Tannhäusers heimliche Trauer: Über die Bedingungen von Rationalität und Subjektivität im Mittelalter [Reprint 2014 ed.] 3484150807, 9783484150805

Das Buch wendet sich mit seinen verschiedenen Forschungsebenen nicht nur an ein germanistisches, sondern an ein breitere

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German Pages 342 [340] Year 1998

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Tannhäusers heimliche Trauer: Über die Bedingungen von Rationalität und Subjektivität im Mittelalter [Reprint 2014 ed.]
 3484150807, 9783484150805

Table of contents :
I Zu Tannhäusers Hofzucht
1 Vorbemerkung
2 Überlieferung und Textkritik
3 Rationalität der Form und semantische Analyse
4 Exkurs: Ein zweites Tannhäuserbild?
5 Hofzucht und Zivilisationsprozeß
Exkurs: Zur Kritik der Elias-Duerr-Debatte
II Das Bußlied der Jenaer Liederhandschrift
1 Vorbemerkung
2 Zur Überlieferung
3 Zur Form
4 Zur Interpretation und Gattungsbestimmung
4.1 Zu Sieberts Verortung des Jenaer Stücks
4.2 Inhaltlich mit dem Bußlied verwandte Strophen in J
4.2.1 Texte
4.2.2 Analysen
4.3 Zu den neueren Interpretationen des Büßliedes
5 Exkurs: Die Legende vom Büßer
5.1 Ein Seitenblick auf die Ballade vom Tannhäuser
5.2 Der thanhauser der gibt eyn gut ler
III Tannhäuser als Leichdichter
1 Vorbemerkung
Exkurs: Tannhäusers Rätselspruch
2 Zur Überlieferung
3 Leich I oder Die Wut des Verstehens
3.1 Zur Form
3.2 Zur Interpretation
4 Leich II und III oder Tote Witze bei Tannhäuser?
4.1 Zur Form
4.2 Zum Interpretationsansatz
4.3 Zur Interpretation von Leich II
4.4 Zur Interpretation von Leich III
Exkurs: Zur Psychogenese der Albernheit
5 Kursorische Bemerkungen zu den Leichs IV-VI
5.1 Zu Leich IV
5.2 Zu Leich V
5.3 Zu Leich VI
6 Minnesangs Wendungen. Zum Jargon der Uneigentlichkeit
6.1 Zu Hugo Kuhns ›Minnesangs Wende‹
6.2 Zu Hermann Apfelböcks ›discordia ficta‹
7 Tannhäuser und der deutsche Leich
7.1 Tannhäusers literaturgeschichtliche Stellung
7.2 Das deutsche Leichkorpus im Überblick
7.3 Anmerkungen zum deutschen Leichkorpus
Exkurs: Tannhäuser und Ulrich von Winterstetten
7.4 Zur Literaturgeschichtsschreibung des Leichs
IV Tannhäuser als mittelalterlicher Autor
1 Vorbemerkung
2 Autorkonzepte
2.1 Zum Verschwinden des Autors
2.2 Interesse am Autor
2.3 Zum Beispiel Tannhäuser
Exkurs: Zum Konzept eines ›textus receptus‹
3 Tannhäuserprofile
3.1 Zur Echtheit von Tannhäusers Werken
3.1.1 Zu den C-Texten
3.1.2 Zum Bußlied
3.1.3 Zur Hofzucht
3.2 Zur Rekonstruktion von Tannhäusers Leben
3.3 Tannhäusers heimliche Trauer
Epilog: Der Autor als Utopie
Anhang: Textabdruck von Bußlied und Hofzucht
Literatur
Personenregister

Citation preview

HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON HANS FROMM, JOACHIM HEINZLE HANS-JOACHIM MÄHL U N D KLAUS-DETLEF MÜLLER

BAND 80

HEINZ KISCHKEL

Tannhäusers heimliche Trauer Über die Bedingungen von Rationalität und Subjektivität im Mittelalter

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1998

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kischkel, Heinz: Tannhäusers heimliche Trauer : über die Bedingungen von Rationalität und Subjektivität im Mittelalter / Heinz Kischkel. - Tübingen : Niemeyer, 1998 (Hermaea ; N.F., Bd. 80) ISBN 3-484-15080-7

ISSN 0440-7164

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Buchbinder: Geiger, Ammerbuch

Vorbemerkung

Die vorliegende Studie schaut immer wieder über die Grenzen des eigenen Faches hinaus in fremde Disziplinen, z.B. in Soziologie und Psychoanalyse. Kunst- und Musikwissenschaft werden ebenso berührt wie philosophische Diskurse. Der Verfasser versteht dieses Vorgehen nicht als dogmatisches Erfordernis einer zeitgemäßen Germanistik, sondern eher als eine Frage des Temperaments. Mein Lehrer und Förderer Helmut Lomnitzer hat solche Ausflüge in fremde Reviere stets kritisch begleitet. Er hat mich während der Marburger Studienjahre in vielen geduldigen Diskussionen gelehrt, meine zentrifugalen Neigungen zu kanalisieren und damit für das Fach fruchtbar zu machen. Seinen ihn aus schwerer Krankheit erlösenden Tod im vergangenen Jahr habe ich, wie viele andere auch, als tragisch empfunden. Heute bleibt mir nicht mehr, als ihm diese Arbeit in treuem Angedenken zu widmen. Den Weg in die Veröffentlichung verdankt dieses Buch ganz wesentlich Joachim Heinzle, der viele der nachstehenden Diskussionen anregte und an anderen Stellen bereits entscheidende Beiträge dazu publiziert hat. Ihm und den anderen Herausgebern danke ich für die Aufnahme des Buches in der Reihe »Hermaea«, der DFG für den großzügig gewährten Druckkostenzuschuß. Die musikwissenschaftlichen Abschnitte habe ich außer mit Herrn Lomnitzer auch mit dem Hamburger Musikwissenschaftler und Komponisten Gino Romero Ramirez, die Diskussion um den modernen Autorbegriff mit dem Hagener Schriftsteller Fritz Nagel, jetzt Rheinhausen, besprochen. Schließlich danke ich Frau Meike Rahner für die Anfertigung des hier reproduzierten >TannhäuserMinnesangs Wende< 6.2 Zu Hermann Apfelböcks >discordia ficta< Tannhäuser und der deutsche Leich 7.1 Tannhäusers literaturgeschichtliche Stellung 7.2 Das deutsche Leichkorpus im Überblick 7.3 Anmerkungen zum deutschen Leichkorpus Exkurs: Tannhäuser und Ulrich von Winterstetten . . . 7.4 Zur Literaturgeschichtsschreibung des Leichs

IV

Tannhäuser als mittelalterlicher Autor

1 2

Vorbemerkung Autorkonzepte 2.1 Zum Verschwinden des Autors 2.2 Interesse am Autor 2.3 Zum Beispiel Tannhäuser Exkurs: Zum Konzept eines >textus receptus< Tannhäuserprofile 3.1 Zur Echtheit von Tannhäusers Werken 3.1.1 Zu den C-Texten 3 . 1 . 2 Zum Bußlied 3.1.3 Zur Hofzucht 3.2 Zur Rekonstruktion von Tannhäusers Leben 3.3 Tannhäusers heimliche Trauer

3

Epilog: Der Autor als Utopie

139 139 144 147 152 158 164 164 170 173 177 179 184 192 192 198 204 209 213

217 218 218 237 248 254 259 259 260 260 266 272 278 '

285

Anhang: Textabdruck von Bußlied und Hofzucht

293

Literatur

317

Personenregister

329

VIII

Einleitung

Diu weh verswiget mtniu leit und saget vil lützel iemer, wer ich bin. Reinmar, M F

i55,27f.

D e r N a m e Tannhäuser gehört zu den wenigen Beispielen aus der mittelhochdeutschen Literatur, in denen ein Dichter als Gestalt viele Jahrhunderte überdauerte und fast ohne Abriß der Kontinuität bis in die Gegenwart aktuell blieb. 1 A m Anfang stand ein Lyriker, von dem wir in den Texten der Großen Heidelberger Liederhandschrift (C) kaum mehr als die Spuren seiner Existenz erfahren. Selbst von seinen Sprüchen und Liedern ist vielleicht nur eine bescheidene Auswahl erhalten, wenn er, wie man vermuten darf, den größeren Teil seines Lebens als fahrender Sänger unterwegs war. U m diesen Dichter soll es im folgenden gehen, seine Nachwirkung, die ihn in eine Legende verstrickte, mit deren Inhalt er selbst kaum in Verbindung zu bringen sein dürfte, wird bewußt ausgeblendet und lediglich in einem Exkurs beleuchtet. Die Kontinuität seines Namens hat dem Dichter nicht geholfen, in der Erinnerung der Literaturgeschichte lebendig zu bleiben, eher hat sie sich wie ein Schleier über ihn gelegt und ein Nachdenken über ihn ohne die Assoziation der Legende fast unmöglich gemacht. Es ist daher eine Aufgabe der Forschung, den Autor von seiner Mythisierung zu scheiden. Dies wäre am einfachsten zu erreichen, wenn man ihn mit den Gedichten in C identifizieren und alles übrige der Legende zuschreiben würde. Ein solcher Weg wird hier nicht beschritten, die Frage, was der historischen Figur Tannhäuser zugehört haben mag, zunächst offen gelassen für zwei weitere Texte. Diese beiden, eine >Hofzucht< und ein >Bußlied Welschen Gast< auch Konrads von Haslau >Der J ü n g l i n g e Dieser wird auf um 1 2 8 0 datiert, Tannhäusers Hofzucht von Glier selbst auf die Mitte des 1 3 . Jahrhunderts - die Stücke liegen also in etwa gleichzeitig, eine Priorität gilt eher für Tannhäuser. — Z u den Siglen vgl. Winkler (Anm. 8), S. 2of.

12

w

i

Wien, Österreichische'Nationalbibliothek,Cod. Vind. 2885, Bl. J 9 v a - 4 i v b . Papierhandschrift, zweispaltig beschrieben von Johannes Götschl, 1393 in Innsbruck, tirolischer Dialekt, Innsbruck, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Cod. FB 3 2 0 0 1 , Bl. 26ra— 2 7 * . Papierhandschrift, zweispaltig beschrieben, um 1456 im Raum Innsbruck/Meran, tirolischer Dialekt. 52 Miniaturen, meist am unteren Blattrand, den Textanfängen zugeordnet.'6

Als jüngere Handschrift ist i offensichtlich in engster Anlehnung an w entstanden, wobei i eine Auswahl aus w präsentiert, welche einige wenige Gedichte ausgeklammert, ansonsten dem Bestand in w kein weiteres Stück vergleichbarer Provenienz hinzugefügt hat, am Schluß allerdings zwei Bruchstücke aus Konrads von Stoffeln 1 7 >Gauriel von Muntabel< (3807 Vv.) und Rudolfs von Ems > Willehalm von Orlens< (45 Vv.) anhängt. Daß Tannhäusers Hofzucht in beiden Handschriften als Nr. 20 rangiert, verdankt sich dem Umstand, daß der Ausfall der Nr. 1 9 aus w durch eine Umstellung in i kompensiert wird: die Nr. 3 7 , >Das Schneekind Kulturgeschichten Zeilenstil< mit variablen Melodiekombinationen, wie er in der Tannhäuser-Kontrafaktur >Sion egredere< begegnet: a, g, d [hier: a, T], 6] in verschiedenem Kontext, d [6] als Ganzschlußmelodie funktionalisiert.« 23 Ebenso lautet auch das Gesamturteil von Thomas: »The whole form resembles the structure of a Leicb.«24 Geht man nun, mit allen Herausgebern, von der Versikelrepetition aus, bietet sich zweifellos trotz der Endendifferenzierung des zweiten und dritten Versikelpaares die Annahme gleicher Verszahlen für korrespondierende Versikel an, und so wie A aus vier und B aus drei bestünde C demnach aus vier Versen, was durch C' reimtechnisch belegt wird und — mangels stärkerer Kriterien — auf C zu übertragen ist. Hält man die Abschnitte nebeneinander, ergeben sich deutliche Ubereinstimmungen, sowohl metrisch wie musikalisch, wobei der Schlußvers in C sichtlich länger ist als in C', was kaum als Argument für einen noch längeren Schlußvers angeführt werden kann: V. V. V. V.

15 16 17 18

4h 3ih

4

5i-

a

e l

=>

V.

=>

V. V. V.

=>

19 20 21 22

4X 3k4y 7k-

a T1 X

6"

Melodisch sicher bleiben nur die Einschnitte mit der absteigenden Quinte g-c in Vers 16 und 20, der Halbschluß auf c in 18 sowie der Ganzschluß auf d in 22. Für die Bestimmung von Versgrenzen innerhalb der melodischen Schlußzeile 2 1 + 2 2 gibt diese nichts her, zumal schon ihre musikalische Motivabfolge von Pickerodt-Uthleb, Thomas und Apfelböck je verschieden aufgefaßt werden konnte. Dieser sequenzähnliche Bau 2 5 wird nun als Strophenform benutzt und ist als vierstrophiges Gebilde überliefert. Insofern handelt es sich selbstredend nicht um einen Leich, der prinzipiell unstrophisch gebaut ist, wenngleich auch er die Wiederholung ganzer Abschnitte als höhere Versikelresponsion kennt. Es wurde bereits bei Diskussion der Hofzucht-Form darauf hingewiesen, daß Tannhäuser in einigen seiner Leichs lange strophische Abschnitte benutzt. Somit scheint wiederum der Reinheit des rationalen Gattungsbegriffs die freiere Rationalität bewußt entgegengesetzt worden zu sein. 23

Ebd. T h o m a s (Anm. 1 3 ) , S. 4 2 . 35 A u f eine Diskussion der Bauform nach Gennrich wird hier verzichtet. V g l . A n m . 1 5 . 24

76

Und noch einen weiteren Begriff scheint der Autor des Bußliedes hier in ähnlicher Manier zu überspielen: den des religiösen Liedes. U m zu einer genaueren Bestimmung des Bußliedes zu gelangen, ist eine inhaltliche Analyse erforderlich, die allein Aufschluß über den inneren Zusammenhalt der Strophen zu geben vermag.

4

Z u r Interpretation u n d G a t t u n g s b e s t i m m u n g

4.1 Z u Sieberts Verortung des Jenaer Stücks Wie bereits in der Vorbemerkung erwähnt, zitiert Siebert das Bußlied in seiner Ausgabe unter der alle weitere Beschäftigung präjudizierenden Überschrift: »Die Sage. (1.) Bußlieder und andere dem Tannhäuser in den Mund gelegte Gedichte« 2 0 und bespricht es anschließend allein unter dem Aspekt seiner Echtheit. U m diese über die formalen und textimmanenten Begründungen hinaus in Zweifel ziehen zu können, subsumiert er das Jenaer Stück einer Gruppe von Meisterliedern und anderen Stücken, die er der Kolmarer Liederhandschrift und fünf weiteren, teils früheren, teils späteren Quellen entnimmt. Insgesamt zitiert Siebert elf Textnummern mit zwölf Stücken, von denen, wie kurze Bemerkungen zu den Stücken erkennen lassen, die ersten neun (Nr. 1—8) als Bußlieder bzw. deren »Nachklang« (Nr. 8) verstanden werden, die drei letzten (Nr. 9 — 1 1 ) als »andere dem Tannhäuser in den Mund gelegte Gedichte«. Damit suggeriert Siebert die Existenz eines Liedtypus innerhalb der Gattung Bußlied, der mit dem Namen Tannhäuser spezifiziert würde. So setzt sein Kommentar gleich mit der Bemerkung ein: »Wie die vorhergehende Zusammenstellung zeigt, gab es Bußlieder, die dem Tannhäuser in den Mund gelegt wurden, in größerer Zahl, als die bisherigen Veröffentlichungen erkennen ließen.« 27 Der besagte Liedtypus wird sodann genauer charakterisiert: »Sie sind alle Tannhäuser in den Mund gelegt, zum größten Teil auch in einem ihm zugeschriebenen Tone gedichtet. Alle zeigen ihn als Büßer, der sich zwar seiner schweren Sünden bewußt ist, aber doch an der göttlichen Gnade nicht verzweifelt. Viele Wendungen kehren in gleicher oder ähnlicher Form wieder«, 2 8 und es folgen zwölf Belege, von denen allerdings nur zwei Formulierungen aus dem Jenaer Bußlied stammen (Text nach Siebert): Jf., das Stück als Leich aufzufassen, mit dessen Vortrag der vorgeblich stets ironisch agierende Dichter sein Publikum vorsätzlich verwirrte, muß wohl als gescheitert betrachtet werden: die Strophe ist viel zu kurz, hat daher auch keine echte Leichstruktur, keine semantischen Leichsignale, besonders fehlt Tannhäusers ich\ und absurde Kunst, wie Thomas sie hier unterstellt, war dem Mittelalter wohl noch fremd. 9 Paule (Anm. 4), S. 3 1 1 . Genau genommen müßte der erste Satz andersherum lauten, denn nach Paules vorausgegangener Darstellung verbindet Spruchreihen und Rätsel thematisch wenig, nämlich lediglich die »Objektivität aufgereihter Fakten« (ebd. S. 3 1 0 ) , formal aber nichts (vgl. ebd. S. 3o8f.). " V g l . Tomas Tomasek, Das deutsche Rätsel im Mittelalter (Hermaea N F 69), Tübingen 1 9 9 4 , S. 2 7 7 - 2 8 6 . 7

124

als in Sieberts Ausgabe, wenn man die Verse des zweiten Rätsels als zäsurgereimte Langzeilen auffaßt, so wie Siebert bereits die Verse 3.4 mit dem Zäsurreim herwider : sider. Dann ergibt sich folgendes Strophenschema: 11 7 7 7 7 9 7 3 7 9 3 7 9

ab ab ccd d eef f

Ez sluoc ein wtp ir man ze tode und al ir kint geswinde sluoc si ze tode, seht, daz was dem man unmazen zorn. ze tode sluoc er si herwider und allez ir gesinde sluoc er ze tod, doch wurden sider kint von in geborn. Got hiez werden einen man, der nie geboren wart von frouwen libe. diu vater noch muoter nie gewan, die nam er im ze wibe. Dar nach ein hunt erbal, daz alle liute, die do lebten, horten sinen schal. Diu erde ist hoher danne der himel, daz hänt die wisen meister wol befunden hie vor bi manegen stunden. Ein kint daz sluoc den vater sin, do'z in der muoter was, do er den andern kinden sanc von got und in die rehten wärheit las.

Auch wenn man den metrischen Einrichtungsvorschlag Tomaseks nicht im Sinne eines Beweises bestätigen kann, bleiben die daraus ableitbaren Resultate beachtlich und ansprechend und beziehen von dorther eine gewisse Wahrscheinlichkeit: In dieser Textherstellung wird offenbar, daß Tannhäusers Rätseldichtung in m e trischer Hinsicht eine Weiterentwicklung seiner eigenen Spruchtonmuster darstellt: A u f einen kreuzgereimten Aufgesang folgt in den Spruchtönen des Tannhäusers stets ein paargereimter Abgesang. [ . . . ] Z u s a m m e n mit den genannten Zäsurreimen machen diese Maßnahmen [metrischer Variation] die Strophe zu einem kleinen >Ziergebilde Apfelböcks Kritik an Kuhns Leichtypen wird später diskutiert. Gegen Siebert 1934, S. 94, werden die vier Schlußverse, mit dem Reimschema: aaxa, als ein Versikel behandelt.

140

Leichs empfindet man die Wiedergabe sehr unterschiedlicher quantitativer und qualitativer Differenzen durch dasselbe Mittel der Buchstabensukzession als unbefriedigend. Kuhn greift deshalb zusätzlich auf die Apostrophierung A' A für Endendifferenz und Indizierung A A r für Varianz zurück. Doch vor Tannhäusers drittem Leich versagt auch dieses Verfahren; Kuhns Bauschematafel, in die zusätzlich die Versikelzählung Sieberts aufgenommen wurde, bietet nur ein trauriges Muster der Unanschaulichkeit. 64 Der tatsächliche Prozeß, durch den sich der Leich aufbaut, läßt sich am besten noch als >Metamorphose< kennzeichnen, wobei sich aus den beiden in den Anfangsversikeln vorgestellten Grundtypen alle folgenden ableiten lassen, ausgenommen die beiden daktylischen Versikel, von denen der zweite (26) wiederum eine Abwandlung des ersten (22) darstellt. Um die Zusammengehörigkeit der Ableitungen zumindest anzudeuten, wird der erste Grundtyp, zuerst in Versikel 1, mit A , der zweite, zuerst in Versikel 2, mit D und der dritte, zuerst in Versikel 2 2 , mit G markiert und dann jeweils alphabetisch fortgesetzt. Die Typen B , C stammen entsprechend von A ab und die Typen E, F von D. Die Auftaktverhältnisse, die keinesfalls mehr System in den Bau eintragen würden, bleiben zur einfacheren Darstellung wieder unberücksichtigt. Da Siebert sie gelegentlich durch Konjekturen geregelt hat, bedürfte ihre Analyse zusätzlicher Diskussion, die so erspart werden kann. Daktylische Verse werden in den Schemaformeln mit einem D herausgehoben, Binnenreime durch eingeklammerte Reimtyppärchen (aa), (bb). U m eine kompakte Wiedergabe zu erreichen, werden gleiche Hebungszahlen in unmittelbar aufeinanderfolgenden Versen nicht wiederholt; somit bedeutet die Formel 3-abab für den ersten Versikel, daß es sich um vier kreuzgereimte Verse mit je gleicher Hebungszahl und klingender Kadenz handelt: Versikel

Bau

Typ I

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

3-abab 4aa 3-b 7-bb 4aa 3-b 7-bb 4aa 3-bb 3-aaabb 3-aaabb 4aa 3-b 7-bb 4aa 3-b 40c 3-b 7-b 4aabb 4aa 3-b 7-bb 3-c 7-c

A

64

Typ II

Typ III

D D A, B B D D, A2 E

Vgl. Kuhn (Anm. 2), S. 132. Die zweite Großstrophe, die Kuhn ab Versikel 10 andeutet, beginnt beispielsweise mit: B 2 (JO)D(=B,I 1).

141

Versikel

Bau

11 12 13

2aab 4(bb) 4b 3-c 7-cc 3-d 7-d 4aa 3-bb 4aa 3-bbcc 4a 3-b 4a 3-b 4aa 3-bb 4aa 3-b 7-bb 4aa 3-b 7-b 4aa 3-b 4CC 3-b 7-b 4aa 3-bcbc 4a 4(aa) 3-bb 4aabb

1

4

15 16

17 18

19 20 21 22 23

4Daa

4aa 3-bbbb

4aa

24 25

4aaaaaa 2Daaxa

26

Typ I

Typ II

Typ III

F A,

c

A, A, D

c,

D2 D,

A4 A2

G C2

A5 C,

G

Die Mittel zur Metamorphose, wie Kadenztausch, Reimumstellung, Binnenreim, Versergänzung oder Versaufspaltung, sind so vielfältig, und der Umschlag von Quantität, durch Indizierung anzuzeigen, in Qualität, die einen neuen Formbuchstaben erfordert, ist so schwierig zu bestimmen, daß die bloße Wiedergabe der subjektiven Entscheidungen einen Willkürakt darstellte. Das heißt indes nicht, daß die Form des Leichs objektiv unbestimmt ist, die Versikeltypen und ihre Derivate lassen sich einwandfrei erkennen, nur gehorchen sie keinerlei strophischer Rationalität wie etwa in Leich II oder wie auch die fortlaufende Versikelrepetition der Sequenz, sondern einem evolvierenden Muster. 05 Die von Kuhn angedeutete Dreigliederung des Leichs mit den Versikelgruppen 1—9, 1 0 — 2 1 und 22 — 27 läßt sich kaum rechtfertigen, ein Einschnitt ist allenfalls flir den Schlußteil plausibel zu machen, der von den Daktylen in den Versikeln 22 und 26 eingerahmt wird und die einzigen Reimhäufungen in den Versikeln 23 und 25 aufweist. Unter dem Aspekt der fortschreitenden Versikelevolution sollte jedoch der Leich wohl als Einheit beschrieben werden: A D D A, B B D D, A j E F A, C A j A, D D 2 D, C, A 4 A 2 G C 2 A , C, G, Unabhängig davon mag die Melodie einmal dem Ohr ein klareres Strukturbild vermittelt haben. Daß dieser Leich direkt von Waithers mit doppeltem Kursus ausgestatteter Mariensequenz abhängig sei, hat J . A. Huisman zwar behauptet, 66 65 66

Ein ähnlich komplexes Muster realisiert später Frauenlob in seinem Minneleich. Vgl. Johannes Alphonsus Huisman, Neue Wege zur dichterischen und musikalischen Technik Walthers von der Vogelweide. Mit einem Exkurs über die symmetrische Zahlen-

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aber kaum überzeugend darlegen können. Da nun vieles in dem Buch etwas verfehlt scheint, kann auch leicht jener bemerkenswerte Hinweis untergehen, der zumindest eine auffällige Parallele zwischen beiden Leichs aufdeckt: 6 7 L. 6, 1 1 - 1 6 : Die niht geriuwent zaller stunt hin abe unz üf des herzen grünt, dem wisen ist daz allez kunt, daz niemer sele wirt gesunt, diu mit der Sünden swert ist wunt, sin habe von gründe heiles funt. Tannh. III, 1 2 0 — 1 2 5 : So saelic si min Künigunt! solt ich si küssen tüsentstunt an ir vil rosevarwen munt, so waere ich iemer me gesunt, diu mir das herze hat verwunt vaste unz üf der minne grünt. Es ist gewiß denkbar, daß hier der Zufall waltet und zwei bis in den R e i m identische Versikeltypen in ansonsten recht verschiedene Leichs plaziert hat; der durchaus geläufige R e i m auf -unt impliziert einen limitierten Reimwortschatz, der wie von selbst ähnliche semantische Signale wie wunt: gesunt auslösen kann. Doch hätte der Zufall hier noch weitere Indizien verstreut, um sich zu tarnen. Das einzige nicht von Walther stammende Reimpaar Künigunt:

munt hat Tannhäuser in seinem ersten Leich in Versi-

kel 3 6 benutzt. Im dritten Leich hat er den Reim auf sechs Verse amplifiziert, und alle neuen Reimwörter finden sich auch in Walthers Leich, sie finden sich dagegen nirgends sonst bei Tannhäuser. Und der Versikeltyp in der Gestalt C , findet sich ebenfalls lediglich an dieser einen Stelle. Auch wenn die relative Chronologie der Leichs I und III nicht zu sichern ist, bleibt es doch sehr wahrscheinlich, daß Tannhäuser hier eine Reminiszenz an Walthers Leich wecken will. Inhaltlich schließen die Verse allerdings nicht an den religiösen Leich, sondern an Walthers von Pastourellenmotivik inspiriertes Lindenlied an, das ebenfalls den gleichen R e i m t y p benutzt: komposition im Mittelalter (Studia Litterana Rheno-Traiectina 1), Utrecht 1 9 5 0 , S. 1 1 0 — 115. Ä7 V g I . ebd. S. i n . Huisman spricht beständig vom 2. Leich, meint aber den dritten, wie auch richtig in der von ihm angegebenen Ausgabe der >Liederdichter< von Bartsch und Golther vermerkt ist.

143

L. 39, 2 6 - 2 8 : kuster mich? wol tüsentstunt: tandaradei, seht wie rot mir ist der munt. Es ist wohl nicht abwegig, Tannhäuser die Kenntnis beider Stücke und den anschließenden Import eines Doppelzitats zuzutrauen, das gleichsam ein Lindenlied in Leichform signalisiert.

4.2 Z u m Interpretationsansatz Die zentrale Frage, welche durch die beiden Leichs II und III Tannhäusers ausgelöst wurde, galt der in ihnen aufscheinenden Pastourellenthematik. Bis zur Untersuchung von Sabine Christiane Brinkmann 6 8 war die Existenz der Gattung in der mittelhochdeutschen Lyrik umstritten, und ihr Forschungsergebnis bringt zwar einige Klarheit, doch keine eindeutige Entscheidung: » A m Ende unserer Untersuchung der deutschsprachigen Pastourellen angelangt, kommen wir zu der überraschenden Feststellung, daß die Gattung zwar in den verschiedensten Ausprägungen drei Jahrhunderte lang in Deutschland rezipiert wurde, daß sie sich jedoch während dieser Zeit nicht wirklich hat durchsetzen können«. 6 9 Insbesondere fehlt die aus der Gattungskonsistenz erwachsende Variabilität, die man als Entfaltung einer Gattung empfinden könnte. Stattdessen gibt es eine frei flottierende Pastourellenmotivik, die in andere Kontexte implantiert werden konnte. Zudem greifen die Dichter weniger auf ihre deutschsprachigen Vorgänger als immer wieder auf die romanischen Verwalter der Gattung zurück. Beides g i l t nach Brinkmann auch für Tannhäuser, den sie einer »idyllischen« Pastourellenvariante zurechnet: »Tannhäusers Pastourellenleiche sind sicher nicht von Walthers 7 4 , 2 0 [nach Brinkmann die erste mittelhochdeutsche

>idyllische< Pastourelle] oder

auch von den inzwischen in Deutschland entstandenen Pastourellen Neidharts und Neifens ausgegangen. Wie sich zeigen wird, beruhen sie auf einer erneuten Auseinandersetzung mit altfranzösischen Beispielen.« 7 0

68

V g l . Sabine Christiane Brinkmann, Die deutschsprachige Pastourelle. 1 3 . bis 1 6 . Jahrhundert ( G A G 3 0 7 ) , Göppingen 1 9 8 5 . 69 Ebd. S. 280. 7 ° E b d . S. 2 0 1 . Die entschiedene Ablehnung von Waithers Einfluß klingt hier ein wenig wie eine apotropäische Formel. Man muß jedoch keine monokausale Entstehung annehmen, Tannhäuser kann durchaus neben der Auseinandersetzung mit Waither auch von der R o mania beeinflußt sein.

144

Das Problem der Gattungskonsistenz ist identisch mit dem des Gattungsbegriffs. Formschwankungen im allgemeinsten Sinne gibt es vor und nach der Begriffsreflexion. Solange die Sache noch nicht auf ihren Begriff gebracht ist, wird man die Varianz in den gleichsam begriffssuchenden Phänomenen als ein Umkreisen der Definition empfinden, teils als eine Unsicherheit in der Formgebung, teils als ein Verschütten der Inhalte über nicht adäquate Gefäße. Ist aber Gattungsbewußtsein vorhanden, empfindet man die Variabilität als Entfaltung des Begriffs, die schematische Erfüllung befriedigt nicht lange, deshalb suchen die Dichter nach Gestaltungsmöglichkeiten an den Gattungsgrenzen, die, wenn sie gefunden sind, schließlich die Transzendierung provozieren. Die Schwierigkeiten, im konkreten Fall zu entscheiden, ob ein Begriff noch nicht oder nicht mehr erfüllt wird, werden noch dadurch verschärft, daß sie nicht epochenförmig beantwortbar sind. Z u m einen ist es selbstverständlich, daß die einzelnen Dichter auf sehr unterschiedlichen Reflexionsniveaus operieren — Walthers Umgang mit sämtlichen lyrischen Gattungen ist in seiner Zeit wohl einmalig —, wobei sie zu recht divergierenden Gattungsbegriffen gelangen können, 7 1 und zum anderen unterliegt der gesamte Reflexionsprozeß eben jener mittelalterlichen Rationalität, die nicht apriorisch mit unserer gegenwärtigen identifiziert werden darf. 72 Brinkmanns Untersuchung ist eine ausgezeichnete Studie dieser Phänomene. Sie unterteilt die deutsche Pastourelle in drei Typen, die klassische, idyllische und obszöne Variante, und weist zugleich nach, daß die Gattung im deutschen Mittelalter im strengen Sinn gar nicht existierte. In diesem Paradoxon hält sie die Diskussion zu Recht offen, die nun noch einmal an Tannhäusers Beispiel ventiliert werden kann. Bevor jedoch die Deutungen Brinkmanns und Tervoorens 73 diskutiert werden, muß die inhaltliche Gestaltung beider Leichs kurz skizziert werden, auf die sich nämlich wesentliche Aussagen der Forschung beziehen. Dabei entdeckt sich eine von der Forschung bislang kaum beachtete Korrespondenz von Form und Inhalt, insofern dem fast strophischen, in Kuhns Terminologie »rationalen« 74 Bau 71

Vgl. die Beispiele mittelalterlichen Gattungsbewußtseins, wo gelegentlich willkürliche, auch durch Reimpositionen mitbedingte Typenkataloge präsentiert werden. Das wohl prominenteste Beispiel findet sich bei Reinmar dem Fiedler (KLD Nr. 45, III,i), u.a. mit tageliet : klügeltet, hügeliet : zügeliet. Die Textzeugnisse sammelt und wertet: Günther Schweikle, Minnesang (Sammlung Metzler 244), Stuttgart 1989, S. n j f . 72 So sollte man vielleicht nicht nach Hegeischen Begriffsreflexen im Mittelalter suchen, man würde sie nämlich dort finden, und genau das wäre das Mißverständliche. Daher wird von Dialektik hier nur im heuristischen Sinn gesprochen. 75 Vgl. Helmut Tervooren, Z u Tannhäusers II. Leich, ZfdPh 97 (1978), S. 24—42. 74 I n Abgrenzung vom dritten Leich spricht Kuhn (Anm. 2), S. 1 3 2 , vom »rationalen Parallelismus« des zweiten.

