des Umgangs mit und der Inszenierung von Spuren und der Parallelen, die zwischen der Darstellung der Erforschung des TunguskaEreignisses in fachspezifischen Kontexten und einem (literarisierten) Kriminalfall erzeugt werden, beleuchtet ihrerseits die wissenschaftstheoretischen Hintergründe und damit den zentralen Konflikt, der diesem Ereignis als Faszinosum zugrunde liegt. Hier soll jedoch nicht behauptet werden, alle Tunguska-Texte würden gleichsam ungebrochen zu Kriminalromanen werden. Die These ist vielmehr, dass Spuren einen integralen Teil wissenschaftlicher wie narrativer Praxis bilden und dass, auch wenn der Umgang mit Spuren in beiden Fällen unterschiedlich verläuft, die Spur selbst als verbindendes Glied genutzt wird, um die Darstellungsinteressen der Texte zu begründen. Der Einsatz des Rätsel-Narrativs dient dabei gleichzeitig als Strategie zur Plausibilisierung und Popularisierung der Texte. Es handelt sich bei der Detektiverzählung also nicht

I.1 Spuren und Fakten

um ein Tunguska-Genre, vielmehr werden ihr narrative Konventionen entliehen, die sowohl in wissenschaftlichen wie nicht-wissenschaftlichen Kontexten instrumentalisiert werden. Dem Indizienparadigma (Ginzburg)1 wird in beiden Feldern Genüge getan, sodass die Darstellung des Tunguska-Ereignisses nicht nur eine Erweiterung des Erklärungsbereichs erlaubt (War die Ursache doch eine außerirdische Lebensform?), sondern es auch erfordert, die Praktiken und Mechanismen der Herstellung wissenschaftlicher Tatsachen infrage zu stellen.

S purensuche im »Tr aceless Tungusk a« Das Sensationelle am Tunguska-Ereignis ist, dass trotz der desolaten Spurenbeziehungsweise Datenlage überhaupt von einem Ereignis gesprochen werden kann. Die dort bisher gefundenen Spuren lassen sich, wenn überhaupt, nur mit enormem Aufwand zu einer »commonly accepted explanation of this event« (Longo 2007, 303) kombinieren. Die Lage ist also aus verschiedenen Gründen problematisch: Erstens liegt der Zeitpunkt des Ereignisses mittlerweile über 100 Jahre in der Vergangenheit und zweitens gibt es kaum Material, mithilfe dessen eine Erklärung gestützt werden könnte. Diese wenigen Spuren lassen sich darüber hinaus nicht zu einer plausiblen Rekonstruktion eines Ereignisablaufs kombinieren, da ein eindeutiges Indiz wie ein Krater oder außerirdisches Gestein, das es erlaubt, die Theorie zur gültigen Erklärung zu machen, gänzlich fehlt. Ein Großteil der »objektiven Spuren« (Reichertz 2007, 315)2 – physische Daten, die gesammelt, im Labor ausgewertet und (wiederholt) untersucht werden können – wurde erst Jahrzehnte nach dem Ereignis gefunden und untersucht, zum Teil handelt es sich um Rekonstruktionen und Berechnungen, die für Laien kaum nachvollziehbar sind. Die Modelle, Tabellen, Berechnungen und Rekonstruktionen erzeugen eine Flut sekundärer Spuren, die Interpretation und Erklärung erfordern. Die Zeugenaussagen über das Ereignis – sogenannte »subjektive Spuren«3 –, die ebenfalls zu verschiedenen Zeitpunkten aufgezeichnet wurden, widersprechen oft sowohl einander als auch den aus den »objektiven Spuren« abgeleiteten Erklärungsmodellen.4 Dennoch sind sie für die Untersuchung des Ereignisses unabdingbar und ziehen wiederum 1 | Vgl. Ginzburg 2011 sowie »Einleitung: Tunguska-Potenziale«. 2 | Vgl. Longo 2007, 309; Longo spricht von »objective data«. 3 | Vgl. Reichertz 2007, 328. 4 | Giuseppe Longo nimmt eine Zusammenfassung und Ordnung der Zeugenaussagen nach qualitativen Kriterien vor, die sich hauptsächlich an der zeitlichen Nähe zum Ereignis orientieren (vgl. Longo 2007, 314-316).

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Die Produktion der Katastrophe

eine Reihe von Rekonstruktionen und Annahmen nach sich, die den Versuch unternehmen, sie mit den physischen Spuren in Einklang zu bringen. Nicht zuletzt lassen sich auch die Erklärungsmodelle unabhängig von ihrem Entstehungskontext als Spuren lesen oder, andersherum gewendet, nicht ignorieren, wenn man eine vollständige Erklärung des Ereignisses anstrebt. Es gibt also gleichzeitig zu wenige (eindeutige) und zu viele (mehrdeutige) Spuren, um Tunguska aufzuklären. Welchen Zweck erfüllt also die Rede vom »Traceless Tunguska«?5 Die Behauptung von Spurlosigkeit erscheint angesichts des Gesagten schlicht irrig. Schließlich gibt es durchaus Anhaltspunkte, die umso mehr Theorien inspirieren. Die postulierte Spurlosigkeit bezieht sich vor allem auf den Wert der Spuren, also darauf, dass sie eben nicht zu einer Erklärung führen, sowie auf die daraus resultierende allseitige Ratlosigkeit in Bezug auf die Ursache. Die Behauptung der Spurlosigkeit formuliert neben der Frage danach, was die Ursache ist und warum es keine eindeutigen Hinweise gibt, einen Verdacht: Kann die Ursache einer Explosion, die nur so wenige Hinweise hinterlässt, ›natürlich‹ sein? Auch wenn die Datenlage genügt, um zweifelsfrei feststellen zu können, dass es am 30. Juni 1908 eine Explosion von außergewöhnlicher Energie über dem Gebiet der Steinigen Tunguska gab, bleibt die Plausibilität aller bisher geäußerten Theorien instabil. Selbst innerhalb der fachwissenschaftlichen Diskussion gibt es Uneinigkeit über die Parameter (Höhe der Explosion, Epizentrum, TNT-Äquivalent und exakter Zeitpunkt, Flugbahn etc.)6, über die Methoden und Instrumente, anhand derer das Ereignis rekonstruiert und erklärt werden kann. Jedoch zeichnet sich innerhalb der einzelnen Fachdisziplinen immerhin ein Konsens ab, der gewisse Abweichungen in den Werten toleriert. Konsens lässt sich vor allem dann deutlich erkennen, wenn es darum geht, die Kompetenz der eigenen Disziplin, eine umfassende Erklärung zu liefern, gegenüber anderen Ansprüchen zu behaupten und darüber hinaus ›wissenschaftliche‹ von ›nicht-wissenschaftlicher‹ Arbeit abzugrenzen. Nikolai Vasilyevs Überblick legt den Fokus auf die verschiedenen ›Spuren‹,7 die Gegenstand der Untersuchung und Grundlage der unterschiedlichen Theorien sind – z.B. die Form der zerstörten Fläche, das Epizentrum und die Höhe der Explosion. Nach Priorität geordnet markiert er deutlich, wer mit welchen Mitteln Spuren entdeckt oder einordnet, welche Einwände und Un5 | Vgl. u.a. Verma 2005, 105. 6 | Vgl. Vasilyev 1998, 132; Longo 2007, 309-314. 7 | Es fällt auf, dass Vasilyev den Term »trace« durchgehend in Anführungszeichen setzt, also bereits markiert, dass ›Spur‹ eine nicht unbedingt (im Wissenschaftsjargon) übliche Bezeichnung ist. Damit wird auch das Bewusstsein angezeigt, dass ›Spur‹ Anklänge an andere Diskurse hat, gleichzeitig werden diese Anklänge durch die Hervorhebung verstärkt.

I.1 Spuren und Fakten

sicherheiten es gibt und wenn etwas »has not yet been finally proved« (Vasilyev 1998, 134). Aus der Überblicksperspektive, die das Genre der scientific review suggeriert, nimmt er zudem Wertungen vor, die sich vor allem an einer Skala der Wahrscheinlichkeit orientieren. Die Formulierung »we [the scientists, SN] can guess to a large extend of probability« (ebd., 134) drückt dabei gleichermaßen Vorsicht wie Sicherheit aus. Vorsicht wird insofern sichtbar, als ein Bewusstsein von der Möglichkeit besteht, dass eine Überzeugung und damit ein angenommenes Faktum sich im Laufe der Forschung verändern kann. Sicherheit entspringt der Praxis wissenschaftlicher Genauigkeit und Objektivität, die hier eben nicht vorgeben soll, etwas zu wissen, was noch nicht gewusst werden kann. Sie drückt also ein Vertrauen in die Institution der Wissenschaft und die von ihr getragene Wirklichkeit aus. Um Vollständigkeit zu gewährleisten, weist Vasilyev daher auch auf Dilemmata hin, in denen es zu entscheiden gilt, ob Material entweder ignoriert werden soll, oder ob man sich dazu entschließt, die »unique properties« (ebd., 132) anzuerkennen, die andere zu eher absonderlichen Annahmen geführt haben. Neben den expliziten Abgrenzungen zu anderen Disziplinen und außerwissenschaftlichen Versuchen, eine Erklärung zu finden, lassen die enorme Zahl der Referenzen (230) und die Verweistechnik die methodische, wissenschaftliche Vorgehensweise erkennen und weisen den Text – nicht zuletzt auch durch den Publikationskontext – als Teil fachspezifischer Kommunikation aus. Auch die Sprachverwendung, die, obwohl z.B. von »Tunguska catastrophe« gesprochen wird, das Bemühen anzeigt, Objektivität zu gewährleisten, und daher Abstand von sensationsheischender Rhetorik nimmt, trägt dazu bei, die Texte deutlich von außerdisziplinären Publikationen abzugrenzen. Schließlich folgen in der Sonderausgabe zu allen genannten Parametern des Ereignisses Einzelstudien von Wissenschaftlern, die diese selbst durchgeführt haben. Vasilyevs Review erfüllt somit vor allem eine zusammenfassende und einleitende Funktion, die jedoch explizit an ein Fachpublikum gerichtet ist. Während die aktuelle Forschung in den Einzelstudien zu finden ist, setzt dieser Artikel die Rahmenbedingungen fest, indem die Geschichte der Erforschung des Ereignisses, bisherige Ergebnisse, aber auch Irrwege als solche festgehalten werden. Die Sprache dieses Textes ist im Vergleich zu den anderen Studien des Journals dementsprechend anders, weil der Fokus des Textes weniger spezialisiert ist. Zwar schreibt Vasilyev als Sprecher seiner Disziplin in einem wissenschaftlichen Journal, dennoch kann man hier von einem, mit Safir gesprochen, »typischen wissenschaftlichen Aufsatz« sprechen, der »[i] nfolge der Spezialisierung innerhalb der einzelnen Fachdisziplinen […] heute immer schon eine Popularisierung [ist], auch wenn der Leserkreis ausschließlich aus Wissenschaftlern besteht« (Safir 2009, 22). Auch wenn dieser Text also allen (disziplinären) Kriterien der Wissenschaftlichkeit genügt und hauptsächlich der innerwissenschaftlichen Verständigung über ein Thema dient,

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kann auch hier von Popularisierung gesprochen werden. Durch Zusammenfassung, Verknüpfung und Wertung wird der Status des Wissens qualitativ verändert, jedoch durch Nachweise und nicht zuletzt die institutionelle Autorität des Autors und des Journals Wissenschaftlichkeit praktiziert. Wie aber unterscheidet sich die Inszenierung der Objektivität der Wissenschaftler, die unmittelbar an der Erforschung beteiligt sind, von den Darstellungen derer, die, wenn überhaupt, nur mittelbar am fachlichen Diskurs teilhaben, zum Teil aber umso vehementer »vollständig überzeug[ende]« (Jubelt 2011, 112) Lösungen präsentieren? Die Antwort auf diese Frage liegt im Umgang mit den Spuren und denen, die diese Spuren lesen. Was aber ist eine Spur? Und wie lässt sich aus einer Reihe von Spuren eine Handlungsfolge oder ein Ereignis rekonstruieren? Welche Rolle spielen Spuren im Prozess wissenschaftlicher Forschung und welche Rolle spielen Spuren in der Kommunikation wissenschaftlicher Forschung und ihrer Ergebnisse? Die Spur versammelt eine Reihe von Attributen und Praktiken und verbindet so verschiedene Akteure und Erzählmuster:8 »Eine Spur ist […] all das, was von einem vergangenen Ereignis noch vorhanden, mit menschlichen Wahrnehmungssensoren oder deren leistungsstarken technischen Prothesen noch wahrnehmbar ist. Wahrnehmbar ist die Spur deshalb, weil sich das, was sich ereignete, als es sich ereignete, zu bestimmten Teilen in ein Medium eingeschrieben hat oder besser: weil es je nach Medium einen mehr oder weniger flüchtigen Abdruck hinterlassen hat« (Reichertz 2007, 313). 9

Spuren sind also nicht ›einfach da‹, sondern müssen erst als solche erkannt werden, bevor sie dazu dienen können, ein vergangenes Ereignis, welcher Art auch immer, zu rekonstruieren. Eine Spur als solche wahrzunehmen, erfordert bereits ein spezielles Wissen beziehungsweise ein Bewusstsein davon, dass eine Abweichung vom Normalzustand vorliegt. »Erst Abweichungen lassen Spuren sinnfällig werden. Die Matrix des Gewöhnlichen und des Geordneten gibt die Folie ab, auf der sich die Störung als Spur abzeichnen kann« (Krämer 2007b, 160). Diese Abweichung kann als Störung der Ordnung interpretiert werden, auch wenn es sich um eine fiktive Ordnung handelt, weil sie erst ex negativo in der Spur als solche augenfällig wird. Die Wahrnehmung der Spur setzt also voraus, dass man entweder den Effekt einer Handlungsabfolge kennt (läuft ein Hirsch über den Waldboden, hinterlässt er einen Abdruck in einer bestimmten Form) oder über den Normalzustand einer Ordnung Bescheid 8 | Zu den Attributen der Spur vgl. Krämer 2007a, 13. 9 | Reichertz bezieht sich in ihrer Definition auf das »durchaus realistische[], von der klassischen Physik und deren Kausalitätsvorstellungen geprägte[] Verständnis der Polizeibeamten« (Reichertz 2007, 313).

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weiß (normalerweise stehen Bäume im Wald größtenteils aufrecht). Es ist demzufolge außerordentlich schwierig, anhand von Spuren etwas zu finden, mit dem man keine Erfahrung hat, oder Spuren in einer unbekannten Umgebung wahrzunehmen. Veränderungen großen Umfangs mag man erkennen können, aber die subtileren Signale können sich der Wahrnehmung entziehen, wenn man nicht weiß, was man sucht. Es leuchtet ein, dass ein Jäger Spuren einer ihm bekannten Beute schnell und problemlos zuordnen kann und, wenn er schnell genug ist, am Ende der Fährte nicht überrascht werden wird. So verwundert es umgekehrt aber auch nicht, dass die ungewöhnliche und für die Erfahrung der Forscher neuartige (beziehungsweise unbekannte) Spurenlage des Tunguska-Ereignisses zu verschiedenen Deutungen führen kann, weil die Spuren nicht dem Erwarteten oder dem Erwartbaren entsprechen. Man kann also feststellen, dass 2.150 Quadratkilometer zerstörter Wald nicht ohne ein außergewöhnliches (hochenergetisches) Ereignis zustande kommen können, ohne die geringste Vorstellung davon zu haben, was genau passiert ist. Und doch werden die Forscher wie der Jäger nicht überrascht, sondern finden im Grunde genau das, was sie suchen. Sie finden, was sie finden wollen, weil das Erkennen einer Ordnung und einer Störung derselben als Spur bereits die Erwartung dessen enthält, was die Störung verursacht haben könnte. Vereinfacht heißt das: Forscher, die sich für Asteroiden, Kometen oder vulkanische ›Raketen‹ interessieren, werden aufgrund der ambivalenten Spurenlage mit hoher Wahrscheinlichkeit herausfinden, dass die Ursache in ihr Spezialgebiet fällt – sie erhalten, wie Verma es ausdrückt, alle die Gelegenheit, »to test-drive new theories« (Verma 2005, ix). Zu den Attributen der Spur10 zählen neben der Störung einer vorhandenen Ordnung, ihre Materialität sowie die Abwesenheit dessen, was sie erzeugt hat. Unabhängig davon, ob die Spur intentional oder unbewusst hinterlassen wird, muss sie als ›unmotiviert‹ gelten. Das »Bedeuten der Spur [ist] bar jeder Intention desjenigen, der sie verursacht.« (Krämer 2007a, 16) Diese ›Unmotiviertheit‹ bedeutet also, dass die Spur keinesfalls ein idealer Index ist, sodass die Interpretation der Spur nicht von ihrer Ursache bestimmt wird. Sie ist hingegen immer abhängig von einem Beobachter, der sie als solche erkennt und ›lesen‹ kann und damit einen Versuch unternimmt, den »Zeitenbruch« (ebd., 17) zwischen Spur und Leser zu überwinden. Dennoch ist die Interpretation von Spuren nicht vollkommen willkürlich, aber eben auch nicht unvoreingenommen oder sogar ›objektiv‹, »sondern hängt im hohen Maße von dem Lebens- und Berufswissen ab, das der Spurenleser aktiv oder passiv gelernt hat« (Reichertz 2007, 310). Ohne zu wissen, wonach man sucht, oder ohne die Kenntnis der ursprünglichen Ordnung (eines Mediums beziehungsweise

10 | Vgl. zu den Attributen der Spur Krämer 2007a, 14-18 und Krämer 2007b, 158-162.

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einer Umgebung) wird man weder eine Spur wahrnehmen noch etwas aus ihr schließen können.11 Das Bewusstsein vom eigenen Hervorbringen der Spuren und der Grad an Offenheit dessen, was man den Spuren erlaubt zu sagen, gehört in Form eines explizit formulierten Forschungsinteresses zur wissenschaftlichen Praxis. Aber auch bei außerwissenschaftlichen »Tunguskainteressierten« wie Angelika Jubelt, die gleich zu Beginn ihres Buches klarstellt, was sie zu finden hofft, ist es deutlich zu erkennen: »Als Mitglied der A.A.S.-Forschungsgesellschaft für Archäologie, Astronautik und SETI [Search for Extraterrestrial Intelligence, SN] und der damit verbundenen Überzeugung, dass unsere Erde schon Besuch von Außerirdischen hatte, suche ich natürlich gezielt nach Spuren der Raumschiffthese« (Jubelt 2011, 8). Weil die Zahl der Spuren so gering ist und zu so widersprüchlichen Interpretationen führt, zeigt sich das Berufs- und Lebenswissen der Forscher und Spurenleser12 besonders deutlich an den jeweils abgeleiteten Erklärungen sowie den dort hinführenden Lösungswegen und Argumentationsweisen. Dabei gibt es jedoch einen fundamentalen Unterschied zwischen den verschiedenen Berufszweigen professioneller Spurenleser: Die Struktur des Dialogs zwischen dem wissenschaftlichen Spurenleser und der Spur, dem zu erforschenden Gegenstand, muss zu jeder Zeit klar und nachvollziehbar sein. Die Rahmenbedingungen sind standardisiert und die Erwartung, was die Spur beziehungsweise der Forschungsgegenstand anzeigen soll, wird im Vorhinein formuliert. »Der Wissenschaftler fragt, und der beispielsweise durch Beobachtungen oder Experimente befragte Gegenstand bestätigt oder widerspricht seinen Vermutungen. Das Bild, das eine Wissenschaft sich zu einem bestimmten Zeitpunkt von ihrem Gegenstand macht, wird so durch Beobachtungen, die in diesem Rahmen nicht erklärbar sind, oder durch den Aufweis von Inkonsistenzen in Frage gestellt« (Mayntz 2000, 29). ›Antwortet‹ der Gegenstand also nicht in der erwarteten Weise – und die Notwen-

digkeit, Theorien und Vorüberlegungen zu revidieren, ist durchaus in dieser Erwartung enthalten –, sondern so, dass die gegebenen Rahmenverhältnisse eine 11 | Spurenlesen lässt sich so auch als Orientierungsleistung begreifen, da es immer auch um Orientierung für das eigene Handeln geht: »Die Aufmerksamkeit, die beim Lesen der zunächst immer unmerklichen Spuren erforderlich ist, ist daher eine ›gerichtete‹ Aufmerksamkeit« (Krämer 2007a, 15). 12 | Die Unterscheidung zwischen Forscher und Spurenleser soll hier darauf Aufmerksam machen, dass Berufswissenschaftler und Forscher/Wissenschaftler aus Berufung zwei sehr unterschiedliche (und zumindest von der Laienforschung aus gesehen) zum Teil verfeindete Gruppen darstellen.

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Erklärung nicht ermöglichen, droht das Scheitern an der Spur. Um dem Scheitern an den Inkonsistenzen oder den nicht integrierbaren Spuren vorzubeugen, bräuchte es einen anderen Einsatz als den, der im Rahmen wissenschaftlicher Handlungsweisen vorgesehen ist. Die standardisierten Bedingungen, Reproduzierbarkeit und Vergleichbarkeit, garantieren die Nachvollziehbarkeit des Forschungsprozesses und sind die Grundvoraussetzung für die »Fähigkeit« der Wissenschaften, »wahre Aussagen zu machen« (Mayntz 2000, 27). Die Diskussion über die Ursache des Tunguska-Ereignisses offenbart wie kaum eine andere nicht nur die Beobachterabhängigkeit von Spuren, sondern auch die Rigidität, mit der um die Kompetenz gekämpft wird, diese Spuren zu lesen und der daraus abgeleiteten Deutung Gültigkeit verleihen zu können. Beispielhaft dafür war schon Leonid Kulik, der den Einschlag eines EisenMeteoriten vermutete, jedoch weder Krater noch außerirdisches Material, geschweige denn Tonnen von Eisen fand. Weil ihm kein anderes Erklärungsmodell zur Verfügung stand, hielt er dennoch bis zu seinem Tod an dieser Lösung fest. Kulik scheute keine Strapazen, vor Ort nicht und auch nicht in Verhandlungen mit möglichen Geldgebern, um der These nachzugehen. Ein Umstand, der ihn bis heute zum idealisierten Vorbild für viele nicht-wissenschaftlich affiliierte Tunguska-Forscher macht, die sich wie er gegen den Strom schwimmen sehen, dabei jedoch vergessen, dass Kulik fest in institutionelle Strukturen integriert war. Wie weit das Festhalten an Kuliks erster These reicht, zeigt sich an dem Einfluss, den seine Lesart der Spuren auch heute noch hat. So z.B. bei Vasilyev, der den Himmelskörper, von dem er als Ursache ausgeht, »Tunguska Meteorite (TM)« (Vasilyev 1998, 143) nennt, obwohl er alle Erklärungen bis auf die Kometen- oder Asteroidenthese – damit auch die eines Meteoriten – als unwahrscheinlich verwirft. Guiseppe Longo hingegen, der derselben Überzeugung ist wie Vasilyev, wählt die neutralere Bezeichnung »Tunguska Cosmic Body (TCB)« (Longo 2007, 303). Allerdings ist die Zahl der Aussagen, die getroffen werden können, ohne als »voodoo science« (Verma 2005, 167) verunglimpft zu werden, nur innerhalb des gültigen naturwissenschaftlichen Denkstils (theoretisch) unbegrenzt. Dass es um die Lösung und Lösbarkeit des Tunguska-Ereignisses tatsächlich erbitterten Streit gibt, ist auf die der Spur inhärenten Verpflichtung des Spurenlesers zurückzuführen: »[W]enn wir die Spur lesen, so heißt das zugleich, dass die gestörte Ordnung in eine neue Ordnung zu überführen und zu reintegrieren ist. Diese Integration geschieht, indem das spurbildende Geschehen als eine Erzählung rekonstruiert wird. Die Logik einer Narration, in der die Spur ihren ›erzählten Ort‹ bekommt, ist die neue Ordnung, in deren Horizont sich die ›Semantik der Spur‹ entfaltet« (Krämer 2007b, 160; Hervorhebung im Original).

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Die Spur enthält also – und das ist von entscheidender Bedeutung für den Tunguska-Diskurs – immer auch den Auftrag, die gestörte Ordnung narrativ wiederherzustellen. Eine Spur/Störung zu erkennen, ohne den Versuch ihrer Reintegration oder die ›Aufklärung des Rätsels‹ zu unternehmen, widerspricht einer aufgeklärten Wissensvorstellung fundamental. Dabei kommt es zunächst nicht darauf an, ob man sich mit seinen Aussagen innerhalb, außerhalb oder an den Rändern des wissenschaftlichen Diskurses positioniert: Wer eine Spur (als solche) erkennt, ist verpflichtet, nach der Ursache der Spur zu suchen und einen doppelten narrativen Prozess einzuleiten: Erstens die Spuren zu einem nachvollziehbaren Ablauf zusammenzufügen und zweitens diesen wiederum in einer kausalen Abfolge zu kommunizieren. Die der Spur innewohnende Verpflichtung betrifft wissenschaftliche wie nicht-wissenschaftliche Spurenleser gleichermaßen. Die narrative Kommunikation der Ordnung beziehungsweise ihre Wiederherstellung durch den Prozess des Spurenlesens steht der fiktionalen Kommunikation durch die Praxis des Erzählens, die beide verbindet, besonders nahe. Carlo Ginzburg geht so weit, den Ursprung der Erzählung selbst in der Erfahrung des Spurenlesens und des Berichtens über die Jagd zu vermuten.13 Nun sind aber, das wurde bereits ersichtlich, nicht alle Spuren ohne Weiteres in eine logische ›Erzählung‹ zu integrieren – das gilt nicht nur für das Tunguska-Ereignis. Vielmehr hat die Spur, so Sybille Krämer, eine »erkenntnistechnische und -theoretische Doppelfunktion« (Krämer 2007b, 166): eine ›Indizienperspektive‹,14 in der das Sichtbare der Spur Referenz des Unsichtbaren sei, die sie hinterlassen hat, und eine ›Entzugsperspektive‹,15 in der das Sichtbare als »Emanation des Unsichtbaren« (ebd.) gelten könne. An Tunguska treten die Kompetenzstreitigkeiten der Wissenschaftler und (natur-)wissenschaftlichen Disziplinen untereinander sowie mit den LaienForschern mit besonderer Deutlichkeit zutage, weil es um die Bestimmung des Rahmens geht, innerhalb dessen die Spuren zu einer plausiblen Ereigniskette verbunden werden könnten. Indizien- und Entzugsperspektive stehen sich auf verschiedenen Ebenen unversöhnlich gegenüber. ›Gewinnen‹ wird 13 | »Vielleicht entstand die Idee der Erzählung selbst (im Unterschied zu Zaubersprüchen, Beschwörung und Anrufung) zuerst in einer Gesellschaft von Jägern und aus der Erfahrung des Spurenlesens. Diese – natürlich nicht beweisbare Hypothese wird dadurch gestützt, daß alle rhetorischen Figuren, auf denen noch heute der Dechiffrierungscode der Jäger basiert – der Teil für das Ganze, die Wirkung für die Ursache –, auf die prosaische Achse der Metonymie zurückgeführt werden können (lediglich die Metapher fällt nicht hierunter). Der Jäger hat demnach als erster ›eine Geschichte erzählt‹, weil er als einziger fähig war, in den stummen – wenn nicht unsichtbaren – Spuren der Beute eine zusammenhängende Folge von Ereignissen zu lesen« (Ginzburg 2011, 19). 14 | Vgl. Krämer 2007b, 156. 15 | Nach Emmanuel Levinas, Krämer 2007b, 157.

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den Streit um die Deutungshoheit, das kann vorweggenommen werden, die institutionalisierte Wissenschaft, so die Konstitution der Wissensgesellschaft sich nicht fundamental ändert. Nur eine der Ordnung des Diskurses gehorchende Erklärung hat überhaupt eine Chance, den Status wissenschaftlicher Anerkennung und damit Wahrheitsanspruch zu erreichen. So muss sich anscheinend selbst ein Akteur, der an der eigentlichen Aufklärung des Ereignisses nicht teilnimmt, sondern anhand des Tunguska-Ereignisses verschiedene philosophische Positionen gegenüberstellt, im Nachwort absichern, indem er das »Unerklärbare« ins Reich des Esoterischen verbannt und damit brandmarkt: »Das konkrete Ereignis in der Natur, um das es in diesem Buch gegangen ist, wird in esoterischen Kreisen häufig als scheinbar unerklärlich eingestuft und ist vielleicht auch bisher nur einmal in dieser Form Menschen als Erlebnis zu Bewusstsein gekommen […] wissenschaftlich gesehen gilt, dass es sich hier um einen Asteroiden-Einschlag gehandelt hat« (Hampe 2011, 293; Hervorhebung im Original).

Diese Klarstellung soll markieren, dass Hampe seine Überlegungen nicht in eine Reihe mit Spekulationen über Raumschiffe und UFOs gestellt sehen möchte – aber warum? Der Auftrag, eine Spur aufzuklären und in ein Ordnungsschema einzufügen, ist so nachhaltig mit dem aufgeklärten Verständnis einer rationalen und logischen Denk- und Handlungsweise verknüpft, dass diejenigen, die riskieren, sich außerhalb dieses Rahmens zu bewegen, nahezu umgehend als Sprecher diskreditiert werden und mit ihnen sämtliche Schritte ihrer Überlegungen. Das gilt es natürlich zu vermeiden. Deswegen schlägt Hampe sich hier auf die sichere Seite dessen, was wissenschaftlich gilt – auch wenn die Asteroiden-Hypothese keinesfalls als letzter Schluss angesehen werden kann. Vielmehr gilt sie als eine der wahrscheinlichsten Erklärungen,16 was heißt, dass sich in dieses Schema17 die meisten Spuren integrieren lassen, ohne die geltenden Naturgesetze zu verletzen. Trotzdem entzieht sich das Tunguska-Ereignis einer solchen Festlegung, gerade weil die gleichzeitige Über- und Unterdeterminierung der Spuren dazu zwingt, mehrere Versionen nebeneinanderzustellen. Die einfache Zuweisung einer Erklärung, wie sie Hampe im 16 | »The most plausible explanation of the event considers the explosion in the atmosphere of a ›Tunguska Cosmic Body‹ (TCB), probably a comet or an asteroid-like meteorite.« (Longo 2007, 303) und »It is difficult to definitely support one or the other hypothesis. Therefore, one way to achieve certainty about the nature and composition of the TCB remains the search for some remnants.« (Longo 2007, 304; Hervorhebung SN) 17 | Ein Komet oder Asteroid ist in einer bestimmten Höhe über dem Erdboden explodiert und es kam zu keinem Krater verursachenden Einschlag, weswegen keine Spuren zu finden sind (vgl. z.B. Verma 2005, 244; Longo 2007, 303-304).

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Nachwort vorbringt, nimmt, um dem Verdacht der Spektakularisierung zu entgehen, eine Reduktion des Ereigniszusammenhangs in Kauf. Die Erklärung bleibt die Leerstelle des Ereignisses, weil die Spuren (noch) nicht gedeutet werden können.

D er S k andal der L ücke Obwohl Diskussion und Dissens integrale Bestandteile der Formierung von Wissen sind, erwecken die Vielfalt der konkurrierenden Erklärungsmodelle einerseits und die enorme Dauer der Diskussion andererseits den Eindruck, das Ereignis oder seine Erklärung lasse sich mit den Praktiken und Begriffen von Wissenschaft gar nicht fassen. Je mehr Versuche unternommen werden, das Tunguska-Ereignis endlich durch eine Erweiterung der bereits vorgeschlagenen oder gar durch ein weiteres neues Erklärungsmodell aufzuklären, desto schwieriger wird es, überhaupt noch an die Möglichkeit einer abschließenden Bestimmung der Ursache zu glauben. Vielmehr trägt die in allen Bereichen des Tunguska-Diskurses postulierte Dringlichkeit einer Aufklärung dazu bei, dass das Ereignis immer mysteriöser oder tatsächlich unerklärbar wirkt. Warum, so könnte man sich fragen, gelingt es der Wissenschaft nicht, trotz des enormen Fortschritts des letzten Jahrhunderts sowie ihrer Deutungs- beziehungsweise Erklärungshoheit in Bezug auf die materielle Welt, eine solche Explosion zu erklären? Kann das bedeuten, dass dort etwas passiert ist, das außerhalb der Erklärungsmöglichkeiten wissenschaftlicher Modelle und Denkweisen liegt? Der Wille, das Phänomen endgültig zu erklären, entspricht in erster Linie dem Bedürfnis einer nicht-wissenschaftlichen Öffentlichkeit nach Aufklärung. Während die Öffentlichkeit vom Tunguska-Ereignis relativ unberührt bleibt beziehungsweise nur bedingt Interesse dafür auf bringt, suggerieren die hier zur Untersuchung stehenden Texte, dass es ein Publikum nicht unerheblicher Größe gibt, für das die Frage nach der Lösung des rätselhaften Tunguska-Falls von größter Bedeutung ist. Dabei ist unerheblich, welche empirische Entsprechung dieses von den Texten hergestellte Publikum haben könnte. Relevant ist, welcher Anspruch an Wissenschaft anhand dieses fiktionalen Publikums und der ihm zugeschriebenen Fragen gestellt wird. Denn Tunguska ist nicht das einzige unerklärte Phänomen, mit dem die Wissenschaft betraut ist. Im Gegenteil lässt sich sagen, dass die Existenz von unbekannten und unerklärten Ereignissen, Phänomenen oder, allgemeiner gesprochen, Dingen die Bedingung für die Existenz von Wissenschaften ist. Wenn das so ist, warum wird dann im Falle des Tunguska-Ereignisses der Aufklärung so viel Dringlichkeit beigemessen, sodass die schiere Dauer der Untersuchung bereits als umfassendes Scheitern der Wissenschaften an Tunguska interpretiert wird?

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Die Antwort auf diese Fragen liegt in der Vielfalt von Geschichten, die sich anhand des Tunguska-Ereignisses erzählen lassen. Zwar besitzt es, wie bereits gezeigt,18 einige Entfernungsmarker, diese rücken es jedoch nicht weit genug weg, um es dem Bereich spekulativen Wissens zu entziehen. Anders als Pyramiden oder schwarze Löcher ist es weder zeitlich noch räumlich weit genug entfernt, um seine Unerklärtheit zu akzeptieren. Dazu kommen die nicht realisierten Potenziale des Ereignisses, allen voran das einer verheerenden Katastrophe. Analog verhält es sich mit der Spurenlage. Es gibt nicht genügend Spuren, um zu einer Lösung zu kommen, aber zu viele, um ihren ›Auftrag‹ zu ignorieren. Auch wenn es paradox klingt, der Rätselcharakter des Tunguska-Ereignisses ergibt sich aus einem Erklärungsimperativ, der daher stammt, dass es eigentlich nicht weit weg (passiert) ist, eigentlich keine katastrophischen Auswirkungen hatte und daher zu erklären sein müsste. Dieses Paradox macht den Reiz der Tunguska-Erzählungen aus und schürt das Verlangen nach Aufklärung (oder weiterer Verrätselung). Dass es die Spurenlage dennoch nicht erlaubt, eine einzige (wissenschaftlich) gültige Lösung zu finden, macht Tunguska zum Problem, weil eine skandalöse Lücke sichtbar wird. Skandalös ist diese Lücke deshalb, weil sie das vermeintliche Scheitern der Wissenschaften markiert und weil sie darüber hinaus auf einen möglichen Bereich hinweist, der wissenschaftlichen Erklärungsmethoden nicht zugänglich ist. Die Lücke eröffnet Räume für alternative Interpretationen und Erklärungen, die sich nicht notwendigerweise wissenschaftlichen Paradigmen verpflichtet fühlen oder sich ihnen explizit widersetzen. Sie ist wie jeder Verstoß gegen institutionelle Spielregeln und jeder Raum unklarer Bedingungen ein Attraktor von Aufmerksamkeit und Motor für Erzählungen. Die Lücke konstituiert eine »semiotisch ›heiße‹ Zone, in der mit einer Handlung zugleich deren Möglichkeitsbedingung und Legitimität auf dem Spiel stehen, [sie] zieht auch die erzählerische Energie, man möchte fast sagen: magisch, an, während institutionell geregelte Abläufe ›erkalten‹« (Koschorke 2012, 312). Über Tunguska lässt sich deswegen so gut spekulieren und erzählen, weil aufgrund der Unsicherheiten seine Ursache betreffend die Möglichkeit denkbar wird, dass ein alternatives Wissensmodell zu Rate gezogen werden muss, um zu erklären, was passiert ist. Das Scheitern der Wissenschaften ist also zuallererst eine interessante Story – ein Skandal lässt sich immer gut erzählen. Auf diesen Skandal der Lücke ist es zurückzuführen, dass kein Tunguska-Text ohne eine explizite Bezugnahme, sei es affirmativ oder ablehnend, auf den Hybrid- beziehungsweise Rätselcharakter des Ereignisses auskommt. Tunguska, so ließe sich mit Latour sagen, ist der Inbegriff eines modernen

18 | Vgl. »Einleitung: Tunguska-Potenziale«.

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Quasi-Objekts,19 weil keine Darstellung die »Symptome der Unstimmigkeit« (Latour 2008, 92) auszublenden vermag, die darauf zurückzuführen sind, dass das Ereignis sich nicht von seiner Geschichte trennen lässt und sich einer letztgültigen Zuordnung zu den Polen Natur und Gesellschaft 20 und damit einer Herstellung von Fakten verweigert. Der Wissenschaftsjournalist Surendra Verma fasst die Untersuchungsgeschichte des Tunguska-Ereignisses dementsprechend als Teil des Phänomens auf und beschränkt das Phänomen in seiner Darstellung nicht auf eine Explosion mit unklarer Ursache, sondern schließt Erklärungsmodelle und erklärende Agenten in seine Darstellung mit ein: »The search for the answer to this question [what has caused the Tunguska-explosion, SN] has generated a Tunguska industry that has kept both scientists and charlatans busy for eight decades« (Verma 2005, ix). Die Gegenüberstellung von Wissenschaftlern und Scharlatanen ist entscheidend für die Untersuchung konkurrierender Wissensregime beziehungsweise einander entgegengesetzter Tunguska-Erzählungen. Sie setzt voraus, dass es eine richtige und eine falsche Seite des Diskurses gibt, wobei, wenig überraschend, die Wissenschaftler auf der richtigen Seite und die Scharlatane auf der falschen Seite stehen. Damit reproduziert sie die moderne Unterscheidung, die der Text jedoch selbst implizit aushebelt. Denn wie kann man Wissenschaftler und Scharlatane voneinander unterscheiden, wenn sie Teil desselben Phänomens, oder in Vermas Worten, Teil derselben Industrie21 19 | »[Diese] Quasi-Objekte sind sehr viel sozialer, sehr viel fabrizierter, sehr viel kollektiver als die ›harten‹ Teile der Natur; aber deswegen sind sie noch lange kein arbiträrer Gegenstand für eine auf sich gestellte Gesellschaft. Andererseits sind sie sehr viel realer, nicht-menschlicher und objektiver als jene gestaltlosen Projektionsflächen, auf welche die Gesellschaft […] ›projiziert‹ werden müßte.« (Latour 2008, 75) 20 | Koschorkes Beobachtung, dass »wissenschaftliche Errungenschaften, die Seinsart vieler sozialer Erzeugnisse [teilen], dass sie zwar nur unter spezifischen kulturellen Vorzeichen entstehen konnten, dann aber ihre kulturelle ›Ladung‹ wie einen Ballast abwarfen und kulturell indifferent werden« (Koschorke 2012, 348), repräsentiert die andere Seite von Latours Darstellung der Spaltung von Quasi-Objekten in »entweder Objekte der äußeren Realität […] oder Subjekte der Gesellschaft« (Latour 2008, 75) als Prozess der Herstellung von reinen Fakten. »Die Modernen haben die Eigenart, den Lauf der Zeit so zu verstehen, daß er tatsächlich die Vergangenheit hinter sich abschafft. […] Aber da diese Zeitlichkeit einem Zeitregime aufgezwungen wird, das ganz anders funktioniert, vermehren sich die Symptome der Unstimmigkeit« (ebd., 92). 21 | Worin eine weitere interessante Wendung liegt. Denn die Bezeichnung des Tunguska-Diskurses als Industrie legt nahe, dass die Erforschung des Ereignisses kein Selbstzweck ist. Dafür gibt es gute Gründe, denn es gibt nicht nur einen durchaus beachtlichen Markt für die Bücher der »Scharlatane«, auch Leonid Kulik, der Leiter der ersten Tunguska-Expedition, versprach sich und vor allem seinen Geldgebern beträchtliche

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sind? Legitimität lässt sich hier letztlich nur über institutionelle Zugehörigkeit konstituieren. Dass diese Trennung in Bezug auf das Tunguska-Ereignis allerdings nicht trägt, wurde bereits festgestellt. Auch ist es nicht so schwarzweiß, wie es die Wissenschaftler-/Scharlatan-Unterscheidung Vermas nahelegt. Dagegen spricht einerseits die diesem Statement folgende differenzierte Darstellung der verschiedenen Erklärungsmodelle sowie die Darstellung der Erforschung des Ereignisses insgesamt, andererseits die Positionierung des Textes und seines Autors innerhalb des Tunguska-Diskurses. Es ist kaum davon auszugehen, dass Verma sich zu den Scharlatanen zählt, weil sein Text nicht innerhalb der institutionalisierten Wissenschaftskommunikation erscheint, sondern Teil sogenannter Populärwissenschaft ist. Schon sein kurzes Statement lässt also auf ein mindestens dreigeteiltes Feld derer schließen, die das Tunguska-Ereignis auf die eine oder andere Art untersuchen beziehungsweise darstellen. Wissenschaftler und nicht näher definierte Scharlatane stehen dabei an den Endpunkten einer Skala und eröffnen einen weiten Raum für nicht-wissenschaftliche, aber auch nicht-scharlatanische beziehungsweise nicht-pseudowissenschaftliche Aussagen. Während Verma den Fokus auf die Suche nach einer Lösung legt und so die Geschichte seiner mehr oder weniger wissenschaftlichen Forschung erzählt, eröffnen Baxter und Atkins ihren Text, indem sie das Spektrum um eine Dimension erweitern: »It is essentially a mystery story, for though the blast was among the most powerful ever occuring before or since on earth, its exact cause is not known; it remains today one of the greatest scientific riddles of all time« (Baxter/Atkins 1976, 11). So wird das Tunguska-Ereignis von einem passiven, lediglich zu erklärenden Phänomen zu einem sich aktiv der Aufklärung entziehenden Akteur in einer Rätsel- oder gar Kriminalerzählung. Den wissenschaftlichen Erklärungsmodellen wird das Tunguska-Ereignis demnach als genialer Coup entgegengestellt, der, obwohl er praktisch vor aller Augen stattfand, (nicht nur) die Wissenschaftler vor ein kaum zu lösendes Rätsel stellt. Zur Geschichte des Ereignisses gehören nicht nur die Akteure – und die Tatsache, dass sie sich eben nicht nur in zwei Gruppen einteilen lassen –, sondern auch die Aspekte des Rätsels und die gewählte narrative Struktur, in die es eingebettet wird. Baxter und Atkins interpretieren die Lücke, die fehlende Erklärung des Ereignisses, als Indiz dafür, dass sie nicht etwa die Geschichte (history) der Erforschung zum Thema haben, sondern dass es sich im Wesentlichen (essentially) um eine Erzählung (story) handle. Diese Bestimmung erklärt den Text jedoch keinesfalls zu einer Fiktion. Im Gegenteil, »Rückendeckung bei anerkannten Plotkonventionen« (Koschorke 2012, 334) zu suchen, ist eine Gewinne durch den vermeintlichen Meteoriten (vgl. Verma 2005, 48). Das ist an sich nicht verwerflich, wirft aber zumindest einen Schatten auf das Ideal reinen Wissensgewinns und reiner Aufklärung.

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Strategie, mit deren Hilfe auch der Text von Verma gleich zu Beginn Spektrum populärer Wissenschaft positioniert und so Anspruch auf Legitimität erhebt. Dieser letzte Punkt ist entscheidend: Indem die Tunguska-Geschichte (history) aufgrund der skandalösen Lücke als Kriminalgeschichte (mystery story) identifiziert wird, wird sie der naturwissenschaftlichen Deutungshoheit entzogen. Die Strategie ist ausgesprochen geschickt, weil ihr kaum widersprochen werden kann. Es gibt eine Lücke: die Unerklärtheit des Ereignisses; demnach ist die Kriminal- beziehungsweise Rätselerzählung des Ereignisses existent, die den Hybridcharakter des Ereignisses offenlegt und damit – in der Logik der modernen Verfassung bleibend – die Deutungshoheit über das Ereignis vom Pol der Natur zum Pol der Gesellschaft rückt. Diese Übertragung, auch wenn sie sich auf den ersten Blick innerhalb der Programmlogik der Moderne(n) abspielt, lässt sich nicht allein mit der diagnostizierten skandalösen Lücke begründen. Vielmehr wird das Feld, das sich zwischen den Extrempunkten Wissenschaftler/Scharlatane und fachspezifischer Kommunikation/Mystery Story öffnet, aufgerufen und ausgenutzt, um die Anschlussfähigkeit des Textes zu garantieren und zuallererst ein (nichtwissenschaftliches) Publikum für die präsentierten Hypothesen zu schaffen.

M odelle der P opul arisierung In erster Linie dient eine solche Strategie natürlich dem Versuch, ein möglichst großes Publikum für den kommerziellen Erfolg des Buches zu gewinnen. Doch dieser ist gegenüber dem Publikum insofern zweitrangig, als die Fiktion eines öffentlichen Interesses an der Erklärung des Tunguska-Ereignisses die Bemühungen außerwissenschaftlicher Texte nicht nur motiviert und rechtfertigt. Nur weil die Fiktion einer Öffentlichkeit existiert, der die Maßstäbe der wissenschaftlichen Erklärungen nicht genügt, lassen sich Rätselcharakter und Unerklärbarkeit erfolgreich plausibilisieren. Schon an dieser Verbindung wird sichtbar, warum ein Zusammenhang zwischen dem Populären und im weitesten Sinne wissenschaftlichen Wissen problematisch sein kann. Popularität im Sinne kommerziellen Erfolgs und breiter Rezeption läuft einem spezialisierten Anspruch von Fachwissen entgegen und steht, sofern es nicht direkten Bildungszwecken unterstellt ist, unter dem Verdacht unzulässiger Vereinfachung. Die Voraussetzungen für Popularität, Hyper-Konnektivität, Affektivität und die Herstellung universaler Publikumsfiktionen22 stehen im Konflikt mit funktionsspezifischer

22 | Vgl. Stäheli 2005, 153 und 157.

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Kommunikation, weil sie entgegengesetzten Maßgaben folgen.23 »Die Inszenierung wissenschaftlicher Wahrheiten kann schnell zur Diskreditierung dieser Wahrheiten führen und damit sogar die Ausschlussfähigkeit des Mediums Wahrheit gefährden« (Stäheli 2005, 161). Sogenannte populärwissenschaftliche Texte werden folglich oft als notwendiges Übel wahrgenommen – als Versuch, Spezialwissen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, um diese einerseits zu bilden, andererseits rückwirkend die außergewöhnliche Stellung von Fachwissenschaftlern in der Gesellschaft zu verankern. Die in Bezug auf die Vermittlung und Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Errungenschaften tendenziell pejorative Konnotation des Populären liegt in seiner Funktionsweise begründet. Das Populäre, so Urs Stäheli, darf nicht als Eingriff eines eigenen Funktionssystems missverstanden werden. »Vielmehr folgt es der Logik des Parasiten: es nistet sich in einzelne Funktionssysteme ein und nährt sich von deren Autopoiesis, indem es beobachtet und häufig auch spektakularisiert« (Stäheli 2005, 164). Es geht also nicht in erster Linie darum, dass falsches Wissen vermittelt wird. Die Kritik richtet sich vor allem gegen die Spektakularisierung gleichsam fremden, nicht in Eigenleistung hergestellten Wissens. Während Popularität im Sinne kommerziellen Erfolgs für die vorliegende Untersuchung nur eine untergeordnete Rolle spielt, sind für die Tunguska-Texte zwei Popularisierungsmodelle von besonderer Bedeutung: (1) die Popularisierung von Spezialwissen im Sinne einer Vermittlung von Expertenwissen an Laien und (2) die Popularität im Sinne populärer, das heißt vom Publikum ausgehender Forschung respektive Spekulation über das Ereignis. Unschwer zu erkennen ist, dass diese beiden Modelle sich diametral gegenüberstehen. Während (1) einem Top-down-Modell entspricht, enthält (2) die Möglichkeit, die skandalöse Lücke, die das Versäumnis der Wissenschaften/Wissenschaftler darstellt, mit eigenen Überlegungen zu füllen. Das Tunguska-Ereignis bietet so gewissermaßen eine besonders große Angriffsfläche für die parasitäre Logik der Popularisierung, die weit über die Gefahren der Diskreditierung einzelner Wissenschaftler oder ihrer Ergebnisse respektive ihrer Spektakularisierung hinausgeht. Die Ausschlussfähigkeit des Mediums Wahrheit ist hier in Gefahr, weil die Exklusivität der Legitimität wissenschaftlicher Praktiken zur Herstellung von Wahrheit infrage gestellt wird. In den Garantien der modernen Verfassung gedacht,24 ist die Popularisierung von Wissen(-schaft) problematisch, weil sie die für diese Ordnung konstitutive Kluft zwischen den beiden Polen Natur und Gesellschaft überwinden muss und damit die Unterscheidung von Experten und Laien sowie von Wis23 | Koschorke spricht in diesem Zusammenhang von den sozialen Erfordernissen von Wissenschaft, so u.a. von Spezialisierung, Expertensystem, Kontinuität von Denkformen (vgl. Koschorke 2012, 346). 24 | Vgl. Latour 2008, 45.

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senschaftlern und Scharlatanen destabilisiert, indem sie die Arbeit der Vermittlung ausstellt. Die Popularisierung von fachspezifischer Kommunikation stellt hybride Wissensformen her, die, gerade wenn sie verwertet werden sollen, schnell der Kontrolle der modernen Verfassung entgleiten können. Folgt man Latour, so stellt der Prozess der Kommunikation zwischen Experten, also Sprechern, die ›autorisiert‹ sind, für die Fakten zu sprechen,25 und den Subjekten des Gesellschaftspols – der Öffentlichkeit – eine unumgehbare Vermittlung dar, auch wenn sie nicht explizit als Popularisierung gemeint ist. Es ist unvorstellbar, dass das Objekt unbeschadet in die Hände der Subjekte gelangt oder, sollte das möglich sein, dort seine ursprüngliche Form beibehalten kann. Der Gegenstand des Wissens wird also bereits verändert weitergegeben und dann von den Rezipienten weiter verändert, ohne dass er dabei seine Verbindung zur Natur(-wissenschaft) verliert. Das vermittelte Wissen wird demnach genutzt, verändert, zurückvermittelt und bleibt trotz der Transformationsprozesse als Faktum markiert. Die Transformationen durch Popularisierung und Nutzung des Wissens sind mithin ebenso wichtig für die Untersuchung wie die Strategien, durch die eine Wiedererkennung möglich gemacht wird. Prekär ist der Prozess der Vermittlung somit vor allem aus Sicht der Experten. Denn das Wissenselement wird zum Gegenstand vielfältiger Formen des Wissens, auch solcher, die nicht-autorisierte, ›alternative‹ Ansätze verfolgen, und öffnet sich damit dem Zugriff der Literatur. Interaktion und Relation zwischen Literatur und Wissenschaft ist auf diese Transformation durch Popularisierung angewiesen, um die »potentiell gemeinsame[n] Objekte« (Titzmann 1997, 312), die diese ermöglichen, überhaupt zu erkennen. Noch komplizierter wird es, wenn die Generierung von Fakten von Anfang an unsicher ist. Im Falle des Tunguska-Ereignisses heißt das, dass zu den Vermittlungsebenen auch ein Legitimationsproblem hinzutritt, das die Verfahrensweisen der Wissenschaft selbst betrifft. Der eigentlich geschlossene Raum wissenschaftlicher Arbeit wird an verschiedenen Stellen geöffnet, sodass sie in einen prekären Zustand gerät. Damit muss zunächst innerhalb der etablierten Möglichkeiten umgegangen werden, z.B. indem man den Zugriff dadurch ausschließt, dass man die Veränderung des qualitativen Status, sprich die Popularisierbarkeit des Wissens unmöglich macht. Ein Mittel, um dies zu erreichen, kann es sein, die Undarstell­barkeit der wissenschaftlichen Entdeckungen zu postulieren.26 Das betrifft nicht nur die Schwierigkeiten der 25 | Vgl. Latour 2008, 41. 26 | »Zwischen dieser neuen Naturwissenschaft, insbesondere der Physik seit ihrem Paradigmenwechsel, und der Literatur kann es keine objektadäquaten direkten Relationen mehr geben. […] Denn die literarisch dargestellte Welt ist eine von anthropomorphen Figuren wahrgenommene, und die neue Welt der Physik entzieht sich unmittelbarer menschlicher Wahrnehmung« (Titzmann 1997, 303; Hervorhebung im Original). Inter-

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Darstellbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern auch einen weiteren problematischen Aspekt der Vermittlung. Das Wissen in anderen Funktionszusammenhängen anzuwenden, kann dazu führen, dass indirekt vermittelte Relationen sowohl in kommerziellen als auch politischen Zusammenhängen instrumentalisiert werden.27 Gleichzeitig kann der Hinweis auf eine solche Gefahr auch dazu dienen, den nicht-wissenschaftlichen Zugriff zu diskreditieren, indem man ihm die Legitimation nicht nur innerhalb des Diskurses aberkennt, sondern ihn grundsätzlich als unwahr und gefährlich markiert, weil er sich mit den als alleingültig markierten wissenschaftlichen Maßstäben nicht belegen lässt. So wird die moderne Aufgabenteilung, die Trennung der Pole, eher zementiert als flexibilisiert.28 Eine solche Festsetzung der Positionen reduziert alle Versionen des Tunguska-Ereignisses und die Diskussion ihres Wahrheitsgehaltes auf ihren Referenzbezug und schließt damit sämtliche (narrativen) Alternativen aus. »Wer sich im Besitz der faktischen Wahrheit glaubt, usurpiert eine Position, die andere von der Verhandlung ausschließt und damit den Prozess des kollektiven Aushandelns beendet« (Koschorke 2012, 350). So gesehen bietet das Tunguska-Ereignis, das eine solche Usurpation aufgrund der Spurenlage erheblich erschwert, die einmalige Möglichkeit zur Rebellion und zur erzwungenen Wiederaufnahme der Verhandlungen um die Wirklichkeit. An dieser Stelle lässt sich feststellen: Popularisierung ist nicht gleich Popularisierung. Sie ist nicht automatisch ein Mittel, um wissenschaftliche Erkenntnis zu verfälschen, birgt jedoch genau diese Gefahr, weil »wissenschaftliche Popularisierung – wie jede Popularisierung – ein Nährboden für ›falsche Freunde‹« (Safir 2009, 24) ist und damit potenziell reputationsschädigend 29 wirkt. Das Bewusstsein von der Notwendigkeit popularisierender Kommuni­ kation und ihre Ablehnung existieren parallel. Nicht nur um den Austausch mit Kollegen mehr oder weniger fremder Fächer zu gewährleisten, sondern auch um Forschungsgelder einzuwerben und die Legitimation des Faches öffentlich zu sichern, muss über die Grenzen der Disziplin und der Wissenschafessanterweise stammt dieses Zitat von einem Literaturwissenschaftler und nicht von einem Naturwissenschaftler. 27 | »[So] kann wissenschaftliches Wissen mißbräuchlich in den Dienst nicht-wissenschaftlicher ideologischer Diskurse gestellt werden, ob die, die aus Daten oder Theorien, in deren ursprünglicher oder popularisierter Form, folgern, was nicht folgt, nun selbst Wissenschaftler sind oder nicht« (ebd., 304-305). 28 | Hier soll jedoch nicht der Eindruck entstehen, Titzmann halte einen solchen Missbrauch für unausweichlich. Vielmehr ist es wichtig, sich dieser Möglichkeit bewusst zu sein, aber eben auch dessen, dass ein solcher Vorwurf ebenso instrumentalisiert werden kann. 29 | Vgl. Stäheli 2005, 146.

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ten hinweg vermittelt werden, was sich (ungefähr) innerhalb dieser Grenzen abspielt. Das erfordert den Gebrauch einer anderen Sprache beziehungsweise einen Rückbezug auf den ansonsten unsichtbaren narrativen Kern der zugrundeliegenden Modellannahmen.30 Besonders für die Vermittlung naturwissenschaftlicher oder sogar mathematischer Gegenstände bedeutet der Gebrauch dieser Sprache einen Verlust an mathematischer Genauigkeit zugunsten (narrativer) Anschaulichkeit, aber eben auch einen Gewinn an Konnektivität und Affektivität. Letzterer wird vor allem über die Verbindung des Tunguska-Ereignisses mit anerkannten Plotkonventionen hergestellt. Während die Popularisierungsdiskussion sich oft auf die Vermittlungspraktiken von Experten zu Laien (Modell 1) beschränkt, lenkt die Beschäftigung mit dem TunguskaEreignis den Blick auch auf die umgekehrte Richtung. Dem bereits erwähnten Legitimitätsproblem, das in dieser Richtung (Modell 2) zum Tragen kommt, begegnen die Texte durch ihre erhöhte Anschlussfähigkeit und Affektivität. Interessanterweise lässt sich diese Beobachtung, wenn auch unterschiedlich deutlich, bei den meisten Texten über das Tunguska-Ereignis machen. So wenig wie ein Tunguska-Text auf den Bezug auf den Rätselcharakter verzichten kann, so wenig kommt er ohne eine plausible narrative Strategie aus. Diese Ähnlichkeiten treten besonders deutlich bei den Texten zutage, die nicht nur einen Überblick über den aktuellsten Stand der Forschung, sondern über die Erforschung des Tunguska-Ereignisses insgesamt geben wollen. Die Untersuchung der narrativen Strategien, die die jeweiligen Texte in Bezug auf das Tunguska-Ereignis einsetzen, lässt folglich nicht nur Rückschlüsse auf das Darstellungsinteresse des jeweiligen Textes zu, sondern auch auf seine Positionierung innerhalb oder außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses. Dass die vorliegenden Texte sich jedoch nicht bloß in ›wissenschaftlich‹ und ›nichtwissenschaftlich‹ unterteilen lassen, wurde bereits gezeigt. Vielmehr zeigt der Tunguska-Diskurs eine verschärfte Form der »Grenzverhandlungen zwischen verschiedenen Wissensregimes« (Koschorke 2012, 284). Auch hier lässt er sich als »In- und Gegeneinander [mindestens, SN] zweier Narrative analysieren« (ebd.), allerdings ist der Streit um die Gegenüberstellung von Fortschrittsgeschichte und historisch-kultureller Wissensgeschichte31 nur ein Aspekt dieses 30 | »Formeln sind keine Erzählungen. Doch selbst den auf mathematischer Grundlage entwickelten und computertechnisch automatisierten Verfahren liegen Modellannahmen zugrunde, die einen narrativen Kern in sich bergen – allen voran die Idee des einsam zum eigenen Vorteil wirtschaftenden homo oeconomicus und der damit verknüpfte methodische Individualismus, dessen literarische Karriere sich bis zu der Romanfigur Robinson Crusoe zurückverfolgen lässt.« (Koschorke 2012, 299) 31 | »Was die Grenzverhandlungen zwischen verschiedenen Wissensregimes betrifft, so lassen sie sich als In- und Gegeneinander zweier Narrative analysieren. Die eine Version erzählt die wohlbekannte Fortschrittsgeschichte, der zufolge sich das Wissen auf-

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Konflikts. Darüber hinaus versammeln sich um das Tunguska-Ereignis auch solche ›Scharlatane‹, die ein drittes Narrativ einführen: das der Ignoranz sämtlicher rationaler beziehungsweise rationalistischer Praktiken gegenüber alternativen Denk- und Erklärungsmodellen. So entsteht ein Feld von Zuordnungen, das sich zwischen den möglichen Akteuren sowie den möglichen Erzählstrategien aufspannt, und, je nach Positionierung des Textes, andere Auffassungen davon, was Tunguska ist (Rätsel, Problem, Mysterium) und was die zu seiner Lösung notwendigen Strategien sind, ergibt. Die Texte treffen sich im Motiv der Spurlosigkeit, unterscheiden sich jedoch fundamental in ihren Schlussfolgerungen zum Charakter des Problems und zum daraus abgeleiteten Zeitregime der Aufklärung. Trotz aller Ähnlichkeit lässt sich die Grenze zwischen wissenschaftlicher und nicht- beziehungsweise populärwissenschaftlicher Kommunikation hier zunächst mithilfe eines Topos ziehen: Was die nicht-wissenschaftlichen Texte an zentraler Stelle verbindet, ist die Inszenierung des Ereignisses als rätselhaft, mysteriös oder ganz und gar unerklärbar. Dagegen liegt den Texten der fachspezifischen Kommunikation ein Fortschrittsnarrativ zugrunde, demzufolge das Ereignis immer noch nicht erklärt ist. Dem steht die Behauptung eines mit diesen Mitteln absolut unerklärbaren Ereignisses gegenüber, das eine alternative oder parawissenschaftliche Lösung erfordert und sich dem Zeitregime des Noch-nicht dezidiert entzieht. Das gelingt nur, indem der rationale Zugriff der Wissenschaftler diskreditiert wird. Die oft polemische Kritik an Methoden, Personen und schließlich dem vermeintlichen Versagen derer, die dem Außergewöhnlichen mit herkömmlichen Mitteln zu begegnen versuchen, geht meistens mit einer offensiven Inszenierung der eigenen Position einher. Anstatt einer defensiven Rechtfertigung der fehlenden institutionellen Qualifikation oder des Ausschlusses aus der scientific community erfolgt eine Affirmation dieser Position als besonders unabhängig und fähig zu einer Offenheit, die den Forschern ansonsten abgeht. Der Spieß lässt sich also umdrehen, sodass ›Wissenschaftler‹ in diesen Texten einen ebenso abschätzigen Beiklang bekommen wie ›Scharlatane‹, weil sie nun mit dem Verdacht assoziiert werden, Tatsachen bewusst zu verschleiern oder, schlimmer noch, zu dumm oder verbohrt sind, um sehen zu können, was so offen vor ihren Augen liegt. Darüber hinaus nehmen auch die außerwissenschaftlichen Texte vielfach Bezug aufeinander, wodurch eine – die wissenschaftlichen Zitationspraktiken imitierende – Struktur häuft und perfektioniert, die Wahrheit sich schrittweise durchsetzt und Irrtümer überwunden werden. Das andere Narrativ bettet das Wissen in seine historisch-kulturelle Entstehungsumgebung ein und leitet dazu an, die Rationalität und damit – gemessen an den jeweiligen Ausgangsbedingungen – ›Stimmigkeit‹ der Wissensproduktion auf jeder Stufe seiner Entwicklung, auch ungeachtet der Alternative zwischen wahr und falsch, ins Licht zu rücken« (ebd., 284).

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sichtbar wird, die die Erkenntnisse trotz abweichender Vorzeichen in einen Rahmen einfügt, der Plausibilität und Autorität erzeugen soll und damit letztlich Legitimität suggeriert. Beim Versuch, eine plausible Erklärung des Ereignisses zu liefern, spielen die Konventionen der Detektiverzählung beziehungsweise der Mystery Story sowohl in Hinblick auf Motive und Plotstruktur als auch in Hinblick auf das Personal eine zentrale Rolle. Dabei ist es erstaunlich, dass ein solcher Rückgriff unabhängig davon zum Einsatz kommt, in welchem Verhältnis der Text zu den etablierten Wissenschaften steht. Er stellt eine Art Mittelgrund zwischen den beiden beschriebenen Extrempunkten des Feldes dar und wird damit zum bestimmenden Narrativ des Tunguska-Diskurses, welches allein in der Lage ist, die Besonderheiten des Ereignisses – seine ungeklärte Ursache, die Vielfalt möglicher Erklärungen sowie die (scheinbar) ungewöhnlich lange Forschungsgeschichte – zu einem Plot zu verbinden.

Tungusk a als R ätsel Die ›mysteriöse‹ Ursache ist in der öffentlichen Wahrnehmung des Ereignisses zu seiner zentralen Eigenschaft geworden. Um zu analysieren, warum diese Inszenierung so erfolgreich ist, müssen zunächst die Ebenen, auf denen über das Ereignis als ›mysteriös‹, ›ungelöst‹ und ›rätselhaft‹ gesprochen werden kann, unterschieden werden. Zunächst lassen sich die Texte drei Genres zuordnen: Überblicksdarstellungen der an der Forschung direkt beteiligten Disziplinen und Wissenschaftler; sich selbst als populärwissenschaftlich beziehungsweise als Wissenschaftsjournalismus verstehende Texte und schließlich die sich gegen die Wissenschaften positionierenden, ›alternativen‹ Publikationen. Ersteren gilt das Ereignis als noch ungelöst oder noch nicht definitiv geklärt. Innerhalb der fachspezifischen Kommunikation ist der Umstand, der außerhalb zu Unsicherheit oder sogar Spott führt, nicht nur das Ergebnis intensiver Forschung, sondern auch die einzig seriöse Aussage, die sich anhand der bisher durchgeführten Untersuchungen treffen lässt. So heißt es in der Einleitung zur Veröffentlichung der Ergebnisse der ersten internationalen Konferenz zum Tunguska-Ereignis: »The workshop has not definitely clarified the true nature of the TCB. The Russian scientists appear to be slowly shifting the conviction that the TCB was a comet, towards the acceptance of the hydrocode modeler’s conclusion that it was more likely an asteroid. The same, but in opposite direction, can be said for western scientists.« (Di Martino/ Farinella/Longo 1998, 125)

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Man könnte diese Annäherung durchaus als Enttäuschung interpretieren. Endlich gibt es Gelegenheit, die Ergebnisse der bis dato durch den Eisernen Vorhang getrennten Forschungszweige zu verbinden, und doch kommt dabei nichts Neues oder Definitives heraus. Dabei ist die Synthese der Forschungsergebnisse und damit die Einsicht, dass keine der beiden Seiten einen fundamentalen Vorsprung erzielen konnte, ein entscheidender Erkenntnisgewinn. Denn er bestätigt implizit die Richtigkeit der Vorgehensweise beider Seiten und bestärkt die Überzeugung, die im impliziten ›noch‹ oder ›noch nicht‹ mitschwingt: nämlich, dass die vollständige oder allgemein zufriedenstellende Erklärung eine Frage der Zeit ist. Sie wird genau solange dauern, bis entweder eindeutige Daten oder Beweise für die eine oder andere Theorie auftauchen oder sich die Wissenschaftler geeinigt haben werden. Das entscheidende Ergebnis der Konferenz ist also, dass das Ereignis keinesfalls unerklärlich ist und eine durchaus beachtliche Menge von Erkenntnissen bereits gewonnen werden konnte. Durch den mit der Konferenz »Tunguska 96« etablierten, nunmehr uneingeschränkten wissenschaftlichen Austausch wurde schließlich ein gravierendes Hindernis überwunden, das der Erklärung des Ereignisses bisher im Weg stand. In den populärwissenschaftlichen Texten, die sich im Mittelfeld der Skala positionieren, bleibt das Ereignis dennoch ein ›Rätsel‹ respektive »One of the great Mysteries of the 20th Century« (Verma 2005, Titel). Damit werden dem Ereignis Eigenschaften zugeschrieben, die im (natur-)wissenschaftlichen Diskurs keinen Ort haben, sondern als Signal eines popularisierenden und spektakularisierenden Eingriffs zu lesen sind. Diese Strategie verfolgt, wie bereits beschrieben, das Ziel, die Konnektivität und Affektivität des Dargestellten zu erhöhen. Das gelingt zunächst dadurch, dass sich die Konnotationen der wenig befriedigenden Situation des Patts zwischen den plausibelsten Lösungsansätzen (Asteroid/Komet), die sich zudem nicht mehr ohne Weiteres als (System-)Streit erzählen lässt, verschieben. Die Ursache wird, wenn es sich um ein Rätsel handelt, von einer noch nicht, aber in Zukunft (wahrscheinlich) erkennbaren Entität in eine nicht mehr und auch in Zukunft vermutlich nicht erkennbare umgemünzt. Diese Interpretation zieht eine Umdeutung aller Aspekte des Tunguska-Ereignisses und seiner Erforschung beziehungsweise seiner Darstellung nach sich, denn es als Rätsel zu begreifen, verändert nicht nur den Blick auf das Ereignis, sondern im Gegenzug den Blick auf die Realität und die sie tragenden Institutionen. Die Verunsicherung, die Tunguska als Rätsel hervorruft – und die gleichzeitig Bedingung und Zweck seiner nichtwissenschaftlichen Inszenierungen ist –, rührt daher, dass es als solches einen Regelverstoß darstellt: »Das Rätsel ist von daher eine Eigentümlichkeit (jedes Ereignis ist eigentümlich im Sinne von singulär), allerdings eine Eigentümlichkeit, die man als anormal bezeichnen

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Die Produktion der Katastrophe kann, weil sie mit der Art und Weise bricht, wie die Dinge sich unter normalen Bedingungen darstellen würden, so dass es dem Verstand nicht gelingt, diese beunruhigende Merkwürdigkeit in den Bereich der Realität einzuordnen. So verletzt das Rätsel das nahtlose Gewebe der Realität« (Boltanski 2013, 24; Hervorhebung im Original).

Alle sich von fachspezifischen Zugriffen absetzenden Ansätze beruhen auf dieser Umdeutung, weil sie es ermöglicht, Tunguska dem ausschließlich rationalen und institutionell anerkannten Zugriff zu entziehen. Worin sie sich dennoch unterscheiden, ist der Grad des Vertrauensverlusts in Kausalbeziehungen und damit in die Gültigkeit von Realität.32 Die Rätselbehauptung stellt demnach keine einfache Trivialisierung, sondern eine Legitimitäts- aufgrund einer Zuständigkeitsbehauptung dar. Diese Behauptung erweist sich als außerordentlich erfolgreiche Erzählstrategie, weil sie einen Ausweg aus der selbst verursachten Verunsicherung bietet und damit »die Evidenz des Faktischen« (Koschorke 2012, 350)33 absorbiert. Popularität wird folglich vor allem über narrative Verfahren hergestellt, das heißt, es geht hier nicht allein darum, Komplexitätsgrade zu verringern, sondern vielmehr darum, die bessere Geschichte zu erzählen und damit erzählend die Oberhand in der Verhandlung darüber zu gewinnen, was als Wirklichkeit gelten kann.34 Die Zuständigkeitsbehauptung, die aus der Rätselzuweisung folgt, kann deswegen Legitimität beanspruchen, weil sie die Diskussion über das was (in) Wirklichkeit (passiert) ist, mit Gewalt öffnet. Indem sie die skandalöse Lücke als Rätsel identifizieren, stellen die außerwissenschaftlichen Texte die Tatsache der unerklärten Ursache aus und liefern gleichzeitig eine Erklärung dafür, warum bisher gar keine Lösung gefunden werden konnte: Man hat schlicht das Problem falsch eingeschätzt und ist ihm dementsprechend mit den falschen Mitteln begegnet. Das Rätselnarrativ ruft 32 | »Die Realität wird dagegen durch vorab festgelegte Formate stabilisiert, die von Institutionen getragen werden, welche zumindest in unseren Gesellschaften häufig juristischer oder parajuristischer Art sind. […] Die Realität stellt sich dadurch als ein Netz aus Kausalbeziehungen dar, die zwischen den Ereignissen, mit denen die Erfahrung konfrontiert ist, einen Zusammenhang herstellen. die Bezugnahme auf diese Beziehungen erlaubt es, den auftretenden Ereignissen Sinn zu verleihen, indem die Entitäten bestimmt werden, denen sie zuzuschreiben sind.« (Boltanski 2013, 25) 33 | »Weil die Sogkraft einer Geschichte sich in dem Maß steigert, in dem sie ihre Eigenwirklichkeit intensiviert und dazu einlädt, sich in die erzählte Wirklichkeit zu verlieren (Immersion), bringt das Erzählen einen Realismus eigener Art mit sich, der vielfach von Effekten der Mimikry an eine extradiegetische Wirklichkeit zehrt. Deshalb bestehen erfolgreiche Erzählstrategien weniger darin, die Evidenz des Faktischen abzuwehren, als sie zu absorbieren« (Koschorke 2012, 333-334; Hervorhebung im Original). 34 | Vgl. ebd., 350.

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eine ganze Reihe von Geschichten auf, die geeignetere Handlungsmuster und Akteure präsentieren. Diese schließen Wissenschaftlerfiguren (man denke an Indiana Jones) keinesfalls aus, erfordern jedoch charakterliche Besonderheiten, die der außergewöhnlichen Natur des Ereignisses ebenbürtig sind. Der implizite Vorwurf, mit dem sich die Diskussion öffnen lässt, besteht darin, die Qualität des Ereignisses werde unterschätzt und der »beunruhigenden Merkwürdigkeit« (Boltanski 2013, 21) des Rätsels werde nicht angemessen begegnet. Boltanski klagt die Wissenschaften also an, eine wirklichere Realität zugunsten der von ihnen getragenen Wirklichkeit zu ignorieren oder, anders gesagt, die Spuren nicht richtig zu interpretieren und somit die Reintegration des Rätsels in eine Ordnung aktiv zu verhindern. Diese Strategie erlaubt es, Popularität gleichzeitig auf mehreren Ebenen zu generieren – sie erhöht die Anschlussfähigkeit des Textes, die Plausibilität des geäußerten Lösungsansatzes und die Legitimität der ausgesprochenen Zuständigkeitsbehauptung, weil sie – der Parasitenlogik des Populären (Stäheli) beziehungsweise der Mimikry epistemischer Narrative (Koschorke) folgend – den Anschein rationaler Argumentation wahrt und gleichzeitig die Affektivität des Präsentierten enorm erhöht. Das Interesse an dem ungewöhnlichen Fall, das auch fachspezifischer Kommunikation nicht fremd ist, wird über die Inszenierung der Lücke als Rätsel von Beunruhigung und Verunsicherung zu Entrüstung gesteigert. Weil der Rätselbehauptung innerhalb der streng regulierten wissenschaftlichen Darstellungsmodi nicht anders als ablehnend begegnet werden kann, bestätigen diese, wenn auch ungewollt, das Argument, sie seien nicht geeignet, sich mit Tunguska als Rätsel auseinanderzusetzen. Auch in Texten, die sich wie bei Verma als wissenschaftsnah präsentieren und Lösungsangebote hierarchisch nach Wahrscheinlichkeit und wissen­ schaft­ licher Anerkennung geordnet aufführen, um rationalen Maßgaben Genüge zu tun, wird die Rätselhaftigkeit bis zum Ende hervorgehoben, um Spannung zu erzeugen und damit Popularität zu generieren. Diese erreicht ihren Höhepunkt, wenn die Aufgabe, sich für eine der Versionen des Ereignisses zu entscheiden, dem Publikum übergeben wird.35 Für die selbsterklärte ›Alternative‹ Angelika Jubelt ist Tunguska interessanterweise kein Rätsel mehr, sondern (beinahe) definitiv geklärt. Aufgrund des von ihnen postulierten und in Szene gesetzten Scheiterns der Wissenschaften erklären die ›Alternativen‹ sich berechtigt, den wissenschaftlich wahrscheinlichen Erklärungen eine Erklärung entgegenzusetzen, die vom Kontakt mit anderen, metaphysischen oder außerirdischen, Welten ausgeht. Das heißt, sie haben bereits eine Entität gefunden, der das Ereignis zugeschrieben werden kann. Dass die jeweilige Lösung nur beinahe als definitiv gilt, liege der Insze35 | Vgl. Verma 2005, 250. Auf diesen Abschnitt des Textes wird im Folgenden noch näher einzugehen sein.

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nierung nach daran, dass ihnen die Anerkennung versagt werde, obwohl man sich, so inszenieren sich zumindest einige Autoren, dem Establishment mutig entgegenstelle. der Vorwurf der mangelnden Eignung der Wissenschaftler wird durch das Bedauern, kostbare Ressourcen würden für offensichtlich fehlgeleitete Untersuchungen verschwendet, und die Beschuldigung, man halte Wahrheitssuchende davon ab, ihrer vielversprechenden Suche nachzugehen, verschärft. Es ist nicht allein die Tunguska auszeichnende Spur- und Ratlosigkeit, die außerwissenschaftliche Erzählstrategien so erfolgreich macht. Schließlich gibt es eine Vielzahl offener Fragen, die weniger offensiv der Zuständigkeit der Wissenschaftler entzogen werden.36 Tunguska als Rätsel gestattet es mithilfe des Spurenparadigmas, Narrative, Akteure und Wissensmodelle miteinander zu einer plausiblen Geschichte zu verknüpfen, ohne sie durch den Ausweis literarischer Fiktionalität zu entkräften. Stattdessen wird der Modus der Fiktionalität der auf diese Weise konstruierten Erzählungen dem Möglichkeitsraum epistemischer Narrative zugeordnet, um ihren Wahrheitsanspruch deutlich zu markieren. Bemerkenswert ist der dabei immer wieder ausgestellte Rückgriff auf (explizit fiktionale) literarische Schemata folglich deswegen, weil er den Wahrheitsanspruch untermauern soll. Die Darstellung von Tunguska als Rätsel evoziert in der literarischen Tradition einen bestimmten, mit diesem Narrativ eng verbundenen Ermittler-Typus. Aus der Perspektive literarischer Verwertbarkeit bietet die Spurenlage des Tunguska-Ereignisses einschlägige Ansatzpunkte für eine Kriminalerzählung: das postulierte Scheitern der eigentlich zuständigen Institutionen; ein Anschein von Übersinnlichkeit, von mystischen oder außerirdischen Ursachen, der das Scheitern der Institutionen erklärt, weil sie konfrontiert mit diesem Anderen überfordert sein müssen; die Notwendigkeit, die Gefahr einer Störung der althergebrachten Ordnung durch eben dieses Andere zu vermeiden; der Verdacht, Tatsachenwissen werde bewusst verschleiert und schließlich die Szenerie des spurlosen ›Tatorts‹. Jeder geübte Krimileser erkennt dieses Muster37 sofort und kann die Elemente des Tunguska-Ereignisses in diesem Sinne wiederum als Spuren lesen. So kann bereits die Aufzählung der Hindernisse, 36 | Auch wenn es durchaus Bereiche gibt, in denen ähnlich vorgegangen wird. Hier lässt sich vielfach eine zirkuläre Argumentationsstrategie beobachten, die der Logik der Absorption der Evidenz des Faktischen folgt – so wird z.B. die behauptete Existenz außerirdischen Lebens oder paralleler Welten nicht nur zur Erklärung für das Tunguska-Ereignis herangezogen, dieses wird umgekehrt auch zum Beleg für die geäußerten Hypothesen. 37 | Zu den Elementen des Kriminalromans vgl. Nusser 2009. Entscheidend für das Tunguska-Ereignis sind vor allem das Rätsel als Ereignis im Zentrum der Erzählung, die Figur des Detektivs und die mit ihr verbundene Enträtselungshandlung sowie das Motiv der falschen Fährte (vgl. ebd., 24-31).

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die einer Erklärung des Ereignisses im Wege stehen, eine Erwartungshaltung beim Leser wecken, die die Rezeption des Ereignisses als »Mystery« (Verma 2005, 31)38 auch jenseits dieser Inszenierung entscheidend prägt. Besonders die Autoren, die entweder selbst oder deren Theorien aus der funktionsspezifischen Kommunikation ausgeschlossen sind, bedienen sich der Erzählstrategien und Rahmenbedingungen des Kriminalromans, um sich selbst, ihren Texten und nicht zuletzt ihren Theorien auch außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses Relevanz zu verleihen. Sie gehen also den Weg der Popularisierung anscheinend in die falsche Richtung, indem sie den Wahrheitsanspruch der Wissenschaften popularisieren (Modell 2). Wissenschaftler begegnen ihrer Skepsis und Ablehnung gegenüber Popularisierung üblicherweise, indem sie so wenig rhetorische und narrative Strategien einsetzen wie möglich39, also eine funktionsspezifische Objektsprache benutzen. Im Gegensatz dazu beziehen sich Texte des nichtwissenschaftlichen Feldes auf eines der populärsten literarischen Genres, um die imitierten rationalen Maßstäbe wissenschaftlicher Kommunikation in einem populären, aber auch bereits an diesen Maßstäben orientierten Rahmen präsentieren zu können. Die Kriminalerzählung verbindet das Rätsel mit dem Vorgang des Spurenlesens und stellt über die Figur des Detektivs als privilegiertem Spurenleser die Möglichkeit in Aussicht, das Rätsel lösen zu können. Der Detektiv weist dem Ereignis eine Ursache und damit einen Sinn zu und stellt so die Ordnung wieder her.40 Wenn das Tunguska-Ereignis durch die dargestellten Strategien als Rätsel entlarvt beziehungsweise als solches dargestellt wird, braucht es allerdings einen Ermittler/Spurenleser, dessen Eigenschaften ebenso eigentümlich sind wie die des Ereignisses. Geht man von Tunguska als einem Hybrid aus, muss die Ermittlerfigur sich ebenso flexibel zwischen Natur(-wissenschaft) und kulturellen Konstruktionen bewegen können: Die Ikone solcher Ermittlerfiguren ist nach wie vor Sherlock Holmes.

38 | »Mystery« als planmäßige Verdunklung, die eine umso überraschendere Auflösung erlaubt, zählt neben »Action« und »Analysis« zu den Zentren des Kriminalromans, um die sich die Plotelemente gruppieren lassen (vgl. ebd., 31). 39 | Der unbemerkte Einsatz rhetorischer Strategien ist in sich bereits eine rhetorische Strategie, vielleicht sogar die anspruchsvollste. Zudem sind die Bilder und »Geschichten« der Wissenschaften und damit narrative Mittel ihr unverzichtbarer Teil (vgl. Hoffmann 2009). 40 | Vgl. Boltanski 2013, 26.

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P rivilegiertes S purenlesen : D as S herlock-H olmes -Par adigma Die Figur des Londoner Detektivs ist für die Geschichte der Kriminalliteratur so zentral, dass kein Detektionsschema ohne eine wenigstens indirekte Bezugnahme oder Abgrenzung zu ihr auskommt. Obwohl also die Texte nur in seltenen Fällen ein Bewusstsein für die poetologischen Anteile im Allgemeinen und ihre Anleihen bei der Kriminalliteratur im Speziellen zeigen, lässt sich nachweisen, dass ihre Tunguska-Darstellungen nur in Abhängigkeit vom Sherlock-Holmes-Paradigma Plausibilität gewinnen können. Arthur Conan Doyles Erzählungen von dem Meisterdetektiv begründen ein Schema, das den Detektiv in einem sozialen, epistemischen und narrativen Gefüge positioniert, in dem Wirklichkeit und Wahrheit unter außergewöhnlichen Bedingungen enthüllt werden.41 Die wechselseitigen Bestimmungen von Detektiv (Sherlock Holmes), Rätsel (sowohl strukturell als auch inhaltlich), Institution (Staatsvertreter, Exekutive) und Spur begründen sowohl intra- als auch extradiegetisch den Erfolg der Figur und des Erzählschemas der Holmes’schen Detektion und garantieren darüber hinaus seine Eignung als Erzählstrategie für umstrittene Wirklichkeiten. Die Tunguska-Texte orientieren sich jedoch nicht vorrangig wegen der ikonischen Bedeutung an der Figur. Vielmehr sind sie eines der Symptome des anhaltenden Erfolgs eines paradigmatischen Narrativs. In seiner Untersuchung der Gründe für Conan Doyles Erfolg beziehungsweise für den Misserfolg der zeitgleich erscheinenden Masse an Kriminalromanen identifiziert Franco Moretti die Spur (clue)42 als zentrales Element: »[T]hey possess a ›specific device‹ of exceptional visibility and appeal: clues« (Moretti 2000, 212). Parallel zur Etablierung der Humanwissenschaften und der Spur beziehungsweise des systematischen Spurenlesens in der Verbrechensbekämpfung43 stößt, so Moretti, Conan Doyle zufällig auf dieses für seine Form der Erzählung und ihren Erfolg außerordentlich nützliche Instrument. Kurioserweise ist es jedoch nicht 41 | Vgl. Vogl 1991, 195. 42 | Im Zusammenhang mit Detektiverzählungen, insbesondere mit Sherlock Holmes, gewinnen im Englischen die clues Bedeutung, während für Wissenschaftler wie Guiseppe Longo die traces im Vordergrund stehen. Bei traces handelt es sich einerseits um physische Spuren im Sinne von Überresten, also messbaren Spuren, die enger mit der Jagd assoziiert sind als die intellektueller konnotierten clues, die nicht notwendig physischen Hinweise, die enger mit Ideen (I have no clue) verknüpft werden und als Anhaltspunkte oder Spur zur Aufklärung eines Rätsels dienen. Das deutsche Wort ›Spur‹ enthält interessanterweise beide Konnotationen. Für die Polizeiarbeit, das zeigt Reichertz, sind beide Bedeutungsebenen der Spur unabdingbar. 43 | Vgl. Vogl 1991, 194; Ginzburg 2011, 43-46.

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die idealtypische Anwendung einer für die Leser des Textes nachvollziehbaren Spurenerzählung, die dem Holmes-Paradigma zugrunde liegt, sondern ihr Gegenteil. Bei genauerer Untersuchung führen nicht nur viele der Spuren ins Leere, einige der von Holmes bestimmten Referenten erweisen sich schlicht als falsch.44 Warum aber wird dadurch weder der Erzählfluss eingeschränkt noch der Erfolg der Erzählungen gebremst? Schließlich könnte man erwarten, dass die Leser in den über 100 Jahren seit seiner Erfindung so viel mehr Weltwissen besitzen, dass sie Holmes’ Fehleinschätzungen erkennen oder ihn als Schwindler entlarven. Stattdessen erlebt die Figur derzeit ein Revival.45 Der Erfolg der Erzählungen kann demnach nicht auf dem reinen Einsatz beziehungsweise der Sichtbarmachung von Spuren beruhen. Vielmehr dienen sie der Steigerung der Attraktivität der Figur: »Clues begin as attributes of the omniscient detective, […] and then turn into details open to the rational scrutiny of all. But if they are the former, they cannot be the latter: Holmes as Superman needs unintelligible clues to prove his superiority; decodable clues create a potential parity between him and the reader. The two uses are incompatible: they may coexist for a while, but in the long run they exclude each other. If Conan Doyle keeps ›losing‹ clues, then, it’s because part of him wants to lose them: they threaten Holmes’s legend. He must choose, and he chooses Holmes« (Moretti 2000, 216).

Die Beziehung zwischen Spur und Detektiv ist in den Sherlock-Holmes-Erzählungen vollkommen exklusiv. Einzig Holmes kann anhand dieser Spuren die Lösung des Rätsels finden, das den Detektionsprozess auslöst. Im Zentrum der Erzählung steht also weniger die Lösung des Falls als der auf Holmes konzentrierte Prozess der Aufklärung selbst. Die Exklusivität der Beziehung bezeichnet sowohl ihre Ausschließlichkeit als auch ihre begehrenswerte Besonderheit. »Holmes’s Legend«, wie Moretti es nennt, lebt davon, eben nicht nachvollziehbar zu sein und sich dennoch auf die (hyper-)rationale Natur seines Verfahrens zu berufen. Der Erfolg der Strategie ergibt sich also nicht aus der Imitation eines polizeilichen Verfahrens, sondern aus der Konfrontation der Arbeit des Detektivs mit den gewöhnlichen Techniken der Verbrechensbekämpfung. Die Kriminalerzählung gründet in ihrer ursprünglichen Gestalt auf der Gegenüberstellung der Figur des Detektivs und den Vertretern der staatlichen Institutionen. »Diese Unterscheidung tritt noch stärker hervor, wenn der Detektiv 44 | Moretti verweist als typisches Beispiel für diese Feststellung auf die Erzählung »The Adventure of the Speckled Band«, in der die zur Lösung der mysteriösen Morde führenden Erkenntnisse über Schlangen größtenteils frei erfunden sind (vgl. Moretti 2000, 215). 45 | Vgl. Nitzke 2014, 194-196.

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wie in den meisten Fällen seiner Arbeit als Privatperson oder sogar als bloßer Amateur nachgeht« (Boltanski 2013, 87). Die Untersuchung dieser Trennung führt, so Boltanski, bei vielen dazu, eine kategoriale Unterscheidung zwischen den intellektuellen Fähigkeiten des Detektivs und den Praktiken des Polizisten zu treffen – »eine Unterscheidung, die offensichtlich die hierarchische Trennung zwischen (vornehmen) intellektuellen und (gemeinen) materiellen Aufgaben reproduziert. Zu Recht verblüfft hat diese Autoren also vor allem die Analogie zwischen den intellektuellen Methoden, die der Detektiv in einem Unternehmen anwendet, das wohlgemerkt eine Art Menschenjagd ist, und den intellektuellen Methoden, deren sich der Wissenschaftler bedient, um ein wissenschaftliches Rätsel zu lösen« (Boltanski 2013, 87).

Holmes’ Exzentrik, die bis heute große Faszination auf das Publikum ausübt, beschränkt sich nicht auf Äußerlichkeiten. Vielmehr entsteht sie aus der Eleganz der Methode, die es unnötig macht, sich die Finger an gewöhnlichen Fällen schmutzig zu machen. Bemerkenswerterweise entsteht Holmes’ abschätziger Blick auf die Arbeit der Staatsmacht offenbar aus den strukturellen Ähnlichkeiten zwischen seinem Verfahren und dem eines Wissenschaftlers. Die Konfrontation mit der Polizei ist demnach kein Wettbewerb, oder einer, den letztere nur verlieren könne, weil er weder mit den gleichen Mitteln noch auf dem gleichen Feld geführt wird. Conan Doyles Erzählungen folgen einer Art Ständeklausel: Besondere Verbrechen erfordern außergewöhnliche Ermittler. Der Polizist ist, weil er sich an die gesetzlichen Rahmenbedingungen halten muss und sein Handeln und Denken auf den routinemäßigen Umgang mit Alltagsverbrechen zugeschnitten ist, dem Detektiv gegenüber in solchen Fällen immer im Nachteil. Dadurch entsteht eine Situation, die einer ständigen Demütigung oder Herabsetzung institutionalisierter Macht gleichkommt. Die vorgeführte46 Überlegenheit begründet nicht nur sein Geschäftsmodell, sondern leitet aus der Hierarchie der Detektionsmethoden – intellektuell versus praktisch – eine Hierarchisierung der Akteure in Hinblick auf die Verfügbarkeit des Rätsels und seiner Lösung ab. Die oberste Stufe nimmt selbstverständlich Holmes selbst ein, weil er Überblick und Autorität beanspruchen kann, ihm folgt nicht – und darin liegt die Demütigung – der Polizist als professioneller Ermittler, sondern der Leser. Ihm allein gewährt Holmes über die Figur des Dr. Watson Einblick in seine Kunst. Während dem Polizisten nichts bleibt als seine institutionell zugesicherte Aufgabe, die Festnahme durchzuführen, 46 | Es gehört zu den Merkmalen von Holmes, dass er ein Publikum fordert. Nicht zufällig ermuntert er seinen Assistenten Watson (und mit ihm den Leser) ständig dazu, eigene Schlussfolgerungen zu ziehen, nur um sie im selben Moment als vollkommen fehlgeleitet zu entlarven.

I.1 Spuren und Fakten

müssen seine Ermittlungen scheitern. Sein Scheitern steht metonymisch für das Scheitern des Staates am Außergewöhnlichen. Der Leser der Detektiverzählung wird peu à peu eingeweiht und so aus der Demütigung ausgenommen. Er wird im Gegensatz zum Polizisten nicht durch die Überlegenheit des Detektivs herabgesetzt, weil die Aufgabe der Ermittlung in der arbeitsteiligen Gesellschaft der Moderne nicht in den Bereich des Leser-Amateurs fällt, sondern in den der Polizei – der Detektiv füllt also eine Lücke und macht gut, woran der Staat respektive sein Vertreter scheitert. Das Holmes’sche Geschäftsmodell47 stellt des Weiteren sicher, dass Auftraggeber wie Publikum ihre Position als privilegiert empfinden und so geneigt sind, ihn ein weiteres Mal zu beschäftigen. Weil er aber eine Aufgabe erfüllt, die er gesellschaftlich gesehen nicht erfüllen müsste, kann er sie einerseits abseits institutioneller Regeln durchführen und andererseits als Spiel oder Zeitvertreib begreifen. Dadurch gewinnt er nicht nur Freiheit und Autorität, er wird souverän: »Die Figur des Detektivs [ist] souverän, weil es ihr vorbehalten ist, sich an die Stelle des Staates zu setzen, um das zu realisieren, was dem liberalen Staat in einer demokratisch-kapitalistischen Gesellschaft verwehrt ist, will er nicht seine eigene Widersprüchlichkeit offenlegen. […] Der Detektiv ist der Staat im alltäglichen Ausnahmezustand« (Boltanski 2013, 149).

Er muss sich nicht rechtfertigen, was ihn nicht nur von den Gesetzeshütern, sondern auch institutionell gebundenen Wissenschaftlern unterscheidet – für die Analyse des Tunguska-Diskurses ist dieser Umstand von entscheidender Bedeutung –, das heißt, seine Spuren beziehungsweise seine Lesart müssen gerade nicht nachvollziehbar sein. Gerade wegen dieser unkonventionellen Herangehensweise aber kann der souveräne Ermittler – und nur er – sich Rätseln widmen, also singulären Ereignissen, die es vermögen, das allgemeine Vertrauen in die Kohärenz der institutionell getragenen Wirklichkeit zu erschüttern. Der Inszenierung nach wäre Sherlock Holmes ein idealer Kandidat für die Aufklärung des Tunguska-Rätsels.48 Die Einzigartigkeit des Falls, die sämtliche eigentlich zuständigen Institutionen vor ein Rätsel stellt, dem mit üblichen Mitteln nicht beizukommen ist, bildet einen Grundpfeiler dieser Inszenierung; Holmes’ Position als »profes47 | Zum Geschäftsmodell des Detektivs vgl. Reiter 2008, 79. 48 | Es ist daher auch wenig überraschend, dass es ein Sherlock-Holmes-Pastiche, »The Adventure of the Russian Grave« (William Barton und Michael Capobianco) gibt, in dem Holmes’ Erzfeind Professor Moriarty das Tunguska-Ereignis aus astronomischen Beobachtungen vorhersagt und fingierte Spuren legt, die Holmes in einer Art posthumer Rache an den Explosionsort locken sollen.

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sional«,49 der sich zwischen verschiedenen Diskursen bewegen kann. Am Rande des Diskurses ist es ihm möglich, auch mit solchen Spuren umzugehen, an denen in diesem Fall nicht der Polizist, sondern der Wissenschaftler scheitern muss. Spuren also, die »zur Chiffre nicht für die Möglichkeit, sondern für die Unmöglichkeit von sicherem Wissen und definierter Erkenntnis [werden]« (Krämer 2007b, 157; Hervorhebung im Original). Holmes besitzt folgerichtig, anders als die Polizei, die nötige Qualifikation und Stellung, um sich »singular cases« (Reiter 2008, 78) zu widmen und, wichtiger noch, sie zu erkennen. »Die Eigentümlichkeiten heben sich vom Hintergrund der Normalität ab, und die darauf reagierenden Subjekte demonstrieren in ihrer Verunsicherung das, was man ihren gewöhnlichen Normalitätssinn nennen kann. […] Und über diesen Commonsense und den mit ihm einhergehenden Normalitätssinn weckt die Verunsicherung der gewöhnlichen und durch ihre begrenzten Aufgaben beschränkten Figuren das Interesse des Detektivs, wodurch seine unbegrenzte Begabung in Gang kommt, all jene Verkettungen zu rekonstruieren, die die Realität zusammenhalten. Darin besteht seine außergewöhnliche Intelligenz« (Boltanski 2013, 105; Hervorhebung im Original).

Neben der Spur ist es also der Rätselcharakter des Falls, der die Holmes-Figur auszeichnet. Die Singularität von Fall und Detektiv bedingen sich gegenseitig, denn die Rätselhaftigkeit des Falls ist mindestens ebenso sehr Eigenschaft des Ereignisses wie sie Ergebnis des Verhaltens des Detektivs ist. Der geniale Detektiv beansprucht den jeweiligen ›besonderen‹ Fall, indem er ihn mit seiner eigenen Eigentümlichkeit verknüpft. Darin ähnelt er entgegen dem Anschein eher einem Bühnenmagier, der seine Tricks für sich behält, als einem rational agierenden Gelehrten. Die Inszenierung von Einzigartigkeit beruht auf der Verbindung von Holmes’ überragenden intellektuellen Fähigkeiten mit seinem strategischen Witz.50 Dadurch gelingt es, seinen Status als Privatperson 49 | Das heißt, als jemand, der mit dieser Arbeit seinen Lebensunterhalt bestreitet. Was Paula Reiter in ihrer Analyse von Sherlock Holmes als eines solchen »professional« übersieht, ist, dass er das nur auf der eben genannten Ebene ist (vgl. Reiter 2008). Professionelle Detektive oder Ermittler sind, auch in der Literatur, diejenigen, die den staatlichen Institutionen zur Verbrechensbekämpfung (Polizei, Staatsanwaltschaft etc.) angehören. Diesen ›Profis‹ gegenüber ist er ebenso sehr Amateur, wie er gegenüber professionellen Wissenschaftlern ›Laie‹ ist. In beiden Fällen steht er am Rande der Institutionen, kann also nicht ihr Vertreter sein, auch wenn er sich ihrer Methoden bedient. Darüber hinaus ist die Profanität des Broterwerbs hinter der aufwendigen Inszenierung seiner Fähigkeiten zumindest stark verschleiert. 50 | »Da er das für die Untersuchung erforderliche Wissen meisterhaft beherrscht, ist der Detektiv eigentlich der Gelehrte par excellence. Dennoch wären ihm diese rein intellektuellen Fähigkeiten überhaupt nicht von Nutzen, wenn sie nicht mit anderen Fä-

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hervorzuheben und gleichzeitig klarzustellen, dass sein Metier nicht populär in dem Sinne ist, dass es jedem zugänglich wäre, sondern bewundert wird, weil es nicht (ohne Hilfe des Detektivs) erklärbar ist.51 Es sind die Akzeptanz und Inszenierung der Erschütterung, die das Sherlock-Holmes-Paradigma so wirkungsvoll machen. Was dem Laien als Mysterium gilt, erweist sich für den Detektiv als besonders knifflige intellektuelle Übung. Was sich demnach der Erklärung entzieht, ist nicht die Spur, sondern das Denken des Detektivs, weil er selbst es vor anderen im Dunkeln hält. Der Rest der Spur, ihr Rätselcharakter, bleibt im Kriminalroman so erhalten, weil sie sich vom aufgeklärten Rätsel auf den Detektiv überträgt. Mit jedem gelösten Rätsel wird die einmalige Kompetenz des Detektivs bestätigt, mit jedem weiteren aufs Neue herausgefordert. Die Wirklichkeit dieses Erzählmusters nutzt somit für ihre Legitimation Prozesse der Popularisierung genauso wie die Einführung eines Zweifels an der universalen Gültigkeit wissenschaftlicher Konzepte der Wirklichkeitswahrnehmung und -beschreibung, obwohl sie gleichzeitig auf diesen beruht. Nicht nur arbeitet der Detektiv implizit mit den Möglichkeiten unterschiedlicher Erklärungsmodelle, die bis zur Lösung des Falls gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Er kann zumindest auch die Möglichkeit eines Rätsels, das sich der Erklärung entzieht, akzeptieren, um sie dann umso spektakulärer zu entkräften.52 Die ursprüngliche Kriminalerzählung der Jahrhundertwende, so stellt Boltanski fest, ist konservativ. Sie lebt von der Inszenierung und Dramatisierung der Unsicherheit, die mit dem »neuen Zustand der sozialen und politischen Ordnung« einhergeht. Indem so die Möglichkeit der Rückkehr zur Ordnung demonstriert wird, geht die »im ersten Moment erschütterte Realität […] daraus gestärkt hervor. […] Vor allem aber der Detektiv zeigt durch seinen

higkeiten auf der Ebene der Entscheidung und der Strategie und schließlich einfach mit gesundem Menschenverstand einhergingen, die den Mann der Tat auszeichnen. Die Sherlock-Holmes-Geschichten sind voller Gelehrtenfiguren, die, weil sie allein über intellektuelle Fähigkeiten verfügen, die schlimmsten Fehler begehen. Die Verbindung beider Qualitäten erlaubt es dagegen dem Detektiv, so zu verfahren, dass die Ordnung in den beiden Hinsichten wiederhergestellt wird, die untrennbar voneinander sind: im Sinne der logischen und im Sinne der moralischen Ordnung« (Boltanski 2013, 118). 51 | »Demystification does not pay if yielded too preciptously. Detective fiction, like a professional, needs to preserve the mystery, revealing bits strategically. […] Holmes (and the detective format) aggravate [a] sense of incompetence by keeping all the Watsons blinded (often busy on red herrings), thus creating their own continuing demand« (Reiter 2008, 80-81). 52 | Eines der berühmtesten Beispiele für ein zunächst übersinnlich wirkendes Ereignis, das von Holmes mit allen Mitteln in die herrschende Ordnung reintegriert wird, findet sich im Roman The Hound of the Baskervilles.

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übermenschlichen Scharfsinn und Mut, dass die Ordnung trotz der Schwachstellen des Staates […] aufrechterhalten werden kann« (Boltanski 2013, 146-147). Das Prinzip der Nachvollziehbarkeit, nach dem sich wissenschaftliche Untersuchungen richten, ist nicht mit der Wirklichkeit des Kriminalromans vereinbar. Im Kriminalnarrativ wird die gestörte Ordnung durch die Rekonstruktion des ›wahren‹ Tathergangs und die Möglichkeit der Zuweisung von Schuld im kriminalistischen Sinne wiederhergestellt. Ginzburgs Spurenparadigma wird so in gewisser Weise verabsolutiert, weil es nicht ausreicht, die Spuren in eine plausible Erzählung einzubetten; diese muss außerdem an jeder Stelle mit physischen Referenten zu belegen sein. In dieses Schema kann und muss jede noch so unerwartete oder deplatziert erscheinende Spur53 in die neue Ordnung der Narration des Spurenlesens zu integrieren sein. Die Arbeit des Spurenlesens ist deswegen nur selten so elegant wie bei Arthur Conan Doyle, sondern kleinschrittig und frustrierend, weil sie vor allem Genauigkeit und Wiederholung erfordert.54 Es reicht nicht aus, die Spur zu erkennen, um die Tat oder eben ihre Ursache zu ermitteln, da die Ursache nicht in der Spur enthalten ist. »Die Spur zeigt in gewisser Weise die vergangene Tat an, aber sie zeigt sie nicht. Sie ist kein kleines Modell der Ereignisse, sie imitiert das Vergangene nicht. Sie steht zwischen den Ereignissen und der symbolischen Deutung: Sie gibt Anlass, aber auch […] Anhaltspunkte zur Deutung« (Reichertz 2007, 313; Hervorhebung im Original). Umso spannender wirkt dagegen die Inszenierung derer, die es Sherlock-Holmes-gleich vermögen, auf einen Blick die noch so entfernte Spur zu einer, wenn auch ungewöhnlichen, so doch plausiblen Lösung zusammenzuführen. Auf der anderen Seite gehört der Ausschluss jeder Form von Obskurantismus und Beliebigkeit zu den Prinzipien, die in der Moderne die professionelle Verbrechensbekämpfung und damit auch das Spurenlesen sowie die Anklage und Verurteilung der Täter leiten sollen. Standardisierung und Regulierung in Form von Handlungsanweisungen, Gesetzen und arbeitsteiligen Institutionen orientieren die Arbeit des Spurenlesens an Prinzipien wissenschaftlicher Verfahren, die sich besonders deutlich im »Übergang von Körperstrafen zur 53 | In der Polizeiarbeit lassen sich solche Spuren als Tatspuren, Tarnspuren, fingierte Spuren und Trugspuren in Gruppen unterteilen, die also gleich die Möglichkeit manipulierter oder fälschlicherweise als solcher erkannter Spuren enthalten (vgl. Reichertz 2007, 316). 54 | Dementsprechendes schließt Jo Reichertz auch auf (den wissenschaftlichen Anteil der) Polizeiarbeit: »Die Aufklärung von Straftaten ergibt sich also […] in der Regel nicht durch eine gute und gründliche ›Lektüre‹ von Spuren, auch nicht durch ein messerscharfes, an Detektivromanen geschliffenes Kalkül, sondern ist Ergebnis einer Kombination aus Erfahrung, gutem Gedächtnis und einer weiten und ›vorurteilsoffenen‹ Vorstellungskraft – gepaart mit viel Einsatz und Genauigkeit« (Reichertz 2007, 331).

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Internierung, vom Inquisitionsprozeß zum Indizienprozeß« (Vogl 1991, 194) zeigen und einen übergreifenden Rationalisierungs­prozess erkennbar werden lassen.55 »Dieser Entdramatisierung des Verbrechens stehen literarische Genres gegenüber – Kri­m inal- und Detektivgeschichte –, die der Sensation des exzentrischen Verbrechers ebenso nachhängen, wie dem Faszinosum des gerissenen und einzelgängerischen Detektivs, dabei eine strenge Theoretisierung ihres Gehalts anstreben und nicht zuletzt ein verändertes Bild narrativer Mimesis entwerfen.« (Vogl 1991, 194)

Die »strenge Theoretisierung [d]es Gehalts« in Anbindung an Verfahrensweisen der modernen (Human-)Wissenschaften – auch ein Verfahren der Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse – bildet also nur die eine Seite der literarischen Beschäftigung mit Verbrechen, Verbrechern und Spurenlesern. Während die Kausallogik des Plots rational und undramatisch bleibt, wird die Nüchternheit der Kriminalistik und Kriminologie von der narrativen Struktur der Texte konterkariert. Die Verbrecher-/Detektiv-Beziehung kann eben deshalb zu einem Faszinosum werden, weil ihr Verhältnis sich in der Erzählstruktur widerspiegelt. Detektiv und Verbrecher bedingen sich gegenseitig und sind durch die Spuren verbunden, die im Laufe der Erzählung auf doppelte Weise gelesen werden müssen. Zwischen Detektiv und Verbrecher – Jäger und Gejagtem – reproduziert sich das Verhältnis zwischen Detektiv und Rätsel insofern zugespitzt, als es der Verbrecher erlaubt, das sich in der Spur offenbarende Entzogene zu benennen. Beide Akteure sind über die Fähigkeit verbunden, die Lücken oder Schwachstellen der Realität zu erkennen und sich zunutze zu machen.56

55 | »Die Formierung dieser Wissenschaften [Kriminologie, Kriminalistik, SN] vollzieht sich nicht nur durch die Gründung und Organisation kriminalpolizeilicher Institute, durch enge Zusammenarbeit von Strafverfolgung und Ermittlungsbehörden, durch die gestärkte Position von Gutachtern und Sachverständigen bei Strafprozessen und durch die Ausbildung einer gesonderten Strafrechtswissenschaft, sondern auch in einem Konsortium der verschiedenen Humanwissenschaften (Medizin, Anthropologie, Soziologie, Psychologie), in denen sich die Systematisierung und Institutionalisierung des Wissens mit neuen Erkenntnisbereichen, Protokollweisen und Identifikationstechniken verbinden« (Vogl 1991, 194). 56 | »Der Detektiv […], da er dieselbe Intelligenz und dieselbe Perversität besitzt wie der große Kriminelle, weiß sich seinerseits so an die Schwachstellen und Ritzen der Realität anzuschmiegen, dass er deren Inkohärenzen nutzen kann, was womöglich ebenfalls ihre Inkonsistenz enthüllen könnte« (Boltanski 2013, 73).

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Die Produktion der Katastrophe »[…] Wirklichkeit, wie sie in der Kriminalliteratur erscheint, [ist] ins Stadium der Latenz eingetreten und erscheint als Effekt konsequenter Verschleierung und Verdunklung, als Geheimnis und heimlicher Sinn, der dem sichtbaren Faktum immer von neuem abgehorcht, abgewonnen und abgepreßt werden muß.« (Vogl 1991, 195)

Diese Wirklichkeit ist die Arbeitswirklichkeit des Amateurdetektivs und nicht die eines Wissenschaftlers, weil sie nicht in die Rahmenbedingungen wissenschaftlicher Arbeitsweisen, also z.B. in ein Labor, zu passen scheint. Sie ist aber dabei weniger unkontrollierbar, als bewusst unkontrolliert, weil die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, den Detektiv erst notwendig machen. Nicht nur, weil er sich der permanenten Gefahr aussetzt, selbst in die verbrecherische, potenziell gewalttätige Wirklichkeit57 auf der anderen Seite der Spur hineingezogen zu werden, sondern weil er von der Rätselhaftigkeit solcher Spuren abhängig ist. Während das Indizienparadigma das Spurenlesen als etwas versteht, das »zur praktischen oder theoretischen Handhabung von etwas [führt], das ohne das Verfolgen der Spur nicht zuhanden wäre [und] die Spur zu einem Instrument [wird], um Abwesendes in Anwesendes, Unverfügbares in Verfügbares, Unkenntnis in Wissen zu transformieren« (Krämer 2007b, 156), hinterlässt die literarische Spur des Kriminalromans immer einen Rest. Auch wenn sie also scheinbar rationalen Bedingungen gehorcht, bleibt ›etwas‹ an ihr rätselhaft, ja, muss rätselhaft bleiben, weil in der Kriminalerzählung der Zeitenbruch als Attribut der Spur so deutlich zutage tritt. »Jedes Ereignis dieser Wirklichkeit geschieht […] ungleichzeitig mit sich selbst und zu zwei verschiedenen Daten, an dem Datum, an dem es sich ereignete, und an dem Datum, an dem seine Wirklichkeit hervortreten wird. […] Diese Wirklichkeit ist ein Verweiszusammenhang, ein semiotischer Effekt und wirklich nur, indem sie sich konsequent verschweigt. Unter ihrer Oberfläche wartet immer eine wirklichere und authentischere Realität, deren Äußerungen eine mühsame und unnachgiebige Entzifferung verlangen« (Vogl 1991, 195).

Doch die Notwendigkeit, ein Rätsel ungelöst zu lassen, ist für den Wissenschaftler nicht im gleichen Sinne ein Problem wie für den Detektiv. Das Ziel der detektivischen Arbeit ist nämlich gleichzeitig ihre Bedingung: die erfolgreich kommunizierte Lösung eines Falles. Letztlich ist die Indexikalisierung der Spur nötig, um zu einem Ergebnis zu kommen. Was dem Detektiv und 57 | »Diese Wirklichkeit ist weder evident noch durchsichtig, sondern ein dichtes und undurchdringliches Gefüge aus Ereignissen, hinter denen immer etwas anderes geschieht […] und birgt die Gefahr systematischen Mißverstehens ebenso wie die jeden Augenblick gegenwärtige Möglichkeit, in offene Gewalt, Mord und Totschlag auszuarten.« (Vogl 1991, 195)

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damit dem Kriminalroman bleibt, ist deswegen nicht weniger faszinierend. Allein die Möglichkeit einer Alternative zu den herrschenden Praktiken und Überzeugungen und der Verdacht einer »wirklichere[n] und authentischere[n] Realität« (Vogl 1991, 195), die hinter den Dingen steht oder wenigstens stehen könnte, generiert genug Nachfrage, um die Existenz des Detektivs als literarische Figur und folglich die Existenz des Genres zu sichern.

Tungusk a -D e tek tive Das Paradigma des souveränen Detektivs, der sich wegen seiner hybriden Stellung zwischen den Welten und Wirklichkeiten bewegen und deswegen mehr sehen kann, eignet sich hervorragend zur Inszenierung einer antagonistischen Position gegenüber den etablierten Institutionen. Das Schema ist so fest im kulturellen Bewusstsein etabliert, dass es möglich ist, sich seiner zu bedienen, ohne explizit darauf Bezug zu nehmen. Erkennbar ist die Bezugnahme dennoch, weil die Zuständigkeitsbehauptung nicht nur ein Scheitern der eigentlich für die Erklärung zuständigen Institution voraussetzt, sondern zudem nach einer Beziehung von Ermittler und Rätsel verlangt, die eine gemeinsame, aber exklusive Wirklichkeit besitzt. Die überlegene Pose Holmes’ gegenüber den gewöhnlichen Spurenlesern wird, wenn auch meistens unzureichend, gerne kopiert, indem ein (dezidiert nicht metaphysischer) Zugriff auf verschleiertes Wissen konstatiert wird. Ausgangspunkt für die Fülle der Tunguska-Texte ist, wie bereits erläutert, die prekäre Spurenlage, die es schwierig macht, eine ununterbrochene und nachvollziehbare Kette von Referenzen zu entwickeln. Ohne diese und die weitreichende Anerkennung des jeweils von den vorhandenen Spuren abgeleiteten Ergebnisses kann keine Tatsache in Form einer Ursachenerklärung hergestellt werden. Eine Spur, der kein Verursacher und keine Ursache zugeordnet, die also nicht in eine Ordnung integriert werden kann, bleibt aber im modernen Verständnis eine Störung und damit eine ungelöste Aufgabe. Sie zeigt ein Versagen derer an, die mit der Aufklärung beziehungsweise dem Spurenlesen betraut waren, oder, und das ist die andere Seite der Spur, etwas, das sich der Erklärbarkeit grundsätzlich entzieht. Wie im Falle des TunguskaEreignisses ist dann zwar etabliert, dass es Spuren von ›etwas‹ gibt, aber die Ursache scheint sich dem Verstehen umso stärker zu entziehen, je mehr man nach ihr fragt: »Einsehbar und erkennbar ist [dann] lediglich der Entzug von etwas, das Verschwun­ densein, die Lücke und das Fehlen: Eine negative Ontologie zeichnet sich hier ab. Das, was in der Spur sich zeigt, kann somit nicht mehr indexikalisch kolonisiert werden, fügt

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Die Produktion der Katastrophe sich keinem semiologischen Schema und verweigert sich einer Bezeichnungsfunktion« (Krämer 2007b, 167).

Die Spuren gehorchen dem Indizienparadigma nur dann, wenn sich der Spurenleser dem Zeitregime des Fortschritts unterordnet, das besagt, dass eine Spur nur immer noch nicht integriert werden kann. Gerade Spuren, die sich der direkten Deutung und Bezeichnung (wenn auch nur scheinbar oder durch bewusste Inszenierung des Textes) entziehen, stellen für den Tunguska-Ermittler eine Herausforderung dar. Dementsprechend wird in den alternativen Repräsenta­tionen des Tunguska-Ereignisses viel Energie darauf verwandt, die Spuren enigmatisch erscheinen zu lassen, wobei es eben nur scheint als verweigerten sie sich der Deutung. Dieser Eindruck entsteht, weil sie innerhalb dieser Betrachtung den Rahmenbedingungen des wissenschaftlichen Denkens entzogen und in ein Paradigma integriert werden, das an das Rätselnarrativ der Kriminalerzählung angelehnt ist. Es handelt sich in solchen Darstellungen meist um den Versuch, die Aufklärung des ›Falles‹ schwieriger erscheinen zu lassen, um damit denjenigen, der die Lösung schließlich entgegen aller Wahrscheinlichkeit findet, umso genialer oder heldenhafter zu machen. Die Wirklichkeit der außerwissenschaftlichen Tunguska-Texte entspricht der des Kriminalromans zu großen Teilen. Auch sie befindet sich in einem Stadium der Latenz, das heißt, hinter jedem sichtbaren Faktum befindet sich eine authentischere Wirklichkeit, die es zu enthüllen gilt. Um die Wirklichkeit aus dem Stadium der Latenz in eines der Transparenz zu überführen und das epistemologische Problem, das eine nicht indexikalisch kolonisierbare Spur beziehungsweise ein unerklärbares Ereignis darstellt, zu lösen, bedarf es nicht nur einigen Aufwandes, sondern in der Logik des Kriminalromans auch einer besonderen Begabung, eines außergewöhnlich scharfen Verstandes und einer mentalen Disposition zur Offenheit. Diese erlaubt es dann, so die Suggestion, zu erkennen, was andere (»die Wissenschaftler«) nicht erkennen können. Tunguska, so die Behauptung, die hinter dieser Inszenierung steckt, ist ein Fall für Detektive, denn: »Die Arbeit des Detektivs besteht darin, den gleitenden Übergang von der Eigentümlichkeit zum Verbrechen in Gedanken zu antizipieren, der in der Abfolge der geschilderten Ereignisse dann auch tatsächlich eintritt. Jede Eigentümlichkeit wird also als potenzielles Verbrechen dargestellt, das heißt nicht allein als Anzeichen oder Symptom eines Verbrechens, sondern bereits in sich als so etwas wie ein Verbrechen« (Boltanski 2013, 104).

