Die Schwelle im Mittelalter: Bildmotiv und Bildort 9783412218225, 9783412221256

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Die Schwelle im Mittelalter: Bildmotiv und Bildort
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Sensus. Studien zur mittelalterlichen Kunst

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Sensus. Studien zur mittelalterlichen Kunst Herausgegeben von Ulrich Rehm Bruno Reudenbach Barbara Schellewald Silke Tammen

Band  4

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Die Schwelle im mittelalter Bildmotiv und bildort

tina bawden

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN ·  2014

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Gedruckt mit Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung und der Richard Stury Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Holztür der Filialkirche St. Maria, Irrsdorf, 1. Jahrzehnt 15. Jahrhundert. Ansicht bei einer Winkelstellung der Türflügel von ca. 45 Grad. © Abb. Friedrich Neuhofer (foto.neuhofer.net)

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Carmen Asshoff, Limburg Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-22125-6

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Inhalt

Dank .......................................................................................................................... 7 1 Einleitung ............................................................................................................ 9 1.1 Fragestellung und Begriffe .............................................................................. 9 1.2 Methode und Vorgehensweise ........................................................................ 12 1.3 Stand der Forschung ....................................................................................... 15 2 Die Theorie der Schwelle .................................................................................... 20 2.1 Die ‚Topographie des Zwischen‘ ..................................................................... 21 2.2 Die Koordinaten der Schwelle ........................................................................ 24 2.2.1 Ambivalenz/Ambiguität ........................................................................ 25 2.2.2 Verborgenheit ........................................................................................ 27 2.2.3 Verheißung/Aufforderung ..................................................................... 28 2.2.4 Verwandlung ......................................................................................... 29 2.2.5 Vermittlung ........................................................................................... 31 3 Die Schwelle im Bild: Schwellenmotive ............................................................. 33 3.1 Türen und Fenster .......................................................................................... 38 3.1.1 Motivgeschichte und Forschungsstand .................................................. 38 3.1.2 Symbolik und Ikonographie .................................................................. 41 3.1.3 Die Tür im Dienst der Bilderzählung .................................................... 62 3.2 Höhleneingänge und Felsspalten .................................................................... 70 3.2.1 Motivgeschichte und Forschungsstand .................................................. 70 3.2.2 Symbolik und Ikonographie .................................................................. 73 3.2.3 Rätselhafte dunkle Öffnungen ............................................................... 84 3.3 Leitern und Brücken ...................................................................................... 91 3.3.1 Motivgeschichte und Forschungsstand .................................................. 91 3.3.2 Symbolik und Ikonographie .................................................................. 94 3.3.3 Der Aufstieg über Text und Bild ............................................................ 108 3.4 Höllenschlund ................................................................................................ 113 3.4.1 Motivgeschichte und Forschungsstand .................................................. 113 3.4.2 Symbolik und Ikonographie .................................................................. 118 3.4.3 Schlund und Rand in der Buchmalerei .................................................. 129

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6 Inhaltsverzeichnis

4 Wahrnehmung der Schwelle: historische, ästhetische und mediale Kontexte ... 136 4.1 Wahrnehmungsvorstellungen im Mittelalter ................................................... 136 4.1.1 Der Prozess des Sehens .......................................................................... 137 4.1.2 Außen und Innen .................................................................................. 143 4.2 Die Öffnung im Bild: Schwellenmotive als Sehaufgaben ................................ 149 4.3 Die Öffnung des Mediums: klappbare Bildträger ........................................... 171 5 Die Schwelle als Ort: Funktionen der Schwelle im Mittelalter ......................... 194 6 Das Bild an der Schwelle .................................................................................... 206 6.1 Das Bild am Kirchenbau ................................................................................ 208 6.1.1 Portale ................................................................................................... 209 6.1.2 Bildertüren ............................................................................................ 248 6.2 Das Bild im Kirchenbau ................................................................................. 288 6.2.1 Die Schwelle zum Chor ......................................................................... 290 6.2.2 Die Leiter als Raumschwelle .................................................................. 330 7 Der Blick auf der Schwelle .................................................................................. 347 7.1 Raumwahrnehmung ....................................................................................... 348 7.2 Der ‚bewegte Betrachter‘ ................................................................................ 364 8 Dazwischen: Ergebnisse einer bildgeschichtlichen ­Schwellenforschung .......... 384 9 Literaturverzeichnis ............................................................................................ 390 9.1 Abkürzungsverzeichnis ................................................................................... 390 9.2 Quellentexte ................................................................................................... 391 9.3 Sekundärliteratur ............................................................................................ 392 Bildnachweis .............................................................................................................. 435

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Dank

Die vorliegende Arbeit wurde im Januar 2010 an der Justus-Liebig-Universität Gießen als Dissertation angenommen. Mein Dank gilt ganz besonders meiner Doktormutter Silke Tammen, die mich sehr herzlich in Gießen aufgenommen hat. Sie hat meine Arbeit von der Anfangsidee bis zum Buch unterstützt, mir Ideen gegeben und Fragen gestellt, mit mir ausgiebig diskutiert und immer wieder Kapitelversionen in unterschiedlichsten Stadien gelesen. Dem Zweitgutachter der Arbeit, Marcel Baumgartner, danke ich für seine strukturellen Einsichten und Verbesserungsvorschläge für die Drucklegung. Ein Graduiertenstipendium der Justus-Liebig-Universität hat mir von 2006 bis 2008 die Arbeit an der Dissertation erleichtert und Forschungsreisen ermöglicht. Auf diesen Reisen durch Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich und England waren Michael Bawden und Friederike Klippel liebe und geduldige Begleiter. An den besuchten Orten gab es außerdem immer verständnis- und vertrauensvolle Personen, die mir die Möglichkeit gaben, über einen gewöhnlichen Besuch hinaus Zutritt zu Gebäuden zu bekommen und dort zu foto­ grafieren. Für oft kurzfristige Verbesserungsvorschläge und Korrekturen zahlreicher Versionen der Arbeit bin ich meinen Eltern Diethelm Klippel und Friederike Klippel sowie Saskia Hennig von Lange sehr dankbar. Hinweise auf zusätzliche Literatur erhielt ich außer von Silke ­Tammen und Marcel Baumgartner von Heiner Lück und Bruno Reudenbach. Für die Überprüfung von Übersetzungen aus dem Lateinischen sowie Neuübersetzungen einzelner Passagen schulde ich Helge Baumann Dank. Für die Aufnahme in die Reihe Sensus des Böhlau Verlages danke ich den Herausgeberinnen und Herausgebern, Ulrich Rehm, Bruno Reuden­ arbara Schellewald und Silke Tammen. Elena Mohr vom Böhlau Verlag danke ich für bach, B die nette Zusammenarbeit. Ohne die finanzielle Unterstützung folgender Stiftungen, Institutionen und Personen wäre die Veröffentlichung der Arbeit nur schwer möglich gewesen: Die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und die Richard Stury Stiftung gewährten Druckkostenzuschüsse, und der Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin gewährte Frauenfördermittel. Last but not least habe ich meiner Mutter einen großzügigen Zuschuss zu verdanken. Ein besonderer Dank gilt Michael Bawden, ohne dessen Geduld, Unterstützung und Ablenkungspläne die Arbeit nicht hätte entstehen können. Ihm und unserer Tochter Lioba ist das Buch gewidmet.

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1 Einleitung

1.1 Fragestellung und Begriffe Will man durch den Westeingang in die Filialkirche St. Maria in Irrsdorf eintreten, so muss man zwischen den lebensgroßen Figuren Marias und Elisabeths hindurchgehen, die sich aus den Flügeln der Holztür hervorwölben. Die einzigartige Tür aus dem 15. Jahrhundert bringt Besucher in eine ganz außergewöhnliche Situation: Beim Eintritt in die Kirche findet man sich mitten in der heilsgeschichtlichen Szene der Heimsuchung wieder. Bei genauerer Betrachtung stellt man fest, dass die Konzeption der Tür, ihre Ikonographie und die Gestaltungstechnik der Bilder auf den Ort der Darstellung und dessen Wahrnehmungsbedingungen abgestimmt sind. Durch das hohe Relief beispielsweise bleiben die Figuren auch bei geöffneter Tür gut sichtbar und aufeinander bezogen. Gerade durch ihre Einzigartigkeit wirft die Irrsdorfer Tür allgemeinere Fragen zum Zusammenhang von Schwelle und Bild auf: Welchen Stellenwert hatten architektonische Übergänge im Mittelalter? Welche Bilder sind im Mittelalter an Übergängen zu finden? Wie sind „Schwellenbilder“ auf ihren Anbringungsort bezogen? Spielen neben gestalterischen etwa auch Aspekte wie Thema oder Motivik eine Rolle? Die Irrsdorfer Tür mit ihrem performativen Potenzial ist sicher eine außergewöhnliche Antwort auf die Frage nach der Nutzung der Schwelle als Bildort. Selten geht es um ein so direktes ,Dazwischenschalten’ des Betrachters; Portaltympana beispielsweise scheinen zunächst einmal eher auf Fernsicht und Überblickbarkeit angelegt zu sein. Eine Ortsbezüglichkeit lässt sich aber auch dann oft feststellen: So stößt man an vielen mittelalterlichen Kirchenportalen auf ein Phänomen der Doppelung, das auf der Parallelität der Darstellung eines Übergangs an einem Ort des Übergangs beruht, einer Schwellendarstellung an einem Schwellenort; das kann zum Beispiel die Darstellung der Himmelspforte in einem Weltgerichtstympanon über einem Kirchenportal sein. Diese Konstellation – Schwellendarstellung an einem Schwellenort – ist unter anderem aus rezeptionsästhetischer Perspektive aufschlussreich: Der Betrachter kann das Bild, auf das er blickt, in Verbindung bringen mit dem Ort, an dem er sich befindet, und so zum Beispiel das Eintreten in die Kirche hoffnungsvoll als Einlass in den Himmel empfinden. Wie das Beispiel der Irrsdorfer Tür besonders deutlich macht, finden an der Schwelle Bildbetrachtung und Schwellenüberschreitung gleichzeitig oder in zeitlicher Nähe zueinander statt. Die entstehenden Interferenzen zwischen Schwellenort und Bild wirken sich notwendigerweise auf die Rezeption durch den Betrachter aus und geben daher wichtige Hinweise für die Interpretation des Bildes.

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10 Einleitung

Die Voraussetzungen und Strukturen dieser Interaktion zwischen Bild und Schwelle in den christlichen Bildkulturen sind im Folgenden zu analysieren. Dies geschieht in zwei Schritten: Zunächst werden innerbildliche Motive zur Darstellung des Übergangs zwischen Diesseits und Jenseits behandelt, die hier als Schwellenmotive bezeichnet werden. Konkret geht es um die Frage, welche Motive im Mittelalter dazu verwendet werden, im Bild Übergänge darzustellen. Untersucht werden die Geschichte, Symbolik und Ikonographie dieser Motive im Mittelalter und deren bildstrukturelle und rezeptionslenkende Funktion im Bild. In einem zweiten Schritt rückt die Schwelle als Ort des Übergangs und als Bildort in den Blick. Hier ist zu fragen, welche Bilder sich an Schwellen des Kirchengebäudes befinden. Lassen sie in ihrer Thematik, Motivik und Struktur einen Bezug zum Schwellenort erkennen? Im Zentrum der Untersuchung stehen die Architekturen an den zwei wesentlichen Übergängen des Kirchengebäudes in ihrer Funktion als Bildträger – der Übergang zwischen Außenraum und Innenraum der Kirche und die Schwelle zum Chor im Innenraum. Zeitlich und geographisch ist die Untersuchung der Schwellenmotive und der Schwellengestaltung breit angelegt. Die Bildbeispiele stammen aus mehreren Ländern Europas. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der westlichen Kunst; nur gelegentlich wird auf Bildtraditionen oder konkrete Beispiele aus der byzantinischen Kunst verwiesen. Der zeitliche Rahmen umfasst mehr als sechs Jahrhunderte: Die frühesten Beispiele stammen aus dem 9. Jahrhundert, die spätesten aus der Zeit der Wende zum 16. Jahrhundert. Der weite Zeitraum erklärt sich aus der exemplarischen Vorgehensweise, um sowohl einen Beitrag zur Bildgeschichte zu leisten als auch Anstöße zu einer bildwissenschaftlich ausgerichteten Schwellenforschung für das Mittelalter zu geben. Die zeitlich breit gestreuten Beispiele ermöglichen es, die Entfaltungsmöglichkeiten mittelalterlicher Bildsysteme umfassend zu analysieren. Zentraler Gegenstand und Begriff der Studie ist die Schwelle. Sie wird als theoretisches Konzept, innerbildliches Motiv und architektonisches Element analysiert. Davon ausgehend ist deren Wechselwirkung zu erforschen, um so für die Geschichte der mittelalterlichen Kunst Europas in dem Zeitraum von ca. 800 – ca. 1500 einen Begriff und eine Theorie der Schwelle zu entwickeln. Es liegt auf der Hand, dass diese breit gefächerte Fragestellung eine interdisziplinäre und methodisch pluralistische Anlage der Studie erfordert, die daher u. a. Erkenntnisse aus den Kultur- und Literaturwissenschaften und der Religionsgeschichte fruchtbar macht. Interdisziplinarität und Methodenvielfalt erfordern zudem, dass der verwendete Schwellenbegriff, um präjudizierende Einengungen zu vermeiden, als mehrdeutig und weit zu akzeptieren und dementsprechend zu interpretieren ist; dies hat zudem den Vorteil, dass ein breites Spektrum der Möglichkeiten des Zusammenspiels von Schwellendarstellung und Schwellenort, Bild und gebautem Übergang beleuchtet werden kann. Facettenreich ist der Begriff der Schwelle (limen, limina) bereits im Mittelalter. Die einschlägigen Lexika nennen folgende Bedeutungen:1 erstens die konkreten architektonischen Elemente der Tür, Schwellbalken (manchmal spezifiziert als limen inferius) und Türsturz 1 Am ausführlichsten: DMLBS, Bd. 1 (1997), S. 1613 und BL Lex, S. 538 f. Niermeyer und van de Kieft unterteilen „limen“ in 1. „limina apostoli“ („Grab und Peterskirche in Rom, der Heilige Stuhl“), 2. „limina sancti“ („Kirche, in der die Grabstätte des entsprechenden Heiligen ist“), 3. „limina sancta“

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Fragestellung und Begriffe  11

(entsprechend: limen superius), sowie beim Fenster das Fensterbrett; zweitens der Eingang einer Kirche bzw. eines Schreins, oder synekdotisch die Kirche selbst. Mit limen Petri oder limina apostolorum sowie Besuchen ad limina ist jeweils die Kirche in Rom gemeint.2 Drittens werden eine Grenze oder ein umgrenztes Gebiet als limen bezeichnet; viertens meint der Begriff eine Zeitschwelle oder einen abstrakten Übergang – etwa den Übergang in die Ewigkeit, in das Paradies (limina lucis). Die beiden Aspekte der Schwelle, die für die folgende Untersuchung grundlegend sind, werden also bereits im Mittelalter durch den Begriff limen umrissen: der Eingang einer Kirche und der Übergang in den Himmel. Darüber hinaus kennt das mittelalterliche Latein drei weitere Begriffe für eine konkrete Tür und einen Eingang: ostium, ianua und porta; alle drei werden ebenfalls für den Eingang des Himmels und/ oder der Hölle verwendet.3 Der deutsche Begriff „Schwelle“ geht zurück auf das alt- und mittelhochdeutsche „swelle“ als Bezeichnung für einen (Türschwellen-)Balken.4 Die Türschwelle steht heute an der ersten Stelle der Definitionen des deutschen Begriffs. Daneben nennt der Duden die „Bahnschwelle“ aus Holz oder Eisen, sodann eine „flache, keine deutlichen Ränder aufweisende submarine oder kontinentale Aufwölbung der Erdoberfläche“, die „Reizschwelle“ und schließlich aus dem Fachwerk-Bauwesen die spezifische Bezeichnung eines „untere[n] waagerechte[n] Balkens einer Wand mit Riegeln“.5 Diese Definitionen geben allerdings keinen Aufschluss über den Schwellenbegriff, den die Geistes- und Kulturwissenschaften verwenden: Hier überschneidet sich nämlich der Begriff der Schwelle mit dem der Liminalität. Die wissenschaftliche Attraktivität dieses Schwellenbegriffs mag darin liegen, dass er sowohl zur Beschreibung räumlicher Gegebenheiten dient – als Synonym für Tür oder Grenze, Zwischenraum oder Übergang –, als auch zur Untersuchung kultureller und sozialer Zwischenpositionen verwendet werden kann. Diese Doppelbedeutung des Begriffs als konkretes topographisches oder architektonisches Element einerseits und Beschreibungsterminus kultureller und sozialer Verhältnisse andererseits findet keine Parallele im Englischen, wo „threshold“ für die architektonische Schwelle und das Adjektiv „liminal“ für transformative kulturelle Prozesse verwendet werden. Dennoch entwickelt auch die englischsprachige Forschung ein Interesse an der räumlichen Dimension der „liminality“: In der Einleitung zu einem kürzlich erschienenen Sammelband ist die Rede von einer „spatial and locational liminality“.6 „Schwelle“ und „Liminalität“ erweisen sich zudem als zentrale Begriffe im Kontext der sogenannten „turns“ in den Kulturwissenschaften: Nach Doris Bachmann-Medick wird besonders die Liminalität „nicht nur zu einem performativen Grundbegriff, sondern erweist

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(„jede Kirche“), und 4. „limina ecclesiae“ („die Kirche allgemein“). Des Weiteren führen sie „liminare“ auf: 1. „Türschwelle“, 2. „Kirche“, 3. „Sockel“, 4. „Rand“: MLLM, Bd. 1 (2002), S. 801. Diese zweite Bedeutung heben hervor: Du Cange, Bd. 5 (1954), S. 112; KLW, S. 475. DMLBS, „janua“ Bd. 1 (1997), S. 1500, „ostium“ u. „porta“ ebd. Bd. 2 (2013), S. 2067 u. 2352; alle drei Begriffe ebenfalls in: KLW, S. 398, 574 u. 618. 8. Jahrhundert: Kluge 2002, S. 833. Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden, Bd. 8, neu bearb. Aufl., Mannheim u. a. 1999. Ebenso Gerhard Wahrig/Hildegard Krämer/Harald Zimmermann: Brockhaus-Wahrig. Deutsches Wörterbuch, Bd. 5, Wiesbaden/Stuttgart 1983. Kay et al. 2007, S. 11.

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sich im weiteren Verlauf der kulturwissenschaftlichen Neuorientierungen, besonders im postcolonial turn und im spatial turn, geradezu als ein Schlüsselphänomen“.7 Eine Untersuchung der Schwelle im Mittelalter kann daher auch aktuelle Diskussionen und Konzeptualisierungen aufgreifen und am historischen Thema weiterführen.

1.2 Methode und Vorgehensweise In der kunstgeschichtlichen Forschung fehlt es bisher an theoretischen Überlegungen zu Darstellung, Funktion und Rezeption von Schwellen in der mittelalterlichen Kunst. Daher müssen in Kapitel 2 zunächst eine Reihe von Begriffen, Kategorien und Argumenten erarbeitet werden, die im weiteren Verlauf der Studie als ‚Werkzeuge‘ dienen. Diese bauen auf Überlegungen zu Begriff und Konzept der Schwelle auf, die im immer wieder aufkeimenden Interesse unterschiedlicher Geisteswissenschaften am ‚Zwischen‘ für die Untersuchung kultureller Vorgänge und Räume begründet sind. Nach der theoretischen Grundlegung in Kapitel 2 ist die Studie in zwei Teile gegliedert, die der doppelten Funktion von Schwellen als Bildmotiv und Bildort entsprechen: Das im ersten Teil (Kapitel 3 und 4) analysierte Verhältnis von Schwelle und Bild zueinander wird im zweiten Teil (Kapitel 5–7) sozusagen ‚umgestülpt‘. Ähnlich wie beim Stehen auf der Schwelle verschiebt sich dabei das, was man als ‚diesseitig‘ bezeichnen kann, allmählich gegen das, was man als ‚jenseitig‘ ansieht: Zunächst ist das Bild Leitmotiv, dem sich Begriff und Gegenstand der Schwelle unterordnen, dann – im zweiten Teil – verkehrt sich das Verhältnis und die gebaute Schwelle rückt als Ort der Wahrnehmung (nicht nur) von Bildern in den Blick. Als Grundlagenkapitel für den zweiten Teil gibt das fünfte Kapitel einen historischen Überblick über die Funktionen von gebauten Schwellen im Mittelalter. Allerdings bedeutet der Perspektivenwechsel nicht, dass zwei Fragestellungen isoliert voneinander bearbeitet werden. Methodisch bauen die einzelnen Kapitel vielmehr aufeinander auf. So etwa stehen in Kapitel 3 mit Symbolik und Ikonographie der Schwellenmotive vor allem traditionelle kunsthistorische Methoden im Vordergrund, während sie in Kapitel 4 zunehmend durch bildstrukturelle, narrative, rezeptionsästhetische und mediale Ansätze ergänzt werden. Von den Bedeutungs- und Themenzusammenhängen der Motive verschiebt sich also der Fokus zum einen auf die Funktionen der Schwellenmotive auf der Ebene der Bildstruktur und der Bilderzählung, und zum anderen auf die Rolle, die sie für den Rezeptionsprozess spielen. Diese Ansätze gelten dann entsprechend für den zweiten Teil der Studie. Wie aufschlussreich ein solcher Perspektivenwechsel sein kann, lässt sich am besten an einem konkreten Beispiel illustrieren: der Verkündigungsdarstellung auf der Bronzetür des Hildesheimer Doms. Das Beispiel dient dazu, das methodische Vorgehen und die konzeptuelle Struktur der vorliegenden Studie zu verdeutlichen: Bildbeispiele werden im Verlauf der Studie also nicht wie hier zwei- oder mehrmals analysiert, vielmehr werden an einem breiten Spektrum von Bildern gemeinsame Funktionen und Wirkungen untersucht. 7 Bachmann-Medick 2006, S. 116 (ihre Hervorhebungen).

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Methode und Vorgehensweise  13

Im ersten Teil der Studie stehen zunächst Schwellenmotive im Zentrum der Untersuchung. In der Verkündigungsdarstellung aus Hildesheim ist ein solches Motiv die Tür. Die kleine, mit Schloss und Riegel detailliert ausgeführte Tür hinter Maria steht offen; in ihrer Öffnung steht ein Faltsessel (Abb. 1). Symbolisch ist Maria die porta clausa der Inkarnation und porta caeli, da sie als zweite Eva die Tür des Paradieses wieder geöffnet hat. Das Türmotiv ist fest in der ikonographischen Tradition der Verkündigung verankert. Anhand weiterer Bildthemen wird analysiert, welche Funktion dem Schwellenmotiv der Tür in theologischen, symbolischen und zuletzt auch narrativen Kontexten zukommt (3.1.3). Zu welchem Zweck vermittelt das Motiv innerbildliche Schwellen, Distanzen und die Schaffung eines Innen und Außen? Welche narrativen Funktionen übernimmt es?

1 Verkündigung an Maria, Bernwardstür, Hildesheim, um 1015.

Angesichts dieser Fragen wird die Verkündigungsdarstellung zunächst isoliert betrachtet. Das ändert sich mit dem Ansatz des 4. Kapitels, welches das Schwellenmotiv der Tür im Kontext der übrigen Bilder auf der Tür sieht und es in den Zusammenhang von deren Betrachtung bringt (Abb. 2).8 Ein Blick auf die gesamte Tür ergibt, dass sich die Verkündigung ganz unten auf dem rechten Türflügel befindet, gegenüber dem Sturz des ermordeten Abel. Sie bildet damit den Anfang einer Erzählung des Neuen Testaments, während der linke Türflügel in entgegengesetzter Erzählrichtung die Erschaffung Adams und Evas aus dem Alten Testament schildert. Im narrativen Kontext des Abstiegs im Alten und des Aufstiegs im Neuen Testament enthält die geöffnete Tür der Verkündigung ein Versprechen, die Verheißung eines Neubeginns, die der Symbolik der durch Maria wieder geöffneten Paradiespforte entspricht. Erwartungsvoll wird der Betrachter auf die folgenden Szenen blicken, um sich davon zu überzeugen, ob dieses Versprechen eingelöst wird. Das Türmotiv lenkt den Blick und vermittelt für die Erzählung einen Erwartungshorizont; es liefert eine Vorgabe für die weitere Betrachtung. Schwellenmotive lassen sich also unter dem Aspekt der Rezeptionsästhetik untersuchen. Der Perspektivenwechsel im zweiten Teil der Studie lenkt den Blick auf den Aspekt des Ortes  – in Hildesheim den Eingang. Wie verändert sich die Wahrnehmung, wenn der Betrachter auf ein Schwellenmotiv blickt, während er selbst an einer realen Schwelle steht? Die Beobachtungen zu Schwellenmotiven und ihren narrativen Zusammenhängen bleiben dabei relevant – gerade die Doppelung der Schwelle stellt rezeptionsästhetische Fragen in 8 Die folgenden Überlegungen sind unten in 6.1.2 (S. 250–260) erweitert ausgeführt.

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2 Bernwardstür, Hildesheim, um 1015. Türflügel jeweils 472 x 112 bzw. 114 cm.

einen komplexeren Zusammenhang. Zu untersuchen ist, ob und inwieweit die vom Türmotiv vermittelte Erwartungshaltung in Bezug auf die heilsgeschichtliche Erzählung in konkreter Weise auch zur Erwartungshaltung des Betrachters in Bezug auf die reale Tür wird. Dabei kommen historische und konkret-positionale Aspekte ins Spiel: Es kommt darauf an, wo die

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Stand der Forschung  15

Tür angebracht war, wer sie öffnen konnte und zu welchen Gelegenheiten sie geöffnet wurde; zudem sind die Dimensionen der Tür zu berücksichtigen und das Vorhandensein von Türziehern. Der verortete Blick auf die Bilder wird also durch die Berücksichtigung der sich auf Augenhöhe und um die berührbaren Türzieher herum befindenden Bilder verschärft. Schließlich kommt zu den Kategorien des Bildes und der Wahrnehmung noch diejenige des Raumes hinzu: Nicht nur die zahlreichen Türmotive und die Erzählstrukturen beeinflussen die Erfahrung des Türbetrachters in Hildesheim, vielmehr geben auch die Strukturen des Schwellenraums für die Bewegung und Wahrnehmung entscheidende Impulse. Insgesamt also wird der Einfluss der historischen und phänomenologischen Strukturen der Schwelle auf den Wahrnehmungs- und Erfahrungsprozess von Bildern und Tür durch den Betrachter untersucht. Ein Vorgehen, wie es am Beispiel der Hildesheimer Bernwardstür geschildert wurde, hat Auswirkungen auf die Auswahl der Bildbeispiele, die eng an Fragestellung und Methode gebunden ist. So wird im dritten Kapitel ein Überblick über die Bildthemen angestrebt, in denen Schwellenmotive am häufigsten verwendet werden, während die Auswahl der B ­ eispiele für Kapitel 6 bereits auf einer konkreten methodischen Perspektivierung beruht, die in den vorhergehenden Kapiteln entwickelt wurde. Im ersten Teil werden vor allem kleinformatige Medien wie Buch- und Tafelmalerei untersucht, während im zweiten Teil, in dem der Bildort stärker in den Blick rückt, größere Bildmedien wie Skulptur und Wandmalerei behandelt werden. Die Befassung mit unterschiedlichen Medien im Rahmen einer Studie ist in der kunstgeschichtlichen Forschung allerdings eher selten. Traditionell werden insbesondere die an architektonische Formen gebundene Skulptur und die Wandmalerei allenfalls mit dem Ziel der Suche nach stilistischen oder ikonographischen Vorbildern mit Miniaturen oder Tafelbildern verglichen. Hier dagegen werden nicht ikonographische oder stilistische Ähnlichkeiten, sondern, im Gegenteil, die essenziellen Unterschiede der Betrachtungsumstände für die verschiedenen Medien herausgearbeitet. Gleichzeitig soll die Gegenüberstellung Vergleiche ermöglichen, etwa den von Bild- und Realraum. Ziel der Untersuchung ist nicht die Erstellung eines Kataloges bestimmter Schwellenmotive oder bebilderter Schwellen, sondern eine exemplarische Analyse ausgewählter Bilder. Bei der Bildauswahl konnte ich mich auf solche Publikationen stützen, die (fast) vollständige Kataloge spezifischer Schwellenmotive, Bildthemen oder Übergangsarchitekturen erstellen.9 Darüber hinaus habe ich mich bemüht, die Untersuchung bekannter und oft erforschter Bilder mit der Analyse selten erwähnter oder fast unbekannter Beispiele zu kombinieren.10

1.3 Stand der Forschung Da im Folgenden drei Facetten der Schwelle untersucht werden, nämlich die Schwelle als Konzept, Bildmotiv und Ort, und da das konzeptuelle und methodische Vorgehen speziell für dieses Thema entwickelt worden ist, gestaltet sich der Überblick über den Forschungs  9 Für das Schwellenmotiv der Leiter: Heck 1997 und Kaufmann 2006; zum Höllenschlund: Schmidt G.D. 1995; zur Hölle: Baschet 1993; zur Verkündigung: Wiesener 2000; zum Jüngsten Gericht: Gröt­ ecke 1997 und Christe 2001; zu Bronzetüren: Mende 1994; zu Lettnern: Schmelzer 2004. 10 S. z. B. unten 3.1.2 zum Fenstermotiv und 6.1.1 zu Portalen.

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stand schwierig, denn es gibt keine umfassenden Vorarbeiten, auf denen die Studie als Ganzes aufbauen könnte. Vielmehr erfordern der breite, mehrere Bildmedien umfassende Forschungsansatz sowie der große zeitliche und räumliche Rahmen die Rezeption von Forschungsarbeiten aus sehr unterschiedlichen Bereichen. Einschlägige Publikationen sind zu einzelnen Aspekten der Studie vorhanden und werden im jeweiligen Abschnitt referiert und berücksichtigt. Was die einzelnen Bildbeispiele betrifft, so liegt es angesichts der Zielsetzung dieser Studie auf der Hand, dass nicht in jedem Fall ein erschöpfender Bericht zum Forschungsstand geliefert werden kann. Die jüngsten und wichtigsten Publikationen werden jedoch berücksichtigt.11 Darüber hinaus kann nicht ausführlich Stellung zu bestimmten Aspekten genommen werden, welche die Forschung häufig beschäftigt haben; angesichts der spezifischen Fragestellung dieser Studie können insbesondere Fragen der Datierung und stilistischen Einordnung meist vernachlässigt werden. Der folgende Überblick kann sich daher auf die wichtigsten Publikationen zu den drei genannten Facetten der Schwelle (Konzept, Motiv, Ort) beschränken. Zudem sind Studien zu erwähnen, die ein in mancher Hinsicht ähnliches methodisches oder konzeptuelles Vorgehen erkennen lassen. Explizit mit dem Begriff der Schwelle befassen sich zwei Studien. In einer architekturtheoretischen Arbeit hat sich Bernd Krämer 1983 mit den Begriffen der Schwelle und des Weges zur „Analyse räumlicher Begrifflichkeit“ aus der Sicht der Gestaltpsychologie beschäftigt. Seine Erkenntnisse über den Weg- und Schwellenbegriff bilden den Ausgangspunkt für die Frage nach der „gestalterischen Funktion“ von Weg und Schwelle im Städtebau und in der Architektur.12 Aus der Perspektive der Philosophie behandelt die 2002 publizierte Magisterarbeit von Peter F. Saeverin den Begriff der Schwelle. Er entwickelt aus der „allgemeinen Wahrnehmung des Schwellenbegriffes [...] eine Phänomenologie der Schwelle“.13 Zwar untersucht Saeverin zu diesem Zweck Verwendungen des Begriffs in so unterschiedlichen Bereichen wie der Literatur, der Chemie und der Werbung; ausgeklammert werden aber literatur- und kulturwissenschaftliche Publikationen zu den Begriffsfeldern „Schwelle“ und „Grenze“. Wie noch zu zeigen ist, erweisen sich jedoch gerade diese als ebenso grundlegend für eine ‚Theorie der Schwelle‘. Die jeweiligen Orte des christlichen Jenseits  – Himmel, Hölle und Fegefeuer  – sind immer wieder Gegenstand (kunst-)historischen Interesses gewesen.14 Zahlreiche Forschungs­ 11 Berücksichtigt wurden Publikationen bis einschließlich 2010. Auf neuere Veröffentlichungen wird an entsprechender Stelle hingewiesen. 12 Krämer 1983, S. 164–202 u. S. 258‒262. 13 Saeverin 2002, S. 20. 14 Zum Jenseits bzw. Himmel und Hölle: Hughes 1968, Reudenbach 1998, Schreiber 2003. Zum Himmel: Ausst. Kat. Mailand 1983 zum Himmlischen Jerusalem; zur Ikonographie des Himmels: Davidson 1994; zur Kulturgeschichte des Himmels: Lang/McDannell 1996; zur visio beatifica: Bratu-Minott 1999; zum Schoß Abrahams: Baschet 2000. Zur Hölle: Galpern 1977 (zur frühchristlichen Höllenvorstellung im angelsächsischen Bereich); zu Höllendarstellungen in Frankreich und Italien: Baschet 1993; zum Höllenschlund: Schmidt G.D. 1995; zu Höllenbildern in der Toskana: Opitz 1998; zum Fegefeuer: Le Goff 1990; zur Ikonographie des Fegefeuers in der deutschen Kunst des Mittelalters: Wegmann 2003.

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arbei­ten liegen auch zum Jüngsten Gericht vor.15 Diese Studien untersuchen die Jenseitsto­ pographie und Weltgerichtsdarstellungen vor allem nach theologischen, frömmigkeits­ geschichtlichen und ikonographischen Gesichtspunkten; die Frage nach der bildlichen Dar­stellung des Übergangs in die genannten Orte wird nicht ausführlich behandelt.16 Die jüngeren Veröffentlichungen von Steffen Bogen und David Ganz zu Traum- und Visions­ bildern zeigen allerdings, dass gerade die Darstellung des Jenseits die Bildkünstler im Mittelalter zu bildstrukturellen und bildnarrativen Innovationen bewegt hat, die von der Notwendigkeit herrühren, im Bild die Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits sowie die Modalitäten von deren Übertretbarkeit im Traum oder in der visionären Schau sichtbar werden zu lassen.17 Auch zu den von mir unter dem Begriff ‚Schwellenmotive‘ analysierten Motiven des Übergangs im Bild liegen jeweils grundlegende Publikationen vor. Am umfassendsten sind die monographischen Studien Christian Hecks und Christiane Kaufmanns zum Motiv der Leiter und Gary D. Schmidts Untersuchung zum Motiv des Höllenschlunds.18 Eine Arbeit, welche die Schwellenmotive in einer Zusammenschau untersucht und sich explizit mit deren Funktion als Motive des Übergangs beschäftigt, liegt allerdings noch nicht vor. Zu erwähnen ist jedoch Nadja Wieseners bisher unveröffentlichte Dissertation zu „Schwellen in der Verkündigungsdarstellung des 15. Jahrhunderts – unter besonderer Berücksichtigung des Fenstermotivs“ (2000), in der Fenster- und Türmotive ausdrücklich als „Schwellen“ im Bild bezeichnet werden. Es findet jedoch keine Begriffsbestimmung oder theoretische Fundierung des Schwellenbegriffs statt, sondern der Begriff dient lediglich als Oberbegriff. Im Gegensatz dazu beschränke ich mich im Folgenden weder auf ein Bildthema noch auf ein einzelnes Motiv; vielmehr geht es um eine Untersuchung innerbildlicher Übergänge, die integriert ist in ein ganzheitliches Konzept der Schwelle. Zahlreiche Veröffentlichungen liegen zu den Untersuchungsgegenständen des zweiten Schwerpunktes der vorliegenden Studie vor – Bilder an Schwellen im oder angrenzend an den sakralen Raum. Publikationen zu den im Folgenden untersuchten zwei großen Schwellen des mittelalterlichen Kirchengebäudes – Eingang in die Kirche und Übergang in den Chor – befassen sich meist mit stilistischen und ikonographischen Entwicklungen der an Portal, Bildertür, Chorschranke und Lettner angebrachten Bilder. Dabei wird auf die liturgischen und gesellschaftlichen Funktionen dieser Orte im Mittelalter verwiesen, aber es wird nur selten untersucht, welche Wechselwirkungen zwischen Funktion einerseits und Bildmotivik und -thematik andererseits entstehen. Exemplarisch zu nennen sind in dieser Hinsicht etwa Ursula Mendes Überblickswerk zu den „Bronzetüren des Mittelalters“ und Monika Schmelzers Studie zur „Typologie und Funktion“ des mittelalterlichen Lettners.19 15 Jessen 1882; Springer 1884; Brenk 1966; Schreiner 1983; Esser 1991; Grötecke 1997; Christe 2001; Dinzelbacher 2001; Slenczka 2007. 16 Eine Ausnahme bildet die Studie von Jérôme Baschet zu Höllendarstellungen in Frankreich und Italien vom 12. bis 15. Jahrhundert, in der er sich mit dem Höllenschlund als Schwelle beschäftigt. Dazu ausführlich unten 3.4, bes. S. 116 f. 17 Bogen 2001; Ganz 2006 A; Ganz 2008. 18 Heck 1997; Kaufmann 2006; Schmidt G.D. 1995. 19 Mende 1994; Schmelzer 2004.

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Für den zweiten Schwerpunkt der vorliegenden Studie lautet eine der zentralen Fragen: Wie wird der Betrachter über die an der gebauten Schwelle angebrachten Bilder in Blick und Bewegung gelenkt und welche Korrespondenzen lassen sich zwischen Motivik, Thematik und Struktur der Bilder einerseits und phänomenologischen Vorgaben und historischen Funktionen des Schwellenraums andererseits erkennen? In den letzten Jahren hat die Diskussion über Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter20 sowie über die liturgische Nutzung von Räumen und deren Bildern21 zugenommen. Darüber hinaus sind einige Autoren zu nennen, die sich mit konkreten Aspekten der Frage nach der Interaktion von Bildern und Schwellenraum beschäftigen: Jacqueline E. Jung hat blick- und bewegungslenkende Funktionen von Lettnern untersucht und die dort angebrachten Bilder in diesem Zusammenhang interpretiert.22 Daneben ist die Studie Michael Grandmontagnes zum Portal der Kartause von Champmol zu erwähnen, in der das Portal als „betrachter-relevanter Entwurf“ analysiert wird.23 Grandmontagne verknüpft dabei eine bauhistorische Untersuchung, aus welcher der ursprüngliche Annäherungsweg des Betrachters an das Portal am Ende des 14. Jahrhunderts deutlich wird, mit der Frage nach dem über die Ansichtigkeit der Skulpturen gelenkten Betrachter. In der vorliegenden Studie werden die Überlegungen und Ansätze von Jung und Grandmontagne in eine ganzheitliche, auf mehrere Übergangsarchitekturen und deren Bildwerke gerichtete Untersuchung integriert und weitergeführt. Da der zweite Teil meiner Studie (Kapitel 5–7) auf den Fragestellungen und Erkenntnissen des ersten Teils aufbaut, werden die Interferenzen zwischen Bildstrukturen und dem räumlichen Gefüge analysiert, in dem sich die Schwelle befindet und das sie mit konstituiert. Insbesondere ist auf die bereits erläuterte Doppelung einzugehen, nämlich die Konstellation eines Schwellenmotivs an der Schwelle. Knapp erwähnt wird diese Doppelung in zwei Aufsätzen aus dem Jahre 2004: in Steffen Bogens Studie zu „Türen auf Bildertüren“ und in Margit Kerns Überlegungen zur „Performativität im Bereich von Tür und Tor“.24 Beide Autoren deuten die Relevanz einer solchen Doppelung für einen rezeptionsästhetischen Ansatz allerdings nur an. Mehrere Forschungsarbeiten vergleichen Raumdarstellung und Realraum und haben so aus unterschiedlichen methodischen Perspektiven das Erkenntnispotenzial eines solchen Vergleichs entdeckt: Die bereits erwähnte Studie von Nadja Wiesener untersucht neben dem innerbildlichen Raum und seinen Schwellen den historischen Lebensraum italienischer Frauen des 15. Jahrhunderts, Katja Kwastek interessiert sich in ihrer Studie „Camera. Gemalter und realer Raum in der italienischen Frührenaissance“ vor allem für realienkundliche Hinweise gemalter Räume; Annette Kern-Stähler vergleicht „Reale und mentale Innenräume weiblicher Selbstbestimmung im spätmittelalterlichen England“; Heike Schlie behandelt die Wechselwirkungen zwischen Bildräumen, Referenzräumen und Rezeptionsräumen in spät20 Aertsen/Speer 1997; Hanawalt/Kobialka 2000; Rimpau/Ihring 2005; Vavra 2005; Staubach/Johanterwage 2007; Vavra 2007. 21 Kohlschein/Wünsche 1998; Reudenbach 1999; Bock et al. 2000; Nilgen 2000; Palazzo 2000; FaupelDrevs 2000; Warland 2002; Moraht-Fromm 2003; Neuheuser 2005; Altripp/Nauerth 2006. 22 Jung 2000 und Jung 2006. 23 Grandmontagne 2005, S. 235. 24 Bogen 2004; Kern 2004.

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mittelalterlichen Bildern und Cornelia Logemann fragt nach dem Verhältnis des in der „Vie de Saint Denis“ dargestellten Paris zu demjenigen des Rezipienten Philipps V.25 Diese Forschungen weisen darauf hin, dass die Untersuchung von Schwellen an Schwellen ein lohnendes Unterfangen ist, weil sich – anders als z. B. bei einem transportablen Tafelbild – dargestellte Räume bzw. Übergänge hier in unmittelbarer Nähe zu ihren Bezugsräumen bzw. -übergängen und Rezeptionsräumen befinden. Den Blick auf räumliche Kategorien und Bilder, verbunden mit sowohl der Frage nach den Orten im Bild als auch der Frage nach dem Ort des Bildes, richtet ein nach Beginn dieser Arbeit erschienener Sammelband zu „Topologien der Bilder“.26 Die Herausgeber formulieren in der Einleitung das Ziel, „nach den Orten der Bilder, den Voraussetzungen und Bedingungen ihres Erscheinens“ ebenso zu fragen wie „nach den Räumen der Bilder und den Verortungen, die sie entwerfen“.27 Diese Leitfragen machen deutlich, welche Relevanz topologische bzw. topographische Fragen28 aus bildwissenschaftlicher Perspektive haben. Dies zu zeigen ist auch ein Ziel der vorliegenden Studie.

25 26 27 28

Wiesener 2000; Kwastek 2001; Kern-Stähler 2002; Schlie 2004 A; Logemann 2009. Hinterwaldner et al. 2008 A. Hinterwaldner et al. 2008 B, S. 19. Zur Thematik: Günzel 2007 und Günzel 2008.

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2 Die Theorie der Schwelle

„Schwelle“ und „Grenze“ sowie – ursprünglich aus der Ethnologie stammend – „Liminalität“ sind Begriffe, die interdisziplinär verwendet und diskutiert werden. Mit ihnen beschäftigen sich (bzw. sie werden verwendet von) Publikationen aus dem Bereich der Architektur,29 der Raumplanung,30 der Literaturwissenschaften31 und ganz allgemein der Kulturwissenschaften.32 Besonders weit verbreitet ist der Begriff in den Literaturwissenschaften. So erscheinen seit 2000 bzw. 2008 zwei Schriftenreihen mit den Titeln „Liminality and Literature“ sowie „Literalität und Liminalität“.33 Dabei lässt sich feststellen, dass Grenzen, Schwellen und liminale Phänomene nicht nur Objekte des wissenschaftlichen Interesses darstellen, sondern auch konzeptuell und methodologisch eingesetzt werden. Dirk Hohnsträter stellt 1999 fest, „dass liminal studies zu einem festen Bestandteil kulturwissenschaftlicher Forschung geworden sind“.34 Er verwendet den Begriff vor allem für postkoloniale oder transkulturelle kulturwissenschaftliche Studien bzw. ihre Studienobjekte, beruft sich aber lediglich auf den von Mae G. Henderson herausgegebenen Sammelband „Borders, Boundaries, and Frames“.35 Seitdem scheint sich der Begriff „liminal studies“ auf subtile Art und Weise etabliert zu haben36 – soweit ersichtlich ist er aber bisher nicht explizit definiert worden. Fragt man nach den historischen Schwerpunkten, die in den Studien zu Grenzen und Schwellen gesetzt werden, so ergibt sich, dass hier vor allem die Epochen und Zeiträume der Romantik,37 der Moderne und der Postmoderne im Vordergrund stehen38. Bei Rüdiger Gör29 Krämer 1983; Schwellenatlas 2009. 30 Heigl 1978. 31 Pikulik 1993; Faber/Naumann 1995; Benthien/Krüger-Fürhoff 1999; Saul/Steuer/Möbus/Illner 1999; Görner 2001; Kay et al. 2007; Geisenhanslüke/Mein 2008. 32 Henderson 1995; Breger/Döring 1998; Siegert 2010. 33 Aguirre/Quance/Sutton 2000 erschien als erste Publikation in der englischsprachigen Reihe, Geisenhanslüke/Mein 2008 als erste in der deutschsprachigen Reihe. 34 Hohnsträter 1999, S. 231 (seine Hervorhebung). 35 Vgl. Henderson 1995. 36 Die HerausgeberInnen des Sammelbandes „Mapping Liminalities: Thresholds in Cultural and Literary Texts“ verwenden den Begriff in der Einleitung nebenbei und wie selbstverständlich, aber ohne weiterführende Hinweise: Kay et al. 2007, S. 7. 37 Pikulik 1993. S. auch Belting 2004, S. 28. 38 So Hohnsträter 1999, S. 233 f.

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ner erscheint die Schwelle als Ort, an dem man „das von Auflösungserscheinungen bedrohte Ich der Moderne“ anzutreffen vermag.39 Nach Nicholas Saul und Frank Möbus ist die Schwelle eine „intellektuelle Signatur und sogar [...] Zentraltopus der Postmoderne“.40 Für Hohnsträter beginnt kategorial die „Kultur des Zwischen“ erst in der Neuzeit: „Zunächst emanzipierte sich das neuzeitliche Subjekt aus der vorgefundenen Ordnung, sagte sich los von überkommenen Gewißheiten und machte sich auf die Suche nach der Welt hinter den alten Schranken. Magische, mythische und (offenbarungs-)religiöse Bindungen wichen wissenschaftlicher Neugier und setzten eine Entfesselungsdynamik, einen Infinitismus der Transgression frei“.41 Zwar beschränkt sich Hohnsträter hier auf die Geste der Transgression, doch veranschaulicht er seine allgemeine These im selben Abschnitt an einem spezifischen Motiv: dem Fenster. Die vorliegende Studie fragt, wie bereits einleitend ausgeführt, ob und wie sich im Mittelalter an Schwellenmotiven im Bild und an mit Bildern versehenen, architektonischen Schwellen eine Bildlichkeit, Visualität und sinnliche Erfahrung des ‚Zwischen‘ gestaltet. Es geht also darum, über den Schwellenbegriff das Augenmerk darauf zu richten, wie im Mittelalter Bilder mit Hilfe von Schwellenmotiven bzw. Schwellen mit Hilfe von Bildern strukturiert und wahrgenommen werden. Bevor aber die Verbildlichung des Zwischen bzw. eine Besetzung des räumlichen Zwischen mit Bildern und die daraus hervorgehenden Fragen der Wahrnehmung und konkreten Betrachtung im Mittelalter analysiert werden können, sind die konzeptuelle Topographie des Zwischen und die Koordinaten der Schwelle zu erarbeiten, um ein konzeptuelles Fundament für die bildhistorischen Untersuchungen zu gewinnen.

2.1 Die ‚Topographie des Zwischen‘ Die Schwelle ist Bestandteil dessen, was man die ‚Topographie des Zwischen‘ nennen kann. Denn die Schwelle und mit ihr verwandte Begriffe wie „Zwischenraum“ und „Grenzzone“ meinen ein Drittes oder ein Zwischen, das sich zwischen das Eine und das Andere geschoben hat bzw. das aus umgekehrter Perspektive gesehen das Eine und das Andere als solche erst hervortreten lässt. Es handelt sich um eine in sich räumlich beschreibbare Figur. Arnold van Gennep und Walter Benjamin unterscheiden in ihren Schwellentheorien Schwelle und Grenze: Für van Gennep ist die Grenze eine „imaginäre Linie, die Grenzsteine oder -pfähle verbindet“, und die „eigentlich nur auf Landkarten wirklich sichtbar“ ist.42 Benjamin beruft sich in seinem „Passagen-Werk“ auf die Etymologie: „Die Schwelle ist ganz scharf von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Worte ‚schwellen‘“.43 Saeverin grenzt den Schwellenbegriff gleich von mehreren „verwandten Übergangsvokabeln“ wie Grenze, Interface, Schranke und Membrane ab, stellt aber fest, 39 40 41 42 43

Görner 2001, S. 9. Saul/Möbus 1999, S. 10. Hohnsträter 1999, S. 233 f. van Gennep 1986, S. 25. Benjamin 1982, Bd. 1, S. 618.

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„dass Grenze im Deutschen ebenfalls einen unscharfen Begriff darstellt, da er sowohl das Trennen, als auch das Verbinden, nämlich durch die Möglichkeit des Überschreitens, betonen kann“.44 Tatsächlich erscheinen die Begriffe „Grenze“ und „Schwelle“ vor allem in den jüngeren Studien der Literaturwissenschaft als eng miteinander verwandt. Für Hohnsträter ist die Grenze „Schranke oder Schwelle“ und „Linie oder Streifen“.45 Eine „begriffliche Unschärfe“ ist nach Wokart dem Thema angemessen, da sie ihren Grund „in der Komplexität des Sachverhalts der Grenze“ hat.46 Neben der Grenze ist der Begriff des Schleiers aus dem Bereich des Zwischen in den letzten Jahren verstärkt in den Kulturwissenschaften v­ erwendet worden.47 Die Herausarbeitung der Koordinaten der Schwelle lässt Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Schwelle und anderen Begriffen aus der ‚Topographie des Zwischen‘ hervortreten.48 Eine Eigenschaft der Schwelle scheint darin zu bestehen, dass sie nicht nur zur Beschreibung und Untersuchung räumlicher Phänomene dient, sondern dass die Forschung für die Untersuchung des Begriffs und der gebauten Form der Schwelle ebenfalls topographische Begriffe wählt. Für architektonische Schwellen liegt ein „Schwellenatlas“ vor; Gert Selle spricht von einem „Atlas von Bewegungsformen“ auf der Schwelle; Winfried Menninghaus untersucht die „Schwellen-Topographie“ Walter Benjamins.49 Die Begriffe aus der ‚Topographie des Zwischen‘ werden durch Unschärfe und Durchlässigkeit gekennzeichnet und geben so ein Spektrum vor, innerhalb dessen Differenzierungen möglich sind: Dem Schleier möchte man eine andere Art von Durchlässigkeit zuschreiben als der Schwelle. Die Begriffe unterscheiden sich zudem konnotativ dadurch, für welche Art von Wahrnehmung sie eine bestimmte Durchlässigkeit angeben. 50 Im Gegensatz zum Schleier, der mit einem visuell erfassbaren Gegenstand verknüpft ist und dessen Durchlässigkeit sich folglich auf die visuelle Wahrnehmung bezieht, kann der Begriff der Schwelle eine visuell, lokomotorisch oder sogar akustisch durchlässige Stelle bezeichnen (letztere spielt allerdings hier keine Rolle).51 Konstituierend für die Schwelle – das hat die Forschung häufig 44 Saeverin 2002, S. 31–34, hier S. 33. 45 Hohnsträter 1999, S. 240. Vgl. auch Pikulik 1993 (Schwelle, Grenze); Breger/Döring 1998 (das ‚Dritte‘, Grenze, Schwelle, Zwischenraum); Görner 2001 (Grenzen, Schwellen, Übergänge bereits im Titel); Lamping 2001, S. 12 (denkt Grenzen als Zonen des Übergangs und Grenz-Räume); zur architektonischen Schwelle Selle 2004, der von der Schwelle als „Kleinem Grenzraum“, „Zwischenraumsegment“ und „Raum vor dem Raum“ spricht. 46 Wokart 1995, S. 277. Vgl. auch Saeverin 2002, S. 137. 47 Assmann A./Assmann J. 1997; Krüger 2001; Wolf 2002; Endres/Wittmann/Wolf 2005. 48 S. unten 2.2. 49 Schwellenatlas 2009; Selle 2004; Menninghaus 1986, S. 36. 50 Darüber hinaus gibt es Verwendungskontexte des Begriffs, die nicht unmittelbar mit Wahrnehmung oder Erkenntnis zu tun haben, z. B. „Epochenschwelle“, „Schwellenland“, etc. Da es in der vorliegenden Studie um die Untersuchung von Bildern und deren Räumen geht, konzentriere ich mich auf diejenigen Aspekte der Schwelle, die mit den Modalitäten ihrer Erfahrung zu tun haben. 51 Laurent Stalder fasst einige „Funktionen der Schwelle“ als „Licht- und Luftführung, Blickverbindung oder die Erschließung von Räumen“ zusammen: Stalder 2009, S. 25. Die ersten beiden oben im Text genannten Wahrnehmungsweisen werden noch ausgiebig untersucht; zur akustischen Schwelle aus architekturtheoretischer Sicht Krämer 1983 (S. 211: zu ‚maskierenden Geräuschen‘ im Großraumbüro u. S. 215 f.: zu Zusammenhängen zwischen architektonischer und musikalischer Gestaltung); Saeverin 2002, S. 81: zur Hör- als Reizschwelle.

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betont – ist also, dass sie zugleich trennt und verbindet.52 Eine Schwelle, wie hoch sie auch angelegt sein mag, durchbricht Trennungen, um Verbindungen herzustellen; sie ist „dazu da, überschritten zu werden“.53 An ihr oder durch sie finden jedoch gleichzeitig Abgrenzungen statt. Eine Schwelle ist der formgewordene Ausdruck einer logischen Überlegung, die Michel Foucault in einem anderen Zusammenhang anstellt: „Grenze und Übertretung ­verdanken einander die Dichte ihres Seins“.54 Figuren der Limitation lassen ihre Transgression mitdenken, und umgekehrt ist Transgression notwendigerweise von einer Limitation abhängig. Diese Eigenart zeichnet Phänomene aus dem Zwischen generell aus, wie die Überlegung von Claudia Breger und Tobias Döring zum ‚Dritten‘ zeigt: „So oszilliert das ‚Dritte‘ stets zwischen den Oppositionen, die es durchkreuzt, und bezeichnet einen Versuch, binäre Denkstrukturen zu überwinden, während es doch unweigerlich auf sie bezogen bleibt“.55 Da die Schwelle unauflöslich mit ihrem Dies- und Jenseits oder ihrem Davor und Dahinter verknüpft ist, kann ein Denken des Zwischen – und damit ein Denken der Schwelle – diese auf zwei verschiedene Arten in Relation zueinander setzen: Die Schwelle kann einerseits als ein Ort des Übergangs und damit als Teil eines Weges betrachtet werden. In diesem Fall ist sie durch Durchlässigkeit gekennzeichnet. Andererseits kann sie als Ort des Widerspiels zwischen Offenem und Verborgenem, Innen und Außen, Eigenem und Fremdem wahrgenommen werden. In diesem Fall ist sie durch Unschärfe gekennzeichnet. Es lassen sich also zwei Denkweisen der Schwelle unterscheiden: eine sukzessiv-lineare, hodologische, die mit dem Charakteristikum der Durchlässigkeit zusammenhängt und die das Davor, die Schwelle und das Dahinter als etwas neben- oder nacheinander Gestaffeltes denkt. Die andere Denkweise ist dialektisch: Sie hängt mit dem Charakteristikum der Unschärfe zusammen und konzipiert die Schwelle als Ort, an dem deren Diesseits und deren Jenseits aufeinanderprallen. Die Schwelle erscheint also sowohl als Ort des Übergangs, der maßgeblich mit einer Durchquerung des Dies- und Jenseits zusammenhängt, als auch als Spielraum, in dem sich Gegensätze miteinander in Bezug setzen lassen (Tabelle). Schwelle als Ort des Übergangs Π oder Π

Schwelle als Ort des Widerspiels Π

Denkweise

sukzessiv-linear

dialektisch

Betontes Charakteristikum

Durchlässigkeit

Unschärfe

Das Konzept der Schwelle vereint diese beiden Denkweisen, auch wenn sie unterschiedlich stark hervorgehoben werden können. So verwendet Arnold van Gennep den Schwellenbegriff, um den Ort des Übergangs von einem Zustand in einen anderen im Ritual zu charak-

52 Z. B. Moore 1981, S. 203; Krämer 1983, S. 203‒205; Pikulik 1993, S. 18; Saul/Möbus 1999, S. 9; Saeverin 2002, S. 33 u. 156; Kern 2004, S. 42. 53 Aleida u. Jan Assmann in ihrer Einführung: Assmann A./Assmann J. 1997, S. 7–16, hier S. 8. 54 Foucault 1988, S. 73. 55 Einleitung zu Breger/Döring 1998, S. 3.

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terisieren.56 Die literaturgeschichtlichen Publikationen zur Grenz- oder Exilliteratur fassen dagegen den Begriff der Grenze stärker als Ort des Widerspiels auf, „wirft doch das Widerspiel von Grenze und Überschreitung ein besonders scharfes Licht auf kulturelle Prozesse“.57 Häufig sind die zwei Denkweisen der Schwelle allerdings miteinander verwoben.58 Beide Denkweisen sind zu berücksichtigen, wenn man die Koordinaten der Schwelle herausarbeiten will. Dabei zeichnet sich ab, dass die ‚gerichtete‘ Wahrnehmung und Bewegung des Betrachters die Schwelle zunächst konkret als Teil eines Weges auffasst, während die Schwelle als dialektischer Ort ein abstrakteres Verständnis voraussetzt.

2.2 Die Koordinaten der Schwelle Da es sich bei der Schwelle um einen Begriff handelt, der häufig gerade wegen seiner Undeutlichkeit verwendet wird, weil er vielfältige Assoziationen transportieren kann, scheint eine Systematisierung ein schwieriges Unterfangen. Die in der Forschung vorhandenen Versuche bieten erste Anhaltspunkte: Saeverin geht so vor, dass er fünf Arbeitshypothesen nach der Systematik einer „abnehmenden Plastizität des Übergangsphänomens“ aufstellt, die vom Anschauungsmaterial zur abstrakten Denkfigur reicht.59 Wokart stellt „nicht ohne Ordnung, wohl aber ohne Prinzip, einige der vielfältigen Facetten des scheinbar einfachen Begriffs der Grenze“ dar.60 Der jüngste Überblick über Begriffe des Zwischen von Rolf Parr orientiert sich an den Autoren, die sie verwenden und ist dementsprechend nach Benjamin, Turner, Genette, Bourdieu und Foucault gegliedert.61 Im Folgenden werden die wesentlichen Eigenschaften der Schwelle unter fünf Begriffen bzw. Begriffsfeldern analysiert, welche die in der Forschung am häufigsten hervorgehobenen Aspekte zusammenfassen. Eine derartige Systematisierung liegt bisher nicht vor. Aus den fünf Koordinaten – Ambivalenz/Ambiguität, Verborgenheit, Verheißung/Aufforderung, Verwandlung, Vermittlung – ergibt sich das Konzept der Schwelle, das den Analysen im weiteren Verlauf dieser Studie zugrundeliegt. Bei jeder Koordinate erfolgt zugleich eine Vorschau darauf, welche Rolle sie in den kommenden Kapiteln spielt, d. h. wie sich die jeweiligen theoretischen Überlegungen für die Untersuchung von Schwellenmotiven in Bildern und für Bilder an Schwellen fruchtbar machen lassen.

56 van Gennep 1986. S. unten 2.2.4 Verwandlung. 57 Hohnsträter 1999, S. 231. S. z. B. einige Beiträge in Faber/Naumann 1995; Lamping 2001, bes. S. 10; Beiträge in Kay et al. 2007. 58 S. unten (3.1.3) die durch ein Schwellenmotiv geleistete Sequenzierung und gleichzeitige Gegenüberstellung zweier Bereiche oder Szenen. 59 Saeverin 2002, S. 38. 60 Wokart 1995, S. 278. 61 Parr 2008, S. 17–34.

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2.2.1 Ambivalenz/Ambiguität Die antiken Römer kannten einen Gott der Schwelle: Janus. Er kann sozusagen als Personifikation für die Schwelle in den Religionen stehen.62 Janus galt unter anderem als der Gott des Anfangs und als Schützer der Ein- und Ausgänge, sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht. Der zuletzt genannte Aspekt hat dazu geführt, dass der Monat Januar nach ihm benannt ist. Noch im Mittelalter wird die Personifikation dieses Monats an Kirchenportalen manchmal mit zwei Köpfen dargestellt, zugleich zurückschauend auf das alte Jahr und vorausblickend in das neue.63 So zeigt sich der Januar auch in den Archivolten des linken Westportals von Chartres (1145–1155) mit dem Gesicht eines bärtigen Alten auf der einen, und dem Antlitz eines bartlosen Jünglings auf der anderen Seite.64 Als doppelköpfig (bifrons oder biceps in antiken Quellen) wurde Janus auf römischen Münzen dargestellt, und zwei Gesichter soll auch die Statue des Gottes in seinem (nicht erhaltenen) Tempel Ianus Geminus auf dem Forum in Rom gehabt haben.65 Parallel zur Doppelgesichtigkeit des Janus kann auch die Schwelle gesehen werden: Ebenso wie sich die Blicke des Gottes nach beiden Seiten richten, so bezieht sich auch die Schwelle auf zwei Seiten. Gleichzeitig aber ist sie ein Drittes, die Schnittmenge der beiden Seiten, die auch jeweils getrennt von diesen beschrieben werden kann. Diese aus der doppelten Gerichtetheit entstehende Eigenständigkeit bildet eine der charakteristischen Eigenschaften der Schwelle.66 Schon Aristoteles definiert, die Grenze sei „das Äußerste eines jeden Dinges sowohl als erstes, außerhalb dessen nichts, als auch als erstes, innerhalb dessen alles ist“.67 Das gleiche Moment der Eigenständigkeit tritt auch in der Formulierung Bernd Krämers hervor: „Die Schwelle versinnbildlicht die Dialektik beider Zustände, die sie trennt und verbindet“.68 Indem sie sich auf ihr Dies- und Jenseits bezieht und sich dadurch selbst kon­ stituiert, kann sie, wie Krämer impliziert und die Bildtradition des Janus zeigt, selbst zum Bild werden. Janus hinterlässt Spuren in der christlichen Ikonographie, wie schon an Darstellungen des Januars deutlich wird. Als Attribute des Janus galten ein Stab und ein Schlüssel – die Statue im Ianus Geminus soll einen Stab in der Rechten und einen Schlüssel in der Linken gehalten haben.69 In dieser Hinsicht steht der Türwächter und Schlüsselträger der christlichen Ikonographie, Petrus, in der Tradition des Janus.70 In der christlichen Kunst ist er Figur 62 Zur Bedeutung von Übergängen in den Religionen s. Eliade 1984, bes. S. 151–159. 63 Vgl. Isidor von Sevilla: „Bifrons idem Janus pingitur ut introitus anni et exitus demonstratur“ – „doppelgesichtig wird Janus gemalt, damit er auf Eingang und Ausgang des Jahres verweise“, zit. nach Baltrušaitis 1985, S. 50. 64 Baltrušaitis 1985, S. 50. Manchmal wird er auch mit drei Gesichtern dargestellt, dann steht das dritte für die Gegenwart: ebd., S. 51. Zu anderen mehrgesichtigen Gestalten ebd., S. 49–54. 65 Richardson 1992, S. 208. Zu weiteren Aspekten des Gottes bei Ovid s. Krasser 2008. 66 Saeverin 2002, S. 41–71 zur „Eigenständigkeit des Schwellenübergangsmomentes“. 67 Metaphysik V, 1022a, zitiert nach Wokart 1995, S. 279. 68 Krämer 1983, S. 205 (Hervorhebung T.B.). 69 Richardson 1992, S. 208. 70 Bianchi 2004, S. 202.

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des Eingangs: am Kirchengebäude als Säulenfigur, und als Türwächter des himmlischen Paradieses in Bildern des Jüngsten Gerichts. Die Doppelgesichtigkeit des Janus wirkt  – gewissermaßen aufgespalten – noch in gemeinsamen Darstellungen der beiden Johannes’ nach: Zusammen mit einem dritten Element, dem Antlitz Christi oder dem Lamm, wurden Johannes der Evangelist und Johannes der Täufer seit dem 5. Jahrhundert vor allem in Italien dargestellt.71 In einigen norditalienischen Kirchen flankieren sie das Lamm im Scheitel des Vorhallenbogens und verweisen so auf die Fortsetzung des Alten Testaments im Neuen ­Testament.72 Der Ianus Geminus in Rom war architektonisch als Passage mit jeweils einer Tür am Anfang und am Ende konstruiert und fungierte als index pacis bellique: Befand sich Rom im Krieg, waren die Türen offen, herrschte Frieden, waren sie geschlossen.73 Die Dialektik von Offen und Geschlossen stellt einen Aspekt der Schwelle dar, den der Zustand der Türen verdeutlicht. Das Offenstehen einer Tür kann nicht nur eine Einladung darstellen, sondern auch Angreifbarkeit bedeuten: „while a closed door provides defense, its very existence implies a potential for danger when open“.74 Umgekehrt formuliert es Gert Selle in seiner Studie zu den Gesten des Öffnens und Schließens: „Die geschlossene Tür ist eine Einladung oder eine Falle“.75 Diese Ambivalenz zeichnet auch einen Schwellenbegriff aus, der sich auf keine konkrete Tür bezieht: „Mit einer Abgrenzung wird eine schützende, weil Risiko-reduzierende Distanz eingenommen. Jede Nachbarschaft provoziert dagegen eine diese Distanz in Frage stellende Bezogenheit. Deshalb bedeutet jede ‚Schwelle‘ als passierbare Grenzstelle immer auch einen mehr oder weniger ausgeprägten Konflikt“.76 Die mit dem Aspekt der Offenheit zusammenhängende Angreifbarkeit über die Schwelle konkretisiert sich u. a. in der mittelalterlichen Vorstellung, dass über die Schwellen der Sinne Schlechtes in das Innere des Menschen gelangen könne, Auge und Ohr aber zugleich Portale für die Botschaften Gottes seien. Die Ambivalenz der Schwelle zeigt sich in einem weiteren Zusammenhang; Menninghaus, der Schwellen bei Walter Benjamin untersucht hat, kommt zu dem Schluss, dass Schwellen gefühlsmäßig polarisieren: „Geborgenheit und Schrecken sind die Extreme der Schwellen-Topographie“.77 Bildlich nachvollziehbar wird die Vereinigung beider Extreme auf der Schwelle in den Weltgerichtstympana mittelalterlicher Portale, die sowohl den Eingang in den Himmel verheißen als auch vor den Schrecken der Hölle warnen.78

71 Walther 2002, S. 66; Bianchi 2004, S. 201‒215. 72 Z. B. auf dem Protiro von S. Zeno in Verona, dem Veroneser Dom, oder dem Nordportal des Domes von Piacenza. Walther 2002, S. 68 f. zu den Beispielen. S. auch unten 6.1.1 zur Baseler Galluspforte. 73 S. Richardson 1992, S. 207. 74 Moore 1981, S. 203. 75 Selle 2004 (Online-Publikation ohne Seitenangaben). 76 Krämer 1983, S. 204. 77 Menninghaus 1986, S. 36. 78 Der Begriff „Ambivalenz“ wird in der vorliegenden Studie mehrfach verwendet. Er hebt entweder den perspektivischen Aspekt hervor – die doppelte Gerichtetheit – oder eine Doppeldeutigkeit bzw. die Vereinigung gegensätzlicher Impulse.

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2.2.2 Verborgenheit Bisher ist deutlich geworden, dass die Schwelle eine doppelte Gerichtetheit auszeichnet und darüber hinaus ambivalent ist, indem sie entgegengesetzte Gefühle ausdrückt oder hervorruft: Dies kann als schützend oder bedrohend empfunden werden. Nimmt man die Wahrnehmungsbedingungen der Schwelle und ihres Dies- und Jenseits hinzu, so erscheint die Schwelle als eines derjenigen Motive aus der ,Topographie des Zwischen‘, die zunächst, wie auch Schleier, Vorhang oder Maske, den Blick verstellt, und zwar, wie wir annehmen müssen, den Blick auf etwas. Denn es ist für diese Motive charakteristisch, dass sie ein Dahinter vermuten lassen und somit auf irgendeine Art und Weise durchlässig sind. Um eine Schwelle überhaupt als solche bezeichnen zu können, muss man ein Minimum von Wissen oder Ahnung über das Dahinter besitzen. Hohnsträter formuliert dies für Grenzen: „[U]m von einer Grenze jedoch überhaupt sinnvoll sprechen zu können, muss man sich gleichsam auf die andere Seite versetzt haben“.79 Man muss also um die ‚andere Seite‘ wissen und eine Differenz zwischen den beiden Seiten erkennen. Die Relation zwischen den beiden Seiten wird durch die Schwelle hergestellt. Schwellen vermitteln also – in Bezug auf die Sichtbarkeit formuliert – zwischen dem Betrachter einerseits und dem Objekt seiner Aufmerksamkeit andererseits. Dabei können sie entweder eher als Störung oder eher als Stütze wahrgenommen werden. Für die Modalitäten der Sichtbarkeit vermittelt eine Schwelle dadurch die Verborgenheit. Die Kategorie der Verborgenheit ist anzusiedeln zwischen dem Offenbaren, das heißt dem den Sinnen Zugänglichen, und dem Unbekannten, das den Sinnen grundsätzlich entzogen ist: „Verborgenheit ist das tertium quid zwischen reiner Präsenz und reiner Absenz, ein schillerndes Mischungsverhältnis aus beiden Gegensätzen“.80 Gerade diese Eigenschaft der Schwelle als Vermittler der Verborgenheit macht sie für die Mechanismen des Geheimnisses attraktiv. Das Geheimnis benötigt die Topographie des Zwischen – das betonen Aleida und Jan Assmann, indem sie „Schleier und Schwelle“ den von ihnen herausgegebenen Bänden zum Geheimnis voranstellen.81 Diese Begriffe wählt auch Martin Andree in seiner „Archäologie der Medienwirkung“ für das Kapitel „Der Mythos des Geheimnisses: Von Schleiern und Schwellen“.82 Er folgert: „Das Geheimnis befindet sich immer hinter der Schwelle. Es ist zugleich sichtbar und entzieht sich der Sicht“.83 Im Mittelalter wird das in der Liturgie erfahrbar. So ist „im Wechsel von Verhüllung und Enthüllung, von Zeigen und Verbergen [...] eine Grundfigur mittelalterlicher Liturgie fassbar“, die auch Aufbewahrungs- und Offenbarungsgegenstände von Reliquien und Hostie betrifft.84 Diese Dialektik ist kulturhistorisch als (in unterschiedlichen Kontexten auftretende) Konstante zu sehen. Die „Kultur des Zwischen“ entfaltet sich nicht, wie Hohnsträter argumentiert, erst in

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Hohnsträter 1999, S. 240. Assmann A. 1997, S. 266 (ihre Hervorhebung). Assmann A./Assmann J. 1997; Assmann A./Assmann J. 1998; Assmann A./Assmann J. 1999. Andree 2005, S. 156–173. Andree 2005, S. 168. Reudenbach 1999, S. 28.

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der Neuzeit, die „Doppelstruktur von Entzug und Versprechen, Vorwärtsdrängen und Zurückweichen“ ist nicht nur eine „romantisch-moderne“.85 Schwellen bewirken – wie noch im Einzelnen zu zeigen ist – als Motive im Bild, aber auch als Architekturen eine Steigerung des Seherlebnisses, die paradoxerweise eben nicht an die Vollständigkeit, Nähe oder Unmittelbarkeit des Gesehenen, sondern an die Ausschnitthaftigkeit oder Distanz des Gesehenen bzw. die Unzulänglichkeit der Seherfahrung gekoppelt ist. Verhaltenstheoretisch ist dem Geheimnis die Neugierde zugeordnet, „ein zielgerichtetes Verhalten [...], welches die Sinne und den Bewegungsapparat einbezieht“.86

2.2.3 Verheißung/Aufforderung Die Schwelle ist darüber hinaus eine Einladung. Der Wechsel zwischen Distanz und Nähe, Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit lässt die Schwelle immer auch als Anreiz erscheinen. Patricia Oster zeigt dies am Beispiel des Schleiers: „Der Schleier setzt Distanz und verspricht zugleich eine umso verlockendere Nähe“.87 Umberto Eco weist in seiner „Einführung in die Semiotik“ nach, dass auch die Architektur ein Gegenstand der Semiotik ist, obwohl sie zunächst nichts mitzuteilen, sondern bloße Funktion zu sein scheint. Dass jedoch auch Funktionen unter dem Aspekt der Kommunikation interpretiert werden können, zeigt er an der Form der Treppe: „Gemäß einer tausendjährigen architektonischen Codifikation denotieren mir Treppe oder schiefe Ebene die Möglichkeit des Hinaufsteigens; [...] ich befinde mich immer vor Formen, die auf codifizierten Lösungen einer zu erfüllenden Funktion basieren“.88 In diesem Sinne liefert eine architektonische Schwelle als erstes die Möglichkeit des Überschreitens. Insofern ist es also belanglos, ob wir zum Beispiel auf eine Tür in geöffnetem oder geschlossenen Zustand treffen – das Potenzial der Überschreitung ist allein in der Tür angelegt: „actual movement through it [...] is not a pre-requisite for our response to it; doors don’t actually have to function at all in order to make suggestions to spectators about their roles“.89 Aus der Perspektive des Schwellenerlebens ist die Schwelle genau wie die Treppe daher eng mit einem Bewegungsimpuls verbunden – ein Sachverhalt, der auch Einfluss auf den Begriff der Schwelle hat: schon „der Begriff der Schwelle [impliziert] eine Bewegung des Schreitens und Überschreitens, involviert den Rezipienten/die Rezipientin in einen körperlichen rite de passage, der dem Blick der Neugierigen Beine macht“.90 Trotz einer stark vereinfachten Verwendung des Begriffs „rite de pas85 So aber Hohnsträter 1999, S. 234: Er nennt als Beispiel das romantische „Motiv des geöffneten Fensters“. Im Folgenden wird sich zeigen, dass besonders das Fenstermotiv in einer langen Tradition steht, in der es immer um das Sehen und dessen Modalitäten und Grenzen geht (s. vor allem unten 3.1.2). 86 Stagl 2002, S. 11 (seine Hervorhebungen); zur Relation von Geheimnis und Neugierde s. auch Assmann A./Assmann J. 1999. Zum kritischen Status der Neugierde im Mittelalter s. auch unten S. 148. 87 Oster 2002, S. 12 f. 88 Eco 2002, S. 308. 89 Seidel 1994, S. 291. Vgl. auch Heinz-Mohr 1971, S. 293: „Eine Tür lädt immer dazu ein, sie zu durchschreiten“. 90 Wittmann 2005, S. 189.

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sage“ – dazu sogleich unter Verwandlung – lässt sich der Zusammenhang von Bewegung und Wahrnehmung in dieser Bemerkung erkennen. Die Schwelle kann als Auslöser oder Verstärker eines Erkenntniswunsches fungieren. Nach Zaunschirm kommt auch dem Bild einer Schwelle – einer Tür – diese Funktion zu: „Das Tor als Bild spricht den Betrachter stärker an, es verbindet sich damit ein Aufforderungscharakter, nicht nur zu schauen, sondern sich zu bewegen, zu verändern“.91 Diesen ‚Aufforderungscharakter‘, der für die ‚Codifikation‘ der architektonischen Schwelle gilt und dem der Betrachter mit einer physischen Aktion nachkommt, besitzt auch eine dargestellte Schwelle. Eine Schwelle, in welcher Form auch immer, legt also den Gedanken eines Übergangs nahe. Zu dem Angebot der Möglichkeit des Überschreitens und zur Aufforderung dazu kann ein Verheißungscharakter kommen, der verspricht, das auf das Dahinter gerichtete Interesse zu stillen. Durch die ihr eigene Dialektik des Verhüllens und Enthüllens (bzw. Verbindens und Trennens) produziert die Schwelle dabei das Geheimnis des Verborgenen und ist zugleich Auslöser des Entdeckungswillens im Rezipienten. In welcher Weise dies eine weiterführende Perspektive für die Untersuchung architektonischer Schwellen bereitstellt, ist noch näher zu analysieren.92 Ein mittelalterliches Kirchenportal, so ist zu zeigen, stellt den Ort zweier physischer Handlungen dar, nämlich Bildbetrachtung einerseits und Portaldurchschreitung andererseits. Diese bestehen in zeitlicher Nähe zueinander oder können gleichzeitig stattfinden. Bei Bildern an Portalen kann diese Wahrnehmungsweise, die Gleichzeitigkeit von Raum- und Bilderfahrung, etwa dazu genutzt werden, die Bewegung des Betrachters einzubeziehen in die narrative Logik der Heilsgeschichte, wie sie in den Bildern am Portal erscheint.

2.2.4 Verwandlung Benjamin leitet die Entstehung des antiken Triumphbogens von der Erfahrung der Schwelle ab: „Aus dem Erfahrungskreis der Schwelle hat das Tor sich entwickelt, das den verwandelt, der unter seiner Wölbung hindurchschreitet. Das römische Siegestor macht aus dem heimkehrenden Feldherrn den Triumphator“.93 Als ‚bloße Schwelle‘, die sich nicht in einen größeren Architekturkomplex eingliedert, erscheint der Triumphbogen als bildgewordene Verwandlung.94 Rahmenbedingungen für die Verwandlung liefern rituelle Handlungen bei der Durchquerung des Bogens. Anklänge an den Triumphbogen sind auch in der mittelalterlichen Architektur zu finden. Die formal-strukturellen Ähnlichkeiten von Triumphbogen und Kirchenvorhallen, wie etwa der in Chartres, sind auf den ersten Blick einleuchtend. Peter C.

91 Zaunschirm 1980, S. 325; vgl. zum einladenden Charakter der Schwelle Pikulik 1993, S. 18. 92 S. unten 6 und 7. 93 Benjamin 1982, Bd. I, S. 139. 94 Zum Triumph in augusteischer Zeit s. Krasser/Pausch/Petrovic 2008, v. a. die Beiträge von Wolfram Martini und Sven Th. Schipporeit zum Verlauf des Triumphes durch die Stadt und zu den Monumenten auf diesem Weg.

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Claussen nennt sogar ein Beispiel, bei dem ein erhaltener antiker Triumphbogen in einen mittelalterlichen Kirchenbau als Portal eingegliedert wurde.95 Den Verwandlungs- oder Veränderungsaspekt der Schwelle hat in den letzten Jahren besonders die kulturwissenschaftliche Forschung zur Performativität hervorgehoben,96 die dabei vor allem auf die zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Ethnologie durchgeführten Forschungen von Arnold van Gennep und deren Weiterentwicklung durch Victor Turner verweist. Van Gennep hatte bei verschiedenen Riten eine ähnliche Struktur 97 bemerkt, und diese als „Übergangsriten“ („rites de passage“) bezeichnet, „die sich bei genauer Analyse in Trennungsriten (‚rites de séparation‘), Schwellen- bzw. Umwandlungsriten (‚rites de marge‘) und Angliederungsriten (‚rites d’agrégation‘) gliedern“.98 In der Trennungsphase werden die zu Transformierenden aus ihrer sozialen oder kosmischen Welt herausgelöst, in der Schwellenphase befinden sie sich in einem Zustand zwischen allen sozialen oder kosmischen Bereichen. Die Schwellenphase kann zeitlich ausgedehnt sein, wie etwa das Verlobtsein. In der Angliederungsphase werden die Transformierten in ihren neuen Status aufgenommen. In diesem Zusammenhang bemerkt van Gennep eine häufige „Gleichsetzung des Übergangs von einer sozialen Position zur anderen mit einem räumlichen Übergang wie dem Betreten eines Dorfs oder eines Hauses“.99 Auch bei den von van Gennep untersuchten ‚rites de passage‘ spielt also die Kombination von Ritual und architektonisch-räumlicher Schwelle eine Rolle. Zustandswechsel und Raumwechsel können zusammenfallen und die Verwandlung begleiten. Die von van Gennep definierte Schwellenphase ist von Victor Turner in einer 1989 erschienenen Studie zum Ritual eingehender untersucht worden. Er bezeichnet den in dieser Phase hergestellten Zustand als Zustand der Liminalität, der durch „Ambiguität und Unbestimmtheit“ gekennzeichnet ist.100 Seiner Meinung nach eröffnen sich aus diesem Zustand – der als „gefährlich, ungünstig oder verunreinigend“ gilt101 – immer auch Spielräume für Kreativität und Innovation.102 Die Ambivalenz der Schwelle bildet also die Grundlage für eine Transformation. Erika Fischer-Lichte hat den Versuch unternommen, diese Abläufe auf einen ästhetischen Kontext zu übertragen.103 In ihrer Untersuchung von „ästhetischer Erfahrung als Schwellenerfahrung“ beschränkt sie sich dabei auf den Kontext des Theaters: Eine ästhetische Erfahrung im Theater als Schwellenerfahrung könne „für denjenigen, der sie durchläuft, zu einer Transformation führen“.104 Es wird die Nähe der Theateraufführung zum Ritual betont. Während sich die Performativitätsforschung also vor allem über die Analyse von Ritualen der  95 Saint-Siffrein in Carpentras: Claussen 1975, S. 32; zur These der Entwicklung von mittelalterlichen Portalen aus Triumphbögen s. auch Droste 1996, S. 154 f. Unten S. 210, Anm. 878 weitere Hinweise zu diesem Erklärungsmodell des mittelalterlichen Portals.  96 So zusammengefasst auch bei: Bachmann-Medick 2006, S. 111 ff.  97 Er nennt das „séquence“, übersetzt als „Abfolgeordnung“: van Gennep 1986, S. 20.  98 van Gennep 1986, S. 21 (seine Hervorhebungen).  99 van Gennep 1986, S. 184 (seine Hervorhebung). 100 Turner 1989 A, S. 95. 101 Turner 1989 A, S. 107. 102 Turner 1989 A, S. 125 f.; Turner 1989 B, S. 40 f. 103 Fischer-Lichte 2001, S. 347–363. 104 Fischer-Lichte 2001, S. 349.

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Schwelle als Zustand im Kontext der Wahrnehmung und Erfahrung nähert, wird im Folgenden das Verhältnis von Schwelle und Wahrnehmung aus einer anderen Perspektive konkretisiert. Die architektonische Schwelle hat „[i]n jedem Fall [...] situationsspezifisch eine verhaltensorganisierende Wirkung“.105 Wenn Schwellen durch ihren Aufforderungscharakter einen Bewegungsimpuls geben, der Besucher aber zugleich auf seinem Weg in die Kirche zögert, um die Tür zu öffnen oder den Schwellbalken zu überqueren, so sind dies fundamentale Aspekte des Umgangs mit Schwellen, welche die Rezeption der dort angebrachten Bilder beeinflussen. Auf welche Weise kanalisieren oder verstärken jene Bilder wiederum die Schwellenerfahrung? Dieser Frage ist im zweiten Teil der Studie nachzugehen (unten 6 und 7).

2.2.5 Vermittlung Die Begriffe aus der ‚Topographie des Zwischen‘, das ist bereits deutlich geworden, vermitteln ihr jeweiliges Jenseits auf Grund ihrer mehr oder weniger ausgeprägten Durchlässigkeit. Diese Vermittlung kann ganz unterschiedlich aussehen. So kann die Schwelle selbst auf ihr Dahinter verweisen. Als pars pro toto kann die Schwelle ihr Dahinter repräsentieren, das durch sie betreten wird. In der Bibel steht etwa das Tor für die ganze Stadt und ist damit nach Moore „a militarily sound metaphor, for those who controlled the gates, controlled the city“.106 Auch der Höllenschlund verweist auf die Beschaffenheit der Höllenqualen als unendliches Verschlungen-Werden.107 Die unten untersuchten Schwellenmotive führen den Betrachter in imaginäre Räume, deren Beschaffenheit sie zugleich vermitteln. Aus der Per­spek­ tive der Erinnerung formuliert es Winfried Menninghaus in Bezug auf Walter Benjamins Berliner Schriften: „Überall sind es Türen, Tore und Treppenhäuser, an denen sich die Erfahrung des Kindes festsaugt, an denen sich bereits manifestiert, was ‚hinter ihnen‘ liegt“.108 Bei Benjamin rückt dementsprechend die Schwelle in ihrer Zwischenposition in die Nähe des Mediums: „Die Form der Schwelle [...] korrespondiert ebenso mit seiner letztlich sprachtheoretisch fundierten Vorstellung von einem vermittelnden Zwischen überhaupt. Deren Pointe nämlich ist, daß [...] das Medium allererst produziert, was es scheinbar nur ‚mediiert‘“.109 Diese Überlegungen zu Korrespondenzen zwischen Medium und Schwelle lassen sich vor allem für mittelalterliche Chorabschrankungen fruchtbar machen, die als ‚Medien des Blicks‘ und Bildträger zugleich die Erfahrung der Liturgie maßgeblich beeinflussen. Eine aufschlussreiche Funktion in diesem Zusammenhang kommt außerdem dem Türmotiv in Verkündigungsdarstellungen zu, wo es zwischen dem Verkündigungsengel und Maria platziert wird, zugleich aber auch im Bildraum aus der Sicht des Betrachters eine zentrale Stelle einnimmt und so als ‚Mittleres‘ auf zwei Achsen fungiert.110 105 Krämer 1983, S. 217. 106 Moore 1981, S. 203; s. auch Bollnow 1963, S. 158. 107 S. unten 3.4. 108 Menninghaus 1986, S. 35. 109 Menninghaus 1986, S. 55 (seine Hervorhebung). 110 S. unten S. 58–62.

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Im folgenden Kapitel werden die einzelnen Schwellenmotive zunächst exemplarisch in ihrem jeweiligen historischen und ikonographischen Kontext untersucht, um einen Überblick darüber zu erhalten, in welchen Bildzusammenhängen Türen und Fenster, Höhleneingänge und Felsspalten, Leitern und Brücken sowie der Höllenschlund vorkommen. In einem zweiten Schritt kann dann nach den bildstrukturellen und narrativen Funktionen der Motive gefragt werden, die hier schon angedeutet wurden.

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3 Die Schwelle im Bild: Schwellenmotive

Der erste Satz der Genesis beschreibt eine Zweiteilung der Welt in Himmel und Erde, die der Ordnung der Welt nach anderen binären Kategorien vorausgeht: Licht/Finsternis, Firmament/Erde, Land/Meer, Tag/Nacht. Bereits der allererste Schöpfungsakt Gottes schafft also ein Diesseits und ein Jenseits. Im Christentum können generell zwei Aspekte der Kategorie des Jenseits unterschieden werden: zum einen das Jenseits in endzeitlicher Perspektive, zum anderen das Jenseits, das zur geschichtlichen Zeit parallel verläuft.111 Das endzeitliche Jenseits ist mit dem Diesseits durch den Tod und das Jüngste Gericht verbunden;112 in das parallele Jenseits erhalten Menschen über Visionen, Erscheinungen und Wunder Einblick. Die Darstellung verschiedener Stationen der christlichen Heilsgeschichte in Texten oder Bildern verlangt folglich immer wieder, die Gleichzeitigkeit, das Nebeneinander oder Nacheinander von Diesseits und Jenseits kenntlich zu machen. Während mittelalterliche Texte, etwa Visionsberichte, meist nicht näher auf die Art des Übergangs eingehen, sondern ein plötzliches Einbrechen des Jenseitigen beschreiben, haben sich Bildkünstler im Mittelalter oft für bestimmte Motive entschieden, die einen räumlichen Übergang vom Diesseits in das Jenseits oder eine zwischen diesseitigen und jenseitigen Personen oder Orten stattfindende Kommunikation verdeutlichen. Bruno Reudenbach hat 1998 das Forschungsdesiderat einer „Darstellungsgeschichte des Jenseits“ formuliert, „die sich nicht auf die Ikonografie beschränken kann“.113 Das folgende Kapitel will zu einer solchen Darstellungsgeschichte beitragen. Schwellenmotive, die für die Darstellung von Übergängen zwischen Diesseits und Jenseits verwendet werden, vermitteln die Beschaffenheit der Jenseitsorte. So verweist das Türmotiv auf den Himmel oder die Hölle als Stadt, der Höhleneingang hebt das Unterirdische der Hölle hervor, eine Leiter kontrastiert oben und unten als Verortungsrichtungen und der Höllenschlund betont das Somatische der Hölle. Schwellenmotive vermitteln die Topographie der Jenseitsorte mithilfe von Bildtopologien.114 Sie gliedern sich ein in das „Symbolsystem der räumlichen Orientierung“: 111 Schreiber/Siemons 2003, S. 10. 112 Oder das Partikulargericht: Die Vorstellung, dass die Seele des Toten direkt nach dem Tod gerichtet würde, gibt es das ganze Mittelalter hindurch parallel zu der Idee, dass beim Jüngsten Gericht das wesentliche Urteil fällt. S. Dinzelbacher 2001. 113 Reudenbach 1998, S. 634. 114 Zur Jenseitstopographie s. Dinzelbacher 1981; in jüngster Zeit hat David Ganz den topographischen Charakter von Diesseits-Jenseits-Relationen betont: Ganz 2006 A. Zu „Topologien der Bilder“ s. den

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Während „in der griechisch-römischen Antike das Hauptgewicht auf dem Gegensatz rechtslinks lag, [setzte sich] im Christentum sehr früh das Oben-unten-System durch. Das antinomische Paar Rechts-links, das übrigens sowohl im Alten als auch im Neuen Testament präsent ist, wurde jedoch beibehalten“.115 Darüber hinaus geht es nicht nur darum, welches Bild vom Jenseits die Schwellenmotive vermitteln, sondern wie sie es vermitteln: Die Frage, wie sich der Übergang in den Himmel oder die Hölle gestaltet, wirft gleichzeitig die Frage nach den Modalitäten der Darstellbarkeit und vor allem der Wahrnehmbarkeit der ‚anderen Welt‘ auf. Zunächst ist daher nach den mittelalterlichen Vorstellungen von Jenseitsorten zu fragen.116 Theologische Schriften beschreiben den Himmel meist als unvorstellbar. Er wird mit abstrakten Ideen der Erkenntnis oder Liebe in Verbindung gebracht.117 Darüber hinaus ist die Vorstellung des Himmels das Mittelalter hindurch mit dem Bild des Gartens oder der Stadt verknüpft. Der Himmel als Stadt geht auf das Buch der Offenbarung zurück, wo Tore, Mauern und Straßen des himmlischen Jerusalem beschrieben werden (Off 21).118 Als die ersten erhaltenen Darstellungen des Himmels als Stadt gelten einige frühchristliche römische Mosaike.119 Besonders der in der Offenbarung erwähnte quadratische Grundriss, die zwölf Stadttore und die Baumaterialien Edelsteine und Perlen werden bildlich umgesetzt. Nicht nur in der Bibel, sondern auch in Jenseitsvisionen des gesamten Mittelalters wird die himmlische Stadt immer wieder hervorgehoben als wehrhafter Ort mit Mauern und von Engeln bewachten Toren, an dem Ordnung herrscht.120 Mit der Ordnung und klaren Eingrenzung der himmlischen Stadt kontrastiert das ausufernde Chaos der Hölle. Zu den wichtigsten frühchristlichen Beschreibungen der Hölle und ihrer Strafen gehören die Schriften von Augustinus und Gregor dem Großen.121 AusSammelband von Hinterwaldner et al. 2008 B. Die Jenseitsorte und ihre Verortung über Schwellenmotive sowie methodische Implikationen stehen aber in den folgenden Kapiteln immer wieder zur Diskussion. 115 Le Goff 1990, S. 11. 116 Hier soll es zunächst nur um Vorstellungen von Himmel und Hölle gehen. Andere Vorstellungen wie das Fegefeuer (erste offizielle kirchliche Stellungnahme 1243: spezifisch dazu Le Goff 1990, S.11; Bratu-Minott 1999, S. 189; Wegmann 2003, S. 13) oder die visio beatifica (1241 Stellungnahme der Universität von Paris, 1336 Papst Benedict XII: visio beatifica wird den Seligen bereits vor dem Jüngsten Gericht zuteil, s. Bratu-Minott 1999, S. 196; Dinzelbacher 2001, S. 97) werden, soweit erforderlich, später bei den entsprechenden Schwellenmotiven erwähnt. 117 Lang/McDannell 1996, S. 104. 118 Als weitere Quelle für die Vorstellung des Himmels als Stadt nennen Lang/McDannell z. B. die Totenliturgie: Lang/McDannell 1996, S. 109 – sie verweisen auf einen Text aus dem 9. Jahrhundert. 119 Zum Himmel als Stadt: Colli 1983, S. 123. 120 Gottschalk von Holstein etwa, ein deutscher Visionär aus dem 12. Jahrhundert, berichtet über gerade Straßen und gleichmäßig angelegte Wohnhäuser. „Hoc autem ordine per amplitudinem civitatis tocius disposita erant, ut habitaculum post habitaculum constitutum linealiter videretur“: Godeschalcus 1979, 50,2 (S. 136); s. auch Lang/McDannell 1996, S. 110. 121 Augustinus: De civitate Dei, Buch XXI (426/427); Gregor d. Große: Dialogi. Einen Überblick über die mittelalterliche Höllenvorstellung bietet Tarald Rasmussen: Art. Hölle II. Kirchengeschichtlich, in: TRE, Bd. 15 (1986), S. 449–455, v. a. S. 449–453. Zu Höllenbildern s. Hughes 1968; Baschet 1993; Opitz 1998.

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führlicher fallen die Beschreibungen des Höllenortes in den apokalyptischen Visionen aus: in der Petrus-Apokalypse vom Anfang des 2. Jahrhunderts und vor allem in der Paulus-Apokalypse (Visio Sancti Pauli) aus der Mitte des 3. Jahrhunderts, die in zahlreichen Handschriften und Fassungen aus der Zeit zwischen dem 4. und 12. Jahrhundert erhalten ist.122 Weitere wichtige Schriftquellen für die mittelalterliche Vorstellung von der Hölle sind Visionserzählungen. Während die Wehrhaftigkeit der himmlischen Stadt die in ihr herrschende Sicherheit betont, richten sich feindliche Angriffe der Teufel in der Hölle gegen die Verdammten im Inneren dieses Ortes. Die Geschlossenheit und Sicherheit der himmlischen Stadt wird der schrecklichen Offenheit und Verletzungskraft der Hölle entgegengesetzt – der Höllenschlund ist immer offen und das Verschlungen-Werden unendlich. Auch im Hinblick auf ihre sinnliche Erfahrbarkeit werden Himmel und Hölle im Mittelalter als Gegensätze dargestellt. Der Himmel ist Ort des Lichts – die Hölle Ort der Finsternis;123 der Himmel ist wohltemperiert – die Hölle durch das Feuer quälend heiß; im Himmel können die Seelen wunderbarer Musik lauschen – in der Hölle herrschen unangenehme Geräusche.124 Aber auch als Gegenstück zur Erde wird der Himmel beschrieben, denn während auf der Erde der Wandel herrscht – Geburt, Tod, Wachstum, etc. – ist der Himmel etwa nach Alexander von Hales (1185–1245) die „Mitte zwischen genau festgelegten Extremen“.125 Im 14. Jahrhundert beschreibt Jan van Ruusbroec (1293–1381) den Himmel ähnlich: es „gibt [...] hier weder Zeit noch Bewegungswillen noch jemals eine Veränderung, denn er ist bleibend und unerschütterlich über allen Dingen“.126 Caroline Walker Bynum fasst die Vorstellung vom Himmel im 11. bis 13. Jahrhundert zusammen in den Begriffen „protection and stasis“127. Die Schwelle zum Himmel markiert also die letzte Verwandlung der Seelen bei ihrer Aufnahme in den Ort, an dem Unveränderlichkeit herrscht.128 Alle im Folgenden untersuchten Schwellenmotive lassen sich in der Ikonographie der Endzeit finden: Dazu gehören das Jüngste Gericht und verwandte Bilder wie die Parabel von Lazarus und dem reichen Mann und die Parabel der fünf Klugen und fünf Törichten Jungfrauen. Die Motive finden sich allerdings nicht ausschließlich in diesem christlich-eschatologischen Kontext – vielmehr sind Türen und Fenster, Leitern und Brücken, Höhleneingänge und Felsspalten sowie das Maul als ‚Eingang‘ Archetypen des menschlichen Denkens über den Ursprung, das Heilige und das Jenseits. Erst im Kontext des Jüngsten Gerichts (u. a.) werden die genannten Motive allerdings systematisch als Schwellenmotive verwendet, die

122 Le Goff 1990, S. 52–54. Zur Paulusapokalypse s. auch Baschet 1993, S. 87–99. 123 Off 21, 25: Im Himmel gibt es keine Nacht; nach Bischof Otto von Freisings Chronica spendet auch das Höllenfeuer kein Licht: „infernalis ignis virtute sua carebit in luce et plenarie eam habebit in exustione“: Chronica, Buch VIII, Kapitel 25. S. auch Lang/McDannell 1996, S. 123. 124 S. Rastall 1992, S. 102–132. 125 Alexander von Hales, zitiert nach Lang/McDannell 1996, S. 121. 126 Van Ruusbroec 1924, S. 328; vgl. Lang/McDannell 1996, S. 120. 127 Walker Bynum 1995, S. 292. 128 S. oben 2.2.4 Verwandlung; manchmal wird der Übergang als triumphaler Moment hervorgehoben, z. B. im Tympanon mit der Darstellung des Jüngsten Gerichts in der Kathedrale von Bourges (vor 1250), wo auf die Seligen über dem Tor zum Himmel Engel mit Kronen warten.

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einen Übergang verbildlichen, und es werden bestimmte Darstellungskonventionen bevorzugt, wie etwa die Gegenüberstellung von Höllenschlund und Himmelspforte. Da die Untersuchung der verschiedenen Schwellenmotive sich immer wieder auf Darstellungen des Jüngsten Gerichts beziehen und das Jüngste Gericht als wesentliches Thema der Portalgestaltung auch im sechsten Kapitel mehrmals eine Rolle spielen wird, sind hier einige zentrale Punkte der Darstellungsmodalitäten gerade dieser Szene zu erwähnen.129 Im Ablauf der Heilsgeschichte ist das Jüngste Gericht der vermittelnde Moment zwischen Diesseits und endzeitlichem Jenseits. Dem Jüngsten Gericht kommt dabei in mehrfacher Weise die Funktion einer Enthüllung zu: Erstens wird sich Christus als Richter zeigen, zweitens wird der im Diesseits verborgene Status jeder einzelnen Seele enthüllt, drittens wird die Realität der Jenseitsorte offenbar. Bereits das Jüngste Gericht selbst liegt also im Bereich zwischen der diesseitigen und der jenseitigen Welt – sowohl zeitlich als auch räumlich. Wie sehr das Gerichtsthema schon früh mit Motiven aus der ‚Topographie des Zwischen‘ assoziiert wurde, wird zum Beispiel im Matthäuskommentar des Johannes Chrysostomos (gest. 407) deutlich. Er vergleicht das Erscheinen des Weltenrichters am Jüngsten Tag mit dem Wegziehen der Vorhänge vor dem Richter bei einer öffentlichen Gerichtsversammlung.130 In der bildlichen Darstellung des Jüngsten Gerichts wurden die drei oben genannten Enthüllungsmomente unterschiedlich stark und mit unterschiedlichen Mitteln hervorgehoben. Bereits in den frühesten erhaltenen Bildbeispielen aus der Zeit um 800 ist die grundlegende Struktur der Szene erkennbar: die „Anordnung zur Rechten und Linken eines geistigen Mittelpunktes bedeutet als anschauliche Grundform das Elementarprinzip der Weltgerichtsdarstellung“.131 Die Darstellungen des Jüngsten Gerichts bedienen sich über die Jahrhunderte einer hierarchischen Ordnung, die sich an der Figur des Richters orientiert. Die Pole oben und rechts (von Christus) sind dabei positiv, die entgegengesetzten Pole unten und links (von Christus) meist negativ besetzt. Die Gegenüberstellung endzeitlicher Schicksale ist auch für die Parabel der fünf Törichten und fünf Klugen Jungfrauen und für die Parabel vom armen Lazarus und dem reichen Mann zentral. Auf welche Art und Weise dieses „Argumentationsschema“ aus sozialhistorischer Perspektive dazu verwendet werden konnte, bestimmte Personen oder Handlungen zu bewerten, zeigt Grötecke in ihrer Untersuchung zu Darstellungen des Jüngsten Gerichts in Florenz.132

129 Zur Ikonographie des Jüngsten Gerichts s. Jessen 1882; Springer 1884; Brenk 1966; Schreiner 1983; Baschet 1993, bes. S. 135–232; Grötecke 1997; Christe 2001. Ausführlicher Forschungsstand bei Gröt­ecke 1997, S. 5–11. 130 „Nam sicut cum judices publice sententiam prolaturi sunt, qui adstant remotis velis, sic illos omnibus conspiciendos praebent: ita et tunc omnes sedentem videbunt, et tota humana natura sistebur“: Johannes Chrysostomos: Commentarius in S. Matthaeum Evangelistam Homilia 56,4, in: PG 58, Sp. 554 f. S. auch Brenk 1966, S. 28. 131 Brenk 1966, S. 36; s. auch Grötecke 1997, S. 1, und Eichberger 1987, S. 50. 132 S. Grötecke 1997, S. 2 zum „Argumentationsschema“.

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Das Bildthema des Jüngsten Gerichts gilt der Forschung vor allem als Bild mit didak­ tischer Funktion.133 Auch mittelalterliche Autoren wie Beda Venerabilis (gest. 735), Theo­ philus Presbyter (gest. ca. 1125) oder Sicardus von Cremona (gest. 1215) betonen die abschreckende Wirkung der Höllenstrafen und die anspornende Funktion des Paradieses.134 Das Weltgerichtsbild sollte Angst einflößen, rief zur Prüfung des Gewissens und zur Buße auf und spornte dazu an, nach dem Himmel zu streben. Dabei betonen sowohl mittelalterliche Bilder als auch Texte eher die furchteinflößende Wirkung. So beschreibt etwa Hugo von Farfa in der Destructio Monasterii Farfensis ein Bild des Jüngsten Gerichts (um 890): „Dort [im Kirchenschatz des Klosters Farfa, T.B.] gab es einen derart schrecklichen Behang mit der Darstellung des Jüngsten Gerichts, dass jedermann, der es sah, alsbald von einer unglaublichen Furcht und Angst zutiefst gepackt wurde, als könne er während mehrerer Tage nicht ohne Gedanken an den Tod sein“.135 Bevor die Funktion erörtert werden kann, die Schwellenmotive in diesem Kontext und besonders im Hinblick auf die Bildbetrachter erfüllen,136 muss zunächst ein Überblick über die Motivgeschichte, Symbolik, Ikonographie und Binnenfunktionen vier verschiedener Gruppen von Schwellenmotiven gewonnen werden. Die Unterabschnitte „Motivgeschichte und Forschungsstand“ geben jeweils einen knappen Überblick über die vor- und nichtchristlichen Wurzeln des Motivs und über die Erwähnung in Schriftquellen des Mittelalters. Darzulegen ist, welche Rolle die Motive in Glaubens- und Vorstellungsentwürfen spielten. Parallel zur Motivgeschichte lege ich in diesem Punkt außerdem den Stand und die jeweiligen Interessensschwerpunkte der Forschung dar. Im jeweils zweiten Unterabschnitt werden die Symbolik und die Ikonographie der Schwellenmotive erörtert. Hier geht es um die symbolische Bedeutung, die den Schwellenmotiven im Mittelalter zukommt. Um Gemeinsamkeiten der Schwellenfunktion der Motive herausarbeiten zu können, werden Darstellungen des Jüngsten Gerichts, das Thema der Vision und die englischen Bilderapokalypsen des 13. Jahrhunderts als Schwerpunkte mehrfach herangezogen. Im dritten Unterabschnitt steht im Vordergrund, wie die Schwellenmotive das Bild strukturieren und organisieren; die Charakteristika des jeweiligen Schwellenmotivs werden hervorgehoben.

133 Z. B. Esser 1991, S. 44 (dort auch ältere Literatur); Grötecke 1997, S. 1; Christe 2001, S. 8; Dinzel­ bacher 2001, S. 108; Boerner 2001, S. 301. 134 S. Hinweise bei Christe 2001, S. 18 u. bei Boerner 2001, S. 301. 135 „[D]iei namque iudicii talis ibi erat vestis terribilis, ut quisquis eam videbat, statim timore incredibili ac pavore graviter replebatur, ita ut sine memoria mortis per plures dies esse non poterat“: Hugo von Farfa: Destructio Monasterii Farfensis, in: Il Chronicon Farfensis e gli scritti di Ugo di Farfa (= Fonti per la Storia d’Italia. Scrittori sec. IX–XII, Bd. 33), hrsg. von Ugo Balzani, Rom 1903, S. 25–51, hier S. 30. Die deutsche Übersetzung leicht modifiziert nach Brenk 1966, S. 128 f.; dort allerdings „vestis“ mit „Altartuch“ übersetzt. 136 Dazu Kapitel 4.2.

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3.1 Türen und Fenster 3.1.1 Motivgeschichte und Forschungsstand Von architektonischen Gegebenheiten abgeleitet, vermitteln Tür, Tor und Fenster auch im Bild zwischen einem Innen und einem Außen bzw. zwischen zwei Räumen oder Zuständen. Das Motiv der Tür ist in der vorchristlichen Kunst verschiedener Kulturen und Epochen vor allem mit dem Tod verknüpft: „The door is an old symbol of death, understood as a passage from one reality to another, and in this function the door has made its appearance in art since time immemorial“.137 Zu nennen sind die Scheintüren ägyptischer Grabkammern als symbolische Ausgänge sowie etruskische und römische Grabmonumente, die halboffene und geschlossene Türen zeigen, in denen oder vor denen die Verstorbenen dargestellt sind. Auch Britt Haarløv stellt fest, „that the concept is neither pagan nor Christian, but human“.138 Im Christentum bleibt die Tür weiterhin mit dem Tod und dem Übergang in eine andere Daseinsform verbunden. Im Gegensatz zu früheren Beispielen wird aber nicht eine einzige Tür mit dem Tod assoziiert; vielmehr gibt es zwei Übergänge, nämlich in den Himmel und in die Hölle.139 Ebenso wie die Tür stellt auch das Fenster eine Öffnung in Richtung Jenseits dar. In vorchristlicher Zeit diente das Fenster der „Visualisierung von Vorstellungen, die übernatürliche Vorgänge oder Zustände betrafen“.140 Während ein Türmotiv die Staffelung oder Überschreitbarkeit innerbildlicher Räume betont, fokussiert ein Fenstermotiv meist die rein visuelle Wahrnehmung, den Blick oder verschiedene Formen von Sichtbarkeit.141 Neben dem Visuellen verknüpft sich kulturell mit dem Fenster die Vorstellung von Fruchtbarkeit. Auf einer Tafel aus Nimrud (7. Jahrhundert v. Chr.) ist eine Hierodule, eine Tempeldienerin über einer Brüstung am Fenster zu sehen.142 Im Christentum ist das Fenster besonders stark mit Maria und deren Unbeflecktheit verbunden. In allen Kulturen ist die Sichtbarkeit ein Aspekt des Fensters: Wer im Fenster steht, der sieht und wird zugleich selbst gesehen. Das Gleiche gilt für die Tür – diese Gemeinsamkeit von Fenster- und Türmotiven ist in mittelalterlichen Apokalypse-Handschriften zu erkennen. Ist in Vers 4,1 der Apokalypse von einer offenen Tür im Himmel („ostium apertum in caelo“) die Rede, so tut sich in Bilderapokalypsen vor Johannes manchmal eine Tür, manchmal ein Fenster auf (s. Abb. 3), und in einigen Fällen ist keines der beiden Motive vorhanden.143

137 Białostocki 1973, S. 8. 138 Haarløv 1977, S. 9. 139 Białostocki 1973, S. 13. 140 Neuhardt 1978, S. 77. 141 Schäfer 1998, S. 143 bezieht dies auch auf nachmittelalterliche Darstellungen. 142 S. Schmoll gen. Eisenwerth 1970, S. 13 u. 14, Abb. 1; Neuhardt 1978, S. 78 f. 143 Für das Mittelalter lassen sich Tür und Fenster daher nicht so strikt trennen, wie Victor Stoichiţă das für spätere Epochen tut, wenn er urteilt: „Die Tür gehört nicht dem Bereich des Visuellen an“. Lediglich in einigen Fällen könne sie als „Pseudo-Fenster“ fungieren: Stoichiţă 1998, S. 61 f.

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Der Begriff Tür kommt mehr als 300 Mal im Alten Testament vor, am häufigsten zur Bezeichnung eines Stadttores.144 Entsprechend groß ist die Anzahl der Bildthemen, in denen eine Tür dargestellt ist. Es handelt sich um zentrale Szenen der Heilsgeschichte: die Vertreibung aus dem Paradies, das Treffen von Joachim und Anna an der Goldenen Pforte, die Verkündigung an Maria, die Heimsuchung, das Stadttor Jerusalems beim Einzug Christi und bei der Kreuztragung, die Himmelspforte des Jüngsten Gerichts und die Türen der Johannesoffenbarung, um nur die wichtigsten Szenen zu nennen. In einigen Fällen erwähnt der Bibeltext die Tür, in anderen ist sie eine Erfindung der Bildkünstler mit zum Teil langer Tradition. Wie Steffen Bogen feststellt, lässt sich „[d]ie ganze Heilsgeschichte [...] sozusagen als Drama der zugeschlagenen und nur zum Teil wieder geöffneten Türen erzählen“.145 Das Türmotiv findet sich in Szenen der Bewegung, des Kommens und Gehens, der Treffen und der Verabschiedungen. Auch das Motiv des Fensters wird im Alten Testament erwähnt. So entlässt Noah etwa den Raben durch ein Fenster der Arche, Abimelech sieht Isaak und Rebekka durch ein Fenster und als Ort der Zuschauerinnen erscheint es ebenfalls in 2. Makkabäer 3,19.146 Aus der Verbindungsfunktion von Tür und Fenster resultiert deren Ambivalenz: Sie versprechen Erkenntnisse durch die Erfahrbarkeit eines Außen oder Innen, zugleich sind sie Einlass für Bedrohliches.147 Als Schwellen zwischen innen und außen, privat und öffentlich stehen Tür und Fenster in kulturellen Zusammenhängen, welche die Forschung in den letzten Jahren verstärkt untersucht hat.148 In der kunstgeschichtlichen Forschung stehen diese beiden Begriffspaare vor allem im Kontext der Untersuchung des Bildraums.149 Die Forschung zum Motiv des Fensters konzentriert sich vorwiegend auf die Zeit nach 1400. Ausgangspunkt vieler Studien ist Leon Battista Albertis Nutzbarmachung des Fensters als Hilfestellung der Bildproduktion150 bzw. die Wechselbeziehung zwischen Fenster und Gemälde. Das 15. Jahrhundert wird als historischer Wendepunkt in der abendländischen Bildwahrnehmung und als Nährboden der Tradition des Gemäldes gesehen. So sieht Hans Belting das nach-albertinische Motiv des Fensters als „Angelpunkt in der Entwicklung des westlichen Blicks“.151 Anne Friedbergs Studie „The Virtual Window“ zu Fenstern und deren 144 Favreau 1991, S. 267. 145 Bogen 2004, S. 240. 146 „[V]irgines quae conclusae erant procurrebant ad Onian aliae autem ad muros quaedam vero per fenestras aspiciebant“; zu den Bibelstellen s. H.-J. Horn: Art. Fenster, in: RAC, Bd. 7 (1969), Sp. 732–747, hier Sp. 739 f. 147 Zu Fenstern als Einlass für dämonische oder gefährliche Elemente in Antike und Christentum: ebd., Sp. 740. 148 Zum Begriffsfeld innen/außen: Lampl 1961; Nordenfalk 1973; Ausst. Kat. Frankfurt 1998; KernStähler 2002. Zum Gegensatz öffentlich/privat: Emmelius et al. 2004. 149 Rohlfs-von Wittich 1955; Deuchler 1984; Kemp 1996; Haverkamp 1998; Kwastek 2001. 150 Schmoll gen. Eisenwerth 1970; Friedberg 1998; Schäfer 1998, bes. S. 140–149; Belting 2004 u. Friedberg 2006. 151 Belting 2004, S. 17. Auch Studien zum Motiv des Fensters in der modernen Kunst kommen anscheinend nicht ohne einen Verweis auf Alberti aus: Gundolf Winter greift in seinem Aufsatz zu den ‚Fenster-Bildern‘ Robert Delaunays ebenfalls auf das Alberti-Zitat zurück, das „für die abendländische Bildauffassung bestimmend wurde“, Winter 1984, S. 35.

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Verhältnis zu diversen Medien bis in das 21. Jahrhundert nimmt Albertis Traktat als Ausgangspunkt.152 Sie definiert das Fenster wie folgt: „it is a membrane where surface meets depth, where transparency meets its barriers. The window is also a frame, a proscenium: its edges hold a view in place“.153 In der Definition werden die mit der Wahrnehmung durch ein Fenster verbundenen Gegensatzpaare Oberfläche/Tiefe und Transparenz/Opazität deutlich – grundlegende Parameter der Schwelle als Wahrnehmungsphänomen. Als ebenso wichtiges Charakteristikum des Fensters erachtet Friedberg das ‚Festhalten‘ einer Aussicht und die dadurch implizierte Unbeweglichkeit des Betrachters. Ähnlich formuliert es Belting: „Sobald wir den Kopf aus dem Fenster strecken, verliert unser Blick seinen Halt und kommt uns der Fensterrahmen abhanden, der den Bildausschnitt aus der sichtbaren Welt ausgrenzt“. 154 Demnach hängt das Fenstermotiv eng mit dem Raum bzw. den Räumen zusammen, die im Bild konstruiert und beim Betrachten (mit)eröffnet werden. Allerdings stellt sich die Frage, welchen ikonographischen Stellenwert das Fenstermotiv vor dem 15. Jahrhundert hatte. Hängt das Motiv zu dieser Zeit ähnlich eng mit dem Blick, dem Bild und dem Raum zusammen? Studien, die sich auch mit Fenstern vor dem 15. Jahrhundert beschäftigen, legen den Schwerpunkt auf die Symbolik des Fensters: 1978 systematisiert Günter Neuhardt das Fenster nach Aspekten wie dem des Himmelsfensters und des Fensters im Traum und Carla Gottlieb beschränkt sich 1981 auf das Christentum und die Symbolik von u. a. fenestra caeli und fenestra incarnationis.155 Bemerkungen zum Fenstermotiv vor 1400 lassen sich zudem in einem weiteren Kontext finden, nämlich in Studien, die sich – ausgehend vom Rahmenfenster englischer Bilderapokalypsen – mehr oder weniger ausführlich mit dem Motiv ab der Mitte des 13. Jahrhunderts beschäftigen.156 In der kunsthistorischen Forschungsliteratur zum Motiv der Tür bis in die frühe Neuzeit lassen sich drei zeitliche Schwerpunkte erkennen: Erstens liegen Veröffentlichungen zu vormittelalterlichen und nichtchristlichen Türmotiven vor, die einleitend bereits erwähnt worden sind. Zweitens befassen sich Publikationen zum Mittelalter vor allem mit den Türen der italienischen Kunst des Tre- und Quattrocento.157 Einen dritten Schwerpunkt bilden Studien zur nordalpinen Malerei der frühen Neuzeit mit ihren Türdurchsichten und -fluchten.158 Insgesamt wird das Türmotiv ganz unterschiedlich bewertet: Für Bettina Erche und Franz Niehoff sind Türdarstellungen lediglich Ortsangaben,159 während Fenster und geöffnete 152 Friedberg 2006, S. 26–42. 153 Friedberg 2006, S. 1. 154 Belting 2004, S. 23. 155 Neuhardt 1978; Gottlieb 1981, fenestra coeli, S. 69–82 u. fenestra incarnationis S. 83–134. 156 Darauf ist später einzugehen (unten 3.1.2). Hier seien bereits die Publikationen genannt, die (mit unterschiedlicher Fragestellung) einen ähnlichen Bildkorpus verwenden: Freyhan 1955; Lewis 1995; Klein 1998; Ganz 2008. Figuren, die aus oder in Öffnungen blicken, die eigens für diesen Zweck eingerichtet scheinen, gibt es in der Skulptur schon früher: s. unten Abb. 102. 157 Z. B. Deuchler 1984; Erche 1992 (zu Architekturmotiven) erwähnt Türen nicht gesondert; Kemp 1996, 1. Teil, S. 16–86; Kemp 1998, S. 17–29 nennt das Trecento als Wendepunkt für die Innenraumdarstellung; Ratté 1999; Kwastek 2001; Lacher 2005. 158 Z. B. Gandelman 1991; Haverkamp 1998, S. 62–67; Niehoff 2001. 159 Erche 1992, S. 1; Niehoff 2001, S. 200.

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Türen nach Florens Deuchler „wichtige dramaturgische Hilfsmittel“ oder „Handlungsindikatoren“ sind.160 Katja Kwastek möchte in ihrer Untersuchung zum gemalten Raum „die Position von Innenraumdarstellungen zwischen kunstimmanenten Gesetzmäßigkeiten und realienkundlichem Aussagewert näher [...] bestimmen“;161 es geht ihr also um Bildmotive und ihre historischen architektonischen Pendants. Dabei geht sie kurz auf Fenster und Türen ein und kommt zu dem Ergebnis, dass Fenster in der italienischen Kunst des Spätmittelalters selten Handlungsträger waren, während Türen oft „unmittelbar der Erzählregie“ dienten.162 Ausführlich werden Öffnungen und Türen in Cornelia Logemanns Analyse der „Vie de Saint Denis“ aus dem Jahre 1317 in ihrer Funktion für die Bilderzählung berücksichtigt.163 Im Folgenden geht es zunächst darum, einen Überblick über einige der zentralen Themen zu gewinnen, in denen architektonische Schwellenmotive verwendet werden. Für das Fenster ist das die Visionsdarstellung, in der das Sehen und die Sichtbarkeit über das Fenster thematisiert werden. Für das Türmotiv konzentriere ich mich auf die drei Eckpunkte der Heilsgeschichte als Narrativ der Tür: Vertreibung der Ureltern aus dem Paradies, Öffnung der Paradiestür durch die Menschwerdung Christi (Verkündigung) und Eintritt der Seligen durch die Himmelspforte am Jüngsten Tag. So können einige Grundfunktionen und -kontexte erarbeitet werden, die als Basis für die zahlreichen Erwähnungen des Türmotivs in dieser Studie dienen.

3.1.2 Symbolik und Ikonographie Sowohl die Tür als auch das Fenster haben im Christentum eine symbolische Tradition. Christus und Maria, aber auch die Heiligen werden mit Schwellenmotiven in Verbindung gebracht. So bezeichnet das Johannesevangelium Christus als Tür: „Ich bin die Tür; so jemand durch mich eingeht, der wird selig werden und wird ein und aus gehen“ (Joh. 10,9).164 Inschriften an romanischen Kirchenportalen knüpfen häufig daran an.165 Das Türsymbol steht auch in Verbindung mit Maria. Sie ist die porta clausa der Inkarnation und die zweite Eva, durch die die Tür des Paradieses (porta caeli) wieder geöffnet wird.166 Ecclesia wird

160 Deuchler 1984, S. 79 u. 85. 161 Kwastek 2001, S. 11. 162 Kwastek 2001, S. 203–207, Zitat S. 207. 163 Logemann 2009, bes. S. 86, 99–105. Diese Studie bietet jenseits der genannten Schwerpunkte der Forschung einen Einblick in die Motivik zur Abgrenzung von Räumen im Bild. 164 „Ego sum ostium per me si quis introierit salvabitur et ingredietur et egredietur et pascua inveniet“. 165 Die Inschrift am Westportal von S. Giorgio al Palazzo in Mailand (ca. 1129) lautet „IANVA SVM VITE“: Kendall 1998, Kat. Nr. 13, S. 207. Ähnlich das Westportal von Sant Pau del Camp in Barcelona (vermutlich 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts): „IANVA SVM VITE // PER ME GRADIENDO VENITA“: Kendall 1998, Kat. Nr. 85, S. 241. 166 Ein bildlicher Verweis auf Maria als Tür z. B. bei Vincenzo Foppa, Maria mit Kind, um 1470 in Mailand, Castello Sforzesco: der Rahmen bezeichnet Maria als „Porta Paradisi“, das Christuskind steht auf der ‚Schwelle‘ der Rahmen-Tür.

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als Personifikation der Kirche mit der Tür assoziiert – so zum Beispiel in Bildern der Bible Moralisée.167 Die fenestra caeli ist ebenfalls mit Christus, aber besonders mit Maria verknüpft. Auch hier geht die Symbolik auf Marias Rolle als jungfräuliches Behältnis des göttlichen Logos im Kontext der Inkarnation zurück. Maria wird mit einem Glasfenster verglichen, durch das Licht hindurchfließen kann, ohne es zu verändern.168 Dementsprechend erklärt die Kunstgeschichte die Verwendung von Fenster- und Türmotiven in bildlichen Darstellungen häufig durch einen Hinweis auf die Symbolik – eine Vorgehensweise, die vor allem Erwin Panofsky in seinem „disguised symbolism“ perfektioniert hat.169 So gelangt in Verkündigungsdarstellungen das Christuskind oder ein Lichtstrahl mit der Heiliggeisttaube durch ein Fenster in Marias Zimmer und symbolisiert die unbefleckte Empfängnis.

Das Fenstermotiv in der Visionsdarstellung Nach David Ganz kann die Vision im Mittelalter als „ein Mittleres [gelten], welches den Bereich des sonst Opaken und Hermeneutischen für einzelne Menschen transparent macht“.170 Visionen vermitteln zwischen Dies- und Jenseits, und dies bedeute, „dass die Erfahrung der ‚Schau‘ sich auf der Reise durch das Diesseits an einem liminalen Dazwischen abspielt, an ausgezeichneten ‚Schwellenorten‘“.171 Es geht Ganz um die Darstellung dieses Ortes im Bild, um die bereits medialisierte Darstellung der Vision bzw. der Umstände ihrer Entstehung. Während Ganz sich also für eine Gegenüberstellung der Orte des Visionärs und der Vision und damit für ihre Differenz interessiert, möchte ich die Schwellenmotive aus dem ‚Dazwischen‘ der Orte in den Blick nehmen, und so verstärkt nach den bildnerischen Mitteln der Darstellung einer Übermittlung der Vision fragen. Nicht nur für das Wo der Vision bzw. des Visionärs, sondern auch für das Wie – die Darstellung ihrer Vermittlung bzw. ihres Empfangs – sind das Ziehen von Grenzen und das Konstituieren von Schwellen zentral. Die Pole der Opazität und Transparenz im Hinblick auf das Jenseits, zwischen denen sich die Vision nach Ganz bewegt, können ebenfalls die beiden Pole einer Schwelle bilden. Es verwundert daher nicht, dass in bildlichen Darstellungen von Visionen Schwellenmotive verwendet werden. Meistens ist es ein Fenster, das den Übergang zwischen dem Gesehenen und dem Visionär oder Träumer kennzeichnet. Das Fenster markiert den Unterschied zwi-

167 Für diesen Hinweis bin ich Silke Tammen dankbar, die mir Einsicht in den entsprechenden Abschnitt ihrer Habilitationsschrift gab (unpubl.). 168 S. Salzer 1967, S. 71–74 mit zahlreichen Quellen. Auch die Kristallvase, die etwa in Verkündigungen oft dargestellt wird, ist ein Symbol für die intakte Empfängnis und Geburt Christi durch Maria, s. z. B. in den Revelaciones der Birgitta von Schweden. 169 Panofsky 2006, Bd. 1, S. 149: Er übersetzt es als „verkleidete Symbolik“. 170 Ganz 2008, S. 12. 171 Ganz 2008, S. 12. Diese Formulierung ist etwas missverständlich, weil es ja nicht um eine Verortung des Visionärs in der Wirklichkeit geht, sondern im Bild.

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schen Diesseits und Jenseits und zugleich die wundersame Durchbrechung dieses Unterschieds, die Schaffung einer Verbindung im Medium der Vision oder des Traumes. Geht es beim Schwellenmotiv des Fensters um das Sehen, so stellt sich vor allem die Frage nach dessen Art und Weise. Fenster lassen sich bereits in der Buchkunst des frühen Mittelalters finden, wo das Motiv vor allem bei Stadtdarstellungen verwendet wird. Im Benediktionale von St. Æthelwold aus dem späten 10. Jahrhundert etwa lehnen sich Augenzeugen und Verehrer beim Einzug Christi in Jerusalem aus Fenstern, um Christus willkommen zu heißen.172 Eine wichtige Rolle spielt das Fenster zudem in Darstellungen aus monastischem Umfeld, wo es die Klausur und Zurückgezogenheit der Mönche und Nonnen unterstreicht.173 Eine ganz spezielle Bedeutung erhält das Motiv des Fensters in englischen Bilderapo­ kalypsen aus der Mitte des 13. Jahrhunderts. Die Vision des Johannes, deren Vermittlung in älteren Beispielen unter anderem durch die ungesonderte Einfügung des Sehers in sein Visionsbild oder durch die Verwendung des Schemas der Traumdarstellung verbildlicht worden war,174 ist in den Apokalypse-Handschriften mit dem Berengaudus-Kommentar in einem Rahmen platziert, in den auf einigen Blättern ein Fenster eingelassen ist, durch das der außerhalb des Rahmens stehende Seher auf seine Vision blickt.175 Dargestellt ist jenseits des Fensters das, was Johannes sieht (Abb. 3).176 Peter K. Klein hält die Verwendung des Fenstermotivs für eine „Profanisierung“ der spirituellen Vision im Vergleich zu den früheren konzeptuellen Herangehensweisen.177 Eine Veränderung hin zur stärkeren Betonung des Visuellen der Apokalypse-Vision stellt er bereits für das 12. Jahrhundert fest: In dieser Zeit zeigt Johannes gelegentlich auf seine Augen.178 Als Profanisierung fasst Klein die befensterten Apokalypsen auf, weil die Bedeutung des Fensters in der zeitgenössischen englischen Buchmalerei fest mit dem körperlichen Sehen verbunden scheint. Die Vergleichsbeispiele hierfür hatte Robert Freyhan bereits 1955 zusammengetragen. Auf den von Freyhan etablierten Bild-

172 Entstanden in Winchester 970–980: London, British Library (Ms Add. 49598, fol. 45v). In der frühchristlichen Buchmalerei s. aber auch bereits das Fenster in der Arche Noahs in der Darstellung aus dem Ashburnham Pentateuch aus dem 7. Jahrhundert: Paris, Bibliothèque Nationale (nouv. acq. lat. 2334, fol. 10v). 173 Vgl. die Darstellung des Klostereintritts der Radegundis, Poitiers, Ste Croix, ca. 1050–1100: Paris, Mediathèque F. Mitterand (Ms. 250, fol. 31v). Unten ist die Nonne in einem Fenster links neben einem Altarraum zu sehen. Hahn 2001, S. 266, Abb. 119. 174 S. Klein 1998 zu älteren Beispielen. Zum Traum, bes. zur Verwendung des Türmotivs in Traumbildern s. unten S. 63–65. 175 Den englischen Apokalypse-Handschriften ist von kunsthistorischer Seite viel Aufmerksamkeit gewidmet worden. Ausgiebig beschäftigt haben sich mit ihnen z. B. Suzanne Lewis u. Peter K. Klein. S. Nolan 1977; Lewis 1991; Camille 1992; Lewis 1995; Klein 1998; Ganz 2008, S. 189–212. 176 Thronvision, Bilderapokalypse, England, um 1250/1255. Oxford, Bodleian Library (Ms. Tanner 184, fol. 2r), 27,4 x 19,8 cm. Morgan 1988, Kat. Nr. 107, S. 69 f.; Lewis 1995, S. 343. 177 Klein 1998, bes. S. 262–269; zum „basically conceptual approach to the representation of the Apocalypse“ s. ebd., S. 258 (seine Hervorhebung). 178 Etwa im Apokalypse-Kommentar Haimo von Auxerres: Oxford, Bodleian Library (Ms Bodl. 352); Klein 1998, S. 259.

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3 Thronvision, Tanner Apokalypse, England, um 1250/1255. Oxford, Bodleian Library (Ms. Tanner 184, fol. 2r), Blatt 27,4 x 19,8 cm.

korpus wird heute noch im Zusammenhang mit den englischen Apokalypsen verwiesen.179 In einer Apokalypse-Handschrift (um 1250/1260) öffnen sich in den Türflügeln hinter dem Taufbecken, in dem Drusiana von Johannes getauft wird, mehrere Gucklöcher und Fensterchen, vor denen und in die sich verschiedene Neugierige drängen (Abb. 4).180 Auf der anderen Seite bildet eine nicht derart durch Blicke der Neugierigen „durchlöcherte“ intakte Tür eine Kontrastfolie für die Taufhandlung. Auch die „Zerstörung des Antichristen“ wird von einem durch ein Fenster blickenden Zuschauer bezeugt.181 Es irritiert, dass den heidnischen Voyeuren182 dieser beiden Szenen zum Ausdruck ihrer visuellen Erfahrung das gleiche Motiv zugeordnet wird wie dem Hl. Johannes als Ausdruck seiner Visionserfahrung – Freyhan spricht von der „transformation of the voyeur into the seer by way of the ostium apertum“.183 Dabei steht ein „unverständiger, rein äußerlicher Blick [...] zur inneren Schau des Johannes im schärfsten Kontrast“.184 Dieser Kontrast wird zwar innerhalb der Bildersequenz der Apo-

179 Die folgenden Publikationen verwenden (mit unterschiedlicher Fragestellung) den von Freyhan aufgestellten Bildkorpus: Klein 1998; Graf 2002; Ganz 2008. Freyhan verweist neben den Darstellungen der Taufe Drusianas und dem Tod des Antichristen, die jeweils von Figuren durch Fenster beobachtet werden, auf: Matthew Paris: Vie de Seint Auban, ca. 1240, Dublin, Trinity College (Ms. 177, fol. 31r), wo Alban durch ein Fenster Amphibalus beim Beten beobachtet, s. Hahn 1993, S. 158, Abb. 3. Hinzugezogen wird von Graf 2002 außerdem der Hohenlied-Kommentar des Honorius Augustodunensis, „Der himmlische Bräutigam mit himmlischer und irdischer Braut“, um 1170, München, Bayerische Staatsbibliothek (Clm. 4550, fol. 1v). Hier greift der Bräutigam durch ein Fenster die irdische Braut an der Wange, Graf 2002, Abb. 34. 180 Paris, Bibliothèque Nationale (fr. 403, fol. 1r), dazu Morgan 1988, Kat. Nr. 103, S. 63–66; s. auch Oxford, Bodleian Library (Ms Auct. D.4.17, fol. 1r), dazu Morgan 1988, Kat. Nr. 131, S. 113 f. 181 Wie oben: Bodleian Library (Ms Auct. D.4.17, fol. 7v). 182 So schon bei Freyhan 1955, S. 233, s. auch Klein 1998, S. 265. 183 Freyhan 1955, S. 233 (seine Hervorhebungen). Freyhan bezieht das Fenstermotiv auf das ostium apertum aus Off 4,1. 184 Ganz 2006 A, S. 128. Zu den mittelalterlichen Vorstellungen über verschiedene Arten des Sehens, s. unten 4.1.

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4 Predigt des Johannes und Taufe der Drusiana, Bilderapokalypse, England, um 1250/1260. Oxford, Bodleian Library (Ms. Auct. D.4.17, fol. 1r), Blatt 27 x 19 cm

kalypsen deutlich; aber es ist irreführend, wenn Klein vom Fenster als einem „Voyeurmotiv“185 spricht, da die Bedeutung des Fensters vor dem 13. Jahrhundert nicht ausschließlich durch den Vorgang des körperlichen Sehens besetzt ist – das wird deutlich, wenn man statt des unmittelbaren Kontextes der Apokalypse-Handschrift auch andere Verwendungen des Fenstermotivs berücksichtigt. Das Fenstermotiv wurde nicht systematisch entwickelt. In einer etwa zwei Jahrhunderte vor den Rahmenvisionen der Apokalypse entstandenen Miniatur wird das Fenster ebenfalls im Kontext einer Visionsdarstellung verwendet. Sie stammt aus einer fragmentarisch erhaltenen Sammlung von Tropen des 11. Jahrhunderts, dem sogenannten Hereford Troper (Tafel 1).186 Dargestellt sind auf Blatt 22 Szenen aus dem 185 Klein 1998, S. 265: „‚voyeur‘ motif“. 186 Entstanden vermutlich in Canterbury. London, British Library (Ms. Cotton Caligula A.xiv, fol. 22r), 21,6 x 15,5 cm. Dazu Temple 1976, Kat. Nr. 97, S. 113–115.