145

des zweiten Leichs eine ebenso klare, deutlich markierte Gliederung des Inhalts entspricht, dem dritten, sich in Metamorphosen entwickelnden Leich kommt eine vorsätzliche Verwirrung der Inhaltsstruktur zu, wobei ähnlich wie in der Form zwei Grundtypen, hier: >ErzählebenenMinnesangs Wende< bedeutet, denn bei Ulrich wird die von Kuhn so energisch eingeforderte Vermeidung der EpigonenFormel in ihrer blassen Substitution durch den Schematismus-Begriff nur rhetorisch verwirklicht, faktisch jedoch konterkariert. Darauf wird noch eigens genauer eingegangen. Zuvor sollen die aus den drei ersten Leichs gezogenen Erkenntnisse anhand der drei verbleibenden verifiziert werden. Da es darüber hinaus lediglich um Nuancierungen gehen kann, genügt ein kursorischer Durchgang durch die Leichs mit einzelnen Stellungnahmen zu den bislang geäußerten Forschungspositionen. 5. i Z u Leich IV Seit Spanke 1 9 3 2 über die lateinische Kontrafaktur Sion egredere die wahrscheinlich auch zu Tannhäusers viertem Leich gehörige Melodie entdeckte, hat dieser Leich die größte Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden. Insbesondere hat Bertau mit seinen Hypothesen in >Sangverslyrik< wertvolle, auch über >Minnesangs Wende< hinausweisende Erkenntnisse über die Form, zumal das Verhältnis von metrischem und musikalischem Bau, mitgeteilt. Ihm ist nicht nur die überaus pessimistische Einschätzung zur melodielosen Leichformbestimmung zu verdanken: »Deswegen scheint es geraten, auf metrische Formschemata von Leichs, deren Melodie verloren 128

Ein analoges Problem stellt sich der Epik mit dem Übergang zur programmatischen Fiktionalität der Artusromane. M i t dem Wechsel von der pseudo-historischen zur Märchenlogik erhebt sich unmittelbar das Kontingenzproblem in neuer Dimension: Warum wird so erzählt und nicht anders? Wodurch etwa legitimiert sich das arthurische Strukturmodell? V g l . dazu Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den A n fängen bis zum Ende des 1 3 . Jahrhunderts, 2., Überarb. u. erw. Aufl., Darmstadt 1 9 9 2 , bes. Kap. V - V I I u. I X .

164

ist, ganz zu verzichten«, 1 2 9 sondern auch eine inhaltliche Gliederung des vierten Leichs, die hier freilich nicht übernommen wird. Bertau hat sich an anderen Aspekten abgearbeitet als am Inhalt, der ihm mehr als dunkel erschien. So verbindet er seine beinahe prophetische Warnung vor der Sinn-Interpolation mit einem vernichtenden Urteil: »Die Geschichte der Künste zeigt immer wieder, [ . . . ] daß Machwerke, die >ihrem Begriffe zuwider, nur als Mittel< fungieren, mit Patina zu ästhetischen Reizobjekten werden können. Tannhäusers vierter Leich wird eher als historisches Dokument denn als autonomes Kunstgebilde anzusehen sein.« 1 3 0 Das haben zuvor Lang und hernach Paule, die freilich beide vom autonomen Kunstwerk — vielleicht zu Recht - gar keinen Begriff geben, anders gesehen, und so braucht an dieser Stelle zwei ausführlichen Interpretationen keine dritte angefügt zu werden, auch wenn diese etwas anders ausfiele als die vorausgehenden. 1 ' 1 Inhaltlich und formal zerfällt der Leich in zwei Hauptabschnitte, die, für Tannhäuser recht ungewöhnlich, genau übereinstimmen: 1 3 2 Inhalt: I Vk. i - 1 5 Gestalten der Literaturgeschichte II Vk. 16—30 Frauenpreis mit Tanzszenen Form: I Vk. 1 — 1 5 unregelmäßiger Wechsel von zwei Haupttypen A, B II Vk. 16—30 drei variierende Großabschnitte mit der Grundform C C D E B 129

Bertau (Anm. 48), S. 130. Dagegen allerdings Ingeborg Glier, Der Minneleich im späten 1 3 . Jahrhundert. In: Hans Fromm (Hrsg.), Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung, Bd. 2 (WdF 608), Darmstadt 1985, S. 434: »Doch sollte man sich wohl darauf stützen können, daß die Sprachform beim Leich zwar nicht das Ganze ist, aber immerhin eine gewichtige Teilkomponente bildet, welche die mittelalterlichen Sammler auch allein für aufzeichnenswert erachten.« 1,0 B e r t a u , ebd. S. 170. Die inhaltliche Gliederung, ebd. S. 167, mit Versikelzählung nach Siebert: I Der Dichter an die Gesellschaft Versikel 1. Lobabsicht 1 2. Belehrungen über Liebesschicksale 2 — 15 II Lobrede innerhalb der Gesellschaft 1 . Lobrede I 16-17 2. Anrede der Gesellschaft 18 3. Lobrede II 1 9 — 20 III Aufforderungen des Dichters an Geliebte und Publikum 21-25 IV Schlußteil 26-30 1.1 Das Muster der Differenz läßt sich in etwa an den Ausfuhrungen zu Leich I—III ablesen. 1.2 Kuhn (Anm. 2), S. 1 1 2 , bietet eine andere Gliederung: Er läßt mit Versikel 1 5 die zweite von drei Großstrophen ( 1 - 1 4 , 1 5 - 2 4 , 2 5 - 3 0 ) beginnen, obwohl Versikel 14 und 15 formal identisch sind, indem sie den Versikeltyp B des zweiten Versikels wiederholen, während mit Versikel 16 auch nach Kuhn ein neuer Typ C einsetzt.

165

Die beiden formal und inhaltlich und bis in die Tempusformen — Präteritum für Teil I und Präsens für Teil II — so deutlich geschiedenen Hauptteile sind jedoch syntaktisch durch Enjambement verzahnt: 59

15. Tristan erwarp die kunegin von Marroch, als wir hoeren sagen, ein moerin was diu heidenin. der alden suln wir hie gedagen 16. Und loben mine guoten, die reinen, wolgemuoten [...]

Versikel 1 5 zeigt zugleich den Abschluß der parodistischen Inszenierung eines Katalogs literaturgeschichtlicher Gestalten, wobei Tannhäuser durchaus raffiniert zu Werke geht. Zunächst zitiert er die Gestalten nur, um ihre Überbietung durch seine eigene Dame herauszustreichen, doch bald scheint es ihm erforderlich zu begründen, warum »alle berühmten Frauen es nicht mit seiner frouwe aufnehmen können«," 3 3 und so beginnen sie, ein Eigenleben zu entwickeln. Programmatisch setzen die folgenden Beschreibungen mit den N a m e n der jeweiligen Vergleichsdamen J u n o , Latricia und Helena ein, doch dann tritt, nur scheinbar als harmlose Variation, Avenant in Versikel 5 an das Satzende, womit nun die Aussage über Trojas Zerstörung in den Vordergrund rückt. Damit gerät der ursprüngliche Sinn des Katalogs in Vergessenheit, die Folgeverse beginnen zwar wiederum mit dem Namen einer berühmten Frauengestalt, doch die Aussage über sie hat keinerlei Bezug mehr zur eigenen Dame: 19

Lünet diu was von hoher art, ir vater der hiez Willebrant.

Hier darf man vielleicht sogar einen toten Witz vermuten, denn die Erwartung, wie gewohnt eine Begründung f ü r die Unterlegenheit von Lunete gegenüber der vom Sänger favorisierten Dame zu erfahren, wird mit der Nennung des Vaters ins Lächerliche gezogen. Auch wenn in der Folge nicht alle Namen identifizierbar sind, so macht doch allein die Sinnlosigkeit der Namenreihe in Sarmenas Klage in den Versikeln 8 und 9 unbezweifelbar, daß der Sänger die Gelehrsamkeit ä la Katalog parodiert. Dies wird auch durch den oben zitierten Übergang zum zweiten Teil unterstrichen, denn was der Sänger dort ankündigt, den Frauenpreis, war doch gerade die spezifische Intention, mit der die Namenliste eröffnet worden war. Unmittelbar zuvor hatte Tann' " S i e b e r t 1 9 3 4 , S. 1 3 7 . Vor dem Katalog wird die Dame allerdings nicht als frouwe, sondern nur als wip bezeichnet; vgl. Verse 1 und 4.

166

häuser die Entfernung

von

jener ursprünglichen

Absicht,

berühmte

Frauengestalten durch Überbietung zum Preis seiner eigenen Dame zu benutzen, auf die Spitze getrieben, indem er die Versikel 1 4 und

15

ebenso programmatisch mit den Männernamen W i g a m u r und Tristan beginnen läßt. Überdies hat Wittstruck darauf aufmerksam gemacht, daß die meisten Vergleichsdamen in der traditionellen Beurteilung entweder neutral oder merklich negativ assoziiert sind: »Diese Vergleichsfiguren, die in ihren >Qualitäten< von einem Gros anderer Frauen leicht übertroffen werden, lassen das wip des Tannhäusers keineswegs in einem glanzvollen Licht e r s c h e i n e n . « 1 ' 4 Daß hier Parodie und Lacheffekt intendiert sind, ist schwer abzustreit e n . 1 3 5 Ungewisser bleibt, ob in Sarmenas absurder K l a g e , welche die vorgeblich an ihrem U n g l ü c k schuldigen Männer beliebig austauscht, nicht auch eine gewisse Albernheit inszeniert wird. Tannhäusers in alledem erkennbare Raffinesse macht es fast unbegreiflich, wie der zweite Teil dieses Leichs, der so lange Phrasen und Zitathaftes anhäuft, bis die Länge des ersten Teils übertroffen ist, sich zum ersten verhalten soll. Entweder entgeht dem modernen Bewußtsein hier eine parodistische Absicht oder der Text tritt entschieden hinter die Tanzfunktion des Stückes zurück. Eine Sinn-Interpolation, die in dem

ermüdenden

Wechsel von Schönheitsbeschreibung und Tanzaufforderung »eine besondere Form der Wertzusprache an diese D a m e « 1 ' 6 hineinlesen möchte, ist nur schwer nachvollziehbar. Während Rena Leppin unter ausdrücklicher Bestätigung von Bertaus zitiertem Verdikt die Montage von Versatzstükken aus Lied X I in Leich I V n a c h w e i s t , 1 ' 7 sieht Paule etwa die scheinbare Zurückhaltung bei der Descriptio: 79

Des ensol ich melden, seht, daz zaeme niht,

»als kokettes Z i t a t des eigenen Programms an, war doch in Lied X I gerade die vollständige descriptio der tanzenden D a m e zentraler Bestandteil ihrer Etablierung und ein besonderer >Hit< dieses L i e d s . « 1 ' 8 Dies wäre als kokettes Zitat freilich nur dann sinnvoll, wenn Tannhäuser die angesagte 1,4

Wittstruck (Anm. 55), S. 3 6 3 . Anders wiederum Paule (Anm. 4) mit stabiler Humorlosigkeit: »Der Katalog [ . . . ] fordert v o m Publikum aktiv das Erkennen und Identifizieren der eingestreuten > Fehler« und zielt m i t dieser >Prüfung< [ . . . ] auf eine dezidiert literarische Konstitution der Gemeinschaft«, S. 1 7 5 . 136 E b d . S. 1 7 7 .

135

137

1,8

V g l . Rena Leppin, Studien zur Lyrik des 1 3 . Jahrhunderts: Tanhuser, Friedrich von Leiningen ( G A G 306), Göppingen 1 9 8 0 , S. 26—29. Paule (Anm. 4), S. 1 7 6 t

167

Zurückhaltung auch ausüben würde und damit die Existenz von Lied XI zur Grundlage eines tieferen Verständnisses von Leich IV machte. Das ist jedoch nicht der Fall, vielmehr streut der Sänger in seine Tanzaufforderungen die gesamte Descriptio locker ein, nur wird der vermeintliche »Hit« aus Lied XI hier als Schnipsel auf Frau Matze appliziert, was indessen bei der früher kennengelernten Austauschbarkeit der Damen keinen Einwand bedeuten dürfte: XI,33 Wiz sint ir beinel, lint diu diehel, reitbrün ist ir meinel. IV, 127 seht an ir beinel! reitbrün ist ir meinel.

Auch in diesem Leich läßt sich die lyrische Einheit des Gebildes mit hermeneutischen Mitteln nur erzwingen. Erheblich plausibler ist eine rezeptionsorientierte Ganzheit, die im ersten Teil den gesanglichen Vortrag, im zweiten den Tanzeinsatz der Gesellschaft dominieren läßt. Der Tanz erscheint bei Tannhäuser nicht als funktionales Äquivalent für die begriffliche Reflexion, sondern als deren Verdrängungsmechanismus. Wachsender Tanzeinsatz in den lyrischen Vortrag: das ist zugleich eine Metapher für die gesellschaftliche Tendenz. Schließlich ist noch ein Wort zur Kontrafaktur anzufügen, nachdem Apfelböck sich so energisch über deren mangelnde Beachtung in der Forschung beklagt hat: Seit Spankes Nachweis der Tannhäuser-Kontrafaktur >Sion egredere< vor nunmehr 59 (!) Jahren fehlt jeder Hinweis, daß der lateinische Autor seinen Conductus als Aufwertung einer verachteten Laienkunst verstanden wissen will (Schlußverse!). Der Dießener Mönch (?) empfindet also die Rezeption des weltlichen Hofsängers mindestens als problematisch oder rechtfertigungsbedürftig. Darüber hinaus wäre anhand der parallelen Textorganisation von Leich und Conductus nachzuweisen, daß der Nachdichter seine Vorlage bewußt parodiert; die Kürzung des Tanzteils — als ein nicht ins Monastische transformierbarer Abschnitt — ist folglich nur konsequent und bedarf keiner umständlichen Erklärung durch zwei verschiedene Leichfassungen (Bertau SVL S. i 6 i f f . ) . I W

139

Apfelböck (Anm. 3), S. 1 7 9 A n m . 34. Im weiteren Verlauf dieser elaborierten Subtextinvektive behauptet Apfelböck, daß »in einigen Fällen (etwa Walthers Leich und C B 60/ 60a, bekannt seit 1 9 5 0 ) nicht einmal die Prioritätsfrage gestellt und geklärt« worden sei. Offenbar hat Apfelböck Vollmanns Ausgabe der C B nicht mehr für seine Arbeit benutzen können (er zitiert Literatur aus 1987 nur noch vereinzelt), wo wahrscheinlich gemacht wird, »daß Waither von C B 60 abhängt.« V g l . Benedikt Konrad Vollmann (Hrsg.), Carmina Burana. Texte und Übersetzungen. Mit den Miniaturen aus der Handschrift u. einem Aufsatz von Peter u. Dorothee Diemer (Bibliothek des Mittelalters 1 3 ) , Frankfurt/M. 1 9 8 7 , S. 1 0 0 4 .

168

Gegen diese forschungskritischen Volten ist festzuhalten, daß sich gegen alle Behauptungen auch Einwände formulieren lassen: - In den Schlußversen, gedacht sein kann in diesem Kontext nur an die Schlußverse des Hauptteils: 1 4 0 70

Nequicie malorum raptorum frondescunt. Laicorum studia rudia florescunt,

wird nicht explizit davon gesprochen, wie der Autor seinen Conductus verstanden wissen will. - Hätte der unbekannte Mönch die Rezeption des weltlichen Hofsängers als problematisch empfunden, hätte er alle Hinweise auf diesen tilgen können; statt dessen gab er selbst mit den tatsächlichen Schlußversen: 75

Fistula nostra tacet eia et eia et eia quia nunc dictaturi. Der sait der ist enzwai,

den entscheidenden Hinweis zur Identifizierung seiner Vorlage. Die parallele Textorganisation, eine tautologische Implikation des Kontrafakturzusammenhanges, gibt keinen Hinweis auf ein parodistisches Verhältnis. Zwar finden sich auch Namenkataloge im Conductus, sie sind jedoch nicht vorsätzlich verwirrt. Ein Parodieverhältnis wäre nur denkbar, wenn Tannhäuser vom lateinischen Text abhinge. - Daß der Tanzteil nicht ins Monastische transformierbar sein soll, ist durch seine Kürzung statt Tilgung nicht plausibel, die Schlußverse sprechen eher dagegen. Schon Spanke hat nachgewiesen, daß »Kleriker einer Kirche auf Ostern zu der Melodie »Victime paschalis< mit Orgelbegleitung einen Tanz aufführten.« 1 4 1 Überdies sind die fehlenden Verse keineswegs mit dem Tanzteil identisch. 142 - Bertaus Argumente sind nicht viel umständlicher als Apfelböcks: in einem Fall kürzt der lateinische Autor seine mittelhochdeutsche Vorlage, im anderen Fall erweitert Tannhäuser seinen Leich für eine Neuinszenierung. Bertaus Hypothese wird im übrigen mit weiteren bedenkenswerten Argumenten abgestützt und ist daher mit dem Attribut »umständlich« nicht zu erledigen. -

I4

°Zitiert nach Bertau (Anm. 48), S. 228. Hans Spanke, Eine mittelalterliche Musikhandschrift, ZfdA 69 (1932), S. 61. 142 Vgl. den Text bei Lomnitzer/Müller (Anm. 19), S. 6 3 - 7 0 , der als Konkordanz eingerichtet ist. 141

169

5 . 2 Z u Leich V Z u Tannhäusers f ü n f t e m , auf den ersten B l i c k etwas wirren Leich besitzen w i r bereits drei I n t e r p r e t a t i o n e n . 1 4 3 D a h e r werden an dieser Stelle n u r w e n i g e ergänzende A n m e r k u n g e n , die über die genannten D e u t u n g e n hinausgehen, a n g e f ü g t . D a s v o n der Forschung als G e o g r a p h i e l e i c h betitelte Stück ist nicht nur »einer der formvollendetsten Leiche T a n n h ä u s e r s « , 1 4 4 sondern auch inhaltlich u n g e w ö h n l i c h in der Z u s a m m e n s t e l l u n g verschiedenster T h e m e n und M o t i v e sowie der changierenden S t i m m u n g darin. Trotz einzelner S c h w ä c h e n 1 4 5 hat L e p p i n diese Vielfalt a m deutlichsten erfaßt und vor der R e d u k t i o n auf die Zentralperspektive gerettet. Es ist evident, daß Tannhäuser m i t diesem Leich u m die G u n s t eines Mäzens w i r b t , wahrscheinlich ist H e r z o g O t t o II. von Wittelsbach der in den Versikeln

1 7 und

18

g e n a n n t e Adressat. Preis- und Heischestrophen sind typische Sujets der S p r u c h d i c h t u n g , und so finden sich in Leich V zahlreiche E l e m e n t e aus diesen wieder, doch wollte Tannhäuser offenbar seine K u n s t f e r t i g k e i t vorführen und hat deshalb das, was g e w ö h n l i c h in e i n e m Spruchzyklus präsentiert w i r d , in die Leichform gegossen. D a ß i h m dies m ö g l i c h und erfolgversprechend schien, betont abermals den spezifischen Einheitsbegriff des Mittelalters und seine laterale R a t i o nalität. T h o m a s sieht i m Verlust der E i n h e i t einen komischen E f f e k t : » T h e result is an a m u s i n g c o n f u s i o n « , 1 4 6 doch erscheint es fraglich, ob dies die sinnvolle Intention eines Werbeliedes sein kann. Seltsam g e n u g bleibt f ü r modernes E m p f i n d e n jedenfalls das Stichwort der B e l e h r u n g in Versikel 3 0 , n a c h d e m zuvor über sechs Versikel Tanzszenen ausgebreitet wurden. Versikel 2 9 etwa ruft die Musiker als flöuter, herpfer, tamburaere und trumbunaere z u m Spiel und dann folgt: 119

Nu sung ich vil mere, nu fürbt ich vil sere, daz sin die verdrieze, swen ich gerne lere.

H ä l t m a n sich indes vor A u g e n , daß Tannhäuser ein herausragender Leichkünstler war, der hier vor einem neuen potentiellen B r o t g e b e r sein K ö n n e n ausbreitete, so könnte sich das Verb leren auf den gesamten Leich, auch den Tanz, beziehen, auf die V o r f ü h r u n g eben dieser hohen K u n s t , die f o r m vollendet ein inhaltliches Konzentrat aus Tannhäusers gesamter M o t i v p a 143

Vgl. Lang (Anm. 109), S. 17 — 26, Leppin (Anm. 137), S. 41— 90 und Paule (Anm. 4), S. 1 8 8 - 2 0 3 . 144 Lang ebd., S. 18. •45 Vgl. die Kritik von Paule (Anm. 4), S. I99f., an Leppin. ' 46 Thomas (Anm. 5), S. 16.

170

lette bietet, was auch das Anspielen diverser Themenkomplexe, besonders im zweiten Teil des Leichs, erklären könnte. 1 4 7 Erstmals in Versikel 5 schaltet der Sänger eine Bemerkung über sich selbst ein: 17

20

In Armenie ich was wie küme ich da genas! für Antioch kam ich ze Tiirki sunder danc: da was der täten vil von den ich singen wil.

Der für Siebert ungewöhnlich starke Eingriff in den Text, der statt täten Tatern und statt singen swigen liest, wird von späteren Herausgebern wohl zu Recht zurückgewiesen. 1 4 8 Es dürfte kaum zulässig sein, für die Taten ein Volk einzusetzen, von dem weder vorher noch nachher irgend die Rede ist, und dann, in scheinhafter Konsequenz, das singen durch den semantischen Gegenbegriff swigen auszutauschen. Den Schlüssel zu einem möglichen Verständnis der Stelle hat Siebert selbst in der Hand gehalten, doch hat er die Stelle damit nicht aufgeschlossen. In Abwehr der von ihm als ungerecht empfundenen Tadel Tannhäusers durch R. M . Meyer, der dem Dichter unter anderem Weitschweifigkeit attestierte, geht Siebert auch mit viel Empathie auf die eben zitierten Anfangsverse des Versikels ein: »Das Gegenteil ist der Fall. Der Dichter hat in Cilicien an schwerer Krankheit gelitten, der viele seiner Gefährten erlegen sind. Mit dem kurzen Wort: wie kume ich da genas! geht er darüber hinweg. A u f der Reise nach Antiochia und weiter scheint er allerlei Unangenehmes erlebt zu haben. [ . . . ] Aber er beschränkt sich auf kurze Andeutungen, so daß wir fast bedauern, nicht mehr darüber zu erfahren.« 1 4 9 Eben dies scheint der Sinn der Erklärung zur eigenen Person zu sein: neugierig zu machen auf mehr, und die folgenden Verse mit der Ankündigung, von weiteren Taten zu singen, verheißen die Befriedigung dieser Neugier für den Fall, daß der Dichter eine Aufnahme am Hof findet. M i t diesem Schlüssel erschließen sich noch zahlreiche weitere Motiveinspielungen. In diesem Text endlich kommt der Katalog begrifflich zu sich selbst; Tannhäuser blättert seine Motive, Themen und Darstellungstechniken vor, die Aufzählung dominiert und begrenzt die Explikation des Aufgezählten. Daher verblüfft auch die Reiseroute als Ordnungsprinzip des Katalogs 147

148

I49

Z u den zahlreichen eingestreuten Anspielungen aus der Epik, besonders Wolfram, vgl. zusammenfassend Paule (Anm. 4), S. 2 0 0 — 2 0 3 . V g l . Thomas (Anm. 5), S. 1 3 0 , der allerdings taten in seiner englischen Nachdichtung mit »Tartar« übersetzt, und Leppin (Anm. 1 3 7 ) , S. 4 5 . Siebert 1 9 3 4 , S. 3 7 .

171

nicht, die schon Siebert systematisch nachzeichnen k o n n t e . 1 ' 0 Mit seinem exotischen Wissen über das matriarchalische Mutterrecht in Kleinasien, 1 5 1 seinen politischen und theologischen Stellungnahmen, alles in kataloggemäßer Abbreviatur, stellt Tannhäuser sich thematisch weiträumig vor und nimmt sich als Subjekt zugleich bemerkenswert zurück: hier spricht ein Bewerber, der sein Eigenlob klug zu verpacken weiß. Diese Zurückhaltung zeigt sich deutlich darin, daß nur drei Sätze des ganzen Leichs mit Ich beginnen, davon nur ein einziger Versikeleingang, 1 5 2 ansonsten zeigt es sich ganz passivisch, im Geographieteil in stereotypen Wendungen der Form: hoere ich sagen, im Tanzteil fast nur in den deklinierten Formen mir, mich', in den Versikeln 24—29 taucht die Form ich überhaupt nicht auf. Symptomatisch ist weiterhin der Leicheingang: Der künec von Marroch hat der berge noch genuoc, — kein anderer Leich Tannhäusers beginnt so objektiv wie dieser. Leich I hebt das ich im Initialwort immerhin auf: Uns kumt ein wunnecltchiu zit, und kommt damit Leich V am nächsten, Leich II.III rücken das Ich im zweiten Vers unverkennbar ins Zentrum, Leich IV beginnt: Ich lobe ein wip [ . . . ] , Leich V I : Ich muoz klagen. A n zentraler Stelle zwischen Geographieteil und Tanzteil ist die Erwähnung des verstorbenen Friedrich und des als ebenso freigebig wie jener gepriesenen Herzogs von Bayern eingeschaltet, gleich wieder mit der geäußerten Besorgnis, beim neuen Gönner keinen Anstoß zu erregen: 73

Heia, Tanhüsaer, nü lä dich iemer bi im vinden gar an allen Wandel din! [...]

Deshalb ist Paules, ihrem Generalnenner geschuldete These kaum zu halten: »Ihr [der Fürsten Friedrich und Otto] Lob ist aber wiederum ein M e d i u m zur Selbstdarstellung des Ichs, dessen Autorität sich im Erteilen und Verweigern [?] von Lob manifestiert.« 1 5 3 Weil aber hier, mit dieser singulären Motivation des Leichs, der Sänger sich tatsächlich vorstellt, präsentiert und inszeniert, weil es ihm wirklich um eine »literarische Selbstdarstellung«, wenn auch nicht »des I c h s « , ' 5 4 so doch seiner Dichtung zu I5

° V g l . ebd. S. 1 5 9 .

151

152

V g l . Archer Taylor, »Ze Künis erbent ouch diu wip und niht die man«, Tannhäuser, 5 , 2 9 , M L N 5 3 ( 1 9 3 8 ) , S. 509. N ä m l i c h Vers 9 als Versikeleingang 3: Ich kenne ouch wol [ . . . ] . Darüber hinaus sind syntak-

tisch selbständig noch Vers 4: ich hän ouch [...] und 7 1 : ich gesach nie fiirsten me [...]. 1,3

Paule (Anm. 4), S. 1 9 6 . I,4 E b d . S. 2 5 5 u.ö.

172

tun ist, greift Paules Ansatz zumindest im Blick auf die Kunstpräsentation und führt zu einer diesbezüglich vertretbaren Deutung. Das ändert indes nichts an der oben gegebenen Einschätzung, daß Leppin dem Leich in seiner Vielgesichtigkeit wohl am ehesten gerecht wird.

5.3 Z u Leich V I Der Gönnerleich beschließt in der Großen Heidelberger Liederhandschrift die Reihe von Tannhäusers Leichs. Die Datierungsversuche decken, wie bereits Kühnel betont hat, 1 5 5 eine geradezu erstaunliche Chronologie auf: Leich I Leich V

ca. 1 2 4 5 ca. 1 2 4 7 / 4 8

Leich V I Leich I I - I V

ca. 1 2 6 5 / 6 6 nicht datierbar

Im Gesamtkorpus von Tannhäusers Leichs, Liedern und Sprüchen erkennt Kühnel, »von einer punktuellen Inkonsequenz [i.e. Spruchton X I V ] abgesehen, eine Überlagerung chronologischer, gattungstypologischer und thematischer Ordnungskriterien.« 1 5 6 Damit »scheint die Sammlung sehr planmäßig angelegt zu sein.« 1 5 7 Die Bedingung für eine solche Ordnung ist indessen, daß die Sammler das entsprechende Wissen besaßen, um derart planvoll gliedern zu können, und das belegt, daß sie mit ihren Kenntnissen weit näher am Autor waren, als es die, auch von Kühnel vertretene, rezeptionsorientierte Forschung eingestehen möchte. Wie der oben mitgegebene Titel andeutet, handelt es sich thematisch wieder um eine einmalige Variante der Leichgestaltung durch Tannhäuser. Formal entspricht er am ehesten dem extrem gleichförmigen Pastourellenleich II, so daß Bumke in seiner Untersuchung über »Mäzene im Mittelalten einfach von Strophen spricht/ 5 8 Tatsächlich hat der Leich, dessen Schluß vielleicht verderbt ist, die Form: A A A 32XB CDE. Daß hier der Katalog mit seinen notwendig reihenden Perioden und repetitiven Formulierungen in eine derart einförmige Gestalt gegossen wird, rückt das Stück nicht in den Bereich von Tannhäusers Glanzleistungen, könnte indes — was ohne Melodie freilich nicht entscheidbar ist — darauf hinweisen, daß ein gewollt leierndes Lamento dem Stück seine Tonart mitgab.

155

Vgl. Jürgen Kühnel, Zu einer Neuausgabe des Tannhäusers. Grundsätzliche Überlegungen und editionspraktische Vorschläge, ZfdPh 104 (1985), Sonderh., S. 84^ Ebd. S. 85. ' " E b d . S. 83. I,8 Joachim Bumke, Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1 1 5 0 - 1 3 0 0 , München 1979, S. 387 Anm. 2, mit kurzer Beschreibung der metrischen Form. 156

173

Zwei Verständnisprobleme scheinen überdies unlösbar und begünstigen die Verwendung des Stücks als Steinbruch der Gönnerforschung, wie Bumke es vorführt. 1 5 9 Das erste Problem betrifft in gewisser Hinsicht die Rationalität des Stücks, nämlich die seltsame Kontamination von Preis und Klage, die verwirrende Tatsache, »daß in Tannhäusers sechstem Leich Herrscherlob und Zeitklage auf eigentümliche Weise miteinander vermischt sind und daß die wiederholte Versicherung, die milte sei mit den Fürsten der Vergangenheit gestorben (V. 3[?]-96), in einem merkwürdigen Kontrast zu dem Preis der lebenden Herren steht. Wenn Tannhäuser noch am Schluß die Frage stellt: Wa sol ich herren suochen, die lobes nu geruochen? ( 1 3 8 — 1 3 9 ) , dann scheint darin der Gedanke zu liegen, daß mit all den vorher genannten Fürsten diese herren noch nicht gefunden seien.« 1 6 0 Das zweite Problem, vielleicht mit dem ersten insofern verknüpft, als die gemeinsame Lösung darin verschüttet liegt, ergibt sich aus dem unverständlichen, ungereimten, dadurch in der Form nicht sicher bestimmbaren und abrupten Schluß. Z u beiden Problemen soll hier kurz Stellung bezogen werden, wesentlich Neues kann dabei leider nicht angeboten werden, zumal alle Informationen aus dem - vermutlich - verderbten Text selbst entnommen werden müssen. Eine komplette Interpretation bietet wiederum Paule an, 1 6 1 die ihrem Ansatz der Sinnunterstellung gemäß die Auffassung vertritt, »daß der Leich, so wie ihn die Handschrift präsentiert, eine geschlossene Deutung erlaubt, die insbesondere auch die Schlußverse zu integrieren verm a g . « ' 6 2 Probleme, die sich offensichtlich nicht lösen lassen, wie das immerhin nicht ganz unwichtige der Form der Schlußversikel, werden dabei allerdings unterschlagen. Der Hinweis Bumkes auf die Inkohärenz von Preis und Klage muß vielleicht ein wenig präzisiert werden, da Bumke die angegebenen Textstellen so versteht, daß sie sich »nur auf Verstorbene beziehen« können. 1 6 3 Der Wortlaut zwingt jedoch nicht zu dieser Auffassung: 9 95

[klage ich,] daz rehtiu milte ist an den herren tot. ich mein die herren alle, / die sin an rehter milte tot.

Dies besagt eher, daß die Potentaten noch leben, nur die Großzügigkeit in ihnen erstorben ist. Damit löst sich immerhin das Problem der SituieAuf Tannhäusers literarästhecische Bewertung wird in Abschnitt 7 dieses Kapitels eingegangen. 160 Bumke (Anm. 158), S. 177. Statt Vers 3 muß es an gleicher Stelle wohl heißen: Vers 9. ,6, V g l . Paule (Anm. 4), S. 2 0 5 - 2 1 5 . 162 Ebd. S. 206. ,6 -'Bumke (Anm. 158), S. 179.

174

rung der Klage, einmal im Formteil A A A , einer Art Prolog, und einmal im zweiten Katalogteil der fürstlichen Gönner aus Tannhäusers Gegenwart; das ändert jedoch nichts an der Diskrepanz zwischen dieser Klage und der Aufzählung eines guten Dutzend großzügiger zeitgenössischer Herren. 1 0 4 Zudem bleibt auch die rhetorische Frage aus Versikel 36, am Ende des Katalogs, in gleicher Hinsicht unverständlich: 138

Wä sol ich herren suochen, die lobes nü geruochen?

Scheinbar nimmt Tannhäuser diese Frage mit dem Beginn des Folgeversikels wieder auf: 144

Ich wil den fürsten nennen, ob ir in weit erkennen.

Doch dann folgt wider Erwarten kein Name, auch kein Rätsel im Sinne von Tannhäusers Spruch X V I , wie es Vers 1 4 5 anzudeuten scheint, sondern eine äußerst abstrakte Beschreibung seiner Eigenschaften und deren Wirkung auf den Sänger: 146

sin gruoz und ouch sin lachen daz kan mir fröude machen.

Dieser blasse Topos kann nicht ernsthaft die Charakterisierung des idealen Herrschers meinen, auch wird hier, da es keinerlei entsprechende Signale gibt, nicht mit einer Wendung ins Ironische oder Parodistische zu rechnen sein. Abschließend folgen noch einige ungereimte und acht leere Zeilen in der Handschrift, die den Verdacht nahelegen, daß der Leich unvollständig überliefert ist. 1 0 5 Da die Sammler und Schreiber von C allenthalben große Sorgfalt erkennen lassen, sollte man ihnen nicht die Anfügung der Ungereimtheiten unterstellen; 166 gewiß wären sie fähig gewesen, ein paar wohlfeile Reime anzuhängen oder das Stück mit einem fremden Schluß zu kontaminieren. Der Text wird wohl eher auf dem früheren Überlieferungswege verloren gegangen sein, und die Schreiber dokumentieren zumindest, was sie noch vorfanden. 1 0 7 164

Nach Bumkes Untersuchung sind 14 Gönner dem ersten Teil, der Verstorbene aufzählt, und 15 dem zweiten Teil, der Lebende nennt, zuzurechnen. Nimmt man den zuletzt nur noch angekündigten hinzu, ergeben sich insgesamt genau 30 Mäzene. 165 Diese Ansicht vertritt auch Wittstruck (Anm. 55), S. 366: »Man geht wohl fehl, wenn man den überlieferten Schluß als den tatsächlichen betrachtet.« ,66 So zuletzt Thomas (Anm. 5), S. 16. 167 Nach heutiger Auffassung sinnlos dürfte Sieberts Versuch sein, mit drei gravierenden Konjekturen einen reimenden Vierzeiler herzustellen (Siebert 1934, S. 109). Bumke

175

In der Forschung hat es nicht an Versuchen gefehlt, den Schluß zu ergänzen und insbesondere den angekündigten Gönner zu ermitteln, den Tannhäuser dort ungenannt läßt. Im Blick darauf hat bereits Bumke gewarnt: »[...] methodische Gründe verbieten es, einen Text von seinem verlorenen oder verderbten Schluß her zu interpretieren.« 168 Nicht ohne Berechtigung kritisiert Paule, daß Bumke selbst fünfzig Seiten später das gleiche tut, was er seinen Vorgängern vorgehalten hat: er ermittelt den ungenannten Gönner. 109 Indem sie daraufhin begründungslos und daher unbefugt den formlosen Schluß als unverderbt betrachtet, begeht sie abermals denselben Fehler, da sie den gesamten Leich von eben diesem Schluß her interpretiert und schließlich Friedrich II. in die Leerstelle des Schlusses einträgt. 170

(Anra. 158), S. 574, grenzt vier Verse nach syntaktischen Einschnitten ab, ohne in den Wortlaut einzugreifen, so daß der Versikel reimlos bleibt. 168

B u m k e ebd. S. 178.