Das Motiv eines hochbegabten Detektivs findet sich häufig in den Publikationen, deren Legitimität nicht durch wissenschaftliche Institutionen, Titel, anerkannte Journals, Konferenzen etc. gesichert ist. Die Inszenierung findet dabei auf unterschiedlichen Ebenen statt. Meistens ist es Leonid Kulik, der

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als unerschrockener Pionier inszeniert wird. Dabei tritt er allerdings eher als beinahe primitiver Abenteurer denn als überlegener Sherlock Holmes auf. Dagegen werden die Vertreter der modernen Forschung als methodisch versierte und technisch gut ausgerüstete Experten dargestellt, deren Fähigkeiten dennoch nicht ausreichen, das Tunguska-Ereignis zu erklären. »[Members of early expeditions, SN] were like detectives working with primitive tools to solve a crime that was beyond their understanding; yet even the most recent expeditions, large teams of experts aided by the most sophisticated detection equipment, have been baffled by the complexity of the evidence and the tremendous magnitude of the blast.« (Baxter/Atkins 1976, 11)

Die Komplexität der Beweislage und die Wirkungskraft der Explosion erscheinen hier selbst für die technisch hochgerüsteten Experten zu unbegreiflich, die Aufklärung des Falles im Rahmen wissen­schaftlich etablierter Arbeitsweisen als kaum noch vorstellbar – eine andere Herangehensweise muss also her. Während die nüchterne Einschätzung nach dem internationalen Workshop »Tunguska 96« lautet: »The workshop has not definitely clarified the true nature of the TCB«, erscheint das Tunguska-Ereignis in populärwissenschaftlichen Texten wie dem von Baxter/Atkins, wie ein Wesen, das sich nicht nur dem Verstehen entzieht, sondern sirenenhaft kluge Köpfe zu den abwegigsten Theorien verleitet. Selbst in einer Publikation, die sich wie Surendra Vermas The Tunguska Fireball dezidiert den Regeln des wissenschaftlichen Diskurses verpflichtet, heißt es schon im Titel: »One of the Great Mysteries of the 20th Century«. Verma selbst, so verspricht es der Klappentext, »tells the story of the scientists and charlatans alike who have been seduced by it. Playing the detective he takes an exhilarating ride around one of science’s great mysteries – and ends by pointing a finger at a prime suspect« (Verma 2005). Um den besonderen Mut zu erfassen, der der Inszenierung nach vonnöten ist, um sich den etablierten Wissenschaften zu stellen, braucht es aber jene, die wiederum geeignet sind, den Mutigen zu erkennen. Der- oder diejenige, die in der Lage ist, den ›besonderen‹ Ermittler zu erkennen, nimmt oft nicht selbst die Rolle des überlegenen Detektivs ein, sondern, dem Sherlock-Holmes-Paradigma entsprechend, eher die eines Watson, das heißt eines informierten, jedoch nicht wie der Meister selbst privilegierten Laien. Es bedarf einer solchen Figur, denn der Mut und die einzigartigen Fähigkeiten dessen, der fähig ist, das Rätsel zu lösen, sind nicht offensichtlich. Institutionelle Qualifikationen sind, nicht nur in der Darstellung Angelika Jubelts, anscheinend eher hinderlich, um der Besonderheit des Ereignisses gerecht zu werden. »Vor dem Institut begrüßte uns ein kleiner, etwa 1,60 m großer und um die 40 Jahre alter Mann [Juri Lawbin, SN], dem man seinen Mut und seine Energie, gegen die gängigen

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Die Produktion der Katastrophe Theorien des Tunguskaphänomens anzutreten, nicht sofort ansieht. […] Welchen Beruf er einmal gelernt oder studiert hat, ist mir nicht bekannt. […] Sicher ist gerade für ihn die Möglichkeit einer offenen Herangehensweise bei der Deutung des Tunguskaphänomens dadurch erst möglich. Als Physiker, Geologe oder Astronom müsste er sich den Doktrin der konservativen Wissenschaftlern beugen [sic!]« (Jubelt 2011, 89-90).

Nur jemand, der keiner einzelnen wissenschaftlichen Disziplin zugehörig ist, besitzt also in Jubelts Darstellung die Freiheit und den Überblick über Fachgrenzen hinweg zu ermitteln, und zwar indem er die Geschichte aller an diesem Rätsel beteiligten Akteure als Spuren erkennt, liest und schließlich in einer Erzählung zusammenführt. Dennoch lässt sich auch hier eine Gemeinsamkeit mit den Wissenschaftlern nicht übersehen. Obwohl das Außenseitertum des »Querdenker[s] und Hobbyforscher[s] Juri Lawbin« (Jubelt 2011, 9) als konstitutiv für die Fähigkeit einer »offenen Herangehensweise« vorgestellt wird, bedarf er dennoch der Unterstützung und Anerkennung einer größeren Gemeinde, um seinen Theorien Geltung zu verleihen. Um diese außerhalb der Wissenschaften zu gewinnen, sind, so die Suggestion, auch außerwissenschaftliche Kommunikationsorgane notwendig, deren Autorinnen oder Autoren ihre Nähe zum Beschriebenen allerdings unterschiedlich einordnen. Während Verma als Wissenschaftsjournalist mit Texten arbeitet, betonen z.B. Krassa und Jubelt ihr Engagement auf Konferenzen oder ihre Augenzeugenschaft. So verweist z.B. Angelika Jubelt auf ihre (nachträgliche) Augenzeugenschaft, wenn sie die Anekdote, dass die Tunguska-Explosion sogar einen Zug der Transsibirischen Eisenbahn zum Entgleisen gebracht haben soll, als Trugschluss entlarven will, ohne dabei jedoch Gründe anzugeben, die über ihr Sehen hinaus als Beleg gelten könnten: »Er [der Lokführer der Transsibirischen Eisenbahn] vermutete ein Erdbeben. In den heutigen Berichten wird dieses Ereignis häufig mit den Explosionen im rund 700 km entfernten Tunguskagebiet erklärt. Dass es jedoch nicht so war, konnte ich selbst vor Ort sehen« (Jubelt 2011, 38). Diese Episode ist auch insofern interessant, als sie angeblich Leonid Kulik erst auf die ›Spur‹ des vermeintlichen Meteoriten brachte.58 Besonders in der Beschreibung und Bewertung der Spurenlage unterscheiden sich Texte der »cultural science« und der »professional science« (Cordle 1999, 66) eindeutig voneinander, obwohl sie sich auf dieselben Quellen und Datenerhebungen stützen (müssen). Schon die Gewichtung der Spuren zeigt die unterschiedliche Herangehensweise deutlich: So unterscheidet Guiseppe Longo, der die Expeditionen »Tunguska 91« und »Tunguska 99« leitete, die Gesamtheit der »Known Data« (Longo 2007, 309) in (1) »Objective Data« (ebd., 309-314) wie seismische und barometrische Aufzeich­nun­gen, Berichte über die hellen Nächte, Aufzeichnungen von der Zerstörung des Waldes und die 58 | Vgl. Verma 2005, 32-33.

I.1 Spuren und Fakten

Tatsache, dass weder Krater noch Fragmente eines Meteoriten gefunden wurden, und (2) »Eyewittnesses Testimonies« (ebd., 314-316), welche wiederum nach Zeitpunkt und Methode der Aufzeichnung gestaffelt werden. Erst aus diesen unterschiedlich zu bewertenden Datenmengen kann abgeleitet werden (»Parameters Deduced« [ebd., 316-320]), wann (»Explosion Time«), wo (»Epicenter«, »Height of the Explosion«) und mit welcher Energie (»Energy Emitted«) die Explosion überhaupt stattgefunden hat. Verma, der hier bewusst (ironisch) mit den Anlehnungen an die Kriminalliteratur spielt, unterscheidet in seinem letzten Kapitel »Whodunit?« dagegen zwischen »seven basic sources of information on the event« (Verma 2005, 241),59 die in anderer Reihenfolge als bei Longo und nicht explizit in Hinblick auf ihre Aussagekraft hierarchisiert werden.60 Anders als Longo bewertet Verma die Spuren nicht in Hinblick auf ihre ›Objektivität‹, sondern auf ihren Status beziehungsweise ihre wissenschaftliche Anerkennung als wahrscheinlich. Unter der Ankündigung »Almost everyone agrees on the following points« listet Verma Umstände auf, die bei Longo zu den abgeleiteten Daten gehören, also zu Daten zweiter Stufe (Zeitpunkt, Epizentrum, Höhe der Explosion etc.), und innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft keineswegs so eindeutig anerkannt sind, wie der Wissenschaftsjournalist behauptet.61 Die »controversial points« (ebd., 243) beziehen sich hauptsächlich auf Unstimmigkeiten, die sich aus Zeugenaussagen ergeben. Diese Unstimmigkeiten sind es schließlich, auf die sich die Erklärungsansätze stützen, die auch Verma als »bordering on the ridiculous« (ebd., 244) abtut. Vermas Liste enthält deutlich mehr Punkte, die ›beinahe allgemein anerkannt‹ seien als kontroverse, womit er die Möglichkeit einer greif baren und vor allem wissenschaftlich abgesicherten Lösung nahelegt. Die Antwort auf die Frage ›Whodunit?‹ bleibt in The Tunguska Fireball dennoch offen, um der Gefahr zu entgehen, sich selbst ins Abseits der »Phantasten«62 zu manövrie59 | »There are seven basic sources of information on the event: (1) the devastated forest and its pattern of damage (first observed nineteen years after the event); (2) records of atmospheric and seismic waves at the time of the event; (3) records of magnetic storms at the time of the event; (4) bright nights observed in parts of Europe and Asia after the event; (5) anomalous atmospheric phenomena observed after the event; (6) study of microscopic particles found at the explosion site and in Antarctica; and (7) eyewitness accounts (first collected thirteen years after the event).« (Verma 2005, 241) 60 | Wenn auch die Angabe, ob die Information während, kurz oder erst Jahre nach dem Ereignis aufgezeichnet wurde, eine solche Ordnung zumindest andeutet. 61 | Auch wenn es sich z.B. bei der Bestimmung des Explosionszeitpunktes nur um wenige Sekunden Unterschied handelt, so ist die bei Verma suggerierte, wenn auch minimal eingeschränkte, Einigkeit doch ungenau (vgl. Grafik in Longo 2007, 318). 62 | Vgl. z.B. Krassa 1983, 8.

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ren. Seine Strategie die »usual suspects« (ebd., 244), »witnesses« (ebd., 246) und »expert’s testimonies« (ebd., 249) mit ironischer Distanz zu präsentieren,63 erlaubt ihm, seine Überblicksposition beizubehalten und das ›Urteil‹ seinen Lesern zu überlassen. Nicht zuletzt durch seinen abschließenden Rat, »You be the judge and the jury, but please do not condemn any theory to death« (ebd., 250), kann er das Einzigartige des Ereignisses, seine gleichzeitige Über- und Unerklärtheit beibehalten (also auch den Anreiz, sein Buch und weitere Bücher zu diesem Thema zu lesen), ohne ins Fantastische abzudriften. Das klingt zunächst enttäuschend, besonders wenn man den Klappentext und somit die Verlagswerbung für das Buch in Betracht zieht, die ja zumindest verspricht, dass Verma, »playing the detective«, mit dem Finger auf einen »prime suspect« zeigen würde. Verma überlässt jedoch in der gleichen Bewegung, mit der er den ›Hauptverdächtigen‹ – die wahrscheinlichste Lösung – in den Fokus rückt, das ›Urteil‹ seinen Lesern. So gelingt es ihm, das gesamte Projekt und seinen (populär-)wissenschaftlichen Wert vom Ende des Buches her zu legitimieren, indem er seine Leser dazu ermächtigt, ihr eigenes Urteil zu fällen. Er kann das tun, weil sie nach der Lektüre seines Textes selbst informiert genug sein müssten, um den Fall überblicken zu können. Damit nimmt er die Sherlock-Holmes-Perspektive zurück beziehungsweise öffnet das Feld zu einem gewissen Grad, um das Risiko gering zu halten, selbst mit dem Vorwurf der Albernheit konfrontiert zu werden, und dennoch von der Anziehungskraft des Rätselnarrativs zu profitieren. Interessant ist zudem, dass er sich mit seinem abschließenden Rat zum zweiten Mal64 auf Lewis Carrols Alice-Bücher bezieht: »›I’ll be judge, I’ll be jury’ said cunning old Fury (in Alice’s Adventures in Wonderland). ›I’ll try the whole cause, and condemn you to death‹« (ebd., 250). Er untermauert damit einerseits die ironisch-distanzierte Dimension seines Fazits und bindet andererseits den gesamten Fall Tunguska, sowohl plausible als auch fantastische Erklärungen, an die verrückte und vor allem fiktionale Welt des Wonderlands.

63 | Jede der von ihm aufgelisteten Ursachen »in the witness box« löst die vorherige ab, wobei auch hier deutlich Kometen- und Asteroiden-Hypothese glaubwürdiger erscheinen als beispielsweise Antimaterie-, Plasmoid- oder Raumschiffthesen: »It has to be an asteroid, a stony asteroid […] No fragments, no asteroids. It was certainly a comet, a ball of ice and dust. […] Why not try the real thing? An Alien Spaceship. Was it on its way to the Star Wars studios and got caught in a spacetime vortex which spewed it onto the set of The X Files: Tunguska? A laser beam is a better bet. A sharp laser beam. You are not alone, earthlings. Read your next postcard from space carefully, otherwise you’ll be zapped by a death ray.« (Verma 2005, 247-249; Hervorhebung im Original). 64 | Through the Looking Glass dient als Illustration für die »mirror world« (Verma 2005, 145).

I.1 Spuren und Fakten

Die Erfahrung von Unwissen und Unverständnis gegenüber den immer komplexer werdenden Forschungsgegenständen der Naturwissenschaften, insbesondere der Physik, wird mit der Aufgabe, so zumindest suggeriert es der Text, ein eigenes Urteil zu fällen, aufgehoben. Mehr noch, sie wird verwandelt in eine Autonomisierung beziehungsweise Ermächtigung des vormals unwissenden und somit auch nicht handlungsberechtigten, abhängigen Laien in einen Experten. Dieser Expertenstatus ist allerdings ein Effekt des Textes. Die Strategien, mit denen Verma sich als Autor und seinen Text als Produkt glaubwürdig erscheinen lässt, ersetzen weder Ausbildung noch weitere Forschung, könnten diesen Eindruck, daher die Skepsis, jedoch leicht erwecken. Die humorvollen und an literarische Vorbilder angelehnten Kapitelüberschriften65 dienen in Verbindung mit dem anekdotischen Stil und einigen illustrativen Abbildungen, besonders zu Beginn, dazu, den trockenen wissenschaftlichen Gegenstand unterhaltsam aufzubereiten. Der Auf bau der einzelnen Kapitel folgt einem geradezu didaktischen Muster: Jedes beginnt mit einem Aufmacher, oft in Form einer wissenschaftlich relevanten Anekdote66, klärt dann zunächst die zentralen Begriffe des Kapitels67 – beides häufig kombiniert in einem Exkurs über die Entdeckungsgeschichte beziehungsweise mit den Gegenständen verknüpfte Entdeckergeschichte –, bis schließlich der Zusammenhang mit dem Tunguska-Ereignis hergestellt und diskutiert wird. Die Distanz zu seinem Gegenstand, die sich in einem vielfach neutral berichtenden, teilweise auch anekdotischen Stil ausdrückt und durch ironische Brechungen68 eher verstärkt wird, vermittelt Überblick und lässt die Dinge anscheinend ›für sich selbst sprechen‹. Eine »Timeline« der Tunguska-Forschung am Ende des Buches (ebd., 251-257) dient der Orientierung und Übersichtlichkeit des Textes. Ein Literaturverzeichnis, das die Quellen dieser Darstellung und gleichzeitig Empfehlungen für »further reading« darstellen, schließt den Band der Konvention gemäß ab. The Tunguska Fireball imitiert also ein idealtypisches Bild wissenschaftlicher Arbeit, während gleichzeitig der ›Unterhaltungswert‹ sichergestellt wird. Angestrebte Popularität und Wissenschaft sollen sich dabei die Waage halten, wenn dieses Verhältnis auch, das sollte deutlich geworden sein, eher in Richtung Popularität beziehungsweise Unterhaltung kippt, ohne

65 | Z.B. »Fire in the Sky«, »The Tale of a Fiery Comet«, »Asteroids Behaving Badly«, »A Blast from Below«, »A Fireball in the Dinosaur’s Sky« (vgl. Verma 2005, v) 66 | So trägt das zweite Kapitel (»The Case of a Missing Meteorite«) einen eindeutig an den Sherlock-Holmes-Erzählungen orientierten Titel (vgl. ebd., 19). 67 | So wird zu Beginn des zweiten Kapitels der Anekdote folgend in einem Unterkapitel (»A lesson in meteoritics«) anschaulich der Unterschied zwischen Meteoren, Meteoriten und Asteroiden erklärt (vgl. ebd., 22-23). 68 | Vgl. insbes. ebd., 244-250.

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dabei jedoch den Anspruch aufzugeben, anerkannte (wissenschaftliche) Fakten zu vermitteln. Autoren wie Felix Siegel,69 John Baxter und Thomas Atkins, Peter Krassa und Angelika Jubelt, alle Vertreter der einen oder anderen Version der Raumschiffthese, verzichten auf eine explizite Auflistung von Spuren und Indizien und somit auch auf eine nachvollziehbare Bewertung derselben. Zwar enthält z.B. Jubelts Buch einen gesonderten (Farb-)Abbildungsteil (ebd., 48-53), der Objekte und Fotos von Lawbin zeigt, welche ihrer Meinung nach eindeutig die Präsenz außerirdischer Wesen belegen. Diese sind aber in keiner Weise systematisch organisiert oder nachvollziehbar mit dem Text verbunden. Auch die Abbildungen, welche in den Text integriert sind, erfüllen höchstens illustrative Funktion und folgen noch dazu einem eher naiven Dokumentationsverständnis, da sie den Nachweis über den berechtigten Anspruch auf Jubelts Status als Augenzeugin von Lawbins Forschungen bekräftigen sollen. Die Möglichkeit der Manipulation solcher Bilder oder der Irreführung der Laien-Autorin selbst wird nicht reflektiert. Vielmehr verlaufen die Argumentationslinien dieser Texte entlang personalisierter Erzählungen über die ›Pioniere‹ der TunguskaForschung, in die sie ihre eigenen Erfahrungen, Erlebnisse und Selbstinszenierungen auf unterschiedliche Weise integrieren.70 Eine nachvollziehbare Kette von Indizien beziehungsweise eine reversible Spur, die Nachvollziehbarkeit garantiert, kann so nicht zustande kommen. Sie haben gemeinsam, dass sie Zeugenaussagen, auch und zum Teil gerade wenn sie sich widersprechen, und außerinstitutionellen Forschungen ein viel höheres Gewicht in der Argumentation verleihen, als das bei Longo, Verma und anderen Autoren der Fall ist. Gleichwohl sind gerade hier Legitimationstechniken zu beobachten, die den (zugewiesenen) Wert der erkannten Spuren betonen sowie die eigenen Fähigkeiten diese objektiven und subjektiven Spuren zu lesen und daraus eine Erzählung abzuleiten, bekräftigen. Der Vorwurf, besonders die indigenen Bewohner der Region nicht genug zu Wort kommen zu lassen, sondern sich nur auf physische Spuren zu stützen, ist ein zentrales Argument bei Jubelt, Krassa und Siegel. Darin steckt der Vorwurf der Unmenschlichkeit des wissenschaftlichen Rationalitätsbegriffs und der diesem inhärenten Herabsetzung jeder Form nicht-wissenschaftlichen Wissens. Dieser Vorwurf weist Ähnlichkeit mit der Kritik an der Unterscheidung zwischen »Modernen« und

69 | Die Schreibweise wird hier im Allgemeinen der Transkription in Felix Siegel (1997) entnommen. Bei Baxter/Atkins 1976 und Krassa 1995 heißt es hingegen ›Zigel‹, bei Krassa 1983 wiederum ›Sigel‹. 70 | Baxter/Atkins bilden dabei eine Ausnahme, da sie eine Position einnehmen, die eher der Vermas gleicht und auf die Darstellung persönlicher Involvierung in die Forschung am Tunguska-Ereignis verzichtet.

I.1 Spuren und Fakten

»Primitiven«, wie z.B. Latour sie äußert,71 auf und repräsentiert die Kehrseite der Hierarchisierung der eleganten intellektuellen gegenüber der praktischen Arbeit des Polizisten. Zwar wird auch hier kritisiert, dass durch den verächtlichen Umgang mit den subjektiven Spuren wichtige Informationen verloren gehen. Jedoch wird dabei meistens ignoriert, dass Auswertungen der Zeugenaussagen in der Tunguska-Forschung, z.B. für die Berechnung der Flugbahn des Himmelskörpers, unverzichtbar sind. Die Besonderheiten eines Wissens, das nicht der modernen Verfassung angehört, werden allerdings auch hier nicht gewürdigt. Vielmehr wird versucht, die ›Ureinwohner‹ in die moderne Ordnung zu integrieren, indem man ihren Aussagen Wahrheitsfähigkeit im modernen Sinne zuspricht. Im Kapitel »Ewenken. Die vergessenen Augenzeugen« etwa überlagert Jubelt die »vergessenen« 72 Zeugenaussagen mit ihrer respektive Lawbins Version der Ereignisse: »In der Religion der Ewenken ist Platz für verschiedene Gottheiten, so auch für Agdy, den Herrn des Donners, der für das Tunguskaereignis verantwortlich sein soll. […] Die Darstellung der Gottheit lässt den Schluss zu, sie haben bei der Beschreibung des selben [sic!] ein künstliches Flugobjekt/Raumschiff gesehen. Die Ewenken, sie leben mit ihrer Natur im Einklang, können ein Gewitter, Sturm, Blitz oder Wolkenformationen sicher von einem Gott in Gestalt eines eisernen Vogels unterscheiden. Die Bezeichnungen, wie eiserner Körper, welcher beim Flug Donner erschallen lässt (Antrieb) und die funkelnden Augen (beleuchtete Fenster), können nicht nur durch Beobachtung von einem Gewitter entstanden sein« (Jubelt 2011, 67).

Die Überlagerung der beiden Versionen passt vielleicht schon zu gut zusammen. Die mythisch geprägten Bilder werden hier direkt in eine technologische, in diesem Fall sogar außerirdische Erklärung übersetzt. Das Wissen der Ewenken wird dabei ebenso »vergessen«, wie Jubelt es den Wissenschaftlern vorwirft. In diesem Sinne kündigt Felix Siegel, etwas vorsichtiger, im Vorwort zu Das Tunguska-Phänomen aus dem Jahr 1975 an: »Vor uns liegt die kurze Geschichte seiner bisherigen Erforschung. Es ist eine dokumentarische Ge71 | Primitiv sind laut Latour in der modernen Verfassung all diejenigen, für die die Trennung zwischen Natur und Gesellschaft nicht gilt, sie gehören zu den zurückgelassenen »Verlierern der Modernisierung« (Latour 2008, 17). 72 | Nicht nur Vasilyev und Longo können als Beleg dafür, dass die Augenzeugenaussagen keinesfalls »vergessen« wurden, herangezogen werden. Vielmehr bilden ihre Aussagen noch immer die Grundlage für die Berechnung der Flugbahn des Himmelskörpers – vielfach wurden sie nur durch neuere Messmethoden oder Berechnungen obsolet (vgl. Longo 2007, 314-316; Vasilyev 1998, 132).

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schichte. Denn was kann überzeugender sein, als echte Dokumente?« (Siegel 1997, 12). Er bezieht sich also nicht in erster Linie auf physische, ›objektive‹ Spuren vor Ort, sondern auf »echte Dokumente«, das heißt zu großen Teilen auf Zeugenaussagen, die auch bei Longo erwähnt werden, und frühe Überlegungen und Untersuchungen zur Ursache des Tunguska-Ereignisses. Damit postuliert er wie Verma eine Überblicksposition, die es ermöglichen soll, nicht nur Spuren zu bewerten, sondern die bereits vorhandenen Lesarten gegeneinander abzuwägen. Zu diesen »echten Dokumenten« gehören allerdings auch fiktionale Erzählungen, von ihm sogenannte »wissenschaftlich-phantastische Beschrei­bungen« (ebd.). Alexander Kasanzews Erzählung »Die Explosion« (1946) bildet den Ausgangspunkt seiner Hypothese und begründet sein Engagement, nach einer Erklärung für die sibirische Explosion zu suchen. Kasanzews »erzählte Hypothese« geht davon aus, dass es eine verunglückte Marsmission war, die eine atomare Explosion verursachte. Siegel beschreibt, wie er Kasanzew half, diese zunächst von niemandem außer dem Schriftsteller selbst ernstgenommene Idee zu einem Vortrag für das Moskauer Planetarium umzuarbeiten, der das Ziel hatte, »die Phantasie für die Wissenschaft zu nutzen« (Siegel 1997, 66). Die zeitgenössischen Neuerungen in der Meteoritenforschung führten dazu, dass »fast nach jeder Lesung ›Das Rätsel des Tunguska-Meteoriten‹ […] im Vorlesungssaal eine Diskussion [entbrannte]« (ebd., 70) und sich von dort aus allmählich in die wissenschaftlichen Auditorien verbreitet habe. Angesichts der Tatsache, dass sich Baxter/Atkins, Krassa und Jubelt so wie einige andere in ihren Argumentationen auf Siegels Überlegungen berufen, erscheint es besonders interessant, dass ein fiktionaler, »wissenschaftlich-phantastischer« Text ins Zentrum einer »dokumentarischen Geschichte« gestellt wird. Die Popularisierung des Tunguska-Wissens von unten nach oben wird nirgendwo sonst so explizit dargestellt. Die Nacherzählung seiner allmählichen Überzeugung, die durch die Zusammenarbeit mit Kasanzew zustande kam, sowie der Fortschritt der Tunguska-Forschung, die ihm bis zu einem gewissen Punkt (dahingehend, dass die Explosion nicht auf dem Boden, sondern in der Luft stattgefunden habe 73 recht gab oder geben mussten, schmälert seinen Abstand zum Geschehen. Das tut seiner Gewissheit allerdings keinen Abbruch. Vielmehr sieht er, und nicht zuletzt deswegen stützen sich auch die bereits genannten Texte von Angelika Jubelt und Peter Krassa auf ihn, seinen Anteil an der Tunguska-Forschung als Argument für seine Eignung als Spurenleser beziehungsweise zur Dokumentation der »nichtabgeschlossenen Untersuchung«. Die Bezeichnung »Dokumentation« suggeriert einen neutralen Standpunkt, welchen er allerdings durch seinen Einsatz für die »Nuklearhypothese« aufgibt, wenn auch nicht 73 | Vgl. Siegel 1997, 87.

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explizit, und sich damit angreif bar macht. Er unterstützt damit aber auch »das Bild eines unermüdlichen und nach neuen Erkenntnissen strebenden Wissenschaftlers, der trotz persönlicher Nachteile die Kraft und den Mut auf brachte, konsequent neue Wege zu gehen« (Siegel 1997, 9), das seine Herausgeber von ihm zeichnen. Die Selbst- und Fremdinszenierung Siegels in diesem Buch bildet einen zwar etwas anders gearteten, aber dennoch nicht weniger effektiven narrativen Rahmen für die Aufklärung des Tunguska-Ereignisses, der für The Tunguska Fireball bereits gezeigt wurde. Siegel als Detektiv-Figur zeichnet aus, dass er den eigenen Schaden (Diskreditierung durch ›mächtigere‹ Wissenschaftler des Mainstreams) nicht scheut, sondern seinem Instinkt und »Streben zur Wahrheit« (ebd., 59) folgt und sogar bereit ist, die etablierten Wege der Forschung zu verlassen, um über den Umweg der Science Fiction schneller und näher an die Wahrheit des Ereignisses zu kommen. Anders noch als Verma verlegt er sich also darauf, seine Hypothese in Form einer Spurenerzählung zu präsentieren und zu plausibilisieren. Mehr noch, er gründet seine Hypothese auf eine ausgewiesen fiktionale Geschichte, sodass der epistemische Status, den seine Dokumentation beansprucht, tatsächlich über einen Umweg entstehen soll. Die Anlehnung an das Sherlock-Holmes-Paradigma dient also gleichermaßen der Legitimation des Ermittlers wie der seiner Erklärung. Das Paradigma dient als Muster für die Inszenierung der Arbeit, die nötig ist, um das Rätsel zu erkennen, zu lösen und in eine plausible Erklärung zu überführen. Tunguska nicht nur als Störung, sondern als Verbrechen zu lesen, erhöht zudem die Dringlichkeit, mit der die Notwendigkeit einer Lösung verlangt wird. Nur so kann die Singularität und Besonderheit des Ereignisses behauptet werden, ohne in den Verdacht zu geraten, im Gebiet der Steinigen Tunguska ein Wunder zu vermuten. Die Störung der Ordnung in diesem Sinne als Verbrechen zu lesen, signalisiert also unabhängig von der präsentierten Lösung die, wenn auch verschobene, Zugehörigkeit zum Programm der Moderne.

S purenerz ählungen Die Nähe der Tunguska-Rhetorik zur Poetik des Kriminalromans liegt also vor allem in der Inszenierung der Perspektive des Autor-Erzähler-Detektivs, in der der »Held als Mittelpunkt und Auge […] und die Erzählung, der Roman selbst als fingierte Augenzeugenschaft, als Suche und epistemologisches Projekt« den »Garant für die Erfahrbarkeit der Welt dar[stellen]« (Vogl 1991, 201). In Vermas und Siegels Texten wird der Autor zu solch einem Helden. Nur ein »unermüdlicher« Geist, wie er Siegel zugeschrieben wird, sei dazu in der Lage, den Einsatz zu zeigen, dessen man bedürfe, um das Tunguska-Rätsel zu lösen. Diese narrative Konstruktion erlaubt es den Texten dem, was sie aus

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den Spuren lesen und wiederum ihren Lesern präsentieren, Legitimität und Relevanz zu verleihen. Die Fähigkeit, dem sichtbaren Faktum das Geheimnis seiner Wirklichkeit abzuhorchen74 beziehungsweise die Spuren zu lesen und damit die in ihnen sichtbar gestörte Ordnung wiederherzustellen, ist hier eng verbunden mit der Figur des Spurenlesers. Diese Figurenkonstruktion steht in Wechselwirkung mit dem Bild des Ereignisses, das gezeichnet wird. Auch dieses ähnelt in den Inszenierungen, die hier zur Untersuchung stehen, der Wirklichkeits- und Ereigniskonstruktion, wie sie Joseph Vogl für den Kriminalroman entwirft. Verschiedene Eigenschaften der populärwissenschaftlichen Tunguska-Texte unterstützen diese These. Alle bereits genannten Texte enthalten mindestens ein erzähltes Szenario, das die im Text entwickelte zweite, zu enthüllende Wirklichkeit des Ereignisses durchspielt, sowie den Hinweis, dass man zwar davon ausgehe, die wahre Erklärung gefunden zu haben, aber noch genauere Erforschung des Ereignisses in diese Richtung vonnöten sei, um die Anerkennung der Allgemeinheit zu gewinnen. Diese Szenarien entfalten ungeheure Suggestivkraft, denn die nicht zuletzt selbst gelegten Spuren werden ohne Einschränkung zu einer Erzählung verbunden, die anschaulich und dadurch plausibel wirkt. »We can extend our imaginations far out into space and construct an image of the mysterious missile that blew up over the Siberian woods. The image will be necessarily speculative, for no absolute proof exists; yet it will be true to scientific plausibility and to the newly enlarged cosmological view. Let us look at the event with the per­s pective of almost seventy years of technological progress and research, weighing again the evidence and ordering it in a way that provides a credible – perhaps the most credible – explanation of one of the greatest explosions ever known« (Baxter/Atkins 1976, 146).

Der notwendig spekulative Charakter dieser Szenarien tut ihrer Glaubwürdigkeit keinen Abbruch – so jedenfalls behaupten es Baxter und Atkins in der Einleitung in das von ihnen vorgeschlagene Szenario eines »Cosmic Visitor«. Ganz im Gegenteil, mit der Forschung und den wissenschaftlichen Erkenntnissen ihrer Gegenwart, 70 Jahre nach dem Ereignis, behaupten sie, eine Neubewertung vornehmen zu können, die, obwohl es sich um Spekulation handeln muss, Prinzipien wissenschaftlicher Plausibilität genügt. Das »again« spielt eine zentrale Rolle in der Inszenierung der »perhaps most credible [explanation]«, denn es evoziert die freiwillig an wissenschaftlichen Parametern orientierte, jedoch grundsätzlich freie und deswegen überlegene Haltung, wie sie Sherlock Holmes eigen ist. Es kann also erneut einer Spur gefolgt werden, die bisher falsch oder eben – weniger konfrontativ – mit einer »cosmological view« verfolgt wurde und daher nirgendwo hinführen konnte. Nur von diesem 74 | Vgl. Vogl 1991, 201.

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souveränen, uneingeschränkten Standpunkt aus ist es möglich, die Spuren zu einer Erzählung im Indikativ statt im rahmenden Konjunktiv des Gedankenexperiments zu ordnen. »The object is an extraterrestrial vehicle; its hull is cylindrical, its mass thousands of tons. Propelled by nuclear fire, the giant craft has come from the depths of interstellar space at a velocity close to the speed of light […] At an altitude of 2 miles, the inhabitants of the luminous spacecraft make a course correction, steering westward over the empty wooded terrain of the Central Siberian Plateau. The maneuver is their last act. […] A fraction of a second later, the spacecraft and its occupants are vaporized in a blinding flash of light« (Baxter/Atkins 1976, 146-147; Hervorhebung SN).

Diese Form von Science Fiction erlaubt es, Bilder (images) zu erzeugen, die zwar als Spekulation ausgewiesen sind, jedoch aufgrund ihrer kontextuellen Rahmung trotzdem, oder sogar gerade deswegen, einige Überzeugungskraft bereithalten.75 Ein so hervorgehobenes Szenario steht den Annahmen der Wissenschaftler gegenüber, die gar nicht auf die Existenz von »absolute proof« angewiesen wären, jedoch aufgrund der Komplexität der Spurenlage zur Vorsicht mahnen und von solch umfassenden Szenarien absehen – zumindest ohne ihnen ein Gegenszenario als Vergleich gegenüberzustellen. Doch diese Komplexität und die darauf bezogene Zurückhaltung bietet dem Szenario gegenüber den Vorteil der Revidierbarkeit, denn »Multiple changes of scientific paradigms during the history of the TM studies is indicative of the complexity of this phenomenon and of possible turns in the future« (Vasilyev 1998, 143). Diese möglichen Wendungen verleihen den wissenschaftlichen Modellen Flexibilität, sodass sie nicht in dem Moment überholt sind, in dem sich an den wissenschaftlichen Paradigmen etwas ändert. Ein Szenario wie das von Baxter und Atkins muss jedoch geschlossen bleiben und ist nur so lange haltbar, wie das Rätsel besteht oder eben ihr Szenario in allen Punkten bestätigt wird – doch diese Möglichkeit ist offenbar zu unwahrscheinlich, als dass man sich auf sie verlassen könnte: »Then the great fire is gone, leaving behind only a massive column of black clouds that will remain for days in the atmosphere and a scarred, shattered taiga that will forever hide its secret« (Baxter/Atkins 1976, 148). Doch Offenheit lässt sich auch anders wahren, wie bei Verma, dessen Text mit der Aufforderung an seine Leser endet, sich selbst für die eine oder andere 75 | Dass die Autoren hier im Gegensatz zur Methode Angelika Jubelts die ›Beweisführung‹ dem Szenario voranstellen und nicht beides gleichzeitig vollziehen, sorgt dafür, dass ihre Version höhere Glaubwürdigkeit beanspruchen kann, indem sie weder die Grundsätze wissenschaftlicher Verweispraktik verletzen noch ihre Version des Ereignisses klar von den Versionen der Augenzeugen und den ihnen vorangegangenen Untersuchungen trennen (vgl. Jubelt 2011, 67).

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Möglichkeit zu entscheiden, aber keine vollkommen zu verdammen. Nicht nur ermächtigt er dadurch jeden nun informierten Laien, die Suche nach der Lösung als Aufgabe zu betrachten, sondern stellt zwei Berufsgruppen auf eine Ebene, die eigentlich unterschiedlichen Diskursen angehören: »Journalists and scientists are licensed to rehash their old stories and theories. The jury is still out« (Verma 2005, 250). Die Formulierung am Schluss suggeriert, dass es, ähnlich wie bei Baxter und Atkins, nicht (mehr) darum geht, neue Spuren zu entdecken, sondern darum, die vorhandenen zu erkennen und richtig, also überzeugend, zu deuten. Gelungen ist das bisher, so endet auch dieser Text, noch nicht – aber nur so lange können die Texte, wie das für The Tunguska Fireball bereits festgestellt wurde, den Reiz des ungelösten Ereignisses, des Rätsels oder Mysteriums wahren. Auf diese Weise wird das Ereignis selbst (zum Teil unwillentlich) von den Texten als unerklärbar konstruiert. Unabhängig davon, wie viele Versuche noch unternommen werden, um eine Lösung zu finden – die Behauptung des grundsätzlichen Fehlens von Beweisen unterstellt die unauflösbare Rätselhaftigkeit des Ereignisses. Der Aufruf, dennoch an der Suche nach einer Antwort teilzunehmen, stellt das, was Verma »Tunguska industry« nennt, auf Dauer. Die Bedeutungsdimensionen des Ereignisses werden so beinahe unendlich vervielfacht, weil es immer eine »wirklichere und authentischere Realität« (Vogl 1991, 201) unter seiner Oberfläche verbirgt, die es zu enthüllen gilt. Das steht allerdings in krassem Widerspruch zur (institutionell anerkannten) wissenschaftlichen Auffassung. Wie schon erwähnt, ist ein Problem in der modernen Auffassung immer nur noch nicht gelöst und selbst dann, wenn die Spurenlage eine eindeutige Zuweisung einer Erklärung auch in absehbarer Zukunft nicht erlauben sollte, ist davon auszugehen, dass das Tunguska-Ereignis der Naturwissenschaft ein anderes als das der alternativen Forschung bleiben wird. Denn während die einen resigniert feststellen müssen: »Despite great efforts, the TE remains a conundrum« (Longo 2007, 303), bietet der ungebrochene (weil ständig aktualisierte) Rätselcharakter des Ereignisses nicht nur Berufswissenschaftlern die Möglichkeit, »to test-drive new theories« (Verma 2005, ix). Bleibt die Frage, wie neu die Theorien auf beiden Seiten der Tunguska-Forschung sind, ob und wie sie miteinander in Bezug gesetzt werden können und ob eine Seite den Streit um die wahre Erklärung und den richtigen Weg gewinnen kann. Unwahrscheinlich ist jedoch, dass es in diesem Wettstreit zu einem ›Unentschieden‹ kommt. Nicht nur wegen der institutionellen (Über-)Macht der Wissenschaften, sondern auch, weil die Spuren, wenn sie auch nicht in eine eindeutige Richtung weisen, unzweifelhaft auf verheerendes Zerstörungspotenzial hindeuten. Bis die Ursache des Ereignisses geklärt ist, kann allerdings nicht bestimmt werden, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit eine solche Explosion sich wiederholen könnte und ob und wie man sie möglicherweise verhindern oder ihre Auswirkungen abmildern könnte. An ein Ende der

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Spurensuche ist also nicht zu denken, solange zu befürchten steht, dass das, was das ›größte Rätsel des 20. Jahrhunderts‹ verursacht hat, zur größten Katastrophe des 21. Jahrhunderts führen könnte.

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I.2 Katastrophe und Risiko

Das Katastrophenpotenzial des Tunguska-Ereignisses ist so groß, dass es zu einem festen Bestandteil der Weltuntergangstopik des 20. und 21. Jahrhunderts wurde. Die Inszenierung des Ereignisses als Katastrophe bildet den Kontrapunkt zu der Darstellung als Rätsel, weil die Behauptung einer mysteriösen Ursache für das Ereignis als Katastrophe nicht notwendig ist. Vielmehr scheint die Tatsache der gewaltigen Explosion zu genügen, um einen Kataklysmus zu imaginieren. Interessant ist, dass das Ereignis sein katastrophisches Potenzial nicht aus seinen eigenen Auswirkungen bezieht, sondern aus prognostizierten, das heißt in die Zukunft hochgerechneten, möglichen Folgen eines Tunguska-artigen Ereignisses. Tunguska als (imaginierte) Katastrophe wird auf diesem Weg selbst zu einer Spur, die auf ein kommendes, weitaus verheerenderes Desaster verweist und damit das Ereignis aus der Peripherie ins Zentrum holt. Gemeinsam ist der Katastrophen- und der Rätselbehauptung, dass sie als Störung fungieren, die eine Neubestimmung oder -ausrichtung des bisherigen Umgangs mit dem Ereignis erfordert. Anders als beim Rätsel generiert die Katastrophenbehauptung Souveränität nicht aus dem Scheitern anderer Akteure, sondern aus der Realisierung eines Risikos beziehungsweise einer zukünftigen Katastrophe als Fiktion. Die Inszenierung des katastrophischen Potenzials des Tunguska-Ereignisses machte sich schon Leonid Kulik zunutze, indem er seinem Publikum vor Augen führte, welche Auswirkungen das Ereignis an einem anderen Ort hätte haben können.1 Die Vorstellung, ein Ereignis mit solcher Zerstörungskraft könne sich – diesmal über besiedeltem Gebiet – wiederholen, mobilisiert nach wie vor genug Energien, um die Erforschung des Ereignisses fortzusetzen und das (öffentliche) Interesse anzufachen. Um die volle Wirkung dieser Vorstellung zu entfalten, muss allerdings eine Verbindung zwischen Tunguska und der Großstadt, dem zentralen Lebensraum des 20. Jahrhunderts, hergestellt werden. Während die Schäden im weitgehend unbesiedelten Sibirien wortwörtlich zu weit weg sind, um sie erfassen zu können, ist die Überlagerung der Explosions1 | Vgl. »Einleitung: Tunguska-Potenziale«.

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ausmaße mit dem Stadtplan von London oder New York weitaus eingängiger, weil sie das Ereignis in einen vertrauten Sinnzusammenhang einordnet. Darüber hinaus verbinden sich damit umgehend Schreckensbilder von zerstörten Gebäuden, toten und verletzten Menschen sowie verheerenden Auswirkungen auf das geografische, ökonomische und kulturelle Umfeld der Katastrophe. Obwohl die rhetorische Verschiebung des Tunguska-Ereignisses also eine fiktive Katastrophe erzeugt, gewinnt – scheinbar paradox – das ursprüngliche Ereignis dadurch Aktualität, weil es so in jeder Hinsicht näher rückt. Der Explosionsort ist nicht das einzige Paradigma, das eine solche Verschiebung erlaubt. Der Vergleich mit ähnlichen Ereignissen des gleichen Typs – abhängig von der Hypothese zur Ursache beispielsweise mit Meteoriten- oder Asteroiden­ein­schlä­gen, Atomexplosionen, vermeintlichen Spuren außerirdischer Lebensformen oder mit anderen anscheinend rätselhaften Phänomenen – dient somit einerseits zur Plausibilisierung der eigenen Hypothese und wird andererseits zum Vorzeichen einer drohenden Katastrophe. In seiner Funktion als Beleg für ein drohendes Risiko steht die Tunguska-Katastrophe in einem Spannungsverhältnis von Singularität und Wiederholbarkeit. Denn auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass ein solches in der Geschichte bisher einmaliges Ereignis2 sich in absehbarer Zeit wiederholen könnte, offensichtlich minimal ist, sind die katastrophalen Ausmaße, die eine solche Wiederholung haben könnte, so verheerend, dass sie ein Handlungsvakuum kreieren.3 Unabhängig vom institutionellen Kontext der Repräsentationen des Tunguska-Ereignisses kommt kaum eine Darstellung des Ereignisses ohne ein Katastrophenszenario aus, sei es in der Beschreibung dessen, was am 30. Juni 1908 passiert ist, sei es in der Inszenierung einer Zukunft, auf die Tunguska als Spur verweist. Welches Szenario im Einzelnen aus dem Ereignis abgeleitet wird, beruht dabei – dem Spurenparadigma gemäß – auf dem Vorwissen und dem Interesse des Spurenlesers. Die Lücke der unerklärten Ursache erlaubt es, das Tunguska-Ereignis als Beleg für eine Reihe von Szenarien einzusetzen, die die Zukunftsängste eines spezifischen historischen Umfelds reflektieren. Sie zeugen und zehren dabei von der Gegenüberstellung des rationalen Risikokalküls einer Gemeinschaft und ihrer irrationalen Ängste davor, was nicht unmittelbar durch Berechnung verfügbar ist. 2 | »The Tunguska event is the only phenomenon of this kind that has occurred in historical time« (Longo 2007, 320; Hervorhebung SN). 3 | »[Die] Auslöschung des Spezifischen potenziert nicht nur die Schrecken des Ereignisses zur existenziellen Not, der Katastrophenbegriff imaginiert gleichzeitig eine Sprachlosigkeit, die er entschieden aufzuheben betrachtet. Mithin sucht der Katastrophen-Begriff den unbestimmt-irrationalen mit dem rationalen Anteil, den numinosen mit dem begrifflichen Aspekt von Bedrohung zu vermitteln, potenzielle Bedrohung zu verwandeln in politisches Handeln« (Hempel/Markwart 2013a, 14).

I.2 Katastrophe und Risiko

Das historische Umfeld des Ereignisses von 1908 kann mit einiger Berechtigung groß gefasst werden, da auf der einen Seite die (räumliche) Reichweite des Ereignisses durch die weithin wahrnehmbaren (Licht-)Phänomene nahezu global war und auf der anderen Seite die (medialen) Bedingungen sich im historischen Umfeld der Explosion auf fundamentale Weise veränderten, sodass die Bedeutung von Zeit und Raum eine grundlegend andere wurde. Das Tunguska-Ereignis ist demnach nicht nur unmittelbar an Ort und Zeitpunkt der Explosion zu verorten, sondern kann, in François Walters Kulturgeschichte der Katastrophe, in einem größeren Kontext der Ereignisse der Jahrhundertwende gelesen werden. Der Kulturhistoriker zählt das Tunguska-Ereignis zu einer Reihe von »spektakuläre[n] Katastrophen«, die die »größten Pessimisten« des 19. Jahrhunderts in ihrer apokalyptischen Zukunftserwartung für das beginnende 20. Jahrhundert bestätigten. Diese Katastrophenreihe beginnt mit dem Ausbruch des Krakatau im Jahr 1883, dessen Ausmaße und deren Wahrnehmung, so Walter, eine nie zuvor dagewesene Qualität erreichten. »Dank des Telegraphen wurde zum ersten Mal in der Geschichte eine sich in weiter Ferne ereignende Naturkatastrophe eilends über die Medien verbreitet, was für die Wahrnehmung natürlicher Katastrophen ein neues, den gesamten Erdkreis umspannendes Zeitalter eröffnet« (Walter 2010, 167). Im Zusammenspiel der medialen Techniken und der eschatologischen Ängste, die das Fin de Siècle bestimmten, werden Naturkatastrophen und katastrophale Industrieunglücke (wie Eisenbahnunfälle, Brände, Bergwerkskatastrophen)4 als Belege für die Berechtigung apokalyptischer Zukunftsprojektionen gedeutet. Das Wiedererscheinen des Halleyschen Kometen im Jahr 1910 etwa lässt »längst vergessene Ängste wieder auflodern […] Am Tag darauf hat man sich vor Erleichterung [darüber, dass nichts passiert ist, SN] umarmt und auf den Straßen getanzt« (Walter 2010, 169). Viele der Katastrophen dieser Zeit werden als Novität wahrgenommen, weil bisher Unvorstellbares nun mit aller Macht in die Wirklichkeit drängt. Die grundlegende und scheinbar unvermittelt einsetzende Veränderung des Alltagslebens infolge der Industrialisierung und Urbanisierung führt, konterkariert von einer nicht zu bremsenden Technikbegeisterung, zu einer diffusen Endzeitstimmung. Zwar ist die Einschätzung der Neuartigkeit in Bezug auf die Katastrophen der Jahrhundertwende nicht ausschließlich von apokalyptischen Befürchtungen bestimmt. Jedoch folgt sie einem religiös motivierten Sinngebungsmuster. Neben den, wenn man so will, neuen Katastrophentypen (wie Industrie- und Technikunfälle) sind es vor allem die Ausmaße der Ereignisse, die ihnen eine neue Qualität verleihen. Obwohl Brände, Überschwemmungen, Lawinen, Vulkanausbrüche und dergleichen in keiner Weise neu und in manchen Gebieten zu erwarten sind, ist die moderne urbane Welt in 4 | Vgl. Walter 2010, 168.

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vielerlei Hinsicht anfälliger. Insbesondere die Opferzahlen, ein Aspekt, der auch heute noch von großer Bedeutung für die Einschätzung einer Katastrophe ist, steigen in geradezu apokalyptische Höhen. In Verbindung mit der Kritik am städtischen Leben, den Klassenunterschieden und dem proklamierten moralischen Verfall der Gesellschaft, stellt vor allem der Untergang der Titanic im Jahr 1912 eine Ausnahmekatastrophe dar, die in ihrer Deutung als Pars pro Toto für die Befürchtungen gelesen werden kann, die für das historische Umfeld des Tunguska-Ereignisses bestimmend sind: »Dieser Schiffbruch stellt die ehrgeizigsten Errungenschaften der modernen Industrie in Frage, erlaubt eine moralische Kritik am üppigen Luxus und lenkt die Aufmerksamkeit auf die schreiende soziale Ungleichheit, als nämlich das Publikum erfährt, dass die Passagiere der ersten Klasse weit mehr Aussicht auf Rettung hatten als die der dritten« (Walter 2010, 169).

Im Gegensatz zum Kometen Halley, der Ängste wieder auflodern ließ, die, schon lange bevor seine Umlauf bahn berechnet und seine ›Harmlosigkeit‹ erwiesen war, mit ihm verbunden wurden, setzt der Untergang der Titanic dem Glauben ein Ende, der Fortschritt sei unaufhaltsam. Bis zu ihrem Untergang gab es in der Wahrnehmung von Passagieren und Verantwortlichen, Medien und ›Publikum‹ kein Risiko. Das größte, schnellste und sicherste Schiff aller Zeiten wurde, darin ähnelt es anderen Technikkatastrophen, zur Enttäuschung eines Traums und zum Menetekel5 der Fehlbarkeit der »prometheischen Kultur« (Walter 2010, 141). Ihren technologischen und katastrophischen Höhepunkt fand die Idee des ewigen Fortschritts schließlich im Ersten Weltkrieg, der die Katastrophen der Jahrhundertwende in allen Aspekten übertraf. Nicht nur die massive Zerstörung von Land und Menschenleben, auch die einer Kettenreaktion gleichende politische und technische Entwicklung, die zu diesem Krieg führte, lassen ihn weniger wie ein Produkt menschlichen Handelns als vielmehr ein unausweichliches apokalyptisches Ereignis erscheinen. Nichtsdestotrotz lässt sich auch der ›Große Krieg‹ zwischen einem Vorher und Nachher verorten und wird selbst zum Vorher oder Nachher anderer Ereignis5 | Eine andere Technikkatastrophe des 20. Jahrhunderts, die neben ihrem Ereignischarakter auch zum Symbol für die Enttäuschung einer Fortschrittshoffnung wurde, ist die Havarie des Atomkraftwerks in Tschernobyl 1986: Im Vorwort zu »Die Lücke, die der Teufel lässt« spricht Alexander Kluge von der »berühmte[n] Geschichte der SCHRIFT AN DER WAND«, die früher Tyrannen »erschreckt« habe. »In unseren Jahren wenden sich die Menetekel (z.B. Tschernobyl, der asymmetrische Krieg) nicht bloß an definierte Herrscher, sondern an uns alle. Ich habe den Eindruck, diese Botschaften enthalten viel Kleingedrucktes. Wir lesen es im Umfeld des neuen Jahrhunderts« (Kluge 2005, 8; Hervorhebung im Original).

I.2 Katastrophe und Risiko

se. Die so intensiv empfundene und reflektierte Endzeit stellt als Kontext für das Tunguska-Ereignis einen mindestens so interessanten Erzählanlass dar wie seine rätselhafte Ursache. Was Walter in dieser Reihe unerwähnt lässt, ist, dass das Tunguska-Ereignis als solches zu Beginn des 20. Jahrhunderts gar nicht bekannt war. Erst Leonid Kuliks Expeditionen zum Ort der Explosion während der 1920er Jahre stellten die Verbindung zwischen den in ganz Europa sichtbaren Lichtphänomenen und der – bis dahin nur vermuteten – Explosion in Sibirien her. Umso mehr wurde das Tunguska-Ereignis, seine sichtbaren Auswirkungen, seine Erforschung und später vor allem die Vielzahl der Hypothesen zum Gegenstand medialer Aufmerksamkeit.6 Dass es so lange dauerte, die einzelnen Phänomene zuzuordnen, also ein Ereignis überhaupt erst zu erkennen, ermöglichte eine nahezu unbegrenzte Zahl nebeneinander existierender Katastrophenszenarien. Die Verknüpfung des Tunguska-Ereignisses mit anderen Katastrophen hängt dabei ebenso eng mit wissenschaftlichen wie mit historischen Entwicklungen zusammen, die als katastrophal empfunden werden – beispielsweise die Entwicklung der Atombombe und ihr Einsatz, der 1945 die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki zerstörte.7 Des Weiteren verband sich während des Kalten Krieges diese Darstellung einer im geheimen operierenden Wissenschaft mit katastrophalen Auswirkungen mit dem Tunguska-Ereignis. Oft überlagern sich, insbesondere in den literarischen Darstellungen, Elemente verschiedener historischer Epochen zu Szenarien, die von einer ›natürlichen‹ Ursache des Ereignisses insofern abrücken, als die Bedrohung des Planeten zumindest zu verhindern ist – entweder weil Menschen beispielsweise durch (Geheim-)Experimente für das Ereignis verantwortlich sind 8 oder sich seine Folgen durch den Einsatz von Technologie eindämmen lassen könnten. Die Katastrophenpotenziale des Ereignisses gewinnen dann an Bedeutung, wenn ein gegenwärtiges Verhaltensmuster in Hinblick auf seine zukünftigen Auswirkungen infrage gestellt wird. Das Tunguska-Ereignis wird in solchen Fällen zum Beleg einer kommenden Katastrophe, die nichts weniger als das Ende der Menschheit bedeuten könnte. Der Astronom Duncan Steel benutzt das Tunguska-Ereignis in diesem Sinne als Hinweis auf die andauernde Bedrohung des Planeten Erde durch »Rogue Asteroids« und »Doomsday Comets«. Auf seiner Suche nach der »million megaton menace that threatens life on Earth« (Steel 1995, Titel) verbindet er Tunguska mit dem Aussterben der Dinosaurier.9 Indem Tunguska und das 6 | Vgl. Verma 2005, ix. 7 | Z.B. bei Krassa und Baxter/Atkins, die im Folgenden zur Untersuchung stehen. 8 | Vgl. Kapitel I.1 »Spuren und Fakten«. 9 | Steel ist nicht der einzige, der diese Verbindung zieht. Im Zusammenhang mit der Bedrohung durch Near Earth Objects (NEO) und möglichen katastrophalen Folgen für

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Massenaussterben auf eine ähnliche beziehungsweise die gleiche, nur in ihren Ausmaßen verschiedene Ursache zurückgeführt werden, lassen sich nicht nur beide Phänomene erklären, sie gewinnen gleichzeitig an Aktualität. Tunguska wird zum Beleg dafür, dass das Risiko eines erneuten Massensterbens keinesfalls der Millionen Jahre entfernten Vergangenheit angehört. Anstatt eines einzigartigen Ereignisses ist Tunguska hier nur das jüngste Zeugnis eines geradezu pausenlosen Beschusses der Erde durch Geschosse aus dem All. Der Einschlag des Kometen Shoemaker-Levy auf dem Kometen Jupiter – »The Crash of ’94« (ebd., 247-259) – stellt das Tunguska-Ereignis in Ausmaß und Bedeutung als Risikobeleg sogar noch in den Schatten: »Notwithstanding the Tunguska-Event of 1908, which was a damp squib compared to the ferocious assaults that asteroids and comets can unleash, humankind has not had a chance to view a massive impact on the Earth during recent times, or I would not be writing this book. […] Those distant explosions [on Jupiter, SN] are proving to have repercussions for us here on the Earth, in that they proved that scientists were not joking when they talked about the power of comet and asteroid impacts – my warnings earlier in this book are fact, not fiction« (Steel 1995, 247; Hervorhebung SN).

An Tunguska, so suggeriert es der Text, lässt sich nicht nur die Vergangenheit ablesen, sondern auch die Zukunft, die wiederum, dass macht sein Zerstörungspotenzial deutlich, düster aussieht. Das kataklysmische Potenzial des Ereignisses steht nicht für sich selbst, sondern dient hier, wie schon bei Kulik, der Mobilisierung von Energien,10 die eine »Zukunft als Katastrophe« (Horn 2014, 25) verhindern sollen. Das imaginierte Ereignis dient dazu, »etwas zu bebildern, das wir für möglich und vielleicht sogar für unmittelbar bevorstehend halten, aber zugleich auch nicht vorstellen, nicht greifen können. Etwas, das die Kompliziertheiten unserer Welt klären, die Dinge durchschaubar machen, auf das Wesentliche hin durchschlagen würde« (ebd., 21). Tunguska lässt sich somit als Spur einer möglichen katastrophalen Zukunft und der daraus abgeleiteten akuten Bedrohung für die gegenwärtige und zukünftige Biosphäre lesen. Die anhand des Ereignisses imaginierte Katastrophe gibt jedoch vor allem darüber Auskunft, was eine gegebene Gegenwart als wesentlich begreift das Fortbestehen der Biosphäre der Erde taucht das Tunguska-Ereignis häufig auf (vgl. u.a. Peiser/Paine 2004). Darüber hinaus wird oft auch in die umgekehrte Richtung argumentiert, sodass die vorgeschlagene Ursache des Tunguska-Ereignisses auch als Grund für das (ebenfalls nicht letztgültig erklärte) Massenaussterben vor 65 Millionen Jahren angegeben wird (vgl. u.a. Morgan/Reston/Ranero 2004). 10 | In diesem Fall der Etablierung eines »Spaceguard«-Programms, das vor nahenden NEOs warnen und diese gegebenenfalls zerstören soll, bevor sie die Erde erreichen (vgl. Steel 1995, 187-207).

I.2 Katastrophe und Risiko

beziehungsweise welche ihrer Verhaltensmuster sie als Risiko für das eigene Fortbestehen betrachtet.

S puren der K atastrophe Es sind nicht nur Texte, die auf die Vermutung hinauslaufen, die Explosion von 1908 habe eine in welcher Form auch immer außergewöhnliche Ursache, in denen die (potenzielle) Katastrophe zum Ansatz oder zur Rahmung des eigenen Forschungsvorhabens wird. Die Kopplung des Katastrophenpotenzials und der geheimnisvollen Ursache des Ereignisses weist ihm Bedeutsamkeit zu: »Es war eine folgenschwere Katastrophe. […] Der geheimnisvolle Himmels­k örper war mit der Urgewalt mehrerer Wasserstoffbomben explodiert. […] Ob Zufall oder nicht – wir können uns glücklich schätzen, daß dieses Geschoß aus dem Weltall über einer relativ menschenleeren Gegend detonierte: Wäre es nämlich über Europa niedergegangen – beispielsweise auf Belgien –, dann hätte dort kaum jemand überlebt« (Krassa 1983, 5-6; Hervorhebung SN).

Eine Katastrophe dieses Ausmaßes unerklärt zu lassen, stellt ein ungleich größeres Problem dar, als es eine ungelesene Spur tut. Das Bestehen des Rätsels wird, so die Suggestion, zum Risiko, welches gemessen an den Folgen der möglichen Katastrophe untragbar erscheint. Mit der Formulierung »Ob Zufall oder nicht« (ebd.) wird sogar die Suche nach der Ursache von den Ausmaßen der potenziellen Katastrophe rhetorisch in den Schatten gestellt. Gleichzeitig gewinnt die Suche an Dringlichkeit. Denn so glücklich man sich schätzen kann, dass »dieses Geschoß aus dem Weltall über einer relativ menschenleeren Gegend detonierte« (ebd.). Wer kann sagen, ob »wir« beim nächsten Mal ebenso viel Glück haben werden? Ein nächstes Mal ist geradezu vorausgesetzt und derjenige, der im Zweifelsfall Auskunft über die gefürchtete Zukunft geben kann, ist derselbe, der die wahre Natur des Tunguska-Ereignisses kennt und so in der Lage ist, die nächste Katastrophe zumindest vorauszuahnen, vor allem, wenn es sich nicht um einen Zufall handelt. Giuseppe Longos Feststellung, es handele sich beim Tunguska-Ereignis um das einzige seiner Art in historischer Zeit, bedeutet eben nicht, dass es sich um ein singuläres Ereignis handelt, sondern nur um das einzig greif bare: »The consequences of the event can be directly studied in situ« (Longo 2007, 320), während die Spuren anderer »Tunguska-like impacts« erst nach und nach entdeckt werden, »because the telltale signs of an impact have been worn away«

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(Steel 1995, 2).11 Vergleichbare Spuren wie die auf der Oberfläche des Mondes mit bloßem Auge erkennbaren Krater sind auf der Erde nur schwer zu finden. Die durch das Klima und die geologischen Bewegungen der Kontinentalplatten verursachte Erosion, der Pflanzenbewuchs und nicht zuletzt die Tatsache, dass ein Großteil der Erdoberfläche von Wasser bedeckt ist, lassen solche Krater schlicht verschwinden.12 Im Gebiet der Explosion im nördlichen Sibirien bietet sich die einmalige Gelegenheit, die Folgen eines relativ jungen und vor allem durch Augenzeugen13 (hier die Teilnehmer der ersten Expeditionen) beschriebenen Einschlages zu untersuchen. Im Vergleich zu den Millionen Jahren oder Kilometern Abstand, die sonst zwischen Asteroiden- oder Kometeneinschlägen und ihrer Erforschung liegen, stellt die zeitliche und räumliche Nähe des Tunguska-Ereignisses ein geradezu dankbares Untersuchungsobjekt dar. Das Ziel solcher Studien wird deutlich formuliert: »From such a study we can obtain a great amount of information useful to better understand and predict the characteristics of future Tunguska-like impacts, i.e. due to bodies with diameters equal to a few tens of meters« (Longo 2007, 320; Hervorhebung SN). Im Grunde also scheinen sich die Vorhaben der professionellen Wissenschaft und der Amateurforscher wie Peter Krassa nicht grundlegend zu unterscheiden – es geht darum, die Ursache zu erforschen, um für ein ›nächstes Mal‹ gewappnet zu sein. Und doch gibt es einen grundlegenden Unterschied: Was bei Krassa »folgenschwere Katastrophe« heißt, wird bei Longo deutlich distanziert »impact« oder »event« genannt. Aber ist dieser Unterschied wirklich entscheidend oder zeigt er nur die Kluft zwischen Experten und Laien? Die Differenz liegt weniger im Gebrauch des Begriffs als in den damit vertretenen Konzepten und Kompetenzen. Schon in Hinblick darauf, dass z.B. der bereits zitierte Physiker Vasilyev, anders als Longo, sehr wohl von »Tunguska catastrophe« (Vasilyev 1998, 143) spricht, wäre eine Differenzierung in wissenschaftlich/unwissen­schaftlich oder überholt/aktuell nicht sinnvoll, weil sie die Komplexität der Argumente verkennen muss. Dennoch ist die Entscheidung, von Tunguska als ›Katastrophe‹ oder ›Ereignis‹ (event) zu sprechen, richtungsweisend für die jeweilige Konstruktion und die Deutung der Texte. Während ein Ereignis im alltäglichen Sinne einen »besondere[n], nicht alltägliche[n] Vorgang, Vorfall, Geschehnis«14 bezeichnet und auch sein Gebrauch in der Geschichtswissenschaft als Gegensatz von ›Struktur‹15 in gewisser Weise seine ›außergewöhnliche‹ Qualität hervorhebt, kann ein astronomi11 | Vgl. auch Kundt 2007, 331. 12 | Vgl. Steel 1995 »Holes in the Ground: The Evidence for Past Impacts [on Earth, SN]«, 75-92. 13 | Vgl. Kundt 2007, 331-332. 14 | Duden online. 15 | Vgl. Kapitel I.3 »Kontingenz und Mythos«.

I.2 Katastrophe und Risiko

sches Ereignis etwas so Alltägliches wie der Sonnenaufgang sein, solange es seinen Ursprung außerhalb der Erde hat. Die Regelmäßigkeit und die Voraussagbarkeit astronomischer Ereignisse können sich je nach betrachtetem Phänomen beträchtlich unterscheiden. Während die Zyklen von Sonne, Mond und den Planeten des Sonnensystems gut bekannt und damit sicher voraussagbar sind, gilt das für Asteroiden- und Kometeneinschläge nur bedingt. Zwar lassen sich die Umlauf bahnen einiger dieser Himmelskörper wie die der (periodischen) Kometen Halley und Encke zuverlässig berechnen, jedoch muss man davon ausgehen, dass es einerseits eine Vielzahl unbekannter NEOs (Near Earth Objects) gibt16 und andererseits so viele Faktoren (Gravitation, Zusam­ menstöße mit anderen Objekten etc.) die Flugbahnen beeinflussen, dass eine genaue Berechnung ein außerordentlich komplexes Unterfangen mit vielen Unbekannten darstellt. Ein astronomisches Ereignis kann also unerwartet und außergewöhnlich, möglicherweise sogar bedeutend sein, jedoch bezieht sich diese Deutung immer auf die kulturelle, historisch bedingte Wahrnehmung des Phänomens. Hält man astronomische Zeit gegen historische Zeit, ist ein Ereignis wie das in Tunguska höchstens ein Phänomen unter vielen und in den Milliarden Jahren (allein) der Erdge­schichte auch bei Weitem nicht das größte. Die Untersuchung und folgerichtige Bezeichnung von Tunguska als astronomischem Ereignis/Event setzt diese Perspektive voraus, während »Katastrophe« eine anthropozentrische Sichtweise festsetzt.17 Diese entspringt gleichermaßen einer Opferperspektive unmittelbar betroffener sowie mitleidender Menschen.

16 | Vgl. Marsden/Williams 1998. 17 | Der Aufbau des Sammelbands Comet/Asteroid Impacts and Human Society. An Interdisciplinary Approach (2007), in dem Longos Darstellung erscheint, zollt diesen Unterscheidungen Rechnung: »Part II: Astronomy and Physical Implications«, der drei Texte zum Tunguska-Ereignis enthält, steht gleichberechtigt neben »Part I: Anthropology, Archaeology, Geology« und »Part III: Socio-Economic and Policy Implications«. Der interdisziplinäre Ansatz des Bandes und der ihm vorausgegangenen Konferenz versammelt zwar die Disziplinen, dient dabei aber vor allem der Aufgabenverteilung und damit -differenzierung. So können die Untersuchung solcher Einschläge in mündlicher Überlieferung, die Frage nach der Relevanz des Tunguska-Ereignisses für Impact-Statistiken, Versicherungsschutz im Falle eines Einschlages und Vorsorge für den Katastrophenfall diskutiert und an zentraler Stelle versammelt werden, ohne dabei Kompetenzbereiche zu beschneiden. Folglich zählen Fragen zum Katastrophenpotenzial und zur Vorbereitung auf die katastrophalen Folgen eines »Tunguska-like impact« zu den »Socio-Economic and Policy Implications«. Die aus den ersten beiden Teilen des Buches abgeleiteten Informationen bilden die Grundlage für den Entwurf möglicher, aber fiktiver Katastrophen (disasters), mit dem Ziel, Abläufe zu planen und gegebenenfalls Vorkehrungen zu treffen.

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Diese Minimaldefinition entspricht beispielsweise den Bestimmungen des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe insoweit, als die Überforderung lokaler Rettungsdienste eine Grundvoraussetzung für die Einbeziehung regionaler und nationaler Ressourcen und Dienste ist. Bewusst wird dabei die Ursache des Ereignisses außer Acht gelassen.18 Vielmehr geht es darum, Aufgaben und Kompetenzen, das heißt nicht zuletzt Souveränität zu verteilen, damit im akuten Fall schnell reagiert werden kann.19 Max Frischs in diesem Zusammenhang häufig zitiertes Diktum – »Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen« (Frisch 1986, 271) – stellt deutlich heraus, was häufig übersehen wird: Erdbeben, Tsunami und Wirbelsturm können erst dann zu Katastrophen werden, wenn Menschen betroffen sind. In der Zerstörungswirkung der Katastrophe wird ein »vorangegangener Gleichgewichtszustand« (Walter 2010, 16) sichtbar, den es wiederherzustellen gilt. Technisch und kulturell gilt es, die Störung der Ordnung zu bewältigen und im Falle einer relativ geringen Vulnerabilität und hohen Resilienz zu dem Zustand zurückzukehren, den die Störung durch die Katastrophe als Ordnung sichtbar gemacht hat. Die Komplexität dieses Geflechts von Merkmalen ist jedoch nur selten ausgewogen. Je nachdem was in die einzelnen Variablen dieser Gleichung eingesetzt wird, kann auch ein ver-

18 | Interessanterweise gibt es gerade dort, wo es um den praktischen Umgang mit Ereignissen von hoher Zerstörungskraft geht (z.B. beim Katastrophenschutz, beim Roten Kreuz und ähnlichen Organisationen), keine eindeutige Definition davon, was eine Katastrophe ist (vgl. Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) sowie Zivilschutz- und Katastrophenhilfegesetz (ZSKG). 19 | »(1) Die Katastrophe selbst (disaster), immer daran gemessen, was die Menschen erleiden; (2) Naturgefahren (hazards), wie Vulkanausbrüche oder Erdbeben; (3) die gesellschaftliche, wirtschaftliche, physische und psychologische Verwundbarkeit (vulnerability), das heißt, die spezifischen Besonderheiten der sozialen Gruppe und ihres Umfelds, mit ihren jeweiligen Fähigkeiten zu antizipieren, zu reagieren, sich zu wehren und sich von der möglichen Realisierung eines unwägbaren Ereignisses zu erholen; (4) die Resilienz (resilience), das heißt die Mechanismen und die technischen Möglichkeiten, die es erlauben, die Katastrophe zu bekämpfen oder, anders ausgedrückt, die Fähigkeit des Systems, den vorangegangenen Gleichgewichtszustand wiederherzustellen; (5) die kulturellen Ressourcen (culture), die über die Art der Wahrnehmung der Katastrophe und ihre Sinnzuschreibung bestimmen« (Walter 2010, 16; Hervorhebung im Original).

I.2 Katastrophe und Risiko

hältnismäßig kleines Ereignis verheerende Folgen haben.20 Nicht nur gilt, dass es »keine Katastrophe an sich [gibt]« (Walter 2010, 15), es braucht neben denen, die sie erleben, auch jemanden, der sie als solche bezeichnet. Eine Opferperspektive ist für die Katastrophe konstitutiv. Letztlich bedarf es aber einer zeitlichen oder räumlichen Distanz zum Erlebten, um von einer solchen sprechen zu können. Es kommt auf die Erklärung einer Katastrophe an, die von außen getroffen werden muss, um Souveränität zu generieren.21 Im Falle des Tunguska-Ereignisses ist Distanz ganz offensichtlich kein Problem. Die Leerstelle bezieht sich hier auf das Erleben. Es handelt sich nicht um eine Katastrophe, weil es im Sinne der zitierten Kriterien keine Opfer gibt. Dennoch ergibt sich gerade aus der Distanz zum Tunguska-Ereignis sein katastrophisches Potenzial. An keinem Ereignis lässt sich so deutlich zeigen, dass die Katastrophenerklärung unabhängig von physischem Schaden erfolgt. Zwar zerstörte die Explosion eine Waldfläche von über 2.150 Quadratkilometern, es ist allerdings nicht die tatsächliche Verheerung, die die Katastrophenerklärung provoziert, sondern die potenzielle. Der Katastrophensprechakt beruht statt auf einem messbaren auf einem erzählbaren Schaden. Darin unterscheidet sich diese Katastrophe nicht grundsätzlich von anderen, nur tritt der Umstand hier deutlicher zutage. Die anthropozentrische Perspektive, die die Katastrophenerklärung impliziert, bezieht sich demnach in erster Linie auf den kulturellen Schaden, den ein Ereignis verursacht. Kultureller Schaden meint hier, dass die Erklärung eines Ereignisses zur Katastrophe gleichzeitig das Eingeständnis beinhaltet, dass es nicht verhindert, im schlimmeren Fall nicht erwartet und im schlimmsten Fall – wie bei Tunguska – nicht einmal wahrgenommen wurde. Ein Ereignis von derartig großer Zerstörungskraft, das sich nahezu unbemerkt ereignet, zeigt umso deutlicher an, wie begrenzt der Verfügungsbereich

20 | So bedeutet eine kurzzeitige Dürre in einem ressourcenreichen und stabilen Land wie den USA keinesfalls, dass die Bevölkerung Hunger leiden muss, während das gleiche Ereignis z.B. im Sudan zu Tausenden Toten, Unruhen und infolgedessen weiteren Betroffenen führen kann. Umgekehrt traf das Erdbeben, das am 11. März 2011 Japan erschütterte, eigentlich auf ein gut vorbereitetes (weitgehend resilientes) Gebiet. Jedoch führte die ungewöhnliche Stärke des Erdbebens und des von ihm ausgelösten Tsunamis zur Zerstörung der Atomreaktoren in Fukushima. An diesem Beispiel zeigt sich, wie schwierig es ist, im Nachhinein zu bestimmen, was die ›eigentliche‹ Katastrophe ist: das Erdbeben, der Tsunami, die Verseuchung durch radioaktive Strahlung oder alles zusammen. 21 | »Im Gegensatz zu Ereignisbeschreibungen wie Sturmflut, Vulkanausbruch oder Atomunfall, die gemeinhin bedenkenlos als Katastrophe identifiziert werden, leistet der hiervon zu unterscheidende Begriff ein Doppeltes: Er sondert und klassifiziert ein Ereignis, um die normativen Institutionen alltäglichen Handelns auszusetzen und gleichzeitig einen besonderen Akt der Souveränität zu induzieren« (Hempel/Markwart 2013b, 144).

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moderner Programme über Welt ist. Tunguska ist deswegen eine Katastrophe, weil es die Fortschrittserzählung des 20. Jahrhunderts stört. Der Katastrophenbegriff ist nicht nur ein Begriff für außergewöhnliche Zerstörung und Ausdruck einer Souveränitätsbehauptung, sondern darüber hinaus ein »epistemologisches Maß der Wissenschaft, an dem sich Vernunft und Fortschritt gleichermaßen misst« (Hempel/Markwart 2013b, 187). Die Katastrophe macht sichtbar, was als Nicht-Wissen gelten muss.22 Diese Störung kann sich als produktiv erweisen, weil das enthüllte Erkenntnisdefizit eine Gelegenheit bietet, eine Wiederholung des (Natur-)Ereignisses in der Zukunft zu verhindern. Weil es sich um eine Katastrophe ohne Opfer handelt, ist Tunguska nicht nur eine besonders vielversprechende, sondern eine geradezu ideale Gelegenheit, Erkenntnisse zu gewinnen. Um es jedoch im Sinne des Fortschritts instrumentalisieren zu können, muss eine überzeugende Erklärung gefunden werden. Je länger das Ereignis sich dieser Instrumentalisierung entzieht, während gleichzeitig sein katastrophisches Potenzial – und damit das Versprechen zukünftiger Prävention – betont wird, desto gewichtiger wird das Fehlen einer Erklärung seiner Ursache. Das Ereignis fordert die Hybris der Verfügbarkeit über Natur noch deutlicher heraus als der ikonische Untergang der Titanic, weil es sich abseits des kultivierten Raums ereignet und dennoch erst innerhalb desselben überhaupt erst zum Ereignis wird. Weil es selbst nach einem Jahrhundert nicht erklärt ist, scheint es die Idee des Fortschritts als unaufhaltsamem Prozess hin zu einem vollkommenen Wissen über Natur endgültig auszuschließen. Das Zerstörungspotenzial der Tunguska-Katastrophe bezieht sich demnach nicht (allein) auf die Möglichkeit physischen Schadens, sondern auf die verheerende Wirkung, die es auf grundlegende Narrative der Moderne hat. Im heutigen Gebrauch ist ›Katastrophe‹ eigentlich ein in seinem Pessimismus »anachronistischer« Begriff. Erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wird er in der gegenwärtig gebräuchlichen Bedeutung23 und gemeinsam mit be22 | Die Naturwissenschaft kann keine Katastrophe konstatieren »außer als Störung, als Einbruch in den Erkenntnisstrom. Katastrophen sind ihr Ausdruck des Nichtwissens, das eine Differenz markiert zwischen Gegenstand und Beobachter. Jenes wird zum Anlass, das bestehende oder abrupt erkannte Erkenntnisdefizit zu beseitigen, wobei es zum Paradigmenwechsel kommen kann« (Hempel/Markwart 2013b, 187). 23 | Vgl. zur Begriffsgeschichte Walter 2010, insbes. 16-18: »Der für uns so bequeme Katastrophenbegriff ist also anachronistisch, zumindest bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, wo er seine erweiterte Bedeutung mit deutlich negativer und pessimistischer Konnotation erhält. Die Wörterbücher des 17. und 18. Jahrhunderts schreiben dem Wort keine Bedeutung außerhalb der Theatersprache zu, trotz des Gebrauchs bei Montesquieu […].« Erst in der Ausgabe des Dictionnaire universel du XIXe siècle von Pierre Larousse (1866-1876 veröffentlicht) wird »catastrophe« zum Synonym für »calamite«

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stimmten (Natur-)Ereignisformen benutzt. Der Erfolg dieser Bezeichnung verdankt sich jedoch bis heute ihrem Ursprung in der Dramentheorie.24 »Die heute geläufigste Metapher, die der alten Bildlichkeit des (nach unten wenden) zu neuer Aktualität verholfen hat, ist der tipping point, der Umschlagspunkt. Der tipping point bezeichnet jenen Punkt, in der ein vormals stabiler Zustand plötzlich instabil wird, kippt und in etwas qualitativ anderes ›umschlägt‹« (Horn 2014, 17).

Unabhängig von Zerstörungsausmaß, Ursache und Folgen wird mit dem Gebrauch des Wortes Katastrophe zunächst eine Zustandsveränderung benannt. Die Wendung von einem steuerbaren Zustand der Ordnung beziehungsweise des Fortschritts in einen entgegengesetzten Zustand des Ausgeliefertseins ruft das Ohnmachtsgefühl des Menschen gegenüber einer übermächtigen Natur auf den Plan. Dieses Ohnmachtsgefühl ist jedoch nicht bezifferbar, verursacht aber gleichwohl eine Störung der Ordnung und die Frage nach einem Sinn.25 Sinnzuschreibung ist die umfassendste Aufgabe, die sich einer (globalen) Gesellschaft angesichts einer Katastrophe stellt. Umfassend ist sie deshalb, weil die Sinnfrage nicht auf das räumliche und zeitliche Umfeld des Ereignisses begrenzt ist. Während gegenwärtig die beinahe simultane Berichterstattung eine globale Gesellschaft erreicht, dient die Katastrophe auch dazu, Erinnerung zu

erklärt. »Nachdem der Brockhaus im 19. Jahrhundert zum ersten Mal vermerkt, dass ein Naturereignis als Katastrophe angesehen werden kann, halten sich die deutschsprachigen Nachschlagewerke an die neutrale Definition einer plötzlichen Wendung« (Walter 2010, 17). 24 | Ursprünglich handelt es sich bei dem griechischen Wort für ›Wendung‹ um einen Begriff aus der Dramentheorie. Hier bezeichnet es den letzten Teil des Stücks, in dem der dramatische Konflikt seine Lösung findet. »Die K[atastrophe, SN] setzt ein nach voraufgehender, ansteigender, vom Wollen der Person getragener und sich entfaltender Handlung […], sie wird vorbereitet durch die Peripetie (Wendung, die dem Helden die Möglichkeit freien Handelns entzieht) […], dem Krisen- und Wendepunkt, und führt in rasch fallender Handlung (Gesetz des Müssens) zum Ende des Dramas. Die Bez. ›K.‹ impliziert in diesem Zusammenhang jede, nicht nur die trag[ische] Auflösung eines dramat. Konflikts« (Schweikle 1990, 234; Hervorhebung im Original). Vgl. auch Briese 2009. 25 | »Der Vielzahl verheerender Ereignisse Sinn zuzuschreiben, haben die Gesellschaften vor allem versucht. Wissenschaftliche Erklärung, Rückgriff aufs Religiöse, ästhetische Sublimierung, unterschiedliche Formen von Fiktion und bildlicher Inszenierung, all dies sind kulturelle Aneignungsformen zur Bewältigung der Katastrophe beziehungsweise zur Vorwegnahme des Risikos« (Walter 2010, 22).

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strukturieren.26 Mythen sind dabei von besonderer Bedeutung, weil sie sowohl die Speicher­funktion eines kollektiven Gedächtnisses als auch die Aufgabe der Sinnzuschreibung übernehmen.27 Problematisch wird die Wahrnehmung von Katastrophen in Hinblick auf einen Sinn jedoch, wenn in aufgeklärten Gesellschaften metaphysische Modelle zugunsten von rationalen Erklärungsmodellen aufgegeben werden. Ereignisse von großer Zerstörungskraft verursachten, so Walter, in den »alten Gesellschaften«, die noch keine »Katastrophengesellschaften« waren,28 zwar nicht weniger Schrecken, stellten jedoch die Ordnung nicht grundsätzlich infrage, sondern führten vielmehr zu einer Bestätigung des Glaubenssystems. Verstanden als Strafe für gegen besseres Wissen begangene Sün­den war die Katastrophe ein Teil der Ordnung, anstatt sie zu gefährden. Dem Ereignis wurde zunächst durch Verhaltensänderung begegnet. Präventive Technik zum Schutz vor einer Wiederholung (Dämme, Feuerschutzmauern) war der Buße gegenüber zweitrangig. Die Sinnhaftigkeit eines solchen Ereignisses war somit gegeben – ein Umstand, der sich erst mit der Aufklärung, insbesondere mit den Diskussionen um das Erdbeben von Lissabon 1755, änderte. Die Ausmaße dieser Katastrophe waren entsetzlich und (mindestens) europaweit bekannt, sodass man in gebildeten Kreisen keinen Sinn in der Heftigkeit des Bebens zu finden vermochte. Gleichzeitig erlaubte es der technologische Fortschritt und vor allem die Überzeugung, dieser werde sich unaufhaltsam fortsetzen, den Wiederauf bau mit der Einrichtung von modernen Schutzmaßnahmen (Erweiterung der Plätze und Straßen, Bau erdbebensicherer Gebäude, Schutzübungen) zu koppeln.29 Der Zustand sowohl der Stadt als auch des europäischen Geisteslebens war also nach dem Beben nicht wiederhergestellt, sondern verändert. Tatsächlich stellte die Katastrophe hier einen Wendepunkt dar, sofern man sie im Sinne der dramatischen Katastrophe versteht, allerdings scheinbar in verkehrter Richtung. Denn nun, so schien es, könne man das Schicksal selbst in die Hand nehmen, mit Vernunft und Technik den Mächten der Natur, wenn nicht gar Gott begegnen, anstatt ihnen ausgeliefert zu sein.30 In diesem Sinne stellt die »prometheische Kultur« das Produkt der Fortschrittsgläubigkeit und Unbesiegbarkeitsfantasien der Industrialisierung dar. 26 | »In [den] unterschiedlichen religiösen Traditionen dient die Katastrophe dazu, die Erinnerung zeitlich und räumlich zu strukturieren, die soziale und moralische Ordnung zu festigen und an die wesentlichen Werte des zerbrechlichen und vergänglichen Schicksals der Menschheit zu erinnern« (ebd., 217). 27 | Vgl. Kapitel I.3 »Kontingenz und Mythos«. 28 | Vgl. Walter 2010, 28-53. 29 | Vgl. ebd., 96-115. 30 | Diese Fantasie wird durch die Industrialisierung beinahe grenzenlos gesteigert: »Die Macht der Industrie fasziniert, umso stärker, als ihre Aktivität das prometheische

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Eine Katastrophe kann hier nicht mehr regulierender Teil der Ordnung sein, weil sie die technischen, wirtschaftlichen und sozialen Abläufe und sogar den Fortschritt selbst unterbricht. Auch der Kompetenzstreit um Tunguska zehrt von dieser Rivalität um die Deutungshoheit über den Sinn von Katastrophen. Schon die andauernde Suche nach einer Ursache beziehungsweise nach einer plausiblen Erklärung überführt dieses Ereignis »vom Status des ›Banalen‹ in den des ›Exzeptionellen‹« (Walter 2010, 141). Auch wenn es sich gemessen an der akuten Zerstörungswirkung nicht um eine Katastrophe gehandelt hat, so spricht doch schon der Ereignistyp beziehungsweise das Zerstörungspotenzial des Ereignisses dafür, es als Katastrophe in den Blick zu nehmen. Das katastrophische Potenzial des Tunguska-Ereignisses ergibt sich aus der Tatsache, dass es nicht verfügbar ist. Weder lässt sich hier ein Schaden beziffern, noch kann es als ›bloßes‹ Naturereignis ad acta gelegt werden. Die Erfahrung mit ähnlichen Ereignissen beziehungsweise wie in diesem Fall die Vorstellung dessen, was hätte passieren können,31 reicht aus, um ein akutes Risiko anzunehmen. Rhetorische Wirksamkeit und politische Brisanz gewinnt diese Argumentation aufgrund der Veränderungen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts die sogenannte Risikogesellschaft hervorgebracht haben.

Streben widerspiegelt, dank Wissenschaft und Technik zum Herrn und Meister über die Natur zu werden« (ebd., 157). 31 | Vgl. Walter (2010), der Tunguska im Rahmen der Häufung ›spektakulärer‹ Katastrophen zu Beginn des 20. Jahrhunderts erwähnt: »Im Juni 1908 wurde durch den Einschlag eines riesigen Meteoriten im sibirischen Tunguska-Tal jenseits des Urals ein unbewohntes Areal in einem Umkreis von etwa 50 Kilometern verwüstet. Die Wucht, mit der er aufprallte, soll etwa der einer Bombenexplosion von 20 bis 40 Megatonnen TNT entsprochen haben. Einige Astronomen konnten es sich nicht verkneifen anzumerken, dass nur wenige Stunden später die Stadt Sankt Petersburg von der Karte verschwunden wäre!« (Walter 2010, 169; Hervorhebung SN) – Die ›Rätselhaftigkeit‹ des Ereignisses spielt für seine Untersuchung keine Rolle. Die Art und Weise seiner Anmerkung lässt allerdings deutlich erkennen, dass er diese Art von Szenarien für nicht hilfreich hält, weil sie in dem von ihm untersuchten Zusammenhang die Angst und apokalyptische Grundstimmung der Zeit weiter anfachten.

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K atastrophenpotenziale – Tungusk a in der R isikogesellschaf t Das Ende des »prometheischen Traums« bedeutete keinesfalls einen Rückgang oder gar Einbruch des Strebens nach technologischem Fortschritt. Gerade weil die Katastrophen des endenden 19. und die Weltkriege des 20. Jahrhunderts die Grenzen technischer Machbarkeit und zugleich die Entgrenzung des Einsatzes technologischer Errungenschaften augenscheinlich werden ließen, war die Zeit des Kalten Krieges von den Imperativen des Wettbewerbs und des Fortschritts geprägt. Dieser war, anders als vor den Weltkriegen, aber nicht mehr nur von Optimismus und Fortschrittshoffnung bestimmt, sondern in hohem Maße von Angst. Infolgedessen veränderten sich auch die Wahrnehmung von Katastrophen und die Strategien zu ihrer Bewältigung. Der Wandel der leitenden Sinnzuschreibungsdiskurse von metaphysischen hin zu rationalen Erklärungsmodellen, der mit der Aufklärung begonnen hatte, scheint damit vollzogen zu sein. Der Erfahrungshorizont von Katastrophen in der technisierten Gesellschaft nach den Weltkriegen bezieht sich längst nicht mehr ausschließlich auf die Natur als ihre Ursache, sondern auf eben die Technologien, die der glorifizierte Fortschritt hervorgebracht hat. Nicht zufällig wird auch das TunguskaEreignis rückwirkend in diesen erweiterten Bezugsrahmen eingeordnet und sein Zerstörungspotenzial an dem der Atombombenexplosionen in Hiroshima und Nagasaki gemessen.32 Diese Explosion liefert nicht nur die Bilder für eine Revision des Tunguska-Ereignisses, sondern auch für das zwar diffuse, aber omnipräsente Gefühl ständiger Bedrohung, das von ihm ausgeht. Das Bewusstsein über die Verwundbarkeit der eigenen Kultur resultiert in dem 32 | Krassa gründet sowohl in Feuer viel vom Himmel als auch in Tunguska. Das rätselhafte Jahrhundertereignis seine These (mit Bezug vor allem auf Felix Siegel), dass es sich bei dem Tunguska-Ereignis um eine Atomexplosion nicht natürlichen Ursprungs gehandelt habe, auf den Vergleich von Berichten über die Folgen beider Explosionen (vgl. u.a. Krassa 1983, 5). Baxter und Atkins benutzen Berichte zweier Augenzeugen des Tunguska-Ereignisses neben dem eines Hiroshimaüberlebenden als Motto (Baxter/ Atkins 1976, 10, desweiteren: 95-101). Auch hier werden also die beiden Explosionen in Bezug zueinander gesetzt. Diese These wird jedoch in neueren Darstellungen (z.B. Longo 2007; Vasilyev 1998) nicht weiter verfolgt: »The latter hypothesis [an artificial object caused the explosion, SN] discussed in the works by Zolotov (1967, 1969), Mekhedov (1967), Zigel (1983), Zhuravloyov a. Zigel (1994) is closely connected to the assumption of the nuclear nature of the Tunguska explosion. However, it finds no confirmation in the results by Kolesnikov (Kolesnikov et al., 1975). Therefore, in this paper we confine the further discussion of the problem of the TM nature to the alternative ›comet-stony ateroid‹« (Vasilyev 1998, 141).

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Versuch, mögliche Katastrophen nicht mehr nur zu kompensieren, sondern durch Risikokalkulation und Prävention vorherzusagen und im besten Fall zu verhindern. Um die Einordnung zu erleichtern und Verfügbarkeit zu suggerieren, trennt man Natur- von Technik- beziehungsweise Kulturkatastrophen. Es handelt sich dabei jedoch um eine rein heuristische Unterscheidung,33 die, wie die zwischen Natur und Kultur insgesamt, Einfachheit suggeriert, wo ein hybrides Feld droht, Überblick unmöglich zu machen. Es ist Teil der Eigenschaften einer hybriden Katastrophe, dass erst mühsame und langwierige Untersuchungen, wenn überhaupt, Ablauf und Ursache bestimmen können. »Das […] zeitliche Auseinanderfallen von ›wissen, dass‹ und ›wissen, warum‹ geschieht bei Katastrophen mit Notwendigkeit. Es ergibt sich aus ihrer Definition als plötzliches und unvorhergesehenes Ereignis von großer Zerstörungswirkung« (Kegler 2007, 63). Angesichts von Natur-/Kulturkatastrophen wie ›Fukushima‹ wird sehr deutlich, dass so viele Faktoren Einfluss auf die Ausmaße eines solchen Ereignisses haben, dass es auch eine gut vorbereitete (demnach resiliente) Gesellschaft überraschen und zerstören kann. Das Risiko, genauer der Appell an ein Risikobewusstsein, das die Erwartung in nie gekannter Weise bestimmt, wird in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer starken politischen Kraft.34 Es sind insbesondere friedliche Technologien und das sich etwa ab den 1960er Jahren formierende ökologische Bewusstsein, die die Risikogesellschaft formieren. Der Energie- und Ressourcenbedarf der Ersten Welt steigt proportional zu ihrem Wohlstand an, wodurch sich auch die Risiken erhöhen, die von den Technologien und den Folgen der Ressourcengewinnung ausgehen. »In der fortgeschrittenen Moderne geht die gesellschaftliche Produktion von Reichtum systematisch einher mit der gesellschaftlichen Produktion von Risiken« (Beck 1986, 25; Hervorhebung im Original). Dass die systematische Integration von Gefahren- und Katastrophenpotenzialen durchaus ein gewollter Teil des Gesellschaftsmodells der ›fortgeschrittenen‹ Moderne35 ist, belegt schon der Gebrauch des Wortes ›Risiko‹ (risk). Es impliziert die Inkaufnahme einer Gefahr zugunsten eines möglichen oder im besten Falle sogar wahr-

33 | »[…] [D]er Blick auf den Bereich unserer Lebenswelt jedoch, in dem das ›Großschadensereignis‹ […] entsteht, erlaubt uns die (heuristische) Differenzierung in Natur- und Technikkatastrophen« (Drux 2007, 20). 34 | Vgl. Beck 2008, 29. 35 | Ein Begriff, den Beck den »post«-Komposita (Postmoderne, Postindustrialisierung, Nachaufklärung) gegenüberstellt: »›Post‹ ist das Codewort für Ratlosigkeit, die sich im Modischen verfängt.« (Beck 1986, 12). Zum Begriff »reflexive Modernisierung« vgl. Beck 1983, 251-253.

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scheinlicheren Gewinns.36 Die dadurch garantierte Integration des Risikos in wirtschaftlich-technologische Zusammenhänge ermöglicht und benötigt gleichermaßen politische und gesellschaftliche Rechtfertigung. Während die Inkaufnahme von (unbekannten) Gefahren zugunsten des Fortschritts noch als wenig problematisch wahrgenommen wurde, gilt dies für die fortgeschrittene Moderne nicht mehr. Die Fortschrittsbegeisterung der Vergangenheit weicht dem Gefühl einer Allgegenwart des Risikos. Der von dem Soziologen Ulrich Beck geprägte Begriff der »Risikogesellschaft« trägt diesem Wandel Rechnung. Das Erscheinen seines Buches Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne fiel mit dem Reaktorunglück in Tschernobyl 1986 zusammen, welches Beck zum Anlass nimmt, einen »bitteren Beigeschmack von Wahrheit« (ebd., 10) seiner Begriffe der »Risikogesellschaft und des »Gefahrenschicksals« festzustellen. Nach Tschernobyl seien die Strukturen der modernen Gesellschaft gleichzeitig dieselben und nicht mehr dieselben, da eine bisher unsichtbare Gefährdung nun auf einen Schlag Realität geworden sei. An Tschernobyl lasse sich gleichzeitig die Erfahrung des »Ausgeliefertsein[s] des Weltindustriesystems an die industriell integrierte und verseuchte ›Natur‹« (ebd., 9) sowie die Abhängigkeit von Messgeräten, Theorien und vom eigenen Nicht-Wissen ablesen.37 »What he [Ulrich Beck, SN] means by this is that the technological development of modern society has reached a stage where it has become unable to protect itself against the unintended ›side effects‹ of its own technologies, which, formerly latent and invisible, are now emerging into full public view« (Heise 2008, 147).

Der Kalte Krieg auf der einen Seite und ein gesteigertes Bewusstsein für die katastrophalen Folgeerscheinungen der modernen Technologien für ökologische wie soziale Systeme auf der anderen Seite führen zu einer fundamentalen Skepsis gegenüber der propagierten Notwendigkeit ständigen Wachstums. Beck geht dabei noch einen Schritt weiter: Er identifiziert ein am mittelalterlichen Ständeschicksal angelehntes »Gefährdungsschicksal, aus dem es bei aller Leistung kein Entrinnen gibt«. ›Not‹ als »Vorzeichen« dieses Schicksals werde ersetzt durch ›Angst‹ (Beck 1986, 8). Klassenunterschiede verlieren angesichts der Bedrohung durch nicht-lokale nukleare Verstrahlung ihre Bedeutung, in36 | »Employing this word [risk, SN] to talk about any situation declares our willingness to compare expected gain with possible harm. We generally do not define a practice as a risk unless there is an anticipated advantage somehow associated with that practice. In contrast, this disposition to weigh and compare is not invoked by concepts that might be employed as alternatives to ›risk‹ – ›danger‹, ›peril‹, ›hazard‹, and ›thread‹« (Langdon Winner zitiert nach Heise 2008, 133). 37 | Vgl. Beck 1986, 7-11.

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sofern als die Angst vor solchen Katastrophen unabhängig vom gesellschaftlichen Stand entsteht. Auch wenn das implizite Versprechen des Fortschritts, (soziale) Not mithilfe von Technologie und wirtschaftlichem Wachstum durch flächendeckenden Wohlstand zu ersetzen, nicht eingelöst werden konnte, hat der Versuch die Gesellschaft von Grund auf verändert. »Das Risiko stellt die Wahrnehmungs- und Denkschablone der mobilisierenden Dynamik einer Gesellschaft dar, die mit der Offenheit, den Unsicherheiten und Blockaden einer selbsterzeugten Zukunft konfrontiert und nicht mehr durch Religion, Tradition oder die Übermacht der Natur festgelegt ist, aber auch den Glauben an die Heilswirkungen der Utopie verloren hat. […] Als das Risiko auf den Plan trat, mußte Gott seine Position als Weltenlenker räumen, mit allen umstürzlerischen Konsequenzen« (Beck 2008, 20).

Die diffuse Angst vor Katastrophen möglicherweise globalen Ausmaßes macht grundsätzlich keine Unterschiede zwischen Arm und Reich. Zwar erlauben es größere finanzielle Mittel, sich besser zu schützen, ausschließen können sie die Gefährdung jedoch nicht. In einer Welt, die ohne ›Weltenlenker‹ auskommen muss und damit auch ohne das Versprechen auf jenseitige Besserung der Lebensumstände, greift Unsicherheit unabhängig von sozialen Umständen um sich. Die Struktur der Gesellschaft sowie die (politischen) Entscheidungsprozesse können sich dieser »Wahrnehmungs- und Denkschablone« nicht mehr entziehen, wodurch sie für jeden einzelnen Teil dieser Gesellschaft bestimmend wird. Von Existenz und Charakter eines Risikos hängen aber auch die Maßnahmen zu seiner Bewältigung und die potenziell von ihm Betroffenen ab. Eine Kritik an Becks Begriffen und Schlussfolgerungen bezieht sich dementsprechend vor allem auf den scheinbar egalisierenden Effekt des Risikos. Ursula Heise wendet jedoch zu Recht ein, dass man Becks Theorie nicht im Ganzen annehmen muss, um die Schlagkraft seines Arguments anzuerkennen: Risiko sei zu einem zentralen Gebiet sozialer Sorge und Konflikte geworden. »His point […] is not that the increased number and scope of modern risk scenarios have already overridden existing social inequalities, nor that they will lead to an egalitarian society, but that they will eventually lead to a rearticulation of inequalities on a different basis« (Heise 2008, 147). Unsicherheit über die Ursache des Risikos verschärft das Problem, insbesondere wenn wie beim Tunguska-Ereignis die Existenz eines solchen nicht mit Sicherheit belegt werden kann.38

38 | In Boris und Arkadi Strugatzkis Picknick am Wegesrand wird die Unsicherheit über Ursache und Existenz eines Risikos zum Zentrum einer Erzählung, die die strukturellen Merkmale des Tunguska-Ereignisses aufgreift, um seine potenziellen sozialen Auswirkungen in den Blick zu nehmen (vgl. Kapitel I.1 »Spuren und Fakten«).

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Die Betonung der immerwährenden Anwesenheit von Bedrohung hat weitere Auswirkungen. Angesichts ständiger Wiederholung von Berichten über Katastrophen in den Medien und der scheinbaren Häufung vergleichbarer Ereignisse besteht die Gefahr, dass ein Gewöhnungseffekt eintritt. »Die Risikogesellschaft ist eine katastrophale Gesellschaft. In ihr droht der Ausnahmezustand zum Normalzustand zu werden« (Beck 1986, 31; Hervorhebung im Original).39 Gegner und Befürworter risikoreicher Technologien gleichermaßen nutzen die rhetorische Kraft des Risikos, um dem entgegenzuwirken. Im Benennen eines Risikos wird die mögliche Katastrophe automatisch mit aufgerufen. Es ist umso präsenter, je genauer die möglichen Folgen eines realisierten Risikos benannt werden. Das führt entweder zu der Verharmlosung eines Risikos oder einer Überblendung von Risiko und Katastrophe.40 Beide Praktiken werden dem Risiko nicht gerecht und können zu fatalen Fehleinschätzungen führen. Denn auch wenn die Gefahr einer Katastrophe real sein mag, drückt sie sich im Risiko nur hypothetisch aus. »Risiko ist nicht gleichbedeutend mit Katastrophe. Risiko bedeutet die Antizipation der Katastrophe. Risiken handeln von der Möglichkeit künftiger Ereignisse und Entwicklungen, sie vergegenwärtigen einen Weltzustand, den es (noch) nicht gibt. Während jede Katastrophe räumlich und sozial bestimmt ist, kennt die Antizipation der Katastrophe keine raum-zeitliche oder soziale Konkretion. Die Kategorie des Risikos meint also die umstrittene Wirklichkeit der Möglichkeit, die einerseits von der bloß spekulativen Möglichkeit, andererseits von dem eingetretenen Katastrophenfall abzugrenzen ist. In dem Augenblick, in dem Risiken Realität werden […], verwandeln sie sich in Katastrophen« (Beck 2008, 29; Hervorhebung im Original).

Der Mangel an Konkretion, der der Kategorie des Risikos eigen ist, verweist auf die problematische Beziehung von Wissen und Nicht-Wissen. Während im Ernstfall ›wissen, dass‹ und ›wissen, warum‹ zwar zunächst zeitlich auseinanderfallen, aber zumindest theoretisch das Wissen um die Ursache das Wissen um den Eintritt der Katastrophe einholen kann, kommen sie im Risikobegriff kaum zusammen. Anders als die Katastrophe ist das Risiko nicht einzugrenzen. »Szenarien sind keine Prognosen und auch keine Visionen der Zukunft,

39 | Vgl. Hempel/Markwart 2013a, 9. 40 | Der Streit um die friedlichen Nutzung von Kernenergie (besonders nach großen Unfällen wie Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011) sowie die Leugnung des Klimawandels auf der einen Seite und seine Identifikation mit dem Risiko als ›Klimakatastrophe‹ auf der anderen Seite gehören zu den prominentesten Beispielen für Diskussionen, in denen diese Überblendung stattfindet.

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sondern analytische Explorationen von Möglichkeiten« (Horn 2014, 38).41 Auch wenn es sich bei einem Risikoszenario nicht um reine Spekulation handelt, ist die Fähigkeit der Wissenschaftler und/oder Experten, exakte Voraussagen zu treffen, auf verschiedenen Gebieten stark eingeschränkt. »Die ständig perfektionierte wissenschaftlich-technische Gesellschaft hat uns ironischerweise die fatale Einsicht beschert: Wir wissen nicht, was wir nicht wissen« (Beck 2008, 94). Hier ist es eben nicht möglich, wie Latour es beschreibt, eine Kette von Referenzen zu erstellen, die Nachvollziehbarkeit garantiert und zum Vertreter einer Ausgangssituation wird42, eben weil kaum zu bestimmen ist, was zum Ausgangspunkt einer Katastrophe werden kann und, wichtiger, weil das Ziel einer Risikobestimmung ist, die Katastrophe zu verhindern. Trotzdem bleibt die Überzeugung bestehen, dass umfassendes Wissen über eine Ausgangssituation dazu beitragen könne, Risiken durch Antizipation zu minimieren und dadurch den Katastrophenfall zu verhindern.43 Auch wenn die Beziehung zwischen der Inkaufnahme von Gefahren in der Hoffnung auf ökonomischen Gewinn bereits im Risikobegriff angelegt ist, geht es in der Diskussion nach einer Katastrophe zunehmend um Verantwortlichkeit. Das Argument, man habe zwar von einem bestimmten Risiko gewusst, angesichts seiner geringen Wahrscheinlichkeit sei es jedoch ökonomisch unvernünftig gewesen, sich darauf vorzubereiten, erzeugt angesichts der eingetretenen Katastrophe Unverständnis. Gleichzeitig wird die Risikokalkulation, ganz im Sinne der kapitalistischen Nutzbarmachung von Katastrophen, unter Einbeziehung des neuen Wissens fortgesetzt und damit das ökonomische und politische Kalkül, das der Risikoeinschätzung zugrunde liegt, bestätigt und die politische Verwertbarkeit sogar erhöht.44 Während die Unter41 | »Denn die Herausforderung, die Zukunftswissen stellt, das nicht von einer Kontinuität, sondern einer Diskontinuität von Gegenwart und Zukunft ausgeht, ist seine intrikate Verknüpfung von Wissen und Nicht-Wissen. Es ist ein Wissen unter der Bedingung des Nicht-Wissens. Diese Verknüpfung von Wissen und Nicht-Wissen kann durchaus auch optimistisch ausfallen, etwa als fortschrittsgläubige Hoffnung, demnächst mehr zu wissen. Dann ist Nicht-Wissen kaum mehr als ein Nochnicht-Wissen, ein Wissen über die Zukunft, das sich in Zukunft einstellen wird« (Horn 2014, 302; Hervorhebung im Original). 42 | Vgl. Latour 2002, 82. 43 | »[…] Rationalität – und das heißt: zurückliegende Erfahrung – verleitet [dazu], die Risikobewertung nach völlig unangebrachten Maßstäben vorzunehmen, Risiken für berechenbar und kontrollierbar zu halten, während sich Katastrophen stets in Situationen ereignen, über die wir kein Wissen besessen haben und die wir folglich nicht antizipieren können« (Beck 2008, 95-96). 44 | Zur Neukalkulation von Risiken und konkurrierenden Modellen dieser Berechnung vgl. Kauermann/Küchenhoff 2011.

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suchung der Katastrophe zwar ›neues‹ Wissen über Risiken generiert, täuscht sie allerdings auch über die Tatsache hinweg, dass die Katastrophe meist aufgrund von Faktoren eintritt, mit denen man bis dato nicht gerechnet hat. Die Hoffnung der Neuberechnung, es könne sich nun gleichsam um die letzten der zuvor zu wenig oder gar nicht berücksichtigten Faktoren handeln, zeigt, wie stark der Glaube an die Möglichkeit der vollständigen Berechenbarkeit und damit Beherrschbarkeit technischer wie natürlicher Risikofaktoren auch nach dem Ende des ›prometheischen Traums‹ noch ist. »Die Implikation, die daraus folgt, ist einfach: Gibt es nichts [mehr, SN] zu berechnen und zu zählen, kann man, ohne mit der Wimper zu zucken, jedwede Gefahr leugnen! Den Höhepunkt dieser quantitativen Sicht stellt der Mythos vom Nullrisiko dar« (Walter 2010, 222). Rationale (wissenschaftlich-ökonomische) Risikokalkulation und gesellschaftliche Risikowahrnehmung sind jedoch keinesfalls identisch. Das »Nullrisiko« hat sich angesichts weltweit wahrgenommener Katastrophen und der wachsenden Anerkennung des negativen Einflusses von Industrie und Technologie auch auf natürliche Phänomene als Mythos im Sinne eines Irrglaubens oder einer Lüge45 herausgestellt. Statt Sicherheit zu gewährleisten, schüren die Wissenschaften durch ihre Entdeckungen auch Ängste und verursachen selbst Risiken.46 Die Verquickung von wissenschaftlichen und ökonomischen Interessen, die in ihrer Allgegenwärtigkeit unübersehbar ist, schmälert den Eindruck der Unabhängigkeit der ›Experten‹ und damit die Autorität der Wissenschaften. »Je mehr Wissenschaft und Technologie […] im globalen Maßstab das Leben durchdringen und umgestalten, desto weniger gilt paradoxerweise diese Expertenautorität als selbstverständlich« (Beck 2008, 24). Die Unsicherheit in Bezug auf die Fähigkeit der Wissenschaften, katastrophischen Ereignissen, wenn sie schon nicht zu verhindern sind, Sinn zuzuschreiben, zeigt, anders als das Streben nach technischem Fortschritt, einen deutlichen Unterschied zur prometheischen Kultur des 19. Jahrhunderts. Es ist nicht mehr die Konkurrenz zwischen rationalen und transzendentalen/metaphysischen Erklärungsmodellen, die in der Bewältigung von Katastrophen zum Ausdruck kommt, sondern eine allgemeine Unsicherheit in Hinblick auf die Autorität von Erklärungsmo45 | Vgl. Kapitel I.3 »Kontingenz und Mythos«. 46 | »Die Kategorie des Risikos eröffnet eine Welt dies- und jenseits der klaren Unterscheidung von Wissen und Nichtwissen, wahr und falsch, gut und böse. Die eine und einzige Wahrheit ist in Hunderte von Relativwahrheiten zersprungen, die sich durch die Nähe zum und Betroffenheit durch das Risiko ergeben. Das bedeutet nicht, das Risiko hebe jede Form des Wissens auf. Es verschmilzt vielmehr im Sinnhorizont der Wahrscheinlichkeit Wissen und Nichtwissen. In der Kategorie des Risikos drückt sich der Umgang mit Ungewißheit aus, die heute oft nicht durch ein Mehr an Wissen überwunden werden kann, sondern aus dem Mehr an Wissen hervorgeht« (Beck 2008, 22).

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dellen und die Möglichkeit, einem Ereignis überhaupt durch objektive Konzepte Sinn zuzuschreiben. Einmal mehr wird hier die strikte Trennung zwischen Natur und Kultur zum Problem, weil in der Katastrophe die Grenzen der von Experten getroffenen Voraussage und die gleichzeitige Abhängig­keit von ebendiesen Experten offenbar wird. Im wahrsten Sinne des Wortes gilt hier: »the concept of ›objective risk‹ really makes no sense« (Heise 2008, 132). Vielmehr ist das Konzept des Risikos selbst eines der hybriden, nicht-menschlichen und nicht-natürlichen Dinge, die sich nach Latour zwischen den Polen tummeln. Folgerichtig obliegt die Entscheidung darüber, was ein Risiko ist, nicht einer der beiden Seiten, sondern der Vermittlung: »[…] [T]hese discussions take place at an intersection of science, society, and culture that defines ›risk‹ as a concept that encompasses far more than its technical or actuarial definitions to include complex cognitive, affective, social, and cultural processes without which it cannot be conceived, defined or investigated« (Heise 2008, 131).

Unabhängig von der berechneten Größe des Risikos hängt seine Einschätzung fundamental davon ab, wie groß die Gruppe der potenziell Betroffenen ist, ob es unmittelbar oder nur mit technischer Hilfe wahrzunehmen ist und ob es sich um ein altbekanntes oder ein ›neues‹ Risiko handelt.47 »Risk perceptions, therefore, cannot be analyzed in isolation from the social and institutional structures that situate individuals, and through which dangers are communicated and administered« (ebd., 127). Im Bewusstsein der inhärenten Unsicherheit wissenschaftlicher Prognosen werden Grundsatzdiskussionen beispielweise um den Einsatz bestimmter Techniken nicht mehr (nur) in Hinblick auf ihre Machbarkeit, sondern auch auf die öffentliche Wahrnehmung von Gefährdung hin diskutiert. Der Risikodiskurs ist dabei nie entweder rational oder irrational, sondern immer beides. Daraus folgt, dass das Konzept eines rein ›subjektiven Risikos‹ ebenso wenig Sinn ergibt wie das eines ›objektiven Risikos‹. Denn ebenso wie Gefahren heruntergespielt und unterschätzt werden, ist es nur ein kleiner Schritt, um aus 47 | »Regardless of the magnitude of the risk involved, voluntarily selected risks tend to be assessed as less hazardous than those that are involuntarily imposed, for example, leading some people to worry about second hand smoke even as they underestimate the health effects of bad nutrition. […] Similarly, dangers that are imperceptible to the average person tend to appear greater than those that are directly observable: new risks appear greater than old ones and unfamiliar ones more hazardous than wellknown ones; risks that entail delayed effects tend to be perceived as greater than those whose effects manifest themselves immediately; risks with controllable or nonfatal consequences are perceived smaller than those that entail uncontrollable or fatal ones« (Heise 2008, 125).

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dem Hinweis auf möglicherweise globale Folgen einer Technologie ein Weltuntergangsszenario werden zu lassen, das den apokalyptischen Visionen des endenden 19. Jahrhunderts in nichts nachsteht.48 Das »Mitspracherecht«,49 das nicht-wissenschaftliche Stimmen in Anspruch nehmen können, führt dazu, dass die wissenschaftliche Risikokalkulation um den mindestens ebenso komplexen Faktor des (Laien-)Diskurses über das Risiko erweitert wird.50 Gleichzeitig beeinflussen die rationalen Argumente der Experten, die nicht-wissen­schaftliche Wahrnehmung des Risikos. »Die Akzeptanz von Risiken ist nie allein auf die reine Vernunft oder allein auf Irrationales reduzierbar. Die Risikokultur schöpft in jedem Fall aus symbolischen Quellen und überlässt auf der Suche nach dem Sinn den spirituellen Referenzen ein weites Feld« (Walter 2010, 294). Risiko und Katastrophe sind also ebenso wie Rätsel »gleichzeitig real, und sozial« (Latour 2008, 87), also Quasi-Objekte im Sinne Latours. Dadurch gewinnen sie die Dimension der Verantwortlichkeit unabhängig davon, ob der initiale Impuls einer Katastrophe natürlichen oder technologischkulturellen Ursprungs ist. Risiken beziehungsweise Katastrophenpotenziale finden sich nicht entweder in ›der Natur‹ oder in ›der Kultur‹, vielmehr wird in der akuten Katastrophe sichtbar, dass »Natur [am Ende des 20. Jahrhunderts] unterworfen und vernutzt und damit von einem Außen- zu einem Innen-, von einem vorgegebenen zu einem hergestellten Phänomen geworden [ist]« (Beck 1986, 8; Hervorhebung im Original). Weil dieser Prozess bereits abgeschlossen ist, ist Sinn nicht mehr dadurch herzustellen, dass eine Unterscheidung zwischen ›menschlichem Verschulden‹ und ›natürlichen Ursachen‹ getroffen wird.51 Während Katastrophen jedoch, sofern sie materielle Schäden verursachen, gemessen, berechnet und so zumindest teilweise praktisch bewältigt werden können und müssen, handelt es sich bei Risiken um Quasi-Objekte,

48 | Versionen des Tunguska-Ereignisses, die den Verdacht beinhalten, die Spurlosigkeit vor Ort sei auf Verheimlichung zurückzuführen, spielen mit eben diesem Konflikt zwischen der Erwartung wissenschaftlicher Beherrschung und dem Misstrauen gegenüber einzelnen Mad Scientists, in diesem Falle Nikola Teslas, oder den geheimwissenschaftlichen Bestrebungen konkurrierender Systeme. 49 | »In Risikodiskursen, in denen auch Fragen der normativen (Selbst-)Begrenzung aufgeworfen werden, gewinnen Massenmedien, Parlamente, soziale Bewegungen, Regierungen, Philosophien, Juristen, Literaten etc. ein Mitspracherecht« (Beck 2008, 24). 50 | Ganz direkt, indem z.B. öffentliche Proteste die konkrete Umsetzung einer Technologie verhindern können. 51 | »Wenn es […] keine reinen Naturkatastrophen gibt, weil noch jede Naturkatastrophe aus möglichen Aktionen oder Unterlassungen, kurzum aus Schuld abgeleitet werden kann, so gibt es auch keine reinen Kulturkatastrophen mehr« (Macho 2004, 416).

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die trotz ihrer realen Existenz keine materielle Erscheinungsform haben und nur re-präsentiert werden können. So erscheint aber umgekehrt die Möglichkeit, ein so außergewöhnliches Ereignis wie Tunguska einfach im Hinterland zu belassen, zu glauben, dass es bloß natürliche Ursachen hat, mindestens unzureichend, wenn nicht sogar ignorant. Im Endeffekt spielt es gar keine Rolle, ob aus dem Tunguska-Ereignis akute Risiken abgeleitet werden, vielmehr sind die Zuschreibung von Risiken und das Verständnis des Ereignisses als Katastrophe entscheidend für die Untersuchung. Auch hier ist es die Vermischung von Natur und Kultur beziehungsweise die Tatsache, dass sich das Phänomen nicht restlos in einen Bereich einordnen lässt, die Unbehagen und gesteigerte Tätigkeit und Rechtfertigungsbemühungen erzeugt. »Risiken, wie sie in der fortgeschrittensten Stufe der Produktivkraftentwicklung erzeugt werden […] stellen sich also erst und nur im (wissenschaftlichen beziehungsweise antiwissenschaftlichen) Wissen um sie her, können im Wissen verändert, verkleinert oder vergrößert, dramatisiert oder verharmlost werden und sind insofern im besonderen Maße offen für soziale Definitionsprozesse« (Beck 1986, 29-30; Hervorhebung im Original).

Die von Beck proklamierte Offenheit führt gleichwohl zu einer Konkurrenz um Deutungshoheit, die der um die Autorität der Sinnzuschreibung für Katastrophen gleicht. Das Wissen, in dem sich Risiken herstellen, ist kein unbestritten ›gemeinschaftliches‹ Gut, sondern wird im ständigen Konflikt zwischen Laien und Experten, Medien und Wissenschaften erzeugt.52 Zweifel an der Autorität der Experten, das ›Mitspracherecht‹ nicht-wissenschaftlicher Stimmen und die akut sichtbaren Folgen risikoreicher Technologien oder Handlungsweisen wirken gleichermaßen an der Inszenierung des Risikos mit. Materielle und immaterielle, ökonomische und kulturelle Risiken lassen sich in dieser »Inszeniertheit des Risikos« (Beck 2008, 32) ebenso wenig sinnvoll voneinander trennen wie lokale von globalen Folgen. Offenheit für soziale Definitionsprozesse entsteht nur, weil die Risiken des ausgehenden 20. und beginnenden

52 | Im »rationalen Verständnis« gelte das Risiko unhinterfragt als objektives Phänomen. Die Fehler und Vorurteile in der Risikowahrnehmung werden demnach der »Subjektivität« der Laien zugeschrieben, welche durch ausreichende Information »aufgelöst« werden könne. Dem widerspreche die These von der Inszeniertheit des Risikos: »Viele werden die Inszenierung des Risikos für eine abstrakte Sache halten, die mit der Erfahrung des Risikos nichts oder wenig zu tun hat. Das aber wäre ein schwerwiegender Fehler, denn solche Inszenierungen haben immer auch eine existentielle, eine LeidensSeite.« (Beck 2008, 32).