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Leben des Hl. Petrus (Apg 12,3–19). Die Miniatur ist die aufwendigste der insgesamt elf halb- oder ganzseitigen Illustrationen. Fast die Hälfte des Bildfeldes wird im oberen Register von dem Verlies eingenommen, in das Petrus von Herodes geworfen worden ist. Auf einem ummauerten Vorplatz des Kerkers schlafen zwei Wächter unter ihren Schilden vor der verschlossenen Tür. Petrus blickt aus einem Fenster des Verlieses nach rechts, wo sich ihm ein außerhalb des Bildrahmens stehender Engel zuwendet. Lediglich Kopf, Flügel und Finger des Engels überschneiden den Rahmen. Er hält eine Schriftrolle mit der Inschrift „svrge velociter“, die ebenfalls in das Bild hineinragt. In der Apostelgeschichte glaubt Petrus, Empfänger einer Vision oder eines Traums zu sein („aestimabat autem se visum videre“: Apg 12,9). Dass seine Befreiung tatsächlich stattgefunden hat, bemerkt er erst, als er zu sich kommt („ad se reversus“: Apg 12,11), und nicht nur aus dem Gefängnis entkommen, sondern bereits durch das Stadttor in die Stadt gelangt ist. Gestaffelt sind diese beiden Schritte der Befreiung im mittleren und unteren Register dargestellt, wo offene Türen den zurückgelegten Weg gliedern. Im Vergleich zu den späteren Apokalypse-Darstellungen sind die Positionen von Seher und Visionsbild also in dieser Miniatur umgekehrt: Die Erscheinung (der Engel) befindet sich außerhalb des Bildrahmens, der Sehende innerhalb desselben und zudem noch vor einem Fenster.187 Die Bildkünstler haben sich allerdings für die gleiche Kombination von außerhalb des Rahmens dargestellter Figur einerseits und Motiv des Fensters andererseits entschieden, um eine (vermeintlich) visionäre Erscheinung anzudeuten. Dabei spielt es weniger eine Rolle, dass das Fenster zur Architektur des Verlieses gehört; entscheidend ist vielmehr die Verknüpfung von Rahmenübertretung und Fenstermotiv. Im mittleren und im unteren Register, in denen die Flucht bereits gelungen ist, befindet sich der Engel jeweils innerhalb des Bildrahmens; nur ein leichtes Überschneiden des Rahmens durch seine Flügel und Gesten deuten an, dass er aus diesem Jenseits kommt und wieder dorthin verschwinden wird. Das Fenster wird also gerade in demjenigen Abschnitt der Erzählung verwendet, in dem Petrus an eine Vision glaubt, und das Aufeinandertreffen von diesseitigen und jenseitigen Figuren wird über den Bildrahmen verstärkt. Um ein Treffen unterschiedlicher Seinsbereiche zu verdeutlichen, werden sowohl architektonische als auch bildstrukturelle Schwellen funktionalisiert. Ausgiebig wird die Vielfalt der bildnerischen Darstellungsmöglichkeiten des Fenstermotivs als visionäre Öffnung in der Tat erst in den englischen Bilderapokalypsen ausgelotet. Hier beugt sich, wie von Peter K. Klein beschrieben, Johannes herab, um durch ein Fenster blicken zu können, streckt seinen Kopf ganz durch die Öffnung, klappt den Flügel eines Doppelfensters auf oder ist als Rückenfigur dargestellt.188 187 Somit widerspricht dieses Beispiel der Entwicklung, die Ganz annimmt: Seiner Meinung nach findet eine solche „exakte Umpolung von Innen und Außen“ im Vergleich zur Getty-Apokalypse erst mit der Lothringischen Apokalypse im 14. Jahrhundert statt: Ganz 2008, S. 259. Eine Doppelseite aus der Lothringischen Apokalypse wird unten analysiert (S. 81–83; vgl. Abb. 25 u. 26). 188 „John can gaze intensely or amazed through a small opening, he even sticks his head into it; he can turn the wing of a window; to have a better view of the scene represented, he bends down to the window, or sits close to the window [...]; [...] or he is seen in rear view, peeping into a kind of backdoor entrance to the picture frame“: Klein 1998, S. 265 f. Besonders ausgiebig befassen sich die Bildkünstler der

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Allerdings ist das Fenstermotiv nicht, wie man vermuten könnte, ein Spezifikum der englischen Buchmalerei. Das zeigt die Eingangsminiatur des Luccheser Liber divinorum operum der Hildegard von Bingen, entstanden in Mainz um 1230, welche die Vision der göttlichen Caritas darstellt (Abb. 5).189 Den jenseitigen und diesseitigen Bereich des größeren Visionsbildes trennt hier ein blauer Rahmen, in dem sich ein Fenster mit geöffneten Fensterflügeln befindet. Im Inneren des Fensters erscheint das gleiche Gold, das auch die Hintergründe von Visionsbild und Visionärin bildet. Umgeben ist es von einem Wolkenband, das es zusätzlich vom blauen Rahmen abhebt und diesen in Richtung des nach oben gerichteten Gesichts der Visionärin ganz ‚auflöst‘: Nur der innere, goldene Rahmen der Vision bleibt intakt. Rote, wellenförmige Strahlen verbinden das Fenster und das Gesicht Hildegards. Sie zeigen an, dass ihr das Visionsbild gerade vermittelt wird. Das Fenster kommt nicht im Visionstext vor, es ist also eine Erfindung der Bildkünstler.190 Da es auch in den folgenden Miniaturen der Luccheser Handschrift an dieser Stelle nicht mehr auftaucht, markiert es den Eintritt in die Vision. Der Anhangcharakter des Rahmens, der die Darstellung der Hildegard von Bingen umgibt (so schließt das untere Bildfeld an einer Seite mit dem blauen Rahmen des oberen ab), lässt vermuten, dass das Visionsbild vor allem an den Betrachter der Miniatur gerichtet ist – ein Eindruck, der dadurch verstärkt wird, dass das Bild im Gegensatz zum räumlich gekennzeichneten Bildfeld der Visionärin ausschließlich mit einem Goldgrund versehen ist, der den Erscheinungscharakter betont. Das Fenster im Rahmen versichert dem Betrachter der Handschrift also, dass das von ihm betrachtete Visionsbild mit dem übereinstimmt, was Hildegard wahrnimmt, und gleich weiterleitet auf ihre Wachstafel. Das Fenster ist ein Glied in der Kette der verschiedenen in der Miniatur dargestellten Medien, durch welche die Vision vermittelt wird. Sie wird geschaut, auf einem nicht-permanenten Medium festgehalten (auf der Wachstafel, die schon seit der Antike eine Metapher für die Seele ist)191, durch eine Nonne bezeugt und von Volmar im Nebenzimmer niedergeschrieben.192 Die Miniatur schildert diese Reihe medialer Vervielfältigungen in der Buchmalerei. Die Vision wird so durch die Darstellung einer unmittelbar an das Ereignis der Vision gekoppelte Medienproduktion gleich mehrmals gegen eventuelle Zweifler abgesichert.193

Perrins- Apokalypse (um 1260) mit diesen Möglichkeiten: Malibu, J. Paul Getty Museum (Ms. Ludwig III.1). 189 Dazu Suzuki 1998; Graf 2002, S. 113–122, bes. 114–118; Ganz 2006 A, S. 135–137. 190 Ganz 2008, S. 251. 191 Literatur s. auch Ganz 2006 A, S. 133. Zu weiteren Prägungsmetaphern und -vorstellungen im Bereich mittelalterlicher Wahrnehmungsvorstellungen, s. unten 4.1. 192 Volmar schreibt auch in der ersten Miniatur des Rupertsberger Scivias von um 1170/1180 die Vision nieder: ehemals in der Hessischen Landesbibliothek in Wiesbaden, seit 1945 verschollen, fol. 1r: „Die von Hildegard geschauten Visionen wurden zunächst von ihr ins Wort übertragen, dann dem Mönch Volmar diktiert und mit seiner Hilfe als Werk abgefasst“: Suzuki 1998, S. 34. Zur Augenzeugenschaft und zur Einäugigkeit der Nonne sowie der Tradition dieses Motivs, s. Graf 2002, S. 118–141. 193 Zum Legitimationsdruck s. auch Ganz 2006 A, S. 137.

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5 Vision der göttlichen Caritas, Hildegard von Bingen: Liber divinorum operum, Mainz um 1230. Lucca, Biblioteca Statale (Cod. 1942, fol. 1v), Blatt 39 x 26 cm.

Das Fenster verdeutlicht die Art der Verbindung zwischen oberem und unterem Bildfeld. Die Aufteilung in ein großes oberes und ein angehängtes unteres Bildfeld suggeriert dem Betrachter der Luccheser Handschrift die unmittelbare Wahrnehmung des Visionsbildes. Ganz hat die Gehäuse von Visionären, die „architektonischen Metaphern innerer Schau“, genauer untersucht.194 Das Gehäuse der Hildegard in der Luccheser Miniatur hat die Form eines „Appendixmotivs“195. Die Funktion dieser Form hängt eng mit der Benutzung der Handschrift zusammen: Der Betrachter kann beim Umblättern den Appendix gedanklich an die nächste Miniatur anhängen. Dieses Appendixmotiv in der Buchmalerei ist als Phänomen,

194 Ganz 2008, S. 248. 195 Begriff von Ganz 2008, S. 252, der aber nur dieses Beispiel untersucht.

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soweit ersichtlich, in der Forschung noch nicht untersucht worden.196 Im Luccheser Codex ist das Motiv eine Art Siegel, das die Vision ‚autorisiert‘ und im Hinblick auf die folgenden Miniaturen als Hinzutreten der Visionärin zu einer Sequenz von (prä-existenten) Bildern schildert: Die folgenden neun Miniaturen begleitet dementsprechend jeweils ein Porträt der Autorin, das allerdings bis auf eine Ausnahme jeweils in den Rahmen eingefügt ist.197 Es bietet sich an, im Kontext der Schriften Hildegards, die offenbar eine bildkünstlerische Auseinandersetzung mit Räumen der Vision und deren Betretbarkeit fordern, zugleich nach der Rolle des Türmotivs zu fragen. Der Salemer Scivias verwendet in den ersten Miniaturen ebenfalls Schwellenmotive am Bildrand einerseits und den Benutzerakt des Umblätterns andererseits dazu, Visionsbilder und Visionärin miteinander in Verbindung zu setzen.198 Die erste Miniatur auf Blatt 2 zeigt die Schöpfung und den Sündenfall (Abb. 6). Den rechten unteren Bildrahmen überschneidet ein Turm mit einer Tür, die nach rechts hin offen steht. Sie hat zunächst die Funktion, dem Betrachter den Einstieg in die Szene des Sündenfalls und der sich nach links anschließenden Vertreibung aus dem Paradies zu weisen und damit die ungewöhnliche Leserichtung (rechts nach links) dieser Szenen vorzugeben. Links befindet sich ein ähnlicher Turm mit geschlossener Tür, die der Engel mit seinem Schwert verriegelt. Auf der anderen Seite dieser Tür stehen die Vertriebenen, Adam und Eva. Ein Engel, der aus dem Himmelskreis um Christus herausragt, führt die gleiche Geste aus wie der Engel im Paradies und stößt mit einer langen Lanze Drachen und gefallene Engel in einen Abgrund. In der linken unteren Ecke der Miniatur treffen so Adam, Eva und der Drache aufeinander und bezeugen das Scheitern des von Augustinus geschilderten göttlichen Plans: Demnach wollte Gott mit der Erschaffung der Menschen die leeren Reihen füllen, die durch den Sturz der Engel entstanden waren.199 Stattdessen enden Adam und Eva der Miniatur nach am selben Ort wie die verbannten Engel. Die Miniatur weist damit eine hierarchische Bildstruktur auf, die auch für Darstellungen des Jüngsten Gerichts oft verwendet wurde.200 Doch die offen stehende Tür weist noch zwei weitere Funktionen bzw. Assoziationen auf. Nach dem Umblättern dieser und der folgenden Seite – einer Handlung, bei der der Benutzer mit der rechten Buchseite als Pendant zur offen stehenden Tür auch letztere gedanklich schließt – erhält er einen Blick auf einen ähnlichen Turm, diesmal als Aufriss, der dessen Innen präsentiert. Die schmale Öffnung der Turmtür hat sich auf Blatt 3 verso, der Seite des Inhaltsverzeichnisses, gewissermaßen verbreitert zur Schauöffnung (Abb. 7).201 Im unteren Bereich sitzt Volmar an einem Schreibpult, im oberen 196 Unten (S. 129 f.) ist ein weiteres Beispiel in anderem Kontext zu analysieren. 197 Graf 2002, S. 114. Ein zweites Appendixmotiv befindet sich auf fol. 121v („Die Zeit des Gesetzes“). 198 Um 1200, Heidelberg, Universitätsbibliothek (Ms. Sal. X,16, fol. 2r u. 3v). Zum Salemer Scivias und zu einer ähnlichen Miniatur im Zwiefaltener Martyrolog s. Haefeli-Sonin 1992, bes. S. 73 ff. 199 Vgl. Graf 2002, S. 233. 200 S. oben S. 34 u. 36: Unten und Links sind negativ besetzt. Normalerweise ist die Seite zur Linken Christi damit gemeint, hier die linke Seite des Bildes – das lässt vermuten, dass die Tür neben der Vorgabe der Leserichtung weitere Funktionen hat. Die Forschung hat dies m.W. noch nicht analysiert. 201 Zur Schauöffnung: Rohlfs-von Wittich 1955, S. 110. Zu fol. 2r u. 3v s. Graf 2002, S. 180–189, die zeigt, dass Hildegard hier in der ikonographischen Tradition alttestamentlicher Propheten und der Sibylle steht.

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6 Schöpfung und Sündenfall, Hildegard von Bingen: Scivias, Salem um 1200. Heidelberg, Universitäts­ bibliothek (Cod. Sal. X.16, fol. 2r).

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7 Hildegard und Volmar, Hildegard von Bingen: Scivias, Salem um 1200. Heidelberg, Universitätsbibliothek (Cod. Sal. X.16, fol. 3v).

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steht Hildegard mit Wachstafel. Die Parallele zu dem Turm des vorangegangenen Blattes macht deutlich, dass Hildegard einen Schwellenort bewohnt, der zwischen Diesseits und Jenseits liegt, so wie der Turm von Blatt 2 recto zwischen Bild und Buchseite angesiedelt ist. Die Visionärin wendet sich bereits der Miniatur auf der gegenüberliegenden Buchseite mit einer Wurzel-JesseInitiale zu, neben der eine kleine Figur eine Leiter erklimmt, die oben in einer Teufelsfratze endet und damit auf den doppelten Sturz auf Blatt 2 verweist. Turm und Tür der Miniatur auf Blatt 2 erinnern an die Rahmen-Fenster der englischen Apokalypsen, bei denen Johannes allerdings jeweils auf derselben Seite dargestellt ist. Im Salemer Scivias muss der Benutzer der Handschrift erst umblättern, um die fehlende Visionärin zu erblicken. Dabei vollzieht er zugleich performativ die Schließung der ‚letzten‘ offenen Tür zum Paradies. Die Wahl eines Türmotivs erlaubt hier – im Gegensatz zum Fenster des Luccheser Liber divinorum operum und den Fenstern der englischen Apokalypsen, die ausschließlich der Schau dienen – die Assoziation mit der Paradiespforte, die seit dem Sündenfall den Menschen (und damit auch dem Benutzer) verschlossen ist. Die Untersuchung der zwei Darstellungen aus Handschriften des Werks Hildegard von Bingens lässt bereits die Vielschichtigkeit der Funktionen von Fenster- und Türmotiven erkennen und deutet auf ihre Rolle im Bildgefüge und Mediengefüge hin.

Himmelspforte Im letzten Beispiel wurde bereits deutlich, dass die für den Betrachter entscheidende Tür die Himmelspforte ist. Der den geretteten Seelen zugängliche Eingang zum Himmel wird spätestens seit dem 11. Jahrhundert in der Buchmalerei und der Monumentalkunst des westlichen Europa als Tor oder als geschlossene oder geöffnete Tür dargestellt. Die Tür bleibt bis in das 16. Jahrhundert das für die Darstellung des Übergangs in den Himmel gebräuchlichste Motiv. Die Wahl eines architektonischen Schwellenmotivs lässt als erstes erkennen, dass der Himmel als Gebäude aufgefasst wird. Das zeigt eines der ersten Beispiele für eine Darstellung der Himmelspforte: Der Liber vitae der Abtei New Minster von Winchester, entstanden um 1031 (Abb. 8).202 Zwar ist hier kein Jüngstes Gericht mit richtendem Christus und Beisitzern dargestellt, es werden jedoch Elemente der Weltgerichtsikonographie verwendet, wie etwa der Kampf um eine Seele zwischen Engel und Teufel im mittleren Register. Die Jenseitsorte sowie ihre hierarchische Trennung durch die Bildstruktur werden hervorgehoben. Im oberen Register befindet sich die Himmelspforte. Petrus steht auf einer Treppe und hält einen großen Schlüssel, mit dem er die Tür am Ende der Treppe gerade geöffnet hat. Rechts der Tür ist eine ummauerte Stadt auf viereckigem Grundriss zu sehen, in der vier Personen Christus in einer Mandorla anbeten und zwei weitere Gesichter in den Fenstern des vordersten Turmes erscheinen. Petrus macht eine einladende Geste in Richtung der Figuren, die sich auf dem gegenüberliegenden Blatt 202 London, British Library (Ms. Stowe 944, fol. 6v–7r), Blatt 25,5 x 15 cm. Temple 1976, Kat. Nr. 78, S. 95 f. Zur Handschrift kürzlich Parker 2002. S. aber aus der Visionsliteratur auch schon die illuminierte Visio Baronti aus Frankreich, Mitte 9. Jahrhundert: Sankt Petersburg, Russische Nationalbibliothek (Cod. Lat. Oct.v.I.5, fol. 1v), wo Barontus die Himmelspforte in den Armen eines Engels passiert.

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8 Jüngstes Gericht, Liber vitae, New Minster, um 1031. London, British Library (Ms. Stowe 944, fol. 6v–7r), Blatt 25,5 x 15 cm.

befinden (fol. 6v). Dieses Blatt ist nicht komplett mit Zeichnungen versehen und nicht umrandet. Oben lenken Engel die Aufmerksamkeit zweier Gruppen, die aus Mönchen und Laien bestehen, auf das Himmlische Jerusalem. In der Mitte des Blattes sind am rechten Rand ein Bischof mit Kreuzesstab und sein Begleiter dargestellt. Der Rest des Blattes ist leer, bis auf den später hinzugefügten Namen des Bischofs, Ælgarus, der sich vermutlich auf Æthelgar bezieht, der von 964 bis 988 Abt von New Minster war.203 Der Liber vitae versammelt auf mehreren Seiten Namen von Mönchen der Abtei und mit dieser verbundenen Personen zur Berücksichtigung in der Messe. Auch wird die Hoffnung genährt, dass die hier zusammengetragenen Namen sich am Jüngsten Tag im Buch des Lebens eingeschrieben finden. Das Türmotiv ist hier also unter dem Aspekt der Verheißung zu sehen. Die Figuren auf fol. 6v befinden sich in einer Art Zwischenzustand: Auf individuellen Boden- oder Wolkeninseln und im Vergleich zur gegenüberliegenden Seite in keine festen Rahmenstrukturen eingefügt, sind sie nur über die Gesten der Engel und des Paulus mit der Himmelsstadt verbunden. Gleichzeitig lassen die leeren Reihen dem Betrachter Raum, sich selbst hier zu imaginieren. Während im Liber vitae der Himmel dargestellt ist, belassen es die Bildkünstler in den meisten Beispielen bei der Himmelstür, die oft detailliert mit Beschlägen, Türring oder Schloss wiedergegeben wird. Eine Handschrift aus dem späten 11. Jahrhundert bildet Christus in einer Mandorla auf einer Turmstruktur ab (Tafel 2).204 Die ‚Stockwerke‘ des Turmes werden von den Evangelistensymbolen besetzt. Rechts und links von Christus sitzen Apostel. Die Himmelstür ist in die Seite des Turmes eingelassen. Das Innere der Tür ist gelblich ausgemalt und verweist damit auf das Licht des Himmels. Ein Engel hält das Türblatt umfasst und 203 Parker 2002, S. 13 f. 204 Jüngstes Gericht, Psalter, Reichenau, spätes 11. Jahrhundert. Karlsruhe, Badische Landesbibliothek (Cod. Aug. Perg. 161, fol. 168r), Blatt 27,1 x 19,6 cm.

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überbrückt den Raum zwischen dem Steinboden, auf dem sich die geretteten Seelen befinden, und der Tür im Turm. Auch in dieser Miniatur deutet die Tür auf ihr Dahinter, teilt Charakteristika des himmlischen Ortes. Mehrere Darstellungen von Himmelspforten weisen durch bestimmte malerische Mittel auf das Licht hin. In einer Pariser Handschrift von 1295 etwa ist der richtende Christus im oberen Register mit einem Goldgrund hinterfasst, der sich nur in der Türöffnung der Himmelpforte im unteren Register wiederholt (Tafel 3).205

Die Tür in Bildern der Verkündigung Heilsgeschichtlich vorbereitet wird die Öffnung der Himmelspforte im Moment der Verkündigung der Geburt Christi an Maria. Mit der Verkündigung endet die Zeit des Gesetzes und beginnt die Zeit der Gnade, ein neuer Abschnitt der biblischen Erzählung: das Neue Testament. Sie ist also janusköpfig nach vorne und nach hinten zugleich gerichtet; ihr kommt die Funktion einer Schwelle zu. Zudem werden hier weitere Koordinaten der Schwelle deutlich: Durch die Verkündigung verwandelt sich Sprache in Körper (Verwandlung), und ein elementarer Aspekt der Verkündigung ist die Kommunikation, zentriert um den Dialog zwischen Engel und Jungfrau (Vermittlung). Als ‚zweite Eva‘ öffnet Maria die verschlossene Paradiespforte und macht deren Überquerung für die Menschen wieder möglich (Verheißung). Die Szene der Verkündigung bietet also mehrere bereits erzählerisch bedingte Stellen für Schwellenmotive. Die Darstellung des Raumes in Bildern der Verkündigung hat schon früh die Aufmerksamkeit der Kunsthistoriker auf sich gezogen. Türen und Fenster werden allerdings nicht analysiert; vielmehr geht es um Symbolik, Ikonographie, oder Realienkunde.206 Jeanne Vilette und John R. Spencer haben sich mit der Frage beschäftigt, wann und wo die Verkündigung stattgefunden hat.207 Erst in jüngerer Zeit sind Schwellenmotive unter anderem im Rahmen von Untersuchungen zur linearen Perspektive im späteren Mittelalter in den Blickpunkt gerückt.208 Bereits 1990 hat Georges Didi-Huberman darauf hingewiesen, dass „jene halbgeschlossenen Türen und Fenster [der Verkündigung, T.B.] [...] eine eigene Untersuchung verdienten“.209 Diesem Desiderat sucht Nadja Wiesener in ihrer Dissertation mit dem Titel „Die Schwellen in der Verkündigungsdarstellung des 15. Jahrhunderts nachzukom­ men“.210 Wie die meisten Publikationen konzentriert sie sich auf das im Hinblick auf Verkündigungsbilder ergiebige Quattrocento,211 zeichnet einleitend aber auch die Entwicklung der Verkündigungsdarstellung vom 13. bis ins 15. Jahrhundert nach. Wieseners Ziel ist es, 205 Somme le Roi, Paris, 1295. Paris, Bibliothèque Mazarine (Ms. 870, fol. 44v), Blatt 19,4 x 13,3 cm. 206 So z. B. bei Robb 1936; Vilette 1940; Spencer 1955; Lüken 2000 aus realienkundlicher Perspektive. 207 Vilette 1940; Spencer 1955. 208 Arasse 1999; Marin 2004. 209 Didi-Huberman 1995, S. 145. 210 Wiesener 2000. Sie zitiert Didi-Huberman zwar mehrfach, erwähnt das von ihm aufgestellte Desiderat aber nicht. 211 Robb 1936; Vilette 1940 zu italienischen Verkündigungen des 15. Jahrhunderts; Spencer 1955; DidiHuberman 1995 zu Fra Angelico (15. Jahrhundert); Arasse 1999 zu den italienischen Verkündigungen des Spätmittelalters; Marin 2004, S. 167–223 zu toskanischen Verkündigungen des 15. Jahrhun-

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die Verkündigungsdarstellung als „Mittel zur Unterweisung von Frauen“ zu untersuchen.212 Ihre Hauptthese bezieht sich auf die Vorbildfunktion Marias, die in den Bildern als nicht vom Fenster abgelenkt, als zurückgezogen lebend und sich von Schwellen fern haltend dargestellt wird.213 Die Schwellen werden nicht überschritten und gelten nach Wiesener daher als Zeichen der Enthaltsamkeit, Jungfräulichkeit und Bescheidenheit Marias. Mit welchen Mitteln das Bild diese didaktische Aufgabe erfüllt, bleibt allerdings offen.214 Wie Didi-Huberman und Marin betonen, besteht ein besonders interessantes Element der Verkündigung in dem von der Botschaft des Engels und vom Logos durchquerten Zwischenraum, dem „Entre-deux“, dem „Dialograum“, dem „Intervall“.215 Eben an dieser Stelle bildlicher Darstellungen finden sich häufig Schwellenmotive. Die Verkündigungsdarstellungen lassen sich nach dem Aspekt der Platzierung der Schwellenmotive in drei Gruppen aufteilen: Die Darstellungen der Verkündigung ab dem 13. Jahrhundert bringen erstens den Engel oder zweitens Maria mit einer Schwelle in Verbindung, oder – drittens – das Schwellenmotiv ist zwischen ihnen platziert. Da die Erzählung des Lukas-Evangeliums (1,26–38) keine Tür erwähnt, wird lediglich durch den Eintritt des Engels („ingressus angelus“) ein Übergang impliziert, der ein Innen-Außen-Schema der bildlichen Darstellung und eine Verknüpfung des Engels oder Maria mit der Schwelle nahelegt. Die erste Variante besteht also darin, den Engel mit der Schwelle zu assoziieren. In der Verkündigungsszene von Duccios Maestà (1308–1311) befindet sich der Engel unter einem Torbogen (Abb. 9). Aber auch Maria steht in einer Art Vorhalle. Hinter ihr steht eine Tür halb offen – ein Motiv, mit dem Duccio nach Wiesener „Parameter der Verkündigungsdarstellung fest[legt, T.B.]“.216 Auch im Stundenbuch der Jeanne d’Evreux (1324–1328) befindet sich der Engel zwischen dem Draußen und dem Drinnen, die durch eine unterschiedliche Bodendarstellung gekennzeichnet werden.217 Eine Darstellung des Engels auf der Schwelle deutet erstens auf sein Ankommen hin. Oft gibt es im Bild Spuren der gerade abgeschlossenen Bewegung: Der Mantel des Engels liegt noch auf einer höheren Stufe hinter ihm (s. Tafel 4), oder Teile seiner Flügel ragen noch in den hinter ihm liegenden Raum hinein (s. Abb. 12).218 Kemp nennt dies ein „retentionales Moment, das vom Davor, von der Reise spricht“.219 Das Verweilen auf der Schwelle weist zweitens darauf hin, dass der Engel derts. – Lüken 2000 bildet insofern eine Ausnahme, weil er den deutschen Sprachraum behandelt, allerdings ebenfalls im späten Mittelalter. 212 Wiesener 2000, S. 2. 213 Wiesener 2000, S. 125–161. 214 Sie führt keine Quellen an, die eine direkte Vorbildfunktion eines Verkündigungsbildes für eine Frau nachweisen würden, sondern urteilt generell: Verkündigungsdarstellungen hätten z. B. als „Erklärung für junge Mädchen [fungieren können, T.B.], warum sie ‚eingeschlossen‘ werden mußten“: Wiesener 2000, S. 133. Während der zweite Teil der Arbeit daher weniger überzeugt, trägt der erste Teil einen nützlichen Bildkatalog zusammen und enthält aufschlussreiche Beobachtungen zu Schwellenmotiven und Schemata der Verkündigungsdarstellung. 215 Marin 2004, S. 200. Zum „entre-deux“ auch Didi-Huberman 1995, S. 155. 216 Wiesener 2000, S. 9. 217 New York, Metropolitan Museum of Art, Cloisters Collection (Ms. 54.1.2, fol. 16r). 218 Zu den Spuren s. Marin 2004, S. 199. 219 Kemp 1996, S. 151 (im Kontext einer Heimsuchungsdarstellung).

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9 Duccio di Buoninsegna, Verkündigung von der Vorderseite der Maestà, Siena, 1308–1311. Siena, Opera del Duomo.

ein ‚Schwellenwesen‘ ist: „als rätselhafter Überschreiter von Schwellen bewirkt der Engel die Lokalisierung des Nichtumschreibbaren, welches die Unendlichkeit Gottes im Körper der Jungfrau ist, durch ein Sprach-‚Spiel‘ zwischen Stimme und Ohr, unsichtbar, auf der Grenze zwischen Innen und Außen“.220 Der Engel ist ein Wesen zwischen Diesseits und Jenseits, „weder hier noch da; [...] weder das eine noch das andere“.221 Dieser Status ermöglicht es dem Engel, eine Botschaft zu überbringen, die zwischen Wort und Fleisch angesiedelt ist: „Durch ihre Bewegung entwirft die Figur des Engels den raumzeitlichen Rahmen der Mitteilung des Geheimnisses: Überwindung der endlos unendlichen vertikalen Distanz, die den Himmel (Gott) von der Erde (Nazareth) trennt, und zugleich ‚horizontales‘ Überschreiten der Schwelle von Marias Haus“.222 Kosmologische und architektonische Ordnung werden über die Schwelle miteinander verknüpft. In der Topographie eines Verkündigungsbildes verdeutlicht das Schwellenmotiv diese Bewegung des Engels und lässt die Ambiguität der Schwelle verschmelzen mit derjenigen der Botschaft. Eine zweite Darstellungsweise, die auf eine längere ikonographische Tradition zurückgeht, besteht darin, Maria mit der Schwelle zu assoziieren. In byzantinischen Beispielen wird sie sitzend oder stehend von der Tür oder vom ganzen Haus gerahmt.223 Das Haus hinter Maria deutet auf den Ort hin, an dem sie nach dem Lukas-Evangelium der Engel erreicht. Mit dieser ‚historischen‘ Tür ist die Paradiespforte verwandt, deren Überquerbarkeit der Moment der Verkündigung verheißt. So befindet sich zum Beispiel auf der Hildesheimer Bronzetür (um 1015) hinter Maria eine halboffene Tür (Abb. 1). In der italienischen Kunst 220 Marin 2004, S. 176. 221 Turner 1989 A, S. 95. 222 Marin 2004, S. 194. 223 Z. B. Verkündigung in drei Szenen, 12. Jahrhundert, Paris, Bibliothèque Nationale (Ms. Gr. 1208), Abb. 47–49 in Didi-Huberman 1995, S. 125.

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10 Petrus Christus (oder Hubert van Eyck?), sog. Friedsam-Verkündigung, Mitte 15. Jahrhundert. New York, Metropolitan Museum of Art (Inv. Nr. 32.100.35), 78,7 x 65,7 cm.

des 12. und 13. Jahrhunderts überwiegt diese Darstellungsweise ebenfalls.224 Ein spätes Beispiel dieser Form der ‚Schwellen-Maria‘ macht die Assoziation mit der Paradiesestür besonders deutlich: Die sogenannte Friedsam-Verkündigung aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, die ­Pe­trus Christus oder Hubert van Eyck zugeschrieben wird,225 zeigt Maria auf der Schwelle eines ­Kirchenportals (Abb. 10). Auf der Stufe vor ihr ist die Inschrift „REGINA CELI LET(ARE)“ zu lesen. Nach Panofsky entstammt diese Formulierung einer Hymne, die zu Ostern gesungen wurde.226 Kontrastiert wird der Kirchenbau mit einer bröckelnden Mauerruine im Hintergrund, die den Wechsel vom Alten zum Neuen Bund verdeutlicht. Eine Nische mit Sockel über dem Portal ist leer; vermutlich deutet sie auf den kommenden Christus hin. Panofsky sieht das Gemälde in der ikonographischen Tradition dieser Darstellungsweise: „The shrine of the Virgin, originally framing or foiling rather than actually enclosing the figure, developed gradually into a full-sized, emphatically three-dimensional, and richly ornamented building“.227 In einem drei Jahre später erschienenen Aufsatz hebt er erneut die Entwicklung hervor, „at the beginning of which the Virgin was not yet really ‚in the building‘, but stood either at its door (‚framed‘), or in front of it (‚foiled‘)“.228 Auch wenn die Friedsam-Verkündigung ein ungewöhnliches Beispiel ist und sich daher nicht generell von einer Entwicklung sprechen lässt, so 224 Z. B. Porta San Ranieri des Pisaner Doms um 1180, Abb. in: Gramaccini in Ausst. Kat. Frankfurt 1998, S. 96; Coppo di Marcovaldo, Madonna mit Kind, mit Szene der Verkündigung, den drei Marien am Grab und Heiligen, ca. 1260, Santa Maria Maggiore, Florenz, Abb. in: Ausst. Kat. Washington 2002, S. 46; Greve Meister, Madonna mit Kind, mit Szene der Verkündigung, ca. 1260, Florenz, Galleria degli Uffizi, Inv. 1890 Nr. 9494, Abb. in: Ausst. Kat. Washington 2002, S. 46. 225 New York, Metropolitan Museum, Inv. Nr. 32.100.35; zur Problematik der Zuschreibung s. Panofsky 1935; Panofsky 1938; Panofsky 2006, Bd. 1, S. 120 u. 141. 226 Panofsky 1935, S. 438. 227 Panofsky 1935, S. 441 f. 228 Panofsky 1938, S. 420.

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wird doch die Essenz dieser Darstellungsweise deutlich: Die Figur Mariens ist eng mit der Tür verbunden, die Schwelle ist ihr Ort. Das Motiv eines Maria umgebenden Hauses oder einer Tür weist auf ihre Rolle als Empfängerin oder ‚Behältnis‘ Christi hin, d. h. die Architektur kann, ähnlich wie bei den Visionsdarstellungen mit ihren „Metaphern innerer Schau“,229 auf ihr Inneres verweisen, das ‚Haus Christi‘. In einer Nische des Portals stehen in der FriedsamVerkündigung demnach auch Lilien als Zeichen ihrer Unbeflecktheit. Es ist allerdings der Zwischenraum auf der Bildebene zwischen dem Engel und der Jungfrau, der die Künstler am meisten beschäftigt hat, und dessen Erkundung besonders im ­Italien des 14. und 15. Jahrhunderts interessante Positionierungen von Schwellenmotiven hervorgebracht hat. Didi-Huberman hat bereits gezeigt, dass die sich so oft auf der Bildebene zwischen Gabriel und Maria befindende Säule „nicht bloß als Stütze des Gebäudes der ­historia“ fungiert, sondern „ein emblematischer Ort des Mysteriums“ ist.230 Viele Verkündigungsmaler malen sie weiß und rot, um auf die zweifache Natur Christi hinzuweisen.231 In dieser Darstellungsweise der Verkündigung erlangt das, was der Blick des Betrachters scheinbar zufällig streift, wenn er von einer Figur zur anderen schaut, zentrale Bedeutung aus dem Mysterium der Inkarnation. In Verkündigungsdarstellungen vom Ende des 14. Jahrhunderts und aus dem 15. schiebt sich neben der allgegenwärtigen Säule oft eine Tür ins Bild. Im Verkündigungsgemälde des Meisters der Madonna Straus befindet sich zum Beispiel an der Rückwand des Kastenraumes eine Tür, deren rechter Flügel offensteht (Abb. 11). Der Ring des rechten Türflügels und der Schwellbalken stechen durch ihre Helligkeit sofort ins Auge und stehen im Gegensatz zur Dunkelheit, die sich hinter der geöffneten Tür ausbreitet. Der Lichtstrahl mit der Heiliggeisttaube, den Gottvater aussendet, wird durch ein rundes Fenster in der Mitte der Raumdecke geleitet. Der Türring wiederholt die runde Form und liegt auf der zweiten Achse der Verkündigung, derjenigen zwischen den Händen des Engels und Maria. Die transversale und diagonale Achse der Botschaft werden so beide durch ein rundes Öhr ‚gefädelt‘ und verweisen auf die Empfängnis. Obwohl sich also die Tür perspektivisch gesehen tiefer im Raum befindet als Maria und der Engel, ist die Richtung der Vermittlungsleistung des Motivs immer auch die eines Nebeneinander: Die Tür mit Türring vermittelt auf der transversalen Achse zwischen Engel und Maria, so wie das Fenster in der Visionsdarstellung Hildegards zwischen Visionärin und Vision vermittelt. Der sich ‚hinter‘ der Tür vermutlich befindende Raum bleibt in diesem Bildbeispiel einer Verkündigung im Dunkeln. Was jedoch hinzukommt, ist die Verheißung eines ‚Dahinter‘, der Aspekt der Verborgenheit. Der Raum der Verkündigung ist ein speziell für dieses geheimnisvolle Thema, für diese Erzählung eingerichteter Raum, dessen Grenzen durch Elemente ins Schwanken gebracht werden, die nichts Logisches, Einheitliches oder Natürliches an sich haben.232

229 Ganz 2008, S. 248. 230 Didi-Huberman 1995, S. 155. 231 Zu den verschiedenen Bezügen s. Didi-Huberman 1995, S. 156. 232 Zum eingerichteten Raum der Erzählung s. Kemp 1996, S. 9–11; zum „Zittern der räumlichen Grenzen“: Didi-Huberman 1995, S. 147.

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11 Meister der Madonna Straus, Verkündigung, ca. 1395–1405. Florenz, Galleria dell’Accademia, Inv. 1890 Nr. 3146, 212 x 219 cm.

Ein aufschlussreicher Aspekt des Türmotivs eröffnet sich also dort, wo es in die Tiefe führt und zugleich auf der Bildebene zwischen Maria und dem Engel liegt. Diese Gerichtetheit auf zwei orthogonal zueinander stehenden Achsen wird dann möglich, wenn das Bild den Tiefenraum nutzt. Ein weiteres Beispiel dafür ist die Verkündigungstafel Fra Angelicos aus Cortona (Abb. 12). Hier gesellt sich zu der Säule, die sich zwischen dem Engel und Maria befindet, und über die hinweg sich deren Dialog bewegt, eine Tür, durch die ein Bett zu sehen ist. Der rote Vorhang des Bettes ist zurückgezogen und gibt durch einen Spalt den Blick auf das Dunkel dahinter frei. Elemente perspektivischer Nähe und Ferne verdichten sich zwischen dem Engel und Maria auf der Bildebene (Säule, Türrahmen, Bettvorhang, Bettinneres). Auf der Bildfläche befindet sich zwischen dem Finger des Engels und dem dunklen Spalt des Inneren des Bettes nur ein schmales Stück des roten Vorhangs; die Finger seiner linken Hand schließen sich, als befände sich der Vorhang hier und als zöge er ihn

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12 Fra Angelico, Verkündigung, ca. 1432–1434. Cortona, Museo Diocesano (Inv. Nr. 28A), 150 x 180 cm.

zurück. Zwischen dem Hinterzimmer und der Figur der Maria besteht eine Übereinstimmung: Der Vorhang hat dieselbe Farbe wie ihr Kleid. „Tropologisch wurde das Bett mit dem ‚inneren Menschen‘ gleichgesetzt“ und gilt als „Ort des Gewissens“;233 im Zusammenhang mit Maria verweist es auf Empfängnis und Geburt. Gewissermaßen stellvertretend für Maria wird an der Relation zwischen Engel und Vorhang das Paradoxon des Berührens und gleichzeitigen Unberührt-Lassens verdeutlicht. Die dazu führende Betrachtung beruht darauf, dass der Betrachter zwischen der Wahrnehmung eines Nebeneinander von Bildelementen in der Fläche und ihres Verhältnisses im Tiefenraum hin- und herschaltet.234 Otto Pächt hat dieses Phänomen der Tiefen- und Flächenwahrnehmung die „Doppel­ wertigkeit der projektiven Form“ genannt: „In jeder Projektion eines Gegenstandes steckt ein Raumillusionswert, die Gegenstandssilhouette enthält aber zugleich auch einen reinen Flächenwert“.235 Ausgehend von dieser Feststellung hat Bogen eine „Bildargumentation, bei der die Trennung von Gegenständen im Bildraum als Tarnung für eine Berührung von Formen in der Bildfläche benutzt wird“, anhand konkreter Beispiele untersucht.236 Er folgert: „Ein solches Versteckspiel scheint mir mit der Eroberung einer tiefenräumlichen Bilddimension innerlich verbunden und nicht erst nachträglich einer bestehenden perspektivischen

233 Bogen 2001, S. 76 mit Hinweis auf Karin Lerchner: Lectulus floridus. Zur Bedeutung des Bettes in Literatur und Handschriftenillustration des Mittelalters, Köln 1993. Zum Bett in Vision und Traum s. auch Ganz 2006 A, S. 115–118. 234 Als späteres Beispiel wäre etwa die Cestello-Verkündigung Botticellis zu nennen (1489‒1490, Florenz, Galleria degli Uffizi, Inv. 1890 Nr. 1608). Auf der Bildfläche scheint der Engel hier eine Schiebetür beiseite zu schieben, die im Hintergrund den Ausblick auf einen hortus conclusus und eine entfernte Landschaft mit Brücke freigibt. Wie bei Fra Angelico wird hier, indem der Engel die Schwelle berührt, auf der Bildfläche an einem Ort ‚gerührt‘, der für das unbefleckte Innere der Gottesmutter steht. 235 Pächt 1977, S. 21. 236 Bogen 1999, S. 53.

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13 Domenico Veneziano, Verkündigung (Predellentafel), 1445. Cambridge, Fitzwilliam Museum (Inv. Nr. 1106), 27,3 x 54 cm.

Bildkunst aufgeprägt worden zu sein“.237 Die Motivgeschichte der Tür stützt die These Bogens: Hier ist es im Wesentlichen zuerst die Ebene des Nebeneinander, auf der das Motiv der Tür vermittelt, und die bei der Erkundung der Tiefendimension in den Verkündigungsbildern weiterhin wichtig bleibt. Das Motiv der Tür vermag auch auf andere Art und Weise die Gleichzeitigkeit entgegengesetzter und paradoxer Impulse zu vermitteln. Nicht nur Abstandswahrung bei gleichzeitiger Überschreitung oder Berührung bei gleichzeitiger Wahrung der Unberührtheit spielen eine Rolle, sondern auch eine „Kombination aus graphischen Zeichen der Offenheit (zum Beispiel eine Tür oder ein Fenster, deren Flügel aufgestoßen waren) und farblichen Zeichen der Geschlossenheit, die durch eine Art chromatische Verstopfung hervorgebracht wurde“.238 Die extremste Form, „den Raum nur auf das Zeichen seiner eigenen Geschlossenheit hin“ zu öffnen,239 zeigt eine besonders häufig untersuchte Gruppe florentinischer Gemälde aus der Mitte des 15. Jahrhunderts.240 Das auffälligste Bild dieser Gruppe ist eine Verkündigung von Domenico Veneziano, das Mittelbild der Predella des Retabels von Santa Lucia (Abb. 13). Gabriel und Maria stehen sich in einem Innenhof gegenüber, der sich in der Mitte über einen Torbogen zu einem Garten öffnet. Rechts und links des Torbogens befinden sich zwei vergitterte Fenster, deren Schwärze nicht glauben lässt, dass sie offen stehen. Die zentrale Tiefenachse läuft über einen Weg durch diesen Garten auf eine umrankte, verriegelte Tür in 237 Bogen 1999, S. 53. Meines Wissens sind Verkündigungsdarstellungen in dieser Hinsicht noch nicht untersucht worden, obwohl sie, wie hier deutlich wird, ein ergiebiges Thema darstellen. 238 Didi-Huberman 1995, S. 135. 239 Didi-Huberman 1995, S. 146. 240 Spencer 1955; Arasse 1999, S. 19–57; Marin 2004, S. 197–223. Diese Bilder sind so oft untersucht worden, weil die Autoren in ihnen (besonders im als ‚Urbild‘ angesehenen verlorenen Bild von Masaccio) die ersten Schritte in der Entwicklung der Zentralperspektive sehen.

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einer von Zinnen bekrönten Mauer zu. Der Fluchtpunkt liegt knapp oberhalb des hölzernen Riegels der Tür, der proportional unwahrscheinlich groß ausfällt. Auf der Höhe der Tür schneiden sich die zentrale Achse der Tiefenräumlichkeit und die transversale Achse der Kommunikation zwischen Engel und Maria. Während Spencer das Schwellenmotiv in diesem Bild und auch diejenigen in den vergleichbaren später entstandenen Bildern (Fra Angelico, San Marco Florenz; Piero della Francesca, Perugia) mit keinem Wort erwähnt, liefert es den Schlüssel für Marins Unter­ suchung. Marin hat das Bild als „paradigmatisches Beispiel für die Figurabilität des Verkün­ digungsgeheimnisses durch die Chiffre des perspektivischen Dispositivs“ bezeichnet.241 Die Tür erlaubt es, das Verborgene – das Inkarnationsmysterium – als Verborgenes zu zeigen.242 Die perspektivische Darstellung erlaubt hier, den Zwischenraum des Mysteriums zwischen Maria und Gabriel auf einen Zwischenpunkt zuzuspitzen. Die Predigt De triplici Christi nativitate Bernhardins von Siena (verfasst zwischen 1440 und 1444) beschreibt die Inkarnation als Moment, in dem „das Unerzählbare in die Rede, das Unerklärbare in die Sprache, das Unbegrenzte in den Raum, das Unsichtbare in das Sichtbare“ kommt.243 Die Tür ist demnach in Venezianos Bild zugleich Fokal- oder Endpunkt der Perspektivlinien und der Punkt, an dem der Einbruch des Unbegrenzten figuriert wird.

3.1.3 Die Tür im Dienst der Bilderzählung Neben Symbolik und Ikonographie von Fenster- und Türmotiven ist die Funktion des Türmotivs in der Bilderzählung244 zu untersuchen. Zu diesem Zweck werden zunächst zwei Miniaturen mit Darstellungen der Parabel des armen Lazarus und des reichen Mannes (Lukas 16,19–31) analysiert. In der Parabel geht es um die Gegenüberstellung von Jenseitsorten und die Umkehrung von irdischen Innen-Außen-Verhältnissen. Ihre bildliche Darstellung verspricht also aufschlussreich zu sein im Hinblick auf die Frage, welche Rolle die Tür bzw. topologische Strukturen im Mittelalter für die Bilderzählung spielen. Im Echternacher Evangeliar (um 1045; Tafel 4) ist die Darstellung der Parabel auf drei Register verteilt.245 Im oberen Register ist der reiche Mann in seinem Haus beim Festmahl zu sehen; Lazarus steht vor der geöffneten Tür. Innen- und Außenraum sind durch eine unterschiedliche Farbgebung gekennzeichnet, die sich sowohl im Hintergrund des Bildfeldes als auch im Bodenbelag zeigt. Die Tür auf der Rückseite des Hauses bildet den Kernpunkt der 241 Marin 2004, S. 197. 242 S. Marin 2004, S. 201. 243 „[I]nenarrabilis in sermonem, inexplicabilis in linguam, incircumscriptibilis in locum, invisibilis in visionem“, in: Bernhardin von Siena: De triplici Christi nativitate, Sermo III der Sermones „De tempore“, in: Opera omnia, hrsg. von P. Augustini Sépinski, Bd. 7, Florenz 1959, S. 31–49, hier Art. II, S. 39. 244 Zur Bilderzählung s. Kemp 1987; Kemp 1994 B; Kemp 1996; Figge 2000; Ausst. Kat. Berlin 2005. Spezifisch zum Motiv der Tür in der Bilderzählung: Bogen 2004 (zu diesem Aufsatz ausführlich unten 6.1.2). 245 Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum (Hs. 156142, fol. 78r). Zur Handschrift: Kahsnitz/Mende/ Rücker 1982; Grebe 2007.

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Erzählung. Sie ist Ort der Bitte Lazarus’ um die Krümel, die vom Tisch des reichen Mannes fallen (Lukas 16,21), und Ort ihrer Ablehnung durch den reichen Mann. Genau auf der Schwelle befinden sich die in der Bibel erwähnten Hunde und strecken ihre Zungen nach Lazarus aus („sed et canes veniebant et lingebant ulcera eius“: 16,21). Lazarus, der sich gebeugt genähert hat, greift nach dem Türring, oder aber – das ist nicht ganz deutlich – er macht eine bittende Geste mit seiner Hand, welche die offene Tür überschneidet. 246 Die Distanz zwischen dem reichen Mann, dessen Tisch an der gegenüberliegenden Seite des Raums steht, und Lazarus lassen schon das Ergebnis des Gesuchs vermuten, das durch die ablehnende Geste des Reichen besiegelt wird. Die Mittlerrolle wird von einem Bediensteten eingenommen, der gerade ein weiteres Gericht serviert und damit auf den im Bibeltext erwähnten Überfluss im Hause hinweist. Dass die Tür im oberen Register das zentrale Motiv der Erzählung bildet, lässt sich auch daran erkennen, dass sich unter ihr auf der vertikalen Achse die Kernmomente des Ausgangs der Geschichte befinden. Im mittleren Register unter der Tür sitzt die Seele Lazarus’ auf Abrahams Schoß, im unteren Register auf derselben Linie befindet sich die Seele des reichen Mannes in der Hölle. Die Tür entscheidet gewissermaßen das Schicksal der Protagonisten, weil sie im ersten Bild zwischen ihnen bleibt. Das Türmotiv zeigt auf der Erzählebene einerseits als verbindendes Element an, dass eine Kommunikation zwischen den dies- und jenseits von ihr positionierten Figuren stattfindet. Andererseits verdeutlicht es eine hierarchische Trennung zwischen dem Reichen und Lazarus. Die Hierarchie wird in den unteren Registern umgekehrt und zugleich in die Vertikale verlegt; die Registerunterteilung übernimmt die Gegenüberstellung der Jenseitsorte.247 Während das Türmotiv immer die Möglichkeit einer Überschreitung enthält – diese nicht anerkennen zu wollen, scheint in der Tat der schicksalshafte Fehler des Reichen zu sein –, betont die Trennung der Register durch den Rahmen den Unterschied der beiden Jenseitsorte. Obwohl eine visuelle Kommunikation noch möglich ist, steht die Position der beiden Hauptfiguren im Jenseits unveränderbar fest. Das Motiv der Tür wird schon früh dazu verwendet, Szenen miteinander zu verbinden oder überhaupt eine Handlung anzuzeigen. Beispiele hierfür liefern die von Bogen als „Auftragsträume“ bezeichneten Traumszenen,248 von denen sich eine im Evangeliar von Echternach findet. Darin sind auf Blatt 19 der Traum Josefs und die Flucht nach Ägypten dar­ gestellt (Abb. 14). Links liegt Josef in einem Gebäude; ein Traumbote schwebt über seinem Bett. Rechts befindet sich die Heilige Familie auf der Flucht: Das hintere Bein des Esels überschneidet gerade noch den offenen Türflügel des Hausanbaus. Die Funktion des Tür­ flügels lässt sich besonders im Vergleich mit einer weiteren Türdarstellung im Bild feststellen: Die bogen­förmige Tür im turmartigen Anbau links der Traumdarstellung steht ganz offen und ist auch nicht mit Türflügeln versehen. Sie bietet den Einstieg für den Betrachter in die 246 Zur ritualisierten Geste des Griffs an den Türring s. unten S. 197 f. 247 Die Parabel ist die einzige Bibelstelle, die ein räumliches Nebeneinander von Hölle und Himmel nahelegt, weil der reiche Mann während seiner Qualen Lazarus im Schoß Abrahams sieht („vidit Abraham a longe et Lazarum in sinu eius“: Lukas 16,23). S. Dinzelbacher 1981, S. 110. Nach Le Goff ist mit Abrahams Schoß der Ort der Erquickung, das Refrigerium gemeint: Le Goff 1990, S. 16. 248 Bogen 2001, S. 87–94.

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14 Traum Josefs, Flucht nach Ägypten und Bethlehemitischer Kindermord, Evangeliar, sog. Codex Aureus von Echternach, um 1045. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum (Hs. 156 142, fol. 19r, oberes und mittleres Register), Blatt ca. 44,5 x 31 cm.

Bilderzählung und ist im Gegensatz zur rechten Tür nicht Ort einer Handlung.249 Die geöffnete Tür rechts steht für die Transformation Josefs vom (Traum-)Betrachter zum Handelnden. Obwohl sich im Evangeliar zahlreiche Türmotive finden lassen,250 folgen die Bildkünstler nach Bogen in der Traumszene einem bereits etablierten Schema. Das früheste von Bogen analysierte Beispiel ist der Traum des Ananias und die Heilung des Saulus aus der Vivian249 Zahlreiche Beispiele für die ‚einleitende’ Rolle des Türmotivs in der Vie de Saint Denis: Logemann 2009, z. B. S. 99. 250 S. die Szene unter Josefs Traum, in der Herodes den Befehl zum Bethlehemitischen Kindermord gibt, dessen Ausführung jenseits der Tür stattfindet. Der parallele Bildaufbau wird von Bogen nicht kommentiert.

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15 Traum des Ananias und die Heilung des Saulus, Vivian-Bibel, 845/846. Paris, Bibliothèque Nationale (Cod. lat. 1, fol. 386v, mittleres Register).

Bibel (Abb. 15). Links ist der träumende Ananias in einem Gebäude dargestellt, rechts heilt er Saulus innerhalb der Stadtmauern von Jerusalem. Nach Bogen ist die Essenz der Auftragsträume der „Befehl zum Ortswechsel“,251 das heißt das Türmotiv muss hier in einem räumlichen Zusammenhang wahrgenommen werden. Der Landschaftsbereich zwischen den beiden Architekturstrukturen weist auf den von Ananias zurückgelegten Weg hin. In den bisher behandelten Beispielen bestehen die Hauptaufgaben des Türmotivs im Dienst der Bilderzählung also darin, Bewegung und Kommunikation anzuzeigen und eine Sequenzierung oder Folgerichtigkeit der durch die Tür verbundenen Szenen zu verdeutlichen. Auch in der Darstellung der Lazarus-Parabel aus einem englischen Psalter, der fast zwei Jahrhunderte später entstanden ist, spielt die Tür eine für die Erzählung entscheidende Rolle (Tafel 5).252 Der Gegensatz von Innen und Außen wird im oberen Bildfeld dadurch deutlich gemacht, dass eine Mauer den Hintergrund der Speisenden bildet, während Lazarus draußen unter einem Baum liegt. Die Tür ist hier Ort des Dieners, der als Bote des reichen Mannes erscheint. Zur Unterstreichung der abweisenden Botschaft trägt der Diener einen Stock über der Schulter. Die Hunde haben sich bereits ganz aus dem Innen- in den Außenbereich bewegt. Die Gesten betonen die Diagonale der Macht, die sich von dem Reichen über den Diener zu den Hunden ziehen lässt, die den bereits liegenden Lazarus angreifen: Der Reicheist deutlich als Zentrum des Innenraums gekennzeichnet; seine Gäste wenden sich ihm zu, und ein kniender Diener bietet, zu ihm aufblickend, eine weitere Speise an. Der Diener in der Tür ist Schwellenwesen – Bedienstete sind in der mittelalterlichen Kunst häufig mit der Schwelle assoziiert. Als Zeugen oder Begleiter sind sie in Vorräumen oder an der Tür zu ­finden.253 Im englischen Psalter wird die Rolle des Dieners als Medium hervorgehoben, der als Bote seinen Körper in den Dienst seines Herrn stellt.254 Die exakt wiederholte Geste bezeugt im Bild dieses Verhältnis. Durch den Diener auf der Schwelle wird nicht nur die Hierarchie deutlich, sondern auch der Zusammenhang zwischen Raum und Zeit. Wie Horst Wenzel im

251 Bogen 2001, S. 91. 252 Gloucester (?), 1. Viertel 13. Jahrhundert. München, Bayerische Staatsbibliothek (Clm. 835, fol. 70r). Morgan 1982, Kat. Nr. 23, S. 68–72; Baschet 2000, S. 118 u. 364, Anm. 41. Baschet geht es nicht um den Zusammenhang zwischen oberem und unterem Register, sondern darum, dass Abraham hier als sich in einer Wolke zum Höllenort herabsenkend dargestellt wird – damit ist Abraham „[...] proprement céleste, mais il y a manifestement plus haut que lui“ (ebd., S. 118). 253 Zu den ancillae narrationis in der italienischen Kunst s. Kemp 1996, S. 33–35. 254 Zum Boten als Medium vgl. Wenzel 1995, S. 256 f.

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Kontext des Boten in höfischen Texten schildert, „zerdehnt oder verdoppelt“ die Anwesenheit eines Boten die Kommunikation, weil er sich zwischen die zwei Pole der direkten Kommunikation schiebt.255 Im Bild wird dies mit Hilfe der Schwelle dargestellt. Sie verknüpft die Gesten des Lazarus auf der einen und des reichen Mannes auf der anderen Seite. Die Handlung beginnt links mit der bittenden Geste des Lazarus, die an den reichen Mann weitergeleitet wird – der Stock des Dieners kann hierbei als Richtungshilfe dienen. Die abweisende Geste des reichen Mannes wird über den Diener auf Lazarus zurückgeleitet. In der Darstellung des Lazarus vereinen sich Anfang und Ende der Sequenz: Lazarus ist bereits in seiner Sterbeposition dargestellt. Die Tür – gewissermaßen konkretisiert über den Diener – ermöglicht es, die Doppelrichtung (Hand und Stock) und die zeitliche Dehnung der Kommunikation zu veranschaulichen. Die doppelte Gerichtetheit der Schwelle wird hier also narrativ ausgenutzt. An den beiden Beispielen wird bereits deutlich, wie sich im Schwellenmotiv der Tür im Mittelalter strukturelle und kommunikative Aspekte der Bilderzählung vereinen. Die durch das Schwellenmotiv horizontal miteinander in Beziehung gesetzten Szenen und die daraus folgende Werteordnung werden im unteren Register in die Vertikale verlegt; gleichzeitig wird die Hierarchie umgekehrt. So erscheinen die wesentlichen Elemente des ersten Registers der Psalterdarstellung in umgewerteter Form wiederholt: Die Hunde fallen in der Hölle den Hausherrn an, und das Spruchband mit der Bitte des reichen Mannes entrollt sich in einer Diagonale nach oben, welche die Richtung der Abweisungsgesten aus dem ersten Register parallelisiert.256 Abraham und Lazarus haben dagegen die Frontalität und Zentralität inne, die der reiche Mann im oberen Register für sich beanspruchte. Sogar der Baum findet sich als karges Bündel Äste in der rechten Ecke der Hölle wieder. Die Tür wird in den beiden Parabeldarstellungen als das rückwirkend gespiegelte irdische Pendant zur Grenze zwischen Hölle und Himmel im Jenseits erkennbar.257 Zugleich bildet sie als Ort der Bitte, der Abweisung und der Bewegung den kommunikativ-narrativen Mittelpunkt. Vermag es hier eine Tür, die Erzählung gleich zweimal passieren zu lassen, so werden im Berthold-Missale aus Weingarten zwei Bögen dazu genutzt, die Darstellung der Anbetung des Christuskindes durch die Anreise und Abreise der Heiligen Drei Könige zu rahmen (Abb. 16).258 Im oberen Register sieht man den vordersten Reiter von hinten durch einen Bogen reiten, und im unteren Bildfeld springt das Pferd mit den Vorderhufen über die Schwelle eines 255 Wenzel 1995, S. 261. 256 Das Band überschneidet sowohl die dunkle Membran, welche die Grenze der Hölle darstellt, als auch das Wolkenband, das die himmlische Grenze bezeichnet. Bezeichnenderweise reicht der Text auf der Rolle nur bis knapp unter das Wolkenband, was dafür spricht, dass das Band nicht primär über seine Rolle als Textträger, sondern über seine Funktion als Parallele zum Gestenvektor im oberen Register konzipiert wurde. Wie die Gesten ist auch das Schriftband somit durch ein Nicht-Erreichen gekennzeichnet. 257 Kemp hat auf die Häufigkeit solcher ‚Binnenstrukturierungen‘ im Mittelalter hingewiesen, nämlich darauf, „wie jede Handlung noch innerhalb des irdischen Rahmens der Geschichte ihre Entsprechung findet“: Kemp 1987, S. 116. Er bezieht sich hier übrigens ebenfalls auf eine Parabel, die des verlorenen Sohnes. 258 Faksimile: Hanns Swarzenski: The Berthold Missal, 2 Bde., New York 1943. S. auch Kemp 1987, S.  139 f.

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16 Anbetung der Heiligen drei Könige, Berthold-Missale, Weingarten, 1215–1217. New York Pierpont Morgan Library (Ms. M.710, fol. 19v), Blatt 29,3 x 20,4 cm. Purchased by J.P. Morgan (1867–1943), 1926.

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ähnlichen Bogens. Im Zentrum bringen die Könige der thronenden Maria mit Kind ihre Geschenke dar. So wird das ganze Bildfeld zu einem Gebäude der Erzählung, durch das sich die Reisenden bewegen. Zugleich wird die Anbetung als heilsgeschichtlicher Moment ausgedehnt in die Bereiche des ‚Woher‘ und des ‚Wohin‘. Die Gleichzeitigkeit der Momentfokussierung und des Veranschaulichens der Tragweite der Handlung ist bereits in den Verkündigungsdarstellungen als Leistung des Türmotivs deutlich geworden. Türen sind „Keimzellen der Erzählung“.259 Sie heben das wesentliche Moment der Erzählung hervor und aus ihnen heraus entwickelt sich zugleich die Bewegung der Erzählung. Wie noch zu zeigen ist, findet dieser Zusammenhang seine Entsprechung in der Verknüpfung von innerbildlicher narrativer Dynamik und der Bewegung des Betrachters an der gebauten Schwelle. Kemp fasst einige „Hauptsätze der Erzählforschung“ unter den Begriffen „Transformation“, „Begehren“ und „Mangel“ zusammen.260 Zunächst fällt auf, dass sich diese Begriffe zum Teil mit den Koordinaten der Schwelle überschneiden, die oben herausgearbeitet worden sind (vor allem im Zusammenhang mit den Aspekten Verheißung und Verwandlung). Dass das Türmotiv auf kleinstem Raum den Vorgang einer Transformation verdeutlichen kann, zeigt die Darstellung einer Besessenenheilung (Abb. 17). Blatt 20 des Martyrologiums aus Zwiefalten,261 mit Darstellungen zum Monat Januar und hagiographischen Szenen, zeigt oben links den Hl. Basilius, der einen Besessenen heilt, indem er ihn durch eine Tür in eine Kirche zieht. Vor der Tür steht ein Teufel, der seinen Arm auf die Schwelle strecken, sie aber nicht überschreiten kann.262 Das Wirken des Heiligen wird als ‚Überquerungshilfe‘ für die Menschen von einer Sphäre in die andere dargestellt, die Transformation der Heilung als räumlicher Übergang. In weiteren Bildbeispielen wirkt eine Heilige vom Ort der Schwelle aus ihre Wunder,263 oder die Versuchung durch den Teufel wird als dessen Bemühen dargestellt, einen Mönch am Gewand über die Schwelle nach draußen zu ziehen.264 Bei erneuter Betrachtung der Szene aus dem Martyrologium wird damit auch deutlich, dass das Schwellenmotiv der Tür die Darstellung der Differenz der Orte von Heiligem und Teufel und die Darstellung der Heilung als Übergang vom einen zum anderen erlaubt und so die Grundstruktur der Transformation enthält.265 Nimmt man die Tür als Minimalvoraussetzung zum Aufbau einer räumlichen Relation ernst, dann verankert die Tür im Bild die Erzählung immer auch topologisch. Einen Zusammenhang zwischen Bilderzählung und Raum sieht die Forschung allerdings erst für die Zeit 259 Bogen 2004, S. 239. 260 Kemp 1994 B, hier S. 62. 261 Um 1162: Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek (Cod. hist. fol. 415, fol. 20r). Zur Handschrift und zum Forschungsstand s. Haefeli-Sonin 1992. 262 Dazu Kemp 1987, S. 73‒78; Figge 2000, S. 9–11. 263 Humilitas heilt mit dem Zeichen des Kreuzes einen Mönch, während sie auf der Türschwelle steht: Pietro Lorenzetti, Vier Szenen aus dem Leben der Beata Umilità, Altartafel, 1316, Florenz, Galleria degli Uffizi, Inv. 1890 Nr. 8347. Außerdem z. B. Giovanni del Biondo, Der Hl. Benedikt erweckt einen jungen Mönch zum Leben, Toronto, Art Gallery of Ontario, Abb. in: Eisenberg 1989, Abb. 307. 264 Ein Mönch wird durch den Teufel vom Gebet abgelenkt: Lorenzo Monaco, 1415–1420, Pinacoteca Vaticana (Nr. 193), Abb. in: Eisenberg 1989, Abb. 186 u. s. S. 166. 265 Zur Differenz im Zusammenhang der Transformation s. Kemp 1994 B, S. 62 f.

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17 Miniatur zum Januar, oben links der Hl. Basilius, Annales aus Zwiefalten, um 1162. Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek Stuttgart (Cod. hist. fol. 415, fol. 20r), Blatt 31,5 x 22 cm.

ab 1300: „von nun an [werden] für und durch Bilderzählungen Räume eingerichtet“.266 Vor dieser Zeit hätten Bilderzählungen ebenfalls gemalte Architektur verwendet, aber als „Abbreviaturen“, die „über ihre auszeichnende Wirkung hinaus auf die Erzählung des Geschehens nicht einwirken“.267 Die Darstellungen der Parabel des Lazarus und auch das kleine Bildfeld aus dem Zwiefaltener Martyrologium haben jedoch gezeigt, dass auch vor 1300 und auch außerhalb Italiens über Schwellen Räume eingerichtet und ‚bespielt‘ werden und Schwellen als Scharnier eine zentrale Rolle in der Bilderzählung übernehmen. Während diese frühen Beispiele über ein Schwellenmotiv zwei Räume aufbauen und ein­ ander gegenüberstellen, die sich durch ihre Gegensätzlichkeit unterscheiden, verwenden die sienesischen und florentinischen Maler des Trecento allerdings oft Raumensembles und damit 266 Kemp 1996, S. 9 (seine Hervorhebungen). Vgl. auch Lacher 2005. 267 Kemp 1996, S. 16.

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mehrere Schwellenmotive, um die Erzählung in verschiedene Richtungen auszubreiten. Reimar F. Lacher nennt dies eine „tektonische Sequenzierung“.268 Besonders in den sienesischen Beispielen rückt nach Lacher die Kategorie der Zeit verstärkt in das Blickfeld. Den Schwellenmotiven kommt dabei seiner Meinung nach eine essentielle Funktion als Zeitmaß zu: „Mit der Durchlässigkeit der Türschwellen [...] ist zeitliche Nähe angezeigt. Dies gilt umso mehr, wenn die Schwelle gerade überschritten wird. Besteht keine unmittelbare Verbindung zwischen zwei Teilschauplätzen, ist in diesem Fehlen ein längeres Zeitintervall indiziert“.269 Lacher unterscheidet diese Form der Bilderzählung des 14. Jahrhunderts von der „Standardformel“ früherer Darstellungen von Träumen oder Visionen, deren „laterale Zweiteilung der Szene“ sich auf die Unterscheidung verschiedener Sphären des Seins und nicht als Ausdruck eines zeitlichen Verhältnisses beziehe.270 Gegen eine solche Generalisierung sprechen die Parabel-Darstellung im englischen Psalter und die Konzeption der Miniatur aus dem Berthold-Missale. Sie zeigen, dass sich Bildkünstler bereits im 13. Jahrhundert durch das Türmotiv mit dem Zeitmoment beschäftigen.

3.2 Höhleneingänge und Felsspalten 3.2.1 Motivgeschichte und Forschungsstand Der Höhleneingang als Schwellenmotiv und der Höhlenraum stehen – das muss vorweg klargestellt werden – in einem anderen Verhältnis zueinander als Tür und Raum. Allein darstellungstechnisch sind Höhleneingang und Höhle nicht immer sinnvoll zu unterscheiden, weshalb eine Motivgeschichte des Höhleneingangs notwendigerweise auch eine Motivgeschichte der Höhle ist. Der als Koordinate der Schwelle herausgestellte Aspekt der Vermittlung tritt beim Schwellenmotiv des Höhleneingangs als pars pro toto deshalb stärker in den Vordergrund als bei Tür und Fenster. Höhlen, Krater, Grotten, Felsschächte und Schluchten sind feste Bestandteile der Jenseitstopographie vieler Kulturen. In der Antike stellte man sich die Unterwelt als eine von Flüssen durchzogene Höhlenlandschaft vor, wie sie etwa in Vergils Äneis, in der Odyssee oder im Gilgamesch-Epos beschrieben wird. Gruben und Abgründe kennzeichnen darüber hinaus ebenso den jüdischen Scheol wie die Unterwelt der skandinavischen Jenseitsmythologie.271 Weitere frühe Vorläufer der christlichen Vorstellung vom Jenseits als unterirdischer, felsiger Ort sind das Buch Henoch, als Fragment erhalten in einer Handschrift des 8. Jahrhunderts, und die das Mittelalter hindurch weit verbreitete Visio Sancti Pauli aus der Mitte des 3. Jahrhunderts. Die Hölle wird hier als Schlucht oder enges Tal beschrieben und an mehreren Stellen tun sich vor den Visionären tiefe Gruben, Brunnen und Abgründe auf.272 268 Lacher 2005, S. 96. 269 Lacher 2005, S. 96. 270 Lacher 2005, S. 96. S. dagegen die Überlegungen Bogens zu den Auftragsträumen: Bogen 2001, S. 87‒94. 271 Zu antiken Jenseitsvorstellungen s. z. B. Le Goff 1990, S. 29–71. 272 S. Le Goff 1990, S. 45–47 und S. 52–56.

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Besonders die Höhle ist allerdings nicht nur mit der Hölle oder dem Fegefeuer verbunden, sondern hat zugleich eine positive Bedeutung. Aufgrund ihrer Eigenschaft, Schutz zu bieten und als Behausung zu fungieren, sowie durch ihre Verknüpfung mit Mythologien des Ursprungs und der Offenbarung ist sie im Christentum daher nicht nur Höllen- und Straf­ ort, sondern etwa Schauplatz der Geburt Christi und Aufenthaltsort von Eremiten. Ihre negative Bedeutung rührt vor allem von ihrer unterirdischen Position her und von der Finsternis, die in ihr herrscht. Die doppelte Wertigkeit schlägt sich auch in der Begrifflichkeit nieder: Der Begriff spelunca (gr. spēlaion) wird sowohl im Evangelium des Pseudo-Matthäus (5. Jahrhundert) für die Geburtshöhle verwendet als auch für das unterirdische Purgatorium Sancti Patricii bei Lough in Irland.273 Ernst Benz spricht sogar von einer „dreifachen religiösen Urdeutung der Höhle überhaupt, wie sie sich im gesamten Bereich der Religionsgeschichte feststellen lässt: die Geburtshöhle, die Grab- und Auferstehungshöhle und die Offenbarungshöhle“.274 Ähnlich formuliert es auch Wolfgang Speyer: „die Höhle [umfasst] das Ganze dieser sichtbaren Welt: sie ist Ort des Dunkels und des Lichts, sie ist Stätte des Todes, der Zeugung und der Geburt, sie ist die Stelle, an der sich Diesseits und Jenseits begegnen, und demnach der eigentliche Offenbarungsort“.275 Es stellt sich daher die Frage, ob sich diese Vieldeutigkeit auch in der Ikonographie erkennen lässt. Überraschenderweise liegt allerdings zur Ikonographie des Höhlenmotivs in der Kunst des Mittelalters, soweit ersichtlich, keine umfassende Studie vor, die sich mit allen Facetten des Motivs auseinandersetzt. Die Entwicklung und Kontinuität des Motivs in der antiken und mittelalterlichen Literatur hat Florence M. Weinberg untersucht.276 Neben wenigen Einträgen in der Referenzliteratur277 ist als Überblicksstudie lediglich der Aufsatz von Ernst Benz zur Höhle im frühen Christentum und in der Ostkirche zu erwähnen.278 Die früheste kunsthistorische Publikation zur Höhle ist Gert von der Ostens Aufsatz mit dem Titel „Der Blick in die Geburtshöhle“: von der Osten hat beobachtet, dass in spätmittelalterlichen Darstellungen der Anbetung des Christuskindes durch die Heiligen Drei Könige oft wie nebenbei der Blick in einen unterirdischen Raum oder auf den Zugang dazu angedeutet wird.279 In der 1970 publizierten Festschrift für von der Osten greift Günter Bandmann das Thema erneut auf und untersucht es gemeinsam mit dem Motiv der Säule, an der sich Maria – wie etwa in den Meditationes des Pseudo-Bonaventura (um 1300) beschrieben – bei 273 Zu Pseudo-Matthäus s. unten 3.2.2 und Bandmann 1970, S. 130 (spelunca subterranea). Zum Purgatorium in Irland: Henricus Salteriensis, Tractatus de Purgatorio Sancti Patricii, in: PL 180, Sp. 975– 1004 (Beschreibung der Höhle Sp. 984 f.); s. außerdem Le Goff 1990, S. 233–246; Baschet 1993, S. 122–124; Boiadjiev 2003, S. 90 f. 274 Benz 1954, S. 390. 275 Speyer 1982, S. 192. Zum Verhältnis von Höhlendunkel und Erleuchtungslicht, s. auch Blumenberg 1989, S. 49. 276 Insbesondere geht es ihr dabei um die Kontinuität bestimmter Metaphern und Typen über mehrere Jahrhunderte – etwa die Höhle als Lebensraum eines Monsters: Weinberg 1986. 277 Art. Höhle, in: LCI, Bd. 2 (1970), Sp. 312 f.; Doris Heyden: Art. Caves, in: ER, Bd. 3 (1987), S. 127– 133. Keine Erwähnung findet der Begriff in den folgenden Nachschlagewerken: LThK, RGG, TRE. 278 Benz 1954. 279 von der Osten 1964. S. auch ders.: Der Blick in die Geburtshöhle: Ein Nachtrag, in: Kölner Domblatt 26/27 (1967), S. 111–114.

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der Geburt festhält.280 Zwei weitere Studien, die sich explizit mit dem Thema der Höhle bzw. Grotte beschäftigen, sind die Aufsätze von Vana Georgila-Greisenegger und Annette Frese, die beide einen Überblick über das Motiv in der Kunst geben.281 Mit dem Höhlenmotiv im Werk zweier Künstler der Renaissance schließlich, nämlich da Vinci und Mantegna, beschäftigen sich die Studien von Regina Stefaniak und Carola Naumer.282 Fragt man nicht nach spezifischen Studien zur Höhle, sondern sucht man sich dem Motiv über die Forschung zur Darstellung der Natur und Landschaft zu nähern, so muss man feststellen, dass die Forschung zwar in den Bergen und dem Gebirge ein entscheidendes Motiv für die Entwicklung der Landschaftsmalerei sieht, Höhlen jedoch selten gesondert erwähnt werden.283 So gilt Petrarcas Beschreibung seiner Besteigung des Mont Ventoux (1336), bei der er die curiositas des erhöhten Blicks einerseits und die theologisch angemessene Gotteserkenntnis aus dem Inneren heraus andererseits einander entgegensetzt, als „Geburtsstunde moderner Naturerfahrung, als epochales Ereignis“.284 Diese Beschreibung gilt als Paradigma der Ablösung einer symbolischen Auffassung der Landschaft durch die Erforschung der Landschaft und damit auch eines veränderten Status’ der Landschaft im Bild.285 Folglich interessiert man sich in der Kunstgeschichte dafür, wie Landschaft im Spätmittelalter dargestellt wird, für Maltechniken, wiedergegebene Lichtverhältnisse und ihren zeitgenössischen kunsttheoretischen Kontext.286 Das Licht, bzw. meist dessen Absenz, bildet einen zentralen Aspekt der Höhle und der Vielfalt von deren Darstellungskontexten. Nach einem Überblick über die Symbolik und Ikonographie der Höhle im Mittelalter wird es daher im Folgenden um die Funktion von in Bildern dargestellten Höhleneingängen und kleineren Löchern gehen, die den Blick des Betrachters an bestimmten Stellen ins Dunkel führen. Welche Rolle spielt hier die Dunkelheit? Wecken die Öffnungen im Betrachter eine ähnliche Faszination, wie sie nach dem Besuch einer realen Höhle Leonardo da Vinci beschreibt? „Von meinem leidenschaftlichen Willen getrieben, im Verlangen, die große Vermengung verschiedener und seltsamer Formen zu sehen, wie eine kunstvolle Natur sie schuf, oft irrend zwischen schattigen Felsen, erreichte ich die Öffnung einer großen Höhle [...]. Plötzlich regten sich in mir zwei Kräfte: Furcht und Verlangen; Furcht vor der bedrohlichen, dunklen Höhle, doch ein Verlangen, nachzuschauen, ob sich dort drinnen etwas Seltsames befindet“.287

280 Bandmann 1970. 281 Georgila-Greisenegger 1984; Frese 2002. 282 Stefaniak 1997; Naumer 2002. 283 Clark 1976; Woźniakowski 1987, bes. S. 184–199; Tripps 2008. S. hingegen die Studie von Frese 2002 zur Höhle im Kontext der Ausstellung zum Thema „Berg“. 284 Michalsky 2006, S. 239. Vgl. Blumenberg 1989, S. 261; Schmidt E.D. 2002, S. 52; Tripps 2008, S.  112 f. 285 Vgl. die beiden ersten Kapitel der Studie von Clark 1976, S. 1–71: „The Landscape of Symbols“ und „The Landscape of Fact“. 286 Kürzlich dazu Tripps 2008, der Gebirgs- und Felsmalerei des Trecento im Kontext von Cennino Cenninis Libro dell’Arte untersucht. 287 Zitiert nach: Woźniakowski 1987, S. 98.

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Hier zeigt sich die Höhle als Raum, der gegensätzliche Impulse auslöst: einerseits Furcht vor der unbekannten Dunkelheit, andererseits das Verlangen, die Höhle zu erkunden.288

3.2.2 Symbolik und Ikonographie Die Ikonographie der Höhle lässt sich in vier große Themenbereiche untergliedern: Geburt, Tod, Jenseits und Wildnis. Die positive Bedeutung der Höhle ist eng verknüpft mit der mariologischen Symbolik. In den frühen Hymnen der byzantinischen Kirche ist Christus der ohne Hände vom Berg (Maria) abgehauene Eckstein.289 Wegen ihrer alles überragenden Größe deuten etwa Gregor der Große und Rupert von Deutz Maria als Berg.290 Für die Höhle gibt es im Mittelalter keine derartig prominente Symbolik.291 In Anknüpfung an andere Religionen ist sie Symbol der Fruchtbarkeit und verweist auf die Geburt. Die Höhle ordnet sich ein auf der vertikalen Achse des christlichen Symbolsystems. So ist die Höhle der passende Ort für den Abstieg Christi auf die Erde, seine Menschwerdung. Während in den Evangelien keine Höhle erwähnt wird, lokalisieren beispielsweise das Proto-Evangelium des Pseudo-Jakobus und das Evangelium des Pseudo-Matthäus (5. Jahrhundert) die Geburt und die Anbetung Christi durch die Hirten und die Heiligen Drei Könige in einer Höhle.292 Nach der Erzählung des apokryphen Evangeliums des Pseudo-Jakobus erstrahlt ein so helles Licht in der Höhle, dass es Josef und die Hebamme blendet. Das Licht Christi triumphiert über die Dunkelheit des Unterirdischen. Hier deutet sich eine „Theologie der Höhle“ an: „Der Sohn, der vom Heiligen Geist aus der Höhe empfangen ist, wird in der Tiefe der Erde geboren, das Oberste vergegenwärtigt sich im Untersten, das Licht des Himmels in der Finsternis der Höhle“.293 Oben und unten werden durch die Menschwerdung Christi zusammengebracht, der Abstieg auf die Erde erhält eine topologische Konsequenz. Die Lokalisierung der Geburt in einer Höhle rekurriert auf reale Gegebenheiten im Heiligen Land: Die ältesten Pilgerberichte über das Heilige Land sprechen von einer Vielzahl von Höhlen, die als Kirchen fungierten oder über denen Kirchen errichtet wurden.294 In seiner Vita des Kaisers Konstantin beschreibt Eusebius von Caesarea drei heilige Höhlen des 288 Georgila-Greisenegger 1984, S. 317. Leonardos Beschreibung steht im Kontext der wissenschaftlichen Neugier. Zur problematischen Stellung der Neugier (curiositas) im Mittelalter, s. unten S. 148. Im Kontext der im Folgenden herausgearbeiteten ambivalenten Bedeutungen der Höhle(-nöffnungen) im Mittelalter ist weniger der Kontext der Neugier, sondern die Kontinuität der gegensätzlichen Impulse Furcht/Verlangen bei Leonardo interessant. 289 S. Benz 1954, S. 406–412. 290 Schmidt E.D. 2002, S. 45. 291 So wird sie etwa in Anselm Salzers Studie der „Sinnbilder und Beiworte Mariens“ nicht erwähnt: Salzer 1967. 292 S. Art. Höhle, in: LCI, Bd. 2 (1970), Sp. 312 f. Zum Motiv der Höhle in Darstellungen der Geburt Christi s. außerdem die Aufsätze von der Osten 1964 u. Bandmann 1970, sowie Pia Wilhelm: Art. Geburt Christi, in: LCI, Bd. 2 (1970), Sp. 86–120. Zu noch früheren Erwähnungen der Höhle und ihre Verbindungen mit der Mithras-Höhle, s. Benz 1954, S. 370–379. 293 Benz 1954, S. 369. 294 Benz 1954, S. 390 f. mit Beispielen.

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Christentums, über denen Helena und Konstantin jeweils Kirchen errichten ließen: die Geburts-, die Grabes- und Auferstehungs- und die Himmelfahrtshöhle.295 Als Bildmotiv ist die Geburtshöhle vor allem in der byzantinischen Kunst verbreitet, während die westlich-römische Kunst das Geschehen meist in einem Stall darstellt. 296 Im Menologion Basileios’ II. (Abb. 18) sitzt Maria auf einem Felsthron vor einem Berg, in den eine Höhle hineinführt, deren „schwarze Höhlenöffnung hinter ihrem Oberkörper [...] wie ein zweiter Heiligenschein [wirkt]“.297 Von links nähern sich die Heiligen Drei Könige mit ihren Gaben. Wie die Tür, so fungiert die Höhlenöffnung auf der Bildebene zunächst als Hervorhebung, als Synkope.298 In der Geburtsdarstellung auf der Petrustafel von Guido da Graziano (um 1280) überfängt die Höhlenöffnung Maria und das Kind in der Krippe wie ein steinerner Baldachin (Abb. 19). Maria wendet sich mit dem Oberkörper der Öffnung entgegen und blickt aus dem Bild heraus. Die Hand streckt sie nach Christus aus, der im Vordergrund gebadet wird. Die Höhlenöffnung trennt nicht nur Joseph und die Hirten von Maria, sondern verbindet auch zwei Szenen narrativ miteinander, in denen jeweils Christus dargestellt ist. Sie fungiert als Schwellenmotiv im Dienst der Bilderzählung.

18 Anbetung der Könige, Menologion Basileios’ II., Konstantinopel zw. 976 u. 1025. Vatikanstadt, Biblioteca Apostolica Vaticana (Vat. gr. 1613, p. 272).

295 Benz 1954, S. 384–391. Eusebius von Caesarea: De vita constantini: griechisch-deutsch, übers. u. komm. von Horst Schneider (= Fontes Christiani 83), Turnhout 2007. 296 Pia Wilhelm: Art. Geburt Christi, in: LCI, Bd. 2 (1970), Sp. 86–120, hier Sp. 95. 297 Schmidt E.D. 2002, S. 43. 298 S. z. B. Florentiner Werkstatt, Stigmatisierung des Franziskus, Franziskus-Tafel um 1250, Pistoia, Museo Civico.

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19 Guido di Graziano, Petrus-Paliotto, um 1280. Siena, Pinacoteca Nazionale.

Ebenso wie auf Darstellungen des Lebensanfangs Christi findet sich das Höhlenmotiv auf solchen des Endes seines Lebens, als Kerker in der Nacht seiner Gefangennahme, als Grabeshöhle bei der Grablegung und Auferstehung299 und als Hölleneingang bei der Höllenfahrt. Da Christus bei seiner Auferstehung ein zweites Mal aus der Dunkelheit erscheint, bestehen Darstellungen der Auferstehung oft aus ähnlichen Motivkombinationen wie diejenigen der Geburt. In Taddeo Gaddis Auferstehungstafel steht Christus zentral vor einem Felsen, in dem ein nach oben hin spitz zulaufender Felsspalt den Blick auf den Sarkophag frei gibt (Abb. 20). Links und rechts der Öffnung schlafen die Wächter. Die Verbindung von rechteckiger Ruhestätte (Krippe, Sarg) und Felsöffnung (Geburts- und Grabeshöhle) wird vor allem bei Geburtsdarstellungen dazu genutzt, an den Tod Christi zu erinnern. Grablegung, Auferstehung und Höllenfahrt Christi werden in der italienischen Kunst ab dem Ende des 13. Jahrhunderts gewissermaßen als Höhlenreise Christi dargestellt. Bei der Höllenfahrt Christi auf Duccios Maestà ist links in einem Berg eine rundbogige Tür zu sehen, deren Türflügel ausgebrochen neben Christus liegen (Abb. 21). Neben der Tür tut sich im

299 Beide untereinander dargestellt etwa auf dem Kruzifix eines unbekannten Malers mit Szenen der Passion Christi aus dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts, Florenz, Galleria degli Uffizi (Inv. 1890 Nr. 434), 250 x 200 cm.

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20 Taddeo di Bartolo, Auferstehung, um 1400. Privatsammlung, 34 x 33 cm.

21 Duccio di Buoninsegna, Christus in der Vorhölle, 1308–1311. Siena, Museo dell‘Opera del Duomo.

Fels ein großes dunkles Loch auf – und es ist dieser zweite Eingang, durch den Christus Adam am Handgelenk greift. Die zerborstene Tür ist ein zentrales Motiv der Höllenfahrt, als Zugang zur Vorhölle wird ihr aber offensichtlich nicht so viel Bedeutung zugemessen wie dem Höhleneingang.

Der Felsabgrund der Hölle Der Höllen- als Höhleneingang rekurriert auf die mittelalterliche Vorstellung der Hölle als unterirdischer Ort. In seinen De Genesi ad litteram leitet Augustinus den Terminus infernus

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22 Illustration zu Psalm 91, Utrechter Psalter, 9. Jahrhundert. Utrecht, Universiteitsbibliotheek (Ms. 32, fol. 53v), Blatt 33 x 25 cm.

von infra ab.300 Immer wieder gibt es Bestrebungen, den Eingang zur Hölle oder zum Fegefeuer in den Kratern realer Vulkane zu lokalisieren, oder an anderen Stellen, an denen sich der Erdboden öffnet. Der bekannteste ist der Ätna, in dem unter anderem Isidor von Sevilla, Gottfried von Viterbo oder Alberich von Trois-Fontaines den Eingang zur Hölle (gehenna, abyssus) vermuteten.301 Ab dem Ende des 12. Jahrhundert ist das Purgatorium Sancti Patricii in Irland ein Wallfahrtsort, an dem sich Pilger in der Höhle einschließen lassen können, in der zuerst der Ritter Owein Fegefeuer und Paradies schaute.302 Weitere Orte sind die Bäder von Pozzuoli, der Stromboli und der südisländische Hekla.303 Bereits einige der ersten erhaltenen bildlichen Darstellungen der Hölle im Zusammenhang mit dem Jüngsten Gericht zeigen sie als dunkel hinterfangene Grube oder Höhle: In der Zeichnung zu Psalm 91 des Utrechter Psalters aus dem 9. Jahrhundert werden die Besiegten von zwei Kriegern eine Berglandschaft hinab in die Hölle gestoßen, die rechts durch einen Teufel im Abgrund verbildlicht ist (Abb. 22).304 Auch in der Bamberger Apokalypse (1002–1014) und im Perikopenbuch Heinrichs II. (um 1005) ist in den Miniaturen des 300 De Genesi ad litteram 12, 33: Dinzelbacher 1981, S. 98. 301 Dinzelbacher 1981, S. 95 mit entsprechenden Zitaten. 302 Henricus Salteriensis: Tractatus de Purgatorio Sancti Patricii, in: PL, 180, Sp. 975–1004 (Beschreibung der Höhle Sp. 984 f.); s. außerdem Le Goff 1990, S. 233–246; Boiadjiev 2003, S. 90 f. 303 Dinzelbacher 1981, S. 96 mit Hinweisen. 304 In der Vulgata Ps. 90. Faksimile: Koert van der Horst, Jacobus H.A. Engelbregt, Johannes Rathofer (Hrsg.): Utrecht-Psalter, 2 Bde., Graz 1982–1984. Zu diesem Bild, s. Zlatohlávek 2001, S. 112.

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Jüngsten Gerichts die Hölle in der rechten unteren Ecke jeweils durch einen von Flammen durchzogenen dunklen Bereich gekennzeichnet, in den die Verdammten hineingezogen werden, und an dessen Grund Satan angekettet liegt (Abb. 23).305 Entgegen dem Eindruck, der sich angesichts dieser frühen Bildbeispiele ergibt, ist die Darstellung der Hölle als dunkler, unterirdischer Ort, in den die Seelen durch eine Öffnung oder Spalte gelangen, in der Kunst des westlichen Europa weniger weit verbreitet als das Motiv des Höllenschlunds, das sich ab dem 9. Jahrhundert in der angelsächsischen und ab dem 12. Jahrhundert in der kontinentaleuropäischen Kunst weitgehend durchsetzte. Nördlich der Alpen lässt sich der Höllen- als Höhleneingang – abgesehen von einigen Ausnahmen306 – im Kontext des Jüngsten Gerichts vornehmlich erst wieder im 15. und 16. Jahrhundert finden.307 In der byzantinischen Kunst dagegen wird die Hölle hauptsächlich als Abgrund oder Höhle verbildlicht. Die byzantinische Tradition erklärt vermutlich auch, dass in Italien die Darstellungsweise der Hölle als unterirdischer Ort überwiegt. Ab dem 14. Jahrhundert schaffen Bildkünstler dort sehr ausgedehnte Höllenlandschaften. In ihrer Arbeit zur Ikonographie des Jüngsten Gerichts in Italien fasst Iris Grötecke zusammen: „In fast allen Darstellungen des 14. und 15. Jahrhunderts wird der Höllenort als Felsenlandschaft gezeigt“.308 In der Forschung herrscht allerdings keine Einigkeit darüber, ob die ausführlichen Höllenbilder in der Toskana auf Dantes Divina Commedia zurückzuführen sind,309 oder ob sowohl das literarische Konzept als auch die bildkünstlerischen Entwürfe auf eine gemeinsame Höllenvorstellung rekurrieren.310 Jedenfalls lässt sich keine der monumentalen Höllendarstellungen aus den Weltgerichtsfreskos komplett auf Dantes Beschreibung zurückführen. Vielmehr stehen die wandfüllenden, in verschiedene Bereiche unterteilten Höllenbilder in einer langen Tradition, die mit dem Mosaik in Torcello beginnt (Ende 11. Jahrhundert): 305 Perikopenbuch Heinrichs II.: München, Staatsbibliothek (Clm 4452, fol. 202r), Blatt 26 x 19 cm; Bamberger Apokalypse: Bamberg, Staatsbibliothek (Msc. Bibl. 140, fol. 53r). Zu beiden im Kontext der Weltgerichtsikonographie: Opitz 1998, S. 20–25. 306 Ausnahmen der Kunst nördlich der Alpen: In der deutschen und englischen Buchmalerei gibt es aus dem 12. und 13. Jahrhundert Miniaturen des Jüngsten Gerichts und Apokalypse-Handschriften, die den Hölleneingang als welligen Felsenumriss darstellen: Miniatur eines Jüngsten Gerichts, Braunschweig (?) Ende 12. Jahrhundert, Trier, Domschatz (Cod. 142, fol. 146v); Jüngstes Gericht, Lektionar aus Regensburg (zw. 1267 u. 1276), Oxford, Keble College (Ms. 49, fol. 235v; Abb. 55); s. die bereits in 3.1 genannten Apokalypsen aus dem 13. Jahrhundert für Beispiele aus dem englischen Raum. Für die Hölle werden hier sowohl Gruben als auch Höhlen und der Höllenschlund dargestellt (z. B. Paris, Bibliothèque Nationale, fr. 403, fol. 38v). 307 Z. B. Jan van Eyck, Jüngstes Gericht, um 1430, New York, Metropolitan Museum of Art, Fletcher Fund (Inv. Nr. 33.92ab), 56,5 x 19,7 cm; Rogier van der Weyden, Weltgericht, mehrere Tafeln, 1446– 1450, Beaune, Hotel Dieu, insgesamt 215 x 560 cm; Hans Memling, Triptychon mit dem Jüngsten Gericht, 1472, Gdansk, Muzeum Narodowe (Inv. Nr. SD/413/M), Mitteltafel 221 x 161 cm, Flügel 223,5 x 72,5 cm. Bei van der Weyden und Memling ist die Hölle als Abgrund am Fuße von Felsblöcken dargestellt. Stefan Lochners Weltgericht, 1435, Köln, Wallraf-Richartz-Museum (Inv. Nr WRM 66) kombiniert mit dem Abgrund eine Höllenburg. 308 Grötecke 1997, S. 38. 309 So argumentiert etwa Opitz 1998, S. 44. 310 So die Meinung von Grötecke 1997, S. 38. Zur Fragestellung in Bezug auf das Höllenfresko im Camposanto in Pisa s. Baschet 1993, S. 317–322, der ausschliesst, dass Dantes Hölle das Vorbild lieferte.

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23 Jüngstes Gericht, Perikopenbuch Heinrichs II., um 1005. München, Bayerische Staatsbibliothek (Clm. 4452, fol. 202r), Blatt 26 x 19 cm.

Hier ist die Hölle in sieben Bildfelder unterteilt, in denen sich unterschiedliche Sünder befinden.311 In der Hölle des Freskos von Sant’Angelo in Formis (Ende 11. Jahrhundert) blickt man durch einen gezackten Felsrand in die Hölle. Limbus, Fegefeuer und Hölle werden in Italien ab dem 14. Jahrhundert alle als Höhle verbildlicht, die sich unter einer dünnen Felskruste befindet. So stellt Andrea di Bonaiuto in seinem Fresko in der Spanischen Kapelle von Santa Maria Novella in Florenz (1366/1367) Christus bei der Höllenfahrt auf den ­zerbrochenen Türflügeln und dem Teufel stehend dar (Abb. 24). Die Tür, zu der die Türflügel gehörten, ist hier gemeinsam mit dem Gebäude in sich zusammengefallen und gibt den Blick auf den aufgeborstenen Fels frei, hinter dem sich die Vorhölle befindet. Neben dieser großen Öffnung sind in einem weiteren Felsblock mehrere kleinere Risse und Spalten zu sehen, hinter denen sich Teufel über die Befreiung ihrer Opfer ärgern und ein einzelner, von Drachen und Schlangen angefallener Mann aus dem Bild blickt. Limbus und Hölle unterscheiden sich lediglich dadurch, dass aus den kleinen Rissen des Höllenbergs rote ­Flammen schlagen, die in der Vorhölle nicht vorhanden sind. Der Gegensatz zwischen der Befreiung links und der Gefangenschaft rechts wird durch die unterschiedliche Einsehbarkeit der Felsöffnungen verdeutlicht, die nach rechts hin eine zunehmende Enge aufweisen.

311 Zu Torcello s. Baschet 1993, S. 191–194.

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24 Andrea di Bonaiuto (Andrea da Firenze), Höllenfahrt Christi, 1366/1367. Florenz, Santa Maria Novella, Spanische Kapelle.

Eremiten Die Höhle ist in mittelalterlichen Bildern zudem ein Kürzel für die Wüste und die Wildnis, in die sich christliche Anachoreten ab dem 3. Jahrhundert das ganze Mittelalter hindurch zurückziehen. Die Entbehrungen und der Kampf gegen die Dämonen gelten als Ersatz für das Martyrium, das Eremitentum als eigener Stand unter den Bekennern.312 In der Wildnis kehrt der Eremit der Welt den Rücken zu, bekämpft Dämonen und erlebt die Nähe zu Gott. Die Höhle ist in diesem Zusammenhang daher „die Grabeshöhle, in der der Asket sein bisheriges weltliches Sein und Leben begräbt und sich schon bei lebendigem Leib in das Grab zurückzieht, und die Auferstehungshöhle, in der der Asket den Sieg über die Dämonen, die Wiedergeburt und die Erscheinung des himmlischen Lichtes erlebt“.313 Höhlen werden daher in Szenen des Lebens der als Heilige verehrten Asketen und Anachoreten dargestellt. 312 F. Werner: Art. Eremiten (Einsiedler), heilige, in: LCI, Bd. 6 (1974), Sp. 159–164, hier Sp. 160. Andere Orte, an denen sie dargestellt werden sind Klippen, hohle Baumstämme, Waldhütten und Inseln: ebd., Sp. 162. 313 Benz 1954, S. 419.

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Dreimal taucht das Motiv etwa auf einer florentinischen Tafel der Hl. Magdalena auf (1280– 1285): zu ihren Füßen als kleines Loch in einem Berg, als sie von Engeln zu den sieben Gebetsstunden in den Himmel gehoben wird; halbfigurig erscheint sie in einer kleinen Höhle bei der Speisung durch einen Engel und ganzfigurig kniet sie in der Höhlenöffnung, um vor ihrem Tod die Kommunion vom Bischof Maximin zu empfangen.314 Die Höhle wird hier immer größer dargestellt, um jedoch in der letzten Szene von Magdalenas Buße – ihrem Tod – ganz zu verschwinden. Hier ist die Heilige umringt von Geistlichen in einer Architektur, durch die ihre Zugehörigkeit zur kirchlichen Gemeinschaft betont wird. In den ersten beiden Szenen erscheint die Höhle als Ort, an dem Diesseits und Jenseits aufeinandertreffen. Im Zusammenhang mit Eremiten werden Höhlen nicht selten als Ort von Wundern oder Visionen begriffen. Prototyp für die Höhle der Vision ist die Apokalypse, wo eine Höhle auf der Insel Patmos der Ort ist, an dem Johannes die Vision ereilt.315 Insel und Höhle be­tonen doppelt die Zurückgezogenheit des Sehers, wobei die Insel in den Bilderapokalypsen des 13. Jahrhunderts meist das wichtigere Motiv ist.316 In der Lothringischen Apokalypse stellt das Motiv der Höhle einen der Rahmenorte des Sehers dar (Abb. 25).317 Der Visionär sitzt hier auf sein Schreibpult gestützt in einer Höhle, die von einer mit Bäumen bewachsenen Landschaft umgeben ist, in der ein Hase und ein Hirsch zu sehen sind; man sieht den dritten Reiter der Apokalypse. Auf dem gegenüberliegenden Blatt blickt Johannes rechts im Bild aus dem Fenster eines Turms oder einer Stadtabbreviatur (Abb. 26), während aus der üppigen Landschaft links eine karge Gegend geworden ist, und sich im Höhleneingang, aus dem jetzt Flammen schlagen, ein Höllenschlund öffnet, aus dem der vierte Reiter erschienen ist.318 Die Gegenüberstellung von Höllenschlund und befestigtem Gebäude lässt an die Ikonographie der Jenseitsorte beim Jüngsten Gericht denken – wenngleich die Seiten hier vertauscht sind. Das Höhlenmotiv wird in seinen beiden Extremformen als paradiesischer und höllischer Ort gezeigt. Dadurch, dass sich der Seher auf Blatt 14 rechts am Bildrand befindet, entsteht der Eindruck, als sei er von seiner eigenen Vision vertrieben worden und hätte sich in ein befestigtes Gehäuse retten müssen. Das unterstreichen auch seine ­Gesten: Links legt Johannes entspannt den Kopf auf die Arme, während er rechts die gefalteten Hände erhoben hat und beunruhigt das Geschehen verfolgt. Insofern ist die Darstel­lung unterschiedlicher Gehäuse nicht nur eine besonders phantasievolle Umsetzung der „Metaphern der Innerlichkeit“,319 sondern über die Motivik der Orte des Visionärs wird seine Vision als Wanderung dargestellt, die mit dem Geschauten eng verzahnt ist. Höhle 314 Meister der Hl. Maria Magdalena, Die Hl. Magdalena und acht Szenen aus ihrem Leben, Florenz, Galleria dell‘Accademia, Inv. 1890 Nr. 8466. Der hier dargestellte „Büßerin-Typus“ entsteht in Italien im 13. Jahrhundert unter franziskanischem Einfluss: Marga Anstett-Janßen: Art. Maria Magdalena, in: LCI, Bd. 7 (1974), Sp. 516–541, hier Sp. 519. 315 Zu anderen Höhlenvisionen s. Speyer 1982. 316 S. die Untersuchung von Ganz 2008. 317 Dresden, Sächsische Landesbibliothek (Ms. Oc. 50, fol. 13v–14r), Blatt 24,5 x 17,5 cm. Zu dieser Doppelseite: Ganz 2006 A, S. 142 f. u. Ganz 2008, S. 258 f. 318 Die Wiederholung des Höhlenmotivs kommentiert Ganz nicht, weil es ihm ausschließlich um die Gehäuse geht. 319 Ganz 2008, S. 254.

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25 Der dritte Reiter, Lothringische Apokalypse, 1320/1330. Dresden, Sächsische Landesbibliothek (Ms. Oc. 50, fol. 13v), Blatt 24,5 x 17,5 cm.

26 Der vierte Reiter, Lothringische Apokalypse, 1320/1330. Dresden, Sächsische Landesbibliothek (Ms. Oc. 50, fol. 14r), Blatt 24,5 x 17,5 cm.

und Turm gelten also nur auf begrenzte Zeit der „Stillstellung des Körpers“, und die „einsame[...], eremitenhafte[...] Abgeschiedenheit und Zurückgezogenheit des Sehers“ wird durch die Vision selbst bedrängt.320 Die auf der Doppelseite dargestellten Rückzugsorte schirmen den Visionär eben nicht „allseitig von dynamischer Interaktion mit der Öffentlichkeit des Außen ab [...]“,321 sondern erscheinen in der Bildargumentation als lediglich tem­-

320 Zitat, aus: Ganz 2006 A, S. 143 u. Ganz 2008, S. 259. 321 Ganz 2006 A, S. 143.

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27 Bonamico di Buffalmacco, Thebais, 1332–1336. Pisa, Camposanto.

poräre „Fixpunkte“.322 Als Schwellenmotiv dient die Höhle hier dazu, die Involviertheit von Visionär und Vision hervorzuheben. Ein Bildthema, das in Italien ab dem 14. Jahrhundert häufig dargestellt wurde, ist das der Thebais. Namentlich zurückgehend auf die Wüste in Ägypten, wird hier vom Leben der ersten Eremiten und Mönche erzählt. Im Camposanto in Pisa flankierte die Thebais von Bonamico Buffalmacco das Jüngste Gericht auf der rechten Seite und war damit, wenn man von der Chorkapelle im Osten kam, das letzte Bild vor dem Hauptausgang des Friedhofumgangs (Abb. 27).323 Über drei horizontale Bildzonen sind die Szenen gleichmäßig verteilt und sonst keiner strukturellen Hierarchie oder Gliederung unterworfen. Eremiten sind in Höhlen und Einsiedeleien zu sehen; dargestellt sind Szenen aus ihrem Leben und moralisierende Einzelszenen. Die Ausschnitte gehen zurück auf die Vitae Patrum, eine Sammlung von Texten, die seit ihrer lateinischen Übersetzung im 5. Jahrhundert immer wieder neu kombiniert wurden, deren individuelle Geschichten als Exempla in Predigten verwendet wurden und damit ab dem 13. Jahrhundert einen bestimmten Bekanntheitsgrad erreicht hatten.

322 Ganz 2008, S. 259. 323 Nach der Zerstörung wurden die Fresken des Camposanto nicht an ihrem ursprünglichen Ort angebracht. Eine Beschreibung des ursprünglichen Wegeverlaufs im Zusammenhang mit der Totenliturgie bei: Frojmovič 1989, S. 201 f.

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Verbunden sind die Szenen lediglich durch ihre gemeinsame Situierung in einer Felsenlandschaft, die am vorderen Rand des Bildes mit einem Fluss abschließt, über den in der Mitte des Bildfeldes – aber parallel zur Bildfläche – eine Brücke führt. Den Betrachter trennt von den Eremiten ein Gewässer. Am anderen Ufer angelangt, kann er mit seinen Augen die Felswege bewandern, mit denen sich die verschiedenen Einzelszenen auf immer neue Art miteinander verbinden lassen. Neben den Einsiedlern, die ihre Alltagsbeschäftigungen verrichten, benutzen allerdings vor allem Teufel die Wege, um die Eremiten in Versuchung zu führen. Vor allem zwei Szenen erzählen von den Gefahren, die lauern, sobald ein Eremit seine Höhle oder Rekluse verlässt: Im Schatten der dritten Bergspitze von links vertreibt ein Eremit mit langem Stock einen Teufel in Frauengestalt, während sich als Gegenbeispiel direkt darunter Johannes Eremita vom Teufel in der Gestalt einer verirrten Frau verführen lässt. Rechts der Brücke am unteren Rand des Freskos bleibt der Rekluse Nathanael standhaft, als ihn ein Teufel mit der Bitte aus seiner Zelle zu locken versucht, einen gefallenen Esel aufzurichten.324 Die Wildnis war im Mittelalter nicht nur mit der Nähe zu Gott, sondern immer auch mit den Bedrohungen durch Teufel und Dämonen assoziiert.325 Die Darstellung der Lebensweise in eremo wird im 14. Jahrhundert vor allem auf Bildern, die aus dem städtischen Bereich stammen, beliebt.326 Hier entsteht die carcerazione oder reclusione als Möglichkeit einer Lebensform auch in der Stadt; als Beispiel dafür kann die Patrizierstocher Umiliana de’Cerchi gelten, die sich im Familienturm in Florenz einschließen ließ.327 Klaus Krüger hat die Umschichtung beschrieben, die ab der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts in dieser Hinsicht stattfand: „Die kirchliche oder häusliche Bildandacht figuriert [...] als Variante, ja Substitut zur faktischen Weltentsagung in eremo“.328 Das Ziel der ­Anachorese, die Gottesnähe, für die der Aufenthalt in der Wildnis ein Ausgangspunkt war, ist jetzt auch in der Stadt möglich, und zwar nicht nur als alternative Weltflucht innerhalb der Stadt, sondern eben auch durch die Bildandacht, die wiederum über die Darstellung von Wüsten, Einsiedeleien und Höhlen an die ursprüngliche contemplatio in monte zurückge­ bunden wird.329

3.2.3 Rätselhafte dunkle Öffnungen Am Beispiel des Höhlenmotivs wird besonders deutlich, dass Schwellenmotive dazu dienen, auf wichtige Orte des Christentums zu verweisen – heilsgeschichtliche oder reale, vor allem aber eine Mischung aus beiden. In den Ausführungen zur Symbolik und Ikonographie von Höhleneingängen und Felsspalten ist mehrfach die Mehrdeutigkeit dieser Motive erwähnt 324 Frojmovič 1989, S. 203: zu den Beschreibungen der einzelnen Szenen. 325 Harte 2003, S. 187, nennt dies einen „commonplace of cultural theory“. 326 Krüger 1989. 327 Krüger 1989, S. 192. 328 Krüger 1989, S. 193. 329 Krüger verwendet das Beispiel einer Franziskusminiatur in Carpentras, auf der die Gottesschau vom Berg La Verna in eine Kirche verlegt wird (Ende 13. Jahrhundert): Krüger 1989, S. 192.

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worden. Am Beispiel einiger Geburtsdarstellungen ist nunmehr danach zu fragen, was passiert, wenn sich die Orte im Bild nicht eindeutig zuordnen lassen – nach dem zugleich Verheißenden und Bedrohlichen dunkler Öffnungen. Welche Rolle spielt dabei die Dunkelheit? Im bereits erwähnten Aufsatz von Gert von der Osten analysiert der Autor eine Auffälligkeit, die er in einem Relief mit der Anbetung der Könige aus der Mitte des 15. Jahrhunderts bemerkt hat: Am unteren Rande des Reliefs, unter der thronenden Gottesmutter mit Kind, befindet sich eine bogenförmig ausgesparte Vertiefung. Er beobachtet ähnliche Motive in 36 weiteren Darstellungen der Anbetung des Christuskindes durch die Eltern, die Heiligen Drei Könige oder die Hirten im 15. und 16. Jahrhundert und folgert: „In allen diesen Beispielen erscheint die Luke oder Öffnung frontal, zeichenartig. Dunkel im Inneren, unauffällig [...], konnte dies Requisit leicht übersehen werden“.330 Diese Öffnungen, die auch Höhleneingänge andeuten können, weisen also darauf hin, dass sich unter der sichtbaren Szene ein Raum befindet, dessen Funktion oder Charakteristika nicht weiter zu erkennen sind, und dessen Merkmal außer der unterirdischen Lage oft nur die Dunkelheit ist. Anders als in der italo-byzantinischen Kunst, welche die Geburt Christi in der Geburtshöhle darstellt, so folgert von der Osten, geben die Künstler des von ihm zusammengetragenen Korpus niederländischer und deutscher Bilder lediglich einen Hinweis auf die Geburtshöhle als „unterirdisches Geschoß unter der Bildbühne“.331 Er schreibt das Aufkommen der ‚dunklen Löcher‘ „dem zunehmenden Bedürfnis des 15. Jahrhunderts nach berichtender Treue“ zu, das den „tatsächlichen Verhältnissen in Bethlehem“ entsprechen soll.332 Schon Bandmann kritisiert diese Erklärung, da es sich ja „nicht nur um religiöse Historienbilder, [...] sondern auch um Andachtsbilder“ handelt, „die die Aufgabe haben, den Betrachter zu Meditationen über den Heilsplan anzuregen“.333 Dass sowohl ein Verweis auf die ‚Richtigkeit‘ der in den Bildern dargestellten Orte, als auch die Beschränkung auf die Kunst nördlich der Alpen zu kurz greifen, wird angesichts eines italienischen Beispiels deutlich, das nicht die Geburt Christi, sondern die Geburt des Stephanus zeigt: In Filippo Lippis Fresko im Dom von Prato werden unter der Geburtsstube, am unteren Rand des Bildes, zwei dunkle Öffnungen sichtbar, die nicht der Handlung ­dienen, und die sich nicht der perspektivischen Ausrichtung des Hauses darüber anschließen (Abb. 28).334 Der unterirdische Raum, der hier angedeutet wird, mag an einen Kerker erinnern und damit auf Stephans Gefangennahme vor seiner Steinigung und auf sein Martyrium vorausweisen. Die dunklen Öffnungen könnten aber auch auf die Nähe des Teufels hindeuten, der im Bild bereits in das Haus eingedrungen ist und Stephanus aus dessen Wiege genommen hat. Nach Kemp tragen die Kellerfenster zu Lippis Entwurf einer „steinerne[n], unfruchtbare[n] und unheimliche[n] Welt“ bei, die an zwei christliche Anfangserzählungen erinnert: die Vertreibung der Ureltern aus dem Paradies und die Geburt

330 von der Osten 1964, S. 343. 331 von der Osten 1964, S. 347. 332 von der Osten 1964, S. 358. 333 Bandmann 1970, S. 151. 334 S. zu diesem Bild: Kemp 1996, S. 66–70.

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28 Filippo Lippi, Geburt des Hl. Stephanus, 1452–1464. Fresko im Dom von Prato.

Christi.335 Als Vergleich nennt er eine Predella Lorenzo Monacos, in der das Christuskind unter dem Dach eines simplen Stalls inmitten einer kargen Felslandschaft liegt, die von einer mit Türmen versehenen Stadtmauer umgrenzt wird (Abb. 29).336 Links an der Stadtmauer wird hier ein in die Tiefe führendes, dunkles Loch teilweise von einem Felsen abgedeckt. Die Nähe zur Stadtmauer lässt das Loch als Fluchttunnel erscheinen, der jedoch durch die Nähe des offenen Stadttors unnötig ist. Auch in diesem Fall kann man im Loch einen Hinweis auf die Geburtshöhle sehen, die in anderen Geburtsbildern Lorenzos in Kombination mit dem Stall dargestellt ist.337 Die Darstellungstradition der Höhle bietet aber auch andere Möglichkeiten der Interpretation: Die hellen, rechteckigen Ränder des Lochs greifen die Form der Krippe auf, in der das Kind liegt. Hinter dem Rücken Marias klafft damit eine Öffnung, die an die Ikonographie der Grablegung und Auferstehung anschließt (vgl. Abb. 20),338 und so das ganze 335 Kemp 1996, S. 70 (seine Hervorhebung). 336 Ca. 1422–1423, Florenz, Museo di San Marco (Nr. 8616), 25,8 x 61,3 cm. Kemp notiert lediglich die Ähnlichkeiten zwischen den Fenstern des Stephanus-Freskos und dem „merkwürdige[n], dunkle[n] Loch“ der früher entstandenen Predella, äussert sich aber nicht spezifisch zum Motiv der unterirdischen Öffnung: Kemp 1996, S. 71. Zum Bild s. auch Eisenberg 1989, S. 36 u. 104–106; Ausst. Kat. Florenz 2006, Kat. Nr. 43, S. 232–236. 337 Eisenberg 1989, S. 36. S. z. B. Predellentafel, ca. 1407–1408, New York, Metropolitan Museum of Art, Robert Lehman Collection (1975.1.66); Predella eines Altarbildes mit Marienkrönung, 1413, Florenz, Galleria degli Uffizi (Inv. Nr. 885); Predella eines Altarbildes mit der Verkündigung, ca. 1422–1423, Florenz, Santa Trinità, Bertolini Salimbeni Kapelle. Abbildungen bei Eisenberg 1989. 338 Vgl. etwa das von einer Felsformation überhöhte Grab in Lorenzos Darstellung des Noli me tangere (ca. 1420–1422) im Wimperg über der Kreuzabnahme Fra Angelicos: Florenz, Museo San Marco. Eisenberg 1989, Abb. Nr. 88.

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Erdenleben Christi in den Bogen der Stadtmauer einspannt. Wie im Stephanus-Fresko Lippis ist es möglich, dass die dunkle Öffnung einen Hinweis auf Tod oder Teufel gibt, oder eine Vorahnung davon vermitteln will. Die senkrechte Kerbe in der Felsformation über dem Loch ist charakteristisch für Darstellungen von Höhleneingängen und Felsspalten des 13. bis 15. Jahrhunderts, und damit sowohl für die Geburtshöhle339 (Abb. 19) als auch für den Eingang zur Hölle (Abb. 24). Auch eine formalikonographische Untersuchung unterstreicht also die Mehrdeutigkeit des Motivs, das seinen Betrachtern viele Assoziationswege offen lässt.

29 Lorenzo Monaco, Geburt Christi, ca. 1422–1423. Florenz, Museo di San Marco (Inv. Nr. 8616), 25,8 x 61,3 cm.

Alfred Acres hat 2006 die bekanntesten niederländischen Beispiele solcher ikonographisch uneindeutigen Elemente in Bildern untersucht, die aus dem Themenkreis der Kindheit Christi stammen und die er über den Begriff „hauntings“ als Einfallstellen des Beunruhigenden oder als vom Bösen frequentierte Orte begreift.340 Die zentralen von ihm zusammengetragenen Beispiele bilden eine heterogene Gruppe: die Mausefalle im Mérode-Triptychon (Abb. 69), die nach Meyer Schapiros Interpretation als von Gott durch die Inkarnation Christi für den Teufel gestellte Falle gilt;341 der fast unsichtbare Teufel hinter dem Ochsen im Stall der Geburtsszene auf dem Portinari-Altar, den Robert Walker 1960 entdeckt hat,342 und die beiden Öffnungen im Boden auf der Mitteltafel des Bladelin-Triptychons. Im Kontext von Höhlen und Felsspalten ist besonders das Bladelin-Triptychon von Rogier van der Weyden mit der Darstellung der Geburt Christi (um 1445) aufschlussreich (Tafel 6): Genau über dem unteren Bildrand im Vordergrund der Anbetungsszene befinden sich hier zwei Öffnungen, die sich im Hinblick auf ihre Position im Bild und ihre Größe ähneln, von denen aber nur eine vergittert ist.343 Günter 339 S. bei Lorenzo selbst: Predella eines Altarbildes mit Marienkrönung, 1413, Florenz, Galleria degli Uffizi (Inv. Nr. 885). 340 Acres 2006. „haunt“ wird deutsch übersetzt „1. spuken od. umgehen in [...]. 2. a) verfolgen, quälen [...]. 3. häufig besuchen, frequentieren [...] 7. Schlupfwinkel“; „haunting“: „1. quälend. 2. unvergesslich“. Langenscheidt Muret-Sanders Großwörterbuch Englisch, Teil I Englisch-Deutsch, Berlin u. a. 2001. 341 Schapiro 1945, S. 182. 342 Robert M. Walker: The Demon of the Portinari Altarpiece, in: The Art Bulletin 42 (1960), S. 218 f. Hugo van der Goes, Portinari-Triptychon, ca. 1476–1479, Florenz, Galleria degli Uffizi (Inv. Nrn. 3191–3193), insgesamt 253 x 586 cm. 343 Berlin, Staatliche Museen, Gemäldegalerie (Inv. Nr. 535), 91 x 89 cm (zentrale Tafel) und 91 x 40 cm (jeder Flügel). Auf der Außenseite des Triptychons ist eine Verkündigung von einem unbekannten Künstler dargestellt. Zum Triptychon s. Panofsky 2006, Bd. 1, S. 290–292; von der Osten 1964; Bandmann 1970; Belting/Kruse 1994, S. 51–60 u. 112–117; Rothstein 2001; Acres 2006, S. 250– 258. Weitere Literaturhinweise bei Rothstein 2001. Einen Forschungsstand der Interpretationen und Erwähnungen der Öffnungen im Boden erstellt Acres 2006, S. 250–252 u. S. 260 f., Anm. 38–43.

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Bandmann interpretiert die unvergitterte Öffnung wie zuvor auch von der Osten als Hinweis auf die Geburtshöhle, im Anblick derer dem Stifter die Anbetungsszene erscheine. Die vergitterte Öffnung verweise dagegen auf den Kerker aus der Passion Christi.344 Vor dem rechten Loch kniet der Stifter, in dem von der Forschung meist Pieter Bladelin (ca. 1410–1472), ein wohlhabender Einwohner von Brügge, gesehen wird.345 Die Richtung des gesenkten Stifterblicks ist umstritten – ist er in das Gebet versunken und sind seine Augen damit äußeren Sinneseindrücken verschlossen, betrachtet er das Christuskind346 oder blickt er in das Loch?347 Wenn man von Letzterem ausginge, welche Rolle spielte dann diese Öffnung? In welcher Relation steht sie zur Anbetungsszene um das Christuskind? Von der Osten formuliert zwei Möglichkeiten: „[S]ieht oder schaut er durch die Öffnung unten, was seitlich von ihm sichtbar ist, oder verehrt er die Geburt im Anblick der Höhle, wo sie stattfand[... ?]“348 – Mit anderen Worten: Ist das Loch ein Schwellenmotiv, welches dem Betrachter anzeigt, dass eine Sichtverbindung zwischen dem Stifter und der Anbetungsszene besteht, dass der Stifter also die Szene sieht, oder deutet es an, dass der Stifter vor seinem inneren Auge die Geburt Christi in der Geburtsgrotte kontempliert? Im zweiten Fall wäre das Loch die Chiffre eines realen Ortes, dessen Anblick dem Stifter hier Geschehenes vor dem inneren Auge präsent werden lässt. Eine Pilgerfahrt zur Geburtsgrotte in Bethlehem scheint jedenfalls Birgitta von Schwedens (1303– 1373) Vision der Geburt Christi beeinflusst zu haben. Darüber hinaus zeigen Darstellungen dieser Vision, die kurz nach ihrem Tod entstanden sind, Birgitta in der Nähe der Höhle kniend.349 Im Bladelin-Altar würde allerdings auch eine persönliche Verbindung des Stifters zur Geburtsgrotte – eine Pilgerfahrt ist nicht überliefert – nicht erklären, warum zwei Öffnungen dargestellt sind. Zwei Aspekte scheinen mir untersuchenswert: erstens die bei von der Osten und Bandmann zu findende Implikation, dass die Öffnungen etwas mit dem Vorgang des Sehens zu tun haben, und zweitens die Frage nach ihrer Beziehung zur dargestellten Szene. Den Aspekt des Sehens unterstreichen die beiden Szenen auf den Flügeln des Triptychons: Links weist die Tiburtinische Sibylle Kaiser Augustus auf eine Vision der Maria mit Kind über einem Altar hin;350 rechts erscheint das Christuskind den Heiligen Drei Königen in der Sonne. Zwischen Geschautem und Schauenden auf den Flügeln einerseits und auf der Mitteltafel andererseits werden Gegensätze aufgebaut: Erscheint dem Kaiser und den Königen ihr Visionsbild im bildräumlichen Hintergrund und in Strahlengloriolen am Himmel, so erscheint es dem Stifter im Vordergrund und am Boden und ist – nimmt man die bildinterne Verortung der Vision in der Höhlenandeutung ernst – in der Finsternis zu suchen.351 344 Bandmann 1970, S. 132 f. 345 Zum Forschungsstand in der Stifterfrage s. Rothstein 2001, S. 43. 346 So Rothstein 2001, S. 38. 347 So von der Osten 1964, S. 345, u. Bandmann 1970, S. 132. 348 von der Osten 1964, S. 345. 349 Z. B. Niccolò di Tommaso, Birgittas Geburtsvision, um 1375, Rom, Pinacoteca Vaticana (Inv. Nr. 137), 43,5 x 53,8 cm. Dazu Ganz 2008, S. 268 f. 350 Vgl. Art. Augustus, in: LCI, Bd. 1 (1968), Sp. 225–227. 351 Ein Vergleich der Flügelvisionen und der zentralen Szene mit dem Stifter wird weder durch von der Osten noch von Bandmann oder Acres unternommen. Bandmann und von der Osten zeigen darüber hinaus eine Abbildung, auf der lediglich die mittlere Tafel zu sehen ist.

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Höhleneingänge und Felsspalten  89

Die Vision des Kaisers wird als Blick aus einem Innen- in einen Außenraum präsentiert (der Palast), der durch ein Fenster gelenkt wird, während die andächtige Vertiefung des Stifters als Blick in einen dunklen unterirdischen Raum dargestellt wird. Der Blick in das Dunkel könnte ein Hinweis auf die Begrenzungen des körperlichen Sehens sein, das anders als gottgegebene Erkenntnis und Erleuchtung von natürlichen Lichtverhältnissen abhängig und anfällig für die Sünde ist.352 Finsternis und Sünde werden etwa in der franziskanischen ­Mystik miteinander assoziiert: „Wie die Finsternis den körperlichen Blick versperrt, so versperrt auch die Sünde, wenn sie in der Seele ist, diese selbst, weil sie finster ist; doch die Betrachtung erfordert die Reinheit und Schönheit der Seele“.353 Auf allen drei Tafeln des Triptychons werden verschiedene Abstufungen des Sehens fokussiert und reflektiert. So sind nicht nur auf allen drei Tafeln Sehvorgänge dargestellt, sondern das Sehen selbst wird – etwa in den Senatoren, deren Blicke sich auf den Kaiser und nicht auf die Vision richten, – im Bild reflektiert.354 Während die Figuren der Anbetungsszene Christi Geburt direkt bezeugen, wird den Sehenden auf den Flügeln das Geschehen indirekt durch eine Vision vermittelt.355 Rothstein weist darauf hin, dass auch die Anordnung der Figuren im Bildraum aufschlussreich sei: Die Visionäre auf den Flügeln bilden einen konvexen Halbkreis, so dass wir als Betrachter in ihrem Rücken stehen; die Anordnung der Szene auf der mittleren Tafel ist hingegen in Richtung des Betrachters offen. Das Loch, in das der Stifter blickt, ist in diesem Sinne eine Distanzierungsmaßnahme: Zwar komplettiert Bladelin durch seine Position den Halbkreis der Verehrung, doch bestimmt sein Sehen eine ähnliche Ordnung, wie sie das Sehen der Bildbetrachter kennzeichnet, die das Dargestellte mit dem oculus carnis, dem körperlichen Blick, in einem Bild wahrnehmen. Es bieten sich also mehrere Möglichkeiten, die beiden Öffnungen im Vordergrund des Bladelin-Triptychons zu interpretieren. Als Kürzel können sie auf reale Heilsstätten verweisen oder – in der ikonographischen Tradition steinerner, dunkler Öffnungen – auf Stationen der Heilsgeschichte. Damit ließe sich auf der Tafel kreisförmig das Leben Christi nachverfolgen: Die rechte Öffnung verweist auf die Geburtshöhle, in der das links darüber von seinen Eltern und Engeln angebetete Kind zur Welt kam. Die vergitterte Öffnung in Kombination mit der Säule darüber weist voraus auf die Qualen der Passion Christi.356 Rogier van der Weyden knüpft an die Bildpraxis des frühen Mittelalters an, eine Momentaufnahme zu liefern, die aber zugleich in der Chronologie zurück- und vorausweist.357 Um den Kreis zu schließen, deutet das Loch zu den Knien des Stifters schließlich auf Grablegung und Aufer352 S. dazu unten 4.1. 353 Meditationes Vitae Christi, zit. nach Lentes 2002, S. 181. 354 Rothstein 2001, S. 39. 355 Rothstein 2001, S. 41 f.: „[T]he experience of the shepherds, Augustus, the sibyl, and the Magi is decidedly second-order. They learn of what has come to pass through divine apparitions, rather than through direct encounters with Christ“. 356 Zur Säule als Präfiguration der Geißelsäule, s. Panofsky 2006, Bd. 1, S. 291. Die Geißelsäule wird in Marias Worten an Birgitta von Schweden im Kontext der Geburtsvision erwähnt: s. ebd., S. 453, Anm. 135. 357 Dazu Kemp 1987, S. 141 f. Vgl. auch oben 3.1.3, Abb. 16: Im Berthold-Missale wird die ‚Momentaufnahme‘ der Anbetung durch den konkreten Weg der Könige gerahmt. Im Bladelin-Triptychon geht es um den Lebensweg Christi.

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stehung Christi hin. Die konkav nach vorne geöffnete Figurengruppe der Geburt Christi würde so durch topographische Präfigurationen seiner Passion ergänzt; im Bildraum empfangen den Betrachter zunächst diese dunklen Vorahnungen der Leiden Christi im Vordergrund. Lässt man den Blick des Stifters in der dunklen Öffnung ruhen, dann ist diese als Kommentar zur Art und Weise seines Sehens zu deuten. Als Schwellenmotiv ähnelt sie darin den Fenstermotiven der mittelalterlichen Visionsdarstellungen, die Sehenden und Gesehenes über ein topographisches Bezugssystem miteinander verbinden – mit dem Unterschied, dass das Fenster Symbol des Durchlässigen ist und immer eine lineare Blickverbindung angedeutet wird (vgl. Tafel 1), während Bladelin, Schwellenmotiv und Geburtsszene in einem Winkel zueinander stehen lässt. Zudem stellt die Dunkelheit, die in den Löchern herrscht, nicht nur ein Hindernis für das Sehen dar, sondern dient im Mittelalter zugleich als Topos der Nacht und der Hölle.358 Die Finsternis ist einer der zentralen Aspekte der Hölle und zugleich eine Strafe für die Verdammten: Das Licht des Himmels nicht sehen zu dürfen, ist nach Caesarius von Heisterbach eine der höchsten Strafen.359 Sogar das Höllenfeuer spendet kein Licht.360 Wie Tzotcho Boiadjiev gezeigt hat, ist die Nacht deshalb so bedrohlich, weil in der Dunkelheit „Orte ihre Umrisse und ihre wirkliche Bestimmung verlieren“.361 Bewohner des Jenseits und vor allem Dämonen erscheinen im Mittelalter besonders dann, wenn Grenzen aufgrund der Finsternis durchlässig werden.362 Fast alle Besuche von Toten und Teufeln finden im Mittelalter in der Nacht statt. Deborah Youngs und Simon Harris heben außerdem den imaginationsbefeuernden Aspekt der Dunkelheit hervor: Das, was man nicht wahrnehmen kann, ergänzt man mit imaginären Bedrohungen; die Dunkelheit wird zum narrativen Mittel („narrative device“).363 Anders als in den Abbildungen 18–27 ist bei Monaco und van der Weyden in den oder durch die dunklen Öffnungen nichts zu sehen – allein die Imagination der Betrachter kann diese zu Hinweisen auf Heilsstätten erklären oder eben auch zu Stellen machen, an denen eine teuflische Präsenz vermutet wird. Dass dunkle Öffnungen die Blicke der Betrachter auf sich ziehen, konstatieren sowohl von der Osten als auch Acres und nennen dafür vor allem die Dunkelheit als Grund: Für von der Osten erscheinen die dunklen Aussparungen „manchmal wie eine ausdrückliche Einrichtung zum Hinabsehen“ und für Acres sind die Tiefen „all the more absorbing for the nearness and blackness of their shadows“.364

358 Zur Nacht s. Boiadjiev 2003 und Youngs/Harris 2003. Als „Land der Finsternis“ („terra tenebrarum“) wird die Hölle z. B. in der Vision Gunthelms bezeichnet (1161): Dinzelbacher 1981, S. 100. In der Visio Alberici (12. Jahrhundert) heisst es: „So dicht und undurchdringlich waren aber die Finsternisse, daß auf keine Weise dort etwas erkannt werden konnte“ („Ita autem tenebre dense erant et spisse. ut nulla ratione ibi cerni aliquid possit“): ebd. S. 80 f. 359 S. Dinzelbacher 1981, S. 93. 360 So z. B. Bischof Otto von Freising (1112–1158), s. Lang/McDannell 1996, S. 123. 361 Boiadjiev 2003, S. 75; ebenso Youngs/Harris 2003, S. 135. 362 Boiadjiev 2003, S. 189. Youngs/Harris 2003, S. 138. 363 „As medieval people sought to fill the void in their knowledge, so the night became home to imagined horrors“: Youngs/Harris 2003, S. 135 u. 137. 364 von der Osten 1964, S. 343. Acres 2006, S. 254.

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Die Beschäftigung mit der Frage, was diese Motive dem Blick und der Imagination des Betrachters abverlangen, geht über eine Untersuchung der Ikonographie und der bild­ internen Bezüge hinaus. Wie im Fall der anderen Schwellenmotive muss hier eine Analyse anschließen (unten Kapitel 4), die sowohl den Betrachter als auch die spezifischen Kontexte der Darstellung (Medium, Aufstellungsort und Größe) stärker berücksichtigt.

3.3 Leitern und Brücken 3.3.1 Motivgeschichte und Forschungsstand In vielen Kulturen und Religionen gelten Brücken und Leitern als Objekte, die zwischen dem Diesseits und dem Jenseits vermitteln: etwa die Leitern im pharaonischen Ägypten,365 die Gjallar bro im mittelalterlichen Skandinavien366 oder die altiranische Cinvat-Brücke.367 Zentral ist jeweils der Eschatologiegedanke, da die Leitern und Brücken erst nach dem Tod beschritten werden. Auch in der spätantiken und frühchristlichen Geschichte dieser Motive überwiegt die Funktion von Leiter und Brücke als Übergang in das Jenseits nach dem Tod. Im frühen Christentum gelten insbesondere die Entbehrungen des Martyriums und der Askese als direkter Weg zu Gott. Die Vision der Perpetua aus dem 3. Jahrhundert bietet ein Beispiel dafür, wie dieser Weg durch das Motiv der Leiter verbildlicht wird: Am unteren Ende der mit scharfen Messern und Schwertern besetzten Leiter liegt ein Drache, über den sie steigen muss; am oberen Ende erwartet sie das Paradies, in dem sich Selige in weißen Kleidern aufhalten. Die Leiter stellt den direkten Zugang durch das Martyrium zu Gott dar.368 Hier wird bereits ein wichtiger Aspekt der Leiter deutlich: Sie eröffnet nicht nur einen Weg, sondern ist zugleich mit Hindernissen versehen (Messer und Schwerter), die das Gelingen des Aufstiegs bedrohen. Dieser Hindernis- oder Prüfungsgedanke zeichnet Leitern und Brücken besonders in einem eschatologischen Kontext aus. Die wichtigste Quelle für die Geschichte des christlichen Leitermotivs ist die Traumvision Jakobs im Alten Testament (Gen 28). Jakob schläft auf seiner Reise nach Haran mit dem Kopf auf einem Stein ein. „Da träumte ihm: Eine Leiter stand auf der Erde, die mit ihrer Spitze bis zum Himmel reichte, und die Engel Gottes stiegen an ihr auf und nieder“.369 Am 365 Ruberg 1988, S. 213; Heck 1997, S. 21. 366 Lund 2005, S. 118. 367 Dinzelbacher 1973, S. 14 f. – Für Beispiele des Leitermotivs in anderen Religionen s. Art. Échelle spirituelle, in: DS, Bd. 4, 1 (1960), besonders Sp. 62–64; ferner mehrere Beiträge im Sammelband Portmann/Ritsema 1982. 368 Vgl. Kaufmann 2006, S. 46–49; Lieselotte Schütz: Art. Perpetua und Felicitas von Karthago, in: LCI, Bd. 8 (1976), Sp. 155 f.; Le Goff 1990, S. 68–71: zur Vision der Perpetua im Kontext des Fegefeuers. Auch Darstellungen der Askese der Styliten seit dem Ende des 3. Jahrhunderts stellen das Leitermotiv in diesen Kontext, vgl. die Reliefstele aus Syrien (um 500), die heute im Bode-Museum in Berlin ausgestellt ist. 369 „[V]iditque in somnis scalam stantem super terram et cacumen illius tangens caelum angelos quoque Dei ascendentes et descendentes per eam“.