'«»Vgl. ebd. S. 22Öf.; zur kritischen Anmerkung vgl. Paule (Anm. 4), S. 206. ' 7 ° V g l . Paule ebd., S. 204: Mit dem anonymen Schluß von Leich V I »entwirft der Tannhäuser ein abstraktes Argumentationsmodell und weist darin verschiedene >Positionen< oder >Leerstellen< aus. Sie werden in Leich I konkret besetzt: Friedrich II. von Österreich wird sukzessive mit dem aufgezeigten Herrscherideal identifiziert«. Damit weist sie »die strukturelle Bezogenheit der Leichs VI und I aufeinander« nach (ebd.); ungeachtet der Tatsache, daß jener Friedrich II. zum Abfassungszeitpunkt von Leich VI bereits verstorben ist. Daran ändert auch ihr Versuch nichts, mit Hilfe von Bumkes Argumenten Leich V I um 10 Jahre früher zu datieren. Ihre Folgerung für die relative Chronologie der Leichs: »Mit diesem Befund wird aber auch die bisherige chronologische Einordnung des Leichs in das Œuvre des Tannhäusers fragwürdig« (ebd. S. 215), ist unbegründet, da die datierbaren Leichs I und V immer noch vor Leich V I anzusetzen wären.

176

6 Minnesangs Wendungen. Zum Jargon der Uneigentlichkeit Er verfügt über eine bescheidene Anzahl signalhaft einschnappender Wörter. [...] Kein Index verborum prohibitorum, marktgängiger Edelsubstantive, ist denn auch anzulegen, sondern ihrer Sprachfunktion im Jargon nachzugehen. [...] Was Jargon sei und was nicht, darüber entscheidet, ob das Wort in dem Tonfall geschrieben ist, in dem es sich als transzendent gegenüber der eigenen Bedeutung setzt; ob die einzelnen Worte aufgeladen werden auf Kosten von Satz, Urteil, Gedachtem. 171 Absicht und Ziel dieses Kapitels ist nicht, eine neue Theorie zum U m schlag des späthöfischen Minnesangs vorzulegen, und noch weniger, die Metaphern aus >Minnesangs Wende< durch die vom Prozeß der fortschreitenden Rationalisierung zu ersetzen. Wie bereits bei Betrachtung der unter Tannhäusers Namen überlieferten Hofzucht festgestellt, bleibt das Verhältnis von Form und Inhalt dialektisch, der stetige Reflexionsprozeß der Autoren, den Walter Haug untersucht hat, fuhrt zwangsläufig zu einer permanenten Rationalisierung dieser Dialektik, zur Legitimierung bewußt inszenierter Fiktionalität etwa, oder zur Wahl einer bestimmten Form wie des Leichs für einen bestimmten Inhalt, der seinerseits mit der Leichform in Wechselwirkung steht, wie bei Tannhäuser sichtbar. Hinzu kommt, daß die Kunst ihren notwendigen Ausdruck zwar sucht und, wo sie ihn findet, entsprechend notwendig und wahr wird, daß sie ihn aber selbstverständlich nicht formallogisch ableiten kann, sondern im kontingenten R a u m des ästhetisch Möglichen gestalten muß. Extreme Reflexivität erreicht zum Anfang des 1 5 . Jahrhunderts paradigmatisch Wittenwilers >Ringdiscordia ficta< Apfelböcks Arbeit, die, wie bereits erwähnt, im Gegensatz zu Kuhns Vielzahl uneigentlicher Begriffe das terminologische Problem auf den Zentralbegriff der discordia ficta reduziert, erfordert eine andere Form der Auseinandersetzung, die stärker sachhaltig orientiert ist. Dies nicht zuletzt deshalb, weil Apfelböcks Beitrag sehr aktuell ist, naturgemäß noch kaum eine inhaltliche Würdigung finden konnte und deshalb nicht auf eine allgemeine Akzeptanz in der Forschung rekurriert werden kann. Insofern erwekken die folgenden Ausführungen vielleicht den Anschein einer generellen Kritik an seinen Methoden und Resultaten, was jedoch keineswegs beabsichtigt ist. Letztlich geht es auch hier lediglich um einige Anmerkungen zu Details, die auf dem Wege des Versuchs, Tannhäuser besser zu verstehen, randständig beobachtet wurden. Seine Untersuchung beginnt Apfelböck mit einem Abschnitt über Stationen der Leichrezeption, der im übrigen voller kleiner Ungenauigkeiten steckt, 197 dessen Intention eine Erklärung der forschungsgeschichtlichen 197

Hier müssen zwei Beispiele genügen: — Apfelböck (Anm. 3) wirft Bodmer und Breitinger ( 1 7 5 8 / 5 9 ! ) in ihrer MinnesingerAusgabe (falsch zitiert: »Minnesingern« statt »Minnesängern«, »Ruedger Manessen« statt »Rüdiger Manessen« u. a.) Kürzungen vor: »Nicht ohne Grund fehlt deshalb im Vorwort der Hinweis auf die Vollständigkeit der Abschrift, aber sie wird dem Leser zweifellos suggeriert, wenn Bodmer und Breitinger behaupten, >eine sorgfältige und genaue A b s c h r i f t zu leisten.« (Apfelböck, ebd. S. 6). Im Vorwort zum 2. Teil des Bandes heißt es jedoch: »Wird man uns auch verzeihen, daß wir bey sehr wenigen Singern einige Strophen von geringem Werthe, von wiederholten Gedanken, vom yberspanntem oder anstössigem Inhalt, in dem manessischen Codex haben begraben ligen lassen?« (Bodmer u. Breitinger, S.V.) — Ferdinand Wolfs >Über die Lais< ( 1 8 4 1 ) wird zu Unrecht als »große Leich-Monographie« tituliert (Apfelböck, ebd. S. 1 1 ) und sodann als solche kritisiert. Dabei stimmt es zwar: »im Haupttext erscheinen lediglich Tannhäuser und Heinrich Laufenberg (!) namentlich« (ebd.), Wolfs Buch lebt aber, wie dessen Vorrede betont, von den vielen Anmerkungen und Exkursen. Der Haupttext zählt bis S. 1 5 2 , die Anhänge bis S. 5 1 4 . In diesen werden etliche höfische Leichs angesprochen. Falsch ist das Zitat, mit dem Apfelböck nachweisen möchte, daß Wolf die »künstlichen Leiche« der mittelhochdeutschen Dichter generell habe abwerten wollen (Apfelböck, ebd.). A m zitierten Ort setzt Wolf im Komparativ lediglich »die künstlicheren Leiche[n] von Rotenburg, Gutenburg u.A.« gegen den lai du kievre foel ab! Ferdinand W o l f , Über die Lais, Sequenzen und Leiche. Ein

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Mißachtung des mittelhochdeutschen Leichs als souveräner und selbstbestimmter Gattung sein soll. Schon hier scheint die Frage auf, was »Souveränität und Selbstbestimmung« 19 ® einer Gattung sein könnten und ob die so vorbildlich historisch angelegte Arbeit nicht letztlich einem ahistorischen Erkenntnisinteresse dient. In den beiden folgenden Großabschnitten, die Ausdruck der mühevollen und beachtlichen Arbeit einer etymologischen und semantischen Analyse des Gesamtvorkommens von leih/leich von den germanischen Sprachen bis zum Frühmittelhochdeutschen sind, wird der Zentralbegriff der discordia ficta entworfen. Die Methode, mit der Apfelböck seine Fundsachen auf diesen Kontext hin ausdeutet, ist jedoch bisweilen spekulativ und in den daran anschließenden Folgerungen häufig zu wenig zurückhaltend. Wiederum müssen wenige charakteristische Fälle, welche zudem im Blickfeld des Jargons liegen, herausgegriffen werden. Der Begriff selbst wird aus den /«'¿-Komposita mit außermusikalischer Bedeutung gewonnen und dann auf den musikalischen Kontext in den Glossen übertragen, wo er gleichzeitig zur Auslegung einer hypothetischen Bedeutungsdifferenz zum lateinischen Ausgangswort dient, die ihrerseits wieder den Begriff stützen soll. Das Verfahren bleibt damit vielfach zirkelschlüssig, auch wenn die Bedeutung zunächst außerhalb des circulus vitiosus abgeleitet wurde. Die Definition findet sich daher bereits im entsprechenden Kapitel über /«'¿-Komposita mit außermusikalischer Bedeutung: >discordia< als Kennzeichnung der äußeren Gegensätzlichkeit, des Dualitätsbeweises sogar, >ficta< hingegen für die Tatsache, daß >discordia< a priori die anerkannte Spielregel darstellt und dadurch der Gegensatz in einem logisch-begrifflichen Dualitäts-Prinzip aufgehoben w i r d . 1 "

Diese Definition tritt als leistungsfähige Hypothese auf, indem sie einen Prozeß des Aufhebens als Transponierens äußerer in innere Dualität vorschlägt, »Aufheben« dabei im dreifachen Wortsinn Hegels. Überdies wird aus dem antagonistischen Gegensatz ein scheinhafter im dualen Formspiel, insofern wirkt auch ficta in mehrfacher Hinsicht reflektiert. Nun bleibt freilich zu bedenken, daß diese Hypothese, deren prinzipielle Nützlichkeit hier kaum in Zweifel gezogen werden kann, dazu dienen soll, die souveräne und selbstbestimmte Gattung leich auszudifferenzieren. Es wäre daher etwa zu fragen, weshalb die polymorphe, keineswegs auf einem selbstevidenten Beitrag zur Geschichte der rhythmischen Formen und Singweisen der Volkslieder und der volksmäßigen Kirchen- und Kunstlieder im Mittelalter, Heidelberg 1 8 4 1 , Nachdruck Osnabrück 1965, S. 322. 198 Apfelböck ebd. S. 12. ' " E b d . S. 37.

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Dualitäts-Prinzip basierende Leichform der discordia ficta entspricht, nicht aber — der Wechsel im frühen Minnesang, formal wie inhaltlich eine discordia ficta par excellence, — die Tagelieder mit der im anbrechenden Tag aufgehobenen Tag-NachtPolarität, — die Refrainlieder mit dem dualen Kontrast von Strophe und Refrain, nicht selten auch inhaltlich als Dualität durchgeführt. Ein Beispiel, das gleich alle drei genannten Typen in sich vereint, ist Heinrichs von Morungen Tagelied Owe,- / Sol aber mir iemer me200 mit Eingangskehre und Refrain, von Tervooren als »eine Verschmelzung von Tagelied und Wechsel« bezeichnet201 und zweifellos ein Paradigma der discordia ficta. Da dies nicht in den Blick kommt, gerät die Etymologie zu einer eindimensionalen Studie der gleichsam in ihren Begriff eingekerkerten Idee. Ein entscheidendes Argumentationsglied für die Über- und Vorordnung des deutschen Leichs vor der lateinischen Sequenz ist für Apfelböck die Glosse (ebd.) Nr. 4 zu Notkers Psalmübertragung 67,1, wo psalmus cantici mit seitscal sangbleicbis wiedergegeben ist. 202 More grammatico versucht Apfelböck zu beweisen, daß leib hier »keinen Pendant-Begriff in Notkers Text« 203 besitzt und deshalb — das nirgends im Text stehende — sequentia bedeuten muß. Daher »möchte ich den Beleg als gewichtiges Argument dafür werten, daß die Sequenz in einem konsequent deutschsprachigen Text ohne Bedenken als >Leich< tituliert werden kann.« 204 Damit aber sind Apfelböcks Spekulationen noch nicht abgeschlossen, sie beginnen recht eigentlich erst. Da der Leich die discordia-Votm generell bezeichnet, die Sequenz dagegen nur deren liturgische Funktionalisierung, ist der Leich die »übergeordnete Formbezeichnung [...]: Die Sequenz ist ein liturgischer Leich! Diese Begriffshierarchie kehrt die Vorstellung von >weltlichen Sequenzformen< ins Gegenteil und rührt damit an das Problem der Entste200

201

Heinrich von Morungen, Lieder. Mittelhochdeutsch u. Neuhochdeutsch. Text, Übersetzung, Kommentar von Helmut Tervooren ( R U B 9797), Stuttgart 1 9 7 8 , Lied Nr. X X X . Ebd. S. 1 8 3 .

202

Apfelböck ebd. S. 5 7 . Auch hier wieder eine Ungenauigkeit: statt in sänge frouueda muß es heißen: in sänge ist frouueda. Aus dem gleichen Band zitierte Stellen: Glosse N r . 5, Apfelböck S. 59: gebetin statt gebeten, Nr. 6, S. 60: sancleichts statt sanglekhis. V g l . Notker der Deutsche, Der Psalter, Psalm 5 1 - 1 0 0 . Hrsg. von Petrus W. Tax (Die Werke Notkers des Deutschen 9; A T B 9 1 ) , Tübingen 1 9 8 1 , S. 2 2 5 . Die vollständige Literaturangabe fehlt bei Apfelböck. Anderes wurde nicht überprüft; vgl. jedoch weitere Corrigenda in der Rezension von Christoph März, Beitr. 1 1 6 ( 1 9 9 4 ) , S. 1 3 0 — 1 3 7 .

20i

Apfelböck, ebd. S. 58. Ebd. S. 59.

204

186

hungsgeschichte der Sequenz.« 205 Dabei übersieht oder unterschlägt Apfelböck, daß es sich um Übersetzungen handelt, nicht um deutsche Metatexte. Die deutsche Wiedergabe des ausgangssprachlichen Wortes ist ein Versuch des Glossators, ein möglichst adäquates zielsprachliches Wort einzusetzen, was stets auf eine semantische Schnittmenge hinausläuft, die nicht hierarchisch interpretiert werden darf. Des weiteren verwechselt Apfelböck das logische Primat mit der chronologischen Priorität des Begriffs: selbst wenn der deutsche Oberbegriff dem lateinischen Unterbegriff logisch voranstünde, hieße dies nicht, daß er ihm auch zeitlich vorausginge. Apfelböck kontaminiert folglich zunächst die Sprachebenen Ausgangs- und Zielsprache und anschließend die Anordnungsmodi logischer und chronologischer Priorität, und zwar an einem argumentativen Nadelöhr seiner öforon&z-Rekonstruktion. Nicht weniger folgenreich ist seine Exegese zu Willirams Paraphrase des Hohenliedes 7 , 1 . Williram setzt für das lateinische ckoros, das für »Tänze« steht, sangleich ein, woraus Apfelböck zwei Schlüsse zieht: 1 . Da der lateinische Plural mit einem Singular wiedergegeben ist, muß dieser jenen umfassen, und das erlaube dann den Schluß, man könne »den Leich als >suitenartige< Folge von Tänzen deuten«. 2 0 6 2. Da chorus nicht notwendig »eine vokale Komponente« impliziere, müsse des deutschen Kompositums erster Teil, sang-, anders motiviert sein: »Ich halte daher den Begriff >Leich< verantwortlich für diese Assoziation, und dies führt konsequent zur Annahme einer obligaten Singstimme im Leich.« 2 0 7 Was aber sollte Williram veranlaßt haben, sein ausgangssprachliches Wort, wenn es keine vokale Komponente enthielt, mit einem zielsprachlichen Wort wiederzugeben, das eben diese Komponente impliziert - und überdies jene semantische Differenz mit dem für das zielsprachliche Wort tautologischen Zusatz sang- zu betonen? Mit Hilfe derartiger Folgerungen »entsteht ein relativ konkretes Bild dessen, was Williram mit dieser Gattung verbindet: eine Tanzfolge mit Gesang, die inhaltlich und/oder formal >Konflikt< und >sinnliche Begierde< thematisiert.« 208 Und zwar wesentlich deshalb, weil er choros im Hohenlied mit sangleich wiedergibt. 205

Ebd. (Hervorhebung H. K . ) Es kann nicht genügend betont werden, daß in der Glosse von Sequenz nicht die Rede ist. 206 E b d . S. 6 1 . Das Fragezeichen, das Apfelböck zunächst ans Ende dieser These setzt, hebt er im Folgesatz faktisch auf. 207 E b d . S. 62. Während zuvor dem Glossator genaueste Treue in seinen Übertragungen unterstellt wurde, um entsprechend weitreichende Spekulationen anschließen zu können, wird hier nun mit Assoziationen desselben gearbeitet. 208 E b d . S. 6 3 .

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Wie bereits erwähnt, wird die vielversprechende Hypothese einer discordia ficta an einem ganz konkreten historischen Punkt abgeleitet und von da aus zeitlich nach hinten und vorn ausgedehnt. Nach hinten, indem den ältesten Belegen aus dem 10. Jahrhundert, die nur als Komposita nachgewiesen sind, ein älteres Simplex in reiner Mutmaßung vorgeschaltet wird, das zwanglos ins »8. Jh., wahrscheinlich noch früher« datiert wird, 209 selbstverständlich mit konstanter Bedeutung. Erst damit liegen die Sequenzen des 9. Jahrhunderts später und werden automatisch zu Nachfolgern des deutschen Leichs. Daß letzterer in der Tat gemeint ist, belegt Apfelböcks Versuch einer Erhärtung der Priorität des Leichs vor der Sequenz mit dem Merkmal des doppelten Kursus: »Einige sehr frühe, evtl. vor-notkersche Sequenzen besitzen das eigentümliche Formmerkmal des doppelten Kursus, eine Art Gruppenwiederholung, welche die Sequenz sonst überhaupt nicht kennt, wohl aber als fakultative Möglichkeit der Leich«. 210 Mit solch anachronistischen Argumenten schwächt Apfelböck letztlich den Impuls, sich intensiver mit der Hypothese einer prozeßhaften discordia ficta auseinanderzusetzen. Ähnliches bemerkt Christoph März, wenn er moniert, daß die Lerche als »Leichsängerin« Beweislast zu tragen habe. 211 Doch trägt der entsprechende Exkurs das Signum einer fröhlichen Wissenschaft und wird den Rezipienten nicht leicht überfahren. Im übrigen sind die dort mitgeteilten Beobachtungen durchaus bedenkenswert. Wer einmal eine Lerche in ihrem typischen Vortrag beobachtet hat, wird diesem zweifellos eine gewisse Leichstruktur zubilligen müssen. Bedenkt man zudem, daß in der Lyrik die Vögel nicht selten widerstrit singen (vgl. Tannhäuser 11,14; XV,12), ist eine entsprechende Anthropomorphisierung nicht auszuschließen. Keinen erkennbaren Hinweis auf eine Leichsängerin gibt hingegen Oswald von Wolkenstein, der in seiner Nachdichtung des Virelai Par maintes foys von Jean de Vaillant diverse Vogelgesänge charakterisiert hat (Kl. 50). Er läßt dort in Vers 18 Zaunkönig, Zeisig, Meise und Lerche zunächst im Chor auftreten und später die Lerche mit dem eher ausdruckslosen Solo: liri liri liri liri liri liri Ion.212 209

Ebd. S. 66. Ebd. S. 70. Dies wird explizit als Indiz zitiert, um »die Frage der Priorität zwischen Leich und Sequenz zu beantworten«, ebd. S. 69, mit dem gewollten Resultat: »Diese Punkte sprechen nicht nur für die Priorität des Leichs, sondern auch für seinen Einfluß auf die liturgische Sequenz«, ebd. S. 70. (Hervorhebung H. K.) 21 "Vgl. Christoph März (Anm. 202), S. 1 3 2 , zu Apfelböcks »Exkurs: Lai und Vogelsang«, ebd. S. 3 2 - 3 4 . 212 Lied 50,30, nach dem französischen Vorbild, dort: lire lire [...] Ion.) Zit. nach: Die Lieder Oswalds von Wolkenstein. Unter Mitwirkung von Walter Weiß u. Notburga Wolf hrsg. 2,0

188

Wo Apfelböck sich um eine historische Linienführung der Formgenese bemüht, steht er deutlich in der Tradition von Kuhns Analysen, wie neben der generellen Tendenz der Aussage Stichworte wie statisch, objektiv und rational belegen: Der Leich hat die Freiheiten der offenen Form noch weit ins 13. Jh. bewahrt. Richtig ist, daß auch er schließlich nicht mehr als dynamisches Prinzip verstanden wird, sondern als statische Norm, deren Erfüllung mit objektiven, definierten Regeln zu leisten ist. [...] >Discordia ficta< steht zwischen den Polen amorpher Unordnung und Strophik, freier Dynamik und rationaler Konstruktion. 2 1 ' Am Ende der Entwicklung steht die Entscheidung zugunsten einer halb-strophischen, rationalen Form, und dafür gibt es gute Gründe: Die Kommunikation ist komplizierter geworden, das Publikum distanzierter, Dichtung gegenständlicher als in früherer Repräsentationskunst. Der Berufsmusiker muß sich — mehr als frühere Dilettanten, institutionelle Hofsänger und multifunktionale Unterhaltungskünstler — durch objektive Formen beweisen. 214

Dabei schlägt das gleiche pejorative Urteil durch, »rational« wird synonym mit »konstruiert«, und »objektiv« ist, was mechanischen Produktionsgesetzen gehorcht. Die Kunst der von Apfelböck zitierten Dilettanten und multifunktionalen Unterhaltungskünstler wird dagegen mit Freiheiten der Form und freier Dynamik positiv konnotiert. Discordia ficta wird zwischen den Polen amorpher Unordnung und Strophik verortet, zwar mit einer leichten Tendenz zur halb-strophischen rationalen Form, dies aber wegen des Verdikts nur als — von Berufsmusikern realisierter — Verfall begreifbar. 215 Eine wirklich historische Betrachtung des wachsenden Einsatzes von Rationalität in die Form hätte den Gegenpol nicht als amorphe Unordnung zu fassen, die Apfelböck schließlich nirgends vorfindet, sondern als vorbegriffliche, nicht-rationale, schwach reflektierte discordiaForm, als ein Noch-Nicht des Begriffs. Damit fiele freilich ein ganz anderes Licht auf die Formfiliationen. Selbst wenn die Sequenz in der Nachfolge älterer discordia-Versuche stünde, wäre sie durch die zunehmende Rationalität, die übrigens nicht zuletzt durch ihre Legitimationsprobleme in der Liturgie forciert worden sein könnte, deren Überbietung, von wo aus dann eine Wechselwirkung mit dem deutschen Leich zu veranschlagen wäre.

von Karl Kurt Klein. Musikanhang von Walter Salmen. 3., neubearb. u. erw. Aufl. von Hans Moser, Norbert Richard Wolf u. Notburga Wolf (ATB 55), Tübingen 1987. 113 Apfelböck (Anm. 3), S. 100. (Hervorhebungen H. K.) 214 Ebd. S. 1 0 1 . 2,5 V g l . auch ebd. S. ioo, Anm. 53, zur »Kanonisierung [ . . . ] des zunächst so lebensnahen [!] >leihgenus proximum< bestimmter Typen von Unstrophigkeit darstellt, dann muß es

2,Gattungs-Kennwort< ...Discordia daz wip\«22i Bei Betrachtung von Rugges Kreuzzugsleich, dem ältesten erhaltenen mittelhochdeutschen Leich, findet sich schließlich die gesamte Theorieanlage Apfelböcks in nuce, einschließlich der hypothetischen Vorgeschichte des Leichs, die Kuhn freilich der Estampie aufbürdet: »Rugge benutzt 1 1 9 0 einen festen Typ: [...] im Aufbau nach dem uralten [!] Gattungsprinzip gestaltet, mit typischen Textansagen, inhaltlich als Discordia-Descort stilisiert«. 224 Ohne dies zu 220

Ebd. S. 1 3 . Dieser Denkimpuls ist mit jenem von Brinkmann (Anm. 68) zu konfrontieren, welcher die Schwebe von Gattungen und Typen am Beispiel der deutschen Pastourelle nachzeichnete. 221 K u h n (Anm. 2), S. 1 1 4 . 222 Vgl. ebd. S. 1 0 8 . 223 E b d . S. 1 2 4 . 224 E b d . S. 1 3 1 . Ähnlich dann noch für Otto von Botenlouben, vgl. S. 1 3 3 . Auch in die

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erwähnen, treibt Apfelböck dasselbe Verfahren über Kuhn hinaus und wohl doch zu weit. So sieht er auch im Eingang von Winterstettens zweitem Leich mit arte widerstrit eine analoge Formansage, 225 doch darf man wohl nicht unter Übergehung der explizit davor gesetzten Negation äne den widerstrit im Sinne der discordia verstehen wollen. Unter den Belegstellen für das Vorkommen des mittelhochdeutschen Wortes leich befindet sich an sechster Stelle der merkwürdige Beleg aus Wolframs >Parzival< (160,3), da Königin Ginover den Tod des von Parzival erschlagenen Ritters Ither beklagt und ihre Totenklage mit dem Aufschrei: ouwe unde heia hei! einleitet. 226 Mit diesem Ausruf, der zwar hier in keinem Zusammenhang mit dem Belegwort leich steht, aber den aus einigen Tanzleichs bekannten Schlußschrei beiä hei zu zitieren scheint, belegt Apfelböck unter anderem »die Tatsache [!], daß etwa zwei Jahrzehnte vor den Tanzleichen des Tannhäusers diese Sub-Gattung bereits als fest etablierte zitiert werden kann. Tannhäuser und Winterstetten sind also gewiß keine Neuerer«. 227 Diese überzogene Deutung — die Stelle beweist allenfalls, daß Tannhäuser die Interjektion heia hei nicht erfunden hat — ist symptomatisch für Apfelböcks Verfahren, aus dem mit bewundernswerter Akribie gesammelten Material immer nur denselben fragwürdigen Schluß auf die altdeutsche Konstante einer reflexiven discordia ficta zu ziehen. Die bisherigen Versuche, den Leich über seine allgemeinste Bestimmung als unstrophische Form hinaus genauer zu bestimmen und als Gattung positiv zu spezifizieren, bleiben unbefriedigend. Dies läßt sich nicht zuletzt über die vorstehenden begriffskritischen Erörterungen erhärten.

7

Tannhäuser und der deutsche Leich

7.1 Tannhäusers literaturgeschichtliche Stellung Wie bereits mehrfach deutlich wurde, kann Tannhäuser als Leichdichter nur ausreichend gewürdigt werden, wenn sein bereits diskutiertes Leichceuvre in den Zusammenhang der gesamten mittelhochdeutschen Leichüberlieferung eingebettet wird.

Ergebnisse wurde die Hypothese aufgenommen: »Vielleicht nannte sich und betrachtete sich gerade der Estampie-Typ als >Descortmodern< bringen. Als lohnabhängiger Berufsdichter am Babenberger Hof zieht Tannhäuser zweifellos die Traditionslinien der feudalen Ästhetik weiter aus. Mit seiner individuellen Gestaltung steht er zwischen den bewahrenden Tendenzen, die allenthalben sichtbar werden, beispielhaft in dem rühmenden Dichterkatalog Reinmars von Brennenberg, und dem Neuansatz der erwachenden bürgerlichen Literatur, die freilich ihrerseits, indem sie wesentlich der Legitimation der patrizischen Oberschichten zu dienen hatte, von Beginn an — und gerade hier, als genuin eigene Formen noch fehlten — epigonale Tendenzen aufwies. Im Gegensatz zu anderen Zeitgenossen, wie etwa dem viel beachteten Steinmar, findet sich bei Tannhäuser jedoch kein Nebeneinander von rein Traditionellem in der einen und kontrastierenden Gattungsüberschreitungen in der anderen Liedgruppe, vielmehr stets das Ineinander, sowohl im Inhalt wie in der Form, insbesondere der Leichs mit ihren unterschiedlichen, bald strengeren, bald freieren Formteilen. Unter diesem Blickwinkel ist Tannhäuser wohl auch als Opponent des spätstaufischen Dichterkreises zu lesen. Hier wirkt er wiederum isolierter, da er keiner erkennbaren Dichtergruppe zuzurechnen ist, zumal sein Aufenthalt am Babenberger Hof, zeitlich eindeutig nach Neidhart anzusetzen, begrenzt gewesen zu sein scheint. Als sein schwäbisches Gegenüber ist insbesondere Ulrich von Winterstetten anzusprechen, der zweite reich überlieferte Leichdichter aus der Mitte des 1 3 . Jahrhunderts. Daher wird im nachfolgenden Abschnitt (7.3) noch einmal ein Exkurs angeboten, der beide Dichter in ein genaueres Verhältnis zueinander bringen soll. Gegenüber den bisherigen Einschätzungen in den Literaturgeschichten ändert sich das Tannhäuserbild vor allem bei einer Annahme der Echtheit der Hofzucht, da der Autor nun nicht mehr allein als Lyriker und Sangspruchdichter, sondern als Verfasser unterschiedlicher Textsorten zu betrachten ist. Dazu sei an dieser Stelle nur noch eine Überlegung ausgeführt. Wie in den einzelnen Interpretationskapiteln gezeigt wurde, ist das hier ableitbare

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Stichwort der Diversifikation hilfreich, einige Konflikte der Tannhäuserforschung zu entschärfen, wo nicht beizulegen. So ist gegen Teile der Forschung daran festzuhalten, daß Tannhäuser eine ausgeprägt parodistische Ader besaß, gleichwohl ist er nicht auf diese zu reduzieren, wie bereits sein Kreuzfahrtlied zeigt, nun durch das Bußlied flankiert. Ähnlich unterstreicht die Hofzucht die in den Sprüchen aufscheinenden didaktischen Bemühungen des Dichters, die durch einige ironische Strophen nur scheinbar relativiert werden. Es war gelegentlich von Tannhäusers Unernst die Rede, der jedoch keineswegs mit seiner Ironie gleichgesetzt werden darf. Ersterer, so war zu sehen, liegt beinahe zwangsläufig im Wesen der Auftragskunst, man denke etwa an Walthers viel diskutierten >Opportunismus< in seinen Sprüchen. Das genaue Gegenteil, großer ästhetischer Ernst also, liegt dagegen der Fähigkeit zur Selbstironie zugrunde, mit der Tannhäuser in seinen besseren Augenblicken auf seine Nachfahren Oswald von Wolkenstein oder François Villon vorausweist. Über den literarischen Wert der Tannhäuserleichs, und diese Bemerkung ließe sich noch verallgemeinern, besteht in der Forschung keine Einigkeit. So haben Bertau und Bumke den vierten bzw. sechsten Tannhäuserleich rein als Steinbrüche für ihre außerliterarischen Erkenntnisinteressen benutzt. Bertau äußert sich auch explizit und pauschal abwertend zu den von ihm untersuchten Leichs: »Diese könnten für unsere Begriffe an jeder Stelle zu Ende sein, ohne daß sie fragmentarischer wirkten als bei vollständiger Uberlieferung.« 2 3 1 Und als endgültiges Verdikt muß man es auffassen, wenn Bertau, seinerzeit der Genieästhetik geschuldet, schließt: »Tannhäusers vierter Leich wird eher als historisches Dokument denn als autonomes Kunstgebilde anzusehen sein.« 2 ' 2 Dieser Satz könnte vielleicht in unseren Tagen im Horizont der Autonomie-Heteronomie-Diskussion ganz unschuldig gelesen werden, damals war er nichts weniger als das. Genau so, als historisches Dokument, hat dann auch Bumke den sechsten, den berühmten Gönnerleich Tannhäusers aufgefaßt. Anscheinend ist er gar nicht erst auf den Gedanken verfallen, daß man das Stück auch als Kunstgebilde betrachten könnte. Nur einmal läßt er en passant und mit der größten Selbstverständlichkeit die Bemerkung fallen: »Tannhäuser gehört 2.1 2.2

Bertau (Anm. 48), S. 1 7 1 . Ebd. S. 170. Dagegen zu Frauenlob: »Dieser [historische] Augenblick ermöglichte dem Werk Frauenlobs seine Genialität [...]. Bei ihm löst sich das Werk aus der Verklammerung mit der Gesellschaft und wird Ausdruck einer Subjektivität.« (Ebd. S. 2 1 4 . Hervorhebung H. K.) Vgl. weiterhin den aus gleicher Zeit stammenden Aufsatz Bertaus >Genialität und Resignation im Werk Heinrich Frauenlobs«, DVjs 40 (1966), S. 3 1 6 - 3 2 7 . X96

sicherlich nicht zu den großen Gestalten der Literaturgeschichte.« 233 Die Tradition eines solchen Urteils wurde mit den Worten von Heinrich Kurz im Eingangszitat dieses Kapitels beleuchtet. Positive Würdigungen, die eher der von Siebert herrührenden Einschätzung sich anschließen können, sind in den Interpretationen von Hedda Ragotzky, 234 Helmut Tervooren, 235 Rena Leppin2,Verfasserlexikon< oder in einschlägigen Monographien sprechen zum großen Teil eher gegen Apfelböcks Festlegung der Reihenfolge. Überdies kann eine entsprechend eingerichtete Aufstellung wegen der relativ leicht zu reduzierenden Verhältnisse auch einen Uberblick zur Inhaltsgruppierung, nämlich Minneleich vs. religiöser Leich, und zur Uberlieferung geben, was den Aussagewert deutlich erhöht. Von dieser Kritik her wurde die folgende, in einigen Punkten von Apfelböck abweichende Übersicht über das deutsche Leichkorpus entwikkelt. Anhaltspunkte zu einzelnen Diskussionsständen, insbesondere bei der Datierung, sowie Kontrafakturverhältnisse werden in Anmerkungen mitgegeben. Als formal sicher bestimmbare Leichs werden die Nr. 1—45 betrachtet, in unmittelbarer Leichsukzession befinden sich die Nr. 46 — 50. Weitere Zweifelsfälle führt Apfelböck unter seinen Tertiärformen auf, doch finden sich dort keine Stücke mehr mit ähnlicher Nähe wie die hier aufgenommenen. Die Form von Tannhäusers Bußlied, bei Apfelböck Tertiärform Nr. 3, wurde in einem früheren Kapitel dieser Arbeit diskutiert. Spalte I der Tabelle gibt die laufende Nummer, Spalte II die Zählung nach Apfelböcks Leichliste (T = Tertiärformen) wieder.