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21. Jahrhunderts aus Ereignissen abgeleitet werden, deren Reichweite nicht mehr räumlich begrenzbar ist. Diese »kosmopolitischen Ereignisse«53 verursachen nicht nur Schäden, sondern lassen auch das gemeinsame Gefährdungsschicksal der Welt(-bevölkerung) evident werden. Die Vernetzung der industriellen Welt erlaubt die weltweite Übertragung von Bildern und internationalen Hilfeaufrufen und verbreitet gleichzeitig die Allgegenwart der Angst, ähnliche zivilisatorische Strukturen und verwandte Risikolagen könnten zu vergleichbaren Katastrophen in der eigenen Umgebung führen. So wird weltweite und dennoch persönliche Betroffenheit erzeugt, die durchaus produktiv umgewendet werden kann. Der Diskurs in der »Weltrisikogesellschaft« ist also nicht aufgrund einer neuartigen Durchlässigkeit der Wissenschaften, sondern aufgrund des Eindringens der persönlich von Risiken betroffenen Laien offen für soziale Veränderungsprozesse. Die Einsicht in die eigene Verantwortung für die ungewollten Nebenfolgen des Wohlstands der Industrienationen kann ein Effekt der Risikogesellschaft sein. Ob »[d]urch das Risiko die Hybris der Kontrollierbarkeit, vielleicht aber auch die Weisheit der Ungewißheit an Einfluß gewinnen [kann]« (Beck 2008, 22), bleibt abzuwarten. Deutlich wird, dass das Risiko selbst als Medium der Vernetzung einer globalen Gemeinde beschrieben werden kann. Lokales und Globales überlagern sich im Risiko, woraus sich Schlüsse darauf ziehen lassen, welchen Effekt der Einsatz des Begriffs auf einen Diskurs haben kann. Die Inszenierung des Tunguska-Ereignisses als Katastrophe baut auf der Erzeugung eines Gefährdungsschicksales auf. Indem es über die rhetorische Verschiebung der Parameter das Ereignis als Szenario einerseits greif bar macht – Was, wenn es sich über London/New York/Belgien ereignet hätte? – und andererseits mit einer denkbaren, fatalen Zukunft verknüpft, wird die Distanz zum Ereignis durch die Inszenierung eines sich darin offenbarenden Risikos wettgemacht. Auch wenn es paradox erscheint, das Tunguska-Ereignis ist ein kosmopolitisches Ereignis, obwohl oder gerade weil es sich in gewisser Weise noch im 19. Jahrhundert ereignet hat. Zwar hat es außerhalb (massen-) medialer Reichweite stattgefunden, doch im Umgang mit dem Ereignis wird der noch ungebrochene Anspruch reflektiert, zu wissen, was auf der ›ganzen‹ Welt passiert. Das Ereignis hat sich, so kann man dementsprechend feststel53 | »›Kosmopolitische Ereignisse‹ sind […] hochmediatisierte, hochselektive, hochlabile, hochsymbolische, lokal-globale, national-internationale, material-kommunikative, alle sozialen Grenzen übergreifende und mischende, die in den Köpfen regierende Weltordnung umstürzende Reflexionserfahrungen und Schicksalsschläge, die undenkbar sind, bis sie geschehen, und deren kosmopolitische Empathie, Wirklichkeit und Authentizität in eins mit dem sich entfaltenden Werden der Katastrophen symbolisch hergestellt (und entsprechend konstruiert) werden muß« (Beck 2008, 136).

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len, im (historischen) Netzwerk des 20. Jahrhunderts abgespielt, jedoch unter den technologisch-medialen Bedingungen und im Erwartungsrahmen des 19. Jahrhunderts, weswegen es nicht verfügbar ist. Obwohl also die Bilder und Informationen über das Ereignis erst im Laufe des 20. Jahrhunderts verbreitet wurden, nutzt die Katastropheninszenierung die affektiven Strategien der Risikobehauptung. Die fehlende Erklärung dient auch hier als Variable, die es erlaubt, das Ereignis in verschiedenen Kontexten einzusetzen. Wenn ein Risikoszenario niemals nur lokale Bedeutung hat, dann erlauben der Gebrauch des Begriffs und die in diesem Zusammenhang vertrauten Formen von Katastrophenszenarien es auch, einem lokal begrenzten Ereignis globale Bedeutung zuzuweisen. Neben der Hoffnung, dass die »Weisheit der Ungewißheit« Einfluss gewinnen kann, birgt der Gebrauch des Risikobegriffs auch die Gefahr, Größenverhältnisse ausufern zu lassen: Jedes Ereignis birgt dann, überspitzt gesagt, das Risiko des Weltuntergangs.

Tungusk a und das R isiko des W eltuntergangs Angst und Misstrauen scheinen seit jeher die Rezeption wissenschaftlicher Erkenntnisse zu begleiten. Misstrauen besteht nicht erst seit Technologie und Wissenschaft das alltägliche Leben so weit durchdrungen haben, dass Expertenautorität nicht mehr die alleinige Deutungs- und Erklärungshoheit beanspruchen kann, sondern weil die Trennung von Spezialisten und Laien ein Machtgefälle beinhaltet. Diejenigen, die nun erklären, tun dies zwar zunächst nicht weniger ›von oben herab‹ als dies die Pfarrer von den Kanzeln herab taten (und tun). Aber im Gegensatz zu jenen bieten die aufgeklärten Autoritäten keinen Schutzraum. »Der ursprüngliche Sinn des Wortes Apokalypse meint […] ›Offenbarung‹ und nicht ›Zerstörung‹, wie man zumeist falsch annimmt. Denn auf das Ende der Welt folgen die Wiederkehr des Gottesreiches, das neue Jerusalem und der Ruhm des Lammes« (Walter 2010, 75). Während die Ankündigung der biblischen Apokalypse mit konkreten Handlungsanweisungen einhergeht und zumeist an gerade dem (Schutz-)Ort stattfindet, der gleichzeitig Erlösung verspricht, lässt das aufgeklärte Prinzip die Laien – entgegen dem Versprechen des Enlightenments – im Dunkeln. Während Tradition und Religion Wahrheit(en) vermitteln, bieten Wissenschaften Fakten und Hochrechnungen. Wo sich in den vormodernen Gesellschaften Laien und Prediger in einem direkten und klar definierten Autoritätsverhältnis befanden, ist eine direkte Kommunikation zwischen Laien und Experten im Programm der Moderne nur bedingt vorgesehen. Das Machtgefälle zwischen denen, die wissen, und denen, die nicht wissen, besteht weiter, nur ist es weder transparent noch stabil. Theoretisch kann sich zwar jeder aus der ›selbstverschuldeten Unmündigkeit‹ befreien, das heißt, auch Laien wis-

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sen theoretisch immer nur noch nicht, doch praktisch ist die Kluft zwischen den Spezialisten und der (selbst gebildeten) Öffentlichkeit nahezu unüberwindlich. Die politische Situation des 20. Jahrhunderts verschärft dieses Problem, weil in demokratischen Gesellschaften ebendiese Laien (beeinflussbare) Mehrheiten bilden, die nicht nur beherrscht werden müssen, sondern selbst politische Macht ausüben. Die politische Wirkkraft des Risikos gemeinsam mit Katastrophenszenarien entfaltet sich in ebendieser Kluft zwischen Laien und Experten. Nicht nur wird hier entschieden, oder besser, erstritten, was Risiken sind und wie Katastrophen bewältigt werden, hier findet die Vermittlung zwischen beiden Seiten statt – und das nahezu autonom. »Denn das Konstrukt der Katastrophenberichterstattung hat nie die bloße Wiedergabe der Fakten zum Ziel. […] Sie spielt die Rolle sozialer Indikatoren und hat somit Teil am breit angelegten Prozess der Inszenierung und Instrumentalisierung. […] Doch nur das mythische beziehungsweise symbolische Verstehen des Geschehens wird die Überlebenden dazu anspornen, sich an die Arbeit zu machen. Die moralische Verarbeitung kann hier wichtiger sein als technische Maßnahmen und physische oder materielle Hilfe« (ebd., 130).

Zunächst übernahmen Predigten die Funktion der »moralischen Verarbeitung« und vermittelten die von der kirchlichen Obrigkeit legitimierten Diskurse. Ab dem 18. Jahrhundert konkurrieren Zeitschriften und später auch die Tagespresse mit den religiösen Deutungen und nehmen ihre Stelle ein, wenn sie auch andere Ziele verfolgen. Es geht bei der Berichterstattung vor allem um die kommerzielle Verbreitung der Druckerzeugnisse selbst.54 Dabei verschiebt sich der Fokus der Sinnzuschreibung zunehmend vom Religiösen ins Säkulare. Die Wiederherstellung der Vorherrschaft des Menschen über die Natur steht nun im Vordergrund und motiviert dazu, »sich wieder an die Arbeit zu machen«.55 Berichterstattung wird zum Sammlungsort von Bildern, Nachrichten, Kommentaren. Dabei werden diese mehr als eine reine Informations54 | Vgl. Walter 2010, 130-133. 55 | »Häufig mündet das Erzählen außergewöhnlicher Ereignisse oder von Naturkatastrophen in eine Betrachtung, die der Vorherrschaft des Menschen über die Natur Vorrang einräumt. In jedem Fall aber hat die angesichts der Katastrophe von der Lektüre angeregte starke Gemütsbewegung die Funktion der Kompensation von Ängsten durch Empathie mit den Opfern. Denn das Hervorrufen positiver Regungen ist eine Möglichkeit, die Furcht auszutreiben. Diese Kompensationspraxis, die von den Illustrierten entwickelt wird, bringt schließlich die Muster der Katastrophenerklärung, die den Aberglauben bemühten, in Misskredit. Derselbe Mechanismus trägt auch zum Erfolg eines Erklärungsmodells eher wissenschaftlichen Typs bei, zu diesem neuen Mythos, der Wissenschaft« (Walter 2010, 132).

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quelle. Sie werden zur Bühne der Katastrophe, zu ihrem eigentlichen, wenn auch entgrenzten Raum. Die Schnelligkeit der Übertragung und die Vielfalt der Darstellungsmöglichkeiten intensivieren und beschleunigen dabei das, was Walter bereits für die Kompensationspraxis der Illustrierten feststellt: das Hervorrufen positiver Regungen, um Angst einzudämmen, Produktivkraft zu mobilisieren und letztlich die Katastrophe dadurch zu bewältigen, dass die Ordnung wiederhergestellt beziehungsweise aufrechterhalten wird. Die Entgrenzung der raum-zeitlichen Dimensionen der Katastrophe in Hinblick auf ihre weltweite Vermittlung und Verbreitung steht kommerziellen Interessen und den Begrenzungen des Mediums gegenüber.56 Tatsächlich erscheint es so, als ob die Neigung zu apokalyptischen Szenarien in enger Verbindung zur Konfrontation einer breiten Öffentlichkeit mit wissenschaftlichen Erkenntnissen gehört. Durch den Wegfall metaphysischer Deutungsmuster (auf gesellschaftlicher Ebene) entsteht ein (Macht-)Vakuum, das weder Wissenschaften noch Medien vollständig zu füllen vermögen. Die etablierte Rolle, die dem Fernsehen und der Presse bei der Bewältigung von Katastrophen zukommt, hat sich zu einer nahezu allumfassenden Machtposition ausgeweitet. Das wird daran sichtbar, dass Kritik am Medium oft nur im selben Medium geäußert werden kann. Daraus darf keine Verschwörungstheorie über eine unsichtbar regierende Medienmacht abgeleitet werden.57 Aber dieser Punkt muss deutlich gemacht werden, um zu verstehen, wie aus wissenschaftlich generiertem Wissen Untergangsszenarien mit Breitenwirkung entstehen können. Unter anderem geschieht das durch die paradoxe Gleichzeitigkeit von »übertriebener Ehrfurcht vor den Diskursen von Experten« (Walter 2010, 285) und der Infragestellung beziehungsweise Skepsis gegenüber ihrer Autorität. Beide verweisen auf die bereits erwähnte Kluft zwischen Experten und Laien – auf Angst und Misstrauen auf der Seite der 56 | »All dies, reduziert auf das Format des Bildschirms, räumt offensichtlich der Ästhetik oder der Theodizee wenig Raum ein, diesen traditionellen Formen zur kollektiven Bewältigung von Traumata. Und doch weiß niemand mehr, wo die Grenze zwischen Fiktion und objektivem Wissen verläuft. Die Ignoranz der Öffentlichkeit in Bereichen der naturwissenschaftlichen Spitzenforschung und deren Darstellung von Naturrisiken oder Klimawandel grenzt an Analphabetismus. Dieser fördert die übertriebene Ehrfurcht vor den Diskursen von Experten, die diese auszunutzen und zu überbieten suchen, indem sie den unaufhaltsamen Charakter apokalyptischer Szenarien sträflich vereinfachen« (Walter 2010, 285). 57 | »Auf jeden Fall ist die noch kürzlich wieder geäußerte These, kollektive Angstzustände seien die gewollten Begleiterscheinungen raffinierter politischer Repression oder zumindest die Folge von Medienverschwörungen, unzutreffend. Eher ist von einem natürlichen Gleichgewicht des Angstbedarfs und der Angstabwehr auszugehen, in dem sich Subjekte leiblich, individuell oder kollektiv formieren« (Briese 1998, 326).

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Laien, weil sie nicht verstehen, was auf der ›anderen‹ Seite passiert, und Herablassung und Sorge auf der Seite der Wissenschaftler, weil sie sich nicht verstanden oder, beinahe schlimmer, missverstanden fühlen. Dieser Umstand wird besonders in Bezug auf die Darstellung des Risikos deutlich. Risiken sind per Definition nicht räumlich oder zeitlich eingegrenzt, weil sie als solche allein als Möglichkeit existent sind. In der Kommunikation von Risiken müssen sich Medien (wie im Übrigen auch Wissenschaftler) bei Wörtern und Bildern bedienen, um über Vergleiche und Analogiebildung ein Risiko zu verdeutlichen. Verglichen werden dabei jedoch nicht Risiken, sondern realisierte Risiken, also bereits eingetretene Katastrophen. Auf kleinerer Ebene, das heißt, wenn sich die Risikofaktoren überblicken lassen, stellt das kein Problem dar. Beschreibt man das Risiko eines Flugzeugabsturzes aufgrund einer bestimmten Bauweise, die sich als gefährlich erwiesen hat, so lässt sich aus der Erfahrung lernen. Aus dem Reaktorunglück in Fukushima auf ein Risiko für Reaktoren in Mitteleuropa zu schließen, stellt sich jedoch als schwieriger dar. Dennoch hat ebendiese Analogiebildung direkte und weitreichende politische Auswirkungen. Angst entsteht nicht, weil im Vergleich ein konkretes Risiko erkannt worden wäre, sondern weil die (entsprechend kommentierten) Bilder eines realisierten Risikos mit der Unsicherheit einer ganzen Technologie identifiziert werden. Hat sich ein solches Szenario etabliert, ist es auch dann nicht wieder rückgängig zu machen, wenn ganze Heerscharen von Experten auf die Sicherheit heimischer Reaktoren, die geringe Wahrscheinlichkeit einer ähnlichen Ereigniskette und die Vorteile der Technologie hinweisen. Wird nun von Risiken im Zusammenhang mit dieser Technologie gesprochen, wird automatisch das assoziierte Szenario mit aufgerufen. Das Wissen darüber, was passieren könnte, erzeugt dabei mehr Angst als das Wissen darüber, dass es (hier) höchst unwahrscheinlich ist, dass Ähnliches tatsächlich passiert.58 Fiktionen spielen dabei eine zentrale Rolle, weil sie – und in diesem Zusammenhang sind auch die Inszenierungen des Tunguska-Ereignisses bedeutend – die Wahrnehmung von Katastrophen im Vorhinein formen. Mediale Vorwegnahme strukturiert die Reaktion auf eine Katastrophe, indem sie ihr

58 | Ob und welche Ängste entstehen, ist dabei in hohem Maße von der (Medien-) Kultur abhängig. So wurde im Zuge der Fukushima-›Verarbeitung‹ beispielsweise nur in Deutschland, wo es bereits seit Jahrzehnten eine organisierte und etablierte Anti-AtomBewegung gibt, ein Abschalten aller existierender Atomkraftwerke entschieden. Solche Szenarien können auch Konkurrieren: In seiner Gaia-Theorie stellt Lovelock die Gefahr eines Reaktorunglücks der Gefahr des Überhitzens der Erde aufgrund fossiler Gase und des in seiner Theorie daraus folgenden Aussterbens der gesamten Menschheit gegenüber (vgl. Lovelock 2008).

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Publikum gleichzeitig schafft und gewissermaßen immunisiert.59 Schon in der Frühphase der Aufklärung war zu beobachten, dass ein Mehr an Wissen keinesfalls einen Rückgang irrationaler Ängste nach sich zog, sondern den Angstdruck sogar verstärkte.60 Die neuen Ängste können deswegen stärker sein, weil sie vermeintlich rational begründet sind. Zwar bleibt die Angst selbst irrational, jedoch gewinnen ihre neuen Gegenstände als Gegenstück zu den »finster-gläubigen Vorhersagen von Strafe und Untergang« (Briese 1998, 180) den Anschein von Aufgeklärtheit. Die Feststellung eines Wissenschaftlers, es könne durchaus, wenn auch mit einer äußerst geringen Wahrscheinlichkeit, zu einem Zusammenstoß der Erde mit einem Kometen kommen, kann zur Apokalypse verkürzt werden,61 weil sich Darstellung und Wahr­nehmung von Katastrophen und Risiken nach wie vor traditioneller Erzählmuster bedienen. Zur Verkürzung kommt es aus dem gleichen Grund, aus dem die Ängste ›rational‹ begründet erscheinen: Der Kontakt zwischen Wissenschaftlern und Öffentlichkeit ist niemals direkt, sondern stets (medial) vermittelt. So werden Wissenselemente wie das Risiko in andere Interessens- und Wirkungskontexte eingefügt. Nicht nur können sie (auch verfälscht) politisch instrumentalisiert werden, sie unterliegen auch den jeweiligen Wahrnehmungsmustern des Kontextes. Das Fernsehen als Bühne der Katastrophe zu beschreiben, gewinnt in Bezug auf das Risiko sogar noch mehr Relevanz, da sich mit Angst Aufmerksamkeit und, für das Fernsehen nicht unerheblich, Einschaltquoten generieren lassen. Es ist also nicht nur die an »Analphabetismus grenzende Ignoranz der Öffentlichkeit« (Walter 2010, 281) gegenüber der Spitzenforschung, sondern auch 59 | »[Premediation] prevent[s] the experience of a traumatic future by generating and maintaining a low level of anxiety as a kind of affective prophylactic« (Grusin 2010, 46). 60 | Vgl. Briese 1998, 180-182: »Es war geradezu paradox: die aufklärerischen Disziplinen, die doch eigentlich das Gespinst der Prophezeiungen und Offenbarungen zerschlagen und die mittelalterlichen Ängste verdrängen wollten, hatten nur einen Komplex neuer Ängste geschaffen. Die finster-gläubigen Vorhersagen von Strafe und Untergang wurden durch die aufgeklärt-exakten Prognosen denkbarer kosmischer Katastrophen ersetzt. Die Kometenbahnen zu berechnen – neben der Entdeckung des Blitzableiters die hervorragende wissenschaftliche Leistung der Aufklärung – schuf neue Schrecken, die den einstigen in nichts nachstanden.« (Briese 1998, 180). 61 | Briese berichtet von einem solchen Fall: Am 21. Mai 1773 musste der Vortrag Joseph J. Lalandes über mögliche, aber äußerst unwahrscheinliche Zusammenstöße der Erde mit Kometen vor der Pariser Akademie der Wissenschaften aufgrund eines Zeitverzugs abgebrochen werden. Umgehend verbreitete sich die Nachricht ein drohender Zusammenstoß solle vor der Öffentlichkeit verheimlicht werden. Trotz Presseerklärungen und Veröffentlichung des Manuskripts war die Hysterie in Frankreich nicht zu bremsen (Briese 1998, 179).

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eine Wahrnehmung des Risikos und der (akuten) Katastrophe als Schauspiel. Die Öffentlichkeit wird so zum Publikum, das unterhalten werden will, und die von kommerziellen Interessen geleiteten Medien versuchen diesem Wunsch zu genügen. Dadurch entsteht jedoch die Gefahr, dass der Unterhaltungswert der Nachrichten ihren Informationswert überlagert. Gerade weil der direkte Zugang zu wissenschaftlichen Quellen durch die Kluft zwischen Laien und Experten eingeschränkt ist, darf die Rolle solcher auch ausgewiesen fiktionaler Inszenierungen des Risikos nicht unterschätzt werden. Sie prägen die öffentliche Wahrnehmung von Risiken in entscheidender Weise: »It stands to reason that such conceptualizations, which tend to be far more available to the general public than scientific information, play an important role in the selection and evaluation of risks« (Heise 2008, 137). Größtenteils ist also davon auszugehen, dass medial inszenierte Risiken in Presse, Sachbüchern und fiktionalen Medien die erste und oft auch einzige Quelle sind, aus der Risikoeinschätzungen abseits der Wissenschaften gewonnen werden. Das Abwägen verschiedener Expertenmeinungen geschieht folgerichtig innerhalb dieser medialen Inszenierungen und wird so selbst zum Teil der Inszenierung. Risiken können also nur dann als real wahrgenommen werden, wenn sie eine Plattform in dem Raum zwischen Gesellschaft und Natur/Wissenschaft finden können. Filme und Bücher, die sich der Inszenierung von modernen Risiken sowie der katastrophalen Geschichte und der daraus abgeleiteten Zukunft des Planeten widmen, erfüllen dabei nicht nur die Funktion, ein Bewusstsein für diese Risiken zu generieren – also sozusagen zum Schutz –, sondern erfreuen sich auch großer Beliebtheit beim Publikum. Ob es sich um den Umgang mit Nahrung und ihre Herstellung (Food Inc. 2008), die möglichen Folgen des menschenverursachten Klimawandels (An Inconvenient Truth 2006) oder eben den Einschlag eines Kometen (Super Comet: After the Impact 2007 [als zweiteilige »Terra X«-Sendung im ZDF – Armageddon. Der Einschlag 2007]) handelt, die Inszenierung der Risiken und der daraus entwickelten Katastrophenszenarien gewinnen oft eine apokalyptische Dimension. Sie entwickeln implizit wie z.T. explizit Handlungsanweisungen in Form von ›Wenn-nicht-dann‹-Szenarien, die durch ein starkes Wir Verantwortlichkeit und gleichzeitig Handlungsoptionen suggerieren. »Im antizipierten Desaster, so die Überzeugung des aktionistischen Diskurses, zeigt sich ein unter der Oberfläche unserer Zivilisation liegendes ›Reales‹, auf das wir uns einstellen müssen, auch wenn es noch lange nicht sichtbar ist. In der (vielleicht allzu kurzen, vielleicht gemütlich langen) Spanne zwischen der Imagination und der Manifestation dieses Realen liegt der Zeit- und Handlungsdruck, den Katastrophenimaginationen ausüben« (Horn 2014, 382).

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Nicht in allen Fällen sind diese jedoch gegeben, denn je größer der Umfang des Risikos ist, desto geringer ist die Möglichkeit des Vorbereitens, Eingreifens oder die Hoffnung auf ein Danach. Dennoch spielen selbst Szenarien, die schon im Titel mit der größtmöglichen Katastrophe spielen, mit der Möglichkeit des (heroischen) Überlebens Einzelner.62 Der Handlungsdruck kann im Rahmen solcher Überlebenserzählungen zum Teil der Erzählung werden, wodurch er, insbesondere wenn es dem/den Helden gelingt, zu überleben oder den Kataklysmus abzuwenden,63 entschärft wird. Katastrophenfiktionen können dadurch sogar eine beruhigende, handlungsentlastende Funktion erfüllen, weil sie, umgekehrt zur Tunguska-Inszenierung, die Katastrophe dem eigenen Handlungsbereich entrücken: »Wir konsumieren Desasterszenarien und Desasterwissen, aber das tun wir weitgehend mit einer Haltung des Zuschauers. Mit anderen Worten: Wir lassen untergehen. Denn die Desaster stoßen ja anderen zu« (Horn 2014, 383; Hervorhebung im Original). Der Erfolg solcher Katastrophendarstellungen und Risikoinszenierungen, besonders solche, die beanspruchen, wissenschaftlich fundiert zu sein, lässt sich aber nicht einzig auf ihren Unterhaltungswert zurückführen. Diese Perspektive lässt außer Acht, dass die Ereignisse, die erst seit vergleichsweise kurzer Zeit wissenschaftlich verfügbar sind, schon seit Langem Gegenstand mythischer Erzählung, literarischer und künstlerischer Darstellung sind. Die dadurch etablierten Erzähl- und auch Erklärungsmodelle werden nicht durch wissenschaftliche Modelle ersetzt. Jene müssen sich in gewisser Weise selbst der traditionellen Muster bedienen, um ihre Erkenntnisse, die zum Teil keinen Vergleichspunkt in der Erfahrungswelt haben,64 darstellen und vermitteln zu können. Dabei können sie dazu dienen, Wissenschaft verfügbarer zu machen. Denn gerade das Bewusstsein, dass sich wissenschaftliche Kenntnisse allzu oft »unmittelbarer menschlicher Wahrnehmung [entziehen]« (Titzmann 1997, 303) oder zumindest die eigenen Kenntnisse zu gering sind, um sie nachzuvollziehen, stärkt den Wunsch nach Vermittlung. Darüber hinaus können solche Szenarien auch Wissen über Katastrophen und Risiken produzieren.65 Der Begriff des Risikos ist gleichzeitig Medium und Effekt dieser Vermittlung. Er verweist darüber hinaus auf ein der Thermodynamik entlehntes Ge-

62 | Vgl. Horn 2014, insbes. 206-207. 63 | Handlungsmuster wie diese finden sich in verschiedenen Tunguska-Texten (vgl. Kapitel I.2 »Katastrophe und Risiko«). 64 | Vgl. Kapitel I.1 »Spuren und Fakten« und Titzmann 1997, 303. 65 | »Während in der Realität katastrophale Unfälle vermeintliches Orientierungswissen hinterfragen, produzieren fiktionale Katastrophen ein solches Wissen […]« (Kegler 2007, 65; Hervorhebung im Original).

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schichtsbild,66 das die enge Verknüpfung von Risiko und ›Ende‹ veranschaulicht. Dabei wird die Phase der ›fortgeschrittenen‹ Moderne der ersten Phase der Industrialisierung als unaufhörlich und unumkehrbar auf Zerstörung zulaufend entgegengestellt.67 Die Interpretation des physikalischen Begriffs der Entropie als »wissenschaftliche Metapher der christlichen Apokalypse« (Walter 2010, 223) wird dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik nicht gerecht, sondern ist ein schlagendes Beispiel für die Verkürzung wissenschaftlicher Begriffe auf kulturelle Konzepte. Der Mechanismus der Umdeutung, der hier sichtbar wird, erlaubt dennoch Rückschlüsse auf die Funktion solcher letztlich narrativen Instrumentalisierung wissenschaftlicher Begriffe. Die Deutung der immer steigenden Entropie geschlossener Systeme (zweiter Hauptsatz der Thermodynamik) als Verausgabung von Ressourcen und gesellschaftlicher Energie macht das abstrakte Konzept vergleichsweise greifbar. Auf ›wissenschaftlicher Basis‹ wird somit ein Erklärungsmodell geschaffen, das es erlaubt, Ereignisse zu erklären und in einen Sinnzusammenhang einzuordnen und eine globale Risikogemeinschaft durch ihre Adressierung zuallererst zu inszenieren. »Apocalyptic narrative, by definition, addresses the fate of the world as a whole: it is a particular form of imagining the global. […] Apocalyptic narrative, in [a] secular sense, can appropriately be understood as a form of risk perception« (Heise 2008, 141). Dementsprechend steht der Inszenierung des Tunguska-Ereignisses als Rätsel seine Darstellung als Katastrophe gegenüber. 66 | »Neben seinen statistischen und kartographischen Grundlagen wird die Idee des Risikos in der zeitgenössischen Gesellschaft stark von zwei der Physik entlehnten Begriffen geprägt. […] Überträgt man diesen Begriff [der Entropie, SN] auf die Gesellschaft, übernimmt man aus diesem physikalischen Gesetz die natürliche Tendenz eines Systems zur Unordnung, ja die unvermeidliche Entwicklung in Richtung Niedergang, Verlust an Orientierung, Abschaffung moralischer und religiöser Werte und, in letzter Instanz, den Tod. Man kann sagen, dass das Gesetz der Entropie eine wissenschaftliche Metapher der christlichen Apokalypse ist, in der gewöhnlichen Bedeutung dieses Ausdrucks. Der zweite (223) Begriff, der ebenfalls aus der Thermodynamik stammt, will, dass die Trägheit eines Systems zu irreversiblen Veränderungen führt. Überträgt man diesen Grundsatz auf gesellschaftliche Prozesse, wird impliziert, dass durch einmal getroffene Entscheidungen die Rahmenbedingungen für zukünftige Entscheidungen unwiderruflich festgelegt sind« (Walter 2010, 222-223; Hervorhebung SN). 67 | »Kurzum behaupten einige, die Moderne habe gemäß dem ersten Gesetz der Thermodynamik (Energieerhaltungssatz) gelebt, das besagt, dass die Energie in einem System konstant bleibt und dass sie sich weder selbst herstellen noch vernichten kann, sondern sich nur umwandelt. In der Postmoderne herrsche jedoch mit der Allgegenwart von Bedrohungen, dem Bewusstwerden von Verknappung und Begrenztheit der Ressourcen und ihrem Interesse für die Umwelt das zweite Gesetz. Das 19. Jahrhundert sei das Jahrhundert der Hoffnung gewesen, das 20. das der Desillusion« (Walter 2010, 223).

I.2 Katastrophe und Risiko

Wie dabei der Ereignistyp eingeordnet und verfügbar gemacht wird, hängt vom Darstellungsinteresse des Textes ab. Als Element einer Kulturgeschichte der Katastrophe findet es bei Walter nur kurz Erwähnung. Von Interesse ist es hier als eines von vielen Ereignissen, die den Eindruck einer Häufung von Katastrophen und somit einer Wahrnehmung der eigenen Gegenwart als Endzeit illustrieren sollen. Der in den im letzten Kapitel dieser Untersuchung beschriebenen Texten inszenierte Rätselcharakter der Explosion spielt für diese Darstellung keine Rolle – vielmehr wird die Ursache insofern als erwiesen dargestellt, weil die Verwüstung ohne Einschränkung auf den »Einschlag eines riesigen Meteoriten« zurückgeführt wird. Allerdings verweist die Bemerkung, dass »[e]inige Astronomen […] es sich nicht verkneifen [konnten] anzumerken, dass nur wenige Stunden später die Stadt Sankt Petersburg von der Karte verschwunden wäre!« (Walter 2010, 169), auf eine Technik, die das Tunguska-Ereignis zu einem Risiko umdeutet. Walters Präsentation dieses Vergleichs legt nahe, dass in einem Zusammenhang ohnehin in einem Maße Angst generiert wird, die keinesfalls produktiv ist, vollkommen unnötig, wenn nicht gar unzulässig ist. In Peter James’ und Nick Thorpes Halley, Hünen, Hinkelsteine. Die großen Rätsel der Menschheit (Orig.: Ancient Mysteries) wird Tunguska dennoch anhand eines ungleich größeren Vergleichs eingeführt. Bereits in der Einleitung grenzen die Autoren ihren Text von anderen Rätseldarstellungen ab. Ihr Text soll Orientierung in einer Flut von Büchern über »Rätsel untergegangener Kulturen und Wissensbestände« bieten, deren Autoren »die kritische Distanz zum jeweiligen Sachverhalt fehlt und durch bewusste Mystifizierung […] dem Leser [suggerieren], er werde in eindrucksvolle Geheimnisse der alten Welt eingeweiht« (James/Thorpe 2002, 13).68 Interessanterweise wird Tunguska hier nicht als Rätsel betrachtet. Zwar wird der Streit um die Ursache, der auf den vergleichsweise späten Beginn der Untersuchung vor Ort zurückgeführt wird, wiedergegeben. Diese Zusammenfassung endet aber mit der Feststellung, dass der »eigentliche Beweis, nämlich dass die Feuerkugel von Tunguska aus ganz ›gewöhnlichem‹ außerirdischen Material zusammengesetzt war, […] erst jüngst von dem Italiener Menotti Galli, Universität Bologna, erbracht [wurde]« (James/Thorpe 2002, 155).69 Das für diesen Text eigentlich Wichtige am 68 | Diese Bestimmung zielt also mit einigem Nachdruck auf Rätsel-Inszenierungen, wie sie im ersten Kapitel dieses Textes dargestellt werden. 69 | Sie beziehen sich damit auf den Nachweis der Anreicherung von Kupfer, Gold und Nickel in den Baumringen der Gegend. In Hinblick darauf, dass bis kurz vor Erscheinen der Erstausgabe 1999 (auf der Konferenz »Tunguska 96« in Bologna, wo auch dieser Ansatz Thema war) noch galt, dass kein eigentlicher Beweis für die Ursache erbracht wurde, muss diese Darstellung infrage gestellt werden. Vielmehr steht zur Diskussion, ob es überhaupt ›ungewöhnliches‹ außerirdisches Material geben kann. Gemeint ist

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Tunguska-Ereignis ist nicht dessen Rätselhaftigkeit, sondern das Risiko, auf die die hier präsentierte Erklärung verweist: »Die Feuerkugel von Tunguska war in der Zwischenzeit aber auch in das Clube- und Napier-Modell eines nahenden Kometen-Vorbeizugs eingearbeitet worden. Das Datum der Explosion, der 30. Juni, fällt exakt in die Zeit des jährlichen Meteorregens des Beta-Taurid-Strom, der wiederum mit dem Komet Encke in Verbindung gebracht wird, der während der Bronzezeit der Erde so nahe gekommen sein soll, dass er zerborsten war. Nach Einschätzung der beiden englischen Astronomen enthält der Meteoritenstrom, der sich gebildet hatte, noch immer Zehntausende von Brocken, die so groß sind wie derjenige, der die Tunguska-Katastrophe verursacht haben muss. Diese Zahl wirft einen furchteinflößenden Schatten auf unsere eigene Zukunft und sollte uns dazu anregen, ernsthaft über die Bedeutung von Geschichten aus dem Altertum nachzudenken, wie beispielsweise der ›Steinregen‹, der auf Josuas Feinde in der Schlacht bei Beth Horon niederfiel« (James/Thorpe 2002, 155; Hervorhebung SN).

Nimmt man den Beta-Taurid-Strom als Quelle des Himmelskörpers an, der die Explosion an der Steinigen Tunguska verursacht hat, dann bedeutet es, dass ›die Erde‹ oder ›wir‹ zum zweiten Mal nur knapp einer Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes entgangen sind. Das erste Mal, weil der Komet Encke dem Anziehungsfeld der Erde in der Bronzezeit zwar nahe genug kam, um zu zerbersten, (vermutlich) jedoch keinen Einschlag verursacht hat. Das zweite Mal sind ›wir‹ der Katastrophe nur entgangen, weil Tunguska »glücklicherweise […] damals zu den abgelegensten und am wenigsten besiedelten Regionen Sibiriens« (ebd.) gehörte. In dieser Dichte der Darstellung erscheint es wahrlich furchterregend, sich klarzumachen, dass der Beta-Taurid-Strom noch »Zehntausende[!]« solcher Brocken enthält. Angesichts der Tatsache, dass es sich dabei möglicherweise um einen von vielen solcher Ströme handelt, und nur ansatzweise bekannt ist, wie viele solcher ›Brocken‹ noch in Erdnähe unterwegs sind, erscheint es geradezu fahrlässig, dieses Risiko zu ignorieren. Doch liegen zwischen der Bronzezeit und dem Tunguska-Ereignis etwa 4.000 Jahre, was die Notwendigkeit zum Handeln bereits wesentlich weniger dringlich wirken lässt. Zudem die aus dem hier inszenierten Risiko abgeleitete Handlungsanweisung weniger Konsequenzen für das Verhalten in Hinblick auf einen Einschlag bereithält als für den Respekt gegenüber mythischen Darstellungen ähnlicher Ereignisse. Mit Rückblick auf die Zielsetzung des Textes überrascht die düstere Aussicht, die dem Tunguska-Ereignis zugeschrieben wird. Auch wenn die Ursache des Ereignisses hier nicht ›bewusst mystifiziert‹ wird, der apokalyptischen Perspektive, die hier evoziert wird, könnte man alwohl, dass die vorhandenen Spuren nicht auf einen ›mysteriösen‹ Ereignistyp schließen lassen (vgl. auch Vasilyev 1998; Hou/Ma/Kolesnikov 1998).

I.2 Katastrophe und Risiko

lerdings ebenso unzulässige Effekthascherei unterstellen. Auch diese Autoren konnten sich offenbar nicht eine zumindest angedeutete apokalyptische Vision ›verkneifen‹. Duncan Steels Rogue Asteroids and Doomsday Comets vertritt dagegen erklärtermaßen den aufklärerischen Ansatz, »to present scientific beliefs (and uncertainties) about the terrestrial impact hazard due to comets and asteroids in an easily understood way« (Steel 1995, xi). Die Notwendigkeit, diese Gefahr anzusprechen, begründet Steel damit, dass er der Meinung sei, »that this is a problem that can and should be not only tackled, but also solved, because the future of the human race and all other forms of life on Earth may very well depend on doing so« (ebd.). Tunguska dient Steel dabei als »by far the best example we have of a large body entering the atmosphere« (Steel 1995, 173). In dieser kosmischen Perspektive verliert die nicht geklärte Ursache angesichts des Risikos, auf das sie verweist, endgültig jede Bedeutung. Das TunguskaEreignis wird selbst als Spur 70 gelesen und zum Indiz in einem Fall, der vor dem Leser verhandelt wird und ihn mit den grundlegenden Fakten vertraut machen soll, »to determine wether we are, by not more agressively addressing the impact threat, perhaps fiddling while Rome burns« (Steel 1995, 14). Auch wenn man Steel nicht unterstellen muss, Panik verbreiten zu wollen, so kann man sich doch des Eindrucks nicht erwehren, dass der Direktor von Spaceguard Australia Tunguska hier zum geschickten Instrument einer (sicherlich ernst gemeinten und ernst zu nehmenden) Inszenierung der Relevanz seines eigenen Fachgebiets gemacht hat. Eine Katastrophen-Analogie greift der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Erhard Oeser in Katastrophen. Triebkraft der Evolution auf. Im Kapitel »Tod aus dem Weltraum: Der Untergang der Dinosaurier« (Oeser 2011, 60-92) taucht das Tunguska-Ereignis als Beispiel einer vergleichbaren »Katastrophe eines Kometeneinschlags« auf (der Einschlag, der die Dinosaurier vernichtet haben soll), die wie jene »nicht nur Tod und Zerstörung bedeutete, sondern auch der Neubeginn einer Lebenswelt war« (ebd.). Dies, so Oeser, »ließ sich durch eindeutige Anzeichen von Wachstumsbeschleunigung am Baumbestand des Katastrophengebiets in den Folgejahren nachweisen« (Oeser 2011, 79). Nimmt man einmal den widersprüchlichen Hinweis auf ›eindeutige Anzeichen‹ hin, so ist vor allem der Jahrmillionen überspannende Zusammenhang von Interesse. Oesers Text, der in der Tradition der Kataklysmentheorie George Cuviers

70 | Interessant in Hinblick auf die ›Spur‹ sind besonders Steels Ausführungen zum Auffinden und Erkennen von Kratern auf der Erdoberfläche. Besonders die Betonung der Fragilität dieser Spuren, die durch Klima, Vegetation und Plattentektonik von Erosion bedroht und nur mit größtem Aufwand und geradezu detektivischem Geschick auszumachen sind (vgl. Steel 1995, insbes. 75-92).

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steht,71 unterstreicht auf diese Weise die von ihm vertretene These der »Unvermeidbarkeit und sogar Notwendigkeit von vernichtenden Katastrophen« (Oeser 2011, 7). Auch dieser Autor geht von der Möglichkeit menschlichen Eingreifens in natürliche Abläufe aus, jedoch nicht um (kataklysmische) Katastrophen zu verhindern, sondern vor allem als deren Ursache. Der Mensch, selbst Konsequenz einer Katastrophe (des Aussterbens der Dinosaurier), sei »bei allem, was er anrichtet, [...] auch nichts anderes als eine Naturkatastrophe besonderer Art« (ebd.). Oeser betont, dass er mit seinem Buch keine Weltuntergangsstimmung, »wie sie in verantwortungsloser Weise heutzutage oft verbreitet wird« (ebd., 8), hervorrufen möchte, sondern, im Gegenteil, zu der Einsicht verhelfen will, dass »Schauder und Entsetzen« der Einsicht weichen müssen, »dass noch jede Katastrophe der Beginn einer Erneuerung war« (ebd.) – das gelte gleichermaßen für Naturkatastrophen wie auch für die vom Menschen verschuldeten Kriege, Hungersnöte, Finanzkrisen und dergleichen. Die Verschiedenheit der Ereignistypen, die hier praktisch gleichgesetzt werden, und das optimistisch anmutende Verständnis von Katastrophen erscheinen im Vergleich zu den zuvor betrachteten Texten reichlich verblüffend. Zwar werden die (technologische) »Sorglosigkeit und Unvernunft« des Menschen, die Katastrophen in ihren Schadensfolgen verstärken (ebd., 7), kritisiert. Dennoch ist es schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass sie sich kaum verhindern lassen. Soll sich ›der Mensch‹ also bloß in sein ›Schicksal‹ fügen und gegebenenfalls einer ihm nachfolgenden Spezies weichen? Auch diese Ansicht kann eine Form der Katastrophenbewältigung sein: Im Wissen um risikoreiche Ereignistypen und Handlungsweisen, das sich in den Szenarien bildet, gehen Beruhigung und Beunruhigung Hand in Hand. Im (vermeintlichen) Erkennen der eigenen Verantwortung für bestimmte Risiken liegt auch das Versprechen von Handlungsoptionen, die es erlauben, durch Verhaltensänderung das ›Schlimmste‹ zu verhindern oder wenigstens abzumildern. Selbst die Kenntnis von Gefahren, die auch durch kollektive Anstrengungen nicht abzuwenden sind, weil sie z.B. wie bei Oeser zum ›natürlichen‹ Lauf der Dinge gehören, dient zur Bewältigung von Ängsten durch das Verfügbarmachen ihrer Ursachen. Kurz gesagt: Die bekannte Gefahr ist weniger beunruhigend als die unbekannte. Demgegenüber steht die apokalyptische Dimension, die die Relevanz des präsentierten Szenarios begründet, indem sie einen geradezu ›erhabenen‹ Rahmen bildet.

71 | »Katastrophismus ist in Mode. Seit Georges Cuvier die Entstehung der Erde auf eine Serie von Kataklysmen zurückgeführt hat, ist diese Art zu denken eine – übrigens eher umstrittene – Theorie der Naturwissenschaften. Der Gedanke, wonach die Erde kosmische Katastrophen gigantischen Ausmaßes erlebt hat, findet, lange in die Mythologie verwiesen, seit kurzem wieder Beachtung« (Walter 2010, 9).

I.2 Katastrophe und Risiko »Angstbewältigung [stellt] die Kehrseite von Angstbedarf [dar]. Man wird sogar von einer mobilisierenden Angstlust sprechen dürfen. […] Darüberhinausgehend ist anzunehmen, daß Ängste nicht nur als innere Disposition aufzufassen sind, sondern daß sie ebensosehr Gruppen und Gemeinschaften zentrieren, zum Beispiel in Erlebnissen kultureller Katharsis. Ängste schaffen neue, intensivere Gruppenstrukturen« (Briese 1998, 324-325).

Die Androhung des denkbaren und dennoch unvorstellbaren Untergangs der Welt/Menschheit als absolutes Ende lässt jede Anstrengung, dieser Gefahr zu begegnen, heroisch erscheinen, selbst wenn sie aussichtslos ist.72 Der Kontrast zwischen dem Schrecken der Apokalypse und dem heroischen Status der eigenen Handlungsoptionen birgt ein hohes mobilisierendes Potenzial. Die ›neue‹ Angst und das ›Wir‹ der suggerierten Verhaltensänderung mobilisiert insofern, als sie das gemeinsame »Gefahrenschicksal« zu einer Gelegenheit macht, Kontrolle ›zurück‹zugewinnen. Aber auch das Sich-fügen(-müssen) in ein kosmisches Schicksal kann zur Bewältigung der Angst beitragen. Auch der humoristische Umgang mit Katastrophen, der die Angst dadurch lindert, dass sie lächerlich gemacht wird, und einen »gewollt angstfreien Umgang demonstrieren« (Briese 1999, 71) soll, hat eine lange Tradition. »Literatur nahm innerhalb eines weit gefächerten Spektrums der Öffentlichkeit bestimmte Funktionen war: Im Klima eines neu gewachsenen Angstdrucks [und nicht zuletzt in Konkurrenz zu den Wissenschaften, SN] bot sie Strategien der Verharmlosung und Entängstigung an« (ebd.).73 Solche Texte erfreuen sich besonders deswegen ungebrochener Beliebtheit, weil sie wie Philip Plaits Tod aus dem All. Wie die Welt einmal untergeht und Maarten Keulemans‹ Exit Mundi. Die besten Weltuntergänge mit dem (offenbar erfolgreichen) Anspruch auftreten, auf unterhaltsame Weise Wissen zu vermitteln – und das »gleichermaßen für Experten wie für Einsteiger«.74 Die ›Aufklärung‹ über die verschiedenen Gefahren verfolgt in beiden Beispielen das Ziel, letztlich zu beruhigen und zu vermitteln: »Aussterben ist ganz normal« (Keulemans 2010, 13).

72 | »Noch gegenwärtige mentale Muster sind davon geprägt. […] Die inzwischen unter angesehenen Wissenschaftlern diskutierten Vorhaben, diesen Körpern [Kometen, SN] mittels Nuklearexplosionen andere Bahnen zu geben, bedürfen keines Kommentars. Es sind Ergebnisse einer anthropozentrischen Kurzsichtigkeit, die, wie das Kind sein Laufgitter, das Labor als Zentrum der Welt begreift« (Briese 1998, 323). 73 | Besonders die Metapher des Kometen erlangt in humoristischen Kontexten Bedeutung (vgl. Briese 1998, 261-293). 74 | Der Klappentext von Plaits Tod aus dem All (2010) kündigt an: »Spannend, lehrreich und wissenschaftlich fundiert erläutert der Autor das Ende der Welt – die ultimative Astronomielektion gleichermaßen für Experten wie für Einsteiger«.

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In Plaits »Horrorshow im Weltmaßstab« ist das Tunguska-Ereignis bloß ein »Seichter Aufprall« (Plait 2010, 23). Die beinahe spöttische Eingangsbemerkung, »Am 30. Juni 1908 fanden sich die Erde und ein eher kleines Stück recht brüchigen Felsgesteins zur selben Zeit am selben Ort wieder« (ebd.), wird durch den Vergleich mit dem, was hätte passieren können, konterkariert und zu einem Paradebeispiel der »Doppelbewegung von Anziehung und Abstoßung« des Risikos (Walter 2010, 281). »Hätte sich die Explosion über Moskau oder London ereignet, wären Millionen Einwohner innerhalb von Minuten ums Leben gekommen, was in der Tat eine ernste Bedrohung dargestellt hätte. Doch die unmittelbaren Auswirkungen der Explosion blieben örtlich begrenzt. Außerhalb eines Radius von ca. sechzig bis achtzig Kilometern wurde wahrscheinlich niemand verletzt. Aber andererseits haben nicht alle Meteoriten einen Durchmesser von lediglich sechzig Metern, und nicht alle Einschläge sind örtlich begrenzt« (Plait 2010, 23).75

Keulemans nutzt eine ähnliche Technik, um das Tunguska-Ereignis einzuführen: »Schauen Sie, es gibt Meteoriten und Meteoriten. Der unschuldigste von allen ist die Sternschnuppe: ein Stückchen Staub so groß wie ein Sandkorn, das zur Erde fällt und dabei in der Atmosphäre verbrennt. Das sieht so lieblich aus, dass man sich etwas wünschen darf, wenn man es sieht. Die ernsteren Probleme entstehen durch größere Exemplare: Meteoriten, die ganze Städte zu Grütze schlagen könnten. Das berühmte Beispiel hierfür ist der Vorfall im sibirischen Tunguska« (Keulemans 2010, 125-126). 75 | Plait weist zwar darauf hin, dass weder ein Krater noch Überreste eines Meteoriten, den er als Ursache benennt, gefunden wurden, widmet sich jedoch eher den Zerstörungen als der Ursache. Mit dem Hinweis »Überirdische Atomexplosionen im Rahmen von Nuklearwaffen-Tests in den 1950er- und 1960er-Jahren wiesen das gleiche Muster auf« (Plait 2010, 25) beendet er die Überlegungen bezüglich der Ursache, ohne darauf einzugehen, dass dieser Vergleich auch zur Begründung anderer Erklärungstheorien herangezogen wurde. Auch Keulemans erwähnt die ›rätselhafte‹ Ursache nur nebenbei: »[…] Das Werk eines 60 Meter großen Meteoriten, nimmt man zumindest an, wobei andere Forscher auch die Explosion eines unterirdischen Gasvorkommens in Betracht ziehen« (Keulemans 2010, 126).

I.2 Katastrophe und Risiko

Beide Autoren rufen das Zerstörungspotenzial des Einschlags eines kosmischen Körpers über einen Vergleich mit dem Aussterben der Dinosaurier auf 76, um letztlich zu betonen, »[w]as gar nicht so bekannt ist: Dergleichen große Explosionen finden recht regelmäßig statt« (ebd., 126). Die verschiedenen Entwürfe zur Bewältigung der Angst, die die Allgegenwart des Risikos in der fortgeschrittenen Moderne bewirkt, laufen auf zwei Hauptaspekte hinaus: Sie betonen entweder die Natürlichkeit katastrophischer Ereignisse und konstruieren damit Normalität anhand der Ausnahme, oder sie beschwören die Notwendigkeit und damit überhaupt erst die Option vorbeugend oder kompensierend handeln zu können. Der Katastrophe, die auf keine lenkende Macht mehr zurückzuführen ist, und somit »nicht mehr einer moralischen Verfehlung, sondern einem Fehlurteil oder den Fährnissen des Daseins angelastet« (Walter 2010, 13) wird, wird Sinn zugewiesen, indem Unbekanntes in Bekanntes verwandelt und Aussichtsloses durch ein Set an Handlungsmöglichkeiten ersetzt wird. »Genau das scheint ein generelles Merkmal von Apokalypsen zu sein. Sie stützen, so paradox das auf den ersten Blick erscheinen mag, menschliche Selbsterhaltung. Sie ordnen Zeit und Raum und sind palliative Muster der Machbarkeit. Sie imaginieren eine den Ereignissen zugrundeliegende Regel. Katastrophen, wenn über sie schon nicht praktisch verfügt werden kann, werden zum menschlichen Szenarium. Als inverse Schemata von Subjektinszenierung dienen Apokalypsen dazu, selbst auf diese Weise den Anspruch des Subjekts zu wahren« (Briese 1998, 323).

Die (Wieder-)Herstellung von Ordnung angesichts von Katastrophe und Risiko ist demnach nur über die Konstruktion von Normalität und Kontrollierbarkeit (und sei es nur durch das Wissen, dass ›etwas‹ kommt) zu erreichen. Der von Ulrich Beck befürchtete Wandel des Ausnahmezustands zur Normalität 77 kann angesichts dieser Feststellung als gewünschter Effekt beschrieben werden. Nur lässt sich diese Konstruktion nicht aufrechterhalten, wenn man einen in diesen Darstellungen an den Rand gedrängten Aspekt der Katastrophe in Betracht zieht: Selbst die Akzeptanz von Katastrophen als Teil der Natur kann die Frage nach dem »Warum«, die sich angesichts der in der Katastrophe 76 | »Wir wissen längst, dass es nicht so gut ist, wenn plötzlich ein Felsbrocken aus dem Weltall auf uns runterfällt. In Wirklichkeit ist es aber noch viel schlimmer. Dieses besonders ausführliche, manchmal etwas abseitige Kapitel hat es sich zur Aufgabe gemacht, alle Missverständnisse über weiß gefärbte Meteoriten, platt gedrückte Hündchen und tote Dinosaurier ein für alle Mal auszuräumen« (Keulemans 2010, 111). »Vor fünfundsechzig Millionen Jahren erwischten die Dinosaurier einmal einen ausgesprochen schlechten Tag« (Plait 2010, 26). 77 | Vgl. Beck 1986, 31.

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offenbarten Kontingenz stellt, nicht mehr zufriedenstellend beantworten. Die Stelle des Weltenlenkers bleibt unbesetzt. Ob diesem Verlust allein durch Vernunft zu begegnen ist, bleibt zu fragen. Tunguska erlaubt es, einen Standpunkt einzunehmen, der – ähnlich dem posthumaner Erzählungen78 – Gegenwart und katastrophische Zukunft verknüpft und trotzdem Sicherheit verspricht. Wer immer Tunguska zur Katastrophe erklärt, beansprucht die Souveränität, die Ursache zu bestimmen und darüber hinaus die Programme zu beurteilen, die zur jeweiligen Erklärung des Ereignisses, zur Bewertung seines Kontextes und zur Einschätzung der Zukunft führen. Tunguska ist ideal für diesen Standpunkt, weil es sich bereits ereignet hat, also einen Anker in der Realität für ein (nahezu) beliebiges Zukunfts- oder Katastrophenszenario liefert. Aufgrund seiner exponierten Position (als Rätsel) und des Zeitpunkts, zu dem es sich ereignete (1908), lässt sich mit dem Tunguska-Ereignis die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht nur neu erzählen, sondern in einem völlig neuen Licht sehen.

78 | »Der Mensch schaut auf sich selbst zurück, aber nach seinem eigenen Ende, eine Reflexion im Futur II: Es wird einmal gewesen sein. Ein Blickpunkt, von dem aus sich die Frage stellt, warum ein aktuelles Zeitgefühl notwendig auf Fiktion angewiesen ist. Gerade die reale Unmöglichkeit des Gedankenexperiments, das beide Erzählungen anstellen, macht sie so produktiv und erfolgreich. Ausgerechnet im Anthropozän, in der Epoche, in der der Mensch unauslöschlich in die Erdgeschichte eingegangen sein wird, ergeht er sich im Erfinden von Welten, in denen er nicht mehr vorkommt. Es ist, als rechnete der Mensch sich weg, um zu schauen, was nach ihm noch übrig ist« (Horn 2014, 11).

I.3 Kontingenz und Mythos D as S cheitern am Z ufall Die Einschätzung, dass ›wir‹ einer Katastrophe nur durch Glück entgangen seien1, erlaubt es nicht nur, fiktive Szenarien zu entwerfen, deren denkbar verheerende Auswirkungen dem Tunguska-Ereignis trotz seiner akuten Wirkungslosigkeit einige Relevanz verleihen, sie lässt auch Rückschlüsse auf das reale Ereignis zu. Nur durch Glück, das heißt durch einen positiv bewerteten Zufall blieb unserer Zivilisation Schlimmeres erspart. Angesichts der möglichen Folgen der Explosion scheint Erleichterung angebracht, wenn nicht sogar Dankbarkeit. Der Zufall ›wollte es‹, dass ein (nahezu) unbewohnter Teil der Erde zum Schauplatz der »inexplicable catastrophe« (Baxter/Atkins 1976, 11) wurde. Bedenkt man, dass der bei Weitem größte Teil der Erdoberfläche von Wasser bedeckt und auch die Landfläche nach wie vor größtenteils unbewohnt ist, wird ein anderes Licht auf den ›Glücksfall‹ geworfen, denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein solches Ereignis eine (dicht) besiedelte Gegend betrifft, stellt sich aus dieser Perspektive als sehr gering dar. »Nach der gambler’s fallacy könnte man in Bezug auf die Asteroidenkollision (fehlerhaft) wie folgt räsonieren: Das Tunguska-Ereignis ist beruhigend. Denn wenn erst vor einhundertzwei Jahren ein Himmelskörper bei uns angekommen ist, […] dann wird dies ja so bald nicht wieder geschehen« (Hampe 2011, 295). Dieser Umstand kann jedoch angesichts der möglichen Folgen eines vergleichbaren Ereignisses kaum beruhigen, vor allem nicht, solange die Ursache nicht eindeutig bestimmt werden kann. Das Tunguska-Ereignis stellt eine Konfrontation mit der Kontingenz natürlicher Ereignisse dar, die sich aufgrund der fehlenden Erklärung nicht einordnen lässt.2 Kontingenz bezeichnet »logisch-ontologisch jenen ambivalenten Bereich der Unbestimmtheit, in dem sich sowohl Handlungen als auch Zufälle realisieren« (Makropoulos 1997, 14). Alles, was manipulierbar ist, also zum Gegen1 | Vgl. Krassa 1983, 5-6; James/Thorpe 2002, 155. 2 | »Kontingent ist, was auch anders möglich ist. Und es ist auch anders möglich, weil es keinen notwendigen Existenzgrund hat« (Makropoulos 1997, 13).

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stand des Handelns werden kann, ist kontingent; ebenso wie alles, was unverfügbar ist, und das betrifft im Selbstverständnis der Moderne(n) nicht mehr nur die Realien, sondern auch die sie umgebende Realität – also sind nicht nur Handlungen, sondern auch der Handlungsraum (Wirklichkeit) kontingent. Problematisch wird das, weil das »Auch-anders-sein-können einen Zustand des Ausgeliefertseins [bedeutet]« (Bubner 1998, 7). Die sich so offenbarende Kontingenz muss also bewältigt, das heißt in Ordnung gebracht werden, um eine ständige Konfrontation mit dem eigenen Ausgeliefertsein zumindest temporär zu überwinden.3 Im Falle einer Katastrophe bedeutet das üblicherweise, umgehend mit dem Wiederauf bau, der Auswertung der Ursache und gegebenenfalls mit der Vorbereitung auf eine beziehungsweise mit der Vorbeugung einer weiteren Katastrophe zu beginnen. Damit verbindet sich die Narrativierung des Ereignisses, die insofern noch wichtiger ist als physische Maßnahmen, weil sie das Fortbestehen des sozialen Gefüges sicherstellt, das von der Katastrophe betroffen ist. Als Gefahrengemeinschaft übersteigt dieses Gefüge bei Weitem den Kreis der unmittelbar Betroffenen. Der ›glückliche‹ Umstand, dass kein Wiederauf bau erforderlich war, scheint eine Bewältigung des Tunguska-Ereignisses überflüssig zu machen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Seine außergewöhnliche Qualität – die Inszenierung als rätselhafte Katastrophe – intensiviert dieses Bedürfnis sogar noch.4 Die Vielfalt der Risikoszenarien, die aus der Vielfalt der Erklärungsansätze abgeleitet werden kann, lässt die Vorbereitung auf einen speziellen Ereignistyp als direkte Reaktion auf das Tunguska-Ereignis allerdings abwegig erscheinen. Zumindest wäre die Entscheidung für eine Hypothese und damit gegen andere, wenn sie sich auch auf die wahrscheinlicheren Szenarien stützte, nicht weniger kontingent als das Ereignis selbst und damit kaum wirksam. Damit wird jedoch der Bewältigungsprozess, der üblicherweise auf Katastrophen folgt,5 wenn nicht unterbrochen, so doch abgelenkt. Während auf einen Katastrophenfall gewöhnlich reagiert wird, indem seiner Ursache und seinen Ausmaßen gemäß meist technische Vorsorgemaßnahmen getroffen werden, die eine Wiederholung der Katastrophe verhindern sollen,6 gibt es Fälle, in denen solche Reaktionen unangemessen oder sogar unmöglich sind. Dabei stehen Großkatastrophen, die durch Verkettungen verschiedener Ereignisse entstehen, auf einer Seite und potenzielle Katastrophen auf der anderen Seite. Während in 3 | Vgl. Kapitel I.2 »Katastrophe und Risiko«. 4 | »Wir wollen solche Ereignisse meist einbetten, einen Zusammenhang zwischen ihnen herstellen, sie eben nicht als Einzelereignisse, sondern als Aspekt der Wirklichkeit eines allgemeinen Gesetzes nehmen« (Hampe 2011, 296; Hervorhebung im Original). 5 | Vgl. Kapitel I.2 »Katastrophe und Risiko«. 6 | Ein typisches Beispiel dafür ist die Erhöhung von Dämmen nach einer Flut oder die Einrichtung von sogenannten Frühwarnsystemen.

I.3 Kontingenz und Mythos

beiden Fällen zwar an verschiedenen Stellen Vorsorgemaßnahmen (und sei es durch das Verbot einer Handlung oder Technik) getroffen werden können, so ist es doch nicht mehr möglich, durch die sichtbare Errichtung oder Einrichtung von Schutzmaßnahmen (z.B. eines Deichs), die sowohl physische als auch psychische Bewältigung der Katastrophe anzustoßen. Folgerichtig ist die Aufgabe, die Angst vor einer Wiederholung zu bewältigen, ebenso komplex wie die, wirksame (vertrauens- und glaubwürdige) Vorsorgemaßnahmen zu etablieren. Einer möglichen Katastrophe, die unter Umständen keine Vorläufer hat oder nur solche, die außerhalb geschichtlicher Erfahrungshorizonte liegen (z.B. der Einschlag eines Asteroiden oder Kometen), ist jedoch kaum mit konkreten Maßnahmen beizukommen. Trotz intensiver Forschung bleibt die Tatsache unbestreitbar, dass ein solcher Einschlag außerhalb der menschlichen, insbesondere der gegenwärtigen Erfahrung liegt. Dennoch birgt das Wissen um die Möglichkeit und vor allem um die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses nur eine trügerische Beruhigung. »Diese interessante Unterscheidung zwischen objektiven Wahrscheinlichkeiten, deren Verteilung man kennt, und nur konstruierten Wahrscheinlichkeiten ist neu. Sie beruhigt und tröstet jene in ihrem Glauben, die davon ausgehen, die gegenwärtige Gesellschaft sei imstande, die Unsicherheiten zu bewältigen« (Walter 2010, 218).

Trügerisch ist die so erreichte Ruhe, insofern als sie verdrängt, was zwischen Wahrschein­lichkeit und realisiertem Ereignis steht. Welches der Szenarien tatsächlich eintritt, ist kontingent. Allerdings reicht diese Form des Wissens aus, um (mögliche) Ereignisse verfügbar zu machen und damit zu normalisieren.7 Das Tunguska-Ereignis stellt innerhalb dieses Schemas akuter und möglicher Katastrophen einen Sonderfall dar. Zwar hat es akut stattgefunden, als Katastrophe jedoch zählt es nur im Bereich des Möglichen, nämlich im Konjunktiv des Wenn-Dann (»Wenn es zwei Stunden später stattgefunden hätte, dann hätte es St. Petersburg zerstört«) beziehungsweise des Risikoszenarios seiner Wiederholung (an anderem Ort). In dieser Hinsicht unterscheidet es sich jedoch noch nicht von anderen Ereignissen (z.B. Steinschlägen oder Lawinen), die zwar katastrophisches Potenzial haben, dieses jedoch nicht automatisch realisieren. Die eigentlich katastrophische Dimension des Tunguska-Ereignisses hingegen liegt in seiner unerklärten Ursache oder vielmehr in der Möglichkeit, dass es sich um einen reinen Zufall handeln könnte, es also unerklärbar ist.

7 | Erneut zeigt sich, dass Becks Befürchtung (»Die Risikogesellschaft ist eine katastrophale Gesellschaft. In ihr droht der Ausnahmezustand zum Normalzustand zu werden« [Beck 1986, 31]) verkennt, dass dies ein gewollter und notwendiger Prozess ist, um Ordnung herzustellen und so die Produktivkraft einer Gesellschaft zu mobilisieren.

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Das daran offenbar werdende Scheitern8 der Wissenschaften beziehungsweise ihrer Fähigkeit zur Erklärung von Welt lässt Raum für allerlei Spekulationen. Es deutet unübersehbar darauf hin, dass trotz allen wissenschaftlichen Fortschritts der Zufall letztlich nicht beherrschbar ist und damit zu einem Risiko werden kann.9 Kontingenz muss jedoch nicht nur bewältigt, sondern kann auch positiv gewendet werden, indem man sie sich zunutze macht. Zufällige Entdeckungen und Ideen sollen gerade nicht unmöglich gemacht werden, sondern sind im Gegenteil erwünscht, um den Fortschritt voranzutreiben. Doch auch der Integration in das Gegenmodell zur Kontingenzbewältigung, der »Kontingenzbegrenzung durch gezielte Kontingenznutzung« (Makropoulos 1997, 32), entzieht sich das Tunguska-Ereignis. Der durch Kontingenz »freigesetzte, wenn nicht am Ende selbstmächtig gesetzte Potentialis« (ebd.) scheint innerhalb der modernen Verfassung nicht nutzbringend verwendbar zu sein. Vielmehr bleiben auch hier »nur säuberlich getrennte Schubladen [übrig]« (Latour 2008, 9). Die Spurenlage erlaubt es nicht, eine umfassende, allgemein anerkannte Erklärung zu formulieren, die die Rufe nach ›alternativen‹ Erklärungsmodellen verstummen lassen könnte. Alternative Erklärungsmodelle müssten nicht nur nicht zwangsläufig innerhalb der ›säuberlich getrennten Schubladen‹ bleiben, es ist vielmehr auch vorstellbar, dass sie sich gänzlich abseits aufgeklärt-rationaler Denkmodelle bewegen. Traditionell könnte ein solches Modell religiös motiviert sein und Antworten bieten, die die Wissenschaft nicht geben kann. Fragen, die mit den Mitteln der Wissenschaft nicht zu beantworten sind, tauchen nicht nur im Falle des Tunguska-Ereignisses auf, wo die Faktenlage sich als äußerst dürftig darstellt. Vielmehr hinterlässt der Wandel von der Deutungshoheit umfassend-religiöser Modelle (besonders im Katastrophenfall) zu den partikularisierenden modernen Antwortverfahren besonders da Lücken, wo soziale und emotionale Aspekte der Bewältigung die Kompetenzen rein rational ausgerichteter Experten überschreiten. Der kategorische Ausschluss alternativer Erklärungsmodelle gibt, negativ betrachtet, die ›Masse‹ der NichtWissenschaftler der Verführung durch antirationale Kräfte preis: »Im Gegensatz zu früher überlässt man die Frage nach dem Warum aber den Experten [während Vertreter von Religionsgemeinschaften durchaus zur Betreuung der Opfer und Angehörigen herangezogen werden, SN]. Sie liefern wissenschaftliche und technische Erklärungen, ohne auch eine nur im Entferntesten transzendierende Instanz zu bemü8 | Oder scheinbare Scheitern (vgl. Kap. I.1 »Spuren und Fakten«). 9 | Die interne Kontrolle des Diskurses, die Ereignis und Zufall bändigen soll (vgl. Foucault 1991, 17), scheint an dieser Stelle versagt zu haben und dadurch zu beweisen, dass der »Zufall nicht das [ist], was verschwindet, wenn wir unsere Kräfte der Wirklichkeitsbeherrschung gehörig anstrengen« (Bubner 1998, 7).

I.3 Kontingenz und Mythos hen. In Ermangelung dessen begnügt sich die leichtgläubige Masse mit Rechtfertigungen, die einem Mythos gleichkommen oder religiöse Muster wiederbeleben« (Walter 2010, 213).

Positiv gewendet lässt sich jedoch abseits und dennoch parallel zu den mit der modernen Verfassung konformen Wissensmodellen einige Freiheit entdecken. Insbesondere der ›Mythos‹ verdient in diesem Zusammenhang Aufmerksamkeit. Während der Begriff oft, wie hier von Walter, polemisch gebraucht wird10 und der Gebrauch des Wortes ›Mythos‹ in Analogie zu ›Lüge‹ keinerlei produktive Deutung erlaubt, kann er positiv als andere Seite der modernen Verfassung verstanden werden. Traditionell wird dabei der Mythos als Weltdeutungsmodell ›primitiver‹ oder ›archaischer‹ Kulturen verstanden, also als ein Modell des Menschen, welches zur Bewältigung von Kontingenz beziehungsweise dazu dient, sich eine unverständliche Welt/Natur verfügbar zu machen. Dieses Verständnis verweist den Mythos indes in eine (Vor-)Vergangenheit und auch wenn ihm durch konstruktive Mythenkritik »zeitlose Wahrheit« (Assmann/ Assmann 1998, 179)11 zugestanden oder seine »weltbildende Funktion« (ebd., 180)12 anerkannt wird, so kann er in diesem Sinne als Wissensform keinerlei Wirkungspotenzial im gegenwärtigen Diskurs beanspruchen. Demythisierung, ob destruktiv oder konstruktiv, hat eine lange Tradition, die im Konstrukt der Ablösung des Mythos durch den Logos ihren Höhepunkt, oder besser: ihre Höhepunkte findet.13 Jedoch gibt es auch Ansätze, die den Mythos als Wissensform rehabilitieren und ihm über seine Legitimität als Gegenmodell, an dem der eigene Rationalitätsentwurf geprüft werden kann,14 hinaus Gel10 | Aleida und Jan Assmann entwickeln sieben verschiedene Mythosbegriffe, die sich eher auf die Funktionen und den Gebrauch des jeweiligen Begriffs beziehen als auf die begriffsbildende Fachrichtung. Weil diese funktionsorientierte Auffassung auch dem Interesse der vorliegenden Arbeit entspricht, werden sie den folgenden Überlegungen zugrunde gelegt (vgl. »(M1) polemischer Mythosbegriff« in Assmann/Assmann 1998, 179). 11 | M2 historisch-kritischer Mythosbegriff (Assmann/Assmann 1998, 179). 12 | M3 funktionalistischer Mythosbegriff (vgl. Assmann/Assmann 1998, 180). 13 | Bereits die ersten dichterischen Überlieferungen der griechischen Mythologie bei Homer und Hesiod markieren eine Trennung zwischen Mythos und Religion und weisen mythische Geschichten dem Bereich der Dichtung zu (vgl. Jamme 1991, 171). Der (antike) Höhepunkt literarischer Mythosbearbeitungen stellt gleichzeitig den Höhepunkt philosophischer Mythenkritik im Anschluss an Platon und Aristoteles dar, die den Mythos als irrational diffamieren. Weitere Höhepunkte der Mythenkritik sind die Durchsetzung des Christentums als »Monomythos« (Blumenberg) sowie die Aufklärung, die zwar die Mythologie als ›Speicher‹ poetischen Wissens schätzte, deren Rationalitätsauffassung jedoch einen anderen als den ›rein‹ rationalen Wissensbegriff ausschloss. 14 | Vgl. Jamme 1991, 11.

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tung verleihen wollen. Die Fähigkeit des Mythos »momentane Evidenz« oder die »Totalität einer Wahrheit« (Assmann/Assmann 1998, 179) wahrzunehmen, wird nicht mehr als Defizit wahrgenommen, sondern gegenüber der partikularisierenden Perspektive der Naturwissenschaften als Qualität profiliert. Dadurch ist es möglich, Fragen zu stellen, die innerhalb des modernen Paradigmas nicht von Belang sein dürften – die Frage nach dem ›Warum‹ muss dann nicht mehr ›den Experten‹ und die »leichtgläubigen Massen« müssen, auf der Suche nach einer »transzendierenden Instanz« (Walter 2010, 213), nicht mehr einem Mythos überlassen werden. Vielmehr stellt ein konstruktiv verstandener Mythos eine echte Alternative für die Bewältigung von Kontingenz dar, die die Grenzen moderner Formate aufzeigen kann.15 »Für das Wirkungspotential des Mythos ist diese Einsicht wesentlich: nicht die Überzeugungskraft alter Antworten auf vorgeblich zeitlose Menschheitsrätsel begründet die Andringlichkeit mythologischer Konfigurationen, sondern die Implizität der Fragen, die in der Rezeption und ihrer Arbeit an ihnen, entdeckt, ausgelöst und artikuliert werden. […] Uns ist bereits zu selbstverständlich, daß die Wissenschaft Fragen erst gar nicht stellen gelernt hat, die sie mit ihren Mitteln nicht beantworten zu können absieht, als daß uns nicht auffallen müßte, mit welcher Unbefangenheit der Mythos an den Rand der Abgründe dieser Fragen tritt, ohne daß sie von ihm gestellt wären« (Blumenberg 2001, 360).

Das Bedürfnis einer breiten Öffentlichkeit, diese Fragen zu stellen beziehungsweise Antworten zu finden, zeigt sich z.B. im Erfolg populärwissenschaftlicher Formate und darüber hinaus in der nicht abreißenden Faszination für das Rätselhafte.16 »Die Naturwissenschaft ist heute zu einer Mythologie des Wissens geworden, und diese mythisierte Wissenschaft befragt, wer klare Antworten sucht, die man einst in altehrwürdigen, erhellenden Fiktionen zu finden hoffte« (Safir 2009, 23). Indem man Wissenschaft als ›Mythologie‹ versteht, also als System oder Sammlung von Geschichten, die ein Glaubenssystem darstellen (können), weist man ihr die Fähigkeit, Antworten auf ›die großen Fragen des Lebens‹ zu geben, sozusagen über die Hintertür zu. Dass es möglich ist, das zu tun, liegt daran, dass Mythenbildung auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet.

15 | Nicht überraschend ist daher die Feststellung, dass sich insbesondere die Postmoderne in ihrer Kritik an vorherrschenden Paradigmen als besonders mythophil erwiesen hat (vgl. Assmann/Assmann 1998, 192-197). 16 | »Mit dem Verkaufserfolg populärwissenschaftlicher Bücher steigt auch der Verkauf von Büchern über Mystik und das Okkulte. Anders gesagt: Was Laien in populärwissenschaftlichen Werken suchen, ist nicht Wissenschaft als solche, sondern das, was ein Licht auf die ›großen Fragen‹ des Lebens zu werfen verspricht« (Safir 2009, 23).

I.3 Kontingenz und Mythos

Für die Untersuchung des Tunguska-Ereignisses ist das von besonderer Bedeutung, wenn man das postulierte Scheitern der Wissenschaft am Zufall ernst nimmt. Es ergeben sich dabei drei Fragenkomplexe, die das TunguskaEreignis im Verhältnis zwischen Wissenschaft und Mythos auf der Ebene des Wissens und Denkens (1), des Sprechens (2) und des Erzählens (3) ausloten.17 Zunächst stellt sich die Frage, welche Wissenschaft hier scheitert. Wie bereits festgestellt, stellt ein ›ungelöstes Rätsel‹ oder eine unbeantwortete Frage innerhalb der institutionalisierten Disziplin kein Problem dar, weil es sich immer um ein ›Noch-nicht‹ handelt.18 (1) Ist also dasjenige, was hier scheitert selbst ›Mythos‹ – ein Mythos der Wissenschaft? Und für wen ist dieser von Bedeutung? Treten Mythos und Wissenschaft in ihrer Kontingenzbewältigung überhaupt in Konkurrenz oder ist diese selbst Teil der ›Mythologie der Modernen‹ (Latour)? Zusammengefasst, welchen Platz hat das ›mythische Denken‹ (Lévi-Strauss) in der modernen Ordnung und im Diskurs um das Tunguska-Ereignis? (2) Die Inszenierungen des ›richtigen‹ Denkens und Vorgehens und die Skepsis ihnen gegenüber lassen ein Verfahren sichtbar werden, das dem Mythosbegriff Roland Barthes’ auffallend ähnelt. Der Mythos als ›sekundäres semiologisches System‹ ist ein Instrument der Kontingenzbegrenzung auf der Ebene der Rede. Die Analyse des Mythos ermöglicht es, nach der Kehrseite von ›Erklärbarkeit‹ und ›Erklärungswillen‹ zu fragen. Auf der Ebene des Erzählens (3) wird schließlich die literarische Dimension des Mythos, die Rolle des Erzählens beziehungsweise von (mythischen) Geschichten im Umgang mit Kontingenz in den Fokus gerückt. Inwiefern also stellt der Tunguska-Diskurs insgesamt eine ›Arbeit am Mythos‹ dar und an welchem Mythos? Muss das Tunguska-Ereignis selbst als Mythologem19 oder als Mythos verstanden und beschrieben werden, wenn die Gesamtheit seiner vielgestaltigen Rezeption untersucht werden soll?

M y thisches D enken als A lternative ? Peter James und Nick Thorpe verfolgen mit ihrem Buch Ancient Mysteries den im Untertitel formulierten Anspruch, ihre Leser »the latest intriguiging, scientifically sound explanations to Age-old puzzles« entdecken zu lassen. Dabei evozieren sie gleich mehrere Mythosbegriffe: Zunächst handelt es sich bei den 17 | Diese Ebenen leiten sich, wie im Folgenden auszuführen sein wird, von drei verschiedenen Mythosbegriffen beziehungsweise -konzepten ab: dem Begriff des ›mythischen Denkens‹ von Claude Lévi-Strauss, dem des Mythos als ›sekundärem semiologischen System‹ von Roland Barthes und Hans Blumenbergs ›Arbeit am Mythos‹. 18 | Vgl. Kap I.1 »Spuren und Fakten«. 19 | Vgl. Blumenberg 2006, 165-166.

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meisten der von ihnen besprochenen ›Age-old Puzzles‹ um mythologische Überlieferungen. Literarische und narrative Mythen (u.a. von Atlantis, Sodom und Gomorrah, dem Stern von Bethlehem, Tutanchamun und der Artus-Sage) werden gleichermaßen auf ihren ›wahren Kern‹ hin untersucht. Gleichzeitig wird so jedoch eine Trennung zwischen Mythos und Wahrheit eingerichtet, die suggeriert, man könne diese voneinander trennen. Der Schritt zur polemischen Annahme, der Mythos lüge, scheint nicht weit zu sein. Allerdings gehen James und Thorpe einen anderen Weg, indem sie die »weltbildende Leistung« (Assmann/Assmann 1998, 180) dieser Überlieferung in den Vordergrund stellen. Ihre Darstellung des Tunguska-Ereignisses dient demgemäß dazu, ihre Empfehlung, »ernsthaft über die Bedeutung von Geschichten aus dem Altertum nachzudenken« (James/Thorpe 2002, 154), argumentativ zu stützen.20 Das auch im Vorwort nachdrücklich herausgestellte Vorhaben, der »Laienarchäologie« beziehungsweise jeglichen außerwissenschaftlichen Ansätzen zur Erklärung natürlicher Phänomene oder »Rätseln aus dem Altertum« eben nicht mit jener »arroganten Missachtung« ihrer Kollegen zu begegnen (James/ Thorpe 2002, 13-15), gelingt dabei freilich nur teilweise. Zwar vermeiden sie es in ihrer Analyse, gegen Mythen und jene, die möglicherweise an sie glauben, destruktiv (arrogant oder missachtend) vorzugehen. Jedoch bleibt kein Zweifel daran, dass die mythischen Erklärungen, den »latest, scientifically sound explanations« (ebd.) weichen müssen. Diese Form des gut gemeinten Wegerklärens der Mythen folgt somit dem gleichen Paradigma wie die destruktive Form der Mythenkritik. Auch wohlwollende Demythisierung geht von einer notwendigen Ablösung des Mythos durch den Logos aus. Dennoch handelt es sich nicht um den gleichen Prozess, denn während die polemische Kritik den Mythos als ›Lüge‹ und damit als grundsätzlich unzureichendes Erklärungsmodell kennzeichnet, gesteht die konstruktive Kritik ihm zumindest für die eigene (Vor-)Vergangenheit, eine fiktive Gegenwart des Mythos, einen berechtigten Anspruch auf Deutungshoheit zu. Damit erweist sich diese Form der Kritik aber letztlich als paternalistisch, indem sie den Mythos dem eigenen Ordnungsprinzip und Wissensbegriff unterordnet. Die so vollzogene Wandlung vom Mythischen zur Mythologie21 ist ein typisches Beispiel für die (nicht erst aufklärerische) Rationalisierung und Integration von Weltbildern.22 Die Anerkennung des ›Gehalts‹ beziehungsweise der ›Leistung‹ der Alten bestätigt so die uneingeschränkte Vorherrschaft der Modernen. Ob die ›alten‹ 20 | Freilich nicht ohne den Verweis auf den »furchteinflößenden Schatten«, den die »[Tunguska-Katastrophe] auf unsere eigene Zukunft [wirft]« (James/Thorpe 2002, 154). 21 | Verstanden als Sammlung künstlerisch und kulturell wertvoller, in Hinblick auf das durch sie übermittelte Wissen jedoch wirkungs- oder sogar bedeutungsloser Geschichten. 22 | Vgl. Jamme 1991, 219-224 und Nitzke 2013, 172.

I.3 Kontingenz und Mythos

Modelle schließlich als wertvolle und schöne (literarische) Zeugnisse der Vergangenheit im Verständnis der Mythologie als kulturellem Speichermedium geehrt werden oder zu »strange beliefs, amusing deceptions and dangerous delusions« (Carroll 2003, 2) abgewertet werden – als (konkurrierende) Wissensform sind sie in jedem Fall disqualifiziert. Dieses Vorgehen ließe sich im Sinne Latours ohne Umwege als moderne Arbeit der ›Reinigung‹ bezeichnen. Selbst wenn die Übersetzung zwischen mythischen und modernen Wissensformen einen Mehrwert für letztere generiert, müsse gemäß der ›modernen Verfassung‹ wieder zwischen mythischer Erzählung und ihrem ›wahren Gehalt‹ unterschieden werden.23 Die Praxis der Reinigung geht dabei noch weiter: Nicht nur zwischen Mythos und Wahrheit, sondern auch zwischen ›ihnen‹ und ›uns‹ kann auf diese Weise unterschieden werden. Die sogenannten »Vormodernen« oder »Primitiven« denken, so Latour, Hybride vollkommen selbstverständlich, sodass mythische Erklärungsmodelle im Gegensatz zu den modernen nicht einzelne Teile, sondern die Totalität eines Phänomens oder ›der Welt‹ betrachten und erfassen können. Diese Totalität des Mythos wird aber schon während der Aufklärung gegenüber der Partikularität der Wissenschaft diskriminiert, ohne dabei zu beachten, dass die Mythen selbst bereits »Aufklärung vollziehen« (Horkheimer/Adorno 1969, 18).24 Den Mythos jedoch selbst als ein »Stück hochkarätiger Arbeit des Logos« (Blumenberg 2006, 18)25 zu akzeptieren, scheint in der modernen Auffassung nur mit der Einschränkung denkbar zu sein, die auch James und Thorpe vornehmen: Der Mythos mag eine rationale Leistung darstellen, mag ›Aufklärung‹ vollziehen, insofern er es erlaubt, dem »Absolutismus der Wirklichkeit«26 zu begegnen, sich damit selbst zu ermächtigen und Ohnmacht gegenüber der Übermacht der Wirklichkeit zu verhindern. Dennoch kann/darf er nur eine Vorstufe der überlegenen Rationalität der Gegenwart darstellen. Dabei ist das »Schema der Ablösung des Mythos durch den Logos […] Ausdruck der Selbstauffassung der Philosophie von ihrer eigenen Leistung« (Blumenberg 2001, 402), oder anders gesagt, es ist »unsere Mythologie[, die uns dazu] zwingt […], 23 | Vgl. Latour 2008, 19. 24 | Vgl. auch ebd., 172. 25 | »Die Grenzlinie zwischen Mythos und Logos ist imaginär und macht es nicht zur erledigten Sache, nach dem Logos des Mythos im Abarbeiten des Absolutismus der Wirklichkeit zu fragen. Der Mythos selbst ist ein Stück hochkarätiger Arbeit des Logos« (Blumenberg 2006, 18). 26 | »[Der Absolutismus der Wirklichkeit] bedeutet, daß der Mensch die Bedingungen seiner Existenz annähernd nicht in der Hand hatte und, was wichtiger ist, schlechthin nicht in seiner Hand glaubte. Er mag sich früher oder später diesen Sachverhalt der Übermächtigkeit des jeweils Anderen durch die Annahme von Übermächten gedeutet haben« (Blumenberg 2006, 9).

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uns für radikal verschieden von den anderen zu halten, bevor wir uns überhaupt auf die Suche nach kleinen Unterschieden und kleinen Trennungen gemacht haben« (Latour 2002, 154). Die negative Wertung, die die moderne Qualifizierung eines Denkmodells als ›Mythos‹ oder ›mythisch‹ transportiert, ist also keinesfalls zwingend. Vielmehr zeugt es von der impliziten Überraschung der Modernen über die Fähigkeit der ›Primitiven‹, über die Welt zu verfügen. Sie ist Ausdruck eines Konstrukts, das in seinem Anspruch auf Exklusivität und Alternativlosigkeit seine Stabilität selbst infrage stellt. Dabei lassen sich durchaus Ähnlichkeiten zwischen mythischem und rational-wissenschaftlichem Denken feststellen. Es handelt sich bei beiden um Formen des Umgangs mit Kontingenz, die Unverfügbares in eine strukturierte Ordnung einfügen und damit den ›Zustand des Ausgeliefertseins‹ zumindest lindern. Claude Lévi-Strauss stellt dem modernen Gelehrten den Bastler (Bricoleur) gegenüber, der, auch wenn er einen anderen Weg wählt, auf praktischem Gebiet nicht weniger erfolgreich bei der Lösung von Problemen ist als sein moderner Widerpart. Der hauptsächliche Unterschied liegt in der Wahrnehmung der Aufgabe(n), denen sich beide gegenübersehen. »Man könnte sagen der Gelehrte und der Bastler lauerten beide auf Botschaften, für den Bastler aber handle es sich um Botschaften, die in gewisser Weise vorübermittelt sind und die nur er sammelt; […] während der Mann der Wissenschaft, sei er nun Ingenieur oder Physiker, immer auf die andere Botschaft spekuliert […]« (Lévi-Strauss 1973, 33; Hervorhebung im Original).

Während der (mythisch denkende) Bastler seine Umgebung und die von ihr übermittelten/empfangenen Botschaften auf sich selbst und wiederum sein eigenes engeres Umfeld bezieht, sieht sich der moderne Gelehrte als privilegierter Empfänger allgemeiner Botschaften. Nur so ist es möglich, aber eben auch notwendig, die gewonnenen Fakten zu isolieren und ihnen den »zugleich marginalen und geheiligten Platz [zuzuweisen], den unsere Verehrung ihnen vorbehält« (Latour 2008, 11). Die Fakten des Gelehrten sind also aufgrund ihrer gleichzeitigen Partikularität und Allgemeinheit (also ihres Anspruchs als universelle Tatsachen) deutlich fragiler als die gesammelten Botschaften des Bastlers. Letzterer ist, um in Lévi-Strauss’ Bild zu bleiben, in der Lage zu improvisieren, während ersterer im Falle eines Fehlers, zumindest theoretisch, seine gesamte Annahme verwerfen muss. Die Kette oder das Netz von Referenzen, das der Wissenschaftler von den Objekten zu den Tatsachen spannt, ist innerhalb der modernen Ordnung in der Lage, Wirklichkeit zu repräsentieren. »Sobald man die Erweiterung dieses Netzes jedoch an einem der beiden Enden unterbricht, es an einem beliebigen Punkt zerschneidet, beginnt es zu lügen. Es referiert nicht mehr« (Latour 2002, 92). Die Fähigkeit des wissenschaftli-

I.3 Kontingenz und Mythos

chen Denkens, sich Strukturen und Ereignisse selbst zu schaffen (Lévi-Strauss 1973, 35), bildet somit die Voraussetzung für Fortschritt und den Zugriff auf Wirklichkeit, aber um den Preis sich gegenseitig abschaffender Paradigmen und des Scheiterns der gesamten Kette ›zirkulierender Referenz‹27, sobald ein Glied versagt. »Die Eigenart des mythischen Denkens besteht, wie in der Bastelei auf praktischem Gebiet, darin, strukturierte Gesamtheiten zu erarbeiten, nicht unmittelbar mit Hilfe anderer strukturierter Gesamtheiten, sondern durch Verwendung der Überreste von Ereignissen […] das mythische Denken, dieser Bastler, erarbeitet Strukturen, indem es Ereignisse oder vielmehr Überreste von Ereignissen ordnet« (Lévi-Strauss 1973, 35).

Der Bastler-Sammler steht also dem modernen Gelehrten-Erfinder gegenüber. Während der eine aus vorhandenen Überresten neu anordnet, erschafft der andere, so zumindest will es die Mythologie der Modernen, aus dem alten (wenn nicht gar aus dem Nichts) etwas Neues und damit etwas aus dieser Perspektive Besseres. »Aber täuschen wir uns nicht: es handelt sich nicht um zwei Stadien oder um zwei Phasen der Entwicklung des Wissens, denn beide Wege sind gleichermaßen gültig« (ebd., 35). Das vermeintlich erfolgreichere moderne Denken erreicht seine Grenzen gerade dort, wo es sich überlegen wähnt: in der Annahme des grundsätzlichen ›Auch-anders-sein-könnens‹ der Wirklichkeit. »[D]as mythische Denken [hingegen] ist nicht nur der Gefangene von Ereignissen und Erfahrungen, die es unablässig ordnet und neuordnet, um ihnen einen Sinn zu entdecken; es ist auch befreiend: durch den Protest, den es gegen den Un-Sinn erhebt, mit dem die Wissenschaft zunächst resignierend einen Kompromiß schloß« (Lévi-Strauss 1973, 53-36).

Die Frage nach dem ›Warum‹ stellt für das mythische Denken kein Problem dar, und das nicht etwa nur, weil es auf magische oder göttliche Kräfte zur Erklärung unverstandener Phänomene zurückgreifen kann (aber nicht muss), sondern weil dieses Denken die Annahme beziehungsweise Wahrnehmung eines Grundes28 überhaupt erlaubt. Sinn in Form »momentaner Evidenz« (Blumenberg 2001, 363) entsteht im mythischen Denken als Effekt von Wiederholung innerhalb einer prägnanten Struktur. Im Gegensatz zur »offenen Konsistenz« (ebd.), die das moderne Denken fordert, funktioniert »momentane Evidenz« nicht zwingend kausallogisch, sondern wird strukturintern über 27 | Vgl. Latour 2002, 36-95. 28 | »Gründe sind Gegebenheiten, die unabhängig vom Eintreten oder Nicht-Eintreten bestimmter Ereignisse im Rahmen unserer Weltbegegnung einsehbar sind« (Bubner 1998, 3-4). Das heißt, sie eliminieren den Zufall.

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Wiederholung von Bekanntem hergestellt.29 Die »Rückkehr zum Gleichen im Gegensatz zum Fortschritt« (ebd., 378) ordnet auch Neues in alte Muster ein und stellt so Evidenz her, auch wenn diese den modernen Ansprüchen nicht genügt. Dennoch taucht die »Umweg­struktur des Mythos« auch heute noch da auf, wo versucht wird, zum Preis der Exaktheit Totalität herzustellen, nämlich »in von ›der Wissenschaft‹ nicht anerkannter Wissenschaft« (ebd., 377). Das mythische Denken des Bastlers ähnelt in vielerlei Hinsicht dem Vorgehen des Spurenlesers:30 Zum einen weil der Jäger-Sammler, der zum ersten Erzähler wurde, weil er fähig war, »in den stummen – wenn nicht unsichtbaren – Spuren der Beute eine zusammenhängende Folge von Ereignissen zu lesen« (Ginzburg 2011, 19), und Lévi-Strauss’ Bastler Gefahr laufen, in dieselbe ›archaische‹ Vergangenheit verbannt/verklärt zu werden, und zum anderen weil sich ihr Vorgehen und dessen Repräsentation auffallend gleichen. Im Gegensatz zu Latours zweipoligem Ideal der Moderne, das Natur und Gesellschaft und damit letztlich auch Forscher und Fakten unvereinbar gegenüberstellt, sind Spurenleser und Bastler aufgrund ihres »wilden«, mythischen Denkens mit dem von ihnen Erkanntem und Erdachtem untrennbar verbunden. Der intuitive Zugang beziehungsweise die »Unbefangenheit« (Blumenberg 2001, 360) des mythischen Denkens steht in krassem Gegensatz zum Leitkonzept moderner Wissenschaftlichkeit: »Objektivität bewahrt das Artefakt oder die Variation, die im Namen der Wahrheit ausgelöscht worden wären; sie hat Skrupel, das Rauschen auszublenden, das die Gewißheit unterminiert. Objektiv sein heißt, auf ein Wissen auszusein, das keine Spuren des Wissenden trägt – ein von Vorurteil oder Geschicklichkeit, Phantasievorstellungen oder Urteil, Wünschen oder Ambitionen unberührtes Wissen. Objektivität ist Blindsehen« (Daston/Galison 2007, 17).

Eine von Objektivität geleitete Wissenschaft erfordert demnach die »Unterdrückung bestimmter Aspekte des Selbst« und wird somit zum »Widerpart von Subjektivität« (ebd., 38). Es wäre nun verlockend anzunehmen, dass sich die unterdrückte Subjektivität im mythischen Denken freie Bahn brechen kann. Jedoch ist ein starker Subjektivitätsbegriff nur in Abgrenzung zu einem Objektivitätsbegriff beziehungsweise zu ähnlichen Konzepte, also innerhalb der Trennung der modernen Verfassung, denkbar. Die vollkommene Kontrolle 29 | Blumenberg führt hier als Beispiel an, dass das »Gott-sein der Götter« (Blumenberg 2001, 364) im antiken Mythos zu keinem Zeitpunkt infrage steht, was aus moderner Sicht insofern verwundert, wenn man sich die ›Menschlichkeit‹ der Darstellung antiker Götter vor Augen führt. Worauf es jedoch ankommt, ist, dass sich ein Gott als Gott zu erkennen gibt. 30 | Vgl. Kap I.1 »Spuren und Fakten«.

I.3 Kontingenz und Mythos

über die Objekte stellt ebenso wie absolute Subjektivität ein (utopisches) Ideal oder eben einen Mythos dar. Nichtsdestotrotz behält die Kritik am Ideal der Objektivität beziehungsweise der Ausgrenzung von Subjektivität ihre Virulenz, denn die partikulare, von Subjektivität ›gereinigten‹ Objekte wissenschaftlicher Erkenntnis stellen eine maßgebliche Einschränkung des Blicks dar: »Wir erkennen die Natur der Fakten, weil wir sie unter Bedingungen erarbeitet haben, die wir vollkommen kontrollieren. Aus der Schwäche wird eine Stärke, sofern man die Erkenntnis auf die instrumentalisierte Natur der Fakten beschränkt und die Interpretation der Ursache beiseite lässt« (Latour 2008, 28). Die Stärke der Modernen zehrt folglich von der Einschränkung der Erkenntnis und ist zur Beantwortung der Frage nach dem ›Warum‹ explizit nicht geeignet, vor allem nicht zuständig. Vielmehr ermöglicht das Beiseitelassen der Ursache (des Grundes) eines Objekts oder eines Phänomens die Aufrechterhaltung einer allumfassenden Kontingenz. Ursachenketten werden zwar untersucht, aber auch wenn sie kausallogisch erfassbar sind, fragen sie nicht nach einem letzten Grund. Es muss sich dabei nicht um metaphysische Gründe handeln, jedoch um Totalitäten, und damit auch die Möglichkeit enthalten, Zusammenhänge wie Widersprüche zu erkennen und als Teil der ›Realität‹ zu akzeptieren. Zugespitzt formuliert, ist dem Wirklichkeitsbegriff der Moderne, für den Realität das Ergebnis von Realisierung ist, die Möglichkeit, das »eigentlich Seiende« (Blumenberg 2001, 362) wahrzunehmen, unverständlich. Aber bedeutet das, dass im Endeffekt Totalität und Exaktheit, Objektivität und Subjektivität, Mythos und Kontingenz nur getrennt voneinander zu denken sind, mythisches und modernes Denken nicht miteinander vereinbar sind? »Ein anderer Ausweg tut sich auf […] sobald wir die Arbeit der Produktion von Hybriden und die Arbeit der Beseitigung dieser selben Hybriden detailliert untersuchen. Dann bemerken wir, daß wir nie im Sinne der Verfassung modern gewesen sind. […] Niemand ist je modern gewesen. Die Moderne hat nie begonnen« (Latour 2008, 65).

Latours These von einer nicht-modernen Wirklichkeit, die gleichsam hinter der geordnet-gesäuberten Realität der modernen Verfassung stattfindet, gewinnt mit Blick auf die Frage nach der Wirksamkeit (und Legitimität) mythischen Denkens an Überzeugungskraft. Denn wenn man die diachrone und eurozentrische Perspektive außen vor lässt, die das mythische Denken den ›primitiven‹ oder ›archaischen‹ Kulturen vorbehält,31 und es damit geradezu musealisiert, wird sichtbar, dass ›Hybride‹ und Totalitäten ihren festen Platz in den Wissenschaften haben. So weist auch Lévi-Strauss auf die Neigung der Wissenschaften zu mythischem Denken hin, die schon im Versuch der Wis31 | Und sich damit ihnen überlegen sieht, unabhängig davon, ob das mythische Denken als ›kindlich-naiv‹ diffamiert oder als intuitiv oder naturverbunden überhöht wird.

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senschaften, ›elegante‹ Modelle zu entwerfen, Faszination auszudrücken und sich auch den ›großen‹ Fragen zuzuwenden,32 erkennbar wird.33 Indes passiert dies nichtsdestotrotz gemäß der modernen Verfassung, nämlich nachdem die Modernen von den Primitiven und Natur/Wissenschaft von Nicht-Wissenschaft/Gesell­schaft getrennt wurden.34 Akzeptable, das heißt disziplinär integrierte Vermittlung findet hauptsächlich hinter den geschlossenen Türen der Pole Natur/Kultur statt, oder eben da, wo man sich Popularisierung und Popularität zunutze machen will. Dass aber Neigungen und Ähnlichkeiten überhaupt bestehen können, ohne die Ordnung zu gefährden, beruht auf der erstaunlichen Effektivität der modernen Reinigungsarbeit. Nach außen dringen nur von der Vermittlungsarbeit und dementsprechend auch von mythischem Denken gesäuberte Fakten und Modelle.35 Wie aber Latour zeigt, sind die Arbeit der Vermittlung und die Erschaffung von Hybriden auch dort, wo sie in die Ordnung zu passen scheinen, ungebrochen aktiv. Natur und Gesellschaft bleiben als bequeme (nicht zuletzt rhetorische) Bezugspunkte (Latour 2008, 114) erhalten, während die praktische Arbeit ungestört vorangetrieben wird. Die effektive und effiziente Mythologie der Moderne dient gleichsam als institutioneller Rahmen, der die eigentliche Arbeit ermöglicht, ohne dass ihre Legitimität permanent grundsätzlich infrage gestellt werden müsste. »In der modernen Perspektive ermöglichen Natur und Gesellschaft eine Erklärung, weil sie selbst nicht erklärungsbedürftig sind. Selbstverständlich existieren Zwischenglieder, deren Rolle genau darin besteht, die Verbindung zwischen beiden herzustellen; aber sie stellen die Verbindung nur genau deswegen her, weil ihnen selbst jede ontologische Dignität fehlt« (ebd., 108). 32 | Ein Beispiel sowohl für den Versuch der Klärung großer Fragen als auch für eine elegante Lösung ist die Suche der Physik nach einer Supertheorie. Dass überhaupt eine solche angenommen wird, zeigt, dass die Wissenschaft keinesfalls ausschließlich partikularisierend vorgeht (vgl. u.a. Landua 2008, 11-32). 33 | »Schon streben Physik und Chemie danach, wieder qualitativ zu werden, das heißt auch den sekundären Qualitäten Rechnung zu tragen, die wenn sie erklärt sein werden, wiederum Mittel der Erklärung werden; und vielleicht tritt die Biologie in Erwartung dieser Vollendung auf der Stelle, um dann ihrerseits das Leben erklären zu können« (LéviStrauss 1973, 35). 34 | Vgl. dazu Latour 2008, 92. »Die Vergangenheit bleibt also und taucht sogar wieder auf. Dieses Wiederauftauchen ist den Modernen unbegreiflich. Also sehen sie darin die Wiederkehr des Verdrängten. Sie sehen darin etwas Archaisches« (Latour 2008, 93). 35 | »Unbesiegbarkeit der Modernen« – »Alles spielt sich in der Mitte ab, alles passiert zwischen den beiden Polen, alles geschieht durch Vermittlung, Übersetzung und Netze, aber dieser Ort in der Mitte existiert nicht, dafür ist kein Platz vorgesehen« (Latour 2008, 55).

I.3 Kontingenz und Mythos

Das bedeutet jedoch nicht, dass Objektivität als Leitvorstellung moderner Wissenschaftlichkeit selbst zum Mythos erklärt werden müsste.36 Tatsächlich zeigt sich hier durch eine Verschiebung der Perspektive, dass auch Objektivität eigentlich kein abstraktes Konzept ist, sondern ein Effekt praktischer Handlungen: »Objektiv wird man, in dem man objektive Handlungen durchführt« (Daston/Galison 2007, 57).37 Diese Handlungen, und damit der Herstellungsprozess (wissenschaftlicher) Tatsachen, lassen sich jedoch beobachten, nachvollziehen und darstellen.38 In der praktischen Arbeit an den Objekten ist es nicht nur denkbar, sondern auch äußerst wahrscheinlich, dass sich Wissenschaftler, Bastler, Spurenleser, Jäger, Detektiv und Ingenieur begegnen. Latours im Schlamm stehende Podologen39 erfüllen in diesem Sinne vielleicht schon die Hoffnung, die Lévi-Strauss in Das wilde Denken ausdrückt: »Vielleicht werden wir eines Tages feststellen, daß im mythischen und im wissenschaftlichen Denken dieselbe Logik am Werke ist und daß der Mensch allzeit gleich gut gedacht hat« (Lévi-Strauss 1977, 254). Das (Wieder-)Erkennen einer Spur und ihre Einordnung in und durch die eigene Erfahrung kann sogar, wenn auch unter größtem Aufwand, von der kreisenden Interpretation des wiedererkennenden mythischen Denkens in eine moderne Form fortschrittlichen Erkennens überführt werden. Die von Latour beschriebene Kette reversibler Referenzen legt ihre eigenen Spuren im Vergleich mühsam vom Objekt zum abstrakten Faktum (und zurück), erreicht dadurch jedoch etwas, dass der ›Umwegstruktur des Mythos‹ (Blumenberg) abgeht. Die ›andere Botschaft‹, auf die der Gelehrte lauert, erlaubt, was dem Sammler der ›vorübermittelten‹ Botschaft verwehrt bleibt: Kontingenz zu nutzen. Dies ist gemäß der von Makropoulos entworfenen Strukturformel aber Grundvoraussetzung für Modernität.40 An diesem Kontrast lassen sich gleichermaßen der Reiz des mythischen Denkens (oder einer sich darauf berufenden Form) wie auch die Ursachen der ihm gegenüber formulierten Skepsis 36 | Latour zitiert an dieser Stelle Michel Serres: »Es gibt keinen reineren Mythos als die Vorstellung einer Wissenschaft, die von jedem Mythos gereinigt wäre« (Latour 2008, 124). 37 | »Die meisten Arbeiten behandeln Objektivität als BEGRIFF […] Aber wenn man Begriffe durch Handlungen ersetzt und Praktiken statt Bedeutungen untersucht, lichtet sich der Nebel, der die Vorstellung von Objektivität umgibt. Dann zerfällt wissenschaftliche Objektivität in Gesten, Techniken, Gewohnheiten und Verhaltensweisen, die sich durch Schulung und tägliche Wiederholungen eingeprägt haben.« (Daston/Galison 2007, 55-56; Hervorhebung im Original) 38 | Wie es Latour in Die Hoffnung der Pandora vormacht. 39 | Vgl. Latour 2002, 76. 40 | Makropoulos’ Strukturformel beschreibt dieses Verfahren als »Kontingenzbegrenzung durch gezielte Kontingenznutzung« (Makropoulos 1997, 32).

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ablesen. Die Skepsis rührt daher, dass die mythische Evidenz Kontingenz tilgt, ohne sie nutzbar zu machen, und infolgedessen Fortschritt unmöglich macht. Reizvoll wird der Mythos als Alternative allerdings aus ebendiesem Grund: Er ermöglicht es, auf elegantem, weil einfachem und einleuchtendem Weg Sinn zu erzeugen und gleichzeitig dem Neuerungsdruck der Moderne zu entgehen. Neben der kleinschrittig-exakten wissenschaftlichen Arbeit, die für Partikularität steht, wirkt die mythisch-wiedererkennende geradezu mühelos. Die Ablehnung eines solchen Vorgehens von Seiten der Modernen kann so gesehen eigentlich nur noch kleinlich wirken. Dieser speziellen Kritik wissenschaftlicher Arbeit liegt jedoch ein Missverständnis sowohl mythischen als auch wissenschaftlichen Denkens zugrunde, welches die Polemik gegenüber dem Mythos, er lüge, schlicht umkehrt. Eine solche Auffassung mythischen Denkens glaubt sich von den Wissen­schaften um einen Sinn gebracht, der ihnen zustünde. Die Unerklärtheit eines Phänomens und im gleichen Zuge seine Kontingenz werden in ›Unerklärbarkeit‹ umgemünzt, sodass die ›Natur‹ des Phänomens Reaktionen erfordert, die nicht im Möglichkeitsrahmen wissenschaftlich akzeptierter Handlungsweisen liegen. »Dabei gewinnen zwei Erklärungsmodi Geltung. Der eine beruft sich auf Grundsätze aufklärerisch-rationalen Denkens und weist das kontingente Phänomen einer natürlichen Ordnung zu, der andere äußert sich als eine Art Beziehungswahn« (Lachmann 1998, 421). Spurenleser der letzteren Kategorie ähneln weniger den Bastlern des mythischen Denkens als Verschwörungstheoretikern, die hinter jedem Zufall und jedem Sichtbarwerden von Kontingenz einen geheimen, und wichtiger noch, intentional vor ihnen geheim gehaltenen Sinn zu erkennen meinen.41

B eziehungswahn und my thisches S prechen – Tungusk a als fantastisches E reignis Mythisches Denken und Beziehungswahn gleichen sich im Unwillen oder sogar der (pathologischen) Unfähigkeit, Kontingenz zu akzeptieren. Sie sollten aber keinesfalls miteinander gleichgesetzt werden, weil sie auf unterschiedlichen Bedingungen fußen. Während mythisches und wissenschaftliches Denken unabhängig voneinander und dadurch auch nebeneinander bestehen können, beruht die Suche nach einem verborgenen Sinn, die den »Gefahrenübersinn« (Schneider 2009, 161) kennzeichnet, direkt auf einem modernen Wissensbegriff. Das mythische Denken begegnet der in Ereignissen und Phänomenen offenbar werdenden Kontingenz, indem es jene in auf Erfahrung und Überlieferung beruhende »strukturierte Gesamtheiten« (Lévi-Strauss 41 | Vgl. Kapitel I.2 »Katastrophe und Risiko«.

I.3 Kontingenz und Mythos

1973, 35) integriert. Das Verstehen dieser Ereignisse ist dabei weniger davon abhängig, ob das Wissen der Ordnenden sie in allen Einzelheiten erklären kann, sondern ob ihre Fähigkeiten es ihnen erlauben, Reste und Bruchstücke (sozusagen partiell Verstandenes) zu bereits Bekanntem in Beziehung zu setzen. Die »vorübermittelten Botschaften« (Lévi-Strauss 1973, 33), auf die der Bastler lauert, sammelt deswegen »nur er« (ebd.), weil er sie letztlich in Beziehung zu sich selbst und seiner Erfahrung setzt. Dieser Prozess kann somit durchaus als selektiv verstanden werden, sodass die Totalität des mythischen Denkens also nicht bedeutet, dass alles wahrgenommen und erklärt wird, sondern dass alles, was wahrgenommen wird, innerhalb der Gesamtheit von Erfahrungen Bedeutung gewinnt. Um dem Ideal der Objektivität Genüge zu tun, muss ein Wissenschaftler jedoch eine strikte Trennung zwischen sich und den von ihm untersuchten Dingen einhalten, was ihn dazu zwingt, bestimmte Aspekte seines Selbst zu unterdrücken.42 Diese Entfernung von der Natur, die von Verfechtern (auch falsch verstandenen) mythischen Denkens kritisiert wird, erlaubt es jedoch, über die Dinge zu verfügen, indem sie durch diese Praxis (sie zu unterscheiden, ins Labor zu holen und zu abstrahieren) erklärbar werden. Indem die Dinge erklärbar gemacht und erklärt werden, können sie über die praktische Verwendung, die das mythische Denken ermöglicht, hinaus genutzt werden. Die Integration des im modernen Denken »freigesetzten, wenn nicht am Ende selbstmächtig gesetzten Potentialis« ruft in seiner Radikalisierung »nicht nur die Idee totaler Gestaltbarkeit, sondern auch die totaler Gestaltungsbedürftigkeit auf den historischen Plan« (Makropoulos 1997, 32). Dinge, Ereignisse und Phänomene werden also nicht nur erklärbar gemacht, sondern auch denkbar und machbar. Zukünftige Machbarkeit ist für mythisches Denken jedoch nicht von Belang und ruft auch in der Gegenwart Zweifel und Sorge hervor, die sich in der (polemischen) Rede vom Mythos der Wissenschaft und der naiven Kritik an der verlorenen Einheit zwischen Mensch und Natur niederschlägt. Das Fortschrittsdenken als Praxis der Moderne erfordert jedoch das Aushalten von Unerklärtheit, des Noch-nicht-Erklärten, und von Kontingenz, des Auch-anderssein-Können. Das schließt ein, was bereits erwähnt wurde: Es gibt Fragen, die innerhalb dieses Modells nicht beantwortet werden (können), weil sie nicht gestellt werden. Die Mechanis­men und Praktiken, die die Dinge verfügbar machen und die zu der Entscheidung führen, manche Fragen zu stellen und andere nicht, wirken für einen Laien oft undurchsichtig. Die komplizierten Vorgänge der Genese modernen Wissens sind so voraussetzungsreich, dass nur eine vergleichsweise kleine Gruppe von Experten sie beherrscht. Das kann zu einer Kritik an der Wissenschaft führen, die ihr vorwirft, sich in zu engen Grenzen 42 | Vgl. Daston/Galison 2007, 38.

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zu bewegen, um die ›Wahrheit‹ zu erkennen,43 sie also nicht erkennen können. Oder es führt zu der Vermutung, man wolle die Wahrheit nicht erkennen, bis hin zu der (paranoiden) Vorstellung, man wisse etwas, man sei jedoch nicht bereit, dieses Wissen mit der Öffentlichkeit zu teilen.44 Allein die Rede von der ›Beherrschung‹ der Fähigkeiten und des Wissens kann den Eindruck erwecken, etwas Geheimes ginge vor sich. Diejenigen, die insofern privilegiert sind, als sie Teil der ›scientific community‹ sind, scheinen eifersüchtig über ihre Güter zu wachen und Laien nur mit Bruchstücken ihres Wissens abspeisen zu wollen, um ihre eigene Machtposition nicht zu gefährden. Dabei entspringt diese Skepsis gegenüber dem, was man nicht versteht, aus der gleichen Quelle wie der kritisierte Wissenschaftsbetrieb. Es läge nahe, nun auch hier polemisch von einem ›Mythos‹ der Aufklärung zu sprechen, der zwar davon erzählt, dass jeder die Chance (und die Pflicht) habe, sich aus seiner ›selbstverschuldeten Unmündigkeit‹ zu befreien, die Wissenschaft in Wahrheit jedoch ein geschlossenes System sei, dass den ›Mythos‹ nur verbreite, um seinen alleinigen Deutungsanspruch zu erhalten. Die ›Mythologie‹ der Moderne würde damit ein Geflecht aus Lügen bezeichnen, dessen einziger Zweck darin bestünde, den Machterhalt einer kleinen Elite zu sichern. Ebenso gut könnte man aber denjenigen, die solches glauben, Faulheit (zu studieren, sich zu bilden) oder Dummheit (Leichtgläubigkeit der Massen) unterstellen. Doch scheint sich auch hier alles ›in der Mitte‹ abzuspielen.45 Die Suche nach einer Alternative zur Partikularität der Wissenschaften sowie die Unterstellung geheimer Absichten, so unterschiedlich sie auch begründet sein mögen, drücken gleicher­maßen Unsicherheit gegenüber den komplexen Inhalten und Methoden der Wissensgewinnung sowie den Zusammenhängen moderner Gesellschaftssysteme aus. Während die strukturierten Gesamtheiten mythischen Denkens für den Einzelnen einsehbar sind,46 befindet sich das Individuum in der Moderne in einer Situation, die Überblick un43 | Beispiele dafür finden sich z.B. im ersten Kapitel. Dann bedarf es nämlich eines hochbegabten (Sherlock-Holmes-gleichen) Detektivs, der sich mutig dem Establishment entgegenstellt. 44 | Diese Vermutung unterstellt einen (politischen) Machtgewinn durch die Geheimhaltung von Wissen und erfreut sich gerade in fiktionalen Texten großer Beliebtheit. Dementsprechend sind Geheimgesellschaften schon seit der Romantik ein beliebtes Sujet und auch moderne Theorien wie der Klimawandel werden zum Thema von Verschwörungstheorien (z.B. Michael Chrichtons State of Fear), die eine (verbrecherische) Kooperation von Wissenschaftlern und Politikern zum Nachteil der Öffentlichkeit vermuten. 45 | Vgl. Latour 2008, 55. 46 | Um die Gesamtheit einer mythischen Ordnung zu begreifen, ist es nämlich nicht notwendig, sämtliche Einzelmythen zu kennen.

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möglich macht. Um dem Gefühl von Entfremdung und Ausgeliefertsein entgegenzuwirken, müssen Struktur und Sicherheitsempfinden erzeugt werden, damit eine (soziale) Ordnung trotz komplexer Bedingungen erhalten bleiben kann. Dabei spielt ›Mythos‹ eine zentrale Bedeutung nicht vorrangig auf der Ebene des Denkens, sondern als Funktion der Sprache. In seiner Textsammlung Mythologies, die auf Deutsch unter dem einflussreichen Titel Mythen des Alltags erschien, bestimmt Roland Barthes den Mythos erstmals in dieser Weise: »Der Mythos ist eine Rede. […] Der Mythos ist ein System der Kommunikation, eine Botschaft. Man ersieht daraus, dass der Mythos kein Objekt, kein Begriff und keine Idee sein kann; er ist eine Weise des Bedeutens, eine Form« (Barthes 2012, 251).47 Dadurch wird es möglich, den Mythos nicht nur als Merkmal räumlich oder zeitlich entfernter Kulturen, sondern als allgegenwärtigen Teil gegenwärtiger Kommunikation zu begreifen. So erweist sich, dass das Verständnis des Mythos als Teil einer ›anderen‹ Welt, seiner Fähigkeit »Antinatur in Pseudonatur« zu verwandeln, Tür und Tor öffnet (ebd., 924-925). Der Bereich dessen, was Mythos werden kann, ist bei Barthes praktisch unbegrenzt: »Da der Mythos eine Rede ist, kann alles Mythos werden, was in einen Diskurs eingeht. Der Mythos bestimmt sich nicht durch den Gegenstand seiner Botschaft, sondern durch die Art, wie er sie äußert: Es gibt formale Grenzen des Mythos, keine substantiellen« (ebd., 251).

Aufgrund seines Charakters als ›Metasprache‹ ist es mit seiner Hilfe möglich, »jede beliebige Materie willkürlich mit Bedeutung aus[zu]statten« (ebd., 252). Das heißt, dass Mythos nicht Eigenschaft eines Objekts oder einer bestimmten Denkweise ist, sondern der Repräsentation von Objekten und Denkweisen dient.48 Also ist er weder Lüge noch Wahrheit, sondern ein Wert, der sich als »sekundäres semiologisches System« (ebd., 259) der Objektsprache bemächtigt, um sein eigenes System zu konstruieren. Tatsächlich stellt sich die Frage nach Wahrheit oder Lüge im Mythos nicht mehr, denn er erscheint als »unschuldige Rede«, weil er als »Faktensystem« gelesen wird (ebd., 280). Indem er sich der Bedeutung eines Zeichens bemächtigt, wird es ihm möglich, seine Aufgabe zu erfüllen, »eine historische Intention in Natur, etwas Zufälliges als Ewiges zu begründen« (ebd., 294). 47 | Barthes weist den Mythos als »parole« im Zeichenmodell Saussures der Ebene der gesprochenen Sprache zu (Barthes 1957, 181). 48 | »Der Mythos ist ein Bestandteil der Sprache; durch Sprache ist er uns bekannt, er hängt mit der Rede zusammen. Wollen wir uns über die spezifischen Merkmale des mythischen Denkens Rechenschaft geben, so müssen wir verifizieren, daß der Mythos gleichzeitig in der Sprache und jenseits der Sprache ist.« (Lévi-Strauss 1977, 229)

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Die moderne Verfassung, wie Latour sie beschreibt, kann also in Barthes’ Begriffen als ein ebensolcher Mythos gelesen werden. Die Trennung zwischen den Polen Natur und Gesellschaft stellt insofern einen mythischen Prozess dar, als sie »Geschichte in Natur« verwandelt (ebd., 278) und die »Dinge in ihm [dem Mythos, SN] die Erinnerung daran [verlieren], daß sie hergestellt worden sind« (ebd., 295). Latours’ Darstellung der modernen Verfassung kann analog zu Barthes’ Beschreibung der Instrumentalisierung des Mythos durch die bürgerliche Ideologie verstanden werden: »Sie arbeitet ständig daran, sie zum Gegenstand eines unbeschränkten Besitzes zu fixieren, ihre Bestände zu inventarisieren, sie einzubalsamieren, dem Realen eine reinigende Essenz einzuimpfen, die seine Transformation, sein Streben nach anderen Formen der Existenz aufhalten soll« (Barthes 2012, 311).