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oberen Ende der Leiter steht Gott und verheißt Jakob das Land, auf dem er sich befindet, und die Verbreitung seiner Nachkommenschaft. Nachdem er erwacht ist, salbt Jakob den Stein, auf dem sein Kopf lag: „Voll Ehrfurcht fügte er bei: ‚Wie ehrwürdig ist diese Stätte! Ja, hier ist Gottes Haus und hier die Pforte des Himmels!‘“.370 Im Jakobstraum kommt das einzige Mal in der Bibel der Begriff scala vor, mit dem in der Vulgata das aus dem hebräischen Urtext stammende sullam übersetzt wird, das eher eine Rampe oder treppenartige Aufschüttung bezeichnet als eine Leiter. 371 Aus etymologischer Sicht sind sich Leiter und Treppe also sehr ähnlich. Auch auf bildlichen Darstellungen werden die Motive der Leiter und der Treppe oft im gleichen ikonographischen Zusammenhang verwendet, wobei Treppendarstellungen sehr viel seltener sind.372 Im Unterschied zur Tür oder zur Höhle macht das Motiv der Leiter den Gegensatz zwischen einem Unten und einem Oben zu seinem Hauptmerkmal, indem diese die Distanz zwischen ihnen überbrückt. Bei Leiter und Treppe sind es die Sprossen bzw. Stufen, die einen schrittweisen Auf- oder Abstieg und damit eine Dehnung und Gliederung des Überschreitens zur Folge haben. Auch beim Motiv der Brücke spielen die Richtungen des Unten und Oben eine – wenngleich geringere – Rolle. Bei allen Motiven geht es um den Weg, dessen Begehung gelingen oder scheitern kann. Leiter und Brücke sind daher Motive zwischen Schwelle und Weg.373 Oft sind mit der Leiter weitere Schwellenmotive verbunden, die den Wegcharakter unterstreichen. In der Vision der Perpetua wartet ein Drache am unteren Leiter­ende darauf, die Stürzenden zu verschlingen – ein Motiv, das nicht nur im spezifischen Kontext dieser Vision dargestellt wird.374 Am oberen Ende der Leiter öffnet sich dagegen häufig eine Tür. Dadurch wird die Ambivalenz des Motivs hervorgehoben: Das Motiv der Leiter enthält einerseits die Möglichkeit des Aufstiegs und andererseits die des Abstiegs. Sowohl Leiter als auch Brücke fungieren bisweilen als Hindernis und Prüfstein: Je nach ikonographischem Kontext werden die Motive dazu verwendet, ein Scheitern des Erklimmens bzw. Überquerens darzustellen. Im Fall der Brücke steht dies in der Visionsliteratur im Zusammenhang mit den Jenseitsorten: In der Vision des Ritters Tundal (aufgezeichnet 1147/1148) ist eine Brücke zwischen zwei Regionen der Hölle mit Nägeln bestückt; der Visio Pauli wird in der vierten Redaktion im 12. Jahrhundert eine Brücke hinzugefügt, unter der sich im Fluss Dämonen befinden, welche die herabfallenden Seelen quälen.375 Auf der Tugendleiter aus dem Hortus Deliciarum werden die Aufsteigenden von Dämonen angegriffen und stürzen herab, weil sich ihre Aufmerksamkeit auf irdische Dinge richtet (s. Abb. 56). 370 „[P]avensque quam terribilis inquit est locus iste non est hic aliud nisi domus Dei et porta caeli“. 371 Heck 1997, S. 13 f.; Kaufmann 2006, S. 13 f. 372 S. unten Abb. 47, und im Vergleich dazu Abb. 33. Für die byzantinische Kunst z. B. die Darstellung des Jakobstraums in der Chorakirche in Konstantinopel (1320/1321): Hier bewegen sich die Engel über eine bogenförmige Treppe zwischen Himmel und Erde auf und ab. 373 Schütte nennt die Treppe eine „Vervielfältigung der Schwelle“: Schütte 1997, S. 165. 374 Beispiele der scala coeli s. unten 3.3.3. Ferner z. B. in der Darstellung der Benediktsregel aus Zwiefalten, Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek (Ms. hist. 2°415, fol. 87v); in der Tugendleiter des Hortus Deliciarum. 375 Visio Tnugdali 1989. S. Dinzelbacher 1973, S. 36–38 und S. 49 ff.

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Die genannten Beispiele zeigen bereits, dass das Leitermotiv in seiner Funktion als Träger von Auf- und Abstiegen nicht allein auf den Jakobstraum zurückgeht. In der langen exegetischen Tradition des Jakobstraums wird die Leiter, auf der Jakob die Engel auf- und absteigen sieht, zum Modell des Aufstiegs der Menschen in den Himmel.376 In diesem Sinne wird sie zum Symbol des spirituellen Aufstiegs, des Verinnerlichens von Tugend und Demut, zu einem zentralen Motiv der Mystik und des Mönchtums. In der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts verknüpft Benedikt von Nursia (gest. um 547) im siebten Kapitel seiner Regel – De gradibus humilitatis – den spirituellen Aufstieg durch Demut mit der Himmelsleiter des biblischen Jakobstraums. In zwölf Stufen beschreibt Benedikt, wie der Mönch durch Gottesfurcht und Selbsterniedrigung beginnen soll, an Demut zu gewinnen. Am Ende des Aufstiegs erwarten ihn Sündenfreiheit und Gottesliebe.377 Ähnlich nutzt der Abt des Klosters auf dem Sinai, Johannes Klimakos, um 600 das Leitermotiv für seine Schrift Scala Paradisi, die als spiritueller Leitfaden für die Gemeinschaft des Klosters in Raithu entsteht.378 Der Traktat ist in 30 Kapitel aufgeteilt, die auf die apokryphe Zahl der Jahre zurückgehen, die Christus in Verborgenheit lebte. Die Leiter hat dementsprechend 30 Sprossen. Der Aufstieg beginnt mit der Abwendung von der Welt und fährt fort mit der Überwindung von Lastern und der Erringung mönchischer Tugenden. Auf der letzten Stufe stehen die theologischen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung, die der Mönch allerdings nicht aus eigener Kraft erreichen kann, sondern für deren Erringung es der Gnade Gottes bedarf. Insgesamt ist das Motiv der Leiter sehr vielschichtig; allerdings sind die unterschiedlichen Ebenen eng miteinander verbunden. Zahlreiche Publikationen haben sich bereits dem Motiv und seiner Ikonographie gewidmet. Zwei jüngere Monographien zum Thema haben einen großen Bildkorpus zusammengetragen. Während Eva-Maria Kaufmann sich in ihrer Studie „Jakobs Traum und der Aufstieg des Menschen zu Gott: das Thema der Himmelsleiter in der bildenden Kunst des Mittelalters“ (2006) im Kern auf den Einfluss der Bibelquelle konzen­ triert, ist Christian Hecks „L’échelle céleste dans l’art du moyen âge“ (1997) breiter angelegt. Heck berücksichtigt und erwähnt fast alle bekannten Darstellungen der Himmelsleiter, von denen zuvor nur einzelne Bilder, kleinere, thematisch bestimmte Gruppen oder eine Auswahl vor allem der bekanntesten Beispiele analysiert worden waren.379 Der von Heck erstellte Bildkorpus wird durch einige im Katalogteil von Kaufmanns Arbeit enthaltene spätantike und byzantinische Beispiele ergänzt.

376 Heck 1998, S. 43. 377 Zu Benedikt: Heck 1997, S. 56 f.; Kaufmann 2006, S. 161–178, bes. 161 f. 378 Zum Folgenden: Martin 1954, S. 5–10. Kretzenbacher 1971, S. 24–26 und Kaufmann 2006, S. 71–73. Ins Lateinische wurde die Scala Paradisi erst spätestens im 13. Jahrhundert übersetzt. 379 Ein einzelnes Bild, nämlich das Wandgemälde von Chaldon in Surrey, untersucht z. B. Eriksson 1964; eine Gruppe von Illustrationen der Scala Paradisi des Johannes Klimakos ist Gegenstand der Untersuchung von Martin 1954; einen knappen Überblick über mehrere Jahrhunderte geben auch die folgenden, früher erschienenen Aufsätze zur Leiter: Kretzenbacher 1971; Putscher 1978; Ruberg 1988; Cahn 1989.

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Hauptanliegen sowohl Kaufmanns als auch Hecks ist die ikonographische Untersuchung. Heck möchte mit seiner Studie einen Beitrag zur Ideengeschichte leisten; über seine eher strukturelle als textbasierte Definition der Himmelsleiter – Ausgangspunkt ist keine Textquelle (wie der Jakobstraum für Kaufmann), sondern das Schema „Leiter, die in den Himmel führt“ – vermag er das Motiv auch auf Aspekte des angelegten Bedeutungszusammenhangs hin zu untersuchen („L’échelle céleste: une image paradoxale“).380 Die Vielfalt von Verwendungstraditionen des Leitermotivs erschwert Heck und Kaufmann allerdings eine Systematisierung der Bildbeispiele. Heck kündigt in seiner Einleitung eine Unterscheidung von „échelle spirituelle“ und „échelle eschatologique“ an – Kategorien, die aber nicht klar von­ einander abgegrenzt werden können, wie er schließlich einräumt: „L’analyse des éléments internes ne permet que très rarement de préciser si une image d’échelle céleste exprime une ascension spirituelle ou une montée à travers le cosmos“.381 Auch Kaufmann, die zwischen Himmels- und Jakobsleiter unterscheidet und sich in Abgrenzung zu Heck auf letztere konzentriert, untersucht zahlreiche Bilder, die bereits von ihm analysiert worden sind und in denen sich mehrere Stränge der Exegese des Jakobstraums überschneiden. Mit dem Motiv der Brücke hat sich insbesondere Peter Dinzelbacher befasst.382 Im Gegensatz zur Leiter spielt die gebaute Brücke in der sakralen Landschaft des Christentums eine wichtige Rolle.383 Da das Leitermotiv eine vielfältigere Tradition aufweist, wird die Funktion von Brücken im Folgenden lediglich im Kontext des Jüngsten Tages analysiert, wo sowohl Brücke als auch Leiter als Instrument der Prüfung fungieren. Als eschatologische Motive sind Leiter und Brücke Schwellen zwischen Leben und Tod, Erde und Himmel oder Hölle; die monastischen Tugendleitern und die Prüfungsbrücken der Visionsliteratur sind Orte der Evaluation und damit Schauplätze eines Wandels hinsichtlich Erkenntnis und Tugend.

3.3.2 Symbolik und Ikonographie Die Heilsgeschichte wird das gesamte Mittelalter hindurch immer wieder als Serie von Aufund Abstiegen dargestellt. Das Leben Christi wird gerahmt vom Abstieg auf die Erde und von der Himmelfahrt. Ebenso werden die Leben der Jungfrau Maria und der Heiligen von der Himmelfahrt bekrönt. Im Sinne der imitatio können diese Aufstiege als Vorbilder für den Aufstieg des Menschen gelten. Aber auch historisch ist nach dem Sturz der Engel und nach dem Sündenfall der Weg nach oben durch die Inkarnation Christi wieder eröffnet worden. In der Exegese des Jakobstraums wird daher die typologische Verbindung zwischen Jakobsleiter und dem Kreuz des Neuen Testaments hervorgehoben. Angelegt ist diese typologische Verknüpfung schon in den Evangelien: „Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel 380 Heck 1997, S. 5 zur Methode; die hier zitierte Überschrift stammt von Kapitel XVI, ebd., S. 226–261. 381 Heck 1997, S. 14, Zitat S. 233. 382 Dinzelbacher 1973; Dinzelbacher 1990. 383 Hier befinden sich Kapellen, und die Finanzierung des Brückenbaus trägt zum Seelenheil bei (s. unten S. 200f.).

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hinauf- und herabsteigen über den Menschensohn“ (Joh. 1,51).384 Christus steht als mediator zwischen Gott und den Menschen: „Dans un monde dominé par la faute, il fallait ouvrir un chemin, recréer une voie qui permette aux hommes de s’élever vers le ciel. La descente et la remontée du Christ ont réouvert ce chemin“.385 Einige Bilder nutzen die strukturelle Ähnlichkeit von Kreuz und Himmelsleiter zur Darstellung dieser Entsprechung.386 In der typologischen Vorstellung ist das Motiv dabei variabel  – auch das Motiv der Brücke wird mit Christus verbunden. Für den Kirchenvater Ephraem (gest. 373) ist die Äquivalenz der Medien von Abstieg und Aufstieg der Menschen entscheidend: Wie der Fall der Menschen über ein Holz stattfand – den Baum der Erkenntnis –, so können, wie er meint, auch wir über ein Holz, das Kreuz, in den Himmel gelangen.387 In der Konstellation stufenweiser Fürbitte, die in der Theologie Bernhards von Clairvaux entwickelt wurde, ist Maria integraler Teil dieser Heilsleiter. Sie ist den Sündern durch ihre menschliche Natur noch näher als Christus; über sie ist Christus auf die Erde herabgekommen.388 In seiner Marienpredigt De aquaeductu fordert Bernhard seine Zuhörer auf, sich an Maria zu wenden, denn Christus erhöre seine Mutter, und Gott erhöre seinen Sohn, und dies sei die Leiter für die Sünder.389 Ebenso wie eine Leiter sind Maria und Christus für die Menschen „un intermédiaire, un moyen, une médiation“.390 Im Folgenden wird das Motiv der Leiter im Kontext der Ikonographie des Jakobstraums untersucht, im Kontext der Eschatologie und im Kontext der Vision. Abgesehen davon kommen Leiter, Treppe und Brücke auch in Szenen der Heilsgeschichte vor, nämlich bei der Kreuzabnahme und beim Tempelgang Marias; darauf sei hier lediglich verwiesen.

Jakobstraum Die älteste Darstellung des Jakobstraumes ist eine Wandmalerei in der Synagoge von DuraEuropos in Syrien (245–256).391 Weitere Beispiele lassen sich in der Katakombenmalerei finden.392 Als Darstellung eines Traums des Alten Testaments steht der Traum Jakobs von der Himmelsleiter am Anfang einer bildlichen Tradition von Traumdarstellungen. So hat sich für 384 „[E]t dicit ei amen amen dico vobis videbitis caelum apertum et angelos Dei ascendentes et descendentes supra Filium hominis“. Betont wird diese Verbindung z. B. bei Zeno von Verona (gest. 371/372); Kaufmann 2006, S. 21. 385 Heck 1997, S. 177. 386 Beispiele bei Heck 1997, S. 177–180. 387 Dinzelbacher 1973, S. 130 f. Dort auch zu ähnlichen Parallelführungen bei Etienne de Bourbon und der Hl. Katharina von Siena. 388 S. Salzer 1967, S. 88 mit Quellen, z. B. bei Anselm und Augustinus. 389 „Exaudiet utique Matrem Filius, et exaudiet Filium Pater. Filioli, haec peccatorum scala“. Bernhard von Clairvaux: De aquaeductu, in: PL, Bd. 183, Sp. 441. Vgl. auch Rimmele 2006, S. 207, der die Heilsleiter im Kontext eines spätmittelalterlichen Triptychons untersucht. 390 Art. Échelle spirituelle, in: DS, Bd. 4,1, Sp. 81. Weitere mittelalterliche Textquellen zur Bezeichnung von Christus und Maria als Leiter dort Sp. 81–84. 391 Mit Angabe weiterer Literatur: Kaufmann 2006, S. 37. 392 S. den Katalogteil von Kaufmann 2006, S. 226 f.

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die Darstellung dieses Traums ein leicht erkennbares „ikonographisches Muster“ gebildet, das aus der „Motivzusammenstellung“ von Träumer, Leiter und himmlischer Zone besteht.393 Das früheste erhaltene Beispiel aus der Buchmalerei ist die Zeichnung im Illustrated Old English Hexateuch, der in Canterbury gegen 1025–1050 entstanden ist (Abb. 30). Jakob schläft, den Kopf in die Hand gestützt, auf einem Berg von Steinen. Zu seinen Füßen beginnt die Himmelsleiter, auf der sich zwei Engel befinden, von denen einer nach unten blickt, während der andere den Kopf nach oben wendet. Auf der vorletzten Sprosse steht Gott, der einen Redegestus ausführt. Die Zonen, zwischen denen die Leiter vermittelt, sind klar voneinander abgegrenzt: Von der obersten Sprosse der Leiter bis zum oberen Bildrand reicht ein Wolkenband, das diesen Bereich als Himmel kennzeichnet.

30 Traum Jakobs, Illustrated Old English Hexateuch, Canterbury 1025–1050. London, British Library (Ms. Cotton Claudius B.IV, fol. 43v), Blatt ca. 33,5 x 23 cm.

Der Traum Jakobs von der Himmelsleiter ist in der Traumtypologie Steffen Bogens ein „Verheißungstraum“, der sich dadurch auszeichnet, dass Träumer und Traumbote auf der vertikalen Achse angeordnet sind.394 Die Kombination der verschiedenen Motive bleibt über die Jahrhunderte gleich. Das erklärt sich aus der visuellen Traumtheorie, wie sie Steffen Bogen beschreibt: „Die Darstellung eines Traums entsprach [...] der Aufgabe, von einer Offenbarung

393 Bogen 2001, S. 30. 394 Bogen 2001, S. 99.

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31 Traum Jakobs, Psalter Ludwigs des Heiligen, Paris ca. 1254–1270. Paris, Bibliothèque Nationale (Ms. lat. 10525, fol. 13v).

zu erzählen, die sich in der Geschichte bereits vollkommen erfüllt hatte. Diese Aufgabenstellung wurde mit konstanten Bildschemata gelöst“.395 So weist auch die über zwei Jahrhunderte später in Paris entstandene Miniatur aus dem Psalter des Hl. Ludwig die drei Komponenten Leiter, Träumer und Himmelszone auf (Abb. 31).396 Der Traum wird hier mit der Salbung des Steins kombiniert; die Szenen sind durch eine schlanke Säule voneinander getrennt. Im Unterschied zur früheren Miniatur ist von Gott nur der Kopf zu sehen und Jakob wendet dem Betrachter den Rücken zu. Vertikalität und Himmelszone werden jedoch ebenso stark, wenn nicht noch stärker betont: Wie Jean-Claude Schmitt festgestellt hat, wird hier das einzige Mal in der gesamten Handschrift der Architekturrahmen der Miniatur von einem Bildmotiv überschnitten.397 Auch die Geste, mit der Jakob den Stein salbt, unterstreicht die Aufwärtsbewegung. Die auf den Traum folgende Szene der Salbung des Steines wurde – als Präfiguration des christlichen Altars und seiner Salbung – ein Bestandteil der Kirchweihliturgie: Die Formel „Domus Domini“, die über vielen Portalen als Inschrift steht und die in der Kirchweihliturgie

395 Bogen 2001, S. 371. 396 Zwischen 1254 und 1270 entstanden und für den liturgischen Gebrauch in der Sainte-Chapelle bestimmt. Zum Bild: Schmitt 1989, S.20–22; s. auch Kaufmann 2006, Kat. Nr. 3.40, S. 238 f. 397 Schmitt 1989, S. 21.

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zum Einsatz kam, ist vom Jakobstraum abgeleitet.398 Darüber hinaus ist die Himmelsleiter ein in Gründungslegenden verbreitetes Motiv. So wurde zum Beispiel die Benediktinerabtei Wessobrunn in Bayern durch den Grafen Tassilo nach dessen Leitertraum 752 gegründet, ebenso das Kloster Prüfening in der Nähe von Regensburg nach einem entsprechenden Traum des Bischofs Otto von Bamberg 1108.399 Die bildlichen Darstellungen dieser Träume sind, wenn vorhanden, meist viel späteren Datums. Ein Bild eines solchen Gründungstraums soll hier daraufhin untersucht werden, welche Rolle das ursprüngliche Muster des Jakobstraums spielt.

32 Vision des Hl. Romuald, Tafel eines Polyptychons, Pseudo Jacopino di Francesco, Bologna ca. 1329. Bologna, Pinacoteca Nazionale (Inv. Nr. 287), 63,5 x 37,5 cm.

Die Darstellung der Vision des Hl. Romuald von Pseudo-Jacopino di Francesco, entstanden in Bologna um 1329 (Abb. 32), war Teil eines Polyptychons, von dem heute nur sechs Fragmente übrig sind.400 Der Hl. Romuald (gest. 1027) ist schlafend auf den Stufen zu einem Altar dargestellt, den Kopf gegen diesen gebettet. Hinter ihm ist eine Kirche in einer Berglandschaft zu sehen. Die Schmalseite des Altars zeigt auf den Eingang der Kirche. Die Fassade der Kirche zeichnet sich durch eine große Türöffnung mit darüber liegendem Fenster aus. Auffällig an der Darstellungsweise des Kirchengebäudes ist einzig die aufwändige Gestaltung der Fensterrose. Direkt auf dem hinteren Ende des Altars steht eine Leiter, die in ein schwarzes Loch im Zentrum des oberen Bildrandes führt. Auf dieser steigen fünf Mönche nach oben, die das gleiche weiße Gewand tragen wie der Heilige im Vordergrund. Das Himmelsloch ist durch Sterne als solches gekennzeichnet. Die Vision, wie sie hier dargestellt ist, fügt den Elementen des Jakobstraumes – Träumender, Leiter, Himmelszone – einen Altar 398 Dazu s. Favreau 1991, S. 271. 399 Cahn 1989, S. 712; Heck 1998, S. 50 f. Die entsprechenden Legenden lassen sich niedergeschrieben erst später finden. S. auch unten 6.2.2 zum Gründungstraum von Bath. 400 Zum Bild: Heck 1998, S. 52 f.

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und ein Kirchengebäude hinzu. Es kommt dabei zu mehreren Verbindungen zwischen dem biblischen Bericht und der Heiligenlegende. Die dem Traum folgenden Handlungen  – Weihe des Altars und Gründung der Einsiedelei und des Ordens der Kamaldulenser401 – sind im Traumbild bereits enthalten: Der Altar ersetzt den Stein des Jakobstraumes, der Träumende und die auf die Traumdeutung folgende Handlung sind so im Bild bereits körperlich miteinander verbunden. Außerdem ist an zwei Punkten im Bild zu erkennen, dass die Verbindung zwischen dem Ort des realen Kirchengebäudes und dem Himmel betont wird: zum einen die Stufen zum gemalten Altar, die eine Parallele zwischen der Himmelsleiter und dem Altar selbst ziehen, zum anderen das Portal und das Himmelsloch, die durch ihre Farbgebung miteinander assoziiert werden. Altar und Eingang werden hier als die zwei wichtigsten Stellen des Kirchengebäudes hervorgehoben und mit dem Himmel assoziiert. Die auf­ fällige Fensterrose lässt des Weiteren darauf schließen, dass hier nicht die ursprünglich von Romuald gegründete Einsiedelei gemeint ist, sondern eine größere Ordenskirche. Den Betrachtern ist es möglich, im gemalten Gebäude die Kirche Santa Cristina zu sehen, auf deren Altar das Polyptychon vermutlich stand. Das vom Jakobstraum übernommene Bildschema mit den Ergänzungen vermag die Erfüllung dieses Gründungstraums zu vermitteln und zugleich auf die Geschichte des Ordens hinzuweisen. Für die Darstellung des Traums des Hl. Romuald gibt es im übrigen kein einheitliches Bildschema: So fehlt auf einer Tafel von Bernardo Falconi das Kirchengebäude, aber Wildnis und Reise werden stärker betont; der Hl. Romuald schläft auf einer Felsscholle, eine weitere bildet eine Stütze für die Himmelsleiter, neben der noch ein schlafender Begleiter sitzt.402 Neben dem Jakobstraum und damit den Gründungsanfängen der Kirche hat das Leitermotiv im Orden der Kamaldulenser auch einen eschatologischen Aspekt: Im Kloster Fonte Buono, in der Nachbarschaft der ursprünglichen kamaldulensischen Einsiedelei, bestand die erste Handlung der Bestattungszeremonie darin, den Toten auf eine Leiter zu legen.403

Eschatologie In Kombination mit der Tür findet sich das Motiv der Treppe bereits im Liber vitae der Abtei New Minster (um 1031), wo der Engel auf den Stufen vor der offenen Himmelspforte steht (Abb. 8). Seltener sind Bilder des Jüngsten Gerichts, in denen der Übergang in den Himmel ausschließlich über eine Leiter oder Treppe stattfindet. Ein solches ungewöhnliches Beispiel stellt ein Pariser Elfenbeindiptychon aus dem Metropolitan Museum of Art in New York dar (Abb. 33). Die beiden zwischen 1250 und 1270 entstandenen Tafeln zeigen die Marien­ krönung und das Jüngste Gericht. Auf der linken Tafel sitzt Maria neben Christus auf 401 Die Einsiedelei Camaldoli im Casentino bei Arezzo wurde 1012 eingerichtet. Karl Suso Frank: Art. Kamaldulenser, Kamaldulenserinnen, in: LThK, Bd. 5 (1996), Sp. 1153–1155. 402 Florenz, Galleria dell‘Accademia (Inv. 1890 Nr. 3339), Tafel von einem Polyptychon aus San Michele in Borgo (Pisa). 403 Heck 1998, S. 52 f. zitiert eine Quelle von 1278, in der auch die Verbindung zur Legende des Hl. Romuald hergestellt wird.

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33 Marienkrönung und Jüngstes Gericht, Elfenbeindiptychon aus Paris, 1250–1270. New York, Metropolitan Museum of Art, The Cloisters Collection (Inv. Nr. 1970.324.7a,b), 12,7 x 13 cm.

einem Thron; ein Engel erscheint aus dem dreiblättrigen Bogen über ihnen und setzt der Gottesmutter die Krone auf. Im entsprechenden Bildteil der rechten Tafel thront Christus als Weltenrichter im Himmel. Zu seinen Füßen knien Maria und Johannes als Fürsprecher; über ihm erscheinen aus dem Bogen zwei Engel mit den Instrumenten der Passion. Den oberen Abschluss der beiden Tafeln bilden in den Zwickeln der Bögen jeweils zwei zensierende Engel in flacherem Relief. Das untere Drittel auf beiden Tafeln wird durch mehrere Szenen des Jüngsten Gerichts eingenommen. Unter dem Weltenrichter auf der rechten Tafel ist in einem weiteren durch einen Dreipass abgeschlossenen Bogen die Auferstehung dargestellt. Rechts befindet sich in einem gesonderten Bogen ein nach oben geöffneter Höllenschlund, in den kopfüber eine Seele stürzt. Im Hintergrund sind ein Teufel und eine zweite Seele zu sehen. Auf der linken Tafel wird eine Gruppe von vier Seligen in den Himmel geführt. Ein Engel hat den ersten der Gruppe – einen Mönch – am Handgelenk genommen und zieht ihn auf eine Leiter mit vier Sprossen, die schräg nach oben links führt. Der Engel hat seine Füße bereits auf der ersten und zweiten Sprosse der Leiter platziert und zeigt mit seiner rechten Hand nach oben. In der Mitte des Bildfeldes senkt sich ein zweiter Engel mit ausgebreiteten Armen zu den Seligen herab. Die Konstellation der Bildthemen auf dem Pariser Elfenbeindiptychon ist nicht ungewöhnlich: Ebenso wie andere französische Portaltympana der Zeit zeigen etwa das linke und das mittlere Westportal (um 1200–1230) der Kathedrale Notre-Dame in Paris die Marienkrönung und das Weltgericht.404 Aufschlussreich ist allerdings die Verteilung der Bild­ elemente des Jüngsten Gerichts über die beiden Elfenbeintafeln: Der Schwerpunkt liegt auf der Erlösung. Das wird bereits durch die Geste des Weltenrichters deutlich: Christus hat beide Hände auf die gleiche Weise erhoben und zeigt seine Wundmale, statt mit seiner Linken die Verdammten abzuweisen und mit der Rechten die Geretteten zu segnen. Darüber hinaus nehmen die Seligen mehr Platz ein als die Darstellung von Verdammten und Hölle. 404 Zur Assoziation des Diptychons mit der Ikonographie der Portale Heck 1997, S. 141. Zum Jüngsten Gericht am Portal s. unten 6.1.1. Abb. der Portale in Sauerländer 1970, Abb. 145 u. 152.

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Die Rolle der Maria wird dadurch hervorgehoben, dass sie zweimal dargestellt ist: links auf gleicher Höhe wie Christus, rechts zu seinen Füßen. Unterhalb der Darstellungen der Marienkrönung in den französischen Portaltympana der Zeit befinden sich im Türsturz Szenen ihres Todes und ihrer Himmelfahrt – so auch am Portal der Pariser Kathedrale. Die Leiter im Elfenbeindiptychon greift diese vertikale Erzählbewegung405 auf, und stellt den Aufstieg der Seligen in den Himmel in die Folge der Himmelfahrt Marias – eine Verknüpfung, die etwa das Motiv der Tür nicht herstellen könnte. Der Gedanke der imitatio Mariae wird noch zusätzlich dadurch unterstrichen, dass der Engel über den Seligen die Geste des Krönungs­ engels im oberen Teil des Bildes wiederholt. Über das Motiv der Leiter kann also auch in einem eschatologischen Bildkontext die Idee des tugendhaften Aufstiegs eingeführt werden, für den Maria als Vorbild gilt. Auf der rechten Tafel wird dann als Gegensatz zum Aufstieg der Sturz betont, indem die nackte Seele kopfüber in den Höllenschlund fällt. Im Stundenbuch der Marie de Bohun ist die Leiter Teil einer detaillierten Himmelsdarstellung.406 Das Bild umfasst die D-Initiale, den oberen und unteren Abschluss der Seite sowie den linken Rahmen des Textes zum 6. Bußpsalm, „Domine ne in furore tuo arguas me“ (Tafel 7). Flankiert von Sonne und Mond und umgeben von den Aposteln erscheint der Weltenrichter in der Initiale (Abb. 34). Von links nähert sich Maria, die ihren Mantel schützend um einige Seelen gelegt hat. Am unteren Rand des Bildes ist in der Mitte die Auferstehung dargestellt, während in der rechten Ecke ein offener Höllenschlund die Verdammten erwartet. Außerhalb des Rahmens tragen hier zwei Teufel Seelen heran. Die linke Ecke besetzt eine Burg mit mehreren Türmen, durch deren schmales Portal die Seligen eintreten. Über der Burg steigen vier Seelen eine in den Rahmen des Bildes eingefügte Leiter hinauf. Deren Abschluss bildet ein Kreis mit dem Brustbild eines Engels, der auf eine Tür weist, in der eine kleine nackte Seele verschwindet. Am oberen Rand des Bildes ist links ein weiteres Tor mit mehreren Türmen zu sehen, auf denen Engel stehen. Hier schließt sich am oberen Abschluss der Seite eine apokalyptische Vision an: In der Mitte steht ein himmlischer Thron, von dem so viele Strahlen ausgehen, dass er nur umrisshaft zu erkennen ist. Links und rechts des Thrones stehen gekrönte Selige neben zwei Engeln. Die Buchkünstler zeigen hier mehrere Facetten des Himmels: Er zeichnet sich aus durch eine wehrhafte Architektur, durch das Bild der unter dem Mantel Marias geschützten Seelen und vor allem durch das Licht, das die Seligen am oberen Rand des Bildes in einer Art himmlischen Feuer zeigt.407 Drei Türen408 und eine Leiter gliedern die Bewegung der Geretteten durch diese vertikale Himmelslandschaft. Nach oben hin nimmt die Farbenpracht zu; Aufstieg und Licht sind klar miteinander assoziiert. Betrachtet man die anderen Miniaturen der Handschrift, so fällt auf, dass zwar nicht die Leiter, aber das Motiv der Brücke einmal verwendet wird. Auf Blatt 24 verso überquert in der mittleren dreier unidentifizierbarer Szenen ein 405 Zur Vertikalen als Achse der Erzählung in Portaltympana s. Kemp 1987, S. 81 f. 406 Kopenhagen, Det Kongelige Bibliotek (Ms. Thott 547, fol. 32v), 17,9 x 12,9 cm. Die 66 Blätter der Handschrift umfassen die Mariengebete, die sieben Bußpsalmen und das Totenoffizium: Sandler 1986, Kat. Nr. 140, Bd. 2, S. 161 f. Online Facsimile unter http://www.kb.dk/permalink/2006/manus/76/ eng/ (zuletzt besucht 23.01.2014). Zur Miniatur vgl. Heck 1997, S. 141 f. 407 Sandler 1986, Bd. 2, S. 162: „as though burning in heavenly fire“. 408 Heck sieht nur zwei: Heck 1997, S. 141.

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34 D-Initiale mit Detail des Jüngsten Gerichts, Stundenbuch der Maria de Bohun, 1370–1380. Kopenhagen, Det Kongelige Bibliotek (Ms. Thott. 547.4°, fol. 32v).

Mönch eine Brücke, von der ihn ein Teufel herabzuziehen versucht. Genau dieser Aspekt der Angreifbarkeit der Benutzer von Leiter und Brücke wird im Kontext der Eschatologie meist verwendet: Die Übergänge werden zu Instrumenten, die analog zur Seelenwaage der Bestimmung des Schicksals der Auferstandenen gelten.409 Die Leiter im Jüngsten Gericht des Stundenbuchs steht dagegen ganz im Dienst der Darstellung eines ausgedehnten Aufstiegs. An die Funktion eines ‚kleinen Gerichts‘ knüpft eine Darstellung der Parabel der Fünf Klugen und Fünf Törichten Jungfrauen aus den sogenannten Rothschild Canticles an: Auf Blatt 30 sind im unteren Register die Törichten Jungfrauen dargestellt, die eine Treppe hinaufsteigen (Abb. 35).410 Die Klugen Jungfrauen haben bereits Einlass erhalten und stehen im mittleren Register mit erhobenen Lampen neben Christus. Der Himmel ist als eine Burg dargestellt: Nach Jeffrey Hamburger greifen die Bildkünstler neben den Zinnen auch mit der Holzkonstruktion des oberen Raumes Formen der säkularen Architektur auf.411 Die Gegensätze zwischen den Törichten und Klugen Jungfrauen werden durch ihre unterschiedliche Haltung und durch die Doppelung der Tür deutlich gemacht, die ­einmal geschlossen und einmal offen dargestellt ist. Während das Motiv der doppelten Tür häufig in Darstellungen der Parabel vorkommt (vgl. Abb. 90), findet sich die Treppe

409 Zu Brücken und Leitern mit dieser Funktion in der Visionsliteratur: Dinzelbacher 1973. 410 S. die Monographie von Hamburger 1990, zu dieser Miniatur besonders S. 57–59; ferner (mit zwei Sätzen) Heck 1997, S. 191. 411 Hamburger 1990, S. 57.

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35 Kluge und Törichte Jungfrauen, Rothschild Canticles, Flandern oder Rheinland um 1300. New Haven, Yale University, Beinecke Library (Ms. 404, fol. 29v–30r), Blatt 11,8 x 8,4 cm.

selten.412 Unten links ist ein großer geflügelter Teufel zu sehen, der mit einem Haken eine der Jungfrauen von der Treppe zieht. Die Geste Christi ist der Ikonographie des Jüngsten Gerichts entnommen und unterstreicht daher zusätzlich den eschatologischen Charakter der Darstellung. Im Weltgerichtsfresko der Kirche Santa Maria in Piano in Loreto Aprutino (Abruzzen) müssen die Seelen eine mit Treppenstufen versehene Brücke über einen Fluss überqueren, die an ihrem höchsten Punkt sehr schmal wird (ca. 1429; Tafel 8b).413 Eine Figur sieht man bereits im Wasser treiben, eine andere hängt nur noch mit einem Bein an der Brücke. Das Paradies ist ungewöhnlich ausführlich dargestellt – ein Eindruck, der allerdings auch durch den fehlenden rechten Teil des Freskos beeinflusst ist (Tafel 8a). Über dem Westeingang zieht ein Teufel eine Seele mit sich fort, während sich links mehrere Gruppen von Seelen auf die Brücke hinzubewegen. In der Forschung ist vorgeschlagen worden, die Brücke als Bild des Purgatoriums zu sehen oder als Hinweis darauf, dass die Weltgerichtsikonographie von der Visionsliteratur beeinflusst war.414 Die Visionsliteratur kennt zwar mit Messern besetzte und in ihrer Breite veränderliche oder bewegliche Brücken, aber keine einzelne Vision lässt sich als Quelle der ungewöhnlichen Ikonographie des Himmels in Loreto Aprutino bestimmen.415 Die Brücke tritt nicht an die Stelle der Seelenwaage des Erzengels Michael, sondern dieser ist zusätzlich am anderen Ufer dargestellt. Ganz links außen stehen die drei Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob vor einem Turm, in dessen Pforte Petrus steht. Der erste 412 Die einzige andere bekannte Darstellung ist ein Druck im Speculum Humanae Salvationis, Niederlande ca. 1470, XXIV. Abb. bei Heck 1997, Abb. 140. Hier fallen die Törichten in einen Höllenschlund. 413 Dazu s. Lehmann-Brockhaus 1983, bes. S. 395 f.; Dell’Orso 1988 A und Dell’Orso 1988 B; Dinzelbacher 1990, S. 54; Baschet 2000, S. 238 f. 414 „Ponte della prova“ bereits im Titel bei Dell’Orso 1988 B. Bemerkungen zu verschiedenen möglichen Quellen aus der Visionsliteratur bei Dinzelbacher 1990, S. 54. 415 Zu Brückenvisionen: Dinzelbacher 1973; zur Kritik am Vorschlag, das Bild auf die Vision Alberich von Settefratis zurückzuführen: Dell’Orso 1988, S. 329; Dinzelbacher 1990, S. 54.

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Stock und das Dach des Turms sind von Seligen und Engeln bevölkert, die tanzen oder die Hände nach den Palmzweigen ausstrecken, welche die Seelen ihnen reichen, die auf neben dem Turm stehende Palmen geklettert sind. Ähnlich wie im Stundenbuch der Marie de Bohun ist der Himmel als gegliederte Landschaft unterschiedlicher Orte dargestellt, die durch eine Reihe von Übergängen erreicht werden und schließlich nach oben ausgerichtet sind (Turm, Palmen). Dass auch Aspekte des Fegefeuers in die Darstellung eingeflossen sind, ist nicht auszuschließen: Über der Eingangstür wird, die Form der Brücke wiederholend, inschriftlich die Hilfe der Bewohner von Loreto Aprutino für die Realisierung des Freskos erwähnt.416 Die Bilder unterstreichen, dass die Bewohner damit zu ihrem Seelenheil beigetragen haben.

Vision Die Form der Leiter sowie der „gradualistische Aspekt“417 des Aufstiegs über die Leiter machen diese zu einem Motiv zeitintensiver Beschäftigungen. Spiegelt sich diese Ausgedehntheit in der Betrachtungsweise? Ein gewisser medialer Schwerpunkt lässt sich feststellen: Leiterbilder befinden sich besonders oft dort, wo es um die ausgedehnte contemplatio geht, nämlich vor allem im Sinne einer spirituellen Erarbeitung im Buch. Kein anderes Schwellenmotiv ist zudem Ausgangsmotiv so vieler schriftlicher, theologisch-philosophischer Ausführungen.418 Dagegen gibt es nur wenige Darstellungen in der Tafelmalerei oder der Skulptur. Durch ihre Struktur eignet sich die Leiter zudem für Ausführungen tabellarisch-didaktischer Art. Bevor es in diesem Zusammenhang um das Text-Bild-Verhältnis einiger Leiterdarstellungen geht, soll das oben bereits untersuchte Thema der Vision nunmehr im Hinblick auf Leiterbilder analysiert werden. In einer Handschrift der Revelaciones Birgittas von Schweden zeigt eine ganzseitige Minia­tur von Birgittas Vision des Mönchs auf der Leiter (Abb. 36).419 Die Vision wird vom Herausgeber der Visionen Birgittas, Alfonso Pecha de Vadaterra, im Prolog zu Buch V beschrieben: Birgitta reist nach Vadstena420 und schaut vor ihrer Ankunft ein Streitgespräch zwischen Christus und einem auf einer Leiter stehenden Mönch. Im Bild der Warschauer Handschrift ist Birgitta auf einem Pferd in der Nähe eines Tores zu sehen. Aus dem linken unteren Bildfeld ragt eine Leiter hervor, auf der ein Mönch steht. Dieser breitet die

416 Dell’Orso 1988 A, S. 67 u. 80, Anm. 47: „HOC OPUS FU(IT) FACT(UM) DE ELIMOSINAE TERR(AE) LAURETI... CUM ELIMOSIN(A)... ANNO DNI...“. Die Inschrift ist besonders auf der rechten Seite teilweise zerstört. 417 Ruberg 1988, S. 237. 418 Die wichtigsten ausser den bereits genannten: Augustinus: De sermone Domini in monte (394). Boethius: De consolatione philosophiae (nach 524). Ausführlich dazu: Heck 1997, bes. Kapitel II und III, S. 29–58, passim. 419 Zu dieser Miniatur und entsprechenden Miniaturen in anderen Handschriften, s. Heck 1997, S. 125– 128; Aili/Svanberg 2003; Kaufmann 2006, S. 214; Ganz 2008, S. 131–134. 420 „[I]n equo itinerando ad suum castrum Watzsteni“: Birgitta 1971, Prolog S. 97 f.

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36 Birgittas Vision des Mönches auf der Leiter, Revelaciones der Birgitta von Schweden, Neapel, um 1377. Warschau, Biblioteka Nardowa (Ms. 3310, fol. 225v), Blatt 27 x 18 cm.

Arme aus in Richtung einer Mandorla mit Christus und Maria, die sich in einem durch ein Wolkenband von der unteren Zone abgegrenzten Himmelsbereich befindet. Christus wendet sich in Geste und Blick dem Mönch zu. Von beiden gehen Spruchbänder aus, die aufeinander prallen.421 Maria dagegen blickt herab zu Birgitta, ein Spruchband bzw. Lichtstrahl entrollt sich aus ihrer rechten Hand422 und trifft auf das Gesicht der Heiligen. 421 „[A]n original and telling way of depicting the way in which argument is confronted by counterargument in altercation“: Aili/Svanberg 2003, S. 67. 422 Bzw. aus ihrem Schoß. S. zu frühen Beobachtungen hierzu die Hinweise bei Aili/Svanberg 2003; zu Ansätzen einer Interpretation im Hinblick auf Gender, s. Ganz 2008, S. 131–133. Das Schriftband ist von goldenen Strahlen umgeben. Das deutet darauf hin, dass der Bildkünstler nach einer Darstellungsweise gesucht hat, die dem Charakter der Offenbarungen an Birgitta gerecht wird, die zwischen Rede und Schau angelegt waren. S. Dinzelbacher 1981, S. 163 f.

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Nach Ganz ist im Motiv der im Sattel sitzenden Birgitta erstens „eine Absage an den Traum, mit dem das Leitermotiv eng verknüpft war, zugunsten eines kontrollierten Wachzustands, wie ihn die Position im Sattel erfordert“, und zweitens die Anlehnung an das Bildformular des Einzugs Christi in Jerusalem zu sehen.423 Während Heck in den beiden Offenbarungswegen – Leiter und Spruchband – eine Gegenüberstellung einer organisierten Religion einerseits und einer „dévotion du contact personnel, direct, immédiat“ andererseits sieht, ist für Ganz umgekehrt „der Aufstieg des Mönchs in den Himmel als Verletzung einer Grenze markiert“, die mit der Distanzwahrung Birgittas kontrastiert.424 Diese Widersprüche sind nicht leicht aufzulösen. Anzumerken ist allerdings, dass Leiter und Spruchband hier nicht als Motive der gleichen Ordnung nebeneinander stehen, sondern die Leiter das Geschaute und das Spruchband das Medium der Vision verdeutlichen. Erst im Bild werden sie als parallele Wege zu bzw. von Gott vergleichbar. Den Bildkünstler hat offenbar die Erwähnung im Prolog, dass Maria einige Worte an Birgitta richtet, während Christus die Fragen des Mönches beantwortet, zu dieser Gegenüberstellung bewogen. Das Leitermotiv ist im Mittelalter nicht nur mit dem Traum verbunden, wie Ganz argumentiert, sondern – wie bereits oben angesprochen – auch mit dem Aufstieg in der Demut (humilitas) nach der Benediktsregel – ein Aspekt der Motivgeschichte der Leiter, der durch die Darstellung des Mönches hier eher zutreffen könnte.425 Birgitta beschreibt den Mönch allerdings als „eher ein Teufel als ein demütiger Glaubensbruder“,426 so dass das Motiv der Leiter also hier eine Negativfolie für das unangemessene Verhalten des Mönches Christus gegenüber ist, das sich auch im Aufeinanderprallen der Schriftrollen verdeutlicht. Wie sehr das – in den Revelaciones kritisch beleuchtete – Motiv der mit dem Mönchtum assoziierten Leiter die Ikonographie der wichtigsten Vision, der Offenbarung des Johannes, beeinflusst hat, zeigen einige Darstellungen aus englisch-französischen Apokalypse-Handschriften seit dem späten 13. Jahrhundert. Für den Anfang von Kapitel 4, die Thronvision („post haec vidi et ecce ostium apertum in caelo“) entwickelt sich ein Darstellungsschema, das Johannes auf einer Leiter unterhalb der Himmelstür zeigt. Frühere Varianten zeigen Johannes durch eine Tür oder ein Fenster getrennt von der Thronvision (vgl. Abb. 3); in den späteren Versionen liegt der Fokus zunächst auf dem Visionär.427 In einer englischen Apokalypse aus den letzten 20 Jahren des 13. Jahrhunderts berührt Johannes bereits die oberste Sprosse der Leiter (Abb. 37).428 Seine Aufwärtsbewegung ist dadurch betont, dass er mit dem linken Fuß auf einer Sprosse steht, den rechten aber schon auf die nächste Sprosse gestellt hat. Die Wolkenränder, die den Engel und die Himmelstür umgeben, umfassen den Visionär bereits bis auf sein linkes Bein. Das untere Ende der Leiter ist nicht zu sehen. Die Hände hat Johannes erhoben; der Engel zeigt auf die offene Tür. Das 423 Ganz 2008, S. 133. 424 Heck 1997, S. 126; Ganz 2008, S. 133. 425 Ganz’ Gegenüberstellung von Schlaftraum und Wachvision in den Motiven Leiter und Pferd geht auch deswegen nicht ganz auf, weil Birgitta nach der Vision von ihren Begleitern geschüttelt werden muss, damit sie wieder zu sich kommt: vgl. Aili/Svanberg 2003, S. 66. 426 „[M]agis dyabolus quam humilis religiosus“: so im Prolog, Birgitta 1971, S. 97. 427 Dazu schon Nolan 1977, S. 64. Z. B. Cambridge, Trinity College (Ms. R 16.2, fol. 4r). 428 Zur Handschrift: Sandler 1986, Kat. Nr. 7, Bd. 2, S. 18; Heck 1997, S. 194–196.

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37 Vision des Johannes, Apokalypse, England um 1280–1300. Oxford, New College (Ms. 65, fol. 12v).

38 Vision des Johannes, Apokalypse, England um 1320–1330. Oxford, Lincoln College (Ms. 16, fol. 143v).

Hintergrundmuster, das durch die Tür zu sehen ist, unterscheidet sich von demjenigen im Bereich der Leiter. Wie im Jakobstraum werden so innerbildliche Grenzen gezogen, die durch die Leiter überschritten werden. Nicht nur bilden die Wolkenränder, die sich an den Körper des Johannes anpassen, eine Trennungslinie, sondern die Differenz der beiden Orte wird durch den unterschiedlichen Hintergrund markiert. In einer Apokalypse-Handschrift, die etwas später im England des 14. Jahrhunderts entstanden ist, hat der Engel Johannes bei den Händen gepackt und hilft ihm beim Aufstieg (Abb. 38).429 Der Ärmel des Engels weist Johannes den Weg. Nach Camille interpretieren die Apokalypse-Handschriften des 14. Jahrhunderts die Geschehnisse der Apokalypse nicht mehr im historischen Sinne – als zukünftigen Triumph der Kirche über den Antichristen –, sondern zielen darauf, die Kleriker zu ermahnen und die individuelle Moral zu stärken.430 Alles, was über die Auftraggeber der französischen Prosa-Apokalypsen bekannt ist, lässt eine breit gefächerte Benutzergruppe vermuten, der sowohl weltliche Kleriker als auch monas­tische Benutzer und darunter besonders Frauenkonvente angehören.431 So vermischen sich hier für Johannes der Status als Visionär und als ekklesiastisches Vorbild („le bon prelat“ im Text).432 Die 429 Zur Handschrift: Sandler 1986, Kat. Nr. 72, Bd. 2, S. 79 f. 430 Camille 1992, S. 279. 431 Camille 1992, S. 278. 432 Ebd.

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Leiter, die er erklimmt, nähert sich dadurch der Tugendleiter an, und sein Eintritt in die Himmelspforte kann als Sieg über die Sünde gelesen werden. Camille argumentiert daher, dass diese didaktische und exegetische Tradition das Text-Bild-Verhältnis der vorliegenden Apokalypsen verändert: „using the pictures primarily as cues to moralistic interpretation, almost bypassing the text in the process“.433

3.3.3 Der Aufstieg über Text und Bild Julie Lund hat gezeigt, dass auf frühmittelalterlichen Runensteinen, die an Brücken errichtet wurden, um der Toten zu gedenken, das Bild der Brücke und das Wort für „Brücke“ eine besondere Verbindung eingehen: „the word ‚bridge‘ is placed at the highest point of the text, so that the text line in itself forms an arch, or a bridge, with the bereaved and the deceased divided on each side of the bridge“.434 In ähnlicher Weise bestand möglicherweise ein Zusammenhang zwischen der Verewigung der Bewohner von Loreto Aprutino in der bogenförmigen Inschrift und der Hoffnung, dass ihnen die hier erwähnte Hilfe am Jüngsten Tag zugute kommen würde, um die Brücke zum Himmel überqueren zu können. Ganz besonders das Bildmotiv der Leiter bietet sich zur Verschränkung mit dem Text an: Die Leiterholme sowie die Sprossen oder deren Zwischenräume können beschriftet werden. Die Leiter eignet sich als Gliederungsmotiv auch für längere Gedankengänge und Texte und ist daher ein wichtiges Mittel der monastischen Rhetorik: „Monastic rhetoric developed an art for composing meditative prayer (its typical product) that conceives of composition in terms of making a ‚way‘ among ‚places‘ or ‚seats‘, or (in a common variation on this trope) as climbing the ‚Stepps‘ of a ladder“.435 Das Element des kontinuierlichen, regelmäßig gegliederten Fortschreitens ist auch für die Textentwicklung und die Unterstützung des Leseprozesses fruchtbar gemacht worden. Einige der originellsten Verknüpfungen von Text und Bild stammen aus dem Korpus byzantinischer Handschriften der Scala Paradisi des Johannes Klimakos, die John Rupert Martin 1954 zusammengetragen hat. Die ältesten erhaltenen illuminierten Handschriften datieren aus dem 10. Jahrhundert und nutzen das Bild der Leiter, um das Inhaltsverzeichnis zu veranschaulichen.436 In einigen Handschriften sind die Sprossen nach den Kapiteln durchnummeriert, andere fügen ein Brustbild Christi am oberen Ende der Leiter hinzu und betonen so den Gedanken des Aufstiegs. Darüber hinaus gibt es ausführlichere Miniaturen, die aufsteigende Mönche zeigen und Dämonen, die versuchen, jene von der Leiter zu ziehen. Martin sieht in den Motiven der Dämonen oder des unten auf die fallenden Mönche wartenden Drachen eine Beeinflussung durch die Ikonographie des Jüngsten Gerichts, da ein Scheitern des Aufstiegs vom Autor des Traktats nicht erwähnt wird.437 433 Camille 1992, S. 279. 434 Lund 2005, S. 126. 435 Carruthers 1998, S. 60. 436 Sinai, Kloster St. Katharina (Cod. gr. 417). Martin 1954, Kat. Nr. 26, S. 186 f. u. Abb. 1–4. 437 Martin 1954, S. 14 f.

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Zwei der Codices weisen eine besonders enge Verzahnung von Text und Bild über das Motiv der Leiter auf. Eine 1081 entstandene Handschrift zeigt auf Blatt 4 eine blaue Leiter mit goldenem Rand.438 Links daneben stehen in umgekehrter Reihenfolge die Titel der Kapitel. Dargestellt ist außerdem Johannes, der eine Gruppe von vier Mönchen auf die Leiter hinweist. Zwei der Mönche haben sich umgewendet und betrachten sie.439 Auf den folgenden Seiten befinden sich immer wieder kleine Miniaturen zu den Themen der Kapitel am Rand. Auf Blatt 194 schließlich ist erneut die Leiter dargestellt, auch hier mit beschriebenen Sprossen. Links steht Johannes mit einer Schriftrolle; am unteren Rand des Bildes hasten sechs Mönche mit ausgestreckten Händen auf die Leiter zu. Unter ihnen erinnert eine Inschrift an die Voraussetzungen des Aufstiegs, die in den ersten drei Kapiteln beschrieben werden: „Flight from the world and from all those in the world, for the sake of the Lord“.440 Ein siebter Mönch hat bereits seinen Fuß auf die erste Sprosse der Leiter gestellt. Weiter oben steigen zwei weitere Mönche empor – zwei stürzen jedoch auch bereits am rechten Rand der Leiter hinab in das geöffnete Maul eines Drachen. Am oberen Ende der Leiter hält Christus Kronen in seinen Händen bereit. In ihrer Komposition entsprechen sich die Blätter 4 und 194. Der verheißende Charakter der ersten Leiterminiatur wird allerdings in der späteren noch konkreter, da sich hier bereits Figuren auf der Leiter befinden, die Gruppe der Mönche sich aufgelöst hat und diese zur Leiter eilen.441 Der Verlauf des Textes beeinflusst die Greifbarkeit der Leiter. In einer Handschrift aus dem späten 11. Jahrhundert ist das Aufsteigen auf der Leiter noch deutlicher mit dem Prozess der Textlektüre verwoben.442 Jedem Kapitel geht eine Minia­ tur voran, die das Thema verbildlicht, und am Ende jedes Kapitels ist ein Mönch auf einer Leiter dargestellt, zu der jeweils eine weitere Sprosse hinzukommt (Abb. 39). Der Schreiber der Handschrift ist als Constantin benannt, und „Louphadion“ wird als Ort erwähnt, für den das Buch also vermutlich bestimmt war.443 Kathleen Corrigan nimmt wegen der engen Verbindung von Text und Bild an, dass Constantin für beides verantwortlich war. So werden im Verlauf der Handschrift das Endbild eines Kapitels und das Anfangsbild des nächsten nebeneinander gestellt. Am Anfang des zehnten Kapitels „Über die Nachrede“ ist der Mönch dabei dargestellt, wie er gerade seinen Fuß auf die zehnte Sprosse stellt, obwohl die Leiter als Endbild von Kapitel 9 nur neun Stufen haben sollte. Eine Personifikation der Bosheit ­versucht ihn daran zu hindern. Nach Corrigan beweist sich hiermit das Bemühen des Maler/ Schreibers, Verbindungen zu schaffen. Das zeigt sich auch am Umfeld der Leiter: Meistens steht die Leiter auf einem Boden, auf dem Gräser zu sehen sind, aber in einigen Beispielen ist sie in eine Architektur eingefasst, die mit dem Bild rechts von ihr zum neuen Kapitel korre438 Princeton, University Library (Ms. Garett 16, fol. 4r und 194r). Martin 1954, S. 24–47 u. Kat. Nr. 20, S. 175–177. 439 Martin übersetzt die Inschrift: „O brethren, let us eagerly ascend the ladder which leadeth unto heaven”: Martin 1954, S. 25. 440 Übersetzt nach Martin 1954, S. 45. 441 Martin 1954, S. 45. 442 Zur Handschrift: Martin 1954, S. 47–87 und Kat. Nr. 21, S. 177–181; Corrigan 1996, passim. 443 Corrigan 1996, S. 69.

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39 Anfang des 10. Kapitels „Über die Nachrede“, Himmelsleiter des Johannes Klimakos, spätes 11. Jahrhundert. Vatikanstadt, Biblioteca Apostolica Vaticana (Cod. gr. 394, fol. 67v), Blatt 23,5 x 16,9 cm.

spondiert. Darüber hinaus wird auf Blatt 67 verso deutlich, dass es für den Leser um eine Erarbeitung des Textes im Sinne einer Überwindung von Hindernissen geht; durch den auf der Leiter zurückgehaltenen Mönch wird dies verbildlicht. Auch die Handschrift aus dem Vatikan endet mit einem Leiterbild (Abb. 40). Hier hat ein einzelner Mönch die oberste Stufe erreicht und bückt sich zu Christi Füßen, der von Engeln umringt im Himmel thront. Ganz deutliche Parallelen werden in diesen beiden Beispielen gezogen zwischen dem Buch und der Leiter bzw. zwischen dem Akt des Lesens und dem geglückten Aufstieg. Die Leiter bietet sich durch ihre Aufteilung in mehrere parallele Sprossen für eine konkrete Verbindung mit Textelementen an, da sie die Struktur des Schriftbildes parallelisiert. Ein Beispiel dafür, wie die Lenkung des Betrachterblicks über die Leiter mit dem Leseprozess verbunden wurde, ist ein Blatt aus der Bilderbibel des Königs Sanchos VII. des Starken von Navarra (Pamplona 1197; Abb. 41).444 Die Beschriftung der Darstellung des Jakobstraumes 444 Im 17. Jahrhundert beschnitten auf ca. 24 x 16,2 cm. Zur Handschrift: Bucher 1970, Bd. 1, S. 208 u. Bd. 2, Tafeln 54 f.

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40 Endbild der Himmelsleiter des Johannes Klimakos, spätes 11. Jahrhundert. Vatikanstadt, Biblioteca Apostolica Vaticana (Cod. gr. 394, fol. 155r), Blatt 23,5 x 16,9 cm.

beläuft sich lediglich auf eine Zeile über dem Bildfeld, die unter dem Bild mit wenigen Worten zu Ende geführt wird. Das letzte Wort oben rechts lautet „ascederes“, unten links vervollständigt sich der Satz, „et descenderes per eam“. Um den kompletten Satz zu lesen, muss der Blick des Betrachters das Bild dazwischen streifen. Da der Text nach den Illustrationen eingefügt wurde,445 war es möglich, die Leiter auf diese Art und Weise einzubeziehen. François Bucher hat in seiner Untersuchung der Pamplona-Bibeln gezeigt, dass die Verse – meist wörtlich aus der Vulgata übernommen – nach speziellen Kriterien ausgewählt wurden.446 Die Satzstücke sind auf diesem Blatt so angeordnet, dass der Blick des Betrachters dabei automatisch der diagonal verlaufenden Leiter nach unten folgt. Text und Bild werden so miteinander verzahnt. Zugleich wird die Zentralität des Bildes betont, das somit auch das Schriftbild diktiert. 445 Bucher 1970, Bd. 1. S. 19. 446 Bucher 1970, Bd. 2, S. 21: Er erstellt eine Liste von vier Kriterien: 1. Der „dramatic effect“, 2. Der Erzählfluss, 3. Die Identifikation von Personen und Orten, 4. Das Spektrum, damit Bilder nicht wiederholt werden mussten.

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41 Traum des Jakob und Rahel als Schäferin, Bilderbibel König Sanchos VII. des Starken von Navarra, Pamplona 1197. Amiens, Bibliothèque Municipale (Ms. 108, fol. 17v–18r), Blatt ca. 24 x 16,2 cm.

In der Initiale einer Handschrift mit Homilien und dem Dialogus miraculorum des Caesarius von Heisterbach aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ergänzt die Leiter einen der Schrägbalken des Buchstaben M (Abb. 42).447 Die Initiale eröffnet das erste Kapitel des achten Buches, „De diversis visionibus“. Hier präsentiert Caesarius die verschiedenen Visionen in Anlehnung an Augustinus’ De genesi ad litteram. Zwischen den beiden Schrägbalken des Buchstabens ist Christus zu sehen. Die beiden Figuren rechts und links der Leiter sind inschriftlich benannt als Jakob und Ezechiel, die im Text nicht erwähnt werden. Beide zeigen auf ihre Augen und deuten damit an, dass es um das Sehen geht. Am Fuße der Leiter steht eine Figur mit erhobenen Händen. Nach Heck handelt es sich um eine Verbildlichung „jedes Christen“ (omnis christianus), der im Text genannt ist.448 Die Bezeichnung ist sogar im Text direkt neben den erhobenen Händen zu finden. Die beiden Balken der Leiter bezeichnet Caesarius als körperliche und spirituelle Vision. In der Miniatur sind diese durch die Figuren des Alten Testaments verbildlicht: Ezechiel steht für die körperliche, Jakob für die spirituelle Vision. Da beide auf ihre Augen deuten und nach oben blicken, wird der Unterschied zwischen ihnen auf andere Weise verdeutlicht: Ezechiel umfasst mit seiner Rechten die Leiter, während Jakob im Einklang mit der ikonographischen Tradition des Jakobstraumes auf dem Boden sitzt. Die körperliche Vision ist so mit dem Tastsinn verknüpft, während die spirituelle mit dem Schlaf verbunden ist.449

447 Zur Initiale s. Heck 1997, S. 224 f.; Kaufmann 2006, S. 132–135. 448 „[T]out chrétien“: Heck 1997, S. 225. 449 In der Traumdarstellung ist Jakob manchmal auch mit geöffneten Augen dargestellt. Zwei Beispiele aus dem 13. Jahrhundert bei Schmitt 1989, S. 16, Abb. 6 (Bible moralisée: Oxford, Bodleian Library, Ms. 270b, fol. 17r); u. S. 21, Abb. 10 (Psalter von Amesbury: Oxford, All Souls College, Ms. 6, fol. 96r).

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42 Initiale aus einer Handschrift mit Homilien und dem Dialogus miraculorum des Caesarius von Heisterbach, 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts. Düsseldorf, Leihgabe der Stadt Düsseldorf an die Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf (Ms. C. 26, fol. 165v), Blatt 35 x 25 cm.

Wie die Motive der Tür, des Fensters und der Höhle ist also auch die Leiter mit dem Akt des Sehens verknüpft. Die Beispiele, bei denen eine Verzahnung von Textverlauf, Schriftbild und einzelnen Buchstaben mit dem Bild der Leiter stattfindet, zeigen bereits, dass das Motiv nicht nur bei der Schilderung dargestellter Visionen oder Vorgänge des Sehens eine Rolle spielt, sondern darüber hinaus von hoher Relevanz für den Rezeptionsprozess des Betrachters ist. Umgekehrt gerät in den letztgenannten Beispielen, bei denen das Diagrammatische des Motivs eher fokussiert wird, die Schwellenfunktion des Leitermotivs im Sinne der Anleitung eines räumlichen Übertritts dabei etwas in den Hintergrund. Im Gegensatz zu den oben analysierten unterirdischen Eingängen, die ihr ,Dahinter‘ nur andeuten und der Imagination des Betrachters eine Verortung überlassen, besteht der Versuch der Leiter eben darin, den Übertritt zu unterteilen und den Betrachter dadurch kontrolliert anzuleiten. Durch diese sehr strukturierte und geordnete Verzögerung wird die Schwellenfunktion hier natürlich sehr gedehnt und erhält ihren eigenen Wegcharakter, bei dem die Leiter selbst mehrere Orte in sich vereint. Ein Blick auf mittelalterliche Wahrnehmungsvorstellungen zeigt jedoch, dass gerade der stufenweise Aufstieg seinen festen Platz in der Vorstellung vom zielgerichteten und kontemplativen Sehen hat. Das Konzept der Schwelle im Mittelalter vereint diese zum Teil auch widersprüchlichen und nicht unproblematischen Facetten in sich, wie sich auch am nächsten Schwellenmotiv zeigt.

3.4 Höllenschlund 3.4.1 Motivgeschichte und Forschungsstand Das Motiv des Höllenschlunds taucht im Westen zuerst in angelsächsischen Bildern des 9. Jahrhunderts auf. Das früheste bekannte Beispiel befindet sich auf einer kleinen Elfenbeintafel (Abb. 43) mit der Darstellung des Jüngsten Gerichts und ist vermutlich bereits um

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43 Jüngstes Gericht, Elfenbeintafel, Irland nach 800. London, Victoria & Albert Museum (Inv. Nr. 253–1867), 14,5 x 8 cm.

800 entstanden.450 Schon an dieser Tafel lassen sich die Hauptmerkmale des Motivs beschreiben, wie man sie an Beispielen aus den folgenden sechs Jahrhunderten immer wieder erkennen kann: Der Höllenschlund ist ein mehr oder weniger animalischer Kopf mit geöffnetem Maul, der sich in der unteren rechten Bildecke befindet. Bis in das 16. Jahrhundert ist dies die bevorzugte Darstellungsform und -position des Höllenschlunds in Bildern des Jüngsten Gerichts. Das Motiv bleibt zunächst vorwiegend im angelsächsischen Bereich verbreitet; ab dem 12. Jahrhundert wird es auch in der kontinentaleuropäischen Kunst verwendet. Der Höllenschlund lässt sich nicht auf eine einzelne Schriftquelle zurückführen. In der Bibel werden verschiedene Schlünde erwähnt, etwa von Drachen oder Löwen. Das Buch Hiob schildert sogar etwas detaillierter das Maul Leviathans und gilt daher in der Forschung

450 In jüngster Zeit wurde sie dagegen in das 11. Jahrhundert datiert: Michelli 2003.

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seit Émile Mâle als Ausgangspunkt für die mittelalterlichen Höllendarstellungen. 451 Allerdings fehlt in der Textstelle der Hinweis auf die Hölle. Keine der von der Forschung gesammelten Quellen hat einen eschatologischen Bezug; dieser wird auch durch die Exegese nicht hergestellt.452 Feststellen lässt sich lediglich eine Assoziation des Konzepts der Verdammung mit dem der Oralität, die auch die Höllenbeschreibungen der Visionsliteratur kennzeichnet. In den Visionen des 7.–13. Jahrhunderts nehmen Beschreibungen der Hölle und des Fegefeuers im Vergleich zu Beschreibungen des Himmels den meisten Platz ein.453 Die Begrenzungen der höllischen Gefilde werden jedoch, wenn überhaupt, meist als architektonische oder geographische geschildert. Das Beißen, Verschlingen und Ausscheiden findet in der Visionsliteratur üblicherweise innerhalb der Hölle statt und bestimmt nicht ihren Eingang. Eine Verbindung des Eingangs zur Hölle mit dem Einverleibt-Werden beschreibt jedoch die Vision Alberich von Settefratis (12. Jahrhundert): „Nach diesem allen wurde ich zu den Höllengefilden und zur Mündung des Höllenschlundes hinabgeführt, der einem Brunnen ähnlich erschien. [...] [Unmittelbar, T.B.] neben dieser Hölle war ein Wurm von unendlicher Größe mit einer riesigen Kette gefesselt; das eine Ende dieser Kette schien in der Hölle angebunden zu sein. Vor dem Maul des Wurmes selbst stand eine unzählbare Menge von Seelen, die er alle wie Fliegen zugleich aufsaugte, so dass er, wenn er den Atem einzog, alle zugleich verschlang, wenn er den Atem ausstieß, alle wie zu Asche verbrannt ausspie“.454 Es zeichnet sich hier ab, was in den meisten Fällen einen wesentlichen Unterschied zwischen den schriftlichen und bildlichen Darstellungen des Höllenschlunds ausmacht: Das verschlingende Maul erhält in der Vision einen körperlichen Kontext, das Wesen wird als Wurm charakterisiert, auch wenn dieser „unendlich groß“ ist und damit als monströser Körper dargestellt wird. Der Visionär kann die körperlichen Vorgänge des Wurmes in ihrem vollen Zyklus mitverfolgen. In den bildlichen Darstellungen des Höllenschlundes wird der Weg der Verdammten nach dem Verschlungen-Werden dagegen meist nicht gezeigt. Außer mit der Verdammung ist das Maul mit dem Tod assoziiert. Im anglo-skandinavischen heidnischen Raum, der in der Forschung als Ursprungsgebiet des Höllenschlunds gesehen wird,455 galten insbesondere Wolf und Schlange als Todesboten. Aleks Pluskowski hält es für möglich, dass der verschlingende Wolf der heidnischen Kosmologie eine Inspirationsquelle für den Höllenschlund war.456 Bereits Joyce Galpern hatte die kulturell-religiösen Kontexte im angelsächsischen Entstehungsgebiet des Höllenschlunds untersucht, der dort 451 „[Q]uis revelavit faciem indumenti eius et in medium oris eius quis intrabit. portas vultus eius quis aperiet per gyrum dentium eius formido“ (41,4‒5): Mâle 1931, S. 423. 452 Baschet 1993, S. 237 zeigt dies u. a. am Beispiel der Moralia in Hiob Gregors des Großen. 453 Dinzelbacher 1981, S. 118 mit Beispielen. 454 „Post hec omnia ad loca tartarea et ad os infernalis baratri deductus sum, qui similis videbatur puteo. [...] iusta quem infernum vermis erat infinite magnitudinis. ligatus maxima catena. Cuius catene alterum caput in inferno ligatum esse videbatur. Ante os ipsius vermis animarum innumerabilis stabat multitudo. quas omnes quasi muscas simul absorbebat. ita ut cum flatum traheret, omnes simul deglutiret. cum flatum emitteret, omnes in favillarum modum reiceret exustas”. Zitiert und übersetzt nach: Dinzelbacher 1989, S. 80 f. Zu Settefrati s. auch Le Goff 1990, S. 225–229. 455 Galpern 1977; Schmidt G.D. 1995, S. 29; Pluskowski 2003. 456 Pluskowski 2003, S. 159 f. S. auch Lund 2005, S. 121.

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aus der Notwendigkeit heraus entstanden sei, ein Symbol für die Hölle zu finden, das über religiöse Grenzen hinaus verstanden werde.457 Aber auch unabhängig vom kulturellen Kontext der Entstehungszeit verbildlicht der Höllenschlund die Essenz der Bedrohung des Menschen durch die Hölle. Die mittelalterlichen Höllenstrafen richten sich gegen die Sinne der Verdammten (Finsternis, Höllenfeuer, Eismeer und die Waffen der Teufel) und zielen auf die Zerstörung des Körpers, der am Jüngsten Tag als materielles und strukturelles Pendant zum irdischen Körper aufersteht. 458 So sind die Ursprünge des Motivs eher somatischer als semantischer Natur – eine Prämisse, die Michael Camille seiner Untersuchung der Oralität in der romanischen Skulptur voranstellt,459 und über die er eine anti-ikonographische Analyse vorschlägt. In der Tat ist die Vorgehensweise der Textrückführung in Bezug auf den Höllenschlund nur bedingt ertragreich, wie schon der Mangel an eindeutigen Quellen vermuten lässt. In der ausführlichsten Studie zum Höllenschlund teilt Gary D. Schmidt die frühen Darstellungen des Motivs in morphologische Gruppen, die sich aus der Ähnlichkeit der Schlünde mit den in der Bibel erwähnten Abgründen, Löwen, Drachen und dem Leviathan ergeben.460 Allerdings beruht diese Unterscheidung auf der anscheinend willkürlichen Einschätzung des Autors, wie viel Ähnlichkeit etwa ein bestimmter Höllenschlund mit einem Löwen hat, während sie keine neuen Erkenntnisse zu den einzelnen Beispielen liefert. Die drei Jahre vor Schmidts Untersuchung erschienene ikonographische Studie von Pamela Sheingorn hatte nicht Bibelstellen zum Vergleich herangezogen, sondern sich im Wesentlichen auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Höllenschlünden der bildenden Kunst und dem geistlichen Spiel beschränkt.461 Zwei Aspekte des Motivs, die für eine Analyse des Höllenschlunds als Schwellenmotiv relevant sind, haben die Forschung462 besonders beschäftigt: das Verhältnis des Schlundes zur Hölle und damit verbunden die Frage nach dem Körperzusammenhang der Fratze. In seiner Studie zur Entwicklungsgeschichte des Motivs geht Ernst Guldan der Frage nach, wann und unter welchen Voraussetzungen es zu einer Isolierung des Höllenrachen-Motivs aus seinem narrativen Zusammenhang komme.463 Seiner Ansicht nach wurde der Schlund im Laufe des Mittelalters vom Körperzusammenhang abgetrennt: „Die Fratze hat sich aus der Vorstellung eines vitalen Zusammenhangs von Kopf und Leib, von Maul und Bauch, Tor und Abgrund gelöst. In der grotesken Missgestalt ist das Phantasiebild der Hölle eingeschrumpft zu einer bestialischen Abbreviatur“.464 Am ausgiebigsten hat sich Baschet im Kontext seiner Untersuchung zur Hölle in Frankreich und Italien mit der Frage der Relation von Maul und Bauch 457 Galpern 1977, S. 3. 458 S. zum Körper der Auferstehung: Walker Bynum 1995, hier S. 186. 459 Camille 1993, S. 46. S. dazu unten S. 220 und 378f. 460 Schmidt G.D. 1995, Kapitel 2, S. 32–60. 461 Sheingorn 1992. Zum Höllenschlund im geistlichen Spiel s. auch Schmidt G.D. 1995, Kapitel 6 „The Hell Mouth as a Stage Convention“, S. 165–178. 462 Hier werden nur die wichtigsten jüngeren Publikationen genannt, die sich explizit mit dem Motiv befassen. Zur älteren Forschung s. den Überblick bei Schmidt G.D. 1995, S. 16–18. 463 Guldan 1969, S. 233. 464 Guldan 1969, S. 237 f.

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befasst. Wenn das vermeintliche Dahinter des Höllenschlundes, die Hölle, in den Bildern nicht dargestellt ist, wird für Baschet aus dem Höllenschlund als Schwelle („la gueule comme seuil“) der Höllenschlund als Maul-Ort („gueule-lieu“).465 Nach seiner Auffassung kommt der Höllenschlund als Schwelle gelegentlich in der Skulptur, nie aber in der Buchmalerei vor. Er argumentiert, dass der Höllenschlund dann nicht mehr als Schwelle anzusehen ist, wenn er als Kopf ohne Körper erscheint.466 Das Verhältnis des Höllenschlunds zur Hölle ist also nicht eindeutig: Ist er Eingang, Symbol,467 Metapher,468 Zeichen,469 Zitat470 oder Kürzel471 der Hölle? Diese Mehrdeutigkeit lässt sich nicht auflösen – auch nicht durch die Erstellung einer Typologie. Der Höllenschlund ist zugleich Eingang und Essenz der Hölle. Der Regularität und Unveränderbarkeit des Himmels steht in der mittelalterlichen Vorstellung die Hölle als unablässiger Wandel entgegen, eine „relentlessness of change“472: „Damnation is eternal swallowing and digestion, eternal partition“.473 Im Gegensatz zum Schwellenmotiv der Tür ist der Höllenschlund immer offen dargestellt. Anders als bei der Tür hat die Offenheit allerdings keinen verheißenden Charakter, sondern stellt eine Bedrohung dar. Der Höllenschlund umfasst die Idee der endlosen, der absoluten Schwelle, der andauernden Transformation. Nicht der Übergang zwischen Kopf und Bauch ist entscheidend, wie es Baschet und Guldan implizieren, sondern die Öffnung des Mauls selbst hält die Möglichkeit des Überschreitens bzw. Verschlungen-Werdens bereit.474 Im Folgenden beschränke ich mich im Wesentlichen auf die Analyse einiger Beispiele aus der Buchmalerei. In diesem Medium ist der Höllenschlund besonders weit verbreitet. Baschet und Schmidt isolieren durch die typologische Untergliederung die einzelnen Beispiele zu sehr. Schmidt unterscheidet formal zwischen dem Höllenschlund im „vertical mode“ (dem im Profil dargestellten und nach rechts oder links geöffneten Höllenschlund) und im „horizontal mode“ (dem meist von oben gesehenen Höllenschlund, der nach oben geöffnet ist).475 Baschet erstellt zwei Typologien: eine nach Ansichten („gueule de profil“, „gueule renversée“, „gueule redressée et de face“, „gueule-lac“), die von einer zweiten Unterteilung nach der Funktion des Höllenschlunds ergänzt wird („dévoration“, „réceptacle“, „monstration“, „enfermement“, „signe moral“).476 Im Gegensatz dazu ist im Folgenden stärker auf die Positionierung des Höllenschlunds im Medium des Buches einzugehen, um damit die spezifische Wirkungsweise des Motivs herausarbeiten zu können. 465 Baschet 1993, S. 279 f. 466 Ebd. 467 Eichberger 1987, S. 56; Schmidt G.D. 1995, S. 5. 468 Eichberger 1987, S. 54; Baschet 1993, S. 278. 469 Baschet 1993, S. 278. 470 Eichberger 1987, S. 56. 471 „[B]estialische Abbreviatur“: Guldan 1969, S. 238; „theological shorthand“: Schmidt G.D. 1995, S. 30. 472 Williams 1996, S. 143. 473 Walker Bynum 1995, S. 186. 474 Baschets Differenzierung zwischen dem Höllenschlund als Schwelle und als Ort ist daher meiner Ansicht nach überflüssig. S. oben S. 28f. die Überlegungen zum Aufforderungscharakter einer Schwelle. 475 Schmidt G.D. 1995, S. 127–146. 476 Baschet 1993, S. 280–282.

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3.4.2 Symbolik und Ikonographie Der Höllenschlund kommt hauptsächlich in Darstellungen der folgenden Themen vor: Sturz der Engel, Höllenfahrt Christi, Jüngstes Gericht und Apokalypse. Je nach Bildthema hat er unterschiedliche Funktionen, die vor allem über seine formale Wandlungsfähigkeit vermittelt werden. Wie einleitend bereits erwähnt, ist das erste erhaltene Beispiel eines Höllenschlundes eine Elfenbeintafel aus dem Victoria und Albert Museum in London (Abb. 43). Die noch zu erkennenden Vertiefungen stammen von Beschlägen, die, wie John Beckwith vermutet, die Tafel in ein Diptychon einbanden, aber nicht notwendigerweise aus der gleichen Zeit wie die Tafel stammen.477 Die zweite Hälfte des Diptychons ist verschollen. Auf der Rückseite der Tafel ist die Verklärung Christi dargestellt, die etwas später datiert wird als die Darstellung des Jüngsten Gerichts. Die Augen der Dargestellten und die Löcher in der umlaufenden Kreisdekoration enthielten vermutlich einmal Glasfluss; einen Rest kann man nur noch im rechten Loch über der Paradiesarchitektur erkennen. Der Klappvorgang lässt sich zwar nicht mehr nachvollziehen, aber der Höllenschlund befand sich an der Seite des Scharniers, wäre also erst (wenn das Jüngste Gericht sich innen befand) im letzten Moment des Ausklappens zum Vorschein gekommen, vermutlich bis zuletzt verdeckt von der Sichel, welche die Verdammten einschließt. Durch die Wiederholung und das Wiederaufgreifen von Formen und Mustern werden die Bildrelationen deutlich: Die Verwendung des Rahmenmusters der Tafel für den Empfangsort der Seligen verweist auf das Geordnete, den von Christus geschaffenen Raum (wie es ja auch das Jüngste Gericht selbst ist). Die gegenüberliegende Höllensichel ist eine um etwas mehr als 90° gedrehte, größere Version der Sichel des Engels. Während letztere den Engel emporträgt und hierarchisch auszeichnet, hat erstere eine einschließende Funktion – für die Verdammten gibt es keinen Ausweg, keinen Weg außer den in den Höllenschlund. Die glatten, an den Rahmen angrenzenden, Streifen auf beiden Seiten, sowohl auf der Seite des Paradieses als auch auf der Seite der Hölle, verweisen auf den nun von Seligen bzw. Verdammten zu besetzenden neuen Ort, die Ewigkeit oder aber die ewige Verdammnis. Auch die Bewegung des Verschlingens befindet sich abgesehen vom Höllenschlund ein weiteres Mal im Bild: Den Auferstehenden fliegen als Zeichen ihrer Auferstehung Vögel in den Mund.478 Durch den Mund aus dem Tode erweckt, gehen einige der Auferstandenen durch den Höllenschlund ein in die ewige Verdammnis. Der Höllenschlund selbst ist im Vergleich zu späteren Bildern sehr klein dargestellt, sein Maul umfasst gerade einmal den Kopf eines Verdammten. Bereits in frühesten Darstellungen des Sturzes der Engel wird der Höllenschlund mit nach oben geöffnetem Maul gezeigt. Das erste erhaltene Beispiel für diese Form ist die um 1000 in Canterbury entstandene Caedmon-Handschrift, in dem der Sturz der Engel gleich zweimal dargestellt wird.479 Durch seine Position am unteren Ende des Bildes liegt der Höllen477 Beckwith 1972, S. 118. 478 Beckwith 1972, S. 22: Die irischen Kreuze von Clonmacnois und Durrow zeigen diese Vögel, die vermutlich Seelen darstellen, die sich mit dem auferstandenen Körper wieder vereinen. 479 Inzwischen meistens als „Junius 11“ bezeichnet: Oxford, Bodleian Library (Ms. Junius XI, S. 3 u. 16). Auf S. 3 kommt der Höllenschlund aus dem Erdboden hervor, auf S. 16 ist er von einer Mauer

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44 Sturz der Engel, Psalter des William de Brailes, 1240–1250. Cambridge, Fitzwilliam Museum (Ms. 330, Blatt 1).

schlund meist der Darstellung Gottes im Bildgefüge diametral gegenüber. Die Bildstruktur gibt die Ordnung des Kosmos wieder.480 Der Sturz der Engel überbrückt die Distanz zwischen den beiden Orten. Der Effekt ist der einer höchst expliziten Gegenüberstellung und erlaubt es, die große Distanz zwischen den himmlischen Regionen und der Hölle zu betonen. Außerdem kann der so entstehende Zwischenraum dazu verwendet werden, die Transformation der Engel in Teufel zu verdeutlichen. Eine derartige Transformation ist zum Beispiel im Psalter des William de Brailes dargestellt (1240–1250). Von der Handschrift sind lediglich sechs Blätter erhalten, von denen das erste den Sturz der Engel zeigt (Abb. 44).481 In einem großen Kreis in der oberen Hälfte des Bildes ist Christus dargestellt, der von in Halbkreisen angeordneten Engeln zwischen Wolkenbänken umringt wird. Aus dem Feld unter Christus fallen Luzifer und die Engel kopfüber nach unten in einen Höllenschlund. Beim Überqueren der inneren Bildgrenze zwischen den beiden Bereichen verwandeln sich die Engel in Teufel, so dass einige am Unterkörper noch Engelskleidung tragen, während sich ihre Gesichter bereits in Fratzen verwandelt haben. Der Betrachter blickt auf den geschwungenen Oberkiefer des nach oben geöffneten Höllenschlundes; auf dem Oberkiefer stehen Teufel, die mit Stöcken den Fall der Engel beschleunigen. umfasst. Dazu: Temple 1976, Kat. Nr. 58, S. 76–78. Zur Miniatur im Kontext der Höllenikonographie: Schmidt G.D. 1995, S. 67–71. 480 Schmidt G.D. 1995, S. 140. 481 Cambridge, Fitzwilliam Museum (Ms. 330, Blatt 1 u. 3). Dazu: Baschet 1993, S. 546 f.; Schmidt G.D. 1995, S. 136 f.

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45 Jüngstes Gericht, Psalter des William de Brailes, 1240–1250. Cambridge, Fitzwilliam Museum (Ms. 330, Blatt 3).

46 Höllenfahrt Christi, Psalter aus Blankenburg nach 1235. Wolfen­ büttel, Herzog August Bibliothek (Cod. Guelf. Blank. 147, fol. 81v).

Das dritte Blatt des Psalters (Abb. 45) zeigt das Jüngste Gericht mit einem ebenfalls nach oben geöffneten Höllenschlund. Eine Differenzierung der Wege der Gerichteten in die Jenseitsorte wird zugunsten einer intensiven Vertikalität der Pole Himmel und Hölle aufgegeben. Die Komposition besteht aus Mandorlen und Halbkreisen, in denen sich der Weltenrichter, die Engel mit den Leidenswerkzeugen, die Beisitzer und Fürbitter des Weltgerichts sowie die Auferstehenden, Seligen und Verdammten befinden.482 Im Halbkreis mit der Gruppe der Verdammten hat sich William de Brailes selbst dargestellt. Die von einem Schriftband gekennzeichnete Figur („W de brait me fecit“) wird von einem Engel offensichtlich im letzten Augenblick gerettet, denn ein im Höllenschlund stehender Teufel streckt bereits die Arme nach den Verdammten aus.483 In beiden Bildern ist der Höllenschlund nicht explizit als Eingang zu einem Höllenort dargestellt. Im Bildgefüge wirkt er vielmehr als Katalysator der Transformation und Überschreitung, die im Sturz der Engel durch deren physische Veränderung dargestellt ist, und im Weltgericht durch die Hände des Teufels, die sich über Binnengrenzen hinweg nach den Verdammten ausstrecken. In der Höllenfahrt Christi wird der Höllenschlund fast immer mit zur Seite hin geöffnetem Maul verbildlicht. In der Miniatur in einem Psalter aus Blankenburg (nach 1235) ist die Szene auf das Wesentliche beschränkt (Abb. 46). Die gebogene Linie des weit geöffneten

482 Zu den ausgeklügelten Gliederungsschemata der Handschrift s. Kemp 1987, S. 78–81. 483 S. unten S. 216–218, zu der im letzten Moment geretteten Seele des Weltgerichtstympanons von Conques (Tafel 13).

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Höllenschlundes spiegelt sich im etwas nach vorne gebeugten Körper Christi. Die Grenze bildet der Kreuzesstab, der den Höllenschlund aufzusperren scheint (das zerbrochene Tor ist hier nicht dargestellt). Auf dessen Höhe reicht Christus Adam die Hand. Alle drei wesentlichen Motive werden in der Rahmenform aufgegriffen: Ihre Ausbuchtungen umfassen Höllenschlund, Christus und den Kreuzesstab.

47 Jüngstes Gericht, Psalter, Oxford ca. 1230–1240. Baltimore, Walters Art Gallery Ms. 106, fol. 23r.

Sowohl diese in die Horizontale geöffnete Variante des Höllenschlundes als auch das nach oben geöffnete Maul werden in Darstellungen des Jüngsten Gerichts verwendet. Dabei schwingen durch die Bildstruktur die Themen des Engelssturzes oder der Höllenfahrt mit. Nicht zu übersehen ist das etwa in der Darstellung des Jüngsten Gerichts in einem Psalter aus Oxford (Abb. 47), der aus etwa der gleichen Zeit stammt wie der Blankenburger Psalter.484 Mit einem gegabelten Stab, gewissermaßen der Antithese zum Kreuzesstab der Höllenfahrtsdarstellung, werden hier die Verdammten von einem Teufel in den Höllenschlund gestoßen. Schützend hält der auf einer Treppe stehende Engel auf der linken Seite seine Hand über die Seligen und zieht sie an sich heran. Auch hier wird das Bestreben deutlich, der drohenden Öffnung des Höllenschlunds formal einen Gegenpol zu bieten, nämlich im Bogen, den die Treppenstufen und der Flügel des Engels bilden. Während im Blankenburger Psalter über den vom Kreuzesstab besetzten Zwischenraum eine Verbindung geschaffen wird – die Rettung der Seelen aus der Vorhölle beginnt – wird im Jüngsten Gericht eine Trennung vorgenommen. Eine Miniatur aus der oben bereits erwähnten englischen Apokalypse-Handschrift zeigt Satan, das Tier und den falschen Propheten im Feuersee der Hölle eingesperrt (Abb. 48;

484 Der Psalter besteht aus 24 Einzelblättern. Es wird vermutet, dass er in der Werkstatt Willam de Brailes’ angefertigt wurde: Morgan 1982, Kat. Nr. 71, S. 117. S. auch Schmidt G.D. 1995, S. 128.

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48 Schlacht Satans gegen die Stadt der Heiligen und Satan in den Feuersee geworfen, Apokalypsehandschrift, vermutlich Salisbury, gegen 1250. Paris, Bibliothèque Nationale (Ms. fr. 403, fol. 39v–40r), Blatt 32,5 x 23 cm.

Off. 20,10).485 Mehrere Darstellungen des Höllenschlunds gehen dieser auf den vorherigen Seiten voraus (fol. 38r, 38v, 39v). Hier nun aber nimmt der zweiköpfige Schlund fast die gesamte Bildfläche ein. Es wird keine innerbildliche Zugangsmöglichkeit angedeutet außer der Öffnung, durch die der Betrachter blickt. Satan befindet sich in einem abgeschlossenen Bereich. Diese Darstellungsweise des Höllenschlundes ist die für den Betrachter unmittelbarste: Er blickt direkt in den Schlund, nicht seitlich oder von oben auf den Umriss der Öffnung. Auch durch die Position in der Miniaturenfolge und im narrativen Verlauf der Apokalypse richtet sich dieser Höllenschlund besonders deutlich an den Betrachter. In den vorangehenden Miniaturen spielt der Höllenschlund keine so prominente Rolle. Auf Blatt 38 werden das Tier und der falsche Prophet in den Höllenschlund gestoßen (Off. 19,20–21), der gemäß der geläufigsten mittelalterlichen Darstellungsweise als seitenverkehrtes ‚L‘ in der unteren rechten Ecke des Bildes erscheint (Abb. 49). Auf der Rückseite dieses Blattes wird

485 Lewis nimmt an, dass die Handschrift von einem „aristocratic if not royal reader“ in Auftrag gegeben wurde, für den die anglo-normannischen Glossen hinzugefügt wurden: Lewis 1990, S. 31 f. Zur hier untersuchten Bildfolge auch Baschet 1993, S. 260–264.

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49 Das Tier und der falsche Prophet werden in den Höllenschlund gestoßen, Apokalypse­ handschrift, vermutlich Salisbury, gegen 1250. Paris, Bibliothèque Nationale (Ms. fr. 403, fol. 38r), Blatt 32,5 x 23 cm.

der Drache von einem Engel in einem kleinen Höllenschlund ohne Zähne angekettet (Off. 20,1–3). Auf der Miniatur, die sich dem zweiköpfigen Höllenschlund gegenüber befindet (fol. 39v), ist die Schlacht Satans gegen die Stadt der Heiligen dargestellt (Off. 20,7–9). Statt eines Höllenschlundes mit Augen und Maul stehen die Kämpfer in einem wabernden, die Form des Höllenschlundes evozierenden Abgrund. Umso unerwarteter trifft der geöffnete, mehrköpfige Schlund auf der rechten Seite den Blick des Betrachters. Mit diesem Anblick vor Augen wird der umblätternde Leser schließlich mit dem Jüngsten Gericht konfrontiert – mit einem Thema, das sein eigenes Schicksal betrifft (fol. 40v; Abb. 50). Auch hier ist der Höllenschlund Teil des Bildes: Er befindet sich in der Mitte des Gerichtsgeschehens, das wegen der Darstellung des Johannes etwas nach rechts verschoben ist. Der Betrachter blickt von oben auf den Schlund; auch die wellenartige Öffnung und die Darstellungsweise des Gesichts wiederholen Formen des Bildes auf der Rückseite. Wieder aufgegriffen wird damit die Endgültigkeit des Höllenschlund-Gefängnisses. Das vorhergehende Bild schimmert in der Erinnerung des Betrachters im verkleinerten Schlund gewissermaßen gebündelt durch die Seite hindurch. Umso schrecklicher erscheint der Zielort der gerichteten Seelen, weil das Paradies in dieser Miniatur nicht dargestellt ist, sondern erst auf der gegenüberliegenden Seite erscheint.

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50 Jüngstes Gericht, Apokalypsehandschrift, vermutlich Salisbury, gegen 1250. Paris, Bibliothèque Nationale (Ms. fr. 403, fol. 40v), Blatt 32,5 x 23 cm.

Über die vielen dargestellten Bücher lässt sich ebenfalls eine Verbindung zum Betrachter herstellen. Links des Weltgerichtes sitzt der Visionär, der ein geschlossenes Buch hält und seinen Kopf nachdenklich auf die Hand stützt. Auf den Blättern 38 verso und 39 ist er ohne Buch dargestellt. Der Buchbetrachter sieht sich in der Johannesfigur des Jüngsten Gerichts auf seine eigene Rolle verwiesen. Während das Buch des Visionärs geschlossen ist, hält der Weltenrichter in der Linken das offene, aber unbeschriebene Buch des Lebens.486 Um die Auferstandenen und Gerichteten herum liegen insgesamt 12 offene Bücher, deren Seiten beschrieben sind: Dies sind die Bücher der guten und schlechten Werke, nach denen das Urteil am Jüngsten Tag über die einzelnen Seelen gefällt wird (Off. 20,12).487 Die Öffnung im Sinne der 486 Das mag vom Betrachter als Mahnung aufgefasst worden sein, denn: „Und wer sich nicht eingeschrieben fand im Buche des Lebens, wurde in das Feuermeer geworfen“ Off. 20, 15. 487 Jager 2000, S. 46, sieht im 12. Jahrhundert „the emergence of the book as a symbol of the self in visual art“.

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Enthüllung ist in der Exegese des Jüngsten Gerichts ein entscheidendes Motiv, wie auch die Glosse auf Blatt 40 verso unterstreicht: „Ceo que li livre sunt overt signefie que tutes les consciences seront apertes coment il ‚averont‘ les commandemenz Deu ‚gardé‘“.488 Mit den Büchern steht dem Richter also das Herz (Gewissen) der Auferstandenen offen. Durch die aufeinanderfolgenden Seiten zieht sich das Motiv des Höllenschlunds wie ein roter Faden. Die verschiedenen Darstellungen zeigen formal gesehen die Wandelbarkeit des Motivs.489 Sie bezeugen aber auch, dass die Buchkünstler den Höllenschlund und seine „vecteurs d’hostilité“490 gekonnt einsetzten: An der entscheidenden Stelle treffen diese Vektoren – indem der Höllenschlund frontal dargestellt ist – den Betrachter und nehmen die Drohung des Jüngsten Gerichts vorweg, mit der die Vision des Johannes für den Betrachter eine deutliche Relevanz erhält. Beim Blättern erscheint der Schlund in immer verschiedenen Formen und als dehnbare Öffnung – mal zieht er sich zusammen, mal breitet er sich wieder aus. Diesem Aspekt der Verwandlung kommt durch den doppelköpfigen Schlund auf Blatt 40v derjenige der Vervielfältigung hinzu. Beides sind Merkmale von Dämonen und Teufeln im Mittelalter, die immer wieder ihre Form wechseln, um die Menschen in Versuchung zu führen.491 Jurgis Baltrušaitis sieht die Quelle des zweifachen Höllenschlunds von fr. 403 im doppelgesichtigen Gorgoneion der Antike.492 Die Vielgesichtigkeit des Höllenschlunds ist ein zentrales Merkmal auch einer früher entstandenen Miniatur aus dem Psalter von Winchester (ca. 1150; Abb. 51).493 Hier sind zwei im Profil dargestellte Monster an der Schnauze miteinander verbunden, wo eine weitere, frontal dargestellte Fratze entsteht. Die Mäuler umschließen einen dunkel hinterfangenen Bereich, in dem sich Verdammte und Teufel befinden. Die Ohren der Monster sind Drachenköpfe. Auch aus den Fellzotteln winden sich Drachen. Zwei Drachenköpfe bilden den Abschluss der Unterkiefer mit langen Zähnen, an denen die Angeln einer Tür hängen. Ein Engel verschließt mit einem Schlüssel die Tür von außen (vgl. Abb. 8). So kommt dem Höllenschlund, wie Baschet festgestellt hat, neben der Funktion der Öffnung hier auch die Möglichkeit zu, geschlossen zu werden.494 Die Gewalt der Hölle richtet sich gegen ihr eigenes Inneres. Gleichzeitig verhindert die Tür, dass sich die Mäuler komplett schließen.495 Die Darstellung ist die letzte Miniatur einer Sequenz der Geschehnisse des Jüngsten Gerichts, die sich über neun Seiten erstreckt, und gleichzeitig das letzte Bild vor dem Textteil des Psalters (fol. 40–142). Weltenrichter und Kreuz bilden auf Blatt 35 die Mitte dieser 488 Abb. 50, rechte Spalte, 4.–6. Zeile; s. auch Jager 2000, S. 187, Anm. 42. Zu den Büchern („codicibus“), die das Gewissen der zu Richtenden bloßlegen und die Richter darin mit klarer Sicht lesen lassen, s. Richard von St. Viktor: De judiciara potestate in finali et universali judicio, in: PL, 196, Sp. 1182. 489 Baschet 1993, S. 264. 490 Baschet 1993, S. 268. 491 Vgl. Harte 2003, mit mehreren Quellen zu Begegnungen mit Dämonen. 492 Baltrušaitis 1985, S. 54. 493 Die Miniaturen, alles Einzelblätter, sind beschnitten und neu eingeklebt worden und daher nicht mehr in ihrer Originalzusammenstellung bekannt. Dazu Edmondson Haney 1986, S. 9–12; s. zur Höllendarstellung auch Baschet 1993, S. 180 f. u. 265. 494 Baschet 1993, S. 181. 495 Diese Beobachtung bei Pluskowski 2003, S. 155.

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51 Engel sperrt die Verdammten in der Hölle ein, Winchester-Psalter, ca. 1150. London, British Library (Ms. Cotton Nero C.IV, fol. 39r), Blatt 32 x 22,5 cm.

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Sequenz, die mit der Auferstehung der Toten beginnt (fol. 31r). Es folgen sechs Apostel, sechs Engel und die Gruppe der Seligen – jeweils auf einem eigenen Blatt. Nach dem Bild des Richters folgen die weiteren sechs Apostel, dann die Gruppe der Verdammten und eine Darstellung der Qualen der Verdammten vor dem abschließenden Bild der Hölle. Auch wenn die Originalzusammenstellung unbekannt ist: Die Reihenfolge entspricht der Ikonographie eines in Register unterteilten Jüngsten Gerichts – nur, dass jede Gruppe im Winchester Psalter eine eigene Buchseite besitzt. Der Blick des Buchbenutzers wird gewissermaßen erst die linke Seite eines imaginären monumentalen Weltgerichtsbildes hinaufgeführt zur Darstellung Christi und dann hinabgeführt in die Hölle. Die Sequenz entspricht Aufstieg und Fall, deren Warnung durch die Unausweichlichkeit der mehrgesichtigen Hölle auf Blatt 39 umso deutlicher wird. Nach Guldan sind die multiplen Höllenschlünde ein „hyperbolisches Bild der Hölle“, das seine Ursprünge in der Dreiköpfigkeit des antiken Höllenhundes Cerberus hat, und liefern darüber hinaus ein „diabolisches Zerrbild der göttlichen Trinität“.496 Guldan bezieht sich hier auf die Darstellung der Szene von fr. 403 in einer später in der Normandie entstandenen Gruppe von Apokalypse-Handschriften.497 In der Cloisters-Apokalypse befindet sich auf Blatt 35 ein Konglomerat aus drei größeren Höllenschlünden, die den Feuersee bilden, in den Satan geworfen wird (Abb. 52). Wie in fr. 403 ist hier auf der Rückseite das Jüngste Gericht dargestellt (Abb. 53). Dem im Profil dargestellten Höllenschlund, in dem die Verdammten stehen, entwächst unterhalb des Auges eine grinsende Fratze, die aus dem Bild heraus blickt und die gleichen Merkmale aufweist wie der obere Höllenschlund der Rückseite. Noch deutlicher als in der Pariser Handschrift schimmert die Rückseite durch das Blatt hindurch – die Verdoppelung des Gesichts ermöglicht es, den Schlund in den Dienst der Erzählung zu stellen, während die Fratze sich direkt an den Betrachter richtet.498 Wie Meyer Schapiro in seiner Untersuchung „Frontal and Profile as Symbolic Forms“ argumentiert, ist das Profil „detached from the viewer and belongs with the body in action“. Das frontale Gesicht dagegen „is credited with intentness, a latent or potential glance directed to the observer“.499 Der mehrgesichtige Höllenschlund hat hier die Doppelfunktion, die Hölle als Ziel der Verdammten im Bild und als bedrohliche Wirklichkeit für den Betrachter zu vereinen. 496 Guldan 1969, S. 239 u. 240. S. auch Williams 1996, S. 127‒134 zu Multicephalen in Antike und Mittelalter. Weitere Beispiele für multiple Gesichter oder Köpfe sind: Der Eadwine-Psalter, Mitte 12. Jahrhundert, Cambridge, Trinity College (Ms. R 17,1, fol. 126r); ein Höllenfahrtsbild des in Oxford entstandenen und oben (s. Tafel 5) bereits erwähnten Münchener Psalters, ca. 1200–1210, München, Bayerische Staatsbibliothek (Clm. 835, fol. 27r), s. Morgan 1982, Kat. Nr. 23, S. 68–72; die oben bereits erwähnte Lothringische Apokalpyse, 1320/1330, Dresden, Sächsische Landesbibliothek (Ms. Oc. 50, fol. 50r). 497 Neben der hier genannten Cloisters-Apokalypse, New York, Metropolitan Museum of Art, Cloisters Collection (Nr. 68.174), s. auch: London, British Library (Ms. Add. 17333); Cambrai, Bibliothèque Municipale (Ms. 422); Metz, Bibliothèque Municipale (Ms. 38); Paris, Bibliothèque Nationale (Ms. lat. 14410). 498 S. Baschet 1993, S. 268, der der kleinen Fratze „un potentiel agressif“ zuspricht, sich aber weder für das Verhältnis zur Rückseite noch für die besondere Relevanz des Jüngsten Gerichts für den Betrachter interessiert. 499 Schapiro 1973, S. 38 f.

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52 Satan in den Feuersee geworfen, CloistersApokalypse, ca. 1320. New York, Metropolitan Museum of Art, Cloisters Collection (Nr. 68.174, fol. 35r). © The Metropolitan Museum of Art

53 Jüngstes Gericht, Cloisters-Apokalypse, ca. 1320. New York, Metropolitan Museum of Art, Cloisters Collection (Nr. 68.174, fol. 35v).

Die Wandelbarkeit des Höllenschlundmotivs und die verkleinerte Wiederholung seiner Merkmale in den Apokalypsen sind Aspekte, die eng mit dem Medium Buch verbunden sind, mit der Sequenzialität der Bildblätter und deren Doppelseitigkeit, die erst eine gewisse „Durchsicht“ zulässt. Daher ist nunmehr nach dem Verhältnis des dargestellten Schlundes zur Buchseite und deren Begrenzungen zu fragen.

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3.4.3 Schlund und Rand in der Buchmalerei Am Beispiel der Pariser Apokalypse-Handschrift ist deutlich geworden, dass der Schlund seine mahnende Wirkung in der Buchmalerei nicht in isoliert betrachteten Bildern, sondern beim Umblättern der Seiten im Kontext einer Miniaturensequenz entfaltet. Die Wirkungsweise entspricht der Parallelführung von äußerer Handlung des Umblätterns und innerer Verwandlung in der „Augustinian notion of reading as a process of converting (‚turning‘) the heart“.500 Ähnlich zentral ist das Umblättern für die Beeinflussung des Betrachters durch den Höllenschlund in einer Darstellung des Sturzes der Engel und der Erschaffung der Tiere und des Menschen in einem französischen Psalter der gleichen Zeit (um 1250; Tafel 9): Hier stürzen die Engel in einen Höllenschlund, der sich in einem an den Hauptrahmen der Minia­tur angehängten, mit Flammen gekennzeichneten dreieckigen Bereich befindet.501 Die Arkadenbögen zur Linken Christi, in denen die Engel vorher standen, sind jetzt leer. Die Füße zweier stürzender Engel, die über dem Bildfeld mit der Darstellung der Erschaffung noch zu sehen sind, setzen die senkrechte Bewegung nach unten fort. Die Verlegung des Höllenschlundes in ein vom rechteckigen Format der Miniatur abgesondertes Bildfeld verdeutlicht nicht nur seine Position in der christlichen Weltordnung. Er weist im Hinblick auf die über ihm dargestellten Szenen auch voraus, nämlich auf den Sündenfall und die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies (gegenüber auf Blatt 10 dargestellt) und schließlich auf das Jüngste Gericht. Für den Benutzer des Psalters entwickelt der Höllenschlund durch seine dreieckige Anhangstruktur einen mahnenden Charakter: Beim Blättern kann er gedanklich an jeden Rahmen der folgenden Bilder wie eine Art Erinnerungsanhänger angelegt werden. Eine ähnliche Komposition weist die untersuchte Darstellung von Hildegards Vision der göttlichen Caritas im Luccheser Liber Divinorum Operum auf (Abb. 5). Ist es bei Hildegard eine Art ‚Autorinnensiegel‘, das den äußeren Bezugsort der Vision liefert, so ist es im Psalter der seit dem Sturz der Engel offene und auf die Verdammten wartende Höllenschlund und sein Platz in der visuell vermittelten Weltordnung, der den Benutzer der Handschrift immer wieder an das Schicksal von Sündern erinnert. Der auf der gegenüberliegenden Seite dargestellte Sündenfall erhält durch die (gedankliche) Fortführung des Bildfeldes nach unten so den Charakter eines tatsächlichen Falls in die Tiefe. Auch die Miniaturen auf jeder der drei folgenden Doppelseiten des Psalters (11v–12r, 13v–14r, 15v–16r) weisen das gleiche hochrechteckige und in zwei Register aufgeteilte Bildfeld auf wie Blatt 9 verso. Abgesehen von Blatt 9 verso befindet sich an keiner der Miniaturen ein Appendix. Auf vier Miniaturen mit Szenen aus dem Alten Testament folgen vier aus dem Neuen Testament, die mit der Kreuzigung und der Höllenfahrt Christi abschließen. Auch hier ist ein Höllenschlund dargestellt – allerdings innerhalb des Bildrahmens und im Profil nach links geöffnet (Abb. 54). So behält der Anhang auch hier seinen bedrohlichen Charakter; es lässt sich ein ähnliches Bestreben der Bildkünstler wie in der Cloisters-Apokalypse feststellen, zwischen einem Schlund als narra500 Jager 2000, S. 57. 501 Paris, Bibliothèque Nationale (Ms. lat. 10434, fol. 9v). Dazu Baschet 1993, S. 257 f., der allerdings diese Miniatur isoliert untersucht.

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54 Kreuzigung und Höllenfahrt Christi, französischer Psalter, Mitte 13. Jahrhundert. Paris, Bibliothèque Nationale (Ms. lat. 10434, fol. 16r), Blatt 21,3 x 15,1 cm.

tivem Motiv und einem den Betrachter betreffenden Schlund zu differenzieren. Das Anhängsel liefert eine Art ‚Nachbild‘ in der Erinnerung des Betrachters, das die folgenden Seiten mit seiner Bedrohlichkeit infiziert.502 Ihre Infektionskraft entfalten Elemente der Hölle nicht nur über mehrere Seiten, sondern auch durch ihre Position auf der Buchseite. Im Psalter der Marguerite de Bourgogne (zwischen 1225 und 1249) steht der kleinformatigen Darstellung des Pfingstwunders auf Folio 18v als letzte Miniatur vor den Psalmen auf Folio 19 ein ausuferndes, die ganze Bildseite ausnutzendes Jüngstes Gericht gegenüber (Tafel 10).503 Während das Bild links von der Bindung begrenzt ist, lässt der rechte Rahmen noch etwas Platz bis zum materiellen Rand der Seite. Dieser wird von Figuren aus drei der vier Register ausgenutzt. In vieler Hinsicht ist das Gericht dieses Psalters ungewöhnlich: Zum einen ist das unterste Register mit der Höllendarstellung größer als das mit der Darstellung des Weltenrichters. Zum anderen gibt es 502 Zum Nachbild in den optischen Theorien des Mittelalters, s. unten S. 138. Vom narrativen Konzept her  – wenngleich mit anderem Ziel  – erinnern die zwei erwähnten Appendixstrukturen aus dem 13. Jahrhundert an die Arma Christi Bilder, deren „semantisch-ideographischer Formelapparat“ nach Jörg Jochen Berns zu Beginn des 14. Jahrhunderts voll elaboriert war. Hier werden die Arma als „Subimagines“ dargestellt und können an bestimmten Stationen der Passion vom Betrachter als „Erinnerungsmarken“ verwendet und auf das Zentralbild Christi bezogen werden: Berns 2000, S. 30 u. 35 f. 503 Entstanden in Paris. Paris, Bibliothèque Ste-Geneviève (Ms. 1273, fol. 18v–19r). S. dazu Baschet 1993, S. 179 f.

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jeweils gleich zwei Gruppen von Seligen und Verdammten, die einmal bekleidet und einmal nackt dargestellt werden. Erstere befinden sich sogar im gleichen Register wie Christus. Das Paradies wird lediglich durch die Gruppe von Seligen angedeutet, die im obersten Register von einem Engel zu Christus geführt werden. Hinweise auf die Topographie des Himmels gibt es nicht. Die Ketten der Verdammten werden von zwei Teufeln gezogen, die sich außerhalb des Bildrahmens befinden und sich zurückwenden. Auch der schwerttragende Engel im untersten Register befindet sich außerhalb des Rahmens. Der Rand der Bildseite wird hier nicht nur als Ort der Teufel und Engel gekennzeichnet, sondern dem Betrachter wird auch suggeriert, dass der Weg der Verdammten über den Rand abwärts in die Hölle führt. Das wird durch den Auferstehenden verdeutlicht, der sich ganz rechts im zweiten Register in seinem Grab aufrichtet: Er schaut über seine Schulter hinweg in Richtung des Bildrandes und ist damit bereits als Verdammter gekennzeichnet. Das Jüngste Gericht kontrastiert in der Behandlung der Buchseite mit der Miniatur des Pfingstwunders, die von einem deutlichen Rahmen und einem breiten leeren Rand umgeben ist. Der Apostel am rechten Rand weist bereits mit der Hand auf das Jüngste Gericht hin, während sein Fuß auf die Hölle zeigt. Mit dem rechten Rand auf dem gegenüberliegenden Blatt ist derjenige Bereich der Buchseite als Einflussbereich der Hölle gekennzeichnet, den die Benutzerin des Psalters beim Umblättern der Seite berühren musste. Ähnlich verhält es sich im Psalter der Blanche de Castille (um 1223–1226).504 Auf Blatt 170 befinden sich in zwei übereinander angeordneten Kreisen innerhalb eines rechteckigen Rahmens der Richter und die Scheidung der Verdammten und Seligen. Ein Engel hat den Vordersten der Seligengruppe am Handgelenk gegriffen und weist mit der rechten Hand nach oben, während ein Teufel die Verdammten an einer Kette hinter sich her auf den Seitenrand zieht. Die Buchkünstler nutzen die Wölbung des Kreisrahmens, um die Seligen hinaufsteigen zu lassen, während für die Verdammten ein Hügel eingefügt ist, der ihren Abstieg verbildlicht. Auf der Rückseite von Blatt 171 dann enden Auf- und Abstieg der geschiedenen Seelen: Hier sind in der gleichen Kreiskomposition der Schoß Abrahams und der Höllenschlund untereinander angeordnet. Wie im Psalter der Marguerite de Bourgogne ist es auch hier der äußere, von der Leserin zu berührende Seitenrand, der zum Ort der Teufel und Verdammten wird. Allerdings wird der Bildrand nicht nur in Psaltern auf diese Art und Weise genutzt. Im Weltgerichtsbild aus einem Missale der Augustiner-Eremiten hält ein außerhalb des Bildrahmens stehender Teufel mit einem Haken die sich zum Richter umblickenden Verdammten im Höllenschlund gefangen (Toulouse, 1362).505 In einem Jüngsten Gericht zum Fest Allerheiligen in einem Lektionar aus Regensburg ist der Eingang zur Hölle ganz auf den Seitenrand verlegt worden (Abb. 55).506 Hier läuft ein Feuerstrom nach byzantinischer Ikonographie von den Füßen Christi aus am rechten Rand der Buchseite nach unten, wo er 504 Paris, Bibliothèque de l’Arsenal (Ms. 1186, fol. 170r u. 171v), Blatt 28 x 20 cm. Abbildungen bei Baschet 1993, Abb. 29 f. Zu den Bildern ebd., S. 177–179. 505 Toulouse, Bibliothèque Municipale (Ms. 91, fol. 170v) Zu sich außerhalb der regulären Bildstrukturen aufhaltenden Teufeln, s. auch Tafel 7. 506 Zur Handschrift, s. Parkes 1979, Kat. Nr. 49, S. 227–242.

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55 Jüngstes Gericht zum Fest der Allerheiligen, Lektionar aus dem Dominikanerinnenkonvent Heiligkreuz, Regensburg, zwischen 1267 und 1276. Oxford, Keble College (Ms. 49, fol. 235v), Blatt ca. 44,2 x 30,5 cm.

in der als Höhlenöffnung dargestellten Hölle endet, in die ein Teufel die Kette der Verdammten zieht. Neben den Verdammten ist auch die Auferstehung auf dem unteren Bildrand dargestellt. In der Miniatur selbst sind unter dem Weltenrichter (im obersten Register) fünf Bildfelder mit thronenden Heiligen dargestellt, und im sechsten Petrus mit einer Gruppe von Seligen, die er zu einer Gebäudeabbreviatur mit Tür führt. Die letztgenannten Beispiele verdeutlichen, dass es nicht nur der Höllenschlund ist, sondern dass es Elemente der Hölle allgemein sind, die Bildgrenzen überschreiten und so ihre Bedrohlichkeit entfalten. Die Innovativität der Buchmaler im Umgang mit Bildrahmen und -rändern wird in der Miniatur eines Jüngsten Gerichts aus einer nordfranzösischen Handschrift der Civitas Dei von Augustinus deutlich (Tafel 11).507 Die Darstellung an sich ist bereits ungewöhnlich. Das Format ist eine Art Bildspalte als Pendant zum danebenstehenden 507 Mitte des 12. Jahrhunderts, Abtei Saint-Bertin. Boulogne-sur-Mer, Bibliothèque Municipal (Ms. 53, fol. 73r), Blatt 44 x 31,5 cm. Cahn 1996, Bd. 1, Kat. Nr. 114, S. 136 f. S. dazu auch Heck 1997, S. 224.

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Text.508 Der Himmel wird oben als Stadtabbreviatur gezeigt, die von Engeln bewacht wird. In einem Kreis thront Ecclesia, während unter ihr in drei Registern Patriarchen, Propheten, Apostel, Märtyrer, Konfessoren und Jungfrauen angeordnet sind. Dieser leiterartigen Struktur sind links und rechts kleine Halbkreise angehängt, in denen Engel sitzen. Christus als Weltenrichter ist stehend im untersten Register dargestellt; er wendet sich nach rechts und hält zwei ausgerollte Spruchbänder: „Venite Benedicti ...“ und „Discedite a me maledicti ...“. Zu seiner Linken ist eine Kette von Verdammten dargestellt, die von einem Teufel in einen schwarz hintermalten Halbkreis seitlich des Bildes gezogen werden. Unter Christus ist ein Dreieck mit der Darstellung des angeketteten Höllenfürsten an das Bild angehängt. Formal erinnert diese Höllendarstellung an die des Psalters mit der Darstellung des Engelssturzes. Bei genauerer Betrachtung unterscheiden sich die beiden Darstellungen jedoch: Das Appendixmotiv der Psalterminiatur ist mit einem Rahmen versehen, während der Bereich des Höllenfürsten der Boulogner Handschrift lediglich durch einen dunklen Bereich gekennzeichnet ist. Es scheint, als hätte sich die Finsternis der Hölle durch die Rahmung hindurch gefressen, die hier normalerweise fortgeführt zu denken wäre. Der Prozess beginnt bereits an dem schwarzen Schacht, auf den die Verdammten zugehen, und rechts neben dem Kopf Satans, wo das Schwarz den blauen Hintergrund überdeckt. Die Ringe der Ketten, die Satan fesseln, sind am goldenen Rahmen des Bildes befestigt, auf dem Christus als Sieger über der Hölle steht. Auch der halbrunde Bereich der zwei Teufel wiederholt zwar die Halbkreisform der Engel, lässt diese aber gewissermaßen implodieren, indem sie vergrößert dargestellt und anstelle des rot-goldenen Rahmens von einem Flammenkranz begrenzt wird. Bemerkenswert ist diese Darstellung vor allem, weil sie die Hölle nicht nur formal aus dem zentralen Bildformat auslagert und damit als ‚andere Ordnung‘ kennzeichnet. Die Bildkünstler stellen auch ganz deutlich Finsternis und Feuer der Hölle als zerstörerische Elemente dar, deren Aggressivität sich gegen die Bildstrukturen selbst richtet: Rahmen lösen sich auf und gehen in Flammen auf; das Schwarz scheint die Buchseite selbst auszuhöhlen.509 Im Stundenbuch der Katharina von Kleve (gest. 1476) wird mit dem Höllenschlund der Gang in die Tiefe des Buches bildlich untersucht (Tafel 12). Die zum Totenoffizium zugehörige Miniatur entstand um 1440 und ist das einzige erhaltene Beispiel dieser Art des Höllenschlundes.510 Auf der ganzseitigen Miniatur des Blattes, das eingefügt wurde, dessen Rectoseite also leer ist, wird der Höllenschlund mit einer burgähnlichen Architektur verbunden. Die Kombination von Höllenarchitektur und Schlund als solche ist nicht ungewöhnlich –

508 Nach Walter Cahn verknüpft das Bild zwar Elemente, die in der Civitas Dei vorkommen, es gibt aber keine spezifische Quelle: Cahn 1996, Bd. 1, S. 136. 509 Als frühes Beispiel für die Auflösung innerbildlicher Rahmen im Umkreis des Höllenschlunds, s. das sog. Aelfwine Gebetsbuch, 1023–1035, London, British Library (Ms. Cotton Titus D. 27, fol. 75v), wo sich zwischen Satan und dem nach oben aufgerissenen Höllenschlund der Kreisrahmen um die „Quinität“ auflöst. Abb. bei Schmidt G.D. 1995, S. 78. 510 New York, Pierpont Morgan Library (Ms. 945, fol. 168v). Die Handschrift ist in zwei Teile geteilt. Gorissen 1973; Ausst. Kat. Utrecht/New York 1989, Kat. Nr. 45 u. 46; Schmidt G.D. 1995, S. 146– 148.

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bereits die Elfenbeintafel lässt den Schlund unter Türmen erscheinen.511 Im Stundenbuch allerdings ist der obere Schlund farblich als Teil der Architektur gekennzeichnet. Die Augen sind geschlossen, und das Maul – den unteren Kiefer ersetzt eine Reihe von Zinnen – öffnet sich auf den Umriss einer rechteckigen Tür. Im unteren Teil der Miniatur ist dagegen ein mit Fell und Schnurrhaaren als animalisch gekennzeichneter Höllenschlund mit geöffneten Augen dargestellt. Er erscheint gewissermaßen als eine aus der Erstarrung erwachte, zeitlich nachfolgende Version des oberen Höllenschlunds. Seine Mundwinkel sind schirmartig nach vorne aufgespannt, sodass die gelbe Innenseite zum Vorschein kommt. Hinter den oberen Zähnen blicken die Augen eines weiteren, dahinter liegenden roten Höllenschlundes hervor, dessen Maul zwei weißliche Farbflecken enthüllt, die zu einem dritten Höllenschlund gehören könnten. Weder die Multiplikation der Schlünde, noch der frontale Blick in das Maul sind die entscheidenden Innovationen.512 Hier ist vielmehr die Idee der endlosen Schwelle in ein Bild umgesetzt worden; die intakte Oberfläche des vellum wird spielerisch negiert. Während der obere, architektonische Höllenschlund den Betrachter nicht bedroht, sondern in seine Funktion als Bauelement eingebunden ist, scheint es, als hätte der untere sich plötzlich – vielleicht beim Aufblättern dieser Seite – aufgebläht. Die aufgespannten Außenseiten des Höllenschlunds im Stundenbuch haben einen starken Hautcharakter, und lassen den Betrachter Parallelen ziehen mit der Pergamentseite vor sich. Die beobachtete formale Dehnbarkeit des Motivs ist hier als körperliche Eigenschaft des Schlundes bildlich umgesetzt worden. Die Farbgebung des Höllenschlunds ist die der menschlichen Körperöffnungen, somit ist diese auch die am stärksten somatische der Höllenschlunddarstellungen. Höllendarstellungen im Medium der Buchmalerei öffnen, das kann man hier gut sehen, ein ganzes Feld von Berührungspunkten mit dem Benutzer des Buches. Schon durch das laute Aussprechen der gelesenen Worte ist sich der Leser immer seiner eigenen Stimme und dadurch seines eigenen Mundes bewusst. Die Begriffe für den Lesevorgang liegen im Mittelalter nah an denen des Essens: So sollten Mönche auf der Bedeutung der Worte ‚kauen‘ (ruminatio) und sich diese im Gedächtnis ‚einverleiben‘.513 Das Einzige, was sich auf der Seite der Höllenschlundminiatur des Stundenbuchs lesen lässt, sind die Worte auf den Schriftrollen, die aus dem Maul des grünen Wesens am Seitenrand hervorkommen, das die Miniatur auf seinen Schultern zu tragen scheint: Es sind die sieben Tod511 Vgl. darüber hinaus die Höllenfahrt aus der Burgbibliothek in Křivoklát, ca. 1280–1290 (Ms. I.b. 23, fol. 12r): Morgan 1988, Kat. Nr. 184, S. 189–191; die Höllenfahrt im sog. Fitzwarin Psalter aus der Mitte des 14. Jahrhunderts, Paris, Bibliothèque Nationale (Ms. lat. 765, fol. 15r): Sandler 1986, Kat. Nr. 120, Bd. 2, S. 133–135; und die Höllenfahrt vom rechten Flügel des Einhorn-Altares aus dem Erfurter Dom, um 1430: Abb. bei Guldan 1969, S. 233. 512 Einen frontalen Blick in ein Maul erhält man beispielsweise im Jüngsten Gericht des Bedfordmeisters (um 1420): Wien, Österreichische Nationalbibliothek (Cod. 1855, fol. 218v). Ein bogenförmig gerahmtes Bildfeld umgeben auf einem Rankenhintergrund Rundmedaillons mit der Darstellung der kosmischen Vorzeichen des Jüngsten Gerichts. Zwei Szenen sind nicht in Rundmedaillons gefasst, sondern direkt in die Rankenbordüre gemalt: die Seelenwägung und ein frontal dargestellter Teufelskopf, in dessen Maul drei Seelen im Feuer sitzen. (Abbildung bei Eichberger 1987, Abb. 19). In einem Retabel der Kathedrale Saint-Just in Narbonne blickt man durch einen Schlund auf Satan und mehrere Instrumente zur Ausübung der Höllenstrafen (1354–1381). Dazu Baschet 1993, S. 130 (Abb. 130). 513 Camille 1993, S. 49.

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sünden, die sicher in die Hölle führen, die hier vom Monster verspeist werden. Dessen grüne Farbe und die Wellen der Schriftrollen, die viel länger sind als die Worte, die sie tragen, fügen sich so gut in die Blätterranken der Seite ein, dass man sie zunächst gar nicht wahrnimmt – ein weiterer Grund, dies als die ‚somatischste‘ Miniatur des Höllenschlunds zu sehen. Der von der Darstellung ausgelöste Bezugsrahmen der Oberfläche des Pergaments, der Tiefe des Buches und der Haut seiner Seiten soll die Betrachterin, auch wenn das Buch geschlossen ist, weiterhin beschäftigen.514 Unter den hier untersuchten Schwellenmotiven nimmt der Höllenschlund, das muss abschließend betont werden, eine Sonderstellung ein. Als einziges Schwellenmotiv wurde er im Mittelalter nicht zweideutig, nämlich sowohl in negativer als auch in positiver Bedeutung verwendet. Die Ambivalenz des Höllenschlunds rührt vielmehr von der Wandelbarkeit und Multiplizierbarkeit seiner Formen her. Der in diesem Kontext erwähnte Aspekt der Infektionskraft – das Durchscheinen durch die Seite, das Auflösen, Verdrängen oder Besetzen von Rahmenstrukturen – geht einher mit der Relevanz der Berührung für die Wirkungsweise des Höllenschlunds im Wahrnehmungsprozess.

514 Die auf der gegenüberliegenden Seite dargestellte Totenmesse ist hier vermutlich nicht an ihrer ursprünglichen Stelle: Gorissen 1973, S. 568.

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4 Wahrnehmung der Schwelle: historische, ästhetische und mediale Kontexte

Nach der Analyse ikonographischer und struktureller Kontexte von Schwellenmotiven in Bildern verschiebt sich im Folgenden die Perspektive der Untersuchung auf das, was zwischen Bildern und Betrachter geschieht, auf Wahrnehmung und Rezeption. Als innerbild­ liche Schwellen stehen die Motive im Dienst der Bilderzählung, regeln die Kommunikation nicht nur im Bild, sondern darüber hinaus auch die Kommunikation mit dem Bild. Die Motive vermitteln in allen Fällen einen Erkenntnisgewinn oder -verlust, sie etablieren eine Kommunikation zwischen zwei Orten und begleiten oder kommentieren spezifische Formen der Wahrnehmung. Es ist daher zunächst ein Überblick über Wahrnehmungsvorstellungen im Mittelalter zu gewinnen. Die bereits erörterte Darstellung verschiedener Sichtbarkeitsmodi im Bild, etwa das visionäre oder das innere Sehen, soll im Folgenden durch mittelalterliche Texte zu optischen, physiologischen und theologischen Grundlagen des Sehens kontextualisiert werden). Sodann geht es darum, welche Angebote durch Schwellenmotive für die Rezeption entstehen, welche konkreten Sehaufgaben Schwellenmotive dem Betrachter ­stellen, d. h. welche Möglichkeiten der Rezeption sie eröffnen. Begriffe, die aus historischer Perspektive eingeführt worden sind – die Aufmerksamkeit, das innere Sehen – werden nunmehr auf konkrete Betrachter bezogen. Tritt der Bildbetrachter bereits hier als aktiver Betrachter hervor, so bezieht sich seine Aktivität im Sinne eines Handlungspotenzials darüber hinaus auch auf die Bildmedien, nämlich Buch, Diptychon und Triptychon als Bildträger mit klappbaren Komponenten. Schließlich ist also zu analysieren, wie die Dialektiken von Offen/Geschlossen und Einsehbar/Verborgen mit den medialen Bedingungen der Bilder korrespondieren, die sich – im Falle des Buches, des Diptychons und des Triptychons – ja ebenfalls öffnen und schließen lassen, einsehbar oder verborgen sind. Insgesamt orientiert sich das vorliegende Kapitel an dem doppelten Ansatz der Rezeptionsästhetik: Erscheinungskontext und mediale Wirkungsmöglichkeiten des ‚Kunstwerkes‘ auf der einen und inneren, d. h. im Bild enthaltene, Rezeptionsvorgaben auf der anderen Seite. Beide Ansätze können auch in der zweiten Hälfte meiner Studie Anwendung finden.

4.1 Wahrnehmungsvorstellungen im Mittelalter Die für Vorstellungen über die (vor allem visuelle) Wahrnehmung im Mittelalter relevanten Texte beziehen sich nicht auf Bilder, Skulpturen oder Architektur, sondern befassen sich mit

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dem optischen Prozess beim Blick auf ein nicht näher bestimmtes Objekt oder dem Erkenntnisprozess des Göttlichen. In diesem Zusammenhang sind Vorstellungen über die Bedingungen und Konventionen des Blickens in einem historischen Kontext zu analysieren, die bereits im Zusammenhang mit den Schwellenmotiven bemerkt wurden: u. a. die Strahlen aus dem Fenster im Bild der Vision Hildegards, der Blick des Stifters in die Höhle bei Rogier van der Weyden, die Kontrastierung der Leiter mit der Schau-Verbindung Birgittas von Schweden, der über die Benutzung des Buches infizierende Höllenschlund. Der Sehvorgang wird aus verschiedenen Perspektiven  – mathematisch-optischen, wahrnehmungs-psychologischen und physiologischen, sowie erkenntnistheoretischen und theologischen – betrachtet. Es sind also die begrifflichen und konzeptuellen Parameter herauszuarbeiten, die für eine Diskussion der Wahrnehmungslenkung durch Bilder und deren inneren Weiterverarbeitung im Mittelalter gelten. Im Vordergrund steht zunächst die Vorstellung vom Prozess des Sehens, wie sie in mittelalterlichen Schriften zur Optik hervortritt . Hier geht es um grundlegende Theorien der Wahrnehmung und Apperzeption von Objekten aus dem Diesseits, also um empirische Wahrnehmung. Mittelalterliche Theoretiker beschäftigen sich mit zwei Fragen: 1. Was geschieht zwischen Sehendem und gesehenem Objekt und 2. Wie wird das Gesehene im Sehenden weiterverarbeitet? Im zweiten Teil geht es folglich um die Weiterverarbeitung von Bildern im Inneren des Menschen, aber auch um die Frage nach den Modalitäten und Konditionen der Wahrnehmung des Göttlichen, dem spirituellen Sehen.

4.1.1 Der Prozess des Sehens Die Forschung zu Texten der Optik unterscheidet für das Mittelalter zwei theoretische Positionen, die jeweils auf antiken Vorstellungen des Sehprozesses basieren.515 Im Mittelalter am weitesten verbreitet ist die sogenannte Extromissions- oder Sendetheorie, die seit der Antike von vielen Autoren im Westen vertreten wird, so etwa Augustinus (354–430) und Wilhelm von Conches (ca. 1080–1150/1154).516 Dieser Theorie liegt die Vorstellung eines Sehstrahls zugrunde, der aus dem Auge hinaus in die Welt reicht und Objekte im Sehakt gewisser­ maßen ,abtastet‘. Der Sehstrahl besteht in der Antike aus Pneuma oder Licht spendendem Feuer, das beim Austritt aus dem Auge mit dem Tageslicht verschmilzt. Vor allem wird im Mittelalter Platons Schrift Timaeus rezipiert, die im 4. Jahrhundert von Calcidius ins Lateinische übersetzt wurde, dessen Kommentar von der galenischen Theorie beeinflusst ist. Bis in das 14. Jahrhundert hat sich diese Version in zahlreichen Handschriften erhalten.517 Die zweite theoretische Position, die ab dem 12. Jahrhundert im Westen verstärkt diskutiert wird, ist die sogenannte Intromissions- oder Empfangstheorie.518 Sie geht in ihren wesentli-

515 Einen Überblick über die Zusammenhänge bietet Lindberg 1987. 516 Lindberg 1987, S. 165 u.167. 517 Lindberg 1987, S. 163 f. 518 Zur Intromissionstheorie besonders Tachau 1988; Smith 1981; Biernoff 2002.

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chen Aspekten auf Aristoteles zurück, der an einigen Stellen bestreitet, dass der Sehvorgang durch einen Ausfluss aus dem Auge zustande kommt.519 Im 10. und 11. Jahrhundert wurden die antiken Sehtheorien Platons und Aristoteles’ von arabischen Autoren rezipiert und überarbeitet. Lateinische Übersetzungen der arabischen Texte und ein Wiederaufleben neoplatonischer Ideen führten besonders im 13. Jahrhundert zu einer intensiven Diskussion der Sehtheorien im Westen. Alhazens Kitāb al-manāzir aus dem frühen 11. Jahrhundert beispielsweise wird um die Mitte des 13. Jahrhunderts als De aspectibus ins Lateinische übersetzt.520 Theologen wie Robert Grosseteste (1168–1253) und Roger Bacon (ca. 1220–292), John Pecham (ca. 1225–1292) und Witelo (gest. nach 1281) verfassten Texte zur Sehtheorie (perspectiva), die im 13. Jahrhundert Teil des universitären Curriculums wurden.521 Diesen Studien gemeinsam ist die Annahme, dass das sichtbare Objekt im transparenten Medium zwischen Objekt und Auge sogenannte species aus Licht und Farbe generiert, die dann in das Auge übergehen.522 Durch die Theorie der Intromission meinte man eine bessere Erklärung für optische Phänomene wie das Nachbild oder die Erblindung durch den direkten Blick in die Sonne gefunden zu haben.523 Seit Aristoteles wurde der Begriff „species“ verwendet, um immaterielle Bilder eines Objekts, die in den Sinnen oder im Geist entstehen, zu bezeichnen. Grosseteste und Bacon verstehen unter species dann auch eine Kraft, mit der Gegenstände aufeinander einwirken.524 Bei Bacon ist sie Teil seiner Naturphilosophie: „everything in nature completes its action through its own force and species alone“.525 Auch das Auge produziert demnach species. Die species wiederum ist nicht an das Visuelle gebunden; auch wenn es keine wahrnehmenden Wesen gäbe, würde sie existieren. Trotzdem ist sie kein Ding (res), sondern eine Absicht (intentio) der res.526 Bei Bacon gehen species von einzelnen Punkten des Gegenstandes aus, die sich über das transparente Medium zwischen Sehendem und Objekt hinweg in das Auge hinein „multiplizieren“.527 Im Sehakt der Intromission wird der Gegenstand somit nicht als Ganzes erfasst, sondern als Komposit verschiedener Punkte.528 Erst im Inneren des Betrachters werden diese dann zu einem ganzheitlichen Bild zusammengesetzt. In der Extromissionstheorie ist das Auge der aktive Partner im Wahrnehmungsprozess, während die Rolle des Auges in der Intromissionstheorie als eine primär rezeptive und pas519 Lindberg 1987, S. 27; für eine differenzierte Analyse zu Aristoteles’ Stellung in Bezug auf die Sehstrahlen s. Simon 1992, S. 59–61. 520 S. Smith 1981, S. 568, Anm. 1. 521 Vgl. Schleusener-Eichholz 1985, S. 25. 522 Vgl. Tachau 1988, S. 8. 523 Vgl. zu Alhazen: Lindberg 1987, S. 121. 524 Lindberg 1997, S. 246. 525 Bacon 1928, Bd. 2, S. 470 (V, 7, 4); s. auch Hackett 2003, S. 622. 526 Tachau 1988, S. 12. 527 S. Bacon 1928, Bd. 2, S. 471 (V, 7, 4); s. Lindberg 1997, S. 249 f. zur Multiplikation und ihren Stadien; s. auch Tachau 2006, S. 339 f. zum gleichen Prinzip bei Aristoteles und Grosseteste. Wie man sich diese Multiplikation visuell genau vorzustellen habe, wird nicht klar. 528 Dazu auch Smith 1981, S. 578; Tachau 2006, S. 340: „This pointillistic radiation was al-Kindi’s theoretical discovery“.