241

anderer Stelle als »sekundäre Leich -Nachfolger« (ebd. S. 1 7 9 , Hervorhebungen H. K.), daraus kann man sich eine Tautologie zusammenreimen, doch ist nicht einzusehen, wieso etwa der Zürcher Minneleich über sekundäre Zwischenstufen vermittelt sein sollte. Apfelböck selbst sieht ihn als »Ausläufer der späten Schweizer Tradition« (ebd. S. 145) an, womit doch wohl die späten Schweizer Leichdichter, etwa Der von Gliers, Winli und Hadlaub gemeint sind. Ebd. S. 1 3 7 .

199

I

II

I 3 2 4 3 5 4 5 5 7 6 8 7 10

Verfasser Heinrich von Rugge Ulrich von G u t e n b u r g Walther von der Vogelweide 244 Kontrafaktur Waz rächen sie O t t o von Botenlouben Reinmar von Zweter Ulrich von Liechtenstein

Inhalt relig. Leich Minneleich Marienieich relig. Leich Minneleich relig. Leich Minneleich

Überlieferung 242

nur in N nur in C C, k, k 2 , 1 nur in J C, A C u.a. Hss. 2 4 8 nur in M 24s>

Datierung nach 1190 vor/um 1200? 2 4 3 1200-1230245 unsicher 2 " 6 1200-1230247 um 1230 1231/32

242

Sigle nach MF 96,1. Sayce (Anm. 78) spricht Ulrich den Leich insbesondere aufgrund der Bauform ab und datiert ihn »by a late thirteenth-century or early fourteenth-century poet« (S. 405); Apfelböck (Anm. 3) setzt ihn »noch ins 12. Jh.« (S. 115); Günther Schweikle, 2 VL 3 (1981), Sp. 872, hält ihn für ähnlich alt. 244 Kontrafaktur Captus Amore gravi, lateinischer Minneleich. Überlieferung: CB 6o/6oa. Nach Vollmann (Anm. 139), S. 1007: »Sequenz mit teilweiser Versikelresponsion«. Vom Redaktor wurden alle 27 Versikel als zu einem Lied gehörig betrachtet. Demgegenüber seien jedoch inhaltlich zwei Gedichte zu unterscheiden (Versikel 1 —18 u. 19—27; vgl. ebd. S. 1008). Z u r Datierung: Vermutungen wie »etwa Wende 11./12. Jahrhundert« (ebd. S. 1007) beziehen sich auf die Textgestalt, namentlich unreine Reime. Walthers Abhängigkeit von CB 60 wäre demnach sehr wahrscheinlich. Dagegen Apfelböck (Anm. 3), S. 138: »Priorität nicht geklärt«. 243

245

Gegen eine Spätdatierung, wie z. B. bei Hahn, neuerdings Reinitzer: »1201, wohl nach dem 3. Juli« und Spechtler: »um 1200«. Gerhard Hahn, Walther von der Vogelweide. Eine Einführung (Artemis Einführungen 22), München 1986, S. 130. Heimo Reinitzer in: Jan-Dirk Müller u. Franz Josef Worstbrock (Hrsg.), Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988 zum 65. Geb. von Karl-Heinz Borck, Stuttgart 1989, S. 171. Franz Viktor Spechtler in: Hans-Dieter Mück, (Hrsg.), Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk (Kulturwissenschaftliche Bibliothek 19), Stuttgart 1989, S. 331.

246

Fragmentarisch überliefert in der Jenaer Liederhandschrift. Die meisten Dichter i n j gehören in die Mitte des 13. Jahrhunderts, J selbst vor die Mitte des 14. Jahrhunderts. Apfelböck (Anm. 3), S. 138: »Priorität: Waither«. 247 Walter Blank datiert den Leich »nach ca. 1220«. In: Die Kleine Heidelberger Liederhandschrift Cod. Pal. Germ. 357 der UB Heidelberg. Einführung von Walter Blank (Facsimilia Heidelbergensia 2), Wiesbaden 1972, S. 135. Silvia Ranawake, 2 VL 7 (1989), Sp. 211, auf 1200—1230. 24 "Siglen: C, W, k, k 2 , 1, i, m 2 , jetzt nach Schubert (s.u.). Der Leich bleibt, da ohne historische Anspielungen, in seiner Datierung unsicher. Horst Brunner, 2 VL 7 (1989), Sp. I I 9 9 Í . , datiert die Sprüche in den Zeitraum 1227 — 1248. Kuhn (Anm. 2), S. 133: »um 1230?« Zur Überlieferung vgl. Gustav Roethe (Hrsg.), Die Gedichte Reinmars von Zweter, Leipzig 1887, Nachdruck Amsterdam 1967, S. 1 4 7 - 1 5 2 . Kontrafaktur 0 amor dem deitas, lateinischer Minneleich. Apfelböck (Anm. 3), S. 139, und Objartel argumentieren für Reinmars Priorität, obwohl die älteste lateinische Fassung aus Graz zeitlich unmittelbar an Reinmar heranreicht. Georg Objartel, Zwei wenig beachtete Fragmente Reinmars von Zweter und ein lateinisches Gegenstück seines Leichs, ZfdPh 90 (1971) Sonderh., S. 2 2 i f . Nach ausführlicher Untersuchung gelangt jetzt auch Martin J . Schubert, Die Form von Reinmars Leich, ABäG 41 (1995), S. 85 — 141, zu der Auffassung, daß dem Leich Priorität gegenüber dem Conductus zukommt. Vom Leich sind insgesamt 2 3 8 Verse erhalten, die jedoch von keiner Handschrift komplett geboten werden, weshalb Aussagen über das >Original< kaum möglich sind (vgl. ebd. S. 100). 249

Zur Überlieferung vgl. Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst. Hrsg. von Franz Viktor Spechtler ( G A G 485), Göppingen 1987, S. X I V f . Die ältere, auch in KLD verwendete, Sigle ist L. Datierung nach KLD II, S. 521.

200

I

II

Verfasser

8

6 6 6 6 6 6

Rudolf von Rudolf von Rudolf von Rudolf von Rudolf von Rudolf von Tannhäuser, Tannhäuser, Tannhäuser, Tannhäuser, Tannhäuser, Tannhäuser,

9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26

9 9 9 9 9 9 12 12 12 12 12 13 11 18

27 28 14

Rotenburg, I Rotenburg, II Rotenburg, III Rotenburg, IV Rotenburg, V Rotenburg (?), V I I II III IV V VI

Ulrich von Winterstetten, I Ulrich von Winterstetten, II Ulrich von Winterstetten, III Ulrich von Winterstetten, IV Ulrich von Winterstetten, V Anonym, Tanzleich Heinrich von Sax Der Taler Konrad von Würzburg, I

Inhalt

Überlieferung

Minneleich Minneleich Minneleich Minneleich Minneleich relig. Leich Fürstenpreis Pastourelle Pastourelle Minneleich Geographiel. Gönnerleich Minneleich Minneleich Minneleich Minneleich Minneleich Minneleich Minneleich Minneleich relig. Leich

nur in C 1 2 0 0 - I25025° nur in C s. Leich I nur in C s. Leich I A, C \ C2 251 s. Leich I nur in C s. Leich I nur in C unsicher 2 5 2 nur in C ca. 1245 nur in C 1230—1270 nur in C 1230—1270 nur in C 2 5 ' 1230—1270 nur in C I247/48 2 5 4 nur in C 125 6/66 nur in C 1240-1280 nur in C s. Leich I nur in C s. Leich I C, S, KLD I, S. XXXs. Leich I nur in C s. Leich I nur in a (Anh. A) unsicher 2 5 5 nur in C 1250-1300256 nur in C 1 2 5 5 - 1 2 6 5 ?257 nur in C ca. 1 2 6 0 - 1 2 8 7

Datierung

2 5 °Silvia

Ranawake, 2 V L 8 (1992), Sp. 366, datiert »Lieder und Leiche in die erste Hälfte des 13. Jhs.«; Kuhn (Anm. 2), S. 119: »Mitte 13. Jahrhundert?«

Der Leich ist dreimal überliefert: In der Kleinen Heidelberger Liederhandschrift, Bl. 2 i v 22 r unter Niune; in C , Bl. 55 v b -56 r a unter Rotenburg und Bl. 3 i 9 v a b unter Niuniu. 2 5 2 Ranawake, 2 V L 8 (1992), Sp. 368: »Der Marienieich VI ist Kontrafaktur zu I, verrät in der Wahl der Motive eine Beziehung zum Leich Walthers von der Vogelweide und ist wahrscheinlich R.v.R. abzusprechen«. Als Kontrafaktur zu Leich I später als dieser. Die inhaltlich verwandte Strophe Reinmars des Fiedlers wird auf die Mitte des 13. Jahrhunderts datiert; vgl. Gisela Kornrumpf, 2 V L 7 (1989), Sp. 1196. 2 , 3 Satire, Belesenheit und Anzüglichkeiten sprechen eher gegen die Annahme eines Jugendwerks. Kontrafaktur 5/0», egredere, lateinischer religiöser Leich. Überliefert in Hs. München clm 5539. V g l . dazu Lomnitzer/Müller (Anm. 19), S. 9. 2 5 4 Leppin (Anm. 137), S. 58, versucht, die Entstehung auf Juni/Juli 1248 einzugrenzen. 2 5 5 Der Eintrag in Handschrift a wird ins erste Viertel des 14. Jahrhunderts datiert, für den Leich selbst ist jedoch kaum etwas auszusagen. Gemäß Paules Analyse ist der Leich nach Tannhäuser anzusetzen (vgl. A n m . 4, S. 243^), nach K L D II (S. 309) ist er ebenso »nach Winterstetten zu setzen«, dennoch ist die Auffuhrung hier mehr typologisch als chronologisch motiviert. 2 5 6 K u h n (Anm. 2), S. 126: »zweite Hälfte 13. Jahrhunderts«. Nach Bartsch und Schweikle, 2 V L 3 (1981), Sp. 878f., urkundet Heinrich v. Sax 1 2 3 5 - 5 8 ; der Tanzleich stünde »in der Tradition des Tannhäusers und Ulrichs von Winterstetten« (ebd. Sp. 879), wäre also nach diesen entstanden. V g l . Karl Bartsch (Hrsg.), Die Schweizer Minnesänger (Bibliothek älterer Schriftwerke der deutschen Schweiz 6), Frauenfeld 1886, Nachdruck Darmstadt 1964, S. X C V I . 2 , 7 C l a u d i a Händl, 2 VL 9 (1996), Sp. 5 9 0 - 9 2 , verweist auf Lütold von Tale, der 1 2 5 5 - 6 5 bezeugt, meist mit dem Dichter identifiziert, jedoch nicht zweifelsfrei als dieser auszumachen ist. 251

20I

I

II

Verfasser

Konrad von Würzburg, II Hermann Damen Der Wilde Alexander Der von Gliers, I Der von Gliers, II 33 17 Der von Gliers, III 34 17 3 5 T 6 Anonym, Marienleich 3 6 20a Frauenlob, Marienleich 37 20c Frauenlob, Minneleich 38 20b Frauenlob, Kreuzleich Winli 3 9 19 40 21 Hadlaub, I 41 21 Hadlaub, II 42 21 Hadlaub, III Otto vom Turne 4 3 22 29 14 30 1 5 3 1 16 3217

258

Inhalt

Überlieferung

Datierung

Minneleich relig. Leich Minneleich Minneleich Minneleich Minnel. 2 6 0 Marienleich Marienleich Minneleich relig. Leich Minneleich Minneleich Minneleich Minneleich Minneleich

nur in C nur in J C, J , W nur in C nur in C nur in C nur in Hs. 3 2 3 4 C u.a. Hss. 2 6 2 F, W F, P, t, W nur in C nur in C nur in C nur in C nur in C

ca. 1 2 6 0 — 1 2 8 7 2 : ca. 1 2 7 0 — 1 3 0 0 ca. 1 2 7 5 —1300 ca. 1 2 6 7 —1308 2 ' s. Leich I s. Leich I um 1 3 0 0 ? 2 6 1 1290-1295?263 bald nach 1 3 0 0 wenig vor 1 3 1 8 Anf. 14. J h . ? 2 0 4 s. Winli s. Winli s. Winli Anf. 14. J h . ? 2 6 '

D i e Behandlung der Thematik in Verbindung mit Zeitklagen paßt ins Interregnum ( 1 2 5 4 - 1 2 7 3 ) , vielleicht liegt der Minneleich früher als der religiöse. Vgl. Hartmut Kokott, Konrad von Würzburg. Ein Autor zwischen Auftrag und Autonomie, Stuttgart 1989, S. 1 7 8 .

N a c h Ingeborg Glier, 2 VL 3 ( 1 9 8 1 ) , Sp. 54, ist Der von Gliers von 1 2 6 7 — 1 3 0 8 bezeugt. Bei Apfelböck (Anm. 3) als Wilhelm von Gliers identifiziert. 2 6 0 Der Bau ist identisch mit Leich II, wegen der Ankündigung am Ende von II und der inhaltlichen Verbindung ist wohl von einem zusammengehörigen Doppelleich auszugehen. 2 6 1 Christoph März, 2 V L 6 (1987), Sp. 1 7 , datiert das lose Pergamentblatt G N M Hs. 3 2 3 4 auf »um 1 2 8 0 — 1 3 5 0 « . Bartsch: »der leich ist in der besten zeit des dreizehnten jahrhunderts gedichtet.« In: Karl Bartsch (Hrsg.), Die Erlösung. Mit einer Auswahl geistlicher Dichtungen (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 37), Quedlinburg/Leipzig 1 8 5 8 , Nachdruck Amsterdam 1966, S. X X X . 259

Zur Überlieferung vgl. Frauenlob GA, S. 20—160. Der Marienieich ist demnach in 13 Handschriften ganz oder teilweise überliefert. 2 6 3 Wachinger hält »den Minneleich auch für älter als den Marienieich«, ohne ein konkretes Datum zu nennen. In seiner Erwiderung datiert Bertau 1 9 7 8 den Marienieich in die frühen 1 2 9 0 e r Jahre. Karl Stackmann, 2 VL 2 (1980), Sp. 868f., referiert beide Thesen ohne Kommentar. Die Göttinger Ausgabe setzt den Marienieich an die erste Stelle. Burghart Wachinger, Sängerkrieg. Untersuchungen zur Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts (MTU 42), München 1 9 7 3 , S. 242, Anm. 78. Karl Heinrich Bertau, Zum wîp-vrowe-Stieit, G R M 28 (1978), S. 230f. 2mme sinne dt sint minneFrauendienst< enthalten, wird nämlich in die Jahre 1 2 3 1 / 3 2 datiert 2 ® 7 und damit durchaus vor jene Minneleichmode um 586 287

Ebd. S. 405. Sowohl von K L D II, S. 5 2 1 , als auch von Kuhn (Anm. 2), S. 139, Spechtler (Anm. 249), S. IV, und Jan-Dirk Müller, 2 V L 9 (1996), Sp. 1 2 7 4 - 8 2 .

208

Tannhäusers Zeit. Neben Otto von Botenlouben träte somit Ulrich von Liechtenstein nicht als nachklassischer Stilisierer, wie er immer wieder, so auch von Apfelböck, 2 8 8 dargestellt wird, sondern geradezu als Promotor der Leichform ins Blickfeld.

Exkurs: Tannhäuser und Ulrich von Winterstetten Wie bereits eingangs dieses Kapitels bemerkt, nehmen unter den deutschen Leichdichtern Tannhäuser und Winterstetten insofern eine gemeinsame Sonderstellung ein, als sie die einzigen Autoren sind, bei denen ein mehr als einmaliges oder nebensächliches Aufgreifen der Tanzthematik innerhalb des Leichs erkennbar ist. 2 ® 9 Daher sind diese beiden zeitgenössischen Dichter immer wieder verglichen worden, nicht selten verknüpft mit der Frage, wer von beiden der >Erfinder< des höfischen Tanzleichs gewesen sein mag. 2 9 0 Auch Kuhn erörtert das Verhältnis der Dichter im Lichte dieser Frage, hält sie indes für nicht beantwortbar: »Ob in der engeren Gemeinschaft Tannhäuser oder Winterstetten der Gebende war, läßt sich nicht entscheiden.« 29 " Zwar wird nach den heutigen Datierungsannahmen Tannhäuser ein wenig älter gewesen sein, doch hält Kuhn es für unwahrscheinlich und unnötig, »eine Rückbildung der Tannhäuserschen Motive durch Winterstetten« ins Traditionalistische zu vermuten. 2 9 2 Es klingt am plausibelsten, »daß Tannhäuser wie Winterstetten von daher, von einer bereits bestehenden Formund Inhaltstradition, ihre Tanzschlüsse nahmen« 2 9 3 und somit zwei parallele Vertreter aus gemeinsamen Wurzeln waren, deren Berührungspunkte sich freilich in diesem ganz äußerlichen Merkmal erschöpft. Darüber hinaus gibt es noch einige wörtliche Anklänge wie den Reim auf krachen, bei Tannhäuser in VII,28 und X I , 4 2 , bei Winterstetten in I , i 6 : da von min herze muoz krachen, und X I V 3 , 1 6 : [ . . . ] mir daz herze üz 288

V g l . Apfelböck (Anm. 3), S. 1 3 9 . Einzelne Tanzleichs finden sich noch m i t dem anonymen Leich in a (Korpus Nr. 25), bei Heinrich von Sax (Nr. 26); Tanzelemente in den Leichs bei Otto von Botenlouben (Nr. 5), Konrad von Würzburg (Nr. 2 9 ; V. 1 2 0 : Disen tanz hat iu gesungen), Hadlaub (Nr. 4 0 . 4 1 ) mit Tanzansagen, und im anonymen hovedans der Haager Liederhandschrift (Nr. 45). 290 A m ausführlichsten bei Sayce (Anm. 78), S. 3 7 8 — 3 8 3 , mit der Entscheidung für Ulrich von Winterstetten, S. 3 8 3 : »Since Tannhäuser is furthest from Neidhart in this respect [i.e. «dancing is associated with a description of summer, without a catalogue of peasant names»], this again suggests that Winterstetten is the originator of the Tanzleich.« 291 K u h n (Anm. 2), S. 1 4 1 . 292 E b d . S. 1 4 2 . 395 Ebd. Ulrich von Winterstetten wird im folgenden nach K L D Nr. 59 zitiert. 289

209

jämer krachen, oder das Reimpaar krenzel : swenzel in Tannhäuser IV,67^ und Winterstetten I I I , 1 9 . A m eindrücklichsten ist die Parallelität der Eingänge von Tannhäusers Lied VIII und Winterstettens viertem Leich, auch wenn sich dort Winter- und Sommereingang gegenüberstehen. Einzelne Verse klingen wie direkte Antworten: Th. V. 4 Wie hant sich diu zit gestalt! —> Wi. V. 2 Wan diu zit ist wunnecltch gestalt. Th. V. 6 schouwet wie der anger ste! —*• Wi. V. 9 Der anger lit an allen strit! Außerdem stimmen mit walt : gestalt, beide : leide, reine : meine etliche Reimpaare überein, so daß nicht auszuschließen ist, daß ein Stück dem anderen als Vorlage diente. Auch Gustav Rosenhagen betont mit verschiedenen Argumenten die starke Gemeinsamkeit: So stehen diese Leichgedichte [Tannhäusers] denen des Ulrich von Winterstetten in der Grundlinie gleich, in dem Zusammengehen und in dem, was wir dabei denken sollen. Es ist auch die gleiche Form, die denen des Tannhäusers ihre Eigenart verliehen hat und auch das Absonderliche, das ihm nun einmal nicht abzustreiten ist. 294 Dennoch hält diese Identifizierung einer Überprüfung an den Texten nicht stand. Ebenso kann Kuhns bereits wiedergegebene Hypothese zum Verhältnis der beiden Dichter ein wenig nuanciert werden, wodurch vielleicht etwas mehr Eindeutigkeit in der Aussage zu erzielen ist. Auffällig nämlich ist, jedoch durch Kuhns Subtypenanalyse etwas verdeckt, daß Tannhäusers extremer Variationsbreite eine starke Uniformität bei Winterstetten gegenübersteht. Alle fünf Leichs des letzteren sind rein konventionelle Minneleichs mit Tanzschlüssen und klein- bis kleinstteiliger Binnengliederung, so daß man in bewußter Pointierung gegen Tannhäuser sagen könnte, daß, wer einen Winterstetten-Leich kennt, alle kennt. Daß bei solcher Uniformität wenig gehaltvoller Ernst erreicht wird, leuchtet von selbst ein und soll hier nur mit einem Beispiel vertieft werden, das geeignet scheint, einen besonderen Unterschied zu Tannhäuser herauszustellen. Die bereits gelegentlich angeklungene und später noch zu spezifizierende

Trauer Tannhäusers, ein immer wieder auftretendes Motiv der

Schwermut, vielleicht aus Unfreiheit und Bedrückung erwachsend, 2 9 5 fehlt bei Ulrich ganz, wird dafür jedoch im Topos des Liebeskummertods verbal sogar noch überboten. Gerade die Hyperbolik, mit der Ulrich noch in 294

295

Gustav Rosenhagen, Die Leiche des Tannhäuser und des Ulrich von Winterstetten, Z f d P h 6 1 ( 1 9 3 6 ) , S. 2 7 3 . V g l . unten Kap. IV. 3 . 3 .

2IO

jedem seiner Leichs in den Tod zieht, verrät Stereotypie wie Unernst dieser Lyrik: 2 9 6 I II III IV V

ich muoz sterben aide erwerben fröideberndez heil an ir. Ich dulde âne schulde nach hulde den tôt, [...] Ich stirbe, verdirbe, ist daz ich niht heil erwirbe. Ich mähte ersterben, sol mîn werben niht erschiezen mir, Jô bin ich tôt, sol ich liep niht erwerben.

Hier stirbt nicht der Dichter, sondern allenfalls seine Dichtung. Renate Hausner charakterisiert sie deshalb treffend als »Spiel mit dem Identischen«. 2 9 7 Winterstetten spricht ihrer Analyse zufolge nicht über etwas, sondern er thematisiert gleichsam das Sprechen selbst, und zwar als explizit konservatives Sprechen in den Bildern des hohen Minnesangs. 2 9 ® Dies führt zu einer semantischen Repetitionsneigung, die sich formal teils im Refrain, teils im dem Schlagreim bzw. der Kurzgliedrigkeit förderlichen Leich niederschlägt. »Die außerordentliche Bedeutung, die der Dichter dem Phänomen der Répétition in seinem künstlerischen Schaffen beimißt, kommt hiebei noch dadurch signifikant zum Ausdruck, daß die korrespondierenden sprachlichen Elemente an besonders ausdrucksintensiven, d.h. an metrisch (und musikalisch) >neuralgischen< Stellen postiert werden.« 2 9 9 Z w a r hat K u h n Winterstetten in den wachsenden Schematismus des 1 3 . Jahrhunderts eingliedern können, so daß das Schablonenhafte in Winterstettens Lyrik nicht durch eine isolierte Betrachtung überbewertet werden sollte, andererseits findet sich hier doch eine Extremform der sprachlichen Uniformierung und formalen Virtuosität, die mit ihrer Tendenzförmigkeit nicht zu erledigen ist. 296

297

298

Belegstellen (oben zitierte kursiv): Leich 1 , 1 6 . 3 2 . 3 4 ; II,79.84.98; 111,48.85ff.; IV,5i.53.72.125f.; V,61.70. V g l . Renate Hausner, Spiel mit dem Identischen. Studien zum Refrain deutschsprachiger lyrischer Dichtung des 1 2 . und 1 3 . Jahrhunderts. In: Sprache - Text — Geschichte. Beiträge zur Mediävistik und germanistischen Sprachwissenschaft aus dem Kreis der Mitarbeiter 1 9 6 4 — 1 9 7 9 des Instituts für Germanistik an der Universität Salzburg, hrsg. von Peter K . Stein u.a. ( G A G 304), Göppingen 1 9 8 0 , S. 2 8 1 - 3 8 4 . V g l . dazu die programmatische Erklärung in Leich IV: 63 Und ich gedenke: ach, sender schenke,

wenke niht an dienste, sä bejagest du minne. Etwas abwegig erscheint die Deutung Paules (Anm. 4), S. 2 4 3 , Winterstetten konstituiere mit dem schenken eine dem Tanhüsaere vergleichbare Autorrolle: »Er bringt die absolute Verbindlichkeit hoher Minne zur Geltung und legt sich selbst in der Form einer Autornennung (sender schenke) darauf fest.« Der schenke wird aber sonst nur noch in Lied IV,3, einem stark an Neidhart erinnernden Mutter-Tochter-Dialog, erwähnt, in dem übrigens die Mutter über die Liedkunst des Dichters ein — die Polemik sei hier einmal gestattet — recht verständiges Urteil spricht (V. 5—7): u>ê mir dis gedoenes / daz mir dur den lîp / und dur diu üren dringet. 299 H a u s n e r (Anm. 297), S. 3 5 9 . (Hervorhebung H. K . )

211

Der lyrische Kulminationspunkt in Winterstettens Leichkunst ist der Reim. Sein Klang allein legitimiert die Topoi einer kontextlos gewordenen hohen Minne, die Dichtung gerinnt zur akustischen Reminiszenz minneethischer Reflexionen, die als Schlagwort im Schlagreim ganz zu sich selbst findet,

wie bald jede beliebig herauszugreifende Textstelle belegt (Leich

III): 55

Nemt war gar dar wie mich diu schoene twinget swar ich var! Min muot guot fruot wirf an mir, ob si lobeliche tuot. Ich singe, ich ringe mit manigem dinge [•••]>

was auch dem K l a n g , sofern ihn der moderne Hörer recht vernimmt — etwa im Vergleich mit Tannhäuser und anderen Zeitgenossen —, nicht immer gut bekommt (Leich IV): 17

An disen stunden sint gar enbunden unden unde ouch oben berge und elliu grüene tal.

Der R e i m wird hier zum genauesten Umschlagsort des Inhalts in die Form, er ist seinem Wesen nach beides und bietet sich deshalb für Winterstettens Intention an, entlarvt ihn dabei zugleich. W o alles unterstrichen ist, wird nichts mehr hervorgehoben, wo es nur noch bevorzugte Orte gibt, sinkt alles ins Belanglose zurück. So versucht der Dichter, der die Inhalte im Klang bewahren möchte, sich in die Apotheose der Form zu retten. »Die wesentliche Aussage der Ulrichschen Lyrik liegt also in der Form; die Form ist zum eigentlichen Inhalt der Dichtung geworden.« 3 0 0 Ein schärferer Gegensatz zu Tannhäuser ließe sich kaum denken, da dieser die Leichform, wie hinreichend gezeigt, sich dienstbar macht für die disparatesten Zwecke, für Pastourelle, Fürstenpreis, Parodie, gelehrte Kataloge etc. Bei Tannhäuser ist die Form frei geworden für jeden Inhalt, bei Winterstetten wird sie frei von jedem Inhalt. Daß darin zugleich eine Identität, eine Zeitgenossenschaft liegt, ist leicht zu sehen. Beiden gelingt es nicht, Inhalt und Form in überzeugender Weise miteinander zu vermitteln oder, idealistisch formuliert, in ein notwendiges Verhältnis zu bringen. Doch ein wechselseitiger Einfluß, wenn er existiert haben sollte, beschränkt sich allein auf die Wortwahl, ideologisch sind beide weit voneinander entfernt. Tannhäuser ist innovativ und in der Überschreitung der Konventionen progressiv, Winterstetten dagegen so konservativ, daß Hausner darin

eine politische

Unterstützung

der Stauferpartei

erblicken

möchte: »Das künstlerische >Spiel mit dem Identischen< enthüllt sich als 300

Ebd. S. 363.

212

realpolitisches Spiel um die Stabilität traditioneller Machtkonstellationen.«' 0 1

7.4 Zur Literaturgeschichtsschreibung des Leichs Abschließend wird der Blick noch einmal auf die Gesamtheit des mittelhochdeutschen Leichkorpus zurückgelenkt, um einige abschließende Bemerkungen zur Literaturgeschichte des Leichs anzufügen. Wie bereits festgestellt, finden sich außerhalb der C-Überlieferung vorwiegend religiöse Stücke. Von einer Kontinuität kann hier, bei neun religiösen und sechs nicht-religiösen Stücken in einem Zeitraum von rund 200 Jahren kaum die Rede sein, und manche Topoi der Literaturgeschichtsschreibung bedürfen womöglich der Revision. Dies ist ein erstes vorläufiges Fazit aus der Gesamtschau. Da ist zum einen der Topos vom »Pflichtstück«, die liebgewonnene, auch von Hugo Kuhn kolportierte Vorstellung, daß nach Walthers prachtvollem Marienieich im Œuvre jeden Dichters ein Leichbeispiel als Beweis vollendeter Dichtkunst nicht fehlen durfte. 3 0 2 Dabei hinterließ Walther eine religiöse Sequenz mit doppeltem Kursus, für die auch Kuhn kein weiteres mittelhochdeutsches Beispiel findet. Er nennt als Beleg für Dichteroeuvres, in denen der Leich wie ein Pflichtstück erscheint, außer »Walther selbst, Ulrich von Liechtenstein, Reimar von Zweter, Konrad von Würzburg, Hadlaub, Frauenlob«. 303 Auch wenn man dieses heterogene Spektrum von Autoren bzw. ihrer Werke akzeptiert, wäre die These vom Leich als Pflichtstück mit einem solchen Manipel kaum zu erhärten. Und im Manesse-Codex, der, wie bereits bemerkt, über die Hälfte aller erhaltenen Leichs tradiert, stellen die Leichdichter unter ihren Kollegen nur eine Minorität von etwas weniger als zwölf Prozent. Der zweite Topos der Literaturgeschichte, der mit Bedacht zu wählen wäre, ist der von den »Traditionslinien«. Daß Ulrich von Liechtenstein kaum die vor ihm liegende Traditionslinie des Minneleichs in eine stilisierende Spätform einbringen konnte, wurde erwähnt. Weitere Beispiele sind etwa dem >Verfasserlexikon< zu entnehmen. Im seinem Artikel über Heinrich von Rugge schreibt Günther Schweikle: Dieser Leich »ist der älteste mhd. Kreuzleich und neben dem Minneleich Ulrichs von Gutenburg der 301

Ebd. S. 384. Dies ist aus Winterstettens K u n s t allerdings nur ästhetisch ableitbar, es kann hier nicht als im strengeren Sinne bewiesen gelten. ,oa V g l . H u g o K u h n , Gattungsprobleme der mhd. Literatur. In: Dichtung und Welt im

303

Mittelalter, Stuttgart Ebd.

2

1 9 6 9 (zuerst 1 9 5 6 ) , S. 4 7 .