Der Mythos erlaubt es demnach, den Deutungsanspruch der Modernen zu legitimieren, mehr noch, ihn unhinterfragbar zu machen, indem er ihn enthistorisiert, entpolitisiert und damit naturalisiert. Er begegnet der Kontingenz, die nicht nur in natürlichen Phänomenen, sondern auch im Erkennen der Arbitrarität von Zeichen sichtbar wird, indem er »Diebstahl an der Sprache« (ebd., 280) begeht. Das Wissen über die Hergestelltheit von Fakten und die Willkürlichkeit sprachlicher Zeichen erzwingt gleichzeitig ein Bewusstsein von Kontingenz. Der Mythos als Metasprache negiert diese jedoch, indem er ein Zeichen zum Signifikat macht und erneut mit Sinn füllt. Die durch die Festsetzung von Bedeutung erreichte Naturalisierung dient dazu, die Sinnfrage, die dieses Bewusstsein nach sich ziehen kann, zu umgehen und damit die bestehende Ordnung zu festigen. »Der Mythos leugnet nicht die Dinge; seine Funktion ist es vielmehr, davon zu sprechen; er reinigt sie einfach, gibt ihnen ihre Unschuld zurück, gründet sie in Natur und ewiger Dauer, gibt ihnen die Klarheit nicht einer Erklärung, sondern einer Feststellung« (ebd., 296; Hervorhebung SN). Dem so etablierten Faktensystem zu entgehen, ist schwerlich vorstellbar, wenn man nicht wie Latour von einer im Hintergrund ungestört ablaufenden Wirklichkeit ausgeht. Auch deswegen, weil die Benutzung des Mythos sich wie im Fall der modernen Verfassung als besonders effektiv erweist. »Tatsächlich bildet die Metasprache für den Mythos eine Art Speicher. Das Verhältnis der Menschen zum Mythos ist keines der Wahrheit, sondern eines der Benutzung; sie entpolitisieren je nach ihren Bedürfnissen« (Barthes 2012, 297). Auch die ›Gegner‹ der Modernen benutzen den Mythos, um ihre Sicht der Dinge in ein

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Faktensystem zu transformieren, bleiben damit innerhalb des Systems und stärken es sogar, ohne dies zu beabsichtigen.49 Die populäre Darstellung des Tunguska-Ereignisses als Rätsel oder Mysterium50 und die damit einhergehende Proklamation des Scheiterns der Wissenschaften (wenigstens aber die Infragestellung ihres Deutungsanspruchs) ist ein Beispiel für den Einsatz des Mythos. Die Bezeichnung des Ereignisses als »riddle« und »inexplicable catastrophe« (Baxter/Atkins 1976, 11) bemächtigt sich seiner und enthebt es dem Verfügungsbereich der Naturwissenschaften, um es für den Bereich der populären Forschung zugänglich zu machen. Die Popularisierung des Ereignisses, also das Vorhaben Tunguska als Element des Fachwissens auch Laien zugänglich zu machen,51 ist dabei nur in wenigen Fällen das Ziel der Aneignung.52 Die Aneignung des ›Rätsels‹ hat vielmehr zum Ziel, es sich zur Erklärung durch eigene Paradigmen verfügbar zu machen. Die Strategie dieses ›Diebstahls‹ ist dabei bemerkenswert. Angesichts des Ereignisses wird zunächst die Unfähigkeit und/oder Ratlosigkeit der Wissenschaften proklamiert, die schließlich Jahrzehnte beziehungsweise mittlerweile über 100 Jahre Zeit gehabt habe, eine Erklärung zu finden. Das wird wiederum auf die Besonderheit des Ereignisses zurückgeführt, die sich einer (herkömmlichen) Erklärung entziehe. Dabei wird großzügig ignoriert, dass solche Erklärungen innerhalb der Disziplinen durchaus Bestand haben können, auch wenn sie sich ›nur‹ auf Indizien stützen, und selbst dann die Erklärbarkeit nicht infrage steht, wenn sich eine Vielzahl von Thesen als falsch erwiesen hat. Hier wird das rhetorische Geschick der populären Aneignungen sichtbar. Denn indem man das Ereignis durch einfache Behauptung zum Rät-

49 | Vgl. dazu: »Aus der Zentralität des Kontingenzproblems und der Persistenz des spezifischen gesellschaftlichen Selbstverständnisses, das diese Zentralität konstituiert, führt die postmoderne Umwertung nicht hinaus, sondern bricht allenfalls – wenn auch mit erheblicher Evidenz – aus dem nachträglichen Wissen um deren verheerende historische Wirkungen mit den absoluten Wirklichkeitserwartungen und totalen Ordnungsprojekten der Klassischen Moderne.« (Makropoulos 1997, 156). 50 | Vgl. Kapitel I.1 »Spuren und Fakten«. 51 | »Popularisierung ist Mythos im Sinne von Roland Barthes« (Safir 2009, 19). Safirs vorsichtigere Formulierung, der Mythos »entführe« die wissenschaftliche Sprache (18), mildert damit die ›Diebstahl‹-Metapher von Barthes deutlich ab. Ob sie ihrer ansonsten positiven Charakterisierung von Popularisierung allerdings mit dieser Beschreibung gerecht wird, ist infrage zu stellen. Barthes’ kritische Darstellung der Instrumentalisierung des Mythos durch bürgerliche Ideologie lässt hingegen wenig Raum für positive Interpretation. 52 | Bei Verma kann man das zumindest annehmen und auch die Beschäftigung von James und Thorpe mit dem Tunguska-Ereignis fällt in diese Kategorie.

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sel macht, naturalisiert man seine Unerklärbarkeit, macht sie zum Faktum, nur um sich dann paradoxerweise selbst einer Erklärung zuzuwenden. Das Ereignis wird zu einem Phänomen erklärt, dass deswegen nicht erklärt werden konnte, weil es für die Methoden und Maßstäbe der Wissenschaften schlicht nicht erklärbar ist – zumindest, so suggerieren es die Beteuerungen der Plausibilität der eigenen Szenarien,53 nicht in ihrer jetzigen Form. Der ›Mythos‹ der nicht-wissenschaftlichen Darstellungen bemächtigt sich also des Ereignisses und begegnet seiner Unbestimmtheit/Unerklärtheit durch Neubestimmung, obwohl dies durchaus nicht notwendig ist oder auch nur naheliegend erscheint.54 Das zeigt u.a. die begriffliche Bestimmung: Während Tunguska auch im wissenschaftlichen Kontext durchaus Rätselhaftigkeit attestiert wird55, die jedoch offen für eine Lösung zu sein scheint, werden die mysteriösen Eigenschaften dem Ereignis in außerwissenschaftlichen Darstellungen selbst eingeschrieben.56 Das Tunguska-Ereignis der nicht-wissenschaftlichen Darstellungen (so sehr sie ihre Nähe zu den Disziplinen betonen mögen), also der ›Mythos Tunguska‹, und das Ereignis, welches Gegenstand disziplinärer wissenschaftlicher Forschung ist, sind nicht mehr dasselbe Ereignis. Das Verhältnis des Mythos zum wissenschaftlichen Ereignis kann vielmehr als parasitär beschrieben werden: »Im Sinn [des primären Zeichens, SN] hat sich bereits eine Bedeutung herausgebildet, die sich durchaus selbst genügen könnte, wenn sich der Mythos nicht ihrer bemächtigte und aus ihr plötzlich eine leere, parasitäre Form machte. Der Sinn ist bereits vollständig, er postuliert ein Wissen, eine Vergangenheit, ein Gedächtnis, eine geordnete Reihe von Tatsachen, Ideen und Entscheidungen. Indem er Form wird, verliert der Sinn seinen Zusammenhang; er leert sich, verarmt, die Geschichte verflüchtigt sich, er bleibt nur noch Buchstabe« (Barthes 2012, 262; Hervorhebung im Original).

Das Tunguska-Ereignis bleibt freilich weiter ein Gegenstand der Wissenschaften, es wird gewissermaßen vervielfältigt und um eine fantastische Version seiner selbst ergänzt. Fantastisch ist diese Version, weil die mythisch-populäre Aneignung es zu einem (eigentlich) unmöglichen Ereignis umdeutet. 53 | Vgl. Baxter/Atkins 1976, 146. 54 | Das ist ohnehin für kein Phänomen, Objekt oder Ereignis der Fall, denn es gibt keine »unvermeidlich suggestive[n] Objekte« (Barthes 2012, 252; Hervorhebung im Original). 55 | »Despite great efforts, the TE remains a conundrum.« (Longo 2007, 303) 56 | »It is essentially a mystery story, for though the blast was among the most powerful ever occuring before or since on earth, its exact cause is not known; it remains today one of the greatest scientific riddles of all time.« (Baxter/Atkins 1976, 11; Hervorhebung SN) Dass es ein Rätsel bleibt (remains), ist für diesen Zusammenhang besonders interessant.

I.3 Kontingenz und Mythos

Wenn man annimmt, dass ein »unmögliches Ereignis […] ein Ereignis [ist], das nicht erklärt werden kann, das also auf keine irgendwie denkbaren oder als möglich erachteten Ursachen zurückgeführt werden kann« (Antonsen 2009, 127), dann müsste das Tunguska-Ereignis allein deswegen erklärbar sein, weil es wirklich stattgefunden hat.57 Das ist aber nicht der Fall, so die Behauptung, weil es trotz vielfacher Versuche nicht erklärt wurde, also nicht erklärt werden konnte. In dieser Konstruktion bleibt kein anderer Weg offen, als das ›Rätsel‹ Tunguska zum realen Phantasma zu erklären. Die neue Natur des Ereignisses stellt eine Verbindung zwischen dem literarischen Genre der Phantastik und rational-wissenschaftlichen Darstellungen her, die an dieser Stelle bemerkenswert­erweise in nicht ausgewiesen literarischen Texten aufeinandertreffen. Der Darstellungsmodus der Phantastik scheint sich hier aufzudrängen und lässt sich an die Überlegungen zu den Parallelen zwischen Tunguska-Darstellung und Detektivroman anschließen.58 Das Spurenlesen als Modus der Kontingenzbewältigung reagiert auf ein Ereignis, »das die bisherigen Verhältnisse in Frage oder in ein anderes Licht stellt und Schock und Verblüffung auslöst. […] Die Diskontinuität, die der Einbruch des Unerhörten und Ungesehenen bewirkt, veranlaßt dazu, alles mit einem Schlag anders zu sehen« (Lachmann 1998, 416). Dieser Effekt wird auch dem umgedeuteten Tunguska-Ereignis zugeschrieben. Seine besonderen Eigenschaften, seine Unerklärbarkeit lassen es äußerst rätselhaft erscheinen. Die in einem solchen unerklärlichen Ereignis sichtbar werdende Kontingenz kann (in der Logik der Phantastik) entweder per se als unheimlich oder wunderbar begriffen werden, oder dieser Effekt wird darauf zurückgeführt, dass es auf das planvolle Wirken einer »außerirdischen Intelligenz« zurückgeführt wird. Die Ablehnung des Zufalls beziehungsweise der Kontingenz, die darin offenbar wird, versteht den Zufall als »Symptom des Nicht-Wissens« (ebd., 423) und treibt damit rationale Erklärungsaktivität ins Extrem. Der Beziehungswahn bezieht, darin ähnelt er strukturell dem mythischen Denken, sämtliche wahrgenommenen Phänomene auf sich selbst und erzeugt durch die Integration des Phänomens in eine Ordnung Sinn. »Alles, was fremd erscheinen mag, wird, sobald die Fremdheit sich zeigt, als Teil einer hochgradig signifikanten Koinzidenz gedeutet. Dabei spielt selbstverständlich die Wie-

57 | Zumindest ist mir nicht bekannt, dass sein reales Stattfinden (die Explosion über der Steinigen Tunguska am Morgen des 30. Juni 1908) von irgendwem bezweifelt würde. 58 | So kann das Spurenlesen des Detektivs im Sinne der Bewältigung von Kontingenz durch ihre Negation mithilfe der Entzifferungsarbeit gelesen werden (vgl. Lachmann 1998, 410): »Der phantastische Detektivismus versucht, die Kontingenz des Phänomens zu tilgen, und macht es so zum Phantasma eines Sinns« (ebd., 421).

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Die Produktion der Katastrophe derholung eines Ereignisses eine konstitutive Rolle, denn diese macht den bloßen Eindruck der Absichtslosigkeit zunichte« (Lachmann 1998, 423). 59

Anstatt jedoch Ruhe durch die Einordnung in eine strukturierte Gesamtheit zu finden, wird die »wunderpolitische Semiose aller Dinge« (Schneider 2009, 163) zum Dauerzustand, der aus dem Zufall zwar »das Phantasma einer Alternative« (Lachmann 1998, 428) entwickelt, jedoch von der modernen Ordnung abhängig bleibt. Die alternativen (Erklärungs-)Modelle, die daraufhin entwickelt und präsentiert werden, haben dementsprechend einen fragilen Status. Nicht nur, weil sie sich außerhalb der Grenzen respektive der Zuständigkeitsbereiche gesellschaftlicher Arbeitsteilung bewegen, sondern weil der Wissensbegriff nur innerhalb dieser Grenzen stabil ist und jeder weitere Schritt nun weiterer Mythisierung bedarf und folglich immer brüchiger wird. »[D]as im mythischen Begriff enthaltene Wissen [ist] wirr, ein aus unscharfen, unbegrenzten Assoziationen bestehendes Wissen. Man muß diese Offenheit des Begriffs betonen; er ist keineswegs eine abstrakte, gereinigte Essenz, sondern ein formloser, instabiler, nebelhafter Niederschlag; seine Einheit und sein Zusam­m enhang sind vor allem funktional bedingt« (Barthes 2012, 264).

Während im mythischen Denken ›der Mythos‹ diffus bleiben kann, da die »Erklärungsansprüche an ihn leger sind« (Blumenberg 2001, 373), wird das unscharfe Wissen für den Tunguska-Mythos insofern zum Problem, als die Ansprüche der Texte an ihre Erklärungen denkbar hoch sind. Dass trotz der behaupteten Unerklärbarkeit überhaupt Erklärungen versucht werden können, liegt daran, dass der wissenschaftliche Anspruch, über das Phänomen durch Erklärung zu verfügen, als primärer Sinn der Rede über das Tunguska-Ereignis im Mythos enthalten bleibt. Den ursprünglichen Sinn zwar zurückzudrängen, aber nicht zu vernichten, sondern ihn sich zur Verfügung zu halten, ist neben der Naturalisierung eines Artefakts zu einem Faktum die effektivste Strategie des Mythos. »Der Sinn wird der Form als leicht zugänglicher Vorrat von Geschichten dienen, als ein disponibler Reichtum, der in raschem Wechsel herangezogen und wieder fallengelassen werden kann« (Barthes 2012, 263). Der Einsatz der Metasprache des Mythos erscheint hier nicht einem alternativen mythischen Denken, sondern einem paranoiden Reflex zu entspringen. Denn ebenso wie sich diese Form eines Tunguska-Mythos des wissenschaftlichen Gegenstands bemächtigt, beruht die Erklärungsaktivität des Beziehungswahns auf einer ins Extreme getriebenen Form moderner Erklärungsansprüche. Der diffuse Status des im metasprachlichen Mythos enthaltenen 59 | In diesem Sinne ließe sich z.B. auch das ›Wiedererkennen‹ des Tunguska-Ereignisses in anderen Katastrophen (Hiroshima) deuten (vgl. Kapitel I.2 »Katastrophe und Risiko«).

I.3 Kontingenz und Mythos

Wissens verhindert eine Erklärung schließlich und fixiert die Behauptung der Unerklärbarkeit auf doppelte Weise, indem sie Anfang und Endpunkt zugleich ist. Die ›Entführung‹60 des Ereignisses durch die Behauptung seiner Unerklärbarkeit und die daraus folgende Umdeutung in einen Mythos kann nicht nur als Folge, sondern auch als Ursache geradezu unaufhaltsamer Erklärungsaktivität gedeutet werden. Denn wer um den Mythos als parasitäre Bedeutung hinter dem zunächst offenbaren Sinn weiß, der weiß auch um seine Macht, und es ist leicht, einen solchen vermeintlichen Hintersinn hinter allen Tatsachen zu vermuten. Das Wissen um das ›sekundäre semiologische System‹ der Sprache, welches sich potenziell jedes Gegenstandes bemächtigen kann, scheint den ›Gefahrenübersinn‹ geradezu herauszufordern. Nicht nur die schwer oder gar nicht verständlichen Vorgänge in den (Natur-)Wissenschaften und die gleichsam hinter dem Rücken der Modernen stattfindende unkontrollierte Vermehrung der Hybride (Latour), sondern auch die Gesamtheit der Sprache erscheint in diesem Licht durchdrungen von verborgenem und geheimem oder sogar geheim gehaltenem Sinn. Anders formuliert kann die Vermehrung des Wissens über die Präsentations- und Begründungsstrategien modernen Wissens61 nicht nur als erhellend im Sinne der Aufklärung beschrieben werden, sondern auch als Nährboden für paranoide »Übervernunft« (Schneider 2009, 163).62 Der Tunguska-Mythos nimmt damit einen unbestreitbar wichtigen Platz in der ›Mythologie der Modernen‹ ein, denn er ist gleichzeitig Versuch der Leugnung und Bestätigung der Fähigkeiten jener Modernen. Weil er als Wissenschaftsmythos die ›Geschichten‹ zur ›Verfügung‹ hält, die zu den Grundlagen modernen Selbstverständnisses gehören, ist der Tunguska-Mythos prädestiniert dafür, zu untersuchen, »wie mythologische Gehalte fern von ihrem Ursprung und ihrer genuinen Funktion immer wieder als Leitfiguren elementarer Selbst- und Weltbestimmung aufgegriffen und ausgelegt, variiert und akzentuiert werden konnten« (Blumenberg 2001, 329). Als Speicher und Verbindung zu ›Geschichten‹, aber auch als Produkt paranoider Vernunft63 wird 60 | Vgl. Safir 2009, 18. 61 | Ausschlusssysteme der Diskurse (Foucault), moderne Verfassung (Latour), Mythos als sekundäres semiologisches System (Barthes). 62 | Schneiders Grundannahme, dass Paranoia als Rationalitätstypus, wenn auch als Übervernunft zu betrachten sei (Schneider 2009, 163). »All dies sind ja Beispiele keineswegs für Dummheit oder Wahnsinn, sondern für einen technisch und zumal medientechnisch aufgerüsteten Gefahrenübersinn. Die Methode ist die gleiche: Aus dem Fluss der Dinge und der Zeichen holt die Deixis flimmernde Punkte, durch die hindurch sich der Zugang zu einer der unsichtbaren Hände erschließt« (Schneider 2009, 172). 63 | »Komplottunterstellung ist Komplottprojektion, die Ordnung in die wilden Fakten bringt, ihnen eine semantische Kohärenz und narrative Syntax gibt, sie zum plot macht« (Lachmann 1998, 423; Hervorhebung SN).

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der Tunguska-Mythos selbst zum Plot. Das mythische Sprechen über Tunguska, seine Aneignung als unerklärbares, fantastisches Ereignis, transformiert das reale Ereignis in einen Mythos als Hintersinn und als Erzählung. Die verschiedenen Tunguska-Darstellungen können in dieser Hinsicht als »Arbeit am Mythos« (Blumenberg) verstanden werden und zwar unabhängig von dem Diskurs, in dem sie entstehen.

D ie A rbeit am Tungusk a -M y thos Tunguska als Mythos zu betrachten bedeutet, anders als es der Gebrauch des Begriffs häufig nahelegt, dass es möglich (und notwendig) wird, die Rede über das Tunguska-Ereignis in all ihren Ausformungen ernst zu nehmen, anstatt einen Teil polemisch als ›Mythos Tunguska‹ abzuwerten. Nur wenn man den Mythos als Plot beziehungsweise als »Geschichte […] von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit« (Blumenberg 2006, 40)64 betrachtet, wird es möglich, die verschiedenen Diskurse, die an Tunguska-Forschung und -Mythisierung beteiligt sind, gemeinsam in den Blick zu nehmen. Weil dieser Perspektive Wissensbegriffe und Denkmodelle zugrunde liegen (können), die unabhängig von denen der modernen (natur-)wissenschaftlichen Paradigmen sind, ist eine ›Auf‹- oder ›Ab‹-Wertung der verschiedenen Texte und Darstellungen unnötig. Wenn alle Zeugnisse gleichermaßen als Produkte der Arbeit am Mythos betrachtet werden, kann niemand einen mehr oder weniger berechtigten Anspruch auf Deutungshoheit für sich beanspruchen. Versteht man Blumenbergs Ansatz als einen Kulminationspunkt der Beschreibungen mythischen Denkens und Sprechens, erlaubt er es, einen Standpunkt einzunehmen, der nicht selbst auf den dichotomischen Wissensbegriffen der Moderne(n) fußt. Man betrachtet niemanden bei der Arbeit am Mythos, weil der Mythos »immer schon in Rezeption übergegangen« (Blumenberg 2001, 350) ist, und gewinnt damit automatisch eine distanzierte Position zum Gegenstand, die es jedoch, anders als der Anspruch der Objektivität, nicht erfordert, einen Teil des Selbst zu unterdrücken. Die Unter­suchung unterscheidet sich im Grunde nur darin von der ›herkömmlichen‹ Mythenrezeption, dass sie über sich selbst Auskunft gibt (wiederum selbst Arbeit am Mythos betreibt). Jede Lektüre/Rezeption des Mythos, seine Darstellung in einem Kontext (neu oder vermeintlich alt), mag zwar im Kern gleich bleiben, stellt jedoch eine neue 64 | »Diese beiden Eigenschaften machen Mythen traditionsgängig: ihre Beständigkeit ergibt den Reiz, der auch in bildnerischer oder ritueller Darstellung wiederzuerkennen ist, ihre Veränderbarkeit den Reiz der Erprobung neuer und eigener Mittel der Darbietung« (Blumenberg 2006, 40).

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Variante dar. Indem die Rezeption und seine Erforschung den Mythos wiederholen, fügen sie auch immer etwas hinzu – sodass das mythische Wissen per se nicht dem modernen Anspruch an Faktizität genügen kann. »Gerade das also, was ihn dem Wirklichkeitsbegriff der Neuzeit, der unter dem Kriterium der Konsistenz steht, entfremdet, erweist den Mythos in seiner Ursprünglichkeit« (Blumenberg 2001, 342). Die Vervielfältigung eines Elements kann demnach nicht nur (immer auch negativ gefärbt) als Produkt einer Entführung oder Aneignung verstanden werden, sondern als produktives Zeugnis mythischer/ erzählerischer Aktivität. Die ›Traditionsgängigkeit‹ und ›Beständigkeit‹ eines solcherart tradierten mythischen Kerns zu untersuchen, birgt den Vorteil, dass verschiedene Varianten betrachtet werden können, ohne dass sie in Kategorien von alt/neu, eigen/fremd, richtig/falsch unterteilt werden müssten, um sie als Wissen ernst zu nehmen. Vielmehr lenkt diese Betrachtungsweise das Interesse auf die Kontexte, in denen dieses Wissen auftaucht, und damit auch auf das Interesse, aus denen ein bestimmtes Wissenselement/Phänomen/Ereignis zum Mythos wird (und ein anderes nicht). Der Tunguska-Mythos ist in dieser Weise »durch die Gesamtheit seiner Fassungen« definiert und »bleibt so lange Mythos, wie er als solcher gesehen wird« (Lévi-Strauss 1977, 239). Mythos kann demnach nicht objektiviert werden, z.B. indem man ihn zum Faktum macht oder aus ihm Fakten abzuleiten versucht, weil er selbst kein Objekt, sondern ›Rede‹ (Barthes) beziehungsweise ›Ausdrucksweise‹ (Lévi-Strauss) ist und seine Variabilität sich einer endgültigen (jeweils nur durch neue Fakten zu ersetzenden) Fixierung widersetzt. Die Produkte der Arbeit am Mythos, also die Zeugnisse seiner Rezeption, stellen vielmehr Momentaufnahmen dar, die niemals ›Geltung‹ im modernen Sinne beanspruchen können. Blumenbergs Konzept der »Arbeit am Mythos« nimmt auch Barthes’ kritischer Darstellung des Mythos die Schärfe. Zwar lässt sich auch in den Produkten der Arbeit »Naturalisierung« beobachten, weil diese allerdings ›immer schon Rezeption‹ (und als solche erkennbar) ist, gibt es nicht eine Natur/Wahrheit, sondern vielfältige Variationen. Die Funktion dieser Arbeit ist demnach auch nicht die Produktion eines unanzweifelbaren Faktensystems, sondern eine Art Standortbestimmung: »Die Mythologie erlaubt, indem ihre Tradition bestimmte Materialien und Schemata fixiert, immer zugleich die Demonstration von Neuheit und Kühnheit als ermeßbare Distanzen zu einem Vertrauenshorizont für ein in dieser Tradition stehendes Publikum« (Blumenberg 2001, 341).

In diesem Sinne sind Mythos und Fortschrittsdenken der Moderne durchaus vereinbar, jedoch nicht auf der Ebene des Denkens, sondern auf der der (Selbst-)Darstellung. Die Deklaration von Fortschritt und Neuheit ist demnach auf ein mythisches Darstellungsverfahren angewiesen, um die Distanz zum

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›Alten‹ und damit die eigene Fortschrittlichkeit in Abgrenzung zum ›Anderen‹ überhaupt darzustellen. Die Technik der Modernen produziert also deshalb ›hinter‹ ihrem eigenen Rücken Hybride, weil sie sich an der Wiederholung und Produktion von Varianten dessen, dem sie eine Absage erteilen, rege beteiligen (müssen). Es geht bei der Analyse nicht um die Beurteilung eines wie auch immer gearteten ›Wahrheitsgehalts‹, sondern um die ›Ermessung‹ der in der Arbeit am Mythos augenfällig werdenden Distanzbehauptung der Rezipienten. Die Arbeiten der Vermittlung und der Reinigung, die Latour als Garanten der modernen Verfassung beschreibt, erfüllen in Bezug auf die Darstellungsinteressen der Moderne(n) eine rituelle Funktion: Sie produzieren einerseits Quasi-Objekte und verwandeln diese andererseits in sauber aufgeteilte Naturoder Gesellschafts-Dinge, die der Illusion dienen, die ›Wirklichkeit‹ ließe sich in dieser Weise aufteilen und verfügbar halten. Die Reinigung der Hybride und Quasi-Objekte von den Spuren der Vermittlung ist aber nicht notwendig in diesen angelegt. Nichtsdestotrotz ist es die »Passung« des Rituals zum Mythos, die die Praxis (und die Verfassung) der Modernen so erfolgreich macht: »Der Mythos hat kein ›realistisches‹ Verhältnis zur ursprünglichen Bedeutung der Handlung oder Handlungsregel, eher wirkt er nachträglich auf das Ritual zurück und verformt oder ergänzt es. Daher bleibt die Geschichte, die die Handlung auslegt, leicht von dieser ablösbar und autonom« (Blumenberg 2001, 359).

Dieser Erkenntnis korrespondiert Latours These (der Reinigung der Dinge von der Vermittlungsarbeit, die sie überhaupt erst erzeugt) mit anderen Begriffen. Anders als es retrospektiv erscheinen mag und interpretiert wird65, liegt der Geschichte des Menschen kein teleologisches Wirken zugrunde, »dessen Vollzug zu gegebenen Fragen die mehr oder weniger bestimmten und geeigneten Antworten gesucht hätte« (ebd.). Auch die Interpretation einer Folge von Ereignissen und Entwicklungen als Ergebnis von ›Fortschritt‹ und/oder systematischer wissenschaftlicher Arbeit setzt ein solcherart teleologisches Prinzip voraus. Versuch und Irrtum, Um- und Irrwege verschwinden hinter dem »Monomythos« (Marquard 2000, 92) der Geschichte.66 Objektivität als oberstes Prinzip wissenschaftlichen Arbeitens kann ebenfalls als ein solcher übergreifender Mythos gelesen werden – als eine Geschichte, eine (richtige) Weise des Zugriffs anstatt einer Vielzahl. Zum symbolischen Ort der modernen Ritualhandlung wird dann das nicht-öffentliche Labor: »Man sieht die 65 | Mit Barthes könnte man sagen: Anders als es uns der Mythos darstellt (es vom Mythos naturalisiert wurde). 66 | Odo Marquard kritisiert in Lob des Polytheismus die Tendenz des Verschwindens vielfältiger und vielgestaltiger (möglicherweise auch widersprüchlicher) Geschichten zugunsten des »Monomythos« Geschichte (vgl. Marquard 2000).

I.3 Kontingenz und Mythos

Wissenschaft hier nicht mehr stammeln, anfangen, aus dem Nichts entstehen, indem sie sich direkt mit der Welt auseinandersetzt. Im Laboratorium ist immer schon ein konstruiertes, den Wissenschaften angemessenes Universum da« (Latour 2002, 43). Dieser Eindruck kann aber nur entstehen, weil der Kontext einer Handlung ebenso wie die Arbeit am Mythos (oder eben die Vermittlung) als solche vergessen (gereinigt) werden. Im Nachhinein erscheint der ritualisierte (Text-)Bestand, das Mythologem, wie eine »alte Antwort, zu der nur noch die passende Frage gesucht werden muss« (ebd.). Das gilt auch für die Arbeit im Labor. Zwar kann, wie oben gezeigt, die ›Herstellung‹ einer wissenschaftlichen Tatsache als ritueller Prozess beschrieben werden, das Laboratorium muss aber als sein symbolischer Ort verstanden werden.67 Schon innerhalb des ›Blutkreises der Wissenschaft‹ sind die Dinge Gegenstand und Produkt von Kommunikation und damit mythischen Prozessen, wie Barthes sie beschreibt, ausgesetzt. Die ›wissenschaftliche Tatsache‹, die von Wissenschaftlern ›im Labor‹, das heißt innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses hergestellt wird, wird nicht notwendigerweise auch durch die in oder von diesem Diskurs »autorisierten Sprecher« (Latour 2008, 41) weitervermittelt. Die Kommunikation der Dinge auch außerhalb ihres Entstehungszusammenhangs wirkt, analog zu Blumenbergs Beschreibung der Mythos-Ritual-Beziehung, auf diese selbst zurück und verändert sie. Was das ›wirkliche‹ respektive ›ursprüngliche‹ Ding ist oder war, ist nicht zu (re)konstruieren, weil auch es »immer schon in Rezeption übergegangen« ist. Kontingenz hat demnach im Mythos der Modernen zwar eine Funktion, jedoch in ihrer Geschichte keinen Platz. Der zukünftigen Kontingenz wird durch die Erzählung ihrer historisch erfolgreichen Transformation in Fortschritt begegnet. Dadurch wird ihre Nutzbarkeit erhalten und ihre Bedrohlichkeit gleichzeitig effektiv begrenzt,68 aber auch der Bezug zum Realen geregelt, wodurch er, wenn überhaupt, nur vermittelt vorstellbar wird. »Sicherlich ist es ein Zeichen für das Ausmaß unserer heutigen Entfremdung, daß es uns nicht gelingt, über ein instabiles Erfassen des Realen hinauszukommen: Unaufhörlich gleiten wir zwischen dem Objekt und seiner Entmystifizierung hin und her, außerstande, es in seiner Totalität wiederzugeben. Denn wenn wir das Objekt durchdringen, so be67 | Zum »Blutkreislauf der Wissenschaft« vgl. Latour 2002, 96-136. 68 | Womit ihr eine ganz ähnliche Funktion zukommt wie dem »gesperrten Gott«: Gott wird von den Modernen ebenso verdoppelt wie Natur und Gesellschaft. Er darf mit den anderen Systemen nicht in Konflikt geraten; geraten diese allerdings Untereinander in Konflikt, behalten sich die Modernen vor, vom Standpunkt einer absolut individuellen Religion her zu kritisieren und damit wiederum die Arbeit der Reinigung auszuüben (vgl. Latour 2008, 47-49).

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Die Produktion der Katastrophe freien wir es, zerstören es aber auch; und lassen wir ihm sein Gewicht, so respektieren wir es, belassen es jedoch in seinem mystifizierten Zustand. Es scheint, als wären wir vorläufig dazu verurteilt, immer exzessiv vom Realen zu sprechen« (Barthes 2012, 316).

Ob Barthes’ Forderung einer »Versöhnung zwischen dem Wirklichen und den Menschen« (ebd.)69 notwendig oder überhaupt innerhalb der bestehenden Ordnung denkbar ist, muss an dieser Stelle offengelassen werden. Von Interesse ist, dass ausgerechnet das Tunguska-Ereignis, welches zwar einige Schwierigkeiten in Bezug auf seine Erklärbarkeit verursacht, dessen physische Ausmaße jedoch deutlich begrenzt und in Bezug auf zivilisatorische Schäden praktisch unbedeutend ist, als zentrales Mythologem dieser Versuche vom »Realen zu sprechen« gelesen werden kann. »Das Mythologem ist ein ritualisierter Textbestand. Sein konsolidierter Kern widersetzt sich der Abwandlung und provoziert sie auf der spätesten Stufe des Umgangs mit ihm, nachdem periphere Variation und Modifikation den Reiz gesteigert haben, den Kernbestand unter dem Druck der veränderten Rezeptionslage auf seine Haltbarkeit zu erproben und das gehärtete Grundmuster freizulegen. Je kühner dieses strapaziert wird, um so prägnanter muß durchscheinen, worauf sich die Überbietungen der Zugriffe beziehen« (Blumenberg 2006, 165-166).

Es ist bereits deutlich geworden, dass Tunguska dazu dient, die eigene Position in Distanz oder Nähe zu modernen wissenschaftlichen Konzepten auszuloten. Aber als Mythologem respektive als Wissenschaftsmythos ist der Einsatz des Ereignisses in Darstellungskontexten jeglicher Art praktisch unbegrenzt und wirkt potenziell auf das (Selbst-)Verständnis der erzählten Elemente zurück. Kontingenzgeschichte(n) und Sinngeschichte(n) werden gleichermaßen anhand eines unveränderten Kernbestands von Eigenschaften (Explosion, Entfernung, Unerklärtheit) des Ereignisses erprobt und erzählt. Das Tunguska-Ereignis als Mythologem zu ›extrahieren‹, erfordert es aber über die Identifikation des Kernbestandes hinaus, auch die eigene Arbeit am Mythos und damit die eigene Distanz oder Nähe zum Mythos anzuerkennen. So muss zwangsläufig der Anspruch ›reiner‹ Objektivität zugunsten einer Mischform der Betrachtung aufgegeben werden,70 wodurch dann, wie eingangs erwähnt, die Möglich69 | Barthes leitet aus dieser Diagnose einen Auftrag ab: »Und doch zeigen sie [Verhaltensweisen des Ideologismus und seines Gegenteils, SN], was wir suchen müssen: eine Versöhnung zwischen dem Wirklichen und den Menschen, zwischen Beschreibung und Erklärung, zwischen Gegenstand und Wissen« (Barthes 2012, 316). 70 | Im Idealfall erlaubt dieses Vorgehen, von den Objekten auszugehen: »Wenn wir das Reich der Mitte für sich genommen entfalten wollen, müssen wir also die allgemeine Form der Erklärungen umdrehen. Der Punkt der Spaltung – und der Verbindung – wird

I.3 Kontingenz und Mythos

keit gewonnen wird, verschiedene Varianten des Mythos gleichberechtigt zu untersuchen, um herauszuarbeiten, »worauf sich die Überbietungen der Zugriffe beziehen«. Die »strategische Disposition der strukturellen Integration des Potentialis hat zwei spezifisch moderne Entwicklungen generiert«: zum einen eine Tendenz der sozialen Normalisierung und zum anderen durch gezielte Kontingenznutzung generierte ästhetische Souveränität (Makropoulus 1997, 147). »[S]o prinzipiell verschieden und nicht selten konfligierend gerade diese beiden Tendenzen historisch auch gewesen sein mögen – ihre konstitutiven funktionellen Techniken verfahren hier wie dort kombinatorisch-konstruierend und setzen damit die Freisetzung der Realien aus der einen festgefügten Ordnung ›klassischen‹ Typs voraus« (ebd., 148).

Beide antworten auf das »Unbestimmtheitsmoment von Kontingenz«, aber nutzen zugleich sein »Möglichkeitsmoment« (ebd., 149). Ästhetische Souveränität ist auch Bestandteil der Arbeit am Mythos, die weder inhaltlich noch formal an bestehende Ordnungen gebunden ist, sondern sich ihrer bedienen kann. Aufgrund der Variabilität des Mythologems sind die unterschiedlichen Darstellungsformen autonom und unabhängig von Ritualen wie von Wissens- und Wahrheitsbegriffen und können so wissenschaftlich, nicht-wis­sen­ schaftlich, literarisch-fiktional sowie fiktiv und nicht-literarisch sein. Arbeit am Mythos kann dementsprechend auch als Praxis zur Herstellung und Wahrung von Modernität abgebildet werden oder sogar, mit Latour gesprochen, als nicht-moderne Technik der Beschreibung von Realität(en). Insbesondere Wissenschaftsmythen gewinnen dadurch an Erkenntnispotenzial, weil sie demnach als eine Gattung (analog zu einer literarischen Gattung) gelten können, die Bezug zu einem Diskurs herstellt, jedoch nicht an dessen Regeln gebunden ist. Sie werden dadurch beobachtbar und nutzbar, weil sie nicht mehr als Gefährdung in Form ideologischer Manipulation von Bedeutung (Barthes) oder polemisch-mythischer Verzerrung einer Wahrheit/ Wirklichkeit gelten müssen, sondern als produktive Zeugnisse des »Versuch[s], die Kontingenzbedrängnis im neuzeitlichen Bewußtsein zu überwinden« (Blumenberg 2006, 618). Geschichten sind dadurch nicht mehr Bedrohung 71 zum Ausgangspunkt. Die Erklärungen verlaufen nicht mehr von den reinen Formen zu den Erscheinungen, sondern vom Zentrum zu den Extremen. Letztere sind nicht mehr der Verankerungspunkt der Realität, sondern provisorische und partielle Resultate« (Latour 2008, 105-106). 71 | »In keinem Fall besteht Wissenschaftsforschung in einer Analyse der wissenschaftlichen Rhetorik, der Dimensionen der Wissenschaft. Ihr ging es immer schon darum zu analysieren, wie Sprache langsam dazu gebracht wird, Dinge ohne Deformation durch Transport zu transportieren. […] Eine nicht existierende Kluft und eine noch we-

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(oder notwendiges Übel)72 wissenschaftlicher Darstellung, sondern ein integraler Teil derselben. Durch sie werden, so Roald Hoffmann, Humanität und Kreativität überhaupt ermöglicht: »Wenn wir die Geschichte einer wissenschaftlichen Entdeckung erzählen, stellen wir eine lobenswerte Verbindung zur Literatur, zu Mythen und all den anderen Formen her, in denen Menschen einander Geschichten erzählen« (Hoffmann 2009, 92). Die »Notwendigkeit Geschichten zu erzählen«, um wissenschaftliche Arbeit erfolgreich zu präsentieren beziehungsweise zu popularisieren (ebd., 84), kann also auch eine Chance sein, die Kluft zwischen Laien und Experten zu überwinden, in beide Richtungen zu öffnen und letztlich die isolierten wissenschaftlichen Tatsachen zu organisieren und (gesamtgesellschaftlich) verständlich und verwertbar zu machen.73 Das umfassendste Beispiel für die nicht-literarische Arbeit am TunguskaMythos ist Michael Hampes 2011 erschienener Text Tunguska oder das Ende der Natur. Wie François Walters Kulturgeschichte der Katastrophen oder Peter James’ und Nick Thorpes Ancient Mysteries will auch dieser Text nicht zu einer weiteren Mystifizierung des Ereignisses beitragen. Anders als in den genannten Texten jedoch steht hier das Tunguska-Mythologem im Mittelpunkt der Überlegung, wodurch ihm eine mehr als illustrative oder exemplarische Bedeutung zukommt. Das ›Ende der Natur‹, welches der Titel als Kehrseite Tunguskas ausweist, ist dementsprechend vieldeutig. Das apokalyptische Potenzial eines niger reale Entsprechung zwischen zwei nicht existierenden Dingen – Worten und Welt – loszuwerden, ist beileibe nicht dasselbe wie zu sagen, daß Menschen für immer im Gefängnis der Sprache gefangen bleiben. Es bedeutet ziemlich genau das Gegenteil. Nicht menschliche Wesen können ebenso leicht in den Diskurs eingebunden werden, wie Minister dazu gebracht werden können, Neutronen zu begreifen. […] Nur die Herrschaft der modernistischen Übereinkunft konnte diese Selbstverständlichkeit bizarr erscheinen lassen. Schockierend am neuen Paradigma schien zu sein, daß es nicht auf dem Mythos eines heroischen Bruchs mit Gesellschaft, Konvention und Diskurs aufbaute, der es dem einsamen Wissenschaftler ermöglicht, die wirkliche Welt zu entdecken« (Latour 2002, 116; Hervorhebung im Original). 72 | »Weshalb begegnen Wissenschaftler der Notwendigkeit Geschichten zu erzählen, um ihre Arbeit erfolgreich zu präsentieren, mit solcher Geringschätzung? […] Weil sie sich vor ›Nur-so‹-Geschichten fürchten« und damit eine »uralte Antipathie der Wissenschaft, die Abneigung gegen alles Teleologische« ausdrücken (Hoffmann 2009, 84) – letztlich damit jedoch die Herstellung eines Monomythos (Wissenschaft, Geschichte) befördern. 73 | »Narrative genres […] provide important cultural tools for organizing information about risks into intelligible and meaningful stories.« (Heise 2008, 138) Darüber hinaus kann ein »mythological mode of perception« (Heise 2008, 33) Dinge sichtbar machen, die dem (wissenschaftlichen) Blick sonst verborgen bleiben.

I.3 Kontingenz und Mythos

(im Tunguska-Mythos als Risiko enthaltenen) Weltendes ist ebenso Thema wie die daraus abgeleitete Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Natur beziehungsweise der Sinnhaftigkeit einer Unterscheidung zwischen beiden. Hampes Text kommt eine Sonderstellung in der nicht-literarischen Beschäftigung mit dem Tunguska-Ereignis zu, weil er auf verschiedenen Ebenen einen Grenzfall darstellt. Formal ist der Text dreigeteilt in einen fiktionalen Hauptteil, eine Abhandlung und einen Kommentarteil, der Nachwort, Anmerkungen und Nachweise enthält. Der Hauptteil, Die fünf Elemente. Ein Totengespräch, orientiert sich mit der Gattungsbezeichnung »Totengespräch« an einer »der Satire verpflichtete[n] bes. Form des Prosadialogs, in dem durch fiktive Gespräche zwischen histor. oder mytholog. Figuren im Totenreich Menschheitstadel und Zeitkritik geübt werden« (Weidhase 1990, 468). Diese Gattung kann in gewisser Weise als Ausprägung des Szenarios gelten, insofern sie in ihrer Erfindung der Figuren nicht vollkommen ungebunden ist und dennoch eine fiktive Situation herstellt. Im Gegensatz zu den Risiko- und Katastrophenszenarien, in deren Kontext Tunguska ansonsten häufig eine Rolle spielt, ist diese Art des Szenarios so angelegt, dass die dargestellte Situation zwar denkund darstellbar ist, jedoch real unmöglich – weil die auftretenden Personen zu Lebzeiten nicht miteinander in Dialog hätten stehen können. Damit verstärkt die Wahl der Gattung die Außenperspektive, die dem Tunguska-Mythologem ohnehin eigen ist.74 Das Totengespräch ist in fünf Kapitel unterteilt, die nach den fünf Elementen (Wasser, Erde, Feuer, Luft und Quinta Essentia) benannt sind, womit bereits deutlich gemacht wird, dass es sich um einen nicht-modernen Zugriff auf Natur handelt, der Wissenschaft aber nicht ausschließt, sondern bemüht ist, Totalität in den Blick zu nehmen. Jedes Kapitel beginnt mit einer assoziativen Reflexion über das namensgebende Element und profiliert in dem darauffolgenden Dialogteil den Erklärungsansatz eines der vier Dialogteilnehmer beziehungsweise liefert, im Falle des fünften Kapitels, die Rahmenerzählung des Dialogs. Die Diskutanten, der Physiker Tscherenkov, der Primatenforscher Adolf Bordmann, der Mathematiker Alfred Blackfoot und der Philosoph Paul Feierabent, deren Namen bekannt klingen, vertreten, so Hampe, »Mentalitäten« (Hampe 2011, 292) in der Diskussion darüber, was Natur überhaupt sei. Die Richtung von »Menschheitstadel und Zeitkritik« dieses Totengesprächs wird bereits in der ersten Reflexion Wasser explizit formuliert: »Heute sind die Menschen überall auf dem Planeten zu einem Teil der Natur geworden, doch nicht als harmlose Passagiere […], sondern so wie ehemals (und immer noch) die

74 | Vgl. Kapitel I.2 »Katastrophe und Risiko«.

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Die Produktion der Katastrophe Vulkane und Meteore. Nun sind sie die auf dem Planeten allgegenwärtige Naturkatastrophe, die erste, die von sich als einer solchen weiß« (Hampe 2011, 21).75

Der Eindruck des Konflikts zwischen Natur und Mensch, der hier so eindeutig durch eine Bedrohungssituation bestimmt zu werden scheint, wird jedoch durch das Verhältnis beider verkompliziert: »Wer führt hier die Klage? Die Natur gegen den Menschen? Sind das denn zwei? Oder die Natur gegen sich selbst, weil sie den Menschen hervorgebracht hat? Menschen gibt es, viele sogar, aber gibt es die Natur?« (Hampe 2011, 23). Jede der vier Figuren/Mentalitäten vertritt eine eigene Antwort auf diese Frage, welche wiederum an der jeweiligen Erklärung des Tunguska-Ereignisses exemplifiziert wird. Anhand dieser wird nicht nur das Verhältnis zwischen Mensch und Natur, sondern auch die Bedingungen des jeweiligen Erklärungsverhaltens ausgeleuchtet. Tscherenkov sieht sich in dieser Frage als Physiker und Großneffe Leonid Kuliks doppelt erklärungsberechtigt. Er vertritt die These, die »wahrscheinlichste und natürlichste Deutung« (ebd., 38-44) der Explosion sei die Entzündung eines unterirdischen Gasfeldes durch den Einschlag eines Asteroiden. Stur versagt er jedem davon abweichenden Ansatz die Geltungsberechtigung und behält bemerkenswerterweise damit das letzte Wort des Dialogs: »Alles Gefasel!« (ebd., 204). Paul Feierabent entwickelt sich nicht nur zu einer Art Moderator des Gesprächs, sondern zu Tscherenkovs direktem Kontrahenten. Er provoziert ihn, indem er z.B. den Plausibilitäts- und Wirklichkeitsbegriff des Physikers als eine Fiktion unter vielen zu entkräften versucht: »Was ist ihre Deutung, mein lieber Tscherenkov, anderes als eine Fiktion? Wenn man keine Einschlagstelle gefunden hat, wenn man kein Gasfeld gefunden hat, dann ist Ihre Geschichte so gut wie jede andere, so gut wie ein donnernder Engel oder ein Raumschiff mit Aliens« (ebd., 49). Tscherenkovs ›natürlichste‹, weil »völlig den Naturgesetzen« entsprechende (ebd., 50) Deutung findet ihr ›künstliches‹ beziehungsweise technisches Gegenstück in der Erklärung des Biologen Bordmanns, der einen Menschen für die Explosion verantwortlich macht. Sie sei das Ergebnis eines fehlgeschlagenen Experiments, des »modernen Faust[s]« Nikola Tesla (ebd., 98). Wie bei den meisten Katastrophen sei das Problem nicht in der Natur zu suchen, sondern beim in sie eingreifenden Menschen. Bordmann, dem Element Erde zugeordnet, vertritt die These des Menschen als eigentlicher »Dauerkatastrophe für die Lebewesen auf der Erde« (ebd., 107) vehement gegen Tscherenkovs Einwand, auch die Natur – das belege z.B. der Chixculub-Einschlag, der das Aussterben der Dinosaurier verursachte – sei im Grunde grausam (ebd.). Eine dritte, sich einer Erklärung im herkömmlichen Sinne eigentlich entziehende 75 | Für eine differenzierte Darstellung der These vom »Anthropozän« und der Menschen als »sechster Auslöschung« vgl. Heise 2010.

I.3 Kontingenz und Mythos

These äußert im dritten Dialog (Feuer) der Mathematiker Blackfoot. Er bestreitet die Rückführbarkeit einzelner isolierter Ereignisse auf (Natur-)Gesetze oder identifizierbare Handlungen, indem er den Drang, solche Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, einem Wahrnehmungsdefizit des Menschen zuweist. »Kausalitäten [finden] immer nur zwischen einzelnen Weltbestandteilen statt, […] in der Welt [können] aber auch immer wieder absolute Zufälle geschehen. […] Wirklichkeit [ist] im Grunde völlig partikular und historisch. […] Unsere Vorstellung, es wiederhole sich etwas, ist allein der Ungenauigkeit unserer Wahrnehmung geschuldet. […] Die einzelnen Ereignisse brechen kein Gesetz, sondern sie sind in ihrer Einzigartigkeit das Wirklichste« (ebd., 156-157).

Damit kehrt er die Gleichung, mögliches/wirkliches Ereignis ist gleich erklärbares Ereignis, in ihr Gegenteil um und macht die hier zuvor als fantastische Dimension des Ereignisses beschriebene Unerklärbarkeit zum Beleg für seine Wirklichkeit: »Blackfoot: Die Wirklichkeit [des Tunguska-Ereignisses, SN] besteht darin, dass es nicht naturgesetzlich deutbar ist […], weil es sich hier um ein wirkliches Ereignis handelt, ist es letztlich unerklärlich« (ebd., 159). Tunguska als Ereignis des »absoluten Zufalls« wird so zu einem Beleg für die Unfähig­keit der kulturellen und technischen Beherrschbarkeit von Natur und Wirklichkeit. Feierabents den Dialog beschließende Überlegung (im Kapitel Luft) schließt an diese Überlegung an, auch wenn sie keine eigene Erklärung für das Tunguska-Ereignis liefert,76 sondern einen abweichenden Vorschlag unterbreitet und damit auch den Anspruch des Textes formuliert: »Statt Tunguska zu erklären, könnten wir einen Mythos daraus machen und uns so daran erinnern« (ebd., 197). Der Mythos, welcher aus Tunguska gemacht wird, beschränkt sich eben nicht auf eine Erklärung, sondern auf deren gesamte Vielfalt, ihre Bedingungen und ihre Naturbegriffe. Der Philosoph, als dessen Todesfantasie sich das Totengespräch im fünften Kapitel erweist,77 geht sogar so weit, das Ende der 76 | »Ich werde keine Hypothese darüber formulieren. Es ist mir ehrlich gesagt auch egal, was dieses Ereignis damals verursacht hat. Viel wichtiger sind mir die Überlegungen über die Natur, die wir im Zusammenhang mit unserem Streit über die Verursachung dieses Ereignisses angestellt haben. Zu ihnen möchte ich etwas sagen. Denn das Verhältnis, das wir Menschen zur Natur haben, hat diese merkwürdige Mehrdeutigkeit, dass wir gleichzeitig ihr gegenüber Täter und auch ihr Opfer zu sein scheinen. (Tscherenkov:) Klingt nach einem Schlusswort. Ich bin gespannt« (Hampe 2011, 185). 77 | Bereits im ersten Kapitel wird diese Rahmung angedeutet, wenn die drei Neuankömmlinge sich danach erkundigen, was Feierabent auf das Schiff (den Ort des Gesprächs) gebracht habe: »Ein Hirntumor. Ziemlich unangenehm« (Hampe 2011, 29). Im

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Natur zugunsten vollkommener Partikularität zu verkünden, indem er behauptet, es habe niemals eine solche gegeben:78 »Die Natur gibt es nicht. Ich sagte es bereits. Es gibt nur die Momente, die Einzelnen, das Einmalige. Die Bedrohung [der Menschen durch die Natur, SN] ist eine Phantasie. Auch der Tod ist eine Phantasie […]« (ebd., 202). Gesetzmäßigkeit, Struktur und Ordnung mögen, so Feierabent hier, ihren praktischen Nutzen haben, jedoch verhindern sie den Zugriff auf die konkrete Wirklichkeit. Feierabents Vergleich dieser »Phantasien« mit Homers Darstellung des Totenreichs am Ende der Fahrt Odysseus’ setzt schließlich die Verwechslung der Konstruktion von Natur und Gesetzmäßigkeit mit der Wirklichkeit dem »Ende der Natur« gleich (ebd., 203). Nur ein anderes Denken kann das Abdriften ins Totenreich des Unkonkreten verhindern: »Denken wir die wirkliche natürliche Welt als Vielfalt von Einmaligkeiten, dann müssen wir sie auch als Vielfalt von Gegenwarten denken, Das ist der Gedanke, der mir an Blackfoots Überlegungen so wichtig ist: das Ereignis, gedacht ›als illegale Kontingenz‹ – das ist der Gegenbegriff zum Gesetz und zum abstrakten Sein. Wenn wir die Wirklichkeit als Gegenwart, als illegale Kontingenz denken, dann sind wir am Ende der Natur, am Ende des Seins, dann gibt es auch das Nichtsein des Todes nicht mehr, sondern nur noch gegenwärtige Einmaligkeiten« (ebd., 203-204).

Dass diese Forderung einer naturwissenschaftlichen Mentalität, die schließlich ihren Deutungs- und Erklärungsanspruch auf Wiederholbarkeit und dadurch erschlossene Gesetzmäßigkeiten gründet, als »Gefasel« erscheint, überrascht an dieser Stelle nicht. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Arbeit am Tunguska-Mythos, wenn sie wie hier nahezu alle Aspekte des Diskurses versammelt, letztlich zu einer Absage an Gesetzmäßigkeit und Erklärungsansprüche als Äquivalent zur Wirklichkeit führen kann. In dieser Hinsicht wirkt die im Nachwort zurückgenommene (Erklärungs-)Offenheit des Ereignisses79 beinahe wie ein Rückzieher, der jedoch im Lichte seiner Positionierung im wissenschaftlichen (wenn auch nicht naturwissenschaftlichen) Diskurs notfünften Kapitel stellt sich heraus, dass auch der »Blitz«, der die anderen drei ins Totenreich versetzte, keiner »Energiebombe« (ebd.) entstammt, sondern ein neurologischer Reflex des Gehirns von Feierabent während der Operation des besagten Tumors war. 78 | Das erinnert wiederum an Latour, der nicht das Ende der Modernen behauptet, sondern stattdessen sagt: »Wir sind nie modern gewesen«. 79 | »Das konkrete Ereignis in der Natur, um das es in diesem Buch gegangen ist, wird in esoterischen Kreisen häufig als scheinbar unerklärlich eingestuft und ist vielleicht auch bisher nur einmal in dieser Form Menschen als Erlebnis zu Bewusstsein gekommen […] Wissenschaftlich gesehen gilt, dass es sich hier um einen Asteroiden-Einschlag gehandelt hat.« (Hampe 2011, 293; Hervorhebung im Original)

I.3 Kontingenz und Mythos

wendig zu sein scheint.80 Die Rahmung des Totengesprächs – dazu zählt der naturphilosophische Versuch, der Anmerkungs- und Nachweisapparat sowie das Nachwort, welches eine Kommentarfunktion erfüllt – stellt die (philosophische) Wissenschaftlichkeit und Integrität erst her, um wiederum dem eigenen Ansatz Geltung zu verleihen. Der Tunguska-Mythos erlaubt es, die Frage nach dem Geltungsbereich moderner Programme und Trennungen zu stellen, weil das im Mythos als Gegenbegriff zum Logos angelegt ist. Darüber hinaus kann diese spezifische Verbindung den Anspruch erheben, die Programme zu verändern. Im Beispiel Hampes geht es ja gerade nicht darum, rationale und irrationale Antworten auf die Frage(n), die das Tunguska-Ereignis stellt, miteinander zu konfrontieren, sondern rationale Ansätze miteinander in Dialog zu bringen. Was hier in besonderer Weise sichtbar wird, ist, dass die verschiedenen Wissensmodelle nicht allein deswegen, weil es sich um Naturwissenschaften handelt, kompatibel wären. Vielmehr scheiden sich an Tunguska die Geister. Doch obwohl sich Denk- und Erklärungsweisen scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen, wird in diesem Text eine Lösung vorgeschlagen, die der Hybris, über Natur zu verfügen, sowie der Angst, ihr ausgeliefert zu sein, entgeht, ohne außerirdische oder metaphysische Mächte zu bemühen und sich damit aus dem modernen, säkularen Diskurs auszunehmen. Die Rolle des Bastlers oder mythisch Denkenden übernimmt hier der Philosoph. In der Inszenierung dieses Textes ist es nur ihm möglich, die konkurrierenden Modelle gegenüberzustellen und in ihrem Kontext miteinander zu vergleichen. In seiner abschließenden Zusammenfassung – als deren Fortsetzung sich die dem Totengespräch folgenden Texte lesen lassen – fügt er Versatzstücke zusammen und leitet einen pragmatisch orientierten Sinn aus ihnen ab. Indem er Tunguska innerhalb eines rationalen Rahmens Unerklärbarkeit attestiert, vermeidet er es, Erklärungsmodelle auszuschließen und dennoch – auf der pragmatischen Ebene mythischen Denkens – zu einem Schluss kommen zu können. Das Ereignis kann als illegale Kontingenz, Störung, Rätsel und Katastrophe bleiben, ohne gefährlich zu sein, weil seine Natur nur in dieser Ausformung des Mythos akzeptabel erscheint. Tunguska stellt hier den Anlass einer Diskussion dar, an deren Ende die Möglichkeit besteht, das Wissenssystem, das die Weltwahrnehmung der Moderne bestimmt, nicht nur zu hinterfragen, sondern sogar aus den Angeln zu heben, ohne dass es das Ende der Welt bedeutet. Dieser Aspekt des TunguskaMythos wird, auch weil er so eng mit seinem katastrophischen und rätselhaften Potenzial verbunden ist, vor allem dort sichtbar, wo, wie bei Hampe, ein Rahmen (wenigstens) struktureller Fiktionalität hergestellt werden kann. Je unabhängiger ein Text dabei von fachspezifischen Denkmustern und Kom80 | Vgl. auch Kapitel I.1 »Spuren und Fakten«.

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munikationskonventionen ist, desto deutlicher lässt sich die Arbeit Mythos Tunguska beobachten. Das Gegenüber des Philosophen ist in dieser Hinsicht der Literat. Da Literatur nicht von Wirklichkeit spricht, sondern Realitätseffekte erzeugt, kann das Tunguska-Ereignis in Fiktionen inszeniert werden, ohne dass die Ursache, das Umfeld oder die Folgen des Ereignisses den Fakten entsprechen müssen, das heißt, ohne dass sie außertextuell Plausibilität beanspruchen müssen. Vollkommen frei ist aber auch die literarische Darstellung nicht. Auch ohne die Bindung an spezifische Diskurse sind die Eigenschaften des Mythologems so stark, dass die mit ihm verbundenen Narrative immer auch als Arbeit am Mythos zu erkennen sind.

II. Tunguska-Fiktionen

II.1 Science und Fiction

Obwohl sich der Streit um die Deutungshoheit über das Tunguska-Ereignis in einem Netzwerk unterschiedlicher Hypothesen, Legitimierungsstrategien und Wissensmodelle abspielt, wird er von einem Gestus der Unterscheidung beherrscht, der eine Opposition zwischen legitimen und illegitimen Erklärungsversuchen inszeniert. »[…] [M]any details of the event are still uncertain, inspiring also in the past some exotic explanations. Antimatter, a small black hole and, inevitably, an exploding flying saucer, have all been proposed as the means of liberating tens of megatons of energy in the atmosphere without cratering the Earth’s surface« (Di Martino/Farinella/Longo 1998, 125).

Im Grunde sind es nur zwei Worte, »exotic« und »inevitably«, die verraten, dass trotz der rhetorisch inszenierten Offenheit schon im Vorwort eingegrenzt wird, welche Zugriffe auf das Ereignis als gültig akzeptiert werden und welche nicht. Die ›exotischen‹ Erklärungsversuche gar nicht erst zu erwähnen, ist in Hinblick auf die angestrebte Vollständigkeit des Überblicks nicht möglich. Sie jedoch als »exotic« zu bezeichnen, erlaubt es gleichzeitig, den eigenen bekannten und legitimierten, also dezidiert nicht-exotischen Standpunkt zu behaupten, ohne den Eindruck einer gewissen Faszination an solchen Erklärungen zu verneinen. Der Gebrauch von »inevitably« hingegen markiert sehr deutlich, dass es innerhalb der ›exotischen‹ Erklärungen eine Hierarchisierung beziehungsweise Positionierung gibt. Anscheinend sind Antimaterie und schwarze Löcher der Wissenschaft (oder diesen Wissen­schaftlern) näher als die ›unvermeidlichen‹ fliegenden Untertassen – wohlgemerkt heißt es hier »flying saucers«, nicht ›UFO‹ oder ›extraterrestrial artificial object‹. Die Abwertung, auch wenn sie mit einem Augenzwinkern geschieht, ist augenscheinlich und, mit Blick auf das bisher Gesagte, ›unvermeidlich‹ ein Teil institutionalisierter wissenschaftlicher Darstellungen. »As all those versions obviously contradict hard facts […] they are excluded from further discussion.« (Vasilyev 1998, 140) Und selbst der Hinweis darauf, dass die Erforschung des Tunguska-Ereignisses

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möglicherweise einen unkonventionellen Ansatz erfordert1 und viele der »exotic explanations« in wissenschaftlichen Journalen erschienen sind, also bereits einen Prozess wissenschaftlicher Überprüfung durchlaufen haben, verwirft auch Guiseppe Longo diese Ansätze: »Nevertheless, I think that here we can ignore such extremely ›non-traditional‹ hypotheses« (Longo 2007, 305). Aber warum sind fliegende Untertassen »inevitably« unter den »exotic explanations«? Warum tauchen die unkonventionellen Ansätze in den konventionellen Artikeln auf, nur um gleich verworfen, widerlegt oder (wenn auch zurückhaltend) verlacht zu werden? Eine Antwort gibt das Vorwort zu Surendra Vermas The Tunguska Fireball: »Whichever way you look, Tunguska is a fascination journey in serious science, speculative science and science fiction« (Verma 2005, x). Die Unterscheidung zwischen »serious science, speculative science and science fiction« repräsentiert eine Ordnung des Wissens, in der auch »flying saucers« ihren Platz haben. Während sie offenbar aus der ›serious science‹ weitgehend ausgeschlossen sind, tummeln sie sich in den beiden anderen Gebieten scheinbar uneingeschränkt. Jedoch bleibt ihr Status prekär – als Teil der ›speculative science‹ sind sie Teil eines in Hinblick auf seinen Geltungsanspruch insgesamt heiklen Wissensgebiets, während sie innerhalb der ›science fiction‹ zwar als Motiv unverzichtbar, aber gleichzeitig aufgrund ihres markiert fiktionalen Status unschädlich sind, weil es sich dann ›bloß‹ um Fiktion handelt.2 Die Frage, wer gültige Aussagen über das Tunguska-Ereignis treffen darf/ kann, wird so neben dem ungleichen (Wett-)Streit zwischen professionellen und Amateur-Wissenschaftlern, um die Debatte um die zwei Kulturen3 erweitert. Wie die Trennung zwischen den Polen der modernen Verfassung bei Latour sind auch die zwei Kulturen, Wissenschaft und Literatur, von einer anscheinend unüberwindbaren Kluft getrennt. Dementsprechend ist die Existenz eines naturwissenschaftlichen neben einem literarischen Tunguska durchaus denkbar, ohne dass beide Ereignisse sich in die Quere kommen. Problematisch wird es, dass beide nicht so klar voneinander getrennt werden können, wie es der Unterscheidungsgestus nahelegt. Vermas Dreiteilung greift jedoch auch 1 | »Vasilyev (2004) states, ›We should not exclude the possibility that the Tunguska phenomenon is a qualitatively new phenomenon for the science, that should be analyzed from non-traditional positions‹« (zitiert nach Longo 2007, 305). 2 | Der Einsatz dieses unscheinbaren Wortes hat einen weitreichenden Effekt: »Mit dem Gegensatz [von Fakten und Fiktionen, SN] geht also eine deutliche Hierarchisierung einher, denn die Bloß-Marke ist Zeichen für einen eingeschränkten Geltungsbereich, für einen Wert, der nur außerhalb der harten Währungen zählt und dessen Beachtung allenfalls in der Sphäre des nicht-konvertierbaren Vermögens stattfindet, im Reich von Dichtung und Kultur« (Weigel 2004, 184). 3 | Einen systematischen Überblick über die Two-Cultures-Debate gibt Cordle 1999.

II.1 Science und Fiction

zu kurz. Verstünde man ›speculative science‹ als eine Art fehlgeleiteten Hybrid zwischen den beiden Kulturen/Polen, so ließe er sich ohne Weiteres aus beiden Diskursen ausschließen. So könnten die ›serious science‹ die ›exotischen‹ Hypothesen schlicht und einfach ignorieren oder in platonischer Manier als Erfindung diskreditieren und die literarischen Repräsentationen des Tunguska-Ereignisses könnten sich ungestört von Kategorien wie Plausibilität entfalten. Die Schwierigkeit, das Tunguska-Ereignis in die Schranken der modernen Verfassung zu weisen, wird also auch in dieser Unterscheidung virulent. Erst wenn man die behauptete Opposition ernst nimmt, wird sichtbar, dass sich die entscheidenden Entwicklungen des Tunguska-Diskurses ›in der Mitte‹ abspielen. Die Gegenüberstellung von literarischer und wissenschaftlicher Kultur, so lässt sich schon hier feststellen, kollabiert im Tunguska-Ereignis. Jedoch ist an dieser Stelle ein Perspektivenwechsel geboten, weil sich die Gewichtung, sobald es um fliegende Untertassen geht, drastisch verschiebt. Es gehört zur Mythologie des Tunguska-Ereignisses, dass es die These eines Schriftstellers war, der nicht nur außerirdische Raumschiffe in die Diskussion gebracht hat, sondern darüber hinaus einen entscheidenden Beitrag zur Untersuchung der Ursache geliefert hat.4 Alexander Kasanzews Erzählung respektive die Inszenierung ihres Einflusses auf die Erforschung des Ereignisses ist nicht nur der Ausgangspunkt eines populären Forschungszweiges, sondern Symptom eines Anspruchs der Science Fiction, die Trennung zwischen Wissenschaft und Literatur zu umgehen. Die Beziehung der Science Fiction zu Tunguska reicht weit über die Adaption und Extrapolation wissenschaftlichtechnologischer Gegenstände hinaus. Denn nur hier kann erlebbar werden, was in nicht-fiktionalen Repräsentationen des Ereignisses latent bleiben muss. Interessant ist, dass die vorgebliche Opposition der zwei Kulturen einen Raum der legitimen Teilnahme literarischer beziehungsweise fiktionaler Repräsentationen am Diskurs um das Ereignis eröffnet, der nicht-fiktionalen, nichtwissenschaftlichen Darstellungen verwehrt bleibt. Um mit einer Metapher Latours zu sprechen, die Texte können im Modus der Fiktion ›im Rücken‹ der Wissenschaften an der Diskussion um das Ereignis teilnehmen. Weil sie (aus wissenschaftlicher Sicht) unwahrscheinliche und damit unschädliche Szenarien entwerfen, scheinen sie keinen Anteil an der Suche nach einer Erklärung zu haben. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, denn die populäre Wahrnehmung des Ereignisses hängt zu weitaus größeren Teilen von seiner kulturellen Inszenierung als von institutioneller Forschung ab. Erst in diesem Raum und mit den Mitteln der Narration werden das anscheinende Scheitern der Wissenschaften und die Möglichkeit, dass im Tunguska-Ereignis alternative Welten zum Vorschein kommen, zu Elementen des kulturellen Gedächtnisses.

4 | Vgl. Kapitel I.1 »Spuren und Fakten«.

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Dass das Auftauchen der fliegenden Untertassen in den Artikeln der ›serious science‹ unvermeidlich ist, liegt also nicht nur an der desolaten Spurenlage und der Beharrlichkeit der ›speculative science‹, ihre Theorien einzubringen, sondern, so die These, daran, dass die Grenze zwischen Wissenschaft (science) und Literatur beziehungsweise Science Fiction nicht aufrechterhalten werden kann. Di Martino, Farinella, Vasilyev und Longo bleibt also nichts anderes übrig, als sich gleichsam höflich von den fliegenden Untertassen (und ihren ›Urhebern‹) zu distanzieren, ohne dass sie ein für alle Mal erklären könnten, dass es sich dabei eben ›bloß‹ um Science Fiction handelt. Dass die Rätsel-, Katastrophen- und Mythospotenziale des Ereignisses in fiktionalen Darstellungen in besonderer Weise Aktualität gewinnen, mag zunächst nicht überraschen. Der Effekt, dass das Tunguska-Ereignis in diesen Inszenierungen wirklicher erscheint als in wissenschaftlichen Texten, ließe sich auf den Kontrast wissenschaftlicher und literarischer Sprachverwendung zurückführen. In der Gegenüberstellung der zwei Kulturen5 lässt sich dieser Realitätseffekt auf unterschiedliche Vorgehensweisen zurückführen. Während die objektive, logische und experimentelle Wissenschaft ihren Gegenstand auf spezifische Fragestellungen hin untersucht und deswegen letztlich ein kumulatives, quantitatives Wissen herstellt, ist es der Literatur möglich, durch ihr subjektives, inspiriertes und autoritatives Vorgehen ein holistisches und zeitloses Bild der Wirklichkeit zu entwickeln. Auch abseits der Untersuchung des Tunguska-Ereignisses ist diese Opposition schematisch und – auch hier zeigt sich die Verwandtschaft zu Latours Modell – eher dem Willen zur Unterscheidung geschuldet als tatsächlicher Unterschiedlichkeit. Dennoch ist die Auffassung einer Gegensätzlichkeit nicht weniger wirkmächtig. Wissenschaft und Literatur wird in dieser Perspektive ein grundsätzlich verschiedenes Erkenntnisinteresse unterstellt – Fakt und Fortschritt stehen Werten und geistiger Entwicklung gegenüber, oder anders ausgedrückt, Wissenschaft ist für die äußere und Literatur für die innere Welt zuständig. Dass eins vom andern nicht zu trennen ist und, wichtiger noch, die säuberlich aufgeteilten Bereiche auf demselben Fundament ruhen, mag zwar keine neue Einsicht sein; die Bedeutsamkeit dieser Trennung für das kollektive Bewusstsein kann jedoch nach wie vor nicht unterschätzt werden. Die kulturelle Produktivität, die vom Tunguska-Ereignis ausgeht, kann an sich schon als Beleg für die Wirkmächtigkeit der Opposition gelesen werden. Denn die Faszination, die es auslöst, speist sich vor allem aus der Möglichkeit, diese Trennung zu unterlaufen. Weil es ›bis heute‹ nicht gelungen ist, Fakten herzustellen, die Tunguska endgültig in das moderne (wissenschaftliche) Verständnis von Natur einfügen, kann die ›Bloß‹-Marke nicht mit der gleichen Autorität verliehen werden, wie das bei anderen Themen 5 | »Qualities ascribed to Science and Literature in the Two Cultures Debate« (Cordle 1999, 21).

II.1 Science und Fiction

der Fall ist.6 Vielmehr zehren Inszenierungen des Tunguska-Ereignisses von der Möglichkeit, im Medium der Fiktion zur Lösung des Rätsels beizutragen. Im Genre der Science Fiction wird dieser Anspruch zum Programm. Hier nicht nach Überschneidungen von Science und Fiction im Sinne einer anteiligen Analyse von Fiction in Science oder Science in Fiction zu suchen, sondern von einem Science-Fiction-Potenzial des Ereignisses zu sprechen, das die Kluft zwischen den beiden Kulturen zu überbrücken vermag, hat den Vorteil, dass die Hierarchisierung in Fakten und Fiktion zugunsten einer Untersuchung von Repräsen­tations­strategien umgangen werden kann. Die Analyse der Anteile hat den Nachteil, dass die Texte letztlich doch daraufhin gelesen werden, wie viel ›Wahres‹ und ›Erfundenes‹ in ihnen zu finden ist, was keiner der beiden Kulturen gerecht wird.7 Das Science-Fiction-Potenzial lenkt den Blick auf diejenigen Aspekte der Darstellung, die Science und Fiction verbinden. Die der Kultur der Wissenschaften zugeschriebene »Haltung des Experimentierens« (Krause/Pethes 2005, 15) bildet dabei den programmatischen Kern der Science Fiction. Als »literature of cognitive estrange­ment« (Suvin 1979, 4; Hervorhebung im Original) beansprucht das Genre damit über die Fiktionalisierung oder Adaption wissenschaftlicher (oder wissenschaftlich aussehender) Themen und Fragestellungen hinaus Teilhabe an Erkenntnisprozessen, die ihm im ZweiKulturen-Modell respektive in der modernen Verfassung verwehrt bleiben müsste. Tunguska, so wird sich zeigen, wird als Argument dafür angeführt, dass die latent abwertende Trennung von Wissenschaft und Literatur eine massive Einschränkung des Wissbaren verursacht.

6 | Diese Autorität wird vor allem dort sichtbar, wo die Wissenschaft ›hinter‹ einer Fiktion untersucht wird. Texte, die die Wissenschaftlichkeit beziehungsweise die Wissenschaftlichkeit populärer Roman- und Filmreihen untersuchen (z.B. »The Science of … James Bond, … Sherlock Holmes, … Terry Pratchett’s Discworld« oder auch die »Edition Wissenschaftsroman«, in der Redakteure des Wissensressorts der ZEIT erfolgreiche Thriller mit Essays über deren wissenschaftlichen »Gehalt« ergänzen), erfreuen sich nicht nur großer Beliebtheit, die Bestätigung wissenschaftlicher Akkuratesse kann umgekehrt einen wechselseitigen positiven Effekt auf den Erfolg fiktionaler Texte haben und das Interesse an den porträtierten Wissenschaften haben (so z.B. bei den TV-Serien Breaking Bad und The Big Bang Theory). 7 | Analog dazu wäre es durchaus möglich, Texte nur aufgrund ihrer Erwähnung des Tunguska-Ereignisses miteinander zu vergleichen und Science Fiction ›bloß‹ als fiktionale Repräsentation von (Tunguska-)Wissenschaft zu verstehen – damit blieben jedoch Texte, die sich allegorisch/implizit auf Tunguska beziehen, ebenso außer Acht, wie der zu erwartende Erkenntnisgewinn einer solchen auf das Tunguska-Ereignis beschränkten Untersuchung gering wäre.

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G edankene xperimente und fik tionale W issenschaf ten In den Naturwissenschaften »wird die Fiktion auf der Ebene der tools situiert, nicht der Begriffe und Theoreme naturwissenschaftlicher Erklärungen« (Weigel 2004, 196; Hervorhebung im Original). Das bedeutet zwar, dass Fiktion sehr wohl einen festen Platz hat und mehr ist als ein notwendiges Übel, jedoch klingt es zunächst so, als ob sie nur ein Werkzeug unter vielen ist und ihr damit keinesfalls die zentrale Bedeutung zukommt, die sie in der Literatur hat. Weigel vertritt die Auffassung, dass das für die Konzeption der modernen Wissenschaften zentrale Experiment und die Literatur auf eine »facultas fingendi« zurückgehen.8 Die Fähigkeit, eine fiktionale Erzählung zu entwerfen, und die Fähigkeit, ein Experiment anzustellen, werden also nicht grundsätzlich unterschieden. Das Gedankenexperiment zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht in einem Labor oder unter Zuhilfenahme von Maschinen, sondern abseits der materiellen Welt durchgeführt wird. Berühmte Gedankenexperimente, wie etwa Albert Einsteins Zwillingsparadoxon, zeigen, wie schnell die Grenzen durchführbarer Experimentalabläufe erreicht sind. Das Gedankenexperiment hingegen überwindet diese materiellen Grenzen und eröffnet dem Experiment den gesamten Raum der Vorstellungskraft beziehungsweise der Fiktion, ohne seine Wissenschaftlichkeit zu gefährden. »Denn im Gedankenexperiment verschmilzt der Plan, die mentale Versuchsanord­n ung, mit seiner Durchführung, dem empirischen Experiment. Wir haben nämlich gar keine Möglichkeit, die realen Konsequenzen einer kontafaktischen Annahme, einer strategischen Verfremdung, anders zu überprüfen als im Kopf; und wir können diese Konsequenzen in keiner anderen Form dokumentieren und verfügbar machen, als durch irgendeine Art von Erzählung. Im Gedankenexperi­m ent werden Literatur und Wissenschaft geradezu gezwungen, sich zu verbinden; nicht umsonst wurden so viele Science Fiction-Romane aus einem einzigen Gedankenexperiment entwickelt. Gedankenexperimente sind notwendig literarisch, […] ebenso notwendig sind sie wissenschaftlich« (Wunschel/Macho 2004, 11).

Aber was unterscheidet ein Gedankenexperiment von Science Fiction? Die ›strategische Verfremdung‹ kann ebenso Merkmal von Science Fiction sein und auch das Erkenntnisinteresse kann man nicht ohne Weiteres als grundsätzlich unterschieden beschreiben. »Das Gedankenexperiment kann Science in Fiction repräsentieren […] oder Fiction in Science, Science-Fiction oder eine ›rêverie scientifique‹; nicht selten eröffnet seine – methodisch unauffällige – Strategie verblüffende Perspektiven und Einsichten« (ebd., 12). Am ehesten lässt sich 8 | Vgl. Weigel 2004, 187.

II.1 Science und Fiction

der Unterschied am institutionellen Umfeld beziehungsweise an seinen Paratexten und an seiner sprachlichen (Re-)Präsentation erkennen. Während das Zwillingsparadoxon im physikalischen Kontext in vorrangig mathematischer Sprache dargestellt wird, kann man von einer auf diesem Gedankenexperiment basierenden fiktionalen (literarischen/filmischen/bildlichen) Erzählung erwarten, dass sie die Konsequenzen des unterschiedlichen Alter(n)s der Zwillinge, die für die Physik nicht von Belang sind, zur Darstellung bringt. Trotzdem ist die Vorstellung einer im Gedankenexperiment erzwungenen Verbindung von Literatur und Wissenschaft zu relativieren. Birgit Griesecke und Werner Kogge weisen zu Recht darauf hin, dass die »Verwechslung [des Gedankenexperiments, SN] mit kontrafaktischer Fiktion« (Griesecke/Kogge 2005, 41) zu seiner »Geringschätzung« (ebd.) führen kann. Das wissenschaftliche Gedankenexperiment zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass es »realitätshaltig« ist.9 »Die ›Fiktionen‹ des wissenschaftlichen Experimentierens beziehen ihr epistemologisches Potential daraus, daß sie gerade keine fiktiven Gegenwelten auf Grundlage von Kontrafaktischem kreieren, sondern durch Erprobung des Möglichen Strukturen des Faktischen erkunden« (ebd., 44). Die Beziehung des Gedankenexperiments zur materiellen Welt ist jedoch nicht analog zu der anderer Experimente. »Was erkundet wird, ist also die empirische Wirklichkeit des Zusammenspiels von Begriffen und Erfahrungen« (ebd., 72). Da in Bezug auf das Tunguska-Ereignis die Bestimmung kontrafaktischer Fiktion zumindest problematisch ist, bietet es sich an, den Begriff der literarischen Fiktion zu verwenden, um die Differenz zu verdeutlichen. Im literarischen Sinne, so Koschorke, meint Fiktion »die Erfindung einer zweiten, alternativen Welt mit freier Beziehung auf die gegebene Wirklichkeit – einer Kunstwelt, die von der gewöhnlichen Realität entlastet« (Koschorke 2012, 229).10 Kontrafaktisch sind diese Fiktionen also nicht, weil sie notwendig der außerliterarischen Realität widersprächen, sondern weil sie ihr nicht genügen müssen. Der Versuch, Gedankenexperiment und kontrafaktische Fiktion nicht miteinander zu verwechseln, sollte jedoch nicht dazu führen, literarischen 9 | »Experimentieren ist ein radikal ergebnisoffenes Unternehmen und es ist zugleich unauflöslich mit der materiellen Welt verwoben, in die es eingreift […]; was zum einen bedeutet, daß in ihm kein endgültiges abgeschlossenes Wissen über die Welt gewonnen werden kann, zum anderen aber auch, daß es – sozusagen – realitätshaltig ist« (Griesecke/Kogge 2005, 43). 10 | Davon lässt sich die »ontologische Beschaffenheit von Sozialfiktionen« (ebd.) unterscheiden. »Darunter fallen all jene konstruierten sozialen Einheiten und Akteure, über die Gesellschaften sich in ihrer jeweiligen Gegenwart Form zu geben versuchen.« Als Beispiel führt Koschorke hier die von Benedict Anderson beschriebenen »imagined communities« an, die »allein durch das Faktum ihrer kollektiven Anerkennung existieren« (Koschorke 2012, 229).

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Fiktionen jegliche Fähigkeit zum Experimentieren abzusprechen. Auch die Zuschreibung eines anderen, nicht wissenschaftlichen Wissens, dass ausschließlich im Bereich der Kultur Geltung beanspruchen kann, verkennt das Potenzial literarischen Experimentierens. Die Entlastung von der Realität, zu der literarische Fiktion fähig ist, muss nämlich keinesfalls eskapistische Qualitäten aufweisen; vielmehr kann sie zur Voraussetzung für Wissensformen werden, die über materielle Experimente nicht zugänglich sind.11 Dass Gedankenexperimente auch explizit literarische Form annehmen können, ohne dabei ihr Erkenntnispotenzial einzubüßen, zeigt u.a. Bernhard Dotzlers Untersuchung der Forschung und Science Fiction Leó Szilárds. Er stellt dessen Beteiligung am Manhattan Project und seinen Versuch, Präsident Truman durch eine Petition davon abzuhalten, die Atombombe tatsächlich zu zünden, seinen Science-Fiction-Erzählungen (z.B. The Voice of the Dolphins 1961) gegenüber, in denen er die nun denkbare Apokalypse als »hirngespinstlose[s] Gedankenexperiment« (Dotzler 2004, 147) durchspielt. »[D]er latenten Inkonsequenz, trotz der Einsicht in seine Gefährlichkeit von diesem Tun nicht lassen zu wollen, entspricht die Konsequenz, ab dem Moment dieser Einsicht das Wissen als solches auszuloten, die Realität seiner Denkmöglichkeiten, deren jede planbare (oder verhinderbare) Anwendung immer schon übersteigende Wirkmacht. Und das eben ist, wo sie diesen Namen verdient, Science-Fiction« (Dotzler 2004, 154).

K ognitive V erfremdung und utopische P otenziale Darko Suvins einflussreiche Definition der Science Fiction baut in ihrem epistemologischen Anspruch auf der strukturellen Verwandtschaft zwischen Science und Science Fiction auf. »Suvin argued that a sf text presents aspects of a reader’s empirical reality ›made strange‹ through a new perspective […]. Science-fictional estrangement works like scientific modelling: the familiar (that is, naturalized) situation is either rationally extrapolated to reveal its hidden norms and premises […], or it is analogically displaced on 11 | Literatur wird in dieser Hinsicht zum Raum solcher Wissensformen, die zu einem Zeitpunkt einem nicht, noch nicht oder nicht mehr geltenden Denkstil entsprechen: »Anstatt also wissenschaftliche Aussagen bloß zu adaptieren, vermag Literatur alternative und zukünftige Möglichkeiten dieses Wissens durchzuspielen beziehungsweise vergangene zu bewahren. Sie aktualisiert in diesem Fall diejenigen Potentialitäten, die realiter latent geblieben sind, und sie muß diese Funktion umso mehr erfüllen, wenn die Kompetenzen der Realitätsverwaltung so genau verteilt sind, wie in der vollständig ausdifferenzierten Gesellschaft der Moderne« (Krause/Pethes 2005, 15).

II.1 Science und Fiction to something unfamiliar in which the invisible (because too familiar) elements are seen freshly as alien phenomena. […]« (Csicsery-Ronay Jr. 2003, 118).

Darko Suvin entwirft in Metamorphoses of Science Fiction die einflussreichste12 unter den vielfältigen Definitionen des Genres. Er bestimmt Science Fiction als Literatur, die in Opposition zu naturalistischen Genres steht, das heißt als Literatur, deren Darstellungen nicht mit der empirischen Wirklichkeit von Leser und/oder Autor übereinstimmen muss, dabei aber prinzipiell verschieden von anderen nicht-naturalistischen Genres wie Mythos, Phantastik und Schäferdichtung ist.13 Was die Science Fiction von jenen unterscheidet, sind ihre Komplexität, ihre Erkenntnisbezogenheit (cognition), ihre Historizität und das Novum als ihr zentraler formaler Bestandteil.14 »SF is distinguished by the narrative dominance or hegemony of a fictional ›novum‹ (novelty, innovation) validated by cognitive logic« (Suvin 1979, 63). Während es auch in anderen Formen literarischen Erzählens ähnliche Konzepte gibt, so z.B. die ›unerhörte Begebenheit‹ der Novelle,15 stellt das Novum der Science Fiction nicht nur ein inhaltliches Element dar, das formale Konsequenzen nach sich zieht, sondern »in SF the novum is the formal element that generates and validates all elements of the text, from alternative reality to plot, characters and style« (Moylan 2001, 57). Die inhaltliche Neuheit steht dabei nicht im Vordergrund, sodass auch 12 | Abgesehen von aller Kritik sei Suvins Poetik der Science Fiction verdienstvoll vor allem dahingehend, dass Science Fiction aus dieser Perspektive mehr ist als »a shop window full of fictional commodities concerned with ›science‹, ›wonder‹ and ›space‹« (Parrinder 2001, 48). Insbesondere die frühen Versuche zur Bestimmung dessen, was Science Fiction ist, entspringen dem Anliegen »of asserting the genre’s literary respectability – a way, that is, of presenting it as a suitable object for criticism and theory« (ebd., 37). Dabei ging es vor allem um die Abgrenzung der Science Fiction von anderen populären Genres und die Profilierung einer literarischen, das heißt ›anspruchsvollen‹ oder ›echten‹ Science Fiction gegenüber den trivialen Ausformungen des Genres (pulp). »No definitional consensus exists. There are narrow and broad definitions, eulogistic and dyslogistic definitions, definitions that position science fiction in a variety of ways with regard to its customary generic Others (notably fantasy, on the one hand, and ›mainstream‹ or realistic fiction on the other) and, finally, antidefinitions that proclaim the problem of definition to be insoluble« (Freedman 2000, 13). 13 | Vgl. Suvin 1979, 3. 14 | Demgegenüber beschreibt Suvin z.B. den Mythos als ahistorisch und anti-kognitiv beziehungsweise nicht erkenntnisbezogen (Suvin 1979, 20 und 35-36). 15 | Das Novum kann mit einem einzigen Sachverhalt, einem einzigen Ereignis oder einer Handlung, die in der Welt des Gedankenexperiments möglich oder unmöglich ist, identifiziert werden (vgl. Wunschel/Macho 2004, 9), es wird analog zur ›unerhörten Begebenheit‹ zum Anlass der Erzählung (vgl. Schweikle/Schweikle 1990, 329-330).

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in der Science Fiction motivische und thematische Traditionen sowie Darstellungskonventionen entstehen konnten und können. »Suvin’s novum is not the reified ›novelty‹ produced by capitalism, or indeed the vanguard privileged by orthodox Marxism; instead, it is the dialectical force that mediates the material, historical possibilities and the subjective awareness and action engaged with those possibilities« (ebd., 58). Das Novum stellt gleichsam den Science-Anteil der Science Fiction ins Zentrum seiner Konzeption, da es die Produktion ›echter‹ Vertreter des Genres analog zum wissenschaftlichen Gedankenexperiment beschreibbar macht. Die nicht-naturalistische Darstellung wird dadurch als Literatur gerechtfertigt, dass sie erkenntnisbezogen/kognitiv motiviert ist. »Significant SF denies thus the ›two-cultures gap‹ more efficiently than any other literary genre« (Suvin 1979, 36). Diese Definition versucht das mangelnde Vertrauen in die ästhetische Qualität der Literatur der ›flying saucers‹ dadurch zu kompensieren, dass sie in das rational-kognitive Schema wissenschaftlichen Denkens eingeordnet wird. Anders gesagt, Science Fiction produziert Fakten16, indem sie kontrafaktische Welten produziert. An diesem Punkt setzt die neuere Kritik an Suvins normativer Gattungsdefinition an. »[T]aken literally, Suvin’s definition suffers from an immense sacrifice of descriptive to eulogistic force […] cognitive estrangement as a definitional principle seems not merely to transcend but to overturn both philology and common usage, largely denying the title of science fiction to most of the pulp tradition while granting it to works produced very far from the influence of the latter« (Freedman 2000, 19).17

Jüngere Versuche zur Beschreibung des Genres gehen, ohne dabei Suvins Leistung zu schmälern, andere Wege, die sowohl die motivische und thematische als auch die mediale und nicht zuletzt qualitative Bandbreite des Genres in Betracht ziehen.18 Im Extremfall führt das zu einer »construction of science fiction as broad as the pulp-centered construction is narrow« (Freedman 2000,

16 | Vgl. auch Uerz 2004. 17 | Konkret bedeutet das, dass für Suvin zwar Kafkas Verwandlung zur Science Fiction zu zählen ist, aber weder die Star Wars-Filme noch die TV-Serie Star Trek ›echte‹ Science Fiction darstellen. Das bedeutet, die meisten »›works of SF‹ (i.e., works likely to be found in the ›Science Fiction‹ section of a bookstore)« (Chu 2010, 8) sind (für Suvin) gar keine Science Fiction. 18 | Jones argumentiert, dass sich Science Fiction sehr wohl auch anhand seiner ›Ikonen‹, das heißt anhand bestimmter Motive (Raumschiffe, Monster etc.) und Themen (Kontakt mit außerirdischen Spezies, wissenschaftliche Verfahren und Technologien etc.) beschreiben lässt (vgl. Jones 2003).

II.1 Science und Fiction

15),19 da »qualities that govern texts universally agreed to be science fiction can be found to govern other texts as well […] In fact, I believe that all fiction is, in a sense, science fiction« (ebd., 16). Auch eine solche Auffassung kann Suvins einflussreiche Begriffe cognition (Kognition/Erkenntnisorientierung), estrangement (Verfremdung) und novum ins Zentrum der Definition stellen, um die ästhetischen beziehungsweise poetologischen Besonderheiten der Texte herauszustellen und sie damit auch von der Voraussetzung eines ›wissenschaftlichen Gehalts‹ zu emanzipieren. Das Konzept Gedankenexperiment steht dabei im Mittelpunkt, denn es verbindet das Novum und dessen kognitive (›erkenntnisorientierte‹) Funktion mit der Erzählung und grenzt die Science Fiction von naturalistischer, nicht verfremdender Literatur ab. »The thought experiment, the ›what if?‹ (which Darko Suvin calls the novum), is crucial to all sf, and has led to the most popular alternative interpretation of ›sf‹: speculative fiction. It is here that sf most departs from contemporary literature, because in sf ›the idea‹ is the hero« (Mendelsohn 2003, 4).

Wie bei Mendelsohn führt das literarische Gedankenexperiment als Zentrum die Science Fiction nicht automatisch zurück zur Wissenschaft, sondern dient zur Bestimmung ihres davon unabhängigen ästhetischen und epistemologischen Anspruchs. Denn das, was Suvin und andere aufwendig rechtfertigen, die Gewichtung der Plot- und Darstellungselemente20 zugunsten der Beschreibung der Welt, erklärt Mendelsohn hier kurzer Hand zum zentralen (Quali19 | »The term can be taken to include – to pick just a few examples – the whole tradition of arealistic travel literature from Lucian to Rabelais, Cyrano, and beyond; the classic utopian line from More onward; a modernist and postmodernist tradition of work not actually marketed as science fiction, from Kafka and even Joyce to Samuel Beckett and Thomas Pynchon; and even such world-class poets as Dante and Milton« (Freedman 2000, 15). 20 | Ein Beispiel für eine solche Kritik ist Jerzy Jarz ę bskis Rechtfertigung von Die Astronauten, welches er als – im Vergleich zu den späteren Werken Lems – uninteressant beschreibt: »Die ersten, in Buchform erschienenen Science-fiction-Arbeiten Lems wecken heute, gemessen an seinen späteren Leistungen, kaum Interesse, wenngleich sie bei anspruchsloseren Lesern sicherlich noch Beachtung finden mögen. Wenn wir jedoch versuchen, sie vor dem Hintergrund der durchschnittlichen Romanproduktion in den Jahren des sozialistischen Realismus zu deuten, begreifen wir sofort, warum sie so populär waren. […] Diese Werke leben von der Kühnheit der Visionen, der sinnlichen Bilderfülle, dem Mut, mit dem der Autor sich an die Schilderung von unbekannten Welten wagt, die der alltäglichen Erfahrung widersprechen und auf eine eigentümliche Weise wunderbar sind« (Jarz ę bski 1986, 49).

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täts-)Merkmal: »No novelist in mainstream fiction would expect description to stand in for characterization, but sf, in making cognitive estrangement storyable, insists that the world be treated as character« (Mendelsohn 2003, 8). Die Fähigkeit, eine Idee oder eine Welt zum Mittelpunkt der Erzählung oder zur handelnden Figur zu machen, beruht auf der Sprachauffassung der Science Fiction. »Language is not trustworthy in sf; metaphor becomes literal« (Mendelsohn 2003, 5). Der Satz ›Er nahm ihre Hand‹ kann vollkommen unterschiedliche Bedeutungen haben, wenn er im Kontext einer tendenziell naturalistischen Liebesgeschichte oder einer Science-Fiction-Erzählung erscheint. Verschiedene Möglichkeiten, warum jemand die Hand einer anderen Person nehmen könnte, ohne dass diese Hand noch mit der sie eigentlich besitzenden Person verbunden ist, lassen sich vorstellen. Nur geht es bei diesem WörtlichNehmen weniger um den Inhalt (jemandes Hand nehmen), sondern um die Tendenz der Science Fiction, die (kognitive) Verfremdung auf allen Ebenen einzusetzen. Diese Tendenz reiche, so Chu, über das Spielen mit Wortbedeutungen hinaus. »Whereas Le Guin and Delany suggest that SF enthusiasts are predisposed to expect the literalization of metaphors from SF, I subscribe to a more extreme position: lyric figures are systematically literalized, substantiated, and consolidated in science fiction as ontological features of narrative worlds« (Chu 2010, 11).

Was hier also passiert, warum Science Fiction Ideen und Welten zu Helden machen kann, ist gleichermaßen das Spiel mit und das fundamentale Ernstnehmen der Beziehung von Signifikat und Signifikant. Daran anschließend geht Chu so weit, untrennbare Affinitäten zwischen Science Fiction und Lyrik festzustellen.21 Diese Ähnlichkeiten führt sie darauf zurück, dass Science Fiction zwar, anders als Lyrik, räumlich nicht begrenzt sei, ihre Gegenstände aber außerordentlich schwierig zu beschreiben seien, weil sie nicht der Erfah­r ungs­ welt ihrer Leser entsprechen würden. Deswegen, so Chu, seien Erzählungen der Science Fiction »compelled to use description of the same intensity that we find in lyric poetry« (ebd., 32). Die Hinwendung zu den ästhetischen Bedingungen der Science Fiction legt offen, inwiefern es sich um ein experimentierendes Genre handelt. Anders als im wissenschaftlichen Gedankenspiel geht es nicht um »die empirische Wirklichkeit des Zusammenspiels von Begriffen und Erfahrungen« (Griesecke/Kogge 2005, 72; Hervorhebung SN), sondern um die linguistischen und ästhetischen Bedingungen der Darstellung und Wahrnehmung dieser Wirklichkeit. Damit rückt die Frage in den Fokus, ob es sich bei der Science Fiction überhaupt um ein Genre handelt oder sich unter dem Begriff ›Science Fiction‹ 21 | Vgl. Chu 2010, 13-30.

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Tendenzen und Potenziale subsumieren lassen, die in unterschiedlichen Textsorten auftauchen können.22 Genauer fasst es Parrinder in seiner Revision der Poetik von Suvin, wenn er die kognitive Verfremdung nicht absolut begreift, sondern von »cognitive values (and presumably of estrangement values)« (Parrinder 2001, 41) ausgeht, die ein Spektrum »ranging from a hypothetical zero to the boiling point of the best science fiction« (ebd.)23 bilden, auf dem sich einzelne Texte abbilden ließen.24 In eine ähnliche Richtung weist Freedman, wenn er davon spricht, dass »science fiction is determined by the dialectic between estrangement and cognition« (Freedman 2000, 16; Hervorhebung im Original), es also weniger um absolut gesetzte Kognition (Erkenntnisorien­ tierung) gehe als um einen »cognition effect« (ebd., 18). »The crucial issue for generic discrimination is not any epistemological judgement external to the text itself on the rationality or irrationality of the latter’s imaginings, but rather […] the attitude of the text itself to the kind of estrangements being performed« (ebd.; Hervorhebung im Original). Der »cognition effect« hängt analog zu Barthes’ effet de réel nicht davon ab, ob etwas den Erkenntnissen der Wissenschaft entspricht oder logisch nachvollziehbar ist, sondern ob der Text es als solches präsentiert.25 Chu betont sogar entgegen der traditionellen Beschreibung von Science Fiction, dass sie nicht nur effektiv kognitiv nachvollziehbar wird, sondern in einem mimetischen Verhältnis zur außerliterarischen Welt stehe. »Science fiction is a representational technology powered by a combination of lyric and narrative forces that enable SF to generate mimetic accounts of cognitively estranging referents« (Chu 2010, 73) – oder vielmehr die Welt, die sie erzeugt, wirklich werden zu lassen. Damit entfernt sich die neuere Science22 | In diesem Sinne argumentiert Mendelsohn, wenn sie schreibt: »Science fiction is less a genre – a body of writing from which one can expect certain plot elements and specific tropes – than an ongoing discussion« (Mendelsohn 2003, 1). 23 | Auch bei Chu findet sich die Auffassung, dass »types of SF« nicht auf Geschichten über Raumschiffe und Zukunftsvisionen begrenzt sein müssen. So begreift sie auch die Gothic Novel als einen solchen Typ (Chu 2010, 10-11). 24 | »Suvin has occasionally suggested that his distinctions might be interpreted in this relative way, but he has not done so consistently, and the evangelical fervour of his early writings has the opposite effect« (Parrinder 2001, 41). 25 | Freedman nennt als einleuchtendes Beispiel eine Erzählung Isaac Asimovs, die auf der damals geltenden Annahme beruht, der Merkur habe eine fixierte Rotation, sodass Teile des Planeten immer im Dunkeln liegen. Nur wenige Jahre nach Erscheinen erwies sich diese These als falsch. Asimov selbst bezieht in einem Vorwort zu dieser Erzählung dazu Stellung und verlacht die Möglichkeit, seine Geschichte zu aktualisieren, er könne schließlich nicht auf alle ›Launen‹ der Wissenschaftler Rücksicht nehmen. Warum sollte er auch? Der »cognition effect« seiner Erzählung werde durch die veränderten Tatsachen nicht gefährdet (vgl. Freedman 2000, 18).

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Fiction-Forschung deutlich vom Kriterium der (literarischen) Wahrscheinlichkeit beziehungsweise begrenzt sie, weitaus deutlicher als Suvin, auf die Plausibilität innerhalb des Textes. Der cognition effect ist das stärkste Argument der Versuche von Seiten der Literaturwissenschaft/-kritik, die Literarizität des Genres gegenüber ihrem ›wissenschaftlichen Gehalt‹ zu profilieren. Ob man Science Fiction nun als Sammelbegriff für ein Genre von Texten mit bestimmten thematischen und motivischen Gemeinsamkeiten (also danach, was Chu treffend beschreibt als »works likely to be found in the ›Science Fiction‹ section of a bookstore« [Chu 2010, 8]) oder als »mode« (Parrinder 2001, 48), »generic tendency« (Freedman 2000, 20) beziehungsweise »representational technology« (Chu 2010, 73) betrachtet – es ergeben sich zwar unterschiedliche Textkorpora, diese allerdings mit großen Überschneidungsmengen. Letztere Perspektive (mode/tendency) hat den methodischen Vorteil, »of cutting traversely across generic boundaries« (Parrinder 2001, 48), sodass das Label Science Fiction nicht zwingend als Paratext gegeben sein muss, man aber auch, wie in der vorliegenden Arbeit, über Literatur (und fiktionale Repräsentationen in Filmen, Spielen und TV) hinaus Science-Fiction-Potenziale erkennen und beschreiben kann. Diese bestehen dann in strukturellen Ähnlichkeiten zum Verfahren des Gedankenexperiments, können motivische Gemeinsamkeiten aufweisen (»inavitably, an exploding flying saucer«) und/oder machen die Idee (beziehungsweise das Novum) zum ›Helden‹. Die Literarizität der Science Fiction in den Vordergrund zu stellen, dient also keineswegs dazu, ihren Anteil an Science zu schmälern. Im Gegenteil: Wissenschaftliche Fiktion wird von ihrer rein instrumentellen Funktion innerhalb der Wissenschaften zur Science Fiction eigenen Rechts. Dabei bleibt die Beziehung von Science und Fiction (an-)gespannt, nur wird sie nicht als Konkurrenz (beziehungsweise anteilig) beurteilt, sondern produktiv gewendet. Science Fiction ist als Begriff vor allem eine Provokation (Wie kann etwas zugleich wissenschaftlich und fiktiv sein?),26 formuliert aber auch den Anspruch, die Methode des Experimentierens im Medium der Fiktion zur Erkenntnisgewinnung über einen abgeschlossenen ästhetischen Bereich hinaus fruchtbar zu machen. Die hier der Science Fiction attestierte Befähigung, Dinge der Erkenntnis zugänglich, wissbar (knowable) zu machen, wird in ihrem Potenzial als Zukunftsfiktion besonders deutlich.

26 | »[…] ›[S]cience fiction‹, unlike the modified noun ›scientific fiction‹, is charged with lyric voltage generated by the shock of catachresis: the noun ›science‹ has denotations and connotations of the noun ›fiction‹. […] Science fiction […] equals the making of knowledge. This equation calls attention to the crucial epistemological work that science fiction performs. To make something available for representation is to make it knowable« (Chu 2010, 75).

II.1 Science und Fiction »Science Fiction als literarisch-filmische Gattung ist nicht vollkommen losgelöst von der faktischen technischen Entwicklung, sondern erprobt, mehr oder minder realistisch, deren Potentiale; doch selbst wenn man solche Erzeugnisse mit ihren klaren Fiktionalitätsmarkern ausklammert, bleibt eine Grauzone, in der sich künstlerische Phantasie und planerische Imagination wechselseitig befruchten. Auf welche der beiden Seiten ein Zukunftsszenario fällt, ist hier nur after the fact, in der Zeitform der vergangenen Zukunft, entscheidbar« (Koschorke 2012, 231). 27

In fiktionalen Zukunftsentwürfen geht es nicht um Vorhersagen oder Extrapolation28 im Sinne eines utopischen Vorschreibens technologischer Entwicklungen oder idealer Gesellschaftsentwürfe, sondern um eine »particular Utopian future [that] has in other words turned out to have been merely the future of one moment of what is now our own past« (Jameson 1982, 151). Jamesons einflussreicher Aufsatz Progress Versus Utopia; or, Can We Imagine the Future? verwirft die Vorstellung, man könne in Science Fiction (oder überhaupt) einen Blick in die Zukunft werfen, und bestimmt die sich darin ausdrückende Hoffnung auf eine durch technologischen Fortschritt herbeigeführte/herbeizuführende Vorstellung selbst als historisch. Was Science Fiction stattdessen leistet, ist, so Jameson, dafür von viel größerem Wert: »[…] [T]he apparent realism, or representationality, of SF has concealed another, far more complex temporal structure: not to give uns ›images‹ of the future […] but rather to defamiliarize and restructure our experience of our own present, and to do so in specific ways distinct from all other forms of defamiliarization.« (Jameson 1982, 151)

Nah an Suvins Bestimmung der Utopie als »sociopolitical subgenre of science fiction« (Suvin 1979, 61; Hervorhebung im Original) hält die utopische Science Fiction ihrer Gegenwart einen (Zerr-)Spiegel vor, anstatt Wegweiser in eine feststehende Zukunft zu sein. Die Utopie steht damit dem Fortschritt entgegen (versus), weil sie die unhinterfragte Vorherrschaft dieses Metamythos letztlich lächerlich macht, indem sie zeigt, dass seine Avantgarde auch nur die 27 | Vgl. auch Horn 2014, 302-305. 28 | Ein Beispiel für eine solche Auffassung und seine Kritik daran nennt Frederic Jameson: »canonical defence of the genre: in a moment in which technological change has reached a dissying tempo, in which so-called ›future shock‹ is a daily experience, such narratives have the social function of accustoming their readers to rapid innovation, of preparing our consciousness and our habits for the otherwise demoralizing impact of change itself. […] If I cannot accept this account of SF, it is at least in part because it seems to me that, for all kinds of reasons, we no longer entertain such visions of wonder-working, properly ›S-F‹ futures of technological automation. These visions are themselves now historical and dated« (Jameson 1982, 151; vgl. auch Uerz 2004).

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Vergangenheit einer neuen Zukunft sein wird: »[…] the most characteristic SF does not seriously attempt to imagine the ›real‹ future of our social system. Rather, its multiple mock futures serve the quite different function of transforming our own present into the determinate past of something yet to come« (Jameson 1982, 152). Science Fiction beziehungsweise das Verständnis ihres utopischen Potenzials vollzieht damit eine ähnliche Entwicklung wie das Faktum und die Auffassung von der Möglichkeit, objektiv über Realität sprechen zu können. »Wird die (aktuelle) Version von Welt als Produkt der ›Weisen der Welterzeugung‹ aufgefasst, ist Welt nie vorgefundenes Faktum, sondern immer hergestellte Faktizität; hervorgebracht im Wechselspiel von Dekomposition (vorhandener Versionen) und Rekomposition« (Uerz 2004, 160). Das wertet wiederum keinesfalls die Fähigkeit der Naturwissenschaften ab, wahre Aussagen zu machen,29 sondern bekräftigt das epistemologische Potenzial der Science Fiction. Science Fiction vermag es, den Rahmen zu erweitern, in dem gesprochen wird. Sie ist nicht auf die gleiche Weise an Diskursregeln gebunden. »Science fiction, in particular, imagines change in terms of whole human species, and these changes are often the results of scientific discoveries and inventions that are applied by human beings to their own social evolution« (Csicsery-Ronay Jr. 2003, 113).30 Die entscheidende epistemologische Arbeit, die Science Fiction leistet, besteht also nicht zuletzt darin, Fragen zu stellen, die die Wissenschaften nicht beantworten können.

29 | ›Harte‹ Fakten werden nach wie vor von ›bloßer‹ Fiktion unterschieden und »[n] atürlich wird auch der SF-Text von seinen Rezipienten als Fiktion gewusst, obwohl einer der Hauptkunstgriffe der Gattung darin besteht, das Signalrepertoire, mit dem sich die Fiktion als solche zu erkennen gibt, so weitgehend wie möglich abzublenden, um die erbrachten wissenschaftlichen Erklärungs- und Plausibilisierungsleistungen nicht auszuhölen« (Uerz 2004, 160-161). 30 | Eva Horn zeigt dies anhand von Katastrophenfiktionen, die das Ende des Menschen imaginieren. Der Mensch schaut auf sich selbst zurück, aber nach seinem eigenen Ende, eine Reflexion im Futur II: Es wird einmal gewesen sein. Ein Blickpunkt, von dem aus sich die Frage stellt, warum ein aktuelles Zeitgefühl notwendig auf Fiktion angewiesen ist. Gerade die reale Unmöglichkeit des Gedankenexperiments, das beide Erzählungen anstellen, macht sie so produktiv und erfolgreich. Ausgerechnet im Anthropozän, in der Epoche, in der der Mensch unauslöschlich in die Erdgeschichte eingegangen sein wird, ergeht er sich im Erfinden von Welten, in denen er nicht mehr vorkommt. Es ist, als rechnete der Mensch sich weg, um zu schauen, was nach ihm noch übrig ist (vgl. Horn 2014, 11).

II.1 Science und Fiction

Tungusk a als N ovum Das Tunguska-Ereignis drängt sich aufgrund seiner Rätselhaftigkeit geradezu als Novum auf. Allein in den vier diesem Kapitel zugrundeliegenden Romanen lässt sich bereits ablesen, wie unterschiedlich die auf dem Ereignis basierenden Erzählungen sich mit Tunguska explizit oder implizit auseinandersetzen. In den hier zur Untersuchung stehenden Romanen Stanisław Lems (Die Astronauten 1951, Solaris 1968) und der Brüder Strugatzki (Der Montag fängt am Samstag an 1965, Picknick am Wegesrand 1972) reicht der Einsatz des Tunguska-Ereignisses als Novum vom Ankerpunkt einer fantastischen Erzählung in der außerliterarischen Geschichte bis zum Vorbild einer Wissenschaft, die in ihrem Scheitern an den Rätseln des Weltraums erkennen muss, dass sie sich selbst nicht versteht. Stanisław Lems Die Astronauten31 wählt das Tunguska-Ereignis zum Ausgangspunkt einer »Allegorie unserer irdischen Probleme« (Astronauten, 8). In einer Zukunftsfiktion des Jahres 2000 inszeniert der Text die Reflexion des zur Entstehung des Romans akuten Systemstreits als überwundene Vergangenheit. Die Lösung des Tunguska-Ereignisses wird hier zum Anlass einer »Reflexion im Futur II« (Horn 2014, 11) und zum Zeugnis der potenziell weltzerstörenden Konsequenzen eines solchen Machtkampfes. Der erste Teil des Romans Die Astronauten, »Erde in Not«, konzentriert sich auf die Erklärung des Tunguska-Ereignisses. Während der Bauarbeiten an einer futuristischen Energiequelle32 wird in der Gegend um die Steinige Tunguska ein Felsbrocken ausgegraben, der sich als eine Art Blackbox eines unbemannten Raumschiffs herausstellt. Die Entzifferung der magnetisierten Spule, die sich im Innern des Felsblocks befindet, bestätigt die ›fantastischste‹ der Tunguska-Theorien: Ein Raumschiff von der Venus, das zum Zwecke der Erkundung zur Erde geschickt worden war, erlitt eine Havarie. Die Wissenschaftler, die mit der Entzifferung der Magnetspule betraut sind, eine Aufgabe, die »die Arbeit der besten […] Spezialisten für tote und verschollene Sprachen« wie ein »Kinderspiel« erscheinen lässt (Astronauten, 27), finden heraus, dass es 31 | Zitiert unter der Sigle (Astronauten); unter dem Titel Der Planet des Todes bei Volk und Welt, Berlin (DDR) 1958, erschienen. 32 | Diese Energiequelle ist ein fantastisches Beispiel dafür, wie fundamental sich Auffassungen davon, was wünschenswerter Fortschritt oder katastrophische Zukunftsvision ist, ändern können: »In Polnähe sollten riesige ›Atomfeuer‹ von Sonnentemperatur Wärme und Licht in der Eiswüste erzeugen […] Man besaß wohl eine Energiequelle, die es ermöglichte, die Eismassen zu schmelzen, Ozeane zu erwärmen, ja ganze Meere auszutrocknen, das Klima zu verändern und auf den Polen tropische Dschungel entstehen zu lassen, aber das Baumaterial für entsprechende Verbrennungsherde besaß man nicht« (Astronauten, 24).

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sich um eine Erkundungsmission der Bewohner des Planeten Venus handelte. Die Wahrnehmung des Tunguska-Ereignisses als Zeichen für den bevorstehenden Weltuntergang (Astronauten, 13) erweist sich also 100 Jahre danach als durchaus berechtigt, denn auf die Erkundung sollte etwas folgen, dass die Venusianer als »Große Bewegung« (Astronauten, 37) beschrieben. Das Tunguska-Ereignis, so wird zu Beginn des Romans vermutet, war der gescheiterte erste Schritt einer geplanten Invasion, die nicht zufällig deutliche Anklänge an Hitlers Vorhaben der ›Lebensraumgewinnung‹ im Osten hat. »Auf Grund der Katastrophe aber müßte die Gefahr, falls eine solche jemals bestanden habe, vorüber sein. Als besten Beweis dafür bezeichneten sie [die Gelehrten, SN] die Tatsache, daß seitdem beinahe einhundert Jahre in vollständiger Ruhe verflossen waren« (Astronauten, 39). Der zweite Teil, »Das Tagebuch des Piloten«, begleitet eine Expedition zur Venus, die die Thesen der Wissenschaftler untersuchen soll. Pilot Smith und die Wissenschaftler an Bord des irdischen Raumschiffes landen auf einem Planeten, der vollkommen leblos wirkt, jedoch voller fremdartiger Formen ist: Bauten hoch entwickelter Wesen und deren letzte Spur im Universum. Die Expedition bestätigt die Vermutungen der irdischen Wissenschaftler in vollem Umfang. Eine Invasion der Erde war geplant, Gefahr für die Menschen bestand jedoch nur virtuell, denn zum Zeitpunkt der Entsendung des Kund­schafterschiffs befanden sich zwei konkurrierende Parteien auf der Venus bereits in einem Krieg, der letztlich ihre gegenseitige Vernichtung bewirkte. »Den Planeten bewohnte eine kühl berechnende Gattung von Lebewesen. Schon hundertfünfzig Jahre bevor sie an die Verwirklichung ihres Planes gingen, erwogen sie, ob sie die Menschen nicht in irgendeiner Form für ihre Zwecke gebrauchen könnten. Sie kamen zu der Meinung, daß wir keinen Wert für sie besäßen und daher beseitigt werden müßten. Da sie aber unsere Städte, Straßen und Fabriken nicht beschädigen wollten, um sie später selbst benutzen zu können, beschlossen sie eine radioaktive Wolke gegen die Erde zu schleudern. […] Sie wollten das Leben vernichten und das Leblose erhalten. Obwohl sie dabei alle erdenklichen Größen in Rechnung stellten, vergaßen sie eine einzubeziehen: sich selbst. Als dann die riesigen Strahlenwerfer und die weiße Kugel vor ihrer Vollendung standen, begannen die Venusbewohner gegeneinander Krieg zu führen. Es gelang ihnen, das gesteckte Ziel zu erreichen, aber – auf ihrem eigenen Planeten!« (Astronauten, 279).

Die inhaltliche Struktur des Romans lässt sich also in der Tat als Allegorie oder Parabel beschreiben. Zwar bilden die Venusbewohner in Hinsicht auf Technologie, Gesellschaft und Politik das Andere der Menschheit in der Gegenwart der Astronauten, aber die Leser zu der Entstehungszeit des Romans insbesondere (aber nicht ausschließlich) dürfte sich in einigen Punkten wiedererkannt haben. Der Roman verweigert es allerdings, die Venusbewohner mit einer der

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beiden Seiten des Kalten Krieges zu identifizieren. Damit entzieht Lem seinen Roman (nicht ohne Notwendigkeit) einer expliziten politischen Zuordnung, so dass der Text dadurch seltsam wirkungslos beziehungsweise wenig engagiert erscheint. Das Tunguska-Ereignis wird zur Spur, die zwar die Existenz außerirdischer Zivilisationen belegt, deren Nähe aber nie zum akuten Risiko werden lässt. Tunguska als Spur verweist in der Erzählung in die Vergangenheit, sodass die Arbeit der Astronauten/Wissenschaftler nicht nur während der Entzifferung der fremden ›Botschaft‹ eine geradezu archäologische wird. Die untergegangene Kultur, auf die das Ereignis als Spur verweist, befindet sich eben nur nicht auf der Erde – ungefährlich bleibt sie dennoch, eben weil sich herausstellt, dass sie bereits untergegangen ist. Bemerkenswert ist die Komplexität der Zeitstruktur, die zwischen Gegenwart und Zukunft, Möglichkeit und Realität, innerhalb und außerhalb des Romans erzeugt wird. Tunguska ist hier nicht das (unerreichbare) Ziel eines Spurenleseprozesses, sondern selbst Spur auf dem Weg zu einem Anderen, dessen Verhalten und Geschichte sich bei näherer Betrachtung auf unheimliche Weise als vertraut herausstellt. Bei flüchtiger Betrachtung erscheint die Rolle des Tunguska-Ereignisses in Die Astronauten trivial. Es wirkt wie ein geeigneter Punkt, um die ScienceFiction-Handlung in einer bekannten Realität zu verankern respektive mit ›harten Fakten‹ zu unterfüttern. In der Fortschreibung der Theorie im Sinne Freedmans (»dialectic between cognition and estrangement« [Freedman 2000, 16]) und Jamesons (»function of transforming our own present into the determinate past of something yet to come« [Jameson 1982, 152]) stellt die spezifische Einbindung des Ereignisses sicher, dass es sich um mehr als ›Abenteuergeschichten‹ mit Raumschiffen handelt.33 Als Novum zeigt es hier an, dass es nicht um ›Neuheit‹, sondern um Erkenntnisorientierung geht – die Erkenntnis, zu der es hier führt, ist die Begrenztheit und Gefahr einer Kopplung von technologischem Fortschritt und politischem Machtstreben. Auch Der Montag fängt am Samstag an von Boris und Arkadi Strugatzki34 transformiert es in eine Spur, die über eine Lösung des Rätsels hinausführt. Die Lesart der Brüder Strugatzki bettet das Ereignis in einen Kontext ein, der in erster Linie einen Wissenschaftsbetrieb fiktionalisiert. Im Zentrum des

33 | Lem spricht seinem Roman Mitte der 1970er Jahre zwar insofern Aktualität zu, als »[d]iese Bedrohung [durch Nuklearwaffen, SN] auch nach dem Ablauf fast eines Vierteljahrhunderts noch über uns [schwebt]«, empfiehlt seinen Lesern jedoch, den Roman »einfach [als] eine Geschichte voller Abenteuer [zu lesen, SN], die allerdings von der Wahrscheinlichkeit weit entfernt sind« (Astronauten, 8-9). 34 | Strugatzki, Arkadi; Strugatzki, Boris: Der Montag fängt am Samstag an [Gesammelte Werke Bd. 6]. München: Wilhelm Heyne Verlag 2014. (Original: Понедельник начинается в субботу. 1965). Zitiert unter der Sigle (Montag).