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sive gilt. Diese Gegensätzlichkeit ist bereits den Begriffen „Intromission“ und „Extromission“ inhärent.529 In den optischen Schriften der Antike und des Mittelalters ab dem 12. Jahrhundert verbanden sich allerdings häufig Aspekte aus beiden Theorien. Vor allem Grosseteste und Bacon hielten im 13. Jahrhundert an der Vorstellung des aktiven Auges fest.530 In den Formulierungen Bacons tritt der Akt des Sehens beispielsweise noch oft als abtastender Vorgang hervor, der zunächst vom Auge ausgeht: „This line is the axis of the eye, by which the eye sees with certainty and by which it passes over the separate points of a visible object, so that it may make certain of each in succession, although it grasps at the same time and at once with full certainty“.531 Für die Beschreibung des Aufeinandertreffens von species und Auge verwendet Bacon eine somatische Metapher, die oft auch im Kontext der Extromissionstheorie verwendet wird: die Siegel-Wachs-Metapher.532 Statt der mechanischen Kraft des Siegels sind bei Bacon allerdings Farbe und Helligkeit des Gegenstands ausschlaggebend für die Intensität der Impression.533 Unabhängig von der Vorstellung einer Extro- oder einer Intromission, richtet sich die Aufmerksamkeit in den Sehtheorien des Mittelalters auf den Zwischenbereich zwischen Auge und Gegenstand. Eine gewisse räumliche Distanz zwischen Betrachter und Objekt bildet eine der Voraussetzungen für die visuelle Wahrnehmung.534 Bei Platon und anderen antiken Vertretern der Extromissionstheorie kommt der Sehstrahl aus dem Inneren des Menschen und verbindet sich mit dem äußeren Licht, um „eine Art zeitweiliges Organ zu bilden, das die Objekte aus der Distanz betastet“.535 Sogar die Empfindung selbst findet im ­Zwischenbereich zwischen Sehendem und Gegenstand oder am Ort des Gegenstands statt.536 Nach Augustinus verbindet sich das im Auge enthaltene Licht mit dem gleichgearteten Tageslicht zu einer Lichtsäule, über die besonders die Form des Gegenstandes erfasst wird.537 Bei Aristoteles und in veränderter Form bei Bacon ist ebenfalls der Zwischenbereich entscheidend; nur durch seine Transparenz ist er als Medium – für Farbe oder species – geeignet. 538 In den Traktaten 529 Die Begriffe werden in der Wissenschaftsgeschichte verwendet, stammen also nicht von den antiken oder mittelalterlichen Theoretikern selbst: vgl. Tachau 2006, S. 337. 530 Dazu s. Tachau 2006, S. 351. 531 Bacon 1928, Bd. 2, S. 440 f. (V, 3, 3) Hier überschneidet sich die Vorstellung vom Auge als die Welt abtastendes und im Inneren wirkendes Organ: Die radial von verschiedenen Punkten ausgehende species wird durch das Auge erst als ganzes Objekt zusammengefasst und als Objekt-Bild konstituiert. Dazu Tachau 2006, S. 349. 532 Camille 2000, S. 210; Carruthers 2008, S. 18–37. 533 S. Smith 1981, S. 580. Im Bereich der Andacht macht allerdings die Emotion den Prägungsakt nachhaltig. S. Tammen 2006. 534 S. Bacon 1928, Bd. 2, S. 474 (V, 8, 1), der über Aristoteles darauf verweist, dass Wahrnehmung für gewöhnlich nicht stattfinden kann, wenn der Gegenstand in direktem Kontakt mit dem Sinnesorgan steht. 535 Simon 1992, S. 42. 536 Simon 1992, S. 42 u. 46. 537 Schleusener-Eichholz 1985, 1, S. 68; bei anderen Vertretern der Extromissionstheorie sind es vor allem die Farben, die erfasst werden und über die man dann auch Form und Größe erkennt: ebd., S. 67. Augustinus verfasste keine gesonderte ‚Theorie des Sehens‘, vielmehr finden sich Kommentare zum Vorgang in verschiedenen Schriften, die im Mittelalter einflussreich sind: s. Lindberg 1987. 538 Zu Aristoteles s. Lindberg 1987, S. 27–31; zu Bacon s. Tachau 1988, S. 8.

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Aristoteles’, „die sich ausschließlich mit der Seele und der Wahrnehmung beschäftigen [...], wird die Ursache des Sehens stets auf die Modifikation des transparenten Mediums zurückgeführt; dieses ist tätig, während das Auge leidend ist“.539 In der Theorie Bacons muss man sich den Akt der Wahrnehmung über die species ebenfalls vorstellen als „stream of forms passing inward through a continuum of increasingly subtle and perfect media“.540 Die Vermittlung des Gegenstands ist also nur über das transparente Medium zwischen Objekt und Betrachter hinweg möglich. Dieses kann die Übertragung der species leisten, gerade weil es transparent und dadurch besetzbar für die Farben und das Licht des Gegenstandes ist. Gleichzeitig hält Bacon allerdings an der Tätigkeit des Auges fest: „the act of seeing is the perception of a visible object at a distance, and therefore vision perceives what is visible by its own force multiplied to the object [...] [and] so prepares the passage of the species itself of the visible object“.541 Sowohl in der Extro- als auch in der Intromissionstheorie ist also der Zwischenbereich zwischen Sehendem und Gesehenem entscheidend, der eine gewisse Ausdehnung aufweisen muss. Deren bestimmende Faktoren – Luft und Licht oder Transparenz – fungieren im Akt der Wahrnehmung als Träger für Sehstrahlen oder ­species. Ein Nebeneinander von Aktivität und Passivität lässt sich auch außerhalb der Schriften zur perspectiva erkennen. In den Metaphern, die das gesamte Mittelalter hindurch für das Auge und das Sehen verwendet werden, erscheint ersteres als Übergang in beide Richtungen – als Punkt, an dem etwas aus dem Inneren austreten oder etwas aus dem Äußeren eintreten kann. Das Auge ist im Mittelalter Verlängerung des fleischlichen Körpers und damit auch Teil des sündhaften Körpers.542 Die Vorstellung, dass der begehrende Blick auf eine Frau bereits als Sünde gilt, findet sich in theologischen Schriften von Origen über Augustinus bis zu Bernhard von Clairvaux und Hugo von St.Viktor.543 Augustinus und andere interpretieren den begehrenden Blick auf den Apfel – und nicht erst dessen Verzehr – bereits als Teil des Sündenfalls.544 Der Blick selbst ist gefährlich – affektiv und infizierend.545 Im Hohenlied und generell in der spätmittelalterlichen Mystik kann der Blick verletzen.546 Auch in höfischen Texten erscheint der Blick als agierend und erzielt bestimmte Wirkungen: Er kann Liebe plötzlich entfachen, gilt bei Liebenden bereits als Vereinigung und kann sogar eine Person umwerfen.547 Das Auge präsentiert sich demnach als Organ, das im Sinne der Extromissionstheorie für die Dauer des Blicks in die Welt hinausreicht, Dinge betastet und auf sie einwirkt. Um sündhafte Übertritte zu vermeiden, gilt es daher, das Auge zu zügeln und zu zähmen.548 Gleichzeitig wird im Mittelalter die Außenwelt als Bedrohung für das Innere des 539 Simon 1992, S. 59 (seine Hervorhebung). 540 Smith 1981, S. 586. 541 Bacon 1928, Bd. 2, S. 471 (V, 7, 4). 542 Biernoff 2002, „Part 1: Carnal Vision“, ab S. 15. 543 Biernoff 2002, S. 46. 544 Camille 1998, S. 134. 545 Lechtermann 2005, S. 116. 546 Hamburger 1997, S. 128; S. 128–136 (Abschnitt „Penetrating Vision“). 547 S. die Beispiele bei Lechtermann 2005, S. 117. 548 So die Forderungen in didaktischen Texten; dazu Schleusener-Eichholz 1985, Bd 2, S. 823 f.; vgl. auch Schnitzler 2002, S. 236 ff.

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Menschen verstanden. Die Sinnesorgane, besonders die Augen, werden im Mittelalter mit architektonischen Öffnungen verglichen. Gebäudemetaphern für Leib, Herz und Seele des Menschen sind weit verbreitet.549 Die Sinne werden als Fenster oder Türen des Leibes und der Seele oder des Herzens bezeichnet. Vor einem fahrlässigen Offenhalten dieser Fenster wird immer wieder gewarnt, denn dann – so zum Beispiel über seine Augen – ist der Mensch angreifbar und verwundbar.550 In den Vorstellungen des Mittelalters ist das Auge also sowohl verletzend als auch verwundbar; es ist ein Organ, das es zu zügeln gilt, gleichzeitig aber auch beschützt werden muss. Es überrascht daher nicht, dass in bildlichen Darstellungen die Sinne durch Schwellenmotive visualisiert wurden, die ebenso Eingang wie Ausgang sein können.551 Für die Kunstgeschichte hat sich immer wieder die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Geschichte der Wahrnehmungsvorstellung und der Geschichte der Bildherstellung und -produktion gestellt: „If vision has a history, then it must be sought in the realm of the visible“.552 Wie Biernoff betont, kann es aber keine einfache Korrelation der beiden Faktoren geben.553 Den erwähnten Autoren der mittelalterlichen Sehtheorien geht es nicht um die Wahrnehmung konkreter Bilder, sondern um Objekte, die meist nur durch Charaktereigenschaften wie Farbe oder Größe näher beschrieben werden.554 Einen Ansatzpunkt bieten aber die illustrierten Handschriften des Aristoteles und anderer Theoretiker, die eine Untersuchung der Frage ermöglichen, ob und wie die im Text vertretenen Wahrnehmungsvorstellungen in den Miniaturen oder Initialen dargestellt werden, und wie Text und Bilder interagieren.555 Am meisten beschäftigt hat Kunsthistoriker jedoch die Frage, ob sich die Geschichte der Wahrnehmungsvorstellungen mit einer Bildgeschichte synchronisieren lässt. Michael Camille und Cynthia Hahn haben solche Parallelen untersucht.556 Sowohl Camille als auch Hahn setzen für ihre Entwicklungsgeschichte eine Zäsur um 1200. Nach Camille ist hier der „Umbruch“ vom Extro- zum Intromissionsmodell anzusetzen, der die Konzeption und Rezeption von Bildern beeinflusst haben könnte.557 Der Unterschied liege im Realitätsgehalt: „[The extramission model] is seen as an externalisation or projection of internal archetypal patterns onto the world, whereas the [...] [intromission model] is more like an inference taken from reality“.558 In den realitätsnahen Zeichnungen des Villard de Honnecourt und den botanisch genauen Darstellungen der Fauna auf den Kapitellen von Reims in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts sieht Camille Belege für eine derart veränderte Auffas-

549 S. Friedrich Ohly: Art. Haus III (Metapher), in: RAC, Bd. 13 (1986), Sp. 905–1063, bes. Sp. 949–1007. 550 Biernoff 2002, S. 53 f. 551 Beispiele bei Camille 1998, der Initialen aus Handschriften von Aristoteles’ De Sensu aus dem 13. Jahrhundert untersucht. 552 Biernoff 2002, S. 2; zur Thematik vgl. auch Tammen 2003 B. 553 Biernoff 2002, S. 3. 554 Wenn sie die Malerei erwähnen, dann in Bezug auf ihre Produktion  – so fordert etwa Bacon die Anwendung geometrischen Wissens auf die Malerei: Tachau 2006, S. 354 f. 555 Ansätze dazu bei Camille 1998, Tachau 2006. 556 Hahn 2000, Camille 2000. 557 „fundamental shift“: Camille 2000, S. 204 u. 206. 558 Camille 2000, S. 206.

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sung des Sehprozesses.559 Allerdings sind die Probleme einer Synchronisation von Geschichte des Wahrnehmungsprozesses und Geschichte der bildlichen Darstellungsweise evident: Man weiß wenig über eine Kenntnis und Verbreitung der Sehtheorien außerhalb der Universitäten, und es stellt sich die Frage, in welchen veränderten Darstellungsmodalitäten oder durch welche Bildtechniken sich eine Umsetzung im Bild ausdrücken könnte. Zudem ist fraglich, ob diese Theorien einflussreicher waren als die gängigen Vorstellungen und Metaphern des Sehprozesses, wie sie etwa in der höfischen Literatur erscheinen. Auch Cynthia Hahn orientiert sich in ihrem Aufsatz an der Geschichte des Extro- und Intromissionsmodells: „The marked difference that exists between early and later Western medieval images originated in part in a changing understanding of what it meant to see“.560 Hahns Untersuchung betrifft einzelne Bilder und Textquellen, die den Umgang mit dem Kreuz als Möglichkeit der Kommunikation mit dem Göttlichen darstellen. Vor 1200, so Hahn, werde das Göttliche in der Gemeinschaft rezipiert und als „minute, fragmentary, yet simultaneously all-encompassing apprehension“ wahrgenommen.561 Diese Visualität bezeichnet sie als „glance“. Im späteren Mittelalter zeichne sich die visuelle Erfahrung des Göttlichen dagegen durch den „gaze“ aus. Diese visuelle Erfahrung beruhe auf der Möglichkeit der privaten Kontemplation.562 Die von Camille und Hahn vorgenommene Unterteilung in zwei Entwicklungsstufen scheint als zu rigide. Auch der visuelle Erfassungsmodus des ,glance’ ist im Spätmittelalter noch anzutreffen, wie Christophorus-Darstellungen und die vielen Bildbeischriften belegen, die sich auch in anderen spätmittelalterlichen Bildern an die Vorbeigehenden richten.563 Statt sich an einem vermeintlich abrupten Wechsel von der Vorstellung eines Sehstrahls hin zur Intromission zu orientieren, ist es meiner Meinung nach sinnvoller, wesentliche Aspekte der mittelalterlichen Wahrnehmungsvorstellungen hervorzuheben und zudem die medialen und räumlichen Bedingungen stärker zu berücksichtigen. Sowohl in den Beschreibungen des konkreten Sehvorganges in den Schriften zur Optik als auch in den literarischen und theologischen Kontextualisierungen des Auges treten zwei Aspekte mittelalterlicher Wahrnehmungsvorstellungen hervor, die besonders zu betonen sind: erstens eine sehr taktile Auffassung vom Akt des Sehens, die den Charakter einer sich im Moment des Sehvorgangs bildenden, (quasi-) körperlichen Verknüpfung von Sehendem und Gesehenem trägt; zweitens ein reziprokes und dynamisches Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Wahrgenommenem.564 559 Camille 2000, S. 206 f. 560 Hahn 2000, S. 169. 561 Hahn 2000, S. 169. Die Unterscheidung von ,glance’ und ,gaze’ stammt von Norman Bryson, der allerdings nicht das Mittelalter damit meint. Einen Überblick über die Begriffe ‚glance‘ und ‚gaze‘ bei Norman Bryson und Mieke Bal gibt Belting 2006, S. 125. 562 Hahn 2000, S. 169; auch nach Camille unterscheiden sich frühere und spätere Bildformate durch ihre Rezeption in der Gruppe und von Einzelnen: Camille 2000, S. 207. 563 Tammen 2003 B, S. 382; Lentes 2006, S. 366; z. B. die Verkündigungsdarstellung Fra Angelicos am Eingang zum Schlafbereich des Klosters San Marco in Florenz. Als Beispiel einer bildlichen Darstellung eines solchen Blickes s. die Zeichnung Hans Holbein d.J. (1515) eines an einem ChristophorusBild Vorbeigehenden: Ausst. Kat. Zürich 1994, Abb. 118, S. 203. 564 Dazu auch die Bemerkungen bei Biernoff 2002, S. 3.

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4.1.2 Außen und Innen Eine weitere Konstante mittelalterlicher Wahrnehmungsvorstellungen ist das Verhältnis von äußerem und innerem Sehen, äußeren und inneren Sinnen und deren Funktionen. Die Vorstellung des äußeren Sehprozesses beeinflusst im Mittelalter auch die Auffassungen über dessen innere Weiterverarbeitung und die Produktion von Bildern, und umgekehrt. Neben dem Problem, wie Bilder von äußeren Gegenständen in das Innere gelangen, wandte man sich vor allem dem Problem zu, wie aus einem materiellem Objekt ein immaterielles Konzept werden kann, das auf Träume und Trugbilder einwirkt. Die Vorstellung davon, was sich im Zuge des Wahrnehmungsprozesses im Inneren des Menschen abspielt, wurde vor allem durch Avicennas Theorien in seiner Schrift al-Shifã (lat. De anima) – einem Kommentar zu Aristoteles Parva Naturalia – geprägt.565 Aristoteles bezieht sich auf die inneren Sinne, die Galen, und in dessen Tradition Avicenna, in unterschiedlichen Ventrikeln (oder Zellen) des Gehirns lokalisierten.566 Grosseteste und Wilhelm von Auvergne sind zwei der ersten christlichen Autoren, die Avicennas Vorstellung der inneren Sinne mit der Beschreibung der Seele durch Augustinus verbinden.567 Vertreten wurde diese Auffassung im 13. Jahrhundert auch von Bacon, Pecham und Thomas von Aquin. Wichtigster Sinn dieser – im Detail unterschiedlich ausgeführten – Vorstellung ist der sensus communis. Dieser liege im vordersten Bereich des Gehirns, wo er die sensibilia der verschiedenen Sinnesorgane bezöge. Da er die Sinneseindrücke jedoch nicht ‚halten‘ könne, stehe ihm die imaginatio zur Seite, in der Sinneseindrücke auch dann vorhanden, wenn sie den äußeren Sinnesorganen nicht mehr präsent seien. Im mittleren Teil des Gehirns befänden sich der Sinn, der die Bilder aus der imaginatio mit anderen Bildern verknüpfen könne (estimativa), und derjenige, der es vermöge, Urteile über Sinneseindrücke abzugeben (cogitativa). Im hintersten Teil des Gehirns liege der Erinnerungssinn, die memoria, die auch als Bildspeicher fungiert.568 Der Vorstellung von den Sinnen als Ein- und Ausgänge des homo interior entsprechend, besteht im Mittelalter eine lange Tradition, Herz und Seele selbst als Gebäude oder Innenraum zu denken.569 Die Gebäudemetaphorik ist bereits in der Bibel vorhanden: Paulus bezeichnet den Menschen als Tempel Gottes und des Heiligen Geistes (1 Cor 3,16; 6,19; Eph 3,17). Die Begriffe „anima, animus, mens“ und „cor“ werden dabei im Mittelalter, wie bereits in der Antike, weitestgehend synonym gebraucht.570 Der Innenraum des Herzens ist Ort der Begegnung mit Gott. Er dient dem Zusammenkommen im Gebet und in der Lie565 Camille 2000, S. 198, der eine bildliche Darstellung dieser Aufteilung aus dem frühen 14. Jahrhundert analysiert. Zum breiteren religionsgeschichtlichen und philosophischen Rahmen der Innen/AußenDichotomie s. Thomas 2000. 566 Camille 2000, S. 200; s. auch Tachau 2006, S. 341–343 zur Entwicklung dieser Vorstellung von Aristoteles bis Grosseteste. 567 Tachau 2006, S. 341. 568 Camille 2000, S. 201. 569 Dazu Friedrich Ohly: Art. Haus III (Metapher), in: RAC, Bd. 13 (1986), Sp. 905–1063, besonders Sp. 977–1007; Kern-Stähler 2002, Kapitel „Das Inventar des mentalen Innenraums“, ab S. 77; Philipowski/Prior 2006. Zu einer weiteren Metapher des Innenraums – das Herz als Buch – s. Jager 2000. 570 Friedrich Ohly: Art. Haus III (Metapher), in: RAC, Bd. 13 (1986), Sp. 905–1063, hier Sp. 978.

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be.571 Augustinus verwendet die Metapher im Zusammenhang mit der Erkenntnis: „Eng ist das Haus meiner Seele, in das Du kommen sollst zu ihr: weit soll es werden, weit durch Dich“.572 In der höfischen Literatur gibt es seit dem 12. Jahrhundert die Vorstellung, dass der geliebte Mensch die Kammer des Herzens bewohne.573 Als Ort der Vereinigung von Liebenden wird das Herz mit dem Brautgemach des Hohenlieds parallelisiert; in der höfischen Literatur lesen sich die Beschreibungen äußerer Räume zugleich als Begehungen des Herz­ innenraums.574 Das Gedicht Adelae Comitissae von Baudri de Bourgeuil aus der Zeit um 1100 beschreibt ein Brautgemach, das „lückenlos enzyklopädisch bebildert ist“.575 Durch poetische Mittel lässt Baudri den thalamus als Herzinnenraum aufscheinen, der einerseits der Adele von Blois zugeschrieben wird, andererseits ein Modell eines cubiculum cordis bietet, das der Leser übernehmen kann.576 Wie in anderen mystischen oder literarischen Kontexten überlagern sich hier die Vorstellungen vom Inneren des Menschen als Raum für den Gottesempfang und als Bildspeicher: Das cubiculum cordis darf nur mit „guten“ oder „richtigen“ Bildern ausgestattet sein. Das Sammeln, aber auch die Betrachtung dieser inneren Bilder schaffen die Voraussetzungen dafür, dort Gott zu empfangen. Damit ist bereits die Vorstellung vom inneren Sehen angesprochen, das neben dem äußeren Sehen im Mittelalter eine große Rolle spielt. Margaret Miles hat gezeigt, wie Augustinus seine Vorstellung vom äußeren Sehen für die Beschreibung und das Verständnis des inneren Sehens nutzt.577 Nach Augustinus berührt im äußeren Sehvorgang der aus Licht bestehende Sehstrahl das Objekt und macht im Gedächtnis einen Abdruck davon.578 Dem Auge kommt eine aktive Rolle zu, aber noch bevor die Wahrnehmung stattfindet, muss der Wille auf das Objekt gerichtet sein.579 Im Akt der Wahrnehmung sind Auge und Objekt dann vereint.580 Für das innere, spirituelle Sehen setzt Augustinus drei Dinge voraus: den Glauben, die Reinigung des inneren Auges und das Trainieren des inneren Auges, insbesondere das Trainieren des Begehrens.581 Miles beschreibt die Parallelen zwischen dem äußeren und dem inneren Blick bei Augustinus: „In physical vision, the will focuses the energy of the visual ray on a sensible object in the presence of the illumination of the sun. In spiritual vision, the focused and intensified longing of the eye of the mind reaches out, in the divine illumination provided, to touch God ‚in a trembling glance‘“582 571 Ebd., Sp. 994. 572 „Angusta est domus animae meae, quo venias ad eam: dilatetur abs te“: Augustinus 1955, I, 5,6, deutsche Übersetzung ebd., S. 19. 573 Wandhoff 2006, S. 145. 574 Vgl. die Minnegrotte aus dem „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg: s. Wandhoff 2006, S. 157 f. 575 Wandhoff 2006, S. 154–157, hier S. 154. 576 Wandhoff 2006, S. 157. 577 Miles 1983. Zu den im Folgenden beschriebenen Vorgängen bes. S. 127–130. 578 Miles 1983, S. 127. 579 „The attention of the soul must be directed to the object“: Miles 1983, S. 127. 580 Miles 1983, S. 130. 581 Miles 1983, S. 130–134. 582 Miles 1983, S. 134 u. Anm. 30. Sie bezieht sich auf Confessiones VII 17: „in ictu trepidantis aspectus“ – “in einem bebenden Augenblick”. Bernhart übersetzt: „in dem blitzenden Moment eines zittern-

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Spätere Autoren wie Grosseteste folgten Augustinus in der Vermutung, dass intellektuelles und spirituelles Verstehen und das Erkennen von Wahrheiten oder mathematischen Objekten dem Vorgang des körperlichen Sehens sichtbarer Objekte entspricht. 583 Auch das Sehen Gottes, wie es Augustinus beschreibt, ist von Dynamik und Reziprozität gekennzeichnet. Denn während das innere Auge auf Gott gerichtet bleibt, geht die Erfüllung des desiderium allein von diesem aus: „der Augenblick der Einsicht [steht] im Zentrum der Meditation, aber er ist die Wirkung einer äußeren höheren Macht“.584 Den Begriff „vix vidisti“ verwendet Augustinus, um damit die Möglichkeit eines Sehen Gottes nicht erst in der visio beatifica auszudrücken. Kurzes irdisches und ausgedehntes jenseitiges Sehen (acies animi) unterscheiden sich also durch die Dauer des Blicks.585 Inneres und äußeres Sehen heben sich nach Auffassung der mittelalterlichen Theologen durch ihre Eigenschaften voneinander ab. Das äußere Sehen bleibt beschränkt, da es das Göttliche nicht erkennbar macht. Für Hugo und Richard von St. Viktor ist das körperliche Auge auf das Nahe und Gegenwärtige fixiert; es vermag nicht die Tiefe des Raumes und der Zeit wahrzunehmen, Extreme sind ihm verborgen.586 Es kann „das Große wegen seines Ausmaßes [...], [...] das besonders Kleine aufgrund seiner Feinheit, [...] das Entrückte durch die weite Entfernung und [...] das Innerste durch Dunkelheit“ nicht sehen.587 Anders verhält es sich mit dem Auge des Herzens oder dem inneren Auge, das „das Verborgene durchdringt, das Feine erforscht, fremdes Licht zum Sehen nicht braucht, sondern mit einem, dem eigenen Licht schaut“.588 Richard von St.Viktor unterscheidet dennoch drei verschiedene ‚Augen‘ des Menschen: oculus carnis, oculus rationalis, oculus contemplationis.589 Der Prozess des Erkennens gleicht einem Aufstieg. Er kann bei Hugo und Richard von St. Viktor an den drei Stufen der cogitatio, meditatio und contemplatio nachvollzogen werden, die mit den inneren Sinnen imaginatio, ratio und intellectus verbunden sind. Richard verdeutlicht die Unterschiede zwischen den Erkenntnisstufen durch den Vergleich mit körperlichen Bewegungen: „Während die cogitatio sich kriechend fortbewegt (‚serpit‘) und der meditatio das Gehen, bisweilen das Laufen entspricht (‚incedit et ut multum currit‘), ist die Kontemplation durch den Flug ausgezeichnet“.590 Auf der Ebene der Schau werden der cogiden Erblickens“: Augustinus 1955, S. 347. 583 Tachau 2006, S. 343. 584 von Moos 2001, S. 99. 585 Vgl. Miles 1983, S. 136 f. Grundsätzlich stellt sich hier die Frage, ob sich diese Begriffe bei Augstinus mit objektgebundenen Blickweisen – etwa den bei Hahn eingeführten ,glance’/,gaze’ – verknüpfen ließen. 586 Meier 1990, S. 39. 587 „[M]axima quantitate exedunt, et minima subtilitate fugiunt, et remota longinquitate evadunt, et intima obscuritate subducunt“: Hugo von St. Viktor, De vanitate mundi, in: PL 176, Sp. 703 f. Dt. Übersetzung: Meier 1990, S. 40. 588 „occulta penetrat, subtilia investigat, luce aliena ad videndum non indigens, sed sua ac propria luce prospiciens“: Hugo von St.Viktor: De vanitate mundi, in: PL 176, Sp. 704. Dt. Übersetzung: Meier 1990, S. 40. 589 Kämmerlings 1993, S. 83. 590 Richard von St. Viktor, Benjamin maior: De gratia contemplationis libri quinque. Dt. Übersetzung: Meier 1990, S. 44; s. auch Kämmerlings 1993, S. 90. Vgl. Richard von St.Viktor: Benjamin maior,

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tatio ein zielloses Schweifen, der meditatio eine „angestrengte Aufmerksamkeit des Geistes“ (studiosa mentis intentio) und der contemplatio ein „durchdringender und freier Blick“ (perspicax et liber), ein „Strahl der Schau“ (sub uno visionis radio) zugeschrieben.591 Neben dem Terminus contemplatio tritt auch der Begriff contuitus bei Richard für die höchste Form der Erkenntnis auf, der noch mehr den Aspekt der Schau betont: „Dieses Sehen ist frei von sinnlichen Vorstellungen, ist daher klar, rein, unverstellt, ungetrübt, fest und sicher, nicht mehr schwankend; es geschieht vom Gipfel des Aufstiegs aus oder gleichsam aus dem freien Flug des Geistes“.592 Diese Art der Schau wird vor allem mit Johannes dem Evangelisten verbunden. Wie gezeigt, werden der Aufstieg des Evangelisten zu seiner Schau sowie die Schau selbst besonders in der Buchmalerei häufig durch die Schwellenmotive des Fensters, der Tür und der Leiter hervorgehoben, mit denen das Überblickende und zugleich Fokussierte des Sehens herausgestellt werden kann (vgl. Abb. 3; Abb. 36). Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Einerseits ist das körperliche Sehen im Mittelalter ein Maß, an dem man sich auch für die Auffassung des geistigen Sehens orientiert. Andererseits ist dadurch, dass das körperliche Sehen sich auf die Aussenwelt richtet bzw. das Auge diese in das Innere hineinbringt, das innere Sehen „beschwert“ oder „verdunkelt“, wie es oft heisst. Immer besteht die Gefahr, über den Gedanken an Weltliches die auf das Göttliche gerichtete Aufmerksamkeit zu unterbrechen. Tugendleitern wie die des Hortus Deliciarum verdeutlichen dies dadurch, dass die lasterhaften Figuren nicht nach oben, sondern auf die neben der Leiter dargestellten weltlichen Dinge blicken und ihre Körper den Blicken folgen (Abb. 56). Das Sehen Gottes ist also mit der Frage der Aufmerksamkeit verbunden. Auch hier wurde den Augen eine Vorrangstellung gegenüber den Ohren zugewiesen. Nach Hugo von St. Viktor ist der Gesichtssinn nobler, weil allein er von innen nach außen verläuft. 593 Dadurch wird die Seele über das Auge nicht direkt affiziert – nach mittelalterlicher Vorstellung ein Vorteil, den schon Aristoteles und Platon angesprochen hatten.594 Im Gegensatz zu den Ohren kann man zudem die Augen schließen; Peter von Moos unterscheidet dementsprechend zwischen „willentlicher und unwillkürlicher Aufmerksamkeit“.595 Die lateinischen Begriffe attentio und intentio, die fast synonym verwendet werden, unterscheiden sich vom deutschen Begriff „Aufmerksamkeit“: „Im deutschen Begriff dominiert die Semantik des Beeindruckens und des spontan aufgenommenen Eindrucks, nicht die des Interesses, der Zuwendung, des Bei-der-Sache-Seins“.596 Bei Augustinus ist das Ziel das Richten des inneren Auges auf das Göttliche, das Trainieren des desiderium, dessen Erfül-

I, 3: „Cogitatio serpit, meditatio incedit et ut multum currit. Contemplatio autem omnia circumvolat, et cum voluerit se in summis librat“: „Das Vorstellen kriecht, das Denken tritt heran und läuft sehr weit. Die Schau umkreis alles, und wenn sie will, schwebt sie in der Höhe“. Zitiert aus: Binding/Speer 1993, S. 102 f. (Übersetzung Achim Wurm). 591 Zitiert und übersetzt nach: Kämmerlings 1993, S. 87 u. 90. 592 So auch bei Iohannes Scotus Eriugena: Meier 1990, S. 41. 593 Vgl. Schleusener-Eichholz 1985, S. 203. 594 Vgl. von Moos 2001, S. 91. 595 von Moos 2001, S. 92. 596 von Moos 2001, S. 94.

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56 Tugendleiter, Hortus Deliciarum der Herrad von Landsberg, 1176–1196 (fol. 215v). Original zerstört, Nachzeichnung 19. Jahrhundert.

lung von Gott abhängt.597 Im vix vidisti des Augustinus und in der Erfüllung des Erkenntnisstrebens durch die Gottesschau „verbinden sich für einen Augenblick willentliche und spontane Aufmerksamkeit“.598 In der höchsten Schau tritt der aktiven Aufmerksamkeit des Menschen ein passives Moment hinzu. Bis dorthin ist es allerdings ein beschwerlicher Weg. Augustinus fasst die Wirkungsweise des Begehrens zusammen: „Was du jedoch begehrst, siehst du noch nicht: doch durch das Verlangen wirst du geräumig gemacht, damit du, wenn gekommen ist, was du siehst, davon erfüllt wirst [...] So vergrößert Gott durch das Hinauszögern das Verlangen, durch das Verlangen vergrößert er die Seele und durch das Vergrößern macht er sie geräumig. Lasst uns also verlangen, Brüder, weil wir bestimmt sind, erfüllt zu

597 von Moos 2001, S. 98. 598 Ebd.

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werden!“599 Auch bei Thomas von Aquin gilt: „Gerade am Hindernis entzündet sich das desiderium“.600 Hier decken sich das Schema des von den Theologen beschriebenen Weges zur Erkenntnis und die Wirkungsstruktur mittelalterlicher Bilder: Die Struktur des Noch-Nicht liegt auch mittelalterlichen Bildern zugrunde. Wie noch zu zeigen ist, kann sich diese etwa in der Struktur des Bildraumes, in der Medialität oder in der Erzählstruktur niederschlagen.601 Als körperliche Wahrnehmung steht die Bildbetrachtung allerdings zunächst der curiositas näher. Die körperliche Aufmerksamkeit steht der geistigen diametral entgegen: Als concupiscentia oculorum – Begierlichkeit der Augen – sieht bereits die Bibel sie als verdammungswürdig an (I Joh. 2,15–16).602 In nachantiker Zeit deutete vor allem Augustinus die curiositas als begehrliches Interesse an der Außenwelt und damit negativ. Dennoch fließen theologische Vorstellungen der Erkenntnis offenbar in die Bildgestaltung und erzielte Bildwirkung ein. Während in den erwähnten (theologischen) Texten zwischen verschiedenen Arten, Qualitäten und Zielen des Sehens unterschieden wird, findet sich für das Sehen konkreter Bilder kaum eine entsprechende Diskussion; das körperliche Sehen wurde aufgrund seiner Tendenz zum Sündenhaften nicht so ausdifferenziert wie das spirituelle Sehen, sondern fungierte vor allem als Kontrastfolie für das spirituelle Sehen. Hierin mag auch ein Grund dafür liegen, weshalb sich die Bildbetrachtung nicht einfach mit dem körperlichen Sehen gleichsetzen lässt bzw. Bilder in den Seh- und Erkenntnistheorien nicht erwähnt werden. Zu gerne wüsste man, ob etwa die Modi des ,schweifenden Sehens‘, der ,angestrengten Aufmerksamkeit‘ oder der schnellen Überblicknahme des ,glance‘ auch hinsichtlich des Sehens von Bildern unterschieden wurden. Meist finden sich in den Textquellen nur Äußerungen zur Überlegenheit des Sehsinnes und zur davon abzuleitenden Wirksamkeit der Bilder – vielleicht sind Textquellen aber gerade auf diesen Aspekt hin einfach noch nicht aufmerksam genug gelesen worden.603 Ein Beispiel dafür, dass sich Hinweise auf die Art des Sehens finden lassen, die sich auf konkrete Bilder beziehen, ist der Untersuchung Klaus Krügers zu den Ricordi des Florentiner Kaufmannes Giovanni di Pagolo Morelli (um 1400) zu entnehmen, einer – wie Krüger selbst konstatiert – „wichtigen, von Seiten der Kunstgeschichte bislang noch kaum

599 In epistolam Joannis ad Parthos, tractatus 4.6: „Quod autem desideras, nondum vides: sed desiderando capax efficeris, ut cum venerit quod videas, implearis [...] sic Deus differendo extendit desiderium, desiderando extendit animum, extendendo facit capacem. Desideremus ergo, fratres, quia implendi sumus“: Augustinus 1961, S. 230. Deutsche Übersetzung: Helge Baumann. S. auch Miles 1983, S. 134. 600 von Moos 2001, S. 103 (seine Hervorhebungen); s. Thomas von Aquin: Summa theologiae II–II, qu. 180, a. 7, ad 2. 601 S. unten 4.2, 4.3 und 6.1.2. 602 Dazu s. den Sammelband von Krüger 2002, bes. in der Einleitung S. 9 f., Anm. 1, zum Forschungsüberblick. 603 S. nämlich z.B. die Unterscheidung, die Gerald von Wales in seiner berühmter Beschreibung des Evangelienbuches aus Kildare in der Topographia Hibernica II.38 macht, zwischen einem oberflächlichem, achtlosen Sehen („superficialiter et usuali more minus acute conspexeris“) und einem längeren, tieferem Blicken, das „ad artis archana“ vordringt („ad perspicacius intuendum oculorum aciem invitaveris, et longe penitius“): Gerald von Wales 1867, S. 123.

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hinreichend zur Kenntnis genommenen Passage“.604 Morelli beschreibt hier, wie er sich am Todestag seines Sohnes in eine intensive Zwiesprache mit einem religiösen Bild begibt.605 Er betrachtet lange die Wundmale des Gekreuzigten und wendet sich nach dem stillen Gesang von Psalmen und Lauden mit „festem Blick“ dem Evangelisten Johannes am Fusse des Kreuzes zu („gli occhi miei erano fermi alla sua figura“).606 Der ‚feste Blick‘ wird auch in einer spätmittelalterlichen Gebetsanweisung aus England betont: „After, caste thine eye on something, and hold it thereon while thou makest thy prayers, for this helps much to stabling of the heart: and paint there thy Lord as he was on the Cross: think on his feet and hands that were nailed to the tree, and on the wide wound in his side, through the which way is made to thee to win to his heart“.607 Hier scheint allerdings nicht wichtig zu sein, worauf der Blick ruht. Vielmehr entsteht das Bild erst in der Vorstellung des Betenden. Zusammenfassend lassen sich folgende Gegensätze benennen, die in mittelalterlichen Theorien des Sehens als zentral scheinen und durch Schwellenmotive thematisiert werden: Licht gilt als Bedingung des Sehens, umgekehrt braucht das innere Auge kein äußeres Licht; die Entfernung des Auges vom betrachteten Objekt scheint als Bedingung äußeren Sehens, während man sich den Vorgang nicht ohne eine gewisse Nähe im Moment der Einprägung vorstellen kann. Des Weiteren werden innere und äußere Bilder immer wieder miteinander abgeglichen, müssen voneinander abgegrenzt oder beschützt werden. Im Erkenntnisprozess müssen sich Überblick und Konzentration des Blicks die Waage halten.

4.2 Die Öffnung im Bild: Schwellenmotive als Sehaufgaben Schwellenmotive spielen für die Darstellung verschiedener Modi des Sehens im Bild eine wichtige Rolle, wie bereits festgestellt. Vor allem Fenster und Leitern stehen im Mittelalter für ein visionäres Sehen oder ein Sehen im Traum, verbinden den Visionär oder Träumer mit dem in der Vision Geschauten und formulieren diese Sichtverbindung über ein Verhältnis der Orte.608 Die Schwellenmotive sind das Scharnier, über das der Bildbetrachter die beiden dargestellten Modi des Sehens miteinander in Beziehung setzen kann, die ihm selbst natürlich nur im Bild und damit im Modus der körperlichen Schau zugänglich sind.609 Aber auch abgesehen von den Bildthemen des Traums und der Vision, die das Sehen explizit thematisieren, bieten Schwellenmotive aus rezeptionsästhetischer Perspektive oft

604 Krüger 2007, S. 219, Anm. 4. 605 Krüger 2007. 606 Giovanni di Pagolo Morelli: Ricordi, hrsg. von Vittore Branca, Florenz 1969, S. 488. Erstes Zitat: „[R]agguardando [...] continuamente la immagine e figura del divoto Crocifisso, fermando gli occhi miei nelle sue preziose piaghe“ (ebd., S. 483)  – der Blick in die Wundmale lässt außerdem eine Nahsicht vermuten. Zitiert und übersetzt nach: Krüger 2007, S. 220 f. 607 Richard Whiteford: The Pomander of Prayer (London 1531), Kapitel 8. Zitiert nach: Kamerick 2002, S. 162. 608 Vgl. Ganz 2006 A u. Ganz 2008. 609 Vgl. Ganz 2006 A, S. 113 f.

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einen entscheidenden Punkt, indem sie narrative und strukturelle Parameter für das Verständnis des Bildes bereitstellen. Einige dieser für Schwellenmotive charakteristischen innerbildlichen Funktionen sind bereits erörtert worden: Tür und Leiter dehnen den Fortgang einer Erzählung oder einer Bewegung, sei dies durch ihre doppelte Gerichtetheit, welche die Erzählung etwa durch die Tür der Lazarusparabel im Münchener Psalter zweimal passieren lässt (Tafel 5), oder durch eine Gradualisierung und Unterteilung durch Leitern und Türen, die den Aufstieg der Seelen in den Himmel im Stundenbuch der Marie de Bohun verlängern (Tafel 7). Allgemeiner stellen sich alle Schwellenmotive als Indizien einer stattfindenden (oder stattgefundenen) Bewegung dar: eines Auf- oder Abstiegs, Ein- oder Austritts, eines Sturzes, einer Begegnung oder eines Verschlungen-Werdens. Sie erscheinen als Zeitschleusen, die zum Beispiel vorangegangene und zukünftige heilsgeschichtliche Orte und Szenen ins Bild bringen. An einigen Verkündigungsbildern ließ sich die Tür sogar bereits konkreter als Umschaltpunkt des Betrachterblicks herausarbeiten: Ihre Position zwischen Gabriel und Maria wird hier in Beziehung gesetzt mit ihrer Zentralität in Bildgefüge und Bildraum. In einem Beispiel erwies sich der Übergang im Bild darüber hinaus als Punkt, an dem sich der Betrachterblick ganz konkret anders fokussieren kann, an dem die Wahrnehmung zwischen dem Nebeneinander bzw. Ineinander der Objekte auf der Bildfläche und ihrem Hintereinander in der Tiefe des Bildraumes umspringen kann (Abb. 13). Die Tür ist hier ein Motiv, das den Blick in die Tiefe zieht oder aber ihn an die Bildfläche bindet. Zwei Aspekte scheinen an dieser Beobachtung zusätzlich untersuchenswert: Erstens das Verhältnis der Schwellenmotive zum Bildraum und zweitens die Frage, ob und wie die Motive die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Besonders die Ambivalenz der Schwellenmotive, einerseits ein Element zu sein, das der Blick wie nebenbei streift, andererseits aber auch einen Ort im Bild zu benennen, an dem sich (weitere) Räume erschließen können, ist meiner Ansicht nach ein Aspekt, an den eine Analyse ihrer Rolle für den Prozess der Betrachtung anknüpfen kann. Sie ist nicht nur Merkmal der Tür, sondern auch etwa der Felsöffnungen in Geburtsdarstellungen, die von der Osten sowohl als eine „ausdrückliche Einrichtung zum Hinabsehen“ bezeichnet, als auch für „unauffällig“ und „leicht [zu] übersehen“ hält.610 Es lässt sich also aus zwei Frageperspektiven auf die Funktion der Schwellenmotive aus rezeptionsästhetischer Sicht blicken: Wie leiten die Motive den Blick des Betrachters? Wohin leiten sie den Betrachter? Die erste Frage betrifft die Struktur des Bildes, seine Semantik. Die zweite Frage betrifft die Kategorie des Raums sowie imaginäre Räume, die durch die Bildbetrachtung betreten werden können. Dass Schwellenmotive auf heilsgeschichtliche oder reale Orte verweisen, ist bereits deutlich geworden: So deutet die Tür in Verkündigungsdarstellungen auf die Paradiespforte hin, und Felsöffnungen verweisen auf die Geburtsgrotte in Betlehem. Auf welche Weise darüber hinaus Mehrdeutigkeiten der Motive Raum für die Imagination des Betrachters lassen, indem sie sich ikonographisch in ihrem topologischen Bezug nicht festlegen lassen, war ebenfalls im Kontext der dunklen Öffnungen bereits thematisiert worden. Im Folgenden sollen darüber hinaus Schwellenmotive als Eintritt zu den imaginären Räumen Hölle und Himmel erörtert werden. Zusammengefasst habe ich die beiden Leitfragen unter dem Begriff der „Sehaufgabe“. Eine Aufgabe formuliert ein Problem, stellt zugleich 610 von der Osten 1964, S. 343.

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aber gewisse Parameter als Orientierung für die Lösung bereit; sie kann also – je nach Blickwinkel – als Hilfestellung oder Hindernis gelten. Im folgenden Abschnitt geht es also um die Wahrnehmung des Jenseits, wie sie auch den Bildbetrachter betrifft, nämlich eine Wahrnehmung im Kontext des Jüngsten Gerichts als festgelegtes, aber zukünftiges Ereignis der Heilsgeschichte. Mir scheint das Thema besonders interessant für einen rezeptionsästhetischen Ansatz: Dargestellt werden im Bild die Jenseitsorte und ihre Wahrnehmung, und der Betrachter, dessen persönliches Schicksal am Jüngsten Tag entschieden wird, ist im Blick auf das Bild impliziert. Im folgenden Abschnitt werde ich nun Schwellenmotive als Stellen im Bild in den Blick nehmen, die dem Betrachter Sehaufgaben stellen, die seinen Blick aktivieren und durch das Bild, aber auch aus dem Bild heraus führen. Es wird also nicht mehr darum gehen, welche Funktionen Schwellenmotive auf der Sinnebene der Darstellung haben, sondern welche Rolle sie für die Rezeption spielen. Zunächst stellt sich die Frage, auf welche rezeptionsästhetischen Konzepte und Termini sich eine Untersuchung der Rolle von Schwellenmotiven im Bildsystem und im Rezeptionsprozess stützen kann. Spreche ich von Schwellenmotiven als Sehaufgaben, dann geht es um eine konkrete, benennbare Stelle im Bild, an der die Rezeption des Bildes ansetzen kann. Ein erstes rezeptionsästhetisches Konzept, das sich dafür zu eignen scheint, Schwellenmotive als Ansatzpunkte für eine Interaktion des Betrachters mit dem Bild zu begreifen, und das daher hier zunächst erörtert werden soll, ist das der „Leerstelle“. Dieser Begriff wurde in den 1970er Jahren von Wolfgang Iser als Bestandteil seiner Theorie einer Wirkungs- bzw. Rezeptionsästhetik des literarischen Textes entwickelt.611 Im System des Textes sind die Leerstellen für Iser Systemstellen, „die als bestimmte Aussparungen Enklaven im Text markieren und sich so der Besetzung durch den Leser anbieten“.612 Den Begriff der Leer- bzw. Unbestimmtheitsstelle übernimmt Iser aus der phänomenologisch orientierten Literaturtheorie Roman Ingardens. In der zuerst 1931 erschienenen Studie Das literarische Kunstwerk formuliert Ingarden Unbestimmtheitsstellen als notwendige Bestandteile der „intentionalen Gegenständlichkeit“, die Kennzeichen des literarisch Ästhetischen sei: „Man könnte sagen, daß ein jedes literarische Werk in bezug auf die Bestimmung der in ihm dargestellten Gegenständlichkeiten prinzipiell unfertig sei und eine immer weitergehende Ergänzung fordere, die aber textmäßig nie zu Ende geführt werden kann“.613 In den konkreten Beispielen Ingardens erscheinen die Unbestimmtheitsstellen vor allem als nicht-ausgeführte Hinweise zu Eigenschaften von Menschen und Gegenständen. So wird etwa in Shakespeares Hamlet die körperliche Erscheinung des Protagonisten nicht beschrieben – der Leser kann ihn „so oder anders konkretisieren, sich ihn ‚gut gewachsen‘ oder im Gegenteil etwas beleibt vorstellen“.614 Unbestimmtheitsstellen bezeichnen also Bestimmungslücken im Text, die durch den Leser ergänzt werden. Für Iser, der sich zwar an Ingarden orientiert, das Konzept der Leerstelle aber von dem der Unbe611 S. Iser 1994, S. 266 u. S. 284–315. 612 Iser 1994, S. 266. 613 Ingarden 1965, S. 261–270 zu intentionalen Gegenständen, hier S. 266 f. Er unterscheidet intentionale Gegenstände von realen Gegenständen – letztere zeichnen sich durch Bestimmtheit aus. 614 Ingarden 1968, S. 53.

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stimmtheitsstelle abgrenzt, sind „Unbestimmtheitsstellen nur Suggestionsreize einer letztlich undynamisch gedachten Komplettierung“.615 „Leerstellen indes bezeichnen weniger eine Bestimmungslücke des intentionalen Gegenstandes bzw. der schematisierten Ansichten als vielmehr die Besetzbarkeit einer bestimmten Systemstelle im Text durch die Vorstellung des Lesers. Statt einer Komplettierungsnotwendigkeit zeigen sie eine Kombinationsnotwendigkeit an“.616 Der Unterschied zur Unbestimmtheitsstelle liegt für Iser darin, dass die Leerstelle Anknüpfungspunkt für eine dynamisch gedachte Interaktion zwischen Text und Leser ist. Die Verschränkung von Text und Leser wird durch die „Dialektik von Zeigen und Verschweigen“ reguliert: „Das Verschwiegene bildet den Antrieb der Konstitutionsakte, zugleich aber ist dieser Produktivitätsreiz durch das Gesagte kontrolliert, das sich seinerseits wandelt, wenn das zur Erscheinung gebracht wird, worauf es verwiesen hat“.617 Schon diese Dialektik rückt Leerstellen in die Nähe der Schwelle, die ja ebenso als Vermittler des Verborgenen fungiert. Es stellt sich die Frage, ob und wie sich das Konzept auf Bilder übertragen lässt. Wolfgang Kemp hat den Begriff der Leerstelle 1985 in einem Aufsatz für eine Analyse zweier Bilder des 19. Jahrhunderts verwendet.618 Zu Beginn thematisiert er die Schwierigkeit, das Konzept einer essentiellen Unbestimmtheit auf Bilder anzuwenden: „Angesichts der vielen konkreten und materiell wirksamen Vorgaben, die die bildende Kunst für den Betrachter bereithält“ scheint sich diese eher durch Bestimmtheit als durch Unbestimmtheit auszuzeichnen.619 Andererseits gibt es auch in der Geschichte der Kunstgeschichte immer wieder Forderungen nach einer Offenheit des Bildes, die der Vorstellung des Betrachters Freiräume lässt. Kemp verweist auf Lessing, der im Rahmen seiner Malereitheorie des ‚fruchtbaren Augenblicks‘ bemerkt: „Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt“ und: „dem Auge das Äußerste zeigen, heißt der Phantasie die Flügel binden“.620 Kemp benennt in den von ihm untersuchten Bildern von Pierre Paul Prudhon und Léon Gérôme mehrere Leerstellen.621 Einmal ist es das Mehrwissen des Betrachters im Vergleich zur Figur im Bild, das eine „funktionale Leerstelle“622 entstehen lässt: Der Betrachter von Prudhons Bild sieht die Personifikationen der Rache und der Gerechtigkeit über dem Dieb und Mörder schweben und erkennt dadurch die Wertung der Tat, während der Täter nur auf sein Opfer blickt. Der Betrachter bezieht die Elemente des Bildes aufeinander, und „begreift [...] ‚wie es weitergeht‘ und einiges mehr, die Vorstellungen von Gerechtigkeit, Strafe und Gewalt betreffend“.623 In Der Tod des Marschall Rey benennt Kemp drei Leerstellen, die Punkte einer räumlich-zeitlichen Lagerelation zwischen Bild und Betrachter sind,

615 Iser 1994, S. 279. 616 Iser 1994, S. 284. 617 Iser 1994, S. 265 f. 618 Kemp 1985 B. 619 Kemp 1985 B, S. 259. 620 Lessing 1964, S. 23; Kemp 1985 B, S. 260. 621 Pierre Paul Prudhon, Die göttliche Rache und die Gerechtigkeit verfolgen das Verbrechen, 1808 (Paris, Louvre); Léon Gérôme, Der Tod des Marschall Ney, 1868 (Sheffield, Graves Art Gallery). 622 Kemp 1985 B, S. 261. 623 Kemp 1985 B, S. 261 vgl. Iser 1994, S. 335 zur „Überlegenheit des Lesers über die Figur“.

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und von denen eine außerhalb des Bildes liegt.624 Die Szene ist so dargestellt, dass der Ort der Erschießung, die im zeitlichen Vorfeld des im Bild Dargestellten stattgefunden hat, außerhalb des Bildes liegt. Der Zurückblickende verweist durch seine Bewegung auf diese Leerstelle ,hors champ’. Durch Kemps Untersuchung wird ersichtlich, dass ein Nachteil des Iserschen Konzepts der Leerstelle bei seiner Anwendung auf Bilder darin besteht, dass es Dimensionen wie Betrachter- und Bildraum nicht erfasst. Für die Textrezeption spielen diese zwar keine wichtige, für die Interaktion von Betrachter und Bild aber eine wesentliche Rolle. Die von Kemp genannten Leerstellen ließen sich im Hinblick auf ihre Funktion und Wirkung treffender als Strategien zur Blicklenkung des Betrachters einerseits und als raumzeitlicher Beziehungsrahmen andererseits bezeichnen, in den der Betrachter eingebunden wird. Auf andere Weise verwendet Christiane Kruse den Begriff in ihrem Aufsatz zur Vera Icon. Sie überträgt das Konzept „in reduzierter und modifizierter Form“ auf eine allgemeine Medien- und Kreativitätstheorie625 und liest die späteren „Referenzbilder“ der römischen Bildreliquie als verbildlichte Spuren der Imaginationsleistung, die angesichts der Reliquie ausgelöst wurde. Interessanterweise fällt sowohl bei Kruse als auch gelegentlich bei Kemp das Konzept der Leerstelle mit der figürlich leeren Stelle im Bild zusammen. Für Kruses These ist die ursprüngliche Bildlosigkeit der Tuchreliquie entscheidend, die die Referenzbilder dazu veranlasst, „die Leerstelle des Bildoriginals mit visuellen Daten bis hin zum Porträt des lebendigen Christus anzufüllen“.626 Hier gilt die figürliche Leere des Bildes als Leerstelle aus medienanthropologischer Sicht; die in Bildern festgehaltene Rezeption der Reliquie interpretiert Kruse als das kreative Besetzen der Leerstelle. Für Kemp ist die leere Stelle im Bild konkreter als Leerstelle für die Betrachter-Bild-Relation zu sehen: Eine der Leerstellen im Bild von Léon Gérôme ist die blanke Wandfläche, „ein großes Stück reiner Malerei“, die den Toten umgibt.627 Hier wird meiner Meinung nach der ambivalente Nutzen des Begriffs für Bilder deutlich. Bleibt man zu nah am iserschen Konzept, so fehlt der Leerstelle für eine kunstwissenschaftliche Rezeptionsästhetik die Möglichkeit, Parameter wie Bild- und Betrachterraum und spezifische mediale oder materielle Gegebenheiten des Bildes in eine Erkundung des BetrachterBild-Verhältnisses miteinzubeziehen; aus dieser Perspektive wirkt das Konzept zu simpel und zweidimensional. Andererseits scheint eine Reduzierung der Leerstelle auf leere Flächen im Bild wiederum als Vereinfachung des iserschen Konzepts, das er ja gerade von dem sich eher auf Nicht-Dargestelltes bezogenen Begriff Ingardens unterschieden wissen will. Der zweite Punkt wird besonders bei undifferenzierten Übernahmen des Begriffs für Bilder deutlich. In ihrer Dissertation zu niederländischen Triptychen zitiert Antje Neuner das Konzept der Leer624 Kemp 1985 B, S. 266. 625 Kruse 2002, S. 121. 626 Kruse 2002, S. 127. 627 Kemp 1985 B, S. 263. Interessanterweise formuliert Kemp diese Stelle explizit als Leerstelle für den Betrachter des 20. Jahrhunderts, der die Wand durch seine „Schulung durch moderne Malerei veranlasst“, zuerst wahrnimmt; s. auch S. 268, wo die Leerstelle bei Kemp ein weiteres Mal mit der figürlichen Leere verbunden wird – hier ist es die „Leere um den toten Helden“: Zitat, ebd.

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stelle nach Kemp, verweist aber nicht auf den Ursprung des Begriffs bei Iser.628 Die Leerstellen in den von Neuner in einer Fußnote genannten Bildbeispielen sind alle figürliche Leerstellen – in den meisten Fällen eine „freie Bodenfläche“ am unteren Bildrand.629 Sie erläutert nicht, wie man sich das Ausfüllen dieser – nach Iser zitierten, aber nicht als Zitat gekennzeichneten – „ausgesparten Beziehung“ durch den Betrachter zu denken hat, und welchen Zugewinn der Begriff der Leerstelle für ein Verständnis der Rezeption dieser spezifischen Bilder bedeutet. In dieser Form ist die Verwendung des Begriffs für eine Untersuchung von Rezeptionsvorgaben in Bildern meiner Meinung nach nicht produktiv. Die Funktionalisierungen des Begriffs der Leerstelle durch Kemp und Kruse machen zwei Dinge deutlich: Erstens, dass die mediale und räumliche Dimension von Bildern bei einem rezeptionsästhetischen Ansatz miteinbezogen werden muss – ein Desiderat, dem ich besonders im zweiten Teil meiner Studie nachkommen werde –, und zweitens, dass es sinnvoll ist, konkret Strategien der Blick- und Aufmerksamkeitslenkung im Bild und Techniken zur Anregung der Vorstellungstätigkeit des Betrachters zu unterscheiden, statt diese unter dem Begriff der Leerstelle zu subsumieren. Diese „doppelte Aufgabe“ formuliert Kemp im gleichen Band, in dem sein Leerstellen-Aufsatz erschienen ist, für eine kunstwissenschaftliche Rezeptionsästhetik: das Erarbeiten der innerbildlichen Rezeptionsvorgaben einerseits sowie die Beschäftigung mit den Zugangsbedingungen eines Kunstwerks andererseits, „die tendenziell zu einer einzigen Perspektive verschmelzen müssen“.630 In jüngeren Publikationen auf dem Gebiet der (vor allem literaturwissenschaftlichen) Mediävistik lässt sich eine Aktualität rezeptionsästhetischer Termini beobachten. Neben der Leerstelle werden vor allem die Begriffe „Unbestimmtheit“, 631 „Konkretisierung“, „Aktualisierung“632 und „Appellstruktur“633 verstärkt verwendet. Auch wenn sich die Perspektive von der Ästhetik zur Aisthetik, und vom Interesse an der Rezeption hin zur Wahrnehmung verschoben hat, scheinen in den gegenwärtigen Diskussionen ähnliche Dinge wie für die Rezeptionsästhetik im Vordergrund zu stehen: Die Vorstellungstätigkeit des Betrachters oder Lesers und die Prozessualität der Wahrnehmung, wenngleich aus einer weniger hermeneutischen Perspektive.634 Es werden ähnliche Schwerpunkte gesetzt und die gleichen Differenzierungen vorgenommen – oft, ohne dass man sich explizit auf die Rezeptionsästhetik bezöge. So formulieren Kathryn Starkey, Horst Wenzel und Carsten Morsch in der Einleitung zum Sammelband Imagination und Deixis: „Es geht bei all diesen Fragen also gerade nicht um Spekulationen über die Reaktionen möglicher Leser, sondern um philologische 628 Neuner A. 1995, S. 225. 629 Neuner A. 1995, S. 225, Anm. 59. 630 Kemp 1985 A, S. 24; s. auch Wolfgang Kemp: Art. Rezeptionsästhetik, in: Pfisterer 2003, S. 314–316. 631 Der bei Ingarden 1965 und Eco 1973 zentrale Begriff wird z. B. von Gottfried Boehm in einem (allerdings nicht mediävistischen) Aufsatz verwendet: Boehm 2006. 632 Der bei Ingarden 1965 und Ingarden 1968 sowie Eco 1987 zentrale Begriff erneut bei: Lechtermann 2005, S. 108. 633 Der isersche Begriff erneut bei Wenzel 2007 A, S. 229 u. Wenzel 2007 B, S. 146. 634 Zur Imagination s. die Sammelbände Krüger/Nova 2000; Hüppauf/Wulf 2006; u. Starkey/Wenzel 2007. Zur dynamischen Wahrnehmung: Lechtermann/Morsch 2004; Lechtermann/Wagner/Wenzel 2007.

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Beobachtungen zu Techniken der Adressierung und der Imaginationslenkung“. 635 Ähnlich formulierte schon Kemp die Grenzen der Rezeptionsästhetik. Für ihn profitiert die Rezeptionsästhetik zwar von der Rezeptionsgeschichte und Betrachterforschung, deren Interesse „realen Betrachtern“ gilt, gleichzeitig unterscheidet sie sich aber von diesen, weil sie „werk­ orientiert“ arbeitet und „auf der Suche nach [...] der Betrachterfunktion im Werk“ ist.636 Trotz der angeführten Übereinstimmungen in Fragestellungen und Interessensformulierungen werden Parallelen und Anknüpfungspunkte, vor allem aber Unterschiede zu Theorien und Begriffen der Rezeptionsästhetik in der gegenwärtigen Forschung nicht explizit thematisiert und erläutert. Ein Unterschied ist sicher der Blickwinkel, unter dem sich die Autoren den „Techniken der Adressierung“ nähern. Das Interesse an der Dynamik des Rezeptionsprozesses rührt von einer Thematisierung des Raums, der Bewegung und des Mediums her und untersucht die Einbindung des Rezipienten in dieses Netzwerk, ohne dabei auf eine graduelle Auflösung des vermeintlich autonomen Kunstwerks bedacht zu sein. Eine stärkere Betonung der Räumlichkeit von Wahrnehmungsprozessen hat neuere Studien sensibler gemacht für die in Bild oder Text vorhandene und bei der Rezeption entstehende Wahrnehmungs-, Schau- und Bewegungsräume. Dieser Kontext scheint für eine Analyse von Schwellenmotiven fruchtbar zu sein, die ja auf das Sehen und den Raum Bezug nehmen. Schwellenmotive sind oben bereits in der Struktur des Bildes als zugleich trennende und verbindende Übergänge aufgetreten, welche die Kommunikation im Bild, aber auch die Kommunikation mit dem Bild regulieren. Dabei ist besonders die Möglichkeit hervorgetreten, über Schwellenmotive zwei Bildfelder oder Szenen in Relation zueinander zu setzen. Sie treten damit als Strukturmerkmal des von Kemp für die mittelalterliche Bilderzählung als wesentlich herausgearbeiteten „Beziehungssinns“ auf.637 Des Weiteren sind Schwellenmotive Mittel zur Lenkung der Aufmerksamkeit. Ihre Zwischenposition erlaubt es dem Betrachter, das beiderseits der Schwellenmotive Dargestellte im Dienst der Erzählung miteinander in Bezug zu setzen, sei es als hierarchische Gegenüberstellung zweier Bereiche, als Punkt des Widerspiels dialogischer Kommunikation oder als Sequenz zweier Erzählszenen.638 In den von Bogen untersuchten „Auftragsträumen“ wird das am Beispiel des Türmotivs deutlich639: Auf der Ebene der Bilderzählung trennt die Tür den Ort des Träumenden vom Ort der Ausführung des im Traum erhaltenen Auftrags, auf der Ebene der Bildbetrachtung fungiert sie als Vektor der Leserichtung und stellt die beiden Szenen in ein Verhältnis der Folgerichtigkeit (Abb. 14 u. 15). Geöffnete Türen im Bild lenken den Blick des Betrachters auf das, was sich auf ihrer anderen Seite befindet. Claude Gandelman hat Zeigegesten und Türmotive in der sprachphilosophischen Terminologie John Langshaw Austins als „performatives“ bezeichnet, die eine Handlung des Betrachters nach sich ziehen, indem sie dessen Blick lenken: „Doors in pictures, like pointing 635 Starkey/Wenzel/Morsch 2007, S. 9. 636 Kemp 1985 A, S. 22. 637 Kemp 1994, S. 9–20 („Beziehungssinne“), bes. S. 16‒18. Begriff im Singular taucht das erste Mal in einem Nietzsche-Zitat auf (ohne Quellenangabe): ebd. S. 17. 638 Vgl. die beiden Denkweisen der Schwelle (Übergang und Widerspiel), dargelegt oben S. 23 f. 639 Vgl. oben 3.1.3; Bogen 2001, S. 87–94.

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fingers, are performatives, gaze-directing devices“.640 Allerdings behauptet Gandelman: „This gesture [hier: der Zeigegestus, T.B.] did not exist in the iconography of the Western world before the fifteenth century“.641 Diese Einschätzung scheint für Gandelman auch auf Türmotive zuzutreffen, denn er untersucht keine Beispiele aus der Zeit vor dem 15. Jahrhundert. Damit unterschätzt er frühere mittelalterliche Bilder, wie Horst Wenzel betont hat.642 Das Beispiel der Auftragsträume zeigt, dass eine blicklenkende Funktion auch für frühe Türmotive gelten kann, die hier als Mittel der Deixis auftreten.643 Wie der zeigende Finger zieht die offene Tür den Blick des Betrachters nach sich – eine Wirkung, die sich Bildkünstler das ganze Mittelalter hindurch zunutze machen. Kombiniert werden die beiden Motive Zeigegestus und Tür in Darstellungen der Himmelspforte. Im bereits erwähnten englischen Liber vitae der Abtei New Minster von Winchester (Abb. 8) werden die einladende Geste des Engels und die offene Tür kombiniert, um die Einladung zum Eintritt in den Himmel zu unterstreichen. Es lassen sich weitere Beispiele einer solchen Verdoppelung des Aufforderungscharakters vor dem 15. Jahrhundert nennen.644 Eng verknüpft ist diese Bildfunktion mit dem Verheißungs- und dem Aufforderungscharakter der Schwelle, die oben erarbeitet wurden. Der Aspekt der persönlichen Relevanz wird in Bildern des Jüngsten Gerichts mit der Wahl zwischen zwei Jenseitsorten verknüpft. Die Seligen und Verdammten können daher als Betrachterstellvertreter im Bild gelten; Betrachter sollen in besonderem Maße aktiviert werden, denn die Didaxe des Themas ruft zur Umkehr und Buße auf. Das Motiv der offenen Tür im liber vitae lenkt den Betrachterblick auf die dargestellte Himmelsstadt; über die Verortung des Blicks findet eine Verortung des Betrachters in der Jenseitslandschaft statt. In der Darstellungsgeschichte des Jüngsten Gerichts haben sich zudem Argumentationsstrukturen herausgebildet, die den Betrachter vor dem Bild über eine mögliche Identifikation mit den gerichteten Seelen im Bild hinaus in die Ereignisse miteinbeziehen. Schwellenmotive werden häufig an den Rändern von Bildern platziert. Ab dem späten 13. Jahrhundert werden in der Buchmalerei – und später auch in der Tafelmalerei – die Darstellung von Himmelspforte und Höllenschlund am Bildrand und die bloße Andeutung der Jenseitsorte zur wichtigsten Darstellungsweise (vgl. Tafel 3 und Abb. 47). Der Verweischarakter der Schwellenmotive richtet sich dadurch auf das, was nicht mehr dargestellt ist – die Jenseitsräume von Himmel und Hölle. Bild- und Weltgrenze fallen in dieser Struktur zusammen. Gleichzeitig appel­ lieren die Schwellenmotive an den Betrachter, an der Grenze des Dargestellten in einen anderen Sehmodus umzuschalten und sich die Jenseitsorte im inneren Raum seiner Vorstellung auszumalen. Schwellenmotive bieten somit einen Ansatzpunkt für die Vorstellungstätigkeit des Betrachters. Dabei geben sie bereits Anstöße zur Ausgestaltung der imaginären Räume – 640 Gandelman 1991, S. 36–55, hier S. 36. Austin 2002. 641 Gandelman 1991, S. 14. 642 Wenzel 2007 A, S. 234, Anm. 15. 643 Zur Deixis im Mittelalter generell s. Starkey/Wenzel 2007; zu Bildern s. Wenzel 2007 A und Wenzel 2007 B. Dort jeweils auch zur performativen Dimension der Deixis. 644 Z. B. das Mosaik von Torcello, entstanden am Ende des 11. Jahrhunderts; das Tympanon des Westportals der Kathedrale von Bourges 1255–1260; eine französische Handschrift des Somme le Roy von 1311: Paris, Bibliothèque de l’Arsenal (MS 6329, fol. 54v).

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die Tür verweist auf einen architektonischen Jenseitsort, der Höllenschlund auf einen durch körperliche Pein charakterisierten Ort. Der Begriff des imaginären Raums bzw. der imaginären Räume ist in den vergangenen Jahren verstärkt in den Kulturwissenschaften diskutiert worden.645 Mit dem Begriff der Imagination wird die gegenseitige Bedingung von imaginären und tatsächlichen Bildern hervorgehoben: „Bilder gehen Vorstellungen ebenso voraus, wie sie in der Wahrnehmung der Beobachter nachwirken“.646 Folglich kann auch der imaginäre Raum entweder einen Raum bezeichnen, der über text- und bildinterne Strategien im Betrachter eröffnet wird, oder einen kulturellen Raum der Vorstellung, der einer Text- und Bildproduktion vorangeht. Im Sinne des Letzteren erschienen Hölle und Himmel aus medienanthropologischer Perspektive als imaginäre Räume, die „Codes zur medialen Erzeugung von Vorstellungsräumen“ bereitstellen.647 Für Hartmut Böhme sind sie kulturelle imaginäre Orte, von denen her Bilder und Texte durch die Vorstellung der Bildkünstler und Autoren beeinflusst werden. Himmel und Hölle unterscheiden sich vor allem in der Art und Weise, wie sie wahrgenommen werden. In der vom Regensburger Mönch Marcus aufgeschriebenen Vision des Ritters Tundal (1147/1148), die das gesamte Mittelalter über in Europa weit verbreitet, im 15. Jahrhundert aber besonders beliebt war,648 sind Himmel und Hölle folgendermaßen unterschieden: Der Himmel wird vor allem als Raum des Sehens, die Hölle als Raum körperlicher Pein gekennzeichnet. Nachdem er die Höllenstrafen selbst durchlebt hat, zeigt der begleitende Engel dem Ritter die Seligen bei der Gottesbetrachtung. Der begleitende Engel erklärt dem Visionär, dass er die visio dei nicht mit seinen eigenen Augen erfahren, ja nicht einmal den Raum betreten darf, da er sonst das im Jenseits Durchlebte vergessen würde.649 Für die Rückkehr in seinen Körper (und für die Nachwelt) ist die Erinnerung Tundals allerdings entscheidend, wie ihm der Engel klar macht: „Du musst zu deinem Leib zurückkehren und alles, was du gesehen hast zum Nutzen Deiner Nächsten erinnern.“650 Während die Er­innerung an die Hölle „in den virtuellen Gefühlsraum des Körpers durch Schmerzen eingebrannt“ wird, gibt es im Himmel „nur einen Gefühlstonus [...]: das Glück im Blick“.651 Dieses Glück wiederum ist Tundal darüber hinaus nur vermittelt möglich, nämlich im Blick auf die Sehenden. Auch Bildkünstler stellen die unterschiedlichen Wahrnehmungsmodalitäten von Himmel und Hölle immer wieder durch unterschiedliche Visualisierungsstrategien dar. Das lässt sich an den Darstellungsweisen von Seligen und Verdammten erkennen. Auf der Seite der Hölle 645 S. z. B. die Sammelbände Starkey/Wenzel 2007 und Vavra 2007. 646 Starkey/Wenzel/Morsch 2007, S. 9. 647 Böhme H. 2004, S. 21. 648 Visio Tnugdali 1989 (die von Albrecht Wagner herausgegebene Edition basiert auf 54 Manuskripten). Palmer 1982, S. 1, gibt einen Überblick über die Verbreitung in lateinischen und volkssprachlichen Fassungen; Auszüge der Vision mit deutscher Übersetzung bei Dinzelbacher 1989, S. 86–97. 649 Visio Tnugdali 1989, De gloria monachorum et sanctimonialium, S. 49: „et si quis semel ad eos intraverit, omnium immemor preteritorum“. 650 Visio Tnugdali 1882, De reditu anime ad corpus, S. 55: „Debes [...] ad corpus tuum redire et omnia, que vidisti, ad utilitatem proximorum memoriter retinere“. S. dazu auch: Böhme H. 2004, S. 29. 651 Böhme H. 2004, S. 29 u. S. 30 (seine Hervorhebung).

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wird der Tastsinn hervorgehoben, indem an den Körpern der Verdammten Strafen vollzogen werden. Ab dem 13. Jahrhundert kommen die von Moshe Barasch so bezeichneten „Gesten der Verzweiflung“ auf, bei denen Verdammte gegen sich selbst zerstörerische Gesten ausüben, ihr Gesicht zerkratzen oder sich in die Augen oder in den Mund greifen.652 Über die Gesten drückt sich die „ultimativ gesteigerte Leiblichkeit“ der Hölle aus, wie sie in mittelalterlichen Visionen immer wieder betont wird.653 Die Gesten sind Ausdruck davon, dass die zugeführten Schmerzen tatsächlich Wirkung zeigen.654 Die Künstler des Jüngsten Gerichts am Fassadenpfeiler der Kathedrale von Orvieto (1310–1330) lassen die Verdammten den Teufeln physisch immer ähnlicher erscheinen, je weiter sie sich im Inneren der Hölle befinden (Abb. 57).655 Im Gegenzug werden die Körper der Seligen nach oben hin immer idealisierter und weniger bewegt dargestellt, wodurch sie auch zunehmend dem an der Spitze der Blattranke thronenden Weltenrichter gleichen (Abb. 58). Die dargestellten physischen Veränderungen der Seelen bezeugen zugleich, dass beim Jüngsten Gericht alle irdischen Hüllen fallen und sich die Seelen in ihrer wahren Natur zeigen. Das Innere kommt zum Vorschein und wird offengelegt. Die Gleichzeitigkeit einer Verzehrung aus dem Inneren und einer Entblößung des Inneren von außen her wird in einer Beschreibung der Höllenstrafen durch Alanus de Insulis deutlich (13. Jahrhundert): „Es gibt vier Strafen der Hölle: Der Wurm des Gewissens; die Flamme der Hölle; die Aufdeckung der Schuld; der Entzug der Schau Gottes. Die erste Strafe ist verborgener, die zweite schwerer, die dritte beschämender, die vierte ist schändlicher“.656 Genauso kann die Darstellungsweise der Verdammten in Orvieto, deren Rippen sich immer stärker abzeichnen und deren Sehnen hervortreten, als Ausdruck ihrer Verzweiflung und als Enthüllung ihrer Schuld zugleich gesehen werden.657 Am wandelbarsten sind die Gesichter der Verdammten. Als Sitz der meisten Sinnesorgane ist die Membran zwischen einem Innen und einem Außen hier am durchscheinendsten.658 652 Barasch 1978. Dass diese Gesten bereits früher mit der Hölle assoziiert waren zeigt etwa auch die Vision Tundals, in der sich die Dämonen ihre eigenen Wangen zerkratzen: Dinzelbacher 1989 S. 86–89. In Kap. 10 der Vision des Bauern Thurkill zerkauen die Verdammten ihre Gesichter. 653 Böhme H. 2004, S. 25. 654 Zum Schmerz und seiner Betrachtung: Mills 2005. 655 Diese Beobachtung habe ich bereits in meiner an der University of Glasgow 2003 eingereichten Magisterarbeit zum Jüngsten Gericht von Orvieto gemacht („The Last Judgment Pier of Orvieto Reconsidered“). Dort auch zum Forschungsstand, dem vor allem zwei Monographien hinzugefügt werden müssen, die hier nicht mehr berücksichtigt werden konnten: Jürgen Wiener: Lorenzo Maitani und der Dom von Orvieto. Eine Beschreibung, Petersberg 2009; Anita Fiderer Moskowitz: The Façade Reliefs of Orvieto Cathedral, London 2009. 656 „Sunt autem species poenarum infernalium, quatuor; vermis conscientiae, flamma gehennae, revelatio culpae, carentia visionis divinae. Prima poena secretior, secunda gravior, tertia erubescibilior, quarta damnosior“: Liber Sententiarum, 17, in: PL 210, Sp. 229–251, hier Sp. 237. Die deutsche Übersetzung: Helge Baumann, basierend auf: Slenczka 2007, S. 111. 657 Eine Beschäftigung mit der Entblößung des Inneren als Folge von irdischer Gerechtigkeit findet sich am extremsten in der Geschichte des Richters Sisamnes wieder, der aufgrund seiner Bestechlichkeit gehäutet wird – s. z. B. das Diptychon Gerard Davids aus dem Gerichtssaal des Brügger Rathauses (1498); zu diesem Bild s. das Kapitel „Skin Show“, in: Mills 2005, S. 59–82 u. Rothstein 2008. 658 Vgl. Baader 2002.

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57 Hölle, Fassadenpfeiler mit der Darstellung des Jüngsten Gerichts, Orvieto, Dom, ca. 1310–1330. Aufnahme aus Augenhöhe.

Der moralischen Beschäftigung mit Äußerlichkeiten und Innerlichkeiten kann eine Beschäftigung der Bildkünstler mit angemessenen Visualisierungsstrategien dieser Schichten entsprechen. In Orvieto zeigt sich das zum Beispiel nicht nur über Ähnlichkeitsbeziehungen, sondern auch am Material. Das Relief im Bereich der Hölle ist tiefer als in den oberen Registern und verlangt neben seiner Positionierung auf Augenhöhe durch das sich ergebende Formen- und Schattenspiel nach einem längeren und ‚tiefer greifenden‘ Blick als das flache Relief der Seligen, über das der Blick schneller nach oben gleitet (Abb. 58). Unterschiede von Himmel und Hölle als Räume sinnlicher Erfahrung für die gerichteten Seelen werden so für den Betrachter nicht nur über die bildlichen Argumentationsstrukturen des Jüngsten Gerichts und der in Verdammten und Seligen durch Haltung und Gestik ‚eingeschriebenen‘ Spuren erkennbar, sondern werden über die erforderte Art des Blicks gewissermaßen im Betrachter wirksam. Einem Nach-Außen-Kehren des Inneren auf bildtechnischer Ebene entspricht ein Lenken des Blicks in die Tiefe. Der Fokus auf das Innere des Körpers als Visualisierung des Schmerzes ist nicht der Höllendarstellung vorbehalten. Robert Mills hat in seiner Studie zu „Pain, Pleasure and Punishment“ im Mittelalter die ambivalenten Reaktionen herausgearbeitet, die der im Bild darge-

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58 Fassadenpfeiler mit der Darstellung des Jüngsten Gerichts, Orvieto, Dom, ca. 1310–1330.

stellte leidende Körper im Betrachter hervorruft.659 Besonders deutlich wird das an der Gegenüberstellung der Darstellung des Urteils des Cambyses von Gerard David (1498) und einer anonymen Kopie der rechten Tafel des Diptychons, die allerdings das Martyrium des Hl. Bartholomäus zum Thema hat.660 Die Tafel des Martyriums soll im Sinne der imitatio Christi Mitgefühl, Meditation und letztendlich Identifikation mit dem Körper des Geschundenen auslösen: Darstellungen des leidenden Christus oder der Märtyrer „make efforts to persuade viewers to adopt the point of view of the suffering body, touching it with their eyes and incorporating it affectively into their field of vision“.661 Diese Reaktionen scheinen im Kontext säkularer Rechtsprechung (Urteil des Cambyses) dagegen nicht angebracht: „The 659 Mills 2005. 660 Martyrium des Hl. Bartholomäus, 16. Jahrhundert, Brügge, Renaissancezaal ’t Brugse Vrije. 661 Mills 2005, S. 106.

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painting was intended to install an ideological message, provoking meditation on moral truths [...] rather than engagement with abject bodies“.662 Der entscheidende Unterschied zwischen den zwei Tafeln ist der jeweilige Gesichtsausdruck des Gefolterten. Das Gesichts des Sisamnes ist schmerzverzerrt, während man die Qualen am Antlitz des Bartholomäus nicht ‚ablesen‘ kann. Das Fehlen des Ausdrucks von Schmerz fordert „the capacity of the viewer to reconstruct the body in the image empathetically“.663 Nach Mills lassen die Bilder aber auch eine Betrachtung „gegen den Strich“ („against the grain“) zu: Der Übergang von einer Rezeptionsweise und ihren Wirkungen zur anderen ist fließend.664 Die Beobachtungen von Mills lassen sich auf die Darstellung von Verdammten übertragen. Die meisten mittelalterlichen Bildkünstler entscheiden sich für die enthüllende Wirkung eines Ausdrucks von Verzweiflung über die Körper der Verdammten. Die Rezeptionsweise eines im Betrachter konstruierten Ersatzschmerzes kommt aber ebenfalls zum Tragen. So sagt Notger Slenczka über die Wirkung des Jüngsten Gerichts von Hieronymus Bosch, das die Verdammten mit sehr ruhigen Gesichtsausdrücken darstellt, „dass sich im Betrachter das Entsetzen und die Angst versammeln, die zu diesen Szenen gehört“.665 Die genannten Beispiele berühren – auch wenn hier keine Schwellenmotive vorhanden sind – den Kern des Wahrnehmungsunterschieds zwischen Hölle und Himmel: die Gegensätze des Innen und Außen, der leiblichen und visuellen Erfahrung. Dem Betrachter werden Entdeckungsmöglichkeiten des Blicks geboten. Auch Buchmaler machen sich die Erscheinungsweise ihres Mediums zunutze, um das Sündenhafte zu entlarven bzw. die Buchbenutzer selbst dahinzuführen. Danielle Joyner hat gezeigt, wie die Miniaturen des Hortus Deliciarum aus dem späten 12. Jahrhundert das Böse zunächst als schöne, reich bekleidete Figuren vorführen, nur um eine oder mehrere Buchseiten später seine wahre Natur zu enthüllen: „evil appears first as a beautiful figure, and when it is overthrown by a force of good its beauty dissolves to reveal a recognizably sinister countenance“.666 Mit reich verzierten Kleidern steht Luzifer auf Blatt 3 unter Gott (Abb. 59). Beim Umblättern erscheint er erneut (fol. 3v), diesmal im oberen Register mit Inschriften, die seinen Hochmut und Stolz hervortreten lassen (Abb. 60). Im unteren Register ist dann der Sturz der Engel dargestellt – das Gesicht Luzifers ist jetzt zu einer Fratze verzogen. Nach Joyner wird die Betrachterin, die sich an den schönen Details erfreut und ihre Stimme in den Dienst der hochmütigen Worte des Engels stellt, dadurch selbst an den Rand der Sünde geführt, um dann über ihren Fehler belehrt zu werden.667 Die Handlung des Umblätterns wird mit dem Abtragen des falschen Glanzes und der Enthüllung einer verzerrten Fratze unter dem herrschaftlichen Antlitz Luzifers verbunden – die Buchseite wird zum Träger eines Kippbildes. 662 Mills bezeichnet die distanzierte Betrachtungshaltung in diesem Kontext als „burgerlijk aesthetic“, Mills 2005, S. 79 f. 663 Mills 2005, S. 82. 664 Mills 2005, S. 80. 665 Slenczka 2007, S. 98. 666 Joyner 2007, S. 107. Als weiteres Beispiel einer solchen Wirkungsweise in der Handschrift nennt sie den Kampf der Tugenden und Laster (fol. 199v, 201v, 202v). 667 Nach der Rekonstruktion von Green 1979, fol. 3r u. 3v, Bd. 1, S. 7 f. (Tafeln 1 u. 2).

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59 Luzifer, Hortus Deliciarum der Herrad von Landsberg, 1176–1196 (fol. 3r). Original zerstört, Nachzeichnung 19. Jahrhundert.

60 Sturz der Engel, Hortus Deliciarum der Herrad von Landsberg, 1176– 1196 (fol. 3v). Original zerstört, Nachzeichnung 19. Jahrhundert.

Die Entdeckungsmöglichkeiten des Betrachterblicks werden in Orvieto und im Hortus Deliciarum über Strategien gefordert, die eng mit Medialität und Materialität verbunden sind. Im Folgenden stehen nun einige Beispiele im Vordergrund, welche die Unterschiede der Wahrnehmungsräume Hölle und Himmel in der Malerei durch bestimmte Visualisierungsstrategien auf die Wahrnehmung des Bildbetrachters überspringen lassen, die eng mit dem Bildraum verknüpft sind. In seinem Tafelbild mit der Darstellung des Jüngsten Gerichts aus San Marco in Florenz, verlegt Fra Angelico die Himmelspforte perspektivisch in den Hintergrund, während sich im rechten Vordergrund des Bildes der Blick auf das Innere der Hölle öffnet (Abb. 61). Die Öffnung der Himmelspforte ist schräg zur Bildebene angelegt und dem Betrachter dadurch nicht einsehbar. Das Innere der Hölle, die ein Fünftel des gesamten Bildes einnimmt, erschließt sich dem Betrachter dagegen durch eine Schauöffnung im Fels.668 Der Streifen mit den Gräbern in der Mitte ist leer – die Entscheidung über das Schicksal der Seelen hat bereits stattgefunden. Nur ein zentral vor dem Bild stehender Betrachter befindet sich auf der Achse der Entscheidung. Die Betonung liegt so ganz auf der Erscheinung des Weltenrichters und auf den Jenseitsorten Himmel und Hölle. Die Wege zu diesen Orten werden miteinander kontrastiert: ein Reigen von Seligen bewegt sich die Anhöhe hinauf zur Himmelspforte, während die Verdammten von Teufeln durch eine Felsöffnung in die Hölle gezerrt werden. Der Leichtigkeit des Blicks in die Hölle, in der Straforte in Registern angeordnet sind, steht die visuelle Verborgenheit des Himmels gegenüber. Die Mauern und die 668 Zur Schauöffnung: Rohlfs-von Wittich 1955; Kemp 1996, S. 29–31; Bogen 1999.

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61 Fra Angelico, Jüngstes Gericht, um 1435. Florenz, Museo di San Marco, 105 x 210 cm.

hinter ihnen zu erkennenden Gebäude deuten auf eine Himmelsstadt, deren Darstellung allerdings vom Rahmen abgeschnitten wird. Das situiert sie nicht nur jenseits der für den Betrachter visuell nicht überschreitbaren innerbildlichen Schwelle, sondern auch außerhalb der durch den Rahmen des Bildes gesetzten materiellen Schwelle. Durch die Lichtstrahlen wird auf das Mysterium des Himmels verwiesen, die Sichtbarkeit wird dem Betrachter jedoch vorenthalten. Sie gilt nur, wie er annehmen muss, für die zwei Seligen, die vor der Pforte, an den limina lucis, stehen. In den Visualisierungsmotiven für Himmel und Hölle stehen sich Verborgenheit und Veröffentlichung gegenüber.669 Das Treiben der Hölle findet in einem Inneren statt, das explizit für die Erzählung bzw. die Betrachtung veräußert wird. Ikonographisch steht die Höllendarstellung des Jüngsten Gerichts Fra Angelicos in der italienischen Tradition großer detaillierter Höllenbilder seit Beginn des 14.Jahrhunderts.670 Die Schauöffnung nimmt die Gestalt einer Höhlenöffnung an und wiederholt dadurch die Form des Hölleneingangs im Bild. Dem physischen Hineinzerren der Seelen in die Hölle entspricht die Visualisierungsstrategie der Schauöffnung. Das einzige, was der Betrachter dagegen über den Himmel erfährt, erschließt sich ihm durch die aus der Himmelspforte austretenden Lichtstrahlen, die für den Glanz des Himmels oder die Mächtigkeit des göttlichen Blicks stehen, und an den acies animi nach Augustinus erinnern, der Erdenbewohnern nur als vix vidisti gewährt wird. 669 Kemp 1996, S. 29 aber auch S. 37 für Erzählung als Offenheit oder als vermittelter Bericht; Bogen 1999. 670 Zu dieser „Darstellungskonvention“ des „ausführlichen Gerichts“, s. Grötecke 1997, S. 27; vgl. offensichtliche Ähnlichkeiten mit dem Fresco Buffalmaccos aus dem Camposanto in Pisa (um 1332–1342) besonders in Bezug auf die Darstellungsweise des Einblicks als Wegfallen einer Felswand bzw. als zum Zweck der Betrachtung verbreiterter Felsspalt und den Höllenschlund in der oberen rechten Ecke.

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Am Weltgericht Fra Angelicos wird deutlich, dass sich die Möglichkeiten, einen Ort mithilfe eines Türmotivs als verborgen darzustellen, mit der Erschließung der tiefenräumlichen Bilddimension erweitern. Zur Dunkelheit und Geschlossenheit, die im Kontext der Verkündigungsdarstellungen als Darstellungsweisen auftreten, kommt die Möglichkeit der orthogonalen Platzierung im Tiefenraum hinzu. Die ‚Geschlossenheit‘ im Sinne eines verstellten Blicks gilt in diesem Fall nur für den Betrachter vor dem Bild. Die zweite Bildtechnik, mit der Fra Angelico arbeitet, ist diejenige der Herstellung von Nähe und Ferne. Noch deutlicher wird die Gegenüberstellung eines nahen und eines fernen Ortes in mehr als einem Dutzend nordfranzösischer und flandrischer Stundenbücher aus den Jahren 1480– 1520 mit der Darstellung des Endes der Parabel von Lazarus und dem reichen Mann. Die von Baschet untersuchten Beispiele zeigen den Reichen groß im Vordergrund des Bildes und Lazarus auf Abrahams Schoß klein im Hintergrund.671 Nach Baschet ist das Ziel dieser Darstellungsweise, dass sich die Leser, reiche Besitzer eines Stundenbuches, mit dem Reichen identifizieren und dessen Blickrichtung einnehmen: „C’est donc depuis l’enfer qu’il doit regarder le sein d’Abraham, pour mieux le désirer“.672 Das Blickverhältnis der beiden Figuren, das in früheren Darstellungen durch Überschreitungen vertikaler oder horizontaler Bildgrenzen verdeutlicht wurde (s. Tafel 5), wird hier in die tiefenräumliche Dimension verlegt, die dem Betrachter eine Blickrichtung vorschreibt. Die Lenkung des Betrachterblicks entspricht der Logik der oben geschilderten ‚Erwartungstheologien‘ des Augustinus und Thomas von Aquins, nach denen sich das desiderium am Hindernis und am Warten entzündet. Die Bilder können dadurch zugleich zum Mittel werden, mit denen das Begehren trainiert werden soll: „So vergrößert Gott durch das Hinauszögern das Verlangen“, wie es Augustinus als Bedingung des spirituellen Sehens formuliert.673 Eine solche narrative Bildtechnik der Verzögerung ist nicht an die Nutzung des Tiefenraums gebunden, kann aber wohl über Schwellenmotive umgesetzt werden.674 Die Gegenüberstellung von Hölle und Himmel ist ab dem 15. Jahrhundert häufig als Kontrast einer die Blickrichtung im Bildraum unterstützenden und einer der Blickrichtung ausweichenden Öffnung dargestellt worden. Ein weiteres Beispiel dafür ist eine Miniatur des sogenannten Meisters der schwarzen Augen aus einem niederländischen Stundenbuch des späten 15. Jahrhunderts (Abb. 62). Auf engem Raum stehen sich Himmels- und Hölleneingang gegenüber. Rechts ist ein Höllenschlund zu sehen, dem Flammen aus dem Maul schlagen, und in dem drei Seelen dargestellt sind. Links ist ein burgähnliches Gebäude ­dargestellt, dessen Front orthogonal zur Bildfläche liegt. Zwischen den Jenseitsorten sind im Hintergrund zwei Seelen zu sehen, die gerade ihren Gräbern entsteigen. Im Vordergrund befindet sich eine Seele, die von einem Teufel in Richtung Hölle gezogen wird, die aber über ihre Schulter zurückblickt auf die Himmelspforte. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass nicht nur die Seele im Vordergrund, sondern auch der Teufel und die roten Augen des

671 Baschet 2000, S. 231 u. Anm. 1 u. 2, S. 377 mit weiterführenden Hinweisen. 672 Baschet 2000, S. 233. 673 Wie oben S. 147 f.: Augustinus 1961, S. 230. 674 S. unten 6.1.2 bes. S. 258–260.

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62 Meister der schwarzen Augen, Jüngstes Gericht aus einem Stundenbuch, Niederlande ca. 1470– 1490. Den Haag, Konink­lijke Bibliotheek (131 G5, fol. 123v), Blatt 15,1 x 11 cm.

Höllenschlunds in Richtung Himmelspforte blicken. Über die Blicke im Bild wird also der Betrachterblick auf das Himmelstor gelenkt, durch das er jedoch nicht zu schauen vermag. Die undurchschaubaren Türmotive der erwähnten Bilder aus dem 15. Jahrhundert etablieren ein Ungleichgewicht zwischen den Blicken im Bild und dem Blick auf das Bild, das bildräumlich formuliert wird. Die Tür verstellt den Blick in den Himmel – Sehaufgabe ist es, kraft der Vorstellung im eigenen Inneren hinter die Tür zu gelangen. In diesen und ähnlichen Darstellungen wird für den Betrachter die visuelle Verborgenheit des Himmels mit einem Ausbreiten der Hölle vor seinen Augen kontrastiert. Den Himmel kann er nur über sein inneres Auge sehen, während die Hölle sich seinem äußeren, körperlichen Auge geradezu aufdrängt. Dieser Staffelung entspricht auch die immer wieder betonte Leichtigkeit des Sündigens im Gegensatz zu den Entbehrungen des tugendhaften Lebens, denen im Bild über diese Darstellungsweise Wahrnehmungsmodi zugeordnet werden.

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Ferne und Nähe, Distanz und Intimität sind Kategorien, die auf spezielle Art und Weise über das Motiv der Leiter behandelt werden, für das der Tiefenraum uninteressant ist. Leitern staffeln die Kommunikation im Bild zwischen Sender und Empfänger, und verdeutlichen den dialogischen Charakter der Kommunikation zwischen Himmel und Erde. Besonders deutlich wurde das bereits an der Traumvision Jakobs und den von ihm gesichteten Engeln, die in ihren Bewegungen entgegengesetzt die Leiter hinauf- und hinabsteigen (ascendere, descendere). Deutlich wurde auch, dass das Motiv der Leiter in besonderem Maße für Bilder verwendet wurde, die an den Betrachter appellieren. Tugendleitern bieten den Betrachtern Modelle zur Erinnerung und wiederholten Kontemplation. In einer Zeichnung aus dem Benediktinerinnenkloster St. Walburg in Eichstätt (um 1500) führt eine Leiter zum Herzen des gekreuzigten Christus, die mit Tugenden beschriftet ist (Abb. 63).675 Nicht die Sprossen selbst sind beschriftet, sondern zehn Schriftbänder entrollen sich links und rechts der Leiter, sind aber nicht alle eindeutig mit einer bestimmten Sprosse verbunden. Der untersten Sprossen ist die „Diemuetigkait“, der obersten „Lieb“ zugeordnet. Der Blick der Betrachterin erreicht am oberen Ende der Leiter das Herz des Gekreuzigten, in dessen Inneres sie durch die Seitenwunde blicken kann, und in dem eine Nonne mit dem Bräutigam sitzt, der ihr ein kleines Gefäß überreicht. Die Augen der Bildbetrachterin blicken durch die Seitenwunde in das Herz – wie Hamburger gezeigt hat, mag darin ein Verweis auf das Hohelied liegen (Cant. 4,9): „Vulnerasti cor meum in uno oculorum tuorum“.676 Einen Bezug zu dieser Schriftquelle legen auch die Schriftbänder links und rechts des Herzens nahe: „O herz zeuch mich zu dir In dich und nach dir“ und „Du bist gancz schon mein freundin“, ein Ausdruck der imitatio Christi (Cant. 1).677 Die Bewegung zum Herzen wird durch das Schriftband unter dem linken Kreuzesarm unterstrichen: „Das ist mein ruestat; darinn ich will ruen ewigklich on end“. Kombiniert werden im Walburger Bild der Aufstieg nach monastischer Vorstellung und der Aufstieg in seiner eschatologischen Bedeutung. Zunker erkennt in der Auswahl der Tugenden zwar „keine spezifische benediktinische Ausrichtung“,678 und es sind zwölf Sprossen statt den benediktinischen zehn, aber der erste Schritt der Leiter ist immerhin die Demut. Das „ewige Ruhen ohne Ende“ wiederum verweist eindeutig auf die Äquivalenz von Herzinnenraum und Himmelsraum. Die imitatio wird als Aufstieg dargestellt – das Spruchband betont aber, dass es einer von Christus ausgehenden Ziehbewegung bedarf. Wie in der Leitervision Birgittas (Abb. 36) und in den Ausführungen Augustinus’ zum desiderium ist die Erfüllung der himmlischen Vereinigung letztlich von einem Impuls abhängig, der von Gott ausgeht. Nach Hamburger ist es nicht das Ziel der Eichstätter Zeichnungen „to prescribe the worshiper’s conduct or to describe a theory or method of mystical experience, but to initiate and transport the viewer; they do not diagram devotions but compel the onlooker to enact them with her eyes“.679 Dem Motiv der 675 Zu diesem Blatt: Hamburger 1997, bes. S. 101–136; Zunker 2000; Ausst. Kat. Bonn/Essen 2005, Kat. Nr. 340, S. 432. 676 Hamburger 1997, S. 124. Zur Signifikanz des Auges in der Auslegung dieser Passage: SchleusenerEichholz 1985, Bd. 2, S. 787–797. Zum Blick durch die Wunde im Spätmittelalter: Tammen 2006. 677 Hamburger 1997, S. 119. 678 Zunker 2000, S. 110. 679 Hamburger 1997, S. 128.

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63 Das Herz am Kreuz, Zeichnung aus dem Benediktinerinnenkloster St. Walburg in Eichstätt, um 1500. Inv. Nr. A 3, Pergament, 8,3 x 7,4 cm.

Leiter, und ebenso Motiven der Offenheit und Geschlossenheit (wie hier der Wunde), kommen für diese Funktion der Veränderung des Betrachters durch die Betrachtung besonders wichtige Rollen zu. Das Ineinander von Außen und Innen ist ein Topos, der in spätmittelalterlichen Bildern im Kontext der Andacht besonders betont wird. Er kennzeichnet zwei Bilder, die in ihrer Funktion als Reflexion des Sehens in der Forschung besonders oft hervorgehoben worden sind: die Fensterbilder aus dem um 1470 entstandenen Stundenbuch der Maria von Burgund.680 Im ersten dieser Fensterbilder ist eine Frau zu sehen, die am Fenster sitzt und vor sich ein Buch aufgeschlagen hat (Abb. 64). Durch das geöffnete Fenster, das parallel zur Bildebene liegt, blickt man in einen Kirchenraum, in dem Maria mit dem Christuskind vor einem Altar mit Altarbild sitzt. Zur Rechten der Gottesmutter kniet zuvorderst eine Frau, die der Frau am Fenster in Kleidung und Haltung ähnelt. In der Forschung gelten beide Frauen als „Versionen“ der Besitzerin des Stundenbuchs. Die andächtige Haltung der Frau vor Maria im Kircheninnenraum entspricht der üblichen Darstellungsweise von Stiftern von Stundenbüchern im Widmungsbild. Die Konstellation des dargestellten Blicks durch das Fenster bezeichnet Dagmar Thoss als „Apotheose des Schauens“, Hans Belting nennt sie eine „Brücke des Blicks“ und Anja Grebe spricht von einer „Sehfalle“.681 In der Doppelung der Stifterin durch das Fenstermotiv sieht Belting die Darstellung der zwei Arten des Sehens, der körperlichen und der geistigen Schau: „Das Fenster trennt den irdischen Raum, der davor liegt und der Ort ihres Körpers ist, von

680 Dazu Pächt/Thoss 1990, S. 69–85; Belting/Kruse 1994, S. 56; Grebe 1999. Kern-Stähler 2002, S. 1, verweist zu Beginn ihrer Studie über mentale und reale Innenräume im spätmittelalterlichen England auf die Bilder hin. Umfassendere Hinweise zur Forschung, bei: Grebe 1999. 681 Thoss, in: Pächt/Thoss 1990, S. 82; Belting, in: Belting/Kruse 1994, S. 56; Grebe 1999, S. 262 u. 266.

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64 Erstes Fensterbild, Stundenbuch der Maria von Burgund, um 1470. Wien, Österreichische Nationalbibliothek ­ (Cod. 1857, fol. 14v).

einem himmlischen Raum, der dahinter liegt und der Ort ihrer inneren Vorstellung ist“.682 Belting verknüpft die Situation der beiden Räume im Bild mit der real-räumlichen Andachtssituation höfischer Privatkapellen aus dem späten 15. Jahrhundert, in denen Fenster den Blick auf den Kircheninnenraum freigeben.683 Nach Anja Grebe ist die Interpretation eines „doppelten Blicks“ trügerisch und ignoriert die Tatsache, dass die Frau im Buch liest und nicht, wie für Darstellungen eines meditativen Blicks üblich, über es hinweg auf die Madonna blickt.684 Die Kombination der beiden Räume sei vielmehr eine Übernahme der Konstellation, die das Buch mit einem anderen Bildmedium gemeinsam habe: Statt mit einem in Diptychen und in der Buchmalerei „erprobten Dispositiv eine Doppelseite zu 682 Belting, in: Belting/Kruse 1994, S. 56. 683 Belting, in: Belting/Kruse 1994, S. 56. 684 Grebe 1999, S. 261.

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füllen, blendet der Maler die Inhalte der beiden Flügel übereinander“.685 Im Gegensatz zu Diptychon oder Doppelseite, bei denen der Betrachter die Räume lateral über die Objektform miteinander verbindet, sind sie hier in der Bildtiefe über ein Schwellenmotiv miteinander verbunden. Der Betrachter bzw. die historische Betrachterin vor dem Buch wiederholen im Blick auf ihr Buch die Haltung der Leserin im Buch und blicken wiederum über deren Buch in den Kircheninnenraum. Am Betrachter wird deutlich, dass der Blick in das Buch zugleich ein innerer Blick auf die Heiligen sein soll. Man gelangt über das Buch in den imaginären Raum. Umso deutlicher wird diese starke Bindung an das Medium Buch im zweiten Fensterbild der Handschrift. Auf Blatt 43 verso erblickt man durch ein anderes Fenster die Kreuzannagelung Christi (Abb. 65). Im Vordergrund sind eine Schatulle, ein Brokatkissen und ein Gebetsbuch angeordnet, deren vermeintliche Besitzerin aber diesmal fehlt. Die Skulpturengruppen im Rahmen des Fensters, welche die Opferung Isaaks und Moses mit der ehernen Schlange zeigen, bieten zugleich einen typologischen Bezug zum Thema der Kreuzigung. Auch die Versoseite des aufgeschlagenen Buchs auf der Bank im Vordergrund wiederholt die Kreuzigung als Miniatur. Die Wölbung der aufgeschlagenen Seiten bildet ein Echo der Landschaft im Hintergrund mit den zwei sich gegenüberliegenden Hügeln, auf denen bereits die Kreuze des guten und des bösen Diebes aufgerichtet sind. Zwischen diesen Hügeln befindet sich eine auffällige figürliche Leerstelle, die auf die Errichtung des noch am Boden liegenden Christuskreuzes verweist. Der über das Kreuz gestreckte und ausgebreitete Körper Christi steht im Kontrast zur Kreuzigung im Buch, die im Schatten der Buchfalte verschwindet. Die Kreuzigung im Buch, die nach Grebe „etwas versteckt und schemenhaft“ dargestellt ist,686 weist darauf hin, dass das Bild Christi als Erlöser dem Buch gewissermaßen entsprungen ist, als seine Benutzerin das Buch auf dieser Seite geöffnet hat. Ihr Fehlen im Bild könnte sogar darauf verweisen, dass sie sich in Nachahmung der in beiden Bildern besonders hervorgehobenen Marienfigur zu Boden geworfen hat. Interpretiert man den Schauplatz hinter dem Fenster also als innere Landschaft der Benutzerin, so lässt sie sich innerbildlich auf die materiellen Vorgaben des Buches (Kreuzigungsbild und ‚Hügel‘) zurückführen. In beiden Fensterbildern ist das Schwellenmotiv nicht nur Scharnier zwischen äußerem und innerem Blick, sondern die Erreichung einer inneren Schau wird dargelegt als an die konkrete Benutzung des Buches gekoppelt. Diese Engführung von Schwellenmotiv und Bildmedium wird im folgenden Abschnitt am Beispiel klappbarer Bildträger genauer analysiert. Ziel dieses Abschnitts war es, einige Gemeinsamkeiten in der Funktion der Schwellenmotive im Bild herauszustellen und darüber hinaus zu untersuchen, welche Termini und Kategorien einer Untersuchung von Schwellenmotiven als Sehaufgaben zugrunde zu legen sind. Die Relationen von Innen und Außen, sowie die Kategorie des Raums erweisen sich dabei als wichtige Parameter einer rezeptionsästhetischen Einschätzung. Dass die Kategorie des Tiefenraums im Bild dabei nicht überbewertet werden darf, soll abschließend betont werden. Schwellenmotive betreffen den Blick im Bild und den Blick auf das Bild. Ein Bezug

685 Grebe 1999, S. 260. 686 Grebe 1999, S. 265.

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65 Zweites Fensterbild, Stundenbuch der Maria von Burgund, um 1470. Wien, Österreichische Nationalbibliothek (Cod. 1857, fol. 43v).

dieser beiden Blicke wird in der Forschung gewöhnlich erst für Bilder ab der frühen Neuzeit konstatiert. In seiner Analyse mittelalterlicher Traumbilder zeigt Steffen Bogen, wie ertragreich die Rezeptionsästhetik für das Mittelalter ist. Zum Verhältnis des Betrachterblicks auf das Bild zu Betrachterstellvertretern im Bild schreibt er: „Wenn bisher angenommen wurde, daß solche Funktionen und Figuren erst mit der neuzeitlichen Illusionskunst entstehen, liegt das meines Erachtens an einer konzeptionellen Verkürzung: Solche Akteure können nicht nur, wie es der klassischen Definition des Begriffs entspricht, im szenischen Bildraum agieren und diesen mit dem realen Betrachterraum durch verschiedene Formen des (Hinein- und Heraus-)Schauens vermitteln, sondern sie können auch indexikalische Funktionen in der Bildfläche übernehmen und auf die signifikante Relation von Komponenten einer Bilderzählung aufmerksam machen“.687 687 Bogen 2001, S. 177 (seine Hervorhebung).

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Ähnliches lässt sich meiner Ansicht nach zu Schwellenmotiven feststellen. Das rezeptionsästhetische Potenzial der Motive ist nicht mit der Funktion erschöpft, die sie im Tiefenraum als parallel oder orthogonal zur Bildfläche positionierte, den Betrachter- oder innerbildlichen Blick gewissermaßen ansaugende „Trichter“688 erreichen. Insbesondere eine Berücksichtigung des durch eine mediale und bildtopologische Perspektive ‚verorteten Betrachters‘ erschließt zusätzliche Relationen von Raum, Bild, Schwelle und Betrachter.

4.3 Die Öffnung des Mediums: klappbare Bildträger Das folgende Kapitel bildet das Scharnier zwischen dem ersten und zweiten Teil meiner Studie. Im Mittelpunkt steht weiterhin die Wahrnehmung, nämlich nunmehr von klappbaren Bildträgern. Klappbare Bildträger stellen bereits durch ihre Objektform Sehaufgaben. Diptychen und Triptychen etwa bieten nicht nur einen Anblick, sondern Einblicke und Durch­ blicke: Die verschiedenen Bildseiten können durch Auf- bzw. Zuklappen verschwinden, erscheinen und unterschiedlich zueinander in Beziehung treten. Die Bildträger lassen sich wie eine Tür öffnen und schließen. Der Begriff „klappbar“ ist hier dem Begriff „wandelbar“ zu bevorzugen, weil er zum einen stärker die Dimension der Bewegung des Objekts durch menschliches Handeln zu vermitteln vermag, zum anderen die Idee des Aufeinander-ZuLiegen-Kommens zweier oder mehrerer Bildteile mitschwingen lässt. Über die Thematisierung eines bestimmten Bildträgers rückt der Bildort, d. h. das Medium und seine räumliche Umgebung in den Blick. Dabei geht es hier um einen spezifischen Aspekt: Durch die Beweglichkeit einzelner Teile des Bildträgers richtet sich erstmals der Blick explizit auf den realen Raum – nämlich im Sinne des vom Bildträger durch dessen Bewegung ergriffenen materiellen Raums, als Betrachterraum und als Kirchenraum bzw. liturgischer Raum. Diese Räume und ihre Überschneidungen treten also zu den in den vorangegangenen Kapiteln thematisierten Kategorien des Bildraums und der imaginären Räume hinzu. Zum Zwecke einer differenzierten Analyse der Interaktion von Bild und Raum im Medium des klappbaren Bildträgers dienen Beispiele mit unterschiedlichen Formaten, Funktionen und Rezeptionskontexten. Die drei Hauptbeispiele sind: die Doppelseiten der karolingischen und ottonischen Buchmalerei, das Triptychon der frühen altniederländischen Malerei sowie ein Altardiptychon des spätmittelalterlichen Brügge. An diesen Beispielen wird erstens untersucht, welche Wahrnehmungsmodalitäten die Klappbarkeit ermöglicht, das heißt, wie die Klappbarkeit der Bildträger daraufhin angelegt ist, dem Betrachter verschiedene Wahrnehmungsebenen zu bieten; zweitens, wie die parallelen Funktionen von Schwellenmotiv und klappbarem Bildträger genutzt werden; drittens, welche Rolle der Umraum der Bildträger für die ersten beiden Aspekte spielen kann.

688 So Gandelman 1991, S. 47 f.: „Our gaze thereby is directed in a sort of orthogonal funnel going from foreground to background“. Gandelmans Beschränkung auf Bilder ab dem 15.Jahrhundert ist auf diese Überzeugung zur Funktion des Türmotivs zurückzuführen. Ähnliche Überlegungen zum „Blick im Bild“ bei Belting 2006. Zum Türmotiv in dieser Hinsicht: Chastel 1978, auf den sich Gandelman bezieht.

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Zunächst steht ein klappbarer Bildträger im Mittelpunkt der Untersuchung, der bereits Erwähnung fand: die Doppelseite. Sie hat, als „Minimalform mehrteiliger Bildsysteme“ mit dem Diptychon die zweigeteilte Grundstruktur gemeinsam.689 Etymologisch gesehen stammt der Begriff „Diptychon“ ohnehin aus dem Umfeld des Buches: In der Spätantike wurden in der Mitte gefaltete Schriftstücke oder aus zwei Teilen bestehende Schreibtafeln als „di­ptychum“ bzw. „diptycha“ bezeichnet.690 Im Mittelalter wurde diese Bezeichnung weitestgehend übernommen, um etwa bei Diptychen der Tafelmalerei ihre Zweiteiligkeit hervorzuheben. Oft bediente man sich hierzu der Medienanalogie des Buches.691 Lange Zeit sind die beiden Bildträger, Diptychon und Buch, in der Forschung getrennt behandelt worden; erst in den letzten Jahren hat man zunehmend ihre Ähnlichkeit betont und untersucht.692 Insbesondere ist herausgestellt worden, dass Bücher zur privaten Andacht einerseits und Andachtsdiptychen andererseits zum Zwecke ihrer Handhabung im Mittelalter ähnlich ausgestattet wurden – die Rückseiten sowohl von Büchern als auch von Diptychen können in Leder gebunden sein. Beide Objekte wurden bisweilen in speziellen Säckchen aufbewahrt. Eine außergewöhnliche Kombination der beiden Medien stellt das Buchaltärchen Philipps des Guten aus der Österreichischen Nationalbibliothek dar.693 Für die Nutzung diptychaler Objekte als Bildträger – ob als Elfenbeindiptychon, Doppelseite einer Handschrift oder Diptychon der Tafelmalerei – gilt im Mittelalter, was Kemp für die frühchristlichen Elfenbeindiptychen formuliert: Während die Großzahl der paganen Elfenbeindiptychen „zwei mehr oder minder identische Tafeln zusammenfügte“, nutzen die christlichen Diptychen die Möglichkeit zu Kontrast und Vergleich: „[d]ie christliche Antwort ist nicht das Attributions-, sondern das Beziehungsgefüge“.694 Dem verbindenden, gleichsetzenden Effekt der Form wird in der Bebilderung entgegengewirkt; das Diptychon nimmt die „Gleichheit in Format und Rahmung als Ausgangspunkt für eine fundamentale Ungleichheit“.695 Eine Grundkonstante der Bebilderung von diptychalen Strukturen ist die figurale Ausrichtung der einen Hälfte auf die andere, die sich gegenüber der ersten Hälfte durch Symmetrie oder Frontalität auszeichnet. Ganz hat gezeigt, wie dieses Schema (Gerichtetheit/Frontalität) etwa im 10. und 11. Jahrhundert für Doppelseiten und Elfenbeindiptychen mit Maiestas-Domini-Darstellungen verwendet wurde.696 689 Ganz 2006 B, S. 35. 690 Schmidt V.M. 2006, S. 16. 691 Ebd. 692 Eichberger 1987, S. 36–48; Gelfand 2006; Ausst. Kat. Washington 2006; Ganz 2006 B; Ganz 2008), S. 162–188; Hamburger 2009; Ganz 2010, bes. S. 46 f. 693 Auf Folio 1v des Buchaltärchens Philipps des Guten, das Diptychon und Buch miteinandern verbindet, ist der Benutzer im Bild vor einem Diptychon und einem Buch dargestellt (Österreichische Nationalbibliothek, Ms. 1800). Zur Aufbewahrung von Büchern und Diptychen s. Ausst. Kat. Washington 2006, S. 4. Außerdem wurden sie vermutlich ähnlich zum Gebrauch „angerichtet“, nämlich z. B. auf einem Kissen, wie es auch für Stundenbücher üblich war. 694 Kemp 1994 A, S. 202 u. 203. 695 Ganz 2006 B, S. 37; s. auch Ganz 2010, S. 46. 696 Ganz 2008, S. 162–173. Hamburger bezeichnet das Schema als „combination of narrative and iconic modes“: Hamburger 2009, S. 93.

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66 Anbetung der heiligen drei Könige, Perikopenbuch Heinrichs II., Reichenau um 1005. München, Bayerische Staatsbibliothek (Clm. 4452, fol. 17v–18r).

Auch die Darstellung des Darbringens von Gaben erstreckt sich in der Buchmalerei häufig über zwei Seiten und nutzt das genannte Schema. Die Anbetung der Könige im Reichenauer Perikopenbuch Heinrichs II. kann als Beispiel dafür dienen (Abb. 66).697 Die Könige sind in Körperhaltung, Blick und Gesten nach rechts ausgerichtet. Auf der Rectoseite sind Maria und das Christuskind frontal thronend dargestellt, nur ihre Blicke und Gesten nehmen Bezug auf das gegenüberliegende Bild. Mit welchem Kalkül diese figuralen Interrelationen bei der Benutzung des Buches weiter ausgebaut werden, wird beim Umblättern der Seite oder beim Schließen des Buches deutlich: Dann nämlich kommen die Schalen in den ausgestreckten Armen der Könige auf den Händen Marias zu liegen, die wohl aus genau diesem Grund nicht in der geometrischen Bildmitte, sondern etwas rechts von der Mittelsäule dargestellt ist.698 Dass die Bilder der Doppelseite gemäß ihrer Relation beim Schließen konzipiert wurden, kann Wolfgang Christian Schneider auch für einige Dedikationsminia­turen nachweisen. So ,vollzieht’ sich im Reichenauer Irmengard-Evangelistar (zwischen 1020 und 1040) die Buchgabe Irmengards an den thronenden Christus beim Aufeinandertreffen der Buchseiten (Abb. 67).699 In beiden Beispielen vervollständigt der taktile Vollzug die 697 München, Staatsbibliothek (Clm 4452, fol. 17v–18r): Schneider 2002, S. 7–9. 698 Diese Feststellung: Schneider 2000 u. Schneider 2002. 699 Ausgiebig zum Stifterbild: Schmid 1982. Schneider 2002, S. 9 f. Ein früheres Beispiel ist die Doppelseite 17v/18r im Sakramentar mit Lektionar und Graduale aus dem Stift Essen (2. Drittel 10. Jahrhundert). Hier übergibt ein Mönch den Hll. Cosmas und Damian ein Buch: s. Ausst. Kat. Bonn/Essen 2005, Kat. Nr. 22, S. 181.

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67 Stifterdarstellung, Irmengard-Evangelistar, Reichenau zwischen 1020 und 1040. Lille, Université Catholique (Ms. 1, fol. 253v–254r).

visuell vermittelte Präsentation der Gaben. Das Berühren der Seiten fällt zusammen mit dem imaginierten Berühren des Geschenks der Stifter durch die Heiligen. Nach Ganz fällt die Zweiteilung der Buchseite und des Elfenbeindiptychons in karolingischer und ottonischer Zeit häufig mit der Darstellung zweier Modi des Sehens zusammen – des äußeren und des inneren Sehens.700 Der Akt des Sehens ist selten explizites Thema der Diptychen; vielmehr handelt es sich um „Bildgegenstände, die erst infolge ihrer Anordnung auf den beiden Seiten des Diptychons zur Darstellung einer visionären Erfahrung werden“.701 Ein solcher Bildgegenstand ist der Akt der Stiftung. Am Irmengard-Evangelistar lässt sich das gut nachvollziehen: Auf der linken Seite leitet die als Witwe gekennzeichnete Irmengard die Arme ihres verstorbenen Mannes Wernher zur Buchübergabe. Im Text bittet sie den Erzengel Michael, das Buch an Christus zu übermitteln.702 Der Präsentation des Buches im Diesseits entspricht die Entgegennahme durch den thronenden Christus und den Erzengel im ­Jenseits. Erst durch die Aufteilung der Szene auf zwei Bilder wird daraus ein Zusammenhang der Schau, der durch die Blickrichtung von Stiftern und Heiligen angedeutet wird. Die Trennung durch den Bildträger schafft eine Verbindung im Modus der Schau: „Der Doppelort der Diptychen war die ideale Matrix für neu kreierte Zusammenhänge der Schau“. 703 Die Möglichkeit des Aufeinanderklappens der Bilder gibt einer weiteren Dimension, der Imagination des Betrachters, Raum. Den Zugang zu dieser anderen inneren Schau schafft der Betrachter sich selbst, indem er das Buch oder die Doppelseite schließt. Die Imagination des Betrachters und das Innere des Buches zeigen sich hier als eng miteinander verbunden.

700 Ganz 2006 B. 701 Ganz 2006 B, S. 35. 702 „Laudis amore tuae Michael Archangele sancte / ex Irmingardae sunt dona parata labore // Tu suscepta Deo praesenta pro Wenhero / Qui suus ante fuit coniunx, dum corpore vixit“ zit. nach Schneider 2002, S. 9, Anm. 7. 703 Ganz 2006 B, S. 49.

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Allerdings scheint der Gebrauchskontext der bisher genannten Bücher dieser Metaphorik entgegenzustehen: Sie wurden in der Gemeinschaft und im Kontext liturgischer Hand-­ lungen rezipiert. Auf die Anbetung der Heiligen Drei Könige auf der Doppelseite des Perikopenbuches etwa folgt die Perikope In Epiphania Domini, die in der Messe zum Fest der Erscheinung des Herrn am 6. Januar gelesen wurde. Auch die erwähnten Dedikationsminiaturen befinden sich in Codices zum liturgischen Gebrauch. Entscheidend ist vermutlich weniger die imaginäre Bezeugung der medial ermöglichten Überreichung der Stiftung durch einen Betrachter als die Wiederholbarkeit bzw. Perpetuierung der Geste, die vom Gebrauchsgegenstand Buch selbst gewährleistet wird.704 Vorstellbar ist, dass man sich die Vermehrung des Seelenheils als an die wiederholbare Handlung gekoppelt dachte. Ein zen­ traler und irdischer Aspekt ist darüber hinaus die Erinnerung: Die Kleriker wurden beim Gebrauch der Bücher während der liturgischen Lesungen daran erinnert, der toten Stifter zu gedenken. Die medialen Möglichkeiten diptychaler Bildträger gewannen erst wieder im 15. Jahrhundert eine ähnliche Attraktivität. Das lässt sich in spätmittelalterlichen Bildern erkennen, in denen die Verbindung von klappbarem Bildträger und dem Inneren des Benutzers über einen körperlichen Kontakt verbildlicht wird. Gemälde und Miniaturen zeigen Stifter mit ihren Gebetsbüchern, zwischen deren Seiten sie mitunter einen Finger legen. Einerseits wird ihnen damit eine permanente Bereitschaft zur Andacht bezeugt – sobald wir unseren Blick von ihnen gelöst haben, so scheint es, werden sie an der markierten Stelle weiterlesen; die Geste deutet andererseits an, dass die Stifter sich noch immer im Buch befinden, dass dem körperlichen Kontakt ein geistiger entspricht, der sich wie der Finger in die Spalten zwischen die Seiten schiebt.705 Hier tritt als Charakteristikum klappbarer Objekte die „Dimension der Innerlichkeit“ hervor, die Gaston Bachelard in seiner „Poetik des Raumes“ betont hat:

704 Felix Thürlemann bezeichnet spätmittelalterliche Andachtsdiptychen als „Gebetsmaschinen“, meint damit aber nicht den mechanischen Aspekt der Klappbarkeit, sondern den Umstand, dass die Andachtsdiptychen das Ziel des Betens – die Nähe zu den Heiligen – bereits darstellen und die betenden Betrachter so fest in dieser Vorausschau verankern: Thürlemann 2006, S. 49. Hinweis auf Thürlemann bei: Ganz 2008, S. 185. Der Begriff trifft aber auch auf den materiellen Aspekt klappbarer Bildträger zu: Schon durch das Auf- oder Zuklappen des Bildträgers ist ein Aspekt seiner ,Wirkung‘ erfüllt. Den mechanischen Effekt betonen auch Stamm 2009, S. 195: „chronotopische Bild­ maschine“ und Rimmele 2009, S. 118: „Das Diptychon wird [...] zu einem ausgelagerten Hebewerk der Seele“. 705 S. z. B. die Darstellung der Hedwig von Schlesien, Begründerin des Zisterzienserkonvents bei Trebnitz, im Hedwig-Codex von 1353: Los Angeles, J. Paul Getty Museum (MS Ludwig XI 7 [83.MN.126], fol. 12v); dazu Hamburger 1998, S. 437 f. Im Format des Diptychons: Hans Pleydenwurff, Graf Georg von Löwenstein, 1450er Jahre (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum). Dazu Schmidt P. 2009. Ausführlicher analysiere ich diesen Aspekt und dieses Diptychon in meinem Aufsatz: In Bewegung versetzte Betrachter: Überlegungen zur raumöffnenden Dimension klappbarer Bildträger im Mittelalter, in: Bewegen im Zwischenraum (= Wege der Kulturforschung, Bd. 3), hg. von Uwe Wirth, Berlin 2012, S. 297–319. 

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„Die Truhe, vor allem aber das Kästchen, das man in der Hand hat, sind Gegenstände, die sich öffnen lassen. Wenn das Kästchen geschlossen wird, ist es der Gemeinschaft der Gegenstände zurückgegeben; es nimmt seine Stelle im äußeren Raum ein. [...] Aber in dem Augenblick, wo das Kästchen sich öffnet, gibt es keine Dialektik [von Draußen und Drinnen] mehr. Das Draußen ist mit einem Zuge ausgestrichen, alles gehört dem Neuen, dem Überraschenden, dem Unbekannten. Das Draußen bedeutet nichts mehr. Und sogar, höchstes Paradox – die Dimensionen der Körperlichkeit haben keinen Sinn mehr, weil eine neue Dimension geöffnet worden ist: die Dimension der Innerlichkeit“.706

In den Beispielen aus der ottonischen Buchmalerei ergeben zwei Bilder ein Bild, das erst in der Imagination des Betrachters entsteht, dessen Konturen aber bereits in den Bildfeldern angelegt sind. Während Stifter und Heilige hier beim Schließen des Buches und damit im Verschwinden der materiellen Bilder erst im Innenraum der Vorstellung des Betrachters zusammentreffen, nutzen spätmittelalterliche Maler den Bildraum zu diesem Zweck. In vielen Aspekten ist das niederländische Andachtsdiptychon des 15. und 16. Jahrhunderts der Verwendung der Buch-Doppelseite im 10. und 11. Jahrhundert ähnlich. Im Diptychon des Malers Hans Memling für den Brügger Maarten van Nieuwenhove, gemalt 1487, zeichnet sich die Darstellung der Madonna mit Kind auf dem linken Flügel immer noch durch ihre Frontalität aus, während der Stifter sich in Körperhaltung und Blick nach links richtet (Abb. 68).707 Auch bei diesem Diptychon ergibt sich in der Vorstellung des Betrachters eine Nähe zu den Heiligen aus der Innendimension des Objekts: „When closed, these images would press closely against one another, simulating the desire of the diptych’s owner for an intimate interaction with the holy figures“.708 Ebenso wie Aspekte der Trennung – die Zweigeteiltheit und die figurale Gerichtetheit der einen Tafel auf die andere – sind allerdings Motive der Verbindung vorhanden. So befindet sich auf der linken Tafel ein Rundspiegel, in dem sowohl Maria auf einer Bank als auch der vor ihr kniende Stifter reflektiert sind. Auch der Vordergrund des Bildraumes betont diese Nähe, denn das Gebetbuch van Nieuwenhoves liegt auf dem Mantel Marias.709 Im Spiegel erlangt der Stifter die Nähe, die er auch im geschlossenen Zustand des Diptychons erreicht. In Richtung des Betrachters wird der Raum im Spiegel durch eine Wand mit zwei Fenstern abgeschlossen, welche die Zweigeteiltheit wieder aufgreifen, und vor oder hinter denen sich der Betrachter selbst imaginieren kann. Ein Schwellenmotiv – das Fenster – wird im Bild als Parallele der diptychalen Struktur ver-

706 Bachelard 1960, S. 115 (seine Hervorhebungen); frz. La poétique de l’espace, Paris 1958, S. 88: „Le coffre, le coffret surtout, dont on prend une plus entière maîtrise, sont des objets qui s’ouvrent. Quand le coffret se ferme, il est rendu à la communauté des objets; il prend sa place dans l’espace extérieur. [...] Mais au moment où le coffret s’ouvre, plus de dialectique. Le dehors est rayé d’un trait, tout est à la nouveauté, à la surprise, à l’inconnu. Le dehors ne signifie plus rien. Et même, suprême paradoxe, les dimensions du volume n’ont plus de sens parce qu’une dimension vient de s’ouvrir: la dimension d’intimité“ (seine Hervorhebung). 707 Ausst. Kat. Washington 2006, Kat. Nr. 26, S. 178–185. Zum Raumgefüge dieses Diptychons ausführlich: Stamm 2009, S. 181–188. 708 Gelfand 2006, S. 47. 709 Dazu Falkenburg 2006.

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68 Hans Memling, Andachtsdiptychon für Maarten van Nieuwenhove, 1487. Brügge, Hospitaalmuseum Sint-Janshospitaal, 52,5 x 41,5 cm.

wendet. Die Fensterwand im Spiegel begrenzt die Verlängerung des Bildraums über die Bildgrenze hinaus. Die Fenster sind zugleich für den Blick durchlässig. Ein weiteres Beispiel, in dem ein Schwellenmotiv als Analogon des Bildträgers fungiert, ist das sogenannte Mérode-Triptychon (Abb. 69). Es wurde von Peter Engelbrecht, einem Tuchhändler, in Auftrag gegeben, der als Stifter auf dem linken Flügel dargestellt ist, und zwischen 1425 und 1428 in der Werkstatt von Robert Campin hergestellt.710 Die Frau und der Bote hinter dem Stifter wurden dem linken Flügel zu einem späteren Zeitpunkt hinzugefügt, und auch die Wappen in den Fenstern der Mitteltafel entstanden nach 1428 – vorher waren die Fenster mit Goldgrund hinterlegt.711 Eventuell erklärt sich die ungewöhnliche Darstellung einer Verkündigung auf der Mitteltafel dadurch, dass das Bild als Hochzeitsbild für Peter Engelbrecht und Margarete Schrinmechers in Auftrag gegeben wurde und „die Funktion eines Votivbildes hatte, mit dem ein frisch verheiratetes Ehepaar seinen Kinder-

710 Die Rückseiten der Flügel waren bis zur Restaurierung 1957 mit einem Asphaltanstrich und einer bräunlichen Farbschicht versehen, s. Neuner A. 1995, S. 235. Benannt ist das Triptychon nach seinen letzten Besitzern. Zu Symbolik und Ikonographie s. Schapiro 1945; Panofsky 2006, Bd. 1, bes. S. 148 f. u. 166 f. Zum Forschungsüberblick Belting/Kruse 1994, S. 166 f.; zur Zuschreibung und zum Stifter Thürlemann 1997 und Thürlemann 2002. 711 Thürlemann 1997, S. 11 f.

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69 Werkstatt von Robert Campin, Mérode-Triptychon, 1425–1428. New York, Metropolitan Museum of Art, Cloisters Collection (acc. no. 56.70). Maße im aufgeklappten Zustand ca. 70 x 125 cm.

wunsch an die Muttergottes richtete“.712 Thürlemann vermutet aufgrund stilistischer Beobachtungen, dass der linke Flügel zur gleichen Zeit wie die anderen Tafeln vom Schüler Robert Campins, Rogier van der Weyden, gemalt wurde, der später auch die Frau und den Boten dazumalte.713 Unübersehbar auf den drei Bildtafeln ist die Gegenüberstellung bzw. Reihung mehrerer Innen- und Außenräume. Die Stifter befinden sich in einem Garten mit Torhaus, durch dessen Tür man die Straße erblickt. Die Verkündigung ist in einem möblierten Wohnraum dargestellt, und auf dem rechten Flügel sitzt Josef in seiner Werkstatt, durch deren Fenster erneut die Straße einer Stadt zu sehen ist. Während der Raum der Verkündigung und die Werkstatt nicht über bildräumliche Mittel miteinander verbunden sind, befindet sich zwischen Garten und Stube eine leicht geöffnete Tür, die auffällig groß und detailliert ausgeführt ist. Sie grenzt direkt an die Innenseite des Rahmens des linken Flügels an und muss daher schon aufgrund ihrer Position mit diesem in Verbindung gebracht werden. Das Scharnier der Tür und das Scharnier des Triptychons liegen auf der gleichen Linie. Nach Gandelman ist „the half-open door – almost on the actual frame, or at least on the represented limit (or limen) between the central panel and the left panel – [...] a sign set there to show us how

712 Thürlemann 1997, S. 34 f.; das Thema wurde wohl auch gewählt, weil es einen besonderen Bezug zu den Namen der Eheleute hat (Engelbrecht, „der Engel bringt“, und Schrinmechers „Schreiner“): ebd., S. 36–38. 713 Thürlemann 2002, S. 65; zunächst hatte er vermutet, dass ein verlorener Flügel durch den heutigen um 1435 ersetzt wurde, als Engelbrecht bereits mit seiner zukünftigen zweiten Frau, Heylwich Bille, zusammenlebte, deren Bildnis wiederum später hinzugefügt wurde: Thürlemann 1997, S. 40–42. Dendrochronologische Untersuchungen ergeben aber für das Holz des linken und des rechten Flügels das gleiche Fälldatum: Thürlemann 2002, S. 65.

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70 Detail des linken Flügels, Mérode-Triptychon, 1425–1428. New York, Metropolitan Museum of Art, Cloisters Collection (acc. no. 56.70).

the kneeling donor ‚is able to see‘ the miracle in the central panel“.714 Zum Hinweis auf eine bestehende Sichtverbindung zwischen zwei Tafeln eines Diptychons oder Triptychons bedurfte es aber nicht notwendigerweise eines Schwellenmotivs – dazu genügt die „Opposition zwischen dem Geschauten als in sich zentriertem und vollkommenem Zeichen, und den Schauenden, die als Appendix oder Supplement in asymmetrischer Position hinzutreten“. 715 Der Appendixcharakter ergibt sich beim Triptychon über den Größenunterschied zwischen Flügeln und Mitteltafel sogar noch stärker als beim Diptychon, dessen Flügel gleich groß sind. In der perspektivischen Konstruktion des Bildraumes ist das Türblatt zudem so angewinkelt, dass die Stifter aufgrund ihrer Position im Bildraum nicht durch die Tür, sondern auf die Türaußenseite blicken. Besonders deutlich wird das durch den Vergleich mit der zweiten Tür im Bild: Die Tür zur Straße, die sich parallel zur Bildfläche befindet, steht unübersehbar offen. Durch sie ist gerade der Bote eingetroffen, der sie mit seinen Fingerspitzen noch offen hält (Abb. 70). Die Tür vor dem Stifter steht dagegen ohne menschliches Zutun offen. Bei näherer Betrachtung fällt außerdem auf, dass die Tür zur Straße auf der Außenseite einen Türring hat, während Türring und Schlüssel der vorderen Tür sich auf ihrer Innenseite befinden, und damit nur für den Betrachter vor dem Bild, nicht aber für die Stifter im Bild sichtbar sind. Die beiden im Bild dargestellten Türflügel sind bildinterne Parallelen der Triptychonflügel: Gemeinsam ist ihnen die Klappbarkeit, von der im Bild zwei Stadien des Bewegungsradius dargestellt sind (die Tür zur Straße ist in einem Winkel von etwa 100° geöffnet, die vordere Tür etwa um 45°). Thematisiert wird damit auch das unterschiedliche 714 Gandelman 1991, S. 41 (seine Hervorhebung). 715 Ganz 2006 B, S. 46. Vgl. auch das eben erwähnte Diptychon von Hans Memling, in dem sich im (gespiegelten) Bildraum zwischen Stifter und Maria keine Schwellen befinden, so dass der Aspekt der Trennung durch den Rahmen auf die Szene ,projiziert‘ wird.