2x3

älteste erhaltene mhd. Leich überhaupt.« 304 Die hier ausgelegte Traditionslinie des Kreuzleichs ist jedoch ein Blindgänger, denn es gibt keinen zweiten Leich, welcher den Kreuzzug thematisierte. Frauenlobs gleichbenannter Kreuzleich, an den Schweikle gewiß nicht gedacht haben wird, ist ein religiöser Leich, der das christliche Kreuz einer mystischen Allegorese unterzieht. Vielleicht sollte man zur Vermeidung eines Homonyms bei Rugge stets korrekt von einem und dem einzigen erhaltenen Kreuzzugsleich sprechen. Schließlich bemerkt Horst Brunner in seinem Artikel über Reinmar von Zweter: »R[einmar]s religiöser Leich (233 w . ) folgt dem Grundschema, das sich im Lauf des 1 3 . Jh.s für diesen Leichtyp herausbildete«. 3 0 5 Zur Herausbildung eines Grundschemas müßten sicherlich mehrere kommensurable Stücke vorausgehen. Als Vorläufer kommt hier indes außer andeutungslos Verlorenem überhaupt nur Walthers Leich in Frage, der jedoch grundsätzlich anders gestaltet ist. Weder formal — Reinmars Leich besteht ausschließlich aus klingenden und vollen Viertaktern —, noch leichtypologisch — Kuhn rechnet ihn zum Laityp, er weist jedenfalls weder einschlägige Sequenzmerkmale auf, noch zeigt er den doppelten Kursus wie Walthers Leich —, noch auch inhaltlich — so fehlt Reinmars Stück das ausgeprägt antithetische Moment Walthers, und als Leitmotiv fungiert nicht der Marienpreis, sondern die Gottesminne — kann man mit Fug davon sprechen, im Laufe des 1 3 . Jahrhunderts habe sich überhaupt ein verbindliches Grundschema für den religiösen Leich herausgebildet. Die dritte kritische Schlußfolgerung, die aus einer Gesamtschau des mittelhochdeutschen Leichkorpus zu ziehen ist, betrifft den Topos des »Prunkstücks«, der als Attribut für den Leich in kaum einer Literaturgeschichte fehlt. 3 0 6 Er ist auch gewiß nicht im eigentlichen Sinne falsch; aber zu leicht dient er als Etikett, das die Sache selbst mit eiligem Lob verdeckt. Wenig Prunkvolles bietet etwa der Bau des religiösen Leichs Reinmars von Zweter, der nur aus Viertaktern besteht; 307 diese Tendenz verschärft Tannhäusers zweiter Leich, der mit 25 gleichartigen Vierzeilern und zwei Halbstrophen, zu Beginn und etwa in der Mitte, praktisch strophisch gebaut ist. Seine Kurzbeschreibung lautet: A 14XB A 1 i x B , wobei B = 2A. 304

G ü n t h e r Schweikle, J V L 3 ( 1 9 8 1 ) , Sp. 8 7 2 . Horst Brunner, 2 V L 7 ( 1 9 8 9 ) , Sp. 1 2 0 2 . 3o6 V g l . Ragotzky (Anm. 38) oder erneut in der Auswahl von Müller/Weiß (Anm. 100), S. 5 4 1 : »Der Leich ist die Prunk- und Großform der mittelhochdeutschen Sangverslyrik.« 307 Z u r Form jetzt ausführlich Schubert (Anm. 248), wenn auch ohne ästhetische Wertung und mit Schwerpunkt auf der Musikanalyse. Das »Fehlen einer nachvollziehbaren klaren Ordnung« (S. 87) könnte durch den Verlust der ursprünglichen und authentischen Gestalt mitbedingt sein (vgl. das Fazit ebd. S. 1 3 9 ) . 305

214

Ähnlich auch der sechste Leich desselben Dichters, dessen Formschema mit: A A A 32XB C D E beschrieben werden kann. Schlicht gebaut sind weiter der Leich Ulrichs von Liechtenstein, wenn auch nach Aussage des Autors ein flottes Stück mit hohen Tönen, die Leichs I und V Ulrichs von Winterstetten, bestehend aus 52 bzw. 86 Versen, oder die späten Stücke Hadlaubs, Ottos vom Turne und aus der Zürcher Liebesbriefsammlung, alle bis auf einen im Umfang deutlich unter 1 0 0 Versen bleibend. Gewiß erkennt man mitunter auch Prunkstücke, ausladend und häufig im Formbau kaum sicher bestimmbar. Hier überragt Frauenlob fraglos alle anderen und gerade seine Zeitgenossen. Sein sequenztypischer Marienieich erstreckt sich in der Ausgabe von Stackmann und Bertau über 508 Verse, im Minneleich durchlaufen die 33 Versikel regelrechte Metamorphosen, und ihre Reduktion auf vier Typen, wie sie Thomas Bein in seinen Studien zu Frauenlobs Minneleich wiedergibt, 3 0 8 ist eher ein Ausdruck der Hilflosigkeit vor solch sukzessiver Verwandlung. Die kritische Betrachtung gilt jedoch nicht allein dem Wort Prunkstück, sondern der regelmäßig mittransportierten Vorstellung einer vermeintlichen Eindeutigkeit des zugrundeliegenden Begriffs. Gerade der Leich als unstrophische lyrische Großform - unzweifelhaft einfacher vom Strophenlied zu scheiden als der Spruch — wird gern als Paradigma der problemlosen selbstevidenten Gattung angeführt; so in gewisser Weise auch von Kuhn in seinem immer noch zitierten Aufsatz über Gattungsprobleme der mittelhochdeutschen Literatur: »So ist z. B. der Leich ein besonders deutlich greifbarer Sondertyp im Minnesang. Ubereinstimmung im Inhalt, musikalische Form, Identität der Dichter, gemeinsame Überlieferung in allen Zweigen [ . . . ] — all das bewährt sein Zugehören zum Minnesang.« Und kurz darauf, nachdem einmal mehr das Wort vom Prunkstück gefallen ist: »Während der Leich sich also nur formal und doch eindeutig als Sondertyp abgrenzt, will im Bereich des Strophenliedes, im Minnesang weder formale noch inhaltliche Gruppierung gelingen«. 3 0 9 Der Leich steht freilich typologisch auf derselben Ebene wie das Strophenlied und stellt daher auch denselben Anspruch auf formale und inhalt3 8

° T h o m a s Bein, Sus hup sich ganzer liebe vrevel. Studien zu Frauenlobs Minneleich (Europäische Hochschulschriften 1 0 6 2 ) , Frankfurt/M. 1 9 8 8 , vgl. hier S. 32: Bein behauptet indes nicht mehr, als er tut: er bestimmt die Versikeltypen ausschließlich quantitativ nach der Verszahl. 309 K u h n (Anm. 302), S. 4 7 . Er sieht im Leich freilich keine Gattung, sondern einen Sondertyp innerhalb des Minnesangs. Die folgende K r i t i k zielt sowohl auf die Schwäche eines solchen Theoriedesigns als auch auf das Erfordernis einer positiven Bestimmung des Leichs, gleich ob als Sondertyp, wie K u h n vorschlägt, oder als Gattung, wie er hier anvisiert wird.

215

liehe Gruppierung. Man erliegt hier leicht einer Art optischer Täuschung, die allein durch die Überlieferungsquantitäten hervorgerufen wird. Auch wenn der Leich außerhalb von Tannhäusers Œuvre im wesentlichen nur zwei Typen realisiert, so fügt sich der eine, nämlich der religiöse oder Marienieich, bereits nicht in den Minnesang. Ähnlich verhält es sich mit der Formenvielfalt, die vom strophischen Tannhäuserleich II über die Sequenz mit fortschreitender Versikelrepetition in Frauenlobs Kreuzleich bis zum fast systemlos wirkenden Formenspiel im Marienieich Hermann Damens reicht. Z u beachten sind auch die Proportionen, wenn der Leichumfang der erwähnten Beispiele von 52 bis zu 508 Versen reicht, lauten sie 1 : 1 0 innerhalb der Gattung. Der Tougenhort der Kolmarer Liederhandschrift, nach Bertau eine ausgewalzte Übersetzung der dunklen Diktion des Frauenlobschen Marienieichs in eine verstehbare, marktgerechte Sprache, 3 1 0 dehnt sich gar über 9 1 2 Verse, wobei einzelne Versikel, wenn man sie noch so nennen darf, länger sind als ganze Leichs anderer Autoren. Somit kann man zwar den Leich in einfacher Weise durch seine Differenz vom Strophenlied definieren; ob dann aber die Summe der einzusammelnden Exemplare eine Gattung bildet, ist eine bislang offene Frage. 3 ' 1 Tannhäuser hat den deutschen Leich in einzigartiger Weise ausgestaltet, formal reich variiert und inhaltlich in diverse Richtungen geöffnet, zugleich ist er damit eine singuläre Erscheinung geblieben. Sein Ruhm hat zu einer besonderen Art der Verehrung ohne bedeutende Nachfolge geführt, die im Blick auf den mittelhochdeutschen Leich seine schwache Ausdifferenzierung unterstreicht, seine bleibende Abhängigkeit von der individuellen Gestaltung einzelner Dichterpersönlichkeiten. Im Blick auf den Autor Tannhäuser aber zeigt sich eine enigmatische Maskierung, welche den Dichter hinter der bald auftretenden Sagengestalt verborgen hielt. Diesem zweiten Blick und der damit verbundenen generellen Autorproblematik soll das letzte Kapitel dieser Arbeit sich zuwenden.

5,0 3

V g l . Bertau (Anm. 48), S. 2 0 7 .

" E i n e ähnliche K r i t i k an Kuhns Vereinfachung übt Paule (Anm. 4), S. 1 3 3 . Sie möchte in ihrer Arbeit »zunächst einmal die von H u g o K u h n postulierte Zuordnung des Leichs zur Gattung Minnesang problematisieren.« Ihre weitere Kritik greift wesentlich auf Apfelböck und dessen These von der »selbstbestimmten« Gattung zurück.

216

IV Tannhäuser als mittelalterlicher Autor

i

Vorbemerkung »L'auteur n'est pas une idée médiévale.« (Bernard Cerquiglini) 1 »Es will mir wichtig scheinen, Kunstwerke als etwas von Menschen Gemachtes anzusehen.« (Karl Bertau) 2

Indem das letzte Kapitel dieser Arbeit der bewußt offen gehaltenen Frage nach der Zusammengehörigkeit der bislang behandelten Texte sich zuwendet, verändert es zugleich die Perspektive. War bislang die im Eingang dargelegte Problematik mittelalterlicher Alterität in einer spezifischen Rationalität der Texte aufgesucht worden, so rückt nun mit der Diskussion der Urheberschaft der unter Tannhäusers Namen stehenden Texte der Begriff des Autors in den Vordergrund. Dabei wird die Absicht verfolgt, einerseits die Brüche aufzudecken, die diesen Begriff mittlerweile bedrohen, andererseits durch einige Klärungsversuche denselben vor seinem latenten Zerfall zu bewahren. Es wird hier folglich die These vertreten, daß zeitgemäße Tendenzen zu beobachten sind, den Autorbegriff aufzugeben, und daß es, wenn auch vielleicht unzeitgemäß, möglich und notwendig ist, diesen Begriff zu bewahren. Das Spekulative, das diesen Gedanken anzuschließen hier als bedeutsam empfunden wird, ist im Bemühen um wissenschaftliche Eindeutigkeit in den Epilog verbannt worden. Darin eingearbeitet sind bewußt konservative Ausführungen zum Autor Tannhäuser: was über die Echtheit der angesprochenen Texte ausgesagt werden kann, wie der Lebensgang nach den Textauskünften sich gestaltet haben könnte — ohne daß dem Zirkelschluß, von dieser Rekonstruktion 'Bernard Cerquiglini, Eloge de la variante. Histoire critique de la philologie, Paris 1989, S. 25. 2 Karl Bertau, Über das Verhältnis von Autor und Werk am Beispiel von Wolfram von Eschenbach und Johann von Sitbor. In: Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik. Vorträge des Augsburger Germanistentages 1 9 9 1 , hrsg. von Johannes Janota, Bd. 3: Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis, Tübingen 1993, S. 77.

217

her wieder die Texte zu deuten, stattgegeben würde — und schließlich wie der Autor in seinen Texten und Rollen oder besser: durch diese hindurch aufscheint. Da die Autordiskussion in der Forschung bislang nicht systematisch geführt wird, kann das vorliegende Kapitel diesen Diskurs in keiner Weise abzuschließen versuchen, es behält vielmehr ein stark essayistisches Moment, das insbesondere Anschlußmöglichkeiten eröffnen möchte. Die erstmalige Zusammenfassung und versuchte Durchstrukturierung des Autorbegriffs und seiner aufgetretenen Aporien rechtfertigt jedoch trotz des bescheideneren Aufkommens von Endresultaten diese Herangehensweise. Insbesondere wird dabei noch einmal der erkenntnistheoretische Stellenwert des hier zu entfaltenden Begriffs der Alterität verdeutlicht.

2

Autorkonzepte

2 . 1 Zum Verschwinden des Autors Daß, ungeachtet fortgesetzter Produktion germanistischer Monographien zu mittelhochdeutschen Dichtern, der Autor selbst begrifflich kaum thematisiert wird, hängt wohl nicht zuletzt damit zusammen, daß er in eine eigenartige Querlage zu wichtigen Diskursen der Mediävistik geraten ist, die ihn zwar vielfältig tangieren, meist auch durchaus reflektiert voraussetzen, aber eben nicht ins Zentrum der Aufmerksamkeit geraten lassen. Als Stichworte solcher Diskurse seien hier nur die »Literaturtheorie« bei Walter Haug, die »Interessenbildung« bei Joachim Heinzle oder die »Narrativik« bei Christian Kiening genannt, da diese Autoren im vorliegenden Abschnitt weiter zitiert werden. Sie deuten zugleich an, daß der mittelalterliche Autor unter sehr verschiedenen Blickwinkeln anvisiert werden kann — oder eben auch ausgeblendet, was hier besonders pointiert werden soll. J e nach Wahl des wissenschaftlichen Ausgangspunktes gerät der Autor zum Beispiel primär als Person, Subjekt oder Dramaturg ins Zentrum der Aufmerksamkeit und verschwindet gegebenenfalls hinter den je kommensurablen Bildflächen. »Eine Walther-Biographie geht nicht«, behauptet Otfrid Ehrismann 3 ausgerechnet über Walther von der Vogelweide, der in seinen Texten mehr über sich selbst spricht als sonst irgendeiner seiner lyrischen Zeitgenossen, ' O t f r i d Ehrismann, Nachdenken über Waither. Probleme beim Schreiben einer postmodernen Biographie. In: Hans-Dieter Mück (Hrsg.), Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk (Kulturwiss. Bibliothek i), Stuttgart 1 9 8 9 , S. 2 0 3 .

218

und versammelt in diesem Diktum vieles von dem, was im folgenden diskutiert werden soll. Postmoderne und New P h i l o l o g y stehen als Schlagwörter für eine erkannte Tendenz zur Dissipation der Moderne, für den Verlust ihrer Signifikate und die mehr als nur ersatzweise eintretende Selbstreferenz ihrer Signifikanten, für eine >fröhliche Wissenschaftgroßen Erzählungen< des Abendlandes mit der Freigabe der Wissenschaftsdiskurse an beliebig verweisende Assoziationen und eine mitunter feuilletonistisch anmutende Stilistik feiert; letztlich aber, so wird hier behauptet, besagte Dissipationen und Verluste in ideologischer Verklärung aufhebt. Ausdrücklich hält Ehrismann fest, »mein >Nachdenken über Waltherpoetische Ich< zu debiographisieren und Nichtwissen zu akzeptieren.« 5 Da reines Nichtwissen nicht viel hergibt, zehrt der Dekonstruktivist von seinen Vorgängern und präsentiert eine kritische Forschungsrevue, an deren Ende jedoch noch immer nicht deutlich wurde, worin die Chance des postmodernen Nichtwissens bestehen soll. Der Aufsatz endet, wie er begonnen hat, im schlichten Postulat: Die zunehmende Philologisierung und Positivierung der Germanistik hat nicht zum Eingeständnis des biographischen Nichtwissens und Nichtwissenkönnens, das immer deutlicher wurde, geführt, sondern im Gefolge von Lebensphilosophie und Geistesgeschichte zu immer neuen biographischen Erzählungen und Individuum-Konstruktionen, also zur wachsenden Verdrängung des Nichtwissens, das doch auch einmal akzeptiert werden sollte. 6

Der Blick soll hier nicht auf die Frage der Berechtigung solcher Kritik am Biographismus gelenkt werden, die ohnedies weithin akzeptiert ist, sondern auf das implizierte Verschwinden des Autors, das auch von Ehrismann als Verlust begriffen wird: »Der Verzicht auf ein biographisch-chronologisches Gerüst führt zur Rekonstruktion von Rollenspielen, Programmen und Modellen, dies ist zwar >blutleerersubjektdezentrierten< Zusammenhang zu verlegen, auf den >DiskursErfinder< des modernen, auf Opposition von Individuum und Gemeinschaft gestellten, im Existentialismus radikalisierten Individualbewußtseins. Dieser Ansatz wurde in sehr konträren, im Epilog dieser Arbeit noch etwas auszudeutenden Modellen weiterentwickelt, von denen einige den Iktus dergestalt auf die >Erfindung< legten, daß sie damit tendenziell ahistorisch die Existenz eines in sich konsistenten Subjekts leugneten. Die Linie, die etwa von Nietzsche über Foucaults berühmt gewordenen Vortrag »Was ist ein Autor?« 1 2 zu Cerquiglini führt, kann hier nicht voll ausgezogen werden, doch sei der Weg mit diesen Namen zumindest markiert. Nietzsche hatte bemerkenswert vorzeitig das Programm des postmodernen Dekonstruktivismus ausgegeben, indem er das Subjekt,

0 1 i v e Sayce, Prolog, Epilog und das Problem des Erzählers. In: Peter F. Ganz u. Werner Schröder (Hrsg.), Probleme mittelhochdeutscher Erzählformen. Marburger Colloquium 1969, Berlin 1972, S. 6 3 - 7 2 . " E b d . S. 63. 1 3 Michel Foucault, Was ist ein Autor? [Qu'est-ce qu'un auteur?] In: Schriften zur Literatur. Aus dem Französischen von Karin von Hofer (Sammlung Dialog 67), München 1974, S. 7 - 3 1 . [Der Aufsatz entstand 1969.] I0

22 I

wenn auch ohne philosophische Stringenz, zur Fiktion erklärte, etwa in folgender Notiz: Subjekt, Objekt, ein Thäter zum Thun, das Thun und das, was es thut, gesondert: vergessen wir nicht, daß das eine bloße Semiotik und nichts Reales bezeichnet. [...] Wir haben Einheiten nöthig, um rechnen zu können: deshalb ist nicht anzunehmen, daß es solche Einheiten giebt. Wir haben den Begriff der Einheit entlehnt von unserem >IchDing< gebildet. Jetzt, ziemlich spät, sind wir reichlich davon überzeugt, daß unsere Conception des Ich-Begriffs nichts für eine reale Einheit verbürgt. I }

Sodann hatte Foucault den Autor als den Ort, an dem das Subjekt durch die Konzentration auf seine Selbstmitteilung zu sich selbst kommt, ausgemacht. Seine Ausführungen im genannten Vortrag beginnen deshalb mit der Feststellung: »Der Begriff Autor ist der Angelpunkt für die Individualisierung in der Geistes-, Ideen- und Literaturgeschichte, auch in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte.« 14 Er zeichnet im folgenden die Dekonstruktion des Autors nach und beginnt, was diesem Programm logisch inhärent ist, die hypothetische Leerstelle durch eine funktionale Neubestimmung zu besetzen, denn erst dadurch wird eine diskursive Rückkehr des Autors ausgeschlossen. »Als Leeraussage zu wiederholen, daß der Autor verschwunden ist, reicht aber offenbar nicht aus«, sondern es gelte, »die freien Stellen und Funktionen, die dieses Verschwinden sichtbar macht«, neu auszumessen. 15 Daran schließt dann nicht nur Cerquiglini an, dessen Diktum dieses Kapitel überschreibt, sondern auch ein Aufsatz von Harro Müller, der belegt, daß entsprechendes Gedankengut bereits vor geraumer Zeit in die deutsche Germanistik eingezogen ist. Deutlicher als der Inhalt spricht der Titel das Programm aus: »Einige Argumente für eine subjektdezentrierte Literaturgeschichtsschreibung«. 16 Tatsächlich vermißt man zwar die angekündigten Argumente an genannter Stelle, Müller bemüht sich dafür um eine differenzierte und durchaus nicht unkritische Darstellung der Diskurstheorie Foucaults. Im Blick auf den Autor verfestigt er dabei allerdings dessen eher spielerische Hypothesen zu manifesten Nachweisen: " F r i e d r i c h Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari ( K G W ) , Bd. V I I I , 3 , Berlin u. New York 1 9 7 2 , S. 5of. (Frühjahr 1 8 8 8 ; üblich zit. als: K G W V I I I 1 4 [79].) 14 15 16

Foucault (Anm. 12), S. 1 0 . Ebd. S. 1 5 . Harro Müller, Einige Argumente für eine subjektdezentrierte Literaturgeschichtsschreibung. In: Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1 9 8 5 . Kontroversen, alte und neue, hrsg. von Albrecht Schöne, B d . 1 1 , Tübingen 1 9 8 6 , S. 2 4 - 3 4 .

222

Gegen alle Vorstellungen von einer (z.B.) individuellen, originalen Urheberschaft zeigt Foucault den Autor als Funktion des Diskurses, die für [ . . . ] seine >Individualisierung< von herausragender Bedeutung geworden ist. Doch die Autorfunktion ist nur eine aus vielen >Prozeduren der Kontrolle und Einschränkung des Diskurses< [Foucault]. [ . . . ] Ohne Zweifel hat man es im Fall der Literaturgeschichte seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einer besonders effektiven Form diskursiver Identitätssicherung zu tun. 1 7

Der Autor als Ort individueller, originaler Urheberschaft erscheint diesem Theorieansatz als Konstrukt im Interesse derjenigen, welche die herrschenden Diskurse stabilisieren und kanalisieren wollen. Eine bemerkenswerte Kritik an solchen Hypothesen hat Hans Robert Jauß geäußert. 18 Er beginnt mit der polemischen Frage: »Tod des Subjekts? Wie immer diese Frage gestellt und was immer darauf geantwortet wurde: [.. .ihr ist] ein Pathos eigen, das sie nachgerade suspekt und die Gegenfrage interessant macht, wovon eigentlich abgesehen werden mußte, um sie stellen zu können.«' 9 Abgesehen werden mußte nach Jauß vor allem von der Kritik an zwei Prämissen solcher Subjektauflösung: 1. der ontologischen Opposition von Fiktion und Realität; 2. dem Vorrang des Selbstbezugs gegenüber dem Bezug von Ich und Mitwelt. Nimmt man die Kritik an diesen Prämissen jedoch ernst, erledigt bereits Nietzsches Subjekt sich »allein im circulus vitiosus von Ich und Selbst«. 20 Außerdem wird Fiktionalität nicht an einer hypostasierten Wirklichkeit entwertet, sondern in ihrer Leistung als unausgesetzte Bewegung auf diese hin anerkannt: »Die Möglichkeit, die Leistung dieser Fiktion [Subjekt] zu ergründen, steht Nietzsche bei seiner Kritik an der Subjektphilosophie, die dieser selbst verhaftet bleibt, noch nicht vor Augen«. 2 1 Konstruktivismus und Dekonstruktivismus sind jedenfalls in ihrer komplementären Gegensätzlichkeit die zentralen Schlagworte derselben Postmoderne. Am Subjektbegriff zeigt sich des weiteren, daß es ein Irrtum wäre, mit den Vertretern solcher Schlagworte anzunehmen, die Konstruktivisten seien, weil sie die Notwendigkeit und Unausweichlichkeit der herrschenden Konstruktionen von Wirklichkeit behaupten, Apologeten des Herrschenden, mithin reaktionär, die Dekonstruktivisten hingegen, weil sie die »Prozeduren der Kontrolle und Einschränkung der Diskurse«, 17

E b d . S. 3 2 . H a n s Robert J a u ß , Italo Calvino: »Wenn ein Reisender in einer WinternachtMinisterialität und Ritterdichtung< 32 oder zu den >Mäzenen im Mittelalter', 3 3 die durchaus wertvolle Beiträge zu einer Soziologie des mittelalterlichen Autors darstellen, quer zu Kuhns Verdikt. In der hier eingestellten Perspektivik weisen sie jedoch eine eigentümliche Verwandtschaft auf. Denn auch bei Bumke steht, wie etwa bereits bei Untersuchung des Leichs V I von Tannhäuser festgehalten, nicht der Autor Tannhäuser im Zentrum des Interesses, sondern die von ihm aufgezählten Gönner. Die Soziologie des Autors läuft zwar, soweit erkennbar, nicht auf seine Auflösung hinaus, obgleich die in der Dekonstruktion verfolgten Tendenzen auch in der Soziologie spürbar sind, 3 4 sondern auf seine Marginalisierung. Programmatisch wird der Autor daher durch die literarische Interessenbildung im Mittelalter substituiert, wobei allerdings der geichnamige, von Joachim Heinzle herausgegebene Symposionband 35 nicht nur den der Verfassersuche gewidmeten Aufsatz von Schulz-Grobert 36 enthält, sondern in vorbildlicher Weise einen ausführlichen selbstkritischen Schlußteil. Wie bereits der von Paul Kluckhohn ( 1 9 1 0 ) übernommene Titel in Bumkes >Ministerialität und Ritterdichtung< anzeigt, hat die Marginalisierung des mittelalterlichen Autors ihren Ausgangsort in dessen romantischer Hypostase. Hatte der konservative Romantiker sein anti-aufklärerisches, rationalitätsfeindliches alter ego im Mittelalter gefunden und gepriesen, so mußte eine nüchtern werdende Germanistik solche Verzeichnungen zweifellos korrigierend zurücknehmen. Ob dabei jedoch so weit zu gehen ist,

52

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227

wie Kuhn in seinem Versuch über das 1 5 . Jahrhundert, ist eine andere Frage. Daß derartige Tendenzen weiter aktuell bleiben, belegt Burghart Wachingers als Einleitung in den Sammelband >Autorentypen< dienender Aufsatz über Autorschaft und Überlieferung. 37 Er stellt darin fest, daß jeder mittelalterlichen Autorschaft »drei Hauptkriterien« vorgeschaltet seien: 1 . »die sozioökonomische Situation des Autors und des Literaturbetriebs, dem er zugehört«; 2. »Sprache und Bildungsanspruch der Texte, des Autors und seines Publikums«; 3. »die literarische Gattung mit ihren formalen, inhaltlichen und funktionalen Implikationen.«' 8 Der mittelalterliche Autor »kann ihnen [den Kriterien] nicht im Sinne jüngerer Autorschaftskonzeptionen seine individuelle Persönlichkeit als eine das Werk konstituierende und strukturierende Größe entgegensetzen.« 3 9 Insgesamt ist der Autor hier nur Objekt der Betrachtung, als Subjekt hat er noch nicht zu existieren. Die Schlußsätze: Was in diesem [spätmittelalterlichen] Prozeß zunimmt, ist jedoch, um es noch einmal zugespitzt zu sagen, nicht die Determiniertheit der Texte durch eine Autorindividualität, sondern der Gebrauchswert von Autorschaft. Den zeigt die Überlieferung, 4 0

lassen sich daher ebenso gut umgekehrt lesen: die Fragestellung determiniert die Möglichkeiten der Autorschaft. Der Aufsatz wendet sich nicht dem Autor zu, sondern subsumiert ihn den paläographischen Daten: die zeigt die Uberlieferung. Nicht zu bestreiten ist freilich die Beschränkung der autonomen Autorschaft durch die von Wachinger zitierten Kriterien. Genauer zu betrachten wäre vielleicht die subtilere, kaum weniger bedeutsame Spezifizierung dieser Kriterien in der Moderne sowie die Frage, ob Autorschaft sich nicht dialektisch konstituiert, indem sie sich an eben diesen Widerständen abarbeitet, wie es Hartmut Kokott am Beispiel Konrads von Würzburg aufzuzeigen versucht (s.u.). Daß auch die idealistische Philosophie der Gegenwart dem Begriff der Konstruktion nicht entgehen kann, zeigen Max Wehrlis Reflexionen zu 37

Burghart Wachinger, Autorschaft und Überlieferung. In: Walter Haug u. Burghart Wachinger (Hrsg.), Autorentypen (Fortuna Vitrea 6), Tübingen 1 9 9 1 , S. 1—28. 38 E b d . S. 22. '»Ebd. 40 E b d . S. 23.

228

einem Subjekt der Literaturgeschichte. 41 Gewiß münden seine Überlegungen in ihrer nur provisorischen Abgeschlossenheit in Aporien ein und wurden deshalb bereits früher von Joachim Heinzle kritisiert, 42 dennoch bleiben sie in einigen Aspekten bedenkenswert. Wehrli benennt deutlich die Bedrohung des Subjekts durch dessen Auflösung in Strukturen und Beziehungen, 43 und er bemüht sich in seinem Aufsatz, in der Literaturgeschichte »Spuren eines Sinns zu erkennen«. 44 Problematisch bleibt indes der Subjektbegriff selbst, der offensichtlich metaphysisch verankert ist und mit den Äquivokationen des französischen Wortes sujet spielt. Dies wird deutlich, wenn der Subjektbegriff auf verschiedene Betrachtungsebenen projiziert wird. Ein Unterfangen, dessen Schwierigkeiten Wehrli bewußt, sind: »Es bleibt die Frage, wie man vom einzelnen literarischen Subjekt (Autor, Leser, Sujet) zu einer übergeordneten Größe kommt, die mehr als eine leere Abstraktion wäre.« 45 Auf der Ebene der Literatur ist es sodann der typisierte »Teilnehmer an einer solchen synchronen Literaturgemeinschaft«, 46 letztlich wohl diese selbst, auf der Ebene der Literaturgeschichte wiederum deren Sujet. Doch wirkt der Schluß wie der Abbruch einer noch unabgeschlossenen Reflexion: »Die Frage nach dem geheimnisvollen Subjekt wird zur banalen Frage nach dem Sujet der konkreten Textsorte >LiteraturgeschichteFremdbestimmung< oder >Eigenbestimmung< der Literatur steht, so gesehen, überhaupt nicht zur Debatte; sie kann allenfalls Fehleinschätzungen bezeichnen: Reduzierung der Literatur aufs Außerliterarische dort, Hypostasierung der Literatur zum historischen Subjekt hier [bei Wehrli nämlich].«

43

V g l . Wehrli (Anm. 4 1 ) , S. 367: »Wobei heute ein solches Subjekt offensichtlich in seiner Existenz sich besonders bedroht sieht und unter dem Verdacht steht, nur das mehr oder weniger zufällige Ergebnis übergreifender Strukturen und Beziehungen zu sein.«

44

Ebd. Ebd. 46 Ebd. 47 Ebd.

45

S. S. S. S.

376. 373. 370. 375.

229

der den kreativen Menschen in der Dichtung seine wesenhafte Identität finden läßt. Aber auch er [der Autor] ist ja nur relativ das Subjekt seines Texts. [ . . . ] In seinem Schreiben wirken Vorstellungen, Gedanken, Wortbedeutungen und vor allem Sprachformen und -figuren, die nicht ihm allein, sondern großen und kleinen Gruppen von Redenden und Schreibenden angehören und die für ihn dichten und denken [ . . . ] : kein Ich ist denkbar ohne die andern Ichs und das Es." 8

Es folgt eine Feststellung über die Modernität des Subjektiven, die deutlich an die oben zitierte Prämisse von Sayce erinnert: »Auf die Einmaligkeit und Subjektivität des einzelnen Individuums hat erst die Moderne so großes Gewicht gelegt.« 4 9 Auf der Ebene der hierarchisch übergeordneten Literaturgeschichte dagegen ähnelt die Bedrohung der strukturalistischen Konstruktion, wie Haug sie beschrieb. Auf dieser Ebene zeigt sich immer deutlicher eine beträchtliche Konvergenz zwischen allgemeiner und literarischer Geschichtsschreibung: »Ein historischer Bericht gibt von der Wirklichkeit immer nur >die Fiktion ihrer FaktizitätfableImbroglioSinn< des narrativen Textes nicht mehr über eine substantialistisch konzi54

Ebd. S. 8. " V g l . ebd. S. 9. ' 6 V g l . A n m . 2 2 . Der Solipsismusvorwurf ist der zentrale epistomologische Einwand der gemäßigten gegenüber den radikalen Konstruktivisten. " S t a n e s c o (Anm. 53), S. 2.

231

pierte Einheit seines Schöpfersubjekts zu beschreiben, sondern über die Identität eines umfassenden Regelsystems, in welches das Subjekt als erzählendes eintritt und über das es überhaupt erst die Identität eines Subjekts der Narration gewinnt. 5 ®

Dabei bleibt der ontologische Status des zwischen Autor und Erzähler-Ich eingeschobenen Sängers durchaus klärungsbedürftig. Unter dem Sänger, speziell auch dem Minnesänger, der im Blick auf Tannhäuser besonders interessiert, sei hier vorläufig eine physische Person verstanden, die vor das Publikum tritt, um ein Liedprogramm zu Gehör zu bringen. Sie kann folglich mit dem Autor identisch oder ein Rezitator sein. Ein so verstandener Sänger ist noch nicht der Erzähler, der keine physische Person, sondern eine Rolle ist. Der Sänger muß zunächst in die Erzählerrolle hineinfinden, um dem Publikum die Ich-Erlebnisse seines Liedprogramms mitzuteilen. Dem Publikum, so wird hier unterstellt, war bewußt, daß Tannhäuser, wenn er seine Pastourellenszenen vortrug, diese nicht am eigenen Leib erlebt hatte, sondern liedimmanent fingierte. Sänger-Ich und erzählendes Ich sind deshalb nicht ohne weiteres zu identifizieren. Schwieriger ist dies in den Spruchliedelementen desselben Dichters, wenn Tannhäuser etwa seine Gönner aufzählt. Hier wäre es irreführend, die Gönnerrolle Friedrichs des Streitbaren auf dieselbe Fiktionsebene wie die Erzählerrolle des Sängers zu stellen, auch wenn das historische Faktum in einem gleichartig fiktionalisierten Medium erscheint. Deshalb müßte diese Differenz von einem radikalen narrativischen Standpunkt aus wohl geleugnet werden. Der Erzähler als reiner Text bleibt für den Blick auf historische Personen, darunter auch den Autor, notwendig opak. Derart stringent wird dieser Standpunkt allerdings selten verfochten, Warnings Lösungsvorschlag wird gegen Ende dieses Abschnitts präsentiert. Auch Olive Sayce, die in ihrem zitierten Aufsatz zum Problem des Erzählers für eine strenge Trennung von Autor und Erzähler plädiert, hört in der namentlichen Selbstnennung den Autor sprechen. Sie untersucht die als spezifisch persönlich auftretenden Textpartien wie Prologe oder Bekenntnisse und stellt das Topische darin heraus, so daß der Dichter sich darin nicht zu erkennen gibt. Vielmehr erweisen sich eben jene Teile des Werks, die auf den ersten Blick am persönlichsten scheinen, als topisch und traditionsbedingt. »Sie dürfen nicht auf die Person des Dichters bezogen werden, sondern auf die Erzählerfigur, die eine bewußte Rolle übernimmt. Auch wenn sie mit Attributen des Dichters ausgestattet ist, gehört 58

Warning (Anm. 26), S. 5 5 3 .