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Romans steht »FIFHUZ«,35 das »Forschungsinstitut für Hexerei und Zauberkünste« (Montag, 96). Der Programmierer Alexander Iwanowitsch Priwalow (Sascha) begegnet in den drei Teilen des Romans allerhand merkwürdigen Wesen und wird Teil nicht minder merkwürdiger Begebenheiten. Im ersten Teil, »I. Geschichte. Verwirrung um einen Diwan«, den er in der »Hütte auf Hühnerbeinen« (Montag, 16) im Ort Solowez verbringt, begegnet er einem sprechenden Kater, einem (ebenfalls sprechenden) Karpfen, der Wünsche erfüllt, blickt in einen (wiederum sprechenden) Spiegel, liest in einem Buch, das seinen Inhalt ständig ändert, ›träumt‹ allerlei Fantastisches auf einem Diwan und experimentiert mit einem wiederkehrenden Fünf-Kopeken-Stück. Nichts davon bringt ihn aus der Fassung oder lässt ihn an seinem Verstand zweifeln. Im Gegenteil: »All das, was ich hier erlebt hatte, war mir nicht völlig neu. Ich hatte von solchen Fällen gelesen und erinnerte mich, dass mir das Verhalten der Menschen in derartigen Situationen immer ungewöhnlich, ja empörend dumm vorgekommen war. Statt die reizvollen Perspektiven, die sich durch einen glücklichen Zufall vor ihnen auftaten, auszukosten, erschraken sie und hatten nichts Eiligeres zu tun, als zum Alltäglichen, Gewohnten zurückzukehren. […] Noch wusste ich nicht, welchen Lauf die Ereignisse nehmen würden und doch war ich bereit, mich Hals über Kopf hineinzustürzen » (Montag, 38).

Ebendies tut er. Offen für alles, was ihm begegnet, experimentiert er, anstatt sich zu fürchten. Schon auf dem Weg nach Solowetz (in den Norden) wird ihm ein Job im Institut angeboten, den er in der zweiten Geschichte, »Viel Lärm um Nichts«, antritt. Während seiner Arbeit als Programmierer und seiner gleichzeitigen Ausbildung zum Zauberer wird er Zeuge eines fantastischen Experi35 | Anmerkung zur Übersetzung: In der deutschen Übersetzung von 1974 Der Montag beginnt am Samstag (Hermann Buchner) fehlt die Erwähnung und Erklärung des Tunguska-Ereignisses. Die Neuauflage der Übersetzung von Helga Gutsche, die hier benutzt wird – ursprünglich 1990 bei Volk und Welt erschienen –, ist nicht nur in dieser Hinsicht genauer. Sie entspricht darüber hinaus der englischen Übersetzung, die auch Csiscery-Ronays Interpretation zugrunde liegt (Strugatski, Arkadi und Boris: Monday begins on Saturday. Transl. by Leonid Renen. New York: Daw Books 1977). Im Vergleich der Übersetzungen wird beispielsweise deutlich, dass im Deutschen der Ausgabe von 1974 »science-fiction« mit »utopisch« gleichgesetzt wird. Allerdings entgeht sowohl der Übersetzung von 1990 als auch der englischen Übersetzung die Doppelbedeutung des russischen Namens des Zaubereiinstituts НИИЧаВо, das klingt wie ничего (russ. nichts). Buchners (bekanntere) Übersetzung greift diese Anspielung, wenn auch nicht in einem ganz eleganten Akronym auf: »NITSCHAWO – Naturwissenschaftliches Institut für Zauberei und Wohlfahrt« Montag 1974, 104). In der englischen Übersetzung heißt das Institut: »SRITS – Scientiftic Research Institute of Thaumaturgy and Spellcraft« (Monday, 41).

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ments. Der Doktor der Wissenschaften, Amwrossi Ambrosjewitsch Wybegallo, »ein Zyniker und obendrein noch ein Dummkopf« (Montag, 108), arbeitet (medienwirksam) an der Erfindung des »idealen Menschen« (Montag, 184). Der Wissenschaftler-Magier vertritt die These, »alles Unglück – tjä – rühre von der Unzufriedenheit her« (Montag, 108), und entwickelt einen ›perfekten Konsumenten‹. Nachdem ein Exemplar der Anthropoiden, mit deren Hilfe er seine These beweisen will, in seinem Labor geplatzt ist, wird sein nächstes Experiment auf ein Versuchsgelände 15 Kilometer vor dem Stadtrand verlegt. Wieder gibt es eine Explosion, diesmal ungleich größer: »Dort, wo der Autoklav stand, brodelte eine von innen rot leuchtende, dichte Dampfwolke. Der Horizont krümmte sich immer weiter und weiter, und mir schien, als befänden wir uns alle im Bauch eines ungeheuren Kruges« (Montag, 194). Dem Ereignis – dem drohenden Kollaps des Raumes – ist nur mithilfe eines Dschinns beizukommen. Der »Riesenkonsument« scheint sich in Luft aufgelöst zu haben. Im Krater, den er hinterlässt, finden sich alle Wertgegenstände der Umstehenden – Pelzmäntel, Goldzähne, selbst Autos und Panzer. Das gescheiterte Experiment ist schnell erklärt: »›Was ist eigentlich passiert? Hat er sich wieder überfressen?‹ ›Nein, das kam, weil Wybegallo ein Esel ist‹ antwortete Roman […] Tausendmal habe ich Wybegallo gesagt: Sie programmieren einen Superegozentristen. Er wird alle nur erreichbaren materiellen Güter an sich raffen, den Raum verbiegen, sich verpuppen und die Zeit anhalten. Es will einfach nicht in Wybegallos Schädel, dass ein echter Geistesriese nicht nur konsumiert, sondern vor allem denkt und fühlt« (Montag, 203).

Priwalow gibt sich damit zufrieden. Was ihn vielmehr umtreibt, ist die Frage, warum Janus Poluektowitsch, W-Janus, »ein Wissenschaftler von Weltrang« (Montag, 87),36 wusste, »wie die Sache ausgehen würde. Er hat doch alles vorausgesehen. Die großen Zerstörungen, dass ich [Roman, SN] mir was einfallen lassen würde, um dem Riesen den Garaus zu machen« (Montag, 199). Am Ende der dritten Geschichte, »Viel Lärm um einen Papagei«, ist es schließlich Priwalow, der erkennt, wie es dazu kam. Eigene Erfahrungen mit Reisen durch die »beschriebene Zukunft […] Das sind fantastische Romane und alle möglichen Utopien« (Montag, 209)37 bringen ihn darauf: W-Janus ist ein 36 | Im Gegensatz zu W-Janus einem »ganz gewöhnliche[n] Verwalter […] ein und dieselbe Person. Nur mit zwei Gesichtern« (Montag, 87). 37 | Der Professor, der ihn auf die Reise schickt, hält die (beschriebene) Zukunft für ein wenig spannendes Reiseziel: »Natürlich, auch das kann interessant sein. Aber machen Sie sich darauf gefasst, dass die Zukunft nicht kontinuierlich verläuft, dort dürfte es große Zeitlücken geben, die noch kein Autor ausgefüllt hat. Aber das macht nichts« (Montag, 209).

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»Kontramot«, das heißt, er lebt »aus der Zukunft in die Vergangenheit« (Montag, 269). Nachdem sich die Vermutung, er sei aus einem utopischen Roman in die Welt des FIFHUZ gereist, als nicht haltbar erweist, versucht man sich an einer anderen Theorie:38 »Bringen wir endlich Klarheit in das verzwickte Problem des Wunders an der Tunguska […] Bis zum heutigen Tag war ich davon überzeugt, dass es sich bei dem Aufprall des Tunguska-Meteoriten nicht um die Landung eines Raumschiffs handelte, sondern um seinen Start. Und sogar diese Arbeitshypothese erklärt schon eine Menge. Mit der Grundidee der diskontinuierlichen Kontramotion lässt sich dieses Problem ein für alle Mal lösen. Was ist am 30. Juni 1908 an der Steinigen Tunguska geschehen? Etwa Mitte Juli desselben drang ein Raumschiff mit Außerirdischen in den zirkumsolaren Raum ein. Aber dies waren nicht die einfältigen primitiven Außerirdischen unserer fantastischen Romane, sondern Kontramots, Genossen! Menschen, die aus einem anderen Universum kamen, in dem die Zeit entgegengesetzt zur unseren verläuft« (Montag, 271-272).

In Montag ist Tunguska als Möglichkeit präsent, das Unbekannte als Bekanntes zu erkennen (also das, was zur »real existierende[n] Welt, in der Anna Karenina, Don Quichotte, Sherlock Holmes, Grigori Melechow und sogar Kapitän Nemo lebten« [Montag, 207], gehört) und sich mit Begeisterung den ›reizvollen Perspektiven‹ zu öffnen, die das Tunguska-Ereignis erlaubt. Tunguska wird zum Beleg für ein Gegenmodell zur »phantasielosen« Wissenschaft (und Science Fiction) der Moderne. Solowez und das FIFHUZ folgen zwar grundsätzlich anderen (Natur-)Gesetzen als die sonstige (außerliterarische) Welt, die Programme der modernen Wissensgenese greifen allerdings auch hier. Obwohl die Forscher des FIFHUZ eine Welt untersuchen, in der Märchen wahr sind – in der Magie, Realität und die Erfindung eines idealen Menschen nur eine Frage der richtigen Ausgangsthese sind – ist die Organisation von Wissenschaft dieselbe. Das heißt, dass selbst da, wo fliegende Teppiche, sprechende Katzen und riesige Homunkuli zur natürlichen Welt gehören, Dinge undenkbar und unerreichbar sein können – wie die außergewöhnliche Hypothese eines rückwärts durch die Zeit reisenden Mannes, der sich unbehelligt unter den Wissenschaftlern bewegen kann –, weil sie sich der Autorität der Institutionen entzieht. »Erhalten sie [die Experimentatoren, SN] ein außergewöhnliches Resultat, erschrecken sie und begründen es überstürzt mit einer Unsauberkeit in der Aufgabenstellung. Sie gehen allem Neuen aus dem Weg, weil sie zu sehr am Alten kleben, das sich bequem in den Rahmen der herrschenden Theorie fügt […]« (Montag, 39).

38 | Vgl. Csicsery-Ronay Jr. 1986, 30.

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Das Tunguska-Ereignis konnte, so die Erklärung in diesem Roman, bisher nicht aufgeklärt werden, weil niemand bisher die notwendige Imaginationskraft aufbringen konnte. »Bisher haben sich damit völlig fantasielose Leute befasst. Kometen und Meteoriten aus Antimaterie, selbstsprengende Atomschiffe, kosmische Wolken und Quantengeneratoren – all das ist zu banal und allein schon deshalb von der Wahrheit weit entfernt« (Montag, 272). Was Priwalow und seinen Kollegen also gelingt, ist das sprichwörtliche ›thinking outside the box‹. Die »phantastic farce« (Csicsery-Ronay Jr. 1986, 18). Der Montag fängt am Samstag an lässt sich aus dieser Perspektive als Kommentar zum engen Verständnis sowohl der (Natur-)­Wissenschaften als auch der Science Fiction lesen. Wie, so könnte man interpretieren, soll Science Fiction offen für wirklich Neues sein, wenn sie sich an die konservativen Regeln der Wissenschaft zu halten hat? Wissenschaft mag so vorankommen; Science Fiction in einem solchen Rahmen zu betreiben, wäre lächerlich. Aber auch der Fortschrittsanspruch der Wissenschaften wird anhand des Tunguska-Ereignisses angezweifelt. Fehlt Fantasie beziehungsweise die Bereitschaft, mit dem Neuen in Form von fundamental Unbekanntem/Anderem zu rechnen, werden wirklich außergewöhnliche Rätsel (oder gar ›Wunder‹) wie das Tunguska-Ereignis nie gelöst werden können. Montag widerspricht damit aber nicht der in Science und (strenger) Science Fiction vertretenen Auffassung, dass, wenigstens theoretisch, alles erklärbar ist, sofern man über die nötigen Kapazitäten verfügt. Montag inszeniert die zwei Kulturen auf eine Weise, die offenlegt, dass es sich um normative Programme handelt. Wie beim Spurenleser, dessen Fähigkeiten den Rahmen dessen bestimmen, was er erkennen kann, ist es auch hier der Rahmen wissenschaftlicher Praxis und nicht die (magische) Natur, der die Erkenntnisfähigkeit begrenzt. Gleichzeitig macht er die Programme effektiv und ermöglicht Erkenntnis unabhängig vom Gegenstand, weil wissenschaftliche Praxis als in sich geschlossen dargestellt wird. So spielerisch wie sich Montag als Meta-Science-Fiction diesem Thema nähert, so tragisch wird es in Lems Solaris39 behandelt. Solaris nimmt seine Wissenschaft(-lichkeit) so ernst, dass seine Wissenschaftler sich selbst darin verlieren, weil sie keinen Abstand mehr zu ihr nehmen können. Was aber hat Solaris mit Tunguska zu tun? Es gibt keine Explosion und keinen Krater, aber ein Rätsel, das so komplex ist, dass es auch nach über 100 Jahren Forschung nicht gelöst werden kann. Der Planet Solaris oder vielmehr das Wesen, das auf ihm lebt, der »denkende Ozean« (Solaris, 34), ist ein explosiver, weil höchst umstrittener Gegenstand der Forschung. Explosiv, insofern als er Theorie über Theorie provoziert, sich jedoch dem Zugriff der Wissenschaften gänzlich entzieht. Solaris ist ein Roman über die Möglichkeit eines Kontakts mit außerirdischen Lebensformen, das Wesen des Menschen, aber auch über die Hybris 39 | Lem, Stanisław: Solaris. Frankfurt a.M.: 2009 [Solaris].

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desselben, mit seinen Wissenschaften über das Gewusste und das Erforschte herrschen zu können. Kris Kelvin ist der letzte in einer Folge von Wissenschaftlern, die versuchen, Solaris zu verstehen. Er gehört zu einer Generation von Forschern, die im Bewusstsein der Geschichte der Solaristik bescheiden in dem geworden sind, was sie von ihren Unternehmungen erwarten können. Sie sind sich bewusst, dass die Antwort auf eine Frage massenhaft neue Fragen hervorbringt, Theorien immer mehr Theorien erzeugen und so eine Dynamik entsteht, in der nicht einmal mehr klar ist, wer berechtigt ist, Fakten zu schaffen und wer nicht. Anhand der »Geschichte der Solaristik« (Solaris, 23) vollzieht Kelvin die über ein Jahrhundert andauernde Forschung nach, die strukturell der Erforschung des Tunguska-Ereignisses entspricht. »Der Mangel an Geldmitteln« (Solaris, 26) erlaubte erst Jahre nach der Entdeckung des Planeten die Entsendung einer ersten Expedition. Obwohl »wie erwartet, […] keine Spuren von Leben aufgefunden [wurden]« (Solaris, 25), entbrennt um den Ozean ein Streit, der sich darum dreht, ob der »aktive Charakter der Ozeanbewegungen« (Solaris, 26) als Beleg dafür zu werten ist, dass es sich um ein biologisches Lebewesen im irdischen Sinn handelt.40 »Als es gelang, das Problem zumindest einigermaßen zu entwirren, erwies sich, daß die Erklärung, wie dies bei der Solaris später noch oft vorkam, an die Stelle des Rätsels ein anderes, vielleicht noch erstaunlicheres, setzte« (Solaris, 28). Wie die Tunguska-Forschung ist auch die Solaristik so extensiv und umfangreich (temporal wie materiell), dass sich auch andere an die Lösung des Rätsels machen – auch sie hat ihre eigenen »exploding flying saucers«: »In den Zeitungen, die damals zur Kurzweil der Leser und zum Grauen der Wissenschaftler nur so strotzten von hanebüchenen Schwindeleien zum Thema ›Geheimnis der Solaris‹, fehlte es auch nicht an Behauptungen, der planetare Ozean sei […] ein entfernter Verwandter der elektrischen Zitteraale« (Solaris, 28).

Auch wenn der Bezug zur Tunguska-Forschung nicht explizit ist, dürfte allein diese Dynamik die strukturelle Ähnlichkeit mit dem Ereignis und insbesondere seiner Erforschung deutlich machen. Das zu Erforschende liegt den Wissenschaftlern deutlich vor Augen und dennoch können sie seine Rätsel nicht lösen. In Solaris wird diese Dynamik ins Extrem getrieben.

40 | »In diesem Streit, der innerhalb von Wochen die bedeutendsten Autoritäten sämtlich in seinen Wirbel hineinzog, geriet zum ersten Mal seit achtzig Jahren die GamovShapleysche Doktrin ins Wanken« (Solaris, 27). Die Gamov-Shapley-Hypothese besagt, dass die Entstehung von Leben auf Planeten von Doppelsternen unmöglich ist (Solaris, 24).

II.1 Science und Fiction »Scientific progress, as Lem conceives it, consists more in the provisional elimination of unworkable hypotheses and the evolving consideration of central problems from a variety of angles than in any arrival at final resolutions. Nor can science enjoy any pristine autonomy from ideology. […] Science, in sum, is an immensly difficult project, and this difficulty is novelistically crystallized in the supremely difficult science – almost the metascience – of Solaristics« (Freedman 2000, 100).

Nicht nur bleibt die ursprüngliche Entdeckung ein Rätsel, jeder Schritt in Richtung einer Lösung verkompliziert das Problem auf eine Weise, die der Entdeckung immer neuer ›Probleme‹ gleichkommt, und die Forscher, anstatt sie der Lösung näherzubringen, wie durch eine Explosion neuer Fragen immer weiter von der ursprünglichen Frage wegtreibt. Diese ist aber nicht ›Was ist passiert?‹ oder ›Was ist das?‹, sondern fragt grundsätzlich nach der Fähigkeit der Menschen und ihrer Wissenschaften zu wissen, was außerhalb ihrer selbst liegt. Kelvins ›Gäste‹ werden zum Emblem dieser Frage, so wie die Solaristik zum Emblem der Frage nach der Möglichkeit von Erklärung wird. Der »denkende Ozean« übertrifft das Tunguska-Ereignis als Rätsel zwar insofern, als angenommen wird, dass er ein kontaktfähiges Lebewesen ist (dazu im Folgenden mehr); aber das Problem der Solaristik und der Tunguska-Forschung ist das gleiche, nämlich dass die Beantwortung einer Frage, immer neue Fragen nach sich zieht und so die scheinbare Rätselhaftigkeit des Problems insgesamt noch verstärkt, weil sie die Aussagekraft der Forschung infrage zu stellen scheint. Auch Picknick am Wegesrand 41 von Boris und Arkadi Strugatzki konfrontiert die Menschheit mit der Existenz außerirdischer Wesen, die sich jedem Zugriff entziehen. Jedoch manifestiert sich diese Konfrontation nicht auf einem fernen Planeten, sondern mitten auf der Erde. Der »Besuch« fand zwei Jahrzehnte vor der erzählten Zeit statt und brachte Leid und Zerstörung mit sich. Über die »außerirdische Superzivilisation« (Picknick, 8) ist nichts bekannt, geblieben sind nur ihre Spuren in Form von sechs über die Erde verteilten »Zonen«. Eine dieser Zonen befindet sich in Harmont, einer Stadt, die ansonsten völlig bedeutungslos ist. Obwohl man meinen könnte, es handle sich bei dem Besuch um ein Ereignis von globaler Bedeutung, konzentriert Picknick am Wegesrand die Perspektive auf diesen Ort und vor allem auf seine Bewohner. »The novel’s temporal structure is also vague. The ›visitation‹, by its very name, should be a precise event, the sort we begin new calendars by. Yet we have no idea when it occurred. Nor did its occurrence impart clear temporal direction to the narrative. It is said to generate a new world. At the same time, it has revived the old, ancestral world.

41 | Strugatzki, Arkadi und Boris: Picknick am Wegesrand. Frankfurt a.M.: 1981 [Picknick].

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Die Produktion der Katastrophe Its impact, in fact, is Janus-faced, yielding objects that at once gesture to the future and the past« (Slusser 1989, 16-17).

Nur an wenigen Stellen der »utopischen Erzählung« gibt es überhaupt Hinweise darauf, wie der Besuch ablief. Es gibt keine ›offizielle‹ Version des Ereignisses, sondern verschiedene Gruppen, für die die Zone von unterschiedlicher Bedeutung ist. Nicht nur Wissenschaftler, sondern vor allem sogenannte Schatzgräber, aber auch Geschäftsleute stehen in Beziehung zu der Zone und versuchen auf unterschiedliche Weise, Gewinn daraus zu ziehen. ›Erfolg‹ und Überleben sind jedoch gleichermaßen davon abhängig, wie wirksam sich die Akteure von der Zone distanzieren können, selbst wenn sie von ihr abhängig sind und selbst dann, wenn sie sie betreten. Die »Zone« zu betreten, ist ebenso lebensgefährlich wie potenziell gewinnträchtig. Unbekannte Objekte finden sich überall in den Gebieten, im schlimmsten Fall sind sie tödlich, im besten Fall lassen sie sich als »Ramsch« verkaufen oder versprechen, auf wissenschaftlicher Seite, bahnbrechende Erkenntnisse. Doch Gier ebenso wie Naivität beenden in dieser Erzählung Leben. Interessant ist, dass, obwohl Vertreter aller genannten Gruppen auf ihre Weise Gewinn aus der Ausbeutung der Zone zu ziehen versuchen, die Beziehungen und Interessen derer, die Zugang zur Zone haben, niemals weiterreichen können als bis eben dorthin. Szenarien sind deswegen rar und selbst Informationen über das »Dilemma« (Picknick, 25) beziehungsweise seine unmittelbaren Folgen sind nur bruchstückhaft vorhanden oder erschlossen. So ist die »Zone« von sogenannten Pest- und Blindenvierteln umgeben, »die Haut löste sich […] vom Körper, und die Nägel fielen ab […] Es war grauenvoll. Hatten es die Leute dieses Gebiets mit der Pest zu tun, so wurden die Bewohner der angrenzenden drei Stadtbezirke sämtlich blind« (Picknick, 25-26). Es besteht jedoch Uneinigkeit über die Phänomene: »Übrigens behaupten die Betroffenen, nicht von dem grellen Lichtschein erblindet zu sein, den es zweifelsohne gegeben hatte, sondern von dem furchtbaren Donner. Das Krachen wäre so enorm gewesen, daß sie auf der Stelle die Sehkraft verloren hätten. Das Argument der Ärzte, so was sei unmöglich, ließ sie unbeirrt; sie blieben dabei. Das Kuriose aber an der ganzen Geschichte war: Niemand außer ihnen hatte diesen Donner vernommen« (Picknick, 26).

Aber nicht nur wie die Katastrophe abgelaufen ist, steht zur Debatte, auch was in der Zone zu finden ist, ist nicht klar. Zwar ist es den Schatzgräbern zu verdanken, dass Gegenstände aus der Zone überhaupt genutzt werden können

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und sich dadurch die Wahrnehmung der Zone insgesamt veränderte,42 dennoch gelten sie als Eindringlinge, die trotz ihrer Erfahrung kein gültiges Wissen produzieren. Trotz ihrer Allgegenwart43 bleibt die Zone seltsam ungreif bar, obwohl man sie betreten, die fremden Objekte zum Teil nutzen kann und die Zone selbst inmitten einer Stadt liegt. Es gibt keine Möglichkeit zu entscheiden, welche Seite die Phänomene richtig beurteilt – die ›Betroffenen‹ oder die Ärzte, die Schatzgräber oder die Wissenschaftler. Theorien über den Besuch sind innerhalb der Erzählung scheinbar nur für diejenigen von Belang/Interesse, die nicht in direktem Kontakt mit der Zone stehen: Journalisten und Geschäftsleute.44 Die apokalyptische Version einer kriegerischen Invasion nach dem Vorbild H.G. Wells’ War of the Worlds wird nur aufgerufen, um umgehend verworfen zu werden: »Zu sensationell wurde über brennende Stadtviertel berichtet, über Ungeheuer, die sich Greise und Kinder zum Fraß aussuchten, über die blutigen Kämpfe zwischen den unverwundbaren Gästen aus dem All und dem im Gegensatz dazu höchst anfälligen Panzereinheiten der Regierung, die sich nichtsdestoweniger sehr wacker schlugen […]« (Picknick, 8).

Auch wenn im Folgenden von einer »Katastrophe« (Picknick, 25) die Rede ist, bleibt die Absage an die Science-Fiction-›Ikone‹45 bestimmend für die Darstellung. Nicht nur, weil sie zu Beginn der Erzählung stattfindet, sondern weil derjenige, der dieses sensationelle Bild der Invasion zugunsten des distanziert oder sogar neutralisierten (nicht neutralen) »Besuchs« verwirft, Diskurskontrolle beanspruchen kann. Im Radiointerview mit dem Physiker Valentin Pillman, das anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Nobelpreis geführt wird, muss sogar dessen Interviewer zugeben, dass die Pressedarstellungen zu übertrieben waren, um Gültigkeit beanspruchen zu können. Pillman selbst verweigert sich jeglicher Form von Spekulation und beschränkt seine Beteiligung an der Erforschung 42 | »Alles hatte wohl mit den Attacks begonnen, Schatzgräber aus der Zone mitbrachten, einer Art kleiner Batterien … Ja, das war der Anfang gewesen. Vor allem, weil man entdeckte, daß sich diese Attacks vermehrten. Das Geschwür schien nun nicht mehr so gefährlich zu sein, war vielleicht gar kein Geschwür, eher eine Schatzkammer …« (Picknick, 110). 43 | »Wo man auch war, mit wem man sich auch unterhielt – stets ging es nur um die Zone, die Zone, die Zone …« (Picknick, 54). 44 | Vgl. Interview mit Pullman (Picknick, 7-9) und Gespräch zwischen Nunnan und Pullman (Picknick, 130-133). 45 | Vgl. Jones 2003, 164-166.

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des »Besuchs« auf einen einzigen Beitrag, die Errechnung des Pillman-Radianten, den er trotz der ihm dafür zuteil­wer­denden Anerkennung nicht einmal als besonders bedeutend betrachtet.46 Auch die Versuche ihn dazu zu bewegen, eine emotionale Reaktion zu Harmont, seinem Heimatort, als Schauplatz des Besuches auszudrücken, sind wenig erfolgreich: »Ehrlich gesagt, hielt ich diese Meldung zunächst für eine Ente. Es war schlecht vorstellbar, daß sich, in unserem alten, kleinen Harmont etwas Derartiges zutragen könnte. Die Wüste Gobi oder Neufundland – das wäre noch angegangen, aber Harmont […]« (Picknick, 8). Bedeutend ist für Pillman nur eins: »Die Tatsache, daß ein Besuch stattgefunden hat« (Picknick, 9). Die Distanziertheit des Wissenschaftlers wirkt befrem­dlich, wenn man versucht zu verstehen, wie tiefgreifend die Veränderung ist, die durch den »Besuch« verursacht werden muss. Nicht nur ist die Frage nach der Existenz außerirdischen Lebens nun ein für alle Mal beantwortet, die Erde selbst ist an sechs Orten/Arealen nicht mehr die, die sie vorher war.47 Trotzdem ist die Produktion von ›gesichertem‹ Wissen unter diesen Umständen nicht möglich. Im Gespräch mit dem Geschäftsmann Nunnan bringt jener den Wissenschaftler dazu – endlich –, eine Einschätzung des »Besuchs«, bei dem es sich um ein »Picknick am Wegesrand« gehandelt habe, abzugeben. »But this is not only an anthropomorphic vision, it is an irresponsible one as well. The agency implied in the image of the alien picnickers is, in a sense, the magnified mirror of Pilman’s careless abdication of active, responsible agency in his own speculating; it is theoretical littering« (Slusser 1989, 19).

Strukturell lässt sich auch diese Konstellation, wie die in Solaris, als Gedanken­ experi­ment lesen, das die Parameter des Tunguska-Ereignisses ins Extrem 46 | »Der Pillman-Radiant ist weder die erste noch eine bedeutsame, noch überhaupt eine richtige Entdeckung. Und schon gar nicht meine. […] Beim Pillman-Radianten handelt es sich um ein überaus einfaches Phänomen. Stellen Sie sich vor, Sie brächten einen Globus zum Drehen und feuerten aus einem Revolver Schüsse auf ihn ab. Die Löcher auf dem Globus werden eine Art fließende Kurve bilden. Das Wesen dessen nun, was Sie als meine erste bedeutende Entdeckung bezeichnen, ist durch diesen simplen Vergleich erklärbar. Alle sechs Besuchszonen auf unserem Planeten sind nämlich so angeordnet, als hätte jemand sechs Pistolenschüsse auf die Erde abgegeben, und zwar von einem beliebigen Standort auf der Linie Erde – Deneb aus. Deneb, das wissen Sie, ist der Hauptstern des Sternbildes Schwan. Jener Punkt am Firmament nun, von dem aus sozusagen geschossen wurde, wird als Pillman-Radiant bezeichnet« (Picknick, 7). 47 | »Dann bog unsere Galosche um die Ecke und legte im Schritttempo die letzten Meter irdischen Bodens zurück. Der Bürgersteig kam immer näher, und schon fiel der Schatten unseres Fahrzeugs auf das schwarze Gestrüpp … Schluss mit der Sicherheit, wir waren in der Zone!« (Picknick, 27).

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steigert. Das Tunguska-Ereignis wird in allen vier Texten explizit oder implizit zum Motor der Erzählung, zu ihrem Novum. Ebenso wie ›Tunguska‹ als Anzeichen für einen drohenden Weltuntergang gedeutet werden kann,48 wird es hier zum Ausgangspunkt einer (erkenntnisorientierten) Erkundung der Beziehung von science und fiction. ›Tunguska‹ als Novum der Science Fiction ist nie ›bloß‹ Explosion, Katastrophe oder Rätsel, sondern alles zugleich. Darin besteht seine Science-Fiction-Qualität, sein geradezu mythisches Potenzial. Es kann nicht über Tunguska gesprochen werden, ohne all diese Aspekte, wenn auch ungewollt, mit aufzurufen (also muss auch in renommierten wissenschaftlichen Publikationen »inevitably« über fliegende Untertassen gesprochen werden). Auch wenn explizit fiktionale Auseinandersetzungen mit diesem Ereignis ungebunden verfahren könnten, weisen die literarischen Gedankenexperimente, die um das Tunguska-Novum kreisen, Besonderheiten auf, die dem cognition effect geschuldet sind. Diesen anzuerkennen erfordert es, die spezifischen Ausformungen der im Tunguska-Diskurs problematisierten Beziehung von ungesichertem oder nicht verifizierbarem Wissen genauer unter die Lupe zu nehmen.

I nstitutionen – E xklusion und I nklusion Die Form dessen, was als (gesichertes) Wissen Gültigkeit innerhalb eines Diskurses erlangen kann, ist seit Beginn der Moderne von der institutionalisierten Organisation von Wissenschaft abhängig. Diese, so wurde bereits gezeigt, definiert sich vor allem dadurch, dass sie bestimmte Gegenstände, Verfahren, Publikationsorgane und damit letztlich Personen ein- oder ausschließen kann und damit sowohl einen kategorialen Unterschied zwischen Experten und Laien als auch zwischen Wissenschaft und Spekulation (science und fiction) einführt. Der Montag fängt am Samstag an kann als Parodie auf genau diese Trennungen beziehungsweise Einschränkungen gelesen werden. Die Existenz eines FIFHUZ (Forschungsinstitut für Hexerei und Zauberkünste) erscheint sowohl in Anbetracht außerliterarischer Wissenschaftsorganisation als auch der Konzeption von Science Fiction (insbesondere der Poetik Suvins) paradox – in beiden hat Magie nichts zu suchen. Suvin verwehrt sich gegen Märchenhaftes und Magisch-Fantastisches als nicht kognitiv beziehungsweise rationalerkenntnisbezogen.49 In Montag handelt es sich bei Magie aber schlicht um eine Tatsache. Mag ihre Sichtbarkeit auch auf das Gebiet um Solowetz begrenzt sein, sie wird dort aber in solcher Intensität erlebt, dass ihre Existenz nicht zu leugnen ist. Magie dient hier nicht dazu, sie zum außerliterarischen Faktum 48 | Vgl. Kap I.2 »Katastrophe und Risiko«. 49 | Vgl. Suvin 1979, insbes. 19-21.

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zu machen, sondern dazu, die Erklärung des Unbekannten oder (zunächst) Unbeweisbaren nicht qua Definition beziehungsweise Diskursmacht aus dem Raum des Möglichen und Wirklichen auszuschließen. »Was sind wir doch für naive Materialisten und unverbesserliche Rationalisten, dachte ich. Wir wollen, dass es für alles eine rationalistische Erklärung gibt, beziehungsweise dass sich alles auf diese Handvoll uns bekannter Fakten zurückführen lässt. Und keiner von uns denkt auch nur ein bisschen dialektisch. Niemand kommt auf die Idee, dass zwischen den bekannten Fakten und einer neuen Erscheinung Welten liegen können, ein Meer unbekannter Phänomene, und so bezeichnen wir die neue Erscheinung als übernatürlich und demzufolge als unmöglich« (Montag, 53-54).

Priwalow stellt sich die Frage, wie diese Haltung noch immer aufrechterhalten werden kann, obwohl die Wissenschaftsgeschichte doch von schockierenden Neuentdeckungen und -entwicklungen strotze.50 Die Antwort liegt, so stellt er fest, in der institutionellen Struktur materialistisch-wissenschaftlichen Denkens, die nicht nur die Macht hat, Unverstandenes zu Unmöglichem zu erklären, sondern auch den Raum des potenziell Verstehbaren so auszuweiten, dass die Zahl der notwendigen Unmöglichkeitserklärungen gering gehalten werden kann. Dieser Auffassung nach ist die Wissenschaft sich nicht nur der Tatsache bewusst, dass man zumeist findet, was man sucht, sondern sie setzt auch alles daran, nichts zu finden, was sie nicht sucht. Das muss nun nicht als Täuschung gelten, sondern kann, so wie in diesem Roman, als Kurzsichtigkeit oder gar Feigheit, aber auch als geschickte Strategie zur Erhaltung des Status Quo verstanden werden, die sich des Spurenparadigmas51 ganz bewusst nicht zur Entdeckung, sondern zur Herstellung von Tatsachen bedient. Die Struktur des Romans bringt den Programmierer Priwalow immer intensiver mit den magisch-wissenschaftlichen Geschehnissen in Zusammenhang und erfährt dabei die (merkwürdige) Willkürlichkeit, aber auch die Effektivität institutionalisierten Wissens am eigenen Leib. In der ersten von drei Geschichten begegnet er offenbar magischen Gestalten und Gegenständen, tritt mit ihnen in ersten Kontakt; im zweiten Teil wird er Teil ihrer Gemeinschaft und erlernt/entwickelt eigene magische Fähigkeiten; im dritten Teil schließlich erweist er sich als einer von ›ihnen‹. Auffällig ist an seinen Erlebnissen vor allem, dass sie ihm, bei aller Merkwürdigkeit, bereits vertraut sind:52 die (russischen) Märchenfiguren und -ge­genstände, die Magier des Instituts (allen voran Merlin) und ihre Experimente (der ideale Mensch/Homunkulus) und schließlich die ›beschriebene Zukunft‹ der fantastischen Romane. 50 | Vgl. Csicsery-Ronay 1986, 31. 51 | Vgl. Kapitel I.1 »Spuren und Fakten«. 52 | Vgl. Montag, 41.

II.1 Science und Fiction »Wie es schien, existierten neben unserer gewohnten Welt mit der riemannschen Metrik, dem Unbestimmtheitsprinzip, dem physikalischen Vakuum und dem Trunkenbold Choma Brut noch andere Welten mit klar ausgeprägter Realität. Es handelte sich dabei um Welten, die von der schöpferischen Fantasie im Verlauf der Menschheitsgeschichte geschaffen worden wären« (Montag, 204).

Die These und ihre technologische Konsequenz, eine Maschine für Reisen in die beschriebene Zukunft, werden nach allen Regeln der Wissenschaft bekräftigt. Nicht nur ist der Referent Sedlovoi »kein schlechter Wissenschaftler« (Montag, 207), er verhält sich auch gemäß den Regeln professioneller Forschung, indem er den Beweis seiner These für Laien völlig unverständlich führt: »Das alles fand ich [Priwalow] ungeheuer interessant, zumal Sedlovoi, vom Thema gepackt, sehr lebhaft und anschaulich vortrug. Dann aber besann er sich, fand seine Darstellung des Sachverhalts nicht wissenschaftlich genug, behängte das Podium mit Skizzen und Diagrammen und ließ sich langatmig und in starkem Fachjargon über Dekrementregelräder, mehrstufige temporale Schaltung und Durchdringungslenkgrad aus. Ich verlor schon bald den roten Faden […]« (Montag, 207).

Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Brüder Strugatzki den Wissenschaftsbetrieb in ihrem Roman lächerlich machen wollen, verliert das vorgeführte Verfahren wissenschaftlicher Präsentation nicht seine Gültigkeit. Eine These wird mitsamt der Geschichte ihrer Entwicklung zunächst allgemein verständlich vorgestellt; Möglichkeiten für ihre Überprüfung im Experiment sind Teil dieser Vorstellung; die Details der Durchführung müssen jedoch notwendig spezialisiert sein, um innerhalb der scientific community Anerkennung zu finden. So lässt sich die Arbeit gleichsam doppelt legitimieren – ihre Relevanz für ›die Gesellschaft‹ in allgemein verständlicher und ihre Wissenschaftlichkeit in fachsprachlicher Weise. Dieses exklusive, wenn nicht sogar esoterisch wirkende Verfahren funktioniert, so wird es in Montag nahegelegt, unabhängig vom Gegenstand, über den gesprochen wird. Daraus lässt sich ableiten, dass auch Science Fiction im strengen Sinne beziehungsweise ihr cognition effect nicht von ihrem Gegenstand, sondern von ihrer Verfahrensweise abhängt. Innerhalb des Romans wird dies u.a. durch die Möglichkeit repräsentiert, in die fiktionalen Welten zu reisen. Wenn Realität und Fiktion nicht mehr kategorial, sondern graduell unterschieden werden, dann können sich Texte wie Montag auf literarische Welten als reale beziehen. Erkenntnisorientierung und cognition effect sind hier gar nicht mehr davon abhängig, was den Wissenschaften als ›harte‹ Fakten gelten. Die Strugatzkis integrieren also Märchenfiguren und Magie nicht nur für den komischen Effekt, sondern stärken die Position des (science-fiktionalen) Textes

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gegenüber einer außerliterarischen Realität. Demnach hängt (Science-Fiction-) Literatur ausschließlich davon ab, wie geschickt ihre Autoren/Texte die Verfahrensweise des cognitive estrangements einzusetzen vermögen. So steht beispielsweise ein sprechender, Wünsche erfüllender Karpfen nicht im Widerspruch zu einer solchen Konzeption, oder dass seine Kraft, Wünsche zu erfüllen, mit dem Alter nachlässt und er als Märchenfigur besser Märchengegenstände (z.B. Siebenmeilenstiefel) zuwege bringt als Fernseher oder Musikboxen.53 Diese Technik hat aber noch einen weiteren Effekt, denn sie erklärt auch die »heiligen Fakten« (Latour 2008, 11) für beliebig. Was in den Bereich der Fakten, dessen also, was interessant für die Wissenschaften ist, und in den Bereich der Mythen/Märchen/Fiktionen gehört, ist, wie bei Latour, Ergebnis einer ›Reinigungsarbeit‹. In Montag wird diese dadurch, dass sie rückgängig gemacht beziehungsweise übersetzt und übertrieben wird, als ebensolche ›Arbeit‹ und nicht als (einzige) ›Realität‹ sichtbar. In Lems Roman Die Astronauten erscheint Realität unproblematisch. Doch auch hier werden die Trennungen der Moderne und damit die Frage danach, wer Wissen herstellt und legitimiert, problematisiert, wenn auch nicht so offensiv wie in Montag. Beide Teile des Romans stellen Versuche dar, mithilfe wissenschaftlicher Methoden zu ergründen, welche Folgen die Konfrontation mit dem Unbekannten für die Menschheit haben könnte. Erde in Not erzählt von der Entdeckung des Gegenstands im Boden der sibirischen Taiga bis zur Entzifferung des »Rapports« und von einer Hypothese über deren Entsendungsgrund, während Das Tagebuch des Piloten die Expedition zur Venus begleitet, die schließlich zur Bestätigung der Hypothese und zur Entwarnung führt. Zwar erzeugt der Roman ›Spannung‹, indem die Möglichkeit eines (gewaltsamen) Kontakts mit der außerirdischen Zivilisation bis kurz vor Ende bestehen bleibt, dennoch liegt der Fokus eher auf der Faszination, die die Venus als terra incognita auf die Expeditionsteilnehmer ausübt. Dass sie zwar Neues sehen und sich beziehungsweise ihre Gesellschaftsform in den Hinterlassenschaften der Venusbewohner wiedererkennen, erzeugt erzählerische Geschlossenheit und bekräftigt einen Glauben in die Fähigkeit der Wissenschaften, ihre überlegene Position auch in der Konfrontation mit dem ›Anderen‹ zu wahren. Anders als in Der Montag fängt am Samstag an wird das Funktionieren der Strategie der Wissenschaften, »psychologische Schocks« (Montag, 60) zu vermeiden, nicht gefährdet. Jarze̦ bski attestiert Lems Roman deswegen »epistemische Starrheit«: »Da die grundlegende Entwicklungsformel aller Gesellschaften von vornherein bekannt ist, kann den Raumfahrern auf ihrer Reise grundsätzlich nichts begegnen, was ihre theoretischen Erwartungen einer ernsteren Prüfung aussetzen würde« (Jarze̦ bski 1986, 52). Tatsächlich reichen die Gemeinsamkeiten mit der fremden Kultur 53 | Vgl. Montag, 41.

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tief. Die Entzifferung der magnetisierten Spule, die im Tunguska-Gebiet gefunden wurde, erscheint im Vergleich mit der Übersetzung ›verlorener‹ menschlicher Sprachen unlösbar: »Überall dort aber gab es einen grundsätzlichen Gesichtspunkt: Der Schöpfer dieser unbekannten Sprachen waren Menschen gewesen, genau wie die Forscher; sie hatten einmal auf demselben Planeten gelebt, unter derselben Sonne hatten sie dieselben Gestirne, die gleichen Gewächse, das Meer schaut, und diese gleichen Daseinsbedingungen waren der Bildung allgemeingültiger Symbole günstig. Ganz anders lagen die Dinge jetzt. Welche Begriffe konnten diesen unbekannten Wesen und den Menschen gemeinsam sein?« (Astronauten, 29).

Schließlich wird eine so grundsätzliche Gemeinsamkeit gefunden, dass es gelingt, den »interplanetare[n] Brief« (Astronauten, 26) zu entziffern. »Ein Bindeglied nur gab es: die Materie« (Astronauten, 29). »Der erste ›Satz‹, der auf den Leuchtschirmen erschien, lautete: Silizium, Sauerstoff, Aluminium, Sauerstoff, Stickstoff, Sauerstoff. Das bedeutete also sinngemäß: Erde« (Astronauten, 31). So groß die Unterschiede zwischen den Zivilisationen sein mögen, so scheinen die Gemeinsamkeiten, die auf der Tatsache beruhen, dass beide materiell sind, das heißt auf denselben Elementen basieren, groß genug, um nicht nur den Text zu entschlüsseln, sondern auch innerhalb einer einzigen Mission begreifen zu können, warum es zur gegenseitigen Auslöschung einer ganzen Planetenbevölkerung kam. Unterschiede zwischen den Menschen und den Venusbewohnern sind aber nicht die einzige Trennung, die sich im Laufe des Romans, wenn auch nicht als unbedeutend, so doch als überbrückbar erweist. Die Gemeinsamkeit zwischen den beiden Kulturen reicht so weit, dass auch eine Trennung zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen nicht mehr sinnvoll ist. Nicht interdisziplinär zu arbeiten, führt in Die Astronauten unweigerlich zu falschen Ergebnissen und zu schweren Tadeln.54 Über Fachgrenzen und Nationalitäten hinweg entscheidet ein Gremium von ausschließlich Wissenschaftlern über die Interpretation des »Rapports« und über die darauf folgende Reaktion. Zwar läuft es auch in diesem Gremium nicht ohne Streit und Uneinigkeit ab, am Ende aber wird über das Vorgehen demokratisch entschieden (Astronauten, 51). Die Wissenschaftler sind hier gleichermaßen für die Erforschung der Nach­r icht, die Handlungsempfehlung und die Expedition auf die Venus erforderlich.55 Im entscheidenden Moment, angesichts der Frage, wer von ihnen wünscht, 54 | »Ich muß mein Bedauern ausdrücken, daß der Dozent Sturdy seine Partei nicht wenigstens durch einen Logiker verstärkt hat.« (Astronauten, 48) 55 | Von einer Regierung ›oberhalb‹ des »Obersten Wissenschaftlichen Rat[s]« (Astronauten, 52) ist nicht die Rede.

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gegebenenfalls an einer Expedition teilzunehmen, stellen die Männer unter Beweis, dass Differenzen im Ernstfall für sie keine Rolle spielen – und sie alle wie einer bereit wären, sich (auf) zu opfern. »Ein dumpfes Schnurren von Sesseln ließ sich vernehmen. Als ob sich alle verabredet hätten, bedienten sich die versammelten Wissenschaftler nicht der Abstimmungsapparate, sondern erhoben sich von ihren Plätzen, eine Reihe nach der anderen, bis der ganze Saal in Bewegung geraten war. Inmitten dieser vielen auf ihn gerichteten Augenpaare ließ der Vorsitzende, der sich ebenfalls erhoben hatte, seine Blicke von einem Gesicht zum anderen gleiten, erstaunt darüber, wie alle, Alte und Junge, vom gleichen Gefühl erfüllt, in diesem Moment einander ähnlich wurden. Seine Lippen bebten kaum merklich. ›Ich wußte es‹, flüsterte er. Dann richtete er sich hoch auf, um würdig zu sein, diesen Menschen in die Augen zu sehen, und sagte laut: ›Ich danke euch, Kollegen‹« (Astronauten, 53).

Diese Szene zeugt von dem intensiven Einsatz der Wissenschaftler, von denen offenbar jeder Einzelne bereit ist, die Sicherheit der Erde aufzugeben, sich (heldenhaft) auf den Weg ins Unbekannte zu begeben und nötigenfalls das eigene Leben zu gefährden, um die Erde und ihre Bewohner zu beschützen. Zwar wird bereits vermutet, dass die Gefahr in der Vergangen­heit liegt, aber die von Jarze̦ bski behauptete ›epistemische Starrheit‹ erweist sich zumindest als potenziell flexibel. Denn solange die Expedition noch in der Zukunft liegt, bleibt das Risiko einer Fehlinterpretation bestehen. Theorie und Praxis beziehungsweise These und Faktum bleiben solange getrennt, bis die Wissenschaftler in physischen Kontakt mit ihrem Gegenstand treten können. Dieses Bewusstsein leitet den ›Heldenmut‹ der Wissenschaftler, die Theorie zu verlassen und zu einem Teil der Praxis zu werden. Die Experten, welche schließlich die Besatzung des Raumschiffes bilden, das zur Venus reisen wird, und mit ihnen die Erzählung können diese Transgression jedoch nicht ohne ein weiteres Bindeglied vollziehen. Der Pilot Smith, Erzähler des zweiten Teils und (wissen­schaftlicher) Laie, muss für die Forscher nicht nur den Weg zur Venus überbrücken, sondern wird dort auch zum Bindeglied zwischen (Laien-)Leser und dem zu entdeckenden Neuen. In Jarze̦ bskis Interpretation spiegelt sich darin auch die Struktur des »Lemschen Diskurses«, der sich durch eine erzählerische Verdopplung von ungebundenem ›reinem Intellekt‹ und personalisierter ›reiner Leiblichkeit‹ auszeichne: »Diese Verdopplung ist am vollständigsten in den Astronauten durchgeführt, wo die beiden Teile mit einer unterschiedlichen Erzählweise arbeiten: im ersten Teil ist der Narrator-Mentor, im zweiten der naive Pilot Smith der Erzähler. Der narrative Bruch, der dort nur ein Kunstfehler zu sein scheint, erweist sich im weiteren Schaffen als ein konstitutives Merkmal des Lemschen Diskurses« (Jarz ę bski 1986, 52-53).

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Während Montag die Reinigungsarbeit thematisiert, in dem sie (als Anstrengung) sichtbar wird, zeigt Die Astronauten modellhaft das Gelingen wissenschaftlicher Arbeit. Das Gelingen von Forschung und gleichermaßen die fortgesetzte Existenz der Zivilisation wird hier jedoch an die Überwindung von Systemunterschieden gebunden. Der Montag fängt am Samstag an und Die Astronauten ähneln sich nicht nur darin, dass beide explizit Bezug auf das Tunguska-Ereignis nehmen, sondern dass die grundsätzliche Überwindung der Kluft zwischen wissenschaftlichen Disziplinen, vor allem aber der zwischen Experten und Laien, gelingt. In Picknick am Wegesrand hingegen wird diese Zusammenarbeit auf unterschiedliche Weise zum Scheitern verurteilt: »Picnic is unique among the Strugatsky’s major works in that the scientific theorizing is extremely important for the action, but the central figure is a completely uneducated man« (Csicsery-Ronay Jr. 1986, 26). Wie schwierig es (für die Wissenschaftler) ist, Aussagen über die Zone zu treffen, das ›scientific theorizing‹ also zu einem Ergebnis zu führen, wurde bereits weiter oben erläutert. Dem distanzierten (und so Slusser unverantwortlichen) Theoretisieren über ein zufälliges und für seine Verursacher vollkommen unbedeutendes Ereignis steht der konkrete Zugriff auf die Zone durch die ungebildeten Schatzgräber gegenüber. Während Geschäftsleute wie Nunnan und Journalisten zwar auch von der Zone profitieren, sind Wissenschaftler und Schatzgräber die einzigen, die in direktem Kontakt zur Zone stehen und davon ausgehend Wissen bilden können. Experten- und Laienwissen könnten jedoch unterschiedlicher nicht sein. Den Schatzgräbern wird nicht nur (aufgrund mangelnder Ausbildung) abgesprochen, legitimes Wissen über die Zonen zu bilden und zu verbreiten. Das Betreten der Zone und insbesondere das Entfernen der Gegenstände sind ihnen unter Strafe verboten. Trotzdem ist die Frage nach Legitimität und vor allem nach der Anwesenheit des Schatzgräberwissens gegenüber den wissenschaftlichen Thesen damit nicht entschieden. Vielmehr führt Picknick am Wegesrand anhand dieser Gegenüberstellung verschiedene Modi der Wissensbildung vor: Theorie und Praxis, Objektivität und Subjektivität, These und Erfahrung sowie Faktum und Folklore. Die Unterschiede betreffen dabei jeden Bereich der Wissensbildung. Subjekt, Objekt, Methode, Benennung und Verbreitung sind gleichermaßen davon abhängig, wer welches Wissen mit welchem Ziel zu gewinnen sucht. Besondere Brisanz gewinnen die verschiedenen Wege dadurch, dass Wissen und der richtige Umgang damit in Picknick über Leben und Tod entscheiden. Auf der sicheren Seite steht die Art und Weise wie Nobelpreisträger Pillman sich der Zone nähert beziehungsweise eben nicht nähert. Seine Wissenschaft bleibt ausschließlich auf theoretische Berechnungen beschränkt, über die hinaus er nichts mit der Zone, dem Besuch oder gar den Besuchern zu tun haben will. Seine Theorie vom Picknick am Wegesrand zeugt davon, dass er diese Form des (Nicht-)Zugriffs auf seinen Gegenstand universalisiert, indem

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er seine Art der Wissensbildung (theoretisch-wissenschaftlich), dessen Verbreitung (in erster Linie wissenschaftliche Publikation) und dessen Reichweite (einerseits Faktizität, andererseits auf Fragestellung und Daten begrenzte Aussagekraft) als einzig legitime präsentiert und den Zutritt der Schatzgräber missbilligt, ohne deren Existenz explizit anzuerkennen.56 Wissenschaftliches Wissen wird in Picknick hergestellt und geordnet, nicht bildreich erzählt und mit (persönlichem und finanziellem) Wert belegt. Das wird schon an den Namen der ›Gegenstände‹ (Wissenschaftler) beziehungsweise des ›Ramschs‹ (Schatzgräber) deutlich: »Seeking to understand this visitation, humans have overturned tradition and simultaneously reawakened it. Scientists and technicians adapt the objects to revolutionary ends. But the ›stalkers‹ inversely, move back into the realm of myth, of folk nomenclature. What one calls ›collodial gas‹, the other calls ›witches‹ jelly‹« (Slusser 1989, 17).

Während die Schatzgräber den Dingen Namen aus pragmatischen Gründen geben, um darüber reden und vor allem damit handeln zu können, bedeutet Benennung, wie auch Roderic (Red) Schuchart feststellt, für die Wissenschaftler, die Dinge verfügbar zu machen. Die Art und Weise, wie Pillman sowohl mit dem Interviewer als auch mit Nunnan spricht, lässt keinen Zweifel an seinem Glauben an die Überlegenheit seiner Aussagen zu. Persönliches Engagement oder gar Wissenschaftlerhelden wie in Die Astronauten sind für Pillman nicht nur undenkbar, sondern unprofessionell. Ganz im Gegensatz dazu steht die Begeisterung des jungen Wissenschaftlers Kirill. Er begeistert sich für alles, was in der Zone zu finden ist, und erkennt das Wissen des älteren und vor allem erfahreneren Red an, der zu Beginn des Romans für ihn arbeitet. Seine Begeisterung für den Gegenstand ist so groß, dass er selbst den zynischen Schatzgräber mitreißt.57 Für einen Moment sieht es so aus, als sei eine Zusammenarbeit oder sogar gegenseitige Anerkennung zwischen Laien und Experten möglich. Tatsächlich verkehrt sich die Situation, denn es ist der Schatzgräber, der den jungen Wissenschaftler führt und im Gegensatz zu ihm etwas über die Gegenstände in der Zone ›weiß‹. Nicht nur Wissenschaftler wie Pillman halten ihre Form des Wissens für die ›richtige‹, sondern auch ein Praktiker wie Red Schuchart, der Kirill zwar wertschätzt, aber auch für naiv hält und seinen Umgang mit Benennungen belächelt: »So waren sie alle, die Intellektuellen, Hauptsache, das Ding hatte einen Namen. Solange es ihn nicht hatte, zogen sie ein Gesicht wie 56 | Vgl. Picknick, 10. 57 | Vgl. Picknick, 11-13. »Doch ob man mir’s glaubt oder nicht, in diesem Augenblick dachte ich mit keiner meiner grauen Zellen an die Moneten, so aufgelebt war Kirill.« (Ebd., 11)

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der letzte Trottel. Jetzt wo er seine Gravikonzentrate hatte, war ihm [Kirill, SN] gleich alles klar und das Leben viel leichter« (Picknick, 30). Doch der Besuch in der Zone wird für den jungen Wissenschaftler zum Verhängnis. Er kommt in Kontakt mit einer Substanz (»Spinnweben«), deren Effekt auch Schuchart nicht kennt. Die Überlegenheit des Schatzsuchers erweist sich aber nicht als abhängig von seinen Detailkenntnissen, sondern von seiner Erfahrung (inkorporiertes Wissen) mit und in der Zone, die ihn gelehrt hat, nicht seiner Neugierde nachzugeben und niemals den Respekt vor dem Unbekannten zu verlieren.58 Darauf zu vertrauen, dass jemand anderes die Spuren liest, oder zu großes Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit, bedeutet für den Schatzgräber, den stalker (Jäger), den sicheren Tod. Kirill ist nicht der einzige junge, begeisterungsfähige Mann, den dieses Schicksal ereilt. Auch Arthur, der Sohn des ›Aasgeiers‹ Barbridge, kommt zu Tode, weil er nicht auf den ›Rotfuchs‹ Schuchart hört und alles um sich herum vergisst, als er sich der ›goldenen Kugel‹ nahe glaubt, und darauf vertraut, dass Schuchart ihn retten würde (Picknick, 185). Diejenigen, die erfolgreich im Umgang mit der Zone sind, also die, die den Kontakt mit ihr überleben, tun dies, weil sie sich von ihr und auch von sich selbst distanzieren. So gesehen sind Pillman, Nunnan und Schuchart gleichermaßen ›objektiv‹, obwohl sie in vollkommen unterschiedlicher Beziehung zur Zone stehen. Obwohl die Zone inmitten der Stadt liegt, ihre Existenz die Welt verändert hat (oder haben muss) und obwohl sie allgegenwärtig ist, ist skeptische Distanz, möglicherweise sogar Ignoranz, der einzige Weg, das eigene Überleben zu sichern. Das Ende jedoch verweigert es, diesen Eindruck als Lösung zu verstehen. Denn auf seiner letzten Tour in die Zone muss selbst Schuchart seine skeptische Haltung aufgeben. Im Moment des Erfolgs, dem Erreichen der goldenen, Wünsche erfüllenden Kugel, bleibt ihm, der über Leichen ging, um dorthin zu gelangen, nur ein Wunsch: »Der Teufel soll mich holen, aber mir fällt tatsächlich nichts anderes ein als seine Worte: Glück für alle, umsonst, niemand soll erniedrigt von hier fortgehn!« (Picknick, 188) Mit diesen Worten endet die Erzählung und lässt offen, ob der Schatzgräber daran zugrunde geht, dass er zuletzt doch schwach wird, oder ob das utopische Potenzial des Besuchs zu Realität werden kann. »Roadside Picknick is self-referential, its narrative production determined by the structural impossibility of producing that Utopian text which it nonetheless miraculously becomes. What we must cherish in this text […] is the unexpected emergence, as it 58 | Über einen anderen Mann, den Kirill zur Begleitung in die Zone vorschlägt, sagt er: »Austin ist an sich nicht übel, Mut und Furcht halten sich bei ihm in den richtigen Proportionen, nur ist er meiner Meinung nach gezeichnet. Kirill werd’ ich das nicht klarmachen können, ich jedoch seh’s genau: Austin bildet sich ein, die Zone durch und durch zu kennen – und gerade das bedeutet, er wird sich schon bald den Hals brechen« (Picknick, 14).

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Die Produktion der Katastrophe were, beyond ›the nightmare of History‹ and from out of the most archaic longings of the human race, of the impossible and inexpressible Utopian impulse here none the less briefly glimpsed: ›Happiness for everybody! […]‹« (Jameson 1982, 157).

Experten und Laien sind in dieser Erzählung, wie sich besonders am Ende zeigt, nicht notwendigerweise mit Wissenschaftlern und Nicht-Wissenschaftlern identisch, sondern durch professionelles, das heißt distanziertes Verhalten charakterisiert. Keine Wissensform gewinnt insofern, als sie die andere aussticht; ob man von »Fliegenklatsche« oder »Gravikonzentrat« spricht, ist vielmehr abhängig vom eigenen Interesse am Gegenstand. Nur eins darf nicht passieren oder, eben das lässt das Ende unbestimmt, gerade dies muss passieren: sich auf den Gegenstand mit Geist und Seele einzulassen. STALKER (UdSSR 1979), Andrei Tarkowskis Adaption von Picknick am Wegesrand, konzentriert sich auf die Gegenüberstellung der Zone und ihrer Außenwelt beziehungsweise ihres Zugangs zu ihr. Der Stalker führt Menschen in die Zone hinein. Es scheint lohnenswert, den Gefahren zu trotzen, weil sich im Zentrum des verbotenen Gebiets ein »Raum der Wünsche« befindet, der die innersten und geheimsten Wünsche derjenigen, die ihn benutzen, Wirklichkeit werden lässt. Obwohl auch hier die Zone (vermutlich) das Resultat eines Kontakts mit einer außerweltlichen Ordnung ist, liegt der Akzent noch stärker als in der Erzählung der Brüder Strugatzki auf einer inneren Reise.59 Bemerkenswert ist hier vor allem die Zuspitzung, dass der Stalker einen Wissenschaftler und einen Schriftsteller in die Zone führt. Die Vertreter der beiden Kulturen brauchen den Stalker als unabhängigen Dritten, um ihr Ziel zu erreichen, entscheiden sich jedoch am Ende dagegen, den Raum der Wünsche überhaupt zu betreten. Die Zone als mysteriöse Spur eines Eingriffs von (ganz) außen führt auch hier zunächst zu einer Infragestellung des eigenen Inneren. Selbst den Experten bleibt die Zone unverfügbar und ihnen bleibt nichts anderes übrig, als den Raum abzuschotten und ihn als Konfrontation mit ihrem eigenen Nicht-Wissen zu akzeptieren. »[…] was es war? Der Fall eines Meteoriten? Ein Besuch von Bewohnern des menschlichen Kosmos? Wie auch immer, in unserem kleinen Land entstand das Wunder aller Wunder – die ZONE. Wir schickten sofort Truppen hin. Sie kamen nicht zurück. Da umzingelten wir die ZONE mit Polizeikordons […] und haben wahrscheinlich recht daran getan […] im übrigen – ich weiß nicht, ich weiß nicht […]« (Prolog, STALKER, UdSSR 1979).

Das Risiko, einen Raum zu betreten, der die geheimsten Wünsche erfüllt, ist damit qua Funktion nicht rational einzuschätzen. Die Zone wird so in beiden Versionen zu einem Raum, der nicht über das Indexparadigma zugänglich ist, 59 | Vgl. Žižek 1999.

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sondern dem Entzugsparadigma gehorcht und als »authentische Spur« die (rationale) Ordnung der Welt stört. Für die Wissenschaftler in Solaris sollten diese Fragen eigentlich kein Problem sein. Auch wenn es Amateure gibt, die sich spekulativ in die Solaristik einmischen, sind diese weit entfernt, nicht nur von den Institutionen, sondern vor allem vom Planeten Solaris. Betrachtet man die Solaristik, so wirkt es jedoch, als ob trotz aller Probleme in Bezug auf die Einordnung des Lebewesens und das bisherige Scheitern einer Kontaktaufnahme zumindest die institutionell notwendigen Maßnahmen und Regelungen greifen und die Wissenschaft, wenn auch langsam, ihren Gang geht. »The theories recapitulate the development and eventual stagnation of each new line of scientific inquiry in turn; and indeed, in the immense logical variety of the theories and schools and the extraordinary ingenuity and mental energy invested in them, Lem has given us a virtual representation of science itself, ›hard‹ science and not just knowledge, with a miniature sociology of the scientists, a history of their funding, and an account of the role of experimentation and of scientific publication as well. This history of an imaginary science […] extends the drama and implications of this particular ›first contact‹ far beyond an ingenious contribution to that particular sub-genre of SF and makes it over into a metaphysical [109] parable of the epistemological relation of the human race to its not-I in general: where that not-I is not merely nature, but another living being« (Jameson 2007, 108-109). 60

Doch genau darin besteht das Problem. ›Hard Science‹ zu betreiben, mag für die Solaristik kein Problem sein, doch was Jameson hier als ›just knowledge‹ abtut, kann nicht zustande kommen, weil Solaris von den Menschen (als Wissenschaftler und als ›bloße‹ Menschen) zu weit entfernt ist und sie zugleich sozusagen absorbiert. Picknick am Wegesrand konfrontiert die Menschen mit einer Veränderung ihres eigenen Planeten in ihrer unmittelbaren Nähe, doch Distanz aufzubauen, erweist sich als überlebensnotwendig und, solange man die Zone nicht betritt, in Form von Indifferenz als leichte Übung. Solaris hingegen ist nicht nur fremd, sondern auch so weit entfernt, dass es zunächst ein Problem scheint, überhaupt Nähe herzustellen und Kontakt zu ermöglichen. Doch das 60 | »[Solaristics] so convincingly establishes the material reality of the science – its greater and lesser names, its research articles and encyclopedic tomes, its scholarly controversies and vulgar popularizations, its shifting orthodoxies and occasional heresies, its many well-trained professionals and few inspired amateurs, and above all its sheer weightiness – that large stretches of the novel […] bear the generic imprint of scientific and intellectual history. This is so strongly true, indeed, that it is with something of a shock that the reader remembers that Solaristics does not, after all, really exists.« (Freedman 2000, 97)

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Gegenteil ist der Fall. Die Wissenschaftler, insbesondere die, die sich auf Solaris befinden, sind nicht in der Lage, von sich selbst abzusehen, wenn sie mit dem absolut Fremden konfrontiert werden. Objektivität stellt sich hier als Fallstrick heraus, denn das auf der Erde bereits fragile Konstrukt erweist sich angesichts des wirklich Anderen nicht nur als anmaßend, sondern als gefährlich. »Die Suche nach ›Zeichen‹ innerhalb der physischen Erscheinungen, das aufspüren einer bewußten Intention innerhalb der Ordnung des Universums wird zu einem spezifischen Merkmal nicht nur der Solaristik, sondern der Wissenschaft schlechthin, die sich von der teleologischen Verfahrensweise des Denkens nicht freimachen kann und ergebnislos nach einer universalen Formel sucht, die das Wesen der Welt und des Menschens umfassen würde« (Jarze̦ bski 1986, 92).

Wo Objektivität auf der Erde als pragmatisches Konstrukt seinen Zweck erfüllen mag, schränkt sie hier die Wahrnehmungsfähigkeiten der Forscher empfindlich ein. Zunächst steht infrage, ob sie unter Halluzinationen leiden, und ihre Entfernung von der Erde respektive ihre Nähe zu Solaris macht es beinahe unmöglich, die eigene Wahrnehmung zu überprüfen. Kelvin unternimmt den Versuch herauszufinden, ob Harey, die Frau, die plötzlich auftaucht und seiner verstorbenen Ehefrau bis aufs Haar gleicht, wirklich seine Frau ist, obwohl er zunächst davon überzeugt ist zu träumen. Festzustellen, dass er das offenbar nicht tut, beunruhigt ihn zutiefst: »Obwohl ich darauf gefaßt war (da ich fortwährend instinktiv mitten im Unmöglichen nach Fetzen von Logik suchte), wurde mir übel« (Solaris, 73). Ein Traum, »bei dem man weiß, daß man träumt« (Solaris, 70), mag beunruhigen, aber man muss ihn nur zu Ende träumen (Solaris, 72). Zu wissen, dass man etwas nicht träumt, was unmöglich ist, muss einen am eigenen Verstand zweifeln lassen. Sein ein drastischer Versuch, die Ordnung wiederherzustellen, indem er Harey mit einer Rakete von sich wegschickt (86), scheitert, weil sich das »Gastspiel« (Solaris, 90) wiederholen wird. Harey »kommt wieder, ohne wiederzukommen« (Solaris, 91). Auf Solaris ist es den Wissenschaftlern nicht möglich, das, was ihnen widerfährt, als Wirklichkeit außerhalb ihres begrenzten Kreises zu kommunizieren und zu legitimieren, weil es nach den auf der Erde etablierten Maßstäben nicht sein kann und nicht sein darf. Seine Ergebnisse sind nicht unabhängig zu überprüfen oder gar zu wiederholen, können also nicht wahr sein, obwohl gilt: »Once (positivistic or other) dogmatism has been rejected, verification can never be unambiguously attained on the purely logical level; on that level the solipsistic hypothesis can never be rejected with complete certainty« (Freedman 2000, 102).61 61 | Daniel Walker interpretiert Solaris in diesem Sinne als Text, der ›scientism‹ (dogmatische Wissenschaft, die jeden anderen Wissenstyp ausschließt und deswegen keine

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Anstatt sich aber, wie es Der Montag fängt am Samstag an verlangt, mit genügend Fantasie und Humor dem Gegenstand zu nähern oder ihn aus sicherer Distanz zu betrachten, verliert sich hier die Grenze zwischen Wissenschaftler und Forschungsobjekt. Das Vorhaben der Menschen, den ›intelligenten Ozean‹ zu verstehen, ist nicht nur gescheitert, sondern hat sich möglicherweise sogar in sein Gegenteil verkehrt. »Is the Ocean punishing or torturing its guests? The suggestion shows that even now, faced with this overwhelming new information about Solaris, humans remain the prisoners of an anthropomorphic philosophical system. They seem unable to judge Solaris according to any other coordinates than those of Carl Schmitt – friend or foe – and of Kant himself – pleasure or pain« (Jameson 2007, 111).

Vielleicht hat der Ozean beschlossen die Menschen, die sich nun in seiner Nähe befinden, zu verstehen und, über seine Neutrino-Reproduktionen ihnen nahestehender Menschen, mit ihnen zu kommunizieren. Es muss ihm nicht klar sein, dass diese Art der Kommunikation sie verletzt und in existenzielle Not bringt. »The quandary is clear here. On the one hand, human beings are not content with objective impressions. They must read intentions and causes into them – in this case, posit that the Ocean ›grasped‹ Kelvin’s mind and acted in the wishes of a secret ›self‹. But on the other hand, if this is true, then contact is a triumph that can only bring epistemological anguish« (Slusser 1989, 7-8).

Unter diesen Umständen ist eine Unterscheidung in Laien und Experten, Verrückte und Gesunde, Fakt und Fiktion gar nicht mehr im Rahmen des Denkbaren. Wenn nur gerade eben noch zwischen Mensch und Reproduk›echte‹ Wissenschaft sein kann) ad absurdum führt: »What makes Solaris so successful is the way in which Lem unifies the theme of anti-scientism through the masterfully crafted relationship between aspects of the representation of scientism and the very human consequences of living a scientistic life« (2007, 162). »Lem succeeds in doing two remarkable things: 1) He gets the reader to practice scientism, that is he pushes the reader to try and figure the Ocean out using their own grasp of science; and 2) He gives the reader scenes of wonder and beauty on both a grand, fantastic scale, as well as on a very intimate scale« (ebd., 163). Walkers Interpretation betrifft dabei allerdings nur diesen einen Aspekt und lässt außer Acht, dass schon die räumliche, aber auch die soziale Situation und nicht einzig ihr Wille zum Dogmatismus den Solipsismus der Forscher begründen. Die Möglichkeit, offen zu denken und verschiedene Wissenstypen zuzulassen, ist hier schlicht nicht gegeben, sodass Walkers Perspektive sich als eingeschränkt erweist.

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tion unterschieden werden kann, dann ist wissenschaftliche Methode kein Exklusionsmittel mehr, sondern das einzige, woran sich Kelvin festhalten kann. »Though it does not allow him (or us) to refute solipsism on the merely contemplative level, the act of scientific experimentation does provide him with a practical verification of his own sanity, thus allowing him to reject madness as a sufficiently unlikely hypothesis« (Freedman 2000, 102). Was auf dem Spiel steht, ist aber nicht nur die Möglichkeit, zu einem Ergebnis zu gelangen und ihm den Status eines wissenschaftlichen Faktums zu verleihen: »Lem’s view of science is not scandalized but complicated […] Science, as Lem constructs it, has little to satisfy those precritical minds (a category that, of course, includes at least parts of all minds) that hunger after certainty and finality« (Freedman 2000, 99). Solaris führt vor, dass ›Verstehen‹ nicht nur in Bezug auf Wissenschaftlichkeit zu einem Problem werden kann, sondern in der Moderne nur die institutionalisierten Methoden des Verstehens Wirklichkeit schaffen. Es sind also nicht nur »precritical minds«, deren Anspruch auf Wissen in Bezug auf Solaris unbefriedigt bleibt. Alle Versuche, Erkenntnis zu gewinnen, festzuhalten und zu kommunizieren, müssen an diesem ›Gegenstand‹ scheitern. Akzeptierte man dieses Scheitern, würde nicht nur der Roman unlesbar werden,62 sondern Realität als Konzept der Moderne selbst geriete in Gefahr, weil die Trennungen der Moderne nicht überwunden werden könnten. So ist es in Solaris nicht nur möglich, sondern auch notwendig ›hard science‹ darzustellen, ohne dass ›just knowledge‹ zustande kommen kann.

D ie P roduk tion von Z ukunf t Die Konstruktion von Wissenschaftlichkeit und Wissensbildung spielt in allen vier hier vorgestellten Texten eine zentrale Rolle. Anhand des TunguskaEreignisses beziehungsweise seiner Eigenschaften und Strukturmerkmale werden Szenarien entworfen, die sich nicht auf eine Kritik an den Wissenschaften oder ihrer Methodik begrenzen lassen. Wenn es sich, wie zu Beginn behauptet, um Science Fiction handelt, dann wäre die Darstellung moderner Wissenschaften für sich genommen in der Tat banal. Trotz der zentralen Rolle, die Wissenschaft und Fortschritt als Themen der Science Fiction spielen, geht es eben nicht um Kommentar und Reproduktion derselben oder darum, einen Blick in die Zukunft zu werfen. Diese Beziehung wäre nicht mehr als parasitär und ist, wie bereits gezeigt wurde, schon früh verworfen worden. Versteht man Science Fiction jedoch als Literatur, die von sich selbst als solcher weiß und »in a complementary and dialectical relationship to high culture or modernism« (Jameson 1982, 149) steht, dann steht die Reflexion der genannten Themen in 62 | Vgl. Freedman 2000, 102f.

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einem weitaus komplexeren Zusammenhang. Jameson, obwohl er an dieser Stelle noch immer in Kategorien von Kanonisierung spricht, stellt fest, dass »the apparent realism, or representationality, of SF has concealed another, far more complex temporal structure: not to give uns ›images‹ of the future […] but rather to defamiliarize and restructure our experience of our own present, and to do so in specific ways distinct from all other forms of defamiliarization« (Jameson 1982, 151). Die in Texten der Science Fiction produzierten Bilder von Wissenschaft, Fortschritt und Zukunft sind also nicht nur keine Spekulationen darüber, wie es einmal sein wird, sondern ein Modus der Verfremdung, der eben nicht darauf abzielt, Zukunft zu zeigen, wie sie sein könnte, sondern Gegenwart zu zeigen, wie sie nicht ist. Vergangenheit und Zukunft lassen sich demnach nicht auf einem nur in eine Richtung verlaufenden Zeitpfeil einordnen, wie es das Konzept des Fortschritts suggeriert. Science Fiction kann nicht nur die Richtung der Zeit, wie in Der Montag fängt am Samstag an, sondern auch ihr Fortlaufen und ihre Existenz als einzige Zeit aktiv infrage stellen. Im Zentrum der Science Fiction, so lässt sich argumentieren, stehen Wissenschaft, Fortschritt und Zukunft also nicht allein als Themen, sondern darüber hinaus als zu befragende Konzepte; Konzepte anhand derer die moderne Auffassung von Zeitlichkeit in Zweifel gezogen werden kann. So lässt sich auch das verhältnismäßig naive, weil nicht im Text problematisierte Zukunftsbild Lems in Die Astronauten differenzieren. Denn im Gegensatz zu späteren Texten Lems präsentiert dieser Roman ein unproblematisches Bild von Zeitlichkeit und Fortschritt. Lems eigene Kritik an der Darstellung von ›Zukunft‹ macht deutlich, inwiefern es zu kurz greift: »Und schließlich das Jahr zweitausend […] Aus der Perspektive der fünfziger Jahre erschien es mir eine so weit entlegene Zukunft, daß man in ihr optimistische Träumereien von einer friedlich geeinten Welt unterbringen konnte. Jetzt aber, da es von Heeren gelehrter Futurologen aufs Korn genommen wird, gebietet es dem Optimismus Zurückhaltung und Dämpfung früherer, allzu naiver Hoffnungen« (Astronauten, 7).

Hier wird nahegelegt, dass die Zukunft der Astronauten einzig als Raum für die Projektion ›allzu naiver Hoffnungen‹ dient. Es handelt sich also um eine der Visionen, die Jameson als »themselves now historical and dated« (Jameson 1982, 151) beschreibt. Diese Feststellung lässt sich sowohl extradiegetisch als auch intradiegetisch belegen. Denn weder, das war Lem bereits 1978 klar, ist, oder besser, war es im Jahr 2003 möglich, einen anderen Planeten zu bereisen, noch hat sich nach dem Ende des Kalten Krieges die Weltgemeinschaft zu einer friedlichen und einigen Wissen(-schaft-)sgesellschaft entwickelt. Intradiegetisch stellt sich die Gefahr einer Invasion, von der das Tunguska-Ereignis

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zeugt, ebenfalls als überholt heraus. Lem unternimmt einen ›Rettungsversuch‹, indem er seinen Roman zu einem historischen Dokument erklärt: »Die zahlreichen Abschnitte indessen, deren rein sachliche Unrichtigkeit die Zeit festgenagelt und entblößt hat, sind vielleicht nicht wertlos, weil sie am Ende eine recht interessante Untersuchung der Beziehungen zwischen dem Schwung der in die Zukunft gerichteten Vorstellungskraft und ihrem Rivalen und Gegner, der Wirklichkeit, erlauben« (Astronauten, 8).

Der technische Fortschritt, so Lem weiter, gewinne schon qua Geschwindigkeit das Rennen gegen die Fantasie. Als letzte Bastion der Bedeutsamkeit benennt er den Unterhaltungswert des Romans und, wie bereits erwähnt, die noch immer aktuelle Bedrohung durch Atomwaffen (und -energie). Lems Gewichtung von Fortschritt und Fantasie beziehungsweise Science und Fiction fällt hier ganz klar zugunsten der Wissenschaften aus. In diesem Sinne kann Science Fiction immer nur solange Gültigkeit beanspruchen, bis ihre ›rein sachliche Unrichtigkeit‹ von der Zeit ›festgenagelt‹ wird. Dabei entgeht ihm, dass er selbst, in dem er auch diese Abschnitte als nicht wertlos erklärt, bereits eine Lesart vorschlägt, die der Science Fiction eher gerecht wird: nämlich Die Astronauten als historisches Dokument zu lesen, das seine eigene Gegenwart verfremdet und restrukturiert.63 Die ›allzu naiven Hoffnungen‹, die in die Zukunft projiziert werden, beziehen sich nicht nur auf die technologischen Möglichkeiten der Energieversorgung und Raumfahrt, sondern vor allem auf den in der Vergangenheit des Romans liegenden Ausgang des Kalten Krieges. Ohne dass erklärt würde, wie es dazu kam, wird eine friedliche und vor allem vereinte Welt präsentiert, die ihr Gegenteil nicht nur auf der Venus, sondern auch in der eigenen Vergangenheit findet: »Die Bewohner der Venus besaßen eine hochentwickelte Kultur; aber all die vorzüglichen Konstrukteure und Baumeister unter ihnen hatten sich und ihr ungeheures Können in den Dienst der Vernichtung gestellt. Eine solche Gemein­s chaft von Lebewesen musste sich früher oder später gegen sich selbst kehren. Denk an gewisse Analogien in unserer eigenen Geschichte« (Astronauten, 280).

Die Wissenschaftler des Romans erklären die Analogien mit einer universellen conditio humana beziehungsweise mit Gesetzen, »denen die Geschichte vernunftbegabter Wesen unterworfen ist« (Astronauten, 284). Es handelt sich dabei nicht um ein Schicksal, sondern um in der Materie und in der daraus emergierenden Vernunft angelegte Gesetzmäßigkeiten, die das Handeln und 63 | Vgl. Jameson 1982, 151.

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damit letztlich die Geschichte einschränken. Diese ist also nicht vorbestimmt, sondern ein komplexes, gleichsam mechanisch codiertes System und Ausdruck gleichsam hegelianischer Geschichtsphilosophie. Die zeitliche Struktur des Romans Die Astronauten erlaubt es nun, dieses System von seinem Ende oder vielmehr von zwei entgegengesetzten Zuständen aus zu betrachten. ›Naive Hoffnungen‹ drücken sich also insofern aus, als der technologische Fortschritt auf der Erde als produktiv gegenüber dem destruktiven Modell der ›Anderen‹ charakterisiert wird. Venus und Erde liegen nur potenziell (in der Vergangenheit beider) miteinander im (System-)Streit und das zu einem Zeitpunkt, an dem die (technologische) Kultur der Erde noch vergleichsweise rückständig war. Ohne die Naivitätsbehauptung Lems hier zu bewerten, lässt sich doch feststellen, dass Die Astronauten konform mit der Logik des Kalten Krieges, also der Gegenwart seiner Entstehungszeit, funktioniert. Eva Horn beschreibt den Schalter als »eines der schönsten Embleme« für diese Zeit: »Wo das Umschalten von Frieden auf Krieg durch die 90-GradDrehung eines Schlüssels möglich ist, werden beide Aggregatzustände des Politischen die Effekte eines gemeinsamen maschinalen Dispositivs, das nicht ›Frieden‹ heißt, sondern ›Krieg‹« (Horn 2004, 310). Die Astronauten imaginiert in ebendieser Logik die irdische Utopie und den Untergang der Venusbevölkerung als zwei Zustände desselben Systems: des (vernunftbegabten) Lebens. Er geht dabei aber über die Gedankenexperimente des hypothetischen »War Games« hinaus, insofern als hier nicht der Krieg das Gedankenexperiment ist,64 sondern Vergangenheit zum Ausgangspunkt für ein solches wird. So gelesen handelt es sich bei Die Astronauten sogar um ein Gedankenexperiment im strengen Sinne, weil es die Wirklichkeit nur in einem beziehungsweise in sehr wenigen Punkten verändert – in der Konzeption seiner Gegenwart, in der Wissen die höchste Ressource ist und nicht Soldaten, sondern Zivilisten Helden sind, hält sich der Text streng an die Regeln seiner Zeit.65 Diese einfache Konstruktion, die auf der dichotomischen Gegenüberstellung von Modellen wie Ost/West, Freund/Feind, Frieden/Vernichtung beruht, hat sich nicht nur im Verlauf der außerliterarischen Geschichte als simplizistisch erwiesen, sondern wird auch in Picknick am Wegesrand infrage gestellt. Die Konfrontation wird hier nicht durchgespielt oder gar gelöst. Stattdessen wird das »Kriegsspiel an seine theoretischen Grenzen« gestoßen, indem die Unterscheidung von Freund und Feind verweigert wird und somit ein gänzlich undurchschaubarer, möglicherweise irrationaler, in jedem Fall aber kulturell 64 | »[Der kalte Krieg] ist ein Krieg, der sich selbst als bloße Möglichkeit, als Hypothese entwirft. Ein virtueller Krieg, der gerade in dieser Virtualität – als drohende, aber nicht realisierte Möglichkeit – eine ungeheure Intensität des Denkens, Forschens und Spekulierens über den Feind ins Werk setzt« (Horn 2004, 312). 65 | Vgl. ebd., 312.

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völlig fremder Gegner angenommen werden muss.66 Die ›Theorie vom Picknick am Wegesrand‹ geht sogar darüber hinaus, indem sie die Menschen mit ihren Vorstellungen von Freund und Feind, Gut und Böse allein lässt.67 Die Zonen bilden den Beweis für die Existenz eines Anderen, das, anders als der Feind, den man kennt, nicht verfügbar und dennoch ständig präsent ist. So werden sie zum Mahnmal des »catastrophic encounter«, dessen katastrophische Qualität nicht in Opferzahlen oder Schaden zu messen ist, sondern darin besteht, dass auf das Ereignis selbst, den Besuch beziehungsweise die Besucher, nicht zugegriffen und also auch nicht darüber verfügt werden kann.68 Die Bedeutung des Katastrophischen verschiebt sich so vom (temporalen) Ereignis auf den Raum der Zonen. Deswegen scheitern nicht nur die Wissenschaften daran, sondern auch Versuche einer utopischen Deutung. So erklärt sich auch, über die physische Gefahr hinaus, warum Distanz zur lebensrettenden Haltung im Umgang mit der Zone wird und warum »the characters of Picnic live in the dreary middle of existence, unable to see out of their own world even after they have been given sure signs that other worlds exist« (Csicsery-Ronay Jr. 1986, 24). Die katastrophische Konfrontation mit dem »full empty«, also der Tatsache, dass die Beweise für die Existenz einer anderen Welt im wahrsten Sinne überall verstreut sind, aber dennoch unerklärbar bleiben, gefährdet nicht nur die physische Existenz,69 sondern auch den Verstand von außen und innen gleichzeitig. Darin ähnelt die Zone auf verblüffende Weise dem ›denkenden Ozean‹ Solaris:

66 | Vgl. ebd., 314. 67 | »In the Strugatskys’ universe, however, humankind and nature are not separated in this Cartesian manner, any more than medium and message are. The moral muddle is the medium in which their characters operate, their only way to knowledge. […] There is no stepping beyond good and evil, for these, as equal and opposite forces, contain the entire universe, human and non-human ›nature‹ alike« (Slusser 1989, 24; Hervorherbung im Original). 68 | »Catastrophic encounter with the full empty happens to utopians and men of science alike in this novel« (ebd., 25). 69 | Selbst der erfahrene Roderic ›Red‹ Schuchart leidet unter den Konzequenzen seiner Touren in die Zone. Dass er Zeit im Gefängnis verbringen muss, ist dabei das kleinere Übel, denn seine kleine Tochter weist Mutationen auf und scheint sich, je älter sie wird, immer mehr in ein ›Äffchen‹ (so ihr Spitzname) zu verwandeln. »Ball, zone, town: holes within holes. And what is dumped through them goes – simultaneously – into the future and the past. Any attempt to use these devices to spread the sensorial body encounters an equal and opposite current in Picnic – a pervasive devolution of the body« (Slusser 1989, 22).

II.1 Science und Fiction »Like Solaris, the Zone is a place of otherness, explored and speculated on, but ultimately not understood. […] In Picnic the alien seems to come simultaneously from outside – it ›visits‹ humankind – and inside, as if it were a natural outgrowth of human institutions and society. The text may have a Lem-like problem, but this ambivalence gives it a very different epistemological ›feel‹. One reason for this difference is the use, as vector, of a generic form quite different from Lem’s. For Solaris the vector is the space adventure« (Slusser 1989, 17).

Der Unterschied zwischen Solaris und der Zone beziehungsweise dem Besuch liegt aber nicht nur darin, dass Solaris isoliert (weit weg) ist, während die Zonen sich auf der Erde befinden, ohne ein Teil von ihr zu werden. Das »very different epistemological ›feel‹« kommt dadurch zustande, dass die (in beiden Fällen vage) temporale Struktur beziehungsweise die Beziehung von Raum und Zeit sich deutlich unterscheidet. Kris Kelvin und den anderen Wissenschaftlern auf Solaris sowie der Solaristik als Disziplin bleibt nichts anderes übrig, als sich weiterhin ihren Konventionen gemäß zu verhalten, auch wenn diese sich als nicht zielführend erwiesen haben – zumindest sofern man die Herstellung gesicherten Wissens als Ziel definiert. Dieses Ziel erfordert aber der Annahme gemäß, dass es sich bei dem Ozean um ein (intelligentes) Wesen handelt, Kontakt. Hier zeigt sich am deutlichsten, dass sich Lems Auffassung von Die Astronauten als Ausdruck allzu naiver Hoffnungen nicht nur auf die dargestellte politisch-technologische Zukunft bezieht, sondern vor allem auf die Möglichkeit des Verständnisses einer so fremden Kultur aufgrund der Existenz von grundsätzlichen Gemeinsamkeiten aller auf Materie basierten Lebewesen. Solaris ist dementsprechend pessimistisch in Hinblick auf Kontakt – wenigstens im Sinne bedeutungsvollen gegenseitigen Austauschs.70 Jeder Versuch, Kontakt aufzunehmen, Fakten herzustellen und damit über das Wesen zu verfügen, ist zum Scheitern verurteilt. Aber die Versuche einzustellen, ist ebenso wenig denkbar, weil mit ihnen der Glaube an den wissenschaftlichen Fortschritt, die Fähigkeit, sich den Gegenständen mit genügend Zeit (dialektisch) so weit anzunähern, dass Verstehen möglich wird, aufgegeben würde. So sind die Wissenschaftler und die 70 | Vgl. Weisserts Darstellung der ›window-of-contact-theory‹ Lems: »According to this theory, the single cosmic ›moment‹ during which one civilization may communicate with another is after both have reached the technological level of maturity to manipulate electromagnetic radiation, and before either of them passes into the ›too mature‹ level […]. Here, Lem implies that there is a natural evolutionary process that moves a species up through some noetic level, after which it takes control of the process of its own further evolution. The outcome of each of Lem’s explorations of noetic contact seems to rely on the size of the intelligence gap between the two species« (Weissert 1992, 161).

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Solaristik in ihrer Gegenwart (aufgrund ihres impliziten Fortschrittsglaubens) gefangen. So wie Harey trotz Kelvins Versuche, sie loszuwerden, wiederkommen wird, »ohne wiederzukommen«, drehen sich auch die Versuche, Solaris zu verstehen, im Kreis. (Wissen­schafts-)Geschichte im modernen Verständnis endet hier, weil sie sich ziellos reproduzieren muss, ohne dabei voranzukommen, weil »[d]ie Vergangenheit bleibt […] und […] sogar wieder auf[taucht]. Dieses Wiederauftauchen ist den Modernen unbegreiflich. Also sehen sie darin die Wiederkehr des Verdrängten. Sie sehen darin etwas Archaisches« (Latour 2008, 93). Dennoch, so die optimistische Lesart des Romans, postuliert dieser nicht das Ende, sondern die Reichweite wissenschaftlichen Denkens: »Both Solaris and Solaris suggest that the largest questions of the universe may time and again baffle the best efforts of dialectical reason – but also that only dialectical reason is capable of genuinely posing such questions at all« (Freedman 2000, 111). Solaris wirkt demnach wie ein Anti-Mythos, der Fragen stellt, ohne sie zu beantworten. In Blumenbergs Auffassung ist gerade dies die Aufgabe des Mythos beziehungsweise das, was die Wissenschaft nicht zu leisten vermag.71 Doch die Solaristik ist eine fiktive Wissenschaft, eine ›science-fictional science‹ – in dieser Konstellation wird das Scheitern der Erklärung zum Spiegel der Wissenschaft und zum (utopischen) Möglichkeitsraum. Freedmans Auffassung der Beziehung von Science Fiction und dialektischer Vernunft aufgreifend, müsste in einem nächsten – außerhalb des Romans liegenden Schritt – das Unmögliche passieren: das »Archaische«, Subjektive nicht zu verdrängen und also das Scheitern, die Begrenztheit menschlicher Erkenntnisfähigkeit selbst als Erkenntnis anzuerkennen. Picknick am Wegesrand ist demgegenüber »a conscious attempt on the Strugatskys’ part to incriminate Lem’s apparent speculative neutrality« (Slusser 1989, 19). Anders als Solaris wird hier eine ›archaische‹ (nicht-moderne) Möglichkeit aufgezeigt, dem modernen Dilemma zu entkommen. Die Suche nach dem ›goldenen Ball‹ wird analog zu der Suche nach dem heiligen Gral72 zur

71 | »Für das Wirkungspotential des Mythos ist diese Einsicht wesentlich: nicht die Überzeugungskraft alter Antworten auf vorgeblich zeitlose Menschheitsrätsel begründet die Andringlichkeit mythologischer Konfigurationen, sondern die Implizität der Fragen, die in der Rezeption und ihrer Arbeit an ihnen, entdeckt, ausgelöst und artikuliert werden. […] Uns ist bereits zu selbstverständlich, daß die Wissenschaft Fragen erst gar nicht stellen gelernt hat, die sie mit ihren Mitteln nicht beantworten zu können absieht, als daß uns nicht auffallen müßte, mit welcher Unbefangenheit der Mythos an den Rand der Abgründe dieser Fragen tritt, ohne daß sie von ihm gestellt wären« (Blumenberg 2001, 360). 72 | Vgl. Jameson 1982, 157.

II.1 Science und Fiction

gleichermaßen utopischen wie mythischen Alternative zum Verharren in modernen (wissenschaftlichen) Erklärungsmodellen. »But what does their Ball do? On the one hand, with Dina and Arthur, it produces simulacra from the deep desires of the gazer – much as Rheya (but without the mediation of such a device) is produced. On the other, it is the receptacle of broad, eudæmonic wishes for ›happiness for all‹. The word that describes such a wish is not fantasy or its transcendent counterpart, religion. It is utopia« (Slusser 1989, 24).73

Obwohl das Ende offen bleibt, bildet die goldene Kugel einen Ausweg, indem sie es für den skeptischen und absolut pragmatischen Schatzgräber (nicht für die Wissenschaftler) denkbar macht, einen Weg zu finden, dem Scheitern der Vernunft zu entkommen. Wie in Solaris scheitert die Vernunft jedoch nicht nur an der Möglichkeit eines unverstehbaren Fremden, sondern auch an der darin sichtbaren Unverstehbarkeit des Eigenen. Der Wissenschaftler Kelvin ist angesichts dessen, was er auf Solaris erlebt, nicht mehr in der Lage dazu, seinem eigenen Verstand zu trauen, und auch der Schatzgräber Schuchart erkennt sich selbst in der Zone, angesichts der Hoffnung, den goldenen Ball zu finden, nicht mehr wieder. In beiden Fällen ist diese Krise ein Effekt der Unerreichbarkeit – in Solaris aufgrund des nicht zustande kommenden Kontakts, in Picknick, weil die Spuren nicht zu den »Besuchern« führen. Diese Abwesenheit, so Csicsery-Ronay, sagt jedoch mehr über die Besucher als die hinterlassenen Gegenstände.74 Das Fremde wird hier, weil es sich jedem Zugriff entzieht, zum Äquivalent des Eigenen. Insbesondere die Verursacher des Picknicks am Wegesrand werden zu Zeichen dafür – »the identity of the Visitors is left a mystery primarily because they are not only like us, they are us: they are our image of our own future« (Csicsery-Ronay Jr. 1986, 30; Hervorhebung im Original). Weil die Menschen, Wissenschaftler und Laien, mit etwas konfrontiert sind, was sie nicht verstehen können, müssen sie infrage stellen, was sie glauben, am 73 | Lem kritisiert eben dieses Element der Erzählung: »But in thus dismissing the Ball as a sentimental device, Lem mistakes the Strugatskys’ use of it« (Slusser 1989, 24). 74 | »One reason why the Visitors are absent is that the Visitation itself is an image of the scientific-technological explosion, a process that has increasingly come to seem ›subjectless‹ – an impersonal, indifferent, objective evolution blindly operating according to its own runaway feedback, autonomous of the human desires that created its conditions. The dangers the extraterrestrial artifacts pose to human society are clearly the same as those posed by the irrational military and commercial use of contemporary terrestrial technology. […] The Visitation is the catastrophic intervention of humanity’s own image of the future into the present: it is ›what we will be like‹« (Csicsery-Ronay Jr. 1986, 29).

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besten zu kennen: sich selbst. Die Interpretation der Besucher als Bild ›unserer eigenen Zukunft‹ reflektiert nicht nur die Unfähigkeit der Wissenschaften, Aussagen über die Zukunft zu treffen, sondern auch die jener Science Fiction, »that takes science to be all there is« (Csicsery-Ronay Jr. 1986, 34). Nicht zufällig ist es der humorvolle Ansatz in Der Montag fängt am Samstag an, der es ohne Tragik vermag, in dieser Hinsicht eine Überlegenheit der Fiktion gegenüber den Wissen­schaften nicht nur implizit, sondern auch explizit zu behaupten. Die narrative Mise-en-abyme erlaubt es, nicht nur beschriebene und mögliche Zukünfte zu bereisen, sondern hebt die Richtung und vor allem Zielgerichtetheit moderner Zeitlichkeit auf, ohne dabei den Raum der (fiktionalen) Wissenschaft zu verlassen. Nur hier ist alles möglich – sogar das »Wunder an der Tunguska« zu erklären. Wissenschaft ist hier nicht mehr die einzig legitime und denkbare Weise, Wissen oder Zukunft herzustellen. Hier werden nicht Fakten von Wissenschaft gemacht, sondern Wissenschaften von Fakten – mit dem Ergebnis, dass beide nicht mehr nur begrenzt herzustellen sind und die Welt über Eigenheiten und Gesetzmäßigkeiten verfügt, die umso deutlicher, realer und individueller erscheinen, je leidenschaftlicher und wahrheitstreuer das beschreibende Talent der Autoren, seien sie Literaten oder Wissenschaftler, zum Ausdruck kommt.

II.2 Geheimnis und Verschwörung

Das »verzwickte Problem des Wunders an der Tunguska« (Montag, 271) macht, unabhängig von der ihm zugewiesenen Erklärung, die Grenzen von Erklärungsmodellen sichtbar. Nicht allein deswegen, weil es sich durch bestimmte Modelle (plausibel) erklären ließe und durch andere nicht, sondern weil aufgrund der ›verzwickten‹ Problemkonstellation kein Muster alleinige oder voraussetzungsfreie Geltung beanspruchen kann. Dieser Effekt tritt insbesondere in der Erklärungs- und Forschungsrhetorik zutage: So wie sich der etablierte Wissenschaftler von den »inevitable flying saucers« und damit von denjenigen, die diese ins Feld führen, distanziert, setzen sich auch die Magier-Wissenschaftler des FIFHUZ von den »fantasielosen Leuten« ab, die »alles viel zu banal und schon allein deswegen zu weit von der Wahrheit entfernt« (Montag, 272) betrachten. Die Grenzen, welche die Rede über das Tunguska-Ereignis sichtbar macht, betreffen demnach die Zuständigkeits- und Arbeitsbereiche der jeweiligen Sprecher. Der polemische (Unter-)Ton der rhetorischen Abgrenzung lässt zudem erkennen, dass es sich nicht um allgemein anerkannte Grenzen handelt, sondern um durch einen Sprechakt gesetzte. Schärfe gewinnen solche Aussagen dadurch, dass, so die grundlegende Setzung, nur eine Erklärung endgültig Geltung beanspruchen kann, also nur eine wahr sein kann. Die so abgesteckten Be­reiche reflektieren die Kulturen, die miteinander um Deutungsmacht ringen, gehen jedoch nicht restlos in ihnen auf. Die Frage nach der Lösung des Tunguska-Ereignisses lässt sich im Grunde auf zwei Arten betrachten: Entweder man nimmt einen ›nüchternen‹ Blickwinkel ein, der es zwar erlaubt, nach einer Lösung zu suchen, jedoch nicht erwartet, dass das moderne Weltbild sich durch eine Lösung in irgendeiner Weise erschüttern ließe; oder man folgt den Forschern des FIFHUZ und lässt einen fantasievollen Blick zu. Im ersten Fall versteht man das Ereignis zwar als problematisch, weil die Spurenlage nur wenige Schlüsse zulässt, betrachtet die Ursache selbst aber als unproblematisch, weil sie als prinzipiell berechenbar betrachtet werden muss, um als möglich gelten zu können. Diese Sicht der Dinge lässt sich also ohne Weiteres der modernen wissenschaftlichen Kultur zurechnen. Der fantasievolle Blick hingegen lässt sich nicht vollständig unter

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der zweiten Kultur subsumieren, denn er erlaubt es nicht nur, dem Ereignis (wissenschaftlich betrachtet) unmögliche Erklärungen zuzuweisen, sondern auch, es als unerklärbar zu inszenieren. Insbesondere im Modus der Fiktion ist es möglich, nicht das Ereignis selbst oder seine Ursache in den Mittelpunkt zu stellen, sondern seine (möglichen und unmöglichen) Auswirkungen durchzuspielen und so Realität(en) jenseits der Fakten zu schaffen. Das ermöglicht dieser Perspektive auch, Grenzen nicht nur zu setzen, sondern auch zu überschreiten und infrage zu stellen sowie Kritik an der Aufgabenteilung und den herrschenden (Deutungs-)Macht­verhältnissen zu üben. So kann Science Fiction also auch Metawissenschaft betreiben oder Gegenmodelle zu herrschenden Methoden und Überzeugungen entwerfen, ohne deren Wirksamkeit und Deutungsanspruch grundsätzlich zu bezweifeln. Zieht man also in Betracht, dass die Versionen des Tunguska-Ereignisses ihren Geltungsanspruch nicht ausschließlich über Zugehörigkeit zu (oder Ausschluss aus) dem Wissenschaftssystem beziehen, wird deutlich, dass sie von Denkstilen geprägt sind, sie sowohl in der einen als auch in der anderen Kultur zum Ausdruck kommen können. Solange diese Unternehmungen als Fiktion markiert sind, sie also der Kultur der Literatur angehören (›bloß‹ Literatur sind), ergibt sich daraus ohnehin kein Problem. Wenn aber der Status zweifelhaft oder uneindeutig bleibt – und diese Möglichkeit wird durch die skandalöse Lücke1 der fehlenden Erklärung zumindest begünstigt –, kann die Herausforderung oder kritische Befragung der etablierten Verhältnisse als Bedrohung wahrgenommen werden. Das gilt insbesondere dann, wenn die fantasievolle Betrachtung und Bearbeitung des Ereignisses dazu führt, dass der zuständigen Kultur der Wissenschaften nicht nur Unfähigkeit angesichts des Wunders (nicht wissen zu können) vorgeworfen wird, sondern sie den Verdacht schürt, dass dort Wissen nicht geteilt wird. Der Verdacht, die Ursache des Ereignisses sei nur einer exklusiven Gruppe zugänglich, die es aber als Geheimnis bewahrt, kann weitreichende Auswirkungen haben. Zwar stellt er die Grenzen zwar nicht notwendig infrage, er bezichtigt aber indirekt diejenigen der Lüge, deren Aufgabe es ist, Wissen nicht nur zu akkumulieren, sondern auch zu teilen. Während das Rätsel als »anormale Eigentümlichkeit« zu verstehen ist, das das »nahtlose Gewebe der Realität unterbricht« (Boltanski 2013, 24), ist das Geheimnis eine Ausformung des Nicht-Wissens, die innerhalb einer Ordnung verbleibt, in diesem Sinne also normal ist. Im Geheimnis wird ein Exklusionsgestus sichtbar, der eine kleine Gruppe von Wissenden von einer großen Gruppe von Nicht-Wissenden trennt. Der Gegenstand des Geheimnisses bleibt im Gestus des Nicht-wissen-dürfens notwendig verborgen, weil es nur solange als solches gewusst werden kann, wie sein Inhalt geheim bleibt. Somit lassen sich mögliche Gegenstände des Geheimnisses nicht eingrenzen, sodass 1 | Vgl. Kapitel I.1 »Spuren und Fakten«.

II.2 Geheimnis und Verschwörung

im Falle eines intakten Geheimnisses sein Inhalt theoretisch unbegrenzt ist. Der Geheimnisverdacht hinterfragt demnach nicht die Wirksamkeit, sondern die Glaubwürdigkeit der modernen Ordnung. Fiktion wird hier benutzt (oder kann dazu benutzt werden), um mit Bezug auf bekannte Tatsachen zumindest die Möglichkeit in den Raum zu stellen, dass in Bezug auf Tunguska Einzelheiten oder sogar große Zusammenhänge vor der Öffentlichkeit aktiv verborgen werden, man also nicht wissen darf, was passiert ist. Der Vorwurf, Geheimnisse zu haben, deren Wahrung bestimmten Interessen folgt und deren Enthüllung von großer Bedeutung sein könnte, speist sich also zunächst aus der Befürchtung oder Hoffnung auf einen Skandal. Darüber hinaus besteht aber die Gefahr, dass sich die Vermutung der Existenz einzelner Geheimnisse zu einem Verdacht oder sogar zum Wahn ausweitet, der Gruppen, Gemeinschaften oder Ordnungen in den Blick nimmt. Damit wird die Vermutung, aus dem sichtbaren Zeichen, der Spur, lasse sich auf eine dahinterliegende Wirklichkeit schließen, in den Verdacht verkehrt, dass jede sichtbare Handlung eine unsichtbare verberge. Die in den Texten über Tunguska inszenierte Aufgabe besteht dann darin, die verborgene Handlung einerseits und die Motivation der verbergenden Handlung andererseits zu identifizieren. Weil der Inhalt eines Geheimnisses potenziell unbegrenzt ist, lassen sich in Darstellungen des Tunguska-Ereignisses als Geheimnis die mit dem Ereignis assoziierten Narrative zu einer potenziell weltumspannenden Verschwörung verknüpfen. Elemente wie die Rätselhaftigkeit oder das potenziell katastrophische Potenzial des Ereignisses, die andernorts seine Bedeutsamkeit begründen, verknüpfen sich in den hier zur Untersuchung stehenden Texten zu Erzählungen über die Inkaufnahme eines globalen Risikos durch solche Kräfte, die ihren eigenen Gewinn über das (sichere) Fortbestehen der Menschheit stellen. Nicht nur in Wolfang Hohlbeins Die Rückkehr der Zauberer geht es darum, die Welt zu retten, auch Bill DeSmedts Singularity beschwört den drohenden Weltuntergang. Martina Andrés Schamanenfeuer. Das Geheimnis von Tunguska, die beiden Episoden der TV-Serie The X Files und das Spiel Geheimakte Tunguska beziehen ihr Momentum ebenfalls aus der Androhung einer Katastrophe, die in der Nutzung des geheimen Wissens um die Ursache oder direkten Auswirkungen des Ereignisses durch sinistre Kräfte (Geheimdienste, Ex-Geheimdienstmitarbeiter, Geheimorganisationen, globalisierte Unternehmen) und deren Agenten bestehen würde. Außerhalb der Literatur lässt sich ein solcher Verdacht oder Vorwurf leicht als laienhafte Fehlinterpretation von Spezialkommunikation abtun oder gar als Verschwörungstheorie2 brandmarken und damit (rechtzeitig) unterbinden und aus dem Diskurs ausschließen. Im Rahmen literarischer Texte beziehungsweise fiktionaler Bearbeitungen insgesamt kann ein solcher Verdacht 2 | Vgl. Kap. I.3 »Kontingenz und Mythos«.

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jedoch ausgebreitet werden, denn zunächst handelt es sich ja ›bloß‹ um Literatur. Gleichzeitig besteht die Geheimnis- wie Verschwörungsliteratur (aber auch die Verschwörungstheorie), die im Fokus dieses Kapitels steht, auf einem Realitätsbezug, der dem der Science Fiction ähnelt: Auch hier geht es darum, wissenschaftliche Grundsätze nachzuvollziehen und (fantasievoll) zu extrapolieren, doch das Thema des Geheimnisses übersteigt das kritische Potenzial der Science Fiction und zielt in eine andere Richtung. Eine Figur wie die des Dr. Pillman in Picknick am Wegesrand, der sich seines begrenzten Interesses an einer Erklärung oder Deutung der »Zonen« nicht schämt, sondern es ganz im Gegenteil mit seinem Expertentum begründet,3 wirkt im Zusammenhang dieses Romans und des Genres zwar kalt und unmenschlich, aber auch unangreif bar wissenschaftlich. Auch physisch bleibt er unangetastet, denn seine Arbeit bleibt wie sein Interesse theoretisch. Enthusiasmus ist ihm fremd – damit ist er dem jungen Kirill überlegen, dessen Neugier ihm zum Verhängnis wird. Diese Überlegenheit und so deutlich (selbst) begrenzte Sorge könnte ihn jedoch zur umso größeren Zielscheibe für den Geheimnisverdacht machen. Denn dieser lebt gleichermaßen von einem fundamentalen Zweifel und dem Versuch, das Nicht-Wissen über die Welt und die damit verbundene Unsicherheit (über) zu kompensieren: Er bezweifelt die Realität der modernen Trennungen beziehungsweise die Fähigkeit von Menschen, diese zu verkörpern. In diesem Sinne kann ein Mann wie Pillman gar nicht wirklich nur so geringes Interesse an einer so fundamentalen Änderung der äußeren Wirklichkeit haben, es sei denn, seine Distanz ist nur gespielt, um hinter der wissenschaftlichen Fassade ein großes Geheimnis zu verbergen. Sein wissenschaftlicher Habitus, Nobelpreis eingeschlossen, wäre nichts als eine Lüge. Man müsste nicht einmal so weit gehen, die Geltung seiner Forschungsergebnisse anzuzweifeln – nur weiter fragen: Müsste da nicht mehr sein? Müsste nicht jemand wie er mehr wissen? Kann es Zufall sein, dass er niemals mit Red Schuchart, dem Protagonisten, in Kontakt kommt? Ist es nicht seltsam, dass ausgerechnet der junge Kirill nach dem Besuch in der Zone stirbt, obwohl ihm zunächst nichts anzusehen ist? War er ›etwas‹ auf der Spur? – Insbesondere dort, wo die Zahl der Leerstellen groß ist, lassen sich solche Narrative besonders leicht anstoßen, weil sie ein Sinnstiftungsangebot machen, dem die partikularisierende Sicht wissenschaftlicher Denkstile nichts entgegenzusetzen hat. Am Tunguska-Ereignis wird aus dieser Perspektive deutlich sichtbar, dass das Aushalten von offenen Fragen und Nicht-Wissen zu den Grundvoraussetzungen von Wissenschaft gehört. Pillmans begrenztes Wissen und, mehr noch, limitiertes Interesse an einer Erklärung der Ursache der Zonen hinterfragt nicht den Sinnzusammenhang der Realität – lässt also nicht einmal die Anerkennung eines Rätsels zu –, sondern erfüllt die Aufgabe des Experten: Er trifft und belegt 3 | Vgl. Picknick, 9.

II.2 Geheimnis und Verschwörung

Aussagen innerhalb eines begrenzten Spezialgebiets und mischt sich darüber hinaus nicht in die Diskussion ein. Die Verschwörungstheorie, liest man sie als Denkstil, vermag aber Sinn und Wirklichkeit nur dort zu entdecken und herzustellen, wo sie eine geschlossene Erzählung herstellen kann. Sie gibt sich nicht mit Teilerklärungen zufrieden und glaubt gleichzeitig geradezu fanatisch daran, die Fähigkeit der modernen Welt zu erklären. Wenn aber aus jeder Feststellung einer Leerstelle eine (Suggestiv-)Frage wird, kann sich der Verdacht, dass die Welt voller Geheimnisse ist, ungehindert ausbreiten. Dass solche Vermutungen, Verdächtigungen und Unterstellungen als Unsinn abgetan werden (können), spielt kaum noch eine Rolle, sobald der Verdacht einmal behauptet ist. Wenn das Vertrauen in eine Person oder Institution gestört wird, obliegt es in dieser Perspektive der beschuldigten Seite, den (unmöglichen) Beweis zu erbringen, dass eine Leerstelle oder ein geäußertes Desinteresse nicht bedeutet, dass man ein Geheimnis hat.

D ie G eheimnisse der M oderne (n) Die Moderne hat keinen Sinn für Geheimnisse. Nicht-Wissen ist in der arbeitsteiligen Gesellschaft nicht notwendigerweise ein Manko, sondern Ausweis der eigenen Spezialisierung. Man kann gar nicht (mehr) alles wissen. Also sind die Gebiete, die sich der eigenen Kenntnis oder Verfügung entziehen, weder geheimnisvoll noch mysteriös, sondern schlicht kein Teil des eigenen Zuständigkeitsbereichs, oder man hat eben noch nicht lange genug geforscht. Potenziell liegt in der Moderne alles offen, weil man Wissen erwerben oder gewinnen kann, sei es durch Ausbildung, sei es durch Forschung. Als Garant dafür steht die moderne Verfassung ein, in der alles seinen gut sichtbaren Platz hat. Insbesondere die dritte Garantie, »Natur und Gesellschaft müssen absolut getrennt bleiben; die Arbeit der Reinigung muß absolut getrennt bleiben von der Arbeit der Vermittlung« (Latour 2008, 46), stellt sicher, dass die Ordnung gewahrt bleibt. Die Vorstellung (oder die Bestimmung), dass man Natur und Gesellschaft restlos voneinander trennen kann, garantiert eben auch, dass die Reichweite der Ordnung innerhalb der beiden Pole nahezu unbegrenzt ist – die Natur kann auf Dauer keine Geheimnisse vor den unermüdlich forschenden Wissenschaften haben, weil sie dem objektiven Forscherblick (natürlich) offenliegt; die Gesellschaftsform garantiert Offenheit gegenüber ihren Bürgern, weil sie von ihren Mitgliedern konstruiert wird.4 Die Verfassung der Modernen garantiert Ordnung und mit ihr Transparenz – Unbekanntes kann hier nur als noch nicht gewusst auf der Seite der Natur oder nicht in den eigenen Zuständigkeitsbereich fallend auf Seiten der Gesellschaft existieren. Das Geheimnis 4 | Vgl. Latour 2008, 45ff.

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aber gehört in den Bereich der dunklen, weil undurchsichtig vermischten Mitte – oder gleich in die Vergangenheit. Intrigen und Verrat, Verdacht und Vermischung gelten, das zeigt schon der flüchtige Blick auf die Verfassung, nicht als modern. Es überrascht somit nicht, dass Geheimbünde, Verschwörer und Verräter oft im Modus des reizvoll Exotischen und Fremden dargestellt werden5 und erst im 20. Jahrhundert auch Bürokraten als Geheimnisquellen und -hüter in den Blick geraten.6 Aber auch hier gilt, dass »die Moderne nicht das falsche Bewußtsein der Modernen« (Latour 2008) ist. Niemand glaubt, dass es keine Geheimnisse gibt oder geben könne, die Ordnung repräsentiert vielmehr die Tatsache, dass es keine Geheimnisse geben sollte. Es ist gar nicht notwendig, die jüngsten Skandale um Whistleblower und Geheimdienstaffären zu bemühen, um festzustellen, dass die Gegenwart voller Geheimnisse ist. Die Geschichte seit der Zeit um 1800, insbesondere die des vergangenen Jahrhunderts, lässt sich sogar insgesamt als Geschichte der Geheimnisse, der Geheimdienste und des Verrats erzählen. Obwohl das Geheimnis also eigentlich keinen Platz in der Verfassung der Modernen hat oder haben darf, kann es als fundamentaler Aspekt dieser Ordnung beschrieben und die Geheimniskrämerei als genuin moderne Praxis bestimmt werden. Aus diesem scheinbaren Widerspruch generieren die Erzählungen von Tunguska als Geheimnis beziehungsweise Teil einer Verschwörung ihre weit über das Literarische hinausreichende Energie. Denn im Verhältnis von Geheimnis und Transparenz spiegeln sich die Verfahrensweisen der Moderne wider: die Arbeit der Reinigung und der Vermittlung beziehungsweise der Hybridisierung. Geheimnisse, Geheimhaltung und Verschwörung sind Ergebnisse von Vermittlung und Übersetzung und wie diese werden sie als »absolut getrennt« von der Arbeit der Reinigung und ihres Effekts der Transparenz betrachtet. Das Credo der Modernen, ›Überall Reinheit!‹, soll somit auch ›Überall Transparenz!‹ garantieren. »Das geben sie [die Modernen] vor, aber man darf ihnen keinesfalls ganz glauben, denn was sie behaupten, betrifft nur die Hälfte der modernen Welt, nämlich die Reinigungsarbeit, die destilliert, was die Hybridisierung ihr als Material liefert« (Latour 2008, 89). Wie die Hybride breiten sich auch die Geheimnisse im Schatten der modernen Unterscheidungen immer weiter aus7 und gewinnen dadurch eine unübersehbare und problematische Präsenz. Problematisch ist ihre Prä5 | Hier dient die Schauerliteratur des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts als Quelle, die übervoll ist von kuttenbewährten Geheimversammlungen, dunklen Gängen, geheimnisvollen Figuren (vor allem Frauen) aus den Kolonien, nicht minder mysteriösen Waffen und magischen oder spiritistischen Fähigkeiten. 6 | John Le Carrés Spionageromane können ebenso wie Graham Greenes Our Man in Havanna hier als Beispiele dienen (vgl. auch Horn 2007, 338-381). 7 | Latour stellt die Ausbreitung der Hybride beim Zeitungslesen fest: »[Es] häufen sich die Hybridartikel, die eine Kreuzung sind aus Wissenschaft, Politik, Ökonomie, Recht,

II.2 Geheimnis und Verschwörung

senz beziehungsweise Auffälligkeit zunächst aus den gleichen Gründen wie bei allen Hybriden. Sie lenken von den Garantien der modernen Verfassung ab und zeigen stattdessen auf die Paradoxien, denen jene entgegenwirken sollen. Während die moderne Verfassung vor allem ergebnisorientiert ist, lenken die Hybride den Blick auf die Praktiken, die diese Ergebnisse herstellen. Verfahren der Faktenbildung rücken aber nicht nur in den Blick, sondern müssen angesichts ihrer offenbaren Unzulänglichkeit auf ihre Gültigkeit hin befragt werden. Doch die Präsenz von Geheimnissen kann auch darüber hinaus gefährlich werden. Die Gefahr der Enthüllung eines Geheimnisses ist nur eine der Möglichkeiten, weist doch die Offenbarwerdung eines Wissensbestandes (Objektes oder Ereignisses) als Geheimnis zunächst darauf hin, dass da etwas nicht gewusst werden soll. Im Gegensatz zu Dingen, die (noch) nicht gewusst werden können oder nicht gewusst werden müssen, enthüllt sich zunächst das aktive Verbergen von Etwas. Was dieses Etwas ist, tritt zunächst hinter dem Umstand, dass es verborgen wird, dass es sich also um ein Geheimnis handelt, zurück. Die Ausbreitung der Hybride verweist selbst auf ein ›Staatsgeheimnis‹, das, wenn man so will, Bruno Latour enthüllt hat: Die Moderne ist entgegen ihrem äußeren Anschein nicht geordnet, gereinigt oder transparent, sondern produziert (willentlich) die Hybride, deren Existenz sie leugnet. Es handelt sich eben nicht um Neuheiten, die es zu entdecken gilt,8 sondern um alte Bekannte, die sich ihrer Verbannung in die Vergangenheit (das ultimative Exil) unerlaubt entziehen: »Die Modernen haben die Eigenart, den Lauf der Zeit so zu verstehen, daß er tatsächlich die Vergangenheit hinter sich abschafft. […] Aber da diese Zeitlichkeit einem Zeitregime aufgezwungen wird, das ganz anders funktioniert, vermehren sich die Symptome der Unstimmigkeit« (Latour 2008, 92). Die Häufung der sichtbaren Hybride macht die Aufrechterhaltung einer gereinigten Wirklichkeit umso schwieriger, je mehr von ihnen ins Licht treten. Sie nähren unaufhörlich den Verdacht, dass wir in der Tat nie modern gewesen sind. Wenn man das Geheimnis als Hybrid versteht, können aber, je nachdem welcher Kultur es entstammt, noch viel mehr Verweise enthalten sein – so viele, dass seine Rolle als Hybrid und damit als Nachweis des Nie-modern-gewesen-Seins der Moderne dahinter zurücktritt. Der Umstand, dass Latour die Ordnung der modernen Wirklichkeit(-swahrneh­mung) ›Verfassung‹ nennt, zeigt bereits an, dass dieser Ordnung eine politische Dimension inhärent ist – die Hybridproduktion tatsächlich eine Form des Staatsgeheimnisses ist. Religion, Technik und Fiktion. […] Die ganze Kultur und die ganze Natur werden hier Tag für Tag zusammengebraut« (Latour 2008, 8). 8 | »In der modernen Welt der kopernikanischen Revolution gibt es nichts Neues. Denn sobald eine neue Entität auftaucht, müßten wir diese zweiteilen und ihre Originalität auf zwei Pole [Naturgesetze und Gesellschaft, SN] aufteilen« (Latour 2008, 107).