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Ausmaß an Ein- oder Ausblick, der durch die geöffneten Türen geboten wird. Dieser Aspekt wird im Mérode-Triptychon zusätzlich durch die in unterschiedlichem Maße geöffneten Fenster der Mitteltafel und des rechten Flügels betont, welche die Möglichkeiten und Zwecke des Auf-, Ein- oder Wegklappens durchspielen. In der Werkstatt Josefs auf dem rechten Flügel sind die Fensterklappen nach innen geklappt und mit Klammern an den Deckenbalken befestigt. Im mittleren Fenster ist ein Teil der Klappe nach außen hin geöffnet, um eine offenbar von Josef gefertigte Mausefalle auszustellen. Auf der Mitteltafel liegt genau auf der Mittelsenkrechten der Bildkomposition ein Doppelfenster – damit erblickt der Betrachter schon durch den ersten, beim Öffnen des Triptychons entstehenden Spalt ein Schwellenmotiv.716 Die Flügel des Fensters sind rechts ganz, links nur halb weggeklappt. In der rechten Hälfte gibt der untere Teil des weggeklappten Flügels den Blick aber lediglich auf ein Gitter frei, das erneut den Blick verstellt. Im gesamten Triptychon werden also Offenheit und Geschlossenheit durch gemalte klappbare Elemente thematisiert, die eine zu unterschiedlichen Zwecken stattgefundene Bewegung indizieren und auf unterschiedliche Weise den Blick freigeben oder verstellen. Ein Betrachter, der täglich das Triptychon zu Andachtszwecken öffnet und sich damit dessen Klappbarkeit bedient, sieht im Bild Refraktionen seiner eigenen Tätigkeit.717 Von den Figuren des Triptychons stehen nur der Bote und der Stifter mit einem Schwellenmotiv in un­mittelbarem sinnlichen Kontakt. Die Aufmerksamkeit des Betrachters, der das Triptychon aufgeklappt hat, wird besonders auf die hintere Tür gelenkt, weil sie die einzige Öffnung im Bild ist, die gerade in Benutzung ist, so dass sie im Bild als Parallele seiner eigenen Handlung fungiert. Von dieser Tür ausgehend, wird der Betrachterblick durch den Garten auf die ­Stifter gelenkt, über diese und die Tür vor ihnen auf die Mitteltafel, von dort auf die rechte Tafel, wo er über den arbeitenden Josef erneut in die Stadtansicht geleitet wird.718 Besonders auf der linken Tafel wird der Aspekt des Weges betont. Die Stifter sind von der Straße durch die offene Tür in den Garten getreten. Die Rosenknospe an der Hutkrempe Engelbrechts lässt vermuten, dass sie am Rosenstrauch vorbeigekommen sind, bevor sie sich vor den ­Stufen niedergelassen haben.719 Aber die Stifter haben auch noch ein Stück des Weges vor sich – das wird durch die drei Stufen und die nur leicht geöffnete Tür verdeutlicht. Der Appendixcharakter des Triptychonflügels wird also auch inhaltlich unterstrichen, indem 716 In seiner ursprünglichen goldenen Fassung hätte dieses Fenster zudem das zunächst spärlich durch den Spalt fallende Licht reflektiert und das Auge des Betrachters bereits beim Öffnen des Triptychons besonders auf sich gezogen. 717 Vgl. Schlie 2004 B, S. 33, die in Bezug auf das Werl-Triptychon (dazu unten) formuliert: „Der Retabelflügel zeigt mit der Tür im Bild seinen eigenen medialen Status“. Ihr geht es also weniger um den Aspekt der konkreten Handhabung des Triptychons und der Thematisierung dieser durch die Motivik selbst sowie die Implikationen für die Rezeption, sondern eher um die Grundlagen einer „eigenen spätmittelalterlichen Medientheorie, die nicht schriftlichen, aber bildlichen Ausdruck findet“: Schlie 2004 B, S. 34. 718 Zur ,Leserichtung‘ vgl. Neuner A. 1995, S. 50 f. 719 Zum Rosenmotiv s. Falkenburg 2001, S. 9–11. Das Motiv wiederholt sich auch im Rosenkranz der Stifterin, an dem eine kleine Figur des Hl. Christophorus hängt, die das Thema des Weges unterstreicht.

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das Hinzutreten der Stifter thematisiert wird. Der zurückgelegte Weg ist zugleich der Weg ihrer Andacht.720 Den Zusammenhang zwischen den Bildern des Mérode-Triptychons und der Gebetspraxis des Spätmittelalters untersuchen Reindert Falkenburg und Heike Schlie in ihren Aufsätzen.721 Sie gehen beide von einer Verknüpfung der im Triptychon dargestellten Bildräume mit den im Mittelalter häufig verwendeten Metaphern für die Seele aus: Das Haus und der Garten. Falkenburg zieht für seine Interpretation des Triptychons volkssprachliche Texte („meditation manuals“) aus den Niederlanden des 15. Jahrhunderts heran, in denen die Seele als Haus oder als Garten beschrieben wird, und die „remarkable thematic and structural correspondences“ mit dem Mérode-Triptychon aufweisen.722 Texte wie das von Hendrik Mande für Anhänger der Devotio Moderna geschriebene Buch „Hier Beghint een Devoet Boecskijn van der Bereydinghe ende Vercieringhe onser Inwendiger Woeninghen“ beschreiben eine Art Rundgang durch das Haus der Seele, das mit verschiedenen Möbeln und Objekten ausgestattet ist, die den erstrebten Eigenschaften der Seele entsprechen. Eimer und Besen etwa sind zur Reinigung der Seele notwendig; eine Kerze brennt als Zeichen der Liebe zu Christus.723 Nach Falkenburg bietet auch das Mérode-Triptychon dem Betrachter eine Schablone, nach der er seine eigene Seele formen könne).724 Er sieht die Ähnlichkeiten zwischen den Texten und dem Mérode-Triptychon als Ausdruck einer Andachtskultur, die sich durch eine „technology of inwardness“ auszeichne.725 Die unterschiedlichen medialen Bedingungen von Text und Bild für deren Rezeption und die Unterschiede des konkreten Gebrauchs bleiben jedoch unerkundet. Heike Schlie dagegen beschäftigt sich eher mit der Rolle der Bildmotive für die Rezeption des Triptychons. Wie sie feststellt, wiederholt die Mitteltafel in vieler Hinsicht den Rezeptionskontext: Sie zeigt den Stifter selbst als Betenden. Der Bildraum der Verkündigungsdarstellung entspricht in mehreren Aspekten wohl dem Raum, in dem sich der zeitgenössische Betrachter selbst befand.726 Wie Falkenburg sieht Schlie im Raum der Mitteltafel die Seele des Betrachters: „So, wie in diesem Moment Maria das zum Fenster hineinfliegende Christkind empfängt, soll der Betrachter im Gebet Gott in seiner Seelenkammer 720 Vgl. das Seilern-Triptychon von Robert Campin, um 1425. London, Courtauld Institute Galleries, Princes Gate Collection (Inv. Nr. P.1978.PG.253), 53,6 x 65,2 cm (Mitteltafel), 26,8 x 64,9 cm (pro Flügel). Hinter dem Stifter windet sich hier ein Weg in die Tiefe; das leere Kreuz mit angelehnter Leiter deutet auf die Grablegung auf der Mitteltafel hin. 721 Falkenburg 2001; Schlie 2004 A. Schlie verweist nicht auf Falkenburg, obwohl dessen Interpretation ihrer eigenen sehr nahe kommt. Die These, dass Bilder nicht nur als Unterstützung des Gebetsprozesses galten, sondern diesen verkörpern, formuliert Craig Harbison bereits 1985 in seiner Studie „Visions and Meditations in Early Flemish Painting“: „The image is not just a physical object, an object of worship. It is the embodiment of the process of meditation itself“: Harbison 1985, S. 117. 722 Falkenburg 2001, S. 6. 723 Falkenburg 2001, S. 6 f. 724 „[A] visual template for the viewer’s spiritual self constitution“: Falkenburg 2001, S. 7. 725 Falkenburg 2001, S. 4. 726 Schlie 2004 A, S. 98. Vgl. die Deutung durch den Ausstellungskontext des Triptychons im Spanish Room der Cloisters: In dem Raum befinden sich mehrere Einrichtungsgegenstände aus dem Bildraum, s. auch Thürlemann 1997, S. 5. Zum Interieur in Darstellungen der Verkündigung s. Lüken 2000.

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empfangen“.727 Die auffällige Darstellung des Schlüssels an der Innenseite der Tür und sein Verweis auf den Innenraum der Mitteltafel „läßt im Vergleich mit sogenannten Herzkammerbildern den Schluß zu, daß der gezeigte private Raum als Bildstrategie der Verinnerlichung aufzufassen ist“.728 War die Metapher des Herzens als Haus auch weit verbreitet, so wurde es selten bildlich so dargestellt.729 Die Herzkammerbilder des späten 15. Jahrhunderts  – etwa die Zeichnungen aus dem Eichstätter Kloster St. Walburg (Abb. 71, vgl. Abb. 63) – betonen wie das Triptychon die Öffnungen des Gebäudes, Tür und Fenster, und ihre Befestigungsmechanismen. Sie unterscheiden sich aber u. a. dadurch vom Mérode-Tri­ ptychon, dass sie aus dem Umfeld der monastischen Frömmigkeit stammen. Die Herzkammer ließ mit ihren Abgrenzungsvorrichtungen die Betrachter nach Hamburger vermutlich an das Klostergebäude oder ihre eigene Zelle denken.730 Zudem ist in den Eichstätter Zeichnungen die Nonne selbst mit dargestellt in ihrem Herz-Haus, in dem sie Christus empfängt. Der Innenraum des Mérode-Triptychons kann dagegen nur eine erhoffte, zukünftige Version der Seelen von Engelbrecht und seiner Frau darstellen: „The Inghelbrechts already have a vision of their spiritual cohabitation with the Virgin and the reception of the Heavenly ­Bridegroom in the house of their souls, but they still must strive for inner perfection through prayer and meditation“.731 Hier wird nach Falkenburg also gewissermaßen die Vorstufe zu einem Bild wie dem Eichstätter Herz als Haus wiedergegeben. Interessanter als die Frage, ob die Mitteltafel als Gebetsanweisung gelten kann, erscheint mir die Frage nach der Rolle des Klappmediums in diesem devotionalen Umfeld. Offenkundig schlagen sich im Mérode-Triptychon, aber auch in anderen Diptychen und Triptychen des 15. Jahrhunderts metaphorische Themenbereiche wie das Herz als Gebäude oder Kammer – als Ort des Gebets, der sich abschließen lässt – sowohl im Bildinhalt als auch in der erneuten Popularität klappbarer Bildmedien nieder. Die Maler waren besonders darauf bedacht, die motivische und mediale Ebene produktiv miteinander zu verquicken. Eine medialisierte und verräumlichte Vorstellung vom eigenen Inneren bestimmt noch einen weiteren Themenbereich, der seit dem 12. Jahrhundert in der Scholastik beliebt war: das Herz als Buch. Seitdem ist eine zunehmende Individualisierung des Bildes des Herzens als Buch festzustellen, das sich im 15. Jahrhundert auch in der Laienfrömmigkeit niederschlägt.732 Es sind die Abschließbarkeit des Buches und die Ermahnung zur Bewachung des eigenen Buches, in das man keinem anderen Einblick gewähren soll, die auch diese Metapher im 15. Jahrhundert bestimmen.733 727 Schlie 2004 A, S. 99. 728 Schlie 2004 A, S. 99. 729 Hamburger 1997, Kapitel „The House of the Heart“, S. 137–175, hier S. 152. 730 Hamburger 1997, S. 157; ebd., S. 159: „The combination of a sealed door and open window would immediately have reminded a nun in enclosure of her own situation. Most convents had, not one door, but as many as three, separating them from outsiders, with whom [...] they could only communicate through a series of windows“. 731 Falkenburg 2001, S. 14. 732 Jager 2000: Er hat die Verbreitung dieser Metapher untersucht. 733 Jager 2000, z. B. S. 53, 58. Zu literarischen Aspekten des gebauten Inneren s. Wandhoff 2006 u. Schnyder 2006. Eine bildliche Darstellung des Herz-Buches findet sich z. B. im Tafelbild des soge-

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71 Das Herz als Haus, Eichstätt, um 1500. Berlin, Staatsbibliothek (Hs. 417), 13,6 x 10,4 cm.

Ein weiteres Triptychon, das Rogier van der Weyden zugeschrieben wird, bietet sich zum Vergleich mit dem Mérode-Triptychon an, da hier ebenfalls eine Tür zwischen Stifter und Mitteltafel dargestellt ist. Die Mitteltafel des 1438 entstandenen Werl-Triptychons ist verloren; die Flügel befinden sich heute in Madrid (Abb. 72).734 Der Stifter Heinrich von Werl, der 1432–1461 Provinzial des Kölner Minoritenklosters war, kniet auf der linken Tafel am rechten Rand. Auf der rechten Tafel ist die Hl. Barbara in einem Innenraum dargestellt. Im Gegensatz zum Mérode-Triptychon befindet sich das Türblatt nicht vor dem Stifter, sondern es hinterfängt ihn, so dass er deutlich als durch die Tür blickend dargestellt ist. Der Stifter befindet sich in einem Raum mit Johannes dem Täufer, der Buch und Lamm hält. Eine Holzwand teilt den Raum in seiner Tiefe. Über ihr sind die hintere Wand des Raumes mit dem oberen Teil einer geöffneten Tür und eine Marienskulptur zu sehen. An der Holzwand hängt ein großer Rundspiegel. Während die Holzwand das Eindringen des Betrachterblicks in die Tiefe des Bildraumes vorzeitig beendet, erweitert der an ihr hängende Spiegel ihn nach vorn: Der Stifter wird im Spiegelbild fast komplett durch den Türflügel verdeckt; dafür erblickt man in der Verlängerung des Innenraumes zwei Mönche (Abb. 73). nannten Meisters von Sainte Gudule (ca. 1485), in dem ein Mann ein herzförmiges Buch aufgeklappt vor der Brust hält und im Hintergrund ein Altar dargestellt ist, vor dem gerade die Elevation der Hostie stattfindet (New York, Metropolitan Museum of Art, acc.no. 50.145.27, 21 x 13 cm). Ein herzförmiges Buch ist z. B. Paris, Bibliothèque Nationale, Ms. 10536 aus dem 15. Jahrhundert. 734 Zur Literatur, s. Belting/Kruse 1994, S. 175 f.

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72 Rogier van der Weyden, linker und rechter Flügel des Werl-Triptychons, 1438. Madrid, Prado, jede Tafel 101 x 47 cm.

Das Triptychon war wahrscheinlich eine Stiftung für die Kölner Minoritenkirche, in der es sowohl einen Barbara- als auch einen Johannes-Altar gab.735 Durch die beiden Mönche sind die historischen Betrachter, die Minoritenbrüder, in den Raum des Heils miteinbezogen. Der für das Werl-Triptychon vermutete Rezeptionskontext unterscheidet sich wesentlich vom Mérode-Triptychon: Bei diesem deuten bereits die Maße auf eine ursprüngliche Verwendung in einem privaten Kontext hin. Privat genutzte Triptychen wurden im Schlafzimmer oder im Speisezimmer aufbewahrt und waren dementsprechend nur den Besitzern oder wenigen Personen zugänglich.736 Das Werl-Triptychon dagegen dürfte für einen Altar gestiftet worden sein; dann war es vielleicht allen Kirchenbesuchern, bestimmt aber den Klosterbrüdern, zugänglich. Die linken Flügel der beiden Triptychen mit der Darstellung der jeweiligen Stifter weisen Unterschiede auf, die auf den jeweiligen Rezeptionskontext verweisen. Im Werl-Triptychon wird durch die Anwesenheit Johannes des Täufers das Thema der Interzession betont, während die Engelbrechts nicht von Heiligen präsentiert werden. Denkbar ist eine Stiftung durch Heinrich von Werl als Vorbereitung seines eigenen Totengedenkens und als Sicherung seines Seelenheils. Da ihn im Rundspiegel fast komplett der Türflügel verdeckt, wird der Stifter bereits stärker dem angrenzenden Raum der Mitteltafel zugeordnet. Den 735 S. Hinweise bei: Belting/Kruse 1994, S. 176. 736 Zu kleinen Triptychen allgemein: Schade 2001; zu ihrem Gebrauchskontext: ebd., S. 64 f.

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73 Rogier van der Weyden, linker Flügel des Werl-Triptychons (Detail), 1438. Madrid, Prado.

Mönchen im Spiegel ist aus ihrer Position im Vorraum des Bildraumes heraus kein Blick auf das möglich, was der Stifter durch die Tür sieht.737 Die tatsächlichen Betrachter haben jedoch, wie Schlie bemerkt, einen „noch prominenteren visuellen, d. h. frontalen Zugang zu der auf der Mitteltafel gezeigten Szene“.738 Der Stifter des Werl-Triptychons wird als Vorbild für die Betrachter inszeniert; diese sollen ihm folgen, indem sie sich ebenfalls der Mitteltafel zuwenden. Die Betrachter vor dem Bild werden über die Betrachter im Bild (die beiden Mönche) stark an den Kirchenraum und die Gemeinschaft der Ordensbrüder zurückgebunden. Der Stifter weist gewissermaßen den Weg zur Schau der Heiligen. Für das Mérode-Triptychon muß man dagegen wohl zunächst die Stifter als Betrachter annehmen, die sich selbst gegenüber nicht in einer Position des Vorbildes stehen. Die Darstellung betont daher den schrittweisen Weg der Andacht. Über die zu überquerenden Schwellen wird der Weg für den Betrachter mit Handlungen verknüpft, die dieser im Kontext seiner eigenen Andachtsvorbereitungen ausgeübt hat.739 Auch er hat die Außenwelt hinter sich gelassen – vielleicht durch Schließen der Tür zur Kammer, in der sich das Triptychon befindet –, sich vor dem Triptychon niedergelassen und dieses geöffnet. Durch die oben erwähnte Handlungsparallele – Öffnung der hinteren Tür des linken Flügels einerseits, Öffnen des Triptychons ebenfalls durch Menschenhand andererseits – werden aber auch die Grenzen des Triptychons als Hilfsmittel der Andacht aufgewiesen: Wie die Stifter befindet sich der Betrachter nach dem Öffnen des Triptychons im Garten vor dem Haus, zu dem er 737 Vgl. Belting/Kruse 1994, S. 176. 738 Schlie 2004 B, S. 33 f. 739 Zu Wegen in den eigenen Innenraum, die in spätmittelalterlichen englischen Texten beschrieben werden, s. Kern-Stähler 2002, Kapitel „Wege in den mentalen Innenraum“, ab S. 108.

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sich nicht selbst durch „tatkräftiges“ Öffnen der Tür Zugang verschaffen kann, sondern das er bewohnen muss, um Gott darin zu empfangen.740 Beide Triptychen fordern den Betrachter dazu auf, über seine eigene Position vor dem Bild zu reflektieren und – angespornt durch Beispiele im Bild – die Möglichkeiten zu bedenken, welche die Klappbarkeit der Flügel mit sich bringt. Die Tür ist nicht nur ein Mittel, welches das Zusammenfallen von Bildgrenze und Bildraumgrenze suggeriert, sondern der „Retabelflügel zeigt mit der Tür im Bild seinen eigenen medialen Status“, den der Verdeckund Verschließbarkeit.741 In beiden Bildern werden gemalte Klappobjekte zur Thematisierung des medialen Spektrums vom Aufbau über die Unterbrechung bis hin zur Kappung der Sichtverbindung genutzt. Im Kirchenraum steht diese Visualität im Kontext der Liturgie, die sich ebenfalls der Modi von Sichtbarkeit und Verborgenheit bedient: „Im Wechsel von Verhüllung und Enthüllung, von Zeigen und Verbergen ist [...] eine Grundfigur mittelalterlicher Liturgie faßbar“.742 Es können daher „Klappobjekte wie Reliquiare, Altaraufsätze und Tabernakel in Triptychonform mit Seitenflügeln, Schränke mit ausgestalteten Türen [...], aufklappbare Skulpturen wie die sogenannten Schreinmadonnen [...] als Reaktion der Objektform des in die liturgischen Aktionen integrierten Inventars auf diese Wechselkonstellation verstanden werden“.743 Für eine Untersuchung der Wahrnehmungsumstände von Klappaltären wäre freilich ein genaueres Wissen über deren Einbindung in die Liturgie notwendig. Aus den wenigen Hinweisen dazu, wann Retabel gewandelt wurden, lässt sich vermuten, dass man die meisten nur zu bestimmten Festtagen öffnete.744 Auch zum genauen Ablauf der Wandlung selbst gibt es keine Quellen. Es muss daher offen bleiben, ob dieser Prozess in die Liturgie miteinbezogen wurde. Quellen zu Retabeln nördlich der Alpen lassen vermuten, dass diese meist am Vorabend der Feste aufgeklappt wurden und die Laien am nächsten Tag das geöffnete Retabel vorfanden.745 740 Vgl. das Pauluswort vom Menschen als Tempel Gottes und Wohnstätte des Heiligen Geistes (1 Cor 3,16; 6,19). Zur selbstreflexiven Begrenzung spätmittelalterlicher Bilder im Hinblick auf ihre Rolle im Andachtsprozess, s. auch Hamburger 2000, S. 49: „Despite their apparent accessibility, the images incorporate clear thresholds, even barriers, that check an unhindered approach to the object of devotion [...], questioning or delimiting their own power and potentiality“. Vgl. in breiterem Zusammenhang auch Harbison 1985, S. 113: „images [...] could initially accompany meditation; they were not to be the result or focus of it“. 741 Schlie 2004 B, S. 33. 742 Reudenbach 1999, S. 28. Das schlägt sich z. B. bei Durandus von Mende nieder, der diese Funktion für die „vela“, die Textilien des Kirchenraums, beschreibt: s. Faupel-Drevs 1998, S. 680 ff. 743 Reudenbach 1999, S. 28. Ähnlich Möhle 2006, S. 59: „Der dialektische Umgang mit Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Präsenz und Absenz der Bilder lässt sich als ästhetischer Kommentar zum Ort des Flügelretabels, dem Altar, und dessen besonderen Potential der Vergegenwärtigung des absenten Christus im Messopfer verstehen“. 744 Zur Öffnung des Retabels während der Messe gibt es keine Quellen; zu Festtagsöffnungen stammen sie v. a. aus dem späten 15. Jahrhundert und belegen, dass der Vorgang von Ort zu Ort variiert: Grötecke 2007, S. 401; s. Laabs 1997, S. 74 f. zu den Zisterzienserorden. 745 Tripps 2004, S. 92; aus dem spätmittelalterlichen Deutschland sind Mesnerpflichtbücher aus mehreren Kirchen in Nürnberg erhalten, die beschreiben, wann und wie lange welches Retabel geöffnet werden soll: s. ebenfalls Tripps 2004, S. 90 f. S. auch Weilandt 2003, besonders S. 165–167 zu den Öffnungs-

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Bei den Retabeln mit mehreren Schauseiten kommt neben dem ‚Beziehungsgefüge‘ des Nebeneinander eine weitere Spielart der Bildrelation hinzu: das Verhältnis der äußeren zu den inneren, der ‚vorderen‘ zu den ‚hinteren‘ Bildern. Das Verhältnis von Außen- und Innenansicht in den meisten Flügelretabeln ist das einer Steigerung. Das kann auf einen Wechsel von Malerei zu Skulptur hinauslaufen, oder die Innenseite wird durch eine intensivere Farbigkeit, Vergoldung oder elaborierteres Rahmenwerk hervorgehoben.746 Neben den Unterschieden werden aber auch Ähnlichkeiten betont: Heike Schlie und Valerie Möhle haben den Anstoß für die memorativ-imaginierende Aktivierung des Betrachters hervorgehoben, den das Klappretabel bereitstellt.747 Durch Wiederholung von Formen, Gesten oder ganzen Personen der einen Schauseite in der anderen ‚schimmert‘ die jeweils abwesende Seite in der Erinnerung der Betrachter durch – Möhle spricht von der „Latenz der verborgenen Bilder“.748 Eine Wiederholung der gleichen Szene auf mehreren Schauseiten, wie sie in dem von Möhle untersuchten Hochaltarretabel aus St. Johannis in Wernigerode (1415) stattfindet, ist allerdings ungewöhnlich.749 Hier taucht auf allen drei Schauseiten die Szene der Epiphanie an ähnlicher Stelle auf, was zur Folge hat, dass ein mit dem Retabel und seinen verschiedenen Bildseiten vertrauter Betrachter „die äußere Epiphaniedarstellung als eine Brücke zu den inwendigen Darstellungen“ nutzen kann, die möglicherweise nur selten zu sehen waren.750 Häufiger zielen Parallelen zwischen den äußeren und inneren Bildern auf eine strukturelle Vermittlung der Christusähnlichkeit der dargestellten Heiligen ab.751 Wiederholungen und strukturelle Parallelen zwischen inneren und äußeren Bildern lassen wiederum „[e]ine Wandlung während der Messe, etwa um eine überraschende Epiphanie zu inszenieren, [...] weder vorgesehen noch nötig“ erscheinen.752 Wenn die verschiedenen Bildseiten der Flügelaltäre zu unterschiedlichen Zeiten sichtbar sind und sich so in das Kirchenjahr mit seiner Liturgie eingliedern, dann kann es auch zu Interferenzen zwischen Bildraum und Kirchenraum kommen. Je nach Größe entsteht zwischen klappbaren Bildträgern und dem Raum zunächst eine ganz einfache Relation: Von der Möglichkeit ihrer Öffnung rührt der materiell-raumgreifende Aspekt der Klappobjekte her, der gewissermaßen einen Raum im Raum markiert. Über die bisher untersuchten Bildverhältnisse von Diptychen und Triptychen in geschlossenem oder ganz geöffnetem Zustand (180°) hinaus können bei diesen Objekten weitere Betrachtungsmöglichkeiten durch eine praktiken von Triptychen in der Nürnberger Dominikanerinnenkirche, die im „Notel der Küsterin“ von 1436 vermerkt sind. 746 Weilandt 2003, S. 170; Möhle 2006, S. 56; Grötecke 2007, S. 401. 747 Schlie 2004 B, Möhle 2006. 748 Möhle 2006, S. 59. Schlie 2004 B, S. 27: „War die innere Schauseite eines Retabels geöffnet, so meine These, schien die äußere durch und umgekehrt; am selben Ort wurde nicht nur das Anwesende, sondern auch das periodisch Abwesende wahrgenommen“. S. auch Walker Bynum 2006 zur Gregorsmesse und ihrer Visualität des „seeing beyond“. 749 Möhle 2006, S. 56–59. 750 Möhle 2006, S. 59. 751 Möhle 2006, S. 59. Beispiele bei: Schlie 2004 B, S. 28 f. 752 Weilandt 2003, S. 168. Das Landauerretabel, auf das sich Weilandt hier bezieht, präsentiert auf allen drei Wandlungsseiten die Kreuzigung.

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unterschiedliche Winkelstellung der Flügel entstehen. Für manche kleinere Triptychen und Diptychen, die keine Aufhängespuren aufweisen, vermutet man sogar, dass sie immer in angewinkeltem Zustand betrachtet wurden, weil sie nur so selbständig stehen konnten.753 In einigen Fällen ist es wahrscheinlich, dass die Maler die Winkelstellung der Flügel zueinander in ihrer Komposition berücksichtigten: Die anlässlich einer Ausstellung in Washington durchgeführte Untersuchung von Diptychen ergab, dass häufig bestimmte Veränderungen zu einem späteren Zeitpunkt des Produktionsprozesses am Bild vorgenommen wurden. Da diese vor allem die Augen der dargestellten Figuren betreffen, vermuten die Autoren des Katalogs, dass der Öffnungsgrad der Flügel und die dadurch entstehenden Blicklinien in die Konzeption der Diptychen nachträglich miteinbezogen wurden.754 Die Forschung hat diesen konkret räumlichen Aspekt der Klappmedien erst in den letzten Jahren bedacht. Neben Schlie und einigen Autoren des Washingtoner Sammelbandes und Ausstellungskataloges hat sich Marius Rimmele 2008 mit dem Raumkonzept der Triptychen beschäftigt.755 Auch er stellt angesichts eines kleinen Triptychons mit einer Darstellung Marias in einem ummauerten, nach vorne hin offenen Garten, fest, dass „die Handhabung des Trägermediums unmittelbar in das Raumkonzept integriert“ wird: Mit dem Öffnen der Triptychonflügel eröffnet sich der Benutzer zugleich den Blick in den Paradiesgarten.756 Ein ähnliches ,Ein-Greifen‘ des Betrachters durch seine Öffnungshandlung in das Raumkonzept des Bildes vermitteln auch die Türmotive des Mérode-Triptychons und des Werl-Triptychons. Wie ausgeklügelt darüber hinaus eine Interaktion zwischen dem realen Raum und dem Bildraum sein konnte, die nicht nur auf der Handlung des Öffnens beruht, sondern einen spezifischen Winkel voraussetzt, das zeigen einige wenige größere Diptychen aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die Hugo van der Velden neuerdings analysiert hat. Er hat gezeigt, dass eine angewinkelte Öffnung auf sehr pragmatische Weise im Kirchenraum genutzt werden konnte.757 So deutet eine Auswertung der Quellen zur Stiftung eines Altars und Totengedenkens des Priesters, Kaplans und Sekretärs der Kollegiatskirche St. Donatian in Brügge, Bernadijn Salviati, darauf hin, dass das von ihm bei Gerard David 1502 in Auftrag gegebene Diptychon speziell auf den Anbringungsort abgestimmt war (Abb. 74). Dar­gestellt ist auf dem rechten Flügel die Kreuzigung vor einem Landschaftspanorama mit mittelalterlicher Stadt im Hintergrund. Auf dem linken Flügel kniet Salviati, umringt von

753 Schade 2001, S. 64–66; Ausst. Kat. Washington 2006, S. 4. 754 Ausst. Kat. Washington 2006, S. 5. Ein Diptychon, von dem Rudolf Preimesberger schon 1991 annahm, dass es in angewinkeltem Zustand betrachtet werden sollte, ist das Verkündigungsdiptychon Jan van Eycks in Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza (Inv. Nr. 137.a-b), 38,8 x 23,2 cm (linker Flügel), 39 x 24 cm (rechter Flügel): Preimesberger 1991, S. 479 f. Dieser Hinweis bei Hamburger 2000, S. 53. 755 Schlie 2004 A; Schlie 2004 B; Ausst. Kat. Washington 2006; Hand/Spronk 2006; Rimmele 2008. 756 Rimmele 2008, S. 316. Das Triptychon stammt aus der Werkstatt Stefan Lochners (um 1450), Köln, Wallraf-Richartz-Museum (Inv. Nr. WRM 70), Mitteltafel 31,3 x 27,5 cm. 757 van der Velden 2006, S. 124–155.

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74 Gerard David, SalviatiDiptychon, 1502. Rekonstruktion des Öffnungswinkels nach van der Velden 2006. Linker Flügel mit Stifter: London, National Gallery, 104,5 x 94,3 cm; rechter Flügel: Berlin, Staatliche Museen, Gemäldegalerie, 144,6 x 101,9 cm.

den Hll. Donatian, Bernhard und Martin. Quellen aus den Jahren 1494–1502 belegen, dass Salviati zum Seelenheil seiner 1494 verstorbenen Mutter und zur Vorbereitung seines eigenen liturgischen Totengedenkens die Stiftung eines Altars in der Kirche übernahm, der Johannes dem Täufer gewidmet, und in dessen Nähe seine Mutter begraben war. 758 Es lässt sich rekonstruieren, dass sich der Altar an der Nordwand im Winkel zwischen dem Nordportal der Kirche zum Kreuzgang und der Chorabschrankung befand und sich die Wahl des Diptychonformates für das Altarretabel aus den räumlichen Gegebenheiten und Begrenzungen dieser Position ergab (Abb. 75).759 Ein späteres Inventar erwähnt einen Vorhang, der darauf schließen lässt, dass der Altar mit der Rückseite an die Chorabschrankung angrenzte und links mit der Kirchenwand abschloss, während rechts zum Kirchenschiff hin der Vorhang gezogen werden konnte.760 Die Größe des Diptychons und die Tatsache, dass nur die Rückseite der linken Tafel mit einem Bild versehen war – dem auferstandenen Christus in einem trompe-l’oeil Fenster oder Triptychon (Abb. 76) –, weisen darauf hin, dass der rechte Flügel fest an der Wand angebracht war und das Diptychon nach links geöffnet wurde.761 Im geschlossenen Zustand umfasste das Diptychon die Breite des Altars. Wegen der Begrenzung durch die Nordwand auf der linken Seite konnte es wohl nicht weit über 90 Grad geöffnet werden (Abb. 74).762 Teilnehmern an der von Salviati gestifteten Totenmesse blieb, wenn sie 758 Die von van der Velden genannten Dokumente sind im Anhang seines Aufsatzes abgedruckt: van der Velden 2006, S. 153 f. 759 van der Velden 2006, S. 137. 760 van der Velden 2006, S. 138. 761 Vgl. van der Velden 2006, S. 126. 762 van der Velden 2006, S. 138.

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75 Grundriß der Kirche Sankt Donatian, Brügge, mit markierter Position des Salviati-Diptychons. Nach van der Velden 2006.

76 Rekonstruktion der Rückseite des Salviati-Diptychons. Nach van der Velden 2006.

zahlreich waren, wegen des Nordportals vor dem Altar nicht viel Platz.763 Auch der Standpunkt der Betrachter scheint daher bei der Wahl des Bildträgers bedacht worden zu sein, denn von einer Position weiter rechts im Hauptschiff hätten diese einen guten Blick in das aufgeklappte Diptychon gehabt.764 Der Erfolg dieser Konzeption lässt sich daran erkennen, dass 1528 ein ähnliches Diptychon für einen Bekannten Salviatis in Auftrag gegeben wurde: das Diptychon Adriaan Isenbrants für Joris van de Velde mit der Darstellung der Sieben Schmerzen Mariä.765 Wie im Salviati-Diptychon sind die Stifter entgegen den heraldischen Regeln auf dem linken Flügel dargestellt, was vermuten lässt, dass auch dieses Altarretabel zur Aufstellung in einer Ecke konzipiert wurde. Der Winkel, in dem die Flügel der Diptychen Salviatis und van de Veldes jeweils zueinander standen, erlaubten Blickkontakt zwischen dem dargestellten Stifter und dem Bild der Kreuzigung bzw. der Sieben Schmerzen Mariä.766 Bei der Messe war der Priester „wedged 763 Salviati hatte schon 1494 eine Messe am Todestag seiner Mutter am 26. Januar jeden Jahres gestiftet, die zunächst im Chor stattfand. Später wurde der Vermerk im planarius von St. Donatian ersetzt: Der Ort wurde nun als „ante altare Johannis et Magdalene“ bezeichnet: van der Velden 2006, S. 136. 764 van der Velden 2006, S. 139. 765 Linker Flügel: Brüssel, Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique (Inv. Nr. 2592): 144 x 143 cm (mit Rahmen); rechter Flügel: Brügge, Onze Lieve Vrouwekerk, 138 x 138 cm. 766 van der Velden 2006, S. 145.

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between the panels of the perpendicularly opened diptych, while the founder, in effigy, would have looked over his shoulder, his eyes fixed upon the crucifix“.767 In dem durch die Flügel des Diptychons hergestellten Dreieck überlagern sich realer Raum und Bildraum. Der Priester erscheint als Vermittler zwischen Christus und dem Stifter, aber auch zwischen Christus und den Messebesuchern. Der Stifter ist somit eingebunden in eine „chain of intercession“.768 Die einleitend erwähnte Grundkonstante der Bebilderung diptychaler Strukturen, nämlich die figurale Ausrichtung der einen Hälfte auf die andere lässt sich auch beim SalviatiDiptychon erkennen. Der Stifter selbst ist fast im Profil dargestellt, seine Hände weisen deutlich nach rechts. Das Kreuz auf der rechten Tafel dagegen ist nicht frontal dargestellt; die Komposition der rechten Tafel ist nicht symmetrisch. Statt dessen ist das Kreuz leicht der gegenüberliegenden Tafel zugewandt. Bei einem Öffnungswinkel des Diptychons von ungefähr 90 Grad stehen sich daher Salviati und Christus am Kreuz gegenüber. Die Hll. Martin, Bernhardin von Siena und Donatian sind auf dem linken Flügel im Tiefenraum des Bildes fast halbkreisförmig um den Stifter angeordnet. Die Figuren spiegeln damit in der Tiefe des Bildraumes permanent die Bewegungsfigur wider, die beim Aufklappen des Flügels, ausgehend von der an der Wand angebrachten Szene der Kreuzigung, im Kirchenraum entsteht. Im aufgeklappten Zustand wird das Ziel dieser Anordnung erkennbar: Das Kreuz ist schräg in die Tiefe gerichtet; die zu Christus aufschauenden Figuren auf der Tafel – Johannes der Täufer, Maria und Magdalena – befinden sich unter dem rechten Kreuzesarm, annähernd parallel zu ihm. Die Heiligen und der Stifter sind im gemeinsamen Bildraum der beiden Tafeln wie Speichen um den Gekreuzigten angeordnet: Das vom Hl. Donatian auffällig nah am Bildrand orthogonal zur Bildfläche gehaltene Rad wiederholt die Disposition der Andachtshaltungen noch einmal als Motiv im Bild. Im Attribut des Kirchenpatrons verdichtet sich so nicht nur die Bewegungsfigur des Diptychons im Raum (auf diesen Bezug deutet seine Position am rechten Bildrand hin) sondern auch die räumliche Struktur der Andacht. Der Betrachter, der in dem Segment des Kirchenraums stand, das durch die Tafeln des Diptychons als Vektoren angezeigt wurde, war durch seine räumliche Position eine Ergänzung dieses ‚Rads‘ der Verehrung.769 Van der Velden will mit den Beobachtungen zum Salviati-Diptychon seine These eines „principle of dextrality“ stützen.770 Die Überlappung von Bildraum und Kirchenraum ist 767 van der Velden 2006, S. 145. 768 van der Velden 2006, S. 145. 769 Zu Gerard David als Künstler, der den Bildraum stark für sich nutzte und über diesen den Betrachter anzusprechen wußte, s. Rothstein 2008, bes. S. 18 f. In Davids „Urteil des Cambyses“ (Brügge) wird im Dienste eines Nachdenkens über Gerechtigkeit und Rechtsprechung die Grenze der Bildfläche aufgelöst, und der Betrachter wird als Zeuge miteinbezogen. 770 Nach Erwin Panofsky (Panofsky 2006, Bd. 1) beruht diese Anordnung spätmittelalterlicher Diptychen auf Gesetzen der Heraldik, nach denen das Wappen der Frau immer zur Linken desjenigen des Mannes dargestellt wird. van der Velden widerspricht dieser These aufgrund der vielen Ausnahmen und substituiert für Panofskys ‚Gesetz‘ ein lockerer aufgefasstes ‚Prinzip‘, das Bildräumlichkeiten berücksichtigt und nicht auf ein Nebeneinander der Figuren begrenzt ist: van der Velden 2006, bes. S. 127–133 u. S. 145–147.

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seiner Meinung nach darauf angelegt, dass sich Salviati und Christus am Kreuz im aufgeklappten Diptychon gegenüberstehen und daher entgegen dem ersten Eindruck nicht mit dem Prinzip der Dextralität brechen, nach dem im Mittelalter die zweitwichtigste Person rechts von der wichtigsten Person einer Bildkomposition dargestellt wird. Dabei spielt es für van der Velden demnach eine Rolle, in welchem Zustand das Diptychon ursprünglich betrachtet werden konnte, nicht aber, wie die Betrachter in die Komposition miteinbezogen wurden. Die Zentralität der rechten Tafel wird also nicht durch eine symmetrische und frontale Komposition betont, sondern David nutzt in doppelter Hinsicht den Raum: Sowohl die Figuren im Bildraum als auch die Gläubigen im Kirchenraum verstehen sich als zentripetal um das Kreuz angeordnet. Dass das Ziel nicht nur eine möglichst kluge Lenkung der Verehrung auf den Gekreuzigten war, sondern dass auch medienreflexiv eingestellte Betrachter angesprochen werden sollten, machen die Gesten der Frauen unter dem Kreuz deutlich, welche die verschiedenen Zustände des Diptychons spiegeln. Maria hat ihre Hände aneinandergelegt, während Magdalena sie mit den Handinnenflächen auf den Kreuzesstamm hin aufklappt.771 Links am Bildrand hat eine weitere Frau die Arme so über der Brust gefaltet, dass ihre Hände wie Flügel eines komplett aufgeklappten Diptychons nebeneinander liegen. Aus einer solchen gewitzten Analogie zwischen Hand und Medium, Gestus und Mediengebrauch lässt sich folgern, dass die im Winkel aufgeklappte Position der Diptychonflügel mit einer besonders intensiven Verehrung verbunden ist, da Magdalena dem Kreuz am nächsten steht.772 Auch in den Kirchenraum hinein kann diese Parallele noch weitergedacht werden: Der Priester wird beim Zelebrieren der Messe für die etwas rechts vom Altar stehenden Betrachter von den Flügeln des Diptychons so hinterfangen wie die Hände Magdalenas den Kreuzesstamm. Dadurch wird das Bild der Kreuzigung stark mit der Eucharistie verbunden. Die analysierten spätmittelalterlichen Beispiele zeigen eine komplexe Vernetzung erstens des Bildraums mit dem materiellen, vom Bildträger besetzten Raum, und zweitens der Medialität der Diptychen und Triptychen, ihrer konkreten Handhabung und Betrachtung, mit Kontexten der Andacht, Imagination und Liturgie. Die Analyse der Motivik spätmittelalterlicher Tafelbilder verspricht weit über deren Symbolik hinaus Erkenntnisse liturgie- und frömmigkeitsgeschichtlicher Natur. Dieser Aspekt sowie die medialen und räumlichen Aspekte von klappbaren Bildträgern und deren Relevanz für Kontexte der Rezeption sind erst in den letzten Jahren in den Blick der Forschung gerückt.773 Es zeichnet sich ab, dass es aufschlussreich ist, Schwellenmotive mit einem verortenden Blick zu untersuchen, die ,wis771 Nach Peter Parshall ist diese Geste in der Kunst des 15. Jahrhunderts eng mit Maria Magdalena verbunden und hat ihren Ursprung in der „Kreuzabnahme“ Rogier van der Weydens (Madrid, Prado, Inv. Nr. 2825). Die Figur der Magdalena in diesem Bild ist seiner Meinung nach „among the most often quoted figures in Early Netherlandish art“: Parshall 2001, S. 23. 772 Wie van der Velden zeigt, hatte Magdalena eine besondere Bedeutung für den Stifter, da er aus einer unehelichen Verbindung stammte. Auch seine Weihe des Altars an Johannes und Magdalena weist auf die persönliche Wichtigkeit der Maria Magdalena für Salviati hin: Van der Velden 2006, S. 136 f. 773 Mit unterschiedlichen Fragestellungen und Erkenntnisinteressen: Schlie 2004 A; Schlie 2004 B; Ausst. Kat. Washington 2006; Hand/Spronk 2006; Rimmele 2008; Rimmele 2009; Stamm 2009; Ganz/ Thürlemann 2010; Rimmele 2010.

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senschaftliche Linse‘ gewissermaßen etwas weiter zu stellen und den Ort des Bildes, d. h. die konkrete mediale und räumliche Situation und die historischen Rezeptionsbedingungen, zu berücksichtigen. Im Hinblick auf spätmittelalterliche Diptychen und Triptychen ist durch diese Perspektive deutlich geworden, wie zentral das Nachdenken über Inneres und Äußeres frömmigkeitsgeschichtlich ist und wie sehr die spätmittelalterlichen Äußerungen von Religiosität – in der individuellen Andacht und in gemeinschaftlichen Liturgien – über Räumlichkeitsmotive geleitet werden, die sowohl im Bildinhalt als auch im Trägermedium aufgegriffen und dadurch wiederum in der Benutzung und Betrachtung funktionalisierbar werden. Verdeutlicht sei dies noch einmal am Beispiel des Mérode-Triptychons: Über die Medienanalogie der Tür kann sich der Betrachter beim Öffnen des Triptychons auf den Weg der Andacht begeben, den auch die Stifter im Bild beschritten haben, und diesen fortführen bis in sein eigenes Inneres hinein. Die Refraktionen der Handlung des Betrachters im Bild lassen darüber hinaus den sehr materiellen Akt der Öffnung als ersten Schritt auf dem Weg in das Immaterielle erscheinen. Die komplizierte Verschränkung von Materialität und Innerlichkeit in der Andacht wird durch unterschiedliche Räumlichkeiten im Bild parallelisiert. Die Thematisierung des Umgangs mit Bildern, ihrer Medialität, Materialität und Beweglichkeit in diesem Abschnitt leitet über zur Untersuchung des Bildortes, der im Folgenden im Vordergrund stehen soll.

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5 Die Schwelle als Ort: Funktionen der Schwelle im Mittelalter

In der folgenden, zweiten Hälfte der Studie geht es um gebaute Schwellen als Orte von Bildern. Bevor der Blick auf einzelne Gestaltungsbereiche am und im Kirchengebäude gerichtet wird, stellt sich die Frage, welche Rolle gebaute Schwellen wie Kirchentüren, Stadtmauern, Stadttore und Brücken allgemein im täglichen Leben in einer mittelalterlichen Stadt spielten. Damit wird eine funktionsgeschichtliche Grundlage für die folgenden Kapitel geschaffen. Zu untersuchen ist also das breite Spektrum der potenziellen Nutzungsmodalitäten von Schwellen und deren Geläufigkeit. Mittelalterliche Quellen geben kaum Aufschluss über die konkrete Benutzung eines bestimmten Portals oder einer bestimmten Tür;774 ein Überblick über verschiedene Nutzungsweisen stellt daher ein Arsenal von möglichen Handlungen und Gesten zur Verfügung, auf die sich die an Schwellen angebrachten Bilder beziehen können. Es geht also nicht darum, neue Quellen zu erschließen, sondern darum, einen Überblick über die Rolle wesentlicher Übergänge im Mittelalter zu gewinnen. Einzelne Aspekte können dann im Weiteren aufgegriffen und in ihrer Relevanz für die Analyse von Bildinhalten und Funktionskontexten ihrer Anbringungsorte später erörtert werden. Zahlreiche Publikationen haben Quellen zum Stadttor und zur Brücke,775 zur Funktion des Kirchengebäudes aus liturgischer Sicht776 und zur Rolle von Kirchenvorhallen und Portalen in Alltag und Liturgie des Mittelalters ausgewertet.777 Die Grenze als Linie ist, wie Lucien Febvre gezeigt hat, ein Konzept der Moderne.778 Im Mittelalter haben Grenzen dagegen immer etwas mit Raum, Körper und Bewegung zu tun. Das zeigen die im Mittelalter und der Frühen Neuzeit alljährlich stattfindenden Grenzumgänge um das eigene Dorf, bei denen die Grenze durch die physische Bewegung aktualisiert wurde.779 Bei den von der Kirche veranstalteten Prozessionen wurden oft Reliquien mitge774 S. unten 7.1. 775 Zum Stadttor: Gardner 1987; Ratté 1999. Zur Brücke: Rahn 1997. 776 Tripps 1998. Zu alltäglichen Funktionen von Kirchengebäuden, etwa als Schlafstätten für Pilger und Wächter oder Ort, an dem Handel betrieben wird: Hayes 1999. 777 Zu Vorhallen: Claussen 1975; Sapin 2002; Dierkens 2002. Zu Portalen: Deimling 2004. Zum Türring speziell: Hahnloser 1959; Mende 1981, bes. S. 161–167. 778 S. Febvre 1988, bes. S. 31: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entsteht „die durchgezogene Demarkationsebene, die präzis festgelegte lineare frontière: sie ist nichts anderes als der auf die Erde projizierte Außenumriß einer ihrer selbst völlig bewußten Nation“. 779 Heidrich 1983, S. 19.

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führt.780 In umkämpften Gebieten, in denen die Kirche sich behaupten wollte, zogen die Reliquien oder Heiligenbilder zahlreiche Gläubige an, die damit zugleich Zeugen einer Grenzaktualisierung oder bei der Einforderung von Ansprüchen auf Grundstücke sein konnten, um zukünftigen Streitigkeiten vorzubeugen. Ein solcher Umgang wird etwa im Liber miraculorum sancte Fidis (11. Jahrhundert) für die Abteikirche in Conques erwähnt, bei dem die Reliquienstatue der Hl. Fides mitgeführt wird und so ihre Ländereien gewissermaßen selbst zurückfordert.781 Als gebaute Stadtgrenze spielt im Mittelalter besonders die von Stadttoren durchbrochene Stadtmauer eine wichtige Rolle. Diese Grenzen der mittelalterlichen Stadt sind daher zentraler Gegenstand der Selbstdarstellung in Text und Bild. So zeigen seit dem frühen Mittelalter Darstellungen von Städten auf Münzen und Siegeln, in Bullen, der Buchmalerei und Elfenbeinschnitzereien die Stadt vornehmlich als ein von Doppeltürmen flankiertes Stadttor.782 Auch in spätmittelalterlichen Darstellungen der Stadt, wie den Wandmalereien von Ambrogio Lorenzetti aus dem Palazzo Pubblico in Siena (1338 – 1339), nehmen Stadtmauern und -tore einen prominenten Platz ein. Stadttore dienten im Mittelalter, wie bereits in der Antike, außer als Eingang und Ausgang noch der Verteidigung: Sie hatten meist multiple Türen und Verstärkungen.783 Des Weiteren bildeten sie einen wirtschaftlichen Knotenpunkt der Stadt, an dem Steuern eingesammelt wurden.784 Aus diesen wirtschaftlichen Gründen waren die Stadttore die ersten Teile der Stadtmauer, die errichtet wurden. Sie wurden stark frequentiert, was eine große Zahl von Personen erforderte, die den Bewegungsfluss regulierten und so die Torhut übernahmen.785 Für Florenz nennen Dokumente aus den Jahren 1361 und 1364 mehr als 110 Personen, die an den Stadttoren als Wächter und Steuereinsammler arbeiteten.786 Über das Stadttor oder die Stadttore hatte der Stadtherr die Torgewalt, zu der „das Recht, die Tore zu besetzen und die Schlüssel zu verwahren“ gehörte.787 Darüber hinaus wurden die Stadttore auch in liturgische Handlungen miteinbezogen: Bei größeren Prozessionen dienten Stadttore als Station. So ist beispielsweise –für die Palmsonntagsprozession in Soissons für die Zeit zwischen 1300 und 1350 überliefert, dass die Prozession nach der Palmweihe in Nôtre-Dame des Vignes zurück zum Stadttor von Soissons zog, das verschlossen 780 So Renate Kroos in ihrem Aufsatz „Vom Umgang mit Reliquien“, in dem sie zahlreiche Quellen zusammenträgt: Kroos 1985, S. 39–42. 781 Liber miraculorum III,14: „Quod ut ad ditionem predicte martyris revocaretur, uno assensu fratres convenientes, auream imaginem in qua gloriosum caput beate virginis reconditur ibi deportaverunt“ (S. 202): „Damit dieses [Land] wieder in die Macht der besagten Märtyrerin überführt würde, schafften die in einhelligem Beifall übereinstimmenden Ordensbrüder das goldene Reliquiar, in dem das ruhmvolle Haupt der gesegneten Jungfrau aufbewahrt wird, dorthin“ (Übersetzung Helge Baumann). Mehr zu Conques und dieser Quelle s. unten S. 211–227. Ein ähnlicher Umgang ist zum Beispiel für Soest überliefert, wo die Figur der Maria aus der Kirche Unserer Lieben Frau zur Wiese (14. Jahrhundert) mitgeführt wurde: Tripps 1998, S. 99. 782 Bandmann 1951, S. 90. 783 Gardner 1987, S. 200. 784 Für die Stadttore von Florenz und Siena aus dem 13. und 14. Jahrhundert s. Ratté 1999, S. 142–146. 785 Zur Torhut: Carlen 1994, S. 125. 786 Ratté 1999, S. 145. 787 Carlen 1994, S. 124: In Lausanne war das z. B. 1234 der Bischof.

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war und erst nach dem Singen der Antiphon „Hosianna ...“ geöffnet wurde. Danach zog die Prozession zum Portal der Kathedrale, wo der Diakon von der Galerie der Westfassade die Passion sang.788 Ähnliche Prozessionsabläufe mit einer Einbindung des Stadttors sind für Troyes und Chartres aus dem frühen 15. Jahrhundert überliefert.789 Auch spätmittelalterliche Herrschereinzüge in Städte des Reiches machten an verschiedene Grenzen bzw. Schwellen außerhalb und innerhalb der Stadt Halt: an der Territoriumsgrenze der Stadt, am Stadttor und am Eingang zur Hauptkirche.790 In diesen liturgischen und zeremoniellen Ritualen scheint die Stadt als Konglomerat von Bereichen mit unterschiedlichen Wertigkeiten. Im Rechtsbrauch791 kann diese Wertigkeit in Zahlen übersetzt werden, wie das Beispiel Hexham zeigt. Die 1154 von Abt Richard verfasste Geschichte Hexhams unterscheidet sechs Schutzzonen, innerhalb derer ein Rechtsbruch mit unterschiedlichen Bußen belegt wurde. Während ein erster Schutzraum bereits außerhalb der Stadt begann, nämlich bei den vier an den Wegen in die Stadt aufgestellten Steinkreuzen, innerhalb dessen ein Rechtsbruch mit 6 Pfund Buße belegt wurde, waren es innerhalb der Stadt 12 Pfund, innerhalb der Klostermauern 48 Pfund, in der Kirche 96 Pfund und in den Chorschranken 144 Pfund. In der Kathedra des Hl. Wilfried war ein Rechtsbruch so furchtbar, dass eine Buße nach Abt Richard quantitativ nicht ermessen werden konnte.792 In Hexham und auch im Münster von Beverley haben sich außerdem sogenannte „frith-stools“ neben dem Altar erhalten, die Schutzsuchenden vermutlich als Sitzplatz dienten.793 An diesen Abstufungen werden nicht nur die unterschiedlichen Grenzen außerhalb und innerhalb der Stadt deutlich, sondern auch das Kirchengebäude tritt als Ansammlung unterschiedlicher Räume hervor. Das Asylrecht, das es bereits in der Antike gab, wurde für die christliche Kirche zuerst im Konzil von Orange im Jahr 441 festgelegt.794 Die Kirchenräume gewährten Verfolgten oder zu Verurteilenden bis zu 30 Tage Schutz. Es gibt eine Reihe von Praktiken, die sich um diese Regelung herum entwickelten. Wer in die Kirche floh, stand bis zur Verhängung eines Urteils in ihrem Schutz. In der Kirche durfte der Schutzsuchende nicht leiblich gestraft werden.795 Die Ausdehnung des Schutzbereichs war im Mittelalter unterschiedlich groß. Im 12. Konzil von Toledo (681) wurde ein Areal im Umkreis der Kirche von 30 Schritten festgelegt; das Konzil von Clermont (1095) dehnte den Bereich auf die Umgebung von Wegekreuzen aus.796 788 Tripps 1998, S. 90, nach Abbé Pecheur: Les Annales du Diocèse de Soissons, Bd. 2, Soissons 1868, S. 572 f. Das Stadttor wurde nach dieser Funktion benannt: Porte Hozanne. 789 Tripps 1998, S. 90. 790 Schenk 2005, S. 218 f. 791 Zusätzliche Literaturhinweise zur Rolle von Übergängen im Rechtsbrauch des Mittelalters verdanke ich Heiner Lück. 792 Dazu: Hahnloser 1959, S. 139; Cox 1911, S. 153–162. 793 Cox 1911, S. 128 (Beverley) und S. 157–159 (Hexham). 794 Peter Landau: Art. Asylrecht, III. Alte Kirche und Mittelalter, in: TRE, Bd. 4 (1979), S. 319–327, hier S. 322. Zum Asylrecht in Frankreich s. Dierkens 2002, S. 500 mit weiterführender Literatur. Für England, wo das Asylrecht besonders stark geachtet wurde, Cox 1911. 795 Hahnloser 1959, S. 135. 796 Peter Landau: Art. Asylrecht, III. Alte Kirche und Mittelalter, in: TRE, Bd. 4 (1979), S. 319–327, hier S.  323 f.

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Die Tür galt im Rechtsbrauch des Mittelalters als Grenze zwischen Herrschaftsbereichen in Dörfern und Gemeinden, aber auch als „Grenze für den Hausfriedensbereich“.797 Das Eindringen in das Haus oder auch die Beschädigung von Tür oder Türpfosten waren strafbar.798 Eine besondere Rolle spielte jedoch der Türring, der nicht vorrangig dem Öffnen und Schließen der Tür diente. Nichtsdestotrotz spielte die Taktilität799 bei den mit ihm verbundenen rechtsrelevanten Gesten eine große Rolle: Das „Ergreifen des Türrings [wurde] [...] in dreierlei Weise das Zeichen einer Rechtshandlung [...]. Das Anfassen gehörte zunächst zur Schwurgebärde; es diente ferner als Symbol für die Besitzergreifung eines Hauses; endlich galt es [...] als Bestätigung der Asylnahme“.800 Ursula Mende vermutet, dass auch die von ihr untersuchten figürlich gestalteten Türzieher diesen Handlungen dienten.801 Türringe hatten im Mittelalter meistens die Form eines Löwenkopfes – die rechtliche Bedeutung der Geste werde durch die richterliche und strafende Funktion des Löwen im Mittelalter unterstrichen: „Der dem Türzieher zugrunde liegende christliche Gehalt und die für die Justiz beziehungsvolle Löwenkopfform müssen [...] als ganz wesentliche Elemente angesehen werden“.802 Zur Funktion des Portals als Ort rechtskräftiger Handlungen gehört erstens nach Hahnloser dessen Verwendung als Schwurstätte.803 In den Dokumenten des cluniazensischen Priorats von Rüeggisberg in der Schweiz wird beispielsweise berichtet, dass 1387 der Berner Kastvogt Petermann von Krauchthal einen Eid schwor, die Kirche und alle Leute der Vogtei zu schützen, wobei „er den Ring, der an der Kirchtür zu Rüeggisberg hing, in seine linke Hand nahm und mit seiner rechten Hand den vorgeschriebenen, nachzusprechenden Eid schwur“.804 Die gleiche Geste ist zweitens im Kontext der traditio per anulum zu sehen, der Besitznahme eines Hauses. Dieser Brauch ist in England vor 1268 und in Deutschland um die Wende zum 14. Jahrhundert belegt.805 Hahnloser zitiert aus Grimms „Deutschen Rechtsalterthuemern“: „eines hauses besitz wurde angetreten indem er, der erwerbende, in die thür eingieng, seinen rechten Fuß auf die thürschwelle setzte, oder mit der rechten hand thürpfosten oder thürring oder thürangel faßte, oder auch bloß die thür auf und zu tat“.806 Den 797 Carlen 1994, S. 116: mit einem Beispiel aus dem Münchner Stadtrecht von 1365. 798 Carlen 1994, S. 126, nennt Beispiele aus Regensburg (1331), Rheinfeld (1219) und der Schweiz. 799 Mediengeschichtlich hat der Türring dabei einen anderen Status als die Türklinke (ab 19. Jahrhundert), die als „anthropomorphisierendes Interface zwischen Benutzer und Gegenstand“ bezeichnet worden ist: Siegert 2010, S. 167. 800 Hahnloser 1959, S. 129. 801 Mende 1981, S. 161–167 (Abschnitt 5. „Rechtsfunktionen des Türringes“). 802 Mende 1981, S. 163. Bereits aus der Antike sind Türzieher in der Form eines Löwenkopfes bekannt. Der früheste Fund eines Löwenkopf-Türziehers stammt aus Olynth (ca. 450–400 v. Chr.): Wedeniwski 2006, S. 252. 803 Nach einer Quelle aus dem Jahr 1260 fungierte das Südportal des Straßburger Münsters als Schwurstätte: Erler 1954, S. 24. 1348 huldigt Bischof Berthold Kaiser Karl IV. vor dem Südportal: ebd. S.  26 f. 804 Hahnloser 1959, S. 127. Weitere Beispiele bei Carlen 1994, S. 122. 805 Hahnloser 1959, S. 131–135 mit den Urkunden 4a–5. 806 Hahnloser 1959, S. 131, nach: Jacob Grimm: Deutsche Rechtsalterthümer, 4. Aufl. 1899, S. 240. S. auch Carlen 1994, S. 119 f.

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Brauch belegen Bilder aus Rechtshandschriften des 14. und 15. Jahrhunderts, welche die Übergabe eines Hauses oder die rechtliche Einweisung durch einen Richter oder Vogt zeigen.807 So ist zum Beispiel denkbar, dass die Geste Enrico Scrovegnis, mit der er sich als Stifter in der Arenakapelle in Padua (1303–1307) darstellen lässt, sich auf diese Bedeutung zurückführen lässt: Scrovegni legt seinen Daumen auf die Türschwelle des Kapellenmodells, das er, unterstützt von einem Mönch, drei Heiligen überreicht (Abb. 80). Drittens steht das Anfassen des Türrings, wie bereits angedeutet, im Kontext des Kirchen­ asyls. Diese Funktion erwähnt zum Beispiel der „Schwabenspiegel“, dessen erste Version um 1215 verfasst wurde: „und geschieht es, daß ein Mensch in die Kirche nicht kommen kann, und greift er den Ring an der Kirchtür an, so soll er einen so guten Frieden haben wie in der Kirche. Wer ihm dabei ein Leid antut, der muß die Buße erleiden als ob er ihn aus der Kirche genommen hätte“.808 Regelungen, die dem „Schwabenspiegel“ ähneln, gab es in Deutschland spätestens seit dem 9. Jahrhundert.809 Für den Türklopfer der Kathedrale in Durham beispielsweise ist überliefert, dass er für die Inanspruchnahme des Asylrechtes eingesetzt wurde. Die 1593 zusammengestellten „Rites of Durham“ erwähnen die Verwendung des Löwenkopftürziehers durch Schutzsuchende und zwei Zimmer über der Tür, in denen Wachen lagen für den Fall, dass jemand in der Nacht um Einlass bat.810 Dennoch ist die genaue Bedeutung der Geste, den Türring zu ergreifen, schwer zu bestimmen. In vielen Fällen befand sich der Asylsuchende an der Tür bereits innerhalb der Schutzzone, so dass die Geste vermutlich eher symbolischen Charakter hatte.811 In mittelalterlichen Bildern wird sie häufig dargestellt, vor allem im Themenumfeld des Jüngsten Gerichts (vgl. Abb. 35, Abb. 90, Abb. 94). An der Galluspforte des Baseler Münsters etwa (Ende 12. Jahrhundert) greift die vorderste der Törichten Jungfrauen an den Türring (Abb. 90). Doch im Gegensatz zu den Klugen Jungfrauen öffnet sich die Tür für die Törichten nicht. Dass die Geste nicht ‚funktioniert‘, verdeutlicht, dass sie für die Törichten Jungfrauen zu spät kommt. Die Relevanz für Betrachter und Türbenutzer wird dadurch erhöht, dass die Szene selbst über einer Tür dargestellt ist: Sie können die reale Tür vor ihnen mit der Tür im Bild in Verbindung bringen. An dieser Stelle wird deutlich, dass die hier zusammengetragenen Funktionen, Handlungen und Gesten wichtige Kontexte für die Analyse von Schwellen in Bildern und von Bildern an Schwellen liefern. Als Ort des Rechts ist das Kirchenportal auch in anderer Hinsicht überliefert.812 Vor allem die rechtliche Funktion der sogenannten „roten Türen“ ist in Quellen seit dem 12. Jahr807 Hahnloser 1959, S. 133 f., Abb. 6–8: Görlitzer Sachsenspiegel, 1386; Hamburger Stadtrecht von 1497. 808 Hahnloser 1959, Urkunde 6, S. 144, Übersetzung S. 136. Einer der im Mittelalter bekanntesten Verstöße gegen das Asylrecht ist die Ermordung Thomas Beckets 1170 in der Kathedrale von Canterbury: dazu D.H. Farmer: Art. Thomas Becket von Canterbury, in: LCI, Bd. 8 (1976), Sp. 484–489. 809 Hahnloser 1959, S. 136. 810 Cox 1911, S. 120–125. 811 Cox nennt für England lediglich zwei Quellen, die speziell das Halten des Türrings im Kontext des Asylrechts erwähnen: Cox 1911, S. 230 f. (London, 1337) u. S. 256 f. (Arundel 1404–1405). 812 Der jüngste Überblick über Kirchen als Rechtsorte bei Heiner Lück: Der Magdeburger Dom als Rechtsort. Eine rechtsarchäologische Annäherung, in: Wolfgang Schenkluhn/Andreas Waschbüsch (Hrsg.): Der Magdeburger Dom im europäischen Kontext (= Beiträge des internationalen wissen-

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hundert belegt.813 Zahlreiche geographisch weit gestreute Quellen belegen darüber hinaus eine Verwendung von Vorhallen oder Kirchenportalen als Gerichtsstätten für das ganze Mittelalter. Immer wieder finden sich in juristischen Quellen Bezeichnungen wie „sub portico“ (Ferrara 1140), „in atrio“ (Regensburg 1183), oder „ante portam“ (Frankfurt 1248). 814 Schon im Alten Testament wird ein Durchgang, nämlich das Stadttor, als Gerichtsstätte verwendet815 – vermutlich ist die mittelalterliche Nutzung von Portalen u. a. darauf zurückzuführen. Aus dem Jahr 813 stammt ein königliches Edikt, das Gerichtsurteile über weltliche Angelegenheiten in Atrien vor dem Hauptportal der Kirche verbietet. 816 Das lässt darauf schließen, dass diese Praxis weit verbreitet war. Trotz immer wieder ausgesprochener Verbote fanden auch in den folgenden Jahrhunderten weiterhin Gerichtssitzungen an Portalen statt. Papst Gregor IX (im Amt 1227–1241) argumentierte in seinen Dekretalen gegen die „absurde“ Praxis, weltliches Gericht über Bluttaten in der Kirche abzuhalten, wo eine Tradition des Schutzes der Verfolgten bestehe.817 Das vielleicht bekannteste Beispiel eines Skulpturenportals, dessen Vorplatz als Gerichtsstätte diente, ist das Südportal des Straßburger Doms, dessen Bildprogramm dementsprechend mit König Salomon im Zentrum auf die Funktion des Orts als Gerichtsstätte rekurriert.818 Diese Entsprechung von ikonographischem Programm und Funktion des Portals lässt sich allerdings nur selten feststellen. Besonders häufig ist das allerdings bei Portalen möglich, an denen König Salomon dargestellt wird – so zum Beispiel auch an der Kathedrale von Léon, wo die Vorhalle inschriftlich als Rechtsstätte bezeichnet ist.819 Viele Portale oder Vorhallen, deren Umgebung als Gerichtsstätte diente, haben dagegen gar kein Bildprogramm, wie das etwa bei den Roten Türen von Frankfurt und Paderborn der Fall ist. Als Ort des Wandels und der Veränderung tauchen Schwellen – ob Brücken, Stadttore oder Kirchenportale – nicht nur im Mittelalter immer wieder als Orte der Verhandlung auf. Verhandelt wurden rechtliche oder soziale Zustände. Eine grundlegende Funktion der Schwelle besteht dabei darin, Sichtbarkeit herzustellen, denn die Kirche ist meist das Zen­ trum der Stadt und das Portal meist das Zentrum der Fassade. Des Weiteren vermag die Nähe zum sakralen Raum dem jeweiligen Akt – also etwa dem Gerichtsurteil – Gewicht zu verleihen. Auch amtliche Maße und wirtschaftliche Regelungen wurden häufig am Portal festge-

schaftlichen Kolloquiums zum 800-jährigen Domjubiläum in Magdeburg vom 1. Bis 4. Okober 2009), Regensburg 2012, S. 297–308, hier bes. S. 300–303. 813 Deimling 1998. Das früheste Beispiel ist St. Viktor in Xanten,s. ebd., S. 500 f. 814 Beispiele aus: Deimling 2004, S. 324. 815 Z. B. Amos 5,15; Ruth 4; 2. Samuel 15,2–6. 816 Deimling 2004, S. 324. 817 Hayes 1999, S. 25. Decretals Lib. III, Tit. XLIX, c. V: „saeculares judicis causas ubi de sanguinis effusione et corporali poena agitur, in ecclesiis vel coemeteriis agitare sub interminatione anathematis prohibemus. Absurdum enim est et crudele, ibi iudicium sanguinis exerceri, ubi est tutela refugii constituta.“ Zitiert nach: Hayes 1999, S. 26, Anm. 59. 818 Zu Straßburg: Erler 1954; Deimling 2004, S. 324. 819 Um 1270; Claussen 1975, S. 17.

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halten und zur Kenntnis gebracht.820 Am Freiburger Münster sind, eingeritzt in die Wände der Turmvorhalle, die Maßangaben für die Größe von Brot und Brötchen aus den Jahren 1270, 1313 und 1320 sowie die Maßangaben für Korn, Holz, Kohle und Ziegel erhalten.821 Neben der Dauerhaftigkeit der Regelung – die Angaben waren wettergeschützt – spielten vermutlich die Sichtbarkeit und die sakrale Assoziation des Ortes eine Rolle für dessen Wahl. Eine weitere wichtige Schwelle der mittelalterlichen Stadt ist die Brücke; sie steht in engem Zusammenhang mit mittelalterlichen Heilsvorstellungen. 822 Wie Stadttore waren Brücken „Einbruchspforte und die gefährdetste Stelle in städt[ischen] Mauergürteln und herrschaftl[ichen] Befestigungsanlagen, mit denen sie eine organische Einheit bildeten“ und erhielten deshalb häufig Wehrtürme und Tore.823 Auf einigen Brücken wurde Gericht gehalten oder die Gerichtsstrafen dort vollzogen.824 Seit der Antike ist die Brücke zudem ein Ort, an dem Verträge abgeschlossen und Verhandlungen geführt wurden: „[I]m Zusammenhang von Vertragsschlüssen und Freundschaftserklärungen, die eine kriegerische oder gespannte Situation beenden sollen, [sind] Treffen von Herrschern und Feldherrn auf Flußinseln, Booten und Brücken nachgewiesen, wobei der Fluß häufig die genaue Grenze zwischen zwei Machtsphären bildete oder für die Verhandlungsdauer repräsentieren mußte“.825 Auch der Charakter der Brücke enthält das ambivalente Moment der Tür oder des Tors; sie kann, ebenso wie ein Tor oder ein Portal, die Situation einer Auseinandersetzung konkretisieren: „Die Brücke übergeht – quasi als gebaute Metapher der Verständigung – die im Fluß aufgehaltene Front, sie spitzt die Dynamik dieser Front jedoch auch zu und schafft einen ‚engen Entscheidungsraum‘ zwischen Verständigung und Aggression. Die Brücke beinhaltet ein Moment der Verunsicherung“.826 Ausdruck dieses krisenhaften Moments ist etwa die Ermordung Johanns von Burgund auf einer Verhandlungsbrücke bei Montereau im Jahr 1419.827 Abgesehen von dieser rechtlichen Bedeutung, hatten Brücken im Mittelalter eine heilsversprechende Dimension und waren oft selbst sakrale Orte. Eine große Anzahl von Testamenten aus dem spätmittelalterlichen England sehen Geld für die Reparatur oder Instandhaltung von Brücken oder Straßen vor; deren Verfasser erachteten dies anscheinend als ebenso heilsversprechend wie etwa die Versorgung der Armen.828 An oder auf vielen mittelal820 Erler 1954, S. 29: Für ihn ist dies „eine Form mittelalterlicher Gesetzesverkündigung“. 821 Deimling 2004, S. 326 f. 822 Zu Funktionen der Brücke im Mittelalter: E. Maschke: Art. Brücke, B. Die Brücke im europäischen Mittelalter, in: LexMA, Bd. 2 (1983), Sp. 724–730, v. a. Sp. 726–730. 823 E. Maschke: Art. Brücke, B. Die Brücke im europäischen Mittelalter, in: LexMA, Bd. 2 (1983), Sp. 724–730, hier Sp. 726; z. B. die 1344 erbaute Brücke zum Castelvecchio in Verona, der Pont Valentré in Cahors oder die Steinerne Brücke in Regensburg. 824 In Dresden und Würzburg wurde auf der Brücke Gericht abgehalten; in Prag, Basel und Regensburg wurden Verurteilte in den Fluss geworfen: E. Maschke: Art. Brücke, B. Die Brücke im europäischen Mittelalter, in: LexMA, Bd. 2 (1983), Sp. 724–730, hier Sp. 727. 825 Rahn 1997, S. 188. 826 Rahn 1997, S. 189 (seine Hervorhebung). 827 E. Maschke: Art. Brücke, B. Die Brücke im europäischen Mittelalter, in: LexMA, Bd. 2 (1983), Sp. 724–730, hier Sp. 727. S. auch Rahn 1997, S. 189. 828 Duffy 1992, S. 367: „This linking of ‚almoes dedes to poore people and amending of foule ways‘ to secure prayers was very common, and is perhaps puzzling for a twentieth-century mind, for whom

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terlichen Brücken befanden sich Kapellen, die häufig dem Hl. Nikolaus geweiht waren.829 Die Brücke symbolisierte das christliche Leben als Pilgerschaft – vermutlich galt daher die Finanzierung des Baus oder der Instandhaltung einer Brücke als Beitrag zu einem sicheren Übergang ins Jenseits. Nicht nur die Brücke, auch das Portal wurde als liminaler Ort mit den wichtigsten ,rites de passage‘ in Verbindung gebracht: Geburt, Taufe, Hochzeit und Tod. Am Portal wurde die Mutter nach der Geburt eines Kindes wieder in der Kirche empfangen.830 Der Taufstein befand sich meistens gleich hinter dem Eingang im westlichen Teil der Kirche im Hauptschiff oder in den Turmuntergeschossen. Selten fand er sich in der Vorhalle.831 Auch als Ort privilegierter Bestattung ist der Eingangsbereich der Kirche überliefert.832 In der Forschung wird vermutet, dass auch dieser Brauch mit der Jenseitshoffnung zusammenhing: „l’inhumation in porticu ou ante limina se comprend généralement comme une métaphore de l’âme attendant d’être admise au Paradis (paradisus/parvis)“.833 Mit Hochzeiten in Verbindung gebracht wurde die Vorhalle besonders in Nordfrankreich und England  – ab dem 11. Jahrhundert verbreitete sich der Brauch, am Portal die Trauung zu vollziehen.834 Überliefert ist häufig die Bezeichnung „Brauttüre“ für ein Portal, etwa für St. Lorenz und St. Sebald in Nürnberg, für Rothenburg o.d.T., für die Obere Pfarrkirche in Bamberg und für die Portale der Dome zu Braunschweig und Mainz.835 Für notarielle Handlungen wurden im spätmittelalterlichen Italien auch Vorhallen oder Portiken nicht-sakraler Gebäude genutzt.836 Charles Burroughs sieht als ausschlaggebend für die Verwendung von Vorhallen als Ort der Trauung deren Sichtbarkeit an: „These intermediate spaces diagrammed, therefore, the network of legally constituted alliances that both manifested and guaranteed a family’s place within the city’s elite, and formed a highly charged and visible setting for the marriage ritual“.837 Heilsgeschichtliches Vorbild war die Hochzeit von Maria und Joseph; an die Stelle der Vorhalle des salomonischen Tempels trat das jeweilige Kirchenportal.838 Auch spätmittelalterliche Bilder zeigen dementsprechend das Portal als Ort der Eheschließung. In Robert Campins Vermählung Mariens mit Joseph etwa findet die Handlung vor einem mit Skulpturoad-mending is neither a devotional nor a charitable activity“ (Zitat aus dem Testament von Richard Culpepper aus Sussex). 829 Erhalten z. B. Calw, Nagoldbrücke, ca. 1400. Außerdem Avignon und London. E. Maschke: Art. Brücke, B. Die Brücke im europäischen Mittelalter, in: LexMA, Bd. 2 (1983), Sp. 724–730, hier Sp. 729. 830 S. Tripps 1998, S. 58, mit Hinweisen zum Freiburger Münster, zu Schwerin und Biberach. 831 Claussen 1975, S. 12. S. auch Dierkens 2002, S. 496, Anm. 23–25 mit weiterführender Literatur. 832 Claussen 1975, S. 13: dort auch zwei Quellen. Dierkens 2002, S. 498 f. mit weiterführender Literatur und mehreren Beispielen. 833 Dierkens 2002, S. 498 (seine Hervorhebungen). 834 Claussen 1975, S. 13. Italienische, englische und deutsche Quellen zum Ablauf der Zeremonie aus dem 12. bis 15. Jahrhundert bei: Tripps 1998, S. 57 f. 835 Claussen 1975, S. 13; Deimling 2004, S. 326. Zur Thematik s. auch Friedrich Zoepfl: Art. Brauttüre, in: RDK, Bd. 2 (1983), Sp. 1134–1137. 836 Burroughs 2000, S. 64–100. 837 Burroughs 2000, S. 69. 838 1 Könige 6,3: „et porticus erat ante templum“. S. Tripps 1998, S. 57.

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ren besetzten Kirchenportal statt.839 Ebenso wie für Gerichtsportale lassen sich über die bildliche Ausstattung von ,Brauttüren‘ keine allgemeingültigen Aussagen treffen. Manchmal sind die Portale gar nicht mit Skulpturen oder Malerei versehen, manchmal befinden sich an ihnen Bilder, die sich gut mit dem Thema der Hochzeit vereinbaren lassen – so etwa das Gleichnis der Klugen und Törichten Jungfrauen an der Oberen Pfarrkirche in Bamberg und St. Sebald in Nürnberg. Wie bereits im Zusammenhang mit Stadttoren erwähnt, waren auch Kirchenportale und Vorhallen wichtige Stationen einer Prozession.840 Hier war meist die letzte Station, bevor man zur Messe in die Kirche ging. Die Teilnehmenden erhielten dabei oft die Möglichkeit, näher an die mitgeführten Reliquien heranzukommen. Am Bamberger Dom ist die Gnadenpforte in einem Ordinarius aus dem 15./16. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Prozession am ersten Tag der Bittwoche genannt: Der Zug ging unter den in oder vor der Tür auf einer Trage aufgestellten Reliquien hindurch.841 An bestimmten Festtagen konnte das Portal besonders gut in den Nachvollzug der Heilsgeschichte eingearbeitet werden. So symbolisierte das Kirchenportal zum Beispiel bei der Palmsonntagsprozession das Stadttor von Jerusalem.842 Die liturgische Gleichsetzung des Portals mit dem Eingang des Himmlischen Jerusalem ist im Kirchweihritus verankert, wo der Eingang der Kirche als Stadttor der heiligen Stadt bezeichnet wird.843 Seit dem frühen 14. Jahrhundert ist die Verwendung von Vorhallenaltanen und Portal­ galerien zum Zeigen von Reliquien überliefert.844 Die ersten sogenannten Heiltumsweisungen fanden in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Aachen statt.845 Dabei wurden Reliquien bzw. Reliquiare in einem sehr detailliert überlieferten Ablauf vorgezeigt und erläutert. In der Nürnberger Liebfrauenkirche bewahrte man bereits die Reliquien selbst in Räumen des Obergeschosses über dem Portal auf.846 Bei den Heiltumsweisungen tritt erneut die oben erwähnte Funktion der Schwellen zur Sichtbarmachung hervor. Die Vorhalle konnte ebenfalls zu einem selbständigen liturgischen Zentrum werden. Quellen belegen das Vorhandensein eines Altars in der Vorhalle.847 Noch häufiger allerdings besaßen Räume über der Vorhalle oder im Turm einen Altar. Seit dem frühen Mittelalter gab es hier dem Erzengel Michael geweihte Kapellen, deren erhöhte Position seiner Rolle als 839 Um 1420. Madrid, Museo del Prado (Inv. Nr. P01887), 77 x 88 cm. Abbildung bei Deimling 2004, S. 326. Als Beispiel s. auch die Eheschließung im Bas-de-page der Très Belles Heures de Notre-Dame von Jean de France Duc de Berry (Paris, Bibliothèque Nationale, Ms Nouv. acq. lat. 3093, p. 176). 840 Claussen 1975, S. 9–11. Mehrere Beispiele im Kontext unterschiedlicher Prozessionen bei: Tripps 1998. 841 Kroos 1976, S. 112. Sie verweist auch auf frühere Quellen, die ähnliche Praktiken in Trier und Marseille bezeugen: S. 112, Anm. 57. 842 Claussen 1975, S. 9. 843 Bandmann 1951, S. 94. Zum Kirchweihritus s. auch ausführlich unten S. 352 f. und Neuheuser 1993 sowie Neuheuser 2005. 844 Claussen 1975, S. 10. 845 Kühne 2000, S. 160. 846 Claussen 1975, S. 10. 847 Z. B. Marienaltar in der Vorkirche von Durham: Claussen 1975, S. 7; Altarweihe in der Vorhalle der Zisterzienserabtei von Villers (1254): Claussen 1975, S. 9.

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Geleiter verstorbener Seelen zum Himmel architektonisch Ausdruck verlieh.848 Abgesehen davon finden sich im Mittelalter häufig ungewöhnliche architektonische Situationen im Umfeld des Kircheneingangs, so zum Beispiel Kapellenanbauten an Vorhallen wie in St. Gereon in Köln849 oder die dem Apostel Paulus und dem Hl. Florian geweihte Bischofs­ kapelle mit eigener Apsis über der Vorhalle des Doms zu Gurk. Eine auf die Antike zurückgehende Praxis der Vorhallennutzung ist auch im Mittelalter verbreitet: die Vorhalle als Ort der Büßer. Schon „[i]n frühchristlicher Zeit war der Platz der Büßer und Katechumenen [...] im Atrium oder in der Vorhalle“.850 Die Vorhalle wird zur Kollektivbuße genutzt, bei der die Gläubigen am Aschermittwoch barfuß aus der Kirche getrieben werden und am Gründonnerstag der Rekonziliationsritus stattfindet, bei dem der Bischof sie wieder in die Kirche einholt. Der Ablauf ist unter anderem bei Regino von Prüm (ca. 840–915) überliefert.851 Ein ungewöhnlich gut dokumentiertes, spätmittelalterliches Beispiel stammt aus Halberstadt: Eine Ablaßurkunde von 1391 belegt das sogenannte Adam­ austreiben, bei dem ein Mann stellvertretend für alle Büßer am Aschermittwoch aus dem Dom getrieben wird.852 Auch in einem rechtlichen Zusammenhang konnte das Portal Ort der Buße sein, wie ein Vorfall vom 18. Juni 1209 zeigt: Weil er einen Mord begangen hatte, musste Herzog Raymond VI. in Saint-Gilles du Gard nackt durch die Stadt zum Kirchenportal laufen.853 Zusammenfassend lässt sich zunächst feststellen, dass die Funktionen von Schwellen im Mittelalter die oben benannten ‚Koordinaten der Schwelle‘ bekräftigen. Im Kirchenasyl ist der Bereich um die Kirche oder die Kirchentür eine Schutz verheißende Schwelle; ebenso knüpfen die liturgischen Präfigurationen des Himmlischen Jerusalem in der Palmsonntagsprozession an den Verheißungscharakter der Schwelle an. Der Übergang in neue Abschnitte eines christlichen Lebens (Taufe, Hochzeit und Tod) findet am Portal seine real-räumliche Entsprechung, so dass es also auch ein Ort der Verwandlungen ist. Der Übergang von einem Status in den anderen wird durch das Portal oder den Eingangsbereich der Kirche begleitet und die beiden Übergänge – ein symbolischer und ein physischer – werden im Ritual mit­ einander verknüpft.854 Auf Brücken, in Vorhallen und an Portalen treffen Standpunkte aufeinander; zugleich sind sie Schauplatz deren Verhandlung: Hier zeigt sich die Ambivalenz bzw. Janusköpfigkeit von Schwellen. Darüber hinaus sind zwei allgemeinere Grundfunktionen der Schwelle hervorzuheben, die in den beschriebenen Handlungskontexten immer wieder auffallen:

848 So z. B. in Fulda, Wien, Bamberg, Eichstätt: Annemarie Brückner: Art. Michaelsverehrung, in: TRE, Bd. 22 (1992), S. 717–724. Für Michaelskapellen (z. B. Tournus, Vézelay, Cluny III, Montréal) s. auch Claussen 1975, S. 8 f. 849 Claussen 1975, S. 10. 850 Claussen 1975, S. 11; s. auch Reinhard Messner: Art. Bußriten, in: LThK, 2 (1994), Sp. 840–846. Zur Bußliturgie ausführlich unten 7.1. 851 S. die Beschreibungen bei: Vogel 1966 u. Claussen 1975, S. 11. 852 Claussen 1975, S. 12; Kotte 1994. Zu Halberstadt ausführlich unten S. 355 f. 853 Deimling 2004, S. 324. 854 So bereits, wie oben (S. 30) zitiert, van Gennep 1986, S. 184.

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Erstens ist die Schwelle ein Ort erhöhter Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit. Besonders deutlich wird das in der Funktion des Kircheneingangs als Ort von Gerichtsverhandlungen und bestimmten Rechtsbräuchen, in der Gerüstfunktion bei der Heiltumsweisung und in der Funktion als Station bei Prozessionen. Als Ort der Sichtbarmachung dient die Schwelle auch beim Abschluss von Verträgen, zum Beispiel der Eheschließung. Zweitens wird an Schwellen Bewegung kontrolliert, strukturiert und gegliedert. An Stadttoren waren zur Regelung der Ein- und Ausreise multiple Türen angebracht; Felicity Ratté hat rekonstruiert, wie viele Wächter an den toskanischen Stadttoren beschäftigt waren.855 Prozessionen machten an Stadttoren und an Kirchenportalen Station. Eine weitere, bisher noch nicht erwähnte Bewegung, bei der Schwellen eine hervorragende Rolle spielten, ist die Pilgerschaft. Die Aufmerksamkeit der Pilger richtet sich besonders auf den Eingang der Zielkirche: „l’usage universal de l’expression ad limina est indicatif: parvenu seulement au seuil, à l’enceinte de la basilique qui contient cet unique objet [= die Reliquie, T.B.], le voyageur est entièrement désaltéré“.856 Im Mittelalter gab es also ein breites Spektrum von alltäglichen und liturgischen Handlungen und Praktiken, die an der Schwelle stattfanden, und auf die beispielsweise die Verwendung eines Türmotivs im Bild hinweisen konnte. Heilsgeschichte, Nutzungspraktiken und Ikonographie sind etwa im bereits erwähnten Fall des Griffs an den Türring stark mit­ einander verwoben: So bitten die Törichten Jungfrauen in der das Jüngste Gericht präfigurierenden Parabel um Einlass, was sich in der Ikonographie häufig als Griff an den Türring einer geschlossenen Tür darstellt.857 Bei mittelalterlichen Betrachtern musste diese Geste wiederum Assoziationen an die Asylnahme und damit an die Kirchentür wecken. Darüber hinaus geben die Funktionskontexte insbesondere von Portalen einen Eindruck von den potenziellen Betrachtungsbedingungen und -kontexten der hier angebrachten Bilder bzw. schärfen die Aufmerksamkeit dafür, welche Kontexte auch in Abwesenheit spezifischer Quellen berücksichtigt werden müssen. In manchen Fällen dürften die Darstellungen sogar Rückschlüsse darüber erlauben, in welcher Weise das Portal tatsächlich genutzt wurde: So befindet sich etwa an der Bildertür von S. Zeno in Verona eine Szene, in der detailliert der Griff an den Türring dargestellt wird; das lässt die Vermutung zu, dass die prominenten Türzieher der Bronzetür in einem (kirchen-) rechtlichen Zusammenhang verwendet wurden.858 Im Folgenden kann nun also der Blick auf konkrete Bilder an den wesentlichen Schwellen des Kirchengebäudes gerichtet werden, nämlich auf die Übergänge zwischen Außen und Innen und auf die Schwelle zum Allerheiligsten im Innenraum. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die Bilder den Schwellenraum kommentieren, d. h. auf welche Art und Weise Gestaltung, Sichtweise oder Motivik der Bilder Aspekte des Schwellenraumes und der dort stattfindenden Handlungen hervorheben. Analysiert werden Korrespondenzen und Inter­ 855 Ratté 1999. 856 Labande 1966, S. 289 (seine Hervorhebungen). Zur Pilgerschaft im Kontext des Portals s. auch die Überlegungen zu Conques, unten S. 226. 857 Z. B. Basel, Münster, Galluspforte (Ende 12. Jahrhundert – s. unten S. 232–237); Egisheim, St. Peter und St. Paul, Westportal (Ende 12. Jahrhundert); Speculum Virginum (Köln, Historisches Archiv, W 276a, fol. 42v); Rothschild Canticles, gegen 1300 (s. Abb. 35). 858 Ausführlich zu Verona s. unten S. 266–269.

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ferenzen zwischen Bildstrukturen und dem räumlichen Gefüge, in dem sich die Schwelle befindet und das sie mit konstituiert. Vor allem ist danach zu fragen, wie sich die Voraussetzungen für eine Untersuchung der narrativen und wahrnehmungslenkenden Funktionen von Schwellenmotiven verändern, wenn sich das untersuchte Bild an einer realen räumlichen Schwelle befindet. Überlegungen zu ähnlichen Doppelungen von Schwellen als Bildmotiv und -ort sind bereits angestellt worden. Während der Schwerpunkt bisher auf der Motivik der Bilder, d. h. auf ikonographischen und strukturellen Fragen lag, kommt im Folgenden eine ‚verortende‘ Perspektive hinzu, die verstärkt berücksichtigt, wo sich die Bilder befinden und was die räumlichen Voraussetzungen für ihre Wahrnehmung sind.

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6 Das Bild an der Schwelle

Mit einem auf die quantitative Verteilung von Bildern gerichteten Blick stellt man fest, dass die Zonen des Übergangs am mittelalterlichen Kirchengebäude in besonderem Maße Bilder anziehen. Das gilt nicht nur für das Äußere des Kirchengebäudes, sondern ebenso für dessen Inneres. Zudem werden nicht nur Primaröffnungen wie Fenster und Türen zu Bildträgern aus Stein, Holz, Metall oder Glas, sondern auch kleinere Öffnungen: So werden in spätmittelalterlichen Kirchen des heutigen Dänemark etwa Lüftungslöcher oder Löcher, durch die das Seil der Messglocke läuft, im Inneren der Kirche mit anthropomorphen Darstellungen versehen, die das Loch zum Beispiel als Mund verwenden.859 In liturgischem Zusammenhang steht die Bebilderung spätmittelalterlicher „Himmellöcher“ mit Engeln, durch die man am Tag der Himmelfahrt Christi eine Christusfigur hochzieht.860 Die beiden unterschiedlichen Beispiele illustrieren eine den Öffnungen im Kirchenbau zugrunde liegende Ambivalenz: Sie sind zum einen gefährlicher Einlass für Bedrohliches oder Dämonisches und gleichzeitig Anknüpfungspunkt an das Jenseits; zum anderen beruht ihre Existenz sowohl auf alltäglichen Notwendigkeiten wie der Belüftung als auch auf liturgischer Nutzung. Kirchengebäude stellen keine homogenen Räume dar. Schon die West-Ost-Ausrichtung der Architektur hängt mit einer bestimmten Wertung zusammen. In Anknüpfung an den Sonnenkult der Spätantike ist der Osten als Richtung, aus der die Sonne aufgeht, auch die Richtung, aus der Christus erscheint. Komplementär dazu ist der Westen der Ort der Dunkelheit und des Todes.861 Diese Polarität schlägt sich in den Verortungen konkreter Hand­ lungen nieder, die in der Kirche stattfinden: Die Taufe, der Eintritt in die Gemeinschaft der Gläubigen und Reinigungsritus, findet in der Nähe des architektonischen Eingangs im ­Westen statt; der Hauptaltar als liturgisches Zentrum und Verbindung zum Himmel in ­biblischer Tradition steht im Osten. Entsprechend unterteilen mittelalterliche Autoren den Kirchenraum. Nach Wilhelm Durandus hat der Innenraum drei Teile: Die Apsis ist heiliger als der Chor, der Chor wiederum heiliger als das Kirchenschiff.862 Metaphorisierungen des Kirchenbaus durch mittelalterliche Autoren unterstreichen diese Gliederung. Zum Beispiel 859 Kröll/Steger 1994, Abb. 13–16, 145, 151–154 für Lüftungslöcher; Abb. 138 u. 165 für Löcher, durch die das Glockenseil lief. 860 Dazu Krause 1987. 861 Vgl. Baschet 1990, S. 552. 862 Durandus Rationale Divinorum Officiorum, I, i, 14 ff. nach Faupel-Drevs 2000, S. 230 ff.

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parallelisiert Adamus Scotus, der Abt von Dryburgh, in seinem 1179/1180 geschriebenen De tripartito tabernacula die Apsis mit dem Kopf Christi und dem Himmel und das Langhaus mit der Menschlichkeit und der Passion.863 Sicard von Cremona vergleicht die Länge des Kirchenschiffes mit der Geduld, die die Menschen üben müssen, bevor sie in das Himmelreich gelangen.864 Die architektonischen Pole Apsis und Langhaus finden ihre liturgische Entsprechung im Eingang und im Altar. So erscheint in der Kirchweihliturgie der Altar selbst als Schwelle: In Anlehnung an die biblische Grundlage des Jakobstraumes bildet der Altar als porta caeli (Gen 28,17) einen Kontakt zu Gott. Es stellt sich die Frage, ob sich die unterschiedliche liturgische Wertigkeit der Bereiche des Kirchenraums auch in deren Bebilderung niederschlägt. Baschet meint, eine solche Tendenz feststellen zu können: „si le revers est le lieu d’une thématique conflictuelle, l’abside est celui de la paix et de l’accomplissement. A la façade: un heurt, une tension entre l’humain et le divin; à l’abside: une fusion entre l’ici-bas et l’au-delà“.865 Die Spannung zwischen Menschlichem und Göttlichem zeige sich nach Baschet in der häufigen Anbringung des Jüngsten Gerichts an der inneren Westwand und am Portal, während die glorreiche Erscheinung Christi, die Maiestas Domini, in der Apsis die Verbindung zum Jenseits betone. Die zahlreichen Ausnahmen dieser thematischen Schwerpunkte deuten jedoch an, dass zwischen Bildern und liturgischer Nutzung bestimmter Bereiche kein eindeutiges Abhängigkeitsverhältnis feststellbar ist. 866 So kommt Johannes Tripps zu dem Schluss: „Liturgie und Kirchengebäude gehen keine wechselseitige Beziehung in dem Sinne ein, daß zum Beispiel aus einem Bildprogramm oder aus der Lage eines Portals auf die dort abgehaltenen Zeremonien geschlossen werden könnte“.867 Da die Übergänge, deren Bildprogramme im Folgenden untersucht werden, als Schwellen thematisiert werden, ist allerdings immer wieder nach ihrem religionsphänomenologischen Status und den daraus hervorgehenden liturgischen Funktionen zu fragen. In erster Linie geht es um die Bilder: Welche Funktionen haben Bilder an den bestimmten Schwellen? Stellen sie die Überquerung der Schwelle in einen bestimmten Erfahrungshorizont? Durch welche Gestaltungsweisen nehmen Bildkünstler Bezug auf den Ort und die Wahrnehmungsbedingungen der hier präsentierten Bilder?

863 Dazu Dale 2004, S. 9–11; Carruthers 1998, S. 246‒250. 864 Mitrale de officiis ecclesiasticis summa, in: PL 213, Sp. 9–436, hier Sp. 20: „longitudo ejus longanimitas est quae patienter adversa tolerat, donec ad patriam perveniat“. Vgl. ebenso Durandus, Rationale Divinorum Officiorum, I, i, 15, s. Faupel-Drevs 2000, S. 224. 865 Baschet 1990, S. 553. Vgl. auch Rohlmann 2004, S. 54: „Die Apsisdekoration überhöht das Meßgeschehen am Hochaltar, die Dekoration der Fassadenwand entläßt die Besucher mahnend oder bestärkend aus der liturgischen Feier und dem Kirchengebäude“. 866 So z. B. die Darstellungen des Jüngsten Gerichts in der Apsis oder am Triumphbogen vor allem in Italien und England, aber auch die Darstellung des Weltgerichts an der Chorschranke oder am Letter (s. 6.2.1). 867 Tripps 1998, S. 63. Die Forschungslage zur Beeinflussung der Bilder durch die Liturgie ist auch eher dürftig, wie Meckseper feststellt: Meckseper 2002, S. 257.

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208  Das Bild an der Schwelle

6.1 Das Bild am Kirchenbau Bilder am Außenbau vieler mittelalterlicher Kirchen beschränken sich nicht auf den Türbereich, sondern erstrecken sich über die gesamte Fassadenwand. Im Grunde genommen müsste eine Untersuchung der Schwellen am Kirchenbau mit der Fassade beginnen. Als Abschluss eines Platzes bildet diese nicht nur den vorbereitenden Übergang in die Kirche, sondern auch ein ‚Interface‘ zwischen städtischem und kirchlichem Raum. Sie ist „Mittlerin zwischen Innen- und Außenbau und zwischen Bau und Umgebung des Baus“.868 Schwellencharakter hat die Fassade dadurch, dass sie „eine raumhaltige Zone eigener Zuständigkeit ausbildet“.869 Da die zentrale Konstellation meiner Studie aber das Interagieren von Betrachter mit Bild und Schwelle ist, und hier der Aspekt des Raums eine besondere Rolle spielt, werden diejenigen Schwellen als Untersuchungsgegenstand gewählt, an denen der Betrachter in eine direkte räumliche Nähe zu Bild und Schwelle gerät, nämlich Portale und Bildertüren. Bildprogramme an Fassaden bringen meist das Problem der visuellen Erfassbarkeit mit sich. Portal und Bildertür dagegen sind Elemente, mit denen der Betrachter eher in Berührung treten kann bzw. deren Bilder sich aus seiner Position als Überschreitender gut erkennbar sind. Darüber hinaus lassen sich zum Beispiel an Portalen Momente der Gestaltung analysieren, die nicht auf einen Überblick des Gesamtprogramms aus der Ferne abzielen, wie dies bei der Fassade ja meist der Fall ist, deren Betrachtungsmodus vor allem die Übersicht ist, sondern bei denen sich dem Betrachter auch Einblicke, Unterblicke oder bestimmte Ansichtigkeiten der Skulptur aus größerer Nähe ergeben. Die Innenseite der Fassade, die etwa in den großen Westwandfresken Italiens mit Bildern versehen wird, lenkt den Blick auf die Zweiseitigkeit des Übergangs zwischen Kirchenraum und alltäglichem Raum bzw. auf die Funktion der Bilder, die den Betrachter nicht nur in die Kirche leiten, sondern ihn auch auf seinem Weg aus der Kirche heraus begleiten. Bereits in der frühchristlichen Kunst werden Portale und Türen mit Inschriften und symbolischen sowie narrativen Bildern versehen. Ein Beispiel hierfür sind etwa die schriftlich überlieferten, von Paulinus von Nola verfassten Inschriften der Basilika von Nola aus dem 5. Jahrhundert. Eine legt den Eintretenden die Reinigung von der Sünde nahe: „Pax tibi sit quicunque Dei penetralia Christi pectore pacifico candidus ingrederis“.870 Die frühesten erhaltenen bebilderten Türflügel sind die aus Santa Sabina in Rom (5. Jahrhundert). Im 11. Jahrhundert werden dann vor allem im heutigen Frankreich der Türsturz und generell der Bereich über der Tür mit Bildern versehen. Die an diesen Stellen angebrachte Portal­ skulptur besteht meistens aus einem Kreuz oder einem Bild des Lammes.871 Vor der Mitte des 11. Jahrhunderts entstanden aber auch schon die mehrfigurigen Türstürze von SaintGenis-des-Fontaines und St-André-de-Sorède: Das Relief der ehemaligen Abteikirche Saint868 Kemp 2001, S. 3. 869 Ebd. 870 „Wer immer du bist – Friede sei mit dir, der du das Heiligtum Gottes und Christi mit friedlichem Herzen lauter betrittst“ (Deutsche Übersetzung: Helge Baumann). S. auch Sauerländer 1992, S. 19; Kendall 1998, S. 40 f. 871 Z. B. der Türsturz der Kirche von Mutzig mit Lamm und Kreuz, heute im Musée de l’Œuvre-NotreDame in Straßburg.

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Genis-des-Fontaines (1019–1020) zeigt in der Mitte Christus mit Segensgestus und Buch in einer von Engeln gehaltenen Mandorla, von sechs zwischen Säulen stehenden Figuren flankiert, vermutlich Apostel.872 Aus etwa der gleichen Zeit stammt auch die älteste mittelalterliche Tür mit plastischem Bilderzyklus, die Bronzetür von Hildesheim (1015). Auffällig ist also, dass es anscheinend zur gleichen Zeit in Europa das Bedürfnis gegeben hat, zwei materiell unterschiedliche Stellen der Tür, nämlich die Flügel und den architektonischen Rahmen der Tür, mit Bildern zu versehen. Wenn man vom überlieferten Bestand als akkuratem Indikator ihrer chronologischen Verteilung ausgehen kann, dann verloren Bildertüren allerdings im 13. Jahrhundert an Attraktivität – zu der Zeit, aus der etwa im heutigen Deutschland die meisten Skulpturenportale erhalten sind. Im Folgenden werden Portale und Bildertüren zunächst getrennt voneinander untersucht. Dies geschieht, da sie unterschiedlichen medialen Bedingungen, Wahrnehmungs- und Benutzungsvoraussetzungen unterliegen. Dennoch ist auch anschließend eine integrierende Sichtweise angebracht, da für die übergreifende Fragestellung der Ort – die Schwelle – im Vordergrund steht, und nicht die Gattung und ihre jeweilige Entwicklung oder Ikonographie im Mittelalter.

6.1.1 Portale Die für die Portalforschung seit ihren Anfängen am Ende des 19. Jahrhunderts zentrale Frage ist die nach „der Entstehung des Figurenportales und damit der mittelalterlichen Großplastik überhaupt“.873 Dieses grundsätzliche Thema wurde bislang hauptsächlich in zwei großen und sich überschneidenden Aufgabenfeldern bearbeitet: Erstens erfolgte eine Analyse der formalen, architektonischen und ikonographischen Ursprünge und Entwicklungen des Figurenportales und zweitens die Verortung mittelalterlicher Skulptur in einem kunstgeschichtlichen und architekturgeschichtlichen Rahmen.874 Daraus wird bereits deutlich, dass die Portalforschung einen wesentlichen Teil der Forschung zur mittelalterlichen Skulptur umfasst und somit einen nicht unerheblichen Einfluss auf gattungsspezifische und ästhetische Fragestellungen hat. Aus diesen zwei ineinander übergehenden Aufgabenfeldern haben sich verschiedene Topoi der Portalforschung ergeben, die mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen bearbeitet werden. Erkennen lassen sich diese Schwerpunkte beispielsweise in den Sektionsüberschriften des 1994 erschienen Sammelbandes „Studien zur Geschichte der europäischen Skulptur im 12./13. Jahrhundert“, in dem neben der „Bewertung von Skulptur“ im Mittelalter und der Frage nach „Status, Organisation und Selbstverständnis der Bildhauer“ insbesondere die chronologisch und geographisch gegliederte Entwicklung von Skulptur im

872 S. Rupprecht 1975, Kat. Nr. 8 u. 9, S. 77. 873 Giesau 1950, S. 119. S. dort auch zum älteren Forschungsstand. 874 Dieses Vorgehen betrifft natürlich nur solche Studien, die daran interessiert sind, einen Überblick zu geben. Insbesondere jüngere Publikationen zu einzelnen Portalen setzen stärker funktionshistorische oder sozialgeschichtliche Akzente, so z. B. Grandmontagne 2005. Vgl. dazu unten 7.2.

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Zentrum steht: „Kunstzentren und Stilexpansionen“, „Formgelegenheiten, Epochenschwellen“, „Regionalismen“.875 Wie hier deutlich wird, ist die Skulpturenforschung zu großen Teilen an Fragen der Ikono­graphie und des Stiles interessiert. Die Suche nach stilistischen Zusammenhängen, nach Kunstlandschaften und Werkstattzusammenhängen einzelner Bauhütten ist maßgeblich für die geographische und chronologische Einordnung einzelner Skulpturen und Portale. Von Anfang an steht die Beschäftigung mit mittelalterlichen Portalen damit im Zusammenhang mit der Herausbildung der Stil- und Epochenbegriffe Romanik und Gotik, die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr nur auf die Architektur, sondern auf alle Kunstgattungen bezogen werden. Seit Wilhelm Vöges Studie „Die Anfänge des monumentalen Stiles“ (1894) gilt das Königsportal in Chartres mit seinen Säulenfiguren im Gewände als Beginn der Gotik.876 Einer der wichtigsten Bezugspunkte der mittelalterlichen Stilgeschichte ist das Verhältnis zwischen Skulptur und Architektur. Ein gestalterischer Unterschied zwischen romanischer und gotischer Portalskulptur wird darin gesehen, dass sich die Skulptur zunehmend von ihrer Bindung an die Architektur löst und sich zu einer frei stehenden Plastik entwickelt. Romanische Skulptur, so das Fazit, zeichnet sich durch ihre Bauverbundenheit aus, richtet sich nach den Vorgaben der Architektur und passt sich ihr an.877 Die zwei am meisten beachteten Erklärungsmodelle für die Form des mittelalterlichen Portals mit den im Bogen angeordneten Bildern sind erstens die Entwicklung aus dem antiken Triumphbogen heraus878 und zweitens die Projektion der Apsis des Kircheninneren auf das Portal im auffälligen Bogenrund des Tympanons.879 Rainer Budde sieht in der Kombination beider die formale Genese des Portals: „Die Kontraktion von Triumphbogen und Apsismalerei bildet das Gerüst für das mittelalterliche Portal“.880 Die Herleitung des Portals aus der Apsis hat Kunsthistoriker wie Yves Christe zu einer Untersuchung ikonographischer Kontinuitäten zwischen frühchristlichen Apsisprogrammen und romanischen Portalen bewegt.881 Aus formalarchitektonischer und ikonographischer Sicht der Portalentwicklung mögen solche „Transpositionen“882 zwar einleuchten – für einen Blick, der sich auf die Topologie der Bilder richtet, sind sie allerdings nicht erkenntnisbringend,883 denn sowohl litur875 Beck/Hengevoss-Dürkop 1994. 876 Für Richard Hamann McLean ist aus architektonisch-formaler Sicht ebenfalls Chartres eine Synthese der Fassaden- und Portalgestaltung der Epoche, „qui est la base d’une nouvelle époque de l’histoire de l’art“: Hamann McLean 1959, S. 175. 877 Z. B. Rupprecht 1975, S. 12–14; Kirsch 2006, S. 34 f. S. zur Thematik auch Sauerländer 1992. 878 Claussen 1975. Nach Linda Seidel geht die Portalvorhalle von Moissac auf den Titusbogen in Rom (1. Jahrhundert) zurück: Seidel 1994. Für ein weiteres hier analysiertes Beispiel s. Gramaccini 2002, nach dem die Baseler Galluspforte auf der Porte Noire in Besançon basiert. 879 Christe 1969, S. 11; Droste 1996, S. 161; Kendall 1998, S. 55. 880 Budde 1979, S. 12. 881 Christe 1969, S. 10 f. Ausführlich zur Hierarchisierung frühchristlicher Kirchenräume: Spieser 1995. 882 Christe 1969, S. 11: „le portail, transposition sculptée du programme absidial“. 883 Im Extremfall folgt aus der Konzentration auf die longue dureé der formalen und ikonographischen Entwicklungen sogar der Zweifel an der Funktion des Portals. So kommt Hans Gerhard Evers zu dem Schluss, „daß man das Wesen und die Grund-Benutzung des mittelalterlichen Portals im Hineingehen findet [...] halte ich für einen ganz realen Irrtum“: Evers 1939, S. 174 (seine Hervorhebung).

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gisch als auch aus der Perspektive ihrer Wahrnehmung sind Apsis und Portal zwei sehr unterschiedlich zu wertende Orte. Der hier verfolgte Ansatz, das Portal als Schwelle zu betrachten, knüpft weniger stark an die speziellen Erkenntnisinteressen der Portalforschung an. Das bedingt ein anderes Vorgehen, da weder ein regionales noch ein epochales oder thematisches Konglomerat im Vordergrund steht. Statt dessen will diese Arbeit, ausgehend von Beobachtungen zur bildnerischen Gestaltung der Schwelle, die ich am vielschichtigen Beispiel des Westportals der Abtei Conques-en-Rouergue mache, vergleichend auf weitere Portalsitua­ tionen und -bilder eingehen. Die Auswahl umfasst sowohl intensiv erforschte als auch von der Forschung kaum beachtete Portale aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Anschließend an und ausgehend von einer Analyse des Westportals in Conques wendet sich diese Studie zwei Themen zu: Die Raumstrukturen eschatologischer Bildthemen und ihre Interferenzen mit der Logik des Portals als Schwelle, und die Nutzung der materiellen Tiefendimension des Portals zur Vermittlung von Ambivalenzen im Schwellenraum. Der Begriff der Ambivalenz, der oben bereits als zentraler Aspekt des Konzepts Schwelle erörtert worden ist, kann hier in seiner Vielschichtigkeit – als Doppelseitigkeit des Portals bzw. dessen doppelte Gerichtetheit nach außen und innen, und als Begriff der Mehrdeutigkeit inhaltlicher Aspekte von Portalen – am realen Portal hervortreten.

Conques Conques liegt auf einer der vier Pilgerrouten nach Santiago de Compostela, auf der Via Podensis. Seit dem 9. Jahrhundert werden in der Kirche die Reliquien der Hl. Fides aufbewahrt, einer Märtyrerin, die 303 enthauptet wurde.884 Von einem Mönch aus Conques wurden sie 883 aus dem Kloster in Agen geraubt. Er hatte das Vertrauen der Mönche erlangt und sich, als er das Grab bewachen durfte, der Reliquien bemächtigt.885 Die Gründe für den Raub sind im Zusammenhang mit der Rivalität zum Kloster im benachbarten Figeac zu sehen: König Pippin II. (823–864) wünschte in seinem Todesjahr, dass die Mönche aus Conques nach Figeac umsiedelten; zwischen den zurückgebliebenen Mönchen und Figeac kam es bis zum Konzil von Clermont (1095) zu Streitereien über die Prioritätsfrage.886 Nach der Ankunft der Reliquien und der Anfertigung des Reliquiars wurde Conques zu einem Pilgerziel, so dass sich die Stiftungen an die Abtei vermehrten. Im 12. Jahrhundert verlor Conques dann aber seine Position als eines der Hauptziele für Pilger und wurde stattdessen lediglich eine der Stationen auf dem Weg nach Santiago de Compostela.887 Die historischen Umstände des Kirchenbaus sind deshalb so gut bekannt, weil es für Conques fünf Quellen gibt, die aus der einflussreichsten Zeit der Abtei zwischen dem 10. und der Mitte des 11.Jahrhunderts stammen: die Translatio und die Passio der Hl. Fides aus dem 884 S. Art. Fides, in: LCI, Bd. 6 (1974), Sp. 238–240, hier Sp. 238. S. auch: Bernoulli 1956, S. 16. 885 Fricke 2007, S. 37 f., Anm. 2, fasst die wissenschaftliche Diskussion um die Geschichte des Reliquienraubes zusammen, die in der Translatio beschrieben wird. 886 Bernoulli 1956, S. 15; Fricke 2007, S. 59 f. 887 Sheingorn 1995, S. 12.

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10. Jahrhundert, die Chronik der Abtei (Chronicon monasterii Conchensis, 11. und Mitte 12. Jahrhundert), der sogenannte „Chanson de Sainte Foy“ (1060–1070) und das Liber miraculorum sancte Fidis, dessen ersten beiden Teile zwischen 1013 und 1025 von Bernhard von Angers verfasst wurden.888 In der kunstgeschichtlichen Forschung hat Conques vor allem wegen der Reliquienstatue der Hl. Fides viel Aufmerksamkeit erhalten, die als „verfrühtes Exempel in der Chronologie der Monumentalskulptur“ gilt.889 Die im Liber miraculorum von Bernhard von Angers festgehaltene Beschreibung seiner Betrachtung der Statue ist eine der wichtigsten Quellen für die kunstgeschichtliche Diskussion über die mittelalterliche Wahrnehmung von Skulptur.890 Neben der Reliquienstatue gilt das Tympanon des Westportals als eine weitere Inkunabel der Kunstgeschichte.891 Es befindet sich an der um 1100 fertiggestellten Fassade der romanischen Kirche, die einen Bau aus dem 10. Jahrhundert ersetzte und unter Abt Odolrich (vor 1031–1065) begonnen wurde (Abb. 77). Das über sechs Meter breite Tympanon wird in das zweite Viertel des 12. Jahrhunderts datiert (Abb. 78).892 Dargestellt ist das Jüngste Gericht.893 Durch Bänder mit lateinischen Inschriften wird das Bogenfeld in drei Register aufgeteilt. Im Zentrum des mittleren Registers thront Christus als Weltenrichter in einer Mandorla. Diese ist von vier Engeln umgeben, die Fackeln und Spruchbänder mit den Worten des Richters an die Auserwählten und Verdammten halten.894 Über Christus im oberen Register tragen zwei Engel das Kreuz und die Passionswerkzeuge.895 Seitlich davon sind die Personifikationen von Sonne und Mond zu sehen; in den Zwickeln links und rechts befinden sich Posaunenengel. Zur Linken des Richters sind in einem Rechteck vier Engel mit Rauchfass, Buch, Schwert und Lanze angeordnet. Neben ihnen sind Höllenszenen dargestellt. Zur Rechten Christi steht eine Gruppe von Heiligen, die von Maria angeführt wird. Über ihnen halten Engel Spruchbänder mit den Kardinaltugenden (noch lesbar: „CARITAS“, „VMILITAS“). Im unteren Register befinden sich in der Mitte die Seelenwägung durch den Erzengel Michael und die Trennung Seliger und Verdammter. Die Seligen erhalten links Einlass in den Himmel, in dem sich Heilige unter Arkaden um Abraham gruppieren. Über den Giebelschrägen des Himmlischen Jerusalems kniet links die Hl. Fides vor der Hand Gottes; im rechten Zwickel erheben sich Auferstehende aus ihren Gräbern. In der rechten Hälfte des Registers ist die Hölle dargestellt, unter deren Dach Satan inmitten der Verdammten und Teufel thront. 888 Vgl. Garland 1998, S. 164 zur Chronologie der Quellen; Sheingorn 1995 zur Passio, zum Liber miraculorum und zum Chanson de Sainte Foy (das Originalmanuskript hat keinen Titel und wird daher in der Forschung mit dem französischen bezeichnet). 889 So Beate Fricke in ihrer Studie zur Reliquienstatue: Fricke 2007, S. 39. 890 Dazu: Boerner 2008, S. 36–38. Im Abschnitt „Quellenzeugnisse zur Funktion mittelalterlicher Kunst“. 891 Einschlägige Monographien: Bernoulli 1956; Bousquet 1973; Bonne 1985; Strecke 2002. 892 Datierung nach der letzt berücksichtigten Monographie zu Conques, Strecke 2002, S. 14. 893 Zur Ikonographie: Christe 2001, S. 115–117. 894 „IPATRISMEIP IDETEVO“ bezieht sich auf den Richterspruch aus Mt. 25,34, „venite benedicti patris mei. possidete vobis paratum regnum“. S. Bouché 2006 zu den verkürzten Inschriften des Tympanons, die sie als „mechanism for engaging and guiding viewers“ sieht: ebd., S. 306. 895 Auf dem Kreuzesbalken: „SOL. LANCEA. CLAVIS. LVNA./ HOC SIGNVM CRVCIS ERIT IN CELO CVM”.

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77 Westfassade, Abteikirche Ste-Foy, Conques (Rouergue), 2. Viertel 12. Jahrhundert.

Eine Tür markiert jeweils den Übergang in die Jenseitsorte. Während an der rundbogigen Himmelspforte ein Engel die Seligen empfängt, wird die rechteckige Tür zur Hölle von einem Höllenschlund besetzt, aus dessen Maul die Beine eines Verdammten ragen. In der Geschichte der Weltgerichtsdarstellungen ist das Tympanon von Conques einzigartig. In keinem anderen romanischen Beispiel nimmt die Höllendarstellung einen so großen Raum ein. Erst zwei Jahrhunderte später wird die Hölle wieder so detailliert dargestellt. Einen vergleichbar zentral thronenden Satan gibt es erst erneut in den italienischen Höllendarstellungen des späten 13. Jahrhunderts.896 Ungewöhnlich ist die Darstellung des Weltgerichts aber vor allem wegen der Prominenz von Figuren und Szenen, die nicht zum üblichen ikonographischen Repertoire gehören. Die Forschung hat sich immer wieder bemüht, einzelne Figuren und Szenen auf historische Personen und Ereignisse zurückzuführen. So hat 896 Vgl. Baschet 1993, S. 146; Christe 2001, S. 117.

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78 Jüngstes Gericht, Tympanon des Westportals, Abteikirche Ste-Foy, Conques (Rouergue), 2. Viertel 12. Jahrhundert. Maße des Tympanons 364 x 673 cm.

man im Herrscher an der Hand des Mönches zur Rechten Christi Karl den Großen gesehen, der der Legende nach Beschenker der Abtei war.897 Im vom Pferd stürzenden Ritter in der Hölle – im Mittelalter gewöhnlich ein Motiv, das den Fall der superbia darstellt – wird eine Darstellung der Geschichte Rainons von Aubin vermutet, die im Liber miraculorum erzählt wird.898 Es sind besonders die Berichte aus dieser Quelle, die immer wieder als Vorlage für bestimmte Szenen des Portals gewertet werden, wo sie „wie in einem Bilderbuch sichtbar“ gemacht worden seien.899 Da sich aber keine der zahlreichen Inschriften im Tympanon auf einzelne Figuren bezieht, ist die Identifizierung in den meisten Fällen umstritten.900 897 Das sich im Kirchenschatz befindende Reliquiar in A-Form wurde der Legende nach von Karl dem Großen gestiftet, der nach Bernoulli aber historisch in keiner direkten Beziehung zu Conques stand: Bernoulli 1956, S. 13 f. 898 S. Rupprecht 1975, S. 99; Strecke 2002, S. 69 f. 899 Sauerländer 1980, S. 37. 900 Dazu Garland 1998, S. 168–170.

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Neben den Bändern, die das Tympanon in horizontale Register unterteilen, bestimmt vor allem die senkrechte Mittelachse des Bogenfeldes den visuellen Eindruck des Tympanons. Die Zentralität dieser Achse, auf der sich der Weltenrichter befindet, wird strukturell dadurch unterstrichen, dass der waagerechte Trennstreifen mit der Inschrift in der oberen Hälfte unterbrochen wird, um die Verbindung von Christus und Kreuz zu betonen. In den meisten Tympana des 11. und 12. Jahrhunderts bildet der Körper Christi die Achse des Bogenfeldes. An der Vertikalen werden in Conques außerdem Selige und Verdammte, Himmel und Hölle voneinander geschieden. Diese Basisopposition (links/rechts) der Ikonographie des Jüngsten Gerichts wird bis in die Details hinein fortgeführt.901 So entspricht in Conques dem unter dem Giebel der Himmelsstadt sitzenden Abraham nicht nur der an entsprechender Stelle thronende Satan in der Hölle, sondern dem gefallenen Bischof in der Hölle im zweiten Register auch ein aufrechter Bischof in der Gruppe der Seligen zur Rechten Christi.902 Die diagrammatische Klarheit des bildstrukturellen Gerüsts, dessen sich die Bildkünstler im Tympanon von Conques bedient haben, hat mehrere Untersuchungen nach sich gezogen, die sich der Bildlogik, den narrativen Strukturen und dem Zusammenspiel von Bildern und Inschriften widmen.903 Neben den Studien, die sich mit dem historischen Kontext der Darstellungen befassen,904 bilden diese eher strukturalistisch ausgerichteten Publikationen den zweiten Schwerpunkt der Forschung zum Tympanon. Besonders ausführlich hat Jean-Claude Bonne in seiner „analyse syntaxique“ die Symmetrien, Analogien und Oppositionen der Konzeption untersucht.905 Im Gegensatz zur Studie von Charles Altman, der das Tympanon als „pictorial text“ unter erzähltheoretischen Aspekten analysiert, berücksichtigt Bonne bildspezifische Charakteristika wie etwa die Oberflächenbehandlung und den innerbildlichen Blickaustausch zwischen einzelnen Figuren.906 Ziel meiner Untersuchung ist es, die topologischen Strukturen des Weltgerichts in Conques stärker auf den Ort der Anbringung des Bildes, das Portal, zu beziehen, als das in den größtenteils hermeneutischen Studien bisher geschah. In vielerlei Hinsicht erweist sich dafür eine Szene im Tympanon als entscheidend: die Trennung der Seligen und Verdammten direkt über dem Türpfosten des Portals (Tafel 13a). In der Mitte des untersten Registers befindet sich ein flacher Balken, der im Gegensatz zu den Bändern über ihm keine Inschrift trägt, aber auch nicht – wie etwa die Säulen der Paradiesarkaden – als Architekturelement gekennzeichnet ist. Über den Balken hinweg blicken sich ein Engel und ein Teufel an. Sie wiederholen damit den Blickaustausch zwischen dem Erzengel und dem Teufel in der Szene darüber. Im gesamten Tympanon sind dies die beiden

901 Silke Büttner spricht von der zentralen senkrechten „Achse als Basis oder Rahmen der Produktion von Sinn und Wert“: Büttner 2010, S. 239. 902 Vgl. Altman 1977, S. 8. 903 Altman 1977; Bonne 1985; Garland 1998; Bouché 2006. In ihrer Publikation untersucht Silke Büttner die Struktur des Portals als System zur Differenzierung von gesellschaftlichen oder Geschlechterordnungen: Büttner 2010, zu Conques S. 227–312. 904 Bernoulli 1956; Sauerländer 1980; Strecke 2002. 905 Zur Vorgehensweise einer „analyse syntaxique“: Bonne 1985, S. 18–23. 906 Altman 1977, S. 6–12; Bonne 1985, S. 10 f. zu Bemerkungen über Altmans Studie.

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einzigen Beispiele eines innerbildlichen Blickaustausches.907 Die Dramatik des Jüngsten Gerichts verdichtet sich um die dadurch hervorgehobene zentrale Achse: Oben werden vom Erzengel Michael die Seelen gewogen, die unten in Verdammte und Selige geschieden sind. Im Gegensatz zu vielen anderen Darstellungen des Jüngsten Gerichts spielt in Conques nicht allein der Erzengel Michael die zentrale Rolle des aktiv die Seelen Trennenden, der mit seiner Waage über das Schicksal und damit auch die Zielorte der Seelen entscheidet, sondern das Moment der Entscheidung hat sich auf mehrere Szenen verteilt. Das wird besonders in den sich um die Wägeszene herum abspielenden Darstellungen deutlich: Hinter dem Teufel, der mit seinem Finger auf die Waagschale drückt, fällt eine Seele hinter dem Inschriftenband direkt in den Bereich vor der Hölle. Bonne hat darauf hingewiesen, dass der Sturz in der Verlängerungslinie der verdammenden Geste stattfindet, die Christus mit seiner Linken ausführt, und damit die Macht des Richters unterstreicht.908 Durch die fallende Seele wird außerdem das Inschriftenband vorgewölbt, das in diesem Bereich auffällig bewegt ist: Links daneben wird es von der erhobenen Keule des Teufels eingedrückt und von dessen buschiger Mähne überschnitten. Auf der Seite der Engel erhält es unter der Waagschale eine Höhlung. Eine Folge dieser Vertiefungen ist, dass die Wägeszene auch für einen Betrachter sichtbar ist, der nicht mehr auf dem Vorplatz, sondern kurz vor der Tür steht (Tafel 13b). In jedem Fall unterstreichen die Wellenbewegungen des Inschriftenbandes die Relevanz der Szene, denn an keiner anderen Stelle des Tympanons wölbt es sich oder wird von Figuren verdeckt bzw. überschritten. Nach Bonne ist das Schwingen des Schriftbandes „une double ondulation qui [...] révèle les tensions dont cette région est le théâtre“.909 Zu den Szenen der Entscheidung gehört auch diejenige, die sich unmittelbar um den Balken herum abspielt. Die Seele, die durch den Engel am Handgelenk hinter dem Balken hervorgezogen wird, scheint in letzter Minute gerettet worden zu sein, denn auf der anderen Seite droht der Teufel mit erhobener Keule. In ihrer Dramatik erinnert diese Szene an die vor allem im Spätmittelalter weit verbreiteten Darstellungen des Kampfes zwischen Engel und Teufel um eine einzelne Seele.910 Im Bereich romanischer Skulptur ähnlich sind die beiden in den Mantelfalten des Erzengels versteckenden Seelen aus dem zeitgleich entstandenen Weltgerichtstympanon des Hauptportals von Saint-Lazare in Autun (Abb. 79). Ist hier nicht ­eindeutig, ob die Seelen vor oder nach der Entscheidung um ihre Rettung bangen, so findet in Conques eine im letzten Moment vollzogene Rettung statt, denn die Seele befindet sich ja genau zwischen dem Bereich der Teufel und dem der Engel. Für den Betrachter des Tympanons ist die Szene zentral: „C’est le petit élu placé entre l’ange et le démon qui se trouve dans la situation la plus critique. Pour les hommes, les ‚pécheurs‘ auxquels s’adresse le tympan, tout se joue là“.911 Die endgültige Schwelle zum Himmel hat aber auch diese geret907 Vgl. Bonne 1985, S. 73. 908 „[C]ette configuration autorise à penser que la punition dépend en dernier ressort de la seule volonté divine“: Bonne 1985, S. 101. 909 Bonne 1985, S. 101. 910 Der Streit zwischen Engel und Teufel kommt schon in der frühchristlichen Literatur vor: Dinzelbacher 2001, S. 116. Zur Rettung im letzten Moment s. auch oben Abb. 8 und Abb. 45. 911 Bonne 1985, S. 103.

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79 Erzengel Michael mit der Seelenwaage, Jüngstes Gericht, Saint-Lazare, Autun, 1130–1145.

tete Seele noch vor sich. Zwischen der Seelenwaage, Himmel und Hölle liegen mehrere Schwellen. Immer wieder wird das ‚letzte Übertreten‘ hinausgezögert und Übergänge finden – wie im Fall der hinter dem Band herabstürzenden Seele – dort statt, wo man sie nicht erwartet. Bonne spricht von einer „multiplication des seuils qui entretient une incertitude sur la véritable limite“.912 Der Balken erscheint hier also als ein zentraler Wendepunkt in der Erzählstruktur des Jüngsten Gerichts: Um ihn herum konzentriert sich die Trennung der Seelen und er bildet den Punkt, von dem aus sich Selige und Verdammte in entgegengesetzte Richtungen bewegen. Der Balken ist noch in anderer Hinsicht ein Wendepunkt: Wie das Inschriftenband an dieser Stelle wird er dreidimensional genutzt, denn die Seele kommt hinter ihm hervor und Engel und Teufel tauschen Blicke über seine Vorderseite hinweg (Tafel 13b).913 Gleichzeitig ist der Balken Teil der vertikalen Achse des Tympanons, die durch das Kreuz, durch Christus 912 Bonne 1985, S. 99. 913 Vgl. Bonne, bei dem der Balken „un simple montant plat derrière lequel les deux antichambres communiquent directement“, ist: Bonne 1985, S. 104 (seine Hervorhebung).

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und die Waage verläuft. Auf den zwei Inschriftenbändern unter Christus ist diese Achse durch zwei eingravierte Kreuze gekennzeichnet. Dadurch kann man in ihr, wie es die Rettung der Seele hinter dem Balken bestätigt, die Achse der Hoffnung auf Erlösung erkennen. Auch andere Bildkünstler haben die strukturelle Achse des Jüngsten Gerichts als ‚Ver­ heißungsachse‘ genutzt. In Giottos Weltgerichtsfresko in der Arenakapelle in Padua erblickt man eine Seele am Eingang zur Hölle, die sich hinter dem Kreuz versteckt hat und sich an diesem festklammert (Abb. 80). Im Kontext einer Darstellung des Jüngsten Gerichts mit seiner grundlegend binären Struktur von Hölle und Himmel, Verdammnis und Paradies kommt dem Balken als Schwellenmotiv in Conques die Funktion zu, die Möglichkeit eines ‚Zwischen‘ zu vermitteln und damit die Hoffnung auf Erlösung zu schüren. Im Gegensatz zu den Inschriftenbändern des Tympanons, die tatsächliche strukturelle Grenzen darstellen, welche nicht überschritten werden, bildet der Balken offensichtlich eine Grenze, die geschaffen wurde, um überschritten zu werden.914 Die Seele hinter dem Balken kann dabei als Identifikationsfigur für den Betrachter fungieren, der in der Portalinschrift als Sünder bezeichnet wird. Die letzten beiden Verse richten sich an die Besucher wie an die Zuhörer einer Predigt: „O Sünder, wenn Ihr Euren Lebenswandel nicht ändert, wißt, daß euch ein hartes Gericht bevorsteht“.915 Die Inschrift endet mit „futurum“ unter dem Eingang zur Hölle – die rechte Hälfte des Bandes bleibt leer (Abb. 78). In einem so detailliert konzipierten Ensemble von Bild und Text ist das nicht unbedeutend. Nach Baschet unterstreicht das Zusammenwirken von Text und Bild an dieser Stelle, dass sich das Tympanon weder an bereits Gerettete, noch an bereits Verlorene richtet, sondern eben an Sünder, die noch Aussicht auf Erlösung haben: „Le rôle de l’enfer, dans une telle rhétorique, est clairement défini: la damnation n’est pas énoncée au futur, mais seulement au conditionnel“.916 Ein Fortführen der Inschrift hätte den Blick des Betrachters in die Hölle geführt, obwohl er ihr dem Inhalt der Inschrift nach fernbleiben soll.917 Kendall stellt aufgrund des Endens der Verse in der Mitte des Türsturzes die Hypothese auf, „that lay worshippers entered through the left door, circulated clockwise around the interior and exited through the right door. [...T]he idea of entering through the right door, directly beneath the Infernal City, might have been not so much repugnant as unimaginable 914 In diesem Zusammenhang sind auch die Untersuchungen des materiellen Aufbaus des Tympanons aufschlussreich, die Bonne in einem Aufsatz ausgewertet hat. Diese haben ergeben, dass die Balkenszene zusammen mit der Wägeszene aus einem Stein bestehen. Es ist der einzige des Tympanons, auf dem sowohl Engel als auch Teufel dargestellt sind: Bonne 1987, S.192. Die Balkenszene befindet sich damit auch an einer der wenigen Stellen, an denen die durch die Inschriftenbänder gebildete visuelle Grenze ausnahmsweise nicht mit einem materiellen Bruch zusammenfällt. 915 Baschet 1993, S. 157: „les deux derniers vers du poème gravé s’adressent au spectateur comme à l’auditeur d’un sermon“. „O PECCATORES TRANSMVTETIS NISI MORES: IVDICIVM DVRVM VOBIS SCITOTE FVTVRVM“, übersetzt nach: Sauerländer 1980, S. 39. 916 Baschet 1993, S. 158. 917 Ebd. Diese Argumentation setzt ein Stück weit voraus, dass der Betrachter lesen konnte. Das knüpft an die Grundlagendiskussionen mittelalterlichen Bild- und Textverständnisses an – s. Zusammenfassung der Diskussion bei: Boerner 2008, S. 45–48. Andererseits könnte man argumentieren, dass man nicht lesen können muss, um den Abbruch der Zeichen unter der Höllenpforte zu erkennen. Baschet äussert sich nicht zu dieser Problematik.

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80 Giotto, Detail des Weltgerichtsfreskos, Arena­ kapelle, Padua, 1303–1307.

to medieval Christians“.918 Auch wenn Kendall für diese Vermutung keine Quellen für Conques oder für vergleichbare Situationen an anderen Portalen anführt, öffnet er eine – von ihm jedoch nicht weiter ausgeführte – Dimension der Betrachtung, die für das Tympanon bisher nicht diskutiert worden ist: die Interferenzen zwischen den Räumen im Bild und dem realem Schwellenraum sowie seiner Benutzung. Sich an historischen Quellen orientierende Untersuchungen des mittelalterlichen Betrachters gehen selten gleichzeitig auch auf innerbildliche, narrative und strukturelle Rezeptionsimpulse ein.919 Umgekehrt berücksichtigen Altman und Bonne in ihren strukturanalytischen Studien kaum den historischen oder konkreten, vor dem Portal stehenden Betrachter. Die Betrachtungsposition, die sie für das Tympanon voraussetzen – „[the] tympanum [...] cannot be approached from just any direction, but must be seen from the front“920 – bezieht sich nicht auf den durch die topographische Situation in Conques ermöglichten Standort, sondern ist von der symmetrischen Konzeption des Tympanons bestimmt. Tatsächlich ermöglicht wird die frontale Betrachterposition durch den freien Platz vor der Westfassade.921 Von einigen Details der für den Betrachter entscheidenden Szene über dem Türpfeiler, die noch dazu nach Bonne deren zentrale Bedeutung ausmachen (etwa die dreidimensionale Nutzung des Balkens), kann man sich allerdings nur durch einen Seitenblick aus der Nähe überzeugen (Tafel 13b).922 918 Kendall 1998, S. 93 (seine Hervorhebung). 919 Vgl. dazu Boerner 2008, der den mittelalterlichen „intendierten Betrachter“ (so eine Kapitelüberschrift) nicht aus innerbildlichen Rezeptionsvorgaben gewinnt, sondern in Texten entdeckt. 920 Altman 1977, S. 6. Vgl. Bonne 1985, S. 10. 921 Als „Kirchplatz“ („plateam templi“) spielt dieser Platz bereits im ersten Wunderbericht des 2. Buches des Liber miraculorum eine Rolle (ebd., S. 150). 922 Bei Bonne findet sich m.W. zum ersten Mal eine Aufnahme der Balkenszene schräg aus der Untersicht des Tympanons (Bonne 1985, Abb. 12b). Diese dient ihm allerdings nicht als Beispiel eines potenziel-

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Die vorliegende Arbeit basiert auf der Kombination der beiden Betrachterkonzepte, des historischen und des idealen, und der Berücksichtigung des Bildortes als ein den Betrachtungsprozess beeinflussendes Element. So fällt auf, dass der Betrachter in Conques während seines Blicks auf das Tympanon und die sich um den Balken herum entwickelnde Erzählhandlung ganz konkret vor einem ähnlich zentralen ‚Balken‘ steht, und zwar dem Türpfeiler, der die zentrale Achse der sich vor ihm befindenden Tür bildet. Als Bestandteil des Haupteingangs ist der Türpfeiler ebenso wie der Balken im Bild ein Scharnier der Bewegung, an dem sich Besucher auf ihrem Weg in die Kirche hinein oder aus der Kirche heraus vorbeibewegen. Das Aussehen des Türpfeilers zur Zeit der Fertigstellung des Portals ist allerdings nicht bekannt – im 19. Jahrhundert war am Trumeau noch eine spätmittelalterliche FidesStatue angebracht.923 Betrachtet man jedoch andere Beispiele aus der Gegend und der gleichen Zeit, stellt man fest, dass Türpfeiler oft die Bewegungsrichtungen skulptural aufgreifen, deren Zentrum sie als Achse des Portals bilden. So stellt der zwischen 1130 und 1135 entstandene Türpfeiler von Saint-Pierre in Moissac einen regelrechten Strudel aus Bewegungen dar (Abb. 81 und Abb. 82). An der Vorderseite des Trumeaus sind sechs paarweise im Kreuz angeordnete, übereinander stehende Löwen dargestellt. An den Seiten des Pfeilers sind Paulus und Jeremias zu sehen, die in ausfallender Schrittstellung und mit in entgegengesetzter Richtung gewendetem Kopf jeweils die doppelte Gerichtetheit der Schwelle verkörpern, die von innen nach außen und von außen nach innen leitet. Noch bewegter geht es am Pfeiler von Souillac zu (nach 1135), wo sich das Motiv der überkreuzten Löwen aus Moissac wiederholt, dem aber andere Tiere hinzugefügt sind, die mit den Löwen und miteinander verkeilt und ineinander verbissen sind, und deren Kampf auf die Seiten des Pfeilers übergreift, wo er sich mit ringenden Menschen und biblischen Szenen vermischt.924 Die Säule, „one of the most forceful signs of power, elevation and degradation“925 ist bereits als Motiv mit spezieller innerbildlicher Bedeutung erwähnt worden: Als narratives Mittel verbindet sie Räume miteinander und verbildlicht Kommunikation und Bewegung; ihre heilsgeschichtliche Relevanz zeigt sich in ihrer Verwendung als Motiv in Szenen wie der Geburt und der Geißelung Christi. Auch der Trumeau vermittelt zwischen Räumen und strukturiert die Bewegung: „The column [...] was a marker of movement into and out of sacred space and a site of attention for its various audiences”.926 len Betrachterstandpunktes, sondern als Illustration für die Dreidimensionalität des Balkens und den Blickaustausch zwischen Engel und Teufel. 923 Rupprecht 1975, S. 98. 924 Zu den Pfeilern von Moissac und Souillac s. Camille 1993. Auch bei den Trumeau-Pfeilern von Vézelay (zwischen 1135 und 1140) und Beaulieu-sur-Dordogne werden drei Seiten für die Bebilderung genutzt. Die Figuren des Türpfeilers in Vézelay sind auf unterschiedlichen Höhen platziert, die Richtung ihrer Blicke und ihre Positionen bilden eine Drehung um den Pfeiler herum. Mit Moissac und Souillac thematisch vergleichbar sind: der Bestienpfeiler aus dem Freisinger Dom (um 1200), s. Budde 1979, Kat. Nr. 81, S. 52 f. und die Bestiensäule aus St. Mary and St. David in Kilpeck (Hertfordshire) aus der Mitte des 12. Jahrhunderts. 925 Camille 1993, S. 47. 926 Ebd.