232

diese Figur der fiktiven Welt der Erzählung und nicht der Wirklichkeit an.« 5 9 Dennoch hält sie es für möglich und erkennbar, daß der Dichter selbst in seinem Werk auftritt, wenn er nämlich seinen Namen nennt und dabei fast immer in der dritten Person auftritt. Das Ich dagegen verkörpert den vom Autor getrennt zu haltenden Erzähler. »Wo aber Autorenstolz und das Bewußtsein der literarischen Persönlichkeit stärker werden, wie bei Wolfram und den späteren Dichtern, scheut sich der Dichter nicht, auch in der Namensnennung als Ich aufzutreten.« 60 Damit koppelt sie das Auftreten des Dichters im Werk an sein historisch stärker werdendes literarisches Selbstbewußtsein und identifiziert den historischen mit dem werkimmanenten Autor, was offenkundig aus der Narrativik hinausfuhrt. Einen anderen, höchst bemerkenswerten Grenzgang zwischen Autor und Erzähler begeht Klaus Grubmüller. 6 1 Er geht von der Aufführungssituation aus, in der ein Einzelner vor die Gruppe hintritt und einen Text rezitiert. In aller Regel tut er dies als Sprachrohr jener Gruppe, die er subjektiv dabei gar nicht verläßt. Beispiele sind der liturgische Zelebrant, der Prediger, der Epensänger, der Rezitator heilsgeschichtlicher Memoria und der Spruchdichter. Davon unterscheidet sich nun in signifikanter Weise der Minnesänger, der vom Kürenberger an im »Gestus der dementierten Übereinstimmung des Einzelnen mit den anderen« auftritt. 02 Die anderen, nämlich als die Institutionen der buote, nidaere, merkaere, werden dem lyrischen Ich entgegengesetzt als poetische Instanzen des kollektiven Einverständnisses. Im kontrastiven Natureingang, in dem der Sänger seine eigene Stimmung der naturszenischen gegenüberstellt, 63 gewinnt die subjektive Ausgrenzung sogar kosmische Dimension. 59 60

61

62 65

S a y c e (Anm. 10), S. 7 2 . Ebd. S. 7 1 . V g l . dazu die relativierenden Bemerkungen und den Hinweis auf Thomasin von Zerklaere als früheres Paradigma bei Christian Kiening, Reflexion — Narration. Wege zum > Willehalm« Wolframs von Eschenbach (Hermaea N F 63), Tübingen 1 9 9 1 , S. 5 3 , Anm 109. Klaus Grubmüller, Ich als Rolle. »Subjektivität als höfische Kategorie im Minnesang? In: Höfische Literatur, Hofgesellschaft, Höfische Lebensformen um 1 2 0 0 . Kolloquium am Zentrum für Interdiszplinäre Forschung der Universität Bielefeld (3. — 5 . 1 1 . 1 9 8 3 ) , hrsg. von Gert Kaiser u. J a n - D i r k Müller (Studia humaniora 6), Düsseldorf 1 9 8 6 , S. 387—406. Ebd. S. 3 9 1 . Als Beispiel vgl. Tannhäusers Lied V I I mit überdimensionalem Natureingang (20 von 42 Versen), aus dem hier nur der Kontrast zitiert wird: 17 kamen sint uns die bluomen rot, des fröut sieb diu werelt al gemeine, Dar zuo viol unde kle, 20 liehtiu ougenweide. mit den wunnen ist mir we,..

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Die über das Thema der latent anti-sozialen Liebe vorgeführte Separierung ist aber keine reale des Autors, sondern eine des lyrischen Ichs. Dieses Ich ist eine Rolle unter anderen, in ihr wird derjenige vorgeführt, den seine Erfahrungen von der Allgemeinheit isolieren. »Die Position des Ich rückt auf diese Weise gerade über ihre rollenhafte Prädestination in den Rang einer überindividuell aufschließbaren Erfahrung.« 6 4 Im Unterschied zu den anderen Sprachrohrfunktionen des Rezitators, deren Separierung von der Gruppe nur scheinhaft ist, gibt es hier nun eine bemerkenswerte Korrespondenz zwischen der poetischen Ich-Rolle und dem Vortrag, denn der als einzelner auftretende Sänger bringt seine Auftrittssituation mit der darzustellenden Rolle des Isolierten in Einklang. Mit Friedrich von Hausen beginnt die weltschaffende Phantasie des Ichs, das sich in Gedanken die Welt als Reich der Freiheit und Erfüllung rekonstruiert. In der Folge bringt Reinmar der Alte, besonders explizit in dem von Grubmüller untersuchten Lied MF 1 5 4 , 3 2 , So ez iener nahet deme tage, das Sänger-Ich »in der Beschränkung allen Handelns auf sein Selbstbewußtsein auf den Weg zum Subjekt.« 05 Dabei wird primär nicht die Abweisung durch die Dame, nicht die Unerfüllbarkeit der Liebessehnsucht, auch nicht das daraus resultierende Leiden, »sondern die Irritation der eigenen Identität durch die Beobachtung scheinbar grundsätzlich unsinnigen Verhaltens [ . . . ] zum Antrieb der Ich-Reflexion«, 6 6 paradigmatisch in den auch von Grubmüller zitierten Versen (MF 1 5 5 , 2 7 0 : Diu weit verswiget miniu leit und saget vil lützel iemer, wer ich bin.

Die literarisch inszenierte irritative Liebeserfahrung wird zu einem Kondensationspunkt infragegestellter Personalität und ihre gedankliche Bewältigung zum reflexiven Möglichkeitsort des schöpferischen Subjekts, eines Subjektes, das aber - indem es öffentlich entdeckt und in seiner Konstituierung rollenhaft vorgeführt wird — nicht Subjekt für sich bleibt, sondern Subjekt für alle w i r d , nicht partikularisiertes, sondern generalisiertes Ich: ein Entwurf für die Entfaltung des Einzelnen in seiner Besonderung im Rahmen der gegebenen Gesellschaft. 6 7

Damit definiert Grubmüller den Minnesang als Ursprungsort der Moderne, in der jenes Ich, das sich auf die Individuation innerhalb seiner sozialen Lebensbedingungen besinnt, in gleicher Tendenz fortfährt, durch 64

Grubmüller (Anm. 61), S. 394. Ebd. S. 403. Ebd. S. 404. 61 Ebd. S. 406. 65

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Irritation ausgelöste Beobachtungen und Selbstbeobachtungen immer höherer Ordnung, schließlich Beobachtung der Beobachtung etc. 68 anzustellen. Indem Grubmüller nun aber das Subjekt des »Ich als Rolle« aus dem Titel präzisiert als schöpferisches Subjekt, als welches nicht zuletzt der Autor zu gelten hat, verschwindet dieser tendenziell hinter dem lyrischen Ich, das ihn, nämlich den Autor, erzählt und rollenhaft vorführt. Einen vergleichbaren Ausgangspunkt hat Christian Kiening in seiner Untersuchung zu Wolframs von Eschenbach >Willehalmin der historischen Konstitution einer Handlungsrolle schreibender Autor< [Rainer Warning 1 9 7 9 ] niederschlägt; kann [ . . . ] das Verhältnis zwischen Erzähler und Autor (die Möglichkeit des biographischen Spiels) in den Blick treten. 72

Der ontologische Status von Autor und Autorbewußtsein bleibt dabei in der Schwebe; das Paar von Autor und Erzähler wird narrativ verdoppelt, ohne daß die Relation der jeweiligen Signifikate klärbar wäre. 7 3 Beach68

V g l . dazu die als Lyrik präsentierten Beobachtungen zu modernen Beziehungsstrukturen von Ronald D. Laing in: Knoten. Aus dem Englischen von Herbert Elbrecht (Das neue Buch 25), Reinbek 1 9 7 2 . Beispiel ebd., S. 3 3 : »Er wirft ihr vor, selbstsüchtig zu sein, / weil sie versucht, ihn glücklich zu machen, / um selbst glücklich sein zu können.« Darin mag man durchaus, mit entsprechend gesteigerter Komplexität, einen Urenkel Reinmarscher Reflexionslyrik erkennen.

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V g l . Christian Kiening (Anm. 60). V g l . die durchweg positiven Rezensionen. Auch von Werner Schröder, Z f d A : 2 0 ( 1 9 9 1 ) , S. 3 3 7 — 3 4 1 , der lediglich die Theorielastigkeit moniert, S. 3 3 7 : »An Rückfällen in nutzlose Theorie-Diskussionen muß man sich nicht stoßen, obwohl Kiening bis in die letzten Sätze von ihnen nicht lassen mag.« Ein weiterer Versuch, den Nutzen theoretischer Diskussion zu erweisen, wird in der vorliegenden Arbeit unternommen. Karl Heinz Ihlenburg, D L Z 1 1 4 ( 1 9 9 3 ) , Sp. 2 7 2 — 2 7 4 , bemerkt zu Kienings Deutung des >WillehalmParzival< ein anderer als der des >WillehalmReichsidee< im 1 9 . u. 20. Jahrhundert ( G A G 484), Göppingen 1 9 8 8 . Darin findet sich auch ein beachtlicher geistesgeschichtlicher Abriß der Germanistik bis etwa in die Mitte der 6oer Jahre (H. R . J a u ß , 1 9 6 7 ) , der jedoch den Autorbegriff lediglich peripher und bis in seine existentialistische Verabsolutierung, etwa bei Heidegger, verfolgt und daher die autorferne Rezeptionsästhetik als Befreiung aus der Werkimmanenz begrüßt; vgl. S. 3 8 9 — 4 2 7 , das Kapitel »Die Germanistik auf dem Wege von der werkimmanenten zur sozialwissenschaftlichen Werk-Interpretation«. 80

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rechtigt, ebenso gewiß aber auch weithin obsolet. Daß über einen Text ein Autor zu uns sprechen will, gehört eben doch zum Wesentlichen der Interpretation, auch wenn die Skepsis uns sagt, daß ein zweifelsfreies Verstehen jener Stimme aus der Ferne unerreichbar bleibt. Z u m bestmöglichen Verständnis soll nicht zuletzt die Philologie mit ihren kritischen Methoden beitragen. L. Peter Johnson, 8 5 der in Bezug auf mittelhochdeutsche Dichter und Erzähler meint, es sei »ein Irrtum zu glauben, daß wir bei der Intervention immer zwischen den beiden Rollen [!] zu unterscheiden vermögen oder brauchen«, 86 hat gegen das historische Einfädeln des Autorbewußtseins bei Otfrid Einwände erhoben. Er untersucht als Mechanismen der Verselbständigung des Autors die Dichternennung, das Gönnerlob und die Quellenberufung in der mittelhochdeutschen Literatur: »Alle drei sind eher bei gesprächigen Dichtern zu finden, und solche Gesprächigkeit ist das Zeichen und das Medium des größeren Selbstbewußtseins, wenn man will, des hervortretenden Individualismus, den man im allgemeinen der Renaissance vorbehält, dessen erste zögernde Schritte ich aber geradezu als das Hauptkennzeichen der Literatur der Blütezeit betrachten möchte.« 87 Erster Gipfel des selbständigen Autorbewußtseins ist Johnson, wie so vielen anderen Forschern, Wolfram von Eschenbach. Die entsprechenden Bekundungen Otfrids von Weißenburg dagegen verortet er in der Topik: »Otfrid als den Anfang der Tradition [der Selbstnennung] und einen Musterfall von dem zu sehen, worum es mir hier ging, hieße aber eher in eine Musterfalle treten. Er ist ein Sonderfall, dessen Ursprünge in den rhetorischen Traditionen der lateinischen Literatur liegen.« 88 Diese singuläre Frage kann und braucht an dieser Stelle nicht entschieden zu werden, obgleich sie zweifellos einen Anwendungsfall dessen darstellt, was hier auf verschiedenen Ebenen geprobt wird: die Suche nach dem Autor. So gesehen steht alles, was im folgenden versammelt wird, unter der Uberschrift, die Jürgen Schulz-Grobert seinem an gleicher Stelle wie Johnsons Aufsatz erschienenen Beitrag gegeben hat: Autoren gesucht. 89 Es wurde bereits angedeutet, wie sehr dieser Sammelband zur literarischen Interessenbildung im Mittelalter, welcher den Autor nicht im Titel führt und damit einer subjektdezentrierten Literaturgeschichte zuzuarbeiten 85

L. Peter Johnson, Die Blütezeit und der neue Status der Literatur. In: Heinzle 1993 (Anm. 35), S. 2 3 5 - 2 5 6 . 86 Ebd. S. 239. 87 Ebd. S. 240. 88 Ebd. S. 255. 89 Vgl. Schulz-Grobert (Anm. 36).

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scheint, diesen doch zum Gegenstand vielfältiger Betrachtung macht; 90 im bemerkenswerten Gegensatz etwa zu dem von Haug und Wachinger edierten Sammelband über Autortypen, 91 in dem die Autorgestalt als rein systematisches Forschungsobjekt nur wenig Plastizität gewinnt. Schulz-Grobert stellt die Suche nach dem Verfasser als theoriegeschichtliches Phänomen heraus. Bereits Foucault hatte geschrieben: »Literarische Anonymität ist uns unerträglich; wir akzeptieren sie nur als Rätsel.« 9 2 Ähnlich Schulz-Grobert: Anonymität ist in der deutschen Literatur des Mittelalters ein grundsätzliches Phänomen, das von der Forschung häufig als eine besondere Herausforderung betrachtet worden ist. Das gilt keineswegs nur für ein so prominentes Denkmal wie das Nibelungenlied, dessen individuelle Forschungsgeschichte allerdings besonders anschaulich dokumentiert, wie breit einerseits das Spektrum der Erkenntnisinteressen im Zusammenhang mit der Anonymität eines mittelalterlichen Texts sein kann, wie sehr andererseits aber auch die daraus ableitbare Verfasserfrage Gefahr laufen kann, von Wunschvorstellungen überlagert zu werden.» 3

Erkenntnisziel bleibt für Schulz-Grobert die Ermittlung des Autors. Bei anonym überlieferten Texten versucht er spezifische Gestaltungs- und Überlieferungsmerkmale auszumachen, die zumindest die Konturen einer Autorpersönlichkeit erkennen lassen. Der von ihm vorexerzierte Weg über den allgemeineren Autorentyp bedeutet keinen Verzicht auf das Autorindividuum, sondern, ganz im Gegenteil, eine Methode, um »den Kreis von Verdächtigen enger zu ziehen.« 94 Sein Erkenntnisinteresse läßt er Wolfgang Kayser aussprechen, der indes in seinem Text an jener Stelle, da Schulz-Grobert das Zitat abbricht, fortfährt: »Und mit einer seltsamen tiefreichenden Befriedigung lernt man, daß für die neueste Forschung Homer wieder Homer ist, daß er gelebt hat und für uns weiterleben kann.« 95 Hier sieht man, daß die Verfasserfrage

9

° Hinzuweisen wäre außer auf Johnson und Schulz-Grobert etwa noch auf Christoph Huber, Herrscherlob und literarische Autoreferenz. In: Heinzle 1 9 9 3 (Anm. 35), S. 4 5 2 - 4 7 3 . 91 V g l . Haug u. Wachinger (Anm. 37). Insofern ist Stackmanns Behauptung (Anm. 80), S. 4 0 3 , zur Widerlegung der Autorkritik der N e w Philology könne er es sich »bequem machen und zur Rechtfertigung [des Autorbegriffs] einfach auf Burghart Wachingers großangelegte Studie über Autorschaft und Überlieferung verweisen«, etwas überzogen. Er verläßt sich anschließend auch nirgends auf diese Studie (vgl. A n m . 3 7 ) und formuliert eigene Argumente. 92 Foucault (Anm. 1 2 ) , S. 1 9 . 93 Schulz-Grobert (Anm. 36), S. 6 1 , Anm. 7 . 94 Ebd. S. 62. 95 Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, München l 6 i 9 7 3 , S. 3 5 .

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von noch viel tiefreichenderen Wunschvorstellungen überlagert wird als von voreiligen Identifizierungen. Was weiß man denn, wenn man weiß, daß Homer Homer war — oder Shakespeare Shakespeare, wie schon, nicht ohne Zynismus, George Bernhard Shaw fragte?® 6 Auf dieses Problem einer identifikatorischen Implosion wird bei der Frage nach Tannhäuser zurückzukommen sein. Von >naiven< Autorbegriffen zu sprechen, verbietet das hohe Reflexionsniveau, auf dem alle hier zitierten Verfasser agieren, dennoch ist es bemerkenswert, welche Transparenz einige von ihnen dem aus Text und Geschichte gewobenen Schirm der Alterität zutrauen. Indem Karl Bertau versucht, sich den Texten unter anderem psychoanalytisch zu nähern, umgeht er gleichsam jene Trennscheibe, welche die Narrativik zwischen Autor und Erzähler errichtet. Denn eine unbewußte Botschaft ist nicht narrativ, sie entspringt auch nicht dem Unbewußten des fiktiven Erzählers, der selbstverständlich kein seinem Ich verborgenes Reich des Verdrängten besitzt. Der fiktive Erzähler ist selbst nur ein Traum, und wenn er erwacht, ist er der Dichter. Dessen Unbewußtes bedient sich des Narrativen, legt ihm seine geheimen Depeschen unter und kommuniziert so teils mit dem kollektiven Unbewußten, teils mit dem Analytiker. Wie Bertau dies in Interpretation umsetzt, ist im doppelten, alten und neuen Wortsinn bedenklich. Die Versuche, Wolframs von Eschenbach Aggressionsphantasien aufzudecken, wurden bereits für die Deutung von Tannhäusers Leichs behutsam beerbt. Eine neuere Analyse gilt der >Goldenen Schmiede< Konrads von Würzburg, die nicht zuletzt deshalb hier ins Blickfeld geraten muß, weil sie das Ich des Dichters in den Titel erhebt. 97 Bertau findet seinen Ansatzpunkt in der fehlenden Ordnung der >Goldenen Schmiedes denn weder die Gliederung des Sentenzenwerks des Petrus Lombardus noch die Systematiken der Enzyklopädien, wie die Gestaltung nach Schöpfungstagen oder ontologischen Bereichen, findet sich bei Konrad wieder. Seine Statio-

6Vgl. Hanswilhelm Haefs, Das dritte Handbuch des nutzlosen Wissens. V o m Stoff, aus dem gedichtet wird ( D T V 1 1 9 5 7 ) , München 1 9 9 4 , S. 1 4 1 : »In dreijähriger Arbeit hat eine Spezialistengruppe an der McKenna-Universität zu Claremont in Kalifornien durch eine Computeranalyse [ . . . ] nachgewiesen, daß Shakespeares Werke von keinem der anderen Kandidaten für diese Autorschaft geschrieben worden sein können. D a m i t bleibt nur noch die Frage offen, ob es nun wirklich William Shakespeare war, oder — wie bereits George Bernard Shaw erkannte — >ein anderer Schriftsteller gleichen Namens«.« 97

Karl Bertau, Beobachtungen und Bemerkungen zum Ich in der »Goldenen Schmieden In: Philologie als Kulturwissenschaft. Studien zur Literatur und Geschichte des Mittelalters. Festschrift für Karl Stackmann, hrsg. von Ludger Grenzmann, Hubert Herkommer u. Dieter Wuttke, Göttingen 1 9 8 7 , S. 1 7 9 - 1 9 2 .

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nen des Marienpreises folgen allem Anschein nach der Assoziation, »der subjektiven Willkür seiner Einfälle. Wenn das richtig ist, dann würde dieses Gedicht uns Späteren die Chance bieten können zu erkennen, wie solche Assoziation von Vorstellungsinhalten, wie die Subjektivität eines mittelhochdeutschen Dichters gegen Ende des XIII. Jahrhunderts genauer beschaffen gewesen wäre.«9® Ein Dichter, der keiner traditionellen Ordnungsvorgabe folgt, muß diese aus sich selbst heraus setzen, und dazu muß er sich zunächst mit sich selbst konfrontieren. Darüber wird Konrad die zu preisende Maria unversehens vom Subjekt zum Sujet, zum Gegenstand, und zum Subjekt wird er sich selbst. Dies sieht Bertau auch zahlenallegorisch bestätigt, der exakt bemessene Gesamtumfang von iooo Reimpaaren legitimiert vielleicht diesen Zugang. Der Name Cuonrat taucht wie der Name Maria genau zweimal auf, letzteres dürfte bei einem Mariengedicht eine extrem seltene Apostrophierung sein. Die magisch-allegorische Zahlenbedeutung ergibt für Cuonrat die Zahl 946, und auf den Vers 946 folgt in der >Goldenen Schmiede< wohl nicht zufällig die zweite Nennung des Namens Maria. An die Untersuchung der Distribution von ich vs. er, die eine Tendenz vom Subjektiven ins Objektive aufdeckt, schließt Bertau eine Analyse des Prologs an, dessen Bilder an die Schöpfungsgeschichte erinnern. Hier entwickelt der Dichter offenbar die Phantasie, in seiner Fiktionswelt gleich einem Gott zu schaffen: Das Bewußtsein eines eigenen, gottähnlichen Schöpfertums treibt also wohl das Ich des Dichters um, und weil sein Wünschen im Grunde hybrid ist, mag er um die Geltung seines Ich besonders besorgt sein. Konrad dichtet ein ganz außerordentliches Marienlob, aber dennoch läßt er sein Ich im ersten Abschnitt sagen, daß er das eigentlich nicht kann, denn er weiß genau, daß man können müßte, was nur Gott k a n n . "

Schließlich folgt eine psychologisch bemerkenswerte Fehlleistung im Mittelteil der >Goldenen SchmiedeStreicheAutorbildAutorbild< durch den A k t des Sammeins festgelegt: das Œuvre als

127

Kokott (Anm. 121), S. 293. Gabriela Paule, Der Tanhüser. Organisationsprinzipien der Werküberlieferung in der Manesseschen Handschrift, Stuttgart 1994. 129 Eine etwas ausführlichere Auseinandersetzung wurde unter dem Titel »Minnesang als mittelalterliche Vollzugsanstalt für fröide? Kritische Betrachtungen zu Gabriela Paules >Der Tanhüseri

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Liedsammlung soll den Autor vergegenwärtigen, die Zuordnung der Lieder läßt sich als >Interpretationsanweisung< für diesen spezifischen Autor d e u t e n . 1 , 1

Aus diesem Forschungsansatz ergeben sich etliche Widersprüche, die aus einem impliziten, jedoch nicht erkannten Verschwinden des Autors resultieren und deshalb etwas genauer betrachtet werden sollen. So geht es vorgeblich darum, die speziellen Bedingungen des Sammeins und der Verschriftlichung, die Kontur eines Autorprofils, wie es auf diese Weise durch die Handschrift C vermittelt wird, nachzuzeichnen. Tatsächlich werden aber nur der fröide-Vollzug, den Tannhäusers Tanzinszenierungen an die Stelle von Walthers Wertediskussion gesetzt haben sollen, und die so bedingte stärkere Ritualisierung des Minnesangs konstatiert, was zweifellos dem Sammeln vorausgeht. Überdies wird das Sammeln als heuristischer Begriff überfordert, wenn ihm die Produktion eines konsistenten Autorbildes inklusive Interpretationsanweisung auferlegt wird. Der Manessekreis hätte demnach 137 konzise Autorprofile konstruiert, wobei in der Folge jedem Selektions- und Anordnungsdetail in der Handschrift Sinn unterstellt wird. Diese von Ragotzky bekannte und übernommene, kontingenzabweisende ubiquitäre Sinninterpolation 1,2 führt weiterhin zur Planierung sämtlicher Brüche. So wird Lied XV, das aus drei disparaten Strophen besteht: I II III

Natureingang mit Sommerliedmotivik, Altersklage, Bitte an die Dame um Erhörung,

und gewiß auf Überraschungseffekte angelegt war, interpretatorisch komplett eingeebnet. Sein Generalnenner wird, nach der ungewöhnlichen Altersklage in Str. 2, vor allem aus der letzten Strophe abgeleitet: 133 35

W/7 si diu guote, diu gar ivolgemuote troesten mich, so vind ich ein ende der langen swaere min,

und lautet nach Paule: »Die fröide-Wirksamkeit Tannhäuser-spezifischen Minnesangs weist der Gesellschaft einen Weg zur Wiederherstellung ihrer Idealität.« 134 Ein Textanhalt für eine solche Interpretation dürfte kaum zu finden sein. " " E b d . S. 36. 1,2 Vgl. oben die Diskussion zu Leich I in Kapitel III.3, dort auch eine Kritik an der behaupteten funktionalen Äquivalenz von Wertediskussion und fröide-Vollzug im Tanz. ' " T e x t nach Siebert 1934. 1,4 Paule (Anm. 128), S. 124.

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Die grundlegende Entscheidung für die Benutzung des textus receptus von Kühnel wird nicht mit philologischen Kriterien, sondern mit dem geschilderten Interesse an der CEuvrebildung in C begründet. 1 3 5 Daraus müßte man folgern, daß, wer statt dessen am historischen Dichter interessiert ist, andere Textausgaben benutzen sollte. Keiner der zentralen Begriffe, einschließlich der Gattungsfragen — so wird z.B. das Kreuzlied Nr. XIII diskussionslos als Spruchreihe behandelt - , wird definiert. Der für Tannhäuser als zentral geführte Terminus fröide wird nicht übersetzt oder paraphrasiert, sondern durch Kursive permanent als mittelhochdeutsches Original gekennzeichnet, so daß es zu pseudomittelhochdeutschen Neologismen wie »Minne-fröide« kommt, ohne daß das semantische Feld geklärt wäre. Hier offenbart sich, was Terminologie sein sollte, als Jargon. In bezeichnender Engführung des Strukturalismus erweist etwa der Begriff »strukturell« sich bei genauerer Betrachtung als synonym mit »historisch« unter Verleugnung eben dieser Bedeutungskomponente, das heißt: er ist semantisch leer. So beginnt Paule mit den Liedern V I I I - X , um »der strukturellen Logik der Texte [zu] folgen und den Ursprung dieser Innovation dort [zu] suchen, wo sich der Tannhäuser dezidiert in die Gattungstradition eindefiniert.« 1 3 6 Dennoch lehnt sie an gleicher Stelle jede, also auch relative, Chronologie explizit ab. Ähnliches findet sich bei der gemeinsamen Interpretation der Leichs V I und I, welche »die strukturelle Bezogenheit der Leichs V I und I aufeinander« zugrundelegt, wonach Leich I realisiert, was Leich VI abstrakt entwirft, und Paule dennoch jede chronologische Implikation abweist. 1 3 7 Die zentrale Kritik hat aber am Konzept der durch die handschriftlichen Ordnungsgruppen konstituierten Autorrolle anzusetzen, durch die das dichtende Subjekt eine regelrechte Dissipation erleidet, die sich bereits in ihrer Graphie bekundet. Es gibt einen Dichter, eine Autorrolle, ein SängerIch, einen Tannhäuser, einen Tanhüser und einen Tanhüsaere, ohne daß deren interne Verhältnisse zueinander definiert würden. So wird man mit Fug fragen dürfen, woher Paule weiß, daß der Dichter, der an bestimmten Stellen seiner Dichtung in die Tanhüsaere-Rolle schlüpft, den Namen Tannhäuser trägt. Obwohl sie dies nach ihren eigenen Prämissen nicht wissen kann, hantiert sie dennoch unentwegt mit diesem Autornamen. Während Paule den Hauptkonflikt zwischen historischem Dichter und Autorrolle vermutet und die konstruktivistische Aktivität der C-Redaktion auf Text-

' » V g l . ebd., S. 56. 136 E b d . S. 66. (Hervorhebung H. K.) ' " E b d . S. 204. (Hervorhebung H. K.)

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anordnungsfragen eingrenzt, zielt der Forschungsansatz, den sie verfolgt, auf die Eliminierung des historischen Dichters: wenn nicht allein wir nicht mehr wissen als die C-Redaktion, vielmehr diese auch nicht m e h r wußte als wir, dann erscheint der Tannhäuser als eine unter Verwendung bes t i m m t e r Texte frei konstruierte Figur, die uns in der Miniatur paradigmatisch entgegentritt. Dieser Ritter des Deutschen Ordens im Herrschergestus bleibt f ü r den Blick auf den historischen Autor opak. Anstatt nun an dieser Liquidierung des historischen Subjekts sich zu beteiligen, folgt Paule u n b e w u ß t den Autor bewahrenden Impulsen und feilt fortwährend an seinem Profil. Daraus sind die weiteren Aporien der Arbeit abzuleiten. So sieht sie in der Handschrift neben der gattungstypologischen A n o r d n u n g Leichs —• Minnelieder —> Spruchreihen »innerhalb der Liedgruppe eine >programmatische< A n o r d n u n g : der Kern der Minnekritik-Lieder und die U m r a h m u n g durch die beiden Tanzlieder.«' 3 8 Daraus zieht sie den Schluß, »daß mit der Bildung einer nach programmatischen Aspekten zusammengestellten Liedgruppe eindeutig eine Leseanweisung für den Rezipienten der Handschrift C e n t s t e h t . « ' 3 9 Doch woher weiß der Rezipient, daß er die präsentierten Texte nicht sukzessive vom ersten Leich bis z u m Rätselspruch zur Kenntnis nehmen soll, sondern, m i t Lied VIII m i t t e n im Œuvre beginnend und erst an zwölfter Stelle zu Leich I gelangend, das von Paule rekonstruierte Labyrinth abzuschreiten hat? Des weiteren bricht in die Präsentation der Autorrolle durch die H a n d schrift i m m e r wieder der historische Dichter ein, auch wenn dessen Erforschung schon in der Einleitung als obsolet abgetan wird. Die hypothetische Texterweiterung in Leich IV, d. h. der Verszusatz gegenüber der — späteren — Kontrafaktur St on, egredere, wird so gedeutet, »daß die Texterweiterung gerade auf die Entfaltung dieser Autorrolle und d a m i t auf die literarische Selbstdarstellung des Tanbûsaere z i e l t . « ' 4 0 Demnach ginge diese Autorrolle zweifellos auf den historischen Dichter zurück, nicht auf die Sammler und Redaktoren. Ebenso konzeptwidrig ist Paules Eingehen auf D a t i e r u n g s f r a g e n . ' 4 ' U n t e r anderem versucht sie, m i t Bumkes Argumenten Leich VI aus Tannhäusers Spätzeit vorzuverlegen, weil die dort ausgeschriebene Leerstelle eines abstrakten idealen Herrschers in Leich I konkret besetzt werde.' 4 2 1,8

Ebd. S. 1 0 8 . ' í 9 E b d . S. i o 8 f . (Hervorhebung H . K . ) l4 ° E b d . S. 1 8 6 . 141 142

V g l . zum folgenden Argument die früheren kritischen Bemerkungen in Kapitel III.5.3. Ä h n l i c h unklar sind die Äußerungen zum Kreuzlied, vgl. Paule (Anm. 128), S. 2 8 8 , A n m . 24 u. S. 300.

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Insgesamt bleibt damit die Priorität von Autorrolle und Handschrift unklar, woraus diverse Aporien erwachsen. Die »in C vermittelte Rezeption des Autors Tannhäusers [!]« wird durch die eigens für C erstellte Miniatur gesteuert und rückt den Spruchdichter vor den Leich- und Minneliedlyriker. 143 Dann heißt es im Stil einer salvatorischen Klausel: »Ob die durch C vermittelte Ordnung bereits vorlag und übernommen wurde oder ob sie von den Sammlern der Handschrift erst hergestellt wurde, ist für meine Fragestellung nicht wesentlich, sie zielte auf die Erarbeitung des in C vermittelten Profils des Autors Tannhäuser.« 144 Anschließend fährt die Verfasserin unbekümmmert fort: Dieses Profil »wird durch die handschriftliche Organisation der Texte selbst hergestellt.« 1 4 5 Mit der daraus abgeleiteten Behauptung, dies »unterscheidet die Tannhäuser-Sammlung deutlich von denjenigen früher Minnesänger«, 1 4 0 geht Paule wiederum auf den historischen Dichter zurück und macht aus dem, was Allgemeines sein soll, dem Sammeln als heuristischem Begriff, nur das Besondere eines nachwaltherschen Lyrikers. Bereits die Kritik der Bußlied-Interpretation hat ergeben, daß Paule nicht zu einem überzeugenden Resultat gelangt, welches es erlaubte, ein Tannhäuserprofil in C von einem kategorisch anderen in der Jenaer Liederhandschrift J abzuheben. Dennoch ist genau dies ihr Anliegen: »Das mit dieser Strophenreihe [in J ] vermittelte Bild des Autors Der Tanhüser [für J müßte es korrekt lauten: Tanvser] unterscheidet sich damit erheblich von dem in C präsentierten.« 147 Dieses Resultat beruht, wie dargelegt wurde, einzig auf der Weigerung, Bezüge zwischen dem Bußlied aus J und dem als Bußlied gedeuteten Kreuzlied aus C zuzulassen. Dies widerspricht nicht zuletzt Paules methodischem Zugriff: »Wie die Untersuchung des Tannhäuser-CEuvres in C ergeben hat, konstituiert sich dort ein Autorprofil Der Tanhüser über einzelne Facetten, der Autor ist nur über verschiedene Gattungsperspektiven und nur in deren Summe greifbar.«' 4 8 Obiges Resultat läßt sich einzig mit der aktiven Weigerung, das Bußlied als eine weitere Facette des Autorbildes zu begreifen, erklären; ansonsten wäre es ein diskutables Konzept, die verschiedenen Überlieferungen in ein Mosaik zu integrieren.

" « V g l . ebd. S. 3 1 5 . 144 E b d . S. 320. 145 Ebd. ' 4 Ä Ebd. 147 Ebd. S. 335. 148 Ebd.

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Da Paule indes fortwährend zwischen den Orten rochiert, an denen dieses Autorprofil entstanden sein soll, zwischen historischem Dichter, Überlieferungszusammenhang, Handschriftenredaktion und Rezeptionsformen, kann sie zwar auf diese Weise Kohärenzen ad libitum konstruieren oder abblocken, sie wird sich jedoch zwangsläufig in Widersprüche verstricken. Eine in ganz anderem Zusammenhang entwickelte Kritik am Begriff der Aufführungssituation von Peter Strohschneider149 kann die vorstehenden Überlegungen weiter vertiefen. Sie wird deshalb unter diesem Aspekt kurz wiedergegeben. Für die Interpretation mittelhochdeutscher Gedichte wird die Frage entscheidend, ob die Aufführungssituation im Minnesang ein essentielles oder ein ledigliches akzidentelles Merkmal darstellt. Häufig wird sie nämlich erst dann einbezogen, »wenn Verstehensprobleme auf der Ebene des Textes selbst nicht mehr auflösbar scheinen und ein Wechsel der Argumentationsebenen darum hilfreich anmutet.« 150 Aufführung wird somit nicht als Kategorie der Textproduktion begriffen, sondern als Hilfsmittel der Sinnunterstellung. Die daraus resultierende Kritik ist derjenigen parallel zu schalten, die an Paule vorgeführt wurde, insofern diese ihre Methode aus der dort untersuchten entwickelt hat. Strohschneider hebt drei Einwände heraus: 1. »Hier wird zunächst die Strategie des Autors mit der Strategie des Textes identifiziert.« 151 2. »Zudem gibt es keinen Grund vorauszusetzen, daß die Aussageinhalte auf den im Interaktionsprozeß integrierten Zeichenebenen einander nur verdoppeln«, 152 das heißt sich wechselseitig nur bestätigen und nicht etwa parodieren könnten. 3. Dem schließt sich eine weitere Gleichsetzung an: »diejenige des im Text oder in seiner Aufführung entworfenen Publikumsverhaltens mit dem aktualen. [.. .Dies unterstellt] eine Eindeutigkeitsrelation von Ursache (Autorstrategie) und Wirkung (Publikumsverhalten)«. 153 Aus dem bisher Gesagten folgert Strohschneider indes nicht, das Kommunikationsmodell vom Aufführungsprozeß sei aufzugeben, sondern es auf seine Bedingungen und Möglichkeiten zu reflektieren. Minnesang ist demnach nur als Interaktionsprozeß verstehbar und »von den allein überliefer149

Peter Strohschneider, Aufführungssituation: Zur Kritik eines Zentralbegriffs kommunikationsanalytischer Minnesangforschung. In: Kultureller Wandel (Anm. 2), S. 56—71. 150 Ebd. S. 63. 151 Ebd. S. 68. Von Paule um die Strategie der Redaktoren erweitert. 152 Ebd. '"Ebd.