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Theoretisch entspricht sie einer demokratischen Verfassung, die sich ihre Mitglieder, die Modernen, selbst geben. Insofern steht sie gleichzeitig für Transparenz und beruht auf Geheimnissen. Das größte Geheimnis einer solchen Verfassung ist demnach, dass sie Geheimnisse hat. »In der Moderne ist das politische Geheimnis etwas Anrüchiges. […] dem modernen Ideal politischer Transparenz ist jedes der öffentlichen Kontrolle entzogene Staatsgeheimnis suspekt. Was Regierungen geheim halten, steht immer unter dem Verdacht, etwas zu sein, das sich dem Urteil der Öffentlichkeit nicht stellen will, sich nicht legitimieren lässt und daher im Dunkel stattfinden muss. Die Geheimnisse des Staates sind die Verbrechen des Staates« (Horn 2007, 9).

Das Ausmaß, in dem das Funktionieren der Verfassung (scheinbar) von denselben abhängt, lässt sich dafür umso besser verbergen, weil jeder im Prinzip wissen kann, dass es Geheimnisse gibt. Die Motivation oder die gefühlte Notwendigkeit, nach weiteren Geheimnissen zu suchen oder die Verfassung als Ganzes zu hinterfragen, ist gering, solange alle anderen Garantien eingehalten werden. Wenn sich allerdings die »Symptome der Unstimmigkeit« häufen, regt sich Verdacht. Tauchen also zu viele Rätsel – Störungen der Wirklichkeit – auf, die sich aktiv der Wissbarkeit entziehen, das heißt als Geheimnisse entpuppen, oder tritt umgekehrt der Fall auf, dass die Tatsache der Geheimhaltung geleugnet oder über Gebühr betont wird,9 lässt sich die Frage nicht mehr vermeiden, ob eine solche Verfassung (die der Modernen wie auch die eines Staates) überhaupt wünschens- oder unterstützenswert ist. »Die einfache Rechnung lautet: Je transparenter die Welt des Politischen, desto größer der Verdacht, dass sie sich der Beobachtung nur darbietet, um die Tatsachen zu verhüllen, um das wahre Spiel vor den Blicken abzuschirmen« (Schneider 2010, 6). Folgt man dieser Rechnung, erscheint es aus Sicht des Staates (oder ›der Modernen‹) taktisch klug, sich das Vorrecht gewisser Intransparenz vorzubehalten. So wie die Verfassung der Modernen, wie Latour sie beschreibt, die Bildung und Vermehrung von Hybriden gerade dadurch begünstigt, dass Wirklichkeit außerhalb ihrer Garantien nicht gedacht, gebildet oder dargestellt werden kann, stellt also ein ›Geheimdienst‹ als Begriff für die Existenz von (eigenen wie fremden) Staatsgeheimnissen Sicherheit nach außen (geheimer Krieg), aber vor allem im Innern des Staats her, indem er das Verhältnis von Geheimnis und Transparenz trotz seiner ›anrüchigen‹ Methode stabilisiert. Bis die Verfassung grundsätzlich hinterfragt wird (oder werden kann), muss also einiges zusammenkommen. Entweder müssen die Geheimnisse Über9 | Das Versprechen absoluter Transparenz des Staates wird also genauso verdächtig, wie das Verlangen absoluter Transparenz der Bürger gegenüber dem Staat inakzeptabel erscheint.

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hand nehmen oder es muss sich erweisen, dass das System, das sie stützen, nicht mehr tragfähig ist. Ein Zuviel an Geheimnissen verträgt eine Gemeinschaft ebenso wenig wie ein Zuwenig, denn »[m]oderne Macht beruht in fundamentaler Weise auf Geheimnissen und Geheimhaltung, auf Ausspähung, Täuschung, Desinformation und Verrat« (Horn 2007, 9). So überrascht es dann auch nicht, dass es »moderne Demokratien [sind], die im 20. Jahrhundert nicht nur riesige, hoch professionalisierte Geheimdienst-Administrationen auf bauen, sondern auch Spionage und Bespitzelung zu unverzichtbaren Mitteln ihrer Regierungstechniken, ihrer Kriegführung und ihrer außenpolitischen Informationsgewinnung gemacht haben« (ebd.). Mit dem Eingeständnis der Existenz von Geheimnissen, das sich in der Gründung eines Geheimdienstes manifestiert, geht die Auslagerung des Geheimnisses vom Bereich des allgemeinen Interesses in einen eigenen Spezialbereich einher. Diese Praxis erlaubt es, das Geheimnis in die Ordnung der modernen Verfassung oder die eines (modernen) Staates einzugliedern, ohne sie zu gefährden, folgt sie doch der Logik der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Verwaltungstechnisch verschoben wird das Geheimnis auf diese Weise vom Bereich dessen, was nicht gewusst werden soll, in den Bereich dessen, was man nicht wissen muss – sofern man nicht qua Funktion dazu berechtigt ist. Anrüchig ist das (politische) Geheimnis also in zweierlei Hinsicht: Erstens ist es, so Eva Horn, dem modernen Transparenzideal suspekt, weil es als dunkler, undurchsichtiger und unverfügbarer Wissensbestand in eine ebenso dunkle Vergangenheit zu gehören scheint; zweitens schickt es sich in einer modernen Gesellschaft nicht, sich in etwas einzumischen, was einen gar nichts angeht und, wichtiger noch, womit man sich nicht auskennt. Für Geheimnisse gibt es Experten: die Geheimdienste. Laien kann demnach trotz des Transparenzideals nur bedingt das Recht oder die Fähigkeit zugestanden werden, über diese Art des Expertenwissens zu verfügen. Nach den Geheimnissen des Staates zu fragen, heißt, die behördlich-verwaltungstechnische Ordnung der Zuständigkeiten infrage zu stellen. Die Struktur, in die das Geheimnis eingebettet ist, verbietet diesen Zweifel jedoch beziehungsweise diskreditiert sie automatisch diejenigen, die ihn äußern, weil sie sich, um ihn zu äußern, außerhalb der Ordnung positionieren müssen. Diese Position ist aber, das zeigt Latour, gar nicht denkbar und somit nicht existent/akzeptabel.10 10 | »Alles spielt sich in der Mitte ab, alles passiert zwischen den beiden Polen, alles geschieht durch Vermittlung, Übersetzung und Netze, aber dieser Ort in der Mitte existiert nicht, dafür ist kein Platz vorgesehen« (Latour 2008, 55). Vgl. auch: »Der politische Diskurs gestattet keine Zweifel an seiner Zuverlässigkeit. Das Unvorhersehbare von Konjunkturen, Meinungen, Börsen, Finanzproblemen, Kriegen, Umweltrisiken ist kein Thema, sondern wird den Berechnungen der Auguren unserer Tage überlassen: Fachleuten der Prognose« (Schneider 2010, 12).

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Der Umgang mit Geheimnissen gehorcht also der Logik des Umgangs mit Tatsachen im Allgemeinen: Sie lassen sich einem der beiden Pole der Verfassung (Natur/Gesellschaft) zuordnen und fallen dort wiederum in den Zuständigkeitsbereich von institutionell ausgewiesenen Experten, die damit betraut sind, Erklärungen zu finden und dem Ding oder Ereignis, auf welches das Geheimnis verweist, Sinn zu verleihen beziehungsweise ihm einen Platz innerhalb der Ordnung zuzuweisen.11 Die Integration des Geheimnisses in die soziale Ordnung, die durch das »notwendige Übel« von Geheimdiensten (Horn 2007, 9) erreicht werden soll, ist demnach kaum endgültig möglich und bleibt prekär. Der Geheimnisverrat ist dabei nur eine der Gefahren, denn, wie bereits bemerkt, das Geheimnis stellt im Gegensatz zur im Rätsel noch möglichen Tatsache einen intransparenten und darum nicht gewünschten (erlaubten) Wissensbestand dar. So wie die Faktenbildung in den Wissenschaften (anscheinend) scheitern kann, gelingt auch die Domestizierung des Geheimnisses nicht in jedem Fall. Ähnlich einem Rätsel, dessen Lösung (also dessen Übersetzung in eine Tatsache) nicht gelingt, weil es keiner Entität zugeschrieben werden kann,12 können Geheimnisse die Regelmäßigkeit der sozialen Ordnung durchbrechen und zum »Riss in der Normalität« (Boltanski 2013, 104) werden. Die Art und Weise, in der das geschieht, unterscheidet sich jedoch deutlich vom Umgang mit den ›Rätseln der Wissenschaft‹, die sich (mehr oder weniger erfolgreich) immer noch in ein zukunftsgerichtetes Modell des Noch-nicht-Wissens integrieren lassen und damit Offenheit oder bloß temporäres Scheitern suggerieren. Der ›Inhalt‹ des Geheimnisses aber wird aktiv verborgen. Das heißt, es ist anzunehmen, dass jemand (eine Person oder Institution) seinen Inhalt kennt, eine größere Öffentlichkeit aber bewusst in Unkenntnis lässt. Im Geheimnis wird so ein Raum der Diskretion geschaffen, indem es der gemeinsamen, öffentlichen Kommunikation und Beobachtbarkeit auf verschiedene Weise entzogen wird.13 Dabei lassen sich anhand der lateinischen Begriffe drei Geheimnistypen beziehungsweise »Seinsweisen des Geheimen« (Horn 2007, 105) unterscheiden:14 Arcanum, Secretum und Mysterium. Ersteres »ist das Weggeschlos11 | Vgl. Kapitel I.1 »Spuren und Fakten«. »In den zeitgenössischen Gesellschaften hat man dieses Problem immer häufiger unter Rückgriff auf eine Expertenlogik gelöst: Der Experte erlangt durch eine Institution Glaubwürdigkeit, die ihm bei gewissen Themen Autorität verleiht.« (Boltanski 2013, 379) 12 | Vgl. Boltanski 2013, 26. 13 | Vgl. Horn 2007, 104-105. 14 | Anzumerken ist dabei, dass sich die Begrifflichkeiten und damit die epistemischen Implikationen in den unterschiedlichen Sprachen mitunter stark unterscheiden: Während im Deutschen Geheimnis und Rätsel unterschieden werden können, neben denen das Mysterium (vor allem im religiösen oder theologischen Kontext) steht, bezeichnet

II.2 Geheimnis und Verschwörung

sene […], es ist nicht verfügbar, weil es von einem Verbot […] der Weitergabe entzogen ist« (ebd.), es ist das Geheime der Geheimbünde und der arcana imperii (ebd., 104). Dagegen indiziert das secretum der Geheimdienste (secret services) »einen ›Aggregatzustand‹ von Wissen, eine Form, niemals aber einen speziellen Inhalt« (ebd.): »Liegt das Wesen des Geheimnisses als arcanum in der Spannung zwischen aktiver Verborgenheit und möglicher Veröffentlichung, im Schweigen statt Reden, so bewegt sich das secretum im Raum des (Un)Sichtbaren: Es ist das unsichtbar Gemachte, das Getarnte, geschützt durch die Vermengung mit Unwichtigem. Es muss erkannt, herausgelesen werden« (ebd., 106; Hervorhebung im Original).

Die Vermischung mit Unwichtigem entspricht einer Normalisierung respektive einer Enträtselung des Geheimnisses. Die Einordnung desselben in einen Zuständigkeitsbereich, nämlich den des Geheimdienstes (beziehungsweise secret service), macht es nicht nur unsichtbar, sondern auch unwichtig für die Öffentlichkeit, deren Sicherheit der besagte Dienst (vorgeblich) schützt, die sich aber durch ihn auch in der Sicherheit wiegt, dass ›man‹ sich darum kümmert. Das arcanum hingegen wird durch das Verbot als Geheimnis sichtbar. Man könnte sagen, sein Inhalt ist geheimnisumwittert. Deswegen gewinnt es gegenüber dem secretum formal und ikonisch an Attraktivität, weil zu sehen ist, dass da ein Geheimnis verborgen wird, während das secretum und seine Bewahrer im besten Falle ›ganz normal‹ aussehen. Umso machtvoller ist sein Effekt. Denn wenn das Geheimnis nicht als solches erkennbar ist, aber ein Bewusstsein für seine Existenz besteht, dann ist es potenziell überall und allumfassend.15 Das Mysterium16 als Zeichen beziehungsweise Spur eines außerweltlichen oder jenseitigen Etwas wird der modernen beziehungsweise sozialen Ordnung das englische Wort mystery die gesamte Bandbreite von religiösen Ritualen, über die literarische Gattung des Kriminalromans (mystery novel) bis hin zum Alltagsgebrauch als Rätsel. Darüber hinaus gibt es mit secret, puzzle, enigma, conundrum und riddle vielfältige, nur bedingt übertragbare Abstufungen (vgl. Einträge im Oxford English Dictionary; www.oed.com). 15 | »Darum gibt es, wie Derrida bemerkt, nicht so sehr eine Substanz des Geheimnisses, sondern nur einen ›effet de secret‹: Der ›Geheimnis-Effekt‹ ist das Bewusstsein, dass es ein Geheimnis gibt, ein Effekt, der, zumal in der Strukturierung von Machtbeziehungen, machtvoller sein kann, als ein tatsächlich existierendes Geheimnis« (Horn 2007, 105; Hervorhebung im Original). 16 | »Mysterium als dritter Typ des Geheimnisses trägt, im Gegensatz zu arcanum und secretum, eine Betonung in der Unausschöpflichkeit des Geheimen: Es ist das NichtWissbare, das religiöse oder kultische Geheimnis, die Unausforschlichkeit Gottes, der Natur, der menschlichen Seele. Das Mysterium ist bodenlos und auratisch. […] Das

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nur dann gefährlich, wenn es sich dort zeigt, wo es sich nicht durch moderne Praktiken wegerklären lässt. Grundsätzlich aber stützt es die moderne Ordnung, da es einerseits die Grenze modern/primitiv absteckt, andererseits wie der »gesperrte Gott« durch seine Transzendenz unendlich entfernt und dadurch selbst zum Garanten der Ordnung ohne Gefahrenpotenzial wird.17 Stören kann es allerdings dann, wenn ein Phänomen nicht im Sinne der modernen Verfassung in den Blick genommen wird (als entweder gesellschaftliches oder natürliches ›Problem‹), sondern als Mysterium. Solange aber die etablierten Praktiken der Exklusion und Erklärung funktionieren, disqualifiziert diese Zuordnung die Rede im Diskurs und ihren Redner als primitiv, vormodern oder gar verrückt. Secretum und arcanum als Modi des Geheimen hingegen aktivieren das Indizienparadigma, das, werden sie einmal sichtbar/lesbar, ihre Aufklärung und Enthüllung einfordert, um nicht das Transparenzideal zu verletzen oder Raum für im modernen Sinne unsinnige Deutungen zu schaffen. Scheitert das Enthüllungsverbot (arcanum) oder misslingt die Verheim­lichung im Sinne eines Sich-unsichtbar- oder Sich-unwichtig-Machen bleibt nur noch die Aufklärung beziehungsweise Aufgabe des Geheimnisses, um einer Kultur des Verdachts vorzubeugen. Eine solche entsteht dort, wo der ›effet de secret‹ die »immer gegebene Möglichkeit [des Staates] dazu, Taten zu begehen, die nicht legitimiert werden müssen« (Horn 2007, 104), in Erinnerung ruft. Also wird der Verdacht genährt, dass ein Geheimnis nie allein steht, sondern immer auf die Existenz einer unbekannten und potenziell unüberblickbaren Menge weiterer, damit verknüpfter Geheimnisse hinweist. Weil insbesondere im Falle des Geheimnisses als secretum nicht auf den ersten Blick (oder gar nicht) unterscheidbar ist, wo es sich um Normalität, wo um ein Geheimnis handelt – welches Zeichen für das steht, wofür es zu stehen scheint, und welches als Spur auf ein ›Dahinter‹ gelesen werden muss –, gibt es kaum eine Möglichkeit den Verdacht einzugrenzen. »Der Verdacht ist eine Hypothese, die – wie Peirce es für die Hypothese herausstellt – ausgehend von überraschenden Fakten/Indizien nach einer Theorie verlangt. Verdacht politische Geheimnis entbehrt gänzlich diesen Zug der Unausschöpflichkeit und Transzendenz, der dem mysterium und den Mysteries of State eigen ist. Die arcana und secreta des Politischen sind, so unergründlich sie im Einzelnen sein mögen, endliche Geheimnisse, lösbare Rätsel, Dinge dieser Welt« (ebd., 107; Hervorhebung im Original). 17 | »Die vierte Garantie: Der gesperrte Gott«: Gott wird von den Modernen ebenso verdoppelt wie Natur und Gesellschaft. Er darf mit den anderen Systemen nicht in Konflikt geraten, geraten diese allerdings Untereinander in Konflikt, behalten sich die Modernen vor, seine Transzendenz an- und aufzurufen, um vom Standpunkt einer absolut individuellen Religion her zu kritisieren und damit wiederum die Arbeit der Reinigung auszuüben und die Ordnung/Trennung wiederherzustellen.« (Latour 2008, 47ff.)

II.2 Geheimnis und Verschwörung ist ein kombinatorischer Akt: die Zusammenfügung (›putting together‹) scheinbar unbedeutender, nebensächlicher Elemente, die in der Kombination Bedeutung erlangen, wobei – dem hypothetischen Charakter gemäß – nur gesagt werden kann, dass sie bedeuten, nicht was sie bedeuten. Eben diese spezifische semiotische Struktur des Verdachts macht die strukturelle Unzuver­lässigkeit der Einsicht und das Verlangen nach Theorie beziehungsweise nach dem Signifikat aus« (Strowick 2009, 126; Hervorhebung im Original).

Mit der Lösung eines einzelnen Geheimnisses ist es nicht mehr getan, sobald der Verdacht über einzelne Unstimmigkeiten hinausreicht. Bestätigt er sich in einem (sogar unbedeutenden) Fall, tritt die Verletzung des Transparenzversprechens zutage, erweitert sich das Bedürfnis nach Aufklärung, das heißt nach der Offenlegung der Lösungen beziehungsweise Signifikate der überall sichtbar werdenden Signifikanten. Werden aber die Signifikate verweigert, indem die Inhalte von Geheimnissen nicht enthüllt werden (können) oder die Enthüllung des einen auf die Existenz einer unbekannten Zahl anderer Geheimnisse deutet, multipliziert sich der Verdacht und mit ihm das Verlangen nach Bedeutung oder gar Sinn. Der Verdacht als »verwaister Index«18 enthält das ungestillte und unter Umständen sogar unstillbare Verlangen nach Deutung und kann somit zum Auslöser für eine ebenso unstillbare Erklärungsproduktion werden: die Paranoia.19 Vom tendenziell zielgerichteten, das heißt auf den Fall begrenzten Verdacht des Detektivs, der ein Zeichen als Spur deutet und von da aus ein Verbrechen aufklärt, zu einem unbestimmten Verdacht, der zur Wahrnehmungsfolie von Wirklichkeit insgesamt wird, ist es dann nur ein kleiner Schritt: »Der Paranoiker ist ein in die Politik oder in die Geschichte abgeirrter Wiedergänger des fabelhaften Detektivs Sherlock Holmes, der die zufälligen Zeichen besser als jeder andere entzifferte und aus ihnen den abwegigsten Verdacht zu erhärten verstand« (Schneider 2010, 13).

18 | »Der Verdacht ist der verwaiste Index moderner Wissensproduktion. Kafkas literarische Inszenierung des Verdachts akzentuiert die im Verdacht artikulierte Ursprungslosigkeit des Zeichens als Bedingung modernen Wissens – zugleich Herausforderung der Episteme und wirksame Technologie des Selbst im Dienste der Mikrophysik der Macht« (Strowick 2009, 135). 19 | Das Vokabular der Psychoanalyse definiert ›Paranoia‹ als »Chronische Psychose, die durch einen mehr oder weniger gut systematisierten Wahn, die Prädominanz der Interpretation, das Fehlen von Intelligenzabnahme charakterisiert ist und im allgemeinen nicht zur Vernichtung der Persönlichkeit führt« (Laplanche 1975, 365).

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S herlock H olmes als V erschwörungstheore tiker In der Figur des Detektivs verbindet sich der Verdacht als Wahrnehmungsparadigma für Wirklichkeit mit dem Fall, also einem begrenzten Auftrag oder einem zwar ungelösten, aber nicht unbegrenzten Rätsel, zu einer einmaligen Fähigkeit.20 Sherlock Holmes ließe sich demnach durchaus als ein »genialer Paranoiker« (Schneider 2010, 24) verstehen, dessen Blick auf die Welt dadurch gekennzeichnet ist, in jedem Ding ein Zeichen beziehungsweise einen Hinweis zu sehen, der potenziell in einem Zusammenhang mit seinem Fall steht oder eine Beziehung zu jenem herstellt. Diese »unbegrenzte Begabung […], all jene Verkettungen zu rekonstruieren, die die Realität zusammenhalten« (Boltanski 2013, 105), gleicht der Paranoia zwar strukturell, wird aber deswegen nicht pathologisch, weil sie nicht ungerichtet auf die Welt trifft. Der verdächtigende Blick des Detektivs beinhaltet eine Anklage wie auch den Vorwurf, es handle sich bei ›Etwas‹ um ein Geheimnis. Solange nicht erklärt/enthüllt ist, worauf ein Zeichen tatsächlich verweist, welche Rolle es in einem Beziehungsgeflecht von Zeichen einnimmt, steht es für ein Verbrechen.21 Das Geheimnis als Verbrechen, um das es dem Detektiv geht, bewegt sich im Rahmen einer geltenden Ordnung, die zwar nicht notwendig mit geltenden Gesetzen übereinstimmen muss, sich jedoch an diesen und sozial etablierten Normen orientiert. Wo diese Normen verletzt werden, also ein Verbrechen verübt wurde, können sie auch wiederhergestellt, kann ihnen Genüge getan werden (durch Bestrafung, Sühne, Wiedergutmachung). Die Arbeit des Detektivs beziehungsweise ihre Orientierung an geltenden Normen verhindert ein Ausufern seiner paranoiden Weltdeutung in den Wahnsinn. Der Auftrag (durch Klient oder Rätsel) wirkt wie ein Filter beziehungsweise eine Richtschnur, anhand derer Zeichen als Spuren gelesen und interpretiert werden. Wie bei der Jagd im Allgemeinen gibt auch die Jagd auf den Verbrecher eine Richtung vor, die den Detektiv/Jäger leitet. Sie erlaubt es ihm, die Spuren zu lesen und den Fall zu rekonstruieren. Indem das vormalige Rätsel vom Geheimnis (das heißt aktiv verborgen) zum erzählbaren Sachverhalt wird, verleiht der Detektiv ihm Sinn und stillt das Verlangen nach Erklärung/Theorie. Dennoch hat diese »Hypervernunft«22 als Höhepunkt eines

20 | Vgl. Kapitel I.1 »Spuren und Fakten«. 21 | Vgl. Boltanski 2013, 104. 22 | »Die Paranoia, die hier ernstgenommen wird, ist daher kein evidenter Wahnsinn. Sie spricht zwar häufig in einem Beweisexzess, der mächtige pathologische Züge entwickeln kann. Zumeist aber tritt sie alltäglich und unauffällig auf: […] Die Paranoia ist keine Unvernunft, sondern eine Hypervernunft« (Schneider 2010, 24).

II.2 Geheimnis und Verschwörung

gesteigerten »Normalitätssinns«23 pathologische Züge, denn ohne einen Fall, der seine gesamte geistige Kapazität beansprucht, richtet sie sich gegen Holmes selbst. Es ist nämlich nicht das Verlangen nach der Lösung eines Falles, das ihn antreibt, sondern das nach dem Lösen von Fällen, dem Zuordnen von Erklärungen zu verwaisten Indizes, vor deren Masse, ohne einen richtungsgebenden Auftrag, selbst Holmes kapitulieren muss. Die Aufgabe, Ordnung wiederherzustellen, erledigt Sherlock Holmes bezeichnenderweise nicht im Auftrag des Staates, sondern im Privaten. Strukturell trägt er so zum Gelingen der Ordnung bei, indem er diskret die Reinigungsarbeit vollzieht, die öffentlich nicht erledigt werden kann.24 Er steht dabei nicht nur dem Polizisten als öffentliche Verkörperung der Staatsmacht gegenüber, sondern auch dem Geheimagenten. Seine Rolle ist zentral für das Gelingen der modernen Verfassung, weil er ohne festen Auftraggeber und ohne Mandat zur paradigmatischen Figur der Mitte (zwischen Öffentlichem und Privatem, Justiz und Verbrechen, Moral und Verfehlung) wird.25 Während die (sichtbaren) Lösungen seiner Fälle Ergebnisse von Reinigungsarbeit sind, kennzeichnet die Arbeit der Vermittlung/Übersetzung seine Untersuchung. Desgleichen vermittelt er ohne Unterlass zwischen Gesetz und Moral, Wissenschaft und Intuition, verbindet verschiedene wissenschaftliche Disziplinen und bleibt bei all dem (als Übersetzer) ungreif bar. Er muss dabei jedoch nicht unsichtbar bleiben, wie sein nicht minder genialer Bruder Mycroft, der mit geheimen Staatsangelegenheiten betraut ist, wird aber auch nicht vollends öffentlich. Sherlock Holmes ist der »diskrete Doppelgänger dieser unsichtbaren Verkörperung der souveränen Macht [des Geheimdienstes, SN]« (Boltanski 2013, 148). Seine Position in der Mitte ist aber gleichzeitig (wie auch die des Geheimagenten) eine Außenseiterposition, weil dieser Ort der Mitte in der modernen Verfassung nicht vorgesehen ist. Geheimagent und Detektiv, darin gleichen sie Verbrechern, Terroristen und Attentätern, existieren nur in ihrer Arbeit beziehungsweise können nur in ihrer Arbeit sichtbar werden. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass das Sichtbarwerden im Falle von Verbrecher und Geheimagent gleichzeitig ein Versagen bedeutet, weil es Spuren und damit Indizien hinterlässt, die Verdachtsräume erst erschaffen. 23 | Die Fähigkeit, die Risse in der (normalen) Realität überhaupt wahrzunehmen, die in Abstufungen als common sense jedermann zur Verfügung steht, in der Figur des Holmes jedoch ihren Höhepunkt erreicht, weil er die Risse auch wieder zu schließen versteht (vgl. Boltanski 2013, 105; Kapitel I.1 »Spuren und Fakten«). 24 | Das betrifft insbesondere Skandale und Affären, die – öffentlich ausgebreitet – zu Störungen führen könnten, die das Funktionieren der Ordnung insgesamt gefährden würden (vgl. A Scandal in Bohemia; auch Boltanski 2013, 121-128). 25 | Freiheiten gegenüber der Rechtsordnung aufgrund von gespiegelter Beziehung zum Verbrecher (vgl. Boltanski 2013, 120).

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Holmes kann diesen Verdachtsräumen, die auf ihn einstürzen, wenn er ohne Fall ist, nur entgehen, indem er seine Sinne durch Drogen betäubt, um damit – auch wenn es paradox erscheint – seinen Verstand vor der unkontrollierbaren »Interpretations-Krankheit« (Horn 2007, 383)26 zu schützen. Die Unfähigkeit, unabhängig von seiner Aufgabe zu funktionieren, ist ein anderer Aspekt der Sherlock-Holmes-Figur als Paranoiker. Die totale Kontrolle aller im Fall auftauchender Zeichen steht in krassem Gegensatz zum totalen Kontrollverlust angesichts des fehlenden Ziels. Ohne die Richtung, die ihm ein Fall vorgibt, kann es keinen Halt für den Verdachtsblick geben. Die Fähigkeit, Verbindungen zu lesen beziehungsweise (sinnvoll) herzustellen, würde sich ohne Filter oder Richtung ungebremst zu einem scheinbar chaotischen Beziehungswahn auswachsen, ohne dabei jedoch ihre Strukturiertheit einzubüßen. »[D]espite the seemingly obvious marks of extreme (or pathological) cases of paranoia, it is remarkably difficult to separate paranoid interpretation from ›normal‹ interpretive practices« (Melley 2000, 17). Der Drogenkonsum legt allerdings den Schluss nahe, dass er seine Interpretationstätigkeit stilllegen muss, um seine produktive Paranoia nicht krankhaft werden zu lassen. Kontrolle, ihr Verlust und die Fähigkeit zu umfassender Interpretation hängen nicht nur bei Sherlock Holmes eng zusammen.27 Seine Ermittlungen erfüllen für ihn funktional den gleichen Zweck wie Verschwörungstheorien für Paranoiker: »[B]y offering a highly adaptable vision of causality, conspiracy theory acts as a ›master narrative‹, a grand scheme capable of explaining numerous complex events« (Melley 2000, 8).28 Holmes’ Erklärungshunger kann nicht gestillt werden, weil sein Fokus sich nicht auf einen einzigen Fall begrenzen lässt. Die Einzelerzählung des (gelösten) Falls wirft für ihn mehr Fragen auf, als sie beantwortet, weil sich mit jedem Mal mehr Signifikanten anhäufen, die ohne den Fall nahezu unendlich viele Signifikate haben könnten. Die Hypervernunft dieses Detektivs übersteigt die ›alltägliche‹ Variante der Paranoia, weil sie analog zu ihren Fähigkeiten ein Narrativ ungleich größerer Reichweite erfordert, um zur Ruhe zu kommen. Anders gesagt, die »außergewöhnliche Intelligenz« dieses Detektivs ermöglicht es ihm, die sozialen Beziehungsgeflechte und Netzwerke, die der Realität zugrunde liegen, so umfassend zu durchschauen, dass er trotz seiner an den Tag gelegten Souveränität und wegen seiner phänomenalen Fähigkeiten ungleich schwerere ›agency panic‹ entwickelt, sobald er nicht die Kontrolle (über einen Fall) hat. Damit steht er jedoch nicht alleine. Weder seine Interpretationsfähigkeit noch sein 26 | Vgl. Melley 2000, 16. 27 | »Rather than accepting a view of self-control as divided and less than absolute, the so-called paranoid stance retains an all-or-nothing concept of agency« (Melley 2000, 25; Hervorhebung im Original). 28 | Vgl. auch Koschorke 2012, 350.

II.2 Geheimnis und Verschwörung

Überblick sind Voraussetzungen für die Entwicklung von »agency panic«. Wie sich der Verdacht, von Geheimnissen umgeben zu sein, auf Anhieb vervielfältigt, wenn nur ein (Staats-)Geheimnis offenbar wird, so wird im gleichen Zug auch der Verdacht geschürt, dass entgegen des Autonomieversprechens die »agency« über das eigene Leben nicht bei einem selbst liegt.29 Dabei verkörpert die Holmes-Figur in vielerlei Hinsicht Autonomie in Reinform. Wo üblicherweise verschiedenartige Beziehungen und Verantwortungsnetzwerke die Autonomie des oder der Einzelnen gleichsam im Kleinen einschränken, hat Holmes als Junggeselle und selbstständiger Detektiv alle denkbaren Freiheiten.30 Zudem erlauben es ihm seine Intelligenz, Bildung, Wandlungsfähigkeit und Kontakte, sich frei durch die verschiedenen Gesellschafts­schichten zu bewegen, und doch sind es insbesondere seine Fähigkeiten, die seine agency einschränken beziehungsweise die ihn diese Einschränkung erkennen und stärker spüren lassen, als andere es könnten. Seine Unabhängigkeit, die letztlich eine Nicht-Zugehörigkeit ist,31 lässt ihn zwar qua Außenblick Verbindungen und Zusammenhänge erkennen, die es ihm ermöglichen, die kompliziertesten Fälle zu lösen; die Einsicht in die Vielfalt der Fremdbestimmungen muss jedoch seinen Glauben an Autonomie und Individualität zerstören. Für Holmes gibt es weder Zufälle noch freie Entscheidungen, Spontaneität oder gar Wunder – er hat alles schon einmal gesehen oder kann zu allem eine Verbindung herstellen. Letztlich verkörpert er demzufolge nicht Unabhängigkeit, sondern als Figur der Mitte die Modernen.

29 | »Indeed, the culture of paranoia and conspiracy may be understood as a result of liberal individualism’s continuing popularity despite its inability to account for social regulation. Agency panic dramatizes precisely this paradox. It begins in a discovery of social controls that cannot be reconciled with the liberal view of individuals as wholly autonomous and rational entities. For one who refuses to relinquish the assumptions of liberal individualism, such newly revealed forms of regulation frequently seem so unacceptable or unbelievable that they can only be met with anxiety, melodrama, or panic. Agency panic thus reveals the way social communications affect individual identity and agency, but it also disavows this revelation« (Melley 2000, 14; Hervorhebung im Original). 30 | Dieser Umstand lässt sich jedoch, das zeigen die jüngsten Adaptionen für Film und Fernsehen, auf verschiedene Weisen interpretieren. Während Sherlock in der gleichnamigen BBC-Serie (Conan Doyles Original folgend) kein Interesse an (Liebes-)Beziehungen zu haben scheint, ist der Detektiv der US-amerikanischen Serie Elementary eher zu sehr mit sich selbst und damit beschäftigt, clean zu bleiben, während die Sherlock-Holmes-Figur der Kinofilme von Guy Ritchie einem James-Bond-artigen Lebemann ähnelt, der seine Unabhängigkeit für verschiedene Affären nutzt. 31 | Eine weitere Ähnlichkeit zum Agenten James Bond.

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Holmes’ paranoide Haltung (paranoid stance) verhindert es, dass er, obwohl eine Figur der Mitte, eine Balance zwischen seiner notwendig paranoiden Tätigkeit und seinem ›Privatleben‹ herstellen kann. Dies aber, so suggeriert es die Konzeption der Figur und ihre Rezeption, bildet gleichzeitig die Voraussetzung für seinen Erfolg (der Figur und der Romane gleichermaßen). Er macht sich zum Instrument der Moderne, zu dem, der die ›zureichenden Gründe‹ findet, herstellt und das erklärt, was nicht ins moderne Bild zu passen scheint, oder das beseitigt oder vermeidet, was die Ordnung stören könnte. Um das zu erreichen, übernimmt die (paranoide) Vernunft Holmes als Person – er ist keine Person und kann keine werden. Im Gegensatz zu seinem Assistenten Watson kann er sich nicht für ein ›normales‹ Leben entscheiden. Seine Souveränität ist nicht mit persönlicher Autonomie gleichzusetzen, stattdessen bleibt sie an den »alltäglichen Ausnahmezustand« (Boltanski 2013, 149) gebunden. Seine Souveränität ist wie beim Geheimagenten gleichsam lizensiert, wenn auch nicht öffentlich. Seine Unabhängigkeit oder Bindungslosigkeit prädestiniert ihn dazu, diese Lizenz zu erwerben und souverän im Sinne der Ordnung zu handeln. Gebunden ist er jeweils an den Fall. Er kann deswegen keine agency beziehungsweise Autonomie über sein Leben haben, weil sein Leben ›bloß‹ als Komplementärleben zu den von ihm zu lösenden Rätseln und den von ihm zu überführenden Verbrechern existiert. Nur weil er denken kann wie sie, Verbindungen sieht wie sie und diese auf Schwachstellen abtasten kann, kann er seine Aufgabe erfüllen. Nur die Richtung seines Handelns – Erhalt der Ordnung statt ihrer Unterwanderung oder Zerstörung – unterscheidet ihn von seinen Gegnern. »Der Detektiv […], da er dieselbe Intelligenz und dieselbe Perversität besitzt wie der große Kriminelle, weiß sich seinerseits so an die Schwachstellen und Ritzen der Realität anzuschmiegen, dass er deren Inkohärenzen nutzen kann, was womöglich ebenfalls ihre Inkonsistenz enthüllen könnte« (Boltanski 2013, 73). Das Zeitregime des Noch-nicht-Wissens macht aus Geheimnissen Probleme, potenzielle Entdeckungen, hält aber auch die Möglichkeit bereit, dass das, was man noch nicht weiß, auch nicht besonders wissenswert sein könnte. Während Geheim-Gehaltenes einen Grund nahelegt, der den Aufwand rechtfertigt, etwas zu verbergen und damit einen besonderen Wert des Inhalts impliziert, ist das bloß Unbekannte möglicherweise keinerlei Aufwand oder Aufregung wert. So gefährlich die Paranoia von Holmes als Wahrnehmungsparadigma in der Politik (Pol der Gesellschaft) werden könnte, so harmlos, weil rationalisiert ist sie also für den Wissenschaftler. Dass der Detektiv sich als Figur der Mitte halten kann, wird von dieser extremen Konstellation begünstigt: Ganz integriert in die Wissenschaft und nicht integrierbar in der Politik ist er befähigt, durch die Methode der einen Seite (Indizienparadigma, Dispositiv des Verdachts) nicht nur Verbrechen und Rätsel zu lösen, sondern auch die Skandale von der anderen Seite abzuwenden. Die Reinigung (Ent-

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politisierung/Rationalisierung) der Hybriden (Rätsel/Geheimnisse) gelingt ihm durch Übersetzung der gesellschaftlichen in natürliche Phänomene und umgekehrt. Holmes garantiert die Ordnung, weil er selbst ein Hybrid ist, der sich, so könnte man unterstellen, dessen jedoch weitgehend bewusst ist (und die entsprechenden Maßnahmen zur Erhaltung seines Status ergreift). In seiner Reinform setzt der detektivische Interpretationswahn allerdings die oben beschriebene Abwesenheit von Subjektivität beziehungsweise die Abwesenheit eines eigenen Lebens und persönlicher Prioritäten voraus. Zwar folgt er mit beeindruckender Beharrlichkeit der Aufforderung der Spur32 beziehungsweise seiner Fälle, jedoch beschränkt sich das Interesse des Detektivs der Konstruktion nach auf die Aufklärung (und Bewahrung der Ordnung, folgt man Boltanski). Wie alle ›reinen‹ Denkbilder, ob Objektivität, Transparenz oder eben Interesselosigkeit, besteht auch hier der Verdacht, dass sie in ihrer Idealität ›geschönt‹ sind und sich dahinter ein Interesse, eine Subjektivität oder ein Geheimnis verbirgt. Latours Diagnose, dass sich ›Alles in der Mitte‹ abspiele, erlaubt es, dem Verdacht als solchem nachzugehen, indem weitere moderne Paradoxa formuliert/aufgedeckt werden: (a) Das Dispositiv des Verdachts ist das (wissenschaftliche) Paradigma zur Erfassung der ganzen Welt. Die Wissenschaft steht niemals unter Verdacht, weil sie objektiv und interesselos ist. (b) Menschliche Akteure, die einen Status als Person beanspruchen (agency), können niemals vollkommen objektiv oder interesselos sein, außer sie sind Wissenschaftler. (c) Nur in der (konstruierten) Gesellschaft werden interessegeleitete Handlungen vollzogen, wenn es Geheimnisse gibt, und dann nur dort, denn die Pole vermischen sich niemals. Alles ist transparent. Doch schon die Unterscheidung zwischen Laien und Experten verletzt anscheinend das Transparenzideal so nachhaltig, dass eine Wendung des Verdachtsdispositivs gegen die Wissenschaften kaum zu verhindern ist. Wenn Spezialwissen nicht vermittelt wird oder werden kann, obwohl geteiltes, das heißt frei zugängliches Wissen als Voraussetzung einer aufgeklärten modernen Gesellschaft gilt, wird es möglich, einen Unwillen der Wissenschaftler, also ein Interesse, ihr Wissen nicht zu teilen oder zu verbergen, zu vermuten. Der Verweis darauf, dass zwischen Wissen und Nicht-Wissen schlicht lange Jahre der (Spezial-)Ausbildung liegen, also die Affirmation eines Expertentums, dem grundsätzlich zu vertrauen sei, klingt im Falle der bereits geäußerten Verdächtigung nach einer schwachen Verteidigung. Richtet sich der Verdacht aber gegen die Wissenschaften beziehungsweise die Wissenschaftler, greifen höchst effektive Abschottungs­methoden, die den Sprecher disqualifizieren, indem ihm z.B. krankhafte Paranoia attestiert wird. Der Eindruck, selbst Geheimnisse zu haben oder gar zu produzieren, wird durch die Exklusionsmechanismen allerdings eher verstärkt. Ihr eigenes Para32 | Kapitel I.1 »Spuren und Fakten«.

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digma, so könnte man sagen, kann der Glaubwürdigkeit der Wissenschaften beziehungsweise dem (in der modernen Verfassung garantierten) Vertrauen in ihre Deutungshoheit zum Verhängnis werden. Denn wenn das Sichtbare immer nur Indiz für etwas Verborgenes ist, worauf verweist dann die ohnehin nur begrenzt sichtbare Arbeit der Wissenschaftler? Die Konsequenz, mit der die Exklusivität und Deutungshoheit von Expertenwissen verteidigt wird, lässt gerade für Außenstehende den Verdacht plausibel erscheinen, es handle sich um Zugangsverbote, also Praktiken des Arkanen. Ein Verdacht wird verschärft, wenn man bekannte Fälle wissenschaftlicher Geheimhaltung in die Überlegung miteinbezieht. Eines der prominentesten (ehemals) geheimen Projekte dieser Art ist das Manhattan Project. Eva Horn zeigt, wie ein wissenschaftliches Wissen in Zeiten des Krieges durch Geheimhaltungspraktiken, die zur massiven Einschränkung von Transparenz wissenschaftlichen Austausches führten, zur »Bombe« werden konnte.33 »Wissenschaftliches Forschen, das nicht vorankommen kann, ohne die Konkurrenz und den Austausch innerhalb einer scientific community, hatte sich im Falle der Kernphysik plötzlich abgekapselt […] Das Paradox könnte größer nicht sein. Modernes wissenschaftliches Wissen, das zwar durch hochgradige Spezialisierung, aber auch grundsätzlich offene Zugänglichkeit gekennzeichnet ist, wird hier zu einer Arkanwissenschaft« (Horn 2007, 387).

Interessant ist dabei vor allem, dass es nicht die Wissenschaftler (Wissenschaften) sind, die etwas verbergen beziehungsweise das Verbergen von ›etwas‹ veranlassen, sondern sie (und ihre Forschung) es selbst sind, die verborgen werden. Ihr Wissen und die daraus resultierenden technischen Entwicklungen werden zur Geheimwaffe in einem Krieg. Erst in dem von Horn benannten Paradox, das aus der Verbindung wissenschaftlicher und politischer Arbeit entsteht, entwickelt das Geheimnis im doppelten Sinne Sprengkraft. Wie Holmes ist das Manhattan Project eine Figur der Mitte, die die Bedingungen beider Seiten (Wissenschaft und Politik) ganz vertreten muss: Es erfordert absolute Geheimhaltung bei gleichzeitig notwendig offenem Austausch innerhalb der Forschungsgemeinde. Während Holmes jedoch weitgehend interesselos handelt und damit im Hintergrund der modernen Ordnung für deren Erhalt arbeitet, liegt dem Manhattan Project ein umso deutlicher formulierbares Interesse zugrunde. Es soll den Erhalt einer Ordnung garantieren, indem es einen technologischen Vorteil im Krieg gegen andere Mächte garantiert. Wenn Interesselosigkeit jedoch eine der Voraussetzungen für wissenschaft­liche Arbeit ist 33 | »Das Wissen und Können eines Wissenschaftlers wie Bohr war die Bombe, noch bevor sie tatsächlich gebaut und getestet war« (Horn 2007, 387). Vgl. des Weiteren ebd., 386-393.

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und politische Interessen davon getrennt/gereinigt werden müssen, wie kann dann ein solches Hybrid-Projekt gelingen? – Indem es auf allen Ebenen geheim gehalten wird. Unabhängig davon, ob sich die Wissenschaftler im Einzelnen dessen bewusst sind, welches Interesse ihre Arbeit leitet oder wozu ihre Forschung eingesetzt wird, erlaubt die Praxis der Geheimhaltung die Aufrechterhaltung der modernen Ordnung.34 Im ›Innern‹ des Geheimnisses befinden sich die Wissenschaftler und, wichtiger noch, mit ihnen die Wissenschaft. Die Bedingungen für das Gelingen der wissenschaftlichen Arbeit werden gesichert, indem »ein internationales, an völlig unterschiedlichen Ausgangshypothesen arbeitendes Forscher-Netzwerk im Manhattan Project kaserniert und homogenisiert wird« (Horn 2007, 388). Sie sind – sofern es innerhalb der Mauern gelingt, die Tatsache des Eingeschlossenseins zu ignorieren – sogar ideal, denn auch wenn die Publikation der Ergebnisse eingeschränkt ist, erreichen die Entwicklungen umgehend (und auf wesentlich kürzerem Weg als üblich) alle relevanten Knotenpunkte des Netzwerks. Darüber hinaus stehen den Forschern unbegrenzte finanzielle Mittel zur Verfügung, ohne dass jeweils Rechenschaft über Anwendbarkeit und Relevanz der Forschung abgelegt werden müsste. Lehre und andere Verpflichtungen des universitären Betriebs spielen selbstverständlich auch keine Rolle mehr. Dem Anschein nach gewährleistet die Verschränkung wissenschaftlicher Forschung mit militärischen Interessen eine ›reinere‹ Wissenschaft, als sie in einem vergleichsweise unabhängigen Kontext vorstellbar ist. Die Soldaten und Geheimdienstler, die die Wissenschaftler von einem ›Außen‹ abschirmen, die also zu Agenten des Arkanen werden, indem sie das Kommunikationsverbot im Wortsinn bewachen, können somit auch als Agenten der modernen Verfassung verstanden werden, die die Realisierung einer wissenschaftlichen Utopie ermöglichen. So gesehen stützen sich Oppenheimer (wissenschaftlicher Leiter) als Vertreter des einen Pols und Major Groves (militärischer Leiter) als Vertreter des anderen Pols der modernen Verfassung gegenseitig. Eine solche Interpretation lässt jedoch, ganz abgesehen vom Ideal der Transparenz, außer Acht, dass die Wissenschaftler eben nicht ›frei‹ sind. Ganz im Gegenteil dient die scheinbar ideale Forschungssituation einem konkreten Zweck des entgegengesetzten Pols, der nicht nur machtpolitische, sondern zerstörerische Wirkung entfaltet (hat). Die effektive Abschottung der Wissenschaftler von störenden Einflüssen garantiert, wenn man so will, durch ein militärisches 34 | Vgl. Dotzler 2004. Die Petition, die Truman davon abhalten sollte, die Bombe tatsächlich einzusetzen, oder anders gesagt, ihrer Bestimmung zuzuführen, kann einerseits als Zeichen der Naivität der beteiligten Wissenschaftler gedeutet werden, andererseits bezeugt sie, wie effektiv die Trennungen von Wissenschaft und Politik und Krieg und Forschung in das hybridisierte Forschungsprojekt hineinreichen.

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Verbot die formale Einhaltung der modernen Verfassung bei gleichzeitiger Intensivierung der Hybridproduktion. Die Trennung ist absolut. Weil sie aber auf den Zweck der Instrumentalisierung des Geheimnisinhalts, der Forschung, ausgerichtet ist, kann sie die Verfassung gleichermaßen absolut verraten. Im Manhattan Project lässt sich also das von Latour beschriebene beeindruckend effektive Funktionieren dieser Ordnung beobachten, aber auch sein Verdacht, der besagt, dass je rigider die Trennung verteidigt wird, desto mehr Hybride im Rücken derselben produziert werden. Für die Ordnung selbst ist dabei (auch im Falle der Atombombe) weniger gefährlich, was entwickelt wird, als dass etwas der Möglichkeit öffentlicher oder gemeinschaftlicher Wahrnehmung entzogen wird. Wenn ein Fall wie dieser doch bekannt wird, noch dazu durch den Einsatz der im Geheimen entwickelten Waffe, enthüllt sich damit auch die Reichweite der Kontrolle, welche die geheimhaltende Macht ausüben kann, und wirft damit die Frage auf, wie viel der offenbaren Realität von Geheimnissen unterhöhlt ist und wie frei die Mitglieder einer Gesellschaft sich in einer solchen Wirklichkeit überhaupt bewegen können. In Kriegszeiten mag diese Form der Geheimhaltung zu rechtfertigen sein beziehungsweise keiner Rechtfertigung zu bedürfen. Ohne einen erklärten, das heißt bekannten und vor allem erkennbaren Feind, vor dem etwas verborgen werden müsste, steht diese Praxis aber unter dem Verdacht, nicht zum Schutz einer Gruppe vor einer anderen, sondern zur Kontrolle der ›eigenen Leute‹ eingesetzt zu werden. Die Unterscheidbarkeit von Freund und Feind wird in jedem Fall fragwürdig, selbst oder gerade wenn die Fronten klar zu sein scheinen. Je weniger ein Krieg auf Schlachtfeldern und von uniformierten Armeen geführt wird, desto mehr verlagert er sich in eine Parallelwelt. In der Außenwelt mögen Freund und Feind (z.B. Osten/Westen) klar zu trennen sein. Diejenigen, die jedoch in die Tatsache der Existenz einer zweiten geheimen Wirklichkeit eingeweiht sind, leben in einer »Unterwelt des geheimen Krieges«, in der »Freund und Feind nicht mehr voneinander zu unterscheiden [sind]. Der eine ist der Traum des anderen, der eine ist der Bruder des anderen« (Horn 2007, 356). Wie Sherlock Holmes gelingt es denjenigen, die dieser Unterwelt angehören können, sich jedweder Situation so anzupassen, dass sie zu keinem Zeitpunkt auffällig werden, also den common sense oder Normalitätssinn der Öffentlichkeit und im Idealfall der anderen Agenten zu keinem Zeitpunkt stören. Anders als die Agenten des Arkanen (seien es die Militärs vor Los Alamos oder die Mitglieder einer verschworenen Geheimgesellschaft), die sozusagen neben einem ›Betreten verboten‹-Schild stehen, werden die secret agents unsichtbar, weil sie so normal aussehen oder sind.35 Anders als der Detektiv werden sie 35 | Mit der Schwierigkeit zu erkennen, ob etwas der Geheimhaltung wert ist, was Geheimnis ist und was nicht, wer dem Geheimdienst angehört und ob man ihm selbst angehört oder welche Rolle man dort spielt, spielt neben John Le Carré (The Spy Who Came

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dadurch selbst zu Zeichen, die interpretiert werden müssen/können, weil sie neben ihrer Funktion als Instrument einer Ordnung die Funktion des Normal-Aussehens/-Seins erfüllen müssen. In diesem Sinne gibt es ausschließlich Doppel- oder Mehrfachagenten. Neben der Paranoia von Holmes (alle Dinge sind Zeichen und Spuren) und der Staatsparanoia (überall sind Feinde) spielt hier jedoch noch eine dritte Form des Beziehungswahns beziehungsweise der unaufhaltsamen Interpretationsfähigkeit eine Rolle. Während Geheimdienstagenten sich von Berufs wegen in der Unter- oder Parallelwelt des Geheimnisses bewegen, also als Experten anzusehen sind, da sie um die Existenz von Geheimnissen wissen, gibt es all jene, die der »Masse der normalen Menschen, die friedlich in ihren Betten schlafen können« (Horn 2007, 356), angehören und als Laien höchstens ahnen können, dass es eine andere Welt als die offensichtliche gibt. Sie stehen gleichsam auf der anderen Seite des modernen Zeitregimes, des wissenschaftlichen Noch-nicht-Wissens. Wenn die (formlose) Öffentlichkeit von einem Geheimnis erfährt, so im Modus des Nicht-mehr. Einerseits weil die Enthüllung des Geheimnisinhalts das Geheimnis als solches zerstört (Nichtmehr-Geheimnis); andererseits weil es möglicherweise auch nicht mehr relevant ist. In dem Moment, in dem die Atombombe als Waffe eingesetzt wird (im Gegensatz zur Testzündung), ist die Geheimhaltung der Tatsache ihrer Entwicklung (nicht der Baupläne) irrelevant. Das ist jedoch nicht immer der Fall. Wird ein Geheimnis enthüllt oder verraten, dessen Inhalt noch nicht von Seiten der geheimhaltenden Autoritäten ›freigegeben‹ wurde, handelt es sich um einen Skandal.36 Üblicherweise gefährdet ein Skandal die Ordnung nicht nachhaltig. Wie in der Wissenschaft gibt es auch hier Verfahren, die dem Verdacht begegnen – Dementi, Geständnisse, Rücktritte und die Neubesetzung von semi-zentralen Posten gehören zu den bekanntesten. Der Übergang zur Tagesordnung gestaltet sich in vielen Fällen jedoch nicht so problemlos. Denn zu ahnen, aber nicht wissen zu können, was die offizielle Wirklichkeit möglicherweise verbirgt, kann sich unterschiedlich auswirken – von Unsicherheit über ein umfassendes Misstrauen gegenüber jeder Form von (offizieller) Autorität bis hin zur Überzeugung, die Welt sei voller Verschwörungen, die anstelle der sichtbaren Institutionen die eigentliche Kontrolle innehaben. Das Wissen, mehr aber noch die Ahnung, dass sich hinter jeder sichtbaren Normalität eine zweite (dritte, vierte …) Realität verbergen kann oder dort verin From the Cold) und Graham Greene (Our Man in Havanna) jüngst auch Ian McEwan (Sweet Tooth). 36 | Und damit handelt es sich um die Ereignisform, deren Auftauchen der HolmesDetektiv mit aller Macht zu verhindern sucht – er ist damit in jeder Hinsicht das Gegenteil eines (noch so detektivisch begabten) Whistleblowers.

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borgen wird, die jeder öffentlichen Kontrolle entzogen ist und autonom ihren eigenen Regeln folgt, zieht eine Kultur des Misstrauens und des Verdachts nach sich. An diesem Punkt verabsolutieren sich die verschiedenen Formen von Geheimnis, Verdacht und Interpretationstätigkeit und kulminieren in einer sich ausbreitenden agency panic. Dieser kann mit Lethargie oder Ignoranz begegnet werden oder sie kann eine gesteigerte Unsicherheit und ein verstärktes Bedürfnis nach Erklärung erzeugen. Ein Weg, der agency panic zu begegnen, um nicht angesichts des Chaos der möglichen, aber unsichtbaren Realitäten zu verzweifeln, kann sein, davon auszugehen, dass es in dieser Parallelwelt – sei sie staatlich, von großen Unternehmen oder Geheimgesellschaften, Terrornetzwerken oder jemandem initiiert – Regeln gibt. »Die Unterstellung eines Komplotts ist Sinnzuweisung, die dem massendynamischen Geschehen seinen chaotischen Charakter nimmt und es in eine geheime Ordnung eingliedert« (Lachmann 1998, 422). Das bedeutet, dass nicht jeder Erklärungsversuch, der das Wirken einer geheim oder zumindest unsichtbar agierenden Macht unterstellt, Ausdruck pathologischer Paranoia oder eines Verfolgungswahns ist, sondern zunächst als Effekt moderner Ordnung gelesen werden sollte. Die Unterscheidung von Freund und Feind, Sichtbarem und Unsichtbarem, Spur und Zufall ist für den Außenstehenden oder die Unwissende ungleich schwieriger, weil er oder sie zu Autodidakten des Spuren-/Zeichenlesens werden muss. Der Entwurf einer Theorie kann dabei ein entscheidender Faktor sein, der die Kluft zwischen Geheimnisexperten und Laien, Verschwörern und Manipulierten zumindest in der Selbstwahrnehmung letzterer verkleinert. Die narrative Form der Verschwörungstheorie ermöglicht es so, Sinn durch eine geschlossene Erzählung herzustellen und damit Autonomie beziehungsweise agency zurückzugewinnen: »Vom einfachen Verschwörungsverdacht unterscheidet sich die Verschwörungstheorie durch die Selbstaffirmation als intellektuelle Tätigkeit, durch die Huldigung, die sie nicht nur der entborgenen Wahrheit, sondern auch der Brillanz der eigenen Konstruktion entgegenbringt« (Gregory 2009, 45). Die Selbstbestimmung des Verschwörungstheoretikers als »einzige[m] [Denker] unter lauter Nichtdenkenden« (ebd.) erhebt ihn nicht nur über die Masse, der er einmal angehörte, sondern auch über die vermeintlichen Verschwörer, denen er nun auf Augenhöhe begegnen kann. Der Verschwörungstheoretiker bewegt sich als Figur zwischen Aufklärer und Prophet – als Aufklärer erkämpft er sich seine Autonomie durch intellektuelle Tätigkeit, als Prophet hat er den Zugang zu einer verborgenen ›Wahrheit‹ gefunden, die der möglicherweise ebenso verdeckten Verbreitung bedarf.37 Die Verkündung von 37 | Ein interessantes Beispiel dafür ist die Figur des Verschwörungstheoretikers Charlie Frost (Woody Harrelson) in Roland Emmerichs Katastrophenfilm 2012, der über einen Piratensender verbreitet, die Regierung verheimliche Wissen über einen drohen-

II.2 Geheimnis und Verschwörung

Verschwörungs­t heorien gleicht Kassandrarufen. Der aufklärerische Anspruch und die Behauptung einer allumfassenden Wahrheit der Verschwörung kann – unabhängig davon, ob sie zutrifft oder nicht – von offizieller Seite nicht unterstützt werden, ohne ihre institutionelle Organisation infrage zu stellen. Vielmehr dient die Bezeichnung einer Vermutung als ›Verschwörungstheorie‹ oder einer Person als ›Verschwörungstheoretiker‹ der Disqualifizierung von Person und Aussage als Lüge/Lügner oder Verrückter. Dabei sind paranoische (Verschwörungs-)Theorien anhand (der Form) ihrer Argumente nicht von rational-wissen­schaftlicher Theorie zu unterscheiden, »also nicht ausschließlich mit Blick auf die Eigenarten des Diskurses selbst, sondern nur durch eine Falsifikation der behaupteten Fakten« (Krause/Meteling/Stauff 2009, 28). Das im wissenschaftlichen Denken etablierte Dispositiv des Verdachts kommt in beiden Fällen gleichermaßen zur Anwendung und erlaubt keine Unterscheidung anhand der Art und Weise, wie Argumente gebildet und angeordnet werden. Die Unterscheidung wird darüber hinaus dadurch erschwert, dass Verschwörungstheorien gleichsam per definitionem plausibel sind beziehungsweise sich strukturell selbst plausibilisieren und damit an keiner Stelle unerklärlich oder unverständlich sind, obwohl sie ›wissenschaftlich‹ aussehen. Dadurch werden sie ›leichter‹ zugänglich und in gewissem Sinne glaubhafter als wissen­schaftliche Erklärungsmodelle, die nicht nur Spezialkenntnisse erfordern, sondern auch das Aushalten von Kontingenz. Trotzdem handelt es sich nicht um bloße Simplifizierungen der Wahrnehmung komplexer Realität(en), sondern um komplexe Gebilde, die jedoch auf eine breite Wahrnehmbarkeit ebenso angewiesen sind wie auf die Bildung einer ›Gemeinschaft‹, die der Theorie dadurch, dass die Zeichen von vielen gelesen werden und mehr Anzeichen hinzugefügt werden, größeres Gewicht und Plausibilität verleihen soll. Bei politischen Verschwörungstheorien handelt es sich um »totalisierende Welterklärungssysteme, die die Komplexität moderner politischer Verhältnisse reduzieren und deren Kontingenz wegerklären« (Horn 2007, 384). Ob sie dabei offiziell verkündet oder inoffiziell verbreitet werden, ob die Autoritäten selbst davon überzeugt sind, dass sie zutreffen oder nicht, spielt letztlich keine Rolle für ihre Wirksamkeit. Sie erfüllen nicht nur in Ausnahmesituationen gesellschaftliche Funktionen; Verschwörungstheorien werden, als Antidot zur agency panic verstanden, zum Garant des Funktionierens der Moderne. Wie Holmes dienen Verschwörungstheorien der Moderne, indem sie die laufend produzierten Reste, potenziellen Skandale und Hybride verarbeitet, das heißt entweder reinigt oder die Brüche durch Erklärungen glättet (übersetzt). Dass sie ständig »Bedeutung an einer Stelle generieren, die dafür nicht vorgesehen ist« (Hahn 2009, 110), den Weltuntergang. Er stirbt schließlich freiwillig in Christuspose in dem, seine Theorie schließlich bestätigenden, Ausbruch eines Supervulkans.

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ist also, analog zur Produktion von Hybriden, nur scheinbar problematisch. Eigentlich ist die Moderne nur wegen dieser verbotenen/geheimen/verschwo­ renen Produktivität überhaupt so erfolgreich. (Wie) Kann man aber dem Verschwörerblick und der agency panic entkommen? Wenn die Moderne nicht das »falsche Bewusstsein der Modernen« (Latour 2008, 57) ist, ist sie dann vielleicht ihre Verschwörung? Auch Latour liest die Existenz von Hybriden als Zeichen für eine verborgene Produktion, die, käme sie ans Licht, die Modernen empfindlich stören könnte. Doch Latour entgeht dem, indem er »in Form der Idee einer symmetrischen Anthropologie […] begriffliche Angebote für eine epistemologische Befragung und Auflösung der durch Medien und Müll induzierten Paranoia [macht]« (Hahn 2009, 118). Die Formel »wir sind nie modern gewesen« umgeht die Entweder-oder-Logik der Moderne und löst dadurch die agency panic auf. Sie verhindert oder verneint dadurch weder Autonomie oder Individualität (genauso wenig wie die Existenz von Natur und Kultur), sondern relativiert sie, sodass auch Hybride aus Autonomie und Abhängigkeit, Individualität und Masse denkbar und beschreibbar werden. »Es gilt also, die soziotechnischen Netze zu begreifen und die Hybriden zu Wort kommen zu lassen. Erst dann lässt sich das Denken in Verschwörungen und die Flucht von Enthüllung zu Enthüllung, von Demaskierung zu Demaskierung überwinden« (Hahn 2009, 119). »[Dadurch] macht [die Analyse von sozialen Netzwerken, SN] dem Komplott ein Ende, das sich in einem riesigen Beziehungsgefüge zwischen Knotenpunkten auflöst, ob diese nun mit Personen besetzt sind oder nicht. So entgeht die Soziologie auch der Anschuldigung, sich in ›Verschwörungstheorien‹ zu verlieren« (Boltanski 2013, 440).

Das Problem, das Boltanski und Hahn hier übersehen, ist, dass eine symmetrische Anthro­pologie von Geheimnissen nicht gleichzeitig Geheimnisse und deren Inhalt – ist der bekannt, existiert das Geheimnis als solches nicht mehr – analysieren kann. Geheimdienstlich geschütztes/verborgenes Wissen und Staatsgeheimnisse im Allgemeinen, wirtschaftliche Geheimnisse (Produktentwicklung etc.) und auch private Geheimnisse sind ja dezidiert nicht verfügbar. Die Untersuchung kann daher nur (medial) vermittelt stattfinden. Daraus ergeben sich jedoch weitere Hindernisse: »Medien machen Phänomene sichtbar, die ohne sie nicht erkennbar gewesen wären, verstellen zugleich aber auch den Blick auf die Wirklichkeit, indem sie diese gemäß ihrer eigenen Gesetzmäßigkeiten präsentieren und verfremden« (Krause/Meteling/Stauff 2009, 10). Nicht nur produzieren Medien also ebenso viel Verborgenes, wie sie möglicherweise enthüllen, sie können selbst zu Zeichen werden, hinter denen das Wirken geheimer Mächte zu vermuten ist.

II.2 Geheimnis und Verschwörung »Medien manipulieren und diese Manipulation kann deswegen wie jedes überzeugende Komplott umso plausibler unterstellt werden, je mehr sich ihre Operationen – und damit sind meist sowohl ihre technologischen Voraussetzungen wie auch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, in die sie eingebettet sind, angesprochen – der Sichtbarkeit entziehen« (Krause/Meteling/Stauff 2009, 17).

Wie über das Unmögliche lässt sich auch über das Geheime am besten im Modus der Fiktion sprechen. Die Untersuchung (markiert) fiktionaler Darstellungen ermöglicht es, Geheimnisse und deren Inhalt in den Blick zu nehmen, ohne notwendig davon ausgehen zu müssen, dass sich dahinter geheime Interessen verbergen. Das heißt nicht unbedingt, dass fiktionale Texte sich der Schwierigkeiten entziehen können, die für Medien im Allgemeinen gelten. Sie verlieren jedoch – anders als beispielsweise eine Reportage, bei der sich erweist, dass sie im (geheimen) Auftrag einer Regierung oder ›der Industrie‹ geschrieben wurde – nicht ihren ›Wert‹, wenn Sie ›im Auftrag‹ geschrieben sein sollten.38 »Fiktionen sind […] die luzideste Möglichkeit, in der Moderne über das politische Geheimnis zu sprechen. Gerade weil Fiktion den Anspruch von Historikern und Journalisten aufgibt, die eine historische Wahrheit über ein Ereignis vortragen zu können, ist sie besser als alle anderen Diskursformen geeignet, von Geheimnissen zu sprechen, ihre Form zu erläutern – ohne diese Geheimnisse endgültig lüften zu können und zu wollen. […] Literarisches Erzählen ist in der Lage, das Rätsel, um das die ganze Erzählung kreist, in seiner Rätselhaftigkeit zu lesen zu geben und genau damit eine Einsicht in das Funktionieren des Geheimnisses zu ermöglichen, ohne es zu lösen. Erst in einer solchen Lektüre erschließt sich die Struktur einer Wissensform, die Wissen und Unwissen, Wahrheit und Lüge in eine unauflösliche Verbindung bringt« (Horn 2007, 11; Hervorhebung im Original).

Die im Folgenden zu analysierenden Tunguska-Fiktionen thematisieren das Ereignis in all seinen Facetten als arkanum, secretum und mysterium und inszenieren gleichzeitig ihre je eigene Rolle innerhalb des Tunguska-Diskurses. Dadurch gelingt es, die Möglichkeit, die Unerklärtheit des Ereignisses sei dem Entzug von Wissen geschuldet, als etwas, dass sich zu verbergen lohnt, erzählerisch vorzuführen, ohne eine konzise Tunguska-Verschwörung zu behaupten. Dabei spielen die Fiktionen mit ihrem ›Realitätsbezug‹, ›wahren‹ Begebenheiten und verweisen selbst »auf die Möglichkeit, dass [die Erzählung] nur eine ›cover story‹ sein könnte.« 38 | Um die Beziehung von Geheimdienst und Literatur und die Möglichkeit, Literatur/ Kunst im Kalten Krieg als Waffe einzusetzen, dreht sich z.B. Ian McEwans Spionageroman Sweet Tooth.

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Die Produktion der Katastrophe »Fiktion [hat] den Vorteil, diese Schwierigkeiten des Themas in Form ihrer Darstellung, ihrer narrativen Struktur mitzuerzählen. Nur der Modus des Fiktiven, kann etwas erzählen und zugleich etwas anderes zu lesen geben, mehr noch den instabilen Grund der Erzählung selbst mit darstellen« (Horn 2007, 32; Hervorhebung im Original).

Anders als Rätselfiktionen geht es Geheimnisfiktionen des Tunguska-Ereignisses demnach nicht so sehr um die Aufklärung eines unbekannten und potenziell störenden Phänomens, sondern vor allem um die Produktion (und Erhaltung) von Geheimnissen. Um das Geheimnis als solches zu erzählen, ohne es zu zerstören, muss die Welt im gleichen Zustand bleiben, das heißt, sie muss auch am Ende der Erzählung im gleichen Anteil aus Eingeweihten und Ausgeschlossenen bestehen. Zwischen Tunguska, den Aufklärern des Geheimnisses und dem Leser wird eine eigene Verschwörung geschlossen, die allerdings dazu führt, dass die Ordnung nicht hinterfragt oder angezweifelt – wie es die beständigen Rätsel in den vorgestellten Science-Fiction-Romanen ermöglichen –, sondern bestätigt wird. Machtverhältnisse können zwar scheinbar enthüllt werden, aber sie zu ändern, stellt ein Risiko dar. Wissen ist hier eben kein allgemeines oder verallgemeinerbares Gut, sondern wird als exklusiver Besitz einiger weniger Auserwählter, besonders Begabter oder außergewöhnlich Beständiger inszeniert. Akteure, die über den Inhalt des Geheimnisses Bescheid wissen, gewinnen zwar an Handlungsfähigkeit (agency) und überwinden ihre Panik davor, innerhalb eines unsichtbaren Netzes von Machtverhältnissen die Kontrolle zu verlieren, ihre Eigenständigkeit bleibt jedoch einem Ereignis untergeordnet. Anstatt der umfassenden Änderungen und Unsicherheiten, die Tunguska als Novum oder Rätsel verursachen kann, wird das Tunguska-Geheimnis zum Kern konservativer, ordnungsaffirmierender Erzählungen.

V erdächtige W issenschaf ten – Tungusk a -G eheimnisse Geheimnisse lassen sich dort vermuten, wo entweder Leerstellen oder Wissenslücken sichtbar werden oder vorhandene Erklärungen den komplexen Überlagerungen verschiedenartiger Umstände nicht gerecht zu werden scheinen. Ähnlich wie Laien das Scheitern der Wissenschaften am Tunguska-Ereignis postulieren, behaupten die im Folgenden zu untersuchenden Romane, der wissenschaftliche Zugang zum Ereignis sei ›zu einfach‹ und lasse (bewusst) Dinge aus. Zunächst erscheint dieser Vorwurf nicht weit von Latour entfernt zu sein, behauptet er doch, dass nur ›gereinigte‹ Fakten an die Oberfläche kommen, das heißt öffentlich wahrnehmbar werden. Die Texte positionieren sich jedoch innerhalb der Moderne und argumentieren zumeist innerhalb derselben dichotomischen Logik wie die Modernen. Zwar ist die Annahme, es gäbe ›mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als die Schulweisheit sich

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träumen ließe‹, ein Leitmotiv der Geheimnis- und Verschwörungsfiktionen, jedoch bleibt sie argumentativ innerhalb des Schemas wahr/falsch der Modernen, wenn auch auf der anderen Seite. Tatsächlich wird die »Flucht von Enthüllung zu Enthüllung, von Demaskierung zu Demaskierung« (Hahn 2009, 119) zur treibenden Kraft der Handlung innerhalb dieser Fiktionen. Aber auch sie sind bevölkert von Hybriden. Das setzt einerseits die Thematik des Geheimnisses voraus, andererseits lässt sich aber auch der Inhalt der Geheimnisse, das, was verborgen und enthüllt wird, als unterschiedliche Mischungen von Geheimnistypen, aber auch als Hybride von Natur/Kultur, Wissenschaft/Magie und Sichtbarem/Unsichtbarem beschreiben. Dabei spielt die Identifikation von Leerstellen (Unerklärtheit/Unerklärbarkeit) eine ebenso zentrale Rolle wie die von Anschlussstellen. Die Leerstelle der Erklärung ›einfach‹ zu besetzen, reicht auch im Modus der Fiktion nicht aus, um sie plausibel zu machen. Zwar hängt das, was als plausibel gelten kann, wie bei der Science Fiction von Genrebedingungen ab, die Zuweisung allein ist jedoch nicht genug. Anders als in den Texten der Science Fiction, die im letzten Kapitel untersucht wurden, stehen hier nicht die Praktiken der Bildung und die Reichweite von Wissen im Vordergrund, sondern der Verdacht, dass beides begrenzt, unterwandert und verborgen wird. Während also Elemente wie technologischer Fortschritt, wissenschaftliche Institutionen und die Existenz von Kräften, die außerhalb der ›Schulweisheit‹ liegen, auch hier von großer Bedeutung sind, liegt das Gewicht auf den Praktiken des Verbergens. Diese werden wiederum durch verschiedene rhetorische Strategien plausibilisiert, unter anderem indem ihnen Tiefe und Realitätsbezug unterstellt werden, die jeweils narrativ durch Detailreichtum und die sich dadurch ergebende Komplexität der Plots (im Doppelsinn von Erzählung und Verschwörung) entstehen. Über die Tatsache der bisherigen Unerklärtheit hinaus stellt sich das Tunguska-Ereignis (in diesen Fiktionen) deswegen als komplex dar, weil die räumlichen und zeitlichen Dimensionen sich auf interessante Weise überlagern. Die topografische Abgelegenheit des Schauplatzes der Explosion ist augenfällig. Mitten in Sibirien, mitten im Wald, mitten im Sumpf – Tunguska erscheint weit weg von allem, was das moderne Leben kennzeichnet. Die wenigen menschlichen Bewohner der Gegend lassen sich auch als in jeder Hinsicht weit weg vom modernen Leben kennzeichnen: Die in Stämmen organisierten Ewenken, die Augenzeugen des Ereignisses wurden und deren Schamanismus und mythische Erklärungsmuster für das Ereignis mit dem Ort verknüpft werden, sind hier von besonderem Interesse. Pelzhändler und Jäger in den Außenposten der Zivilisation (allen voran Wanawara) können eine Rolle spielen, werden jedoch oft als ›fremd‹ im Gegensatz zu den ortsverbundenen Ureinwohnern dargestellt. Oft wird auch hier die bereits angesprochene romantische Vorstellung aufgerufen, die Riten und Mythen der Ewenken, seien

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aufgrund der örtlichen Nähe und intimen Verbundenheit und Kenntnis des Landes vor dem Wissen der Forscher privilegiert. Hier wird bereits deutlich, inwiefern auch Ort und Zeit des Ereignisses neben Ursache und Erklärung hybridisiert werden beziehungsweise als Hybride betrachtet werden. Der Ort lässt sich eben nicht nur durch Fakten (z.B. Koordinaten, Bodenbeschaffenheit und Klima) beschreiben, sondern wird im Zusammenhang mit seinen Bewohnern und deren Kultur, Religion und Mythen gelesen. Diese Perspektive ähnelt also einer ethnologisch-ethnografischen Sichtweise, die um verschiedene historische und kulturelle Aspekte erweitert werden kann/muss. Kommt die Rede auf ›Sibirien‹, so ist es kaum möglich, von einer ›reinen‹ Ortsbezeichnung auszugehen, denn sie enthält eine Reihe von Konnotationen, die vielfältige Narrative des Geheimen und Geheimnisvollen evozieren und Bilder von Fremdheit und Gefahr aufrufen – zumal wenn es um die Zeit um und ab 1908 geht: Sibirien als unwirtlicher Ort, mit Schnee und undurchdringlichen Wäldern –, scheinbar das Ende der Welt; Russland als geschlossenes/verschlossenes Land, das, obgleich angrenzend, aus europäischer Sicht fremd erscheint; der Bau der sibirischen Eisenbahn von Zwangsarbeitern wird ebenso aufgerufen wie Stalins Gulags; der Übergang zum fernen Osten kann ebenso assoziiert werden wie eine Wildheit und Grausamkeit (der Natur und der sich darin bewegenden Menschen), die dem ›Wilden Westen‹ der USA gleicht; die Russische Revolution, die Weltkriege und vor allem der Kalte Krieg können einen Eindruck davon geben, welche Themen anhand des Tunguska-Ereignisses verhandelt werden können. Als Tunguska-Geheimnis verstanden erlaubt es das Ereignis, nicht nur die direkt mit dem Ereignis in Zusammenhang gebrachten Phänomene und deren Erforschung, sondern auch deren historische Situierung und mögliche Bedeutung zu inszenieren. Der Verdacht der Verschleierung bildet dabei ein Fundament, das die Anschlussfähigkeit aller Dimensionen des Ereignisses (Ort, Zeit, Ursache, Erklärung) garantiert und Verknüpfungen in alle Richtungen ermöglicht. Der paranoide Blick ist hier, so könnte man sagen, als paranoides Erzählen realisiert. Die Überlagerung beziehungsweise Verknüpfung der Dimensionen schlägt sich auch strukturell in der Verbindung der Erzählebenen, der Handlungsstränge und der Geheimnistypen nieder. Wolfgang Hohlbeins Die Rückkehr der Zauberer39 organisiert diese Ebenen zirkulär. Sowohl zeitlich als auch räumlich geht alles von Tunguska aus und führt gleichermaßen vorwärts und rückwärts gerichtet zur Lösung des Geheimnisses. Der Roman beginnt in der Gegenwart des Ereignisses und endet dem Titel gemäß nicht nur mit der Rückkehr nach Tunguska, sondern auch mit einer Abkehr von den eingeschränkten Erklärungsmodellen der Moderne und der Rückkehr zu einem ganzheitlichen, magischen Bild von Welt und Geschichte. Das Tunguska-Geheimnis ist hier 39 | Vgl. Hohlbein 2003.

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im Kern ein Mysterium, denn ›Kern‹ wird hier wörtlich genommen, insofern als sich am Ort der Explosion das Tor zu einer transzendenten außerweltlichen und außerzeitlichen Gegenwart verbirgt. Die Suche nach Erklärung führt ebenso in die Erde wie aus ihr heraus. Der Roman ist in vier Bücher aufgeteilt, die die vier Stadien der Nähe zu Tunguska und der Aufklärung des Ereignisses repräsentieren. Der erste Teil, Ogdy, erzeugt durch die interne Fokalisierung auf den Soldaten Petrov die Illusion des unmittelbaren Erlebens der Gegenwart des Ereignisses. Petrov, den sein Auftrag, geflohene Rebellen zu verfolgen, in die Gegend der Steinigen Tunguska führt, wird zum Augenzeugen der Explosion. So wird es möglich, die Fakten des Ereignisses zu benennen (Zeitpunkt, Ort, Explosion, Feuersbrunst), seine katastrophischen Ausmaße zu illustrieren (Plötzlichkeit, Zerstörung, Gewalt) und diese gleichzeitig erlebbar zu machen und in den thematischen Rahmen der Erzählung einzuordnen. Der Romanbeginn erfüllt hier vor allem die Funktion, das Leserinteresse zu wecken, indem emotionales und rationales Interesse gleichermaßen angesprochen werden. Dabei ist interessant, dass nicht in erster Linie von einem Rätsel oder Geheimnis gesprochen wird, sondern es darum geht, die Katastrophe aus der Perspektive des zufällig und dezidiert rationalen Beobachters zu erleben. Einerseits wird so die Notwendigkeit der Zusammenfassung der Phänomene vom 30. Juni 1908 elegant vermieden und andererseits werden die Kontraste, die den Roman bestimmen, bereits zu Anfang etabliert. Petrov, Anführer einer Soldatentruppe, erlebt das Ereignis zwar zufällig, jedoch nicht unvoreingenommen. Die Begegnung mit dem alten Schamanen Tempek und dem kleinen Jungen Haiko, der seherische Fähigkeiten besitzt, bestimmt nicht nur sein Erleben, sondern rahmt darüber hinaus auch die sich von dort aus entwickelnde Handlung des Romans und die Wahrnehmung des Geheimnisses. Das, was Petrov als Nordlicht bezeichnet, ist für den Schamanen und den Jungen Vorzeichen einer drohenden göttlichen Bestrafung: »Der Gott des Feuers und des Donners. Der Junge glaubt, dass Ogdy sich anschickt, auf die Erde herabzusteigen. Das Licht kündigt sein Nahen an« (Rückkehr, 20). Petrovs Reaktion auf diese Prophezeiung (»Blödsinn«, ebd.) und die Darstellung der folgenden Ereignisse werden zum Muster für den ganzen Roman. Sein Zweifel an der Gültigkeit eines solchen Glaubens an das Übersinnliche weicht angesichts der Katastrophe der Gewissheit der Wahrheit dessen, was er noch kurz zuvor mit aller Kraft geleugnet hat. »Der Himmel flackerte. Alles färbte sich blau, indigo und grün und etwas ganz und gar Unvorstellbares geschah: In diesem Moment, in jenem winzigen zeitlosen Augenblick, in dem seine Welt zerbrach und in dem nichts, woran er je geglaubt hatte, noch Gültigkeit zu haben schien, wusste Petrov plötzlich, dass Tempek die Wahrheit sprach, dass er sich

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Die Produktion der Katastrophe ein Leben lang gegen eine höhere, gnadenlose Gerechtigkeit versündigt hatte und – vielleicht – nur noch diese eine Chance hatte. […] Ogdy kam« (Rückkehr, 58).

Am Ort des Ereignisses kommen in Hohlbeins Roman Ort und Zeit zueinander und lösen sich gleichzeitig ineinander auf. Die Beschreibung der Explosion, der Verletzungen Petrovs und aller seiner Sinneseindrücke wird gerahmt von den Ort und Zeit umfassenden Sätzen, die die notwendig konsekutive Erzählung der Begrenzungen von Zeit und Raum entheben. »Dann explodierte die Welt […] Das alles geschah in einer einzigen, nicht enden wollenden Sekunde.« (Rückkehr, 59) Am Anfang wie auch am Ende des Romans passiert dort alles gleichzeitig und überall. Die Aufhebung von Zeit und Raum im Moment der Katastrophe wird in den folgenden drei Teilen des Romans von einer Fülle von Ereignissen und einer langen und beschwerlichen Reise von Deutschland (beziehungsweise Irland) bis in die sibirische Taiga kontrastiert. Die Teile Chakren, Gulag und Charon spielen in der Gegenwart des Jahres 1998.40 Das Muster bleibt bestehen: mehr oder weniger skeptische Menschen (der skeptischste von ihnen ist der Fokalisator der weiteren Erzählung, der Journalist Hendrick Vandermeer), die die Wahrheit übersinnlicher Kräfte, vor allem aber die Unzulänglichkeit des modernen rationalen Weltbilds am eigenen Leib erfahren. Der Ort, an dem sich die Explosion des Jahres 1908 ereignete, zieht eine Gruppe Auserwählter magisch an und birgt das Potenzial, die Welt zu zerstören. Die Welt des Romans und seine Figuren erweisen sich als erfüllt von der »Urkraft der Schöpfung«, deren Ursprung und Effekt gleichermaßen im Boden der sibirischen Taiga verborgen sind und verborgen werden. Es handelt sich um das letzte Mysterium, das Tor in »[d]ie andere Welt, die jenseits der Wirklichkeit liegt« (Rückkehr, 391). Wer Zugang zu diesem Nicht-Ort gewinnt, gewinnt gleichzeitig die Allmacht eines Gottes. Gelangt diese Macht in falsche Hände, wird sie zur ultimativen Waffe. Die Untersuchungen vor Ort zu verbergen, dient also einem machtökonomischen Interesse.41 Solange niemand weiß, was sich dort befindet, kann ungehindert geforscht werden. Es durch wissenschaftliche Sprache für die Öffentlichkeit unsichtbar zu machen und den rationalen Zweifel an einer Wahrheit hinter der unbefriedigenden wissenschaftlichen (Nicht-)Erklärung zu stärken, dient daher genau diesem Zweck. Das Tunguska-Geheimnis ist demnach gleichzeitig als secretum und mysterium 40 | »Auf den Tag 90 Jahre nach dem Ereignis« (Rückkehr, 535) datiert Vandermeer die zweite, kleinere Explosion in Sibirien, die seine Aufmerksamkeit überhaupt erst in die Region gelenkt hatte. 41 | Auch wenn an verschiedenen Stellen behauptet wird, dass »keinerlei politische Ambitionen« (Rückkehr, 384) im Spiel seien, verfolgt jeder Akteur eigene Interessen, die wiederum der Logik der Enthüllung und Demaskierung folgen. Wer die ›Guten‹ und wer die ›Bösen‹ in dieser Geschichte sind, zeigt sich erst zum Schluss (Rückkehr, 764).

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präsent. Während die weltlichen (Macht-)Interessen sich an den Praktiken von Geheimdiensten und des organisierten Verbrechens orientieren,42 ist das ›Tor‹ selbst tief in der Erde verborgen. Dass es erst beinahe ein Jahrhundert nach dem Ereignis gefunden wird, ist darauf zurückzuführen, dass es sich nicht im Zentrum des Explosionsherds befindet. Dort findet sich jedoch ein äußerliches Zeichen, eine Pyramide, die auf die Existenz des heiligen Ortes verweist und alle Spekulationen über nukleare Explosionen oder UFOs beendet.43 »›Es ist … ein Tor‹, murmelte er [Vandermeer]. Die Erkenntnis nahm erst in dem Moment in ihm Gestalt an, in dem er die Worte aussprach, aber sie war jenseits allen Zweifels. Es war ein Tor, aber zugleich war es auch viel mehr: ein Siegel, das niemals gebrochen werden durfte. Niemals« (Rückkehr, 597).

Die Pyramide selbst ist ebenfalls lange in der Erde verborgen gewesen und die Methode, sie freizulegen, stellt sich nicht nur als »Dummheit« (ebd.) heraus, sondern wird zur Ursache des Ereignisses von 1908. Gwyneth, eine von Vandermeers Begleiterinnen, hat wie ihr Sohn die Kraft, Explosionen zu erzeugen. Als sie erfährt, dass ihr Sohn bei der ›Bergung‹ der Pyramide starb (Rückkehr, 694), entfesselt sie eine solche Energie, dass die Zerstörung der Welt nur dadurch verhindert wird, dass sie aus Wanawara gleichsam in die Vergangenheit und den hunderte Kilometer entfernten Ort der Explosion ›entweicht‹. Die Orte und Zeiten sind miteinander auf eine Weise verbunden, die nicht rational zu erfassen ist. Obwohl die Pyramide am Ort des Tunguska-Ereignisses und gleichzeitig unter der Siedlung in Wanawara gefunden wird, handelt es sich nicht um verschiedene Objekte oder gar eine Kopie. »›Es existiert nur diese eine‹, sagte Haiko. ›Doch es gibt mehr als einen Weg, der zu ihr führt. Alle Wege enden an diesem Ort‹« (Rückkehr, 746). Wie auf dem Weg zum Allerheiligsten in einem Tempel müssen verschiedene Räume durchschritten werden. Der Weg zum letzten Mysterium führt in Die Rückkehr der Zauberer immer tiefer in die Erde und damit in den Kern des 42 | Beim Anblick der riesigen Anlagen in Wanawara erkundigt sich Vandermeer nach ihrem Ursprung: »Der Geheimdienst. […] Der Grundstein wurde noch zu Zeiten des letzten Zaren gelegt. Später hat dann der KGB das Projekt übernommen und weitergeführt, aber was Sie hier sehen, ist erst in den letzten drei oder vier Jahren entstanden. Seit wir [Abteilung des KGB für Paranormales, SN] es übernommen haben.« (Rückkehr, 576) 43 | »Das Objekt hatte die Form einer perfekten gleichschenkligen Pyramide. Seine Oberfläche schimmerte in einem sonderbaren türkisstichigen Blau und war so glatt, dass sich ihre Gestalten als verzerrte Spiegelbilder darauf abzeichneten« (Rückkehr, 594). »[D]ie Flanken des Pyramidensteins [waren] über und über mit kunstvollen Symbolen bedeckt« (ebd.).

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Geheimnisses hinein. Haiko, der mittlerweile greise Seher und Augenzeuge des Tun­guska-Ereignisses, führt Vandermeer und seine Begleiterin durch eine Reihe von Heiligtümern unterschiedlicher Religionen. Je näher sie dem Geheimnis kommen, desto ›ursprünglicheren‹ Ursprungs sind die Verehrungsstätten. Eine unterirdische koptische Kirche führt sie in ein schama­nistisches Heiligtum und schließlich in einen Tempel, der älter ist als die Menschheit.44 Der im tiefsten Innern der Erde verborgene Ort kann, wie auch die Pyramide im Zentrum des Explosionsherdes, nur von jenen gefunden und in seiner ›Wahrheit‹ erfasst werden, die das eigentliche Mysterium, die Existenz der Urkraft der Schöpfung in allen Menschen, in besonderer Weise spüren.45 Die Verbundenheit kann nicht über rationales Wissen hergestellt werden, sondern nur durch die Überwindung der eigenen Skepsis. »[…] das war keine Angst; es war die Gegenwart von etwas Fremden, vielleicht jener körperlosen, allgegenwärtigen Kraft […], die in der Nähe der Pyramide spürbar war. Nur begriff [Vandermeer] jetzt zum ersten Mal [angesichts des Ortes, SN], welcher Art diese Kraft war. Sie befanden sich an einem heiligen Ort. Sicherlich nicht heilig in dem Sinne, in dem die Theologen und Priester das Wort benutzten. Es war kein geweihter Boden, auf dem irgendein Märtyrer sein Blut vergossen hatte. Was er spürte, war die Nähe einer anderen, viel gewaltigeren Wirklichkeit als der, die er bisher gekannt hatte. Plötzlich wusste er mit zweifelsfreier Sicherheit, dass Wassili Recht hatte. Jedes Wort, das er ihnen erzählt hatte, war wahr« (Rückkehr, 651).

Die Kraft, von der im Roman immer wieder die Rede ist, ist hier aufs Engste mit einem Ort verbunden und gleichzeitig mit allen Orten und allen Zeiten. Es handelt sich um ein Tor, eine Zone des Übergangs ins Jenseits, die von einem Wächter46 bewacht werden muss. Dieser Wächter entstammt der jeweils den Planeten beherrschenden ›Rasse‹, enthält also die Gewissheit, dass die Men44 | Vgl. Rückkehr, 742. 45 | »Dieser Tempel unter einem Tempel unter einem Tempel. Es war kein Zufall, es war auch nicht – jedenfalls nicht nur – der simple Grund, dass jenes Volk mit seinem Tempel den Glauben und somit die Erinnerung an seine Vorgänger überdecken wollte. Der Grund lag viel tiefer. Es war dieser Ort, das, was er hier spürte« (Rückkehr, 656; Hervorhebung im Original). Die räumliche Ordnung, die auf das Allerheiligste ausgerichtet ist, entspricht nicht nur insgesamt einer Tempelarchitektur, sondern enthält explizit sowohl die Leugnung von Kontingenz und Zufall als auch die Leugnung des ockhamschen Prinzips. 46 | Dieser Wächter, so stellt sich heraus, war seit 1908 der Soldat Petrov. Ihm wird die »Qualität der Gewalt« zugeschrieben, die das 20. Jahrhundert auszeichne. Abgelöst wird er nun von einer Frau, die (weil sie eine Frau ist) ein Jahrhundert des Friedens verspricht: »›Dann ist das Jahrhundert des Kriegers endgültig vorüber?‹ Anja lächelte. ›He – auch eine Göttin kann nicht hexen. Es wird schon noch eine Weile dauern. Aber ich denke, es

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schen nur eine Rasse unter vielen sind.47 Der Charakter des Wächters wiederum bestimmt den Charakter des Zeitalters: »Dieser Ort war niemals leer gewesen, denn er konnte nicht leer sein […] es [musste] immer einen Menschen geben […], der diesen Ort bewachte, solange er existierte. Ein Hirte für ein Zeitalter der Sanftmut, ein Kind für eine Ära des Friedens, vielleicht ein Fanatiker für die Zeiten der Hexenverfolgung und des Wahnsinns und im letzten Jahrhundert einen Krieger« (Rückkehr, 757).

Die Rückkehr der Zauberer inszeniert das Tunguska-Ereignis als Spur, die auf ein Jenseits verweist, das alle Orte, alle Zeiten und alles Wissen enthält. In diesem Roman wird das Unmögliche möglich, indem eine Spur, die nicht indexikalisiert werden kann, weil sie die Gegenwart Gottes beziehungsweise der »Urkraft der Schöpfung« enthält, zu einem konkreten Ziel führt. Die Spur des Anderen48 wird zur Spur des Eigenen, weil die Akteure das Andere in sich selbst erkennen. Nur deswegen kann das Allerheiligste betreten werden, ohne es zu entweihen, weil es durch einen Menschen besetzt werden muss. Der dem Roman zugrundeliegenden Idee nach ist das Geheimnis, dessen Spur das Tunguska-Ereignis ist, in dieser Fiktion selbst das absolut Andere. »Ursache und Wirkung, selbst wenn sie durch die Zeit getrennt sind, gehören zur selben Welt. […] Die Spuren, die sie markieren, gehören mit zu dieser Fülle der Gegenwart, ihre Geschichte ist ohne Vergangenheit. Die Spur als Spur führt nicht nur zur Vergangenheit, sondern ist das Übergehen selbst […] zur Vergangenheit des Anderen, in der sich Ewigkeit abzeichnet« (Lévinas 1998, 234).

Anders aber als in Bezug auf die Zone in Picknick am Wegesrand gibt es in dieser Erzählung Menschen, die aufgrund ihrer übernatürlichen Fähigkeiten in der Lage sind, dieses Andere nicht nur zu erkennen, sondern auch zu verstehen. Offen bleibt, ob die Figuren dieses Romans ihr Wissen und ihre Erfahrung teilen (können) oder ob sie das Mysterium wie ihre Vorgänger bewahren und den Zugang dazu begrenzen werden. Die Explosion, die ins Jahr 1908 entweicht, hinterlässt auch im (fiktionalen) Jahr 1998 ihre Spuren und zerstört die über Jahrmillionen aufgebauten Kultstätten, die die Pyramide umgeben. Der

wird vielleicht die ein oder andere – Veränderung geben. Oder auch ein paar mehr. Seit heute Nacht ist Gott eine Frau, vergiss das niemals.‹« 47 | Vgl. Rückkehr, 756. 48 | »Und in der Tat haben wir Wert darauf gelegt, festzuhalten, daß die Spur nicht mit etwas in Verbindung setzt, das geringer wäre als das Sein, sondern daß sie eine Bindung ist in Hinblick auf das Unendliche, das absolut Andere« (Lévinas 1998, 232).

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Logik des Romans nach werden es vermutlich wenige Auserwählte bleiben, denen der Zugang zu diesem Mysterium vergönnt ist. Auch der Tunguska-Roman Martina Andrés verweist schon im Titel auf die Thematisierung magischer Kräfte. Dennoch inszeniert Schamanenfeuer das Geheimnis, das die Ursache des Ereignisses ist, weniger allumfassend und, was für diese Untersuchung von besonderem Interesse ist, von vornherein als Hybrid aus (geheimem/secret) technischem Fortschritt und (mystischen) schamanischen Kräften. Die zeitliche Struktur verläuft hier nicht zirkulär, sondern folgt der Rätselspur parallel auf zwei Zeitebenen, vermeidet dadurch nicht zuletzt, die Erzählung durch eine zu lange Auflösung aus dem Gleichgewicht zu bringen. Datierte, sich abwechselnde Kapitel markieren deutlich, ob es sich um erzählte Vergangenheit oder Gegenwart handelt. Der »Historische Teil«49 umfasst den Werdegang des Studenten der gerade entstehenden Elektrotechnik Leonard Schenkendorff in den Jahren von 1905 bis 1908. Die Gegenwartshandlung ist im Jahr 2008 angesetzt, genau 100 Jahre nach der Explosion, und umfasst eine geologische Expedition ins Gebiet der Tunguska sowie die abenteuerliche Flucht der Geologin Viktoria Vanderberg und des im Verlauf der Handlung zu ihrem Geliebten gewordenen ewenkischen50 Schamanenanwärters Leonid Aldanov. Die wissenschaftliche Expedition soll offenbar als Fassade und Legitimation für ein geheimes Meteoritenabwehrsystem dienen und wird privat durch den russischen Oligarchen Bashtiri, dem Vorsitzenden der Firma »GazCom«, finanziert. Sie fördert neben den dubiosen Interessen ihres Finanziers und seinen Verbindungen zum ehemaligen Geheimdienst der UdSSR auch einige Objekte zutage, die den Schluss zulassen, dass es sich bei der Explosion um eine Technologiekatastrophe gehandelt haben muss. Viktoria und Leonid decken in einer Serie lebensbedrohlicher Unterneh­mungen einerseits die Verstrickungen Bashtiris in Kriegsverbrechen des Tschetschenienkrieges (an dem Leonid teilgenommen hat und in dem er zum Zeugen von Bashtiris Verbrechen wurde, weswegen dieser ihm nach dem Leben trachtet), andererseits die Ursache des Tunguska-Ereignisses auf. Die Vermutungen werden schließlich durch ein Tagebuch bestätigt, das die Verbindung zur zweiten Erzählebene herstellt. Es stammt von einem Vorfahren Leonids, jenem Studenten der Elektrotechnik, der mit einigen anderen Ingenieuren und Wissenschaftlern in einem Gefangenenlager des Zaren an einem streng geheimen Projekt beteiligt war.

49 | Wird im Roman so bezeichnet (vgl. »Personenverzeichnis« in Schamanenfeuer, 490). 50 | Martina André benutzt, anders als Hohlbein, bei dem es ›Tungusen‹ heißt, den politisch korrekten Namen der Ureinwohner des Gebietes um die Steinige Tunguska.

II.2 Geheimnis und Verschwörung »Tatsächlich wurden Schenkendorff und zwei andere Studenten seinerzeit deportiert. Man nötigte sie, im Auftrag des Zaren eine Geheimwaffe zu konstruieren. Doch ihnen fehlte das notwendige Wissen, um die Sache zu Ende zu bringen. Um die sogenannte Zar-Bombe experimentell zünden zu können, bedienten sie sich des sogenannten Schamanenfeuers« (Schamanenfeuer, 363-364).

Das Schamanenfeuer dient als magische Energiequelle und als Zünder der Bombe, der die Kettenreaktion, also die Explosion, auslöst. Da die Verbindung, die die Schergen des Zaren zu diesem Zweck mit den ewenkischen Schamanen eingingen, allerdings zwei verfeindete Familien gegeneinander ausspielte, führte sie dazu, dass die gegnerischen Schamanen versuchten, sich gegenseitig zu behindern und dadurch einerseits gewaltige Energiemengen freisetzten und andererseits den Zorn des Gottes Ogdy auf sich zogen. Ob es nun Odgy war, der durch die Explosion dem Treiben ein für alle Mal ein Ende setzte, oder die durch die Kräfte der Schamanen erzeugte Antimaterie, bleibt offen. Das Ereignis selbst gilt zum Ende des Romans jedoch als geklärt. Geheim bleibt dieses Projekt, weil »der Versuch, eine frühe Form der Bombe im Jahr 1908 zu konstruieren gründlich daneben gegangen [ist], und wer lässt sich in einer solchen Situation schon gern in die Karten schauen? Der Kriegsminister hat in seinem eigenen Interesse und im Auftrag des Zaren sämtliche Hinweise vernichten lassen, damit die durchaus brauchbaren Ansätze nicht in die Hände der Feinde Russlands gerieten. Ganz zu schweigen von dem seltsamen Mysterium, das die Angelegenheit umgab« (Schamanenfeuer, 365).

Die Form der Geheimhaltung ähnelt der in Die Rückkehr der Zauberer, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass die verbergenden Parteien hier ganz genau wissen, was sie verbergen und warum. Familien-51 und Staatsgeheimnisse sind hier gleichermaßen verschwörungsfähig und verbinden sich miteinander zu einem Netzwerk aus Narrativen, das durch die nebeneinander existierenden Versionen von Welt und Wirklichkeit hergestellt wird. Die in Anlehnung an das Manhattan Project gestaltete Waffenent­w icklung unterscheidet sich ebenfalls entscheidend von ihrem Vorbild,52 denn die Wissenschaft-

51 | Leonid und Viktoria beschließen am Ende des Buches, die »Wahrheit« geheim zu halten, indem sie sie in einem Geflecht aus bereits bestehenden Familiengeheimnissen und -legenden geradezu verstecken (Schamanenfeuer, 442). 52 | Von der Tatsache einmal abgesehen, dass die Entdeckung der Kernspaltung, die eine Voraussetzung für die Entwicklung von Kernenergie- und Kernwaffentechnik war, erst 1938 stattfand.

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ler sind Zwangsarbeiter des Zaren und das Projekt misslingt.53 Es scheitert an der Unkontrollierbarkeit der Verbindung technologischer und magischer Energie. Weder kann es hier eine ›rein‹ technologische Lösung geben, noch ist es möglich, das Schamanenfeuer tatsächlich zu ›nutzen‹, weil Moderne und Schamanen gleichermaßen ihre Gesetze und Prinzipien verletzen. Was hier enthüllt wird, ist also kein Mysterium oder Militärgeheimnis, sondern die Tatsache, dass beide miteinander vermischt wurden. Die Strafe Ogdys, die das Projekt letztlich beendet, trifft alle Beteiligten. Seine offenbarte Existenz ist, wenn man der Interpretation des Romans hier folgt, etwas, das beiden Seiten geschadet hat. Die Erklärung, die Schamanenfeuer für das Tunguska-Ereignis entwickelt, muss geheim gehalten werden, weil sie auf die fatale Verbindung zweier Welten verweist, die zwar nebeneinander existieren können,54 aber unter keinen Umständen vermischt werden dürfen. Bei allem Gewicht, das dieser Roman den Fantasy-Elementen einräumt, handelt es sich also um eine dezidiert moderne Erzählung. Zwar werden auch hier Zusammenhänge zwischen der rationalen und der spirituellen Welt inszeniert, aber anders als bei Hohlbein ist die spirituelle Kraft nicht Teil des Alltags, sondern muss wie die moderne Welt überliefert, bewahrt und reingehalten werden. Schamanenfeuer kombiniert verschiedene Theorien über das Ereignis. Die Annahme, es müsse sich um etwas gehandelt haben, das ›nicht von dieser Welt‹ ist, trifft hier strukturell und inhaltlich auf Verschwörungstheorien,55 die sich auf vermeintliche Geheimwissenschaften und Geheimdienststrukturen stützen: UFO-Theorien, Geheimdienstverwicklungen, Teslas Todesstrahlen, nukleare Explosionen und verschiedene andere Theorien, die voraussetzen, dass jemand weiß, was passiert ist, dieses aber geheim hält. Auch wissenschaftliche Annahmen wie die, es gebe einen Krater, der bisher jedoch für einen See gehalten wurde, finden Erwähnung.56 Der Roman positioniert sich durch verschiedene Strategien innerhalb des Tunguska-Diskurses. Inhaltlich steht insbesondere die Betonung der Seriosität der Expedition im Vordergrund, die

53 | Schenkendorffs Familie wird als Geisel gehalten und schließlich getötet, weswegen er in die sibirische Tunguska-Region flieht und dort neu anfängt (vgl. u.a. Schamanenfeuer, 365). 54 | Praktiken des Geheimen gibt es auf beiden Seiten und dort, wo sie getrennt bleiben, funktionieren sie auch. Die Geheimhaltung des Projekts kann den gesamten Kalten Krieg über (und darüber hinaus) gewährleistet werden und auch die Weitergabe der Mysterien des Schamanismus gelingt in den alten Initiationsriten (vgl. Schamanenfeuer, 238-239). 55 | Vgl. Verma 2005, 175ff. 56 | Vgl. Schamanenfeuer, 71.

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durch die Distanzierung von Verschwörungs­theorien erreicht werden soll57 und durch die Bestätigung einiger Verschwörungstheorien kontrastiert wird (Geheimwissenschaft, Geheimdienstarbeit, Schamanismus). Interessant ist, dass Schamanenfeuer sich insgesamt durch die paratextuelle Rahmung in diesem Feld positioniert und damit seine Erzählung/Erklärung auch über die intradiegetisch erwähnten Tatsachen hinaus an den Diskurs anschließt. So wird dem Roman neben der Widmung eine kurze Beschreibung des Romans vorangestellt, die alle typischen Elemente der Tunguska-Erzählung enthält und gleichzeitig die Erwartung eines großen Geheimnisses weckt: »Am frühen Morgen des 30. Juni 1908 ereignete sich in Sibirien im Gebiet der Steinigen Tunguska eine verheerende Explosion, deren Auswirkungen in halb Europa zu spüren waren und deren genaue Ursache bis heute nicht geklärt werden konnte. Hunderte von Theorien wurden in der Folgezeit entwickelt […] Bis heute bleibt Raum für die unterschiedlichsten Spekulationen, und es ist fraglich, ob man jemals die ganze Wahrheit erfahren wird …« (Schamanenfeuer, 5).

In Verbindung mit dem Nachwort eröffnet die Frage, »ob man jemals die ganze Wahrheit erfahren wird …«, einen Rahmen, der nicht nur den Raum für Spekulationen innerhalb der Fiktion weidlich nutzt, sondern diese durch die genaue Beschreibung der Recherche und der »Sachbücher«, die »meine Phantasie zu einer ganz eigenen Überlegung beflügelten« (Schamanenfeuer, 493), explizit als Teil des Diskurses konzipiert. Zwar wird kein Wahrheitsanspruch der eigenen Überlegung behauptet, er wird aber auch nur scheinbar relativiert. Der Hinweis darauf, dass die Darstellungen der in der »Geschichte vermittelten Inhalte zum sibirischen Scha­ma­nen­t um in großen Teilen meiner schriftstellerischen Phantasie entspringen und keinen ausreichenden Einblick in die Tradition der sibirischen Schamanen gewährleisten können« (ebd.), führt gerade nicht dazu, dass die gesamte Erzählung zu ›bloßer‹ Fiktion/Fantasie erklärt wird, sondern eine klare Richtlinie vorgegeben wird, welche Teile als ›realere‹ und welche als fiktivere gelesen werden müssen. Indem Peter Krassas Tunguska. Das rätselhafte Jahrhundertereignis im Nachwort als »[s]tellvertretend für alle Sachbücher zum Thema ›Tunguska-Ereignis von 1908‹« hervorgehoben wird, wird indirekt auch der Anspruch erhoben, gleichberechtigt mit den 57 | In seiner Presseerklärung formuliert der Leiter der deutschen Forschergruppe den Anspruch, zu beweisen, »dass es weder ein Angriff der Zylonen war […] noch, dass die verrückte Erfindung eines kroatischen Professors [Nikola Tesla, SN] dahinter steckt, der zum vermeintlichen Zeitpunkt mit nicht näher nachweisbaren Todesstrahlen zu experimentieren pflegte.« Es geht stattdessen darum, »unsere russischen Freunde darin zu unterstützen, endlich einen seriösen Grund für die Katastrophe von Tunguska zu finden« (Schamanenfeuer, 33; Hervorhebung SN).

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»engstirnige[n] Akademiker[n]« (Krassa 1983, 256) spekulieren zu dürfen. Die »wahre Begebenheit« (ebd.), deren »ganze Wahrheit« möglicher­weise für immer verborgen bleibt, kann mithilfe der entsprechenden Recherche, so wird hier suggeriert, und mit den Mitteln der Fantasie ›erforscht‹ werden. Auch Bill DeSmedts Tunguska-Roman Singularity bedient sich einer solchen Rahmung durch eine Einleitung und ein paratextuelles Nachwort.58 Seine achtseitige »Introduction« kombiniert eine Reihe von Theorien über das Ereignis mit einer Erzählung, die, wie bei Hohlbein, das Ereignis ›erlebbar‹ macht. Ihren Höhepunkt findet sie aber in der Vermutung, »[t]hat the Tunguska Event was nothing less than a collision between the Earth and a submicroscopic black hole« (Singularity, 8). Diese in der »Introduction« als »perhaps most outlandish« bezeichnete Hypothese stammt aus einem Artikel der Zeitschrift Nature aus dem Jahr 1973. »Albert A. Jackson IV und Michael P. Ryan Jr. had the audacity to theorize that what had struck the Earth in June 1908 was a remnant of the Big Bang« (ebd.). Obwohl die These des Artikels (»Was the Tungus Event due to a Black Hole?«)59 auf wenig Zustimmung stieß – oder gerade deswegen –, entwickelt Singularity einen Plot, der nicht nur auf dieser Annahme basiert, sondern sie mit den Interessen ehemaliger KGB-Offiziere verbindet, die sich erhoffen, das schwarze Loch dazu nutzen zu können, den historischen Zustand wiederherzustellen, der den Höhepunkt ihrer Macht bedeutete: die Welt des Kalten Krieges. Mithilfe des schwarzen Lochs plant Arkady Grigirieyevich Grishin, der Anführer des sogenannten »shadow KGB«, »to undo the assassination of Yuri Adropov in 1984. And [to] resurrect the Soviet Union« (Singularity, 8). Science-Fiction-Elemente und Spionageroman verbinden sich hier zu einem Wissenschaftsthriller, der mit der Idee des Weltuntergangs ebenso spielt wie mit der Kontrollierbarkeit der Dimensionen. Der Plan der Schurken ist es, das schwarze Loch, das, wie sich herausstellt, die Erde nicht durchquert hat,60 sondern immer noch im Erdkern kreist, durch die Weiterentwicklung (geheimer) Sowjetforschungen ›einzufangen‹ und von seinem Ereignishorizont zu befreien, um seiner Energie habhaft zu werden:

58 | Das Nachwort mit dem Titel »Further Reading« erzählt die Geschichte der Entstehung des Buches und der »science behind the book«, ausgehend von einer TV-Dokumentation bis hin zur Website des ›echten‹ Jack Adlers (der seinen Namen wiederum einer Figur des Romans entliehen hat) (vgl. www.vurdalak.com und Singularity, 493-499). 59 | Vgl. Jackson/Ryan 1973. 60 | Damit legitimiert der Text seine Hypothese, denn eines der Hauptargumente gegen die These von Jackson und Ryan lautet, dass es auch einen Austrittskrater geben müsse.

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Gelänge das Vorhaben, könnten der Lauf der Geschichte verändert und die Machtverhältnisse auf der Erde gedreht werden. Gelingt es jedoch nicht, das schwarze Loch unter Kontrolle zu halten, droht es, die Erde und all ihre Bewohner zu verschlingen.61 Das Risiko des Weltuntergangs ist allerdings angesichts dieser Aussicht für die Bösewichte nur ein geringer Preis. In der Darstellung der Enthüllung des Geheimnisses ähnelt Singularity den beiden bereits besprochenen Texten. Auch hier werden mehrere zunächst scheinbar autonome Erzählebenen miteinander verknüpft und führen zum ›Zentrum‹ des Geheimnisses. Dabei sind vor allem drei Standorte beziehungsweise Bewegungslinien von Bedeutung: die Erforschung des Ereignisses beziehungsweise der Versuch eines Nachweises des schwarzen Lochs vor Ort in Tunguska durch den Wissenschaftler Jack Adler, die von Arkadi Grishin in Auftrag gegebene Manipulation des schwarzen Lochs auf hoher See und die ›Reise‹ der beiden Protagonisten Marianna Bonaventure und Jonathan Knox. Wissenschaftsplot und Agentenplot weisen ›gute‹ und ›böse‹ Akteure und Vorhaben auf und folgen je eigenen Geheimhaltungslogiken. Während Jack Adler in Tunguska versucht (und es ihm gelingt), das Rätsel um die Ursache des Ereignisses zu lösen und seine Theorie beziehungsweise seine Erweiterung der Jackson-Ryan-Hypothese gegen die skeptischen Kollegen zu verteidigen,62 verfolgt ihn ein Auftragsmörder, um zu verhindern, dass er seine Entdeckung publik machen kann. Was ihm als wissenschaftliches Problem erscheint, ist offenbar für die (ihm zunächst unbekannte) Gegenseite ein Geheimnis, das es zu wahren gilt. Auf der anderen Seite vermutet Marianna, die für CROM (»Critical Resources Oversight Mandate«),63 eine Organisation zur Überwachung kritischer Stoffe und Ressourcen, arbeitet, dass Grishin im Geheimen mit solchen Ressourcen arbeitet, ohne jedoch zu ahnen, wie gefährlich der Gegenstand ist, um den es wirklich geht. Die Dreieckskonstellation dreht sich um das schwarze Loch in ihrem Zentrum. Innerhalb des Romans wird detailreich die ›wissenschaftliche Fundierung‹ der Erzählung inszeniert. Im Unterschied zu den beiden vorherigen Beispielen spielen Magie und trans61 | Vgl. u.a. Singularity, 112. 62 | Vgl. die Diskussion zwischen Jack Adler und Academician Medvedev um »real science« und die Frage, ob schwarze Löcher in den Bereich der »fantasies« gehören (Singularity, 47f.). 63 | Vgl. Singularity, 62f.

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zendentale Kräfte hingegen keine Rolle. Gleichwohl weist das Geheimnis auch hier Elemente des secretum und des mysterium auf. Denn obgleich es sich um ein diesseitiges Objekt handelt, erfüllt das schwarze Loch eine Funktion, die der des ›Tores‹ in Die Rückkehr der Zauberer gleichkommt und ihr in seiner Darstellung dementsprechend ähnelt. Gelingt das Vorhaben des russischen Oligarchen, es zum Zweck einer Zeitreise zu instrumentalisieren, wird es gleichsam selbst zum Tor. Das ›Jenseits‹, welches es eröffnet, gehorcht in dieser Fiktion vollkommen den Gesetzen der Physik und ist überhaupt nur durch deren genaueste Kenntnis zu nutzen. Fragen des Glaubens werden zwar diskutiert, aber als wissenschaftlicher Diskurs markiert, sodass sich letztlich immer beweisen lässt, wessen Glaube auch der Wirklichkeit entspricht. Die extra- wie auch intradiegetische Erzählung der Singularität ähnelt der Beschreibung des Tores bei Hohlbein auf frappierende Weise. Auch hier kommen Zeit und Raum zusammen, Licht spielt eine große Rolle und die Menschen, die sich ihm nähern, erleben sich selbst als Teil eines größeren Ganzen: »He was lost in wonder, fears forgotton […] It was as if the Singularity’s radiance weren’t entirely an objective external phenomenon, as if it were something his consciousness was collaborating on – a joint effort between a self-aware observer and the universe at large. […] And now the visions came. They had been there all along perhaps, the worldlines of every place and thing on Earth all tangled together by the Singularity into a tumult of white light« (Singularity, 451-452).

Anders aber als das transzendente Jenseits in Die Rückkehr der Zauberer lässt die Singularität zwar den Blick in eine überweltliche Realität zu (insofern als sie ihre Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge sichtbar und begehbar macht), bleibt dabei aber Teil der Wirklichkeit und kann deswegen gesehen und begriffen werden. Wie das zitierte »Angesicht Gottes« stellt die Pyramide in Die Rückkehr der Zauberer nur den sichtbaren Teil dessen dar, was dort wirklich ist, »weil dessen wirklicher Anblick seinen Geist auf der Stelle zerstört und jeden Funken Leben aus ihm herausgebrannt hätte. Allein dieses Wissen war beinahe mehr, als er ertragen konnte« (Rückkehr, 744; Hervorhebung im Original). Jon Knox hingegen kann nicht nur mit seinem Blick experimentieren, wenn er die Augen schließt: »Knox found he could sort individual strands out of the flood« (Singularity, 452). Diese Fähigkeit lässt den Protagonisten erkennen, dass die Singularität nicht nur die Möglichkeit der Zeitreise enthält, sondern dass diejenigen, die über dieses Geheimnis im Wortsinn verfügen, auch im Besitz aller anderen Geheimnisse (secrets) wären: »Forget about changing the past! Just being able to view it made the Singularity and espionage device of unparalleled power and scope. No secret in the world, past or present, could be hidden from its all-seeing eye« (Singularity, 452).

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Knox erinnert diese gleichermaßen geistige wie körperliche Erfahrung an einen Drogentrip64 sowie an eine Erzählung, die seine Partnerin Marianna erwähnt, als beide zum ersten Mal von der theoretischen Möglichkeit der Singularität hören: »the Aleph […] in the short story by Jorge Luis Borges« (Singularity, 398). Interessant ist der Vergleich an dieser Stelle vor allem, weil er paradox eingesetzt wird. Mariannas Erinnerung wird sogleich aufgefrischt, als der Computerexperte Mycroft65 die Erzählung in seiner elektronischen Bibliothek aufruft und Marianna die entsprechende Passage zitieren lässt: »›… and I felt dizzy, and I wept,‹ she finished, ›because my eyes had seen that secret, hypothetical object whose name has been ursurped by men but which no man has ever truly looked upon: the inconceivable universe‹« (Singularity, 399). In DeSmedts Roman dient der Vergleich zur Illustration des Unvorstellbaren, die zitierte Passage hilft also den Protagonisten (wie dem Text) dabei, es in Worte zu fassen. Diese Kontextualisierung ist paradox, weil in Borges’ Erzählung gerade die Unmöglichkeit dieses Gebrauchs (von Sprache) im Mittelpunkt steht: »Nun komme ich zum unsagbaren Mittelpunkt meines Berichts; hier beginnt meine Verzweiflung als Schriftsteller. Alle Sprache ist ein Alphabet aus Symbo­len, deren Anwendung eine den Gesprächspartnern gemeinsame Vergangenheit voraussetzt; wie soll ich anderen das unendliche Aleph mitteilen, das mein furchtsames Gedächtnis kaum erfaßt. Die Mystiker helfen sich in einer ähnlichen Klemme mit einer Fülle von Emblemen […] Vielleicht würden auch mir die Götter den Fund eines entsprechenden Bildes nicht versagen, aber dann wäre dieser Bericht kontaminiert von Literatur, von Falschheit. Überdies ist das Kernproblem unlösbar: die Aufzählung, wenn auch nur die teilweise, eines unendlichen Ganzen« (Borges 1992, 143).

Die Kontamination durch Literatur und das »Kernproblem« der nur sukzessiven Erzählbarkeit simultanen Erlebens/Sehens66 werden hier implizit über eine veränderte Zeitwahrnehmung thematisiert.67 Der intertextuelle Verweis auf Borges’ Erzählung und diese Passage im Speziellen sind nichtsdestotrotz erhellend für die Darstellung des Geheimnisses. Denn das Aleph enthält 64 | Vgl. Singularity, 451. 65 | Ein weiterer der vielen expliziten literarischen Verweise: »His quirky brilliance […] had earned him his office nickname: the original Mycroft was Sherlock Holmes’s smarter, reclusive brother« (Singularity, 31). 66 | »Was meine Augen sahen, war simultan: was ich beschreiben werde, ist sukzessiv, weil die Sprache es ist« (Borges 1992, 143). 67 | Die veränderte Zeitwahrnehmung (»as if he had been gone for hours« [Singularity, 453]) wird ebenfalls in Hohlbeins Roman zur Darstellung der Erfahrung benutzt (vgl. Rückkehr, 743).