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81 Paulus, Trumeau, Abteikirche Saint-Pierre, Moissac, 1130–1135.

82 Jeremias, Trumeau, Abteikirche Saint-Pierre, Moissac, 1130–1135.

Dem Balken als Scharnier von Bewegung und Erzählung im Tympanon entspricht also als außerbildliche Verlängerung der Türpfeiler, der zu dieser Zeit – so lassen es jedenfalls erhaltene Beispiele vermuten, in denen das künstlerisch aufgegriffen wird – in ähnlicher Weise als Achse der Bewegung wahrgenommen wurde. Beim Durchqueren des Portals in Conques kommt der Betrachter nicht umhin, sich zum Türpfeiler in Beziehung zu setzen. Das Jüngste Gericht beschreibt daher eine Ordnung, in der sich der Betrachter selbst verorten kann. Bei der Verknüpfung des Bildraums mit dem Schwellenraum wird über die narrative Struktur impliziert, dass sich der Betrachter in die Position der gerade geretteten Seele begeben kann: hinter den Pfeiler, d. h. in die Kirche. Die Tiefengestaltung des Tympanons und die Tiefe des Schwellenraums verlaufen parallel zueinander. An den Stellen, an denen das strukturelle Gerüst des Tympanons (Schriftband, Balken) als materielle Oberfläche interpretiert wird, hinter der die Handlung fortgeführt wird, manifestiert sich also ein Denken in Raumschichten, eine Verräumlichung in die Tiefe, welche die Schwellenraumerfahrung des Betrachters parallelisiert, der sich ja ebenfalls in die Tiefe jen-

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seits der Tür bewegt. Die Beweglichkeit und Veränderbarkeit des Schriftbandes und ein dadurch suggeriertes Weichwerden steinerner Strukturen ist um die Szene zentriert, in der sich die zu richtenden Seelen in einem prekären Zwischenzustand befinden (Tafeln 13a und 13b). Die Unbestimmtheit dieses Ortes im Bild schlägt sich also in seinem strukturellen Gerüst nieder. Letzteres wird auch an einer weiteren Stelle des Portals in einem anderen Maßstab als ähnlich durchlässig dargestellt: Auf dem Portalbogen wird das Tympanon von einem Gesims mit 17 kleinen Figuren gerahmt, die sich hinter einem Band hervorschieben, das sie von oben und unten festhalten (Abb. 83 und Abb. 84). Nur Augen und Nasen ihrer Gesichter sind sichtbar. Die Forschung hat sich bisher zur Funktion oder Bedeutung der Figuren selten geäußert.927 Kendall sieht in ihnen Bespiegelungsfiguren des Betrachters: „we see little figures peeling back a ribbon band and gazing out, as if, like us, they have been granted a vision of eternity (Christ in Judgment on the tympanum) from the perspective of everyday life in time“.928 Dadurch, dass ihre Merkmale im Wesentlichen auf die Augen beschränkt sind, ist ihre einzige erkennbare Funktion tatsächlich das Schauen. Damit reflektieren sie die Tätigkeit ihrer Betrachter. Allerdings blicken sie nicht, wie es Kendalls Beschreibung suggeriert, auf den Richter im Tympanon, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Auch die von Kendall implizierte Passivität („have been granted a vision“) trifft nicht auf ihre Darstellungsweise zu, denn die Ausbeulungen des Bandes suggerieren, dass sie sich aktiv aus der Wand geschoben und sich dadurch erst ihren Ausblick erarbeitet haben. Die Figuren scheinen also zwei Dinge zu thematisieren: das Sehen und die Tiefe und Durchlässigkeit der Kirchenwand. Ersteres ist bereits an der für den Betrachter entscheidenden Stelle des Tympanons, in der Engel und Teufel Blicke austauschen, betont worden. Einen thematischen Kontext liefert das Liber miraculorum, in dem der Blickwechsel, das Sehen und seine negative Entsprechung, das Erblinden, eine zentrale Rolle spielen.929 In der Begegnung Bernhards mit der Statue des Hl. Gerald, die der Beschreibung seiner Erfahrungen in Conques vorausgeht, erhält das Thema eine wahrnehmungshistorische Relevanz: „It was an image made with such precision to the face of the human form that it seemed to see with its attentive, observant gaze the great many peasants seeing it and [at times, T.B.] to gently grant with its reflecting eyes the prayers of those praying before it“.930 Die Thematik des Sehens ist in Conques in Bildern und Texten ubiquitär und wird auch von den Spähern der Portalwand aufgegriffen. Im Ver927 Keine Erwähnung finden sie bei: Bernoulli 1956; Altman 1977; Sauerländer 1980; Garland 1998; Strecke 2002; Bouché 2006. Bousquet interpretiert sie als Engel: Bousquet 1973, S. 160. Rupprecht erwähnt sie, liefert jedoch keine Interpretation: „ein Band, das von hinten von kleinen Figuren gehalten wird, von denen nur Hände und Kopf sichtbar sind“: Rupprecht 1975, S. 98. Am ausführlichsten hat sich Bonne mit den Figuren beschäftigt: Bonne 1985, S. 116–120. 928 Kendall 1998, S. 139.  929 S. dazu: Fricke 2007, S. 174–198. Bereits die allererste Wundererzählung des Liber miraculorum handelt von Guibert, der durch das Wirken der Hl. Fides wieder sehen kann: Liber miraculorum, S. 78–86; Sheingorn 1995, S. 43–51. 930 „[E]t ita ad humane figure vultum expresse effigiatam, ut plerisque rusticis videntes se perspicaci intuitu videatur videre oculisque reverberantibus precantium votis aliquando placidius favere“. Aus: Liber miraculorum I, 13 (S. 112). Übersetzt nach: Sheingorn 1995, S. 77.

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83 „Späher“, Archivolte des Westportals, Abteikirche Ste-Foy, Conques (Rouergue), 2. Viertel 12. Jahrhundert. Detail aus dem Scheitel.

84 „Späher“, Archivolte des Westportals, Abteikirche Ste-Foy, Conques (Rouergue), 2. Viertel 12. Jahrhundert. Detail vom unteren Ende des Bandes.

gleich mit dem Reliquiar der Hl. Fides (Abb. 85), das Bernhard erst von seiner Rechtmäßigkeit als Heiligenstatue überzeugt, nachdem er es selbst betrachtet hat, besitzen die Spione allerdings einen kritischeren Status. Weder stellen sie verehrungswürdige Heilige dar, noch gehören sie zur Ikonographie des Weltgerichts.931 Vielmehr kommentieren sie im Wesentlichen parergonal die Erzählung des Tympanons, dessen Bogenform ja in der Archivolte aufgegriffen wird. Nach Bonne parodieren sie „l’élasticité de certaines frontières“ im Tympanon, nämlich etwa die der Wolken, aus denen die kreuztragenden Engel hervorkommen, und das 931 Bernhard akzeptiert zunächst nur das Kruzifix als Skulptur und lässt neben Büchern nur „insubstantial images depicted on painted walls“ („imagines umbrose coloratis parietibus depicte“: Liber miraculorum I, 13, S. 113) als Hilfen zur Erinnerung an die Heiligen gelten: Sheingorn 1995, S. 78.

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85 Reliquienstatue der Hl. Fides, Abteikirche Ste-Foy, Conques (Rouergue), Kopf antik; Krone, Kleidung und Thron spätes 10. Jahrhundert.

Schriftband über der Balkenszene: „Ces petits espiègles se glissent donc dans l’épaisseur de la bordure pour la travailler de l’intérieur“.932 Die Figuren lassen sich nicht auf eine bestimmte Funktion festschreiben, sondern werfen vielmehr Fragen auf über das, was sich hinter der steinernen Oberfläche der Kirchenfassade befindet, die sie zu bewohnen scheinen, und über den Status von ähnlichen nur scheinbar festen Grenzen im Tympanon. Im Gegensatz zur Seele, die im Tympanon hinter dem Band vom Ort der Seelenwägung in das Vorzimmer der Hölle fällt, sind die genauen räumlichen Strukturen, zwischen denen sich die Figuren des Portalbogens bewegen, nicht bestimmbar. Welchen Status hat also das Band, hinter dem sie sich hervorarbeiten? Die aufgerollten Enden in den Händen der Scheitelfigur deuten darauf, dass es sich um ein Schriftband handeln könnte, das allerdings nicht mit Schrift versehen ist. Im Kontext der Gerichtsthematik wäre außerdem möglich, dass hier die Engel dargestellt sind, die am Jüngsten Tag den Himmel einrollen. Allerdings ist dies ein Element aus der byzantinischen Ikonographie des Jüngsten Gerichts, das in Frankreich zu dieser Zeit nicht vorkommt. Vielleicht stellt das Band auch einfach eine Archivoltenkehle dar, die sich von den übrigen über dem Portalbogen unterscheidet, da sie scheinbar dehnbar ist und locker sitzt. Schließlich könnte das Band als Fessel verstanden werden, von der sich die Gestalten zu befreien versuchen. Das Befreien von Gefangenen ist eines der Wunder, welche die Hl. Fides im Liber miraculorum besonders häufig vollbringt. Die Funktion der Späher wäre dann auch in dieser Hinsicht als reflexiv einzuschätzen: Sie fordern die Betrachter außer zum Sehen zur Befreiung von der Sünde auf, zur Selbstreinigung vor dem Eintritt in die Kirche, und bedienen sich damit eines weiteren wichtigen Topos romanischer Portalgestaltung. Eine solche Reinigung mahnen bereits die 932 Bonne 1985, S. 117 (seine Hervorhebung).

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Inschriften Paulinus von Nolas aus dem 5. Jahrhundert an. Eine besonders interessante Parallele für Conques liefert die von Calvin Kendall rekonstruierte romanische Inschrift von Saint-André in Luz-Saint-Sauveur, die das Abstreifen alter Haut von einer Schlange mit der Selbstreinigung des in die Kirche Eintretenden vergleicht.933 Dünn wie eine Haut ist auch das Band, das die Figuren von der Wand ablösen, das an den Enden wie abgerissen auszufransen scheint und sich an Stellen des Überschusses in schmale Falten legt (Abb. 84). Dass sich diese Figuren nicht eindeutig beurteilen lassen, sondern sowohl in ihrem Bezug zum Tympanon als auch in ihrer Thematik mehrere – auch gegensätzliche – Assoziationen hervorrufen, hat sie in der Forschung wahrscheinlich zu einem so selten erwähnten Aspekt gemacht. Für Skulpturen, die nicht unmittelbar mit dem Portal zusammenhängen, und die sich ikonographisch nicht zuordnen lassen, greift man auf den Begriff „Bauskulptur“ zurück. Aufgrund ihrer Anbringung an den Rändern von Fassaden und Eingängen hat sich in der englischsprachigen Forschung auch der Begriff „marginal sculpture“ verbreitet.934 Die Bedeutung dieser Art von Bauskulptur wird in der Forschung meist über eine didaktische, apotropäische oder satirische Funktion erklärt. Sie sollte Betrachter entweder belehren, Dämonen von der Kirche fernhalten, oder sie habe den Bildhauern die Möglichkeit gegeben, sich gegen die ekklesiastische Obrigkeit zu wehren.935 Alex Woodcock schlägt dagegen vor, die Skulpturen zunächst als „markers of liminal space“ zu sehen, „in between the world of humans and God yet simultaneously both“.936 Sie haben also eine topographische Funktion, sie beschreiben den Ort, an dem sie angebracht sind, und zwar als liminalen Ort. In Conques können sie im Zusammenhang mit dem Tympanon gesehen werden, wo es gerade der strukturell unbestimmte Bereich ist, in dem über das Schicksal der Seelen entschieden wird. Indem es das Tympanon überhöht, betont das Band das Portal selbst als liminalen Ort, an dem – so wird über die Ähnlichkeiten suggeriert – ebenfalls schicksalshafte Entscheidungen getroffen werden. Kann das Tympanon also über seine bildtopologischen Strukturen vom Betrachter mit dem konkreten Schwellenraum in Verbindung gebracht werden, der so in die heilsgeschichtliche Ordnung mit eingebunden wird, und durch die Übernahme ähnlicher Elemente für seine Strukturen als durchlässig und unbestimmt gekennzeichnet wird, so nimmt das Tympanon über mehrere Motive auch auf die konkrete historische Sakraltopographie Bezug. Die Abteikirche selbst ist auf dem Tympanon abgebildet durch die Arkaden über der Giebelschräge der Himmelsstadt.937 Unter den Arkaden kniet die Hl. Fides. Hier sind auch die 933 Ende des 12. Jahrhunderts: „...SPOLIAT SERPENS SE PELLE VETUSTA, EST HUMILIS MULTUM. LASCIVUM NEGLIGE CULTUM. SI CUPIS INTRARE, QUONIAM PATET, HOC TIBI QUERE“. Zitiert nach: Kendall 1998, S. 106. Bei Kendall steht die Inschrift nicht mit Conques im Zusammenhang, sondern ist Teil seines Katalogs romanischer Inschriften. 934 Vgl. für einen Forschungsüberblick: Woodcock 2005, S. xvii–xviii. Stärker auf den Inhalt als die Anbringung bezieht sich der Begriff „Groteske“, der z. B. bei Kröll/Steger 1994 schon im Titel verwendet wird. 935 Einen Überblick über Interpretationsmodelle gibt: Woodcock 2005, S. 6. Zu den Nachteilen dieser Modelle sowie einschlägiger Forschungsliteratur hierzu s. ebd., S. 7–14. Verschiedene Interpretationen der Sockelreliefs an gotischen Kathedralportalen auch bei: Thenard-Duvivier 2008. 936 Woodcock 2005, S. 7. 937 Vgl. Sauerländer 1980, S. 46.

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Votivgaben aufgehängt, Fesseln von durch die Hl. Fides befreiten Gefangenen, welche die Pilger in der Kirche betrachten konnten. Der Altar, der zentrale Ort der Verehrung der Heiligen innerhalb der Kirche, ist hinter ihrer knienden Figur zu sehen. Fides ist so dargestellt, als sei sie gerade von dem hinter ihr stehenden Thron gestiegen, um sich vor der Hand Gottes niederzuwerfen. Die Gestaltung des Thrones entspricht der des Reliquiars mit seinen vier Bergkristallkugeln.938 Nach der Beschreibung Bernhards war das Reliquiar in der Kirche in der Nähe des Altars aufgestellt.939 Diese spezifischen Orts- und Bildverweise des Tympanons verbinden die Ziele der Pilgerreise mit der Hoffnung auf Erlösung am Jüngsten Tag. Dem Jüngsten Gericht liegt eine topologische Ordnung zugrunde, die bildlich mit der sakralen Topographie in Conques verwoben wird und in der sich der Betrachter selbst verorten kann. Dadurch, dass die Hl. Fides auf dem Tympanon als Fürbitterin gezeigt wird, können die zukünftigen, jenseits des Portals liegenden Handlungen der Betrachter in den endzeitlichen Rahmen des Tympanons miteinbezogen werden. Wenn die Betrachter etwa das Portal durchschritten hatten und vor dem Altar beteten, dann konnten sich das Bild vor ihnen und das Bild der für sie auf dem Tympanon einschreitenden Fides überlagern und sich gegenseitig aktivieren. Schon Bernhard von Angers betet vor der Reliquienstatue für seine Erlösung am Jüngsten Tag: „Sancta Fides, cuius pars corporis in presenti simulachro requiescit, succurre mihi in die iudicii“.940 Auf dem Tympanon ist durch die Hand Gottes dargestellt, dass die Fürbitte der Heiligen erhört wird. Ritualisierte Gesten wie die Fürbitte der Fides auf dem Tympanon können auch in der Kirche vor dem Altar vom Betrachter selbst wiederholt und dabei körperlich nachvollzogen werden: Der Liber miraculorum beschreibt die häufigste Reaktion der Gläubigen auf den Anblick der Statue selbst als Niederknien oder -werfen.941 Das Tympanon stellt also einen Rahmen bereit, innerhalb dessen sich verschiedene Bilder (imaginäre, erinnerte oder gegenwärtige) überlagern können. Sinnstiftend werden diese Überlagerungen besonders durch die körperliche Bewegung des Betrachters durch das Portal und durch die Kirche. Bild-Erinnerung und visuelle Wahrnehmung verschränken sich gegenseitig. An dem hier ausführlich analysierten Beispiel von Conques werden die zahlreichen Möglichkeiten der Überlagerung von Bild und Schwellenraum deutlich. Über die Verweismotive im Tympanon wird die sakrale Topographie der Abteikirche mit der heilsgeschichtlichen Erzählung des Portals verknüpft. Über strukturelle Parallelen fungiert auch der Balken im Bild als Scharnier für die Verbindung von endzeitlicher Erlösung und Portalraum. Schließlich lenkt die auf die Tiefe und Unbestimmtheit steinerner Strukturen abzielende Darstellung der kleinen Rahmenfiguren die Aufmerksamkeit auf die plurale Wertigkeit der Schwelle. Zwei dieser am Beispiel von Conques gemachten Beobachtungen sollen nun an anderen 938 So auch z. B. beobachtet von: Sauerländer 1980, S. 46 u. Garland 1998, S. 166. 939 Liber miraculorum I, 31 (S. 137): „Dextrum latus sancti Petri apostoli, levum sancte Marie, medietas autem sancti Salvatoris titulo dedicata est. Verum quia eadem medietas psallendi assiduitate frequentatior habetur, illuc ex proprio loco sancte martyris pretiosa translata sunt pignera“. S. auch Liber miraculorum I, 26. 940 Liber miraculorum I, 13 (S. 113). „I stood looking at the image and spoke the words of a prayer exactly like this: ‚Sainte Foy, part of whose body rests in this likeness, help me on the day of judgment‘“, übersetzt nach: Sheingorn 1995, S. 78. 941 So etwa in: Liber miraculorum I, 15 (S. 115 f.); I, 28 (S. 132 f.).

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Beispielen diskutiert werden: erstens das Endzeitliche als Schwellenthema, dessen Strukturen bzw. innerbildliche Übergänge Anknüpfungspunkte für die Topologie der Schwelle bieten; zweitens das Nebeneinander und die Verquickung unterschiedlicher – materieller, imaginärer und vor allem ambivalenter – Räume an der Schwelle und ihre Gestaltungsmodalitäten.

Raumstrukturen – das Jüngste Gericht als Schwellenthema Blickt man auf die Geschichte der Weltgerichtsdarstellungen, wie sie sich an Conques in der von der Ile-de-France ausgehenden Gotik anschließt, so hat sich das Schema von Conques nicht durchgesetzt.942 In der französischen Gotik werden Hölle und Himmel verkürzt dargestellt. Höllenschlund und Himmelspforte werden von der Mitte des Tympanons an seinen Rand oder in die unteren Bereiche der Archivolten verlegt.943 So fällt der Übergang in das dargestellte Jenseits mit einem zunehmend ikonographisch und strukturell gefestigten skulptural-architektonischen Übergang innerhalb des Portalganzen zusammen, 944 ohne dass die Archivoltenzone als Ganzes zum Ort des Himmels und der Hölle würde, denn die entsprechenden Darstellungen beschränken sich meist nur auf die unterste Reihe. Besonders die Himmelspforte scheint etwa in den Tympana der Kathedralen von Chartres und Paris aus diesem Grund nicht mehr gebraucht worden zu sein: In Chartres reicht ein Engel eine Seele direkt vom Türsturz zu dem in der zweiten Archivolte thronenden Abraham herüber, in Paris sind es die Gesten des Engels in der Archivolte, die verdeutlichen, dass die Erwählten zum Schoß Abrahams geleitet werden. Der Höllenschlund dagegen bleibt in seiner gotischen Haupterscheinungsweise ein häufig verwendetes Motiv: In das in die Ecke des Tympanons gedrängte weit geöffnete Maul stürzen Teufel die Verdammten. Die Höllenbilder sind im Vergleich zu Conques reduziert – im Vordergrund steht die Ankündigung der Höllenstrafen, betont werden nicht die Modalitäten ihrer Ausführung.945 Der Moment der Trennung der Seelen durch die Waage Michaels wird in den gotischen Portalen Frankreichs wie in Conques weiterhin auf der senkrechten Achse des Tympanons zentral betont. Die langen Ketten der Erlösten und Verdammten, die sich von hier aus in entgegengesetzten Richtungen bewegen, dehnen den Zeitpunkt vor dem Betreten der Jenseitsorte im Vergleich zu Conques aus. 942 Zum gotischen Jüngsten Gericht: Baschet 1993, S. 163–190. 943 So befindet sich der Höllenschlund am mittleren Südportal der Kathedrale Notre-Dame von Chartres in der unteren rechten Ecke des Tympanons und die Himmelsszenen (keine Himmelspforte) sind in den Archivolten dargestellt (1210–1215); am mittleren Westportal der Kathedrale Notre-Dame von Paris stürzt in der innersten Archivolte eine Seele von oben nach unten durch einen Höllenschlund in einen Kessel – der Übergang in den Himmel ist nicht durch eine Himmelspforte dargestellt (bis 1230); am mittleren Westportal der Kathedrale Notre-Dame in Amiens sind sowohl Himmelspforte als auch Höllenschlund in den äußeren Ecken des mittleren Registers dargestellt (1225–1235); auch an den Kathedralportalen von Poitiers (um 1250), Bourges (1240–1260) und Bazas (1240–1250) sind die Schwellenmotive an die Ränder gerückt. 944 In der Romanik gibt es keine einheitliche Handhabung, was die Anbringung und Verteilung von Skulptur an der Architektur anbelangt. Ausgehend von Saint-Denis findet dann eine „Normierung des Bildträgersystems“ statt: Boerner 1998, S. 46 f. 945 Baschet 1993, S. 190.

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86 Himmelszone des Jüngsten Gerichts, Archivolten des mittleren Westportals der Kathedrale NotreDame, Amiens, 1220– 1235.

Ganz deutlich wird das etwa in Amiens, wo die Seligen zwei Schwellen zu überqueren haben (Abb. 86). Links der Pforte im Tympanon folgt auf die Darstellung Abrahams ein zweiter Zug von Seligen, die sich in durch Engel geführten kleinen Gruppen auf eine weitere Himmelstür zubewegen. Im Vergleich zur ersten, an die ein kleines Kirchengebäude mit Turm angeschlossen ist, mündet die zweite Tür in eine Art doppelgeschossige polygonale Apsis. Beide Architekturmotive entsprechen der gotischen Darstellungsweise des Himmlischen Jerusalem.946 Zugleich parallelisieren sie die beiden entscheidenden Schwellen des Kirchenbaus – Portal und Übergang in den Chorbereich. Die Bewegungsrichtung der Seligen ist allerdings der des Betrachters entgegengesetzt. Dadurch ist es schwieriger, verbildlichte Topologie der Endzeit und der Jenseitsorte mit der räumlichen Struktur des realen Portals zu verknüpfen. Die Darstellungslogik des Weltgerichts ist in Amiens nicht mehr auf die Richtungslogik des Portals abgestimmt, auch wenn sie motivisch noch auf sie Bezug nimmt. Anders sieht es zum Beispiel noch am Portal der ehemaligen Kathedrale Saint-Trophime in Arles aus.947 Hier bewegen sich die Seligen in einem langen Fries über den Vorbau auf das Portal zu, während sich die Verdammten vom realen Portal wegbewegen, das im Motiv einer von einem Engel mit Schwert bewachten Tür im Bild verdoppelt ist, die als geschlossen dargestellt ist (Abb. 87 und Abb. 88). In Amiens stehen, wie in vielen anderen gotischen Weltgerichtsdarstellungen auch, die Trennung und das Auseinanderstreben der gerichteten Seelen eher im Zentrum als der innerbildliche Übergang zum Jenseits in seiner Relation zur konkreten architektonischen Schwelle. Der doppelte Impuls, der dem Weltgericht als betrachterrelevantem Thema zugrunde liegt, nämlich die Warnung vor dem Schicksal der Sünder einerseits und die Verheißung 946 S. Colli 1983, vor allem S. 135 f. Ähnliche Darstellungen z. B. an der Abteikirche Saint-Denis (vor 1140) und an der Kathedrale von Bourges sowie Saint-Sauveur in Bazas (um 1250). 947 Rupprecht 1975, Kat. Nr. 264‒271, S. 134 f.

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87 Westfassade der ehemal. Kathedrale Saint-Trophime, Arles (Bouches-du-Rhône), Ende 12. Jahrhundert.

ewigen Heils andererseits, wird nicht mehr so stark auf die doppelte Gerichtetheit der Schwelle (Anziehen/Abstoßen) beziehbar gemacht. Die Doppelfunktion des Jüngsten Gerichts wird etwa von Sicardus von Cremona betont, der argumentiert, in Kirchengebäuden seien Paradies und Hölle deshalb dargestellt, damit der Betrachter sich von den Höllenqualen abschrecken lasse und die himmlischen Genüsse begehre.948 Mit einem auf Schwellenmotive gerichteten diachronistischen Blick lassen sich also Tendenzen feststellen, welche die Interaktion von Bild- und Schwellenlogik betreffen. Es sind, so scheint es, ab der Wende zum 13. Jahrhundert nicht mehr die Schwellenmotive, die den 948 „Quandoque in ecclesiis paradisus et infernus depingitur, ut ille nos alliciat ad delectationem praemiorum; hic vero deterreat a formidine tormentorum”: Mitrale de officiis ecclesiasticis summa (I, 12), in: PL 213, Sp. 9–436, hier Sp. 43.

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88 Türmotiv im Fries über dem südlichen Gewände des Westportals der ehemal. Kathedrale Saint-Trophime, Arles (Bouches-du-Rhône), Ende 12. Jahrhundert. Blick von Nordwesten.

Blick lenken und als Scharniere der Verbindung von Bildraum und Schwellenraum dienen, sondern vielleicht eher die Säulenfiguren, die den Betrachtern im Trichterportal zur Seite gestellt werden.949 Das beste Beispiel hierfür ist das Jüngste Gericht am Bamberger Fürstenportal, in dem keine Schwellenmotive mehr die Jenseitsorte andeuten, der Blick des Betrachters aber über die Gewändefiguren zum Tympanon geleitet wird. Bevor es aber um Möglichkeiten der Betrachterlenkung am Portal geht950 ist ein weiteres eschatologisches Thema am Portal zu behandeln. Das Motiv der Tür ist auch in einem mit dem Jüngsten Gericht eng verwandten Bildthema, der Parabel der Klugen und Törichten Jungfrauen, zentral. Die Parabel wurde vor allem in Frankreich und Deutschland ab dem 12. Jahrhundert im Kontext des Portals dargestellt.951 Während das Thema in Frankreich meist in den Archivolten oder den Türpfosten und im Zusammenhang mit dem Jüngsten Gericht zu sehen ist, wird es in Deutschland auch im Türsturz oder im Gewände verbildlicht und lässt sich in verschiedenen ikonographischen Kontexten finden.952

949 Das heißt nicht, dass Schwellenmotive nicht mehr verwendet wurden – dafür liefert im Folgenden Tauberbischofsheim ein Beispiel. Vielmehr werden ab etwa dem 13. Jahrhundert stärker Gesten, Blickrichtungen und Ansichtigkeiten innerbildlicher Figuren zur Betrachterlenkung verwendet. 950 S. ausführlich 7.2. 951 Zu Darstellungen der Parabel s. generell Körkel-Hinkfoth 1994. 952 Körkel-Hinkfoth 1994, S. 39 ff.

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89 Galluspforte, Münster, Basel, spätes 12. Jahrhundert. Maße des Portals 760 x 605 cm; Türöffnung (licht) 379 x 182 cm.

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90 Tympanon und Türsturz der Galluspforte, Münster, Basel, spätes 12. Jahrhundert.

Eines der frühesten Beispiele befindet sich an der sogenannten Galluspforte des Baseler Münsters aus dem späten 12. Jahrhundert (Abb. 89).953 Hier thront im Tympanon Christus mit Kreuzesstab und Buch (Abb. 90). Zu seiner Rechten steht Petrus mit den Schlüsseln, hinter dem der Stifter des Portals mit einem Modell seiner Stiftung kniet. Zur Linken Christi präsentiert Paulus die Stifterin (deren Kopf zu einem späteren Zeitpunkt ausgetauscht wurde). Dabei fasst er sie am Handgelenk und zeigt mit seiner Rechten auf sie. Hinter der Stifterin hat ihr ein Engel die Hand auf die Schulter gelegt. Im Türsturz ist im Zentrum eine einfache architektonische Struktur zu sehen, die im Wesentlichen aus zwei Türen besteht. In der linken, geöffneten Tür steht Christus, der die fünf Klugen Jungfrauen empfängt. Diese tragen stoffreiche Mäntel mit weiten Ärmeln und Kopfbedeckungen und halten die brennenden Öllampen in ihren Händen. Auf der rechten Hälfte des Türsturzes nähern sich die Törichten Jungfrauen mit ihren leeren Lampen. Die vorderste greift an den Ring der verschlossenen Tür. Auf dieser Seite sind die eng anliegenden Unterkleider der Jungfrauen zu sehen. Die Törichten Jungfrauen tragen außerdem ihr Haar offen. Im Gewände des Portals befinden sich die vier Evangelisten hinter Säulen, die vor die Wandung gestellt sind (Abb. 89). Eingefasst wird das Portal von einem rechteckigen Rahmen, dessen seitliche Begrenzungen aus unterschiedlich hohen Ädikulä auf kleinen Säulen bestehen, in denen weitere Figuren und Szenen zu erkennen sind. In den drei unteren Nischen werden beidseitig die Werke der Barmherzigkeit von einer wie die Klugen Jungfrauen gekleideten Frau ausge953 Zu Basel s. Meier/Schwinn Schürmann 2002; Boerner 2008, S. 15–19 u. 71–80: Dort jeweils zum Forschungsstand und zu Fragen der Datierung.

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91 Werke der Barmherzigkeit, Galluspforte, Münster, Basel, spätes 12. Jahrhundert.

führt. Darüber flankieren links Johannes der Täufer und rechts Johannes der Evangelist die Archivoltenzone. Über ihnen sind Posaunenengel dargestellt, die sich an die zwischen ihnen aus den Gräbern steigenden Auferstehenden richten. Damit wird das Endzeitliche als Grundthema des Portalensembles deutlich. Wie Sibylle Walther gezeigt hat, verweisen die Architektur des als Protiro gestalteten Portals und seine Ikonographie nach Norditalien, wo es zum Beispiel an den Domen von Ferrara und Verona ähnliche Portalvorbauten gibt, deren Bogenrund von den beiden Johannes’ flankiert wird.954 Die sechs Werke der Barmherzigkeit zu Seiten des Portals sind nicht in der biblischen Reihenfolge dargestellt (Mt. 25, 34–36; Abb. 91).955 Die Gliederung in Basel hat zur Folge, dass sich die beiden Szenen, in denen architektonische Motive verwendet werden, in der Mitte gegenüber stehen. Links empfängt die Barmherzigkeit, in einem Tor stehend den ärmlich gekleideten Fremden; rechts bringt sie dem in einem Turm Gefangenen einen Laib Brot, den er durch das Fenster entgegennimmt. Meiner Meinung nach ist in dieser Gegenüberstellung der Grund für die veränderte Abfolge zu sehen. So entsprechen den beiden offenen und 954 Walther 2002, S. 68–71 und zur Geschichte der beiden Johannes’ passim; vgl. Boerner 2008, S. 27‒29. S. oben 2.2.1 zu den beiden Johannes’ in der Tradition des römischen Janus. 955 Boerner 2008, S. 16. Zur Geschichte und Ikonographie der Werke der Barmherzigkeit generell, s. Dietl 2002.

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geschlossenen Türen des Türsturzes in den Nischen Architekturen, die sich ebenfalls durch ihre einladende Offenheit (Herberge) einerseits und durch ihre grundlegende Geschlossenheit (Gefängnis) andererseits auszeichnen – mit dem Unterschied, dass sich für die Misericordia das Verlies wenigstens teilweise öffnet, während die Himmelstür den Törichten Jungfrauen verschlossen bleibt.956 Bereits in der Bibel wird die Selbstoffenbarung Christi beschrieben, der in den notleidenden Mitmenschen anwesend ist (Mt. 25, 40). In der patristischen Literatur wird betont, dass die Werke der Barmherzigkeit in der Gnade Christi am Jüngsten Tag eine Entsprechung fänden: „An der barmherzigen Gastlichkeit dem fremden Mitmenschen gegenüber wird sich schliesslich [...] das Mass göttlicher Barmherzigkeit dem Menschen gegenüber ermessen“.957 In dieser Parallelführung entspricht dem Empfang und Besuch des Fremden durch Misericordia im Baseler Relief ihr eigener Empfang durch Christus an der Himmelspforte. Die Parallelführung wird über die Kleidung verdeutlicht, denn in einigen Nischenbildern trägt die barmherzige Dame das gleiche Gewand wie die Klugen Jungfrauen. Stark miteinander verbunden sind Jungfrauenparabel und Werke der Barmherzigkeit auch in der Exegese, wo das Öl in den Lampen der Klugen u. a. von Johannes Chrysostomos (gest. 407) mit der Barmherzigkeit gleichgesetzt wird.958 Auch die rechte Tür des Portalmodells in den Händen des Stifters steht einen Spalt breit offen. Sie ist Ausdruck seiner Hoffnung, dass sich ihm die Himmelspforte am Jüngsten Tag aufgrund seiner großzügigen Stiftung ebenso öffnen wird. Dass es der rechte Flügel der Tür ist, der etwas geöffnet dargestellt ist, deutet möglicherweise darauf hin, dass der Stifter als Sünder dargestellt ist, denn im Türsturz ist die rechte Tür diejenige, die den Törichten Jungfrauen verschlossen bleibt.959 Auch die Stifterin ähnelt mit ihrem sichtbaren Unterkleid eher den Törichten als den Klugen Jungfrauen.960 Die Ikonographie der Gesten, mit denen sie Christus präsentiert wird, ist ebenso ambivalent. Mit der an ihre Schulter gelegten Hand erinnert der Engel hinter der Stifterin an Darstellungen der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies. Diese Geste findet sich auch in der Darstellung der Vertreibung auf dem Türsturz des Portals der Abteikirche im nahe gelegenen Andlau, die ikonographisch in engem 956 Auch Dietl 2002, S. 89, sieht in der „Absicht, die beiden markanten, fast analogen Bildarchitekturen [...] in der Mitte beider Reihen auf gleicher Höhe zu platzieren“ den Auslöser für das Abweichen von der kanonischen Reihenfolge. Er bezieht dies aber nicht direkt auf die Architektur im Türsturz. 957 Dietl 2002, S. 75, beruft sich hier auf Ambrosius (gest. 397). 958 Vgl. Dietl 2002, S. 89. 959 Zu diesem Ergebnis kommt auch Boerner auf anderem Wege. Er verweist darauf, dass die mit Petrus hier dargestellte Übertragung der Schlüsselgewalt von Christus an die Apostel seit den Kirchvätern als Macht über den Nachlass der Sündenstrafen gesehen wurde, die damit auch auf die Priester überging. „Kraft der Schlüsselgewalt der Domkleriker konnte die Schenkung der Galluspforte für den Stifter den Nachlass der ewigen Sündenstrafen bewirken“: Boerner 2008, S. 76. 960 In der Forschung wird meist konstatiert, sie sei wie die Klugen Jungfrauen gekleidet – so z. B. Dietl 2002, S. 90. Tatsächlich trägt auch die Stifterin die charakteristischen weiten Ärmel. Die Knopfleiste oder Zierborte an Hals und Brust findet sich allerdings nur bei den Törichten Jungfrauen. Die vom verlorenen Kopf der Stifterin am Rücken übrig gebliebenen Falten sind von Carola Jäggi „auffällig wulstig ausgebildet und erinnern dadurch mehr an die unbedeckte Haarpracht der Törichten Jungfrauen als an den dünnen Kopfschleier ihrer klugen Gegenspielerinnen“: Jäggi 2002, S. 107.

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92 Tympanon, St. Peter und St. Paul, Andlau, 12. Jahrhundert.

Zusammenhang mit Basel steht (Abb. 92).961 Hier hebt der Engel drohend ein großes Schwert empor und schiebt Eva vor sich her auf die offene Paradiestür zu. Weder Geste noch Stab des kleinen Engels wirken in Basel so drohend. Man könnte trotzdem vermuten, dass die Figur in Verbindung mit Andlau steht, weil dort auch die Geste des Paulus ein ­Pendant hat. Weiter links auf dem Türsturz, rechts neben der Erschaffung Evas ist Gottvater zu sehen, der Adam am Handgelenk hinter sich her durch die offene Pforte in das Paradies geführt hat. Boerner kommt aufgrund der Ähnlichkeiten mit dem bei Darstellungen der Heiratszeremonie vom Priester ausgeführten Gestus zu dem Schluss, dass sich die Stifterin als „sponsa Christi zu erkennen geben [will]“.962 Die Ikonographie von Heiratspraktiken ist nicht der einzige Zusammenhang, in dem der Griff an das Handgelenk vorkommt. Eine im Schwellenkontext wichtigere und häufiger dargestellte Szene ist die Höllenfahrt Christi, bei der mit dieser Geste Adam und Eva am Eingang der Hölle durch Christus befreit 961 Das Portal stammt aus dem 12. Jahrhundert. Zu Andlau: Boerner 2008, S. 19–24; Forster 2010. Während das Portal in der Forschung in das frühe oder mittlere Jahrhundert datiert wurde, schlägt Boerner eine Datierung nach dem Brand von 1160 und die Baseler Galluspforte als Inspirationsquelle der Bildhauer vor: Boerner 2008, S. 23 f. 962 Boerner 2008, S. 74 (seine Hervorhebung). Er findet die Geste in einem Exemplar der Decretum Gratianum aus dem 14. Jahrhundert, erwähnt aber nicht, ob es den Gestus in den Heiratspraktiken des 12. Jahrhunderts ebenfalls gibt. Die Geste des Engels bezieht er nicht in seine Überlegungen mit ein.

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werden.963 Entscheidend ist meiner Meinung nach weniger der Widerspruch, der durch das Türmotiv hervortritt – so befinden sich die Stammeseltern offenbar bereits zum Zeitpunkt der Erschaffung Evas im Paradies, worauf ein Baum zwischen Gottvater und Eva hinweist964 – sondern der ikonographische Zusammenhang der beiden Gesten mit einer bevorstehenden Schwellenüberschreitung. Auch in Andlau sind sowohl die Geste Gottes als auch die des Engels auf die beiden Darstellungen der Paradiespforte bezogen. Gott führt Adam und Eva in das Paradies und der Engel vertreibt sie nach dem Sündenfall daraus. Die Konzentration beider Gesten in der Baseler Gruppe um die Stifterin dreht die Sequenz um und verwandelt dadurch die Stifterin in eine Sünderin, der durch die Gnade Christi und die Fürbitte des Apostels die Hoffnung auf das himmlische Paradies eröffnet wird.965 In Basel haben sich also vor allem die Stifter stark in die Verheißungsstruktur des Portals eingeschrieben, das in seinen motivischen Refraktionen als Paradiespforte erscheint. Durch den allgemeinen endzeitlichen Rahmen sind aber auch die Betrachter des Portals in diese Struktur eingebunden. Die Werke der Barmherzigkeit bieten ihnen Vorbilder für eine Lebensweise, durch die sie für ihr Seelenheil vorsorgen können.966 Die Position und endzeitlichen Parallelen der beiden Schwellenmotive im Kontext der Handlungen der Misericordia bringen auch das Öffnen von und Handeln an diesen alltäglichen Schwellen (Herberge und Gefängnis) in Verbindung mit dem entscheidenden Öffnen der Paradiespforte. Durch die veränderte Reihenfolge der Barmherzigkeitswerke werden die sich architektonischer Motive bedienenden Szenen nicht nur betont, sondern sie ermöglichen es, die drei Bilder jeweils als Sequenzen zu lesen, die einen räumlichen Übergang beschreiben. Die Bildkünstler der Galluspforte bringen, indem sie die Barmherzigkeitswerke derart übereinander anordnen, „die Urmotivation der guten Werke zu unmittelbarer Anschaulichkeit, nämlich als zielgerichteten, verdienstvollen Lebensweg hin zu einem guten Urteil im endzeitlichen Gericht“.967 Durch die Schwellenmotive wird dieser Weg auch räumlich beschrieben: Links unten erhält der Bedürftige Kleidung, sodann wird er als Pilger mit Pilgerstab beherbergt und schließlich, immer noch als Pilger, wird sein Durst gestillt. Rechts unten verteilt Misericordia an einen auf Krücken Gestützten Brot; darüber findet eine ähnliche Szene am Fenster des Gefängnisturms statt. Oben ist die Barmherzigkeit in das Innere hervorgedrungen und 963 Loeschcke 1965, erwähnt die Vermählung in seiner motivgeschichtlichen Studie nicht einmal, sondern sieht die Anastasis als Ausgangspunkt der christlichen Geschichte des Motivs. Ein weiteres Beispiel der Verwendung an der Schwelle ist etwa die Bildertür von S. Zeno in Verona (um 1138), s. unten 6.1.2. Zur liturgischen Entsprechung der Geste im Rekonziliationsritus der Bußliturgie, s. auch oben 5. Dieser Kontext würde in Basel wiederum gut zum allgemeinen Thema der Bußbereitschaft passen, das vor allem die Stifterdarstellungen vermitteln. 964 Forster 2010, S. 96, führt den Widerspruch darauf zurück, dass der Künstler Szenen aus zwei Zyklen kopiert habe. 965 Dafür müssen die Baseler Bildhauer die Skulpturen in Andlau nicht zwingend zum Vorbild gehabt haben – bei einer späten Datierung Andlaus, wie sie Boerner vorschlägt, wäre das nicht möglich. Vielmehr haben sich die Bildkünstler sowohl in Basel für die Darstellung der Stifterin als auch in Andlau für die Genesiserzählung bestimmter Ikonographien bedient und sie zur gleichzeitigen Vermittlung von Mahnung und Verheißung genutzt. 966 Vgl. Boerner 2008, S. 79 f. 967 Dietl 2002, S. 89.

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stützt einen Kranken an seinem Bett. Der Möglichkeit, die Szenen in ihrer ursprünglichen Reihenfolge zu betrachten, ist also eine weitere Option hinzugefügt, nämlich sie von unten nach oben in ihrer topologischen Abfolge zu verstehen: als Eintritt in das Haus der Barmherzigkeit bzw. Einkehr der Barmherzigkeit in die Häuser der Gefangenen und Kranken, an die sich der Eintritt in das himmlische Paradies anschließt. Auch im Spätmittelalter bieten die Bildstrukturen der Weltgerichtsdarstellung Möglichkeiten, Bild- und Schwellenraum miteinander zu verknüpfen. Vor allem Schwellenmotive liefern Stellen, an denen das konkrete Handeln des Betrachters an der Tür – also das Überqueren der Schwelle oder das Ergreifen des Türrings – reflektierbar wird. Das relativ unbekannte und stilistisch nie besonders hervorgehobene Portal der Sebastianskapelle in Tauberbischofsheim (1474) zeigt darüber hinaus, wie dies auf engerem Raum und in anderem funktionalen Kontext geschieht. Im Tympanon des niedrigen Portals, das in den oberen Raum der doppelgeschossigen Totenkapelle führt, ist das Jüngste Gericht auf engem Raum dargestellt (Abb. 93).968 Zu Seiten des mit Schwert und Lilie auf einem Regenbogen thronenden Weltenrichters knien Maria und Johannes als Fürbitter, hinter denen die Auferstehenden aus ihren Gräbern steigen. Die plastische Tiefe des Tympanons nimmt von unten nach oben ab, so dass in den entstehenden Portalwangen links und rechts vom Weltenrichter zwei Posaunenengel Platz finden (Abb. 94). Im unteren Bereich des Tympanons steht links Petrus vor der Himmelspforte, deren Türring er in der Hand hält. An der von Zinnen bekrönten Tür sind detailliert die Beschläge dargestellt, die denen der realen Holztür in ihrem heutigen Zustand entsprechen. Auf derselben Ebene wie links der gedrehte Türring der Himmelspforte, liegt rechts der einfache Ring am Ende der Kette, mit der ein Teufel die Verdammten in Richtung Höllenschlund zieht. Gegenübergestellt werden damit die unterschiedlichen Arten des Betretens dieser beiden Orte, Himmel und Hölle: Die Himmelspforte reflektiert die Benutzungsweise einer realen Tür, die Petrus durch den Griff an den Türring öffnet, während die Verdammten durch die Kette in die Hölle gezogen werden. Besonders gefährdet sind – wie schon in Conques – die Ränder der Gruppen von Seligen und Verdammten: In der Mitte des Tympanons versucht ein Teufel, die hinterste Gestalt aus der Gruppe der Seligen am Mantel mit sich zu ziehen. Unter dieser Szene ist zwischen den beiden Kielbögen des Türsturzes ein Engel angebracht, der vor seiner Brust ein Buch hält. Durch die Anbringungsweise des Buches parallel zum Türsturz richtet sich diese Skulptur nach unten, direkt an den Eintretenden, der sich im Buch des Lebens seine eigenen Taten eingeschrieben vorstellen kann. Der Erzengel Michael mit der Seelenwaage, der in den Gerichtsbildern der Gotik einen Platz auf der zentralen senkrechten Achse des Tympanons einnimmt und dort über das Schicksal der Figuren entscheidet, die Identifikationsfiguren für den Betrachter sind, ist hier durch einen Engel mit dem Buch des Lebens ersetzt. Die Figur ist nicht mehr in den narrativen Verband des Tympanons eingespannt, sondern richtet sich ausschließlich an den Betrachter, der, hat er das Portal durchschritten, in der Kapelle der Toten gedenken soll. Darüber hinaus fordert der Engel den Betrachter zur Selbstprüfung auf: Das Buch vor der Brust erinnert an die bereits erwähnte mittelalterliche Vorstellung vom Herz-Buch, in dem die Taten des Menschen verzeichnet sind. 968 Bis zum unteren Ende des Türrahmens sind es knapp zwei Meter. Erwähnt wird das Portal bei: Gerstenberg 1969, S. 96.

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Raumbrechungen und Ambivalenzen – die materielle Tiefe des Portals Für den Engel in Tauberbischofsheim haben die Bildkünstler die materielle Tiefe des Tympanons genutzt. Der raumgreifende Aspekt mittelalterlicher Skulptur wird in der Forschung vor allem mit dem hohen und späten Mittelalter in Verbindung gebracht. Wie einleitend bemerkt, ist der Begriff „Raum“ in der Skulptur- und Portalforschung eng mit der Interpretation des Verhältnisses zwischen Architektur und Skulptur verknüpft. Verbreitet ist die Auffassung, die Thorsten Droste vertritt: „[E]rst die Gotik sollte den Schritt in die Verräumlichung tun, die Figur aus ihrer starren Verklammerung lösen und schließlich in der Gestalt des Beau-Dieu in Amiens zur rundum gearbeiteten Vollstatue ausbilden“.969 Dass diese Auffassung von Raum im Hinblick auf das Portal zu rigide ist, 93 Portal der Sebastianskapelle, zeigen die dreidimensionale Nutzung des Balkens und die Tauberbischofsheim, 1474. Späher am Portalbogen in Conques. Sie lenken den Blick auf eine wichtige Dimension des Schwellenraums, die der Tiefe, und werfen Fragen zu Aspekten der Wahrnehmung der Schwelle auf: Sie thematisieren die Durchlässigkeit scheinbar fester Grenzen wie derjenigen der Kirchenwand und rücken den Aspekt der Verborgenheit in den Blick. Zugleich scheinen diese und ähnliche Figuren speziell ein Phänomen romanischer Portalskulptur zu sein, mit dem 94 Tympanon des Portals der sich die Forschung noch nicht beschäftigt hat. Die im Sebastianskapelle, TauberbiFolgenden untersuchten Beispiele unterscheiden sich im schofsheim, 1474. Hinblick auf ihren spezifischen Anbringungsort am Portal. Auch morphologisch bilden sie keine eindeutige Gruppe. Alle aber haben gemeinsam, dass sie die Dichte der am Portal verbauten Materialien – das, was sich hinter der Oberfläche befindet –, und die Zweiseitigkeit der Schwelle thematisieren. In diesem Abschnitt geht es also um das Paradox, dass diese subversiven und in der christlichen Ikonographie oft nicht mit positiven Bedeutungen belegten Wesen von dort zu kommen scheinen, wo sich der ­sakrale Raum befindet. Die Gestalten stellen eine allzu rigide Trennung des Profanen und Sakralen (sogar) am Portal in Frage. Ein Portal, dessen Bildkünstler wohl in vielerlei Hinsicht von Conques beeinflusst waren, ist das Nordportal der Kathedrale St-Étienne in Cahors (Abb. 95 und Abb. 96).970 Das Tympanon wurde 1840 hinter einer Mauer entdeckt, die den gesamten Bogen der Vorhalle aus969 Droste 1996, S. 162. 970 Zu Cahors: Rupprecht 1975, Kat. Nrn. 54–57, S. 86; Bratke 1977; Durliat 1979; Bénéjeam-Lère 1993.

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95 Vorhalle, Nordfassade der Kathedrale St-Étienne, Cahors, 1140–1150. Maße des Tympanons 220 x 438 cm.

füllte. Es wurde zwischen 1908 und 1913 restauriert.971 Dachte man ursprünglich, dass das romanische Portal im 14. Jahrhundert von der Westfassade an die Nordseite versetzt worden war, so zeigten Marcel Durliat und Elke Bratke in den 1970er Jahren durch Untersuchungen der stadttopographischen Situation im Norden und Westen der Kathedrale, dass sich das Portal bereits im 12. Jahrhundert an der Nordseite befunden haben muss.972 Wie das Portal von Moissac befindet sich auch das von Cahors in einer nicht besonders tiefen Vorhalle, die sich von der Nordwand der Kirche abhebt.973 Bekrönt wird die Vorhalle von einem Traufgesims. Im Gegensatz zu diesem sind die senkrecht angeordneten Blumenreliefs allerdings eine Erfindung der Restauratoren von 1911.974 Im Tympanon ist die Himmelfahrt Christi dargestellt. Die Apostel und Maria sind in Arkaden unter der von Engeln getragenen Mandorla mit Christus angeordnet. Seitlich der Himmelfahrt sind, von unten nach oben und von links nach rechts Szenen aus dem Leben des Kirchenpatrons, des Hl. Stephan, dargestellt. Auf die Rede vor dem Synedrium folgt seine Vertreibung aus der Stadt, rechts sind seine Steinigung und seine Vision Gottes und Christi zu sehen. Wie in Conques wird das Portal auf der Vorhallenfassade von einem dünnen Bandfries gerahmt, das sich zusätzlich zu Seiten des Bogens waagerecht nach links und rechts über die Stirnseite der Vorhalle erstreckt. Dargestellt sind unter anderem Szenen einer Hirschjagd und alltägliche Handlungen wie das Beschlagen eines Pferdes.975 Die Aufmerksamkeit der Forschung haben jedoch vor allem die vielen Kampfszenen auf dem Bogenrund auf sich gezogen. In den meisten Fällen zeigen diese einen Nackten, der von beiden Seiten von zwei Bekleideten bedrängt wird, die ihren Mittelmann zum Beispiel aufspießen, köpfen oder ihm die Hoden abschneiden. Nach Mireille Bénéjeam-Lère besitzen die Szenen eine „cruauté 971 Die Mauer war 1732 gebaut worden. Zur Geschichte der Restauration: Durliat 1979, S. 315–320; Bénéjeam-Lère 1993, S. 24–28. 972 Bratke 1977; Durliat 1979, bes. S. 320. Rupprecht vertritt noch die Versetzungstheorie: Rupprecht 1975, S. 86. 973 Stilistisch schließt Cahors ebenfalls an die Vorhalle von Moissac an: Bratke 1977, S. 179. 974 S. z. B. Bénéjeam-Lère 1993, S. 40. 975 Beschreibung der Szenen bei: Bratke 1977, S. 60–69.

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96 Portal der Vorhalle, Cahors, Kathedrale St-Étienne, Cahors, 1140–1150.

implacable“, für die es in der romanischen Kunst kein Pendant gibt.976 Sie bilden einen Gegenpol zur im Tympanon dargestellten Himmelfahrt Christi. Auf den waagerechten Teilen des schmalen Frieses ist auf beiden Seiten eine Hirschjagd dargestellt. Jeweils am Knick, dort, wo der waagerechte Teil des Frieses in den senkrecht-bogenförmigen übergeht, warten Jäger mit ihren Jagdwaffen auf ihre Beute: Links wird das Wild in ein Netz getrieben (Abb. 97); rechts empfängt ein Mann mit Pfeil und Bogen den über die gesamte Stirnseite der Vorhalle von Hunden und Reitern verfolgten Hirsch (Abb. 98). Folgt man mit dem Blick der Jagd, dann steht man an ihrem Ende vor dem Portal: Die Bewegungsrichtung der Jagd parallelisiert die der Betrachter, die sich aus Westen und Osten dem Portal nähern können. So fungiert die Jagderzählung als Rahmenkommentar des Portals als Ort, der die Besucher und ihre Blicke anzieht. Vielleicht kann sie sogar als selbstreflexive Warnung an die Betrachter gelten, deren Blicke sich ja an der Stirnwand der Vorhalle mit ihren vielen ver976 Bénéjeam-Lère 1993, S. 41.

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97 Jagdszenen, Archivolte auf der Stirnseite der Nordvorhalle, Kathedrale St-Étienne, Cahors, 1140–1150 (links des Portals).

98 Jagdszenen, Archivolte auf der Stirnseite der Nordvorhalle, Kathedrale St-Étienne, Cahors, 1140–1150 (rechts des Portals).

schiedenen Figuren und Szenen tatsächlich wie in einem Netz verfangen können, statt sich auf den himmelfahrenden Christus des Tympanons zu richten. Die Darstellung einer solchen Verstrickung wird im Tympanon selbst negativ gewertet: In der Szene des Martyriums

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befindet sich im Rankenbogen, der das gesamte Tympanon rahmt, ein Mann, der Stephanus von hinten mit einem Stein bewirft. Seine Arme und Beine sind bereits ganz von Ranken umschlungen, so dass fraglich ist, ob er sich versteckt oder nicht viel eher bereits für seine Tat bestraft wird, indem ihn das Flechtwerk gefangen hält. Auch die Gesten anderer im Tympanon negativ besetzter Figuren wiederholen sich am Portalvorbau. In der Szene der Rede des Hl. Stephanus vor dem Synedrium hält sich ein Anwesender die Ohren zu – eine Konsol­ figur unter dem Traufgesims wiederholt diese Geste.

99 Figuren im Röllchenfries unter dem Traufgesims, Stirnseite der Nord­ vorhalle, Kathedrale St-Étienne, Cahors, 1140–1150.

Wie in Conques scheinen einige der Figuren auf der Scheitelwand der Vorhalle Aspekte des Tympanons zu kommentieren und bringen die Strukturen der heilsgeschichtlichen Erzählung des Tympanons in Verbindung mit den architektonischen Strukturen des Portalganzen, seiner Rahmung. Andere lassen sich in Bezug und Thema nicht einordnen. Dazu gehören die Brustbilder in einem Rollenfries über den unterschiedlich gestalteten Konsolenfiguren am Traufgesims. Sie beugen sich mit der Wölbung des Gesimses hervor und gestikulieren heftig (Abb. 99). In die Untersicht sind perlenbesetzte oculi eingelassen, durch die man auf die jeweils ähnlich gestalteten Beine der Figuren blickt. Dadurch scheinen diese das Gesims zu bewohnen.977 Einige der Figuren weisen eine Dichotomie zwischen der Haltung des Oberkörpers und der Stellung ihrer Beine auf. So ist eine Frau, die mit offenem Haar und nacktem Oberkörper an Personifikationen der luxuria erinnert, frontal dargestellt, während der Blick auf ihre Beine diese angehoben und in seitlicher Stellung zeigt. Andere Figuren stützen sich mit den Ellbogen auf die Gesimskante und unterstreichen damit den Eindruck, dass sie sich einen Ausblick verschafft haben, während die Betrachter durch die oculi einen Einblick auf das ‚Innere‘ des Gesimses erhalten.978 Wie in Conques wird hier ein Spiel mit der scheinbaren Festigkeit und Opazität von Stein gespielt, und es wird zugleich thematisch Gegensätzliches und Ambivalentes gezeigt, das sich in keine festen Bedeutungsstrukturen einordnen lässt. Die feinteilig gestalteten perlenbesetzten Rahmen der Gucklöcher bilden einen Kontrast zu dem einfachen Inhalt, den sie so aufwändig präsentieren. Meint man, ein Einblick verschaffe eine Erkenntnis, so erweitert er in diesem Fall nicht das Wissen des 977 Bénéjeam-Lère 1993, S. 41: „le cordon de billettes est habité par des personnages surgissant en buste“. 978 Zur Beschreibung der Figuren im Einzelnen, s. Bratke 1977, S. 56–59.

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100 Westportal, Stiftskirche, Millstatt (Kärnten), um 1170.

Betrachters über die Figuren; der Inhalt des Gesimses trägt nichts Inhaltliches bei. In ihrer ikonographischen Ausdruckslosigkeit liefern die Beine der Figuren einen Kontrast zu den stark bewegten und gestikulierenden Oberkörpern. Könnte man angesichts der Beispiele von Conques und Cahors meinen, das Spiel mit den innewohnenden Figuren beschränke sich auf die Randzonen des Portals – sowohl aus architektonischer Sicht als auch was ihre Sichtbarkeit vom Boden aus betrifft –, gehörte so in den Bereich der ‚marginal images‘, und sei darüber hinaus ein spezielles Phänomen der Skulpturen auf dem Jakobsweg, so liefert das Westportal der Stiftskirche in Millstatt in zweifacher Hinsicht ein Gegenbeispiel. Das Portal, in dessen Tympanon Christus einen Mönch segnet, der ein Modell der Kirche präsentiert (Abb. 100), wird im Gewände von ungewöhnlichen Säulen flankiert. Aus ihnen blicken Figuren hervor, die sich unterschiedlich in die Gestaltung der Säulen einfügen. Die Blattmaske der mittleren Säule des rechten Gewändes wirkt auf dieser aufgebracht (Abb. 101), während aus ihrem Pendant auf der linken Seite nur Nase und Augen eines menschlichen Wesens durch einen vertieft in die Säule eingelassenen Okulus zu sehen sind (Abb. 102). Dadurch, dass ihre Köpfe am oberen Ende der Säule erscheinen, vermitteln sie tatsächlich den Eindruck, der Rest ihres Körpers fülle diese nach unten hin aus. Die Gestaltung der Säule in Analogie zum oder als Körper bestimmt bereits antike Säulenfiguren wie die Karyatiden. Eine Parallelführung von Säule und Körper zeichnet sowohl mittelalterliche Atlanten als auch Gewändefiguren aus.979 Im Gegensatz zu den sich im Mittelalter im Gewände befindenden Skulpturen sind die Millstätter Gesichter jedoch nicht als Heiligenfiguren gekennzeichnet, sondern deuten – das 979 S. Reudenbach 1980, S. 340.

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101 Säulenfiguren im rechten Gewände des Westportals, Stiftskirche, Millstatt (Kärnten), 1170.

102 Säulenfiguren im linken Gewände des Westportals, Stiftskirche, Millstatt (Kärnten), 1170.

bekräftigt vor allem die Blattmaske – auf eine ambivalente, vielleicht sogar auf eine Art heidnische ‚Besetzung‘ des Portals. Erwähnt wurde bereits die von der Forschung immer wieder angenommene apotropäische Funktion solcher Wesen, die durch ihre eigene abschreckende Erscheinung Dämonen vertreiben sollten. Denkbar wäre auch eine gewissermaßen in der Skulptur ‚festgehaltene‘ Form einer der essentiellen Handlungen der Kirchweihliturgie, bei der durch das Umschreiten des Kirchengebäudes und das Eintreten über die Schwelle beim dritten Umlauf die Dämonen aus dem Gebäude vertrieben werden. Auffällig ist aber auch die Ausrichtung der Gesichter im Gewände und in den Türpfosten, die sich nähernde Betrachter an unterschiedlichen Stationen ihres Weges in die Kirche zu fixieren scheinen. So lassen die Säulenbewohner sich wie in Conques als reflexive Maßnahmen verstehen, die Betrachter zur Selbstüberprüfung und Befreiung von der Sünde anhalten. Die Bußaufforderung, die als Thematik des Portals im Türsturz durch einen Teufel mit Sündenregister unterstützt wird, läuft nicht über die Erzählung oder auch den Kommentar einer Erzählung, sondern allein über die Suggestion der Aushöhlung und Bewohnung der Säulen. Biedermann spricht von „in die Säulen wie Würmer eingedrehten Wesen“.980 Mit Säulen, Pfosten und 980 Biedermann 1994, S. 84.

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Pfeilern wurden aufgrund ihrer tragenden Funktion im Mittelalter besonders stark Aspekte wie Festigkeit und Unbeugsamkeit verbunden.981 In der himmlischen Gemeinschaft sind Apostel, Propheten und Heilige Pfeiler der Ecclesia. Umso ungewöhnlicher ist die Besetzung der Säulen in Millstatt, die diese Festigkeit von innen heraus in Frage stellen. Am letzten Beispiel stellt sich aus nochmals anderer Perspektive die Frage nach der Bedrohung im Portalraum. Das reich mit Reliefs und Skulpturen versehene Westportal der ehemaligen Kathedrale Sainte-Marie in der Stadt Oloron-Ste-Marie am Fuß der Pyrenäen liegt in einer offenen Vorhalle unter dem Westturm (Tafel 14). Jüngst wurde es neu in den Zeitraum zwischen 1115 und 1135 datiert – ältere Vermutungen schwanken zwischen dem Ende des 11. und der Mitte des 12. Jahrhunderts.982 Bernhard Rupprecht zeigt sich 1977 verwundert darüber, „daß ein solches Hauptwerk romanischer Skulptur, noch dazu im Zentrum des wichtigen und in vielen Hinsichten durchforschten Kunstraums Nordspanien/Südfrankreich, kaum Beachtung gefunden hat“.983 Er führt das mangelnde Interesse zurück auf das fast komplette Fehlen gesicherter Daten zum romanischen Portal und das nicht überlieferte Ausmaß einer oder zweier Restaurationen im 19. Jahrhundert,984 und beschränkt sich in seinen eigenen Untersuchungen auf eine stilistische Einordnung des Tympanons. Seitdem haben sich die Publikationen zu Oloron-SteMarie gemehrt.985 Mit der Kreuzabnahme ist im Tympanon ein allgemein in der romanischen Skulptur seltenes, in Spanien und Südfrankreich jedoch etwas häufiger vorkommendes Thema darge 981 S. Wilhelm Messerer: Art. Säule, in: LCI, Bd. 4 (1972), Sp. 54–56. Zur Säule in verschiedenen Bildkontexten, s. oben 3.1 u. 3.2. Am Nordportal von St-André in Luz-St-Sauveur steht auf dem Fuß einer Säule zu Seiten der Tür „FLECTI NOn POSS[VM] SI RECT[VM?] SIC EGO SVm“ („If I am thus erect, I cannot be bent“), Rekonstruktion und Übersetzung nach: Kendall 1998, S. 236 f. „Rectum“ enthält sowohl die Bedeutungen „aufrichtig“ als auch „aufrecht“. S. auch: Reudenbach 1980, S. 326 (seine Hervorhebungen): „Festigkeit, Stärke und Geradheit (firmitas, fortitudo, rectitudo) sind die stets hervorgehobenen Eigenschaften der Marmorsäule“. Diese steht  – wie Reudenbach zeigt  – für die Heilswege des Erlösers, kann aber auch auf die einzelnen Gläubigen bezogen werden. 982 Brown 2005, S. 573. Nach Lacoste sind Tympanon und Trumeau im zweiten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts entstanden, während die Archivolten von ihm aufgrund ihrer stilistischen Abhängigkeit von Moissac auf ca. 1140 datiert werden: Lacoste 1973, S. 61 u. 65. 983 Rupprecht 1977, S. 327. 984 Rupprecht 1977, S. 327–330. 985 Die hier zuletzt berücksichtigte Studie ist die unveröffentlichte Dissertation von Peter Scott Brown: Portal, Sculpture, and Audience of the Romanesque Cathedral Sainte-Marie d’Oloron, Diss. Yale 2004. In einem Aufsatz werden die Forschungsergebnisse vorgestellt: Brown 2005. S. außerdem zum Westportal: Lacoste 1973; Rupprecht 1977; Mérindol 1996. S. Lacoste 1973 zu älteren Publikationen und Brown 2005 zum jüngeren Stand der Forschung und zur Dokumentation der Restaurierungskampagnen. Bei einer Restaurierung 2000/2001 wurde festgestellt, dass sich auf der Rückseite des rechteckigen Marmorblocks mit der Darstellung Marias aus der Kreuzabnahme im Tympanon ein Relief des Gottes Mars (inschriftlich: „DEO MARTI“) unter einem Arkadenbogen befindet. Auch diese Tatsache wäre für das Thema Ambivalenzen am Portal aufschlussreich, könnte man davon ausgehen, dass auch Betrachter nach der Erbauergeneration um die heidnische Rückseite gewusst hätten. Da hierzu aber bisher keine Quellen bekannt sind, bleibt die Frage: „How can art history respond to the challenge of a vanished object that is not lost but instead effaced, [...] whose significance does not depend on visible form but instead is predicated on intentional absence and concealment?“: Brown 2005, S. 571.

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stellt.986 Während Joseph von Arimathäa den Oberkörper Christi stützt, entfernt Nikodemus den Nagel aus der linken Hand; Maria hält die Rechte Christi in ihren verhüllten Händen. Rechts der Gruppe steht Johannes und links davon eine der drei Marien. Die kleinen inserierten Tympana unterhalb der Szene sind Erfindungen der Restauratoren aus dem 19. Jahrhundert, als die sich hier ursprünglich befindenden Bilder bereits nicht mehr zu erkennen waren.987 Die Flächigkeit des sehr niedrigen Reliefs im Tympanon kontrastiert mit den Figuren der Archivolten und den vollrund gestalteten Skulpturengruppen auf den Gewändekapitellen.988 In der äußeren Archivolte sind die Ältesten der Apokalypse mit Instrumenten und Gefäßen zu sehen; in der inneren Archivolte sind verschiedene Szenen der Lebensmittelgewinnung und zubereitung dargestellt.989 Im Scheitel der Archivolten befindet sich über einem Höllenschlund, aus dem zwei Menschenköpfe ragen, das Lamm der Apokalypse in einem Clipeus (Tafel 15). Am unteren Ende der inneren Archivolte wird das Tympanon von zwei vollrunden Skulpturen flankiert: rechts ein Reiter und unter ihm ein Mann, der von den Hufen des Pferdes zertrampelt wird (Abb. 103); links ein Löwe, der gerade einen Menschen verschlingt, von dem lediglich Bauch und Beine zu sehen sind, und der auf einem zweiten Löwenkopf mit aufgerissenem Maul steht (Abb. 104). Lacoste interpretiert sie aufgrund ihrer Anordnung links und rechts des Portals als „opposition, d’un côté, la victoire de l’Eglise, du Bien [...], de l’autre, le mal, le châtiment du pécheur“.990 Für das Gesamtprogramm des Portals lassen sich seiner Meinung nach zwei Themen benennen – das Jüngste Gericht und der Triumph Christi.991 Bezeichnenderweise ist hier eine Oben-Unten-Relation entscheidend: Auf der senkrechten Achse befinden sich Höllenschlund und Lamm in den Archivolten; die das Portal flankierenden Skulpturengruppen heben diese Achse durch ihre vollplastische Gestaltung noch deutlicher hervor. Die jeweils unteren Figuren wenden sich darüber hinaus in besonderer Weise an den Betrachter in der Vorhalle, indem sie sich während des Niedergetrampeltwerdens über ihn beugen. Bedrohlich ist das vor allem links des Portals: Der Betrachter befindet sich in der gleichen Relation zum offenen Maul des unteren Löwen wie die halb verschlungene Person darüber. Das ambivalente Motiv des Löwen, der mal positiv als Christussymbol, mal negativ als verschlingendes Tier erscheint, ist charakteristisch für den Schwellenort des  986 Vgl. Lacoste 1973, S. 49 ff. zu anderen Beispielen und zur ikonographischen Einordnung.  987 Vgl. Lacoste 1973, S. 62.  988 Damit kann das Portal als Beispiel einer vorgotischen Verwendung über die Architektur herausragender, vollrunder Skulptur gelten.  989 Christian de Mérindol interpretiert die Szenen als Zubereitung eines Festmahls zu Ehren der „personnage de qualité“ rechts des Scheitels, in der er den 1131 gestorbenen Kreuzfahrer Gaston IV de Béarn, Gaston le croisé, sehen will: Mérindol 1996, Zit. S. 62 u. zu Gaston le croisé S. 61–63. 990 Lacoste 1973, S. 67: In der Reitergruppe sieht er den Sieg Kaiser Konstantins über die Heiden verbildlicht. 991 Lacoste 1973, S. 73 f. Die Themenkombination ist an mittelalterlichen Portalen nicht selten. In Bamberg zeigt das Tympanon das Jüngste Gericht, während der Triumphgedanke vom Bamberger Reiter aufgegriffen wird und im Zusammenhang mit der klerikalen Benutzung des Portals steht: Rowe 2006, bes. S. 28–34.

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103 Löwen zwischen Gewändesäulen und Archivolten links der Tür, Westportal der ehemal. Kathedrale Ste-Marie, Oloron-SteMarie, 1115–1135. Blick nach Norden (vor dem Portal stehend).

104 Reiter zwischen Gewändesäulen und Archivolten rechts der Tür, Westportal der ehemal. Kathedrale Ste-Marie, Oloron-SteMarie, 1115–1135. Blick nach Süden (vor dem Portal stehend).

Kirchenportals.992 Im Kontext der äußeren Archivolte, in der u. a. Jagd und Fang von Wildschweinen und Fischen sowie deren Zubereitung dargestellt sind, wird der Betrachter hier einbezogen in eine Kette des Kampfes, die an die Bestienpfeiler von Moissac und Souillac erinnert. In Oloron-Ste-Marie wird die Vielschichtigkeit des Portalraumes ein letztes Mal deutlich. Im Vergleich zu Conques, Cahors und Millstatt ist in Oloron das Bedrohliche nicht unter der Oberfläche lauernd zu vermuten, sondern dem Löwen wird als frei stehende Eckskulptur viel Platz eingeräumt. Der Portalraum selbst rückt über das direkt auf den Betrachter gerichtete Maul stellenweise sogar in die Nähe eines Höllenraumes. 992 Zu den unterschiedlichen Konnotationen des Löwen in der christlichen Kunst, s. Peter Bloch: Art. Löwe, in: LCI, Bd. 3 (1971), Sp. 112–119.

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6.1.2 Bildertüren Im Vergleich zur Situation an Portalen kommt der Betrachter gestalteter Türen den Bildern näher. Zwar haben die meisten der im folgenden Abschnitt untersuchten Bildertüren monumentale Maße und sind zudem aufgrund ihres Materials und ihrer Größe so schwer, dass sie sich in ihrer Handhabung nicht mit den uns aus dem Alltag bekannten Türen vergleichen lassen. Dennoch stehen sie in viel direkterer Weise als ein gestaltetes Portal zwischen dem sich der Kirche nähernden Besucher und dem Kirchenraum. Quellen, die über den konkreten Gebrauch mittelalterlicher Bildertüren Aufschluss geben könnten, sind nicht bekannt. Schon das Gewicht mittelalterlicher Bronzetüren lässt es jedenfalls als zweifelhaft erscheinen, dass eine einzelne Person sie öffnete.993 Ein Element, mit dem die Mehrzahl der Kirchentüren im Mittelalter versehen war, bietet allerdings eine konkrete Stelle, an der der Betrachter mit der Tür in Berührung kommen kann: der Türring. Denn neben dem Ziel des Türöffnens hatte seine Berührung im Mittelalter verschiedene rechtliche Bedeutungen.994 Für die Bildertür gelten andere Bedingungen der Gestaltung als für das Portal. Die meisten Bildertüren bestehen aus zwei Flügeln, die bis zu fünf Meter hoch sind.995 Sie bieten im Vergleich zum Portalraum eine homogenere Gestaltungsfläche, die durch ihre Zweiteilung ähnliche konzeptionelle Möglichkeiten bietet wie die oben untersuchten diptychalen Bildträger. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Bildertür ist derjenige der Beweglichkeit. Die meisten mittelalterlichen Türen sind an ihrer Außenseite mit Bildern versehen. Aus diesem Grund geht mit dem Öffnen der Tür zugleich das momentane, partielle bis komplette Austreten der Bilder aus dem Gesamtsystem des Portals und der Fassade einher. Die Beweglichkeit kann zudem für das Entstehen weiterer Bilder genutzt werden, indem die hier angebrachten Figuren bei Bewegung in ein neues Verhältnis zueinander treten, wie das in Irrsdorf der Fall ist. Wie im vorangegangenen Abschnitt bildet im Folgenden weiterhin die medienspezifische Bedingtheit von Darstellungsweise und Wahrnehmungsweise den Schwerpunkt der Erörterung. Ein Thema, dessen Relevanz für die Rezeption von Schwellen bereits im vorhergehenden Abschnitt deutlich wurde, soll auch hier im Zentrum stehen: die Darstellung von Schwellen an Schwellen. Da die meisten Bildertüren im Mittelalter Medien der Bilderzählung sind, ist die Frage noch spezifischer zu formulieren: Wie werden der Übergang bzw. die Tür in der Erzählung selbst dargestellt und kommentiert? Als bereits beschriebene Techniken zur Betrachterlenkung bekommen Türmotive an realen Türen eine selbstreflexive Dimension und sind für den Umgang des Betrachters mit der realen Tür von Bedeutung. Neben der Frage, welche Rückschlüsse von der Darstellungsweise auf die Rezeption betrifft, ist daher eine weitere Frage zu erörtern, die umgekehrt von der konkreten Betrachtungssituation an der Tür, vom sinnlichen Erfahrungsbereich des Betrachters, auf die Bilder schließen lässt: Durch die Maße und durch die Benutzung der Tür kommt der Betrachter einigen Bildern näher als anderen – welche Bilder und Themen befinden sich an diesen Stellen? Diesen bei993 Etwa die Hildesheimer Bronzetür mit 1800 Kilo. Hinweis bei: Mohnhaupt 2004, S. 187. 994 S. oben 5. 995 Die höchste Bildertür ist die von Monreale (1185), die mit ihren 7,80 Metern aber die Ausnahme bildet: Mende 1994, S. 9. Verona und Hildesheim sind 4,80 bzw. 4,72 Meter hoch.

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den Fragen gehe ich im Folgenden an mehreren materiell und bildthematisch unterschiedlichen Türen verschiedener Standorte aus dem 11. und 12. Jahrhundert nach. Die Ergebnisse werden daraufhin mit der zu Beginn des 15. Jahrhunderts entstandenen Holztür aus Irrsdorf in Österreich verglichen, an der sich abschließend rezeptionstheoretisch noch einmal aus anderer Sicht Aspekte der Konzeption und Beweglichkeit für die Wahrnehmung von Bildertüren hervorheben lassen. Die Bildertür ist ein besonders im 11. und 12. Jahrhundert weit verbreitetes Medium. Bereits aus der Spätantike und dem frühen Christentum haben sich Fragmente von Holzund Bronzetüren erhalten, die zum Teil mit narrativen Zyklen versehen wurden und damit als konzeptuelle und ikonographische Vorläufer der romanischen Bildertüren gelten. 996 Bis in das 11. Jahrhundert liegt der regionale Schwerpunkt der erhaltenen mittelalterlichen Türen nördlich der Alpen, während die meisten Türen aus dem 12. Jahrhundert aus Italien stammen.997 Im Vergleich dazu sind aus dem 13. und 14. Jahrhundert wenige Bildertüren bekannt.998 In den beiden umfassendsten Monographien zur Bildertür geben Ursula Mende und Ute Götz folgende Gründe dafür an: Mende führt die Lücke darauf zurück, dass der Bronzeguss am Ende der Romanik an Attraktivität verlor und das Material Bronze erst zu Beginn des 14. Jahrhunderts in Italien wieder umfassend verwendet wurde, während Götz die „Verbreitung der Portal- oder Fassadenprogramme nach dem Vorbild der französischen Kathedralskulptur“ für den Rückgang einer Bebilderung der Kirchentür selbst verantwortlich macht.999 Diese beiden Erklärungsmodelle lassen bereits den Schwerpunkt erkennen, der in der jeweiligen Arbeit gesetzt wird: Von Mende wird neben der ikonographischen und stilistischen Einordnung der Türen auch der materielle Aspekt hervorgehoben: sie schildert bereits in der Einleitung Materialaspekte und Herstellungstechniken.1000 Götz hatte bereits in ihrer 1971 erschienenen Dissertation die mittelalterlichen Türen nach ihrem ikonographischen Schwerpunkt in Gruppen aufgeteilt (Christusviten, Heiligenreihen, etc.) und über diese Einteilung Gemeinsamkeiten untersucht. Fragen nach Ikonographie, Stil und technisch-restauratorischen Aspekten kennzeichnen auch die Aufsätze des von Salvatore Salomi 1990 herausgegebenen Sammelbandes, der anstrebt, einen Überblick über Bildertüren zu geben.1001 Der Frage nach der Relevanz des Standorts Tür für die Wahrnehmung von deren Bildern nähern sich die Autorinnen und Autoren dieser drei Publikationen ausschließlich über die sich in der Bibel und in der mittelalterlichen Symbolliteratur niederschlagenden Türsymbolik.1002 Die Tür erscheint hier als Symbol des Eingangs zum himmlischen Paradies, 996 S. Mende 1994, S. 20; Kapeller 1999, S. 29. Einen Überblick über Türen aus dem ersten Jahrtausend gibt: Götz 1971, S. 31–54. Mit mehreren Bildern versehen sind z. B. die Türen von Santa Sabina in Rom (Holz, um 430) und von San Ambrogio in Mailand (Holz, spätes 4. Jahrhundert). 997 Mende 1994, S. 15. 998 Um 1200 entsteht die „letzte der großen romanischen Bildtüren“ in Benevent: Zit. Mende 1994, S. 15. Auch die Holztür des Doms von Gurk wird auf den Beginn des 13. Jahrhunderts datiert. 1333 entsteht dann Andrea Pisanos Bronzetür für das Baptisterium in Florenz. 999 Mende 1994, S. 7; Zit. Götz 1971, S. 6. 1000 Mende 1994, S. 9–16. 1001 Salomi 1990. 1002 Ausführlich dazu s. Götz 1971, S. 9–30. Mende 1994, S. 16 f.

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als Symbol Christi und der Pforte der Gerechtigkeit.1003 In einem Zweierschritt – die Bildthemen der Tür laufen auf eines dieser symbolischen Tür-Topoi zu, die sich wiederum auf die reale Tür zurück beziehen lassen – lässt sich so die Bildertür in ihrer ‚Bedeutung‘ für den Betrachter interpretieren. Die konkreten Methoden der Bilderzählung, die Techniken der Aufmerksamkeitslenkung, mit denen den Betrachtern ein solcher Erfahrungshorizont eröffnet werden sollte, spielen bei Götz und Mende dabei keine Rolle; lediglich das Erkennen des eschatologischen oder christologischen Themas wird erörtert. In den letzten Jahren ist das ‚Wie‘ der Bilderzählung von Bernd Mohnhaupt, Valerie Figge und Steffen Bogen anhand der Türen von Hildesheim und Gnesen analysiert worden.1004 Nahmen die früheren Studien von Mohnhaupt und die Dissertation von Figge vor allem eine bildstrukturelle Perspektive ein, so erkennen Bogen und Mohnhaupt in ihren 2004 erschienenen Aufsätzen das rezeptions­ ästhetische Potenzial ihrer Überlegungen an.1005 Ziel der folgenden Untersuchung ist es, diese Überlegungen weiterzuführen und noch stärker nach dem Ort der Bilder, nämlich der Schwelle, und ihren Wahrnehmungsbedingungen zu fragen.

Türenpluralismus: Hildesheim Das als „älteste mittelalterliche Tür mit einem plastischen Bilderzyklus“ berühmteste Beispiel ist die Bronzetür von Hildesheim (Abb. 2).1006 Ihre beiden Flügel wurden um 1015 mitsamt der Löwentürzieher aus einem Stück gegossen und zeigen 16 biblische Szenen.1007 Zwischen den oberen vier und den unteren vier Bildfeldern auf beiden Flügeln befindet sich eine später entstandene Inschrift, die den Stifter, Bischof Bernward von Hildesheim,1008 das Jahr der Stiftung, 1015, und den Ort der Anbringung nennt: „IN FACIE ANGEL(I)CI TE(M)PLI“ (Abb. 105). In der älteren Forschung schloss man meistens aus dieser Inschrift, dass sich die Tür zunächst in der dem Erzengel geweihten Kirche St. Michael befunden habe und erst nach dem Tod Bernwards von seinem Nachfolger Godehard in den Dom überführt worden sei.1009 Tatsächlich lässt sich aber auch nach Grabungen über den Anbringungsort der Tür mit Sicherheit lediglich der letzte Teil dieser Annahme bestätigen: Die Bronzetür befand sich spätestens ab 1035 an der Westseite des Doms. Zwischen 1015 und 1035 war sie entweder in St. Michael oder im Dom angebracht.1010 Meine Überlegungen sind allerdings nicht von 1003 So die drei Aspekte nach: Götz 1971, S. 28. 1004 Bogen 2004 zu Hildesheim; Figge 2000 zu Gnesen; Mohnhaupt 1993 zu Gnesen; Mohnhaupt 2000 zu Hildesheim; Mohnhaupt 2004 zu Hildesheim. 1005 Bogen 2004; Mohnhaupt 2004. 1006 Mende 1994, S. 29. Zu Hildesheim ebd., S. 28–33 u.135 f. 1007 Maße 4,72 x 1,12 bzw. 1,14 m. S. z. B. Mende 1981, S. 20. 1008 Zu Bernward als Bauherr und Stifter s. Binding 1996, S. 69–76. 1009 Tschan 1951; Götz 1971, S. 102. Heute befindet sich die Tür aus konservatorischen Gründen im Inneren des Doms, der nach 1015 mehrmals umgebaut und im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. 1010 Für St. Michael sprechen sich aus: Dibelius 1907; Wesenberg 1955; Schütz 1994; für den Dom argumentieren Jacobsen/Lobbedey 1993; Jacobsen/Kosch 2001. Nach Bernhard Schütz lassen sich weder am Dom noch an der Kirche aus den Grabungsfunden plausible Orte für die elaborate Tür erschliessen:

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einer endgültigen Klärung des Anbringungsortes abhängig, da es in einem allgemeineren Sinne um den hinter der Tür liegenden Kirchenbau als sakralen Raum und damit auf höherer Ebene als heilsstiftende Ecclesia geht. Ausschlaggebend ist hier also die Betrachtungs- und Durchgangssituation, die durch die Türflügel ab 1035 in einer Vorhalle am Hauptportal des Doms geschaffen wurde.1011 Die beiden Türflügel sind in jeweils acht Bildfelder unterteilt. Der linke Türflügel ist von oben nach unten zu lesen und stellt Szenen aus dem Alten Testament dar. Der rechte Türflügel wird von unten nach oben gelesen und zeigt Szenen aus dem Neuen Testament. Die Türflügel lassen sich darüber hinaus, wie zuerst Franz Dibelius bemerkt hat, noch weiter in kleinere bildthematische Einheiten zu je vier und darin wiederum in zwei Bildfelder untergliedern.1012 Die obersten vier Bilder der linken Tür stellen Szenen aus dem Paradies dar, die unteren vier zeigen die Folgen des Sündenfalls (Abb. 105). Rechts illustrieren die unteren vier Bildfelder die Kindheitsgeschichte, die oberen schildern die Passion Christi (Abb. 106). Die durch die Inschrift gesetzte Zäsur markiert damit links den Ortswechsel vom Paradies zur Erde und rechts den (die Zeit betreffenden) Wechsel im Leben Christi vom Kind zum Erlöser.1013 Die Erzähllogik entspricht der U-förmigen Leserichtung der Türflügel: Das Alte Testament ist als Abstieg geschildert, der mit dem Sturz des erschlagenen Abel unten auf dem linken Türflügel seinen Tiefpunkt erreicht; dieser Szene ist auf dem rechten Flügel das verheißungsvolle Moment der Verkündigung zugeordnet, mit dem der in Auferstehung und Himmelfahrt kulminierende Aufstieg Christi und damit das Neue Testament beginnt (Abb. 105). Die einzelnen Szenen stehen sich anscheinend typologisch gegenüber. Dabei weicht die Darstellungsweise vom typologischen Kanon ab: „Das AT ist hier nicht eine präfigurierende Vorstufe zur Erlösung, sondern eine katastrophische Entwicklung, an deren Ende die Verfluchung des Menschen durch Gott steht“.1014 Die Bernwardstür wurde in der älteren Forschung vor allem hinsichtlich ihrer stilistischen Einordnung und Ikonographie untersucht.1015 Zumeist wurden sukzessiv Bildfeld für Bildfeld analysiert, ohne dass man eingehend die Querbezüge und Zusammenhänge zwiIm Dom hätte sie wahrscheinlich in eine tiefergelegte Krypta ohne direkten Durchblick in das Hauptschiff geführt – s. Schütz 1994, S. 575; an der Michaelskirche lässt sich gar kein geeigneter Ort für die Aufhängung beider Türflügel nebeneinander finden, deren Bildprogramm eine getrennte Anbringung aber unmöglich scheinen lässt (Wesenberg 1955, S. 177 schlägt Letzteres vor). Die jüngste Rekonstruktion ist diejenige von Werner Jacobsen und Clemens Kosch, die das westliche Hauptportal als Standort annehmen: Jacobsen/Kosch 2001. 1011 Jakobsen/Kosch 2001, S. 71, geben zu ihrer Bemerkung, das Portal sei als Festportal vermutlich nicht täglich geöffnet worden, leider keine Quelle an und bleiben eine Begründung schuldig. Auch Bogen übernimmt diese Funktionszuschreibung ohne Quellenangabe: Bogen 2004, S. 246. In der Sekundärliteratur sind keinerlei weitere Hinweise auf eine solche Funktion zu finden, daher muss offen bleiben, wer wann die Tür öffnen konnte. 1012 Dibelius 1907, S. 73; s. auch Wesenberg 1955, S. 67. 1013 Dazu Bogen 2004, S. 247 f. 1014 Mohnhaupt 2000, S. 75. Fragmente einer typologisch gegliederten Bildertür haben sich auch im Westportal des Doms von Gurk erhalten (nach 1200), wo sich Szenen aus dem Alten und dem Neuen Testament in durch Rankenwerk geformten oculi gegenüberstehen. 1015 Dibelius 1907; Goldschmidt 1926; Tschan 1951; Wesenberg 1955.

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105 Bernwardstür, Hildesheim, um 1015. Untere Hälfte.

schen Bildfeldern erörterte.1016 Bernd Mohnhaupt zeigt in seiner im Jahr 2000 erschienenen Dissertation dagegen sehr deutlich, dass durch eine bilderzählerische Untersuchung die zwischenbildlichen Bezüge hervortreten.1017 In seiner Studie bleibt Mohnhaupt jedoch ganz auf der Ebene der Erzählung und bezieht den Betrachter nicht als aktiven Pol in seine Überlegungen ein.1018 Erst in dem bereits erwähnten späteren Aufsatz widmet er sich der Frage, wie „das Verhalten des Rezipienten durch das Werk beeinflusst“ wird.1019 Über den semiotischen Ansatz geht auch Steffen Bogens Analyse hinaus, die verdeutlicht, wie sehr die Bilder der Bernwardstür die Schwellensituation reflektieren und den Betrachter als Handelnden betreffen.1020 Beachtenswert ist im Zusammenhang mit dem hier untersuchten Thema der Schwelle, wie häufig das Motiv der Tür in den Bildszenen der Bernwardstür erscheint. Der Paradiespforte als einziger Türdarstellung auf dem linken Flügel (fünftes Bildfeld von oben) stehen 1016 So auch noch bei Götz 1971, S. 102–112 u. Gallistl 1990. 1017 Mohnhaupt 2000, S. 74–100. 1018 Mohnhaupt erwähnt den Betrachter explizit nur einmal, nämlich am Ende des Kapitels zu Hildesheim: Mohnhaupt 2000, S. 100. 1019 Mohnhaupt 2004, S. 186. 1020 Bogen 2004, bes. S. 255–260.

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106 Bernwardstür, Hildesheim, um 1015. Obere Hälfte.

fünf Türdarstellungen auf dem rechten gegenüber. Bereits die Verteilung lässt erkennen, dass das Motiv der Tür eher dem Verheißungsaspekt des Neuen Testaments zugeordnet ist. Diese inhaltliche Gewichtung wird durch die Analyse einzelner Szenen noch unterstützt. In der Darstellung der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies legt Adam gerade seine Hand an die Pforte, die am rechten Bildrand von zinnenbekrönten Bögen und Mauern umgeben ist, während sich Eva zum Engel zurückwendet (Abb. 105 und Abb. 108). Die Ikonographie der Szene ist ungewöhnlich: Adam und Eva befinden sich in einer Art Zwischenbereich. Sie sind nicht im Akt der Durchquerung der Paradiespforte dargestellt, haben sich aber bereits vom Engel entfernt. Warum die Szene auf diese Art und Weise dargestellt wurde, lässt sich durch die Suche nach stilistischen oder ikonographischen Vorbildern nicht klären.1021 Wie noch gezeigt wird, erklärt sich die ungewöhnliche Darstellungsweise aus der Berücksichtigung der Perspektive des Betrachters: Die sechs Türdarstellungen auf der Bernwardstür bieten dem Betrachter Bilder von Handlungen an Türen, die ihm als Vorbilder für sein eigenes Verhalten vor und an der Tür gelten können. 1021 Gallistl meint etwa, dass man in Hildesheim an eine „verschüttete Überlieferung“ anknüpfe – er will einen römischen Sarkophag aus der Mitte des 4. Jahrhunderts als Vorbild sehen: Gallistl 1990, S. 154 f. Ließen sich keine Vorbilder finden, schrieb man die Architekturdarstellungen in der Forschung dem Zweck der Platzfüllung zu: s. Dibelius 1907, S. 49 u. Tschan 1951, S. 192. Man muss allerdings nur die Paradiesszenen betrachten, um zu erkennen, dass die Nutzung von Leerflächen zu Erzählzwecken als eine der besonderen Fähigkeiten der Werkstatt gelten kann: s. Mende 1994, S. 30. Zur generellen Kritik am „hanebüchenen Konstrukt einer ‚ikonographisch unverstandenen Übernahme‘“ in der Kunstgeschichte: Mohnhaupt 2000, S. 94.

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Für einen ersten Vergleich zur Türdarstellung in der Vertreibungsszene muss man nicht weit blicken: Einige Zentimeter weiter rechts befindet sich auf dem anderen Flügel ebenfalls eine Tür. Es ist die Tür des Tempels am linken Bildrand, vor dem Maria Christus an Simeon überreicht (Abb. 105). Beachtenswert ist diese Gegenüberstellung vor allem deshalb, weil es sich hier um das einzige Beispiel auf der ganzen Tür handelt, in dem Architekturen auf der Horizontalen bildfeldübergreifend aneinander angrenzen: „Die vierte Zeile mit der ‚Vertreibung‘ [...] und der ‚Darbringung‘ [...] bildet tendenziell eine räumliche Einheit. Sie wird hergestellt durch die zu den Bildrändern hin ‚offenen‘ Architekturen der Paradiespforte und [...] und des Tempels [...], die man als ein Gebäude lesen kann“.1022 Beide Türen markieren in den Bildern den Übergang von einer Sphäre in eine andere: Die Paradiespforte führt vom Paradies in die irdische Welt, die Tempeltür von der irdischen Welt an einen sakralen Ort, der nach christlicher Vorstellung als „domus Dei et porta caeli“ (Gen. 28,17) ja selbst auf der Grenze zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt angesiedelt ist.1023 Die Grenze zwischen dem links dargestellten irdischen und rechts dargestellten sakralen Raum ist der Türspalt, der sich für den Betrachter beim Öffnen der Bronzetür zu einem Durchblick und einem Durchgang in das Innere der Kirche verbreitert. Hier konvergieren besonders deutlich die beiden Richtungen, die eine Bildertür für die Blicke der Betrachter und deren Bewegungen vorgibt, nämlich erstens die der Erzählung parallel zur Bildebene und zweitens die der Bewegung des Betrachters orthogonal dazu in die Tiefe.1024 Obwohl die Tempeltür die erste ist, die dem Betrachter zusammen mit der Paradiespforte auffällt, so liegt die erste Tür des rechten Flügels – folgt man der Erzählrichtung – einige Bildfelder tiefer, im untersten Register. In der bereits mehrmals erwähnten Verkündigungsszene steht die Tür hinter Maria halb offen. Im Vergleich mit den anderen Türdarstellungen auf der Bernwardstür ist der rechte, geschlossene Flügel besonders detailliert mit Schloss und Riegel dargestellt. An der Stelle des linken Flügels steht ein faldistorium, ein Faltstuhl, der in der Ikonografie auf die Überraschung Marias verweist, die bei der Ankunft Gabriels aufspringt.1025 Hier tritt die allegorische Bedeutung der Tür als Paradiespforte hervor, die durch Maria in ihrer Rolle als zweite Eva wieder geöffnet wird. Der Mauerbogen, der sich zwischen Maria und dem Engel spannt, erscheint in dieser Lesart als Hinweis auf ein weiteres marianisches Symbol, den hortus conclusus. Die Relevanz der allegorisch-metaphorischen Dimension wird durch ein zur selben Zeit in Hildesheim entstandenes Bild gestützt. Das sogenannte kostbare Evangeliar (um 1015) zeigt auf der Rectoseite des Dedikationsbildes die thronende Maria, die von zwei mit Inschriften versehenen Türen flankiert wird (Abb. 107). Die linke dieser Türen ist geöffnet, die rechte geschlossen und verriegelt.1026 Die Inschrift auf der ­rechten Seite lautet: „PORTA PARADISI PRIMEVA(M) CLAVSA PER AEVAM“; die auf 1022 Mohnhaupt 2000, S. 90 (seine Hervorhebung). 1023 Der Tempel präfiguriert die christliche Kirche in der Heilsgeschichte. Zum Kirchweihritus, der auf den Jakobstraum zurückgeht, s. z. B. Neuheuser 2005 u. oben 3.3; vgl. auch eine ähnliche Feststellung zur Hildesheimer Szene bei: Mohnhaupt 2000, S. 90. 1024 Vgl. zu diesem Verhältnis: Bogen 2004, S. 250. 1025 Vgl. Gallistl 1990, S. 162, Anm. 91. 1026 S. Ausst. Kat. Hildesheim 1993, Bd. 2, Kat. Nr. VIII-30, S. 570–578.

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107 Doppelseite mit Dedikationsbild, kostbares Evangeliar, Hildesheim um 1015. Hildesheim, Domund Diözesanmuseum Hildesheim (Inv. Nr. DS 18, fol. 16v–17r), Blatt 28 x 20 cm.

der geöffneten linken Tür, in der ein Kreuzesstab steht: „NVNC EST PER S(AN)C(T)AM CVNCTIS PATEFACTA MARIA(M)“.1027 Auch das Türmotiv der Verkündigungsdarstellung auf der Bronzetür zeigt einen geschlossenen und einen offenen Türflügel, und in der geöffneten Hälfte ist ein Faltsessel mit gekreuzten Beinen zu erblicken. Dieser symbolisiert den Schoß Mariens als Behältnis Christi, auf den auch der Kreuzesstab in der geöffneten Tür im Evangeliar rekurriert. Die geschlossene Tür wird mit Eva, die offene mit Maria assoziiert. Solche Vergleiche zeigen die Vielschichtigkeit der Wahrnehmungsmöglichkeiten der Tür an. Evangeliar und Tür hatten denselben Auftraggeber, und das Evangeliar war für die Michaelskirche hergestellt worden, so dass es einigen Betrachtern vielleicht bekannt war.1028 Im Kontext der narrativen Logik der Bernwardstür ist die Tür hinter Maria jedoch zunächst eine Version der ihr im Erzählfluss vorhergehenden Paradiespforte: „Die Tür zwischen Gott und Mensch, die sich im Sündenfall geschlossen hat, wird durch die Inkarnation 1027 „Das Tor des Paradieses, für immer verschlossen durch die erste Eva, ist jetzt durch die Hl. Maria für alle geöffnet“ (Übersetzung T. B.). Die Assoziation von Maria mit der Tür wird durch die Schrift auf dem rechten der drei kleinen Bögen über den Figuren noch unterstrichen. Hier wird Maria gegrüßt als „Pforte Gottes, nach der Geburt auf ewig verschlossen“ („AVE PORTA D(E)I POST PARTV(M) CLAVSA P(ER) EVV(M)“): Ausst. Kat. Hildesheim 1993, Bd. 2, Kat. Nr. VIII-30, S. 575 1028 Im Eintrag Bernwards auf fol. 231v erklärt er sich als Auftraggeber des Evangeliars und nennt als Stiftungsort die Michaelskirche: s. Ausst. Kat. Hildesheim 1993, Bd. 2, S. 578. Vermutlich war es hier für den Kryptaaltar gedacht, s. Schütz 1994, S. 584.

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Christi wenigstens halb aufgestoßen“.1029 Den Gläubigen wird der Rückweg in Aussicht gestellt. Mohnhaupt betrachtet die Tür hinter Maria als Kommentar zur Bilderzählung selbst: Die linke Hälfte ist geöffnet, aber durch den Faltsessel „versperrt“, so wie die Erzählung der linken Bronzetürhälfte mit dem Sündenfall bereits „unwiderruflich beendet“ ist.1030 Der rechte Türflügel ist noch geschlossen, seine Erzählung steht also noch aus.1031 In jedem Fall soll dem Betrachter eines vermittelt werden: die Notwendigkeit, die Erzählung weiter zu verfolgen. Erst durch das Nachvollziehen der restlichen Erzählung kann er sich vergewissern, ob die Tür in der Erzählung jemals vollständig geöffnet wird. Insofern lässt sich das Türmotiv als narratives Mittel im Repertoire der Bilderzähler erkennen, das die Aufmerksamkeit des Betrachters lenkt. Die nächste Türdarstellung im Verlauf der Erzählung ist die bereits angesprochene Darbringung Christi im Tempel. Auch diese Szene weicht von der ottonischen Ikonographie ab, da die Präsentation in Hildesheim nicht über dem Altar, sondern vor dem Tempel statt­ findet.1032 Der Altar befindet sich jenseits der Tür. Die Tür hat somit den Charakter der Verzögerung, des Noch-Nicht, den ja auch die halboffene Tür der Verkündigung hatte. Die Schließung der gegenüberliegenden Paradiespforte ist (immer) noch nicht rückgängig gemacht, die Darbringung noch nicht vollzogen worden. In der Szene über der Präsentation im Tempel steht Christus bereits vor Pilatus (Abb. 106).1033 An der Vorderseite des Palastes ist ebenfalls eine Tür angebracht, über der sich die Hände des Pilatus und des Schergen treffen, der Christus festhält. Das Richthaus mit den Kreuzen auf dem Dach ist als weiterer Ort des Opfers Christi eine Fortsetzung des Tempels der Darbringungsszene.1034 Doch auch hier sind Christus und der Ort des Opfers voneinander getrennt und das Türmotiv übernimmt erneut die Vermittlung einer Verzögerung. Die Waffe des Beraters von Pilatus präfiguriert die Lanze der Kreuzigungsszene darüber, in der Christus endgültig als Erlöser erscheint. Die spezielle Bedeutung der Kreuzigungsszene wird dadurch deutlich, dass es das einzige Bildfeld auf dem rechten Flügel ist, in dem keine Architektur dargestellt ist. Darüber hinaus ist die Szene über eine besondere Art der Rahmung hervorgehoben, denn das Astkreuz geht direkt in den doppelten Rahmen des Bildfeldes über. Auf den obersten beiden Bildfeldern befinden sich schließlich zwei weitere Türdarstellungen (Abb. 106). Das Grab über der Kreuzigungsszene wiederholt in seiner Position, seiner Form und seiner Ausstattung mit Tür und Vorhang den Tempel der Präsentationsszene. Hier steht die Tür für das Nicht-Mehr, das der gestikulierende Engel den Frauen gerade vermittelt. Der Erkenntnisgrad der drei Frauen, die sich dem Grab nähern, nimmt wie bei der Anbetung der Könige von der hintersten zur vordersten Figur zu. Die letzte Bildszene des rechten Flügels enthält dann ein letztes Mal das Motiv der Tür in deren Modus des Noch-

1029 Bogen 2004, S. 257. 1030 Mohnhaupt 2000, S. 78. 1031 Ebd. 1032 Ausst. Kat. Hildesheim 1993, Bd. 2, Kat. Nr. VII-33, S. 503–512, hier S. 510. 1033 Dargestellt sein könnte aufgrund der Krone auch Herodes, vgl. Wesenberg 1955, S. 78. 1034 Mohnhaupt 2000, S. 91.

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Nicht. Die Darstellungsweise verbindet das Noli me tangere mit der Himmelfahrt Christi.1035 Christus wendet sich zu Maria Magdalena um, während er bereits auf einer Anhöhe der Tür zustrebt. Hinter dem Turm mit der Tür mündet die das Erdengeschehen der rechten Türhälfte durchziehende Architektur in eine Pflanzenwelt, wie sie die gegenüberliegenden Paradiesszenen kennzeichnet.1036 Christus hat seinen Kreuzesstab bereits auf die Schwelle gestellt. Die Tür muss dennoch als geschlossen dargestellt werden, weil sie sich an den Menschen im Bild – Magdalena – und an den Menschen vor dem Bild – den Betrachter – richtet. Ihnen öffnet sich die Himmelspforte noch nicht. Wie Mohnhaupt gezeigt hat, bedarf es nicht erst der allegorischen Dimension, in der Eva, Maria und Magdalena Präfigurationen der Ecclesia sind, um die Kirche als das zentrale Thema der Bilderzählung zu erkennen.1037 Die abgebildeten Architekturformen Paradiespforte, Tempel, Richthaus und Grab mit ihren Dachkreuzen sind Darstellungen der Kirche. Dass diese im doppelten Sinne ‚zwischen‘ Himmel und Erde zu lokalisieren ist, wird aus der Nebeneinanderstellung von Paradiespforte und Tempel deutlich, die sich gut erkennbar auf einer Höhe von 1,77 bis 2,36 Metern befindet.1038 Bei den Darstellungen von Tempel und Grab befinden sich die Figuren außerhalb der Architektur und sind durch Türen von ihr getrennt. Den Blick auf das Innere der Gebäude ent- oder verhüllen Vorhänge. Im Bild des Tempels etwa geben die beiseite gezogenen Vorhänge den Blick auf den Altar frei. An diesem Punkt übernimmt also bezeichnenderweise ein anderes Schwellenmotiv die Funktion, welche die reale Bronzetür für den Betrachter erfüllt: Die Vorhänge eröffnen im Bild den Blick auf das Herz des Kirchengebäudes – der Blick also, der sich auch im Betrachterraum gleich neben dem abgebildeten Tempel auftun kann. Dem Auge des Betrachters wird hier – unabhängig von der Bilderzählung, die immer parallel zur Bildebene verläuft – ein Blick in die Tiefe gestattet.1039 Das Vorhangmotiv, das ursprünglich aus der spätantiken Herrscherikonographie stammt, ist ein Motiv zur Darstellung des Übergangs vom Diesseits zum Jenseits.1040 In Hildesheim kommt 1035 Vgl. Panofsky 1924, S. 74–77. Rechts der Tür sind zwei auffliegende Vögel dargestellt, die symbolisch für die Himmelfahrt stehen. 1036 Über die Deutung der Tür bestehen in der Forschung unterschiedliche Meinungen. Für eine Interpretation als Himmelspforte sprechen sich aus: Wesenberg 1955, S. 80; Tschan 1951, S. 224 u. Götz 1971, S. 109. 1037 Mohnhaupt 2000, S. 100. Gallistl kommt über den Vergleich der Bilder mit exegetischen Schriften zum gleichen Ergebnis: Gallistl 1990, S. 180 f. 1038 Die Angaben sind aus der Höhe der Tür in der Annahme einer gleichmäßig verteilten Höhe der Bildfelder berechnet; sie sind daher ungenau, aber ausreichend, um eine Vorstellung von der Aufbringungshöhe zu gewinnen. 1039 Nach Bogen nutzen erst die Türen der Renaissance den Tiefenblick für die Erzählung: Bogen 2004, S. 250. In Hildesheim wird nicht in die Tiefe erzählt, aber die Vorhänge enthüllen den Altar und damit dem Betrachter einen Blick in die Tiefe, der sich von der von rechts nach links stattfindenden Präsentation Christi unterscheidet. S. auch unten zur Veroneser Bildertür, wo die Bildkünstler sogar durch materielle Aussparungen in der Bronzeschicht den Blick in die Tiefe leiten. Diese Technik verwendet auch Andrea Pisano in der Südtür des Florentiner Baptisteriums (1336), die nach Bogen die Tendenz erkennen lässt: ebd. 1040 So betonen es Johann Konrad Eberlein und Nike Bätzner: Eberlein 1982, S. 48; Bätzner 2005, S. 195.

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dem Motiv der Tür die Rolle der Vermittlung narrativer Bezüge orthogonal zur Durchgangsrichtung der realen Tür zu, während der Vorhang scheinbare Einblicke parallel zur Bewegungsrichtung in den Kirchenraum anzeigt.1041 In der Szene der Darbringung lässt sich das heilsgeschichtliche Geschehen dadurch vom Betrachter imaginär in die reale Kirche projizieren. Der Betrachter kann den heilsgeschichtlichen Ort der Handlung (Altar) und die Handlung selbst (Darbringung) im Sinne der Erzählung über das Motiv der Tür miteinander verbinden. Er kann den Tempel mit seinem enthüllten Altar aber ebenso auf die zeitgenössische, hinter der Tür liegende Kirche beziehen, von der ihn – wie die Figuren der Erzählung – eine Tür trennt. Dass diese beiden Betrachtungsweisen einander nicht ausschließen, zeigt der Gebrauch der Tür: Der Betrachter kann gewissermaßen Ort und Handlung der Präsentation Christi, die im Bild durch das Türmotiv getrennt sind, durch seine eigene Bewegung in die Kirche miteinander verbinden. Im Inneren der Kirche wird ihm der Leib Christus bei der Messe über dem Altar präsentiert, die Szene der Bronzetür damit ‚aktiviert‘. Die Türmotive der Hildesheimer Bronzetür verknüpfen die Heilsgeschichte folglich immer wieder mit der räumlichen Realität des Betrachters. Sie präsentieren die Erzählung aber auch als etwas, das es vor der Benutzung der realen Tür nachzuvollziehen gilt, indem sie die Öffnung der Türen in den Bildern immer wieder verschieben und schließlich auch den Wunsch, die geöffnete Himmelstür zu erblicken, unerfüllt lassen. Das Passieren der Kirchentür am Ende der Erzählung steht somit im Erfahrungshorizont der Heilsgeschichte und vollzieht gewissermaßen stellvertretend das Öffnen der Himmelspforte. Das erschließt sich nicht nur aus der Symbolik der Tür im Mittelalter. Vielmehr wird erst aus einem rezeptionsästhetischen Blick auf die Bilderzählung in Hildesheim deutlich, mit welchen Mitteln eine solche Betrachterinterpretation möglich und darüber hinaus gefordert wird. Die Verbindung zwischen realem Kirchengebäude und Paradiespforte wird bereits im Bild durch das fünfte Register hergestellt, wo die beiden Architekturen assoziativ miteinander verschmolzen sind. Die Vertreibung aus dem Paradies ist die einzige Szene, in der eine Figur eine Tür berührt, und damit die einzige Parallele zur Handlungsfigur des die Kirchentür öffnenden Betrachters (Abb. 108). Als wichtigstes Vorbild für den Betrachter kommt daher nur Adam in Frage.1042 Hier wird noch einmal ganz deutlich, warum die Paradiespforte als geschlossen dargestellt werden muss: Die reale Tür vor dem Betrachter ist geschlossen, während er diese Szene betrachtet, und als Sünder ist ihm auch die Paradiespforte noch verschlossen. Durch das Öffnen der Kirchentüre wird es dem Betrachter so vorkommen, als sei er schon ein Schritt näher an die Himmelstür herangekommen. Die Szene der Vertreibung aus dem Paradies bietet noch weitere Erkenntnisse darüber, wie sehr sich die Bilderzähler der Wirkung einer realen Tür bewusst waren. Die Beschreibung der oben geschilderten Szene durch Dibelius ließe sich auch als Beschreibung des Betrachterverhaltens vor der Tür lesen: Durch die Tür „wird die Handlung auf einen bestimmten Zeitpunkt festgelegt, und zwar auf denjenigen, der der allerwirkungsvollste ist, kurz vor der Entscheidung, kurz vor dem Schritt über die Schwelle. [...]. Adam ist eben an der Pforte ange1041 Zum Vorhangmotiv als auf der Tiefenachse agierendes Motiv der Verhüllung und Enthüllung in der frühmittelalterlichen Buchmalerei: Reudenbach 2009 B, S. 67–71. 1042 So schon Mohnhaupt 2000, S. 74.

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108 Vertreibung aus dem Paradies (Detail). Bernwardstür, Hildesheim, um 1015.

langt; dadurch entsteht ein Aufenthalt, denn er muss erst die Tür öffnen. Dies augenblickliche Hemmnis gibt Eva Gelegenheit, noch einmal sich umzuwenden“.1043 Genau dieses „augenblickliche Hemmnis“, das auch die Kirchentür für die Besucher der Kirche darstellt, nutzen die Bilderzähler, um die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die Erzählung zu lenken und damit den Moment des Aufenthalts zu dehnen. Wie diese Dehnung in der Erzählung zustande kommt, ist schon durch die Funktion der Türen als Verzögerungsmotive deutlich geworden. Harvey Stahl hat in den Bildern der Bernwardstür allgemein die Verzögerung als zentrales Thema gesehen: „a condition of permanent referral, which ends only as attention is directed elsewhere, from this panel to the next“.1044 Seiner Meinung nach ist das Thema der Türen die Erwartung, die sich in den zahlreichen fast ausgeführten Berührungen niederschlage.1045 Die Erzählung selbst stellt den Prozess der Erkenntnis als graduell dar: Die Heiligen Drei Könige und die Drei Frauen am Grab spiegeln den Wahrnehmungsprozess des Betrachters an der Tür und verbinden diesen zugleich mit einem Bewegungsablauf. Während die hintere der drei Frauen beispielsweise noch mit ihrem Salbgefäß beschäftigt ist, hat die mittlere bereits den Engel oder das geöffnete Grab bemerkt und drückt ihre Überraschung aus (Abb. 106). Die vordere befindet sich schließlich schon im Gespräch mit dem Engel. Da die Ebenen der Erkenntnis als Stationen eines Weges dargestellt sind, ergeben sich Parallelen zum Verstehensprozess des Türbetrachters.1046 Dieser wird durch die Bilderzählung auf ver1043 Dibelius 1907, S. 28. 1044 Stahl 2002, S. 171. 1045 Ganz deutlich ist das bei Adam und Eva in der „Zuführung“ und zwischen Magdalena und Christus: Stahl spricht hier von „thematizing expectation“: Stahl 2002, S. 163. 1046 Der zurückgelegte Weg wird im Bildfeld über die Gestaltung des Bodens vermittelt, der aus mehreren Hügeln besteht, auf denen die Frauen stehen.

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schiedenen Ebenen angesprochen bzw. ihm bieten sich verschiedene Einstiegsmöglichkeiten in die Erzählung: Erwähnt worden ist bereits die im Architekturkonglomerat konzentrierte Gegenüberstellung von zwei Schwellenmotiven im vierten Register von unten, die neben einem solchen Überblick über zwei Arten der Schwelle auch einen Einblick in die Tiefe suggeriert; der Betrachter kann aber auch den gesamten Erzählzyklus verfolgen, den die Türmotive in ihrem Modus des Noch-Nicht takten. Der Erkenntnisprozess des Betrachters konnte seine Entsprechung gewissermaßen im Vorgang des Erkennens finden. Denn das Thema der Verzögerung und Verheißung scheint ebenso den beiden materiellen Ebenen der Tür zugrunde zu liegen, welche die Bilderzähler nutzen: Während die Architekturen in flachem Relief auftreten und unter bestimmten Lichtverhältnissen vielleicht nicht deutlich zu erkennen waren, heben sich Köpfe und Oberkörper der Figuren am vielen Stellen vollplastisch vom Hintergrund ab und ragen in den Betrachterraum hinein. Geht man nun von einer mittelalterlichen Wahrnehmungsvorstellung aus, die vom Körper und der Berührung her gedacht ist, dann ergeben sich zusätzliche Einstiegsmöglichkeiten für den Betrachter. Einer geschlossenen Tür nähert man sich gewöhnlich mit dem Ziel, sie zu durchqueren, d. h. die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Stellen, an denen die Tür zu öffnen ist – Klinke, Knauf, Riegel oder im Mittelalter die Türzieher. Bei Bronzetüren hinterlassen die Hände sogar deutliche Spuren: An den am häufigsten berührten Stellen ist das Metall blank poliert und leuchtet golden.1047 Mohnhaupt hat als erster darauf hingewiesen, dass die vielen Hände in den Bildfeldern unter den Türziehern die Hände der Besucher kommentieren (Abb. 105).1048 So erklärt sich die apokryphe Nebenszene der Geburt Christi, bei der die Hand der Hebamme Salome, die sich der jungfräulichen Empfängnis vergewissern will, erst erstarrt und dann von Christus geheilt wird, aus der räumlichen Nähe zur Betrachterhand und nicht aus der Ikonographie.1049 Unter dem linken Türzieher ist die Dextera Dei in einem Strahlenkranz dargestellt, der die Form des Ringes aufgreift.1050 Sie urteilt über die von Kain und Abel einmal mit unverhüllten und einmal mit verhüllten Händen dargebrachten Gaben, segnet das Tieropfer Abels, während ein „fingerförmiger Strahl“ Kains Opfer ablehnt.1051 Der Strahlenkranz greift die Mähne des Löwentürziehers wieder auf und bezeugt so die ‚Strahlkraft‘, mit der die „Dextera Dei [...] über die Benutzung der Tür wach[t]“ und über ihre Betätiger urteilt.1052

1047 Vgl. die Bemerkungen von Mende 1994, S. 9 f. 1048 Mohnhaupt 2000, S. 74 f. 1049 Wesenbergs Vermutung, dass die Geste der „Dienerin“ von einer Vorlage übernommen wurde, ohne dass dem Künstler die Bedeutung klar gewesen wäre, überzeugt nicht: Wesenberg 1955, S. 77. Abgesehen von der Implikation, dass die Bildkünstler ausschließlich nach Vorlage arbeiten, die sie aufgrund ihrer intellektuellen Unzulänglichkeit jedoch nicht verstehen, erscheint dies in Anbetracht der vielen ‚Händeversionen‘ auf der Tür sehr unwahrscheinlich. 1050 S. Mohnhaupt 2000, S. 74; Bogen 2004, S. 260. 1051 Mohnhaupt 2000, S. 74. 1052 Bogen 2004, S. 260 (seine Hervorhebung).

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Die Betrachterhand und der Schlund: Verona, Novgorod, Brioude Die These, dass das Sich-Nähern mit der Hand ein Modus der Sinneswahrnehmung ist, dessen privilegierten Status’ sich mittelalterliche Bildkünstler im Kontext des Mediums Bildertür bewusst waren, und den sie konkret anzusprechen vermochten, lässt sich durch mehrere Beispiele stützen. Eines aus dem frühen 12. Jahrhundert ist die Bronzetür von San Zeno in Verona. Die Türflügel bestehen aus 48 annähernd quadratischen Bronzetafeln, die auf einen Holzkern genagelt sind, an dessen Rändern sich weitere, kleinere Platten befinden (Abb. 109).1053 Stilistisch lassen sich die Tafeln in zwei Gruppen unterteilen, zwischen denen aber nicht mehr als 20 Jahre liegen.1054 Die Tafeln des sogenannten ersten Stils befinden sich überwiegend auf dem linken, die des zweiten Stils auf dem rechten Türflügel; einige Szenen sind doppelt vorhanden. Dargestellt sind vor allem Szenen aus der Bibel, aus dem Leben Johannes des Täufers und aus der Legende des Hl. Zeno.1055 Die Türzieher, ein menschlicher Kopf links und ein Löwenkopf rechts, sind in Verona in je eigenen Feldern angebracht (Tafel 16 und Abb. 110). Bereits die unterschiedliche Gestaltung der Türzieher lässt vermuten, dass ihnen besonders viel Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Auch die Fertigungsweise ist ungewöhnlich: Sie sind nicht aufgesetzt, sondern wölben sich graduell aus der Platte heraus. Das ist an der Mähne des Löwen besonders gut zu erkennen. Innen sind beide Türzieher hohl, so dass man durch ihre Mäuler (denen heute die Ringe fehlen) den Holzkern sehen kann. Über dem bärtigen Menschenkopf bilden zwei Schlangen einen Bogen. Wie in Hildesheim wird also auch hier die Form des Türrings in den angrenzenden Bildstrukturen aufgegriffen. Nur ist diesmal der Strahlenkranz gewissermaßen in sein Gegenteil verkehrt: Die Schlangen beißen (oder sprechen) dem Bärtigen in die Ohren; sie sind also eine Verbildlichung des Bösen. Mit einem Griff an die Tür kommt der Betrachter in Verona nicht in die Nähe der Dextera Dei, sondern in die Nähe des Teufels und der Oralität der Hölle, denn aus dem Mund des linken Türkopfes kommt ein weiterer Drachen- oder Schlangenkopf, der ehemals den Ring hielt. Hervorzuheben ist die Ambivalenz des Schwellenraums, die bereits in der Portalskulptur deutlich wurde und sich in der Gestaltung der Türzieher im Mittelalter besonders prägnant auf den Betrachter bezieht, der einmal angezogen, einmal abgestoßen wird. In konzentrierter Form sind den Türziehern somit Strukturen der Mahnung und Verheißung eingeschrieben, die sich als ein wesentliches Thema der mittelalterlichen Schwelle heraus­ stellen. Demgemäß wurde das Thema des Verschlingens oder Verschlungen-Werdens bei der Gestaltung mittelalterlicher Türzieher öfters aufgegriffen. An der Bronzetür von Novgorod (Abb. 111) etwa befinden sich zwei Löwen als Türzieher, aus deren Mäulern auf dem rechten Türflügel ein Menschenkopf und auf dem linken fünf Menschenköpfe ragen 1053 Maße der Holzunterlage: 4,80  x 3,60 m. Zu Verona: Neumann 1979; Götz 1971, S. 117–134; Mende 1994, S. 57–73 und S. 146–154. 1054 Mende 1994, S. 153. Die ältere Forschung ging meist von einer größeren Zeitdifferenz aus: s. z. B. Götz 1971, S. 128–130, die für die früheren Platten von einer Entstehung in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts, für die späteren von einer Herstellung um die Mitte des 12. Jahrhunderts ausgeht. 1055 S. Vita Zenonis.

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109 Bronzetür von S. Zeno, Verona, vor und um 1138. Maße der Holzunterlage: 480 x 360 cm.

(Abb. 112).1056 Auch in England sind drei Türzieher aus dem 12. bis 14. Jahrhundert er­halten, die als Höllenschlund dargestellt werden.1057 Auf der Bronzetür von Novgorod wird die Verbindung zur Hölle explizit hergestellt: Zwei Bildfelder unter dem rechten Türzieher wird die Hölle in der Szene der Höllenfahrt Christi als von der Seite gesehener Schlund gestaltet, aus dem Menschenköpfe ragen, und den Christus mit dem Kreuzesstab bezwingt (Abb. 113). Die Betonung liegt nicht auf der Befreiung der Voreltern – Christus hat keine der aus dem Maul ragenden Figuren beim Handgelenk gegriffen –, sondern auf dem Kampf Christi gegen die Personifikation der Hölle.1058 Die Bildkünstler haben anscheinend bewusst eine Darstellungsweise gewählt, die eine Verbindung zu den Türziehern herstellen sollte. 1056 Zu Novgorod s. Hamann 1932; Goldschmidt 1932; Mende 1994, S. 74–83 u. 154–161; zu den Türziehern: Mende 1981, S. 63–69 u., S. 222 f. (Kat. Nr. 43). 1057 St. John in Adel in der Nähe von Leeds, All Saints in York, St. Gregory in Norwich: s. Zarnecki 1965. Darüber hinaus gibt es noch einige, die wie die Löwen aus Novgorod aus der Magdeburger Gießhütte stammen dürften: Mende 1981, S. 64–69 u. Kat. Nr. 153–155, S. 276 f. 1058 Vgl. Götz 1971, S. 142.

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110 Bronzetür von S. Zeno, Verona, vor und um 1138. Teil des rechten Türflügels.

Der Kampf gegen das Böse, das Besiegen der Sünde und des Teuflischen findet sich an mehreren Stellen der Tür wieder: Auf dem linken Türflügel ist auf gleicher Höhe wie die Höllenfahrt der Kampf der Tugenden gegen die Laster nach der Art der Psychomachia dargestellt,1059 und in mehreren verstreuten Szenen stehen Ritterheilige oder Kämpfer als Zeichen des Sieges über das Böse auf Löwen und Drachen. Auf den Türziehern des Südportals der Kirche Saint-Julien in Brioude (Auvergne) ist das Thema des Mauls und Mundes zusätzlich inschriftlich betont (Abb. 114).1060 Wie in Verona handelt es sich bei den Ende des 11. oder Anfang des 12. Jahrhunderts entstandenen Türziehern um einen menschlichen Kopf auf der linken und einen Löwenkopf auf der rechten Seite. Rund um den Menschenkopf ist zu lesen: „ILLECEBRIS ORIS CAPTOS FALLAX TRA(H)IT ORBIS“; gegenüber steht: „ORIOR EX ANIMIS: VITA(M) DAT SP(IRITU)S 1059 S. Mende 1994, S.156 f. Zum frühchristlichen Epos der Psychomachia, in der der Dichter Aurelius Prudentius einen militärischen Feldzug der Tugenden gegen die Laster beschreibt, s. Michael W. Evans: Art. Tugenden und Laster, in: LCI, Bd. 4 (1972), Sp. 380–390. 1060 Hahnloser 1959, S. 140 f.; Mende 1981, Kat. Nr. 20, S. 211 f.

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111 Bronzetür der Sophienkathedrale, Novgorod, um 1152/1156. Maße: 240 x 360 cm.

ORIS“.1061 Während die Inschrift um den Menschenkopf also vor den Verführungen des (irdischen) Mundes warnt und „oris“ mit „orbis“ assoziiert, bezieht sich der Text auf der rechten Seite auf die dem Löwen im Mittelalter zugeschriebene Eigenschaft, seine totgeborenen Jungen durch seinen Atem zum Leben zu erwecken („orior“/„oris“), und die damit verbundenen Auferstehungssymbolik.1062 Die beiden entgegengesetzten Funktionen der bildlichen Gestaltung von Kirchenschwellen, Warnung und Verheißung, konzentrieren sich in Brioude auf die direkte Umgebung der Türzieher. Der Leser der Inschriften stellt zudem – 1061 „Trügerisch schleift die Welt diejenigen mit, die sich von den Verlockungen des Mundes haben hinreißen lassen“ (Deutsche Übersetzung: Helge Baumann); „Ich entspringe aus den Seelen. Der Geist des Mundes gibt das Leben“ (Deutsche Übersetzung: Hahnloser 1959, S. 140). 1062 S. Peter Bloch: Art. Löwe, in: LCI, Bd. 3 (1971), Sp. 112–119.

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112 Bronzetür der Sophienkathedrale, Novgorod, um 1152/1156. Türzieher links und rechts.

falls er laut liest oder seine Lippen bewegt – seinen eigenen Mund in den Dienst dieser beiden gegensätzlichen Bedeutungen des Mundes, der darüber hinaus bei den Begriffspaaren der Wörter, die mit dem Buchstaben O beginnen, selbst die Form des Türrings wiederholt. Ganz deutlich wird hier, wie dargestellte Münder und Mäuler, ihre inschriftlich evozierten Konnotationen und der konkrete Gebrauch der eigenen Hand und des eigenen Mundes des Betrachters miteinander verwoben werden. So wird er konkret und über verschiedene Sinne geleitet vor eine schicksalshafte Wahl gestellt, die es vor dem Überqueren der Schwelle zu treffen gilt. Allgemein unterstützen diese Beobachtungen außerdem die Feststellung, dass die taktile Handhabung des jeweiligen Mediums durch den Betrachter ein Kriterium ist, das bei der Positionierung von Höllenelementen durch die Bildkünstler besonders berücksichtigt wurde, und so z. B. in der Buchmalerei ein ausgeprägter Bezug des Höllenschlundes zum Rand zu beobachten ist.

113 Höllenfahrt Christi. Bronzetür der Sophienkathedrale, Novgorod, um 1152/1156.

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114 Türzieher der Kirche Saint-Julien, Brioude (Auvergne), Ende 11. oder Anfang 12. Jahrhundert.

Während in Novgorod Menschenköpfe aus dem Löwenmaul ragen, ist die Gestaltungsweise in Verona auf dem linken Türflügel umgekehrt: Aus einem Menschenmund kommt ein Drachen- oder Schlangenkopf heraus. Aber auch hier gibt es auf der Tür selbst für diese Darstellungsweise eine Parallele: In der gleichen Reihe auf dem rechten Flügel ist die Szene eines Wunders zu sehen, in der der Hl. Zeno eine besessene Prinzessin heilt (Abb. 110). Aus dem Mund der Frau, die vom Heiligen und einem Begleiter an den Handgelenken gehalten wird, springt ein kleiner Teufel. Aus der Perspektive dieses Bildes konnte dem Betrachter das Ziehen am Türring – und damit am Drachenkopf – die ,handwerkliche‘ Befreiung vom Bösen und von der Sünde vor Augen führen. Begibt sich der Benutzer des linken Türziehers in Hildesheim gewissermaßen in den urteilenden Einflussbereich der göttlichen Hand, so muss er sich im Angesicht des schlangenverseuchten Türkopfes in Verona selbst auf seine Sündhaftigkeit hin prüfen. Auch für die einen Menschenkopf attackierenden Schlangen gibt es eine innerbildliche Parallele: auf dem rechten Türflügel im rechten Bildfeld der vierten Reihe von oben (Abb. 110). Dargestellt ist die Aufrichtung der Ehernen Schlange als Zeichen der Rettung für die Kinder Israels, die als Strafe Gottes von Schlangen befallen wurden und nur am Leben blieben, wenn sie das Kreuz sahen. Während die oberen beiden Figuren sich in Blick und Geste auf das Kreuz richten, und ein Mann sogar bereits mit der Hand die Schlange gepackt hat, die ihm in den Hals beißt, greift sich die untere Person an die Augen und zeigt damit, dass sie das von Moses errichtete Kreuz nicht sehen kann. Im Kontext des Türziehers ist das als Lehre der Erkenntnis zu verstehen – auch der Betrachter muss sich von der Sünde reinigen, indem er das wahre Kreuz erkennt, nur dann wird er erlöst. Verstärkt wird diese Mahnung zur Befreiung von den Sünden auch durch die übrigen Bildfelder der Reihe mit den Türziehern. Ganz links ist die Höllenfahrt dargestellt (Abb. 115).

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115 Höllenfahrtauf dem linken Türflügel. Bronzetür von S. Zeno, Verona, vor und um 1138.

Der Höllenfürst ragt am weitesten aus der Bildebene hervor und wendet sich schräg dem vor den Türziehern stehenden Betrachter zu. Christus hat eine Öffnung in die Ummauerung der Hölle geschlagen und Adam am Handgelenk gefasst, der wiederum Eva mit sich zieht.1063 Am unteren Rand des Bildes stürzt ein Mensch oder ein Teufel, von dem man nur noch die Beine sieht, in einen Schacht. Im Bildfeld rechts daneben wendet sich der richtende Christus frontal an den Betrachter. Diese zwei Bildfelder bilden nicht nur den chronologischen Abschluss der Heilsgeschichte, sondern richten sich deutlicher als die Szenen aus dem Leben Christi darüber an die Betrachter, weil es um deren eigenes zukünftiges Schicksal geht. Im Kontext des Jüngsten Gerichts fungiert die Hölle nicht nur als Ort, den Christus nach seiner Auferstehung betritt, sondern zugleich als Jenseitsort, der sich an die Betrachter richtet. Die Veroneser Bildertür wurde noch nicht unter dem Aspekt der Erzählung analysiert, was wahrscheinlich auf die Heterogenität der Erzählszenen und ihre ungleichmäßige Verteilung zurückzuführen ist.1064 Deutlich ist jedenfalls, dass sich die Flügel schon aufgrund der Vielfalt an Szenen nicht so befriedigend in klare Leselinien und Querbezüge auflösen lassen wie die Hildesheimer Bronzetür. Ähnlich wie auf der Hildesheimer Tür aber richten sich die Szenen um die Türzieher in besonderer Weise an den Betrachter, und innerbildliche Motive kommentieren den Umgang mit der Tür. Der Griff ans Handgelenk aus der Höllenfahrt Christi ist eine Geste, die den Betrachter an die Bußriten am Aschermittwoch und Gründonnerstag erinnern mochte, bei denen der Bischof die Büßer mit dieser Geste wieder in die 1063 Die Stammeseltern sind, wie in der Vertreibungsszene auch, körperlich nicht unterschieden. 1064 Fragen „nach dem ursprünglichen Aussehen der Tür bzw. nach einem ursprünglichen Plan“ sind bisher unbeantwortet: Mende 1994, S. 57. Mende stellt fest, dass die „Bilderzählung naiv und von ­großer Unmittelbarkeit“ ist, hebt aber nur „die bis ins Psychologische reichende Ausdruckskraft“ der Gesten hervor und untersucht keine konkreten Bildfelder auf Techniken der Bilderzählung hin: Mende 1994, S. 61 u. 60. Zur Kritik an solchen „Werturteilen“ der kunsthistorischen Forschung über frühe mittelalterliche Kunst, s. Mohnhaupt 2004, besonders S. 184 f.

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116 Verstoßung Hagars auf dem rechten Türflügel. Bronzetür von S. Zeno, Verona, vor und um 1138.

Kirche einführte.1065 Zwar wurden in der Forschungsliteratur zu San Zeno keine spezifischen Quellen zur Bußliturgie erwähnt, aber die Riten blieben im gesamten Mittelalter ähnlich.1066 Ein weiteres Bildfeld der Tür ist im Kontext der kodifizierten Handlungen an Schwellen aufschlussreich: Auf dem rechten Flügel stellt das mittlere Bildfeld des dritten Registers die Verstoßung Hagars durch Abraham dar (Abb. 116).1067 Sehr detailliert ist ausgeführt, wie Hagar den Türring umfasst hält. Die Geste hatte, wie bereits mehrfach erwähnt, seit dem frühen Mittelalter eine rechtliche Bedeutung, nämlich die des Schutzsuchens, die besonders mit der Kirchentür verbunden war.1068 Wie das Bild Adams an der Paradiespforte in Hildesheim liefern die Szene in der Vorhölle und die Vertreibung der Hagar dem Betrachter einen 1065 Seit frühchristlicher Zeit war die Vorhalle ein Ort der Büßer, s. dazu Claussen 1975, S. 11, vgl. oben 5. Zur Motivgeschichte des Griffs an das Handgelenk s. Loeschcke 1965. 1066 Als erwähnenswert scheint auch, dass ein Abschnitt des Rekonziliationsritus darin besteht, dass sich alle Büßer und der Bischof an den Händen fassen und beten: Claussen nennt eine Quelle für Chartres aus dem 16. Jahrhundert, geht aber von einer Beständigkeit des Ritus im Allgemeinen aus: Claussen 1975, S. 11. In dieser Hinsicht ließe sich die Eva-Adam-Christus-Kette der Höllenfahrt als Entsprechung der Bußliturgie und Vorbild für Betrachter (und Bischof ) sehen. 1067 Die Szene wurde gelegentlich anders gedeutet: s. z. B. Neumann 1979, S. 38. Sie sticht auch durch ihre durchbrochen gearbeiteten Architekturöffnungen hervor, die gußtechnisch anspruchsvoll und in den übrigen Architekturmotiven der Bildfelder des zweiten Stils ohne Parallele sind. Vgl. Mende 1994, S. 69. 1068 S. oben S. 196 f. und die dort genannte Literatur; für Verona weist Götz 1971, S. 126, auf diesen Zusammenhang hin. Hagars Griff an den Türring wird an einem anderen Kircheneingang auffallend detailliert hervorgegoben: im Tympanon der Puerta del Cordero der Colegiata de San Isidoro in Leon (frühes 12. Jahrhundert). Hier ist die Darstellung nach Uwe Geese im Kontext der Reconquista zu sehen: In Anknüpfung an Hagar und ihren Sohn Ismael, die in die Wüste verstoßen wurden, wurden die Nachkommen Mohammeds als „Ismaeliter“ bezeichnet, als Ausgestoßene. Geese 2004, S. 289 u. 292.