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ten Texten her nur als Vielfalt alternativer Prozesse zu denken«. 1 5 4 Dies kann man auch so verstehen, daß die Minnelieder als überlieferte Texte offene Kunstwerke im Sinne Umberto Ecos darstellen, 155 sie wurden jedoch stets als Aufführungen realisiert und darin geschlossen. Diese interagierende Schließung ist aber nicht eindeutig determiniert, sondern in Alternativen denkbar und deshalb nicht über Textinterpretation rekonstruierbar. Der tatsächliche Effekt der Kategorie Aufführung für unsere heutige Textdeutung ist folglich keine Vereindeutigung der Textaussage, keine rekursive Schließung des Textes, die nur der realen Aufführungssituation möglich und in ihr kontingent war, sondern im Gegenteil werden »diesen Unbestimmtheiten [der reinen Textebene] noch die Offenheiten und Imponderabilien des kommunikativen Liedvollzugs hinzugefügt.« 1 5 6 Exkurs: Zum Konzept eines >textus receptus< Seine bislang noch nicht erschienene, von Paule ihrer Studie jedoch bereits zugrundegelegte Edition der Texte Tannhäusers hat Jürgen Kühnel in zwei wichtigen Aufsätzen theoretisch vorbereitet 157 und dabei sein Konzept eines textus receptus entfaltet. 1 5 8 Ob ein solches, anscheinend programmatisch vom Autor sich verabschiedendes Konzept tatsächlich einen Beitrag zum Verschwinden des Autors im Sinne der hier vertretenen Hypothese darstellt, soll im folgenden kurz untersucht werden. Zugleich kann damit die Entscheidung für die hier benutzte Siebertsche Textfassung von Tannhäusers Werken begründet werden. Kühnel beginnt seinen erstgenannten Aufsatz mit dem Hinweis, auf eine an sich dringend notwendige ideologiekritische Analyse der klassischen, wesentlich von Lachmann inaugurierten Textkritik zu verzichten, reiht an gleicher Stelle jedoch die wichtigsten, solcher Kritik zu unterziehenden Theoreme auf, darunter »nicht zuletzt die bürgerlichen Begriffe des Individuums, des Eigentums und des Originals«. 1 5 9 Wohin diese Kritik 154

E b d . S. 69. ' 5 5 V g l . Eco (Anm. 1 1 0 ) . 156 Strohschneider (Anm. 149), S. 70. ' " J ü r g e n Kühnel, Der »offene Text«. Beitrag zur Überlieferungsgeschichte volkssprachiger Texte des Mittelalters. In: Akten des V. Internationalen Germanisten-Kongresses Cambridge 1 9 7 5 . Heft 2 , hrsg. von Leonard Forster u. Hans-Gert Roloff (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A , 2,2), Bern u. Frankfurt/M. 1 9 7 6 , S. 3 1 1 — 3 2 1 . 1,8

Vgl. Jürgen Kühnel, Z u einer Neuausgabe des Tannhäusers. Grundsätzliche Überlegungen und editionspraktische Vorschläge, ZdfPh 104 ( 1 9 8 5 ) Sonderh., S. 80 — 1 0 2 .

' 5 y Kühnel (Anm. 1 5 7 ) , S. 3 1 1 . (Hervorhebung H. K . )

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führen sollte, wird nicht mehr angedeutet, indes benutzt Kühnel selbst die Begriffe kurz darauf zur Kennzeichnung der Produktion von Gegenwartsliteratur: »Der Autor schreibt dabei als bürgerliches Individuum für bürgerliche Individuen« 1 0 0 und bestätigt auf seine Weise, indem er jedem modernen Autor den Stempel der Bürgerlichkeit aufdrückt, das Erfordernis einer ideologiekritischen Untersuchung. Der Autor jedenfalls wird zum Produkt der Moderne erklärt, seine Genese aber datiere ins Mittelalter. Davor liege ein archaischer, vorliterarischer, je im aktuellen Vollzug produzierter Text, der keinen Autor nötig habe: »Aus Formelrepertoire und Handlungsgerüst wird, von Fall zu Fall, in engem Kontakt zwischen dem Vortragenden und einem bestimmten Publikum, meist aus bestimmtem Anlaß, ein >aktueller< Text hergestellt.«' 6 1 Das Mittelalter wäre dementsprechend der Umschlagpunkt vom primär kollektiv aktualisierten zum primär individuell fixierten Text. Der Autor fungiert für Kühnel erst in zweiter Linie als Ort eines individuellen Schöpfungsaktes von Literatur, seine historische Leistung bestehe vielmehr in der Fixierung eines dann gern Werk genannten Textes, in der narrativen Fest-Stellung von Erzählungen, in der Petrifizierung von Kommunikation. Auf dem Weg dahin werde die zunächst unbegrenzte Variabilität des Textes im Mittelalter eingehegt, gehe jedoch nicht ganz verloren. »Die begrenzt variable Textgestalt der volkssprachigen Texte des Mittelalters sei im folgenden als >offener Text< bezeichnet.« 102 Kühnel differenziert die Offenheit in zwei Qualitäten, eine gleichsam archaische, in die Vergangenheit weisende und eine gleichsam moderne, in die Zukunft weisende, welche letztere dann bereits den Autor in Form von »Autorenvarianten neuerer Texte« involviert.' 6 3 In diesem Kontext betont Kühnel, »daß die Autoren der höfischen Romane und die Minnesänger und Spruchdichter meist namentlich bekannt und in ihren Werken als mehr oder weniger greifbare Individuen gegenwärtig sind.«' 6 4 Insofern sind Textoffenheit und Autorsubjekt lediglich historische, keineswegs logische Gegensätze.

160

E b d . S. 3 1 3 . " " Ebd. 162 Ebd. S. 3 1 4 . Es wäre zu betonen, daß diese Offenheit nichts mit der von Umberto Eco am offenen Kunstwerk definierten zu tun hat. Für Eco (Anm. 1 1 0 ) , S. 36, entsteht Offenheit als vom Autor bewußt induzierte Anschlußmöglichkeit für divergente Interpretationen erst im 1 9 . Jahrhundert: »Doch erst nach der Romantik erscheint in der zweiten Hälfte des 1 9 . Jahrhunderts mit dem Symbolismus eine bewußte Poetik des >offenen< Kunstwerks.« 163 K ü h n e l (Anm. 1 5 7 ) , S. 3 1 6 . Die erste Qualität nennt er »iterierende Varianten« (S. 3 i 4 f . ) , die zweite »gattungspezifische Varianten« (S. 3 i 5 f . ) . 164 E b d . S. 3 1 6 . (Hervorhebung H . K . )

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Die eingehegte Offenheit des mittelalterlichen Textes, die sich auch in seiner Überlieferung, etwa in gleichwertigen Parallelversionen, dokumentiert, führt allerdings die klassische Textkritik mit ihrem Ziel, ein dem Autor zuschreibbares Original zu rekonstruieren, ad absurdum. Kühnel stellt dem zwei moderne Editionstypen entgegen, dessen erster, die »rezeptive« Edition, eine Fortsetzung der klassisch textkritischen unter besser reflektierten Prämissen darstellen und bescheiden auf Didaktik und Breitenwirkung angelegt sein sollte, während der zweite, die »historische« Edition, eine Alternative bieten und den strengeren wissenschaftlichen Anforderungen gerecht werden sollte. Er läuft auf eine kaum bearbeitete Dokumentation des offenen Textes hinaus: »Von sprachlichen, orthographischen und metrischen Normierungen sollte unbedingt abgesehen werden, ebenso von Konjekturen.« 105 Daß hier der Textbegriff problematisiert wird, ist nur zu berechtigt. Er ist jedoch für das Mittelalter als der entscheidenden Ubergangsstufe vom mündlich-virtuellen zum schriftlich-fixierten Text noch viel zu ungenau. Nicht allein das Verhältnis von Oralität und Schriftlichkeit ist dialektisch zu fassen, sondern das gesamte Bedingungsgefüge für den Textbegriff. So wirken etwa die Interessen von Auftraggeber, Autor, Vortragendem und Rezipienten immer in einer je historisch bestimmten Form auf den Text ein, nicht etwa nur als Spezifikum der spätmittelalterlichen Übergangszeit. In diesem Zusammenhang ist auch der Hinweis von Hugo Kuhn interessant, der ganz im Gegensatz zu Kühnel einen Aspekt der Geschlossenheit im mittelalterlichen Text erkennt: »[...] den jeweiligen Text konstituiert hier nicht seine >Negativitätpositive< Endgültigkeit als je einzelne Kulturerscheinung.« 166 Außerdem rekurriert der Autor des Mittelalters auf seine antiken Vorläufer, er erfindet sich nicht, sondern besinnt sich allenfalls in zunehmendem Maße auf sich selbst. Der Autor entsteht deshalb auch nicht mit dem fixierten Text im Mittelalter oder gar erst dem Buchdruck an dessen Ausgang, sondern er wandelt, für uns greifbar schon seit dem >Sonnengesang< des Echnaton (um 1 3 5 0 v. Chr.), seine Gestalt unter besonderen historischen Gegebenheiten. Offensichtlich ist Kühnel in seinem zweiten aufgeführten Aufsatz von seiner anfänglichen Dichotomie der Editionstypen abgekommen und ver165

Ebd. S. 3 1 9 . Daß dies im Prinzip auf eine synoptische Präsentation der faksimilierten Texte hinausläuft, bestätigt der Hinweis auf die Litterae-Bände als Vorbild dieses Editionstyps (ebd. S. 3 2 1 , A n m . 1 3 ) . Der Aufsatz nimmt damit wesentliche Positionen von Cerquiglini und der N e w Philology vorweg. 1(56 Kuhn (Anm. 28), S. 1 3 8 .

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tritt nun selbst eine Vermittlungsposition. Wegen der lautlichen Nähe ist es von Bedeutung darauf hinzuweisen, daß die »rezeptive« Edition von 1 9 7 6 nicht dem textus receptus von 1 9 8 5 entspricht, allerdings ebenso wenig der »historischen« Edition, die mit dem entsprechenden Litterae-Band bereits vorliegt, worauf Kühnel selbst ausdrücklich hinweist. 1 0 7 Es ist daher etwas verwirrend, daß er in seinem zweiten, der theoretischen Fundierung des textus receptus gewidmeten Aufsatz sich kommentarlos auf den ersten beruft, ohne das Verhältnis seiner geplanten Edition zu den von ihm eingeführten Editionstypen zu klären. Die Frage, wo der Autor in diesem Editionskonzept verbleibt, stellt sich damit neu. Zunächst wird er als Verfasser der überlieferten Texte apodiktisch verabschiedet, denn es sei aussichtslos, »die verlorenen Gedichtfassungen des 1 3 . Jahrhunderts wiederherzustellen. Festgehalten werden soll vielmehr der textus receptus des 14. Jahrhunderts.« 1 0 8 Das 14. Jahrhundert dokumentiert aber zwei sehr verschiedene Tannhäuser, nämlich den der Großen Heidelberger und den der Jenaer Liederhandschrift: — C zeigt »den Tannhäuser als virtuosen >Formalistenlediglich< den textus receptus (des 14. Jahrhunderts) festzuhalten.« 1 7 3 Es ist jedoch nicht ganz einsichtig, warum ein Herausgeber, der von zwei Autorvarianten nur eine besitzt, während er die andere selbst hypothetisch rekonstruiert hat, nun auch diese nicht textkritisch sollte aufbereiten dürfen. Freilich soll hier nicht im Gegenschluß die prinzipielle Berechtigung des Vorgehens geleugnet werden, für das Kühnel sich schließlich entscheidet, jenen Mittelweg zwischen den von ihm früher vorgeschlagenen Editionstypen der rezeptiven und der historischen Ausgabe: Das Verfahren, für das die Entscheidung letztlich gefallen ist, versucht im G e gensatz zu den in den Ausgaben durch Singer und Siebert einerseits [i.e. rezeptiven], durch [John Wesley] Thomas andererseits [i.e. historischen] vorliegenden >editorischen ExtremenEdition eines textus receptus< bezeichnet werden kann.' 7 4

Ohne die einzelnen Texteingriffe, die Kühnel für geboten hält, näher zu charakterisieren, ist deutlich, daß die Zahl der Konjekturen und Emendationen gegenüber Siebert erheblich eingeschränkt und keineswegs auf den Autor Tannhäuser bezogen wird. Norm und Richtschnur wird die Redaktion Manesse, ihr Tannhäuserbild, oder präziser, das Tannhäuserbild, das sie beschlossen hat, der Nachwelt zu übermitteln. Obgleich Kühnel sich sein Interesse am historischen Dichter bewahrt, sieht er doch in den lyrischen Texten keinen Zugang mehr zu diesem. Sinnbild seiner Auffassung ist der Name des Dichters, den er nicht für den Eigennamen, sondern für einen Nom de guerre hält, der selbstironisch den unbehausten Vortragskünstler als Hinterwäldler tituliert. 1 7 5 Insofern war Tannhäuser nicht etwa der Ritter, nach dessen urkundlichen Spuren Siebert so aufwendige Fahndung betrieb, sondern ein namen172 173 174 175

Kühnel (Anm. 1 5 8 ) , S. 87. Ebd. Ebd. S. 89. V g l . J ü r g e n Kühnel, D e r Minnesänger Tannhäuser. Z u Form und Funktion des Minnesangs im 1 3 . Jahrhundert. In: Ergebnisse der X X I . Jahrestagung des Arbeitskreises d e u t sche Literatur des M i t t e l a l t e r (Wissenschaftl. Beiträge der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Deutsche Literatur des Mittelalters 4), Greifswald 1 9 8 9 , S. 1 3 4 : Tanhuser ist lediglich eine Tanzmeisterrolle, was besage, »daß der N a m e >Tannhäuser< - Tanhuser — ähnlich wie der von Riuwental bei Neidhart ein Rollenname ist; damit erweist sich auch jede Suche nach einem historischen Geschlecht derer von Tanhüsen [ . . . ] als müßig.«

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loser Unbekannter, über den überhaupt nichts Sicheres ausgesagt werden kann, weshalb das Interesse an ihm letztlich sinnlos wird. Die Redaktion Manesse, die keine anonymen Texte duldete und deshalb jede Strophe einem Autor zuwies, präsentiert einen Tannhäuser, der folglich kaum mehr ist als das Etikett, das man auf Strophen klebte, die nicht namenlos bleiben durften. In welche Aporien ein solcher Ansatz beim Versuch, die Texte zu interpretieren, führen kann, hat Paule vorgeführt. Hier wird demgegenüber die eingestandene Schwierigkeit, dem historischen Dichter näher zu kommen, vielleicht die Unmöglichkeit, ihn wirklich zu fassen, als Herausforderung begriffen, dennoch den, der dort sprechen will, zu hören. 1 7 6 Weil Siebert seiner Textausgabe dieses Interesse, vielleicht zu optimistisch, aber doch in großen Teilen noch vertretbar zugrundelegte, folgt die vorliegende Arbeit seinem Text.

3 Tannhäuserprofile 3 . 1 Zur Echtheit von Tannhäusers Werken Unter der Frage nach der Echtheit von Tannhäusers Werken ist die Frage nach der Zugehörigkeit der nicht in der Großen Heidelberger Liederhandschrift unter Tannhäusers Namen überlieferten Texte zum gleichen Autor zu verstehen. Damit werden die in C erhaltenen lyrischen Gedichte a priori als echt aufgefaßt, oder, in gegenläufiger Bestimmung, der Autor wird in dieser Uberlieferung fixiert, die übrigen Texte werden versuchsweise darauf bezogen. Dieses in der Forschung unausgesprochen stets so gehaltene Verfahren rechtfertigt sich durch Alter und Umfang der C-Texte in Relation zu den vereinzelten und späteren Tannhäuser zugeschriebenen Texten. Hinzu kommt, daß wir, wie bei so vielen anderen mittelhochdeutschen Dichtern, keine außerliterarischen Zeugnisse über das Leben Tannhäusers besitzen. Z u bestimmen ist die Echtheit folglich nur über den impliziten Autor, jene Verfasserfigur, wie sie uns aus den Texten selbst anspricht. Daraus leitet sich der rein hypothetische Charakter der folgenden Bemühungen ab, der wiederum methodisch eine klare Trennung von der biographischen Analyse der Texte fordert, um zirkelschlüssige Belegverfahren zu vermeiden. Jeder der drei in diesem Kapitel über die Tannhäuserprofile entwickelten Abschnitte setzt konsequent neu ein und beruft sich nicht auf

• ' « V g l . dazu die Ausführungen im Epilog.

259

Hypothesen der jeweils anderen. Daß solcherart isoliert und hypothetisch bleibende Studien überhaupt betrieben werden, erklärt sich aus einer bewußten Opposition gegen die aufgezeigte Tendenz zur Abkehr vom Autorbegriff. j. 1.1 Zu den C-Texten Da der Autor nun über die Texte des Manesse-Codex entworfen wird, ergäbe es wenig Sinn, in diesen Texten nach Unechtem zu suchen. Immerhin kann man darauf verweisen, daß das Spektrum der in C unter Tannhäusers Namen versammelten Gedichte vom ersten Leich bis zum letzten Spruch sehr weit gefaßt ist, wie bereits die Analyse der heterogenen Leichexemplare ergeben hatte. Darüber hinaus wurde an gleicher Stelle die exzeptionelle Stellung des Rätselspruchs Nr. X V I in Tannhäusers Œuvre beleuchtet, dessen Echtheit zwar aufgrund der Uberlieferungszuweisung anzunehmen ist, jedoch aus dem Inhalt selbst nicht als evident entgegentritt. Nach der Analyse von Tomasek konnten jedoch die tiefer liegenden Verbindungen zum Gesamtwerk in C nachgezeichnet werden. 177 Und so wie die angedeutete >Hofzucht< des ersten Spruchtons Nr. XII 5 auf die spätere, unter Tannhäusers Namen überlieferte verweist, so deutet vielleicht das Rätsel in seiner theologischen Fundierung mehr noch als das in diesem Zusammenhang häufiger zitierte Kreuzlied zum Bußlied der Jenaer Liederhandschrift hinüber. 3 . 1 . 2 Zum Bußlied Von den außerhalb des Manesse-Codex unter Tannhäusers Namen überlieferten Texten werden lediglich das Bußlied der Jenaer Liederhandschrift und die Hofzucht noch als möglicherweise echt im eingangs definierten Sinn diskutiert. Weder die Tannhäuserlegende178 noch die späteren Sangsprüche, Dialoggedichte und Meisterlieder, die zum Teil unter Verwendung echter, also in C erhaltener Strophen neue Gedichte zusammensetzen, 179 bieten Texte, die einen Anhalt für echtes Liedgut geben. 180

'77 V g l . den Exkurs in Kapitel III. 1. l7ii

V g l . dazu die Ausführungen im Kapitel II.5. V g l . die Übersicht in R S M 5 ( 1 9 9 1 ) , S. 4 2 7 - 4 3 5 . l8o V g l . auch Helmut Lomnitzer u. Ulrich Müller (Hrsg.), Tannhäuser. D i e lyrischen G e dichte der Handschriften C und J , Abbildungen und Materialien zur gesamten Überlieferung der Texte und ihrer Wirkungsgeschichte und zu den Melodien (Litterae 1 3 ) , Göppingen 1 9 7 3 , S. 8. I79

260

Die Frage, ob das in J überlieferte Bußlied vom selben Tannhäuser stammt wie die Leichs, Lieder und Sprüche in C, ist in der Forschung immer wieder unterschiedlich beantwortet worden, so daß die Auffassung von Bumke in einer der neueren Literaturgeschichten, die sich zu der Frage äußern, diese sei »unentscheidbar«, 181 als ultima ratio erscheinen mag. Dieser Eindruck wird verstärkt, wenn man sich die wenigen Argumente näher ansieht, die überhaupt für oder wider die Echtheit vorgebracht wurden. Gegen einen gleichen Autor in C und J haben vor allem Siebert und Margarete Lang' 8 2 argumentiert. Siebert will einen stilistischen Unterschied erkennen und weist auf die »Schwerfälligkeit des Satzbaus« hin. 1 ® 3 Außerdem versucht er nachzuweisen, daß das Bußlied mit seiner ausladenden Form, insbesondere dem überlangen Abgesang, den späteren Meisterliedern näher steht als den Spruchtönen in C. Diesen Argumenten schließt Lang sich an und fügt weitere hinzu: Der aus C bekannte Tannhäuser hätte das Bußlied gewiß auf gewohnte Weise mit bildhaften Ausdrücken geschmückt, er hätte außerdem die dunklen Selbstanklagen in eine seiner »schwer durchschaubaren Leichkonstruktionen« eingebracht, ein »lockeres, leicht verständliches Sprachgewebe« wie im Bußlied jedenfalls »widerspricht Tannhäusers Stilkunst«. 184 Sieberts Verdikt, das Urteil des wohl besten Kenners von Tannhäusers Œuvre, blieb nicht ohne Folgen für die Forschung. Viele Literaturgeschichten, darunter die maßgeblichen von Gustav Ehrismann und Helmut de Boor / Richard Newald, erwähnen das Bußlied nicht einmal, wichtige Nachschlagewerke erklären es mit Sieberts Argumenten für unecht. 185 In seinem bereits ausführlich diskutierten Aufsatz hat allerdings Reinhard Bleck die wesentlichen Argumente Sieberts überzeugend entkräftet, 186 einige zusätzliche Einwände wurden in dieser Arbeit im Bußlied-Kapitel entfaltet. Die Hypothesen Längs, die im wesentlichen Ergänzungen zu Sieberts Ausführungen darstellen und insofern mit diesem nunmehr als ebenso unwahrscheinlich gelten können, wollen Tannhäuser auf eine be-

181

Joachim Bumke, Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter (DTV 4552), München 1990, S. 3 1 1 . 182 Vgl. Margarete Lang, Tannhäuser (Von deutscher Poeterey 17), Leipzig 1936. 183 Siebert 1 9 3 4 , S. 237. 184 Lang (Anm. 182), S. 156. 185 Unecht ist das Bußlied etwa nach Ludwig Wolff, VL 4 (1953), Sp. 366; Ursula Aarburg, M G G 1 3 (1966), Sp. 87. Weitere Nachweise bei Reinhard Bleck, Tannhäusers Aufbruch zum Kreuzzug. Das »Bußlied« der Jenaer Liederhandschrift, G R M 43 (1993), S. 257 — 266. ,86 V g l . Bleck ebd. S. 2 5 7 - 2 5 9 .

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stimmte Stilistik und Formkunst verpflichten, welche dieser selbst in C nicht durchgängig realisiert hat. Von allen Einwänden bleibt letztlich allein die getrennte Überlieferung bestehen. Es erhebt sich die vielleicht ausschlaggebende Frage, auf welcher Seite die Beweislast liegen soll, von welcher Hypothese, echt oder unecht, bis zum Erweis des Gegenteils auszugehen ist. Bleck weist darauf hin, daß J in seinen Verfasserzuweisungen sehr glaubwürdig ist: »In den Autorenzuschreibungen ist J zuverlässiger als C . « 1 8 7 Vielleicht muß man in Achtung vor dem Zeugnis der Uberlieferung die Prämisse eines gleichen Autors wählen und entsprechend bis auf weiteres von der Echtheit ausgehend die verschiedenen Argumente bewerten. Für eine solche Vorgehensweise sind bereits vor Bleck, jedoch ohne vergleichbare Diskussion, John Wesley Thomas, Olive Sayce und Ulrich Müller 1 8 8 eingetreten. Letzterer präsentiert wohl eine der besten literaturgeschichtlichen Darstellungen Tannhäusers, gibt aber in Bezug auf die Echtheit keine Begründungen. Die Argumente, die Thomas im Rahmen seiner Interpretation des Bußlieds vorgelegt hat, besitzen nur eine begrenzte Beweiskraft, müssen hier aber kurz beleuchtet werden. Zunächst macht er drei formale Indizien aus, mit denen das Bußlied auf den echten Tannhäuser verweise: »Three characteristics of its form point to him: [-] the length of stanza, [-] the rhyme scheme of the Aufgesang, [-] and the long final line.« 1 8 9 Die Strophenlänge ist mit 20 (22) Zeilen für die mittelhochdeutsche Lyrik überdurchschnittlich. Thomas hat bei 1 0 0 Tönen von Tannhäusers Zeitgenossen eine durchschnittliche Strophenlänge von 8,94 Versen festgestellt, 1 9 0 bei Tannhäuser selbst dagegen 12,5 Verse. Mehr, als daß Tannhäuser näher an der Länge der Bußliedstrophe als seine Zeitgenossen liegt,

187

Ebd. S. 257. Daß J nicht Text-, sondern Tonautoren sammelt, wurde im Bußliedkapitel erwähnt und dürfte, wie dort gezeigt, im Falle Tannhäusers nicht zu differenzieren sein. ,88 V g l . John Wesley Thomas, Tannhäuser: Poet and Legend. With Texts and Translations of his Works (Univ. of North Carolina Studies in the Germanic Languages and Literatures 77), Chapel Hill 1974, S. 38f.; Olive Sayce, The Medieval German Lyric 1 1 5 0 — 1 3 0 0 . The development of its themes and forms in their European context, Oxford 1982, S. 320; Ulrich Müller in: Rolf Bräuer (Hrsg.), Der Helden minne, triuwe und ire. Literaturgeschichte der mittelhochdeutschen Blütezeit. Von einem Autorenkollektiv (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 2), Berlin 1990, S. 605. 189 Thomas ebd., S. 39. "-""Ebd. S. 39, Anm. 77. Das exakte Resultat steht in einem gewissen Widerspruch zum Zufall der Auswahl — »random check« — und dem fehlenden Nachweis der benutzten Quellen.

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sagt dieses Argument jedoch nicht aus. Die durchschnittliche Tonlänge in J ist größer, sie liegt — bei einzelnen Unsicherheiten in der Formbestimmung und Vernachlässigung unvollständig überlieferter Töne — recht genau bei 1 3 Versen, dort gibt es auch Dichter wie Kelin (3 Töne, Durchschnitt: 1 4 Verse), Rumelant von Sachsen (10: 13,5), Friedrich von Sonnenburg (3: 14), Frauenlob (4: 18) oder Hermann Damen (5: 19), die den Tannhäuser aus C noch übertreffen und insofern näher am Bußlied liegen. Ein Argument für die Echtheit ist aus der Strophenlänge kaum abzuleiten. Aussagekräftiger könnte das Reimschema des Aufgesangs sein, das mit abcd abcd eine für Tannhäuser typische Reihung widerzuspiegeln scheint. Die Aufgesänge der Lieder und Sprüche in C lauten: Lieder: VII

abcd abcd

VIII

abc abc

IX

aaxc ddyc

X

abab cdcd

XI

aabc ddbc

XIII

abab cdcd

XV

aabcd eebcd

XIV

ab ab

XVI

ab ab (unsicher)

Sprüche: XII

ab ab

Auffällig ist zunächst, daß die vierversigen Stollen nur in den Liedern begegnen, nicht aber in den Sprüchen. Das genaue Reimschema findet sich einzig in Lied VII, dort mit anderen Hebungszahlen: 4a 3b- 4c 5d-. Touber nennt in seinem Repertorium lediglich fünf partielle Ubereinstimmungen, davon zwei im Abgesang, zwei der drei vergleichbaren Aufgesänge stammen aus der Jenaer Liederhandschrift, der dritte von Heinrich von Mügeln.' 9 1 Das gleiche Reimschema abcd abcd bzw. die gleichen Hebungsverhältnisse im Stollen finden sich in J außerdem bei: (Bußlied:

4a 5 b - 4c 5d-)

Bruder Wernher, Ton V I

4a 5 b - 4a 5c-

Rumelant, Ton V I

(2a+2a)- 3 b - 7 c - j A

Rumelant, Ton V I I

(2a+2a)- 5 b- 4c- 5d

Friedrich von Sonnenburg, I

4a 3 b - 4c 3d (= in J Ton III)

Wizlav, Spruch X

3a 2 b 3c 7 d -

Der Meißner, Ton I X

4a 3 b 4c 3 d

Der Meißner, Ton X I I I

4a 3 b - 4c 3d-

Der Meißner, Ton X V I I I

4a- 4 b 2c- 3d

Hermann Damen, Ton IV

4a 3b- 4c 3d

Auch hier hat der Überlieferungsträger mehr zu bieten als der Tannhäuser in C, namentlich der Meißner benutzt das Reimschema drei Mal. 151

A . H. Touber, Deutsche Strophenformen des Mittelalters (Repertorien zur Deutschen Literaturgeschichte 6), Stuttgart 1 9 7 5 , S. 1 3 7 .

263

Ohne durchschlagende Beweiskraft bleibt dann auch das letzte Formargument: »But the most distinctive structural element in this work is the long final line of the stanza, which is also the most characteristic element of Tannhäuser's Töne.«192 Tatsächlich trifft diese Aussage nur für etwa die Hälfte der Töne in C zu, nämlich: VII, VIII, I X , X I bei Strophen-, X bei Refrainschluß, und die lange Schlußzeile ist ebenfalls ein Charakteristikum zahlreicher Töne in J , man vergleiche Bruder Wernher, Zilies von Seine, Gervelin, Urenheimer u.v. a. Schließlich folgt als stilistisches Argument Tannhäusers Vorliebe für Kataloge, die aus C bekannt ist und im Bußlied als Bittkatalog besonders in der ersten Spruchstrophe begegnet. Auch wenn man keinen strengen Katalogbegriff anlegen will, 193 wonach die logische Abfolge bestimmter Bitten noch keinen Katalog darstellt, sind die aus C bekannten Namenkataloge ganz anders gestaltet, stets auf einen Effekt, sei dieser didaktisch oder ironisch, ausgerichtet. Die Faktur der übrigen Bußliedstrophen in J schließt sich auch in diesem Punkt enger an das Bußlied als die Kataloge in C. Sayce entscheidet sich mit einem Satz für die Echtheit, der dem bislang Zusammengetragenen kaum Neues hinzufügt: »Siebert rejects these [strophes] as inauthentic, but as J is usually a reliable witness, and as C and J often diverge in the type of strophes they transmit, C preferring Minnestrophen, J didactic and religious stanzas, they may well be genuine.« 1 9 4 Gelegentlich wurde auch die Miniatur in C, die Tannhäuser in außergewöhnlich herrschaftlicher Geste als Deutschordensritter präsentiert,' 95 auf das Bußlied in J bezogen, zumal die Darstellung eines frommen Klerikers mit den Inhalten der C-Texte, letztlich auch dem wenig frommen Kreuzzugslied, schlecht zusammenstimmt. Auch ein gelegentlich erwogener Bezug auf die Tannhäuserlegende fällt wohl aus, zum einen, weil eine derartig frühe Entstehung der Legende nicht nachweisbar ist, zum anderen, weil in ihr kein Deutschordensritter auftritt, Tannhäuser vielmehr bei seiner von Gott gegen den Papstspruch verfügten Absolution bereits unauffindbar verschwunden ist, zuvor jedoch nur als Sünder und zerknirschter Rompilger auftritt. Zum Bußlied würde die Miniatur sich zweifellos am besten fügen, es fragt sich allerdings, warum dieses, wenn es als Bildprogramm 192

Thomas (Anm. i 8 8 ) , S. 39. " - " Z u einer Definition des Begriffs des Namenkatalogs vgl. Wilfried Wittstruck, Der dichterische Namengebrauch in der deutschen Lyrik des Spätmittelalters (Münstersche Mittelalter-Schriften 6 1 ) , München 1 9 8 7 , S. 3 5 5 — 3 5 8 . 194 Sayce (Anm. 1 8 8 ) , S. 3 2 0 . 195 E i n e Bildanalyse findet sich bei Paule (Anm. 1 2 8 ) , S. 4 4 - 5 4 .

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in C fungieren konnte, nicht auch aufgenommen wurde. Schließlich enthält C nicht ausschließlich Minnelieder, im Falle Tannhäusers auch ein Kreuzzugslied und ein theologisches Rätsel; Walthers Œuvre in C wird von seinem Marienieich eröffnet. Und wenn andersherum das Bußlied als ungeeignet für die Aufnahme in C betrachtet wurde, bleibt es unverständlich, wieso es dann für die den Gedichten programmatisch voranstehende Miniatur geeignet gewesen sein sollte. Das Rätsel des Tannhäuserbilds bleibt wohl unlösbar, und.wenn man auch eine Verbindung über die Miniatur von C nach J erahnen möchte, gelingt es doch nicht, ein handfestes Indiz daraus zu gewinnen. Ahnlich verhält es sich mit der Sprache und besonders dem Reimgebrauch. Das Bußlied weist zu wenig Signifikanz auf, um Ubereinstimmungen oder Divergenzen beweiskräftig vortreten zu lassen. Von den 88 Versenden finden sich 46 als Reimpositionen in C wieder, dazu 1 1 in nur leicht abgewandelter, 3 1 in stärker abgewandelter Form. 1 7 Reimpaare sind identisch, wobei natürlich besonders Lied X I I I wegen seiner religiösen Thematik interessiert. Es enthält vier gleiche Reimpaare (mit Verszählung): Bußlied in J 1:5 tac : mac 9:12 muot : guot 67:71 nôt : tôt 70:74 irlôste : tröste

Kreuzzugslied in C 46:48; 30:32 vermac : tac 62:65 33:35 34:3Ö tröste : erlöste

Weitere zumindest nicht übermäßig gängig wirkende Reimpaare: 4: 8 20:22 86:88

schulde : hulde vinde : ingesinde ende : missewende

Lied IX, 33:35 Lied XII, 25:26 Lied XV, 38:43

Man kann daraus ersehen, daß das Reimmaterial grundsätzlich übereinstimmt, doch eine gleiche Autorpersönlichkeit ist daraus nicht abzulesen, ihre Möglichkeit freilich auch nicht zu bestreiten. Auf die gleiche unsichere Erkenntnis läuft Apfelböcks Plädoyer für die Echtheit des Bußlieds hinaus. 1 9 6 Wie das Reiminventar stimmen auch die Melodien zum vierten Leich und zum Bußlied in allgemein bleibenden Charakteristika überein, sie sprechen keineswegs gegen einen gleichen Komponisten, können ihn jedoch ebenso wenig beweisen.