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»eine[n] jener Punkte im Raum, die alle Punkte in sich enthalten. [Ein] Ort, an dem, ohne sich zu vermischen, alle Orte der Welt sind, aus allen Winkeln gesehen« (Borges 1992, 140). Es ist ein gleichermaßen »geheime[r] und gemutmaßte[r] Gegenstand« (ebd.), der sich in seiner Ganzheit nicht in der Sprache ausdrücken und selbst die Mystiker in eine Klemme geraten lässt. Es ist eben nicht ›von dieser Welt‹ und doch sieht man »im Aleph die Erde und in der Erde abermals das Aleph und im Aleph die Erde« (Borges 1992, 145). Die Singularität damit gleichzusetzen, hieße also, nicht nur ein Geheimnis (secretum) zu enthüllen, sondern Zugang zu einem diesseitigen Mysterium zu gewinnen. Dieses Paradox, das durch das Zitat von Borges und die wiederholte Erinnerung an das Aleph auch in Singularity aufgerufen wird, wird jedoch zugunsten des katastrophischen Potenzials der Singularität vernachlässigt beziehungsweise bewusst ausgelassen.68 Mariannas Reaktion steht stellvertretend für den Umgang des Romans mit dem ›mystischen‹ Anteil der Singularität: »[She] fell silent then, confronted by her own visions, not of the inconceivable universe, but of its fiery, inconceivable destruction« (Singularity, 399). Zwar werden die Möglichkeiten, die die Entdeckung des schwarzen Lochs und seine Instrumentalisierung bieten, reflektiert – insbesondere die Bedeutung von Zeitreisen –, allerdings niemals ohne das Zerstörungspotenzial zu betonen, das damit einhergeht. Diejenigen, denen klar ist, wie bahnbrechend diese Entdeckung ist, werden entweder als naiv (die ehemaligen sowjetischen Forscher) oder skrupellos (Grishin) beschrieben, weil sie entweder ausblenden, wie gefährlich ihre Forschung ist, oder die möglichen Folgen in Kauf nehmen, um ihre eigenen Ziele ohne Rücksicht auf Verluste zu verwirklichen. Aber nicht nur seine Nutzung, auch der Gegenstand selbst, das schwarze Loch, wird in dieser Erzählung zum Akteur mit zweifelhaftem Interesse. Sein Name, Vurdulak (Vampir), personifiziert das Objekt, indem es von einem »remnant [of the Big Bang, SN]« (Singularity, 1) zum mythischen Wesen, einer Personifikation des Bösen wird, »gnawing in secret at the flesh of the world« (Singularity, 269).69 Singularity, Die Rückkehr der Zauberer und Schamanenfeuer entfalten das Tunguska-Ge68 | Angesichts dessen, dass der im Roman zitierte Satz Teil der hier zitierten Passage ist, kann nicht von einem Zufall oder von Nachlässigkeit ausgegangen werden. 69 | Man könnte angesichts der notwendigen Fortsetzung der Geheimhaltung und der zu sichernden Weitergabe des Geheimnisinhaltes einen interessanten Vergleich zu Alexander Kluges Überlegungen zur Wahrung des Wissens über Tschernobyl anstellen. Einerseits müssten Zeichen gefunden werden, deren Referent Generationen überdauert und deren Bedeutung sich dementsprechend nicht verändern dürfte. (Eine Aufgabe, die z.B. die Höhlenzeichen der vormenschlichen Wesen in Die Rückkehr der Zauberer sogar über Jahrmillionen hinweg zu erfüllen scheinen – zumindest ist erkennbar, dass sie etwas bedeuten und auf etwas Heiliges verweisen.) Andererseits ist die Überlegung zur Gründung eines Geheimbundes geradezu angebracht (vgl. z.B. Fischer 2012).

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heimnis innerhalb eines geschlossenen Textes, der Wissenschaften, Staaten und einzelne Akteure miteinander verknüpft und eine wahre, wenigstens dem Leser offenbare Version des Ereignisses von anderen Versionen absetzt. Zwar wird es in jedem Fall zum Zentrum oder Gegenstand eines größer angelegten Plots, die Protagonisten gewinnen jedoch in allen drei Fällen Zugang und sogar Kontrolle über das Geheimnis, das mit Tunguska verbunden ist. In der US-amerikanischen TV-Serie The X Files ist das Tunguska-Ereignis zwar ebenfalls ein Geheimnis, das integraler Teil einer Verschwörung wird, innerhalb der Serienstruktur ist es jedoch nur ein Geheimnis oder eben eine Episode in einer ganzen Reihe von außergewöhnlichen Phänomenen. Die Suche nach Antworten Jenseits der Wahrheit 70 ist die treibende Kraft für die FBI-Agenten Fox Mulder und Dana Scully. In neun Staffeln und 202 Episoden deckt die Serie nahezu alle Bereiche des Paranormalen ab und bewegt sich zwischen den Genres Science Fiction und Horror. Geheimnisse und Verschwörungstheorien sind sowohl in einzelnen Episoden als auch in übergreifenden Plots ein zentrales Thema der Serie. Die beiden Agenten müssen sich ohne Unterlass nicht nur mit den »unheimlichen Fällen des FBI«, so der deutsche Untertitel der Serie, sondern auch mit institutionellen Hindernissen und ihren eigenen Weltbildern auseinandersetzen. Die beiden für diese Untersuchung relevanten Episoden Tunguska und Terma (Season 4, Episode 8 und 9) sind Teil eines übergreifenden Plots, der die Verschwörung von Mitgliedern der Regierung (»The Syndicate«) mit Mitgliedern einer außerirdischen Rasse aufdeckt, die das Ziel hat, die Menschheit zu unterwerfen und letztlich zu vernichten. Die zusammenhängenden Episoden beginnen mit einer disziplinarischen Befragung. Agentin Scully soll Auskunft über die laufenden Ermittlungen des Teams und insbesondere über den Aufenthaltsort ihres Partners geben. Sie weigert sich und verliest stattdessen eine Stellungnahme, in der sie eine »culture of lawlessness that prevents me from doing my job« (X Files 4.8) beklagt. Ihren ›Job‹ versteht sie als Aufklärung von (potenziellen) Verbrechen, wobei sie betont, dass sie dabei an der Wahrheit interessiert sei, nicht an den »secret policies« der Mächtigen, die ›hinter‹ diesen Verbrechen stehen. Diese Verschwörungsvermutung bildet den strukturellen Rahmen der Episoden und schließt am Ende der zweiten Episode mit der Vorlage von »documents and interviews in support of a wide-ranging conspiracy to control a lethal biotoxin that is, in fact, extraterrestrial« (X Files 4.9). Anlass der Untersuchung und in der Folge auch des Disziplinarverfahrens sind der Hinweis eines mutmaßlichen Terroristen (der sich später als Agent der Verschwörung herausstellt) und ein mysteriöser Unfall am Flughafen von Honolulu. Dort wird – zehn Tage vor dem Verfahren – ein Diplomat festgenommen und bezüglich zweier, von ihm eingeführter Röhren befragt. Die70 | So lautet der Titel des Films von 2008.

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se enthalten eine schwarze Flüssigkeit, die zum Leben zu erwachen scheint, sobald sie in Kontakt mit Menschen kommt, wie ein Parasit von ihnen Besitz ergreift und sie schließlich tötet. Der vermeintliche Terrorist und erklärte Patriot 71 Krychek führt Mulder und Scully zu einem weiteren Mann, der in einer »diplomatic pouch« einen schwarzen Stein mitführt – nicht ohne ihnen jedoch anzukündigen, sie würden sich in Gefahr bringen, wenn sie glaubten, die Drahtzieher der Verschwörung ihrer gerechten Strafe zuführen zu können: »You can’t bring these men to justice. They are protected under the laws of National Security. They know no law. […] These men fear one thing: exposure« (X Files 4.8). Im Verlauf der Untersuchung begegnen die Agenten und ihr Vorgesetzter immer wieder Männern, die sie davor warnen (beziehungsweise bedrohen), die Fortsetzung ihrer Nachfor­schungen könne schwerwiegende Konsequenzen nicht nur für ihre Karrieren haben. Trotzdem setzen sie ihre Bemühungen fort: Scully betreut die wissenschaftliche Untersuchung des Steins, der außerirdischen Ursprungs ist. Die Untersuchung bestätigt Mulders Vermutung, er enthalte Dinge »beyond the proof of alien life [and] beyond the conspiracy to cover up that fact« (X Files 4.8), denn beim Aufschneiden des Steins wird der Forscher mit einer schwarzen Flüssigkeit bespritzt, die Besitz von ihm zu ergreifen scheint.72 Scully erscheint es, als sei er in eine Art Koma gefallen: »I’ve never seen anything like this. I don’t know whether he is dead or alive« (X Files 4.8). Währenddessen führt Mulder die Ermittlung in Tunguska fort. Er erfährt, dass der Stein zuletzt in Krasnojarsk vermerkt wurde, stellt umgehend die Verbindung zu Tunguska her und sieht die Chance, seine Vermutung, es handle sich bei diesem ›plot‹ um die Vertuschung des Kontakts mit außerirdischen Lebensformen, endlich zu belegen. »I think someone found the evidence and that the explanation is something that nobody ever dreamed of« (X Files 4.8). Vor Ort wird seine vage Vermutung noch übertroffen. Er entdeckt ein Arbeitslager, wird festgenommen und findet dank eines Mitgefangenen heraus, dass es sich nicht nur um einen (modernen) Gulag handelt, sondern dass das, was die Männer ausgraben, an ihnen getestet wird. Auch er selbst wird zum Versuchsobjekt. Der »Gulag« in Sibirien ist aber nicht der einzige Ort, an dem die schwarze Flüssigkeit (»black cancer«) getestet wird. Eine Ärztin, die in enger Verbindung zu den Verschwörern steht und kurze Zeit später von einem Ex-KGB71 | Auf die Frage, warum er sich in die Dienste von Terroristen stellt und wer diese seien, antwortet Krychek: »they are pathetic revolutionaries who kill innocent Americans in the name of boneheaded ideologies« (X Files 4.8). 72 | Schwarze egelartige Wesen bewegen sich auf seiner Schutzkleidung, dringen ein und färben seine Augen schwarz. Diese Szene wiederholt die ›Inbesitznahme‹ beziehungsweise den ›Befall‹ des Zollbeamten am Flughafen Honolulu.

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Agenten getötet wird, benutzt Patienten in Altenheimen in den USA zu demselben Zweck. Erst die Einführung und Anwendung des »lethal biotoxin« im eigenen Land löst schließlich die Verfolgung aus, an deren vorläufigem Ende Mulder einen Lastwagen und (beinahe) eine kanadische Ölraffinerie in die Luft sprengt, um zu verhindern, dass »black cancer« im Boden des Nachbarlandes zur Verfügung gehalten wird. Die Enthüllung der Verschwörung, die sich dieser Waffe bemächtigen wollte, gelingt jedoch nicht. Die Dokumente und Interviews genügen dem Komitee nicht, Mulder und Scully werden verspottet. Auch Mulders engagierte Rede (»Why is this so hard to believe?«) wird im Keim erstickt (»This is not why we are here.«) Zwar gelingt den Agenten die Lösung des Rätsels, aber die (öffentliche) Enthüllung des Geheimnisses (secretum) und die Bloßstellung der Verschwörer scheitert. Übrig bleiben die Agenten, die jedoch noch solange als paranoide Verschwörungstheoretiker dastehen werden, bis ihnen der Beweis gelingt. An die Öffentlichkeit, so die Prämisse der Serie, wird es dieses ›unheimliche‹ Wissen jedoch nicht schaffen. The X Files profiliert das Tunguska-Ereignis nicht als Mysterium, sondern in Termini der Geheimhaltung, die sowohl Aspekte des secretum als auch des arcanum enthalten. Dabei stehen sich machtpolitische Interessen sowohl intern (das ›Syndikat‹, welches aus Regierungsmitgliedern besteht und das FBI) als auch extern gegenüber (»[…] the cold war isn’t over«; »Wake the Russian bear and it may find that we have stolen its honey« [X Files 4.9]). Die Reichweite der Verschwörung(en) erlangt dabei vor allem durch den Vergleich mit den FBI-Agenten ein globales Maß. Wenn Mitglieder dieser mächtigen Behörde gegenüber dem Ausschuss und den Mitgliedern der Verschwörung so machtlos sind, muss sie tatsächlich »beyond the law« und ebenso jenseits der Gerechtigkeit stehen. Die Gefahr, die von Tunguska ausgehen kann, betrifft folgerichtig die gesamte Menschheit, die aber in völliger Unwissenheit über das drohende Unheil gelassen wird. Das Geheimnis, dessen Enthüllung Mulder und Scully anstreben, liegt aber nicht im Boden der sibirischen Taiga. Die extraterrestrischen Steine mitsamt ihrem tödlichen Inhalt (»black cancer« wird in späteren Folgen vieldeutig »black oil« genannt) sind auch hier Zeugnis und Spur einer dahinter liegenden Wahrheit. Das Credo der Serie (The Truth is out There 73) entwirft ein Verhältnis von sichtbarer und unsichtbarer beziehungsweise verborgener Realität, in dem die Wahrheit und damit das Wissen um sie sich nicht entzieht, weil sie – im Sinne des Entzugsparadigmas – nicht mit (modernen) Mitteln begriffen und beschrieben werden könnte, sondern von einer Gruppe von Menschen vor 73 | »Yet, if this motto suggests, on the one hand, that the truth can still be located, disvcovered, known, it also suggests that it is not readily at hand. Its location is unknown, elsewhere, in a strange, alien, and perhaps even extraterrestrial, place.« (Rutsky 1999, 62)

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einer anderen, weitaus größeren Gruppe verborgen wird. Wie ein Schatz wird das Wissen um die Wahrheit jenseits der (sichtbaren) Realität eifersüchtig gehütet (arcanum), um sie gleichsam als Gut und Ware zu verknappen, also den Profit und die Macht, die der Besitz des Wissens verspricht, allein nutzen zu können. Diese Lesart relativiert die mystischen Elemente, die die unheimlichen Vorkommnisse und Geheimnisse der X Files zu enthalten scheinen. Das Tunguska-Ereignis ist hier ein Indiz unter vielen dafür, dass die Beziehung zwischen denen, die wissen wollen, und dem, was es zu wissen gibt, unter der totalen/totalitären geheimen Kontrolle weltlicher Mächte steht. Darin ähnelt die Mythologie der Serie The X Files der des Films The Matrix (1999). Zwar ist der ›Schlaf‹, in dem die Menschen der X Files liegen, metaphorisch gesprochen, die Realität, in der sie leben, er ist aber nicht weniger illusorisch als in The Matrix. Die Struktur der Verschwörung ist in gewissem Sinne sogar umfassender, weil es zwar einzelne gibt, die die Wahrheit hinter der Illusion ahnen, sie sich aber nicht wie die ›Auserwählten‹ des Films (durch eine Pille) aus der ›Matrix‹ befreien und diese damit selbst manipulieren können.74 Scully und Mulder müssen die Verschwörer mit deren eigenen Mitteln, das heißt den Kommunikationsformen und Beweisstrukturen der Modernen enttarnen. Der Verdacht einer Kooperation mit außerirdischen Entitäten bestätigt sich zwar innerhalb der Serie, wird jedoch gleichzeitig zur Diskreditierung der Agenten75 gegen sie gewendet. Tunguska ist als Spur gleichzeitig Anzeichen und Beweis, also in doppelter und dadurch ambivalenter Weise ein Baustein der (Verschwörungs-)Theorien der Agenten. The X Files inszenieren, das zeigen die Tunguska-Episoden, die Lesart der modernen Verfassung als Verschwörung. Sie, die Serie und ihre Figuren gleichermaßen, verbleiben damit innerhalb der Ordnung, was die Wirksamkeit ihrer Untersuchungen enorm einschränkt. Um die Wahrheit ihrer Vermutungen zu beweisen, müssen sie gleichsam moderner als die Modernen sein, das heißt zu Super-Detektiven werden, die die Verbrecher-Verschwörer nicht nur jagen, sondern letztlich überholen und so zur Strecke bringen. Oder diese Verschwörungstheorien sind, wie Eva Horn es ausdrückt, nicht mehr (aber auch nicht weniger) als »nostalgische Phantasien von einem autonomen und selbstmächtigen Individuum, Phanta74 | Wenn man so will, beschreibt Hahn für Latour genau das (vgl. Hahn 2009). Der Ausweg aus der modernen Verfassung und ihrer Struktur gelingt nur, indem er ihr vollständig entgeht. Die Leugnung der (alleinigen) Existenz der Modernität (Wir sind nie modern gewesen.), nicht aber ihrer Effektivität, verhindert nicht nur, dass Latour sich selbst als Verschwörungstheoretiker betätigt, sondern erlaubt es ihm auch, von außen die Netzwerke nicht nur zu beobachten, sondern an ihrer Bildung teilzuhaben. 75 | Scullys Stellungnahme, es handle sich um ein Biotoxin außerirdischen Ursprungs, provoziert bei der Untersuchungs­k ommission nur Gelächter und die Frage »Are we talking about little green men here?« (X Files 4.9).

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sien, mit denen der Mensch der modernen Massenkultur den Verlust seines Handlungsspielraums durch die Projektion auf eine übermächtige, geheime Instanz der Kontrolle und Manipulation verwindet« (Horn 2007, 384). Das Computerspiel Geheimakte Tunguska verortet die Lösung des Ereignisses ebenfalls im Bereich des Außerirdischen und verknüpft Verschwörungs-, Arkanwissenschafts- und Geheimgesellschaftsplots miteinander. Thema wird Tunguska, weil der Vater von Nina Kalenkow, der Protagonistin des Spiels, von geheimnisvollen Männern in dunklen Kutten entführt wird. Um ihren Vater wiederzufinden, muss Nina nicht nur zahlreiche kleinere Rätsel lösen, sondern zusammen mit dem Kollegen ihres Vaters über Moskau bis an die Steinige Tunguska reisen. Ihre Wege führen die beiden Figuren auch nach Irland, Kuba, Tibet und schließlich in die Antarktis. Dabei decken sie eine Verschwörung auf, die darauf abzielt, die Welt mithilfe des am Ort der Explosion gefundenen außerirdischen Metalls zu beherrschen. Drahtzieher ist hier ein italienischer Geschäftsmann, dessen Telekommunikations­firma das Metall benutzen will, um damit über die Handys seiner Kunden deren Gedanken zu beherrschen. Auch hier werden also Rückstände des Ereignisses zu einer Waffe umgemünzt. Das Netzwerk der Verschwörer umfasst, das zeigen schon die Reisewege der Figuren, die ganze Welt, die folgerichtig auch als Ganzes in Gefahr schwebt. Die paranoide Angst vor der Kontrolle der eigenen Gedanken durch technologisch erzeugte ›Strahlung‹ ist ein Motiv verschiedener Verschwörungstheorien. Die hier aufgegriffene Wiederbelebung der sowjetischen Geheimdienststrukturen und deren Instrumentalisierung durch global agierende kapitalistische Unternehmen gehören ebenfalls zu diesen ›klassischen‹ Motiven – es taucht nicht zufällig in allen bereits besprochenen TunguskaGeheimnis-Fiktionen auf. Was den Plot des Computerspiels jedoch von den anderen Erzählungen unterscheidet, ist, dass die Protagonisten hier von einer Art ›Gegenverschwörung‹ (im Geheimen) unterstützt werden: einem Geheimbund, der den wahren Ursprung der Explosion verbergen soll und Ninas Vater zu seinem eigenen Schutz entführt hat. Die vielen paranormalen Vorkommnisse und Theorien, denen Nina Kalenkow und Max Gruber auf ihrem Weg begegnen, laufen auf eine weitere (Verschwörungs-)Theorie hinaus. Das Tunguska-Ereignis sei, wie die mystischen Zeichen, die Nina in Tibet findet, Zeugnis der Landung einer außerirdischen Rasse, den Dropa/Dzopa, die bereits seit Jahrtausenden auf der Erde leben und mit einem kleinwüchsigen tibetischen Stamm identifiziert werden.76 Ein Rückholversuch im Jahr 1908 sei jedoch gescheitert und endete in der bekannten Explosion. Geheimakte Tunguska kombiniert beinahe alle oben besprochenen Aspekte des Tunguska-Geheimnisses. Es ist je nach ›Kapitel‹ und Kontext mysterium, 76 | Diese Theorie existiert auch außerhalb des Spiels und geht auf die Fehlinterpretation einer Science-Fiction-Kurzgeschichte zurück (vgl. »Einleitung: Tunguska-Potenziale«).

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secretum und arcanum. Das Spiel markiert seine Erzählung im Gegensatz zu den anderen so deutlich als Spiel77 und mit so viel Humor, dass die Suche nach Geheimnissen und der Verdacht, hinter jedem müsse sich ein solches verbergen, selbst mit einiger Skepsis und Distanz in den Blick genommen werden. Gleichzeitig lassen sich hier die Praktiken der Aufklärung und Enthüllung besonders gut in den Blick nehmen, weil agency, anders als in den literarischen Texten, sowohl durch die Identifikation mit den Charakteren als auch durch deren Steuerung gewonnen werden kann. Nina Kalenkow und Max Gruber durch die Abenteuer zu steuern, erzeugt nicht nur den Effekt, von der Erzählung überzeugt zu werden, sondern die Illusion, selbst zur Lösung des Falles beizutragen. Hier erlauben die humoristisch-distanzierte Darstellung und die Tatsache, dass das Interesse der Figuren an der Lösung rein persönlicher Natur ist – Ninas Vater und Max’ Kollegen zu finden –, es auch dem Spieler, eine ›objektive‹ Stellung dem Ereignis gegenüber einzunehmen. So wird das Tunguska-Ereignis, wie in keinem der anderen Texte dieses Kapitels, deutlich als Geschichte/Fiktion präsentiert und damit nicht als (mystisches) Geheimnis, sondern ausschließlich als unterhaltsamer Mittelpunkt eines Thrillers.

A ufkl ärer – Tungusk a -D e tek tive In allen hier besprochenen Texten treten die Protagonisten (mindestens) paarweise gegen die Verschwörer beziehungsweise Geheimniswahrer an. Dabei entwickeln sich Liebesgeschichten auf der einen Seite, vor allem aber dienen die Paarkonstellationen dazu, verschiedene Prinzipien (Männlichkeit/Weiblichkeit, Rationalität/Irrationalität, Logik/Intuition, Wissen/Nicht-Wissen) in Beziehung zu setzen. Diese reflektieren den je eigenen Zugang der Erzählungen zum präsentierten Erklärungsmodell für das Tunguska-Ereignis und können wie die paratextuelle Rahmung der Texte zu den Plausibilisierungsstrategien der Texte gezählt werden. Die Antagonisten der Texte ähneln sich ebenfalls auf frappante Weise. In allen fünf Beispielen tauchen Männer aus den Reihen des ehemaligen sowjetischen Geheimdienstes auf, die sich in den Dienst skrupelloser Geschäftsmänner stellen (Rückkehr, Geheimakte, Schamanenfeuer), den Kalten Krieg im Geheimen weiterführen (X Files, Singularity) und auf die ein oder andere Weise in die aktuelle (stets verdammenswerte) russische Politik verwickelt sind.78 Insbesondere die Figur des älteren, mächtigen russischen Geschäftsmannes mit exzellenten 77 | Durch Referenzen auf andere Spiele, Filme und Erzählungen sowie vor allem durch selbstreferenzielle Kommentare wie »Wenn das hier ein Ego-Shooter wäre …«. 78 | Wie Bashtiris Verwicklung in den Tschetschenienkrieg und seine Rolle im FSB (Schamanenfeuer, 278).

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Verbindungen zum aktuellen und ehemaligen Geheimdienst, dessen ebenso skrupelloser, aber weniger genialer Scherge (meistens Ex-KGB oder Ex-Militär) ihm kaum je von der Seite weicht, außer um die ›Drecksarbeit‹ zu erledigen, erinnert dabei stark an die Bösewichte/Superschurken aus den James-BondFilmen. Bashtiri (Schamanenfeuer), Grishin (Singularity) und Wassili (Rückkehr, auch wenn sich dieser am Ende als ›gut‹ erweist) entsprechen diesem Typ am deutlichsten. Aber auch die ›Guten‹ entsprechen bekannten Mustern: Die Frauen sehen ausnahmslos gut aus, wenn auch auf ihrer Klugheit beharrt wird, und auch die Männer sind mit zum Teil übermenschlich wirkenden Fähigkeiten ausgestattet, die sie wie typische Actionhelden erscheinen lassen. Nur in Hohlbeins Roman werden diese Fähigkeiten eines »Superman« reflektiert und durch Magie begründet.79 Zwar reflektieren besonders Die Rückkehr der Zauberer und Schamanenfeuer unablässig die Genderrollen – nachhaltig infrage gestellt werden sie jedoch nicht. Das Darstellungsinteresse dieser Erzählungen ist so stark auf die Erklärung des Tunguska-Ereignisses und seiner verborgenen Wahrheit ausgerichtet, dass die Charakterentwicklung zugunsten der Rolle der Figuren innerhalb des Erklärungsmodells zurücktritt. Stattdessen erfüllen Geschlecht, Beruf und Rolle innerhalb der Paar- und Teambeziehung(en) eine Funktion, die der Plausibilisierung der vorgestellten Lösung dient. Nina Kalenkow und Max Gruber ergänzen sich in Geheimakte Tunguska gegenseitig in ihren Fähigkeiten. Dabei spielt es eine wesentlich größere Rolle, dass Nina, wie sie immer wieder betont, nichts von Wissenschaft versteht,80 wogegen Max selbst Wissenschaftler ist. Die Betonung ihrer absoluten wissenschaftlichen Unfähigkeit, die in Hinblick auf ihren Vater, der eine Koryphäe auf seinem Gebiet ist, nur bedingt plausibel ist, steht vermutlich damit im Zusammenhang, sie als begehrenswerte Amazone zu zeigen, die nicht nur ausgebildete Mechanikerin und Motorradfahrerin ist, sondern auf fahrenden Zügen läuft und beinahe im Alleingang eine Weltverschwörung verhindert. Ihr Nicht-Wissen ist außerdem die Leerstelle, die der Spieler durch seine Kombinationsgabe ausgleichen muss, um den Handlungsverlauf voranzubringen. Die Spielfilmsequenzen, die Informationen über das Ereignis und die davon ausgehende Verschwörung preisgeben, fungieren dann als Belohnung für das Lösen der einzelnen Rätsel.81 Zusammen ergeben Nina und Max eine Art Indiana-Jones- oder, um im Genre des Computerspiels zu bleiben, eine LaraCroft-Figur, die sowohl in der Lage ist, wissenschaftlich zu denken (z.B. den 79 | Vgl. Rückkehr, 293 und 296. 80 | Eines der Rätsel besteht z.B. darin, ein wissenschaftliches Experiment zu manipulieren – wobei die Figur bei nahezu jeder Informationsanfrage (Anklicken der Gegenstände) kommentiert, dass sie nicht wisse, wozu es gut sein soll und ohnehin von Wissenschaft »keine Ahnung« habe. 81 | Vgl. Backe 2012, 254.

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Wert einer Entdeckung einzuschätzen), als auch die körperlichen Voraussetzungen hat, die zur Lösung des Falls vonnöten sind. Ein ähnliches Gespann bilden Marianna Bonaventura, die CROM-Agentin, und Jonathan Knox in Bill DeSmedts Singularity. Sie besitzt das nötige Wissen und die körperlichen Fähigkeiten, um beide im wörtlichen Sinne ›durchzuboxen‹, er hat durch einen Studentenaustausch mit der Sowjetunion, an dem er als junger Mann teilnahm, die (persönliche) Verbindung zu den Wissenschaftlern, die ›Vurdulak‹ erforschen, und zu Mycroft, dem Computergenie. Damit hat er praktisch automatisch Zugang zu allen denkbaren Informationen und technologischen Instrumenten, die ihm erstere verschaffen können. Interessant ist in diesem Roman vor allem die Darstellung der Wissenschaftler Sasha und Galina, die, von Ehrgeiz und Forscherdrang getrieben, dankbar für die Möglichkeit, ihre Wissenschaft fortzusetzen, in den Diensten des Oligarchen Grishin stehen. Sie sind leicht zu manipulieren (Sasha über seinen Ehrgeiz und Galina aufgrund ihrer Gutgläubigkeit) und offenbar bereit auszublenden, was die möglichen Konsequenzen ihrer Forschung sind. Diese Art von naivem Größenwahn – sie sind schließlich überzeugt, die Energie des schwarzen Lochs kontrollieren zu können und damit die Welt zu retten – und ihre Beziehung zu dem Monster Vurdulak stehen in der Tradition des mad scientist. Wie Victor Frankenstein sind sie von den Möglichkeiten geblendet, die ihnen ihr Wissen und ihre Fähigkeiten eröffnen. Auch hier kann nur das Opfer des eigenen Lebens verhindern, dass die Katastrophe geschieht und die Kontrolle an das Monster verloren geht. Anders aber als Frankenstein oder Doktor Moreau handeln sie nicht ausschließlich aus eigenem Antrieb, sondern sind – darin ähneln sie wiederum den Wissenschaftlern des Manhattan Project – in ein Geheimprojekt eingebunden, dessen Zweck ihnen zumindest bewusst sein könnte. Hendrick Vandermeer, der Protagonist in Die Rückkehr der Zauberer, ist weniger intensiv in eine Liebes-/Funktionsbeziehung mit einer anderen Figur eingebunden, sondern eher als Einzelgänger und durch seinen Beruf als Journalist charakterisiert. Dadurch wird nicht nur seine Verbindung zum Tunguska-Ereignis begründet – durch seinen Besuch auf der Esoterik-Messe und sein Interesse für die neuerliche Explosion in Sibirien –, er kann dadurch in gewissem Maße Deutungsmacht über das Ereignis beanspruchen. Nicht nur wird er bis zum Schluss als Skeptiker vorgeführt, als Journalist kann er theoretisch ein Gerücht zu einer Nachricht machen. Sein Skeptizismus steht dem Glauben an die Wirksamkeit übersinnlicher Kräfte gegenüber, denen seine drei Begleiterinnen, die Zwillinge Ines und Anja und die irische (druidenstämmige) Gwyneth, anhängen. Immer wieder bemüht er sich, das, was er erlebt, mit dem abzugleichen, was er zu wissen glaubt. Erst wenn er, wie oben dargestellt, der unleugbaren Macht gleichsam ins Auge sieht, verwandelt sich sein Glaube beziehungsweise seine Befürchtung in unumstößliches Wissen. Vandermeers Skeptizismus und mühsame Überzeugung erfüllen die Funktion, der Erklä-

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rung für das Tunguska-Ereignis eine geeignete Bühne zu bereiten. Er erlaubt es, ausführlich zu erklären, welche Theorien bereits geäußert wurden,82 und überzeugt gleichsam die Adressaten der Erzählung in Personalunion mit dem Protagonisten. Er verkörpert zu Anfang den idealen Modernen: Ihm ist »es ein vollkommenes Rätsel […], warum Menschen an … an Geister glauben wollen. Oder an Besucher aus dem All. Oder daran, dass ihr Leben von irgendwelchen kosmischen Energien bestimmt wird« (Rückkehr, 111). Eine ähnliche Verkörperung rationalistischer Skepsis findet sich auch in The X Files: Die FBI-Agentin Dana Scully, die vier Jahre vor der erzählten Zeit ihre Karriere als Medizinerin aufgab, um als Agentin der Gerechtigkeit zu dienen,83 vertritt diese Haltung gegenüber ihrem Partner Fox Mulder. Dessen Credo »I want to believe«84 stellt genau das Gegenteil dar. Er glaubt zwar nicht unbesehen alles, ist aber im Gegensatz zu seiner Kollegin (und den meisten anderen Menschen) von der Existenz einer Wahrheit »out there« a priori überzeugt. Die persönliche Beziehung der beiden Agenten lässt Scully (z.B. vor dem Untersuchungs­ aus­ schuss) zur Mittlerin zwischen einem rationalistischen und einem intuitiven Verständnis von Realität und Welt werden. »Scully and Mulder try to construct a kind of productive paranoia, which they use to fight the sick, nonproductive paranoia of the global conspiracy represented by Cancer Man and his cohorts« (Wildermuth 1999, 153). Auch in den Tunguska-Episoden betont sie, dass sie ihre Karriere nicht deswegen aufs Spiel setzt, weil sie an Mulders Theorie glaubt, sondern weil sie ihm als Menschen und seinem Streben nach Wahrheit vertraut – »[…] but I am not inclined to follow my own judgement in this case« (X Files 4.9). Sie folgt Mulder jedoch nicht blind, auch wenn ihre Beziehung zu diesem Fall nicht so (körperlich) intensiv ist wie die Mulders, der die Wirkung des »black cancer« am eigenen Leib erlebt und mit eigenen Augen sieht. Auch sie wird zur Augenzeugin.85 Sie sieht die Folgen des Befalls im Labor und nimmt sogar an den (wissenschaftlichen) Untersuchungen teil. Vor allem wird sie Zeugin der »culture of lawlessness«, denn sie bemerkt auch während des Verfahrens, in dem sie Rede und Antwort stehen soll, dass sie darin nicht frei ist und die Gremienmitglieder sich bemühen zu vermeiden, dass sie bestimmte Dinge zur Sprache bringt.86 82 | Vandermeer erklärt wiederholt seinen Begleiterinnen, was als Lösung akzeptabel sei und womit sie es eigentlich zu tun haben würden (vgl. Rückkehr, 536ff.). 83 | So Scully in ihrer Stellungnahme zu Beginn der Folge Tunguska (vgl. X Files 4.8). 84 | Dieses Credo findet sich u.a. auf einem Poster in seinem Büro. 85 | Zu Augenzeugen als Argument ›alternativer‹ Theorien siehe Kapitel I.1 »Spuren und Fakten«. 86 | »Lawyers ask the wrong questions when they don’t want the right answers« (X Files 4.9)

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Die Kombination aus rationalem und intuitivem Zugang zur Wirklichkeit, die Mulders und Scullys Beziehung prägt, wird in Schamanenfeuer zur integralen Bedingung für die Lösung des Ereignisses. Wissenschaftler stellen in Schamanenfeuer den Großteil des Personals: Die Protagonistin Viktoria Vanderberg selbst ist wie ihr Mentor Professor Rodius und ihr Kollege Sven Theisen Geophysikerin. Zusammen stellen sie die deutsche Delegation der Forschergruppe dar. Einen klassischen Wissenschaftlertyp, der mit denen Lems und der Strugatzkis vergleichbar ist, stellen dabei eigentlich nur Rodius und Prof. Olguth, sein russisches Pendant, dar. Besonders Rodius betont fortwährend die intendierte Seriosität des Vorhabens und entspricht auch in Auftreten und Erscheinungsbild vollkommen dem Klischee eines (Natur-)Wis­senschaftlers.87 Dank seiner immer wieder ausgestellten rationalen Denkweise besteht kein Zweifel an seiner Integrität, aber es wird klar, warum seine Mitarbeiterin das Geheimnis löst und er gegen Ende nicht einmal in der Lage ist, die von Viktoria als ›Wahrheit‹ des Tunguska-Ereignisses vorgetragene Lösung anzuerkennen. Sven Theisen, Viktorias Kollege, dagegen ist zwar Wissenschaftler, seine Funktion innerhalb des Romans beschränkt sich größtenteils darauf, Viktoria nachzustellen. Außerdem ist er es, der immer wieder auf die »unseriösen« Theorien als mögliche Ursache des Ereignisses hinweist und diese gegenüber den »seriösen« bevorzugt. Er wird damit zum Gegenpart des rationalen Rodius innerhalb der Forschergruppe und zum Konkurrenten Leonids, Viktorias Liebhabers. Viktoria ist ein Allroundtalent; nicht nur ist sie eine hervorragende Wissenschaftlerin, Taucherin und Karrierefrau, sie kann zudem noch einige Semester des Studiums der russischen Literatur vorweisen, was sie befähigt, sich auch mit den (im Gegensatz zu Leonid, der deutsche Vorfahren hat) nicht Deutsch sprechenden Teilnehmern der Forschungsgruppe und den dort ansässigen Einwohnern ohne Weiteres zu verständigen. Darüber hinaus zeichnet sie eine mentale Offenheit aus, die es ihr ermöglicht, das ihr von Leonid näher gebrachte Wissen um die Mächte der tunguskischen Geister nicht nur zu erleben, sondern dessen Gültigkeit auch anzuerkennen. Ganz wie seine Geliebte ist auch Leonid Teil zweier Welten. Als Soldat im Tschetschenienkrieg hat er Fähigkeiten erworben, die jedem Geheimagenten gut zu Gesicht stünden, und kann darüber hinaus auf die Tradition seines Volkes, den Schamanismus, zurückgreifen. Außerdem ist er ein direkter Nachfahre des Konstrukteurs Leonard Schenkendorff, dessen Tagebuch schließlich zur Lösung führt. Viktorias wissenschaftliche Qualifikation dient, neben der Legitimation ihrer Reise zum Ort der Explosion, dem Zweck, die Fähigkeiten ihres Partners Leonid zu vervollständigen. Die Lösung des Rätsels kann in dieser Konstellation von bei87 | Die getupfte Fliege repräsentiert dabei als exzentrisches Merkmal fast schon metonymisch eine gewisse weltfremde Naivität, da sie ein typisches Zeichen für einen etwas verwirrten beziehungsweise verrückten Professor ist.

II.2 Geheimnis und Verschwörung

den nur als Paar gefunden werden. Die Verbindung führt in Schamanenfeuer schließlich nicht nur zur Enthüllung des Geheimnisses und der (wenigstens teilweisen)88 Durchkreuzung schurkischer Interessen. Durch die Geburt ihres gemeinsamen Sohnes Leo wird die Fortsetzung der Linie (Leonard, Leonid …) und die erneute körperliche Verbindung des ewenkischen Schamanismus mit dem rational-wissenschaftlichen Prinzip gekrönt. Man könnte meinen, diese Geheimnis-Fiktionen als Inszenierung zweier Hybride lesen und die Texte damit als nicht-moderne Zeugnisse missverstehen. Das Missverständnis bestünde darin, Geheimnis-Hybrid und LösungsHybrid 89 als Endprodukt oder profilierten Effekt der Erzählungen zu verstehen. Dabei übersähe man jedoch, dass es zumeist der rationale Part ist, dessen Lösung sich als falsch oder unzureichend erweist, und er oder sie wiederum vor allem kommunikative Aufgaben erhält. Die Wahrheit hinter der Wahrheit soll also den Rationalen zum Leitbild werden. Diese (verschwörungstheoretische und) paranoide Form der Kontingenzleugnung kann zwar vorgeblich mythischem Denken entsprechen,90 stellt aber keine produktive Arbeit am Mythos dar, sondern bestärkt die Begrenzungen modernen Denkens, indem sie sie bloß inhaltlich neu besetzt. Die dichotomischen Unterscheidungen (Wahrheit/Lüge, Natur/Kultur, Magie/Wissenschaft) bleiben bestehen und werden sogar bestärkt. Vielfach machen sich die Figuren (und die Erzählungen) selbst sogar zu Komplizen der Verschwörung und setzen die Geheimhaltung (z.B. durch die Tradierung im Geheimen – Rückkehr, Schamanenfeuer, Singularity) fort. Sie werden auf diese Weise von vermeintlichen Aufklärern zu wahren Wiedergängern von Sherlock Holmes. Ihre Fähigkeit, die Wahrheit »out there« zu sehen, mag unvergleichlich sein, ihre Loyalität gehört aber der herrschenden Ordnung. Wie der große Detektiv machen sie sich und ihre Fähigkeiten zum Instrument des Systems. Dabei akzeptieren und affirmieren sie jedoch auch die Intransparenz und die damit einhergehende Notwendigkeit von Geheimnissen. Während hier Fantastisches plausibel wird, werden Offenheit, Kontrollierbarkeit und Partizipation zu modernen Fantasien – zu den Mythen, auf die sich eine moderne Verfassung gründet.

88 | Ähnlich wie in The X Files gelingt es den beiden nicht, ihr Wissen mit einer breiten Öffentlichkeit zu teilen, weil ihnen ihre Freunde, allen voran Rodius, nicht glauben. Die Verbindungen der Schurken reichen so weit, dass sie dagegen nicht ankommen können. 89 | Das Geheimnis kann nur durch Vertreter zweier Welten enthüllt werden. 90 | Vgl. Kapitel I.3 »Kontingenz und Mythos«.

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II.3 Ereignis und Geschichte I st »Tungusk a« ein E reignis ? Obwohl im Laufe seiner Erforschung einige Fakten etabliert werden konnten (u.a. Zeitpunkt, Ort und Explosionsenergie), birgt die Rede vom Tunguska-Ereignis, abgesehen von der fehlenden Erklärung seiner Ursache, einige Schwierigkeiten. Schon die Feststellung, dass eine Erklärung der Tunguska-Explosion nicht mit einer »holistic explanation of the Tunguska meteorite phenomenon as a whole« (Vasilyev 1998, 143) gleichzusetzen ist, verweist auf einen Umstand, der weit über die Grenzen des wissenschaftlichen Diskurses, dessen Teil Vasilyevs Text ist, hinausreicht. Die Bestimmungsschwierigkeiten entspringen weniger den Bedingungen naturwissenschaftlicher Klassifizierung – immerhin kann hier offensichtlich zwischen der Explosion und dem Phänomen als Ganzem unterschieden werden –, sondern beruhen auf der Tatsache, dass selbst dieses ›Ganze‹ nur einen Teilbereich dessen umfasst, was TunguskaEreignis meinen kann. ›Ereignis‹ bezeichnet eine für wissenschaftliche Untersuchungen bedeutsame Einheit, die sich räumlich und zeitlich verorten lässt (beziehungsweise einen Ort in der Raumzeit) und gleichzeitig ein Element von Geschichte (Historiografie) und Erzählungen (Geschichten) sein kann. In den hier zur Untersuchung stehenden Texten, Thomas Pynchons Against the Day, Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten und Vladimir Sorokins Trilogie Ljod, BRO und 23000, werden diese Bedeutungsebenen übereinander geblendet. Das Gewicht, das das Tunguska-Ereignis im Zusammenhang der Erzählungen/Geschichte des 20. Jahrhunderts dadurch gewinnt, kann nur durch die komplexe Zusammenführung von wissenschaftlichem, historischem und narrativem Ereignis erzeugt werden. Pynchon, Kracht und Sorokin inszenieren das Ereignis als archimedischen Punkt des 20. Jahrhunderts; interessanterweise jedoch ohne es in den Mittelpunkt des erzählten Geschehens zu stellen. Ganz im Gegenteil, denn das Ereignis taucht beispielsweise bei Kracht nur in der Peripherie der Erzählung auf, obwohl es die Voraussetzung der erzählten alternativen Geschichte des 20. Jahrhunderts darstellt.

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Die Produktion der Katastrophe

Die Untersuchung des Verhältnisses von Ereignis und Geschichte in Bezug auf das Tunguska-Ereignis steht am Ende der Untersuchung, weil es den Kulminationspunkt der bisher untersuchten Aspekte des Tunguska-Diskurses darstellt. Die Überlagerung und Vernetzung wissenschaftlicher, historiografischer und narrativer Ereignisdimensionen resultieren in dem Anspruch, den gesamten Diskurs zu repräsentieren oder, genauer gesagt, anhand von Tunguska das ganze 20. Jahrhundert (neu) zu erzählen. Das führt zu einer Anlagerung von Elementen, die bereits im Fokus dieser Untersuchung standen – u.a. von Spurensuche, Verschwörungstheorie, Darstellung von Wissenschaft, Mythos und Magie sowie den Möglichkeiten von Zukunft. In allen genannten Texten taucht das Tunguska-Ereignis als entscheidendes, aber nicht notwendig als zentrales Element alternativer Geschichten des 20. Jahrhunderts auf. Zentral ist es insofern nicht, als die Gesamterzählung sich, anders als in vielen anderen Tunguska-Texten, nicht darum dreht, es aufzuklären, sondern durch das Erzählen eines verfremdeten (möglichen) Vorher und vor allem Nachher des Ereignisses die Bedingungen von Geschichtlichkeit und Geschichtsschreibung ausgelotet werden. Um die Beschreibung des Einsatzes des Tunguska-Ereignisses als archimedischen Punkt zu ermöglichen, sollen zunächst die drei prominenten Bedeutungsfelder des Ereignisses in den Blick genommen, dann die zentralen thematischen/erzählerischen Effekte des Erzählens von Tunguska aus beziehungsweise auf Tunguska hin und schließlich seine spezifische Konzeption als Text-Ereignis untersucht werden. Die Analyse des Zusammenspiels von Ereignis (wissenschaftlich/historisch/narrativ), Plot und Positionierung des Tunguska-Ereignisses in diesen Romanen sehr unterschiedlichen Umfangs wird zeigen, dass die Überblendung der Bedeutungs- und Funktionsdimensionen das Ereignis Tunguska als notwendigen Hebelpunkt der Erzählbarkeit des 20. Jahrhunderts in Szene setzt. Die in Vasilyevs Überblick zur Bezeichnung des Gesamtereignisses1 benutzten Tunguska-Komposita (Tunguska-»problem«, -»explosion«, -»phenomenon«, -»catastro­ phe« und schließlich -»event«) verweisen zunächst auf spezifische Teilbereiche des wissenschaftlichen Diskurses beziehungsweise weisen es selbst als Teil desselben aus, reklamieren somit dessen Zuständigkeit.2 Betrachtet man jedoch den Tunguska-Diskurs insgesamt, ist die wissenschaftliche Bedeutung dieser Begriffe, was insbesondere an »problem« und »catastrophe« deutlich wird, nur eine Teilmenge des Bedeutungsspektrums. Während sich Tunguska-Problem hier auf den Umstand bezieht, dass noch Fragen offen sind, die der Klärung bedürfen, so wurde bereits gezeigt, dass es vom 1 | Im Gegensatz zu den von Vasilyev im Einzelnen besprochenen materiellen oder berechenbaren Teilaspekten wie »TM (Tunguska Meteorite) matter«, »TM destruction pattern«, »TM flight« etc. 2 | Vgl. Kapitel I.1 »Spuren und Fakten«.

II.3 Ereignis und Geschichte

naturwissenschaftlichen Problem zum Tunguska-Rätsel und von dort aus zum Tunguska-Geheimnis nicht weit ist. Besonders interessant sind die Begriffe »Tunguska-Phänomen/phenomenon« und »Tunguska-Ereignis/event«, weil sie – anders als ›Katastrophe‹ – Neutralität signalisieren sollen. Beide Begriffe beschreiben das Erscheinen von ›etwas‹, wobei sich ›Phänomen‹ deutlicher auf das Erscheinungsbild und die Eigenschaften des Objekts/Etwas bezieht, während Ereignis stärker auf die zeitliche Dimension Bezug nimmt. Im naturwissenschaftlichen Gebrauch, das wird bei Vasilyev deutlich, spielt die Bedeutungsebene des Besonderen und Außergewöhnlichen, die die beiden Worte im außerfachlichen Kontext mittragen, keine Rolle. Phänomene und Ereignisse sind vor allem beschreibbare Einheiten oder Elemente eines größeren Zusammenhangs beziehungsweise Gegenstände wissenschaftlicher Untersuchung. Dass die Bestimmung und die Erklärung des Gesamtphänomens beziehungsweise des Ereignisses aber so deutlich von der Explosion unterschieden werden, zeigt, dass die Eingrenzung dessen, was Phänomen oder Ereignis genannt wird, wenigstens in diesem Falle alles andere als selbstevident ist. Dabei lässt diese Perspektive all das außer Acht, was nicht eindeutig als Gegenstand oder berechtigte Stimme der Disziplin auszuweisen ist.3 Vasilyevs Unterscheidung zwischen Tunguska-Explosion und -Phänomen beziehungsweise -Ereignis dreht sich nicht nur um die Frage nach der Wertung (Problem, Katastrophe), sondern auch der Ausmaße. Dabei geht es vor allem um die Zuordnung der Phänomene, die nicht unmittelbar vor Ort und/ oder im unmittelbaren Umfeld des Morgens des 30. Juni 1908 passiert sind, also diejenigen Aspekte des Tunguska-Phänomens, die in anderen Zusammenhängen dazu dienen, seinen rätselhaften, geheimnisvollen oder gar mystischen Charakter zu inszenieren.4 Es ist außerdem bemerkenswert, dass die Text­sorte des Forschungsüberblicks (Review) implizit auch die Erforschung des Ereignisses selbst in den Ereigniszusammenhang miteinbezieht und damit eine selbstreflexive Dimension gewinnt. So wird deutlich, dass die lange und in vielerlei Hinsicht erfolglose Forschungsgeschichte nicht nur abseits der 3 | Solche Effekte des Tunguska-Ereignisses (zu denen ich auch die vielfältigen nichtwissenschaftlichen oder nicht ›plausiblen‹ Erklärungsversuche zähle) werden kurz benannt und dann mit dem Hinweis auf ihre kontrafaktische Gestalt verworfen: »The hypotheses relating to the TM may be divided into two principally distinct groups. The first group includes versions based on the assumption of the terrestrial origin of the TM. The other group is based on the concept of its cosmic nature. Hypotheses of the first group interpret the TM as a result of an explosion of globular lightning, methane cloud […]. All those versions obviously contradict hard facts – first of all the phenomenology of the TM flight – they are excluded from further discussion« (Vasilyev 1998, 140). 4 | Vor allem die ›hellen Nächte‹, die, als noch wenig bis gar nichts über die Explosion in Sibirien bekannt war, überall in Europa zu Spekulationen führten.

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Die Produktion der Katastrophe

fachdisziplinären Forschung zum Teil des Phänomens wird.5 Tatsächlich kann man sagen, dass erst die etwa einhundertjährige6 Forschungsgeschichte beziehungsweise ihre relative Ergebnislosigkeit die Explosion an der Steinigen Tunguska und die damit assoziierten Vorkommnisse zu einem Ereignis im Sinne einer außergewöhnlichen und bemerkenswerten Begebenheit macht. Nicht nur bildet sie die Grundlage für Spekulationen, Verdächtigungen und Zweifel an der Deutungshoheit des naturwissenschaftlichen Expertentums, sondern begründet auch die spezifische Erzählbarkeit des Tunguska-Ereignisses. Die Beziehung zwischen dem Ereignis, seinen rätselhaften Auswirkungen und seiner Erforschung konstituiert seine Wahrnehmung und Darstellung als »quasi-mythisches Ereignis« (Baßler 2010, 264). Das zeigt sich in Michael Hartmanns naturphilosophischem Versuch, in der Science Fiction der Brüder Strugatzki und Lems (das Ereignis als Novum) sowie in verschiedenen Verschwörungs- und Verdachtsnarrativen (das Ereignis als Geheimnis). Die fehlende Erklärung öffnet eine Lücke, die erzählerisch gefüllt werden kann, und der Potenzialis eines möglichen Weltuntergangs7 bietet genügend Stoff, um (bei Wissenschaftlern und Literaten gleichermaßen) die Dringlichkeit der Beschäftigung mit ihm zu begründen. Beide Aspekte werden durch seine Forschungsgeschichte verstärkt und gleichsam legitimiert, während sie gleichzeitig zum Stoff von Erzählungen werden.8 Demzufolge hat Tunguska mindestens drei (inhaltliche) Ereignisdimensionen: (1) das ›Phänomen‹ – die Explosion am 30. Juni 1908 und die weithin wahrnehmbaren Lichtphänomene; (2) das ›Rätsel‹ – das Ereignis seiner Unerklärtheit, die trotz der langen und komplizierten Erforschung fortbesteht; und (3) die ›Katastrophe‹ – das mögliche Ereignis einer kataklysmischen Katastrophe, die es aufgrund seiner unbekannten Ursache beziehungsweise im Konditionalis (was wäre, wenn die Explosion über bewohntem Gebiet stattgefunden hätte etc.) enthält. Systematisch gesprochen gibt es also neben dem Ereignis als naturwissenschaftlichem Forschungsgegenstand ein Tunguska-Ereignis als strukturierendes Erzählelement (als Novum, Geheimnis und zentrale mögliche Katastrophe). Als dritte systematische Dimension lässt sich 5 | Dass sie das wird, ist offensichtlich, denn nicht nur enthalten die meisten Texte Wissenschaftlerfiguren; der Umstand, dass trotz 100 Jahren Forschung niemand ›sicher weiß‹, was die Ursache ist, gehört zu den grundlegenden Topoi der Darstellung von Tunguska. 6 | Bezieht man die Spekulationen um die global wahrnehmbaren, aber erst Mitte des 20. Jahrhunderts zugeordneten Phänomene ein, beginnt die Forschung am TunguskaEreignis nämlich nicht erst mit Kuliks Expeditionen in den 1920er Jahren. 7 | Vgl. Kapitel I.2 »Katastrophe und Risiko«. 8 | Dafür, dass die Forschungsgeschichte des Tunguska-Ereignisses zum Erzählgegenstand wird, ist insbesondere Solaris ein Beispiel (vgl. Kapitel II.1 »Science und Fiction«).

II.3 Ereignis und Geschichte

das Ereignis historisch beziehungsweise historiografisch verstehen. Die Bestimmungsprobleme, die Vasilyev für den naturwissenschaftlichen Diskurs aufwirft, ähneln strukturell der historischen Ereigniskonstruktion, da in der historischen Dimension des Ereignisses die genannten Elemente und Probleme in der Bestimmung, der Einordnung und der Darstellung des TunguskaEreignisses zusammenfallen. Das Ereignis als Einheit der Historiografie, also als Element anhand dessen Geschichte erzählt werden kann, steht in Hinblick auf die Darstellung von Geschichte der Struktur gegenüber. Ereignis und Struktur9 erfordern, einer Unterscheidung Kosellecks zufolge, deswegen verschiedene Darstellungsmodi10, weil sie unterschiedlichen Zeitregimes unterliegen. Während die »zeitlichen Konstanten [von Strukturen, SN] über den chronologisch registrierbaren Erfahrungsraum der an einem Ereignis Beteiligten hinausweisen« (Koselleck 1989, 147), können Ereignisse »schon von den beteiligten Zeitgenossen als Ereigniszusammenhang, als eine Sinneinheit erfahren worden sein, die erzählbar ist« (Koselleck 1989, 144).11 Ereignisse zeichnen sich laut Koselleck durch ein »Minimum von Vorher und Nachher« aus, welches die Sinneinheit konstituiert, »die aus Begebenheiten ein Ereignis macht. Der Zusammenhang eines Ereignisses, sein Vorher und Nachher mögen ausgedehnt werden, seine Konsistenz bleibt jedenfalls der Zeitfolge verhaftet« (Koselleck 1989, 145). Im Unterschied dazu »werden unter Strukturen – im Hinblick auf ihre Zeitlichkeit – solche Zusammenhänge erfaßt, die nicht in der strikten Abfolge von einmal erfahrenen Ereignissen aufgehen« (ebd., 146). Anders als beim naturwissenschaftlichen Phänomen evoziert der (historisch verstandene) Gebrauch des Wortes Ereignis Einmaligkeit. Das ›Phänomen‹ kann als sichtbarer Effekt verstanden werden, das, einem Beispiel/ Exemplar gleich, Rückschlüsse auf eine nicht unmittelbar zutage liegende (Natur-)Ge­setzlichkeit erlaubt. Für das Ereignis hingegen gilt, auch wenn es auf strukturelle Bedingungen zurückzuführen sein mag,12 dass »[d]as Vorher und Nachher eines Ereignisses seine eigene zeitliche Qualität [behält], die sich nie zur Gänze auf ihre längerfristigen Bedingungen reduzieren läßt. Jedes Ereignis zeitigt mehr und zugleich weniger, als in seinen Vorgegebenheiten enthalten ist: daher seine jeweils überraschende Novität« (Koselleck 1989, 151). Die Bestimmung eines Davor und Danach ist auch in Hinblick auf Tunguska im Sinne eines (potenziell) katastrophischen Ereignisses von Bedeutung: 9 | Vgl. Koselleck 1989, 144-157. 10 | Vgl. ebd., 144. 11 | »Darin liegt etwa die Priorität der Augenzeugenberichte beschlossen, die bis in das 18. Jahrhundert hinein als besonders zuverlässige Primärquelle gegolten haben.« (Ebd.) 12 | Vgl. Koselleck 1989, 149.

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Die Produktion der Katastrophe »Die Katastrophe impliziert ein Davor und ein Danach. Für die betroffenen Gesellschaften besteht die Schwierigkeit darin, den Übergang zwischen beidem zu bewerkstelligen, das heißt eine Störung des Gleichgewichts, die erlittene Unordnung und das Gefühl des Scheiterns zu überwinden, das angesichts der Unfähigkeit, die Ereignisse zu beherrschen, empfunden wird« (Walter 2010, 141).

Neben den praktischen Konsequenzen, die der Versuch einer Fortsetzung des vorkatastrophischen Zustandes in einer Zeit nach der Katastrophe birgt, ist es vor allem die Möglichkeit, das katastrophische Ereignis in einen Erzählzusammenhang beziehungsweise in eine Geschichte einzufügen, die die »erlittene Unordnung« zu überwinden vermag. In dem es narrativiert, also erzählend in einen Zusammenhang eingeordnet wird, kann seine Novität erzählerisch festgehalten und so gewissermaßen gezähmt werden. Die Herstellung einer zumindest konsekutiven, bestenfalls aber kausalen Ordnung – die im Falle des Tunguska-Ereignisses zumindest schwierig ist – wird dann zur Voraussetzung für die Fortsetzung der Welt, wie sie vor dem Ereignis war. Die Einmaligkeit eines Ereignisses hängt also nicht davon ab, ob es sich prinzipiell wiederholen könnte, sondern vom Ereigniszusammenhang, das heißt von der komplexen Beziehung zwischen dem Ereignis und dem Umfeld, in dem es sich ereignet. Einen Unterschied zwischen den Ereignistypen (›Vulkanausbruch‹, ›Meteoriteneinschlag‹ oder ›Schlacht‹) und den spezifischen Ereignissen (›Pompeji‹, ›Tscheljabinsk‹13 oder ›Waterloo‹) gibt es demnach nicht nur in Hinblick auf seine Ausmaße beziehungsweise physischen Einzelheiten, sondern gerade auch auf seinen Ort in der Geschichte. Die Schwierigkeit, die Vasilyev für das Tunguska-Ereignis feststellt, besteht also nur zum Teil in der Frage, welche Phänomene mit ihm assoziiert und wie sie plausibel erklärt werden (können). Prekär ist neben der Frage danach, um welchen Ereignistyp es sich handelt, auch die Frage nach seinem Vorher und Nachher. Dabei scheint die Antwort zunächst einfach: Das Vorher endet am 29. Juni 1908 (oder genauer am 30. Juni 1908 um 7.12 Uhr Ortszeit) und das Nachher beginnt etwa am 31. Juni 1908 mit dem Verblassen der Lichtphänomene. Zählt man die ›hellen Nächte‹ dazu, verlängert sich die Ereigniszeit bloß um einige Tage. Wenn aber, wie vorgeschlagen, auch die Erforschung als Bestandteil des Ereignisses gedeutet wird oder gar das, was hätte passieren können, hat es überhaupt noch kein Ende gefunden. Wie facettenreich das Spiel mit der Bestimmung der Ursache, aber auch mit den (zeitlichen) Grenzen des Tunguska-Ereignisses sein kann, hat die Untersuchung bereits gezeigt. Dennoch lohnt es, die Ereigniskonstruktionen in einigen Texten nochmals hervorzuheben. Relativ konform mit der Ereignis-Struktur13 | In der russischen Region im Ural ereignete sich am 15. Februar 2013 ein vielfach dokumentierter Meteoriteneinschlag.

II.3 Ereignis und Geschichte

Differenz präsentieren sich die Texte, die Tunguska als Spur oder Rätsel lesen, dessen Lösung auf größere Strukturen als Bedingung des Ereignisses verweist.14 Auf diese Weise organisiert beispielsweise Schamanenfeuer die verschiedenen Erzählzeiten und -ebenen und stellt zwischen den geheimen Experimenten des Zaristischen Russlands und den verbrecherischen Interessen des kontemporären Oligarchen (aber auch durch genealogische und magische Verbindungen) kausale Zusammenhänge her. Montag verkehrt durch rückwärts sich durch die Zeit bewegende Agenten, die auf ihrer Reise die Explosion in Sibirien auslösen, die Zeitfolge. Doch obwohl Vorher und Nachher hier verkehrt sind (die Ursache des vergangenen Ereignisses liegt in der Zukunft der erzählten Gegenwart), bleibt das Ereignis einer kohärenten Zeitfolge verhaftet. In Solaris steht Idee eines nicht endenden Ereignisses im Zentrum, das aufgrund der Dauer und Ergebnislosigkeit seiner Erforschung eigentlich längst die Grenzen der zeitlichen Erstreckung der historischen Einheit überschritten hat. Dennoch behält es Ereignischarakter, weil die Subjekte, die es erleiden, so eng mit ihm verbunden sind.15 Michael Hampes Text nimmt das Tunguska-Ereignis zum Anlass, die Grenzen zwischen Mensch und Natur zunächst infrage zu stellen und schließlich aufzuheben. Indem er die Möglichkeit ›absoluter‹ Kontingenz als Ursache des Ereignisses aufruft, stellt er auch die Form von Geschichtlichkeit infrage, die die Voraussetzung für die Bildung von Vorher und Nachher und damit für die Erzählbarkeit von Ereignissen darstellt. Virulent wird diese Thematik in Against the Day von Thomas Pynchon,16 der Ljod-Trilogie Vladimir Sorokins17 und Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten.18 Inhaltlich fallen viele der bereits untersuchten Aspekte zusammen. Die Themen Geheimnis und Verschwörung/Verdacht, Katastrophe(n), Beziehung von Mensch und Natur sowie das Verhältnis von 14 | »Im Hinblick auf einzelne Ereignisse gibt es also strukturelle Bedingungen, die ein Ereignis in seinem Verlauf ermöglichen. Strukturen sind beschreibbar, aber sie können ebenso in den Erzählzusammenhang einrücken, wenn sie nämlich als nicht chronologisch gebundene causae die Ereignisse zu klären helfen. Umgekehrt sind Strukturen nur greifbar im Medium von Ereignissen, in denen sich Strukturen artikulieren, die durch sie hindurchscheinen« (Koselleck 1989, 149). 15 | Es »[…] läßt sich für alle [Strukturen] gemeinsam sagen, daß ihre zeitlichen Konstanten über den chronologisch registrierbaren Erfahrungsraum der an einem Ereignis Beteiligten hinausweisen. Während Ereignisse von bestimmbaren Subjekten ausgehen oder erlitten werden, sind Strukturen als solche überindividuell und intersubjektiv.« (Koselleck 1989, 147) 16 | Pynchon 2007, zitiert unter der Sigle (AtD). 17 | Sorokin 2005, Sorokin 2006 und Sorokin 2010, zitiert unter den Siglen (Ljod), (BRO), (23000). 18 | Kracht 2008, zitiert unter der Sigle (Kracht).

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Die Produktion der Katastrophe

Wissenschaft und Moderne werden, ohne dass eines davon im Vordergrund stünde, zu entscheidenden Anteilen des Umfeldes, in dem sich Tunguska ereignet und es also zum Ereignis wird. Der Fokus der Romane liegt, in den Worten Kosellecks, auf der Betrachtung des »Prozeßcharakter[s] neuzeitlicher Geschichte[, der] gar nicht anders erfaßbar [ist,] als durch die wechselseitige Erklärung von Ereignissen durch Strukturen und umgekehrt« (Koselleck 1989, 150). Anders als es die vorrangig vom Spurenparadigma bestimmten Texte versuchen, liegt der Schlüssel nicht in der Erklärung des Ereignisses, von dem man sich die Erklärung seines Umfelds erwartet oder umgekehrt, sondern in einer Bewegung in beide Richtungen, die aber keine (endgültige) Synthese dialektischer Manier erwartet. Strukturell ähnelt das Verfahren, das die Texte miteinander verbindet, zunächst dem von Suvin für die Science Fiction Beschriebenen: Im Modus des Gedankenexperiments wird ein Aspekt konventioneller Wirklichkeit verfremdet, das heißt, es wird ein Novum eingeführt, von dem aus »kognitiv« beziehungsweise erkenntnislogisch verfolgt wird, welche Folgen diese Änderung nach sich zöge. Dieses Schema lässt sich am deutlichsten in Krachts Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten erkennen. Hier wird dem Tunguska-Ereignis ein kontrafaktischer Effekt (die Verseuchung Russlands) zugewiesen und von dort aus ein dementsprechend anderes Nachher erkundet (Lenin beginnt die Revolution in der Schweiz mit dem Ergebnis, dass das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert des Krieges mit der »Schweizer Sowjet Republik (SSR)« in seinem Zentrum wird). Against the Day umfasst einen Zeitraum von etwa 30 Jahren, der mit der Chicagoer Weltausstellung im Jahr 1893 beginnt und kurz nach dem Ersten Weltkrieg endet. Auf sehr verschiedenen, aber miteinander verknüpften Ebenen werden die Ereignisse und Veränderungen dieses Zeitraums aus der Perspektive verschiedener Figuren(-gruppen) erzählt. Bemerkenswert ist dabei, dass die Erzählebenen unterschiedlichen Genrekonventionen gehorchen, sodass Against the Day gleichsam ein Archiv alternativer und zum Teil kontrafaktischer Geschichte(n) der Jahrhun­dert­wende darstellt. Das Tunguska-Ereignis nimmt insofern eine entscheidende Stellung ein, als es sich auf alle Erzählebenen auswirkt und sie dadurch verbindet. Darüber hinaus erschüttert es die Einheit von Zeit und Raum und eröffnet den Zugang zu der mythischen Stadt Shambala. In Hinblick auf seine Auswirkungen und den Raum, den es im Roman einnimmt, ist außerdem auffällig, dass es bedeutend mehr Gewicht als der Erste Weltkrieg erhält, in dem sich zwar alle (Erzähl-) Fäden treffen, der jedoch selbst nur indirekt in Erscheinung tritt. Sorokins Trilogie, bestehend aus Ljod. Das Eis, BRO und 23000, umfasst die etwa 100 Jahre andauernde Geschichte der »Bruderschaft des Lichts«. Die Gemeinschaft, die einem Kult oder einer Sekte gleicht, versteht sich als »Brüder und Schwestern der Herzen«, die mithilfe des Eises, dass sie dem TunguskaMeteoriten entnehmen, »aufgeklopft« werden können. Die Trilogie umfasst (1)

II.3 Ereignis und Geschichte

die Suche nach den »schlafenden« 23.000 Mitgliedern und den Schöpfungsmythos der Gemeinschaft in Ljod (ihre Geschichte beginnt mit der Geburt des ersten Bruders am Tag des Tunguska-Ereignisses), (2) die Entdeckung des Meteoriten und seiner Bedeutung durch BRO in BRO (Put’Bro) und schließlich (3) die Vereinigung der »Geschwister des Lichts« und ihr Ende in 23000. In allen drei Texten gibt es eine einzelne, deutlich markierte Abweichung (»moment of divergence« [Duncan 2003, 210]) von der Realität (»normalized narrative of the real past« [Singles 2013, 281]), die eine Kette von Veränderungen auslöst, welche, so scheint es, in eine Geschichte münden, die erzählt, ›wie es hätte sein können‹. Folgt man Duncans Definition in The Cambridge Companion to Science Fiction, sei es zweifelhaft, ob diese strukturelle Ähnlichkeit die »Alternate History« als Science Fiction ausweist, sicher sei jedoch, dass es sich dabei nicht um Geschichte handle: »An alternate history is not a history at all, but a work of fiction in which history as we know it is changed for dramatic and often ironic effect« (Duncan 2003, 209).19 Dabei affirmiert die »Alternate History« die Problematik der Darstellung historischer Ereignisse und gleichzeitig ihre prekäre Stellung zwischen Historiografie und Fiktion (und zwischen den Genres der Science Fiktion und des historischen Romans), indem sie den »moment of divergence« markiert. Sie stellt damit aus, was Koselleck »die Fiktion des Faktischen« nennt, und spielt mit der Differenz zwischen dem, was erzählt werden kann, und dem, was erzählt werden darf.20 »Alternate History« oder Parahistorie lässt sich sowohl als Teil von Science Fiction beschreiben als auch als Ausprägung oder Extremform des historischen Romans. Die Tendenz, die Machart beziehungsweise die Produktion von Geschichte als normalisiertes Narrativ in den Blick zu nehmen, entspringt einem Prozess »fortschreitender Hybridisierung [der Literatur seit den 1960er 19 | Der Parahistorie wie der Science Fiction wird also aufgrund ihrer Stellung zwischen (wissenschaftlicher) Disziplin und Fiktion oft nur geringes Erkenntnispotenzial und höchstens geringer literarischer Wert unterstellt. »Parahistorien vom Typ: ›Die Nazis haben den Krieg gewonnen‹, können nur verallgemeinernde Deutungen, z.B. die der Zwangsläufigkeit in Frage stellen, nicht die eigens, eben historisch, erzählten Ereignisse« (Geppert 2009, 164). 20 | »Jedes historisch eruierte und dargebotene Ereignis lebt von der Fiktion des Faktischen, die Wirklichkeit selber ist vergangen. Damit wird ein geschichtliches Ereignis aber nicht beliebig oder willkürlich ersetzbar. Denn die Quellenkontrolle schließt aus, was nicht gesagt werden darf. Nicht aber schreibt sie vor, was gesagt werden kann. Negativ bleibt der Historiker den Zeugnissen vergangener Wirklichkeit verpflichtet. Positiv nähert er sich, wenn er ein Ereignis deutend aus den Quellen herauspräpariert, jenem literarischen Geschichtenerzähler, der ebenfalls der Fiktion des Faktischen huldigen mag, wenn er seine Geschichten dadurch glaubwürdiger machen will« (Koselleck 1989, 153).

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Jahren, SN], der gleichsam den ›Motor‹ der Gattungsentwicklung konstituiert. Im Zuge dieses Prozesses hat sich die Fiktion nicht nur den Gegenstand der Geschichte angeeignet, sondern auch die Spezialdiskurse der Historiographie und Geschichtstheorie« (Nünning 2002, 545). Ohne sich in Hinblick auf das Erzählte von den historischen Quellen und den Diskursregeln der Historie begrenzen zu lassen, erproben die Texte die Qualitäten und Implikationen der etablierten Erzählung von Geschichte.21 »Eines der wesentlichen Kennzeichen der metahistoriographischen Fiktion besteht nämlich gerade darin, daß die epistemologischen und methodologischen Probleme der Rekonstruktion der Vergangenheit vom Standpunkt des Hier und Jetzt sowie der retrospektiven Sinnstiftung ins Zentrum rücken« (Nünning 2002, 548).

Das Tunguska-Ereignis erscheint aufgrund seiner komplexen Position zwischen wissenschaftlichem, historischem und narrativem Ereignis als »moment of divergence« für derlei Experimente geradezu prädestiniert, weil seine Rätselhaftigkeit beziehungsweise der Versuch, diese einzudämmen oder aus dem Diskurs auszuschließen, Teil seiner Geschichte ist und so die ›Fiktion des Faktischen‹ (beziehungsweise das Scheitern, Fakten zu schaffen) zum sichtbaren Bestand des Ereignisses gehört. Pynchon, Sorokin und Kracht gehen in ihren Texten jedoch weiter als die bis hierhin untersuchten Fiktionalisierungen des Ereignisses – einerseits weil sie, wie bereits erwähnt, nahezu alle mit Tunguska assoziierten Themenfelder verknüpfen und andererseits weil sie sich nicht in der historiografischen Frage erschöpfen, wie Geschichte erzählt werden kann, soll oder muss. Das Ereignis bietet hier einen Anlass, den grundsätzlichen Bedingungen und Darstellungen von Zeit und Geschichte nachzugehen und nach den daraus entwickelten oder darin sichtbaren Mythen der realisierten Moderne des 20. Jahrhunderts zu fragen. Folgerichtig drehen sich die drei zur Untersuchung stehenden Texte nicht um ›alternative‹ Geschichte(n), insofern sie zeigen, was (nicht) hätte sein sollen, sondern indem sie das in den Fokus rücken, was Singles »the normalized narrative of the real past« (Singles 2013, 281) nennt.22 Der historische Bezug dient weniger dazu, 21 | »[…] [T]raditionelle historische Romane nivellieren die Differenz zwischen faktischem Geschehen und erzählter Geschichte – historische Metafiktion beziehungsweise metahistoriographische Fiktion [hebt] sowohl deren Diskontinuität als auch das für den historischen Roman konstitutive Spannungsfeld zwischen Fiktion und Historie hervor« (Nünning 2002, 548-549). 22 | »The normalized narrative of the real past has […] implications for all historical fiction. The normalized narrative of the real past is less a rigid, concrete chain of events, than a dynamic, flexible, everchanging story that is the tangible counterpart to something like ›collective memory‹.« (Singles 2013, 281)

II.3 Ereignis und Geschichte

die eigene Geschichte »glaubwürdiger zu machen« (Koselleck 1989, 153) oder die Wirklichkeit der ›Normalgeschichte‹ anzuzweifeln, als dazu, »genau kalkulierte produktive Differenzen« zum normalisierten Geschichtsnarrativ zu erzeugen, um ihre vorausgesetzte »raumzeitliche Kontinuität« (Geppert 2009, 162) überhaupt erst sichtbar zu machen. Evident wird das u.a. dadurch, dass die mit Tunguska assoziierten Erzählungen des 20. Jahrhunderts, die die Romane entwerfen, in unmittelbarer Beziehung zu der Positionierung des Ereignisses im Textzusammenhang stehen. Obwohl den genannten Texten gemeinsam ist, dass das Tunguska-Ereignis die, wenngleich periphere, Voraussetzung für die jeweilige Geschichte/Erzählung darstellt, unterscheiden sie sich abseits von Erzählstil und -welten sowie der verschiedenen alternativen Geschichten des 20. Jahrhunderts erheblich voneinander. Den großen Abweichungen im Textumfang korrespondieren, wenn auch nicht unbedingt linear, Abweichungen im Umfang der erzählten Zeit. Against the Day hat, durchaus typisch für Romane Thomas Pynchons, deutlich über 1.000 Seiten,23 die den multidimensional und polyperspektivisch erzählten Zeitraum der Jahrhundertwende von 1893 bis etwa 1923 umfassen. Dagegen nimmt sich Christian Krachts Roman geradezu knapp aus: Auf 149 Seiten wird der Weg des Kommissärs durch die Schweizer Sowjet Republik verfolgt, der höchstens wenige Wochen dauert. Den Hintergrund dieser Wanderung beziehungsweise Verfolgungsjagd bildet die etwa hundertjährige Geschichte des Krieges, der auf die Verseuchung Russlands durch das TunguskaEreignis folgt. Sorokins Trilogie umfasst in drei Bänden von jeweils etwa 350 Seiten ebenfalls etwa ein Jahrhundert nicht-linear erzählter Zeit (von 1908 bis zum Jahr 2004). Bezeichnend für den Vergleich der Texte ist außerdem die Position und der Umfang der Darstellung des Tunguska-Ereignisses und das, was nicht zur Darstellung kommt.

23 | In der hier verwandten Ausgabe sind es 1.220 Seiten.

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Die Produktion der Katastrophe

Abb. 1: Textstellen, die das Tunguska-Ereignis darstellen, in Relation zum Gesamtumfang der Romane.24

Against the day

2,3% 28/1220

Thomas Pyncho 875-903*

Ljod. Das Eis

23.000

BRO 0,57%

[28/1220]

0,69%

21%

79/1014

Vladimir Sorokin 231 + 232 [2/348]

59-134

[75/344]

146 + 164 [2/322]

Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten 0,34% 0,5/149

Christian Kracht 58 [0,5/149]

TUNGUSKA-ANTEILE 1cm = 100Seiten * Position im Gesamttext

Wie oben erwähnt, beruht die erzählte Welt in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten vollständig auf der kontrafaktischen Umdeutung der Auswirkungen des Ereignisses und doch nimmt es in diesem Text den relativ geringsten Raum ein. Die »Erklärung« umfasst einen Absatz nahe der Mitte des Textes (Kracht, 58) und wird zwar retrospektiv als Ausgangspunkt der alternativen Welt markiert, stellt darüber hinaus jedoch keinen Bezugspunkt für die Erzählung dar. In Sorokins Trilogie wird Tunguska durch das Eis (Ljod) zum Subtext der gesamten Erzählung. Direkte Bezüge finden sich im ersten Teil (Ljod. Das Eis) im letzten Drittel (Ljod, 231-232 und 348), in dem die Ursprungserzählung der Bruderschaft des Lichts enthüllt wird, und im dritten Teil (23000) in ähnlicher Funktion, allerdings aus einer anderen Perspektive etwa in der Mitte des Textes (23000, 146, 164 und 322). Der zweite Band der Trilogie (BRO), in dem die Vorgeschichte der Gegenwartshandlung entfaltet wird (Auffindung des Tunguska-Meteoriten, Entdeckung des Eises und Beginn der Suche nach den Geschwistern), umfasst die umfangreichste direkte Beschreibung von Tunguska (BRO, 59-134). Allerdings handelt es sich hier nicht wie in Hohlbeins Die Rückkehr der Zauberer oder Lems Die Astronauten um eine 24 | Mein Dank für die Visualisierung dieser Relation gilt Arkin Keskin.

II.3 Ereignis und Geschichte

Schilderung der Explosion, sondern um eine Schilderung der Erforschung (und Erklärung) des Ereignisses vor Ort. In Against the Day kommt das Ereignis – hier: die Explosion, die Lichtphänomene und die Erschütterung der Physik von Zeit und Raum, die der Roman mit dem Ereignis verknüpft – zu Beginn des letzten Drittels zur Darstellung (AtD, 875-903). Anders als bei Sorokin und Kracht ist es hier nicht unmittelbar als Voraussetzung der Erzählung markiert, steht dafür aber innerhalb des Textes in einem außerordentlich interessanten Spannungsverhältnis zu dem, was nicht erzählt wird. Zwar erscheint die Tunguska-Episode mit 28 Seiten beziehungsweise nur wenig mehr als zwei Prozent des Gesamttextumfangs vergleichsweise peripher,25 bildet aber gleichzeitig das einzige Ereignis – und das wohlgemerkt in einem Zeitraum, der den Ersten Weltkrieg umfasst –, das in diesem Umfang beschrieben wird und zudem nahezu alle Figuren und Erzählebenen miteinander verknüpft. Seine entscheidende Funktion für den Text ergibt sich also nicht aus einer Kausalbeziehung, sondern weil es die deutlichste Illustration des Ereignisses als Hebelpunkt der Erzählung bildet. Das Tunguska-Ereignis (und nicht der Erste Weltkrieg) wird zum archimedischen Punkt nicht nur der Geschichte des 20. Jahrhunderts, sondern auch der endgültigen Feststellung der (neuen) Physik von Raum und Zeit als linearer Raumzeit beziehungsweise, historisch gesprochen, der irreversiblen Etablierung des Fortschrittsmodells als einzig möglicher Handlungs- und Wahrnehmungsfolie für Geschichte.

D ie R ichtung der Z eit (P ynchon) Eine Voraussetzung dafür, ein Ereignis zum Element von Geschichte zu machen, ist, es in seinem unmittelbaren sowie weiter gefassten räumlichen und zeitlichen Umfeld zu verorten. Die Bestimmung des (historischen) Kontextes entspricht der Auswahl derjenigen Elemente, die zum Ereignis gezählt werden respektive es als solches konstituieren. Während diese Auswahl, das macht die Lektüre von Vasilyevs Review deutlich, vom angenommenen Kern des Ereignisses (hier: die Explosion) ausgeht, ermöglicht es die historische Bestimmung, aus dem Kontext auf das Ereignis zu schließen und somit je nach Erkenntnisinteresse ein neues Ereignis zu konstruieren. Gemeinsam ist dem historischen und dem naturwissenschaftlichen Ereignis dabei, dass es durch

25 | Zum Vergleich: In Krachts bedeutend kürzerem Roman nimmt das Tunguska-Ereignis 0,34 Prozent des Textumfangs ein und auch in Sorokins Trilogie, die insgesamt gesehen sehr viel stärker auf Tunguska konzentriert zu sein scheint als Krachts und Pynchons Texte, nimmt seine direkte Darstellung zwar 21 Prozent des Textumfangs von BRO (auf die Trilogie gerechnet), aber nur knapp 8 Prozent des Gesamtvolumes in Anspruch.

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Die Produktion der Katastrophe

die Festlegung von Ort und Zeit und die Verknüpfung mit ähnlichen Ereignissen im zeitlichen Umfeld faktisch verankert ist. Das historische Umfeld des Tunguska-Ereignisses wird in Against the Day vergleichsweise eng gefasst. In der Mitte26 eines 30 Jahre umfassenden Ausschnitts angesiedelt, der mit der Chicagoer Weltausstellung von 1883 beginnt und im Hollywood der frühen 1920er Jahre endet, wird es implizit und explizit mit anderen bedeutenden historischen Ereignissen verknüpft: Der historische Fokus von Pynchons Roman liegt auf der Jahrhundertwende beziehungsweise auf dem Ende des sogenannten langen 19. Jahrhunderts oder auch des Fin de Siècle. Ereignisse wie die Wiederkehr des Halleyschen Kometen, der Untergang der Titanic und der Erste Weltkrieg spielen, anders als man es erwarten könnte, keine Rolle, obwohl der Text einen ansonsten nahezu vollständigen »catalog of disasters« (Cowart 2012, 392-393) entwirft. Tatsächlich werden eher Katastrophen, Begebenheiten und Persönlichkeiten zum Thema, die gewissermaßen in der zweiten Reihe beziehungsweise im Schatten der großen Ereignisse stehen und denen oft etwas Rätselhaftes zugeschrieben wird, das in Against the Day teilweise mit Erklärungen versehen wird – so beispielsweise der Einsturz des Campanile (Venedig 1902), der Erfinder Nikola Tesla und nicht zuletzt das Tunguska-Ereignis.27 Der historische Ausschnitt des Romans legt den Schwerpunkt auf die technologisch-wissenschaftlichen Entwicklungen der Jahrhundertwende und die mit ihnen verbundenen oder von ihnen verursachten tiefgreifenden Veränderungen der Welt. Der Roman beginnt mit einem Höhepunkt der industrialisierten Moderne, der World’s Columbian Exhibition des Jahres 1893, einer Veranstaltung von bis dahin unvorstellbarer Größenordnung, die nicht nur den Durchbruch der von Nikola Tesla entwickelten Wechselstromübertragung von Elektrizität bedeutete, sondern durch die hell erleuchtete White City als greif bar gewordener Triumph der Technik galt. Alle Figuren sind durch ihre Mobilität gekennzeichnet und nutzen sämtliche verfügbaren Transport- und Kommunikationsnetzwerke und repräsentieren entweder den State of the Art technologischer Entwicklung oder stellen sich ihm diametral entgegen. In Against the Day ereignet sich das Tunguska-Ereignis am Scheitelpunkt einer restlos werdenden, das heißt einer technologisch (beinahe) in ihrer Gesamtheit verfügbaren Welt. Die Analyse wird zeigen, dass es gute Gründe gibt, Pynchons Version des Tunguska-Ereignisses sogar als ebenjenen Scheitelpunkt beziehungsweise Umbruch selbst zu interpretieren.

26 | Das ist durchaus spannend: Das Ereignis liegt zwar in der Mitte der erzählten Zeit, findet in der Erzählzeit jedoch erst im letzten Drittel statt. 27 | So wird beispielsweise der Einsturz des Campanile auf eine Luftschlacht der Chums of Chance zurückgeführt (AtD, 289).

II.3 Ereignis und Geschichte

Der Roman fiktionalisiert auch auf der strukturellen Ebene die wissenschaftlichen Entdeckungen,28 die um die Jahrhundertwende dazu führen, dass die newtonsche Auffassung, Zeit und Raum seien getrennte, statische Größen, verworfen wird. Die Relativitätstheorie, derzufolge beide Größen dynamisch und untrennbar zusammenhängen, und die Entwicklungen, die dahin führten, eröffnen im Roman Denkmöglichkeiten in Hinblick auf die Manipulierbarkeit von Zeit und Raum (Zeitreisen usw.), verursachen aber auch einen fundamentalen Zweifel an der Zuverlässigkeit und Gültigkeit der eigenen Wahrnehmung. Die Übereinstimmung zwischen der sinnlich wahrnehmbaren und der berechenbaren Welt bricht mit der neuen Physik auseinander. So wird der Glaube an die Wirklichkeit der wahrnehmbaren Welt erschüttert und dennoch gleichzeitig die Existenz einer Realität außerhalb des eigenen Verfügungsrahmens etabliert. Die Wirklichkeit, die so in Zweifel gezogen wird, ist die der Moderne(n), das heißt eine Realität – die ihre Glaubwürdigkeit und Effektivität darauf gründet, dass sie auf Trennungen aufgebaut ist (Natur/Kultur, Raum/Zeit, Wirklichkeit/Fiktion) –, deren Existenz vorausgesetzt und dezidiert nicht-dynamisch verstanden wird. Die Konstellation der mit den Figuren verknüpften Erzählebenen beziehungsweise Handlungsstränge in Against the Day inszeniert dagegen die Aufhebung der Trennungen durch die Darstellung des Raums und seiner Verfügbarkeit und den Zusammenfall von Zeit und Geschichte. Dabei verortet Against the Day die Frage danach, was Zeit ist, in einer Masse von katastrophischen Ereignissen, die die Reihe der von Walter für die quasi-immanente Bestätigung des Endzeitgefühls des Fin de Siècles aufgeführten Katastrophen29 bei Weitem übersteigt und doch keinen Höhepunkt findet.30 Der Text präsentiert die Ereignisse als kontingent zusammengewürfelte Vorkom­ mnisse, die aber gleichzeitig, wie bei Walter, als Evidenzen einer kommenden Katastrophe gedeutet werden (können). Die größte Katastrophe des beginnenden 20. Jahrhunderts jedoch, die Schrecken des Ersten Weltkrieges, wird zu keinem Zeitpunkt zum Erzählmittelpunkt oder gar zu einer klimaktischen Erlösung, sondern wird nur in Vorausdeutungen, Warnungen und zeitlich kom-

28 | Vgl. Staes 2010, 538ff. 29 | Vgl. Walter 2010, 167. 30 | »In many ways, one learns to read Against the Day by rereading V. Both fictions treat the Great War, that fulcrum of the twentieth century, with artful indirection. In a single paragraph of the earlier novel Pynchon presents a catalog of disasters to illustrate the workings of accident, but in Against the Day the catalog, spread through the text, eventually signals the imminence of a specific global catastrophe« (Cowart 2012, 392-393; Hervorhebung SN).

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Die Produktion der Katastrophe

plex inszenierten Erinnerungen thematisiert.31 In der Folge bleibt der Große Krieg latent und wird somit zum Subtext des gesamten Romans.32 So gewinnt auch das Tunguska-Ereignis Gewicht, indem sich in seiner relativ ausführlichen, vor allem aber bedeutsamen Schilderung, die Abwesenheit der eigentlichen Katastrophe spiegelt. Tunguska wird zum Symbol des Verlusts einer vielfältig wahrnehmbaren Wirklichkeit zugunsten eines endgültig modernen Zeitregimes, in dem Fiktion und Realität zu getrennten Sphären werden. In Against the Day wird diese Feststellung jedoch durch die Radikalität, mit der sie getroffen wird, gleich wieder infrage gestellt, denn im Sinne Latours bedeutet Einsteins Erkenntnis, dass es sich bei Zeit und Raum um dynamisch miteinander verbundene Größen handelt, dass sie niemals getrennt gewesen sind. Das heißt, dass der Zweifel an der Realität der eigenen Weltwahrnehmung kein Verlust von Wirklichkeit ist, der zu einem radikal konstruktivistischen Verständnis von Realität führen müsste, sondern vielmehr einen Gewinn (von Wissen) darstellt und damit eine weitere Möglichkeit der Weltgestaltung bietet. Diese grundsätzliche Erkenntnis erweitert Pynchon in jeder Hinsicht. Obwohl seine Figuren unterschiedlich reflektierte Beziehungen zu Zeit, Raum und Ereignissen unterhalten, kann sich keine der neuen (kapitalistisch geprägten) Raumzeit, mit anderen Worten, dem Fortschritt, entziehen. Im Roman wird diese Entwicklung jedoch nicht gesetzt, sondern nachvollzogen. Das heißt, dass die Raumzeit, in der die Figuren sich bewegen, zwar nicht mehr ihre alte Form hat, allerdings auch (noch) nicht ersichtlich beziehungsweise entschieden ist, welche Form sie annehmen wird. In den Figuren und ihren Beziehungen beziehungsweise in dem, was sie tun, und in dem, was ihnen widerfährt, zeigt sich der Versuch, einen Platz in der (neuen) Welt zu finden und dennoch ein hohes Maß an Freiheit, also Gestaltungs- und Deutungsmacht, zu behalten.33 Gleiches gilt für die Verfügbarkeit von Welt, die Auffassung von Geschichte und die grundsätzliche Frage danach, welche Rolle (individuelle) Menschen in diesem Gebilde spielen können. Im Zeitraum zwischen 1893 und etwa 1923 siedelt Pynchon mehrere Narrative an, die zusammengenommen 31 | Erinnerungen an den Krieg fallen mit Vorausdeutungen zusammen, weil sie von Reisenden aus der Zukunft (Trespasser) ausgesprochen werden. 32 | Als Beleg dafür kann man beispielsweise den Auftritt des Erzherzogs Franz Ferdinand deuten: Zwar wird sein Besuch der Weltausstellung 1893 thematisiert, nicht aber das Attentat in Sarajevo, obwohl verschiedene Figuren sich im zeitlichen Umfeld desselben im Balkan aufhalten. Der einzige Effekt seines Besuchs in Chicago ist, dass der Erzherzog zum Auslöser des politischen Linksrucks des Chicagoer Detektivs Lew Basnight wird (vgl. AtD, 50-56). 33 | Nicht zufällig sind Pynchons Figuren Anarchisten, Wissenschaftler, Revolutionäre und Abenteurer, die sich gegen sehr deutlich als Schurken markierte Mächtige – allen voran den Protokapitalisten Scarsdale Vibe – zur Wehr setzen.

II.3 Ereignis und Geschichte

ein Panorama von Entscheidungen in den Bereichen wissenschaftlicher Entdeckungen, technologischen Fortschritts und politisch-wirtschaftlicher Entwicklungen der Zeit bilden.34 Kit Traverse, Sohn eines Bergmanns, und Yashmeen Halfcourt, Tochter eines britischen Spions, studieren in Göttingen Mathematik und repräsentieren die wissenschaftliche Seite der Entdeckung der ›neuen‹ Zeit. Ihr besonderes Interesse gilt dabei dem Punkt, an dem Wissenschaft und Metaphysik sich nicht notwendig widersprechen, womit sie sich mitten in den »nineteenth-century math wars« (Staes 2010, 538) bewegen. Kit und Yashmeen zeichnen vor allem ihre unterschiedlichen Wege zur Mathematik aus. Während sie einer europäischen Bildungselite entstammt, ist Kit Autodidakt. In dem Bemühen, jede Arbeit unter Tage zu vermeiden, nimmt er jeden Job an, der irgendwie mit Elektrizität zu tun hat, leiht sich von heimkehrenden College-Studenten die Bücher von Maxwell und Heaviside aus und wird schließlich Nikola Teslas Assistent in Colorado Springs: »By now Kit thought of himself as a Vectorist, having arrived at that mathematical persuasion not by any abstract route but, as most had up until then, by way of the Electricity and his practical introduction, during his own early years, at an increasingly hectic clip, into lives previously innocent of it« (AtD, 108-109). Für ihn ist die Frage nach der Form von Zeit und Raum eben keine abstrakte und nicht greif bare Idee, sondern spür- und sichtbar. Sein praktischer Weg zur Mathematik hat den Effekt, dass er, bis er dann doch ein Universitätsstudium aufnimmt, die offenbarende Qualität, die den neuen Entdeckungen innewohnt, nicht durch institutionalisierte Skepsis verfälscht. »It could have been a religion, for all he knew – here was the god of Current, bearing light, promising death to the falsely observant, here were Scripture and commandments and liturgy, all in this particular Vectorial language […]« (AtD, 109). Dieses Verhältnis zur Wissenschaft, das nicht zuletzt über Nikola Tesla führt, prädestiniert ihn im Verlauf des Romans dazu, zum Zeugen des Tunguska-Ereignisses zu werden, da er die geradezu ideale Geisteshaltung repräsentiert, um es in seinen verschiedenen Dimensionen wahrzunehmen. Merle Rideout, ein Zauberkünstler, der sich für Fotografie begeistert, denkt über Zeit vom technischen Standpunkt aus nach. Er arbeitet als Filmvorführer und bemerkt dabei die »strange relation these moving pictures had with Time, 34 | »Pynchon’s pervasive and well-known preoccupation with time is more evident here than in any of his other novels. There are actual time travelers, scientists trying to build or to find time travel machines, possible visitors from the future, mathematical theorists of time, appearing, disappearing, and reappearing throughout. There are regular omniscient third-person authorial statements about time, usually written in Pynchon’s high poetic prose. There are also many free indirect meditations on time by a variety of characters« (Dekoven 2009, 335).

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not strange maybe so much as tricky, for it all depended on fooling the eye, which was why, he imagined, you found so many stage-magicians going into the business« (AtD, 507). Auf der Suche nach einer besseren Technik, »something more direct, something you could do with light itself […]« (ebd.), verschlägt es ihn an die Candlebrow University, genauer zur Conference on Time Travel, wo er auf einen Gleichgesinnten trifft. Auch der Erfinder Roswell Bounce wundert sich über die komplizierten Projektoren und fragt sich, warum sie wie Uhrwerke funktionieren sollen: »Watches and clocks are fine, don’t mistake my meaning, but they are a sort if acknowledgement of failure, they’re there to glorify and celebrate one particular sort of time, the tickwise passage of time in one direction only and not going back. Only movies we’d ever get to see on a machine like that are clock movies, elapsing from the beginning of the reel to the end, one frame at a time« (AtD, 514).

Anders gesagt, kritisieren der Magier und der Erfinder eine der modernsten Maschinen ihrer Gegenwart für nichts Geringeres als ihr deterministisches Verhältnis zu der Zeit. Damit sind sie an einem Punkt, um den sich auch Kit und Yashmeen in Göttingen drehen. »It’s that one-way business again. They’re both forces that act in the one direction only. Gravity pulls along the third dimension, up to down time pulls along the fourth, birth to death« (ebd.). Ist Zeit wirklich so oder sind es die technischen und theoretischen Zugangsweisen, die den Zugang zu einer ›neuen‹ (Auffassung von) Zeit verhindern. Kann es ein nicht-lineares Bild von Zeit beziehungsweise ein Bild, in dem Zeit nicht bloß eine Richtung hat, überhaupt geben? »Rotate something through space-time so it assumes all positions relative to the one-way vector ›time‹. […] Wonder what you’d get« (ebd.). Die Erzählebene um die »Chums of Chance« bildet den Rahmen, der den Text strukturiert und zu seiner komplexen (intradiegetischen) Situierung zwischen Fakt und Fiktion beiträgt. Der Roman beginnt und endet mit eben jenen »Chums of Chance«, einer Gruppe von jungen Luftfahrern und Protagonisten einer Serie von Abenteuerromanen für Jugendliche, die von einigen anderen Figuren des Romans gelesen und kommentiert werden. Diese Erzählebene konstituiert die prekäre beziehungsweise ambivalente Stellung des Romans zwischen Fiktionalität und Faktualität. Große Teile des Romans funktionieren wie ein historischer Roman, insofern sie durch »historische Deixis« (Geppert 2009, 160) an belegbare Vorkommnisse, Personen und Orte gebunden werden. Der Auftritt verschiedener fiktionaler Charaktere (wie Prof. Heino Vanderjuice, der dem Erfinder Nikola Tesla als Konkurrent gegenübergestellt wird) tut dem im Grunde keinen Abbruch. Auch die »Chums of Chance«, deren Erzählebene durch einen beinahe anachronistisch wirkenden auktorialen Erzähler gekennzeichnet ist, der nicht nur kommentierend ihre Handlungen

II.3 Ereignis und Geschichte

begleitet, sondern den »young reader« auch mit Hinweisen auf »the boys’ earlier adventures« versorgt (AtD, 5, 7 und 131), stellen zunächst nicht die ›Glaubwürdigkeit‹35 der Erzählung infrage. Die Titel, der im Textverlauf benannten Abenteuer (»The Chums of Chance at Krakatoa, The Chums of Chance Search for Atlantis« [AtD, 7]), eröffnen die Möglichkeit, dass sich (wenigstens) auf dieser Erzählebene Dinge ereignen können, die als ›kontrafaktisch‹ gelten müssen, insofern sie wie Atlantis nicht durch historische Quellen belegt werden können. Der frühe Hinweis auf Krakatau begründet gleich zu Beginn, dass die »Chums of Chance« zu den wichtigen (katastrophischen) Ereignissen der Zeit in Beziehung stehen, weil sie dort auftauchen oder Ereignisse wie den Einsturz des Campanile in Venedig im Jahr 1902 überhaupt erst verursachten.36 Neben dem Tunguska-Ereignis sind es die »Chums of Chance«, die das große Figurenensemble des Romans verknüpfen. Die Wege der und die Begegnungen mit den Chums bilden ein Netzwerk, das den Raum konstituiert, der allen Figuren zur Verfügung steht beziehungsweise ihnen nach dem Tunguska-Ereignis endgültig entzogen wird. Der ihnen eigene Raum signalisiert gleichzeitig Überblick und Distanz, der es den »Chums of Chance« und ihren Lesern erlaubt, einen (zunächst) uneingeschränkt idealistischen Blick auf die Entwicklungen zu werfen, die sich unter ihnen vollziehen.37 Dass Krakatau innerhalb des Romans sowohl in Zusammenhängen mit anderen Figuren als auch mit dem Tunguska-Ereignis auftaucht, ordnet den erzählten Zeitraum der gleichen katastrophischen Phase zu, die Walter für die Jahrhundertwende beschreibt, jedoch ohne notwendigerweise die eschatologischen Ängste zu reproduzieren. Ereignisse wie Krakatau sind zunächst unabhängig von ihrer Ursache, beispielsweise im Gespräch zwischen Dally Rideout und ihrer wiedergefundenen Mutter, in erster Linie Orientierungspunkte, die es erlauben, einen gemeinsamen Erfahrungshorizont zu bestimmen.38

35 | Glaubwürdigkeit muss hier im Sinne Kosellecks verstanden werden, der vom »literarischen Geschichtenerzähler« spricht, »der ebenfalls der Fiktion des Faktischen huldigen mag, wenn er seine Geschichten dadurch glaubwürdiger machen will« (Koselleck 1989, 153). 36 | Vgl. AtD, 289. Die Rolle der Chums of Chance ist jedoch meist nur ihnen selbst und dem Leser klar, da sie ihre Spuren erfolgreich zu verwischen verstehen. Was bleibt, ist in diesem Fall eine ungeklärte Ursache und Gerüchte über die mysteriöse oder fantastische Natur seiner Ursache (vgl. AtD, 646). 37 | Veggian liest die Abfahrt des Luftschiffs als Metapher für die Beziehung der Erzählebenen (vgl. Veggian 2008, 202). 38 | Dally Rideout diskutiert mit ihrer Mutter einen besonders schönen Sonnenuntergang und bezieht sich dabei auf den Vulkanausbruch (vgl. AtD, 568). Später ist sie es, die das Tunguska-Ereignis beziehungsweise die ihm folgenden hellen Nächte über Ve-

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Auch wenn es zwischen den »Chums of Chance« und anderen Figuren des Romans Interaktionen gibt, hat die Besatzung des Luftschiffs »Inconvenience« von Anfang an einen den anderen Figuren nie vollständig zugänglichen Erzählraum inne.39 Sie bewegen sich gleichzeitig im (Luft-)Raum über den anderen Figuren und in einem fantastischen Raum, der den anderen Figuren nur lesend zugänglich ist.40 Die Interaktionen finden deswegen vornehmlich während der Landgänge statt (z.B. während des Columbian’s World Fair in Chicago) oder wenn sie im Anschluss daran jemanden einladen, sie für kurze Zeit auf dem Luftschiff zu begleiten. Allerdings erlaubt die Exklusivität des »celebrated aeronautics club« (AtD, 3) ihnen (und den wenigen konkurrierenden Clubs) den Zugang zu einer Raumzeit, die anderen (physikalischen) Bedingungen gehorcht als die ›wirkliche‹ Welt. So ist für sie Realität, was für »some of the greatest minds of the history of science, including Kepler, Halley, and Euler« (AtD, 128) bloße Spekulation ist: Der Traum des »interplanetary shortcutting« (ebd.), also die Reise durch die (hohle) Erde, ist demnach für sie nicht nur möglich, sondern bereits Gewohnheit. Wie die Charaktere der nach ihnen benannten »dime novels« (AtD, 241) scheinen sie weder der alten noch der neuen Physik zu unterliegen. Der ihnen vorbehaltene Raum ist nicht fantastisch oder magisch, sondern im technologisch-wissenschaftlichen Vokabular der frühen Science Fiction – insbesondere der Jules Vernes – gefasst.41 Der ihnen eigene Blick auf die und der Zugang zur Erde sowie der Modus der Abenteuerund Jugendliteratur erlauben es, kontrafaktische Elemente wie die Reise durch die Erde aufzunehmen, deren spektakulärer Charakter dadurch, dass er für die Chums zum (Arbeits-)Alltag gehört, umso deutlicher wird. Außerdem bereitet diese Erzählebene den Boden für ein Netzwerk intertextueller Bezüge, nedig für ein »gift from far away, perhaps another Krakatoa« (AtD, 896) hält, weil sie das Phänomen an die Erzählungen ihrer Mutter erinnert. 39 | Vgl. Veggian 2008, 202. 40 | Z.B. wenn Reef Traverse eine »dime novel, one of the Chums of Chance series« (AtD, 241) liest. 41 | Die Chums of Chance-Episoden zählen also nicht nur zu »the various moments when the novel borders on the realm of science fiction« (Staes 2010, 540), sondern lassen sich einer bestimmten Strömung dieses Genres zuordnen, nämlich der AbenteuerScience-Fiction nach dem Modell Jules Vernes, die in diesem Fall als Jugendliteratur markiert wird.

II.3 Ereignis und Geschichte

das die Chums mit Figuren anderer Texte (z.B. von Verne und H.G. Wells) ebenso verbindet, wie es Verknüpfungen zwischen den Lesern von Against the Day, den Lesern der »Chums of Chance«-Abenteuer innerhalb des Textes und den Jungen selbst beziehungsweise dem fleißig lesenden Board-Hund Pugnax herstellt. Die Beziehung zwischen Weltwahrnehmung, Mobilität und Raumzeitkonzept wird vor diesem Hintergrund auch vor den anderen Erzählebenen deutlich, die ebenfalls als Vertreter populärer Genres der Jahrhundertwende beziehungsweise als Genres, die diese Zeit zum Thema machen, gelesen werden können.42 So weckt eines der ikonischen Motive der klassischen Science Fiction, die Zeitmaschine, das Interesse der »Chums of Chance«. Angefangen in New York, wo sie Dr. Zoot begegnen, der versucht, H.G. Wells’ fantastische Maschine nachzubauen, bis zur Candlebrow University, dem Schauplatz der F.I.C.O.T.T. (»First International Conference on Time Travel« [AtD, 458]), verfolgen sie Versuche, die vierte Dimension zu bereisen. Doch ihre Neugier führt sie nicht nur auf die Spur der mysteriösen Trespasser, die sich wie die Kontramoten der Strugatzki-Brüder rückwärts durch die Zeit bewegen, sondern auch zu den Grundfesten ihrer eigenen Existenz. Die Trespasser bringen ein Wissen mit sich, das nicht wie das der »Chums of Chance« vom Zugang zu einer fantastisch-anderen Ebene der Wirklichkeit abhängt, sondern die Ordnung der Zeit verletzt, von der die Chums zwar in gewissem Maße befreit sind, aber dennoch abhängen. Ihre Selbstbeschreibung als »seekers of refuge from our present – your future« (AtD, 467) weckt zwar das Mitleid der »skyfahrer«, unterwandert jedoch auch ihren unverzichtbaren Glauben an die Richtigkeit und Berechtigung ihres Lebensstils. Die Zukunft, die sie beschreiben, ist eine dystopische Vision der Konsequenzen des in der Gegenwart der »Chums of Chance« gerade erst Fahrt aufnehmenden Kapitalismus: »[A] time of worldwide famine, exhausted fuel supplies, terminal poverty – the end of the capitalistic experiment. Once we came to understand the simple thermodynamic truth that Earth’s resources were limited, in fact soon to run out, the whole capitalist illusion 42 | Die Rache-Erzählung um die Traverse-Familie verbindet das Thema des Anarchismus mit dem Western-Genre; der Chicagoer Detectiv Lew Basnight, der sowohl den Traverses als auch den Chums (und sogar Nikola Tesla und dem Kronprinzen Franz Ferdinand) begegnet, ist als typische Figur des Noir-Genres markiert, während die Mathematikerin Yashmeen Halfcourt einem Verschwörungs- beziehungsweise Spionagenarrativ entstammt. (Lew trifft sie in London im Rahmen eines Geheimbundtreffens und ihr Vater befindet sich im Auftrag der britischen Krone auf der Suche nach Shambhala.) Der Magier/Fotografen Merle Rideout, seine Tochter Dally und nicht zuletzt Nikola Tesla verbinden (Bühnen-)Magiererzählungen mit dem Narrativ des verrückten Professors auf ganz ähnliche Weise wie The Prestige (2006) (vgl. auch Veggian 2008, 203-204).

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Die Produktion der Katastrophe fell to pieces. Those of us who spoke this truth aloud were denounced as heretics, as enemies of the prevailing economic faith. Like religious Dissenters of an earlier day, we were forced to migrate, with little choice but to set forth upon that dark fourth-dimensional Atlantic known as time« (AtD, 467).

Konfrontiert mit dem Wissen aus der Zukunft müssen die »Chums of Chance« feststellen, dass ihre jugendliche Unschuld nicht nur die Quelle ihrer Fähigkeiten ist, sondern dass diese Naivität und ihre Gehorsamkeit sie auch davon abhielt zu erkennen, dass all ihre Missionen keinem anderen Ziel dienten, als »to prevent some attempt of our own to enter your time-regime« (AtD, 468), wie es Mr. Ace einer der Trespasser ausdrückt. Anstatt wie die »Chums of Chance« im abgeschiedenen Raum des Fantastischen ihre Missionen zu erfüllen, verfolgen die Trespasser Interessen, die in jeder Hinsicht den optimistischen Fortschrittsträumen der Chums und ihrer Zeit entgegenstehen. Die Trespasser verkörpern die Kopplung von physikalischer und historischer Wirklichkeit, die zur Voraussetzung – die Energiemenge, die nötig ist, um gegen den Strom der Zeit zu reisen, ist erst in ihrer Gegenwart verfügbar – und zum Grund (Flucht) ihrer Gegenbewegung wird. Sie stehen also für das Paradox eines gleichzeitigen Gelingens und Scheiterns des kapitalistischen Traums, der sich zwar Raum und Zeit verfügbar macht, aber gleichzeitig seinen Lebensraum und damit seine Zukunft zerstört. Der Besuch aus der Zukunft zerstört das Weltbild der »Chums of Chance« so nachhaltig, dass sie die Trespasser als überlegen und bedrohlich wahrnehmen. Wie bei einer Verschwörung scheinen die Eindringlinge die Organisation zu infiltrieren und die Chums ihrer wichtigsten Eigenschaft zu berauben: »[The] unquestioning faith that none of them, barring misadventure, would ever simply grow old and die, a belief which over the years many had come to confuse with a guarantee« (AtD, 470). Was den Chums erscheint wie das »dark confidence game« (AtD, 471) der Trespasser, kann allerdings auch als Aufklärungsprozess beschrieben werden. Denn die Erkenntnis, »that they might be no more exempt than any of the human supernumeraries they had been so carelessly aviating above all these years« (AtD, 470), lehrt sie etwas über die Umwelt, die sie umgibt. Analog zum Ende des prometheischen Zeitalters, das durch die sich häufenden Technikkatastrophen eingeläutet wird, beendet der Blick in die Zukunft des kapitalistischen Traums auch hier eine Zeit des sorglosen Optimismus, der auf dem Glauben an die eigene (technologische) Überlegenheit gründet. Der Preis des Fortschritts, das impliziert diese Entwicklung in Against the Day, sind Sorglosigkeit und die Möglichkeit alternativer Lebens- und Zeitmodelle. »While the new physics drastically altered our ordinary conception of time and space, Against the Day appears to narrativize how the convergence of knowledge, capital and power in advanced industrial society has reshaped space-time into its

II.3 Ereignis und Geschichte

own, rational and singular reality« (Staes 2010, 532).43 Insofern ist es bezeichnend, dass es der Beweis für die (zukünftige) Durchführbarkeit von Zeitreisen ist, der die »Chums of Chance« in eine Krise stürzt, die ihrer Abenteuerlust und ihrer an Vergessenheit grenzenden, von der ›wirklichen‹ Welt der menschlichen Statisten abgegrenzten Raumzeit vorerst ein Ende setzt, anstatt sie zu motivieren. Die dystopische Aussicht, die aus ihrer Sicht völlig unvorstellbar erscheint, gewinnt die Oberhand und sät im Gegenzug Zweifel an der Wirklichkeit der Welt, die für sie so selbstverständlich erscheint: »None of them may really ever have been up in a skyship, ever walked the exotic streets or been charmed by the natives of any faroff duty station. They may only once have been readers of the Chums of Chance Ceries of boys’ books, authorized somehow to serve as volunteer decoys« (AtD, 476).

Doch ebenso wenig wie der Untergang der Titanic das Ende der modernen Schifffahrt bedeutete oder je eine Katastrophe zur sofortigen Einstellung einer risikoreichen Technik führte, vergeht auch die Phase des Zweifels der »Chums of Chance« und weicht einer neuen, aufmerksameren Entschlossenheit. Die neue Mission führt sie erneut auf die Suche nach der sagenumwobenen Stadt Shambhala, die sie auch in Kontakt mit dem Tunguska-Ereignis führen wird, sodass »after weeks engaged with the mysteries of Time, the boys had run at last into the blank, featureless wall of its most literal expression, the timetable« (AtD, 481). Ihre Krise ist nicht gelöst oder überwunden, sie lassen die »Mysteries of Time« nur schlicht und einfach hinter/unter sich.44 Endgültig wird sich ihr (Erzähl-)Raum erst von der geschlossenen Realität der alltäglichen Welt 43 | »The various scientific developments narrativized in Against the Day can therefore be seen as a prelude to the ›closed white version of reality‹ mentioned in Gravity’s Rainbow. This closed reality denotes a late capitalist culture of conformism and passivity – synthesis and control – which has wholly rationalized its inherent capability of mass annihilation while defining a priori the needs and comforts of its participants« (Staes 2010, 533). 44 | Dass dies keinesfalls einem Sieg über die Trespasser, sondern eher einem Wiedererstarken ihrer jugendlichen Energie gleichkommt, wird in folgender Passage deutlich: »Somewhere the Trespassers went on about their toxic business, but by now the crew of the Inconvenience, more closely tuned to their presence and long disabused of any faith in their miracle-working abilities, were somehow better able to avoid them, to warn others of possible mischief, even now and then to take steps in opposition. Failed experimental casseroles from Mile’s galley, dropped from altitudes moderate enough to maintain cohesion, seemed effective, as well as prank telephone calls to paving contractors ordering large volumes of cement to be delivered and poured at known Trespasser locations« (AtD, 478).

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trennen, wenn das Tunguska-Ereignis ihnen die mythische Stadt enthüllt und die Welt für immer verändert. Die Veränderungen der Erde, die die Explosion mit sich bringt, wären für die »Chums of Chance« jedoch ohne die Episode ihrer Krise ebenso wenig wie Shambhala sichtbar geworden. Mit dem Tunguska-Ereignis werden (nicht nur für die »Chums of Chance«) die Verhältnisse unabhängig von seiner Ursache klar. Es hat also den paradoxen (modernen) Effekt, gleichzeitig zu trennen und alle Trennungen aufzuheben. Dabei erzeugt das Tunguska-Ereignis in Against the Day zunächst vor allem Spannungen zwischen verschiedenen Perspektiven, die es ex post zu ergründen suchen. Obwohl es, wie andere Beispiele gezeigt haben, durchaus möglich ist, den Ereignisverlauf zu narrativieren, geht Pynchons Text einen Weg, der diese Möglichkeit, wenn er sie auch nicht explizit verleugnet, in den Hintergrund drängt. Das eigentliche Ereignis geschieht zu Beginn eines neuen Kapitels: »A heavenwide blast of light.« (AtD, 875) Die Ellipse steht, vom Rest des Textes getrennt, ohne dass sie jedoch typografisch als solche gekennzeichnet wäre wie eine Überschrift über dem nachfolgenden Text. Durch diese Trennung wird das Ereignis mit seinem Auftauchen im Text als unzugänglich markiert. Der Verzicht auf eine ausführliche direkte Darstellung der Explosion sowie die Abwesenheit von Augenzeugen im Text verstärken diesen Effekt insofern, als sie die im ersten Kapitel dieser Untersuchung erörterte Problematik der Faktenbildung anzitieren. Das Ereignis wird also nicht nur auf der Textebene entrückt, sondern auch den Figuren in jeder Hinsicht entzogen. Die Überlegungen der Figuren erfolgen in vier Teilen, die der jeweiligen räumlichen Nähe der betroffenen Figuren zum Ereignisort gemäß angeordnet sind. Sie drehen sich jeweils um die eigene Zuständigkeit für die Erklärungen des »blast«, die möglichen Erklärungen und Effekte des Ereignisses. Am nächsten am Ort des Geschehens befindet sich die Bol’shaia Igra, der »mysterious Russian counterpart« (AtD, 137) der Inconve­nience. Kit Traverse und sein Begleiter Dwight Prance erleben das Ereignis in der Nähe des Baikal Sees. Die dritte Perspektive, die direkt auf das Ereignis bezogen ist, folgt den »Chums of Chance«, deren Weg schließlich den Blick nach Europa öffnet. Als erste dringt die Besatzung der Bol’shaia Igra, die als Spione im Auftrag der »Okhrana«45 (der Geheimpolizei des zaristischen Russlands) arbeiten, in das Gebiet der Steinigen Tunguska vor. Die Untersuchung beginnt mit dem Protest eines Offiziers gegen den Auftrag. »I am a warrior, not a scientist […] you should be sending in professors.« (AtD, 876) Kapitän Padzhitnoffs Entgegnung steckt sogleich den Raum ab, in dem sich die Überlegungen bewegen werden: »Okhrana believe this Event could have been man-made, and they want 45 | Im Deutschen ist die Transkription Ochrana (russ. охрана) zwar geläufiger, der Einheitlichkeit halber werde ich jedoch die Schreibweise benutzen, die in Against the Day verwendet wird.

II.3 Ereignis und Geschichte

to know the weapons implications« (ebd.). Da das Ereignis nicht unmittelbar verfügbar ist, weil es weder Augenzeugen noch greif bare Spuren gibt, kann die Untersuchung potenziell in jede Richtung führen. Während der Offizier offenbar von einer Naturkatastrophe ausgeht und wissenschaftliche Aufklärung für angebracht hält, geht die Geheimpolizei geradezu notwendig von einer intentionalen Tat aus, das heißt von Menschen als Urheber. Die erste Untersuchung des Ereignisses in Pynchons Text umfasst nach nur wenigen Sätzen bereits das volle Spektrum des Tunguska-Diskurses. Zwischen der Unverfügbarkeit beziehungsweise Rätselhaftigkeit des Phänomens, dem Glauben an die Deutungshoheit der Wissenschaft über die Natur und der politischen Paranoia der Jahrhundertwende formiert sich Tunguska. Die Vermutung, es handle sich um eine (bisher) geheime Kriegswaffe möglicherweise deutschen oder chinesischen Ursprungs (»remember who invented gunpowder« [AtD, 876]), entspringt der Logik der zaristischen Geheimpolizei beziehungsweise ihres historischen Kontextes. So wird der Name des Schiffs, Bol’shaia Igra, bei seiner ersten Erwähnung im Text mit »Great Game« (AtD, 137) übersetzt und ruft damit, lange bevor das Tunguska-Ereignis im Text stattfindet oder die Besatzung für die Okhrana tätig wird, nicht nur den britisch-russischen Konflikt um Zentralasien auf, sondern vielmehr »die Leitmetapher dessen, was Spionage am Anfang des Jahrhunderts ist: eine Mischung aus Kinder- und Theaterspiel, eine scheinbar unernste Form des Krieges« (Horn 2007, 163). Damit wird die Vorstellung, es könne sich um ein Waffenexperiment handeln, zum Teil desselben unernsten und kindlichen Raums der Möglichkeiten, in dem sich die »Chums of Chance« als gute oder zumindest weniger finstere Kontrahenten der russischen Luftfahrer bewegen. Doch auch wenn die Besatzung der Bol’shaia Igra ihrem geheimdienstlichen Auftrag folgt, sind sie sich anscheinend der Fragwürdigkeit dieser Annahme bewusst. Das deutet sich zumindest dort an, wo der Offizier auf den Verdacht gegen die Chinesen entgegnet, es könne sich ebenso gut um ein »real-estate scheme« gehandelt haben, »seeing the land’s already been cleared free of charge« (AtD, 876). Schließlich wenden sich die Erklärungsversuche in eine andere Richtung. Da ein Meteorit aufgrund des elektromagnetischen Profils des Ereignisses als Ursache offenbar ausgeschlossen werden muss und es zudem keinen Krater gibt, scheint der Ursprung außerhalb der üblichen Erklärungsmuster (Meteorit/Waffenexperiment) zu liegen. Entweder »out in Cosmic Exterior« (AtD, 877) oder »the local distortion of other variables was so intense that the crater somehow actualy got displaced along the time axis […] perhaps it moved somewhere in space as well« (ebd.; Hervorhebung im Original). Wenn jedoch der Krater gleichsam aus Raum und Zeit gesprengt wurde, könnten die Konsequenzen verheerend sein: »[I]n that case we’re fucked, aren’t we – there is now potentially a giant hole in the Earth no one can see, waiting to materialize without warning at all, in fact it may appear at any moment, directly beneath St. Petersburg, for example«

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(ebd.; Hervorhebung im Original). In diesem Fall würde die potenzielle Zerstörungskraft des Tunguska-Ereignisses, die so oft zum Vergleichspunkt dafür wird46, was hätte passieren können, zur akuten Bedrohung. Beunruhigender jedoch wäre die Erklärung, die besagt, dass die Besatzung der Bol’sha Igra selbst das Ereignis verursacht haben könnte. Hinweis dafür sind die von (offenbar befragten) Augenzeugen erwähnten vom Himmel gefallenen Steine – ebensolche sind »Bol’shaia Igra’s own traditional speciality« (AtD, 878) – sowie die Tatsache, dass sie in geheimdienstlichem Auftrag reisen, und nicht zuletzt die mysteriöse Qualität des Luftschiffs sowie die Disposition seiner Besatzung. »The possibility had to be entertained – had they field-tested some new munitions device, for example, over an ›uninhabited‹ piece of Siberia, and had the result proven so terrible that now they’d all developed a collective amnesia about it, perhaps as a way of protecting their mental apparati?« (AtD, 878).