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„Handlungsplan für die Benutzung der realen Tür“1069 bzw. Bilder von Handlungskontexten, die mit der Tür verbunden sind. Bemerkenswert ist, dass sich das Thema des Verschlingens und Verschlungen-Werdens, das generell an Portalen im Mittelalter eine große Rolle spielt, in Verona gerade auf denjenigen Teil des Bildprogramms konzentriert, der dem Betrachter visuell und körperlich am nächsten ist. Die Möglichkeiten des Materials Bronze werden von den Bildkünstlern hier besonders dazu genutzt, Schichten und Tiefe zu suggerieren. Die Figuren wölben sich nicht nur – wie auch in Hildesheim – beinahe vollplastisch aus der Bildebene hervor, sondern auch der hinter den Bronzeplatten imaginierte Bereich wird in die Erzählung miteinbezogen. Erwähnt worden ist dies bereits in Bezug auf die Türzieher, deren offene Mäuler bei indirektem Licht schwarz aussehen und eine Tiefe vermuten lassen, die den Holzkern dahinter zu negieren scheint. Aber auch der Schacht, in den der Mensch oder Teufel in der Hölle stürzt, wird durch zwei halbmondförmige Aussparungen zu Seiten des Verschwindenden verbildlicht (Abb. 115). So kann der Betrachter die Teufel hinter der Bronzeschicht imaginieren, aus der sie manchmal hervorbrechen – aus dem Mund des linken Türziehers oder aus dem Leib der geheilten Prinzessin. Bereits in der Untersuchung der Portalräume von Conques, Cahors und Oloron-Ste-Marie ist das Bestreben der mittelalterlichen Bildkünstler deutlich geworden, den Schwellenbereich als System mehrerer materieller Tiefenlagen darzustellen, die sich parallel zur Bildebene schichten und den bedrohlichen oder verheißungsvollen Aspekt der Schwelle in die imaginäre Tiefenebene hinein zu steigern. Die ,Späher‘ von Conques beobachten den Betrachter anscheinend aus einem solchen Zwischenort heraus. In Verona zieht das Dunkel hinter der Bronze die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich.

Von der Erzählung umrankt: Gnesen Auch auf der Bronzetür des Doms in Gnesen markieren die Türzieher Wendepunkte in der Bilderzählung (Abb. 117).1070 Die Bildfelder erzählen die Vita des Bischofs Adalbert von dessen Kindheit (links unten) über sein Bischofsamt und Martyrium bis zu dessen Grablegung in Gnesen (rechts unten). In ihrer thematischen Ausrichtung unterscheidet sich die Gnesener Tür von den bisher untersuchten Eingängen. Statt eines christologischen Programmes steht hier mit dem Hl. Adalbert der Nationalheilige Polens im Zentrum. Er starb 997 in Preußen den Märtyrertod. Die Entstehung der Bronzetür ist in Gnesen in Zusammenhang mit der politischen und kirchenpolitischen Situation Polens im 12. Jahrhundert zu sehen.1071 Die Heiligsprechung Adalberts und die Aufbewahrung seiner Reliquien in Gnesen im Jahre 999 waren Auslöser für die Gründung des Erzbistums Gnesen. Im 12. Jahrhundert war es als weiterhin einziges Erzbistum in Polen um die Wiedervereinigung des innerlich zerrütteten Königsreiches besonders bemüht. Die Herstellung der Tür ist daher im Zeichen der „Erinne1069 Bogen 2004, S. 253. 1070 Zu Gnesen: Skubiszewski 1990; Mohnhaupt 1993; Mende 1994, S. 84–93 u. 161–164; Knapinski 1999; Labuda 1999; Figge 2000, S. 127–144; Mazur-Kębłowski 2000. 1071 Mende 1994, S. 84 f.; Labuda 1999, S. 144.

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117 Bronzetür, Dom, Gnesen, um 1170.

rung an eine Zeit der Größe des polnischen Staates“ zu sehen.1072 Zugleich sind die Darstellungen „‚durchlässig‘ für die christologischen oder hagiographischen Bildtopoi und die damit verbundenen theologischen und moralischen Ideen“.1073 Die Vielfalt der Bezugsebenen offenbart sich bereits durch einen Vergleich mit der Bernwardstür. Obwohl die Gnesener Tür zeitlich, geographisch, stilistisch und ikonographisch von der Hildesheimer Tür entfernt ist, gibt es doch einige Gemeinsamkeiten: Beide Türen wurden in einem Stück gegossen und dienen der Bilderzählung, deren Verlauf in Hildesheim u-förmig und in Gnesen n-förmig nachzuvollziehen ist, wodurch sich in beiden Fällen 1072 Labuda 1999, S. 144. 1073 Labuda 1999, S. 144 f.

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Gegenüberstellungen typologischer Art ergeben.1074 Beide bieten ihren Betrachtern darüber hinaus verschiedene Betrachtungsweisen und -einstiege. Neben der Möglichkeit des Verfolgens der Bilderzählung im Einzelnen ist auch in Gnesen eine Art ‚Schnelleinstieg‘ vorhanden, der eine Zusammenfassung der wesentlichen Wendepunkte der Erzählung darstellt, ein Betrachtervorbild liefert und eine Präfiguration des realen Kirchengebäudes anbietet. Dies leisten die Szenen in den Feldern, in denen auch die Türzieher angebracht sind (Abb. 118 und Abb. 119). Sie unterscheiden sich von den übrigen durch ihren „betont statischen und repräsentativen Charakter“ und setzen narrative Zäsuren.1075 Im Erzählfluss der linken Türhälfte trennt die Szene neben dem Türzieher, in der Adalbert an den Stätten der Märtyrer betet, die Schauplätze seiner Kindheit (unten) von der Geschichte seines Wirkens (oben). Auf dem rechten Flügel endet seine in der oberen Hälfte erzählte Passionsgeschichte mit der Darstellung seines Martyriums, auf das unterhalb des Türziehers die Szenen seiner Heiligsprechung folgen.1076 An den Türziehern stehen sich also zwei eng miteinander verbundene Szenen gegenüber: Links betet Adalbert an den Stätten der Märtyrer, rechts ist er selbst zum Märtyrer geworden: Sein Leib ist zwischen Bäumen aufgebahrt und „mit der Natur verschmolzen“.1077 Die Präfiguration seines eigenen Martyriums, die dieser Gegenüberstellung zugrunde liegt, kann man ebenso auf den Betrachter beziehen. Dieser soll sich den Reliquien des Märtyrers Adalbert auf ähnliche Weise nähern wie sich jener den Märtyrergräbern im Bild nähert. Aufschlussreich ist hier auch der mit stilisierten Ranken versehene Hügel, vor dem Adalbert im Bild kniet. Er greift das Rankenmotiv des Rahmens der Gnesener Tür auf, der im Vergleich zur Bernwardstür sehr breit ist. Die zwei Bildfelder mit den Löwenkopftürziehern sind die einzigen Erzählszenen, in denen Pflanzen dargestellt sind.1078 Eva Mazur-Kębłowski führt in ihrer Studie die einzelnen Bildszenen auf die relevanten Stellen der geschriebenen Viten Adalberts zurück.1079 Es ist aufschlussreich, dass sich gerade für die Szene Adalberts am Märtyrergrab keine Textbasis finden lässt. Während Mazur-Kębłowski das einem Unver­ mögen der Bilderzähler zuschreibt, „die komplizierten hagiographischen Motive der Texte in die Sprache der Plastik umzusetzen“,1080 hebt die Innovation meiner Ansicht nach vielmehr den speziell bildnarrativen Wert der Gegenüberstellung von Märtyrerverehrung und eigenem Martyrium hervor, die sich noch dazu in besonderer Weise an den Betrachter richtet. In der Zusammenschau mit den anderen untersuchten Bildertüren lässt sich allgemeiner formulieren, dass sich die Szenen, die dem Betrachter visuell und körperlich besonders 1074 Zur Erzählung s. Mohnhaupt 1993; Figge 2000, S. 127–139, bes. ab S. 129; Mohnhaupt 2000, S. 164–166. 1075 Figge 2000, S. 129. 1076 Ebd. 1077 Mohnhaupt 2000, S. 165. 1078 Das bemerkt auch Figge 2000, S. 135, die das Rankenmotiv „als Sinnbild der verschlungenen und in viele Richtungen zu lesenden Erzählung der Bronzetüren“ interpretiert und damit als Element der Selbstthematisierung der Erzählung betont – ähnlich Mohnhaupts halbverschlossene Tür der Erzählung aus der Verkündigungsszene der Bernwardstür. 1079 Mazur-Kębłowski 2000. 1080 Mazur-Kębłowski 2000, S. 214.

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118 Adalbert betet vor den Stätten der Märtyrer. Linker Flügel der Bronzetür, Dom, Gnesen, um 1170.

nahe sind, oft nicht innerhalb des Rahmens erklären lassen, den eine ikonographische oder textbasierte Untersuchung bereitstellen. Der Betrachter, nähme er hier tatsächlich die Haltung Adalberts ein, würde wie dieser vor einem Gebäude knien, das der Verehrung eines Märtyrers gewidmet ist. Außerdem befänden sich seine Knie wie die Adalberts in der Nähe eines Rankenwerks – des Türrahmens. Das Rankenwerk des Türrahmens ist sehr belebt. In ihm befinden sich Menschen, Tiere und Fabelwesen, die in die Zweige, in Trauben oder Blätter beißen, die mit den Ranken verwachsen sind oder sie produzieren.1081 Wie die Szenen und Wesen aus den Marginalien der Buchmalerei und der Skulptur des romanischen Kirchenbaus, so haben auch die Rankenszenen der Gnesener Tür Versuche der Bestimmung, Deutung und Einordnung in die ikonographischen Zusammenhänge der Bildertür nach sich gezogen.1082 Das Thema der Vegetation im 1081 Figge erwähnt keine motivischen Details des Rankenwerks, führt aber das Thema des Rankens mit dem Bischofsstab und seiner Krümme zusammen, der als „Zeichen [...] der lückenlosen Amtsnachfolge“ in der Bilderzählung von Adalbert an Gaudentius übergeht: Figge 2000, S. 135 f. 1082 Im Anschluss an eine ältere Studie von Zdzislaw Kępiński 1959 versuchen Knapinski 1999, S. 129 f. u. Skubiszewski 1990, S. 264–266, die Darstellungen im Rahmen aus dem Abgleich mit den narrativen Szenen neben ihnen zu verstehen.

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119 Märtyrertod Adalberts. Rechter Flügel der Bronzetür, Dom, Gnesen, um 1170.

Zusammenhang mit Nahrung, Körper und Wachstum wird in den zwei zentralen Szenen stark mit dem Heiligen und dem Ort seines Körpers assoziiert. Im Bild Adalberts am Märtyrergrab ist die geordnete Vegetation das Fundament, auf dem das Gebäude steht. Zugleich verweist das Bild damit auf die Reliquien der Märtyrer im Boden, die als Heilige das Fundament der Ecclesia bilden. Rechts ist Adalberts Märtyrerleib zwischen zwei Baumstämmen aufgebahrt, dessen linker in einer Baumkrone endet und dessen rechter seinen abgetrennten Kopf trägt. Zwischen beiden – scheinbar durch den Leichnam hindurch – sprießt eine weitere Pflanze, auf der ein Vogel wohl als Hinweis auf die himmelfahrende Seele des Heiligen sitzt. An dieser Szene werden die Verbindungen zur Christusvita deutlich: Der Kopf auf dem Baum erinnert an den arbor vitae, den Lebensbaum des Kreuzes; im Vogel könnte man einen Adler als Christussymbol sehen. Auch die Falten des Gewandes winden sich wie Ranken um Adalberts Leib. Im Gegensatz zum Rahmen der Tür und auch zum Fundament des Märtyrergrabs sprießen die Pflanzen hier scheinbar ungezähmt.1083 Erst die Szenen darunter 1083 Zu Pflanzen und Samen als Metaphern des Auferstehungsleibes s. Walker Bynum 1995 passim, z. B. S. 3, 120, 176‒180. Als Bild, vgl. das Relief mit Szenen aus dem Leben des Hl. Blasius, das sich heute im Museo Civico von Spoleto befindet (um 1170): Hier wächst am Schnittpunkt von Kopf und Hals ein Baum.

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120 Bronzetür, Dom, Gnesen, um 1170. Untere Hälfte des rechten Türflügels.

machen aus dem Leib Adalberts wieder eine geordnete Form, die in der Translatio der Hügelform des Gebäudefundamentes der Betszene entspricht (Abb. 120).1084 Angesichts dieser ‚Formung‘ könnte man mit Figge die letzten drei Szenen der Tür – Freikauf des Leichnams, Translation und Grablegung – „als Herstellungsgeschichte der Tür“ lesen.1085 Mit einer Waage wird in der ersten Szene das Gold ausgewogen, das für den Heiligenkörper gezahlt wird. Ein Bild des Gießers Riquin auf der Bronzetür von Novgorod stellt die Waage als Attribut der Bronzegießer dar. Der verhüllte Leichnam der Translationsszene mag als Parallele zur sich noch in der Wachsform befindlichen Tür gelten. „Die zweifache Lesart der Sequenz als Translations- und Produktionsgeschichte stützt sich auf die Gleich­ 1084 Im Bild pflanzlichen Wachstums für den Märtyrerleib ist nach Walker Bynum der „triumph of the martyrs’ bodies over fragmentation, scattering“ entscheidend: Walker Bynum 1995, S. 50. Dieser Triumph fände also in Gnesen seinen formalen Ausdruck in der kompakten Hügelform. 1085 Für die folgenden Überlegungen s. Figge 2000, S. 136 f.

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setzung des Heiligen mit seiner Tür, die wiederum eine semantische Ähnlichkeit von Bischof und Tür suggeriert“.1086 Der Wendepunkt des rechten Türflügels in der Aussetzungsszene, in der der Heilige mit der Pflanzenwelt verschmilzt, ist zugleich die Szene, nach der Heiligenkörper und Bronzekörper der Tür nach Figge semantisch miteinander verschmelzen. Das Thema der Verschmelzung wird auch im Rahmen direkt neben der beschriebenen Szene aufgegriffen: Hier ist ein Vogel mit einem bärtigen Menschenkopf dargestellt (Abb. 119).1087 Rahmen und Bildfeld haben hier Motive ausgetauscht. Im Gegenzug zu den Elementen aus dem Rahmen, die im Bildfeld Einzug erhalten haben – Vogel und Pflanzen –, wiederholt der Rahmen Elemente aus dem Bildfeld in der Verschmelzung des Vogels mit einem Kopf. Als ironischer Kommentar steht der Vogelmensch im Kontext der Verschmelzung von Heiligenleib und Pflanzen, ja vom heiligen Bischof mit der Tür selbst. Aufschlussreich ist der historische Kontext: Bereits seit 1038 befanden sich die Reliquien Adalberts nicht mehr in Gnesen, sondern waren – mit Ausnahme des 1127 ‚wiedergefundenen‘ Hauptes – nach Prag verlegt worden.1088 Die Tür ist nach diesen Vorgängen für Gnesen hergestellt worden. In der narrativ suggerierten Verschmelzung von Heiligenleib und Tür ist mit Figge ein „Charakter der Ersatzbefriedigung“ zu erkennen, die aus der Tür gewissermaßen den Stellvertreter des intakten Märtyrerleibes macht.1089 Endgültig geht der Heiligenkörper im untersten Bildfeld in die Tür über: Wieder ist er aufgebahrt, diesmal direkt an den Rahmen der Tür angrenzend. Auch der zinnenbekrönte Bogen im Hintergrund, der den Gnesener Dom darstellt, ist auffällig leer. Der Bogen ist so hoch, wie der Körper Adalberts lang ist; letzterer würde also genau in die Öffnung passen und so als Tür in den Dom und als Heiliger in die Ecclesia übergehen. Als Türbenutzer ist der Betrachter in diese spezielle Engführung von Erzählung, Reliquien und Bronzetür eingebunden. Insbesondere die Türdarstellung im Bildfeld unter dem Türzieher lässt sich mit Bogen als „eine Art Offenbarung und Kommentierung des Handlungsplans aus einer überzeitlichen (Erzähl)Perspektive heraus verstehen“.1090 Der Betrachter ist wie der kleine Adalbert im Bild im Begriff, eine Schwelle zu übertreten, die aus dem profanen in den sakralen Bereich führt. So wie die Tür in der Struktur der Bilderzählung den Übertritt Adalberts in den Ort bezeichnet, aus dem heraus er ab jetzt aktiv handelt,1091 so führt die Tür für den Betrachter in den Raum, in dem er Adalbert so verehren kann, wie es ihm im Bild darüber gezeigt wird. In diesem Kontext erhält die bildliche Gleichsetzung von Tür und Märtyrer mit narrativen Mitteln eine besondere Bedeutung. Dies gilt auch für die Vegetation, die in den beiden Türzieherfeldern eine enge Verbindung mit dem Heiligen eingeht. Gerade das Fragmentarische der Reliquien im Besitz des Doms, so scheint es, bewirkt das unglaubliche Wachstum, das sich materiell in der Tür selbst, motivisch im detaillierten 1086 Figge 2000, S. 137. 1087 Diesen innerbildlichen Kommentar erwähnt Figge nicht. 1088 Vgl. Labuda 1999, S. 151, Anm. 10 ; Figge 2000, S. 138, Anm. 289. 1089 Figge 2000, S. 138. 1090 Bogen 2004, S. 253. 1091 Figge 2000, S. 135: „Hat sich dem Knaben Adalbert nach einer Phase des passiven HerumgeschobenWerdens in der dritten Szene bereits die Tür der Erzählung geöffnet, so betritt er seine Erzählung, buchstäblich, in der Gebetsszene“ (ihre Hervorhebung).

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Rankenrahmen und folglich auch in der durch die Verzögerung der Schwelle anwachsenden Verehrung von Seiten des Betrachters niederschlägt. Diese Untersuchung der Bildertüren von Hildesheim, Verona und Gnesen hat gezeigt, dass die Bildkünstler der Türen aus dem 11. und 12. Jahrhundert es verstanden, den Betrachter und seine konkrete Position an der Schwelle der Kirche in die Erzählung einzubinden. Über innerbildliche Türmotive und ihre Benutzung wird sein eigenes Handeln an der realen Tür kommentiert. Die Aufmerksamkeit des Betrachters wird außerdem über seine Hand gelenkt, indem an und um die Türzieher Hände seine Hände spiegeln, oder Schlünde, denen seine Hand bedrohlich nahe kommt, ihn an sein Schicksal erinnern, sollte er sich nicht von der Sünde fernhalten. Die Bilder an den analysierten Türen kommentieren ihr Dahinter, ermöglichen scheinbar Einblicke in das, was dahinter liegt, nutzen die materielle Tiefe der Tür und stellen die Überschreitung der realen Schwelle in einen heilsgeschichtlichen oder eschatologischen Erfahrungshorizont.

Die Begegnung in der Tür: Irrsdorf In meinem letzten Beispiel geht es um eine Bildertür, die weder innerbildliche Türmotive noch löwenköpfige Türzieher aufweist, die aber ebenfalls Aufmerksamkeit und Bewegung des Betrachters lenkt – und deren Bilder ihn (in sehr konkreter Weise) begleiten. Die hölzernen Türflügel des Hauptportals der Filialkirche St. Maria in Irrsdorf, einem Ortsteil von Straßwalchen in Österreich, werden auf das erste Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts datiert (Abb. 121).1092 Bereits auf den ersten Blick lassen sich mehrere Unterschiede zu den bisher besprochenen Bildertüren feststellen. Die Irrsdorfer Türen wurden aus Holz gefertigt, und sie sind nicht in mehrere Bildfelder unterteilt, sondern werden von zwei lebensgroßen Frauenfiguren dominiert, die sich einander leicht zuwenden. Statt einer Vielzahl von biblischen Szenen wird hier zunächst nur eine dargestellt, die Heimsuchung, deren Protagonistinnen jeweils auf einem Türflügel dargestellt sind. Die Heimsuchung hat als Thema bereits Ähnlichkeit mit der Handlung des Betrachters, denn es geht um eine Reise und eine Erkenntnis: „Maria aber machte sich auf in diesen Tagen und ging eilends in das Gebirge zu einer Stadt in Juda und kam in das Haus des Zacharias und begrüßte Elisabeth. Und es begab sich, als Elisabeth den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leibe. Und Elisabeth wurde vom heiligen Geist erfüllt und rief laut und sprach: Gepriesen bist du unter den Frauen und gepriesen ist die Frucht deines Leibes! Und wie geschieht mir das, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? Denn siehe, als ich die Stimme deines Grußes hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leibe. Und selig bist du, die du geglaubt hast! Denn es wird vollendet werden, was dir gesagt ist von dem Herrn“.1093 1092 Eine Inschrift auf dem Türsturz nennt das Weihedatum der Kirche, 1408, s. Kapeller 1999, S. 12. Einige der folgenden Überlegungen zur Irrsdorfer Tür wurden in etwas knapperer Form in einem Aufsatz präsentiert: Tina Bawden: In Bewegung versetzte Betrachter: Überlegungen zur raumöffnenden Dimension klappbarer Bildträger im Mittelalter, in: Bewegen im Zwischenraum (= Wege der Kulturforschung, Bd. 3), hrsg. von Uwe Wirth, Berlin 2012, S. 297–319. 1093 Lukas 1, 39–45: exsurgens autem Maria in diebus illis abiit in montana cum festinatione in civitatem Iuda / et intravit in domum Zacchariae et salutavit Elisabeth / et factum est ut audivit salutationem

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121 Westportal in der Filialkirche St. Maria, Irrsdorf (Salzburger Land), 1. Jahrzehnt 15. Jahrhundert. Türflügel jeweils 284 x 88 cm.

Die Irrsdorfer Türen befinden sich in der Vorhalle unter dem Westturm der Kirche. Sie sind in einem Portal angebracht, das in seinem Tympanon aus Marmor die gekrönte Maria mit Kind und einem Stifter darstellt. Die Türflügel sind 2,84 Meter hoch und 88 Zentimeter breit, und die Frauengestalten selbst erscheinen mit jeweils etwa 1,65 Metern in Lebens­ größe.1094 Sie wenden sich leicht einander zu, ihre Bäuche wölben sich besonders plastisch Mariae Elisabeth exultavit infans in utero eius et repleta est Spiritu Sancto Elisabeth / et exclamavit voce magna et dixit benedicta tu inter mulieres et benedictus fructus ventris tui / et unde hoc mihi ut veniat mater Domini mei ad me / ecce enim ut facta est vox salutationis tuae in auribus meis exultavit in gaudio infans in utero meo / et beata quae credidit quoniam perficientur ea quae dicta sunt ei a Domino. 1094 Mit ihrem Heiligenschein ist Elisabeth ca. 1,80 Meter, Maria ca. 1,77 Meter hoch. Bis zu der Darstellung der Kinder auf den Bäuchen der beiden Frauen habe ich vom unteren Rand der Tür ca. 1,55 Meter bei Maria, 1,60 Meter bei Elisabeth gemessen.

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122 Maria, Holztür der Filialkirche St. Maria, Irrsdorf (Salzburger Land), 1. Jahrzehnt 15. Jahrhundert.

123 Elisabeth, Holztür der Filialkirche St. Maria, Irrsdorf (Salzburger Land), 1. Jahrzehnt 15. Jahrhundert.

hervor und werden durch den Faltenwurf der Gewänder noch hervorgehoben. Hier sind die ungeborenen Kinder dargestellt: Der anbetend kniende Johannes und das einen Segensgestus ausführende Christuskind in einem Strahlenkranz (Abb. 122 und Abb. 123). Die Türen werden gerahmt von einem Band mit verschiedenen Pflanzen- und Rankenmotiven, das an mehreren Stellen beschädigt ist oder ganz fehlt – deutlich ist das auf der Innenseite der linken Tür zu erkennen, wo ein einfaches Brett mit Eisenklammern befestigt wurde. Oberhalb und unterhalb von Maria und Elisabeth befinden sich jeweils weitere Figuren (Abb. 124). Auf der linken Tür schweben über der mit einem Strahlenkranz versehenen Maria zwei Engel, die eine Krone halten. Maria selbst wird von einem Atlanten getragen, der ein Knie gebeugt hat und ein (leeres) Spruchband hält. Neben ihm ist eine kleine Stifterfigur zu sehen. Über dem Heiligenschein der Elisabeth tragen zwei Engel ein Kissen, auf dem ein nimbierter und unbekleideter Junge nach oben blickt. Unter Elisabeth befindet sich ebenfalls ein Atlant, allerdings in einem separaten Rahmen. Ein Wappen mit der Darstellung eines Wilden Mannes mit Keule ist über ihm angebracht. Dies ist das Wappen des Pfarrers Berchtold von Straßwalchen, der somit als Stifter der Tür erscheint.1095 In der Forschung wurde die Tür zunächst immer nur sehr knapp und fast ausschließlich im Kontext der stilistischen Einordnung sowie der Schulen- oder Meisterzuschreibung erwähnt. Die Aufmerksamkeit galt nie dem Medium, sondern primär dem Schnitzer der 1095 Der „Wilde Mann“ wird auch als „Bercht“ bezeichnet, vgl. Kapeller 1999, S. 13. Berchtold von Wehingen rückt auch über den Grabstein in das Blickfeld, der in der Vorhalle aufgestellt ist und auf dem er inschriftlich als „dieser Kirche und Messe Stifter“ bezeichnet wird. „Anno d[omi]ni MCCCX o[biit] do[minus] pertold[us] pl[e]b[anus] in strasb[alhen] hui[us] ecc[lesia]e et miss[a]e fundator“.

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124 Rekonstruktion des ursprünglichen Standorts der Türflügel von Irrsdorf in Berchtesgaden nach Kapeller.

Figuren.1096 Elfriede Kapeller beschäftigt sich in ihrer 1999 publizierten Dissertation zu den Holztüren erstmals ausgiebig mit den grundlegenden Fragen der Ikonographie, des ursprünglichen Standorts der Tür und der ‚Kriminalgeschichte‘ ihrer Stiftung.1097 Ausgehend von der Hypothese, dass die Flügel nicht ursprünglich für dieses Portal gefertigt wurden, weil der Türrahmen die oberen Szenen und einen Teil des seitlichen Ornamentstreifens verdeckt, und motiviert von den Zweifeln daran, dass ein kirchenhierarchisch gesehen rangniedriger Pfarrer „ein derart hochkarätiges und monumentales Werk von europäischem Rang in Auftrag geben

1096 Vollständiger Forschungsstand bei Kapeller 1999, S. 19–24. 1097 Kapeller 1999, S. 60: „Hier erwacht nun der kriminalistische Spürsinn desjenigen, der auf der Suche nach der Lösung des Rätsels um das getilgte Stifterwappen“ ist.

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konnte“, sucht Kapeller nach Alternativen für Stifter und Anbringungsort.1098 Sie vermutet, dass das Wappen des Pfarrers auf dem rechten Türflügel nachträglich eingeschnitzt und ein bereits existierendes Wappen auf dem linken Türflügel herausgetrennt wurde. Ein Stück der Stifterfigur, vor der sich ehemals ein Wappen hätte befinden können, wurde tatsächlich am unteren Rand der Tür sichtbar ersetzt. Das Wappen mit dem „Bercht“ rechts ist in flacherem, tiefer liegendem Relief gestaltet als das übrige Relief an dieser Stelle – es ist also möglich, dass es nachträglich eingeschnitzt wurde. Kapeller meint daher, dass nicht Berchtold von Straßwalchen, sondern der Salzburger Erzbischof Berthold von Wehingen (1403–1406 im Amt) die Tür in Auftrag gegeben haben könnte.1099 Der ursprüngliche Anbringungsort könnte ihrer Meinung nach die Nordvorhalle des Augustinerchorherrenstiftes Berchtesgaden gewesen sein. Dort befindet sich ein gemaltes Tympanon mit einem Gnadenstuhlbild, welches das von ihr vermutete theologische Programm der Türen vervollständigt (Abb. 124). Allerdings muss Kapeller, um ihr Argument schlüssig werden zu lassen, das Tympanon, das die Jahreszahl 1474 trägt, vordatieren und Berthold von Wehingen anstelle des hier auf der Tafel dargestellten und durch sein Wappen identifizierbaren Propstes Erasmus Pretschlaipfer als Stifter vorschlagen. Sie vermutet deshalb, dass das Werk aus der Zeit um 1400 stamme und um 1474 „modernisiert“, also teilweise übermalt worden sei, um den in Ungnade gefallenen Erzbischof nachträglich zu „löschen“.1100 Da sie lediglich stilistische Argumente für diese Vermutungen vorträgt und keine Quellen anführt, erscheint ihre Auffassung als wenig plausible Hypothese, die lediglich auf der Beobachtung der unterschiedlichen Maße von Tür und Portalrahmen in Irrsdorf und dem ungewöhnlichen Pfarrer-Stifter beruht.1101 Bei der derzeitigen Quellenlage muss die Frage nach dem eventuell ersetzten Wappen offen bleiben. 1102 Ich möchte dagegen stärker die spezifische Medialität und die räumliche Situation der Irrsdorfer Türen analysieren, mit denen die Betrachter konfrontiert werden. Ich denke, dass sich aus einem genaueren Verständnis dieser beiden Aspekte am ehesten mögliche Antworten zu einigen Fragen nach der Anbringungssituation finden lassen. Die Frage nach der Benutzung und Wahrnehmung der Tür durch einen Betrachter wird kurz von Kapeller erwähnt, bleibt aber im Detail unbearbeitet.1103 Zwar wurde in der älteren Forschung gelegentlich die ungewöhnliche Schrägwölbung der Frauenfiguren als stilistisches Merkmal hervorgehoben.1104 Erst Albin Rohrmoser hielt es 1984 für „denkbar, daß der Gestaltungsvorgang auch auf einen anderen Einstellungswinkel der Türen abgestimmt sein könnte als er im klassischen Fall an den als geschlossene Front gestalteten Türen auftritt“, nämlich auf 1098 Kapeller 1999, S. 58. 1099 Kapeller 1999, S. 60–62. 1100 Kapeller 1999, S. 63–65; sie muss auch der Auffassung der Forschung insofern widersprechen, als sie die Vorhallenarchitektur in Berchtesgaden von 1470–1474 auf den Anfang des 15. Jahrhunderts vordatiert: ebd., S. 75 f. 1101 Nur durch eine technische Untersuchung des Tympanons ließe sich ein Teil der Hypothese überprüfen. 1102 Das ersetzte Holzstück und das nachträglich eingefügte Wappen müssen außerdem nicht notwendigerweise auf eine gemeinsame ‚Vertuschungsaktion‘ zurückgehen, denn sonst hätte man ja in das ersetzte Stück gleichzeitig ein neues Wappen einfügen können. 1103 Kapeller 1999, S. 41. 1104 Z. B. durch Pinder 1924, S. 186.

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einen Stellungswinkel von etwa 45 Grad.1105 Damit ist der bemerkenswerteste Aspekt dieser Türen benannt: Beim Öffnen der Tür – und ebenfalls beim Schließen der bereits geöffneten Tür – stehen sich Elisabeth und Maria erst bei einem Öffnungswinkel der Tür von etwa 45 Grad gegenüber (Tafel 17). Ihre Begegnung findet im eigentlichen Sinne nur in dieser Position der Türflügel statt. Bemerkenswert ist auch, dass man diesen Moment als Betrachter eher spürt als nachvollzieht, sogar „fast physisch empfinde[t]“.1106 In dieser Position ist Elisabeth „nun erst tatsächlich auf Maria ausgerichtet“, und Marias Blick trifft das Kind, das über Elisabeth schwebt.1107 In ihrer Gestaltung nehmen die Figuren Elisabeths und Marias die Bewegung der Türflügel beim Öffnen vorweg. Und nicht nur das: Die vorweggenommene Bewegung als dargestellte Drehung übt einen starken Einfluss auf den Betrachter aus, sie an der Tür tatsächlich auszuführen. Aus der Gestaltungsweise spricht eine Einladung an den Betrachter. Beim Öffnen der Tür ergibt sich eine Sequenz von Bildern: Im geschlossenen Zustand der Tür führt Maria mit ihrer rechten Hand einen Redegestus aus, der gleichzeitig schräg nach oben auf das dem Betrachterblick noch verborgene Kind über Elisabeth weist. Werden die Türen bewegt, wendet sich Elisabeth mit ihrem Anbetungsgestus frontal Maria zu, deren Blick oberhalb von Elisabeth auf dem nun sichtbaren Kind zu ruhen kommt, das seinerseits sein Antlitz nach oben richtet. Die rechte Hand Marias weist bei geöffneter Tür in die Kirche hinein. In der früheren Forschung wurde das Kind auf dem Kissen zunächst als Johannesknabe interpretiert.1108 Rohrmoser deutete die Szene erstmals als „Herabkunft Christi“, was angesichts der beschriebenen Blicklenkung viel einleuchtender ist.1109 Da die Herabkunft des Christuskindes aber nur im Kontext der Verkündigung dargestellt wird, sieht Rohrmoser in Elisabeth zugleich eine Stellvertreterin für Gabriel.1110 In der Tat wurde die Heimsuchung bis in das späte Mittelalter nicht als selbstständige Szene, sondern im Zusammenhang mit der Verkündigung oder der Kindheitsgeschichte Jesu dargestellt.1111 Wahrscheinlich handelt es sich bei der Szene um eine Einbindung in die Heilsgeschichte, ohne dass man deshalb in Elisabeth eine Art ungeschickte ‚Doppelfigur‘ sehen muss. Die Bildkünstler haben sich vielmehr dem bildstiftenden Potenzial der Beweglichkeit der Tür bedient. Das Christuskind ist das Pendant zur Krone über Marias Haupt auf dem linken Türflügel. Zusammen fügen die beiden oberen Szenen der Heimsuchungsszene einen heilsgeschichtlichen Rückblick (Verkündigung) und eine Vorausschau (Marienkrönung) hinzu. Durch den Blick Marias auf das Kind kann dieses als eine Art marianisches Erinnerungsbild gelten. Schon im Lukastext ruft Elisabeth Maria die Verkündigung ins Gedächtnis: „Denn es wird vollendet werden, was dir gesagt ist von dem Herrn“ (Lukas 1, 45). Und eben das, was Maria gesagt worden ist und was in der Verkündigungsszene als kleines, herabschwebendes Kind dargestellt wird,1112 erscheint hier als 1105 Rohrmosers zu Lebzeiten unveröffentlichter Aufsatz ist abgedruckt bei: Kapeller 1999, S. 25–27, hier S. 25. 1106 So formuliert es Kapeller 1999, S. 41. 1107 Rohrmoser, in: Kapeller 1999, S. 25. 1108 Z. B. 1976 durch Wolfgang Steinitz: Hinweis bei: Kapeller 1999, S. 23, s. auch die Bemerkung auf S. 35. 1109 S. Kapeller 1999, S. 35; Rohrmoser, in: Kapeller 1999, S. 26. 1110 Rohrmoser, in: Kapeller 1999, S. 26. 1111 S. Kapeller 1999, S. 33. 1112 S. z. B. die bereits skizzierte Darstellung im Mérode-Triptychon (s. oben Abb. 69); die folgende Darstellung in einem Tympanon des Havelberger Lettners (s. unten Abb. 150).

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Erinnerungsbild Marias. Diese narrative Perspektive lässt meiner Ansicht nach die „ikonographischen Probleme“1113 der Szenenkombination in den Hintergrund treten. Unter den Medien der klappbaren Bildträger gibt es genügend Beispiele dafür, wie vor allem die Verkündigung medial in ein Netz der heilsgeschichtlichen Vorausschau eingebunden wurde. In italienischen Klappaltären des 13. und 14. Jahrhunderts etwa befindet sich häufig eine Verkündigungsdarstellung oben auf den Innenseiten der zwei äußeren Flügel. Der Engel und Maria flankieren so bei geöffnetem Zustand die Mitteltafel, auf der zum Beispiel Kreuzigung oder Marienkrönung dargestellt sind.1114 Bei der Betrachtung der Verkündigungsszene muss der Betrachter notwendigerweise mit seinem Blick das Mittelbild streifen. Die Schwelle zwischen Gabriel und Maria, die im Mittelalter als Säule, Fenster oder Tür ikonographisch fester Motivbestandteil ist, wird damit auf das Medium selbst ‚ausgelagert‘ und erhält einen Zeitaspekt. In das kurze Zeitmoment der Botschaftsvermittlung zwängt sich ein Zukunftsblick, der die Tragweite der Engelsbotschaft medial vermittelt.1115 Ähnliches geschieht in Irrsdorf: Der Bildkünstler bedient sich der Möglichkeiten, die ein klappbares Objekt für eine mehrdimensionale Gegenüberstellung und Kombination von Bildern anbietet, um das dargestellte Zeitmoment der Begegnung von Maria und Elisabeth narrativ zu dehnen. Aus dieser medialen Perspektive ist es auch vorstellbar, dass von Anfang an geplant war, die oberen Szenen der Tür erst mit dem Öffnen der Tür sichtbar werden zu lassen.1116 Der Befund spricht dafür, Irrsdorf als ursprünglichen Anbringungsort der Tür nicht auszuschließen. Ein Beispiel, das Kapeller als mögliche Inspirationsquelle des Schnitzers von Irrsdorf anführt, stützt diese Überlegungen. Die Portalplastik der Kartause von Champmol, die Claus Sluter wenige Jahre vor der Entstehung der Irrsdorfer Tür schuf (1391–1395), bietet nicht nur stilistische Ähnlichkeiten. Für die Wahrnehmung des Skulpturengefüges in Champmol spielen Blicke eine zentrale Rolle, wie Michael Grandmontagne in seiner Dissertation gezeigt hat.1117 Nähert sich der Betrachter dem Portal aus der Zugangsrichtung von links, ist der Blick Marias am Trumeau zunächst verborgen (Abb. 125). Erst wenn man um die Trumeaufigur herumgeht, bemerkt man, dass Marias Blick fest auf ihren Sohn gerichtet ist, der wiederum nach oben blickt und sich damit von Maria und vom Betrachter distanziert (Abb. 126).1118 Auch in Irrsdorf wird der Blick des Betrachters über Maria auf den 1113 So Kapeller 1999, S. 65. 1114 Z. B. Meister des Triptychons von Perugia, Madonnentabernakel, um 1270, Perugia, Galleria Nazionale (Inv. Nr. 877 [1918]); Giusto de Menabuoi, 1367, London, National Gallery (Inv. Nr. NG701); Andrea di Bartolo, Ende 14. oder Anfang 15. Jahrhundert, Siena, Pinacoteca Nazionale (Inv. Nr. 133). 1115 S. dazu Didi-Huberman 1995, S. 132–134. 1116 Der Türsturz verdeckt die Szenen nicht ganz, die sich außerdem auf unterschiedlicher Höhe befinden. Denkbar ist aber durchaus, dass sich das Bodenniveau der Schwelle mit der Zeit gesenkt hat und die Türen tiefer angebracht wurden. Ohne weitere Quellenfunde oder Grabungsergebnisse lässt sich das aber nur als Vermutung äußern. 1117 Besonders in Bezug auf die Trumeaufigur: Grandmontagne 2005, S. 106–136. Grandmontagne erwähnt Irrsdorf nicht. Kapeller hebt ebenfalls Blicklinien am sluterschen Portal hervor, konzentriert sich jedoch auf das „andächtige Miteinander“ von Stifterfiguren und Heiligen, die „gleichsam eine Schranke vor die beiden Portalöffnungen“ legen, von der sich der Betrachter unmittelbar „berührt“ fühlt: Kapeller 1999, S. 52 f. 1118 S. Grandmontagne 2005, S. 124–131.

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125 Claus Sluter, Trumeau der Kartause von Champmol, 1391–1395. Maria mit Kind aus der Annäherungsrichtung von links.

126 Claus Sluter, Trumeau der Kartause von Champmol, 1391–1395. Maria mit Kind aus der frontalen Ansicht.

Christusknaben gelenkt, der – sind die Türen geöffnet – in den Kirchenraum hinaufblickt. Nimmt man einmal an, dass die Türen wirklich für das Irrsdorfer Portal gedacht waren und der Blick des Christusknaben nicht einem gestalteten Tympanon galt, dann ließe sich für Irrsdorf das gleiche Ziel der Blicklenkung formulieren wie für Champmol: „Entscheidend ist, dass die Inszenierung des Abwendens den Schritt von einer objektgebundenen zu einer gegenstandsfreien Betrachtung deutlich markiert“.1119 In Irrsdorf wäre dies nicht erst über eine Äquivalenz von Schrift- und Bildlektüre zu verstehen, wie das Grandmontagne für Skulpturen der Kartause erörtert, sondern der Betrachter stünde am Ende dieser Blicklenkung bereits im Kirchenschiff. Der Blick des Christusknaben und die rechte Hand Marias leiten die Aufmerksamkeit des Betrachters in den sakralen Raum hinein. An dieser Stelle wird deutlich, dass sich in Irrsdorf drei Zeitdimensionen überlagern: Das Zeitmoment des Grußes Marias und der Erkenntnis Elisabeths, das über Herabkunft Christi und Krone in einen heilgeschichtlich-zeitlichen Zusammenhang aus Vergangenheit und Zukunft gestellt wird, wird zusätzlich noch mit der gegenwärtigen Raum-Zeit des Betrachters verknüpft. Durch diese Konstellation treten weitere Parallelen zwischen dem Bildmedium Tür und dem Thema der Heimsuchung hervor, welche die Bildkünstler nutzen. In der visitatio geht es um die grenzenüberschreitende Kraft der Erkenntnis. Johannes erkennt Christus durch die Körpergrenzen der Mütter hindurch, und durch sein physisches Streben gegen die ‚natürlichen‘ Grenzen des Körpers der Elisabeth (sein Hüpfen) wird auch diese „vom heiligen Geist erfüllt“ (Lukas 1, 41).1120 Die Heimsuchungsdarstellungen vor dem 14. Jahrhundert zeugen

1119 Grandmontagne 2005, S. 131. 1120 Vgl. Tammen 2003 A, S. 432.

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127 Heimsuchung. Bonanus von Pisa, Porta San Ranieri, Dom, Pisa, 2. H. 12. Jahrhundert.

von einer Entscheidung der Bildkünstler, das Wechselspiel von Sprache, Erkenntnis und Bewegung in einer meist sehr innigen Umarmung der Frauen aufgehen zu lassen.1121 Zwei Beispiele von Heimsuchungsdarstellungen auf Kirchentüren verdeutlichen dies: Auf der Holztür von St. Maria im Kapitol aus Köln aus der Mitte des 11. Jahrhunderts umarmen und küssen sich Maria und Elisabeth. Auf der Porta San Ranieri des Bonanus von Pisa im Pisaner Dom aus der 2. Hälfte des 12 Jahrhunderts neigen die Frauen die Köpfe aneinander und ihre Hände treffen sich (Abb. 127). In beiden Bildern sind die Frauen nicht betont als Schwangere dargestellt. Im Gegensatz zu Irrsdorf fallen die Gewänder der Frauen in Pisa gerade nach unten und fließen zwischen ihnen ineinander. Maria und Elisabeth scheinen das Geheimnis zwischen ihnen eher gemeinsam zu verhüllen, wohingegen die Bäuche in Irrsdorf durch die Falten der Mäntel jeweils mehrfach gerahmt und damit stark betont werden. Seit dem frühen 14. Jahrhundert konnten die ungeborenen Kinder auf oder in den Bäuchen sichtbar gemacht werden. Ihre Darstellung wird meistens weiterhin von einer Berührung der beiden Frauen gerahmt. In einer Skulpturengruppe, die vermutlich aus dem Passauer Benediktinerinnenkloster Niedernburg stammt und um 1410–1420 entstand, umfangen sich Maria und Elisabeth gegenseitig mit den Armen und schieben sich dabei gleichzeitig ihre Mäntel nach hinten, um den Blick auf mandorlenförmige Öffnungen mit den Kinderdarstellungen freizugeben (Abb. 128). Vermutlich waren diese ehemals mit Bergkristall oder einem anderen Material zu verschließen.1122 Wie in Irrsdorf wird über die Gewänder eine Enthüllung der Kinder inszeniert. Während in der Passauer Gruppe aber die Möglichkeiten der plastischen Darstellung dazu genutzt werden, ein Eindringen des Blicks in die Tiefe der Leiber zu suggerieren, treten die Kinder in Irrsdorf aus der Wölbung der 1121 Der „Umarmungstypus“ ist nach Kristin Vincke ein besonderes Merkmal italienischer Beispiele: ­Vincke 1997, S. 93. 1122 Auf die Verschließbarkeit weisen Bohrlöcher an den Rändern hin: s. Tammen 2003 A S. 420.

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128 Skulpturengruppe der Heim­ suchung, aus dem Benediktinerinnenkloster Niedernburg in Passau, um 1420. Sandstein und Ton, 96 x 89 cm. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg (Inv. Nr. Pl. 0.2401).

Leiber hervor. So rückt vielleicht eher das Wechselspiel der Interaktion zwischen den vier Protagonisten der Heimsuchung in den Vordergrund, als das Geheimnis der Inkarnation, um das es in der Passauer Gruppe vermutlich primär geht.1123 Eine Umarmung kann auf den Türflügeln nicht dargestellt werden – vor allem, weil diese durch den Betrachter bei der Benutzung der Türen aufgebrochen werden müsste. Über Gesten und Blicke werden daher in Irrsdorf die Türhälften miteinander verknüpft, in dessen Zentrum sich der Betrachter wiederfindet (Abb. 129). Formal ähneln sich die Gesten des Christuskindes und Elisabeths und die angewinkelten Arme Marias und des Johannesknabens. Auch der Stifter links unten greift die Haltung von Johannes auf und verweist dadurch auf eine wesentliche Funktion der Heimsuchungsdarstellungen: Maria und Johannes sind Interzessoren beim Jüngsten Gericht. Die Haltung des Johannesknaben präfiguriert seine Haltung zu Füßen Christi beim Jüngsten Gericht. Auch Marias erhobene Hand und ihr nach oben gerichteter Blick sind Indizien dieser Rolle.1124 Das primäre Handlungsvorbild für den Betrachter ist Elisabeth, die in ihrer Anbetungsgeste die Bewegung bereits vorwegnimmt, die der Betrachter zum Öffnen der schweren Tür ausführen muss. Nachdem der Betrachter die Tür geöffnet hat, befindet er sich dann wiederum in einer zu Maria aufblickenden Haltung, die derjenigen Elisabeths ähnelt (Abb. 130).

1123 So zu Passau: Tammen 2003 A, S. 423. 1124 S. einige oben erwähnte Darstellungen des Jüngsten Gerichts: Bamberg, Fürstenportal; Bazas, mittleres Westportal; Tauberbischofsheim.

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129 Holztür der Filialkirche St. Maria, Irrsdorf (Salzburger Land), 1. Jahrzehnt 15. Jahrhundert. Position des Betrachters.

Der Körper spielt in Irrsdorf eine zentrale Rolle. Wie bei den anderen hier analysierten Bildertüren kommentieren die Türen eine geschlossene Grenze und bereiten auf ihre Öffnung und auf das, was sich hinter ihnen befindet, vor.1125 Allerdings sind die Figuren der Maria und der Elisabeth in Irrsdorf alleinige Trägerinnen dieser beiden Funktionen. Mit Maria und Elisabeth stehen sich die beiden Zeitalter gegenüber, der Alte und der Neue Bund. Elisabeth ist kleiner, ihr Heiligenschein ist auffällig unverziert und der Johannesknabe ist, im Gegensatz zum ungeborenen Christuskind, nicht in einem Strahlenkranz dargestellt. Diese Aspekte der Gestaltungsweise heben nicht nur die symbolisch-theologische Gegenüberstellung der Frauen hervor, sondern verweisen auch auf den einfachen körperlichen Unterschied ihrer Schwangerschaften. Elisabeth fungiert in dieser Hinsicht als Kontrastfolie zur jungfräulichen Schwangerschaft Marias. Mit der Erinnerung an die Verkündigung durch die Szene der Her-

1125 Diese zwei Funktionen hat bereits Bogen erkannt: Bogen 2004, S. 244.

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130 Holztür der Filialkirche St. Maria, Irrsdorf (Salzburger Land), 1. Jahrzehnt 15. Jahrhundert. Maria, aus der Augenhöhe des Betrachters gesehen.

abkunft Christi wird zudem die Aufmerksamkeit auf Maria als zweite Eva gelenkt, durch die die Paradiespforte wieder geöffnet wird. In ihrer Funktion als Kommentar einer geschlossenen Grenze steht auch bei vielen der früheren Bildertüren die Sünde des Menschen im Vordergrund. In Hildesheim wird der Sündenfall auf der linken Tür durch ein Türmotiv verbildlicht, das sich in den Kontext des Abstiegs des Alten und Aufstiegs des Neuen Testaments fügt. In Novgorod ist der Psychomachie­gedanke an mehreren Stellen der Tür präsent, und die Türzieher erscheinen in diesem ­Kontext als Vorausblick in die Hölle, der es den Betrachtern durch Besiegen der Sünden zu entkommen gilt.1126 In Verona beginnt die Erzählung des linken Türflügels mit der Verkündigung, die eine geschlossene Tür mit Türring enthält. In der Nähe der Türzieher wird ebenfalls an die Hölle erinnert und die Befreiung von der Sünde angemahnt. Das Überkommen der Sünde und die Warnung vor der Hölle sind zentrale Themen der Bildertüren des 11. und 12. Jahrhunderts, die sich häufig bereits konzentriert in der Gestaltung der Türzieher niederschlagen. In Irrsdorf ist der Verweis auf die Sündhaftigkeit des Betrachters also subtiler – auch positiver – durch Maria als zweite Eva vermittelt. Auch auf das Schicksal des Betrachters beim Jüngsten Gericht wird positiv über die Rolle von Maria und Johannes als Interzessoren verwiesen. Diese Unterschiede illustrieren eine veränderte Beziehung des Betrachters zur Tür: Ist in Hildesheim noch der Adam der Vertreibungsszene das wichtigste Handlungsvorbild für den Betrachter an der Tür, so ist Elisabeth in Irrsdorf ein weit positiveres Vorbild. Befindet sich der Betrachter in Verona oder Novgorod in unmittelbarer Nähe einer Figur der Hölle, so greift er in Irrsdorf mit seinen Händen in die geheimnisvolle Beziehungslinie zwischen den beiden Frauen. Allerdings fehlen auch für Irrsdorf konkrete Quellen zur Benutzung der Tür, mit Hilfe derer man die Fragen danach beantworten könnte, wer sich überhaupt in diese Position begeben durfte bzw. ob zu Gelegenheiten wie der Messe ein 1126 S. Götz 1971, S. 146.

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individuelles Öffnen der Tür vorgesehen war, oder ob die Tür beim Eintreffen der Gläubigen bereits offen stand. Im Gegensatz zu den schweren Türen von Hildesheim und Verona aber wäre eine einzelne Person physisch in der Lage, die Irrsdorfer Tür zu öffnen. Auch unterscheiden sich die Flügel im Hinblick auf ihre Größendimensionen maßgeblich von den früheren Beispielen.1127 Die zweite Funktion der Türen, die Vorbereitung auf das, was hinter ihnen liegt, läuft in Irrsdorf ebenfalls über den Körper Marias: Sie ist zugleich Typus der Kirche, Ecclesia. Darauf deutet ihr Sonnenstrahlnimbus hin, der in Kombination mit dem Mond bei Kreuzigungsdarstellungen der Zeit auf die Gegenüberstellung von Altem und Neuem Testament, Synagoge und Kirche verweist.1128 Während in Hildesheim die Architektur im Bild die Präfiguration des Kirchengebäudes übernimmt, bedienen sich die Bildkünstler in Irrsdorf keiner (bild)raumschaffenden Motive. Allein der Skulpturkörper Marias präfiguriert die Kirche. Durch den Raum, den er durch die Bewegung der Tür beansprucht, leitet er den Betrachter bereits in die Kirche. Materiell gesehen bedienen sich die Konzeptoren der Irrsdorfer Türflügel erstmals konsequent der Mehransichtigkeit des Mediums Tür, die sich aus ihrer Beweglichkeit ergibt. Ansätze dazu lassen sich durchaus auch bei den früheren Türen finden, die bis auf Gnesen alle die Tiefendimension und die Möglichkeit zur materiellen Herauswölbung nutzen. Der Höllenfürst in Verona bezeugt sogar bereits ein Einkalkulieren des Betrachterstandpunktes beim Griff an die Türringe, indem er sich nach rechts wendet. Der Betrachterbezug über die materielle Dimension bezieht sich aber auf den Betrachter vor der geschlossenen Tür, während in Irrsdorf explizit die Beweglichkeit der Türflügel genutzt wird. Auch die Wiederholbarkeit, die der Mechanik der Tür zugrunde liegt, haben die Künstler hier auf raffinierte Weise mit dem Bildthema verbunden: Das Transitorische ermöglicht wie in den Skulpturen Sluters „das sich immer wieder erneuernde Überspringen des göttlichen Funkens, das der in die ecclesia Eintretende durch das Öffnen des Portals hervorruft“.1129 Der Benutzer der Tür und die Stellen, an denen er die Tür berührt, werden in die Gestaltung von Bildertüren (spätestens) seit dem 11. Jahrhundert miteinbezogen und narrativ kommentiert. In Irrsdorf kommt die eigentliche Erzählung erst durch die Eigenbewegung des Betrachters zustande, der sich damit zugleich in ihr Zentrum begibt.

6.2 Das Bild im Kirchenbau Auch das Kircheninnere ist kein homogener Raum, sondern besteht aus Bereichen mit unterschiedlichen Funktionen. Am deutlichsten werden in frühchristlichen und mittelalterlichen Quellen Chor bzw. Apsis und Langhaus einander gegenübergestellt. Durandus von Mende vergleicht in seinem Rationale divinorum officiorum die Aufteilung des Kirchenraums 1127 Besonders in der Breite, die in Irrsdorf ein gleichzeitiges Passieren des Türrahmens von mehr als zwei Personen kaum möglich macht (176 cm). 1128 Vgl. Kapeller 1999, S. 37. 1129 Kapeller 1999, S. 53.

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mit dem Körper: „Die Anordnung der materiellen Kirche aber hält das Maß des menschlichen Körpers. Denn die Altarschranken oder der Ort, an dem der Altar sich befindet, vergegenwärtigt den Kopf, das Kreuz auf beiden Seiten Arme und Hände, alles, was vom Körper übrig zu sein scheint der restliche Teil vom Westen her. Das Opfer des Altars bedeutet die Gebete des Herzens“.1130 Im Kirchenbau gibt es je nach Kirchentypus zahlreiche Übergänge mit unterschiedlichen Funktionen, die im Mittelalter Orte von Bildern sind. Portale, die zu Türmen und in andere Räume führen wie zum Beispiel in die Sakristei, in eine Kapelle oder in einen Kreuzgang, werden auch im Innenraum mit reliefierten oder bemalten Tympana gestaltet. Ebenso werden Türen im Innenraum mit Bildern versehen.1131 Das wichtigste Bildmedium des Innenraums ist allerdings die Wandmalerei. Noch deutlicher als dies am Übergang vom Außen- in den Innenraum der Fall ist, stehen Bilder an Schwellen des Innenraums im Kontext der hier stattfindenden Liturgie. In jüngster Zeit ist in der Kunstgeschichte sowie durch interdisziplinäre Studien verstärkt, die wechselseitige Beeinflussung von Kunst, Architektur und Liturgie in den Vordergrund gerückt worden.1132 Damit blickt die Forschung aus einer funktionsgeschichtlichen Perspektive auf den Kirchenraum, die über eine Interpretation der Architektur als einfachen Schauplatz mittelalterlicher Liturgie weit hinausgeht. Die Interferenzen zwischen den Bildern eines Raumes oder einer Schwelle und deren Funktion werden auch in den folgenden zwei Abschnitten analysiert. Bilder an Schwellen kommentieren den Übergang ebenso wie die dort stattfindenden Handlungen und Bewegungen. Sie bereiten auf das vor, was sich hinter der Schwelle befindet. In Abschnitt 6.1 spielt das ‚Dahinter‘ der Portale und Türen in noch relativ undifferenzierter Weise als ‚Kirchenraum‘ mit seinen multiplen liturgischen, metaphorischen und sakralen Handlungskontexten eine Rolle; die Dialektik ist vor allem die eines Innen und Außen. Im folgenden Abschnitt gilt es, dieses ,Dahinter‘ zu konkretisieren, weil es um Schwellen zwischen unterschiedlichen Räumen im Kircheninneren geht. Auf andere Art und Weise als an der Schwelle von außen nach innen betrifft eine Untersuchung von Schwellen im Innenraum Fragen nach der sinnlichen Wahrnehmung des Kirchenraumes, die auch im Kontext der Liturgie steht. Während diese Untersuchung von Portalen und Bildertüren verstärkt im Zeichen körperlicher Annäherung und Wahrnehmung steht, welche die Aspekte der Überquerung, des Berührens der Türzieher und die Mechanismen des Öffnens und Schließens als Handlungshintergrund für die Bilder berücksichtigt, so

1130 »[D]ispositio autem ecclesie materialis modum humani corporis tenet. cancellus namque, sine locus ubi altare est, caput representat, crux ex utraque parte brachia et manus, reliqua pars ab occidente quicquid corporis superesse uidetur. sacrificium altaris uota significant cordis”: Durandus 1995, S. 17. Übersetzung: Faupel-Drevs 2000, S. 230. 1131 Hier nur ein paar wenige Beispiele, welche die Vielfalt verdeutlichen: Für mit Skulptur versehene Tympana im Innenraum s. z. B. Magdeburg, Tympanon der Tür zur Magdalenenkapelle. Ein bemaltes Tympanon befindet sich z. B. über der Tür, die von S. Zeno in Verona in den Kreuzgang führt. Zwei Paar bemalte Türflügel haben sich von der Chorschranke im Halberstädter Dom erhalten; die Tür zur Treppe auf den Lettner ist im englischen South Cove (Suffolk) mit dem Hl. Georg bemalt. 1132 Kohlschein/Wünsche 1998; Bock et al. 2000; Warland 2002; Moraht-Fromm 2003; Altripp/Nauerth 2006; Gerstel 2006 A.

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verschiebt sich der Schwerpunkt in den folgenden beiden Abschnitten auf den Modus der optischen Wahrnehmung und visuellen Überquerung von Schwellen im Innenraum.

6.2.1 Die Schwelle zum Chor Im Kirchenraum richtet sich die Aufmerksamkeit der Gläubigen vor allem auf den Altar und das Sakrament im (liturgischen) Osten der Kirche. Hier finden Gottesdienst und Messe statt, deren heilsbringende Handlungen Aufgaben des Klerus sind. Der Raum um das Zentrum dieser Handlungen, der Altar, wird schon in frühchristlicher Zeit durch sogenannte „cancelli“ eingefasst: niedrige Stein- oder Holzstrukturen.1133 Aus diesen entwickeln sich nach Meinung der Forschung in karolingischer Zeit fest mit der Architektur verbundene, monumentale Chorschranken, die in mittelalterlichen Quellen häufig ebenfalls als „cancelli“ bezeichnet werden.1134 Ihre Entstehung ist mit der Notwendigkeit eines liturgischen Chores für den Chordienst, insbesondere für die Tagzeitengebete, verbunden.1135 Ab dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts werden Lettner im Westen als permanente Architekturen errichtet.1136 Betont werden muss die Multifunktionalität der Chorabschrankungen, die sich zum Teil bereits in den Bezeichnungen dieser Strukturen in den unterschiedlichen Sprachen niederschlägt. Der deutsche Begriff „Lettner“ bezieht sich auf seine Funktion als Ort der Evangelienlesung. Auch das französische „jubé“, das auf den Psalmenbeginn „Iube domine benedicere“ rekurriert, betont die liturgische Funktion des Lettners. Die italienischen Begriffe „ponte“ und „tramezzo“ beziehen sich eher auf die architektonische Form, während das Englische „rood screen“ die Chorabschrankung als Ort einer monumentalen Kreuzigungsgruppe hervorhebt.1137 Ähnlich vielfältig sind die durch Quellen überlieferten Funktionen des Lettners im mittelalterlichen Kirchenalltag. Der Lettner schafft eine Bühne als Leseplatz und bildet zugleich den Hintergrund des Laienaltars.1138 Seine Arkaden können als Kapellen verwendet werden.1139 Als Bühne dient er zur Evangelienlesung und dem Zeigen von Reliquien.

1133 Hohmann 2000, S. 35; Schmelzer 2004, S. 19. 1134 Nach F.E. Howard und F.H. Crossley haben sich die englischen Chorabschrankungen, die „rood screens“, eher aus dem bebilderten „chancel arch“ (Apsisbogen) entwickelt als aus den niedrigen Chorummauerungen frühchristlicher Kirchen: Howard/Crossley 1927, S. 213. Zu den mittelalterlichen Begriffen für den Lettner – u. a. „lettener“, „ambo“, „analogium“, „cancelli“, „paries“ – und ihren Quellen, s. Schmelzer 2004, S. 11. 1135 S. Artikel „Chor: I. Architektonisch“, in: LThK, Bd. 2, Sp. 1081‒1083. 1136 Schmelzer 2004, S. 19, 20 u. Jung 2006, S. 188. 1137 So auch Jung 2006, S. 185. Das Wort „lettener“ wird zuerst 1261 erwähnt: Schmelzer 2004, S. 11. Gewöhnlich wird zwischen Lettnern und Chorschranken unterschieden, obwohl die Übergänge zwischen ihnen architektonisch gesehen meist fließend sind. Im Englischen setzt sich zunehmend der von der Definition her breiter angelegte Begriff „choir screen“ durch: vgl. Cooper 2001. 1138 Vgl. Schmelzer 2004, S. 10. In Frankreich befanden sich unter den Arkaden des „jubé“ oft sogar mehrere Altäre. 1139 So z. B. in S. Maria Novella in Florenz: Hall 1974, S. 164 f.

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Auch liturgische Spiele und Prozessionen beziehen den Lettner mit ein.1140 Des Weiteren ist der Lettner als Ort der Verkündigung von Gesetzen und Urteilen und der Vollziehung von Rechtsakten belegt.1141 Monika Schmelzer und Jacqueline Jung heben schließlich seine praktischen Funktionen hervor: Er bietet Schutz vor Kälte und Zugluft und erleichtert den Gesang im Chor.1142 Das Vorkommen von Chorabschrankungen hängt eng mit einer veränderten Wahrnehmung der Eucharistiefeier zusammen. Seit Isidor von Sevilla verlagert sich das Eucharistieverständnis dabei vom Dank der Gemeinde an Gott für dessen Heilstaten auf die Realpräsenz Christi im Sakrament.1143 Um die Wende des 13. Jahrhunderts – in der Synode von Paris (1198–1203) unter Bischof Odo von Sully und im 4. Laterankonzil 1215 – verbreiten sich offiziell Gesten zum Zeigen der Hostie und die Transsubstantiationslehre.1144 Im Rahmen der Synode von Paris wird schriftlich festgelegt, dass der Priester nach den Worten „hoc est corpus meum“ die Hostie emporzuheben hat, so dass sie von allen gesehen werden kann.1145 In den folgenden Jahren wird diese Vorgabe in Statuten und Weisungen verschiedener Orden und Kirchen in ähnlicher Form verbreitet.1146 Trotz der immer wieder betonten regionalen und lokalen Unterschiede in der Messfeier kann das Sehen der Hostie bei der Elevation neben der Teilnahme an der Kommunion, die allerdings für die meisten Laien nur einmal im Jahr stattfand, als eines der wichtigsten Bestandteile des Kirchenbesuchs für die Gläubigen im Spätmittelalter gesehen werden.1147 Eamon Duffy hat zahlreiche Beispiele aus dem spätmittelalterlichen England zusammengetragen, aus denen deutlich wird, dass „seeing the Host became the high point of lay experience of the Mass“: Vor Altarretabeln werden dunkle Tücher aufgespannt, damit die Hostie deutlich sichtbar bleibt; zum selben Zweck werden Kerzen gespendet, und Glöckchen vor der Wandlung in der Kirche geläutet, damit in ihr Gebet vertiefte Gläubige rechtzeitig aufschauen können.1148 Die Forschung zu Lettnern und Chorschranken hängt, das hat Paul Binski gezeigt, eng mit der Interpretation der kirchenhistorischen Entwicklung zusammen.1149 Denn aus der Perspektive der Gemeinschaftlichkeit der Messe und der Sichtbarkeit des Sakraments erscheinen Chorschranken und Lettner zunächst als Trennung, die Klerus und Laien auf den ersten 1140 Schirmer 1998, S. 15; Jung 2000, S. 629; Schmelzer 2004, S. 143. 1141 Schmelzer 2004, S. 146. S. z. B. Erler 1954, S. 34, Anm. 4: Vom Lettner der Frankfurter Pfarrkirche wird die Steuerordnung verkündet. 1142 Zum Schutz vor Kälte s. Jung 2000. Sie beschreibt, wie die Mainzer Kleriker nach der Abnahme des Lettners den Hauptaltar weiter in den Chor hineinziehen mussten: ebd., S. 629 u. 652, Anm. 87. Zur Erleichterung des Gesangs: Schmelzer 2004, S. 144. Dawn Marie Hayes nennt eine Quelle für Char­ tres, nach der der Wächter der Sakristei, der über die Schätze und Reliquien wachte, seine Mahlzeiten auf der Chorschranke zu sich nahm: Hayes1999, S. 14. 1143 Erwin Iserloh, Art. Abendmahl III/2. Mittelalter, in: TRE, Bd. 1 (1977), S. 89–106, hier S. 89. 1144 Rubin 1991, S. 55; Binski 1999, S. 4 f. 1145 Rubin 1991, S. 55. 1146 So z. B. für die Franziskaner (1243) und die Dominikaner (1256). S. diese und weitere Beispiele bei Rubin 1991, ab S. 56. 1147 S. Duffy 1992, S. 93; Wenzel 1995, S. 99‒104; Schnitzler 2002, S. 223. 1148 Duffy 1992, „Seeing the Host“ S. 95‒107, Zitat S. 96. 1149 Binski 1999.

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Blick unterschiedliche Räume zuweisen und die Sicht auf den Hochaltar aus dem Kirchenschiff verstellen oder beschränken. Im 19. und 20. Jahrhundert wurden Lettner und Chorschranken sowohl im Hinblick auf die Architekturwahrnehmung des Kircheninneren als auch im Wandel religiös-gemeinschaftlicher Vorstellungen als störende Elemente betrachtet und deshalb von der Kunstgeschichte vernachlässigt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sahen Georg Dehio und Gustav Betzold in ihrer Studie zur „kirchlichen Baukunst des Abendlandes“ den Lettner als „unorganisches Einschiebsel, als eine Störung der perspektivischen Entwicklung“ an.1150 Ebenso wurde er auch aus religionsgeschichtlicher Sicht negativ interpretiert: als Abgrenzungsmittel des Klerus gegenüber den Laien, Stein gewordener Ausdruck einer „von oben“ auferlegten Hierarchie.1151 Allerdings ist eine kritische Haltung dem Lettner gegenüber nicht erst im 19. Jahrhundert zu beobachten, sondern lässt sich bereits im Zeitalter der Gegenreformation verzeichnen. Die geringe Anzahl der heute erhaltenen oder rekonstruierbaren Exemplare geht wesentlich auf die Konsequenzen der negativen Einstellung unterschiedlicher Epochen und Gruppierungen zurück: In Italien wurden bereits im Cinquecento im Zuge der Gegenreformation die „ponti“ und „tramezzi“ aus den Kirchen entfernt, und auch in anderen Ländern gehen die meisten Verluste auf die Gegenreformatoren zurück.1152 Obwohl in Deutschland und Frankreich schon mehr mittelalterliche Chorabschrankungen an ihrem ursprünglichen Standort vorhanden sind als in Italien, finden sich jedoch die meisten erhaltenen „rood screens“ in England, wo die Anglikanische Kirche weniger stark auf eine unverstellte Sicht auf die Kanzel bedacht war.1153 Wenn Chorabschrankungen auf einen allgemeinen Abgrenzungswillen des Klerus zurückgingen, dann wäre zu vermuten, dass das Errichten von Lettnern und Chorschranken im Mittelalter durch kirchliche Beschlüsse oder lokale klerikale Anweisungen geregelt wurde. Das trifft jedoch nicht zu. In seinem Aufsatz zur Ausstattung der mittelalterlichen englischen Pfarrkirche weist Binski ausdrücklich darauf hin, dass „[s]creens, like altarpieces, were never a matter of formal prescription by the Church“.1154 Darüber hinaus wurden vor allem die spätmittelalterlichen Lettner bzw. deren Teile im Wesentlichen von Laien gestiftet.1155 Über1150 Georg Dehio, Gustav von Betzold, Die kirchliche Baukunst des Abendlandes, Bd. II, Stuttgart 1901, S. 29, zitiert nach Schmelzer 2004, S. 13. Anders allerdings in der englischen Forschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Aymer Vallance betont den ästhetischen Reiz der screens: „in a church fitted with its ancient scenery, fresh surprises and unimagined beauties are unfolded to his enraptured gaze in the recesses of each enclosed sanctuary as threshold after threshold is crossed by the advancing explorer“. Vallance 1936, S. 36. 1151 Die ausführlichste Analyse der Ideologie und der darauf basierenden Argumente bei Binski 1999. Kommentare zur negativen Sicht der älteren Forschung auch bei Jung 2000, S. 622; Schmelzer 2004, S. 13; Jung 2006, S. 186. Als Beispiel einer Implementierung des hierarchischen Erklärungsmodells hingegen s.u. die Interpretation des Havelberger Lettners als „Isolierungstendenz“ des Klerus: Lichte 1990, S. 110. 1152 In Florenz (S. Maria Novella und S. Croce) z. B. durch Giorgio Vasari ab 1565: s. Hall 1974, S. 157. 1153 Zu England: Howard/Crossley 1927; Vallance 1936. Einen Forschungsüberblick bietet darüber hinaus Binski 1999. 1154 Binski 1999, S. 12. 1155 Ebd.; s. auch Jung 2006, S. 190. Dazu, dass in englischen Pfarrkirchen das Schiff inklusive Lettner die Domäne der Gläubigen war und die Verantwortung des Klerus von Osten her an diesem endete,

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haupt sind die Entstehungsumstände und entsprechend die Entstehungsgründe für Lettner und Chorschranken sehr vielfältig. Auf die unterschiedliche Ausstattung, Erscheinungsweise und Nutzung der jeweiligen Chorabschrankungen im Mittelalter hat die Forschung reagiert, indem sie sich der Analyse einzelner Exemplare oder bestimmter Regionen und Kirchentypen gewidmet hat. 1156 Dementsprechend ist vor allem in den letzten 50 Jahren die spezifische Funktionsgeschichte ­einzelner Exemplare rekonstruiert worden. Quellen wurden erarbeitet, und es wurde den regionalen Unterschieden Rechnung getragen. Breiter angelegt ist die Studie Monika Schmelzers, die einen typologischen Überblick über Lettner im deutschsprachigen Raum gibt. Aus architekturhistorisch-stilistischer Perspektive erscheint ihr der Lettner einmal mehr, einmal weniger als Schranke. Der ab dem 15. Jahrhundert verbreitete Arkadenlettner etwa „ist kaum noch Schranke, eher Portal oder besonderer Schmuck an der Grenze zum Chor [...]. Die Übergänge sind fließend“.1157 Inwieweit der Lettner als trennendes oder verbindendes Element aufgefasst werden kann, ist für Schmelzer von seiner architektonischen Form abhängig. Einige Publikationen der letzten Jahre haben darüber hinaus gezeigt, dass das Thema der Chorabschrankungen, und zwar besonders deren trennende und zugleich verbindende Eigenschaften und Funktionen, von visualitätsgeschichtlichem und bildtheoretischem Interesse ist und an einige der zentralen Fragen der Spätmittelalterforschung anknüpft. Als Desiderate formuliert Binski diese Tendenzen bereits 1999. Er fordert eine genauere Analyse der den Chorabschrankungen zugrunde liegenden „theory of curiosity or fascination: that partial concealment [...] acts to heighten imaginative value and attractiveness“ und eine damit ­verbundene Erforschung des Phänomens der Öffnungen in den „screens“, den sogenannten „elevation squints“.1158 Darüber hinaus setzt er die Bestimmung des Generalkapitels der Dominikaner aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, Lettner mit Fenstern zu versehen, in Bezug zum zeitgleichen Rahmenfenster-Motiv englischer bebilderter Apokalypsen (s. z. B. Abb. 3).1159 Insgesamt also erscheint es als erfolgsversprechend zu untersuchen, wie Chorabschrankungen den Blick lenken und die Qualität des vermittelten Blicks beeinflussen, und ihren Zusammenhang mit religions- und kunstgeschichtlichen Entwicklungen zu analysieren. Auch in den Aufsätzen eines Sammelbandes, der sich der Interaktion von Kunst und Liturgie am Beispiel spätmittelalterlicher Choranlagen widmet, tritt die spezielle Relevanz

s. die zitierten Quellen bei Vallance 1936, S. 34–36. Diverse Beispiele aus den Grafschaften Norfolk und Devon bei Graves 2000. 1156 Z. B. Hall 1974 zu S. Maria Novella in Florenz; Lichte 1990 zu Havelberg; Hohmann 2000 zu Hildesheim; Knipping 2001 zu Amiens; Lemberg 2006 zu Marburg; Binski 1999 zu englischen Pfarrkirchen; Cooper 2001 zu umbrischen Franziskanerkirchen. 1157 So Schmelzer in einem etwas später erschienenen Aufsatz: Schmelzer 2005, S. 362. 1158 Binski 1999, S. 13. 1159 Binski 1999, S. 13 f. In der Bestimmung der Dominikaner heißt es: „Poterunt tamen alique fenestre ibidem aptari ut tempore elevacionis corporis dominici possint aperiri“, zitiert nach Schmelzer 2004, S. 144, Anm. 533.

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der visuellen Erfahrung an den Schwellen zum und im Chor hervor.1160 Am ausgiebigsten hat sich mit dem visuellen Aspekt Jacqueline E. Jung beschäftigt, die in zwei Aufsätzen den Lettner als verbindendes Element zwischen Chor und Kirche, Klerus und Laien untersucht, und sowohl gebaute Lettner als auch den Lettner als Bildmotiv berücksichtigt.1161 In der Forschung ist somit der Schwellencharakter des Lettners und der Chorschranken, deren zugleich trennender und verbindender Charakter, bereits in den Blick gerückt. Auch im Folgenden steht der Schwellencharakter im Vordergrund. Vor allem geht es um den Blick an der Schwelle zum Chor: Wie wird der Blick durch Lettner und Chorschranken gelenkt und in welchem liturgischen Kontext steht dieser? Welche Schwellenfunktionen, d. h. Funktionen der Durchlässigkeit und Abtrennung in Bezug auf Blick und körperliche Bewegung hatten Chorabschrankungen, und wie schlagen sich diese Funktionen in deren Gestaltung nieder? Auf welche Weise wird also die Blickführung an der Schwelle zum Chor durch die dort angebrachten Bilder gefördert und kommentiert? Es wird sich zeigen, dass die Schwellen zum Chor eine spezielle mediale Ästhetik haben, die sich aus ihrer Multifunktionalität ergibt: Sie sind Bildträger, lenken den Blick, stehen im Dienst liturgiegebundener Visualität und erreichen durch die enge Verzahnung von Durchblicken in den Chor und Bildprogramm wiederum eine ihnen eigene komplexe Bildlichkeit, die sich begrifflich schwer fassen lässt.1162 Zur Erfassung des Spektrums der Erscheinungsweisen und visuellen Aufgaben von Chor­ abschrankungen können im Folgenden fünf verschiedene Arten des Blickens unterschieden werden, die an der Schwelle zum Chor möglich sind. Unter „Durchblick“ werden zunächst die konkreten Öffnungen der Chorarchitektur thematisiert, die den Blick freigeben auf den Chorraum und die dort zu sehenden Objekte und Handlungen. Zu fragen ist, in welchen funktionalen, liturgischen und bildlichen Kontexten die Öffnungen in den einzelnen Beispielen stehen. Sodann wird unter dem Begriff „Einblick“ die bereits öfter erwähnte Tiefendimension von Schwellenarchitekturen und deren Bildwerken in ihrer Gestaltung an mittelalterlichen Chorabschrankungen analysiert. Der dritte Abschnitt konkretisiert unter „Doppelblick“ die Bildlichkeit des Lettners. Zu diesem Ziel werden Lettnerdarstellungen mit realen Lettnern verglichen und Interferenzen zwischen Bild und Raum analysiert. Die beiden letzten Abschnitte – „Der Blick aus dem Chor“ und „Der laterale Blick“ – untersuchen Beispiele, die Chorabschrankungen in ihrer doppelten Gerichtetheit und als Träger von Bild­ erzählung erkennbar werden lassen.

1160 Moraht-Fromm 2003. S. vor allem den Beitrag von Christian Freigang: Freigang 2003. Weilandt 2003 beschäftigt sich mit der Sichtbarkeit der Bildseiten der verschiedenen Altarretabel in der Nürnberger Dominikanerinnenkirche St. Katharina (s. auch oben 4.3). Achim Timmermann: ‚Ein mercklich köstlich und wercklich sacrament gehews‘. Zur architektonischen Inszenierung des Corpus Christi um die Mitte des 15. Jahrhunderts, S. 207–230, nähert sich Sakramentshäusern aus „funktions- und visualitätsgeschichtlicher“ Perspektive und untersucht zwei Darstellungsstrategien, die er „Schauentzug“ und „Schauersatz“ nennt (ebd., S. 207). 1161 Jung 2000 und Jung 2006. 1162 Freigang spricht in der Einleitung seiner Untersuchung spätmittelalterlicher Choranlagen von hochgotischer Architektur als „ästhetisch-bildhaft wirkende Struktur“: Freigang 2003, S. 59.

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Durchblick Im Zusammenhang mit der religionsgeschichtlichen Bedeutung der visuellen Teilnahme an der Elevation sind in den letzten Jahren verstärkt diejenigen Bereiche in den Blickpunkt der Forschung gerückt, an denen Lettner oder Chorschranken für Blicke oder körperliche Bewegung durchlässig werden: Türen und Fenster. Gestaltung und Funktion dieser Durchgänge und -blicke sind uneinheitlich. Fast alle erhaltenen Lettner weisen eine oder zwei Türen auf, die im Mittelalter nicht nur von Klerikern, sondern in manchen Fällen auch von Laien benutzt wurden.1163 Eine Ausstattung von Choranlagen mit mehreren Türen, deren Funktion sich daher nicht nur auf das Ein- und Austreten von Klerikern beschränken kann, legt außerdem die Vermutung nahe, dass die dem Kirchenschiff zugewandten Türen des Lettners ursprünglich eine spezifische Nutzung im Kontext der Liturgie vorsahen. Ob das vornehmlich die visuelle Teilnahme an der elevatio war, ist ungeklärt und als alleinige Funktion der Durchgänge besonders dort anzuzweifeln, wo es keine zentral auf den Hauptaltar im Chor ausgerichtete Tür gibt. Wie sehr die Funktion der visuellen Durchlässigkeit jedoch die bildliche Gestaltung der Schwelle zum Chor beeinflussen kann, wird am Beispiel des Lettners der Marienkirche in Gelnhausen deutlich (Abb. 131).1164 In den um 1240 begonnenen Lettner ist zwischen den zwei seitlich angebrachten – und einzigen – Türen zum Chor ein Durchblick in Form eines Sechspasses eingelassen. Im Dorsale des Chorgestühls ist ein rechteckiges vergittertes Fenster auf gleicher Höhe angebracht (Abb. 132). Die im spätgotischen Altaraufsatz an der Westseite des Lettners unter der Kreuzigungsdarstellung eingelassenen Schiebetüren (Abb. 133) sprechen dafür, dass der Durchblick vom 13. bis in das 15. Jahrhundert genutzt wurde.1165 Unbekannt ist, ob sich der Sechspass vor der Anbringung der spätgotischen Tafel bereits verschließen ließ und ob dies ebenfalls durch eine bildlich gestaltete Tafel geschah. Ein noch größerer zentraler Durchblick nach Osten hat sich unter dem romanischen Kanzelciborium des Lettners der Stadtkirche von Friedberg erhalten.1166 Im Allgemeinen sind Hagioskope, fenestellae und elevation squints ein erst in den letzten Jahren ansatzweise entdecktes Gebiet der kulturwissenschaftlichen Forschung, das noch der

1163 Der Lettner der Marburger Elisabethkirche bildet eine Ausnahme: Der Chor ist nur über die Chorschranken an den Seitenschiffen zu erreichen. Quellen, die eine Benutzung durch Laien nachweisen, führt Jung 2000, S. 627 f., an: Der Bischof Odo von Rouen beschwerte sich 1250, dass die Hostie Personen, die in der Kathedrale von Séez durch den Chor liefen oder dort beteten, nicht sichtbar sei; ein Verbot der Synode von Angers (1423) will eine Überfüllung des Chors mit Laien verhindern. 1164 Zu Gelnhausen: Krohm/Markschies 1994; Wilbertz 2000; Schmelzer 2004, S. 116; Jung 2006, S. 194. 1165 Der Altaraufsatz wird in das mittlere Drittel des 15. Jahrhunderts datiert: s. Wilbertz 2000, S 30. 1166 Zu Friedberg, s. Schmelzer 2004, S. 57–60. Datiert wird das Ciborium auf die Zeit um 1240/1250, während die heutige Schranke aus dem zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts stammt. Nach Schmelzer war aber bereits in der romanischen Struktur die Öffnung vorgesehen: Schmelzer 2004, Anm. 265, S. 59. Zentrale Durchblicke nach Osten über und hinter dem Laienaltar bieten außerdem: der zerstörte Lettner im Hamburger Dom (2. Hälfte 13. Jahrhundert); der Lettner im Lübecker Dom (1334/1335) und der Lettner im Breisacher Münster (um 1497).

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begrifflichen Schärfung bedarf.1167 Die Breite an Möglichkeiten des Formats, der Gestaltung, der Anbringungsorte und Funktionen zeichnet sich sogar innerhalb des eng gefassten Untersuchungsfeldes von Christine Kratzke ab, die das Vorkommen von Hagioskopen in mittel1167 Kratzke 2005. Sie schildert umfassend den Stand der Forschung: Einzelne Studien zu Hagioskopen gibt es vor allem in der skandinavischen und britischen Forschung. Zu den „elevation squints“ s. Bond 1916; Howard/Crossley 1927, S. 213; Vallance 1936, S. 40–42; Duffy 1992, S. 97 f. u. Binski 1999, S. 13 f. Zu „fenestellae“ s. den Artikel von Yves Christe u. Karl Möseneder, „Fenestella“, in: RDK, Bd. 7 (1981), Sp. 1227–1253. Mein Aufsatz mit einer vorläufigen Liste aller bekannten „elevation squints“ sowie einem Vorschlag zur begrifflichen Klärung für die englischen Beispiele erscheint voraussichtlich noch 2014:

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132 Sechpass im Lettner und vergittertes Fenster im Dorsale des Chorgestühls, Marienkirche, Gelnhausen.

133 Lettner, Marienkirche, Gelnhausen, begonnen um 1240. Altaraufsatz mit Schiebetüren unter der Kreuzigung aus dem mittleren Drittel des 15. Jahrhunderts.

alterlichen Kirchen der Zisterzienser und Zisterzienserinnen im deutschsprachigen Gebiet untersucht. Auch wenn sich der Begriff vom Griechischen „hágios“ (heilig) und „skopein“ (sehen) ableitet, so beschränkten sich die Aufgaben der Hagioskope nach Kratzke nicht darauf, den Gläubigen einen Blick auf das Heilige zu erlauben. Vielmehr sollte durch die Hagioskope auch die heilbringende Wirkung der sich im Chor befindenden Objekte nach außen ausstrahlen, und in manchen Fällen dienten sie dazu, Licht gezielt auf bestimmte Stellen oder Objekte im Inneren fallen zu lassen.1168 Anbringungshöhe und Durchmesser der Öffnungen variieren dementsprechend sehr stark.1169 Damit scheinen sich die Hagioskope nach Channelling the Gaze: Squints in Late Medieval Screens, in: Semantics of Vision: Art Production and Visual Cultures in the Middle Ages, hrsg. von Thomas Dittelbach und Raphaèle Preisinger, Turnhout. 1168 Kratzke 2005, S. 71. 1169 Kratzke nennt keine konkreten Maße, so dass sich die Vielfalt nur aus den Abbildungen erkennen lässt, die ihrem Aufsatz beigefügt sind. In einigen Fällen sind die Öffnungen kleine rechteckige Löcher

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Kratzkes Definition auch von den „elevation squints“ des spätmittelalterlichen Englands zu unterscheiden, die sich an den Chorschranken befinden und ausschließlich dem Verfolgen der Hostienelevation gelten, da sie „at eye-level for kneeling adults“ angebracht sind, die im Stehen in den meisten Fällen durch das durchbrochene Maßwerk der Chorschranken blicken konnten.1170 Die ungleichmäßige Verteilung der „squints“ in der Pfarrkirche St. Edmund in South Burlingham (Grafschaft Norfolk) zeigt, dass sie nachträglich eingebohrt wurden und ihnen daher nicht das gleiche planerische Kalkül zugrunde liegt, von dem zum Beispiel die von Kratzke erwähnten Löcher zum Zwecke der punktuellen Beleuchtung zeugen (Abb. 134).1171

134 Elevation squints in der Chorabschrankung von St Edmund in South Burlingham, Norfolk, 15. Jahrhundert.

Bereits an dieser Stelle wird deutlich, welche Vielfalt an Öffnungen in den Chor es im Mittelalter gab, die vor allem ein gezieltes Sehen ermöglichen oder die Sichtbarkeit fokussiert erhöhen. In einem weiteren Kontext wird der Begriff des Hagioskops 2003 von Pierre-Yves Le Pogam verwendet: für die Fenster, die ab dem 13. Jahrhundert in Privatoratorien oder Schlafzimmern neben Hofkapellen zu finden sind.1172 Er sieht diese spätmittelalterliche Praxis in der Tradition derjenigen Fenster, die eingeschlossenen oder eingemauerten Eremiten als Sichtverbindung zur Kirche und damit zur Messe dienten. 1173 Benötigt wurden die kleinen Räume mit Sichtverbindung zum Altar von Hofkapellen seiner Meinung nach erst dann, als diese weniger exklusiv genutzt wurden und dadurch der Wunsch nach noch ‚privateren‘ in der Nähe des Bodens, in anderen Fällen scheinen sie separat gerahmt oder dekoriert als etwa kopfgroße Fenster hervorgehoben. 1170 Duffy 1992, S. 97, bezieht sich hier auf Burlingham St. Edmund und South Walsham in Norfolk und Lavenham in Suffolk. 1171 Die in die Holztäfelung der englischen „rood screens“ eingebohrten „elevation squints“ fügen sich nur selten in die strukturelle und dekorative Gestaltung der Tafeln ein, s. die Abbildungen 44–46 u. 53 bei Duffy 1992. Lediglich die drei Löcher über den Köpfen der Heiligen in Roxton (Bedfordshire) sind in den dreiblättrigen Spitzbogen eingepasst. An einigen „screens“ gibt es Maßwerkreihen im oberen Bereich der Holzvertäfelung, welche die squints gewissermaßen bereits mitliefern. Es gab übrigens auch in England Fenster zur seitlichen Beleuchtung des „rood“, der Kreuzigungsgruppe auf dem Lettner (sog. „rood-windows“). S. Vallance 1936, S. 27. 1172 Le Pogam 2003. Weitere Beispiele bei: Freigang 2003, S. 68 u. 77. 1173 Le Pogam 2003, S. 173 mit Beispielen.

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Räumen für die höfischen Gläubigen entstand, wie etwa bei der Sainte-Chapelle in Paris. Im Kontext exklusiver Sichtbarkeit sind auch die Öffnungen zu sehen, welche Nonnen das visuelle Verfolgen von Hostienelevationen gestatteten.1174 Es zeigt sich also, dass es eine Vielfalt von an der Außenwand oder im Inneren der Kirche an den Chorabschrankungen angebrachten, von Anfang an konzipierten oder nachträglich durchbrochenen, einen Einblick erlaubenden oder eine Ausstrahlung ermöglichenden Öffnungen gibt, die im Zusammenhang mit Chor und Altar stehen. Ihre Erforschung und Systematisierung bleiben Desiderate kulturwissenschaftlicher Forschung. Im Kontext der Lettner und Chorschranken unterstreichen diese Öffnungen zunächst die Vermutung, dass der Erfahrungswert des Sehens in Bezug auf den Chor im Mittelalter besonders wichtig war, und legen es nahe, Strukturen wie Lettner und Chorschranken in ihren verschiedenen Erscheinungsformen besonders als Schwellen des Blicks zu untersuchen. Damit rücken die Aspekte der gebauten Schwelle in den Vordergrund, die auch schon oben (Abschnitt 6.1) thematisiert worden sind: die Durchlässigkeit, der Wechsel zwischen Verbergen und Zurschaustellen, Oberfläche und Tiefe, Öffnen und Schließen in deren jeweils materiellen, ästhetischen und liturgischen Dimensionen. Die liturgische Grundfigur des Ver- und Enthüllens zeigt sich auch am Lettner, der sich in ähnlicher Weise wie das Fastentuch, wie klappbare Reliquienbehälter, Altarbilder und Sakramentsschränke durch diese Wandelbarkeit auszeichnet. Eamon Duffy vergleicht daher die Rolle von Fastentüchern und Chorschranken: „we need to grasp that both screen and veil were manifestations of a complex and dynamic understanding of the role of both distance and proximity, concealment and exposure within the experience of the liturgy“.1175 Der bereits erwähnte Lettner der Marienkirche in Gelnhausen hat eine polygonal vorspringende Bühne, unter der sich eine Vorhalle mit den zwei seitlichen Eingängen zum Chor bildet. In den Zwickelbereichen der Arkaden des Lettners sind Szenen des Jüngsten Gerichts dargestellt. Die äußeren beiden Relieffelder sind so gestaltet, dass der Betrachter sich aus einer zentralen Position im Hauptschiff ihr Thema erschließen kann: Die Auferstehenden links ragen erkennbar weit aus der Wand hervor, und eine Wolkenkonsole über den Auferstehenden sowie der Flammen speiende Schlund der Höllenszene stehen sogar etwa 40 Zentimeter über den Lettner hervor (Abb. 133 und Abb. 135).1176 Das Jüngste Gericht ist an der Schwelle zum Chor ein fast ebenso wichtiges Thema wie am Eingang in die Kirche. Zwar wird es an den Lettnern selbst meist in sehr verkürzter Weise dargestellt;1177 aber es befindet sich sowohl in Italien als auch in England in einigen Kirchen 1174 Hamburger nennt ein Fenster in der Schranke, welche die Nonnen in Ebsdorf vom Chor trennt, das für die elevatio geöffnet wird: Hamburger 1998, S. 96. Weilandt findet im „Notel“ der Nürnberger Dominikanerinnenkirche St. Katharina einen Hinweis auf das „Gatter“, das an der Emporenbrüstung des Nonnenchors während der Messe geöffnet wurde: Weilandt 2003, S. 172 u. 184, Anm. 55. 1175 Duffy 1992, S. 111. Vorhänge wurden das ganze Mittelalter hindurch genutzt, um bestimmte Bereiche oder den ganzen Chor abzutrennen. So etwa in Basel und Magdeburg, s. Schmelzer 2004, S. 143, Anm. 532. 1176 Die Angaben beruhen auf meinen eigenen Messungen vor Ort. 1177 Gelnhausen besitzt die ausführlichste erhaltene Lettnerdarstellung aus dem deutschsprachigen Raum. Fragmente des Lettners von Mainz enthalten eine Skulptur des Weltenrichters mit Deesis und ebenfalls Züge der Seligen und Verdammten (s.u.). Am Vierpass des Naumburger Westlettners ist lediglich

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am Triumphbogen1178 oder im Tympanon des Chorbogens1179 („chancel arch“). Die Beispiele bestätigen eine Einschätzung des Jüngsten Gerichts als Schwellenthema, widersprechen dagegen aber teilweise der zum Beispiel von Baschet geäußerten Annahme, dass sich Themen, die eine Spannung („tension“) zwischen Menschen und Gott enthalten, auf den Einder Richter dargestellt (s.u.). Des Weiteren finden sich am Lettner der Wechselburger Stiftskirche ein Weltenrichter mit Deesis über dem Laienaltar (1230/1240); das Fragment einer Gruppe von Seligen vom 1763 abgerissenen Lettner befindet sich in der Kathedrale von Chartres (gegen oder um 1240); vom nach 1750 abgetragenen Lettner der Kathedrale von Bourges sind Höllenrachen und -kessel erhalten (gegen 1260); das Jungfrauengleichnis mit Christus als Weltenrichter am Lettner von St. Petri in Stendal (14. Jahrhundert) ist hier auch zu nennen. Zu den deutschen Beispielen Schmelzer 2004, zu den französischen Sauerländer 1970. 1178 Italien: S. Maria Maggiore in Tuscania (1315–1320); S. Maria in Porta Fuori, Ravenna (1329–1333). 1179 Für England s. die Abbildungen bei Vallance 1936 (7 Beispiele).

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136 Erwählte, Lettner der Marienkirche in Gelnhausen, begonnen um 1240.

gangsbereich beschränkten, während der Chor von Bildern der Zusammenkunft („fusion“) geprägt sei.1180 Die Besonderheit in Gelnhausen ist die Darstellung des Himmels: Der Engel, der zwei Selige an einem Tuch hinter sich herzieht, blickt als einziger bereits lächelnd in die schmale Tür des himmlischen Paradieses, das als Gebäude mit spitzbogigen Fenstern und Vierpass zu sehen ist (Abb. 136). Es finden sich hier diejenigen gestalterischen Formen als Motive wieder, die auch die Gestaltung der Öffnungen des Lettners selbst bestimmen – die im Dreipass abschließenden Türen und das Hagioskop. Die Richtung des Engelsblicks in die Himmelspforte lässt sich zudem am besten aus der Zentralansicht auf den Lettner erkennen – aus der Betrachterposition also, aus der man zugleich den besten Blick durch den Lettneroculus auf den Hauptaltar hat (Abb. 133). Die gestalterischen Parallelen zwischen dem dargestellten Himmelsblick und dem (eventuell auch im 13. Jahrhundert) zeitweise ermöglichten Blick in den Chor vermitteln dem Betrachter nicht nur eine Ähnlichkeit der beiden Orte, sondern suggerieren auch, dass das Sehen selbst – die Tatsache des Sehens oder die Art, wie gesehen wird – über das Schicksal des Betrachters entscheiden wird, denn die Verdammten werden von den Seligen auf derselben zentralen Achse geschieden, auf der auch das Hagioskop liegt.1181 Die Möglichkeiten oder sogar Aufgaben eines Lettners, den Laien einen „focused glimpse of this most sacred space“1182 zu gewähren, wird in der dargestellten Freude des Engels über seinen „focused glimpse“ des Paradieses gespiegelt und damit positiv gewertet. 1180 Baschet 1990, S. 553. S. dagegen Dale 2004, S. 14, der angesichts der Verbreitung von Darstellungen des Jüngsten Gerichts in der Apsis und im Portal feststellt: „it may well be imagined that both portal and conch served similar functions throughout Europe, mediating the vision of the afterlife at key threshold points in the church building“. 1181 Jung vergleicht ebenso die Bildmotive der Schilderung des Jüngsten Tages mit dem realen Lettner. Sie erwähnt allerdings den Durchblick in den Chor nicht, sondern kontrastiert „the open mouth of the demon and the gaping maw of hell“ mit den architektonischen Öffnungen des realen Lettners und des himmlischen Jerusalem im Bild: „redemption takes the shape of movement through solid architectural [...] openings“: Jung 2006, S. 194. In ihren beiden Aufsätzen betont sie generell eher den Aspekt des tatsächlichen, körperlichen Überquerens der Lettner als den des Durchblicks: vgl. den Abschnitt „Choir Screens as Sites of Passage“ in Jung 2000, S. 630–634. 1182 Jung 2006, S. 189.

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Es sind vor allem diese den Blick konzentrierenden und fokussierenden Funktionen des Lettners, welche die Forschung zu Choranlagen in den letzten Jahren immer wieder assoziativ und mit dem Hinweis auf Parallelen zwischen Visualitätsgeschichte und Kunst- oder Architekturgeschichte unter den Gesichtspunkten von Bildlichkeit oder der Vorstellung des Sehens im Mittelalter zusammengeführt hat. Binski verweist knapp auf die Ähnlichkeit und das etwa gleichzeitige Auftauchen von „squints“ und dem Motiv des Rahmenfensters in der englischen Bilderapokalypse, „that appears to concentrate the vision“.1183 Der Vergleich sei, so deutet Binski an, vor allem in Bezug auf die Qualität des erhaltenen Blicks und die Absonderung und Vereinzelung des Betrachters erhellend.1184 Die sakramentale Bedeutung der Hostie nehme zu, wenn diese durch einen Spalt erspäht werde. Diese Wirkung kennzeichnet auch die Funktion der als fenestellae bezeichneten Löcher in Reliquienschreinen oder Altären, die etwa seit der Mitte des 3. Jahrhunderts überliefert sind.1185 Folglich ist es möglich, neben einer synchronen visualitätsgeschichtlichen Verknüpfung der gebauten Durchfensterungen der Choranlagen mit den visionären Fenstermotiven der Buchmalerei die Hagioskope materialitätsgeschichtlich in der Tradition der fenestellae zu sehen. Die Durchfensterung erscheint aus dieser Perspektive als relativ konstantes Charakteristikum einer körperlichen und visuellen Annäherung an ein heiliges Zentrum. Das ergibt sich schon aus der Beschreibung der Benutzung der fenestellae am Grab des Hl. Petrus durch Gregor von Tours. Wer dort beten wollte, sperrte die Schranken um den heiligen Ort auf („reseratis cancellis“), lief zum Grab, das unter dem Altar lag, streckte seinen Kopf durch das Fenster („immisso introrsum capite“; „fenestella“) und präsentierte seinen Wunsch dem Heiligen.1186 Wie noch ausführlicher zu erörtern ist, sind es die Schwellen dieser heiligen Orte, die in besonderer Weise als Auslöser von Emotionen und eines gesteigerten Empfindens bei den Gläubigen gelten können und als solche auch in schriftlichen Quellen erscheinen.

Einblick Wie das Beispiel des Gelnhausener Lettners gezeigt hat, ist es vor allem aufschlussreich zu untersuchen, wie Durchblick und Übergang als Funktionen der Schwellenarchitektur durch die Gestaltungweise oder Motivik der Bilder kommentiert werden. In seiner Studie zu NotreDame in Paris stellt Michael T. Davis fest, dass mit dem „Rückzug“ der Kanoniker hinter Lettner (um 1262) und Chorschranke (um 1320–1351) eine Zunahme an Reliquienbesitz korreliert, den die an Farben und unterschiedlichen Tiefenwirkungen reichhaltigen Bilder 1183 Binski 1999, S. 14. 1184 Ebd. Zur Vereinzelung des Visionärs und den Bildmotiven, die dafür verwendet wurden, s. wie oben 3.1, Ganz 2006 A und Ganz 2008. 1185 S. Yves Christe u. Karl Möseneder, Art. Fenestella, in: RDK, Bd. 7 (1981), Sp. 1227–1253, hier Sp. 1229. 1186 Gregor von Tours: De gloria martyrum (Miraculorum Lib. I), Kap. 28, in: PL, Bd. 71 (1879), Sp. 728 f.: „Hoc enim sepulchrum sub altari collocatum, valde rarum habetur. Sed qui orare desiderat, reseratis cancellis quibus locus ille ambitur, accedit super sepulchrum; et sic fenestella parvula patefacta, immisso introrsum capite, quae necessitas promit efflagitat“.

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der Chorschranke nach außen hin vermitteln.1187 Wie die species in Bacons Intromissionstheorie strahle die Architektur eine Kraft aus und wirke affektiv auf den Rezipienten.1188 Davis hebt insbesondere das Spiel mit den unterschiedlichen Tiefenschichten von Bogenläufen, Maßwerk und Skulptur der Chorschranke hervor, das den Betrachter mit den Augen einmal scheinbar näher an das Heiligtum im Chor lässt, einmal jedoch zurück an die Oberfläche verweist. Das Vordringen in die Tiefe entspricht seiner Meinung nach einer erhöhten Seh­ erfahrung: „fractured surfaces and shifting tracery screens marked thresholds that signaled a shift from literal vision to ‚seeing with the eyes of the heart‘“.1189 Die Beschäftigung mit den Tiefenschichten von Architektur und Skulptur erweist sich also nicht nur bei zahlreichen Portalen und Türen als ein wesentliches Interesse der Künstler bei der Bebilderung von mittelalterlichen Eingängen seit der Romanik. Damit wird deutlich, dass die Gestaltungsweise nicht an eine bestimmte historische Theorie des Sehens gebunden ist – etwa die Intromis­ sionstheorie –, sondern ein Aspekt der medialen Ästhetik der gebauten Schwelle darstellt, die neben den Portalen und Türen auch den Lettner kennzeichnet. Besonders gut lässt sich das an den mit dem Naumburger Meister in Verbindung gebrachten Lettnern von Gelnhausen, Mainz und Naumburg zeigen.1190 Im Gegensatz zu den Auferstehenden und den Höllenszenen, die in Gelnhausen über die Wandfläche hinausragen, sind die Züge der Seligen und Verdammten in den mittleren Zwickeln in eine „zusätzliche, freischwebende Bogenfolge“ eingelassen.1191 Die Seligen in Gelnhausen scheinen aufrecht aus der Wand hervorzukommen (Abb. 136), während sich der Teufel, der die Kette der Verdammten hinter sich her zieht, mit Gewalt in den Spalt über dem Bogen drücken muss, aus dem bereits die Flammen der Hölle schlagen (Abb. 137). Eine dem Gelnhausener Lettner ähnliche Funktionalisierung der architektonisch gegebenen Schräge zur Vermittlung eines hinter der Wandoberfläche liegenden Bereichs, aus dem Figuren hervorzukommen scheinen, ist auch in den erhaltenen Reliefs des Mainzer Lettners mit den Zügen der Seligen und Verdammten zu erkennen (Abb. 138 und Abb. 139).1192 Ein in besonderer Weise die Tiefendimension nutzender Lettner ist der Westlettner des Naumburger Doms (Abb. 140).1193 Die narrativen Reliefs ragen nach vorne über die Arkaden 1187 Davis 1998, S. 46 f. 1188 Allerdings verknüpft er – ohne dies zu begründen – die Sehtheorien Bacons mit dem Ziel einer spirituellen Erfahrung („spiritual illumination“: Davis 1998, S. 48), um die es Bacon jedenfalls nicht ging, und setzt relativ lose die Theorie der „species“ mit einer affektiven Kraft der Architektur gleich: Davis 1998, S. 47. Zu einer detaillierteren Erörterung von Bacons Theorie s. oben 4.1. 1189 Davis 1998, S. 51. Die Beschäftigung Bacons mit dem Tiefenraum erörtert Kölmel 1998, S. 735: Er findet bei Bacon Beispiele dafür, dass wir Entfernungen nicht abschätzen können, wenn Gegenstände zwischen uns und dem Betrachteten fehlen. So können wir etwa die Entfernung einer Mauer nur dann abschätzen, wenn sich zwischen uns und der Mauer z. B. noch eine niedrigere Mauer befindet. 1190 Zur Diskussion über den Naumburger Meister kürzlich Krohm/Markschies 1994 u. Kitzlinger/ Gabelt 1996. Eine Ähnlichkeit zwischen den drei genannten Beispielen in der Auffassung der Relation von Skulptur und Wand ist nicht zu übersehen. 1191 Krohm/Markschies 1994, S. 17. 1192 Zu Mainz s. Kitzlinger/Gabelt 1996 mit Hinweisen zum älteren Forschungsstand. 1193 Zu Naumburg: Blaschke 1996; Köllermann 1996; Rasche 1996; Jung 2000; Schwarz 2002, S. 25–64; Schmelzer 2004, S. 124–128; Jung 2006, S. 205–210. Dort verschiedentlich ausführlicher zum For-

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137 Verdammte, Lettner der Marienkirche in Gelnhausen, begonnen um 1240.

138 Erwählte, Fragment vom ehemaligen Westlettner des Mainzer Doms, Bischöfliches Dom- und Diözesan­museum Mainz. Vor 1239.

139 Verdammte, Fragment vom ehemaligen Westlettner des Mainzer Doms, Bischöfliches Dom- und Diözesanmuseum Mainz. Vor 1239.

heraus (Abb. 141 und Abb. 142). Auch hier wird die steil ansteigende Schräge des Lettnergiebels genutzt, um z. B. die Verleumdung Petri als physische Bedrängung darzustellen. Besonders ausgeschöpft wird die Tiefendimension im Lettnerdurchgang: Aus einem zen­ tralen Blick bei einer gewissen Entfernung scheint es zunächst, als sei der Körper Christi am Kreuz nicht nur Türpfeiler des Portals, sondern zugleich die Säule der zwei über ihm zusammenlaufenden Portalbögen.1194 Dieser Eindruck löst sich auf, sobald man sich bewegt oder Maria und Johannes fokussiert, die eindeutig in tiefen Nischen stehen. In der Auf­ lösung dieses Eindrucks wird zugleich die Tiefe des Portals offenbar (Abb. 143). Das Bestreben der Bildkünstler, Oberflächen- und Tiefenstrukturen möglichst vielfältig miteinander schungsstand. 1194 Vgl. Blaschke 1996, S. 384 f.: „Im Gegenlicht der Chorfenster verbindet sich die Christusfigur im verschatteten Portalvorbau silhouettenhaft mit der Eingangsarchitektur und der Materialität des tragenden Mittelpfeilers“.

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140 Westlettner, Dom, Naumburg, ca. 1245–1255.

ander in Beziehung zu setzen, wird durch die Verwendung von Malerei noch erweitert. Hartmut Krohm und Alexander Markschies vermuten, dass in den Blendarkaden der Brüstung der Lettnerbühne in Gelnhausen statt der heute zu sehenden Figuren aus dem 19. Jahrhundert im Mittelalter der zum Weltgericht fehlende Richter und die Deesis dargestellt waren.1195 Ein zentraler, gemalter Weltenrichter befindet sich dagegen in Naumburg noch heute in einem flachen Vierpass über dem Gekreuzigten im Portal. Im Vergleich zu den sehr plastisch dargestellten Szenen darunter wirken die gemalten Figuren in Naumburg und Gelnhausen wie auf eine andere Wirklichkeitsebene entrückt.1196 Während der in der Tür fast lebensgroß hängende Gekreuzigte eine taktile Wahrnehmung der Überquerenden anspricht, bildet der bemalte und nur leicht vertiefte Vierpass darüber einen Kontrast dazu. Für die Darstellungen der zwei Naturen Christi, die menschliche und die göttliche, die hier hervorgehoben werden, werden in Naumburg zwei unterschiedliche Medien verwendet.1197 Die erhaltene Deesis-Gruppe des Mainzer Lettners fügt sich nicht in diese Reihe – sie ist fast vollplastisch gestaltet und dürfte im zentralen Giebel des Lettners angebracht gewesen sein (Abb. 144).1198 Ihre detailliert mit Blätterzweigen gestaltete Unterseite lässt vermuten, 1195 Krohm/Markschies 1994, S. 20 f. 1196 S. auch Krohm/Markschies 1994, S. 21 f. 1197 Aufgelockert wird der Kontrast durch die auf der Malerei im Vierpass aufgesetzten, vergoldeten Stuckteile für Heiligenscheine, Kreuz und Throndetails, welche die glatte Oberfläche der Malerei unterbrechen. 1198 Kitzlinger/Gabelt 1996, S. 216.

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141 Passionsreliefs links des Portalgiebels, Westlettner, Dom, Naumburg, ca. 1245–1255.

dass sie nicht in eine Vertiefung der Architektur eingelassen war, sondern über diese hinaus nach vorne in den Kirchenraum hineinragte. Auffällig ist die Hervorhebung der Seitenwunde des Richters: Durch einen Schlitz in seinem Mantel, den Christus mit der linken Hand weitet, wird die Wunde mandorlenförmig gerahmt. Nach Christine Kitzlinger und Stefan Gabelt entsteht durch dieses „Verhältnis von verhülltem Körper und wie auf wunderbare Weise offenliegendem Wundmal ein spannungsvoller Kontrast, der Leiden und Erlösung als Mysterium in das Bewusstsein rücken soll“.1199 Maria und Johannes haben in etwa die gleichen Proportionen wie Christus. Hervorgehoben wird dadurch weniger die Richterrolle Christi als der Gedanke seiner Menschwerdung und seines Leidens, und damit im Kontext des Lettners passenderweise der eucharistische Aspekt.1200 Über die Darstellung der Wunde rückt außerdem der Akt des Blickens als visuelle Penetration von Stoff bzw. Stein ins Zentrum. Damit werden die Gemeinsamkeiten der drei besprochenen Lettner deutlich. Sie bieten Einblicke in andere Schichten und scheinbare ‚Ent-Deckungsmöglichkeiten‘ des Blicks und knüpfen dadurch mit architektonischen und skulpturalen Mitteln an die liturgische Funktion des Lettners an, den in ihm selbst angelegten „spannungsvollen Kontrast“. Der Lettner ist ein Medium des gezielten Blicks, dessen Funktion im Kontext der Liturgie auch zur 1199 Kitzlinger/Gabelt 1996, S. 216. 1200 Kitzlinger/Gabelt 1996, S. 216. Die Hierarchie zwischen Christus und den Fürbittern, die sich in ihrer unterschiedlichen Größe ausdrückt, ist bereits in den Triumphkreuzgruppen der Zeit abgeschwächt. Vgl. Blaschke 1996, S. 383.

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142 Passionsreliefs rechts des Portalgiebels, Westlettner, Dom, Naumburg, ca. 1245–1255. Geißelung und Kreuztragung im 18. Jahrhundert ersetzt.

Leitidee der künstlerischen Gestaltung werden kann: Die Lettner von Mainz und Gelnhausen unterlegen den (Durch-)Blick auf das Sakrament mit Einblicken in Öffnungen heilsbringender Art (Seitenwunde, Himmelspforte). Die Durchlässigkeit des Lettners, seine trennende und zugleich verbindende Funktion, bietet auf gestalterischer Ebene einen Spielraum, der Erwartungen und Hoffnungen der Betrachter weckt, kommentiert und reflektierbar macht. Als Medium derartiger Erhöhung und Reflexion visueller Erfahrung bietet es sich an, den Lettner nun genauer in seiner Funktion als Bilderspender und -verknüpfer zu untersuchen.

Doppelblick In nordeuropäischen Bildern des 15. Jahrhunderts wird der Lettner mit seinen Öffnungen und Durchblicken dazu verwendet, Bilder im Bild auszuschneiden und so z. B. ein Echo des Bildformates Tafelbild zu bieten.1201 In Jan van Eycks Kirchenmadonna von 1437–1438 zum Beispiel sind im Hintergrund zwei Joche eines Lettners sichtbar, dessen zentrale Tür offen 1201 Jung 2006, S. 192, 196‒198. Außer den im Folgenden genannten Beispielen sind Lettner z. B. dargestellt in: Rogier van der Weyden, Altarretabel mit den sieben Sakramenten, 1453–1455 (Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten, Inv. Nr. 393‒395); Vrancke van der Stockt (aktiv ca. 1420–1495), Kreuzigungstafel eines Triptychons (Madrid, Prado, Inv. Nr. P01888).

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143 Portal des Westlettners, Dom, Naumburg, ca. 1245–1255. Ansicht aus unterschiedlichen Blickrichtungen, nach Jung 2006.

steht und den Blick auf zwei singende Engel freigibt (Abb. 145).1202 Jung zeigt, dass van Eyck nicht nur – wie bereits oft in der Forschung betont worden ist – die Madonnenstatue eines Altars der Lettnerhalle mit der Madonna im Vordergrund kontrastiert, sondern dass der Ausschnitt dicht gedrängten Raums durch die Lettnertür auch sein eigenes rundbogiges Bildformat wiederholt, in dem sich die Tiefe des Kirchenraums ausdehnt.1203 Bildliche Darstellungen von Lettnern werden in der Forschung immer wieder als Quellen verwendet, die

1202 Aus der breiten Forschung zu van Eyck soll hier nur ein Aufsatz genannt werden, der sich spezifisch mit dieser Tafel beschäftigt: Yiu 2006. Beide hier diskutierten Diptychen werden in einem Aufsatz von David Ganz erwähnt, in dem es allerdings nicht um das Motiv des Lettners, sondern um die Klappbarkeit geht: Ganz 2010. 1203 Jung 2006, S. 196, 192.

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144 Deesis, Fragment vom ehemaligen Westlettner des Mainzer Doms, Bischöfliches Dom- und Diözesanmuseum Mainz. Vor 1239.

„Auskunft geben über Gestalt, Typ und Aufstellungsort eines Lettners“. 1204 Jung dagegen wertet die Tafel van Eycks als ein Indiz der Rezeption von Lettnern sowie als eine Reflektion des mittelalterlichen Blicks auf Lettner: „such pictures offer unparalleled evidence of both the reception of these architectural furnishings and the kind of viewing such furnishings demanded and entailed“.1205 Abbildungen von Lettnern in Bildern belegen nicht nur, dass der Lettner als integraler statt als störender Teil der Kirchenarchitektur gesehen wurde, sondern können auch Erkenntnisse darüber vermitteln, wie die Lettnerarchitektur mit ihren Türen und Durchblicken eine bestimmte Sichtweise verlangte und verursachte. Zwei spätere Kopien von van Eycks Kirchenmadonna sind beide mit einer jeweils zweiten Tafel zu einem Diptychon verbunden und lassen vermuten, dass auch die Tafel van Eycks ursprünglich ein Pendant besaß.1206 Die Tafeln des Meisters von 1499 wurden 1499 für den Abt der Zisterzienserabtei Ter Duinen in der Nähe von Brügge hergestellt, Christiaan de Hondt (Abb. 146).1207 Das zweite Diptychon wurde von Jan Gossaert für den italienischen Diplomaten Antonio Siciliano um 1513 angefertigt (Abb. 147). Die Stiftertafeln, die mit der Madonna in der Kirche verbunden sind, sind in beiden Fällen unterschiedlich aus­ geführt – Christiaan de Hondt befindet sich in einem Innenraum am Betpult, Antonio Siciliano wird der Gottesmutter vom Hl. Antonius in einer Landschaft mit Stadt und Bergpanorama im Hintergrund präsentiert.1208 Die Madonnentafel bot sich offenbar dafür an, das volle Potenzial der diptychalen Form auszuschöpfen, nämlich eine räumliche und stilistische 1204 Schmelzer 2004, S. 32. 1205 Jung 2006, S. 192. 1206 Yiu 2006, S. 111. 1207 Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten (Inv. Nrn. 255–256), jeweils 30 x 14 cm. 1208 Aufgrund dieser Unterschiede geht Yiu davon aus, dass die zu van Eycks Kirchenmadonna gehörende Stiftertafel um 1500 verschollen war, mit der Folge, dass die späteren Künstler ihre Konzeption nicht nach dieser ausrichten konnten: Yiu 2006, S. 113 f.

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145 Jan van Eyck, Madonna in der Kirche, 1437–1438. Berlin, Gemäldegalerie (Inv. Nr. 525C), 31 x 14 cm.

Spannung zwischen zwei Bildern aufzubauen, die im Medium des Diptychons zusammengehalten und damit als Spannung für die Betrachter reflektierbar wird.1209 Die von Jung in der Tafel van Eycks festgestellte Kontrastierung des tiefen Kirchenraumes mit der „compression of space in the portal frame“,1210 die Gegenüberstellung von Dreidimensionalität und Zweidimensionalität, ist in der Madonnentafel des Meisters von 1499 nicht übernommen worden. Bei ihm verstellen die Engel nicht den Blick auf das Altarbild, sondern dieses ist hinter ihnen ganz zu überblicken, und die Altarstufen, die hinter dem linken Engel zu sehen sind, machen das Bemühen deutlich, den perspektivischen Tiefensog des Kirchenraumes auch in dem durch das Portal gegebenen Bildausschnitt zu betonen, so dass die Kontinuität zwischen den Räumen sich hervorhebt. Gossaert macht die Stufen des Altars ebenfalls sichtbar und 1209 S. oben 4.3. Bemerkungen zur ästhetischen Struktur des Diptychons wie dort bei Kemp 1994 A, S. 202 f.; Ganz 2006 B, S. 37; Stamm 2009. 1210 Jung S. 192.

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146 Meister von 1499, Madonna in der Kirche und Christiaan de Hondt, Innenseiten eines Diptychons von 1499. Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten (Inv. Nr. 255–256), jeweils 30 x 14 cm.

deutet darüber hinaus weiteres liturgisches Gerät im Chorbereich an: das Chorgestühl und einen Leuchter. Farblich ist der Ausschnitt des Bildes in der Türöffnung hier besonders hervorgehoben. Den beiden jüngeren Künstlern ging es eher um den Gegensatz zwischen den beiden Tafeln als um den von van Eyck betonten innerbildlichen Kontrast, den die Lettneröffnung anbietet. Letzterer stellt die Zweidimensionalität des Lettnerdurchblicks der per­ spektivischen Dreidimensionalität seines Gemäldes gegenüber und tauscht damit zugleich die inhärente Tiefe einer Architektur gegen die Fläche der Leinwand aus. Gemälde mit Lettnerdarstellungen aus dem 15. Jahrhundert reflektieren die Erfahrung, die zahllose Gläubige vor Lettnern gemacht haben müssen: Dass sie durch das Einnehmen bestimmter Positionen vor der geöffneten Lettnertür, dem geöffneten Durchblick, Hagioskop oder squint unterschiedliche, bildhafte Anblicke der sich dahinter abspielenden Handlung erhielten.1211 Die Künstler der drei hier untersuchten Beispiele betonen die Möglichkeit, 1211 Konkrete mittelalterliche Erfahrungsberichte – falls es sie überhaupt gibt – wurden in der Forschung meines Wissens noch nicht ausgewertet. Eine weitere Richtung, in die sich eine Recherche lohnen würde, wäre eine genauere Untersuchung von Hagioskopen. Die Maße der „elevation squints“ in England werden in den Publikationen selten genannt: Sie haben ein Durchmesser von etwa 1 bis 15 cm und liegen zum Teil nah beieinander. Es wäre aufschlussreich zu untersuchen, welche Art des Blickens sie überhaupt erlauben – ob etwa mit beiden Augen gleichzeitig durch sie geblickt werden kann. Darüber hinaus wäre zu untersuchen, welche Erkenntnisse sich aus der Form der „squints“

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147 Jan Gossaert, Madonna in der Kirche und Antonio Siciliano, Innenseiten eines Diptychons, um 1513. Rom, Galleria Doria Pamphilj (Inv. Nr. 38), jeweils 41 x 24 cm.

trotz der bildräumlich aufgebauten Distanz zum Chor alle wesentlichen Objekte und Handlungen im Chor mit dem Blick durch die Tür erfassen zu können: Altar, Altarbild, Zelebranten (hier himmlische), und bei Gossaert sogar Chorgestühl und Leuchter. Die bildräumliche Distanz zum Chor ändert nichts an der Qualität des erlangten Einblicks. Jung spricht für die Berliner Tafel von einem „telescoping of time and space“1212 – die Darstellung der Marien­ krönung über dem Lettnerportal und die Kreuzigungsgruppe auf dem Lettner, auf die das Christuskind blickt, bilden vertikale und longitudinale Raumachsen im Kirchengebäude, durch die auch der temporale Verlauf der Heilsgeschichte gestaucht wird. Die Verknüpfung von Skulptur mit liturgischer Handlung und Kircheninnenraum, die hier als künstlerisches Bildkonzept hervortritt, lässt sich ebenso auf die Rezeptionsmöglichkeiten realer bebilderter Lettner beziehen. Die Verbindung einer kleinen mit einer großen, einer motivischen mit einer realen, einer heilsgeschichtlich-narrativen mit einer im Erfahrungsraum und der Erfahrungszeit des Betrachters verorteten, die Verbindung zweier sich auf unterschiedlichen Ebenen befindenden Öffnungen miteinander ist nicht erst in den Lettnern von Gelnhausen und gewinnen lassen. Während die meisten einfache runde Löcher sind, haben manche Öffnungen die Form eines Kreuzes oder Vierpasses. Letzteres lässt vermuten, dass die Art und Weise, wie der erstrebte Anblick der erhobenen Hostie für den Gläubigen gefasst und gerahmt war, bisweilen ebenfalls eine Rolle spielte. 1212 Jung 2006, S. 198.

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Mainz genutzt worden, sondern kann als konstantes Merkmal von christlichen Schwellenbildern gelten, mit dem der Betrachter in die Erzählung der Heilsgeschichte und ihre liturgische Rekapitulation miteinbezogen wird.1213 Es stellt sich nun die Frage, ob der Blick auf Lettner, der sich in ihren gemalten Versionen abzeichnet, auch in der Gestaltung der Lettner selbst vorhanden ist. Allerdings kann es nicht darum gehen, eine synchrone Rückwirkung der Lettnerdarstellungen auf reale Lettner zu untersuchen – dann dürfte man sich nur den spätmittelalterlichen holländischen Lettnern widmen. Vielmehr soll nachgewiesen werden, dass die mit dem Lettner verbundene Bildlichkeit mit dessen Schwellencharakter, der Bereitstellung von Öffnungen und Durchblicken, verbunden ist und auf entsprechenden Rezeptionserfahrungen basiert. Bereits Jung kontextualisiert van Eycks gemalten Blick auf Lettner nicht durch eine Untersuchung von Lettnern des 15. Jahrhunderts, sondern sieht sie als mit dem Medium Lettner selbst verbunden an.1214 Van Eyck hat sich also der spezifischen Visualität der Schwelle des Lettners bedient und sie zum Strukturelement und zugleich zur Metapher seines Bildes gemacht. Die besonderen Sinneserfahrungen des Chors, medialisiert durch architektonische Strukturen, insbesondere durch Öffnungen, haben auch Christian Freigang dazu bewegt, die visuelle Aufgabe der Choranlagen „prinzipiell mit den Bildkünsten zu vergleichen“.1215 Am Beispiel der Klosterkirche Saint-Nicolas-de-Tolentin in Brou bei Bourg-en-Bresse (1507–1530) zeigt er, welche Blickachsen über das im doppelgeschössigen Oratorium Margaretes von Österreich eingelassene Fenster in der ermöglicht wurden. Den Doppelblick – durch das abgeschrägte Oratoriumsfenster blickt man sowohl auf den Altar der Marienkapelle als auch auf den Hauptaltar – vergleicht Freigang mit der „Bifokalität“ spätmittelalterlicher Diptychen, von denen sich zahlreiche auch in Margaretes Besitz befanden.1216 Er sieht die Funktionalisierung einer solchen Bifokalität aber keinesfalls historisch beschränkt auf die Hofkunst Margaretes, sondern findet eine ähnliche Konzeption in der Privatkapelle der Familie Dumas-Digoine am Südquerhaus der Prioratskirche von Paray-le-Monial. Dort sind in die kleinen Privatoratorien jeweils zwei leicht übereinander versetzte Fensteröffnungen eingelassen, durch die gleichzeitig auf den Zelebranten und den oberen Teil der (nicht erhaltenen) Glasfenster geblickt werden kann.1217 Diptychal werden hier der Anblick liturgischer Handlungen und eine Bildbetrachtung in einem Wahrnehmungsprozess miteinander verknüpft, der durch die Fenster ermöglicht wird.

1213 Vgl. oben vor allem 4.3 und 6.1 zu solchen visuellen und theoretischen ‚Teleskopierungen‘ (durch die Darstellung von Schwellenmotiven) an Schwellen (z. B. Mérode-Triptychon, Irrsdorf ). 1214 Jung 2006, S. 192. Allerdings bedarf diese Wahrnehmung nach Jung eines bestimmten Betrachters, des „sensitive beholder“. 1215 Freigang 2003, S. 59. 1216 Freigang 2003, S. 76: „Die in Brou in einer Art ‚Bifokalität‘ so klar bildlich aufeinander bezogenen Themen der Auferstehung Christi und der Himmelfahrt seiner Mutter erinnern vor allem an Bildstrukturen des Diptychons und andere Paarbildungen“. Über diese Feststellung einer Ähnlichkeit hinaus führt Freigang die Überlegungen allerdings nicht fort. 1217 Freigang 2003, S. 77.

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Diese Doppelblicke sind sicherlich bis zu einem gewissen Grad spezifisch für spätmittelalterliche Choranlagen mit Oratorien oder kleinen Räumen, deren Benutzung einer bestimmten Personengruppe vorbehalten war, und die sich daher durch ein Nebeneinander mehrerer Räume mit unterschiedlichen Funktionen auszeichnen. Die exakte Ausrichtung der Öffnungen ist an einen festgelegten Standort des Betrachters gebunden und damit Charakteristikum exklusiv genutzter Räume.1218 Die Verbindung zweier verschiedener Anblicke allerdings – die Möglichkeit, zwei Dinge nebeneinander zu betrachten, in der Fokussierung umzuschalten vom einen zum anderen, oder an einem Objekt vorbei auf ein anderes zu blicken, ohne das erste gänzlich aus dem Blickfeld zu verlieren – ist generell symptomatisch für Choranlagen und deren Rezeption. So argumentiert Jung, dass die Verquickung von Fläche und Tiefe, von Zwei- und Dreidimensionalität als Visualisierungsstrategie, welche die Lettnerdarstellung in der Kirchen­ madonna van Eycks kennzeichnet, auch an einem realen Lettner zu erkennen sei: am Naumburger Westlettner.1219 Die bereits erwähnte Skulptur eines fast lebensgroßen gekreuzigten Christus in der zentralen Tür des Naumburger Westlettners bietet ein außergewöhnliches Schwellenerlebnis,1220 das bei keinem anderen Lettnereingang besteht. Je nach Betrachterstandpunkt fügen sich die Stifterfiguren des Chors (von links nach rechts Dietmar, Wilhelm, Sizzo, Timo) in das Kreuzigungsbild ein, ihre Gesten scheinen dieser Szene zu gelten (Abb. 143).1221 Durch diese Interpretation würde auch die in der Forschung als roh empfundene Gestaltungsweise der vier männlichen Stifterfiguren in der Apsis plausibel: Ihre Gesten, die aus der Nähe übertrieben wirken, sind auf die Weitsicht in Kombination mit dem Kruzifix angelegt.1222 Timo steht am Ende eines solchen ,Betrachter-Bewegungskreises‘, erwidert den Blick des Schauenden und ist nach Jung ein Beispiel für „an empathetic mode of viewing manifested in liturgical plays and devotional literature“, wo eine entsprechende Figur (oft Christus oder Maria) die Funktion eines Aufrufs zur Selbstprüfung hat.1223 Das gleichzeitige Sehen verschiedener Raumebenen auf einer Bildebene, gekoppelt mit einer bestimmten körperlichen Bewegung des Betrachters, schafft eine Bilderserie, in der die männlichen Stifterfiguren im Chor Akteure mehrerer Kreuzigungsszenen sind. Der Gekreuzigte des Naumburger Lettners ist Scharnier dieser Bildsequenz. Die visuelle Konfiguration1224 erinnert an die um das Kreuz radförmig angeordnete Tiefenstruktur des 1218 Hier könnte eine für die Bildwissenschaft produktive Untersuchung von Choranlagen aus bildtheoretischer Perspektive anschließen. Wird bisher die Relevanz der Fenstermetapher für die Bildproduktion im Wesentlichen dem Traktat Albertis entnommen (vgl. oben 3.1 mit Forschungsstand, S. 39 f.), so könnte es doch aufschlussreich sein, die architektonische Verwendung des Fensters und dessen Rezeption zu erforschen, und somit der Textbasis eine phänomenologische und rezeptionsgeschichtliche Dimension hinzuzufügen. Lettner und Choranlagen, Hagioskope und „squints“ würden mit ihren wahrnehmungslenkenden Eigenschaften für diese Analyse eine wichtige Rolle spielen. 1219 Jung 2006, S. 205–212. 1220 Zur Rezeptionsgeschichte des Gekreuzigten s. einige Beispiele bei Schwarz 2002. 1221 Jung 2006, S. 208. 1222 So die Argumentation von Jung. Der Abstand zwischen den Figuren im Chorrund und dem Gekreuzigten beträgt fast 30 Meter: Jung 2006, S. 209. 1223 Jung 2006, S. 209. 1224 „[S]hifting visual configurations“: Jung 2006, S. 209.

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Bildraums im Salviati-Diptychon mit deren Potenzial der Expandierbarkeit in den realen Raum hinein (Abb. 74). Die vertikale Achse des Lettners wird durch die häufig über dem Lettner angebrachte Triumphkreuzgruppe betont. Diese verleiht dem Lettner neben den beiden horizontalen Impulsen, die er miteinander verbindet – einer vom Eingang die Länge des Kirchenschiffes entlang zum Lettner und durch dessen Türen hindurch, und der andere orthogonal dazu an der Breite des Lettners entlang –, eine Aufwärtsbewegung.1225 Im Vergleich zu Lettnern mit Triumphkreuzgruppen und im Verhältnis zur Position von Maria und Johannes scheint es in Naumburg jedoch, als habe sich der Gekreuzigte herabgesenkt. Der Betrachter gerät bei der Überquerung der Schwelle in die Position, welche die Gottesmutter und der Täufer gewöhnlich in Kreuzigungsbildern einnehmen. Er begibt sich damit in direkte Nähe zu derjenigen Achse, die in mittelalterlichen Darstellungen auch bildstrukturell verwendet wird und die – wie in den Beispielen der Weltgerichtsdarstellungen von Conques und Padua – eine Achse der Verheißung bildet (vgl. Abb. 78 und Abb. 80). Den Zusammenhang mit dem Jüngsten Tag stellt in Naumburg der Vierpass mit dem Richter her. Im Vergleich mit den Weltgerichtstympana bieten die eschatologischen Elemente der Lettner von Gelnhausen und Naumburg nicht nur eine Ordnung, in der sich auch der Betrachter über Parallelführungen von Bildstruktur und Schwellenraum verorten kann, sondern das Bildgefüge ist mit der Architektur auch strukturell verbunden und damit monumentalisiert, so dass die Bewegung des Betrachters in noch engerem Zusammenhang mit der endzeitlichen Bildlogik steht. Der Gekreuzigte ist das Scharnier dieser Verknüpfung von Baustruktur und betrachterrelevanten Bildelementen. In dieser Hinsicht ist die Figur der Naumburger Situation ähnlich, die vermutlich im Gewölbe des zentralen Jochs des Mainzer Lettners zu sehen war: Beine und Arme, von denen Fragmente erhalten sind, waren hier vermutlich auf den Kreuzrippen des Gewölbes angebracht bzw. substituierten diese.1226 Die zentrale Position auf der vertikalen Achse des Lettners lässt vermuten, dass die Figur Christus darstellte oder zumindest an die Kreuzigung erinnern sollte.

Der Blick aus dem Chor Nachdem an dieser Stelle bereits zwei Achsen von Chorabschrankungen erörtert worden sind, welche der Wahrnehmung Richtungsimpulse bieten, sind nunmehr Choranlagen als Strukturen mit zwei Seiten zu analysieren, die auch einem Blick aus dem Chor heraus Rezeptionsimpulse geben. Das lässt sich besonders gut am Beispiel des Lettners im Havel­ berger Dom zeigen. Es handelt sich um einen Schrankenlettner, der zusammen mit den Chorschranken einen Grundriss in Form eines „H“s bildet und so um den Laienaltar herum einen auf drei Seiten geschlossenen Raum schafft (Abb. 148). Ein Reliefzyklus verläuft vom Osten der südlichen Chorschranke mit dem Einzug Jesu in Jerusalem über die Passion 1225 Jung 2000, S. 634. Zur vertikalen Bezugsachse zwischen Richter und Gekreuzigtem s. auch Schwarz 2002, S. 60. 1226 Zur Figur: Kitzlinger/Gabelt 1996, S. 223–227; Jung 2000, S. 631, dort auch der Verweis auf eine ähnliche Gewölbefigur aus St. Emmeram in Mainz, 14. Jahrhundert.

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148 Lettner, Dom, Havelberg, 1396–1411. Blick nach Osten mit Laienaltar und Passionszyklus.

Christi um den Altar herum, um mit der Himmelfahrt Christi und dem Jüngsten Gericht am Ostende der nördlichen Chorschranke zu enden. In den Passionsszenen im Umfeld des Laienaltars ist die Gewalttätigkeit der Schergen ungewöhnlich stark hervorgehoben; sie tragen zeitgenössische Kleidung, und ihre Gesichter sind überproportional groß dargestellt und zu Grimassen verzogen. Diese Formensprache lässt sich nur um den Laienaltar herum finden; auf den äußeren Feldern der Chorschranken waren andere Bildhauer tätig.1227 Mit der Brutalität der Kreuzigungsszenen kontrastieren die Tympana der Lettnertüren, auf denen die Verkündigung und die Marienkrönung (Abb. 149) dargestellt sind.1228 Das Mysterium der Menschwerdung Christi als Voraussetzung seiner Leiden in den umgebenden Reliefs wird dargestellt als Szene konzentrierter Aufmerksamkeit, in der sowohl der Engel als auch Maria ihre Ohren Gottvater zuwenden, der hinter dem Lesepult das Christuskind in ein Rohr leitet, das er am Ohr Marias aufgesetzt hat (Abb. 150). Das vom Engel ausgehende Spruchband, das direkt in das auf dem Pult liegende Buch überzugehen scheint, ist somit als Medium der Mysteriumsbotschaft gewissermaßen überflüssig. Durch die Thematisierung des Jenseitigen scheinen sich die beiden Tympana – im Gegensatz zu den Relieffeldern um sie herum, die mit der Darstellung körperlichen Leidens und den Figuren mit zeitgenössi1227 Lichte 1990. 1228 Vgl. Jung 2006, S. 200 f.