" « V g l . Hermann Apfelböck, Tradition und Gattungsbewußtsein im deutschen Leich. Ein Beitrag zur Gattungsgeschichte mittelalterlicher musikalischer »discordia« (Hermaea N F 62), Tübingen 1 9 9 1 , S. I42f.

265

So bleibt letztlich vieles in der Schwebe, eindeutig ist lediglich die Zuweisung der Jenaer Liederhandschrift. Sie ist nicht allein der Anlaß, sondern der primäre Grund für die Prüfung einer möglichen Echtheit, diese zu widerlegen folglich die vorrangige Forderung an die Forschung, und dies ist ihr bis heute nicht gelungen. Vielmehr sprechen die aufgezeigten Indizien zumindest deutlich für die Möglichkeit, daß das Bußlied dem gleichen Autor sich verdanken könnte wie die Gedichte in C. Bei der Schwäche der Gegenargumente ist daher mit der unzweideutigen Aussage der allgemein als zuverlässig erwiesenen Handschrift J von der wahrscheinlichen Echtheit des Bußliedes auszugehen. Wenig hilfreich bleiben für die weitere Einordnung des Stücks in das Gesamtwerk Tannhäusers biographische Muster wie die Trias von J u g e n d , Blüte und Alter, wonach Sturm und Drang zunächst laszive Episoden provozieren, der klassische Gipfel sodann die Entfaltung des inneren Reichtums bis hin zur Überschreitung des Konventionellen gestattet, bevor die skeptische Reife schließlich eine fromme Weltflucht einklagt, wonach Tannhäuser im späten Bußlied Reue über sein allzu freches Jugendwerk offenbarte. Solche Muster klingen noch bei Kühnel nach, wenn er die biographischen Indizien eines späten Wanderlebens des Dichters im ostdeutschen Raum aus Leich VI mit der Aufzeichnung des Bußlieds im Wittenberger R a u m in Verbindung bringen möchte. 1 9 7 Solche individuellen Entwicklungen sind zwar immer g u t denkbar, kommen jedoch, ebenso wie Blecks Interpretation des Bußlieds als Frühwerk, über reine Mutmaßungen kaum hinaus.

3-1-3

Zur

Hofzucht

Ahnlich unterschiedlich wie beim Bußlied, wenn auch insgesamt reservierter, wurde die Frage nach der Echtheit der Tannhäuser zugeschriebenen Hofzucht in der bisherigen Forschung beantwortet. Grob läßt sich feststellen, daß die Hofzucht vor Sieberts und Längs 1 9 8 Einschätzung mehrheitlich als echt galt, anschließend im Sinne einer opinio communis als unecht, seit den vorsichtigen Einschätzungen von Heinzle, Bumke und Knapp jedoch wiederum als möglicherweise echt. Für das Nachzeichnen des Diskussionsver,y7

V g l . Kühnel (Anm. 1 5 8 ) , S. 85: Aus den oben genannten Gründen vermutet er, daß »die jüngere und auf Dauer wirksamere Rezeption, die zuerst in J greifbar wird, auf einen vom Tannhäuser vielleicht erst in seinen späten ostmitteldeutschen Jahren entwickelten Liedtypus, den des geistlichen Bußliedes, zurückgreift.« 198 Lang (Anm. 1 8 2 ) , S. 2 2 2 , unterstellt der Hofregeln bietenden Spruchstrophe X I I 5 »einen bitter-ironischen Sinn« und hält die Hofzucht für eine eventuell mißverstandene Ausweitung derselben.

266

laufs genügt es, die ihre Vorgänger berücksichtigenden und etwas ausführlicheren Beiträge von Siebert, Winkler und Bumke vorzustellen. Im Gegensatz zum Bußlied, für das Siebert einzig die Unechtheit erwägt und zu erweisen sucht, diskutiert er für die Hofzucht das Pro und Contra, wobei er die ihm vorliegende Forschungsliteratur aufarbeitet. Demnach sprechen folgende Überlegungen für eine mögliche Verfasserschaft des aus C bekannten Tannhäusers: 1 " a) Tannhäusers Hofzucht ist die älteste erhaltene Tischzucht, sie kann nicht, wie Moritz Geyer (1882) behauptet hatte, aus der Rossauer Tischzucht abgeleitet werden. b) Die Form der Hofzucht ähnelt dem zweiten Leich Tannhäusers. c) Tannhäuser wird in Uberschrift und Schlußstrophe als Verfasser genannt. d) Sprache und Inhalt weisen ins 13. Jahrhundert, insbesondere höfischritterliche Elemente mit Zurückweisung bäurischer Unsitten. e) Tannhäusers Spruchstrophe XII 5 enthält ebenfalls eine angedeutete Hofzucht. 0 Einzelne Verse, wie etwa II, 102 mit ziihten sult ir wesen fro oder XV,30 swer hie fuoge meret, könnten Anspielungen Tannhäusers auf seine Hofzucht enthalten. Gewichtiger scheinen Siebert jedoch die Gegengründe: 200 a) Die Schlußstrophe ist offensichtlich unecht, ihre Verfasserangabe damit als spätere Zutat einzustufen. b) Die Hofzucht spricht in Vers 199 vom Tannhäuser in der dritten Person, was ihn als Verfasser unwahrscheinlich macht. c) Das Gedicht hat, wie mangelhafte Ordnung und Wiederholungen nahelegen, Änderungen und Zusätze erfahren, so daß seine ursprüngliche Gestalt als verloren gelten muß. d) Doch auch die erste Gestaltung geht wohl nicht auf Tannhäuser zurück. Die Hofzucht weist keine inhaltlichen Parallelen zu den C-Texten auf, ihre Frömmigkeit widerspricht Tannhäusers weltlicher Gesinnung. e) Vorbild könnten vielmehr lateinische Tischzuchten des 12. Jahrhunderts gewesen sein, die aus »klerikal-pädagogischen Kreisen« stammten. Daraus erklärt sich Sieberts Fazit: »Wenn es demnach auch nicht ausgeschlossen ist, daß Tannhäuser der Verfasser ist, so sprechen doch beachtliche Gründe dagegen.« 201 ' " V g l . Siebert 1934, S. 205. V g l . ebd. S. 205f. 201 Ebd. S. 206. 200

267

Andreas Winkler 202 hat die Argumente einer erneuten Prüfung unterzogen und sich dabei letztlich der Position Sieberts stark angenähert. Im wesentlichen geht es ihm um die Entkräftung der potentiellen Echtheitsmerkmale und zusätzliche Gründe, die gegen Tannhäusers Verfasserschaft sprechen. Uber Siebert hinaus entfaltet er folgende Argumente: a) Die Autornennung der Überschrift ist als Schreiberzutat zu werten, welche dem Text entnommen werden konnte. Dabei hat er nicht den unmittelbar zuvor genannten Freidank zum Autor erkoren, weil von diesem im Präteritum {sprach), von Tannhäuser dagegen im Präsens (gibt) gesprochen wird. Winkler gesteht allerdings zu, daß Tannhäuser auch in den Gedichten in C von sich in der dritten Person spricht, insofern bedeutet der Text der Hofzucht keinen Beweis gegen Tannhäusers mögliche Verfasserschaft. b) Die ausdrückliche Zuweisung der Hofzucht an Tannhäuser in der Schlußstrophe stammt zwar wohl nicht vom Schreiber, dem lediglich die Schlußverse 2 60f. zuzuweisen sind, ist aber dennoch gegenüber dem Kerntext wahrscheinlich spätere Zutat, da dieser plausibel mit der einzigen Terzine in Strophe 55 enden konnte. Anschließend folgen nur unsystematische Wiederholungen und Kontextfremdes, so daß die Verfasserangabe in Vers 256 der gleichen Motivation sich verdanken mag wie in der Uberschrift. c) Die Hofzucht enthält nicht nur jüngere Zusätze, sondern vor allem ältere, wohl aus der lateinischen Tradition stammende Regeln. Sie enthüllt sich damit tendenziell als diachronisches Kollektivwerk, in dem Schicht um Schicht sich anlagerte, bis es die überlieferte Gestalt erreicht hatte. Winkler zieht allerdings nicht die hier naheliegende Konsequenz, den Autor zu eliminieren, sondern ordnet ihm zwei Leistungen zu. Sie bestehen darin, daß er I. »die üblichen Reimpaare in die kunstvollere strophenähnliche Form mit teilweise überschlagenden Reimen« verwandelt, und II. »daß er dem Text die typischen Merkmale eines höfischen Erziehungswerkes verliehen hat«. 203 Dieser Autor, dem Winkler lediglich die einleitenden Verse, allenfalls bis Vers 32, als »eigene Schöpfung des Verfassers« zuordnen möchte, 204 ist nach seiner Auffassung wahrscheinlich nicht Tannhäuser, sondern ein Un-

202

Vgl. Andreas Winkler, Selbständige deutsche Tischzuchten des Mittelalters. Texte und Studien, Diss. Marburg 1 9 8 2 , S. 7 9 - 8 9 .

203

Ebd. S. 8 7 . Ebd. S. 89. Dies könnte man als eine dritte Leistung des Autors bezeichnen.

204

268

bekannter, der lediglich in Tannhäusers erwähnter Spruchstrophe »Anlaß und Ausgangspunkt« sah, »eine Hofzucht zu erstellen«. 205 Unausgesprochen steht hier offenbar der Gedanke im Hintergrund, daß ein so wenig Kreativität erforderndes und bezeugendes Stück Tannhäuser nicht zuzutrauen sei. Mögliche Einwände gegen Sieberts und Winklers versuchte Nachweise der Unechtheit der Hofzucht, sofern sie auf frühere und spätere Teile des Werks rekurrieren, wurden bereits im ersten Kapitel dieser Arbeit vorgebracht. Auch hier kommt man an dem schlichten Faktum nicht vorbei, daß die Handschrift Tannhäuser als Autor der Hofzucht deklariert. Der schwerwiegendste Einwand, auf den in seiner vollen Tragweite erst Winkler hingewiesen hat, ist die Erwähnung Tannhäusers in der Hofzucht selbst: 197

200

Hie vor sprach her Fridanc, guot win si der beste tranc, des noch der Tanhüsaere gibt; vil beiden des geloubent niht.

Daß Freidank, der 1 2 3 3 gestorben ist, mit seinem Werk insgesamt zeitlich vor Tannhäuser liegt, ist richtig, insofern könnten die Tempusformen einen realen Sachverhalt wiedergeben, eine passende Textstelle ist in den erhaltenen Sprüchen Tannhäusers allerdings nicht zu finden. 2 0 0 Entscheidend ist, daß der implizite Autor zuvor mehrfach in der Ich-Form auftritt und nur hier, wo er Gewährsleute für seine Zuspräche an den Wein als bestem aller Getränke sucht, Freidank und Tannhäuser erwähnt. Siebert und Winkler haben darauf hingewiesen, daß auch der Tannhäuser aus C gelegentlich von sich in der dritten Person spreche (in Leich I, IV, V), doch kommt für einen Vergleich mit der Hofzucht aus gattungsspezifischen Gründen nur eine Belegstelle aus Spruchton X I V in Frage, in den Leichs handelt es sich um eine stereotype Formel appellativer Selbstansprache, die mit der objektiven Erwähnung in der Hofzucht keine Verwandtschaft aufweist. In der Spruchstrophe X I V 5 beklagt Tannhäuser seine ihm aus dem Tod des Gönners erwachsende Not: 43

205 2O6

wä wilt du dich behalten iemer mere, Tanhüsaere? weist aber ieman, der dir helfe büezen dine swaere? owe wie daz lenget sich! sin tot ist klagebaere.

Ebd. S. 8yf. ZU Freidank dagegen vgl. Winkler (Anm. 202), S. 74.

269

Man sieht unmittelbar, daß hier das gleiche Muster einer mit starkem Affekt verbundenen Selbstapostrophe vorliegt wie in den Leichs. Der hier — wie zumeist auch in den Leichs — mit du angesprochene Sprecher setzt sein Ich nur temporär unter Wahrung eines stark subjektiven Moments aus sich heraus, um in solch rollenhafter Dialogik seiner selbst sich zu vergewissern. Es mag hier etwas wie ein inszenierter Widerstand mitklingen, das eigene Schicksal anzunehmen. In der zitierten Hofzuchtstrophe findet sich nichts davon. In strenger Parallelführung wird her Fridanc aufgerufen und ihm der Tankawser zur Seite gestellt, die Rede bleibt sachlich objektiv. Der einzige Hinweis darauf, daß der Autor hier doch von sich selbst in der dritten Person sprechen könnte, bleibt die Schlußstrophe, deren unbeweisbare Echtheit damit zum Schibboleth der ganzen Problematik gerät. Wie bereits erwähnt, wurde die Unechtheit im Anschluß an Sieberts Argumentation zum Forschungskonsens. Auch in neueren Literaturgeschichten wie der zitierten von Bräuer oder dem zu de Boor / Newald beigesteuerten Band von Ingeborg Glier wird dies bestätigt, wenn auch die Ungewißheit gelegentlich mitgedacht wird. So präzisiert Glier das von ihr geteilte Urteil der Unechtheit: »Die Zuschreibung ist dennoch nicht ganz abwegig, denn gerade das Minnesangceuvre des Tannhäusers zeichnet sich durch besonders viele >FaktenHofzuchtKummertalerskognitiver< Identitätsbegriff zielt nicht auf den Ausbau von Subjektivität < und die in aller Regel hierauf bezogene 9

V g l . Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft. 2 Bde. (Edition Suhrkamp 1099), Frankfurt/M. 1 9 8 3 . In den Prolegomena, S. 42: »Eine Kritik der zynischen Vernunft bliebe ein akademisches Glasperlenspiel, wenn sie nicht den Zusammenhang zwischen dem Überlebensproblem und der Faschismusgefahr verfolgt.« ' ° V g l . Hans Georg Soeffner, »Typus und Individualität« oder »Typen der Individualität«? — Entdeckungsreisen in das Land, in dem man zuhause ist. In: Horst Wenzel (Hrsg.), Typus und Individualität im Mittelalter (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 4), München 1 9 8 3 , S. 1 1 - 4 4 . " V g l . die entsprechenden Äußerungen, die im Kapitel IV. 2 . 1 wiedergegeben wurden. " S o e f f n e r (Anm. 10), S. 1 5 . 13 Ebd. S. 16.

287

Norm eines autonomen SubjektsParzival< wird die besondere Situation des Mittelalters untersucht, mit dem Resultat, daß dort nicht die Individualität selbst, sondern das »Erleben der Problemhaftigkeit von Individualität« innerhalb historischer Situationen aufbricht, in denen eine relativ stabile soziale Verfaßtheit von komplexen und divergenten Organisationsformen abgelöst wird. Damit verliert die historische Ausformung eines tradierten festen Individualitätstypus in der Sozialisation ihre Selbstverständlichkeit und gehört nicht länger zum Bestand sozialer Gewißheit. »In solchen historischen Situationen werden sich die Individuen nicht etwa ihrer selbst bewußt - das sind sie immer schon - , sondern sie entwickeln ein Selbstbewußtsein, das sich der Gefährdung seiner Bestimmtheit und der Ungewißheit seines sozialen Ortes bewußt w i r d . « 1 5 Und es ist der Autor, hier Wolfram von Eschenbach, der in besonderer Weise in seinem und durch seinen Text diese Probleme fokussiert und thematisiert, indem er etwa seinen Parzival die höfische und religiöse Sozialisation idealtypisch durchlaufen läßt. In ihm fassen wir das Subjekt und seine Selbstreflexion, seinen Versuch einer Standortbestimmung im sozialen Konfliktraum, vermittelt mit dem traditionalen der literarischen Stoff- und Motivgeschichte. Soeffners Aufsatz dient insofern einer wichtigen und kritischen Klärung des Topos von der »erwachenden Individualität im Mittelalter«, auch wenn seine Terminologie bisweilen allzu pragmatisch orientiert ist. Insbesondere sein flacher Identitätsbegriff, den er als »vor Urzeiten als Voraussetzung von Geschichte hervorgebracht« ansetzt, verkennt die Suche nach einer über das bloße Sosein hinausreichenden Identität als historisches Mov e n s , 1 6 das nicht mit darwinistischer Logik die Geschichte evolutiv vor sich herschiebt, sondern aus dem noch nicht Gewordenen zu einer je neuen Identität hinanzieht. Aus diesem Verkennen erklärt sich die Polemik, mit der Soeffner nur scheinbar gegen die hier betriebene Suche nach einem Autorbegriff im Mittelalter polemisiert, wobei die Gralsuche des von ihm untersuchten Wolfram kurzerhand in die Polemik einbezogen wird:

14

Ebd. S. 20. (Hervorhebung H. K . ) Im Sinne der hier vertretenen Rationalisierungstheorie wäre auf die wertfreie Verwendung auch des Begriffs der lntellektualität zu achten.

15

Ebd. S. 37 (Im Original kein K o m m a vor »sondern« und Erratum »Ungewißtheit«), Folglich trifft hier die von Adorno gegen Heidegger geäußerte Kritik ebenfalls zu (vgl. A n m . 5).

288

Hinter diesem Vorzeichen [>Typus und Individualität] könnte auch die Suche der gegenwärtigen historischen Humanwissenschaften nach der geschichtlichen >Entstehung des Subjektes und der Subjektivität als eine Art Gralsuche verstanden werden, als Suche nach der verborgenen Inschrift auf einem sagenumwobenen Gegenstand, durch die dem Suchenden das Rätsel der eigenen Herkunft gelöst und zugleich die Richtigkeit der eigenen Sache, womöglich der Erwählung, bestätigt werden soll. 1 7

Statt dessen beharrt er, wie gesehen, auf einer von der Evolution mitgegebenen persönlichen Identität, die freilich in solcher Fassung auch schon die Amöbe besitzt. Die eigene Identität als Aufgabe zu begreifen, ist zugleich der Antrieb, sein alter ego über Identität und Differenz auch im Mittelalter zu suchen, mit anderen Worten, in den hermeneutischen Zirkel der Alterität einzutreten, wie bereits in der Einleitung erörtert. Zu Tannhäusers >Leich-Rationalität< Wenn man sich, wie es hier am Beispiel Tannhäusers versucht wurde, einem Autor annähert, werden im Laufe der Untersuchung nicht nur die Umrisse der Autorpersönlichkeit immer deutlicher, sondern es wird auch das, was sie umreißen, zunehmend dunkler. Spricht man Tannhäuser neben den Gedichten des Manesse-Codex auch das Bußlied und die Hofzucht zu, gewinnt die Persönlichkeit mit ihren schriftstellerischen Möglichkeiten deutlich an Kontur. Wie gezeigt wurde, fügen die nicht in C überlieferten Texte dem Autor keine völlig neuen Elemente hinzu, sondern sie unterstreichen sonst eher unscheinbare und von der Forschung oft vernachlässigte Merkmale. Erinnert sei an den Ernst der Darstellung, etwa in den Leichs I und V I oder den Sprüchen XII 1.2.5 und XIV 1.2, des nicht immer nur Ironie oder fröude inszenierenden Dichters oder an die theologischen Aspekte in Kreuzzugslied und Rätselspruch in ihrer im Bußlied bestätigten Uneindeutigkeit. Tannhäuser bewegt sich in dieser Gesamtschau ein wenig auf die belehrend und souverän wirkende Darstellung der Miniatur zu, ohne freilich in dieser aufzugehen. Damit steht man vor einem Œuvre Tannhäusers, das in dieser Form noch nie nachhaltig zusammengedacht wurde. 18 Bumke hält nach der I7 18

S o e f f n e r (Anm. 10), S. 1 3 . Erst nach Abschluß des Manuskripts erschien Burghart Wachingers Artikel zu Tannhäuser für die zweite Auflage des >VerfasserlexikonsTannhäuser und Frau Welt< (das hier in Kap. II.5.2 besprochene Stück), >Tannhäuser und Venus< sowie die >Tannhäuser-Ballade< eigene Abschnitte. Diese Beiträge von

289

Echtheitserwägung der Hofzucht fest: »Die Bindung des Textes an den Dichter Tannhäuser hat Konsequenzen für die ganze mittelhochdeutsche Tischzuchtliteratur.« 19 Doch auch für den Autor selbst ergeben sich erhebliche Konsequenzen, die freilich angesichts der wohl hinreichend betonten Unsicherheiten nur mit größter Vorsicht zu entfalten sind. Hier soll nur noch einmal daran erinnert werden, daß allen Überlieferungszweigen Elemente einer >Leich-Rationalität< eignen, die im Verlauf der Einzeldiskussion jeweils betont wurden. Der Leich ist noch im Mittelalter, vielleicht mit dem Mönch von Salzburg, ausgestorben, und mit ihm ein Baugedanke von hoher Komplexität, der vielleicht auch Zeugnis von einer spezifischen Rationalität ablegt, die zumindest nicht unhinterfragt mit der heutigen, von der Identitätslogik dominierten gleichgesetzt werden sollte. In allen hier Tannhäuser zugeschriebenen Werken finden sich Gestaltungselemente, die auf uns den Eindruck von Unregelmäßigkeit, asymmetrischer Formgebung und inkonsequenter Strukturierung machen. Dies verführt gelegentlich, etwa bei der Hofzucht, zur Annahme einer Fehlerhaftigkeit der Uberlieferung, von der zunächst geprüft werden sollte, ob dem sorgfältigen Blick nicht eine den Texten innewohnende Logik sich eröffnen kann, die Eingriffe zur Herstellung einer stärkeren Durchstrukturierung, sei es als strengere Symmetrie, sei es als inhaltliche Stringenz, erübrigt. Dieses Vorgehen wurde bereits im Hofzucht-Kapitel erprobt. Auch Unverständliches in den anscheinend ziellos parodistischen Leichs, mangelhafte Bußfertigkeit und unklare Theologie im Bußlied sowie der unsichere Charakter der Tisch- als Hofzucht könnten versuchsweise auf eine andere Disposition zur inneren Konsistenz von Texten befragt werden; der abweichende Einheitsbegriff des Mittelalters wurde ebenfalls erwähnt. Tannhäuser scheint auf eine besondere Weise nach eigenen Ausdrucksformen in der Ästhetik seiner Zeit gesucht zu haben. Seine Wichtigkeit wurde wohl erkannt, doch was uns dies dokumentiert, die Majestas-Miniatur in C, die Legende, das Weiterleben in Tönen der Meistersänger, zeigt zugleich an, daß man seine Bedeutung nur abstrakt begriffen, nicht aber im einzelnen aufgegriffen hat. Innovative Impulse besonders in seinem ästhetischen Zentralgebilde, dem Leich, lassen sich kaum nachweisen, nen-

Ingrid Kasten und Burghart Wachinger bestätigen den hier verfolgten Ansatz in vielen Punkten und bringen wertvolle Klarheit in den gesamten Komplex um den Tannhäuser. 19 Vgl. Joachim Bumke, Tannhäusers >HofzuchtDunkles Jetzt< in Worte gefaßt. 2 1 Ein darauf basierendes Konzept hat Hans Robert Jauß entwickelt und in diesem Sinn einen Roman Italo Calvinos mit dessen selbstbezüglich thematisierter Fiktionalität positiv interpretiert als Suche nach dem Leser als einem >Dudaß ein jeder ist, a b e r sich nicht hat 2 8 3 , 291 Villon, François

196

Walther von Châtillon 110 Walther von der Vogelweide 41/-, 70, 105, 108, i i 9 f . , 1 2 2 , 134, 1 3 5 , 142 — 4 5 , 1 4 7 , 1 4 9 , 1 5 2 , 1 5 7 , 168, 1 8 2 , 1 9 4 , 1 9 6 , 200, 2 0 1 , 204, 206, 208, 2 I 3 f . , 2 l 8 f . , 2 2 6 , 237Ì., 2 4 5 , 249, 2 6 5 , 2J2Ì., 2j8{., 286 >Wartburgkrieg< 70 Werner (Bruder) 94, 1 1 0 Williram (Abt von Ebersberg) 187 Winli 1 9 9 , 202 Wirnt von Grafenberg 117 Wittenwiler, Heinrich 1 0 , 62, i j j f . Wizlav von Rügen 90, 9 7 , 1 0 5 Wolfram von Eschenbach 5, iof., 4 1 , 59, 158—61, 163, 192, 2 3 3 , 235 — 39, 24r> 280, 288, 292

Personenregister zur Sekundärliteratur Adorno, Theodor W. 1 7 7 , 1 7 8 / , 244, 285f., 288 Amman, Adolf N . 82 Apfelböck, Hermann 7 3 , 7 5 f . , 1 2 1 , 140, 1 5 2 , 1 6 0 , i68f., 1 7 8 , 1 8 2 , 1 8 4 - 9 2 , 1 9 3 , I98f., 200, 2 0 2 / , 206, 209, 2 1 6 , 246, 265 Ashcroft, Jeffrey 1 3 0 , 1 3 5 — 38 Baasch, Karen 101 Barthes, Roland 237 Bartsch, Karl 202f. Bein, Thomas 215 Bertau, Karl 7 5 , J 3 6 , 1 5 0 , 1 5 8 — 6 1 , iÖ4f., iÖ7ff., 1 9 6 , 1 9 8 , 2 0 2 , 2 i 5 f f . , 2 4 1 - 4 4 , 2 5 7 , 2 7 6 , 280, 282 Blank, Walter 200, 292 Bleck, Reinhard 2f., I 0 7 f f . , 2Öif., 266 Bloch, Ernst 7, 2 9 i f . Boesch, Bruno 11 Bogner, Artur 6

330

Boor, Helmut de ioof., 1 1 7 , 2 6 1 Brandt, Rüdiger 246 Brinkmann, Sabine Christiane 1 4 4 ^ 149, 153, 160, 192 Brunner, Horst 200, 2 0 3 , 2 1 4 Bumke, Joachim 1 4 , ¡5, iöff., 2 1 , 24, 28, 30, 3 2 - 3 5 , 5 1 , 53ff-, 59, 64, 69, 1 ß3, I 7 3 f f . , 1 7 6 , 1 9 6 , 1 9 8 , 2 2 7 , 2 5 1 , 2 6 1 , 266f., 2 7 i f . , 274f., 289^ Cerquiglini, Bernard Duerr, Hans Peter 65-68, 159

2 1 7 , 22if., 256 4 3 , 5 3 , 59f., Ö2f.,

Ebenbauer, Alfred 67 Eco, Umberto 244, 254, 2ßß Eggers, Hans 41 Ehrismann, Gustav 261 Ehrismann, Otfrid 2i8f. Eisenberg, Götz 68

Elias, Norbert

9, 43, 52, 53, 59, 60,

6 2 - 6 8 , 159, 1 6 1

Fischer, Hanns 44 Flasch, Kurt 6 Foucault, Michel 22iff., 240, 285^ Freud, Sigmund 63, 154, I58f., 163, 286 Gennrich, Friedrich 73, 76 Geyer, Moritz ijjf., 26, 32, 54, 267 Glier, Ingeborg 12, 55, 165, 202/, 270 Grassmuck, Volker 286 Greiner, Ulrich 60 Gronemeyer, Reimer 68 Grubmüller, Klaus 227, 233ff. Haas, Norbert 73 Habermas, Jürgen 68 Haefs, Hanswilhelm 241 Händl, Claudia 201 Haferland, Harald 236 Hagen, Friedrich Heinrich v.d. 74 Hampe, Karl 114 Haug, Walter 164, 177, 218, 224f., 230, 240, 243

Haupt, Moriz 2Öf., 32 Hausner, Renate 211 ff. Heidegger, Martin 285, 288 Heinzle, Joachim 10, 5if., Ö2f., 67, I 33f-> I93f-> 2 I 8 . 2 2 7 . 229> 266> 2 7°f-, 2 75 Hörisch, Jochen 130, 159, 198 Horkheimer, Max 7 Huisman, Johannes Alphonsus I42f. Ihlenburg, Karl Heinz Jahn, Robert 1 1 3 Jameson, Frederic Janssen, Hildegard Jauß, Hans Robert Johnson, L. Peter Jung, Carl Gustav

235

224 150 4—7, 223, 29if. 239 82, 151

Kasten, Ingrid 289/ Katzenmeier, Ursula 8 Kayser, Wolfgang 240 Keller, Adelbert von 115ff. Kiening, Christian 218, 233, 235^ Kluckhohn, Paul 227 Knapp, Fritz Peter 266, 271 Kokott, Hartmut 202, 228, 24Öff. Kornrumpf, Gisela 71 f.

Kraus, Carl v. 207 Kühnel, Jürgen 2, 3, 1^4, 155, 16o, 173, 1 9 7 , 250, 2 5 4 - 5 9 , 2 6 6 , 272f.

Kuhn, Hugo

43, 121, i28f., 139-42,

1 4 5 , 164, 1 6 5 , 1 7 8 - 1 8 4 , 1 8 9 - 9 2 , 1 9 7 , 2 0 0 / , 207, 209ff., 2 1 3 , 2 1 5 , 2 1 6 , 22Öff., 256

Kurz, Heinrich

121, 197

Lachmann, Karl 254 Lang, Margarete 78, 165, 261, 266, 276 Leitzmann, Albert 15, 26, 27, 32, 35, 39fLeppin, Rena 167, 170, 173, 197, 201, 276, 283

Liebertz-Grün, Ursula 135 Lomnitzer, Helmut 2, 75, 128, 169, 260 Luhmann, Niklas 224 März, Christoph 186, 188, 202 Marcuse, Herbert 66 Martin, Ernst Mattenklott, Gert 161 ff. Meyer, R. M. 171 Mihm, Arend 14, 44, 1 1 5 Mohr, Wolfgang 104, 281, 282 Moser, Dietz-Rüdiger 1 1 0 - 1 5 Moser, Hugo 207 Müller, Harro 222f. Müller, Ulrich 2, 128, 130, 169, 260, 262

Neuer, Johanna Gloria 12, 59, 6of. Newald, Richard 261 Nietzsche, Friedrich 22iff., 285f. Nürnberger, Helmuth 101 Objartel, Georg 83, 97, 99f., 103, 200 Ohler, Norbert 63 Pascal, Blaise 4 Paule, Gabriela 12, 51, 73, 103—06, 1 0 8 , 1 2 2 , 124, 1 3 0 , 1 3 3 , 139, 1 5 3 , 1 5 4 , 1 5 8 , 165, 167, I72ff., 176, 2 0 / , 211, 216, 237, 248—54, 259, 264, 278f.

Peschel-Rentsch, Dietmar 285 Peters, Ursula 5 Pickerodt-Uthleb, Erdmute 75f., 83, 96 Plate, Bernward iy8 Preissner, Johannes 224 Ragotzky, Hedda Ranawake, Silvia

130-38, 197, 249, 279 201 331

Reinitzer, Heimo 200 Richter, Roland 2 3 8 Ricoeur, Paul 2 3 1 Rocher, Daniel 245^ Roethe, Gustav 200 Rosenhagen, Gustav 1 ^ 2 , 2 1 0 Sayce, Olive 7 1 , 7 3 , 148, 200, 207, 209, 2 2 1 , 230, 232f., 262, 264 Schanze, Frieder 96 Schiendorfer, Max 11, 202/. Schirokauer, Arno 12 Schittek, Claudia i2Öf. Schmid, Ursula i6f., 18, 1 9 - 2 6 , 3of., "5 Schmidt, Siegfried J . 224 Schönbach, Anton 207 Schröder, Werner 2 3 5 Schubert, Martin J . 200,214 Schuh, Robert 274 Schulz-Grobert, Jürgen 227, 239f. Schweikle, Günther 145, 160, 200, 2 i } f . Siebert, Johannes 2f., 17 — 24, 2Öf., 2 9 - 3 2 , 69, 73f., 7 7 - 8 2 , I07ff., i n , i i 4 f f . , I24f., I27f., i4of., 1 5 1 , 1 3 3 , 160, I 7 i f . , 175/., 1 9 7 , 254, 258f., 2 6 1 , 264, 2 6 6 - 7 0 , 274f., 277, 2 8 i f . , 285 Singer, Samuel 258 Sloterdijk, Peter 287 Soeffner, Hans Georg 287fr., 292 Spanke, Hans 164, i68f. Spechtler, Franz Viktor 200, 203 Stackmann, Karl 94,202,215,238 Stanesco, Michel 23of., 285 Stehmann, Wilhelm 44fr., 49 Strohschneider, Peter 253f.

332

Taylor, Archer 172 Tervooren, Helmut 7 1 , 73f., 94ff., 98, 104fr., I45f., I 5 i f . , I57f-, 186, 1 9 7 , 207, 279 Thomas, John Wesley 1 , 7 2 - 7 6 , 1 0 2 - 0 5 , 1 1 4 , 1 2 3 / , 1 3 0 , 140, 150fr., 170, IJI, 258, 262ff., 272f., 2 9 1 Thornton, Thomas P. 1 2 Tomasek, Tomas I24f., 1 2 7 , 260 Touber, A. H. 7 2 , 263 Virilio, Paul 286 Vollmann, Benedikt Konrad

168,

200

Wachinger, Burghart 70fr., 1 1 0 , 112, 115/., 12o, 2 0 2 / , 228, 240, 2 8 9 / Wackernagel, Philipp 101 Wallner, Anton 27fr., 1 5 1 Wapnewski, Peter 41 f . Warning, Rainer 2 2 5 , 2 3 i f . , 235f. Weber, Max 6f., 42f., 62f., 6 7 t Wehrli, Max 3f., 7, 220, 228ff. Wenzel, Horst 279f. Wießner, Edmund 178 Winkler, Andreas 3, 1 1 - 1 4 , 1 6 - 2 6 , 28, 3off., 34, 38f., 46, 58, 6 1 , 2 6 7 - 7 1 Wisniewski, Roswitha 40 Wittgenstein, Ludwig 5 Wittstruck, Wilfried 1 3 7 , 167, 1 7 5 , 264, 2 8 1 , 284 Wolf, Ferdinand 184/. Wolf, Norbert Richard I3f., 3 2 , 44fr., 50 Zutt, Herta

40