Im Falle einer kollektiven Amnesie wäre der »heavenwide blast« ein kinematografisches Blitzsignal, das anzeigt, dass der Traum endet/beginnt, innerhalb dessen der Text stattfand. Die Verschiebung auf der Zeitachse beträfe dann nicht, wie vermutet, die physischen Qualitäten des Ereignisses, sondern entspräche einem mentalen Prozess – entweder dem Verdrängen oder dem Vergessen. Eine dritte Erklärung, die ebenfalls die Manipulation von Zeit in Betracht zieht, beendet die Überlegungen der Besatzung vorerst: »Believe if you like in some extraterrestrial origin for this thing – but suppose instead it were extratemporal […] Time-travel isn’t free, it takes energy. This was an artifact of repeated visits from the future« (ebd.). In diesem Falle wären die Trespasser die Verursacher des Tunguska-Ereignisses47 – doch auch hier muss es bei der Spekulation bleiben, es bleibt die Störung: »Nichewo [Nichts, SN]. Something that wasn’t supposed to be where it was. Maybe deliberate, but maybe not« (AtD, 878). Kit Traverse ist auf weitaus verschlungeneren Wegen in die Nähe des Ereignisses gelangt. Der Sohn des Anarchisten Webb Traverse und ehemalige Assistent Nikola Teslas48 verließ, protegiert vom einflussreichen Kapitalisten 46 | Vgl. u.a. Walter 2010, 169. 47 | Darüber hinaus lässt sich diese Erklärung wie die Existenz der Trespasser überhaupt als Anspielung auf die Kontramoten aus Der Montag fängt am Samstag an lesen. Auch die im Folgenden auftauchende Bezeichnung des Tunguska-Ereignisses als »visitation« (AtD, 882) scheint mir eine Reminiszenz an die Romane der Strugatzkis, hier Picknick am Wegesrand, zu sein. 48 | Während seiner Arbeit für Tesla war er schon einmal Zeuge beziehungsweise Teil eines sonderbaren Ereignisses, der »amazing world-reversing night of Fourth of July Eve 1899 […] that night there was man-made lightning, horses gone crazy for miles out into the prairie, electricity flooding up through the irons of their shoes […] gunmen’s guns

II.3 Ereignis und Geschichte

Scarsdale Vibe, den Bundesstaat Colorado, um an der amerikanischen Ostküste Mathematik zu studieren. Über Göttingen, wo er Yashmeen Halfcourt begegnet, gelangt er nach Zentralasien, um ihrem Vater – einem Spion der britischen Krone, der wie die »Chums of Chance« auf der Suche nach der Stadt Shambhala ist – eine Nachricht zu überbringen. Der wiederum schickt ihn auf eine halb-mystische Expedition nach Sibirien. Sein Begleiter Dwight Prance reagiert zunächst auf ähnliche Weise wie der Offizier der Bol’shaia Igra und lehnt eine Beschäftigung mit dem Ereignis ab: »My remit was political. This is not political« (AtD, 878). Kit jedoch hält diese Möglichkeit nicht für ausgeschlossen. »Maybe it is. Maybe it is war« (ebd.). Während Prance diese Vorstellung aufgrund der Abgelegenheit des Ortes für absurd hält (»Out here? Over what, Traverse? Logging rights?« AtD, 878), erlebt Kit das Ereignis als eine Offenbarung: »Kit understood for a moment that forms of life were a connected set […] He had entered a state of total attention to no object he could see or sense or eventually even imagine in any interior way, while Prance was all but hysterical« (AtD, 879). Während er einen rauschhaften Zustand absoluter Klarheit erlebt, überfällt seinen Begleiter Panik. Er empfindet die Folgen des Ereignisses als bedrohliche Präsenz, »as if something in the Transfinitum had chosen to re-enter the finite world, to reaffirm allegiance to its limits, including mortality« (ebd.). Kit hingegen ist zwar nicht ohne Angst, diese bezieht sich jedoch, wiederum der Bol’shaia Igra sehr ähnlich, auf seine Befürchtung, nicht unschuldig an einer möglichen diesseitigen Ursache des Phänomen zu sein. »[Kit] had been thinking with deep anxiety, about the Quaternion weapon he’d turned over to Umeki Tsurigane in Ostend. […] Might the Tunguska Event have been caused by the discharge, planned or inadverted, of a Q-Weapon?« (AtD, 880).49 Der Gedanke, jemand könne die Energie aufgebracht haben, eine »weapon based on time« (AtD, 626) in Gang zu bringen, ist in der Tat beängstigend, denn der Besitz dieser »Time-weapon« würde denjenigen zur »most feared person in history« (AtD, 626) werden lassen, weil diese Waffe potenziell die Macht hat, das Ende der Welt herbeizuführen.50 Seine Klarheit über die came right up out of their holsters and buck knifes out from under pant legs, keys to travelling ladies’ hotel rooms and office safes, miner’s tags, fence nails hairpins, all seeking the magnetic memory of that long-ago visit. […] Young Kit Traverse happend to be in on the high-voltage experiment that had caused it all, working as a matter of fact that summer in Colorado Springs, for Dr. Tesla himself« (AtD, 108). 49 | Damit stellt er eine weitere Verbindung zu Nikola Tesla her, der im Roman Urheber der »Quaternion Weapon« ist. Kit selbst hat diese Waffe, zu deren Auslösung scheinbar noch eine ausreichende Energiequelle fehlte, zu einem früheren Zeitpunkt nach Ostende geschmuggelt (vgl. AtD, 636-637). 50 | Gefährlich ist die Waffe vor allem, weil sie das Verlangen nach dem Ende der Welt weckt. »A desire so immoderate […] nothing many people had, the desire for a single

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innere Vernetztheit aller Lebensformen überstrahlt jedoch diese Angst, sodass er die seltsamen Effekte des Ereignisses sowie die Reaktionen der Menschen aus einer wissenden Perspektive beobachten kann, ohne selbst eine bestimmte Auffassung vertreten zu müssen. Vielmehr erlaubt ihm diese Erkenntnis, anders als der Besatzung der Bol’shaia Igra, die es nur von oben sieht, aber nicht erlebt, gleichzeitig Teil des Geschehens und sein Beobachter zu sein. Neben der Erinnerung an die Möglichkeit eines diesseitigen Weltendes schürt Tunguska offenbar nicht nur bei Prance die Angst vor der nahenden Apokalypse: »For a while after the Event, crazed Raskol’niki ran around in the woods, flagellating themselves and occasional onlookers who got too close, raving about Tchernobyl, the destroying star known as wormwood in the book of Revelation« (AtD, 880-881). Obwohl die wütenden Endzeitgläubigen zum typischen Personal von Katastrophenszenerien gehören, erfüllen sie hier darüber hinaus eine weitere Funktion. Kits Erkenntnis der Verbundenheit aller Dinge, die im Roman ohnehin vielfach inszeniert wird, wird hier durch die Beschwörung des vom Himmel fallenden Sterns aus der Offenbarung des Johannes51 ins Extrem getrieben. Nicht nur wird dadurch auf die Vorstellung eines Meteoriten (beziehungsweise TCB – Tunguska Cosmic Body) als Ursache des Ereignisses angespielt, diese wird vielmehr als Zeichen für die bevorstehende Apokalypse gelesen. Diese Erwähnung bewirkt allerdings eine weitere, faszinierende Verbindung, denn dass der Stern der Offenbarung, Wormwood (dt. Wermut), hier ausgerechtet »Tchernobyl« genannt wird, mag durch die Landessprache der Raskolniki plausibel sein, führt aber nicht umhin, Tunguska und die Havarie des Atomkraftwerkes bei der Stadt Tschernobyl zusammen zu lesen. Die wütenden Flagellanten stellen also gleichzeitig eine Verbindung in zwei mögliche katastrophische Zukünfte her: Die transzendente der Offenbarung wird hier unmittelbar mit der von der erzählten Zeit aus zukünftigen Technikkatastrophe des Jahres 1986 verknüpft.52 Diese Verbindung, die durch-

weapon to annihilate the world« (AtD, 627). Damit spiegelt ihre Qualität den Diskurs um die Atombombe in den 1950er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wider (vgl. zum »Obszönen Begehren nach dem Ende« in Horn 2014, 101-109). 51 | »Und der dritte Engel posaunte: und es fiel ein großer Stern vom Himmel, der brannte wie eine Fackel und fiel auf den dritten Teil der Wasserströme und über die Wasserbrunnen. Und der Name des Sterns heißt Wermut. Und der dritte Teil der Wasser ward Wermut; und viele Menschen starben von den Wassern, weil sie waren so bitter geworden« (Offenbarung des Johannes, 8: 10-11). 52 | Offenbar besteht die Verbindung zwischen der Stadt Tschernobyl und dem Stern der Offenbarung in einer Fehlübersetzung der bezeichneten Pflanze Wermut. Dass Tschernobyl eigentlich Beifuß bezeichnet, spielt aber für die Verbindung keine Rolle.

II.3 Ereignis und Geschichte

aus Vorläufer hat,53 ist im Roman mit den als kontingent markierten Effekten des Tunguska-Ereignisses verbunden und kann selbst als ein solcher Vorläufer interpretiert werden. Das heißt, dass Against the Day die apokalyptische Interpretation sowie die Verbindung mit ›Tschernobyl 1986‹ zwar evoziert, aber nicht notwendig mit Sinn füllt. Sie taucht als ein Phänomen unter anderen auf und verschwindet wieder. Zeit und Raum sind zwar in Unordnung – »Aspects of the landscape of Tierra del Fuego, directly opposite the Stony Tunguska on the globe, began to show up in Siberia« (AtD, 881) –, aber auf der physischen Ebene nicht nachhaltig verändert. Im Gegenteil, sobald das Ereignis zu einem Teil der Vergangenheit wird – je mehr Raum das ›Nachher‹ des Ereignisses einnimmt –, lässt sich die Wirklichkeit des Erlebten infrage stellen: »None of the effects lasted long, and as the Event receeded in memory, arguments arose as to whether this or that had even happened at all« (AtD, 882). Nichtsdestotrotz verschwinden die Auswirkungen nicht gänzlich. Zumindest Kit nimmt irreversible Veränderungen seiner selbst war, die ihn jedoch nicht zu einem neuen Menschen machen, sondern eine Erweiterung seiner Wahrnehmung darstellen. »Since the visitation at the Stony Tunguska, he had noticed that the angle of his vision was wider and the narrow track of his life branching now and then into unsuspected trails« (AtD, 882; Hervorhebung SN). Kits Erlebnis des Tunguska-Ereignisses gleicht einer religiösen beziehungsweise spirituellen Erfahrung, die einerseits eine Fortsetzung seiner beinahe mystischen Beziehung zur Mathematik ist und in ihrer Rauschhaftigkeit andererseits Anklänge an schamanistische Rituale wie an einen Drogenrausch hat.54 Für die Crew der Inconvenience ist die Ursache des Ereignisses ebenfalls rätselhaft – sie spekulieren über Gerüchte, die Tesla verantwortlich machen55 –, sein Effekt jedoch ist spektakulär.

53 | Die Beziehung zwischen Tunguska und Tschernobyl wird durch die »Zone« schon in Interpretationen von Andrei Tarkowskis STALKER, der Verfilmung von Picknick am Wegesrand, hergestellt (vgl. »Schluss«). 54 | Schamanen werden (insbesondere im zweiten Teil des Romans »Bilocations«) immer wieder erwähnt und aufgrund ihres nicht-modernen Verhältnisses zu Zeit und Raum hervorgehoben (vgl. Staes 2010, 535). Die Verbindung zum Drogenrausch findet sich ebenfalls im Roman selbst. Frank, Kits Bruder, erlebt im Mescalin-Rausch ebenfalls eine Öffnung beziehungsweise Erweiterung seiner Wahrnehmung (AtD, 442-444). 55 | »According to Professor Vanderjuice, the story was abroad that Tesla, seeking to communicate with the Explorer Peary, then in the Arctic, projecting unspecifies rays from his tower at Wardenclyffe in a direction slightly west of due north, had mistaken his aim by a small but fatal angle, causing the beam to miss Peary’s base at Ellsmere Island, cross the Polar region over into Siberia and hit the Stony Tunguska instead« (AtD, 891). Diese Theorie erinnert an Teslas angeblichen Todesstrahl (vgl. Verma 2005, 246), wird

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Die Energiefreisetzung, die ihre russischen Konkurrenten als Hinweis auf eine Manipulation der Zeitachse lesen, resultiert für die »Chums of Chance« im Zugang zu einer vorher im Licht verborgenen Dimension. Die Idee ist faszinierend, denn Shambhala ist ihr zufolge nicht ein Teil einer anderen Welt, sondern aufgrund der der irdischen Lichtverhältnisse nicht-sichtbarer Teil derselben Welt. Wenn auch in anderer Qualität, so stellt sich für die »Chums of Chance« ein Kits Erfahrung ähnelnder Zustand der Einsicht in die innere Vernetztheit der Welt ein. Dabei übersehen sie jedoch einen potenziell gefährdenden Aspekt dieser Offenbarung: »What it would take the boys longer to understand as that the great burst of light had also torn the veil separating their own space from that of the everyday world, and that for the brief moment they had also met the same fate as Shambhala, their protection lost, and no longer able to count on their invisibility before the earthbound day« (AtD, 890).

Die (späte) Erkenntnis ihrer eigenen Verwundbarkeit und ihres eigenen Status in Hinblick auf Sichtbarkeit ist in vielerlei Hinsicht weitreichender als die Offenbarung der mythischen Stadt. Wie die anderen Figuren – die Besatzung des russischen Luftschiffs, Kit Traverse und sein Begleiter Dwight Prance – zwingt das Tunguska-Ereignis sie dazu, ihren eigenen Status zu reflektieren. Allerdings geht es hier nicht in erster Linie darum, die Zuständigkeit beziehungsweise Eignung den Ursprung des Ereignisses zu ergründen, vielmehr offenbart das Ereignis ihnen Erkenntnisse über sie selbst: »[T]he Tunguska event, which reveals to them a sacred city, seems to strip away their fictive status and expel them into real time, the real world« (Cowart 2012, 398). Dieser Effekt des »heavenwide blast of light« (AtD, 875) beleuchtet genau den Punkt, der es über diesen Roman hinaus erlaubt, das Phänomen zum entscheidenden, wenn auch nicht zentralen Punkt der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu machen. Die elliptische Form, in der das Ereignis in diesem Text auftaucht, imitiert im Medium der Sprache das, was sonst als seine rätselhafte oder mysteriöse Eigenschaft bezeichnet wird: Was sich ereignet, scheint nicht vollständig (sichtbar/erkennbar) zu sein. Infolgedessen steht die Reflexion der eigenen Zuständigkeit oder Fähigkeit, diese überhaupt einzuschätzen, an erster Stelle jeder erklärenden Tätigkeit. Die scheinbare Unvollständigkeit, die jedoch von den Chums als Verschwörung abgetan: »It sounds like capitalistic propaganda […] Dr. Tesla has always had his enemies in New York […]« (AtD, 891).

II.3 Ereignis und Geschichte

sich aus dem Fehlen klar zuzuordnender Spuren beziehungsweise aus ihrer Widersprüchlichkeit ergibt, erschwert die Erklärbarkeit des Ereignisses in einem Maße, das eine Lösung beinahe unmöglich erscheinen lässt und diese zugleich mit einer Dringlichkeit einfordert, die einen zirkulären Prozess in Gang setzt. Die Herstellung einer reversiblen Kette von Repräsentationsstufen, an der entlang die »Wahrheit zirkuliert […] wie Elektrizität entlang eines Drahtes« (Latour 2002, 85), kann, wie an anderem Ort ausführlicher beschrieben, hier nicht gelingen. Nichtsdestotrotz wird ein zirkulärer Prozess in Gang gesetzt, der jedoch eher die Form eines hermeneutischen Zirkels annimmt, insofern der Versuch Tunguska zu verstehen, den Erklärenden immer wieder auf sich selbst zurückwirft und das Ziel des Prozesses – eine Horizontverschmelzung oder, in diesem Fall, das (erklärende) Verstehen des Ereignisses und seiner Ursache – nur hypothetisch (oder in der Fiktion) erreichbar ist. Against the Day hebt drei, wenn man so will, mögliche Radien dieses Zirkels hervor: Die Frage nach der eigenen Zuständigkeit stellt dabei den engsten Kreis dar, indem sie die naheliegende Infragestellung der eigenen Erklärungstätigkeit bildet. Hier wird bereits sichtbar, dass die Erklärungstätigkeit vom Tunguska-Ereignis zugleich ausgelöst und gestört wird, denn einerseits erzwingt es den Versuch, es zu erklären, und andererseits bleibt es so rätselhaft, dass notwendig offengelegt werden muss, mit welcher Vorannahme man an das Phänomen herantritt. Konkret heißt das also, dass bereits die Entscheidung, Professoren oder Spione zu schicken, bestimmt, zu welchen Ergebnissen man kommen kann. Die Krux bei Tunguska ist, dass selbst wenn diese Form der Beobachterabhängigkeit reflektiert wird, die Erklärung im Sinne von Faktenbildung dennoch ins Leere laufen wird, weil es weder dem Professor noch dem Spion gelingen wird, eine weitgehend widerspruchslose holistische Erklärung zu liefern. Kits Erfahrung, die den zweiten Radius bildet, offenbart darüber hinaus, dass – selbst wenn der Zufall bestimmt, wer dem Ereignis nah genug ist, um einen Erklärungsversuch zu unternehmen – es die eigene Wahrnehmung in einer Weise verändert und so eine stabile Beziehung zwischen Forscher und Untersuchungsobjekt verhindert, weil beide sich ständig gegenseitig verändern und im Tunguska-Ereignis zeitweise die ganze Welt sichtbar wird. Die Erfahrung der »Chums of Chance« treibt diese Aspekte ins Extrem. Sie finden durch das Ereignis das, wonach sie schon seit Langem suchen – die verborgene Stadt Shambhala –, ihnen offenbart sich dadurch ihr eigener Platz in der Welt und schließlich finden sie nach dieser Erfahrung die Erde verändert vor, ohne dass sie wüssten, was genau eigentlich passiert ist. »Returning from the taiga, the crew of the Inconvenience found the Earth they thought they knew changed now in unpredictable ways. As of whatever had come to visit above Tunguska had jolted the axis of Creation, perhaps for good. Below, across the leagues of

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Die Produktion der Katastrophe formerly unmarked Siberian forest and prairie, they saw a considerable webwork of rail, steel within clear rights-of-way below shining as river-courses once had […]« (AtD, 893).

Ausgerechnet den jugendlichen Abenteurern, die eigentlich schon alles gesehen haben, eröffnet sich nun, dass sie die Welt nicht (mehr) kennen. Es ist, als ob die Welt ihr letztes Geheimnis preisgegeben hätte und nun, da die rätselhaften Auswirkungen des Tunguska-Ereignisses wieder verschwinden und sich auch die »Chums of Chance« wieder ihrer »invisibility before the earthbound day« (AtD, 890) sicher sein können, die Kluft zwischen ihrer Sphäre (und der Shambhalas) und der modern gezeichneten Erdoberfläche sichtbar geworden wäre. Ist es in Kit Traverses Episode die Wirklichkeit einiger Effekte, die nach dem Ereignis infrage gestellt wird, müssen die »Chums of Chance« angesichts der veränderten Erde ihre eigene Wirklichkeit oder vielmehr ihren Platz in der modernen Wirklichkeit bezweifeln. Der blendende »heavenwide blast of light« (AtD, 875) mag also für einen Moment mehr sichtbar gemacht haben, jedoch hinterlässt er eine Welt, in der kein Platz mehr für (dunkle) Geheimnisse ist. Der Weg der Inconvenience hinaus aus Sibirien wird auf der Erzählebene weiterverfolgt. Sämtliche Figuren, die sich kurz nach dem Ereignis in Europa befinden, werden Zeugen der hellen Nächte und spüren, dass dort etwas wahrhaft Einzigartiges vor sich geht. »Slowly as God’s justice, reports began arriving out of the East […] Reactions in the West were uniformely hushed and perplexed even among those known as chattering fools. No one could dare to say which was worse – that it had never happened before, or that it had, and that all the agencies of history had conspired never to record it and then, displaying a sense of honor hitherto unnoted, to maintain their silence« (AtD, 894; Hervorhebung im Original).

Im ›Westen‹, weit entfernt von der Explosion und den bedrohlicheren Auswirkungen, verlagert sich die Betrachtung des Ereignisses. Problematisch wird einerseits seine »überraschende Novität« (Koselleck 1989, 151), andererseits stellt sich die Frage, ob es sich wirklich um etwas nie Dagewesenes handelt oder ob es bloß an einer historischen Repräsentation mangelt. Die Feststellung, dass niemand zu entscheiden wagt, welche der Optionen schlimmer wäre, belegt, wie zentral die historische Einordnung oder vielmehr Einebnung eines Ereignisses sein kann – insbesondere eines (potenziell) katastrophischen. Der unklare Status des Tunguska-Ereignisses impliziert mangelndes Vertrauen in die Fähigkeit der »agencies of history«, effektive Wirklichkeitsbeherrschung zu betreiben und Stabilität herzustellen – ein Verdacht, der sich im Ersten Weltkrieg bestätigt. Interessant ist, dass die Unsicherheit nicht zu Protest führt, sondern in Schweigen und Handlungslosigkeit mündet. Die Reaktionen auf die hellen Nächte bleiben individualisiert – man arrangiert sich. »Converts

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of Special Relativity took a fascinated look« (AtD, 894). Professor Vanderjuice spekuliert darüber, ob man es mit einer Singularität zu tun habe (AtD, 895), und auch im modernen Westen befürchten einige, wie die Raskolniki, man könne ein Zeichen für den nahenden Weltuntergang vor sich haben (ebd.), wenigstens aber ein Anzeichen für eine fundamentale Veränderung. »[P]erhaps [it was] another Krakatoa, no one knew, perhaps the deep announcement of a Change in the Creation, with nothing now ever to be the same« (AtD, 896). Da aber die Bestimmung des Ereignisses – vorher/nachher, neu/bekannt, gefährlich/schön – individuell und diffus bleibt, verschwindet es auch hier nach und nach aus dem Leben und dem Bewusstsein der Menschen. »It went on for a month. Those who had taken it for a cosmic sign cringed beneath the sky each night fall, imagining ever more extravagant disasters. Others, for whom orange did not seem an appropriately apocalyptic shade, sat outdoors on public benches, reading calmly, growing used to the curious pallor. As nights went on and nothing happened and the phenomenon slowly faded to the accustomed deeper violets again, most had difficulty remembering the earlier rise of heart, the sense of overture and possibility, and went back once again to seeking only orgasm, hallucination, stupor, sleep, to fetch them through the night and prepare them against the day« (AtD, 903).

Der offenbarende Effekt des Ereignisses kann in den europäischen Städten des beginnenden 20. Jahrhunderts nicht lange bestehen. Während die irreversible Veränderung in den sibirischen Wäldern und Prärien nicht zu übersehen ist, werden die hellen Nächte in den elektrifizierten Städten zwar als potenziell bedeutsam, schließlich aber höchstens als dekorative Kuriosität wahrgenommen. Die Städter scheinen nahezu immun gegen den oben beschriebenen zirkulären (Selbst-)Erklärungsprozess zu sein. Sie sind schlicht zu beschäftigt. Neben den Zerstreuungen der Städte können die Fotos der zerstörten Bäume und selbst die hellen Nächte nicht lange die Aufmerksam fesseln, solange ›nichts passiert‹ ist. Die scheinbare Ignoranz gegenüber der sibirischen Explosion korrespondiert mit dem Fehlen nahezu jeglicher direkten Beschreibung der, wenn man so will, größten Katastrophe des neuen Jahrhunderts. David Cowart versteht das Tunguska-Ereignis in Pynchons Text als Vorzeichen des Großen Krieges.56 Diese Lesart übersieht jedoch die offenbarenden Qualitäten des Phänomens, sowohl in Hinblick auf die Betroffenen beziehungsweise diejenigen, die es untersuchen sollen oder wollen, als auch auf ihre Umwelt. Dass 56 | »Pynchon characterizes the mysterious cataclysm that visited Siberia in 1908, devastating miles and miles of forest and tundra, as, among other things, a foreshadowing of 1914-18. Thus, he likens ›what was nearly upon them‹ (AtD 778) in the Tunguska region to ›the general war which Europe this summer and autumn would stand at the threshold of collapsed into a single event‹ (AtD 797)« (Cowart 2012, 394).

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die Menschen in den europäischen Städten scheinbar unbeeindruckt oder -berührt bleiben, mag an der räumlichen und medial hergestellten Distanz zwischen ihnen und dem Geschehen liegen. Es kann aber auch sein, dass sie bereits Teil des ›webwork‹ geworden sind, das die »Chums of Chance« auf ihrem Weg überfliegen. Das könnte bedeuten, dass ihnen die Fähigkeit fehlt, in einer modernen, fortschrittlichen Welt noch wahrhaft Einzigartiges zu erkennen.57 Treibt man diese Lesart voran, könnte man diese verlorene, vielleicht auch in der Masse von Neuheiten der Jahrhundertwende untergegangene oder übertönte Fähigkeit als Bedingung dafür lesen, dass erstens die Signale, die auf einen globalen Konflikt deuteten, im modernen Rauschen untergingen und zweitens sogar nach diesem Krieg (wie auch nach dem rätselhaften TunguskaEreignis) business as usual herrschte und es in kurzem Abstand zu einem zweiten großen Krieg kommen konnte. Damit verdichtet sich der Eindruck, dass Geschichte, wie es an einer Stelle heißt, nicht mehr ist als »Time’s pathology« (AtD, 927), eine narzisstische Störung des Westens, die dazu führt, sich selbst zu ihrem Mittelpunkt zu erklären, und deren Nebenwirkung völlige Ignoranz gegenüber Phänomenen ist, die nicht aus der eigenen Mitte stammen, selbst wenn sie die eigene Lebensweise gefährden könnten. »[I]magine that, except in the most limited and trivial ways, history does not take place north of the forty-fifth parallel. What North Europe thinks of as its history is actually quite provincial and of limited interest. Different sorts of Christians killing each other, and that’s about it. The Northern powers are more like administrators, who manipulate other people’s history but produce none of their own. They are stockjobbers of history, lives are their units of exchange. Lives as they are lived, deaths as they are died, all that is made of flesh, blood, semen, bone, fire, pain, shit, madness, intoxication, visions, eveything that has been passing down here forever, is real history« (AtD, 928).

Ein Grund, aus dem der Erste Weltkrieg in diesem Roman neben dem Tunguska-Ereignis verblasst, wenn nicht sogar verschwindet, ist, dass die Europäer Ereignisse in unmittelbarer Nähe nicht als Geschichte (an-)erkennen können, weil sie nicht wissen, woraus Geschichte überhaupt besteht. Dieser Passage fol57 | Marianne Dekoven liest darin eine Kritik Pynchons an den ineffektiven Methoden der Anarchisten, die dadurch indirekt den unkontrollierten Aufstieg des Kapitalismus begünstigt haben: »I would argue that as the novel approaches closer and closer to its own end and simultaneously to the Great War, history more or less resumes its familiar contours, becoming what for Pynchon is an absurd, damned, damning, and unnecessary sequence of events, which could have been prevented only if unchecked capitalism had been stopped by the anarchist activists of the early part of the novel. The anarchists got it wrong, according to Pynchon, when they decided that killing individual powerful evil capitalist men would bring on the revolution« (Dekoven 2009, 335).

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gend geht es eben nicht um abstrakte Verbindungen und Konflikte zwischen Herrschern und politischen Institutionen und deren Verwaltung, sondern um physische und materielle Objekte und Subjekte. Ein Krieg, der zu oft nur in (Opfer-)Zahlen, Kosten und den politisch-gesellschaftlichen Veränderungen gefasst wird, entzieht sich der Darstellung eines Romans, der Erfahrung und Erlebnis über Verständnis sowie Detail über Kontext oder eben Ereignis über Struktur stellt.

D er S tillstand des K rieges (K r acht) Auch in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten hat das TunguskaEreignis tiefgreifende Auswirkungen. Es löst ein Zeitalter des Krieges aus, das einem Stillstand von Zeit und Geschichte gleichkommt. Der Krieg als Effekt des Ereignisses beendet hier jede Form von Bewegung und Veränderung, indem er allumfassend wird. Krachts Roman entwirft eine Welt, die in der Apokalypse gefangen ist, in der es nur noch Vergangenheit, aber keine Zukunft mehr gibt. »Die Jahreszeiten verschwanden, es gab kein Auf und Ab mehr, kein bemerkbarer Wechsel, ebenso keine Gezeiten, keine Wogen, keine Mondphasen, der Krieg ging nun in sein sechsundneunzigstes Jahr. Wie war es im letzten Sommer gewesen, wie im Sommer davor, wie noch letzten Vollmond? Der Fluss der Zeit hatte es aus der Erinnerung gewaschen. Die Hindustanis im Osten sagten, es sei das Zeitalter der Kali Juga. Man erinnerte sich nicht mehr. Es waren nun fast einhundert Jahre Krieg. Es war niemand mehr am Leben, der im Frieden geboren war« (Kracht, 13).

Kali Juga, das hinduistische ›dunkle‹ Zeitalter oder Zeitalter des Streits, hat Vieles mit der Apokalypse der christlichen Tradition gemeinsam. Es handelt sich um ein letztes Zeitalter, beendet aber nicht den Lauf der Zeit, sondern den der irdischen oder menschlichen Geschichte. Anders als in beiden Untergangskonzepten scheint die Hoffnung auf eine Erneuerung der Welt (Hinduismus) oder auf den Eintritt ins himmlische Jerusalem (Christentum) für die Schweizer Sowjet Republik (SSR) vergebens. Auch wenn ambivalent bleibt, ob der Fluss der Zeit wirklich gestoppt wurde und es keinen Wandel mehr gibt oder ob nur die Fähigkeit der Menschen zur Wahrnehmung von Veränderung unter den Bedingungen des Krieges verkümmert ist – das Bild einer im Krieg gleichsam eingefrorenen Welt 58 bleibt bedrückend. Bewegung, so scheint es, ist nur noch im Raum möglich, Fortschritt aber bleibt ausgeschlossen. Der Raum unterscheidet sich fundamental von dem 58 | Vgl. Krüger 2010, 268.

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Raumzeitkonzept, das in Pynchons Roman auf das Tunguska-Ereignis folgt. Das Netzwerk aus Gleisen, das die »Chums of Chance« nach dem und durch das Tunguska-Ereignis in der (ihnen) neuen Welt entdecken und das den vormals unmarkierten, oder mit Deleuze und Guattari gesprochen, glatten Raum nun durchzieht, ist in Krachts Romanwelt nur noch als Ruine vorhanden. Industrie, Verkehrswege und städtisches Leben sind von Jahrzehnten des Krieges aufgerieben. Genauso wie die Zeit besteht zwar noch ein Bewusstsein dafür, dass es anders sein könnte oder es einmal anders war, aber die Gegenwart bleibt statisch. Die Suche nach dem »ideologisch unzuverlässigen Oberst« (Dath 2008, o.S.) Brazhinsky führt den Protagonisten, einen jungen Parteikommissär, von Neu-Bern quer durch das zerstörte Land bis zum Réduit, einer in den Fels des Alpenmassivs gebauten Festung. Der Weg, so klar Richtung und Ziel zu Beginn sein mögen, führt jedoch nicht dazu, sich aus der Stasis zu lösen, sondern setzt auch bei dem Kommissär eine Art kulturellen Degenerationsprozess oder, einfacher gesagt, einen Verschleißprozess in Gang. Seine Aufgabe besteht eigentlich darin, nach dem Krieg für den Auf bau einer neuen schweizerisch-sowjetischen Zivilisation und Kultur zu sorgen. Doch er erkennt schnell, dass ein Danach des Krieges in der Welt, in der er sich bewegt, gar nicht zustande kommen kann und nur im Modus des Utopischen überhaupt denkbar ist. Die Städte, insbesondere ihre Randgebiete, haben als Lebensraum ausgedient. Auch hier lässt sich der allumfassende Stillstand beobachten: »Nicht einmal die Vegetation kann sich den ehemals bewohnten Raum zurück holen. Eis und Schnee verhindern es. Das Organische verwandelt sich in Anorganisches« (Krüger 2010, 269). Zunächst bildet die brachliegende Ruinenlandschaft eine Projektionsfläche für die Utopien, an deren Realisierung der Kommissär noch glaubt. »Hier in dieser zerstörten Ödnis werden wir die Theatergebäude errichten, hier den Sowjetrat, hier die Fabriken, hier die Staatsbank. Berühmte Architekten werden sie bauen, nicht wahr? Ja, modern wird alles sein, aus Glas und Eisen, modern und vor allem mit menschlichen Zügen und Proportionen« (Kracht, 26).

Hier ist nicht nur die Reihenfolge der erwähnten Bauten – erst Theater, dann Regierungsgebäude, dann Industrie, dann Banken – interessant, sondern auch die Tatsache, dass sie alle gleich »modern« aussehen und mit »menschlichen Zügen« versehen sein sollen, also nicht nur das Gegenteil von Ödnis, sondern in vielerlei Hinsicht auch das Gegenteil der modernen Welt beziehungsweise der außerliterarischen Gegenwart darstellen. Ihre Vorstellung erfordert die Abwendung von der Wirklichkeit beziehungsweise die Leugnung ihres wirklichen Seins in der Wahrnehmung der »ruinierten Häuser [als] Theaterkulissen« (Kracht, 26). In seinem ideologisch gefestigten Glauben an eine Zukunft

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gelingt es dem Kommissär, sich eine florierende, aufgeklärte,59 vernetzte und friedliche Welt vorzustellen, deren unerreichbar utopischer Charakter in seiner Zerbrechlichkeit deutlich zutage tritt. »Das ist unser Weg. Wir werden goldene Dörfer bauen und goldene Städte. Ich komme nur ganz kurz hierher. Berge und Wolken. Vögel sind dort. Ich sehe sie nicht« (Kracht, 27). Was in der imaginierten Zukunft fehlt, sind die Menschen, die sie bevölkern sollen. Sie ist ebenso leer und statisch wie die öde Gegenwart der Erzählung, sodass kein Weg von der einen in die andere Zeit führen kann und beide Zeit(-modelle) gleichermaßen unbelebt und unwirklich nebeneinander existieren. Die Menschen, denen der Kommissär auf seiner Reise begegnet, ähneln vielfach den Ruinen, verwilderten Ungeheuern oder sie haben selbst den Verstand verloren. Kein Moment erlaubt Hoffnung oder das Gefühl von Verbundenheit, weil jeder Moment von den Spuren des Krieges geprägt ist. Seine Affäre mit der Divisionärin Favre wird durch einen Bombenanschlag beendet (Kracht, 47), marodierende Faschisten prahlen mit ihren grausamen Taten (Kracht, 87) und selbst seine Rettung vor dem Tod durch eine Mine erscheint dem Kommissär wie eine Schande. Die Begründung der selbstlosen Tat des Zwergs Uriel: (»Ich habe das Bibelbuch in deiner Sprache gelesen« [Kracht, 90]) spricht von der Hoffnung auf eine andere, bessere Welt nach dem Tod und widerspricht damit dem Weltbild des Kommissärs so grundsätzlich, dass ihm nichts bleibt, als sich abzuwenden. Die Gefühle sind in diesem Zeitalter des Krieges genauso stehen geblieben wie die Zeit. »Ich habe keine Angst mehr. Ich habe verlernt zu lesen, wie ich es früher konnte. Der Krieg macht uns zu Geisteskrüppeln […] Es kommt nichts mehr nach uns. Oder aber es geht immer so weiter« (Kracht, 95). Kultur, Humanität, selbst der Wille zu überleben scheinen aus den Menschen und ihrer Welt entwichen zu sein – der Krieg hat alles absorbiert. Die Reise des Kommissärs durch die zerstörte Gegenwart der SSR hat trotzdem ein Ziel: den abtrünnigen Oberst Brazhinsky zu finden und festzunehmen. Das Réduit, eine die gesamten Alpen untertunnelnde Festung, gilt als Verkörperung der »eigentliche[n] Stärke, [der] Unangreif barkeit der SSR« (Kracht, 49) und bildet den letzten Hort für die utopischen Hoffnungen des Kommissärs (und der SSR) auf ein Danach des Krieges. Brazhinsky wird zum integralen Bestandteil dieser Hoffnung, weil er eine neue, der Schriftsprache der Modernen beziehungsweise der Feinde überlegene Kommunikationsform beherrscht, die »Rauchsprache«, von der sich der Kommissär verspricht, dass sie den entscheidenden Impuls liefert, der nötig ist, um den Zustand des Still-

59 | »Wir werden die Kirchen und Kapellen wieder einreissen, die die Deutschen gebaut haben, diese Stätten der Erniedrigung und der heuchlerischen Anbetung eines toten Gottes« (Kracht, 27).

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standes zu beenden.60 Es handelt sich dabei nicht, wie der Kommissär glaubt, um die lang erwartete technische Umsetzung drahtloser Kommunikation, sondern um eine ursprüngliche, beinahe magische Sprache, die einer Absage an technische Entwicklung(-sfähigkeit) gleichkommt. »Nein, unsere neue Kommunikationsform ist eine Leistung des menschlichen Willens. Wir werden niemals Maschinen bauen, die fähig sind, miteinander zu sprechen. Warum also das Noumenon der Sprache elektrisch runterrechnen auf wenige Zeichen? Warum nicht gleich das Wort oder den Satz in den Raum geben? Wir heben einfach Ursache und Wirkung auf« (Kracht, 44).

Der Kommissär lässt in seiner Antwort (»Ähnlich wie der Krieg nie enden und doch beendet werden soll« [ebd.]) erkennen, welche Konsequenz diese Erklärung der Divisionärin Favre, die die Sprache ebenfalls beherrscht, hat: Die letztgültige Abwendung vom technischen Fortschritt hin zu einer ›anderen‹ Ebene der Kommunikation stellt den Kriegszustand endgültig auf Dauer. Die Rauchsprache, die zunächst die Kommunikationsmöglichkeiten zu erweitern scheint, ist in Wirklichkeit ihr Ende, weil sie eine reine Befehlssprache ist. Als solche funktioniert sie nur in eine Richtung, anstatt Gespräche zu ermöglichen, die auf Informationsaustausch basieren. Sobald der Kommissär versucht, sie in diesem Sinne, also wie Sprache, zu benutzen, erweist sie sich als vollkommen nutzlos: »[…] [I]ch versuchte es mit der Neuen Sprache, es funktionierte nicht, ich schickte einen Satz nach dem anderen hoch zu ihr, sie verstand mich nicht, Brazhinskys Sprache konnte nur projizieren, nicht empfangen, ich verstand sie nicht« (Kracht, 136). Obwohl diese Einsicht bereits früh erkennbar oder wenigstens zu erahnen ist, hält der Protagonist an seiner Aufgabe fest. Von Hoffnung zu sprechen, ist in diesem Zusammenhang schon irreleitend, da seine Überzeugung und sein Glaube an eine (utopische) Zukunft vollkommen von dem abgeschottet sind, was ihn umgibt. So werden der Kommissär und das Réduit schließlich gleichermaßen zu Verkörperungen dessen, was die SSR und was ihr ›Problem‹ ist. Beide haben, wenn auch auf unterschiedliche Weise, den Kern der SSR und die Notwendigkeit des Krieges internalisiert, sind aber so abgeschottet von ihrer Umwelt, dass sie blind für die Realität sind, die sie umgibt. Erst wenn die Unmöglichkeit eines Fortschritts im gleichen Denk- und Handlungsmodell, also das Scheitern der Ideologie, erkannt wird, lässt sich wieder an so etwas 60 | In der SSR ist der Gebrauch von Schrift verpönt, Schriftkultur gar ein Merkmal der Feinde (Kracht, 23). Den Schweizern gilt der Verlust von Schriftsprache und Literatur als Gewinn von Autonomie: »Unsere Mundarten sind schon immer ausschliesslich orale Sprache gewesen […] Unser Verlernen des Schreibens ist, wenn Sie so wollen, ein Prozess des absichtlichen Vergessens« (Kracht, 43).

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wie eine Zukunft denken. Doch auch dann nur zu dem Preis des Zusammenbruchs des Alten. Was Kommissär und Réduit beziehungsweise dessen Bewohner voneinander unterscheidet ist ihre Bewegungsfreiheit. Während die Bewohner des Felsmassivs an ihre Wohnstatt und ihr Glaubenssystem gebunden sind, weil sie nichts anderes haben, kann sich der Komissär befreien und auf eine Alternative zurückgreifen. Der Kommissär stammt aus Nyasaland, »vierzig Werst von der Grenze zu Mozambique entfernt« (Kracht, 54). Seine schwarze Hautfarbe und die Tatsache, dass er Befehlsgewalt über andere Schweizer ausüben kann, führen immer wieder zu Irritationen61; seine Herkunft ist es aber auch, die ihn für seine Aufgabe qualifiziert. Afrika wurde unter den Schweizern zu einem völlig neuen Kontinent. Mit »manischer Effizienz« (Kracht, 77) sorgen die Schweizer für Sicherheit62, Nahrung und Infrastruktur und »als endlich nie gekannte Gleichheit herrschte, begannen die Schweizer mit dem Bau der Militärakademien, um die Afrikaner zu Soldaten zu machen und damit den gerechten Krieg, der in der Heimat wütete, endlich zu gewinnen« (ebd.). Anstatt zu Sklaven eines »dekadenten Großreichs« (Kracht, 59) des englischen Königs und der deutschen Faschisten zu werden, werden sie zu Schweizer Offizieren. Neben der physischen ›Einnordung‹63 steht in der Ausbildung der Soldaten die ideologische: Sie beginnen bald damit, untereinander nur noch in Schweizer Mundart zu sprechen, studieren Karl Marx »und die Geschichte des grossen Eidgenossen Lenin, der, anstatt in einem plombierten Zug in das zerfallene, zerstrahlte Russland zurückzukehren, in der Schweiz geblieben war, um dort nach Jahrzehnten den Sowjet zu gründen, in Zürich, Basel und Neu-Bern« (Kracht, 58). Russland, auf das sich Lenins Interessen zuvor richteten, »war durch die Folgen der ungeklärt gebliebenen Tunguska-Explosion von Zentralsibirien bis nach Neu-Minsk viral verseucht worden« (ebd.), sodass die Schweiz zum (einzigen) Zentrum des bolschewistisch-kommunistischen Traums wurde. Dieser wird den Offizieren zu eigen gemacht. Es steht zu vermuten, dass die Energie und Vehemenz, mit denen der Kommissär seinen Weg durch die Schweiz macht, daher stammen, dass er seine Schweizer Identität auf eine Geschichte ohne Brüche gründet, die auch deswegen homogen und ganz wirkt, weil er sie erlernt und (zunächst) nicht erlebt. Die ›nie gekannte Gleichheit‹ ist also eine gemachte, keine gewachsene, und trägt dementspre61 | Vgl. u.a. Kracht, 35 und 95. 62 | »… man vertrieb die dekadenten Engländer und die cholerischen Deutschen …« (Kracht, 77). 63 | »Wir wurden auf den Krieg vorbereitet, der im kalten Norden wütete, wir trugen Wintermützen unter der afrikanischen Sonne und banden uns Filzstreifen um die Waden, um zu verhindern, dass der Schnee, den wir alle noch nie gesehen hatten, in die Stiefel drang« (Kracht, 57).

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chend die Gefahr in sich, dass sie nur virtuell gilt. Das heißt, die Schüler der Militärakademie sind letztlich keine gleichwertigen Mitglieder einer Nation, sondern die menschliche Ressource einer europäischen Kriegsmaschinerie. »Sie sind ein Sklave, Kommissär, begreifen Sie das? Sie sind ein Sklave der Schweiz, geboren, gedrillt und gemacht. Sie und ihr Volk sind Kanonenfutter, Roboter, mehr nicht. Ihre Kindheit ist eine Fälschung. Die Tarmanguin beherrschen die Gomanguin, so wird es immer sein« (Kracht, 128). Das Réduit hingegen liegt in jedem Sinne im Kern der Schweiz. Es bildet das Innere der ikonischen Alpenlandschaft und stellt im Roman den Höhepunkt einer der größten technischen Leistungen der Schweizer – sozusagen die Krönung des Tunnelbaus – dar. Darüber hinaus erinnert das Réduit an die Position der SSR in der Mitte Europas, die, abgeschnitten vom Meer und umgeben von (potenziellen) Feinden, keine andere Ausweichmöglichkeit hat als nach innen. »Die Erhabenheit des Augenblicks« (Kracht, 98), die der Protagonist, konfrontiert mit dem »Jahrhundertwerk der Schweizer« (ebd.), erlebt, weicht mit dem Betreten der Festung einem Gefühl von Chaos.64 Die Effizienz und Gründlichkeit, die er an den Schweizern zu bewundern gelernt hat, löst sich in einem Gewirr von Gängen und Höhlen auf. Die Räume sind bis zum Bersten gefüllt mit Gegenständen aus der Außenwelt, die innerhalb der Festungswände zu musealen Resten einer längst vergangenen Zeit werden. »Nur Bücher gab es nicht, so weit ich auch während meiner tagelangen Streifzüge in die verschiedenen Kavernen und Räume des Réduits vordrang, nie sah ich ein Buch, nie auch nur einen einzigen geschriebenen Satz« (Kracht, 121). Die einzige Form von ›organisiertem‹ kulturellem Gedächtnis beziehungsweise von Geschichte stellt ein alle Räume, Korridore und Hallen durchziehendes Gewirr von Felsenzeichnungen und Basisreliefarbeiten dar, das sich von konkreten Darstellungen der Schweizer Geschichte hin zu immer abstrakteren Formen bewegt. An den Bildern ist abzulesen, was der Weg des Kommissärs von der Militärschule in Afrika bis in den Kern der SSR bereits andeutete: »Die Geschichte der Schweiz, die durch die Fresken erzählt wurde, schien hier oben ins Stocken gekommen zu sein; die lineare Abfolge von Ereignissen, Schlachten, Aufmärschen, Paraden – denn es war naturgemäß eine Geschichte des Krieges – wurde nach und nach von einer sonderbaren Gleichzeitigkeit der Darstellung abgelöst; […] Je weiter ich Raum für Raum den Verlauf der Arbeiten abschritt, desto weniger realistisch wurde die Kunst […] Hier oben, wo sich Brazhinsky und Roerich aufhielten, waren wir tatsäch-

64 | »Was sich dem Parteikommissär auftut, ist – ähnlich wie dem Landvermesser K. in Kafkas Schloss oder dem absonderlichen Tier in Kafkas Bau – ein völlig autonomes Gebilde, das immer größer wird und dem nicht nur die Umwelt, sondern auch der Bauplan abhanden gekommen ist.« (Krüger 2010, 271)

II.3 Ereignis und Geschichte lich wieder bei den vertigi­n ös-nausealen Kreisen in den Chongoni-Höhlen meiner Kindheit angelangt« (Kracht, 122-123).

Der lineare Fortschritt der Geschichte, repräsentiert durch seine Bewegung durch den Raum, wird für den Kommissär zu einer zirkulären Bewegung. Anders als die anderen Schweizer kann er darin seine eigene Vergangenheit wiedererkennen, weswegen sich ihm ein Ausweg bietet. Brazhinsky und seine Gefolgsleute hingegen, die sich im Réduit verschanzt haben, können nicht begreifen, dass ihre Existenz in der Wiederholung der immer gleichen leeren Verweiszusammenhänge gefangen ist. Zwar ist Oberst Brazhinsky klar, dass das Zugehörigkeitsgefühl des Kommissärs nicht »echt« ist, sondern das Produkt einer »Gehirnwäsche«, dass es keine Wunderwaffe gibt und »alles nur Propaganda [und] schon lange kaputt [ist]« (Kracht, 127), aber für ihn gibt es keine Alternative zu dem »Bombastische[n] des Réduits« (ebd.) und des Krieges, in dessen Mittelpunkt es steht. »[Es] ist ein magisches Ritual, ein leeres Ritual. Es war immer leer, es wird immer leer sein« (ebd.). Der einzige Ausweg aus diesem Leerlauf ist sein eigener Tod. Trotzdem sind es Brahzinskys aufklärerische Aufforderung (»Erziehen Sie sich selbst« [Kracht, 128]) und der Vorwurf, nach wie vor unter der Herrschaft der Weißen zu stehen, die den Kommissär wachrütteln und ihm so einen Ausweg aufzeigen. Indem er erkennt, dass die Wirklichkeit und die Zukunft, für die er ausgebildet wurde, auf Lügen und Fälschungen basierende Trugbilder sind, kann er entkommen.65 Er desertiert und hört im selben Moment auf, Schweizer zu sein. Dabei entsagt er nicht nur der neuen Sprache, sondern allen Zeichen von Zivilisation und Moderne, allen voran der (auch in Against the Day kritisierten) einschränkenden Herrschaft der Uhren über die Zeit: »Welches Jahr schrieben wir? Die Zeit hatte aufgehört zu sein, die Schweizer Zeit. Ich mass weder die Donnerstage noch den sechzehnten des Monats, noch den Weg der Sonne über das Firmament. Stunde folgte auf Stunde und Tag auf Tag« (Kracht, 143). Auf seinem Weg lässt er alles zurück und gewinnt dabei erstmals die Fähigkeit, eigene Spuren zu hinterlassen: »[I]ch schrieb Wörter, Sätze, ganze Bücher in die Landschaft hinein – die Geschichte der Honigameisen, die Enzyklopädie der Füchse, das Geblüt der Welt, die unterirdischen Ströme, das tief vibrierende, geräuschlose Summen der unbekannten Vergangenheit und der darin auftauchenden Zukunft. Ich notierte nicht mit Tusche, sondern mit Schrift, mit den Morphemen der Erde« (Kracht, 144).

Die Abwendung von der falschen (gefälschten) Zeit, die mit dem Glauben an eine Zukunft dieser Gesellschaft einhergeht, und von den »betongewordenen 65 | Vgl. Kracht, 128.

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Visionen« (Kracht, 148) der Schweizer greift um sich. Die am Reißbrett entworfenen Städte, die die Schweizer für die zu Schweizern gemachten Afrikaner errichteten, werden von ihren Einwohnern verlassen. Damit signalisieren sie unmissverständlich die Ablehnung der ihnen vorgeblich zu ihrem eigenen Wohl aufgezwungenen Lebensweise. Die stille, aber nicht weniger grausame Revolution66 besteht in einer radikalen Ablehnung der Moderne und ihrer Errungenschaften. Was vorgibt, ›Fortschritt‹ zu sein, endet in einer Erfahrung des Stillstandes, eines Krieges, der gleichzeitig den Höhe- und den Endpunkt der modernen Kultur bildet und nichts anderes hervorzubringen vermag, als sich in einem andauernden Zustand von Selbstzerstörung zu erhalten. Die Völkerwanderung zurück in die Dörfer entspricht daher keinem emphatischen ›Zurück zur Natur‹, sondern einem Ausstieg. Das Grausame dieser Revolution besteht darin, dass sie sich dem System entzieht und jegliche Richtung (Fortschritt, Verbesserung, Zukunft) ablehnt, ohne ein neues zu fordern oder anzustreben. Das prosaische Ende, das der »Schweizer Architekt« angesichts dieser »Undankbarkeit« (Kracht, 149) stellvertretend für die Eidgenossen nimmt, besiegelt den Stillstand und die Selbstaufgabe. »[Er] warf frühmorgens das Ende eines Seiles über eine von ihm selbst entworfene, stählerne Strassenlaterne und erhängte sich, bevor die afrikanische Sonne zu heiß wurde. […] Er hing ein paar Tage, dann assen Hyänen seine Füsse« (Kracht, 149). Die Frage, die sich angesichts der aussichtslosen und größtenteils bewegungslosen Szenerie des Romans stellt, ist, worauf sie überhaupt hinausläuft. Die Lesart des Romans als »Alternate History« verführt allzu leicht dazu, ihn als Reanimation einer »grundpoetische[n] Methode literarischer Kultur- und Gesellschaftskritik« (Ächtler 2011, 395) misszuverstehen. Ächtler liest Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten als »Versuch, die unterschwelligen Gesetzmäßigkeiten einer in ihrer oberflächlichen Phänomenologie kontingent erscheinenden Welt im Rahmen parabolisch-überzeitlicher Modelle darstellbar zu machen« (ebd., 381). Die von ihm gezogene Verbindung zwischen Ernst Jüngers Texten und Krachts Roman erweist sich zwar als in hohem Maße haltbar,67 jedoch ignoriert die Bestimmung eines Rückgriffs auf eine »Bewältigungsstrategie der klassischen Moderne« (ebd.) jüngere Traditionen (post-) apokalyptischen Schreibens.68 Zwar enthält der Roman kritische Momente, das Gesamtbild, das Elemente beinahe sämtlicher Kriege des 20. Jahrhunderts »zu einem düsteren, aber erstaunlich homogenen Szenario« (Baßler 2010, 264) verbindet, entzieht sich jedoch einer eindeutigen Zuordnung. 66 | Der Hinweis auf die »blauen Augen unserer Revolution«, die mit der »notwendigen Grausamkeit [brannten]« (Kracht, 247), spricht deutlich gegen eine »friedliche Revolution«, wie sie Norman Ächtler beschreibt (vgl. Ächtler 2011, 394). 67 | Vgl. Ächtler 2011, 395. 68 | Vgl. hierzu insbes. Baßler 2010, 257-258.

II.3 Ereignis und Geschichte »A legitimate question is whether such works [Kracht und Quentin Tarantinos Inglorious Basterds, SN] shoud be considered alternate histories at all: either we could claim that such works are not alternative histories because they refuse to be treated as such, i.e. the paradox of contingency and necessity is less prominent. Or, as I am claiming here, they are alternatives, but admittedly unique or exeptional in that they achieve a different product with the same basic concept of point of divergence« (Singles 2013, 264).

Bei Pynchon führt die Verschränkung von Katastrophen und ›kapitalistischem Traum‹ trotz der Entdeckung, dass Zeit und Raum dynamisch miteinander zusammenhängen, zu einer Begrenzung von Alternativen. In Against the Day fällt dabei vor allem auf, dass, während die Auswirkungen des Tunguska-Ereignisses relativ großen Raum einnehmen, der Erste Weltkrieg beinahe gar nicht vorkommt. Obwohl die Darstellung historischer Ereignisse dadurch entgegen traditioneller Gewichtungen verläuft, fällt es schwer, das Tunguska-Ereignis bei Pynchon als »Point of Divergence« zu beschreiben. Die Möglichkeit wird zwar aufgerufen, aber obwohl die Welt danach verändert scheint, ebben die Effekte des Ereignisses ab und die Gewöhnung an die neue Welt verläuft so schnell, dass es nie eine andere gegeben zu haben scheint. Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten kehrt diese Konstellation um und stellt den Krieg auf Dauer.69 Darin lässt der Text alle anderen Ereignisse, gleichsam die ganze Geschichte, verschwinden. Der Krieg hat den Verlauf von Zeit und die Möglichkeit von Geschichte und Fortschritt, ähnlich wie bei Pynchon, zu einer alternativlosen Einbahnstraße werden lassen. Das Kriegführen wird zu einem Selbstzweck, die Hoffnung auf Frieden oder irgendeine Form von Danach erweist sich als Fälschung. In den Fresken des Réduits wird sichtbar, dass es keine Ereignisse mehr geben kann, weil der Krieg die Fähigkeit, ein Davor und ein Danach zu bestimmen, verschlungen hat. Indem die, wenn man so will, »friedliche Revolution« (Ächtler 2011, 394) den Stillstand des Krieges der zivilisierten Moderne gegen den vor- beziehungsweise nicht-modernen Zustand einer fortschrittslosen Stille eintauscht, bringt sie das System zum Einsturz. »Die Überfahrt nach Afrika bringt den Erzähler schließlich vollends in einen utopischen Raum. Er wird zum Repräsentanten einer neuen, friedlichen Revolution: der Rückkehr der Menschen aus den Stätten westlicher Zivilisation zu ihrem mythischen Ursprungsort« (ebd., 394). Ob es sich jedoch um eine Revolution handelt, steht zu bezweifeln. Denn die vermeintlichen Revolutionäre streben nichts Neues, keine Umwälzung an, sondern lehnen jegliche Beteiligung an dem zu verlassenden System ab. Der Schritt zurück (und gleichzeitig hinaus) aus der Moderne ist das letzte Tabu. Was hier verwirklicht wird, ist eine kollektive Aussteigerfantasie. Passivität (Verlassen im Gegensatz zu Erobern; Ausstieg im Gegensatz zu Aufstand) 69 | Vgl. Baßler 2010, 264.

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wird zur stärksten Waffe gegen die sinnlose Hyperaktivität, die der Fortschritt erfordert. Sie erweist sich als wirkungsvoller als die Doomsdayma­schinen der Modernen und hinterlässt bloß Ruinen. Während die Auswirkungen des Tunguska-Ereignisses in Against the Day sich zwar spektakulär ausnehmen, verblassen sie und verschwinden in der Erinnerung der Menschen. Ganz anders verhält es sich in Christian Krachts Roman. Zwar wird das Ereignis im Text kaum sichtbar – es erscheint nur in einem einzigen Satz –, seine Funktion als »Point of Divergence« macht es jedoch zum (letzten) entscheidenden Ereignis der Geschichte, die dieser Text entwirft. In Against the Day verhallt und verschwindet das Ereignis, obwohl es weithin spür- und sichtbar ist, obwohl es Dinge sichtbar macht, die vorher unerreichbar schienen, obwohl es fundamentale Prozesse der Infragestellung der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit in Gang setzt und sogar obwohl danach nichts mehr so zu sein scheint, wie es einmal war, zwischen und unter den Lagen neuer Ereignisse und Geschichte(n). In Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten verhält es sich genau umgekehrt. Denn trotz seiner scheinbar marginalen Rolle im Text wird es gleichzeitig zum Anfangs- und Endpunkt der Moderne. Krachts Roman spielt mit der Beziehung von Ereignis und Geschichte, indem er den scheinbar unaufhaltsamen Fortschritt der Moderne – immerhin lässt sich Lenin auch von der Zerstörung des gesamten russischen Reichs nicht davon abhalten, seine Revolution in Gang zu setzen – als höchst fragilen Prozess inszeniert. Es braucht, so suggeriert dieser Text, vielleicht nur ein einziges Ereignis, um das grundlegende Funktionsprinzip der Moderne außer Kraft zu setzen. Faszinierend und schrecklich zugleich wirkt das jedoch weniger wegen der Anhäufung von Kriegsbildern, sondern weil die Betroffenen es gar nicht merken. Das Ende, das Tunguska in diesem Text bedingt, braucht beinahe ein Jahrhundert, um sich als solches zu erweisen. Und obwohl der Protagonist – eine regelrechte Massenbewegung auslösend – die Schweiz/ SSR verlässt und so aus der im Leerlauf gefangenen Moderne aussteigt, ist nicht gesagt, dass damit ihr endgültiger Zusammenbruch besiegelt ist. Auch wenn diese ›Geschichte‹ mit einem Knall begann, wird ihr Ende ein zäher, von Leugnung geprägter Verfallsprozess, der sich auf unabsehbare, unendlich scheinende Zeit fortsetzt. Eine mögliche gesellschaftskritische Haltung des Romans bezieht sich dementsprechend nicht auf konkret zu identifizierende Mängel oder Fehlverhalten, sondern, so Dath, »wo es anderen darum geht, Romane gegen den Krieg oder den Totalitarismus zu schreiben, baut Kracht mit dem understatement echten, in sich ruhenden Größenwahns gleich ein Buch gegen die Geschichte als solche« (Dath 2008, o.S.). Damit wählt Krachts Roman ein anderes Register der »Alternate History« als Pynchon. Während jener in Against the Day permanent Möglichkeitsräume eröffnet, die er in der gleichen Bewegung wieder versinken lässt, spielt Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten einen dieser Experimentalräume aus. Der Text entwirft

II.3 Ereignis und Geschichte

so die Idee, dass es nur einen Moment, ein einziges Ereignis braucht, um Geschichte auf einen irreversiblen Kurs zu setzten und letztlich ins Nichts zu führen. Kurioserweise hat dieser Kurs keine Richtung mehr, weil die in diesem Prozess Gefangenen nicht einmal erkennen (können), dass sie ins Leere laufen. Pynchons und Krachts (alternative) Geschichten des 20. Jahrhunderts ähneln sich also, das zeigt der Vergleich, in ihrer Skepsis gegenüber modernen Geschichtsmodellen. Das Tunguska-Ereignis dient in beiden Fällen zur Erhellung beziehungsweise Offenbarung des unabänderlichen Kurses, der entgegen aller Beteuerungen in eine leere oder bedeutungslose Zukunft führt. Letztlich zeigen sie so, dass Veränderung und Fortschritt, die mehr sind als die Anhäufung von Dingen und Floskeln, unter den Bedingungen des Weitermachens um jeden Preis zu Illusionen/Fälschungen werden.

L ebende S chöpfungsfehler (S orokin) Pynchon zeichnet in Against the Day den Prozess der Einschränkung auf eine einzige (moderne) Geschichte nach, die Kracht in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten ins Extrem treibt und als einen Zustand von Aussichtslosigkeit inszeniert. In Vladimir Sorokins Ljod-Trilogie ist die Sinnlosigkeit beziehungsweise Fehlerhaftigkeit der menschlichen Geschichte hingegen nicht auf eine Entscheidung oder Entwicklung ihrer selbst zurückzuführen, sondern liegt in ihrer Existenz begründet. Bei Sorokin offenbart das Tunguska-Ereignis einer Gruppe Auserwählter, der ›Gemeinschaft des Lichts‹, die wahre Natur der Welt, indem sie ihre (christlich geprägte) ontologische Hierarchie auf den Kopf stellt.70 Für die Gemeinschaft des Lichts ist jede Form von organischem Leben abscheulich: So ist es bei ihnen Sitte, »nichts zu essen, was lebt. Auch nichts zu kochen und zu braten, zu schneiden und zu stechen« (Ljod, 223), sie lehnen die »irdische Liebe« als »Krankheit« (Ljod, 226) ab und benutzen statt der menschlichen Sprache die »Sprache des Herzens« (Ljod, 227). Obwohl der vegetarische Lebensstil anderes nahelegt, ist es jedoch nicht das Töten, das sie ablehnen, sondern die Existenz organischer Lebensformen insgesamt. Das Eis (Ljod), das im Mittelpunkt ihres Kults steht, stellt für sie einen Idealzustand dar: »[I]t is immovable, and must be kept in its frozen form lest it become its opposite, water, which caused the creation of this unstable, fallen world« (Pavlenko 2009, 274). Die (Schöpfungs-)Geschichte der Bruderschaft enthüllt sich dem ersten Bruder (Bro) im Kontakt mit dem Ljod. Die Berührung mit dem noch halb in den Sümpfen der sibirischen Taiga verborgenen Eis löst in Bro einen Gedankenstrom aus, der ihm die Kosmogonie dieser Bruderschaft in Form einer 70 | Vgl. Pavlenko 2009, 261.

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sein (fleischliches) Leben übersteigenden Erinnerung offenbart. Sie wird seitdem »nur von Mund zu Mund weitergetragen […] und [existiert] nicht auf dem Papier« (Ljod, 229). Dieser Kosmogonie zufolge existierte »im Anfang« nur das Licht, das aus 23.000 Strahlen bestand, die, wann immer sie sich vereinigten, neue Welten schufen. Bis zu ihrem »Großen Fehler« (Ljod, 230), der Schöpfung des Planeten Erde, existierten die Welten und das Licht in der Ewigkeit. Zeit und Leben spielen erst mit der Entstehung der Erde eine Rolle. »[D]er Planet Erde mit seiner Wasseroberfläche wirkte wie eine Spiegelkugel. Und in dem Augenblick, da wir [die Strahlen des Lichts, SN] dort auftrafen, von ihr zurückgeworfen wurden, hörten wir selbst auf, Lichtstrahlen zu sein, wurden zu körperlichen Wesen, Lebewesen […] doch in uns wohnte, wie zuvor, das Ursprüngliche Licht. Und wie zuvor waren wir 23000 an der Zahl. Nun aber verstreut über die Weiten des Ozeans« (Ljod, 230).

Das Ziel der Gemeinschaft ist es, alle 23.000 Lichtstrahlen wiederzufinden und ihre Herzen mithilfe von Hämmern aus dem Tunguska-Eis »aufzuklopfen«, um erneut einen »Göttlichen Kreis des Lichts« zu bilden, der den »Großen Fehler« ein für alle Mal ausmerzt. Evolution und zivilisatorischer Fortschritt sind für die Bruderschaft zwar notwendig – »Weil es sich in der Masse einfacher suchte, darum!« (BRO, 298) –, bleiben für sie aber verabscheuungswürdig wie alles Dynamische und Lebendige. Das Tunguska-Ereignis ist für die Bruderschaft also der Beginn des lange (unbewusst) ersehnten Endes der Welt, der Wiedergutmachung eines kolossalen Fehlers. Sorokins Trilogie stellt eine »Alternate History« dar, insofern sie eine grundsätzliche Umwertung vornimmt, die die anthropozentrische Perspektive der Moderne zugunsten einer alternativen ›Wahrheit‹ verschiebt. Leben, Menschlichkeit und Fortschritt, die höchsten Güter der modernen Welt, sind für die Gemeinschaft die niedrigsten Existenzformen des Universums. Aufgrund ihrer Einsicht in den Ursprung des Universums und der ›wahren‹ Ordnung der Dinge gelingt es ihnen, die Gesellschaften des 20. Jahrhunderts zu infiltrieren und sich so erfolgreich zu assimilieren, dass sie schließlich ihr Ziel erreichen. Trotz ihrer Fähigkeit, die Menschen im Wortsinn zu durchschauen, gestaltet sich das Ziel, 23.000 »ungeborene Herzen« unter Millionen Menschen auszumachen, nicht einfach. Die Suche verläuft auf zwei Wegen: einer strukturierten, aber Energie zehrenden Suche mithilfe des »Herzensmagneten« (BRO, 165), einer einzigartigen Verbindung zweier besonders starker Herzen, die es ermöglicht, die Herzen, die vor dem Erwachen stehen, in der Menge auszumachen, und einer weniger systematischen, dabei aber umso mehr (menschliche) Opfer fordernden Suche, bei der alle greif baren, blonden und blauäugigen Menschen mit den Eishämmern bearbeitet und ›aufgeklopft‹ werden.

II.3 Ereignis und Geschichte

Die drei Teile der Trilogie (Ljod, BRO und 23000) nehmen verschiedene Aspekte der Endzeit beziehungsweise der wiedererwachten Gemeinschaft des Lichts in den Blick. In Ljod geht es um die verschiedenen Formen der Suche nach den Geschwistern im post-sowjetischen Russland, BRO dreht sich um die Entdeckung des Eises im Tunguska-Meteoriten und den Anfang der Suche und 23000 handelt von der Erfüllung der Aufgabe und endet mit der Zusammenkunft der 23.000. Dabei entfaltet sich eine umfassende Geschichte des 20. Jahrhunderts, das aus der Perspektive der Bruderschaft zu Recht das letzte der Menschheitsgeschichte sein soll. Bereits zu Beginn von Ljod stellt sich die Gegenwart als eine Endzeit dar, die der in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten in kaum etwas nachsteht. Ljod. Das Eis, der zwar als erster Teil der Trilogie erschienen ist, chronologisch aber die Mitte der drei Texte bildet, enthält in seinen vier Abteilungen in nuce die gesamte Geschichte der Trilogie.71 Die zwei umfangreichsten Abschnitte des Romans kontrastieren die Methoden zur Rekrutierung der Mitglieder mit der Autobiografie eines ihrer mächtigsten Mitglieder. Die letzten beiden Teile enthalten die Anleitung und Kundenkommentare des »Wellness-Set ›Ljod‹« und, was allerdings erst in 23000 aufgelöst wird, einen Blick auf das letzte, der Bruderschaft noch fehlende »sehende Herz«. Ljod entwirft ein bitteres Bild der Gegenwart. Zwar ›funktioniert‹ die Welt, aber sie erscheint ziellos, grausam und moralisch vollkommen verdorben. Die drei Geschwister, die zu Beginn von Ljod erweckt werden, ein drogensüchtiger Gelegenheitsdieb, eine Prostituierte und ein Geschäftsmann, erlauben es Sorokin, Bereiche der Gesellschaft auf eine Weise zu porträtieren, die durch die ausweglose Art und Weise der Darstellung beinahe hyperrealistisch wirkt.72 Insbesondere beim Auftritt neuer Figuren fällt auf, dass der Blick ein scheinbar dokumentarisches (suchendes) Interesse sichtbar werden lässt, er reduziert die Figuren auf das Wesentliche, was besonders augenscheinlich zutage tritt, wenn die aufzuklopfenden Opfer der Bruderschaft auftauchen: »Uranow (30), groß, schmale Schultern, hageres, intelligentes Gesicht, beigefarbener Regenmantel. Rutman (21), mittelgroß, mager, flache Brust, gelenkig wirkend, blasses, unauffälliges Gesicht, dunkelblaue Bundjacke, schwarze Lederhosen. […] 71 | Das ist auch der Grund, warum eine Anordnung der Texte, wie Pavlenko sie vornimmt, die der inhaltlichen Chronologie, aber nicht der Erscheinungsreihenfolge folgt, nur wenig Sinn ergibt. 72 | Insbesondere die von Schimpfwörtern gespickte Darstellung sprachlicher Idiome und die Detailgenauigkeit der Beschreibungen von Wohnräumen und Figuren erwecken diesen Eindruck (vgl. u.a. Ljod, 48-49).

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Die Produktion der Katastrophe No. 1 – Mann Ende vierzig, dick, gepflegt, teurer Anzug. No. 2 – junger Mann, schwächlich, Hakennase, Pickel, schwarze Jeans und Lederjacke. Halbtransparentes Klebeband quer über die Münder« (Ljod, 10).

Der Prozess des Aufwachens verläuft in seiner Struktur immer gleich. Die meisten Brüder und Schwestern verspüren schon ihr ganzes Leben lang eine diffuse Sehnsucht, die sich oft in Träumen von Eis äußert, wehren sich jedoch zunächst vehement dagegen. Kräftige Schläge der massiven Hämmer aus Tunguska-Eis auf die Brust sollen das Herz zum Sprechen bringen. Wenn es seinen Namen äußert,73 fallen die Erwachten in Ohnmacht und werden in eine Aufwachklinik gebracht, wo ein Mitglied der Gemeinschaft mit ihren Herzen die erste Zwiesprache hält. Verschreckt flüchten die Erwachten und müssen feststellen, dass sie nicht mehr in ihre gewohnte Umwelt passen. Das Wort ›Herz‹, so achtlos es dahingesagt sein mag, verursacht einen mehrere Tage anhaltenden Weinkrampf, der sie zur Bruderschaft zurückführt. Das ›große Weinen‹ signalisiert den Übergang von der Gemeinschaft der »Fleischmaschinen« zur Gemeinschaft der Lebenden. Die Menschen erweisen in diesem Moment ultimativ ihre Unfähigkeit,74 was den Geschwistern des Lichts erlaubt, ihre Mitglieder zu sich zu holen und ihnen Geborgenheit zu bieten. Von außen gesehen bedient sich die Gemeinschaft einer effektiven Technik, um Mitglieder für ihre Sekte zu gewinnen. Sie verursachen selbst das Trauma – die Entführung und die Verletzung durch die Eishämmer, die Desorientierung durch die umgehende Aufnahme in ein angenehmes Umfeld –, das ihnen die verwirrten Neulinge letztlich in die Arme treibt. Im Laufe ihrer Geschichte haben sie gelernt, dass es effektiver ist, die Neulinge nicht festzuhalten, sondern ihnen die Möglichkeit zu geben, die Entfremdung von ihrer gewohnten, nun aber vollkommen überforderten Umgebung zu erleben. Die vom tagelangen Weinen Geschwächten erfahren beim Aufwachen, was mit ihnen passiert ist oder, in den Augen der Bruderschaft, die Wahrheit über sich selbst und 73 | Die Namen der Geschwister benennen in Ljod einen Großteil der Kapitel. Sie ersetzen die Menschennamen und sollen wie die ›Sprache des Herzens‹ ein nicht-sprachliches, ursprüngliches und deswegen ideales Gegenstück zur menschlichen Sprache darstellen. An den Namen der drei ›Aufgeklopften‹, deren Weg in Ljod nachgezeichnet wird (Ural, Diar und Moho) lässt sich bereits erkennen, dass sie zwar manchmal Worten ähneln (so klingt beispielsweise Chram, der Name der mächtigsten Schwester, wie das russische Wort für Tempel, vgl. Aptekman 2006, 676), ohne dass sich daraus jedoch sinnvoll ein Bedeutungszusammenhang ableiten ließe. 74 | »›Ich kann bis heute nicht begreifen‹, sprach Uranow gedankenverloren, ›warum die Leute immer gleich den Rettungswagen rufen, wenn einer anfängt zu heulen und nicht gleich wieder aufhört. Anstatt ihn zu trösten …‹« (Ljod, 169).

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die Welt: »Eure Herzen haben sieben Tage lang geweint. Es waren Tränen der Trauer und der Scham über ein zurückliegendes totes Leben. Jetzt sind eure Herzen geläutert. Sie müssen nicht länger weinen. Sie sind bereit, in Liebe zu sprechen« (Ljod, 170). Die drei Figuren, die zu Beginn von Ljod aufgeklopft werden, verspüren bis zum Moment des läuternden Weinens großes Misstrauen gegenüber der Gruppe, die sie als Sekte wahrnehmen und reflektieren damit nicht zuletzt die erwartbare Skepsis der Leser gegenüber einer solchen Gemeinschaft von blonden und blauäugigen Menschen, die behaupten, dass die Erlösung der Welt in ihrem Ende besteht. Dabei unterscheidet sich diese spezielle Soteriologie nicht zu sehr von anderen Heilslehren. Auch das christliche Weltbild verlangt nach einer Zerstörung der Welt und die in Ljod gezeichnete Heilserwartung speist sich, das zeigt Marina Aptekman, zu großen Teilen aus der kabbalistischen Lehre.75 Ganz ähnlich wie es bei Kracht nur bedingt nützt, seinen Roman auf einen (literarischen) Vorgänger oder eine bestimmte, vermeintlich kritische Richtung festzulegen, führt auch bei Sorokin – trotz aller Übereinstimmungen – der Versuch in die Irre, in der Bruderschaft eine einzige Glaubensrichtung wiederzuerkennen. Zwei miteinander verbundene Umstände belegen diesen Eindruck. Erstens handelt es sich bei der Bruderschaft dezidiert nicht um eine Glaubensgemeinschaft. Das Tunguska-Eis hat, so wird es im Roman dargestellt, einen physischen Effekt auf die Menschen, in deren Brust eines der 23.000 Herzen schlägt. Mit Skepsis nehmen das nur diejenigen auf, die (noch) nicht dazu gehören. Es ist zu einfach, die hier entworfene Bruderschaft bloß als Sekte abzutun, denn der zweite Umstand, ihre Fähigkeit zur Assimilation, entspinnt eine Geschichte, die im Zusammenschluss von Verschwörungs- und Erlösungsnarrativ das Narrativ des wirklichen 20. Jahrhunderts auf spektakuläre Weise unterläuft.76 Die beiden autobiografischen Erzählungen von Chram (im zweiten Teil von Ljod) und Bro verbinden die Zeitspanne von 1908 bis zur Gegenwart zu einer kontinuierlichen Geschichte. Damit entwerfen sie ein Gegenmodell zur Erzählung des Jahrhunderts als Zeit von weitreichenden 75 | »The notion of lost Light has been reflected not only in the kabbalistic but also in the Gnostic tradition. However, several details in the description of the sect suggest that it is not Christian Gnosticism but Kabbalah that influenced Sorokin’s interpretation of the theory of the lost Light. Gnosticism lacks the linguistic and numerological concepts that are extremely important to kabbalistic mysticism, and in particular it lacks the belief in the power of large numbers that is essential for both Kabbalah and Sorokin’s novel.« (Aptekman 2006, 675) 76 | »The normalized narrative of the real past has been shown to have implications for all historical fiction. The normalized narrative of the real past is less a rigid, concrete chain of events, than a dynamic, flexible, ever-changing story that is the tangible counterpart to something like ›collective memory‹« (Singles 2013, 281).

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Umbrüchen, weil weder die beiden Weltkriege noch der Fall des Eisernen Vorhangs für die Geschwister des Lichts von Bedeutung sind. Höchstens stellen sie eine Verlangsamung ihres Vorhabens dar, die aber dadurch aufgewogen wird, dass es den Mitgliedern der Gemeinschaft gelingt, sämtliche bestimmenden Systeme zu infiltrieren und zu ihrem Vorteil zu nutzen. Dadurch ergibt sich ein Bild, das den üblichen Gegenüberstellungen fundamental widerspricht. Wenn nämlich ein und dieselbe Gruppe im sowjetischen Russland (»Ljodland« [BRO, 328]), in Nazideutschland (»Ordnungsland« [ebd.]) und später auch im kapitalistischen Westen und in den USA (»Freiheitsland« [ebd.]) nicht nur zurechtkommt, sondern in höchste Führungspositionen aufzusteigen und diese Systeme zu ihrem Vorteil zu nutzen versteht, verschwinden fundamentale Unterschiede zwischen den Systemen hinter profanen Machtoperationen. Die Gemeinschaft bildet eine Parallelwelt, die sich nicht nur in ihren sozialen und physischen Gebräuchen, in der Sprache und in ihrem Bezug zur Welt von den sogenannten Fleischmaschinen unterscheidet. Ihre Sehgewohnheiten beziehungsweise ihre Wahrnehmungsfähigkeit, durch die sie das (für sie) Wesentliche 77 zu sehen vermögen, lassen sie Konflikte bereits erkennen, bevor sie ausbrechen, und sich dementsprechend verhalten. Der Bezug auf Ursprung, Wesenhaftigkeit und Unmittelbarkeit wird besonders deutlich dadurch illustriert, dass die Mitglieder der Gemeinschaft des Lichts nicht in der Lage dazu sind, medial vermittelte Bilder und Informationen zu erkennen,78 dafür aber auf einen Blick (ihrer Herzen) die persönliche Struktur der Fleischmaschinen erkennen, die ihnen sämtliche Begehren offenlegt und ihnen so ermöglicht, sie nach ihrem Willen zu manipulieren. Sie infiltrieren Konzentrationslager 79, Geheimdienste und Militär und gründen schließlich ein global

77 | Insbesondere in BRO wird die Fokussierung auf das Wesentliche häufig durch Hervorhebungen markiert, die sich insbesondere auf die Gefühle und Tätigkeiten der Herzen beziehen: »Und unsere Herzen zu sprechen anhoben« (BRO, 137), »Fer und Ep verstanden sofort« (BRO, 164), »Doch unsere Besorgnis wuchs« (BRO, 314). Sie markieren die Andersheit von Worten, Dingen und Tätigkeiten, die zwar auch für die ›Fleischmaschinen‹ eine Bedeutung haben, aber erst in der Gemeinschaft des ursprünglichen Lichts ihren wahren Sinn enthüllen. 78 | Fotos, Kinofilme und Fernsehen sind für sie, wenn überhaupt, nur verschwommen zu erkennen (vgl. Ljod, 262-263), der Praxis des Bücherlesens stehen sie ratlos gegenüber. »Hier hockten die Fleischmaschinen und hingen stumm einem sonderbaren Wahn nach: dem raschelnden Umwenden von bedrucktem Papier« (Ljod, 301). Dennoch sind Kinos, Konzerte und insbesondere Bibliotheken für sie aufgrund ihrer Anziehungskraft auf Menschen und damit auch auf schlafende Brüder und Schwestern besonders interessant. 79 | Vgl. BRO, 330-333.

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agierendes Unternehmen, das das Ljod als Wellness-Set, das halluzinatorische Erfahrungen, Selbsterkenntnis und Reinigung verspricht, vertreibt. Diejenigen, die durch das Tunguska-Eis zu sich selbst kommen, sind fortan beinahe vollkommen unabhängig von den Bedürfnissen der menschlichen Natur. Sie streben nur nach Macht, Kapital und Wissen, weil sie auf diese Weise ihre Geschwister finden können. Einzig die Sterblichkeit der Körper, an die sie gebunden sind, schränkt sie ein. Besonders eindrücklich wird der Unterschied zwischen Fleischmaschinen und beinahe allmächtigen Herzen in Chrams Bericht. Nach Stalins Tod verändert sich die Situation für die Gemeinschaft, weil plötzlich jedes einflussreiche Mitglied der alten Führungsriegen unter Verdacht steht. Chram gerät in Gefangenschaft, weil niemand ihre Verbindung zu den seltsamen Arbeiten im Gebiet der Steinigen Tunguska versteht und, in der politischen Logik der Zeit, in diesem Wissen einen strategischen Vorteil vermutet. Chram gibt sämtliche Geheimnisse preis: »Von der Bruderschaft sprach ich, von Ha und Adr, den 23 Wörtern. Das tat ich in der absoluten Gewissheit meines Herzens, dass sie mit unseren Geheimnissen nichts würden anfangen können. Den Fleischmaschinen war die Wahrheit zu nichts nütze – noch aus nächster Nähe konnten sie sie nicht sehen. das Göttliche Licht nicht wahrnehmen. […] Nicht, dass ich keine Schmerzen empfunden hätte. Doch es war anders als zu der Zeit, da ich eine Fleischmaschine gewesen war […] Jetzt hatte mein Herz allein das Sagen. Und an dieses Herz kam der Schmerz einfach nicht heran. Also existierte er getrennt von ihm« (Ljod, 285).

Die Trennung von Herz und Körper lässt Chram die drastischen Folterungen überstehen. Sie ermöglicht ihr, sich mit den anderen Herzen zu verbinden und von ihrer Kraft zu zehren. Durch ihr Wissen über das Wesen ihrer Peiniger kann sie, noch während sie selbst misshandelt wird, Bündnisse schließen, die schließlich zu ihrer Befreiung führen. Aber auch Oberst Lapizki, der sie rettet, kann nichts von ihr erwarten. Er wird umgebracht, sobald er für sie entbehrlich ist.80 Auf diese Weise hinterlassen die Brüder und Schwestern des Lichts riesige Leichenberge, die gar nicht auffallen, weil sie in den Massen toter Menschen verschwinden, die das 20. Jahrhundert ohnehin produziert hat. Der Parallelgesellschaft, die die Gemeinschaft offensichtlich und doch nicht erkennbar auf baut, gelingt schließlich der ultimative Coup: Sie machen Ljod zu einer Marke. Das erlaubt ihnen, den Rohstoff abzubauen, die Hämmer herzustellen81 sowie ihre gesamte Logistik in globalem Maßstab zu betreiben 80 | Vgl. Ljod, 297-300. 81 | Beides muss auf eine bestimmte Weise geschehen. Die Gemeinschaft beginnt schon früh damit, den Abbau des Eises in Sibirien und die Herstellung der Hämmer von Zwangsarbeitern (und nicht von wertvollen Mitgliedern) erledigen zu lassen. Zunächst

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und so ihr Ziel maximal effektiv zu verfolgen. 23000, der letzte Band der Trilogie, ist dementsprechend nicht mehr im Ton dokumentarischer Beobachtung oder autobiografischer Bekenntnisse verfasst, sondern oszilliert zwischen Wirtschaftsthriller und Verschwörungsplot. Während der Fokus der ersten beiden Teile der Trilogie auf der verfremdeten Perspektive der Bruderschaft auf das bekannt geglaubte 20. Jahrhundert liegt, werden im letzten Teil zwei Figuren eingeführt, die diesen Blick konterkarieren und, wie die Neulinge vor der Erweckung im ersten Teil von Ljod, einen (zunächst) skeptischen, ungläubigen Blick auf das Geschehen zulassen. Olga und Björn lernen sich über das Forum »icehammervictims.com« kennen, das überlebende Opfer der Attacken mit den Hämmern in Verbindung setzen soll. Die Vermutung, es gebe eine Sekte, die blonde und blauäugige Menschen entführe, um sie mit Hämmern aus Eis zu bearbeiten, wird auf dieser Erzählebene immer wieder als Verschwörungstheorie dargestellt. Die Firma »Ljod« gilt als zu sichtbar, um einen weltumspannenden Geheimbund zu decken.82 23000 knüpft unmittelbar an Ljod an. Der mit dem Eis spielende kleine Junge aus dem letzten Teil stellt sich als Träger des letzten »sehenden Herzens« heraus. Nur mit ihm gemeinsam gelingt es Chram in einem Flug um die Welt, die letzten, versteckt lebenden Herzen zu finden und die 23.000 auf der Insel zum »großen Kreis« zu versammeln.83 Es entsteht der Eindruck eines Wettlaufs mit der Zeit. Zu Beginn des Romans entspinnt sich ein absurd blutiges Kampfszenario,84 das sich zwar als »Fleischmaschinentraum« (23000, 36) erweist, aber unmittelbar Wirklichkeit zu werden scheint – jedoch in einer harmlosen Variante. »Mir zerfließt die Grenze zwischen den Welten«, klagt einer der Männer, die den Jungen entführten, »Fleischmaschinenträume kommen über mich« (ebd.). Der Druck, unter dem die Bruderschaft steht, wächst in jeder Hinsicht. Das letzte Eis/Ljod ist abgebaut 85, die »icehammerunter dem Deckmantel eines russischen Straflagers (vgl. Ljod, 296), später im Sinne der Gewinnmaximierung von chinesischen Billiglohnarbeitern und gekidnappten Blonden und Blauäugigen, die zu viele Fragen stellen (23000, 168-170). 82 | Vgl. 23000, 105-122. 83 | »Der Große Letzte Kreis« soll den ursprünglichen Zustand des Universums – ohne die Erde und ohne Leben – wieder herstellen. In einer Versammlung aller 23.000 Geschwister des Lichts, sollen die 23 Worte des Herzens gesprochen werden, um den »Großen Fehler [zu] berichtigen« (23000, 323-324). 84 | Vgl. 23000, 16-36. Die Männer, die den Jungen zur Bruderschaft bringen sollen, werden bei einer Reifenpanne von Polizisten überfallen. Die Flucht eines der Männer mit dem Jungen führt über abenteuerliche Stationen in eine Wohnung, von der aus er beobachtet, wie das »klumpende Fleisch« den Zugang zum Haus zubetoniert, bis er schließlich von einer »Tadschikenbande« umgebracht wird. 85 | Vgl. 23000, 68.

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victims« scheinen, wenn auch machtlos, der Bruderschaft auf den Fersen zu sein und Chrams Tage oder vielmehr die ihres Körpers sind gezählt. Der dritte Band der Ljod-Reihe endet schließlich kurioserweise damit, dass gleichzeitig das Ziel der Bruderschaft und ihr Ende realisiert werden. Am »16. Oktober 2005« vereinigen sie sich zum großen Kreis der 23.000 und werden trotz der beinahe ein Jahrhundert andauernden Mühe vernichtet. Diese Vernichtung ist allerdings nicht das Ergebnis äußerer Einwirkung. Im Gegenteil, alles scheint seinen vorbestimmten Weg zu gehen und doch sind Olga und Björn die einzigen Überlebenden auf der Insel. Sie befinden sich dort als Unterstützung der Bruderschaft. Die beiden »Weidwunden«86 halten zwei Mitglieder der Bruderschaft im Kreis, die ihrem (menschlichen) Körper nach noch Säuglinge sind. Im letzten Moment, so scheint es, verkehren sich die Verhältnisse und die beiden Menschen werden gerettet, weil sie nicht zur Gruppe der Außerwählten gehören. Ihre Zeugenschaft gründet auf ihrer Zwischenposition und doch können auch sie sich nicht erklären, was passiert ist. Das Ende der Trilogie, das gleichzeitig Erfüllung und Scheitern des Traums einer Wiederherstellung des »ursprünglichen Lichts« zu sein scheint, gibt keinen Hinweis darauf, dass sich die Überzeugung der Bruderschaft als falsch erweist.87 Vielmehr scheinen sie wirklich, das bezeugen die Weidwunden, einer Gemeinschaft von Wesen mit überirdischen oder nicht-menschlichen Kräften anzugehören. Doch das Überleben des Planeten und seiner Lebensformen ist auch nicht notwendig mit einem am Ende affirmativen, lebensbejahenden Blick der Ljod-Trilogie auf die Menschheit oder zumindest einem hoffnungsvollen Blick in das beginnende 21. Jahrhundert zu verwechseln. Olga und Björn sind der Lösung sehr viel näher: »Das alles […] Das ist gemacht … Stark gemacht. Festgemacht. Ganz fest … Da sind sie … kaputtgegangen dran. Kaputt an dem. An allem. Alle kaputt« (23000, 330). Die Erfahrung lässt die beiden Menschen mit dem Gefühl zurück, dass die Erde nun endgültig den Menschen gehört, dass »das alles […] für uns gemacht [ist] von Gott!« (23000, 331). Es kann sich dabei aber um keine Gottheit handeln, die wie die im selben Moment verschwundenen ›Strahlen des ursprünglichen Lichts‹ außerhalb des 86 | »Weidwunde sind die Zwischenlage zwischen uns und den Fleischmaschinen […] Nur sie sind fähig, uns die letzte äußere Stütze zu geben. […] Weil in ihnen die Sehnsucht nach dem Licht wohnt« (23000, 310). 87 | »While the story begins and continues even into the third part from the point of view of the brotherhood, the counter-view of the meat ›machines‹, presented in the final part, undermines the brotherhood’s doctrine and experience and exposes them as wrong and pernicious. Olga and Bjorn’s decision to return to the people seems to signal Sorokin’s own return to and an affirmation of the Christian and humanistic values of the sacredness of life and freedom and the capacity of natural human speech to reach God.« (Pavlenko 2009, 273)

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Planeten und des Lebens auf der Erde existiert. Es scheint sich vielmehr um die Persistenz der Erde selbst zu handeln, die so dominant ist, dass sie sogar ihre Schöpfer verschlingt, also alle Alternativen ultimativ ausschließt. Der Kreis der 23.000, dessen Überzeugung, Schöpfer der Welt zu sein, sich gerade nicht als falsch erweist, ist an seiner eigenen Schöpfung »kaputtgegangen«. Wie Viktor Frankenstein erfasst hier den Schöpfer Furcht und Ekel vor seiner eigenen Kreatur und auch hier vernichtet diese Macht sich selbst bei dem Versuch, ihren Fehler zu korrigieren. Wie Narziss hat werden die ›Lichtstrahlen‹ beim Anblick ihres Spiegelbildes in der mit Wasser bedeckten Erdkugel in sie hineingezogen88 und ›ertrinken‹ in ihrer Reflektion. Das Tunguska-Ereignis, das ihnen (ein letztes Mal) ihre wahre ›Natur‹ enthüllt, wird von ihnen letztlich ebenso missverstanden wie von den Menschen.89 Es ist nicht das Zeichen für das nahende und von ihnen herbeizuführende Ende der Welt, sondern es läutet ihr eigenes Ende ein. Es ist zu lesen als Spur, die auf das Andere der Welt verweist, aber auch zum Beginn einer Prüfung wird, die die Erde beziehungsweise das Leben offenbar bestehen kann. Der Blick auf die verdorbene, sich selbst verschlingende Gemeinschaft der (modernen) Fleischmaschinen wird an dieser Stelle zwar nicht gänzlich zurückgenommen, jedoch erweist sich »Alles«, das heißt die Verbindung des Lebens, der Menschen und des Planeten als haltbar. Die esoterische, exklusive Sprache des Herzens verschwindet und mit ihr die letzte Gemeinschaft, die sich – anscheinend berechtigt – als höhere Wesen begreifen konnten. Anstatt jedoch darin, wie Pavlenko, ein emphatisches Plädoyer für Humanität und menschliche Kultur (vor allem Sprache), Gleichheit und Gemeinschaft zu lesen, legt der Untersuchungszusammenhang etwas anderes nahe: eine durchaus bewundernde Verwunderung angesichts der Fähigkeit, das Leben unter allen Umständen fortzusetzen. Der ›Große Fehler‹, das Leben als Ganzes, hat sich erfolgreich verselbstständigt und als Einheit (»Alles«) bewährt. Diese Interpretation sowie die Funktion des Ereignisses im Text verbinden Sorokins Darstellung des Tunguska-Ereignisses mit denen von Kracht und Pynchon. Obwohl das Tunguska-Ereignis bei Sorokin wesentlich ausführlicher 88 | Vgl. Ljod, 230. 89 | In allen drei Bänden der Trilogie wird auf die (später durch die Bruderschaft unterstützte) Unfähigkeit der Menschen hingewiesen, die Bedeutung des Tunguska-Ereignisses angemessen einzuschätzen, indem auf einige Elemente des Tunguska-Diskurses angespielt wird. So werden die Wissenschaftler, die an der Erforschung des Ereignisses arbeiten, »zu Pseudo-Wissenschaftlern degradiert« (Ljod, 301). Bro begegnet Leonard Kulik, den er als »die Fleischmaschine mit deren Hilfe ich [Bro, SN] zum Ljod gelangt war« (BRO, 326) bezeichnet, während des Ersten Weltkrieges wieder, als dieser »in Kriegsgefangenschaft geraten [war] und sterben [würde], ohne zu erfahren, was damals wirklich vom Himmel gefallen war. [Kulik] wusste gar nicht, was das war: Ljod« (ebd.).

II.3 Ereignis und Geschichte

zur Darstellung kommt, ist seine Funktion in ähnlicher Weise gekennzeichnet. In allen drei Texten dient das Ereignis dazu, die Welt nach 1908 und damit die endgültig etablierte Moderne zu reflektieren. Alle drei Texte zeigen diese Kultur als unaufhaltsam in ihrem Willen (und ihrer Fähigkeit), sich selbst fortzusetzen und um jeden Preis weiterzumachen. Dabei lässt sich jedoch keiner der Texte auf eine einfache, weil eindimensionale Kritik an ›der‹ Moderne festlegen. Vielmehr verhindert der Einsatz des Tunguska-Ereignisses beziehungsweise seiner rätselhaften Eigenschaften und seiner dadurch erhaltenen Offenheit eine so ›einfache‹ Lösung und ermöglicht es den Texten, verschiedene Ebenen miteinander zu verknüpfen. Das Tunguska-Ereignis wird bei Pynchon, Kracht und Sorokin in seiner besonderen Qualität, das heißt als ein Ereignis, das verschiedene Potenziale realisieren kann, nicht nur erkannt, sondern auch dargestellt. So entziehen sich die Texte in ihren darauf auf bauenden, mehrschichtigen Darstellungen des 20. Jahrhunderts der (scheinbaren) Notwendigkeit, ›Kritik‹ zu üben (wenigstens eine Modernekritik, die nur die negativen Aspekte zu sehen vermag), und können sich stattdessen den epistemischen und ästhetischen Bedingungen von Moderne zuwenden. Das Tunguska-Ereignis erweist sich in diesen Texten, wie weiter oben festgestellt, als entscheidend, wenn auch nicht (notwendig) zentral. Eine Reflexion der endgültig realisierten Moderne respektive des 20. Jahrhunderts mag ohne eine Darstellung des Tunguska-Ereignisses auskommen, umgekehrt ist es jedoch nicht denkbar. Die hier untersuchten Texte spielen auf komplexe Weise mit den Potenzialen des Ereignisses – Weltuntergänge, alternative Geschichte(n), Hinweise auf außerirdische, außerzeitliche oder göttliche Räume –, weil sie dadurch einen der zentralen Mythen des 20. Jahrhunderts zur Darstellung bringen können: den von der endgültig realisierten und damit wahr gewordenen Moderne, die sich (allein) durchsetzt und dadurch selbst aufhebt. Das ist interessant, weil hier Latour gewissermaßen nach Skript umgesetzt wird: Bei Pynchon, Kracht und Sorokin müssen die Modernen nicht nur feststellen, dass sie ›nie modern gewesen sind‹, sondern dass ihre Existenz darauf beruht beziehungsweise davon abhängt, dass es Nicht-Modernes gibt. In den Versionen des 20. Jahrhunderts, die hier untersucht werden, hat die Moderne so viel Erfolg, dass es nach Tunguska nichts mehr außerhalb der Moderne gibt. Damit gibt es aber auch keine Moderne(n) mehr, weil es kein Außen mehr gibt, von dem sie sich abgrenzen kann. Daher rührt die Eindimensionalität der Geschichte, ihr Stillstand im Krieg und – irgendwie paradox – ihre Unzerstörbarkeit. Hier wird das Tunguska-Ereignis zur letzten Katastrophe der Moderne, weil es die entscheidende und in ihrer Effizienz einmalige ›unumkehrbare Wendung‹ verursacht. Die moderne, säkularisierte Apokalypse, die Pynchon, Kracht und Sorokin inszenieren, ist die letzte, weil sie den Kollaps des modernen, linearen Fortschrittsmodells verursacht und weil sie sich, weitgehend unbemerkt, unter dem Deckmantel dieses Zeitregimes ereignet und eben nicht

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das Ende der Welt oder den Untergang ›der Menschheit‹ bedeutet. Indem sich die Moderne(n) selbst universalisiert(en), offenbart sich ihre Außergewöhnlichkeit und damit die Rechtfertigung ihrer (hegemonialen) Vormacht­stellung als Illusion, leeres Ritual und ihr eigener Mythos.

Schluss »Sie können machen, was sie wollen. Die Welt ist langweilig und deswegen kann es weder Telepathie noch übernatürliche Erscheinungen oder fliegende Untertassen geben. Die Welt wird von ehernen Gesetzen regiert und das ist unerträglich langweilig. Diese Gesetze werden leider nicht verletzt – lassen sich nicht verletzen. Hoffen Sie nicht auf fliegende Untertassen, das wäre viel zu interessant« (STALKER 1979).

Wer die Zone in der Hoffnung betritt, dort eine grundsätzlich andere Ordnung vorzufinden als außerhalb, muss sich auf eine Enttäuschung gefasst machen. Bezeichnenderweise ist es in Tarkowskis STALKER der Schriftsteller, nicht der Professor, der davor warnt, die Zone in der Hoffnung zu betreten, dort ließe sich etwas anderes als Langeweile, Gesetz und Ordnung finden. Wie die Zone scheint auch das Tunguska-Ereignis eine Möglichkeit zu eröffnen und sogar die Hoffnung zu beflügeln, dass die Programme der Moderne sich geirrt haben könnten. In einer ordentlich ausdifferenzierten Welt ist zwar kein Platz für Unerklärtheit und schon gar nicht für Unerklärbarkeit und doch, so scheint es, gibt es noch Dinge, die sich der modernen Verfügbarkeit entziehen, egal wie viele Truppen von Wissenschaftlern, Polizisten oder Soldaten man aussendet, um sie zu erklären oder wenigstens vom Rest der Welt abzuschotten. Tunguska kann so zum Schlupfloch für eine Fantasie von wunderbarer Wirklichkeit werden, in der die Langeweile der rationalen Welt keine Geltung mehr hat. Genau das Gegenteil ist aber der Fall. Tunguska, so die These dieser Arbeit, ist eine Katastrophe für die Programme der Moderne. Allerdings nicht deswegen, weil sie ein Tor zurück in eine andere, vormoderne Wirklichkeit ist, in der »in jedem Haus ein Hausgeist [lebte], in jeder Kirche Gott« (STALKER 1979), sondern weil sie die Praktiken, mittels derer Ordnung hergestellt wird, offenlegt und infrage stellt. Tarkowskis Zone ist ebenso wie ihr Vorbild in Picknick am Wegesrand als Ort radikal vom Rest der Welt unterschieden, ohne dass man erklären könnte warum. Im Film wird diese Andersheit noch stärker als Bestandteil der Welt

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markiert als in der Erzählung der Strugatzkis. Die Zone sieht anders und nicht anders aus, sie ist fremd und bekannt, unberührt und zerstört. Während die Zone der Strugatzkis voller seltsam aussehender Objekte und scheinbar den Naturgesetzen widersprechender Phänomenen ist, gleicht sie bei Tarkowski der Außenwelt bis auf wenige, aber fundamentale Unterschiede; sobald der Stalker, der Professor und der Schriftsteller die Zone betreten, wird die dargestellte Welt farbig, sie ist still und, so der Stalker, »so schön«. Die moderne Außenwelt ist nur noch in Bruchstücken vorhanden, als Überrest einer Zivilisation, die nur noch sichtbar, aber nicht mehr hörbar oder spürbar ist.1 In der Schönheit der Zone liegt aber Gefahr. Gleich den Gegenständen, die Schuchart in Picknick am Wegesrand aus der Zone holt, ist auch das Ziel der illegalen Expedition in STALKER, der Raum der Wünsche, Segen und Fluch zugleich. Denn die Erfüllung der innersten Wünsche setzt nicht voraus, dass diese dem Bewusstsein des Wünschenden bekannt sind, sie entzieht sich gänzlich seiner Kontrolle. Im Zentrum der Zone liegt ein Ort, der, wenn man so will, ein modernes Mysterium offenbart. In der Annahme des Schriftstellers, die Welt sei langweilig (geworden), liegt also ein fundamentaler Fehler. Sie beruht nämlich auf dem eindimensionalen, nach außen und ausschließlich in die Zukunft gerichteten Blick der Moderne. Ähnlich radikal wie die Inszenierungen des Tunguska-Ereignisses als Abschaffung des Außen bei Pynchon, Kracht und Sorokin nimmt die Darstellung des Tunguska-Ereignisses als qualitative Veränderung des Inneren, ohne es direkt zu thematisieren, das Kernproblem der Unerklärbarkeit auf und transformiert es zu einem narrativen, mythischen Kern und somit zu einer Störung der modernen Ordnung. Denn auch wenn die moderne Welt ohne Hausgeister, Götter und fliegende Untertassen auskommen muss, erweist sie sich hier als alles andere als langweilig. Dass Stalkers Tochter (Äffchen) am Ende des Films nicht krank ist, sondern scheinbar übersinnliche Fähigkeiten besitzt, kann somit anstatt eines Einbruchs übersinnlicher Mächte in die Welt als Möglichkeit gelesen werden, dass die Beschreibungsmechanismen der Moderne zu kurz greifen, um zu verstehen, was in der Welt vor sich geht. Magische oder übersinnliche Lösungen, wie sie in Hohlbeins Die Rückkehr der Zauberer oder Andrés Schamanenfeuer angeboten werden, affirmieren diese Ordnung, wie gezeigt wurde, indem sie der vermeintlichen Langeweile einer radikal natürlichen und erklärbaren Welt ein Außen entgegensetzen, das keinen Platz in der rationalen Ordnung der modernen Programme finden kann. Diese Affirmation wird sowohl in den Geheimnis- und Verschwörungsstrukturen deutlich, auf denen die Texte auf bauen, als auch in den Überzeugungsstrategien, mit denen die Protagonisten und Leser zu Eingeweihten dieser 1 | Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass die Szenen, die außerhalb der Zone spielen, von den Geräuschen fahrender Züge unterlegt sind.

Schluss

Plots werden. Demgegenüber gelingt es denjenigen Bearbeitungen des Ereignisses, die es als Teil der begreif baren Natur darstellen, die Methoden der Begriffsbildung in den Blick zu nehmen. Anders gesagt, die Inszenierungen des Tunguska-Ereignisses als Natur gehen nicht davon aus, dass ›wir‹ nicht sehen können, was wirklich passiert (und Auserwählte benötigen, die, im Geheimen operierend, dafür Sorge tragen, dass die Welt nicht untergeht), sondern dass Wirklichkeit nicht in ein zweigeteiltes Schema passt. Sieht man Tunguska modern und untersucht es innerhalb der Ordnung entweder als natürliches Ereignis, das heißt als von Naturgesetzen abhängiges und (nur) innerhalb dieser beschreibbares Phänomen, oder als kulturelles Ereignis, also als literarisches Motiv oder als Gegenstand von Legendenbildung, wird man ihm nicht gerecht werden können – nicht nur deswegen, weil dadurch die Einflussnahme der unterschiedlichen Darstellungen aufeinander unentdeckt, sondern weil sein Reflexionspotenzial ungenutzt bliebe. Liest man Tunguska hingegen als selbst produzierte Katastrophe der Moderne(n), als unumkehrbare Wendung beziehungsweise als Phänomen, anhand dessen sich die Programme der Moderne – Wissenschaft, Fortschritt, Rationalität – als solche messen lassen müssen, gelingt es, von der ständigen Ablösung eines Programms durch das nächste Abstand zu gewinnen. Es geht also nicht darum, die modernen Programme als fehlgeleitet zu identifizieren – dazu sind sie zu erfolgreich –, sondern einen Weg zu finden, Natur und Kultur als bedingte und ineinander verwobene Aspekte ein und desselben Phänomens zu untersuchen. Das ist ein unverzichtbares Projekt, denn auch wenn die Einsicht, dass die Trennung zwischen den Kulturen eine virtuelle ist, inzwischen Grundlage vielfältiger Untersuchungen ist, bleibt die Kluft zwischen den Kulturen aktiv. Die Untersuchung des Tunguska-Ereignisses bietet sich deswegen als Vorläufer für weitere Studien an, die von der Mitte ausgehen, weil seine Offenheit in Hinblick auf die fehlende Ursache leichter zu etablieren ist als bei anderen Phänomenen.2 Das heißt nicht, dass sich nicht auch hier gegensätzliche Auffassungen gegenüberstehen, sondern dass die rhetorischen Strategien der 2 | Diese Untersuchung bietet demnach nicht nur eine systematische Aufarbeitung des Tunguska-Diskurses, sondern legt, indem sie den produktiven Vergleich unterschiedlicher Stimmen eines Diskurses exemplarisch vorführt, auch die Grundlagen für eine Reihe weiterer Gegenstände, die sich der Unterordnung unter die moderne Trennung von Natur und Kultur erfolgreich entziehen. So ließen sich die hier gewählte Perspektive und Herangehensweise u.a. auch im Zusammenhang der kulturwissenschaftlichen Untersuchung des anthropogenen Klimawandels, Fragestellungen des Ecocriticism (z.B. in Hinblick auf das Verständnis von Natur als Ressource) oder des Verhältnisses von Mensch und Technik (z.B. in Bezug auf den katastrophalen Einsatz von Technologien oder auch auf die Entgrenzung von Technik und Natur) gewinnbringend einsetzen.

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Opponenten nicht umhinkönnen, diese Offenheit anzuerkennen. Wichtiger als die Ursache des Ereignisses oder seine mögliche zukünftige Erklärung, das hat die Untersuchung gezeigt, sind also seine kulturellen Auswirkungen respektive die mit ihm verknüpften Narrative. Nur wenn in Betracht gezogen werden kann, dass es sich gleichzeitig in der Peripherie und im Zentrum der realisierten Moderne ereignet, ist es möglich, das Tunguska-Ereignis in seiner gesamten Reichweite zu untersuchen. Betrachtet man Tarkowskis STALKER als Arbeit am ›Mythos Tunguska‹, wird deutlich, warum das Ereignis trotz seiner zeitlichen und räumlichen Begrenztheit die hier aufgezeigte Reichweite erreichen konnte und exemplarisch für die Untersuchung anderer Natur-Kultur-Hybride einstehen kann. Wie bereits für Picknick am Wegesrand – und ähnlich für Lems Solaris – herausgestellt, verweigert der Film von vornherein die Bereitstellung einer Erklärung für die Entstehung der Zone. Gleichzeitig wird ihre außergewöhnliche Qualität und Gefährlichkeit für diejenigen, die sie ohne die nötige Erfahrung und ohne den nötigen Respekt betreten, eindrücklich herausgestellt. STALKER reduziert die Darstellung des Umfelds der Zone sogar noch weiter als die ihm zugrundeliegende Erzählung und verstärkt damit den Eindruck ihrer Unverfügbarkeit sowie der Unmöglichkeit, sich ihr zu entziehen. Die Angst davor, was geschehen wird, und das Unwissen über das, was geschehen kann, stehen in scharfem Kontrast zum Anspruch der modernen Wissensgesellschaft, Risiken nicht nur benennen, sondern auch berechnen zu können. Die Zone wird aber wie Tunguska deswegen zum Risiko, weil sie unkalkulierbar ist. Wo nicht einmal erahnt werden kann, welche Beziehung zwischen Mensch und Natur, Kontingenz und gerichtetem Eingreifen sowie zwischen Wirklichkeit und Fantasie besteht, aber gleichzeitig die Existenz des Phänomens und, im Fall der Zone, seine Gefährlichkeit außer Zweifel steht, werden Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit massiv unterlaufen. Die einzig verfügbare Möglichkeit bleibt der Ausschluss aus dem Diskurs respektive die Abschottung der Zone vor der Welt und umgekehrt. Auf diesem Gebiet, so inszeniert es der Film, können sich nur solche Akteure bewegen, die ebenso hybrid sind wie die Zone selbst. Schriftsteller und Professor brauchen den Stalker (weder Held noch Schurke, weder gelehrt noch unwissend), dessen Interesse sich nicht einmal direkt auf die Zone oder den Raum der Wünsche richtet, um unbeschadet, wenn auch nicht unverändert, hinein- und hinauszukommen. Ohne diese Interpretation überstrapazieren zu wollen, lässt sich hier festhalten, dass es Ereignisse, Phänomene, Dinge gibt, die einen solchen hybriden Blick verlangen, weil sie sich sonst nicht in Gänze oder gemäß ihren Potenzialen beschreiben oder begreifen lassen. Dass STALKER so intensiv mit der

Schluss

Todeszone um Tschernobyl identifiziert wurde3, liegt vor allem an den strukturellen Ähnlichkeiten der Räume. Der verstrahlte Raum um das havarierte Atomkraftwerk scheint ebenfalls von einer unsichtbaren Kraft verändert worden zu sein, sodass »man kaum mehr glauben [kann], dass der Film sieben Jahre vor dem 26.4.1986 in die Kinos kam, denn der Film ist wie eine Vorwegnahme einer Reise in die Zone um Tschernobyl.« (Sexl 2013, o.S.) Auch Tschernobyl wird mit dem (teilweise bestätigten) Verdacht assoziiert, dass Wissen und Information über das Ereignis bewusst verschleiert oder verfälscht wurden. Darüber hinaus wird hier sichtbar, dass die zuständigen Institutionen mit der Bewältigung der Katastrophe nicht nur überfordert waren, sondern dass es die Unfähigkeit der Verantwortlichen war, die sie überhaupt erst auslöste. Die Zone im Film und die Zone um das havarierte Atomkraftwerk werden so gleichermaßen zum Ausweis und Mahnmal der Unverfügbarkeit von Natur beziehungsweise der Hybris von vollständiger Natur- und Technikbeherrschung. Tschernobyl wird durch diese scheinbare Präfiguration des Ereignisses im Film darüber hinaus mit dem Anschein der Unerklärbarkeit umgeben, die den Inszenierungen des Tunguska-Ereignisses anhaftet. Obwohl der Ablauf der Havarie und das Verhältnis von technischen und menschlichen Fehlleistungen detailliert untersucht wurden und mittlerweile weitgehend bekannt sind, bleibt offenbar ein Rest, der sich anscheinend in der Stille und Langsamkeit des Films besser anschaulich machen lässt als in Schadenslisten, Statistiken und Sicherheitsplänen zur Verhinderung zukünftiger Unfälle. Dieser Rest ähnelt insofern Eigenschaften der Tunguska-Katastrophe, als er einen prinzipiell unverfügbaren Faktor sichtbar macht: Kontingenz. Selbst der im Nachhinein erklärten Katastrophe haftet die Unverfügbarkeit an, die in Tunguska so prominent ist. Hier liegt sie nicht in der Unkenntnis der Ursache, sondern in der Tatsache, dass trotz sorgfältiger Planung, Risikokalkulation und technischen Fortschritts aus dem Zusammenwirken von Mensch und Technik erneut ein Naturereignis emergieren könnte, das nicht rückgängig zu machen ist. Auch hier geht es nicht allein um Tatsachen, sondern um die sich im Zusammenspiel zwischen natürlichem Ereignis und kultureller Ereigniskonstruktion entwickelnden Hybrid-Ereignisse, Szenarien und Mythen, auf deren Grundlagen Entscheidungen über zukünftiges Handeln getroffen werden (müssen). Die eigentliche Katastrophe ereignet sich auch hier nicht auf der Ebene des Materiellen, sondern ist eine Produktion, die der Bewältigung und Einordnung des Ereignisses dient und gleichzeitig Auskunft über das Selbstbild der Kultur gibt, die die Katastrophe erklärt.

3 | Vgl. u.a. Martin Sexl »Die Zone als heterotopischer Sehnsuchtsort« XVI. Tagung der DGAVL »Literatur und Ökologie. Neue literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven« Saarbrücken 10.6.-13.6.2013 [Vortragsmanuskript].

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Der Ansatz, das Tunguska-Ereignis nicht innerhalb einer Kultur zu untersuchen – also nicht alle Texte als Literatur zu lesen –, sondern als Hybrid zu analysieren, hat gezeigt, dass die Erklärung und Inszenierung einer Katastrophe selbst als Arbeit am Mythos der Moderne verstanden werden muss. Die Anschlussfähigkeit dieses Ereignisses beziehungsweise seiner Eigenschaften und Inszenierungen weist es als Punkt innerhalb eines Netzwerkes von Fakt und Fiktion aus, der die Unterscheidung insofern unterläuft, als die aus den Inszenierungen des Ereignisses gezogenen Schlüsse und die in die Darstellungen des Ereignisses eingegangenen Elemente naturwissenschaftlicher Forschung und fiktionaler Bearbeitung anderer Phänomene sich im TunguskaEreignis zu einem eigenständigen Ding verbinden. Tunguska kann nicht in den unterscheidenden Begriffen einer Moderne erfasst werden, die nicht in der Lage dazu ist, Natur und Kultur zusammen zu denken. Die Existenz solcher Hybride zu leugnen, heißt auch, zu ignorieren, dass der Erfolg und das Fortbestehen der modernen Zivilisationen auf der Anerkennung eben dieser Mischgebilde beruht. Kategoriale Unterscheidungen mögen die Welt geordneter wirken lassen, sie laufen jedoch Gefahr, Katastrophen zwar zu produzieren, ihre Konsequenzen jedoch außer Acht zu lassen. Vertrauen in fachspezifisch generiertes Wissen und Experten wird, so lässt sich am Tunguska-Ereignis zeigen, durch die Ignoranz von Nicht-Wissen und das Bestehen auf der Trennung von Natur und Kultur nicht gestärkt, sondern begünstigt die Entstehung von Zonen, die solchen Tatsachen Raum verschaffen, die sich ihrer Hybridität nicht einmal bewusst sein müssen, um Schaden anzurichten. Je sichtbarer die (potenziell) katastrophischen Folgen des ungebremst sich fortsetzenden technologischen und kulturellen Fortschritts für die natürliche und kulturelle Umwelt werden, desto dringlicher werden die Warnrufe und die Forderungen nach weiterem Fortschritt. Wenn aber wiederum nur jeweils ein einziger Aspekt der Moderne in den Blick genommen wird – entweder zivilisatorischer Fortschritt oder Umweltschutz, entweder Nachhaltigkeit oder Konsum, entweder Gleichberechtigung oder Wettbewerb –, wird sich kein (hybrider) Mittelweg finden. Die Behauptung der (gesetzlose) Raum des Hybriden als nicht existent oder unzugänglich, anders gesagt, seine Abschottung, ist nicht in der Lage zu verhindern, dass in diesem Raum Wissen entsteht oder entwickelt wird, das außerhalb dessen wirksam wird. So kann die ideologische Unterwanderung von naturwissenschaftlichem Wissen oder seiner politischen Instrumentalisierung nur abgewendet werden, wenn Untersuchungen genau diese Zone hybrider Tatsachen in den Blick nehmen. Nicht mit dem Ziel der Reinigungsarbeit, sondern um einen Umgang mit unsicherem Wissen zu ermöglichen, der informierte Entscheidungen erlaubt.

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Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.) Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 2015, 406 S., kart., 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3078-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3078-1

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Literaturwissenschaft Tanja Pröbstl Zerstörte Sprache – gebrochenes Schweigen Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen 2015, 300 S., kart., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3179-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3179-5

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Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.) Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7. Jahrgang, 2016, Heft 1 Juli 2016, 216 S., kart., 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8376-3415-0 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3415-4

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