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149 Nördlicher Durchgang der Westseite des Lettners im Havelberger Dom, 1396–1411. Im Tympanon die Marienkrönung.

150 Verkündigung, Tympanon über dem südlichen Durchgang der Westseite des Lettners im Havelberger Dom, 1396–1411.

scher Kleidung dem Diesseits verhaftet sind – auf die Andersartigkeit des Raums hinter ihnen zu beziehen. Sie stellen die Bereiche, an denen der Lettner durchlässig werden kann, in den Kontext des Mysteriums und des Jenseitigen.

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151 Darbringung im Tempel, Tympanon über dem südlichen Durchgang der Ostseite des Lettners im Havelberger Dom, 1396–1411.

Die Tympana auf der Ostseite des Lettners sind ebenfalls bebildert. Sie zeigen Szenen, die als Vorbilder für die sich hier aufhaltenden Kleriker fungieren können. Auf der Rückseite der Marienkrönung befindet sich eine Darstellung der Darbringung im Tempel, hinter der Verkündigung spricht Jesus vor den Schriftgelehrten. In der Darbringungszene ist Christus von reich fallenden Stoffen umgeben (Abb. 151). Er sitzt in langem Gewand auf einem Altar, der von einem in viele Falten gelegten Altartuch bedeckt ist; hinter seinem Kopf breitet ein Engel ein Tuch aus. Die Bezüge zur Liturgie und insbesondere zur Eucharistie sind offensichtlich: Bei der Elevation wurden zur besseren Sichtbarkeit der Hostie im Mittelalter hinter ihr häufig dunkle Tücher aufgespannt.1229 Darüber hinaus – das kommentieren weder Lichte noch Jung – nimmt das Maßwerk des Altarsockels im Bild mit den zweiblättrig abschließenden Spitzbögen konkret die Formen des Maßwerks des realen Lettners in Havelberg auf, das sich durch die Kombination verschiedener mehrblättriger Bögen und Pässe auszeichnet (Abb. 148). Als Besonderheit befindet sich über dem Laienaltar ein runder Dreipass, der bei der Emporhebung der Hostie deren Form aufgreift und durch seine Dreiteilung zugleich auf die Trinität verweist. Das Ziel dieser Gestaltung ist eine bildliche Hervorhebung der Hostie.1230 Darauf wiederum bezieht sich in der bildlichen Darstellung der in der frontalen Ansicht sehr betonte Kreuznimbus des Christuskindes. Die Szene mit Christus vor den Schriftgelehrten zeigt diesen auf einem Podest mit einem Buch (Abb. 152). Um ihn herum sitzen fünf Männer mit ratlosen Gesichtsausdrücken, die in ihren Büchern blättern. Drei von ihnen tragen Judenhüte. Die Kleriker können sich hier in der Nachfolge Christi in ihrer Rolle als Erläuterer des göttlichen Wortes sehen. Bei der Lesung der Evangelien von der Lettnerkanzel nehmen sie die gleiche Position ein wie der junge Christus im Bild. Die beiden Tympana der Lettnerrückseite stellen also jeweils ein liturgisches Ausstattungsstück in ihr Zentrum und assoziieren es mit dem Leben und den Werken Christi: Altar und Lesekanzel. Somit sind die Tympana, die für die Augen des Klerus bestimmt waren, eng mit der Architektur des Lettners und deren liturgischer Funktion verknüpft. Nach Lichte zeichnen die Bilder der östlichen Tympana „den abgesonderten Bereich 1229 Auf diese liturgische Parallele verweisen auch Lichte 1990 u. Jung 2006. 1230 So auch Lichte 1990, S. 114.

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152 Christus vor den Schriftgelehrten, Tympanon über dem nördlichen Durchgang der Ostseite des Lettners im Havelberger Dom, 1396–1411.

als geheiligten Tempelbezirk aus“.1231 Sie sieht den Havelberger Lettner als „zu Stein gewordene Isolierungstendenz“ des Klerus und den Reliefzyklus als „Bildpropaganda, die seine Positionen legitimieren sollte“.1232 Dagegen ist einzuwenden, dass Szenen dargestellt sind, welche die kommunikative Verantwortung der Kleriker hervorheben: „As the clergy in the choir glanced through these doors, their view into the nave was thus crowned by images that highlighted both their own privileged position as types of Christ and their responsibility“. 1233 Darüber hinaus beziehen sich die Bilder durch formale Parallelen sowie Ähnlichkeiten der Handlung offensichtlich auf den konkreten Ort des Lettners. Die Darstellungen heben die den Laien zugewandte Seite des Lettners mit Ambo und Lesekanzel als zentrale Stelle des priesterlichen Wirkens hervor und fokussieren daher eher die Mittlerfunktion des Lettners, die liturgisch der Kleriker bedurfte, als dass sie eine Abschottung vermitteln oder gar legitimieren. Es stellt sich die Frage, ob sich solche Unterschiede in der Gestaltung von Vorder- und Rückseite auch an weiteren Lettnern feststellen lassen und wie die Rückseite generell wahrgenommen wurde. Die Forschung hat den Aspekt der Zweiseitigkeit von Lettnern bisher eher vernachlässigt.1234 Unterschiede in der Bebilderung von Vorder- und Rückseite berühren das Thema der Hierarchie zwischen Klerus und Laien und rücken, wie bereits erwähnt, die Frage nach der Motivation für den Lettnerbau und das Selbstverständnis des Klerus in den Blick. Die Tympana der Westseite des Havelberger Lettners zeigen Maria in ihrer Rolle als Gottesmutter und Himmelskönigin. Die Osttympana fokussieren Christus als Vorbild für 1231 Lichte 1990, S. 114. 1232 Lichte 1990, S. 110 und S. 112. 1233 Jung 2006, S. 201. 1234 Eine Ausnahme bilden einige Aufsätze im Sammelband Gerstel 2006 A, vor allem Jung 2006 und Gerstel 2006 B. S. auch Cooper 2001 zu doppelseitig bemalten Altarbildern aus Umbrien und deren Funktion als Chorabschrankung. Bisher beschäftigt sich meines Wissens keine Studie zusammenfassend mit den zweiseitigen Chorschranken des spätmittelalterlichen Englands. Zu einem Beispiel aus einer Privatkapelle in der Pfarrkirche von Ashton in Devon s. Graves 2000, S. 113–117. Mehrere Beispiele lassen sich auch in der Bretagne finden: beidseitig bebilderte „jubés“ z. B. Saint-Fiacre, Le Faouët; La Roche-Maurice, Lambader-en-Plouvorn.

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die Kleriker. Durch die motivische und gestalterische Bezugnahme auf den realen Lettner reflektieren die Portalbilder im Osten die Aufgaben der Kleriker in sehr konkreter Weise, während Verkündigung und Marienkrönung keine konkreten Handlungsanweisungen für die Laien bereithalten. Umgekehrt verhält es sich am Lettner des Straßburger Doms, der zwar nicht erhalten ist, dessen beidseitiges Bildprogramm jedoch durch Zeichnungen und Beschreibungen dokumentiert wurde.1235 Hier waren in den Arkadengiebeln der Westseite die Werke der Barmherzigkeit dargestellt.1236 An der Ostseite des Lettners waren Statuen von Propheten mit Schriftbändern und narrative Szenen aus dem Alten Testament angebracht. In Straßburg lieferten also die Werke der Barmherzigkeit den Laien konkrete Handlungsvorgaben, während die Propheten auf der Ostseite nur über ihre Schriftrollen identifizierbar waren und sich die narrativen Szenen nur typologisch auf die Liturgie beziehen ließen.1237 Die Unterschiede zwischen den Lettnern von Straßburg und Havelberg zeigen, dass für die Gestaltung des Lettners nicht nur – wie Jung meint1238 – dessen Funktion als Medium relevant sein kann, durch das die Kleriker mit den Laien kommunizieren. Vielmehr erinnert der Havelberger Lettner die Kleriker an ihre konkreten Aufgaben an diesem Ort und enthält somit ein selbstreflexives Moment, das in der Paradiesszene des Gelnhausener Lettners umgekehrt auch für Laien greifbar wird. Während die Bilder in Havelberg den Klerikern lediglich Handlungsvorbilder geben, zeigt Sharon Gerstel, dass die Bilder an den Ostseiten einiger byzantinischer Chorschranken ein ausgeprägtes Transformationspotential bereithalten.1239 Einzigartig ist die Altarschranke von St. Nikolaus in Geraki aus dem späten 13. Jahrhundert, auf der zu Seiten der Tür, die aus dem Sanktuarium in den Kirchenraum führt, Maria von Ägypten bei der Kommunion und der Abt Zosimas mit Löffel und Kelch dargestellt sind (Abb. 153). Gerstel argumentiert, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den gemalten Figuren und dem Priester besteht, der bei der Kommunion vor die Tür tritt.1240 Tut er dies, dann erscheint er den Gläubigen auf der anderen Seite der Altarschranke zwischen den hier gemalten Darstellungen von Maria und Christus. Gerstel hebt die Eigenschaften der byzantinischen Altarschranken hervor, die sie von westlichen Lettnern unterscheiden: Meistens wird die Schwelle nur von einer Person überschritten, und „the passage through the screen was a powerful symbol of the spiritual transformation that gave [the priest] [...] authority over his parishioners“, da der Priester in Dörfern meist wie die Gläubigen das Land bearbeitete und verheiratet war.1241

1235 Der um 1260 entstandene Lettner wurde 1682 abgerissen. Zu Straßburg s. Sauerländer 1970, Nr. 282, S. 178 f.; Jung 2000, S. 641–643. 1236 So eine Zeichnung von Jean-Jacques Arhardt, entstanden vor 1682, im Musée de l’Œuvre de NotreDame. Abb. in: Jung 2000, Abb. 20–21, S. 642. 1237 Jung 2000, S. 643. 1238 Jung 2000, S. 648 zur Bildsprache des Lettners als visuelle Volkssprache („visual vernacular“) und S. 649 zur Funktion des Lettners als Medium. 1239 Die Rückseiten der gemauerten Altarschranken stellen meistens Heilige dar: Gerstel 2006 B. 1240 Gerstel 2006 B, S. 152. 1241 Gerstel 2006 B, S. 155.

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153 Maria von Ägypten (links) und Abt Zosimas, Altarschranke, St. Nikolaus, Geraki, spätes 13. Jahrhundert. Blick aus dem Sanktuarium.

Eine Darstellung des Blicks nach Osten durch den Lettner bietet eine Freskoszene der Giotto­werkstatt in der Oberkirche von S. Francesco in Assisi (Abb. 154). In der Darstellung des Weihnachtswunders von Greccio (vor 1297) spielt sich das Geschehen, das der Legende nach in einer Grotte bei Greccio stattfand, vor der Ostseite eines Lettners ab. Die Zuschauer lassen sich in drei Gruppen einteilen: Rechts befinden sich hauptsächlich Kleriker rund um den Altar mit hohem Ciborium, links stehen Männer, und im Hintergrund drängen sich Frauen auf der Schwelle der Lettnertür.1242 In den italienischen Ordenskirchen gab es häufig einen Bereich des Schiffs, der „Frauenkirche“ („chiesa delle donne“) genannt wurde, und der vom hinteren Kirchenschiff und vom Chorbereich durch einen Lettner abgetrennt war. 1243 Das Fresko präsentiert den Lettner als Architektur, deren bildliche Ausstattung vollständig auf das Langhaus ausgerichtet ist. Über der Tür sind das Gestell und die rückseitige Holzstruktur eines Kruzifixes zu erkennen. Die karge Rückseite steht in starkem Kontrast zu dem Anblick, der sich dem Betrachter von der anderen Seite her böte: Das Kreuz ist dem sich Nähernden in verbesserter Sichtbarkeit entgegengeneigt. Links daneben ist der rückseitige Eingang zur Lesekanzel zu sehen, die ebenfalls in Richtung Hauptschiff über den Lettner hinausragt, und deren seitlich angebrachte Bildtafel vermuten lässt, dass weitere Bilder in Richtung Langhaus angebracht sind. Vor dieser funktionalen Lettnerrückseite nun ist im Vordergrund das Wunder von Greccio dargestellt; die abgewandten Bilder werden mit einem tatsächlichen Wunder kontrastiert, das inmitten liturgischer Möbel stattfindet und das wiederum das Zentrum und den Vordergrund dieses Freskos ausmacht. Die Frauen in der Tür sind als Gruppe am ruhigsten und aufmerksamsten, obwohl sie hinsichtlich der Sichtbarkeit des Wunders hinter dem Lesepult die schlechteste Position einnehmen.1244 Das Fresko scheint geradezu den fokussierten Blick, der eventuell nur eine partielle Sichtbarkeit gewährt, als einen ‚richtigen‘ Blick durch den Lettner herauszustellen. Zumindest aber ist umgekehrt eine ungestörte Sicht kein Garant für 1242 Im Kontext von Lettnern bespricht Jung dieses Bild: Jung 2006, S. 186. 1243 In einigen Franziskanerkirchen wurde der Kirchenraum sogar dreigeteilt: in den Chor für die Mönche, das hintere Schiff für Männer und das vordere Schiff für Frauen, so z. B. in den Franziskanerkirchen in Città di Castello, Perugia und Sansepolcro. S. Cooper 2001, S. 47. In der Oberkirche von S. Francesco in Assisi selbst gibt es keinen Lettner. 1244 Jung 2006, S. 186.

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154 Giottowerkstatt, Weihnachtswunder von Greccio, Oberkirche von S. Francesco, Assisi, vor 1297.

eine erhöhte Aufmerksamkeit, denn einer der hinteren Männer auf der linken Seite wendet sich ab. Die nach Westen gerichteten Elemente des Lettners – das geneigte Kruzifix und die nach vorne projizierte Kanzel – zeichnen sich durch eine klare, ungestörte, sogar erleichterte Sichtbarkeit aus, da sie ihren Betrachtern entgegenkommen. Einen ähnlich privilegierten Blick erhält der Betrachter vor dem Bild auf das Wundergeschehen.

Der laterale Blick Ging es bisher um den Blick in den oder aus dem Chor und darum, durch welche Öffnungen dieser fokussiert wird, welche Bildmotive ihn kommentieren und reflektieren, und um die Beschaffenheit dieses Blicks, so ist nunmehr die Dimension des Lettners zu erörtern, die orthogonal dazu verläuft. An Chorabschrankungen wird nämlich nicht nur der gezielte Blick vom Betrachter gefordert, sondern ebenso der eine Erzählung nachvollziehende, lateral bewegte Blick, der den Betrachter am Lettner entlang führt. An der Bildlichkeit des Gelnhausener Lettners lässt sich zeigen, wie diese beiden Blicke miteinander verbunden werden. Während alle Szenen aus einer zentralen Betrachterposition erkennbar sind, befinden sich die Gesichter der Seligen und Verdammten – wie auch in den Fragmenten des Mainzer Lettners – in unterschiedliche Richtungen nach außen orientiert. An den Gesichtern der hinters-

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ten vier Seligen lässt sich besonders gut ein schrittweises Wenden nach links und oben erkennen, als ob sie sich langsam vom Blick des Betrachters und damit der Erde lösten, je weiter sie sich dem Paradies nähern (Abb. 136). In Gelnhausen korreliert die Blickausrichtung der Verdammten und Seligen mit der architektonischen Situation: Sie fordern den Betrachter dazu auf, sich um die zwei vorderen Kanten des Lettners herum zu bewegen. An den Kanten des polygonal vorspringenden Lettners sind die beiden Gruppen der Seligen und der Verdammten unterbrochen: Die jeweils vorderen Figuren der Züge sind bewegter (Abb. 136 und Abb. 137). Zugleich werden durch diesen subtilen Bruch die zum Gebet erhobenen Hände des geretteten Klerikers links und die vergeblich ausgestreckten betenden Hände des Mönchs rechts hervorgehoben und miteinander kontrastierbar. Ähnlich lässt sich für die Passionsreliefs des Naumburger Westlettners konstatieren, dass „der Bildhauer der Reliefs von einem Betrachter ausgegangen [ist], der sich an der Lettnerfront entlang bewegt“.1245 In den sich dadurch ergebenden Ansichten werden Personen und Gesichtsausdrücke sichtbar, die aus einer frontalen Position nicht zu erkennen sind. Einzelne Ereignisse der Szenen, in denen sich das Geschehen besonders verdichtet, wie etwa die Gefangennahme Christi, treten aus unterschiedlichen Blickwinkeln deutlicher hervor.1246 Ein schweifender Blick – im Sinne eines bewegten – lenkt die Aufmerksamkeit auf die Chorabschrankungen auch als Schnittpunkt von Bild- und Raumwahrnehmung. Wie am Beispiel von Havelberg bereits deutlich geworden ist, besteht besonders bei im Spätmittelalter entstandenen Chorabschrankungen häufig ein enger Zusammenhang zwischen der Topographie eines bildlich dargestellten Heiligenlebens und dem Kirchenraum. In Havelberg bilden Lettner und Chorschranken mit den Passionsszenen eine Art Kalvarienbergklammer um den Laienaltar herum. Obwohl sich Kalvarienberge erst ab dem Ende des 15. Jahrhunderts raumgreifend im Freien entwickelten,1247 kann die Havelberger Raumklammer in diesem Kontext gesehen werden; sie macht eine Nachvollziehung der Leiden Christi ebenfalls durch Abschreiten möglich. Die Verquickung von Heiligenleben und Topographie lässt sich an der sehr spät entstandenen Chorschranke der Kathedrale von Amiens zeigen. Wie die detaillierte Untersuchung von Detlef Knipping zeigt, ist die Quellenlage für diese Chorschranke, was ihre Funktion und Liturgie betrifft, besonders gut.1248 Die Chorschranke wurde um 1489 begonnen und erst 1582 beendet.1249 Ursprünglich umschloss sie den gesamten Chorraum; die Teile vom Chorrund bis zum dritten Chorjoch wurden bei einer Modernisierung des Chorbereichs in der Mitte des 18. Jahrhunderts jedoch entfernt, so dass nur noch vier Abschnitte erhalten sind.1250 Ich konzentriere mich hier besonders auf die frühesten beiden Abschnitte, die 1245 Rasche 1996, S. 372. 1246 So verschwindet etwa der Judaskuss, der nur aus einer frontalen Ansicht zu erkennen ist aus einer Position weiter rechts, aus der allerdings die Petrus-Malchus-Szene in den Vordergrund tritt: s. Rasche 1996, S. 372. 1247 S. Arwed Arnulf, Art. Kalvarienberg II. Kunstgeschichtlich/liturgisch, in: RGG, Bd. 4 (2001), Sp. 758 f.; Elisabeth Roth, Art. Kalvarienberg, in: LCI, Bd. 2 (1970), Sp. 489–491. 1248 Knipping 2001. 1249 Knipping 2001, S. 9. 1250 Knipping 2001, S. 17.

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155 Südseite der Chorschranke, Dom, Amiens, um 1489. Erster Abschnitt.

156 Südseite der Chorschranke, Dom, Amiens, um 1489. Zweiter Abschnitt.

Szenen aus dem Leben des Hl. Firminus darstellen (Abb. 155 und Abb. 156). Die Chorschranke ist Teil einer umfassenden Neuausstattung des Chorraums, die 1485 begonnen wurde und ein Chorgestühl mit Bildprogramm (1508–1519), ein neues Altarretabel (1485–1493) sowie ein Schaugerüst für die Aufstellung der Reliquienschreine (Anfang des 16. Jahrhunderts) umfasst.1251 Neben den Szenen aus dem Leben des Hl. Firminus, dem Amienser Stadtpatron, sind Szenen aus dem Leben Johannes des Täufers erhalten, von dem die Amienser eine Schädelreliquie besaßen. Die Szenen sind in Nischen über einem Unterbau dargestellt. 1251 Knipping 2001, S. 29.

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157 Einzug des Hl. Firminus in Amiens, Südseite der Chorschranke, Dom, Amiens, um 1489. Erstes Bildfeld des ersten Abschnitts der Chorschranke.

Der Firminuszyklus beginnt mit dem Einzug des Heiligen nach Amiens (Abb. 157). Er tritt gerade aus dem mit Stadtwappen gekennzeichneten Stadttor von Amiens heraus, dessen linker Turm den Rahmen der Nische überschneidet und so über den vorderen Wandabschluss der Chorschranke herausragt. Links neben dem Turm ist prominent der Stifter dieses Chorschrankenabschnitts dargestellt, Adrien de Hénencourt. Generell kennzeichnen den Zyklus zahlreiche stadttopologische Verweise. Im Hintergrund der Nischen ist eine Stadtvedute zu sehen, deren Blickwinkel sich von links nach rechts im Takt mit den Szenen verschiebt. Das Stadttor lässt sich, so Knipping, sogar als Porte-de-Beauvais von Amiens erkennen. Das Stadttor ist in einem Stadtplan von 1542 als von zwei Türmen flankiert dargestellt, und seine Darstellung korrespondiert mit der Vita Sancti Firmini, nach der Firminus aus Beauvais nach Amiens kam.1252 Verquickt werden in dieser Szene also der Eintritt des Heiligen in die Stadt („Saint fremin fit premiere entree“ in der Bildunterschrift) mit dem Eintritt des Betrachters in die Erzählung und in den Chorumgang. Die Architektur außerhalb des Rahmens wird am Ende der vierten Szene wiederholt, wo Firminus vor dem Portal eines Gefängnisturmes zu seiner Enthauptung niederkniet (Abb. 158). Die beiden Architekturen klammern das Leben des Heiligen in Amiens von seinem Eintritt bis zu seinem Tod in das Bild der Stadt ein und fordern den vorbeigehenden Betrachter dadurch, dass sie tatsächlich materiell in den Raum hineinragen, zu mehreren Drehungen auf. Anfangs- und Endpunkt dieses Lebensabschnitts von Firminus werden jeweils durch eine Verbindung von Heiligem und Tor markiert. Im nächsten Abschnitt der Chorschranke wird diese Architekturklammer nicht verwendet: Hier befinden sich die Szenen des Aufrufs zum Gebet durch Bischof Salvius, das Lichtwunder, die Auffindung und die Translatio der Reliquien des Hl. Firminus (Abb. 156). Während die ersten vier Szenen stärker die Stadt betreffen, sind diese vier Szenen mit der 1252 Knipping 2001, S. 33 u. 54, Anm. 28.

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158 Enthauptung des Hl. Firminus, Südseite der Chorschranke, Dom, Amiens, um 1489.

Kathedrale selbst verbunden, welche die Firminusreliquien besaß. Liturgie und Bilder verschränken sich im Chorraum der Kathedrale. Zu Ehren des Stadtpatrons fanden zahlreiche Prozessionen statt, die den hohen Stellenwert des regionalen Heiligen bezeugen.1253 Oft wurde der Reliquienschrein mitgeführt, der in der französischen Revolution zerstört wurde. Er hatte die Form des in der Szene der Translatio dargestellten Schreines, war mit Goldblechen verkleidet und wurde auf dem Schaugerüst aufgestellt, so dass er vom Chorumgang her sichtbar war.1254 Obwohl sich aus den Quellen keine eindeutigen Antworten auf die Frage ergeben, ob der Chorraum selbst für Laien zugänglich war, deutet jedenfalls die Erwähnung einer Kerzenspende vor dem Hochaltar in einem Vertrag aus dem Jahre 1334 darauf hin.1255 Die Feste „Ingressus“ am 10. Oktober, „Firminus Martyr“ am 26. September und „Inventio et translatio“ am 13. Januar, die zu Ehren des Heiligen gefeiert wurden, lassen sich ebenfalls mit den Szenen der Chorschranke in Verbindung bringen. Der Ablauf der Feste ist bereits im Liber ordinarius der Kathedrale von 1291 vermerkt.1256 Bei den Feierlichkeiten des Festes „Inventio et translatio sancti Firmini“ wurde zusätzlich zu den stattfindenden Lesungen, Predigten und Orationen die Auffindung der Reliquien des Heiligen nachgespielt. Die Entdeckung seines Grabes veranschaulichte man durch das Wegziehen eines über den Schrein gebreiteten Tuches.1257 Der Legende nach ereignete sich beim Öffnen des Grabes das Wärmewunder – am Festtag zogen die Kanoniker daher leichtere Kleider an, und in der Kirche ausgestreuter Efeu verwies darauf, dass das Wunder im Winter die Blumen blühen ließ. An den süßen Duft, der dem Grab entströmt sein soll, wurde durch das Verbrennen von 1253 Knipping 2001, S. 66. 1254 Ebd. 1255 Knipping 2001, S. 67 u. 89, Anm. 27. 1256 Knipping 2001, S. 67. 1257 Beschreibung der Festliturgie bei Knipping 2001, S. 67 f. nach dem Liber ordinarius.

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159 Lichtwunder, Südseite der Chorschranke, Dom, Amiens, um 1489.

Weihrauch hinter dem Hochaltar erinnert. Zudem verzeichnen Quellen des frühen 16. Jahrhunderts das Hinabwerfen von Oblaten und brennendem Werk vom Gewölbe.1258 Verdeutlichen sollte dieser Vorgang wohl den Lichtstrahl, der Salvius den Ort des Grabes gezeigt hatte (Abb. 159). Knipping spricht von einer „ungeahnten Versinnlichung“ der Bilder der Chorschranke, die wiederum „die Begebenheiten vollständiger und letztlich realistischer abbilden konnten“.1259 Auch wenn Knippings Konzept des ‚Realismus‘ hier nicht weiterhilft (so stellt sich die Frage, ob der aus Stein gehauene Lichstrahl der Auffindungsszene ‚realistischer‘ ist als vom Gewölbe fallende Oblaten), so ist doch erkennbar, dass sich Liturgie und Bilder verschränken, so dass die Feste die Legende aktualisieren und die Bilder sowohl an die Feste als auch an die Legende erinnern. Diese Verweis- und Erinnerungsfunktion der Schwellenbilder hat sich auch der Stifter zunutze gemacht, der Initiator des Chorschrankenbaus und Dekan Adrien de Hénencourt. Er ließ seinen Onkel Ferry de Beauvoir, Bischof von Amiens, vor der Chorschranke beerdigen und ein Grabmal errichten, das in den Unterbau des ersten Chorschrankenabschnitts eingefügt ist (Abb. 155).1260 Aufschlussreich sind vor allem die Wandmalereien, die die Nische des Grabmales ausfüllen und sie umgeben. Das Innere der Nische zeigt auf der Längsseite Apostel mit Spruchbändern; auf den Schmalseiten sind Figuren dargestellt, die das Totenoffizium lesen oder beten. Der Unterbau zeigt einen elaborierten Enthüllungsprozess: Zwei Kanoniker öffnen einen grünen Vorhang vor der Grabtumba. Die Geistlichen wiederum werden von zwei Engeln flankiert, die einen roten Vorhang vor dem Grabmal beiseite ziehen. Da sich das Grabmal unter den Szenen befindet, das das Wirken und Predigen des

1258 Rechnungsbücher des Schatzmeisters: Knipping 2001, S. 68. 1259 Ebd. 1260 Knipping 2001, S. 40.

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Hl. Firminus erzählen, empfiehlt sich der Tote als Nachfolger des Heiligen. 1261 Das ‚permanente Enthüllen‘ von Grabmälern ist in Frankreich im Gegensatz zu Italien selten; die beiden Kanoniker verknüpfen diese Darstellung mit einer liturgischen Handlung – wie hier die Enthüllung des Firminusschreins an Festtagen. Während vom verlorenen Epitaph des Grabmals nur ein Appell an die Amienser bekannt ist, für den Toten zu beten, gab Hénencourt für sein eigenes Grabmal im zweiten Chorschrankenabschnitt genaue Anweisungen für das liturgische Totengedenken, u. a. die Aufstellung von Kerzen vor dem Grab an Festtagen und an jedem Tag das Sprechen eines „De profundis“ durch die Kleriker.1262 Die Grabmäler an der Amienser Chorschranke exemplifizieren auch eine Tendenz, die vor allem im Spätmittelalter zu beobachten ist: dass nämlich Lettner und Chorschranken zunehmend von Laien finanziert und als identitätsstiftendes Medium verwendet wurden.1263 Wie die mit dem Naumburger Meister assoziierten Lettner spielen bei den Amienser Chorschranken die Öffnung und Permeabilität der Wand eine wichtige Rolle. Malerei und Skulptur greifen zu diesem Zweck ineinander. Die Szenen der Heiligenviten verknüpfen den Lettner mit der Topographie der Stadt und binden ihn in die heilsbringende Topographie der Kathedrale mit ihren Reliquien ein. In dieses Verweisnetz klinkt sich auch der Stifter mit seinem Onkel ein und sucht so sein Totengedenken unlösbar mit der Verehrung der Heiligen zu verweben. Zusätzlich unterstrichen wird diese Verkettung von individuellem Totengedenken und Heiligenverehrung durch Verweise auf die Materialambivalenz der Schwellen zum Chor. Die Enthüllung mittels Tüchern ist sowohl mit der liturgisch-materiellen Rolle der Chorschranke verbunden, die in Bezug auf die Reliquien zugleich memorativer Impuls und materielle Vorstufe ist, als auch mit konkreten Handlungen der Festtagsliturgie verbunden. Das lenkt abschließend noch einmal den Blick auf die spezifische Medialität und Materialität von Chorabschrankungen. Denn neben dem Hinweis auf die Liturgie schwingt bei der Verwendung von Stoff als Gestaltungsmotiv am Lettner eine materielle Gemeinsamkeit mit, nämlich grundlegend die Möglichkeiten der Verdeckung und der Enthüllung. Betrachtet man etwa die Szenen in Havelberg mit einem Blick für gestalterische Details, so wird vor allem in den Tympana eine Betonung von Stoffen und Gewändern deutlich. Sowohl in der Präsentation Christi im Tempel als auch bei seiner späteren Rede leiten die geschwungenen Gewandfalten der um Altar und Kanzel Gruppierten den Blick auf die zentrale Achse und damit auf Christus (Abb. 151 und Abb. 152). Stoffe und Gewänder werden auch an früher entstandenen Lettnern und Chorschranken zur Unterstreichung und Rhythmisierung narrativer Szenen verwendet – so etwa an der Chorschranke der Pariser Kathedrale und in den Lettnern von Gelnhausen, Mainz und Naumburg West. Besonders berühmt sind in dieser Hinsicht die Passionsreliefs des Naumburger Westlettners, in denen „das Straffen und Ziehen der schweren Stoffe als Ausdrucksmittel genutzt wird“.1264 In Naumburg zeigt sich, dass 1261 Knipping vermutet, dass Adrien de Hénencourt seinen Onkel, der ins Exil geschickt worden war, als Bischof rehabilitieren wollte: Knipping 2001, S. 41; dazu passt die Position des Grabmals unter den Szenen des Einzugs nach Amiens. 1262 Knipping 2001, S. 42. 1263 Derartige Entwicklungen in Norfolk und Devon schildert Graves 2000. S. auch Jung 2006, S. 190. 1264 Köllermann 1996, S. 353. In der Szene des Abendmahls staut sich das Tischtuch über den Beinen Judas’ und hebt ihn als Verräter hervor, während es auf der anderen Seite des Tisches in den Mantel

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die Betonung von Stoffschichten nicht ausschließlich an die liturgische Rolle des Lettners gebunden ist, sondern vielmehr generell an seine Schwellenfunktion als Medium von Blicken und Bewegungen erinnert: Der liturgische Schwerpunkt mit dem Kreuzaltar lag hier am Ostlettner und das, was der Westlettner verschließt, war „vom Standpunkt des Liturgikers aus gesehen eher eine Kirche eigenen Rechts als ein Chor“.1265 So wie in der Erzählung Stoffe innere und äußere Bewegungen der Gestalten vermitteln1266 und die Erzählung selbst rhythmisieren, so gliedert auch der Lettner die Bewegungen und Wahrnehmungen des Betrachters, hindert, ermöglicht, lenkt und fokussiert sie. In der künstlerischen Gestaltung der Schwellen zum Chor finden sich nicht nur Anleihen an optische Effekte und Wirkungen von Stoffen, sondern auch an weitere Materialien und Bildmedien. So erinnert die nur zum Teil rekonstruierbare Polychromie der Pariser Chorschranken an die Lichtspiele der Glasmalerei: „With projecting moldings painted blue, recesses red and fillets black, walls dissolved in a play of brilliant color that imitated the shimmer of stained glass“.1267 Als weitere Vergleichsmedien dienen die Miniaturarchitekturen der Goldschmiedekunst, an deren Feingliedrigkeit die schreinartige Architektur vieler Chor­ anlagen erinnert.1268 Die Assoziationen, die sich in der Forschung finden, sind meiner Ansicht nach mehr als das Ergebnis von Problemen der Einordnung in Kunstgattungen, der sich Lettner und Chorschranken schon durch ihre enge Verzahnung von Architektur, Skulptur und Malerei entziehen. Bildkünstler bedienen sich an Lettnern anscheinend besonders gerne gewisser ‚Hybridisierungsmaßnahmen‘, durch welche die Materialität von Lettnern und damit ihre Durchlässigkeit, Reflektivität, Tiefe und Dichte thematisiert und für die Betrachter reflektierbar wird. Insgesamt zeigt sich, dass die Chorabschrankungen die komplexesten der hier analysierten Schwellenarchitekturen sind, sowohl im Hinblick auf ihre spezielle Optik, Bildlichkeit und ihre visuelle Aufgabenstellung als auch in Bezug auf ihre Materialästhetik. Sie sind zugleich Medien des gezielten Blicks, der im Kontext liturgischer Visualität zu erörtern ist, und des schweifenden, bewegten Blicks im Dienst der Bilderzählung. Sie fokussieren und konzentrieren den Blick und scheinen dabei auch die Qualität des vermittelten Blicks zu beeinflussen. Verwendungen des Lettners als Bildmotiv heben die Inklusivität und Vollständigkeit des durch ihn erlangten Blicks hervor, die weder durch die Ausschnitthaftigkeit des dahinterliegenden Raums noch durch die Distanz des Blickpunkts gemindert werden. Die des älteren Apostels überzugehen scheint. Letzterer hat sich den Mantel halb über den Kopf gezogen, so dass dadurch sein Gesicht verschattet wird. In der nächsten Szene mit der Auszahlung der dreißig Silberlinge an Judas zieht ein in ähnlicher Position am Bildrand stehender Scherge seinen Mantel nach vorne, als wolle er den Verrat verdecken. Detaillierte Beschreibungen der Szenen bei Köllermann 1996 u. Rasche 1996. 1265 Schwarz 2002, S. 34. Der Chor war vermutlich Sitz eines Kanonikerstifts. Vgl. auch Köllermann 1996, S. 360. 1266 So z. B. in Naumburg der Mantel des Petrus, der bei der Gefangennahme Christi durch die heftige Bewegung des Schwerthiebes nach oben fliegt, und den er in der darauffolgenden Szene seiner Verleumdung schützend um sich gezogen hält. 1267 Davis 1998, S. 47. Vgl. auch die Farbgebung der Heiligentafeln englischer „rood screens“. 1268 Dazu s. ebenfalls Davis 1998, S. 47.

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am Übergang zum Chor angebrachten Bilder kommentieren die Funktionen des Durchblicks und Übergangs und bieten heilsgeschichtliche Parallelen und Aufwertungen. Die von Freigang untersuchten Choranlagen fügen darüber hinaus ‚Doppelblicke‘ auf Bilder und Handlungen in ein konstellatives Verhältnis, wie es die Bildmedien der Doppelseite und des Diptychons bieten. Und schließlich sind Lettner und Chorschranken als hybride Medien einzuschätzen, die durch Anleihen an die Materialästhetik von Stoffen und bemaltem Glas auf ihre Funktionen zwischen Verhüllung und Transparenz verweisen.

6.2.2 Die Leiter als Raumschwelle Die folgenden Überlegungen nehmen innerhalb des zweiten Teils der Studie eine Sonderstellung ein, denn der gemeinsame Nenner der Bildbeispiele ist nicht der Schwellenort, an dem sich die Bilder befinden, sondern das Bildmotiv der Leiter. Es geht um einen überschaubaren Bildkorpus von fünf Beispielen, bei denen sich das Bildmotiv der Leiter monumental als Wandmalerei oder Skulptur über reale, raumgliedernde oder raumschaffende Strukturen legt (Säule, Gurtbogen, Gewölberippen, Turm). Damit möchte ich eine Engführung architektonischer und bildlicher Strukturen thematisieren, die oben bereits mit dem Gekreuzigten am Naumburger Westlettner und dem Gekreuzigten des Gewölbes vom Mainzer Lettner erörtert worden ist. Diese perspektivische Umkehrung zielt erstens darauf ab, den Begriff der Schwelle im Kirchenbau nicht nur auf Öffnungen zu beziehen. In den vorangegangenen Abschnitten geht es im Wesentlichen um die Schwelle als Öffnung – etwa die Verdoppelung der Tür in einem Weltgerichtsbild am Eingang zur Kirche, oder die Assoziation der Schwelle zum Chor mit heilsbringenden Öffnungen wie Seitenwunde oder Himmelstür – und ihre Überwindung durch die körperliche Bewegung oder im Blick. Zweitens liegt neben den erwähnten horizontalen Schwellen ein wesentlicher Übergang des Kirchengebäudes im Mittelalter auf der vertikalen Achse. Diese Schwellenart wird im Folgenden über das Motiv der Leiter im Kirchenraum thematisiert. Hier steht die Schwelle verstärkt als Weg, als gradualisierter Übergang im Vordergrund. Drittens kann außer nach der Funktion von Schwellenbildern wie denjenigen am Eingang der Kirche und an der Schwelle zum Chor auch die Rolle der Schwellenlogik für die Rezeption und Wirkung anderer Räume untersucht werden. Das Motiv der Leiter ist besonders mit dem Altar der christlichen Kirche verbunden: Auf den protoliturgischen Akt Jakobs, der den Stein salbt, beziehen sich die Riten der Kirchweihliturgie, und zahlreiche mittelalterliche Gründungslegenden folgen dem Muster des alttestamentlichen Traums.1269 Eine monumentale Darstellung des Jakobstraums oder der Himmelsleiter in einer Kirche ist daher von vornherein in enger Verbindung mit der Liturgie zu sehen. Die heilsgeschichtlich-exegetische Vieldeutigkeit der Leiter und die speziellen Rezeptionsimpulse, die das Motiv gibt, können im Kirchenraum besonders sinnvoll verdichtet werden. Deutlich wird die Verbindung von Altar und Leiter in einem der frühesten erhaltenen Beispiele einer monumentalen Leiterdarstellung im Kirchenraum. In der Pfarrkirche St. Lau1269 Heck 1997, S. 211–216 und Heck 1998 zum Stein von Bethel als Präfiguration des christlichen Altars und zu Gründungslegenden.

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rentius in Erwitte befinden sich an den beiden östlichen Ecksäulen der Vierung in flachem Relief jeweils vier Engel auf einer Leiter (gegen 1170–1180).1270 Der träumende Jakob ist nicht dargestellt, denn, „nicht eine Illustration der Erzählung war beabsichtigt, sondern offenbar eine Monumentalisierung seiner Vision“.1271 An der Schwelle zum Chor wird die Schwelle zum Himmel dargestellt – das Motiv der Leiter verdeutlicht, dass das reale Sank­ tuarium in der Tradition des Jakobstraumes als porta caeli gilt.1272 Nach oben hin werden die Engel immer länger; ihre drei Flügelpaare kennzeichnen sie als Seraphim.1273 Die Figuren der Basen und Kapitelle scheinen dagegen in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Himmelsleiter zu stehen.1274 Über das Motiv der Leiter wird das konkrete Kirchengebäude in der Tradition des Jakobs­ traums in den Zusammenhang einer hierarchischen Kosmologie gestellt; das Sanktuarium ist so als Pforte in den Himmel zu verstehen – eine Dimension, die in der Kirchweihliturgie aktualisiert wird (s. unten 7.1). Darüber hinaus ist die Leiter in ihrer Verbindung mit dem Kreuz Mittel zur Kontemplation des Kreuzestods Christi. Erst sein Tod hat den Weg in den Himmel für die Menschen wieder eröffnet – dieser christologische Grundgedanke einer Entsprechung von Kreuz und Leiter erscheint schon in der Bibel und hat eine lange schriftliche und bildliche Auslegungstradition.1275 Die Verdoppelung der Leiter auf den beiden Säulen verdeutlicht ihre doppelte Ausrichtung als Abstieg Gottes in Christus auf die Erde und als Aufforderung zum Aufstieg des Menschen. Das zweite Beispiel findet sich im Dom zu Gurk. Der Dom geht auf ein um 1014 von der Gräfin Hemma von Friesach und Zeltschach gegründetes Frauenkloster mit Marien­ kirche zurück.1276 Die Bautätigkeit am Dom fing 1140/1150 an der Westfassade an. 1174 wurde das Hemmagrab in die Krypta des neuen Domes übertragen, dessen Fertigstellung für 1211 mit der Weihe des Hochaltars belegt ist. Die dreischiffige Pfeilerbasilika orientiert sich mit ihrer doppeltürmigen Westfassade am Vorbild des Salzburger Doms, der 1127 „als besondere Wahrzeichen und machtpolitisch zu verstehende Hoheitszeichen“ zwei neue Türme erhalten hatte.1277 1270 Zu den Skulpturen in Erwitte: Holländer 1960; Thümmler 1962; Heck 1997, S. 217 f.; Heck 1998, S. 47; Thümmler 1998; Kaufmann 2006, S. 100‒102. 1271 Holländer 1960, S. 101. 1272 Das wird noch durch die Position am Triumphbogen unterstrichen, der ja selbst ein Ort des Übergangs ist: Holländer 1960, S. 107. 1273 Thümmler 1998, S. 448. 1274 Hans Thümmler sieht in der Frauenfigur mit Krone auf dem nördlichen Kapitell die Kaiserin Helena und in der männlichen Figur mit Spaten und Kreuz ihren Begleiter bei der Kreuzauffindung, Cyriakus: Thümmler 1962 u. Thümmler 1998, S. 448. Auf dem südlichen Kapitell sind Engel mit Gefäß und Zepter zu sehen. Thümmler vermutet in diesen Darstellungen Hinweise zur Kreuzthematik und geht davon aus, dass diese in Bezug zu einem verlorenen Triumphkreuz gestaltet worden sind: Thümmler 1962, S. 114. 1275 S. oben S. 95 zur Entsprechung von Kreuz und Leiter. Joh 1,51: „vobis videbitis caelum apertum et angelos Dei ascendentes et descendentes supra Filium hominis“. 1276 Zur Gründungsgeschichte, wie sie hier zusammengefasst wird: Hartwagner 1963, besonders S. 8–12; Biedermann 1994, S. 54–57. 1277 Biedermann 1994, S. 58. Zur Rivalität zwischen Gurk und Salzburg s. auch Löw J. 1930, S. 111 und Deuer 1988, S. 241.

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Über der tonnengewölbten Vorhalle mit Westportal und einer zweiten, inneren Vorhalle befindet sich zwischen den Türmen der in der Forschung „Bischofskapelle“ oder „West­ empore“ genannte Raum, der in mittelalterlichen Quellen als „oratorium“ und „capella“ bezeichnet wird (Abb. 160).1278 Er ist komplett mit Wandmalereien ausgemalt, deren Datierung umstritten ist. Zwischen 1191 und 1216 fand eine erste Ausstattung des Domes mit Bildern statt, denn Quellen aus dieser Zeit erwähnen mehrmals einen „Heinricus pictor“, der bisher allerdings nicht eindeutig mit den Fresken in der Bischofskapelle in Verbindung gebracht werden konnte.1279 Während einige Kunsthistoriker Teile des heute zu sehenden Freskenzyklus der Bischofskapelle daher in die ersten zwei Jahrzehnte des 13. Jahrhunderts datieren,1280 vermuten andere, dass das erste Freskenprogramm bei einem Brand 1260 zerstört worden sei, die heutige Bemalung nach 1260 unter Dietrich II. erfolgte und das frühere Programm ersetzt worden sei.1281 1264 ist die Kapelle bereits erneut dem Apostel Paulus und dem Hl. Florian geweiht.1282 Drei Stifter sind in der Kapelle dargestellt und inschriftlich benannt: Bischof Otto I., der 1214 zum Bischof erwählt wurde und im selben Jahr starb, Bischof Dietrich II., der die Kapelle 1264 neu weihte, und der Kanonikus Ulrich, der im Jahr 1218 urkundlich erwähnt wird. Während man die Kapelle heute über die Treppe im Südturm erreicht, betrat man den Raum im Mittelalter über eine in der Mauerstärke des Nordturms ausgesparte Treppe, die in der Nordwestecke der Kapelle in eine heute noch zu sehende Tür mündete (Abb. 161).1283 An der Westwand der Kirche ist zudem von außen ein ersetztes Stück Mauer erkennbar, das die ehemalige Position einer weiteren Tür in den Nordturm andeutet (Abb. 160). Außer dem innerkirchlichen Eingang gab es also vermutlich Zutritt über eine Außentreppe bzw. einen ebenen Zugang über das im Mittelalter nordwestlich an den Dom angrenzende Stiftsgebäude.1284 1278 Die mittelalterlichen Begriffe nach Deuer 1988, S. 245, Fußnote 65. Ders. nach: Monumenta historica ducatus Carinthiae. Geschichtliche Denkmäler des Herzogthums Kärnten, Bd. I, hg. v. August von Jaksch: „nobile oratorium in Gurza“ n. 646 (1263); „capellam in turri ecclesie predicte exstructam“ n. 660 (1264 VIII 16). Löw J. 1930, S. 8, vermerkt, die Kapelle sei im Mittelalter auch als „Himmelreich“ bezeichnet worden. Eine Quelle aus der Zeit zwischen 1459 und 1463 zitiert er in anderem Zusammenhang lediglich in der 2., erweiterten Auflage des Kleinen Gurker Domführers von 1927, S. 110. Zur Bischofskapelle generell: Ginhart/Grimschitz 1930, bes. S. 28 und S. 59–88; Löw J. 1930, S. 77–91; Hartwagner 1963, besonders S. 18–24; Demus 1968, S. 212–214; Biedermann 1994, besonders S. 60–70; Posch/Wilfing 2001. 1279 S. Demus 1968, S. 212. 1280 Ginhart/Grimschitz 1930, S. 89: um das Jahr 1220; Biedermann 1994, S. 60: „um oder kurz nach 1200“. 1281 Löw J. 1930, S. 117; Demus 1968, S. 214; Posch/Wilfing 2001, S. 2. 1282 Deuer 1988, S. 245, Fußnote 65, zitiert aus der Quelle: „... capellam in turri ecclesie predicte exstructam in honore sancti Pauli apostoli et beati Floriani martiris“. Ausgabe: Monumenta historica ducatus Carinthiae. Geschichtliche Denkmäler des Herzogthums Kärnten, Bd. I‒XI, hrsg. von August von Jaksch (Bd. I–IV), fortgesetzt von Hermann Wiessner (Bd. V–XI), 1896–1972, hier Bd. I, n. 660 (1264 VIII 16). 1283 S. Löw J. 1930, S. 89; Hartwagner 1963, S. 20. 1284 Neben der vermauerten Tür s. auch „[l]inks ein kleines, halbverbautes Doppelfensterchen, das vom Gang herstammt, der Kapelle und Kapitel verband“: Löw J. 1930, S. 8.

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160 Westfassade des Gurker Doms mit ehemaliger Zugangstür zum Nordturm, Bautätigkeit ab 1140/1150.

Von wem und zu welchen Anlässen die Bischofskapelle im Mittelalter benutzt wurde, ist nicht bekannt. Der vermutliche Direktzugang von den Kapitelräumen legt aber nahe, dass die Domherren und/oder der Bischof sie nutzten. Josef Löw vermutet eine Doppelfunktion: „Die Westempore war von Anfang an die Hauskapelle der Bischöfe, zugleich auch die Chorkapelle für die Domherren. Die feierlichen, größeren Funktionen fanden im öffentlichen Chor statt, die kleineren in diesem oberen Chor“.1285 Auf die Nutzung als Chor deutet der Boden der Kapelle hin: Im östlichen Joch an den Schildwänden sind die Fliesen durch Holz ersetzt – hier könnte sich also ein Chorgestühl befunden haben.1286

161 Einzug Christi in Jerusalem, Nordwand der Bischofskapelle, Gurker Dom, Wandmalereien nach 1260. Links der mittelalterliche Eingang.

Die Kapelle ist durch einen Gurtbogen in zwei rechteckige Joche aufgeteilt, die beide ein kuppelartiges Kreuzgewölbe aufweisen (Abb. 162).1287 Das Bildprogramm beginnt im Ostjoch. An der Ostwand der Kapelle ist im Bogenrund Maria auf dem Thron Salomo dargestellt. Auf den Stufen des Throns sitzen zwölf nimbierte Löwen, die für die Apostel stehen; die zwei Löwen links und rechts vom Thron sind die Herolde der Ankunft Christi, Johannes 1285 So J. Löw in der 2. Ausgabe des Kleinen Gurker Domführers von 1927, S. 110 – er führt allerdings keine Quellen an. 1286 Diese Vermutung J. Löws findet sich wieder lediglich in der 2. Ausgabe des Kleinen Gurker Domführers von 1927, S. 19. 1287 Maße der Kapelle: 11,40 m in der Länge, 8,45 m in der Breite, und 6,45 m in der Höhe (Gurtbogen). Die Scheitelhöhe eines jeden Jochs beträgt 7,70 m. S. Ginhart/Grimschitz 1930.

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162 Ostjoch der Bischofskapelle, Gurker Dom, Wandmalereien nach 1260. Blick vom ehemaligen Eingang in der Nordwestecke.

der Täufer und der Erzengel Gabriel. Personifikationen der marianischen Tugenden flankieren unter Arkaden den Thron.1288 Unter dem Gemälde befand sich im Mittelalter eine Apsis, die 1779 abgebrochen wurde, als man eine Orgel einbaute. Heute ist nur noch der die Apsis überhöhende Baldachin erhalten, zu dessen Seiten sich drei Fenster in das Kirchenschiff öffnen (der Blick ist jetzt durch die Orgel verstellt). Auf dem Baldachin sind die Stifter der Wandmalereien zu sehen: Links kniet Bischof Otto I, der 1214 zum Bischof erwählt wurde, aber vor seiner Weihe verstarb – Mitra und Bischofsstab sind wie auch auf seinem Grabstein im südlichen Seitenschiff des Doms aus diesem Grund neben ihm dargestellt.1289 Rechts befindet sich Bischof Dietrich, der die Kapelle 1264 neu weihte.1290 Auch die Laibung der Fenster ist bemalt: Man vermutet, dass sie Kaiser Heinrich II., Kunigunde, Hemma und ihren Mann Graf Wilhelm darstellen.1291 1288 Direkt neben dem Thron stehen Caritas und Castitas, auf diese folgen nach außen Prudentia, Solitudo, Verecundia, Virginitas, Humilitas und Oboedientia. 1289 Ausst. Kat. Straßburg/Kärnten 1988, S. 435. 1290 Inschrift Otto: „Sancta et immaculata, deleas nostra peccata“ („Heilige und Unbefleckte, tilge unsere Sünden“). Inschrift Dietrich: „Sis memor, oro, pia Dietrici virgo Maria“ („Ich bitte, gedenke des Dietrich, milde Jungfrau Maria“), Übersetzung: T. B. 1291 S. Bacher 1988, S. 434 f. Mit Heinrich II. war Hemma der Legende nach verwandt, mit dessen Gemahlin Kunigunde soll sie erzogen worden sein, s. Löw J. 1930, S. 107 f.

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163 Irdisches Paradies, Gewölbe im Ostjoch der Bischofskapelle, Gurker Dom, Wandmalereien nach 1260.

Die Darstellungen auf den Seitenwänden des Ostjochs sind größtenteils zerstört. Reste der Stuckauflagen, die in der gesamten Kapelle Details wie Säume und Möbelstücke zieren, sind Indizien dafür, dass an der Südwand die Verkündigung an Maria dargestellt war. Die Dekoration der Nordwand ist noch schlechter erhalten – Löw vermutet hier die Verkündigung der Geburt Marias an Joachim und Anna.1292 Im Gewölbe sind Szenen der Genesis zu finden: die Erschaffung Adams, der Baum der Erkenntnis, der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies (Abb. 163).1293 Im Scheitel sind ein Kreuz und die Personifikationen der Paradiesflüsse zu sehen, deren Wasser an den Gewölbegraten entlang fließt. An der Westwand der Kapelle ist mit der Verklärung Christi dessen göttliche Natur der menschlichen gegenübergestellt, auf die im Thronbild verwiesen wird (Abb. 164)1294. Über dem vermutlich zeitgleichen Rundfenster, in dem die Kreuzabnahme Christi zu sehen ist, befindet sich ein Brustbild Gottes.1295 Links und rechts von Christus, zu Seiten der Fenster, sind Moses und Elias dargestellt; zu Füßen Christi liegen die Apostel Jakobus, Petrus und Johannes. Außerdem ist sich hier die Darstellung des Kanonikers Ulrich zu sehen, der das Transfigurationsbild gestiftet hat. An der Nordwand ist der Einzug Christi nach Jerusalem in Richtung Osten dargestellt (Abb. 161); an der gegenüberliegenden Wand bewegen sich die Heiligen Drei Könige in Richtung Westen (Tafel 18). Trat ein mittelalterlicher Betrachter also von Norden her in die Bischofskapelle, wurde links seine Bewegung nach Osten aufgegriffen. Beim Verlassen der Kapelle gilt dies auf der gegenüberliegenden Seite entsprechend nach Westen. Dem irdischen Paradies im Ostjoch steht im westlichen Gewölbe das himmlische gegenüber (Tafel 19). Das Himmlische Jerusalem wird als Stadt mit Mauern aus Edelsteinen dargestellt, deren vier Türme in den Scheitel des Gewölbes ragen, wo sich das Lamm Gottes 1292 Löw J. 1930, S. 82. 1293 Letztere Szene wurde vermutlich bei einem Brand im Jahre 1808 zerstört, als die Glocken herunterstürzten und Teile des Gewölbes zerstörten. S. Posch/Wilfing 2001, S. 2. 1294 Kaufmann 2006, S. 118. 1295 In Abb. 164 fehlt die Glasmalerei, weil das Fenster zum Aufnahmezeitpunkt gerade restauriert wurde (vor 1968). In Tafel 19 ist sie oben rechts zu sehen.

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164 Verklärung Christi, Westwand der Bischofskapelle, Gurker Dom, Wandmalereien nach 1260.

befindet. Unter vier Baldachinen über den Toren der Stadt befinden sich jeweils drei Apostel, die von Engeln mit Zepter und Planeten flankiert werden.1296 Verbunden sind die Gewölbe der Bischofskapelle mit himmlischem und irdischem Paradies durch einen Gurtbogen, in dessen Laibung die Jakobsleiter zu sehen ist.1297 Das Bild des träumenden Jakob an der Nordwand ist heute nicht mehr zu erkennen. Im Scheitel des Gurtbogens ist Gott dargestellt; von beiden Seiten bewegen sich Engel die Leiter hinauf und hinab. Die Breite der Leiter entspricht der Breite des Gurtbogens. Dadurch fallen bauliches Gliederungselement und Schwellenmotiv zusammen. Das Leitermotiv greift die vielschichtigen symbolischen, narrativen und typologischen Ebenen der Bischofskapelle auf und stellt zugleich einen Zugang zu diesen Interpretationen bereit. Als Stufensystem parallelisiert die Leiter erstens den salomonischen Thron, auf dessen Stufen die Tugenden stehen. Das lässt an die Rolle der Tugendleiter im monastischen Umfeld denken. Eine Bildkombination von salomonischem Thron und Jakobsleiter ist im Chorrund der Neuwerkkirche in Goslar zu sehen, wo in der Apsis Maria auf dem Thron Salomons sitzt und sich zwischen den drei Apsisfenstern vier alttestamentliche Szenen befinden, von denen

1296 In den Zwickeln typologische Prophetenbilder der Eigenschaften Gottes: z. B. Ezechiel mit Rad als Symbol der Allgegenwart (Inschrift: „VIDEO QVASI ROTAM T MEDIO ROTE“: nach Ez. 1,16), Jeremias mit Töpfer mit Rad als Symbol der Allmacht (Jeremias 18,2 ff.); und Johannes der Evangelist (Inschrift: „VIDI PORTAM CIVITATIS AD ORIENTEM POSITAM“). Inschriften nach Ginhart/ Grimschitz 1930, S. 62. 1297 Der Gurtbogen ist 60 cm breit.

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165 Sündenfall, Jakobsleiter und Himmlisches Jerusalem, Gewölbe der Bischofskapelle, Gurker Dom, Malereien nach 1260.

der Jakobstraum die nördlichste ist (um 1235).1298 Zweitens verbindet die Leiter in Gurk das irdische und himmlische Paradies. Blickt man nach oben auf die Malereien im Gewölbe, so ist sie das „Bindeglied zwischen dem Sündenfall und dem endgültigen Zustand der Seligkeit, wodurch ein umfassender Bogen vom Anfang bis zum Ende der Welt geschlagen wird“.1299 Die Darstellung des Sündenfalls im westlichen Gewölbesegment des Ostjochs grenzt an die Himmelsleiter mit der Darstellung Gottes im Scheitel an, neben der sich wiederum im Westjoch direkt die Figur des Apostels Petrus mit einem überdimensionalen Schlüssel in der Hand anschließt (Abb. 165). Alle wesentlichen heilsgeschichtlichen Assoziationsbilder der Leiter verdichten sich auf dieser Achse: Als Holz, das den Abstieg der Menschheit einleitet, steht der Baum der Erkenntnis dem Türöffner des Himmels, Petrus, gegenüber. Die Leiter dazwischen verweist sowohl auf das Kreuz – das Holz, über das der Weg in den Himmel wieder eröffnet wird1300 – als auch auf die porta caeli, zu der sie hinführt (vgl. Tafel 7). Orthogonal zur OstWest-Achse der Weltgeschichte verlaufend, die sich durch die Bilderzählung aufspannt, lenkt die Leiter den Blick des Betrachters nach oben und verleitet ihn so zur Kontemplation der Gegenüberstellung von Sündenfall und Himmlischem Jerusalem. 1298 Kaufmann 2006, S. 94 f., u. Kat. Nr. 3.56, S. 241 f. Die Themenkombination und die Verwendung von vergoldeten und reliefierten Stuckdetails lassen eventuell sogar einen Zusammenhang zwischen Goslar und Gurk vermuten, der – soweit ersichtlich – in der Forschung noch nicht diskutiert wird und näher zu untersuchen wäre. 1299 Kaufmann 2006, S. 119. 1300 Vgl. wie oben S. 95, Anm. 387: Dinzelbacher 1973, S. 130 f. mit Verweis auf die Gegenüberstellung des Baums der Erkenntnis und des Kreuzes bei verschiedenen mittelalterlichen Autoren. Zum Kreuz als Jakobsleiter bei z. B. Augustinus, Rupert von Deutz, Isidor von Sevilla s. Heck 1997, S. 181–183.

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Auf dem Bildprogramm des Gurker Doms basiert der Freskenzyklus im nur fünf Kilometer entfernten Karner von Pisweg, der die Verbindung von Leiter und Kreuz noch deutlicher betont (Abb. 166). Der Karner hat einen runden Grundriss mit einem Innendurchmesser von etwa 5 Metern. Im Gewölbe ist das irdische Paradies dargestellt: im Süden der Baum der Erkenntnis, im Westen der Sündenfall, im Norden die Vertreibung aus dem Paradies und im Osten die neue Eva, die thronende Maria mit Kind. Die Paradiesszenen in den Gewölbe­ zwickeln sind durch zwei sich kreuzende bzw. vier im Scheitel zusammenlaufende Himmelsleitern auf verbreiterten Gewölbegraten voneinander getrennt. Im Scheitel befindet sich das Lamm Gottes. Die Himmelsleitern sind hier aus dem narrativen Zusammenhang der Genesis herausgelöst und betonen durch ihre Kreuzform den eucharistischen Aspekt der Erlösung durch den Kreuzestod Christi. Unterstrichen wird dieser Verweis dadurch, dass sich an den unteren Enden der vier Leitern jeweils Darstellungen eines Kreuzes in einem Kreis befinden. Die Übernahme des Gurker Konzepts für den kleinen Karner zeigt, dass allein die Verbindung von architektonischem Trageelement (Gurtbogen bzw. Gewölbegrat) und Leitermotiv so sehr überzeugt hat, dass eine Vervielfachung der Leiter und die Herauslösung aus ihrem narrativen Zusammenhang in Kauf genommen wurden, da sie den Aspekt der Erlösungsverheißung nicht beeinträchtigen. Die Bischofskapelle in Gurk war als besonderes Seherlebnis konzipiert. Das lässt sich sowohl an der Themenwahl der Bilder als auch an deren Gestaltung sowie den begleitenden Inschriften erkennen. Bereits die Inschrift über der Altarnische nimmt das Thema Licht auf: „Herrlich strahlt der Thron des großen Königs und Lammes“ („ECCE THRONVS MAGNI FVLGESCIT REGIS ET AGNI“). Gegenüber an der Westwand ist das überirdische Leuchten der Verklärung Christi zwischen drei Fenstern dargestellt. Demus stellt fest: „die licht­ erfüllte Verklärung [...] ist in die von drei Fenstern durchbrochene Westwand so einkomponiert, daß [...] das physische Licht mitspricht“. 1301 Eine ähnliche Einbeziehung der Lichtverhältnisse in das Bildthema sieht er in der Unterkapelle von Schwarzrheindorf gegeben (um 1151), wo ebenfalls die Transfiguration zwischen den Fenstern zu sehen ist.1302 Die künstlerische Farbgestaltung in Gurk, deren mittelalterliche Erscheinung sich heute nur noch ansatzweise rekonstruieren lässt, garantiert ebenfalls einen prachtvollen Anblick. Was heute große Flächen der Malerei hellgrün aussehen lässt, ist ein verblasstes Ultramarinblau, das für den Hintergrund verwendet wurde (Tafel 18). Die auf der Malfläche applizierten Stuckreliefs und in den Putzgrund eingetiefte Ornamente waren ursprünglich alle vergoldet. Um eine möglichst hohe Leuchtkraft zu erzielen, war das Gold auf silbernem Untergrund aufgebracht.1303 Auch die Streben und Sprossen der Himmelsleiter, die dort plastisch hervorragen, wo sie von den auf- und absteigenden Engeln nicht verdeckt werden, waren vergoldet. Die Zentralität des Themas Licht könnte eine Erklärung für die aus ikonographischer Sicht ungewöhnliche Darstellung des himmlischen Paradieses im Westen und den Verlauf der Erzählung von Osten nach Westen liefern. Offenbar beeinflussten die räumlichen Gegebenheiten – vor allem die Lichtquelle der Westfenster – die Wahl und Verteilung der Bilder 1301 Demus 1968, S. 213. 1302 Demus 1968, S. 29. 1303 Hartwagner 1963, S. 20.

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166 Gewölbemalereien, Pisweg, Karner, um oder nach 1270.

und überstimmten dabei eine liturgisch bedingte Raumgewichtung mit dem Schwerpunkt um den Altar.1304 Heilsgeschichtliche Inhalte können so durch die konkreten Wahrnehmungserfahrungen der Betrachter vertieft werden: Die Blendung durch das göttliche Licht bei der Transfiguration wird nachvollziehbar und das Strahlen des Himmlischen Jerusalems, das in den Visionen des Ezechiel und Johannes geschildert wird, tritt dem aus dem dunklen Nordturm kommenden Betrachter in den Malereien des Westgewölbes entgegen. Da die Differenz zwischen der Höhe des Gurtbogens und den Scheitelpunkten der Joche etwa 1,25 Meter beträgt, tritt der Gurtbogen ziemlich prominent in das Blickfeld des Eintretenden, während die Szene des Sündenfalls im Westen des Ostjochs im Schatten liegt (Abb. 162). Neben dem Licht und damit dem Sehen wird durch die Bilder an den Schildwänden des Westjochs außerdem die Bewegung hervorgehoben. Während die Wände des Ostjochs mit den zwei Verkündigungsdarstellungen ganz im Zeichen verheißungsvoller Begegnungen stehen, geht es im Westjoch um die Reise der Heiligen Drei Könige zum Christuskind und den triumphalen Einzug Christi in Jerusalem. Nach Demus stehen sich die „Vorgeschichte, Erwartung und Vorausdeutung im Osten, und triumphale [...] Erfüllung im Westen“ gegenüber.1305 Beide Aspekte – das Sehen und das Bewegen – verbinden sich im Motiv der Leiter,

1304 Löw formuliert etwas verwundert: „So ist ja in der Marienherrlichkeit auf dem Throne Salomos auch Christus mitverherrlicht; aber hier im zweiten Teil der theologisch so inhaltsschweren Fresken kommt er noch überdies allein zum Rechte“: Löw J. 1930, S. 85. 1305 Demus 1968, S. 213. Diese Formulierung verdeutlicht die ungewöhnliche Richtung dieser Steigerung: Triumphale Szenen sind im Mittelalter eher in der Apsis zu finden.

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wo „Steigen und Schauen auf engste zusammengehören“.1306 Auch hier liefert der architektonische Kontext der Bischofskapelle Wahrnehmungsbedingungen, die im Bildprogramm ihr Echo finden, denn die Betrachter gelangen über eine Treppe in das Obergeschoss. Die Leiter erscheint aus dieser Perspektive als Verlängerung des Weges nach oben und stellt den Eintritt in die Kapelle zugleich im endzeitlichen Kontext als ersten Schritt auf dem Weg in den Himmel dar.1307 Diese kosmologische Dimension der vertikalen Achse des Kirchengebäudes bezeugen die Michaelskapellen des Mittelalters, die sich oft in Türmen befinden und damit durch ihre räumliche Position die Verehrung des Erzengels als Geleiter der Seelen in den Himmel bezeugen.1308 Aufgrund ihrer baulichen Gebundenheit führen die Leitern in Gurk, Matrei und Pisweg den Blick aber nicht primär nach oben, sondern auch (wieder) nach unten. Der Aufstiegsgedanke ist vor allem mit dem symbolischen Motiv der Leiter verknüpft und wird durch das tatsächliche Bild der Leiter wieder infrage gestellt. Eine unproblematischere Erschließung der Vertikalität des Kirchengebäudes durch den Blick und die Bewegung nach oben wird in zwei mittelalterlichen Inschriften mit dem Weg in den Himmel assoziiert. Eine überlieferte Inschrift vom Portal zum Eingangsturm der Basilika von Tours fordert die Eintretenden dazu auf, den Blick zu erheben („REFER AD SUBLIMA VULTUM“) und setzt den Turm in Zusammenhang mit dem Weg des Hl. Martin in den Himmel, von wo aus der Heilige die Menschen zum Aufstieg rufe („VOCAT POPULOS“).1309 In der Pyrenäenkirche Saint-Pé-de-Bigorre, die im 12. Jahrhundert durch ein Querschiff vergrößert wurde, öffnet sich im Innenraum ein Portal in der südwestlichen Ecke des Turms auf eine Treppe, die zu einem Raum über dem Querschiff führt, wo Pilger die Nacht verbringen konnten. Um das Portal herum ist die Inschrift zu lesen: „EST DOMUS HIC DOMINI, VIA CAELI, SPES PEREGRINE. HAEC DATA PORTA PETRO: VADE MALIGNE RETRO“.1310 Die Treppe wird also mit dem Himmelsweg in Verbindung gebracht, die Hoffnung des Pilgers auf Erlösung konkret mit seinem eigenen Aufstieg über die Treppe assoziiert. 1306 Ruberg 1988, S. 215. 1307 Zu „Triforium und Gewölbe in den Rollen des Himmels und des Paradieses“ im Spiegel liturgischer Quellen, s. ausführlich das Kapitel bei Tripps 1998, S. 191–200. 1308 So z. B. in Fulda, Wien, Bamberg, Eichstätt: Annemarie Brückner, Art. Michaelsverehrung, in: TRE, Bd. 22 (1992), S. 717–724. 1309 „Ingrediens templum refer ad sublimia vultum, / Excelsos aditus suspicit alta fides. / Esto humilis sensu sed spe sectare vocantem. / Martinus reserat quas venerare fores. / Haec tuta est turris trepidis obiecta superbis, / Elata excludens mitia corda tegens. / Celsior illa tamen quae coeli vexit ad arcem / Martinum astrigeris ambitiosa viis, / Unde vocat populos qui praevius ad bona Christi / Sidereum ingressus sanctificavit iter“. „Entering the church, lift your face to the heights [...], deep faith looks up at lofty entrances. Be humble in understanding but pursue with hope the person who is calling. Vene­ rate the doors which Martin opens. This tower thrown up against agitated, proud persons is safe, excluding puffed-up hearts, protecting gentle ones. But that [tower is] higher which, spiralling up with star-bearing paths, carried Martin to the citadel of heaven, from which place he, who, having led the way and entered [heaven], sanctified the starry journey, calls the peoples to the goods of Christ“. Überliefert durch das „Leben von Sankt Martin“ des Sulpicius Severus (9./10. Jahrhundert). Zitiert und übersetzt nach Kendall 1998, S. 38 (Zusätze von Kendall). 1310 „Hier ist das Haus des Herrn, der Himmelsweg, die Hoffnung des Pilgers. Dieses Portal ist Petrus gewidmet: Kehre um, Schlechter”. Deutsche Übersetzung: T.B. Inschrift: Kendall 1998, S. 107 f.

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Auch zwei spätmittelalterliche Leiterdarstellungen an der Westfassade der Abteikirche von Bath in England nutzen Türme als vertikale Bildträger. Die zwei Leitern werden in der Forschung als Darstellung des Gründungstraums des Bischofs Oliver King interpretiert. Dieser – der ehemalige Sekretär von Henry VII. – träumte 1499 bei seinem ersten Besuch in Bath, bei dem er den Verfall der romanischen Kirche feststellen musste, der Überlieferung nach von einer Leiter, auf der Engel auf- und absteigen. Eine Stimme sagte ihm in diesem Traum: „Let an olive establish the crown and a king restore the church“, was er auf seinen Namen bezog und zum Anlass nahm, die Kirche wieder aufzubauen.1311 Zwar sind der Impuls für das Bauvorhaben und eventuell die Ikonographie der Fassade tatsächlich auf King zurückzuführen, dessen Rebus – ein Olivenbaum und eine Krone – auf der Westfassade abgebildet sind. In zwei Aufsätzen hat Julian M. Luxford jedoch gezeigt, dass diese Erklärung für das ikonographische Programm der Westfassade, die Schilderung des Traums, sich nicht weiter zurückverfolgen lässt als auf die Beschreibung des Antiquars Sir John Harington aus dem 17. Jahrhundert, der durch die Erfindung der Traumlegende vor allem seine eigenen Interessen des Wiederaufbaus der Kirche verfolgte.1312 Stattdessen sieht Luxford in den Leiterdarstellungen eine Verknüpfung der zahlreichen Themen der Leiter: die Gründung einer neuen Kirche, die Erinnerung an das tugendhafte Leben und damit an das Jüngste Gericht. Die schlecht erhaltenen Skulpturen am Fuße der Leiter rekonstruiert er nach alten Abbildungen als vier Darstellungen aus Genesis 28 (Ankunft, Träumender, Aufrichtung des Steins und Salbung).1313 Über der nördlichen Leiter befand sich eine Skulptur Abrahams oder Gottes; über der südlichen ein nach unten geöffneter Höllenschlund.1314 Zu der offensichtlichen Gründungsthematik kommt also ein eschatologischer Aspekt hinzu, der den Betrachtern mit Hölle und Himmel zwei alternative Wege in das Jenseits zeigt. Ungewöhnlich ist die negative Konnotation (Höllenschlund) des oberen Endes der südlichen Himmelsleiter, die in keiner anderen Darstellung der Leiter vorkommt. Sie ergab sich aber wohl aus dem Wunsch, die multiplen Bedeutungstraditionen des Motivs auszuschöpfen. Neben der heilsgeschichtlichnarrativen und der eschatologischen wird in der Nische über dem Portal auch auf die christologische Dimension hingewiesen: Hier befand sich vor der modernen Statue Henrys VII. eine Skulptur Christi, als deren Ergänzung sich heute noch in den Zwickeln des Portals die Passionswerkzeuge und die Darstellung der fünf Wunden befinden.1315 Zum Zeitpunkt des Bauvorgangs war Bath eine Benediktinerabtei. In diesem Kontext erinnert das Thema der Leiter an die 7. Regel des Hl. Benedikt, an den Aufstieg in der Demut und den Abstieg durch den Stolz, die als Alternativen in den zwei Leitern von Bath angeboten werden.1316 1311 S. Forsyth 2003, dessen jüngste Beschreibung auf der von Sir Nikolaus Pevsner basiert. S. auch Cahn 1989, S. 713. 1312 Luxford 2000; Luxford 2003. S. Luxford 2000, S. 324 f.: Der Autor nennt hier die Gründe, die Harington zur Erfindung der Legende bewegt haben könnten. 1313 Luxford 2000, S. 321. 1314 Luxford 2000, S. 321. Abb. ebd., S. 319, aus: John Britton: The History and Antiquity of Bath Abbey Church, London 1825. 1315 Vgl. Luxford 2000, S. 327. 1316 Die nördliche Leiter hat 67 Stufen, die südliche nur 64. Das sieht Luxford als zusätzlichen Hinweis darauf, dass der Weg in den Himmel beschwerlicher ist als der Weg zur Hölle: Luxford 2000, S. 328.

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Durch den Höllenschlund am oberen Ende der südlichen Leiter geht die kosmologische Dimension des Motivs und des Kirchenbaus verloren, die in allen anderen Leiterdarstellungen beibehalten und zu einer Verheißung ausgebaut wird, welcher der Betrachter über die körperliche Aufwärtsbewegung und seinen Blick nach oben nachkommen kann. Deutlich wird das im Freskenprogramm der Chorturmkirche Sankt Nikolaus in Matrei (Osttirol). Die Kirche St. Niklaus befindet sich in einem Gebiet, das seit der Wende zum 13. Jahrhundert zur Erzdiözese Salzburg gehörte, der auch das Bistum Gurk unterstellt war.1317 Die Entstehungszeit der Malereien in Matrei fällt in die Zeit der zweiten Ausmalung der Bischofskapelle von Gurk. Es ist also durchaus möglich, dass ein Ideenaustausch stattgefunden hat, zumal die Bildausstattung in Matrei gewissermaßen eine „‚vertikale‘ Variante des in Gurk [...] in der Horizontalen ausgebreiteten Themas“ ist.1318 Die Bauform der Chorturmkirche ist nach Wilhelm Deuer ein Motiv der Kärntner Romanik, das „nach 1122 ganz bewußt aus anderen Kunstlandschaften des Heiligen Römischen Reiches (z. B. Sachsen, Thüringen oder Franken) importiert wurde“.1319 Ungewöhnlich ist in Matrei die Ausbildung einer Doppelkapelle im Chorturm (Tafel 20).1320 In beiden Kapellen befindet sich jeweils ein Altar, der den Hll. Nikolaus und Georg geweiht ist. In der unteren Kapelle sind im Gewölbe vier Szenen der Genesis dargestellt: die Erschaffung Evas, der Sündenfall, die Vertreibung aus dem Paradies und Adam und Eva bei der Arbeit (Tafel 21). In der oberen Kapelle befindet sich im Gewölbe wie in Gurk das Himmlische Jerusalem (Abb. 167). Die oktagonale Stadt wird in den Zwickeln von Personifikationen der vier Elemente getragen. Auf den vier Türmen befinden sich die vier Evangelistensymbole, die den clipeus mit der Darstellung Christi im Scheitel umringen. Wie in Gurk stehen Gruppen von je drei Aposteln über den Portalen zur Himmelsstadt. An den Seitenwänden sieht man Propheten und einen Wandstreifen mit männlichen und weiblichen Heiligen. Die Himmelsleiter ist auch in Matrei in der Laibung des oberen Gurtbogens dargestellt. Im Scheitel hält Gott die obersten Sprossen der Leitern. An den beiden unteren Enden der Leiter sind großflächig links der Traum des Jakob (Abb. 168) und rechts die Salbung des Steins in Bethel zu sehen. Auffallend ist, dass der Stein, auf dem Jakob schläft, sich bei der Salbung bereits in einen rechteckigen Altar verwandelt hat, und so auch formal auf seine reale Parallele im Kirchenraum verweist. Durch die prominent dargestellten Szenen des Traums erhält die Sequenz einen stärker narrativen Charakter als in Gurk. Die Leiter verbindet den träumenden Jakob mit der Salbung und verbildlicht dadurch nicht nur den Himmelsweg, sondern spannt zugleich einen zeitlichen Bogen zwischen Träumendem, Traumbild und protoliturgischer Handlung. Das visuelle Verfolgen dieser Sequenz bringt den Betrachter dazu, von unten nach oben und wieder nach unten zu blicken und sich dabei um bis zu 180 Grad zu drehen. 1317 Aoshima 2002, S. 4‒13. 1318 Demus 1968, S. 211. Weiterhin weist Demus auch auf den schlechten Erhaltungszustand der Malereien hin (besonders derjenigen der unteren Kapelle). Er ist auf die Übermalung nach ihrer Entdeckung 1880 zurückzuführen – die Verwendung von Ölfarben zerstörte große Teile der originalen Farbe. 1319 Deuer 1988, S. 231. Zu Chorturmkirchen s. auch Aoshima 2002, S. 17‒22. 1320 Zur Entwicklungsgeschichte der Doppelkapellen s. Schürer 1929.

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167 Jakobsleiter und Himmlisches Jerusalem, Gurtbogen und Gewölbe der oberen Kapelle, St. Niklaus in Matrei (Osttirol), 1265–1270.

Die Gegenüberstellung von irdischem und himmlischen Paradies wird in Matrei nicht wie in Gurk durch die Lichtführung verdeutlicht, sondern wird vom Betrachter selbst körperlich nachvollziehbar. Der obere Chor ist über zwei seitliche Treppen betretbar; um in den unteren Chor zu gelangen, muss man ein paar Stufen hinab- und unter der Lesebühne1321 durch einen Bogen hindurchgehen. Beim Verlassen des unteren Chors kann sich das Bild der Vertreibung aus dem Paradies, bei der sich in Matrei Adam und Eva unter einer Bogenarchitektur hindurchbewegen (Tafel 21), mit der eigenen Bewegung des Betrachters unter dem Bogen hindurch überlagern. Das körperliche Erklimmen der Treppen zum oberen Chor kann sich dann im visuellen Erklimmen der Himmelsleiter fortsetzen. Darüber hinaus befinden sich im Bereich der gemalten Himmelsleiter selbst sechs Stufen zum Altar. Letztere wurden von Sicardus von Cremona im 12. Jahrhundert mit der Jakobsleiter, aber auch mit den Stufen zum Salomonischen Tempel und den Psalmen in Verbindung gebracht.1322 Honorius Augustodunensis sieht sie außerdem als Tugenden, die zu Christus führen.1323 Im 1783 zerstörten Mosaikfußboden von St. Remi in Reims aus dem 2. Drittel des 12. Jahrhunderts war

1321 Es ist nicht bekannt, ob die Lesebühne bereits im romanischen Bau vorhanden war oder im Zuge der Gotisierung dazukam: Aoshima 2002, S. 30. 1322 Sicardus von Cremona: Mitrale de officiis ecclesiasticis summa (I, 3), in: PL, 213, Sp. 19: „Per gradus virtutes accipimus, habens quindecim gradus, quibus Salomon in templum ascendendum instituit, quos Propheta in quindecim psalmis continue demonstravit [...]. Haec scala est, per quam Jacob angelos ascendere et descendere vidit“. Vgl. Heck 1997, S. 220. 1323 Honorius Augustodunensis: Gemma Animae (I, 136), PL, 172, Sp. 587: „Gradus, per quos ad altare ascenditur, sunt virtutes, per quas ad Christum pertingitur“.

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168 Traum Jakobs, Nordwand der oberen Kapelle, St. Niklaus in Matrei (Osttirol), 1265–1270.

der Jakobstraum neben anderen Szenen aus dem Alten Testament dementsprechend auf den Stufen selbst dargestellt.1324 Für eine Determinierung der Rezeptionsbedingungen wäre es hilfreich zu wissen, wie die beiden Kapellen in die Liturgie eingebunden waren. Da sich hierzu bisher keine schriftlichen Quellen finden, geht die Forschung von einer Nutzung in Analogie zu anderen Doppelkapellen aus, die vor allem im Zusammenhang mit Profanbauten erhalten sind. Die Forschung sieht im Wesentlichen zwei Nutzungsszenarien: Entweder dienten die Doppelkapellen als Grabbau, oder sie ermöglichten zwei räumlich voneinander getrennten Personengruppen das Verfolgen des Gottesdienstes.1325 Die bereits erwähnte, 1151 dem Hl. Clemens und der Gottesmutter geweihte Doppelkapelle im Schloss des Kölner Erzbischofs Arnold von Wied (1151–1156) in Schwarzrheindorf bei Bonn erfüllte vermutlich beide Funktionen.1326 In einem Hochgrab im Zentrum des unteren Raumes wurde Arnold von Wied beigesetzt, und seine Schwester Hedwig ließ ein benediktinisches Nonnenstift anbauen, dessen Äbtissin sie wurde. Die Funktion der Kapelle war bereits vor dem Tod des Stifters von der einer Schlosskapelle zu der einer Grabkapelle geändert worden.1327 Unter- und Oberkirche sind durch eine achteckige Öffnung miteinander verbunden, durch die man von unten in die obere Apsis blicken kann, und durch die man von oben auf das Grab des Erzbischofs schaut. Eine solche Sichtverbindung gibt es in Matrei nicht; aus dem Kirchenschiff hat man einen guten Blick auf die Jakobsleiter und in das 1324 Kaufmann 2006, S. 99. 1325 Vgl. dazu die Bemerkungen bei Aoshima 2002, S. 23–30 mit weiterführender Literatur. 1326 Zu Schwarzrheindorf s. Esmeijer 1993; Heidrun Stein-Kecks, Kat. Nr. 86, in: Wittekind 2009, S. 308 f. 1327 Esmeijer 1993, S. 43.

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Gewölbe der oberen Kapelle, während der Großteil der Malereien in der unteren verborgen bleibt (Tafel 20). Das lässt sich wiederum mit dem Anblick vergleichen, der sich einem Eintretenden in der Gurker Bischofskapelle bietet, dem das Himmlische Jerusalem verheißend entgegenscheint, der Fall der Menschheit aber zunächst verborgen bleibt. In Schwarzrheindorf wird ein Blick von unten nach oben auf ganz besonders ausgeklügelte Weise mit der Vision Ezechiels im Alten Testament verbunden. Die Wandmalereien der kompletten unteren Kirche umfassen einen Ezechiel-Zyklus, der im Gewölbe der vier Kreuzesarme beginnt und in den vier Bildfeldern endet, die um die oktagonale Öffnung in die Oberkirche angeordnet sind. Ezechiel beobachtet hier den Wiederaufbau der Stadt Jerusalem, das Ausmessen des Tempels und den Altar im Tempel. Im Osten der Öffnung ist die Erscheinung des Herrn im östlichen Portal des Sanktuariums dargestellt (Ez 43,1–2). Die Inschrift bezeichnet diese Tür als porta clausa, die nach der Inkarnation Christi wieder zu öffnen sei.1328 Wenn man nach Osten schaut, blickt man über der porta clausa durch die achteckige Öffnung in die Apsis der Oberkirche, in der die Majestas Domini dargestellt ist. So werden nicht nur die Himmelsrichtungen der Erzählung mit der Ausrichtung der realen Architektur abgeglichen, sondern der Anblick Christi durch eine Öffnung, die Ezechiels Vision verheißt, ist im Blick durch die Öffnung in die Oberkirche vorweggenommen und stärkt die Erlösungshoffnung. Die geschlossenen und geöffneten Türen sind das zentrale Thema der Doppelkirche: Es tritt nicht nur in der Vision Ezechiels auf, sondern auch in der letzten Szene des christologischen Zyklus, der in den vier Kreuzesarmen der unteren Kapelle zu sehen ist – der letzte Moment der Kreuzigung Christi, das Öffnen der Brust durch den Lanzenstich, erscheint exegetisch als Geburt der Ecclesia.1329 Esmeijer interpretiert die Malereien der Doppelkapelle vor dem Hintergrund des Chronicon Otto von Freisings (1143–1146).1330 Der Bischof von Freising war bei der Weihe der Kapelle von Schwarzrheindorf anwesend. Die Geschichte der Menschheit beschreibt er in seinem Chronicon nach Esmeijer als „a history of salvation, [which, T.B.] has a marked linear course, a forward and upward movement in time and space“.1331 Die Kombination von Schwellenmotiv, Raumschwelle und einem nach oben gerichteten Blick führt in Schwarzrheindorf zu der gleichen Verheißung eines in den Himmel führenden Weges wie in Matrei. So sind bei einem Blick aus dem Kirchenschiff der träumende Jakob und die Salbung des Steins nicht sichtbar, da sie von der Lesebühne verdeckt werden. Die Leiter ist zunächst unabhängig von ihrer narrativen Einbindung in die Heilsgeschichte betrachtbar. Während die Forschung bereits häufig die theologische Komplexität der Freskenzyklen von Matrei und Gurk herausgearbeitet hat,1332 so scheint doch der Aspekt der konkreten Rezeptionsbedingungen und damit die Zugänglichkeit der Fresken noch nicht genügend bedacht worden zu sein. Die Vertikalität – und damit auch die motorische oder visuelle Aufwärtsbewegung, die mit dem Betreten oder Sehen der unterschiedlichen Räume verbunden 1328 Esmeijer 1993, S. 47 zur Beschreibung der Szenen. 1329 Esmeijer 1993, S. 48. 1330 Esmeijer 1993, ab S. 45, und: Chronicon. 1331 Esmeijer 1993, S. 46. 1332 S. die jeweiligen Publikationen zu den einzelnen Beispielen. Darüber hinaus zum Motiv der Leiter: Heck 1997; Heck 1998; Kaufmann 2006.

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ist – bildet den zentralen Bestandteil dieser Programme, der sich im Motiv der Leiter verdichtet und mit der Leiter zugleich eine Art „Rezeptionseinstieg“ anbietet. Der Anblick des himmlischen Jerusalem in Gurk lässt den Aufstieg in die Bischofskapelle rückwirkend als ersten Schritt auf dem Weg in den Himmel scheinen. Auch die Konzeption in Matrei spielt mit den Kategorien der Nähe und Ferne, der Sichtbarkeit und dem körperlichen Erreichen eines Ziels: Die Treppenaufgänge suggerieren eine Annäherungsmöglichkeit. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass auch eine der älteren Darstellungen des Himmlischen Jerusalems im Kirchenraum, im Gewölbe von San Pietro al Monte in Civate (um 1090), ähnliche Rezeptionsbedingungen aufweist: Das Bild befindet sich in der Eingangshalle, so dass Eintretende gleich einen Blick auf Christus im von Mauern umgebenen Jerusalem werfen können und es damit den zwölf Figuren gleichtun, die in Fenstern der Mauern dargestellt sind. Zudem liegt San Pietro auf einem Berg und der Besucher muss nach dem Aufstieg noch die lange Treppe zum Osteingang erklimmen. Die räumliche Position der Himmelsbilder von Gurk und Matrei lässt außerdem an einen wesentlichen Aspekt des Jakobstraumes denken, der auch auf die Gründungsträume von Wessobrunn, Prüfening und Camaldoli zutrifft und an den Christian Heck erinnert: Jakob befindet sich gerade auf einer Reise, als er im Traum die Himmelsleiter erblickt. Unterwegssein und Sehen sind also schon in der biblischen Erzählung eng miteinander verbunden: „A l’affirmation selon laquelle c’est par le regard que l’on monte, répond la nécessité de partir pour pouvoir voir. Si seule la vision permet le déplacement, seul le déplacement permet la vision“.1333 Die spezifischen Charakteristika der Leiter im Mittelalter, die Heck hier herausarbeitet, machen sie zum perfekten Trägermotiv für Rezeptionsimpulse.1334 Die gegenseitige Abhängigkeit von Sehen und Bewegen trifft  – in verkürzter und ungleich konkreterer Weise – auch auf die Rezeption der monumentalen Leiterdarstellungen zu. Das Motiv der Leiter überbrückt in seiner Motivgeschichte als alttestamentliche Vision, protoliturgisches Objekt, eschatologischer Himmelsweg, Aufstieg in der Tugend und Sinnbild spiritueller Pilgerschaft Ebenen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, und macht es gerade durch ihren Stufencharakter, durch die Verlangsamung und Rhythmisierung des Übergangs möglich, von der einen auf die andere Ebene zu gelangen. Durch die feste Bindung an und scheinbare Konstitution von architektonischen Strukturen vermag sie also in den untersuchten Beispielen die Überwindung ebendieser Strukturen in der Betrachtung einzuleiten. Nicht umsonst sind die Leitern von Gurk, Pisweg und Matrei als einfache Werkzeuge des Aufstiegs nicht geeignet, da sie den Blick sowohl nach oben als auch wieder nach unten lenken. Die Rezeptionsimpulse, die von ihnen ausgehen, sind also durchaus gegensätzlich und fordern vom Betrachter letztlich eine Transzendierung unmittelbarer bildlicher und räumlich gefasster Gegebenheiten. Dennoch werfen die monumentalen Leiterbilder die Frage auf, auf welchen wissenschaftlichen Grundlagen eine stärkere Einbeziehung konkreter räumlicher Rezeptionsbedingungen und bildspezifischer Rezeptionsanweisungen bei der Analyse von Bildern im Kirchenraum ruhen könnte.

1333 Heck 1998, S. 57. 1334 Heck geht in keinem seiner Beispiele näher auf spezielle Rezeptionsbedingungen ein.

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7 Der Blick auf der Schwelle

Mit der Thematisierung des Blicks auf der Schwelle tritt die Kategorie des Raums hinzu: Wie lenkt die Schwelle die Wahrnehmung? Zu analysieren ist, welche räumlichen Faktoren den Blick auf der Schwelle und damit auf die Bilder an der Schwelle konstituieren, leiten oder beeinflussen. Diese Frage betrifft also die Umstände der Betrachtung von Bildern an Schwellen. Zunächst geht es daher um den Raum und seine Wahrnehmung im Mittelalter und zwar explizit als Kategorie der Kultur- und Kunstwissenschaften. Im Zentrum der Untersuchung steht die Wahrnehmung des Kirchenraums, insbesondere wie sie sich über dessen Schwellen konstituiert. Erneut werden eine historische und eine phänomenologische Vorgehensweise nebeneinander gestellt und im Hinblick auf die Frage nach der Rezeption von Bildern an der Schwelle miteinander verbunden. Zunächst werden mittelalterliche Quellen daraufhin befragt, welche Rolle der Schwelle in liturgischen und rituellen Handlungen zukommt und wie sie die Raumwahrnehmung in diesem Kontext strukturiert. Sodann wird aus phänomenologischer Perspektive nach den Eigenschaften der Schwelle gefragt. Dem Blick auf den Schwellenraum, dessen phänomenologische Eigenschaften und historische Wahrnehmungsimpulse folgt der Blick auf den Betrachter. Was kennzeichnet den Betrachter an und auf der Schwelle? Wahrnehmung und Bewegung beeinflussen und ergänzen sich beim Betrachten von Bildern und Schwellen gegenseitig. Das als Miteinander oder auch in Abwechslung zu denkende Verhältnis von Blick und Körperbewegung wird dabei zum einen von den räumlichen Gegebenheiten der Schwelle und zum anderen von den bildspezifischen Strategien zur Blicklenkung beeinflusst. Über das in der Kunstgeschichte bereits diskutierte Konzept des ,bewegten Betrachters‘ hinaus werden Grundsätze einer integrierten bildgeschichtlichen Schwellenforschung erarbeitet, die mehrere Perspektiven berücksichtigt – die historischen und phänomenologischen Parameter des Schwellenraums und seiner Wahrnehmung, die durch Bildtechniken und Gestaltungspraktiken im Bild angelegte Wahrnehmungslenkung und das Verhältnis zwischen diesen Aspekten. Anhand der Beispiele aus Kapitel 6 sind diese Grundsätze im Hinblick auf die spezifische Schwellenerfahrung zu konkretisieren und zu erproben, und es ist zu analysieren, wie der Betrachter an Schwellen auf mehreren Ebenen bewegt, d. h. erreicht und beeinflusst wird.

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7.1 Raumwahrnehmung Die Kategorie des Raums wird in den sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen seit einigen Jahrzehnten verstärkt diskutiert. Michel Foucault hat bereits in den 1960er Jahren das 20. Jahrhundert als „Epoche des Raumes“ bezeichnet, während die „Obsession“ des 19. Jahrhunderts die Geschichte und damit eher die Zeit gewesen sei.1335 Seit den 1980er Jahren spricht man von einem ,spatial turn‘, einem Wiederaufleben des Raumbegriffs in den Sozial- und Kulturwissenschaften.1336 Die Anfänge dieses ‚Umschwungs‘ stehen u. a. im Zusammenhang mit dem Strukturalismus, der nicht diachron, sondern synchron vorgeht und damit ein Nebeneinander statt ein Nacheinander von Ereignissen untersucht.1337 In den Blick gerückt sind seither relationale Raumkonzepte, die historisch auf Aristoteles zurück­ gehen und u. a. mit Leibniz und Cassirer in Verbindung gebracht werden.1338 Foucault bezeichnet den Raum als „Gemengelage von Beziehungen, die Plazierungen definieren, die nicht aufeinander zurückzuführen und nicht miteinander zu vereinen sind“.1339 Der Grundgedanke der Relationalität überwiegt auch in neueren Raumtheorien. So versteht zum Beispiel Martina Löw, die den Raum als Kategorie für die Sozialwissenschaften wiederentdeckt hat, den Raum „als eine relationale (An)Ordnung von Körpern, welche unaufhörlich in Bewegung sind, wodurch sich die (An)Ordnung selbst ständig verändert“.1340 Handlungen finden demnach nicht vor der „starren Folie“ des Raumes statt, sondern Raum und Handeln sind unauflösbar miteinander verwoben.1341 Die Definition Löws enthält zwei Stichworte, die in Raumkonzepten der letzten Jahre immer wieder eine zentrale Rolle spielen: Körper und Bewegung. Raum ist kein statischer und neutraler ‚Behälter‘, sondern veränderbar auf Grund seiner inneren Verbundenheit mit Körpern und deren Bewegungen.1342 Wissenschaftshistorisch ist diese Gewichtung im Zusammenhang mit dem ‚performative turn‘ der Kulturwissenschaften zu sehen, im Zuge dessen über ein Interesse an den Handlungsvollzügen des Wahrnehmens und Bewegens ebenfalls der Raum thematisiert wird.1343 Über die Annahme einer inneren Verbundenheit von Handeln und Raum haben sich auch die historisch arbeitenden Kulturwissenschaften in den letzten Jahren der Thematik genähert. Unter Berücksichtigung zahlreicher Publikationen zum Thema „Raum“ in den 1335 Foucault 1990, S. 34. 1336 Zum ‚spatial turn‘ s. Bachmann-Medick 2006, S. 284–328; Wagner 2007; Günzel 2008. 1337 Auf den Strukturalismus verweist Foucault selbst im Kontext der „Epoche des Raumes“: Foucault 1990, S. 34; s. auch Wagner 2004 u. Wagner 2007, S. 14. 1338 Zu Leibniz (1715/1716) und Cassirer (1931) s. z. B. die jeweiligen Textausschnitte, in: Dünne/Günzel 2006, S. 58–73 u. 485–500. 1339 Foucault 1990, S. 38 Frz.: „un ensemble de relations qui définissent des emplacements irréductibles les uns aux autres et absolument non superposables“: Foucault: Des espaces autres, in: ders.: Dits et écrits, Bd. IV (1980–1988), S. 752–762, hier S. 755. 1340 Löw M. 2001, S. 131. 1341 Löw M. 2001, S. 130. 1342 Wagner 2007, S. 14 und vgl. Wagner 2004. 1343 Wagner 2007, S. 16. Zum ‚performative turn‘ s. Bachmann-Medick 2006, S. 104–143.

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verschiedenen Disziplinen arbeitet Kirsten Wagner eine Gemeinsamkeit heraus, nämlich „das [...] Erkenntnisinteresse daran, welches Bedingungsverhältnis zwischen Raum und kulturellen Praktiken besteht, beziehungsweise welche Räumlichkeit diesen Praktiken selbst zukommt“.1344 Ähnlich formulieren es Barbara A. Hanawalt und Michal Kobialka in der Einleitung eines Sammelbandes zu räumlichen Praktiken im Mittelalter: „space is viewed as an open and mutable field of specifiable relationships and structures; as a site actuated by the ensemble of movements deployed within it“.1345 Der Raum erscheint auch hier als Feld der Beziehungen, Strukturen und Bewegungen in enger Verknüpfung mit handelnden ­Personen. Zum Thema des Raumes im Mittelalter sind in den letzten Jahren vor allem Sammelbände aus unterschiedlichen methodischen und disziplinären Perspektiven erschienen.1346 Während der von Jan A. Aertsen und Andreas Speer 1998 herausgegebene Band Aufsätze zu Raumvorstellungen aus Sicht der mittelalterlichen Physik, Theologie, Geographie und Philosophie zusammenträgt, liegt der Schwerpunkt neuerer Publikationen seit etwa 2005 vor allem auf den erfundenen, imaginären oder virtuellen Räumen mittelalterlicher narrativer Texte.1347 Parallel zu den Sozial- und Kulturwissenschaften werden auch in der Kunst- und Liturgiewissenschaft Handlungen und Vollzüge als Konstitutionsaspekte von Raum analysiert. Vor allem die Zusammenhänge von Liturgie und Raum bzw. Liturgie und Architektur werden aus dieser Perspektive verstärkt untersucht.1348 Häufig geht es dabei um historische Spezifika des mittelalterlichen Kirchenraums und deren liturgische Funktionen.1349 An dieser Stelle ist zu fragen, welcher Raumbegriff der Untersuchung gebauter und bebilderter Schwellen zugrundezulegen ist. Die erwähnten mediävistischen Studien machen jedenfalls deutlich, dass der Raum eine wichtige Kategorie ist, weil interdisziplinäre Fragestellungen hier anknüpfen. Wie lassen sich also kunstwissenschaftliche Fragestellungen zum Raum konkret in dieser Forschungslandschaft verorten? Wenn Wagner sowie Hanawalt und Kobialka den Raum als veränderbar charakterisieren, bedingt durch kulturelle Praktiken und aktualisiert durch Bewegungen, denken sie allerdings nicht in erster Linie an den gebauten Raum der Architektur, der sich durch Materialität und Konstanz auszeichnet. Fragt man jedoch umgekehrt nach der Tradition des Raumbegriffs in der Kunstgeschichte, so steht ­dieser „meist im Dienste einer Fortschrittserzählung von der flächenhaften Bildgestaltung

1344 Wagner 2007, S. 14. 1345 Hanawalt/Kobialka 2000, S. XI. 1346 Aertsen/Speer 1998; Hanawalt/Kobialka 2000; Rimpau/Ihring 2005; Vavra 2005; Staubach/Johanterwage 2007; Vavra 2007. 1347 So einige Stichworte aus den Titeln der Sammelbände Rimpau/Ihring 2005; Vavra 2005; Staubach/ Johanterwage 2007; Vavra 2007. Studien zu erzählenden Texten des Mittelalters überwiegen in diesen Bänden. Nicht mehr berücksichtigt werden konnte: Carsten Morsch: Blickwendungen. Virtuelle Räume und Wahrnehmungserfahrungen in höfischen Erzählungen um 1200, Berlin 2011. 1348 Z. B. Kohlschein/Wünsche 1998; Graves 2000; Palazzo 2000, Kapitel VI „La liturgie et l’espace“, ebd., S. 124–149; Warland 2002; Neuheuser 2005; Altripp/Nauerth 2006; Gerstel 2006 A. 1349 S. z. B. die Aufsätze zu karolingischen Westwerken oder der spätantiken Basilika mit Querhaus in Altripp/Nauerth 2006.

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zur Darstellung unendlicher Tiefe“.1350 Das gilt sowohl für die Malerei als auch für die Skulptur, deren mittelalterliche Entwicklung von der Portalforschung als eine Art Geschichte der Raumergreifung und Loslösung von der Wand beschrieben wird. Raum wird aus dieser Perspektive vom Gemälde oder von der Skulptur aus gedacht und steht im Zusammenhang mit Bildtechniken wie der Zentralperspektive und spezifisch skulpturalen Gestaltungspraktiken – Raum ist damit eine historisch veränderbare Kategorie. Auch für die mittelalterliche Architekturgeschichte ist „Raum“ ein Begriff, der an Stilepochen gebunden ist. Ein Beispiel hierfür ist die von Hans Jantzen formulierte „diaphane Struktur der gotischen Raumgrenze“.1351 Auch abseits von diesem entwicklungsgeschichtlichen Raumbegriff ist die Kunstgeschichte bereits durch ihre Untersuchungsgegenstände an die Materialität gebunden. Als konkret benennbarer, physisch-materieller Raumbegriff – wie ihn etwa auch Geschichtswissenschaftler und Geographen nutzen – steht er dem relationalen Raumbegriff in den sozialund kulturwissenschaftlichen Raumtheorien der letzten Jahre diametral gegenüber, bzw. wird deren ‚neuer‘ Raumbegriff deutlich von „der Bedingung einer realräumlichen Ortschaft“1352 abgegrenzt: „Raum gilt [...] längst nicht mehr als physisch-territorialer, sondern als relationaler Begriff“.1353 Bachmann-Medick allerdings plädiert dafür, die „‚Container‘-Vorstellung von Raum im Alltagsleben nicht einfach zu ignorieren oder konzeptuell zu überspringen, sondern zunächst einmal anzuerkennen“.1354 In einigen Wissenschaften hat dabei ihrer Meinung nach bereits eine produktive Verbindung der beiden Raumkategorien stattgefunden. Als Beispiel nennt sie eine ethnologische Studie zum Schiff als Kontaktzone der Kulturenbegegnung, welche die materielle Dimension des Schiffes mit den dort stattfindenden Handlungen, Beziehungen und Ereignissen zu einem Raumkonzept verknüpft.1355 Auch die Aufsätze in den bereits erwähnten Sammelbänden der Mediävistik betonen zwar mit den als virtuell, imaginär oder erfunden thematisierten Räumen das Immaterielle; den Autorinnen und Autoren geht es aber immer auch um die Relation dieser Räume zu ‚festen Ankern‘ in körperlich wahrnehmbaren Raumstrukturen. So wird etwa im Vorwort des 2005 erschienenen Sammelbandes „Virtuelle Räume“ der virtuelle Raum definiert als Raum, „der immer dann entsteht, wenn reale topographische Koordinations- und Raumstiftungselemente durch Konstituenten anderer Kategorien überformt werden“.1356

1350 Ott 2009, S. 19. 1351 Jantzen 1962, S. 22. 1352 So z. B. Günzel 2008, S. 220 f., Zitat S. 220. 1353 Bachmann-Medick 2006, S. 292. 1354 Bachmann-Medick 2006, S. 305. 1355 Bachmann-Medick bezieht sich auf Bernhard Klein, Gesa Mackenthun: Das Meer als kulturelle Kontaktzone. Räume, Reisende, Repräsentationen, Konstanz 2003. Bachmann-Medick 2006, S. 306 f. 1356 Vavra 2005, S. IX. Auf ähnliche Weise wird in der Einleitung zu folgendem Sammelband, der nicht mehr berücksichtigt werden konnte, das Zusammenwirken imaginärer und wirklicher Räume betont: Sonja Glauck/Susanne Köbele/Uta Störmer-Caysa (Hrsg.): Projektion – Reflexion – Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter, Berlin/Boston 2011.

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Eine konkrete kunstwissenschaftliche Stellungnahme zum gegenwärtigen Raumparadigma steht noch aus.1357 Die Relevanz des materiellen Raums wäre in dieser Hinsicht ein Problemfeld, zu dem im Rahmen eines solchen Projekts Stellung bezogen werden müsste. Das Potential des Raumbegriffs für die Kunstwissenschaft liegt meiner Meinung nach gerade in dessen Mehrschichtigkeit, und damit in der Vergleichbarkeit unterschiedlicher Bezugspunkte dieses Begriffs: Neben dem Ort des Kunstwerks und dem gebauten Raum ist der dargestellte Raum eine zentrale Kategorie kunstgeschichtlicher Fragestellungen. Es bietet sich die Möglichkeit, Interferenzen zwischen den materiellen, dargestellten und durch die Betrachtung eröffneten Räumen zu untersuchen.1358 Raum kann auch als Relationsbegriff für den Ort des Kunstwerks und das Verhältnis des Betrachters zu diesem und damit als Erweiterung rezeptionsästhetischer Fragestellungen verwendet werden. Ohne explizit zum ‚spatial turn‘ Stellung zu nehmen, thematisiert der 2008 erschienene Sammelband „Topologien der Bilder“ die Konstellation von Betrachter, Bild und Raum: „Es soll nach den Orten der Bilder, den Voraussetzungen und Bedingungen ihres Erscheinens ebenso gefragt werden wie nach den Räumen der Bilder und den Verortungen, die sie entwerfen. Daran schließt sich auch die Frage nach den Handlungen, die sie ermöglichen und den Wirkungen, die sie evozieren, an“.1359 Die Autorinnen und Autoren entwickeln hier aus einer bildtheoretisch formulierten Perspektive rezeptionsästhetische Fragestellungen weiter, die bereits von Kemp als „doppelte Aufgabe“ der Rezeptionsästhetik formuliert wurden, nämlich die Zugangsbedingungen des Bildes ebenso zu berücksichtigen wie die Rezeptionsvorgaben im Bild.1360 1357 Im Gegensatz zu den Sozial- und Geschichtswissenschaften gibt es für die Kunstgeschichte noch keinen fachspezifischen Überblick zur Relevanz des ‚spatial turn‘. Ansätze bei Ott 2009, die allerdings die von ihr beschriebene Tradition des Raumbegriffs in der Kunstgeschichte nicht mit neueren Per­ spektivierungen vergleicht. Sie führt auch keinen jüngeren kunsthistorischen Forschungsstand an bzw. führt sie lediglich Beispiele für die Relevanz des Themas in der Gegenwartskunst an, nicht aber für das gegenwärtige kunstwissenschaftlichen Interesse. S. auch Michaela Ott: Art. Raum, in: ÄGB, Bd. 5 (2003), S. 113–149, s. besonders IV. Vervielfältigung der Raumkonzepte in Moderne und Gegenwart, 1. Kunstgeschichte und Kunsttheorie, S. 136–140. Logemann diskutiert in einem einleitenden Abschnitt „Raum als kunsthistorische Kategorie“ umfassend, klammert den „topographical turn“ aber aus, der sich bei ihr auf „das Interesse an Kartographie und allen Arten von geographischräumlichen Fragestellungen“ beschränkt: Logemann 2009, S. 13–32, Zitate S. 18. Die Sammelbände Avanessian 2010 u. Autsch 2010 schneiden das Thema an, beziehen aber nicht programmatisch Stellung zum ‚spatial turn‘. Der folgende, schon länger angekündigte Reader verspricht einen ersten Überblick zu geben: Annette Jael Lehmann/Philip Ursprung (Hrsg.): Bild und Raum: Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture, Bielefeld 2014. 1358 Aus dieser Perspektive sind einige bereits genannte Studien anzuführen, in denen das Verhältnis von dargestellten oder mentalen zu realen Räumen untersucht wird: Wiesener 2000, die neben dem innerbildlichen Raum und seinen Schwellen den historischen Lebensraum italienischer Frauen des 15. Jahrhunderts untersucht; Kwastek 2001; Kern-Stähler 2002; Schlie 2004; Logemann 2009. Diese Autorinnen gehen über eine realienkundliche Analyse von Bildern zum Zweck der Rekonstruktion mittelalterlicher Räume hinaus, wie sie z. B. Lüken 2000 (mit Hinweisen auf reale Räume und Ausstattungsgegenstände in Darstellungen der Verkündigung) und Schmelzer 2004 (zu Bildern mit Lettnerdarstellungen) anstreben. 1359 Hinterwaldner et al. 2008 B, S. 19. 1360 Kemp 1985 A, S. 24, s. auch oben 4.2, S. 154.

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Auch in der vorliegenden Studie geht es um ein bauhistorisch konstantes Element des architektonischen Raums, nämlich die Schwelle als Übergang eines Gebäudes. Bereits an mehreren Beispielen im sechsten Kapitel ist deutlich geworden, dass die Bilder an der Schwelle auf den hinter ihr liegenden Raum vorbereiten, Erwartungen schüren oder die Überschreitung in einen heilsgeschichtlichen Kontext stellen. Im Folgenden soll es aber nicht um die bildinhärenten Techniken zur Betrachterlenkung gehen, sondern allgemeiner um die Wahrnehmung des Kirchenraums im Mittelalter. Wie lässt sich die mittelalterliche Wahrnehmung des Kirchenraums untersuchen? Kunsthistoriker haben meist auf die symbolischtheologische ‚Bedeutung‘ des Kirchenraums als Himmlisches Jerusalem, Bundeszelt oder Templum Salomonis verwiesen, die in den Metaphorisierungen mittelalterlicher Autoren erscheint.1361 Daneben werden mittelalterliche Beschreibungen vom Umgang mit dem Raum herangezogen. Quellen zur Liturgie und darüber hinaus zu Handlungen, die im Kirchenraum stattfanden, berücksichtigt etwa Christof Diedrichs in seinem Aufsatz zur „Wahrnehmung des mittelalterlichen Kirchenraums“. Er nähert sich den „mittelalterliche[n] Formen der Wahrnehmung induktiv, von den Quellen bzw. Gegenständen her“.1362 Alltägliche oder im Kirchenjahr verankerte Funktionen des Kirchengebäudes lassen dieses nach Diedrichs als Lebens- und Erlebnisraum für individuelle Besucher hervortreten, deren Sinne durch verschiedene liturgische Praktiken und Ausstattungsgegenstände angesprochen werden.1363 Im Folgenden kann die theologisch-metaphorische Perspektive zunächst weitgehend ausgeklammert werden, weil sie an die Ästhetik und die architektonische Form des Kirchenbaus gebunden ist und wenig Erkenntnisse über die konkrete Wahrnehmungserfahrung liefert. Da es vorrangig um den Kirchenraum im Kontext der für die Wahrnehmung relevanten Handlungen geht, und zwar aus der konkreten Perspektive des Betretenden (das Überschreiten und Öffnen der Tür), ist zunächst anhand von drei rituellen Praktiken zu untersuchen, wie sich über die Bewegung Räume konstituieren und erfahren lassen, und welche Rolle Schwellen dabei für die Wahrnehmung des Kirchenraumes spielen. Ausgangspunkt für diese funktionsgeschichtliche Perspektive sind mittelalterliche Quellen, die aus zwei Perspektiven befragt werden. Erstens: Welche liturgischen Handlungen finden im Mittelalter an der Schwelle statt und welche Rolle kommt dabei der Schwelle zu? Zweitens: Lässt sich aus mittelalterlichen Quellen erkennen, welches Raumerleben die Schwelle auslöst? Der ersten Frage nähere ich mich über die Untersuchung der Rolle des Schwellenraums in drei wichtigen liturgischen oder rituellen Handlungen des Mittelalters: Kirchweihe, Prozession und Buß­ riten. Mit der Kirchweihe wird traditionsgemäß ein bestimmter Bereich des Profanen abgegrenzt und als heiliger Raum ausgezeichnet; erst dadurch entsteht der Kirchenraum als liturgischer Raum.1364 Während die ersten frühchristlichen Kirchen vermutlich durch das Abhal1361 S. z. B. Bandmann 1951; Sauer 1964; Tripps 1998, S. 33–63. 1362 Diedrichs 2004, S. 270 (seine Hervorhebung). 1363 Diedrichs 2004. Wesentliche Ergebnisse zur Funktionsbestimmung des mittelalterlichen Kirchenraumes und seiner Ausstattung haben mit unterschiedlicher Fragestellung erbracht: Tripps 1998; FaupelDrevs 2000 u. Graves 2000. Zum Kirchenraum als Sinnesraum s. Wenzel 1995, S. 95–127. 1364 Neuheuser 2005, S. 260.

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ten einer ersten Messe geweiht wurden, schrieb das zweite Konzil von Nikaia (787) eine Reliquiendeposition für jeden Altar vor, so dass dieser Akt seither mit der Altarweihe verbunden wurde.1365 Die Handlung des Kirchweihritus beginnt vor der Kirche.1366 Unter Besprengung der Außenwände wird die Kirche drei Mal umschritten und jedes Mal wird an die Tür geklopft, die erst beim dritten Mal von einem sich in der Kirche aufhaltenden Diakon geöffnet wird. Der Gesang „Attollite portas“ begleitet das sich wiederholende Klopfen an die Tür. Ist die Prozession im Inneren der Kirche angelangt, werden Altar und Wände mit Weihwasser besprengt; alle diese Handlungen werden von Gesängen und Gebeten begleitet. Im Kirchweihritus tritt der Kirchenraum also als Ensemble von Orten hervor (Boden, Schwelle, Altar und Wände), die zunächst im Umschreiten, das heißt über eine feierliche Bewegung, nach außen hin abgegrenzt werden. Die Schwelle wird durch ein wiederholtes Innehalten des Bewegungsflusses und durch Gesang markiert und schließlich überschritten. Heilsgeschichtlicher Referenzrahmen ist über das „Attollite portas“ die Höllenfahrt Christi; durch den Befreiungsakt des Diakons ist die Kirchentür außerdem zugleich Himmels- oder Paradiespforte: „In der Kirchweihliturgie wird die Kirchenpforte in dieser Doppelfunktion als Durchgang zu zwei Zuständen resp. Räumen erkannt“.1367 Daran schließt sich das Besitzergreifen der Bereiche des inneren Kirchenraumes als heiliger Raum an. Auch im Inneren werden die Wände abgeschritten und durch Besprengen ausgezeichnet, so dass die Bewegung der kirchlichen Amtsträger die liturgische Ausdehnung des Raumes von außen und von innen nachzeichnet. Das Innere der Kirchentür wird mit einem Kreuzzeichen versehen. Wände und Schwellen sowie der Altar als Zentrum des geheiligten Raums werden in dieser Raumbeschreitung, die zugleich Raumbeschreibung ist, besonders hervorgehoben. Als ein konstantes Element ritueller und liturgischer Handlungen im Mittelalter kann die prozessionale Bewegung gelten, die auch Teil des Kirchweihritus ist. Der lateinische Begriff processio wird im Mittelalter im Vergleich zum heutigen Gebrauch von ‚Prozession‘ sehr offen verwendet. Er bezeichnet nicht nur menschenreiche, festliche Prozessionen durch die Stadt oder zwischen mehreren Kirchen, sondern er schließt ebenfalls Bewegungen ein, die lediglich in einem architektonischen Raum stattfinden, und kleinere Prozessionszüge, bei denen keine Laien anwesend sind.1368 Eine Prozession zeichnet sich durch die gleichmäßige Bewegung aus, und zwar mit Einschüben, „die sich wiederholen müssen und dann wie Atemzüge sind“: „Das Stehenbleiben an Stätten der Verehrung bewahrt durch Wiederholung und zyklenhafte 1365 Neuheuser 1993, S. 122; die erste Quelle zur Kirchweihe stammt aus dem späten 4. Jahrhundert. 1366 Zum Folgenden: Neuheuser 2005, S. 271 ff., der die Elemente des Kirchweihritus im Mittelalter unter Berücksichtigung verschiedener Quellen zusammengetragen hat. Eine Problematisierung dieses Vorgehens, das aus unterschiedlichen Quellen eine idealtypische Liturgie herausarbeitet und lokale Differenzen in den Hintergrund stellt, bei Graves 2000, S. 7–9 (sie bezieht sich in ihrer Kritik vor allem auf Duffy 1993). Ihre Alternative besteht darin, liturgische Texte auf die materielle Kultur zu beziehen, aus der sie stammen, d. h. „the material conditions of the churches in which the practices they describe were to be performed“: Graves 2000, S. 8. 1367 Neuheuser 2005, S. 274. 1368 Kirchner 1985, S. 25. Für den Bamberger Dom s. etwa die von Renate Kroos rekonstruierten Prozessionen vom Peters- in den Georgenchor: Kroos 1976. Neuere Publikationen zum Thema behandeln meist die größeren spätmittelalterlichen Prozessionen, befassen sich aber auch mit dem Zusammenhang von Bewegung und Raum: Löther 1999; Ashley/Hüsken 2001.

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Bindung den Grundduktus der schrittweisen Bewegung“.1369 Ausgangspunkt der Prozession, ihr Ziel und die Zwischenstationen werden über die Bewegung miteinander in Beziehung gesetzt. Die Raumerfahrung wird dabei nach Thomas Kirchner maßgeblich durch das sinnliche Empfinden beeinflusst: „Das sinnliche Erlebnis prozessionaler Bewegung gründet auf Erfahrungen des Tastsinnes: es kommt auf das Berühren aller Teilstrecken an“, auf das „Abgreifen“ des Weges durch das leibliche Erfassen.1370 Dieser Aspekt ist bereits oben im Hinblick auf die Prozessionen mit der Reliquienstatue der Hl. Fides in Conques hervorgetreten: Die Prozessionen sollten Eigentumsfragen klären und durch Umschreiten bestimmter Ländereien diese der Gemeinschaft gewissermaßen einverleiben. Deutlich wird auch der Zusammenhang zwischen der prozessionalen Bewegung und dem gebauten Raum. Stadttore und Kirchentüren markieren oft Zwischenstationen der Prozession, an denen die Bewegung innehält, und an denen unter Umständen spezielle Gesänge angestimmt werden. Nach Kirchner ist die Langhausarchitektur mittelalterlicher Kirchen „so etwas wie sichtbar gewordene, geronnene prozessionale Bewegung“.1371 In der Bußliturgie des Mittelalters weist das Kirchenportal einen besonderen Status auf. Bei der öffentlichen Buße im frühen Mittelalter wurden die Büßer am Aschermittwoch am Portal aus der Kirche getrieben; dort fand am Gründonnerstag auch der Rekonziliationsritus statt. Das Bildprogramm einiger Portale und Bildertüren reflektiert möglicherweise gezielt die Gesten, die im Rahmen dieser Praxis ausgeführt wurden. Erinnert sei an den Griff an das Handgelenk durch Christus bei der Höllenfahrt, der etwa an der Bildertür von San Zeno in Verona dargestellt ist; an die Geste des Engels an der Himmelspforte im Tympanon von SteFoy in Conques und am Lettner der Gelnhausener Marienkirche; ferner an die detailliert ausgeführte Umgreifung des Handgelenks der Stifterin im Tympanon der Baseler Galluspforte. Aufschlussreich ist die Bußliturgie vor allem deswegen, weil die Kirchentür den Moment einer Verwandlung von Gemeindemitgliedern in Büßer, und von Büßern in Gemeindemitglieder im Ritual räumlich bezeichnet. Die Buße ist nach Cyrille Vogels Rekonstruktion für das 10. Jahrhundert, die auf einem Pontificale romanum aus dem Kloster Saint-Alban de Mayence (gegen 950/962) und der Schrift De synodalibus causis des Regino von Prüm (gest. 915) basiert, in drei Stadien unterteilt: den Eintritt in die Buße, den Büßerstatus im ordo paenitentium und die feierliche Rekonziliation durch den Bischof.1372 Zunächst präsentieren sich die Büßer am Eingang der Kirche (ante fores ecclesiae). In der Kirche tragen die Kleriker die sieben Bußpsalmen vor; der Bischof legt den Büßern die Hände auf, streut ihnen Asche auf das Haupt und besprengt sie mit Weihwasser. Auf den Ausstoß aus der Kirche folgt eine Belehrung der Büßer an der Tür. Erst ab dem 13. Jahrhundert bedeutete die Austreibung an manchen Kirchen eine excommunicatio ab ecclesia mit der Folge, dass den Büßern der Eintritt in sakrale Gebäude bis zur Rekonziliation versagt war.1373 Das Büßerstadium war sodann mit 1369 Kirchner 1985, S. 29. 1370 Kirchner 1985, S. 30 (seine Hervorhebung). 1371 Ebd. 1372 Vogel 1966, S. 138. 1373 Vogel 1966, S. 141.

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bestimmten Verboten und Auflagen versehen: die Büßer mussten zum Beispiel ein Büßergewand tragen und regelmäßig beten. Es war ihnen u. a. verboten, öffentliche Ämter auszuführen oder zu heiraten.1374 Am Gründonnerstag finden sich die Büßer vor der Kirche ein. Der Bischof spricht das dreifache „Venite“ und die Büßer gehen bei jedem Ruf auf die Knie und nähern sich dem Bischof. Es folgen Gesang und Psalmen, an deren Ende der Bischof die Büßer in die Kirche einführt, indem er den ersten bei der Hand nimmt.1375 Noch deutlicher tritt die Rolle der Kirchentür in den Beschreibungen einer spätmittelalterlichen rituellen Handlung in Halberstadt hervor, bei der ein sogenannter Adam die Hauptrolle spielt. Im späten 14. Jahrhundert konnte dort eine spezielle Form der öffentlichen Buße verhängt werden, die in zahlreichen Quellen erwähnt wird (zuerst 1383) und mit der Durchsetzung der Reformation im Jahr 1591 ihr Ende fand.1376 Eine Bulle des Papstes Bonifatius vom 8. September 1401 schildert den Ablauf.1377 Ein Büßer übernahm die Rolle des Adam und wurde am Aschermittwoch in einem Bußkleid vom Bischof mit einem Stock aus der Kirche getrieben. Dann verbringt „besagter Adam [...] nun in Armut und Kargheit die vierzigtägige Fastenzeit, besucht täglich bußfertig die Schwellen der Halberstädter Kirche und enthält sich aller Gespräche mit Menschen“.1378 Spätere Erwähnungen des Ereignisses berichten, dass der Adam während dieser 40 Tage nur auf öffentlichen Straßen und erst nach Mitternacht schlafen durfte.1379 Am Gründonnerstag wurde er wieder in die Gemeinschaft aufgenommen; die Kirchenbesucher sollten in ihrer Bußgesinnung an diesem Tag besonders viel für die Dombaukasse spenden. Aus Sicht der Forschung nimmt der Halberstädter Adam eine Zwischenposition ein: „Als Geschehen handelte es sich zunächst weder um ein Fest oder eine Feier noch um eine Zeremonie, einen Ritus oder ein Spiel, eher um eine spezielle Form der öffentlichen Buße“.1380 Unübersehbar ist auch der ‚Zwischenstatus‘ des Adam selbst. Er wird für 40 Tage aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, darf nicht sprechen und zeichnet sich durch seine Kleidung und seine „permanente öffentliche Präsenz“ aus.1381 Seine öffentliche Sichtbarkeit erinnert die Halberstädter daran, dass die Fastenzeit eine Schwellenphase ist. Der Büßer, der die Rolle des Adam übernimmt, ist im Sinne von van Gennep und Turner ein Schwellenwesen. Der Übergang von der Trennungs- zur Schwellenphase (der Zeitpunkt am Aschermittwoch, da er als Adam verstoßen wird) und von der Schwellen- zur Angliederungsphase (seine Wiederaufnahme in die Gemeinschaft) findet jeweils räumlich am Kirchenpor1374 S. Vogel 1966, S. 141 f. mit genaueren Angaben und Quellenverweisen. 1375 Vogel 1966, S. 143 f. 1376 Kotte 1994, S. 12. 1377 Urkundenbuch des Hochstifts Halberstadt. Publicationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven, 40. Bd. 4, Leipzig 1889, S. 464–466, Nr. 3181, abgedruckt in: Kotte 1994, S. 14 f. (dt.), u. S. 15 f., Anm. 5 (lat.). 1378 Kotte 1994, S. 14; „dictus Adam in paupertate et parcimonia quadragesimam deducens ac in penitentia perseverans, limina ecclesiarum civitatis Halb. singulis diebus devotius visitat et a colloquiis hominum penitus abstinet“: S. 16, Anm. 5. 1379 Kotte 1994, S. 20; nach Quellen des 16. Jahrhunderts wurde er später jedoch anscheinend während dieser Zeit vom Klerus verpflegt und beschenkt: ebd., S. 24–26. 1380 Kotte 1994, S. 12. 1381 Kotte 1994, S. 21.

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tal statt. In der Schwellenphase muss der Büßer sich das durch wiederholtes Besuchen der Eingänge vor Augen halten. Nach Turner wird die Schwellenphase im Ritual dadurch charakterisiert, dass sich in ihr Unterschiede verwischen.1382 Für den Halberstädter Adam gibt es in der vierzigtägigen Zeit seiner Buße keinen Unterschied zwischen Wohnraum und städtischem Raum. Alltägliche Handlungen, für die er sich normalerweise in sein Haus zurückziehen würde (Schlafen), muß er auf der Straße ausführen. Auch andere Indikatoren des Schwellendaseins nach Turner werden vom Halberstädter Adam erfüllt: Er trägt eine spezielle (für die Witterung unangemessene) Kleidung und legt für einen bestimmten Zeitraum seinen eigenen Namen ab.1383 Die Besuche der Kirchentüren fokussieren sein Empfinden täglich auf ein Ziel: die Kirche wieder betreten zu dürfen. Beim Rekonziliationsritus am Gründonnerstag findet bei der öffentlichen Buße ein ähnliches rhythmisches ‚Abtasten‘ der räumlichen Grenzen vom Inneren der Kirche her statt. Da bisher für Halberstadt kein spezielles Pontifikale bekannt ist, rekonstruiert Andreas Kotte den Ritus nach dem Pontificale romanum, wie er auch für andere Städte mit einer öffentlichen Bußpraxis galt.1384 Die Büßer knien oder liegen vor dem Westportal, wo sie in Abständen dreimal während der Zeremonie von Klerikern aufgesucht werden, die auf der Schwelle jeweils eine Antiphon sprechen und dann in den Chor zurückkehren. Schließlich führt der Bischof die Büßer in die Kirche. Unterstrichen wird die Einholung zusätzlich durch das Auslöschen von Kerzen an der Schwelle, mit denen die Kleriker aus dem Chor gekommen waren.1385 Was für ein Raumerleben bewirken Schwellen im Rahmen dieser Riten? Im Kirchweih­ ritus und in der Bußliturgie erscheint der Übergang in die Kirche als Ort des wiederholten Besuchs, des Stockens der Bewegung und der zeitlichen Verzögerung der Überschreitung, deren schließliches Ausführen deshalb stark emotional aufgeladen wird. Der Schwellenraum erscheint darüber hinaus als Raum mehrerer Sinneserfahrungen: Im Kirchweihritus kommunizieren der Bischof und der eingeschlossene Diakon über die geschlossene Tür hinweg miteinander. In allen erwähnten Riten ist das Innehalten vor der Schwelle ein Teil der Handlung. Für Außenstehende bietet die Schwelle zudem eine Art Rahmen für eine bildliche Erfahrung, wie sie oben besonders im Kontext der Chorschranken thematisiert wurde. So sehen die vor dem Portal knienden Büßer während der Rekonziliationsfeier dreimal die Kleriker auf der Schwelle, die sich singend an sie wenden, daraufhin aber wieder in der Kirche verschwinden. Leitet der Bischof die Büßer schließlich in die Kirche, folgt dadurch dem Anblick eine Bewegung, auf deren Vollzug hin das Begehren der Büßer durch die Zeremonie geschürt wurde. Der Kirchenraum manifestiert sich an der Schwelle also als ‚anderer‘ Raum, dessen Betreten mit dem Gefühl der Freude einhergeht. Reflektiert wird dieses Raumerleben nicht nur in der Liturgie, sondern auch in Wunderberichten seit dem frühen Mittelalter. So stellt Barbara Rosenwein in ihrer Untersuchung der Beziehung zwischen Emotionen und Raum anhand der Schriften dreier verschiedener Auto1382 Turner 1989 B, S. 38. 1383 Ebd. 1384 Kotte 1994, S. 109–117. 1385 Kotte 1994, S. 119.

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ren aus dem 6. und 12. Jahrhundert fest: „Portals, entry, and exit were the poles that tended to attract emotions“.1386 Beispiele dafür finden sich unter anderem in Wundererzählungen Gregors von Tours (Bischof ca. 573–ca. 594). Darin berichtet er, wie sich ein Kleriker aufgrund der Menschenansammlung zum Festtag keinen Zutritt zum Grab des Hl. Julian verschaffen kann, ja noch nicht einmal bis in die Kirche gelangt, und daraufhin traurig zu Bett geht.1387 Im Schlaf erscheint ihm ein Mann und rät ihm, sich erneut zur Kirche zu begeben, wo er alles offen finden werde. Voller Furcht („metu territus“) macht er sich auf den Weg und findet alles offen, von der Tür bis zum Altar und sogar bis zum Grab, betet dort und verlässt die Kirche freudig.1388 Die Schwelle erscheint hier als Element einer räumlichen ­Steigerungssequenz („ostium“ – „sanctum altare“ – „tumulum“), deren Begriffe zugleich die Position möglicher Hindernisse benennen, die auf wundersame Weise fehlen („nullum ob-­ sistere“/„sine ulla inpraessione“). Eben diese Steigerungssequenz wird auch in einer Wundererzählung aus dem Liber miraculorum sancte Fidis deutlich, in der sich den traurigen Bauern, denen es verwehrt wurde, in der Kirche Nachtwache zu halten, auf einmal die Kirchentür öffnete und sogar die „inneren Türen“ („internis ianuis“) vor dem Schrein der Heiligen. 1389 Sicherlich lässt sich mit Rosenwein auch im Hinblick auf andere Wunderberichte feststellen, „joy was associated with the interior space of the church, sorrow with the exterior“.1390 Als eigentlicher Auslöser dieser Gefühle muss allerdings der Wechsel von Unüberwindbarkeit und Durchlässigkeit der Schwellen gelten – von diesen beiden Aspekten ist die Raumempfindung abhängig. Schwellen eigneten sich offensichtlich nicht nur in gebauter Form, sondern auch in bildlich dargestellter Form als Auslöser einer besonders emotionsgeladenen Erinnerung: Auf Ampullen, die im 6. Jahrhundert als ‚Souvenir‘ vom Grab Christi in Jerusalem zu erstehen waren, ist das Gitter dargestellt, das sich am Eingang zur Höhle befand. In den Ampullen brachten die Pilger Öl aus den in der Grabeshöhle aufgestellten Lampen mit. Man kann vermuten, dass das Gitter für die Pilger bei ihrem Besuch überwindbar war, denn es gibt Beschreibungen vom Umgang mit dem Grab selbst.1391 Die Rolle der Sinne für die Wahrnehmung heiliger Orte ist in einigen jüngeren Aufsätzen untersucht worden. Die Autoren haben für das frühe Mittelalter besonders die Wichtigkeit des Augenkontakts und der Berührung 1386 Rosenwein 2003, S. 294. 1387 „[N]on modo ad sanctum tumulum accedere, verum etiam nec in ipsam basilicam potuit introire. Cumque maestus metatu se reddidisset, recubans in lectulo obdormivit“: Gregor von Tours 1969, S. 126; s. auch Rosenwein 2003, S. 294. 1388 „Vade celerius ad templum martyris, et omnia invenies reserata“; „Cumque venisset ad ostium, repperit, remotos undique populos, usque sanctum altare vel ipsum tumulum via facta nullum obsistere. Et sic sine ulla inpraessione accedens, fusa oratione, cum gaudio est regressus“: Gregor von Tours 1969, S. 126. 1389 „Cumque penitus illis negaretur aditus, ecce repente, nobis dormientibus, portarum repagula sponte resolvuntur, vectes nemine impellente ultro dissiliunt, reseratis etiam internis ianuis, que ante re­liquiarum sanctuarium pro summa custodia habebantur“: Liber miraculorum II, 12, S. 176; Sheingorn 1995, S. 137–139, hier S. 138. 1390 Rosenwein 2003, S. 294. 1391 Lamia 2000, S. 19 f.

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mit den Reliquien und ihren Orten betont.1392 Nach Stephen Lamia bildeten die Darstellungen auf den Ampullen und auf ähnlichen ‚Souvenirs‘ in Interaktion mit den vor Ort gemachten kinästhetischen Erfahrungen starke mnemonische Codes, die zuhause aktiviert werden konnten.1393 Bei der Interaktion mit dem mitgebrachten Objekt konnte die Pilgerreise mit den kinästhetischen Sinneserfahrungen in der Imagination erneut angetreten werden. Als aufschlussreich scheint in diesem Zusammenhang vor allem, auf welche Art und Weise an die Erlebnisse erinnert wurde: nämlich durch die Darstellung, nicht des Grabes selbst, sondern der Schwelle zu diesem Ort, die den Augenkontakt mit dem heiligen Ort – nach der Sehstrahltheorie und nach den Schilderungen in frühchristlichen Schriften als quasi-taktile Teilhabe am heiligen Ziel der Pilgerschaft verstanden – noch nicht zuließ, sondern erst verhieß.1394 Wie der Pilger vor Ort das Gitter in der Bewegung überwinden muss, um das Heilige Grab zu sehen und zu berühren, so kann das dargestellte Gitter als Auslöser einer inneren Bewegung fungieren, die eine alle Sinne umfassende Erinnerung an den Ort dahinter bewirkt. Erinnerungen und Emotionen werden in diesen Beispielen an oder durch Schwellen geweckt; Erfahrungen, die nach dem Überwinden der Schwelle gemacht wurden, konzen­ trieren sich im äußeren, inneren oder erinnerten Anblick der Schwelle. In Bezug auf Erinnerung und Emotion erscheinen Schwellen als Auslöser einer erhöhten – nicht nur visuellen – Raumwahrnehmung. Dass diese Wirkung ein integraler Aspekt des mittelalterlichen Kirchenraums ist, der auch in ihrer Bebilderung hervortritt, wird an den bereits untersuchten Beispielen deutlich. Besonders der das Sinneserlebnis steigernde Charakter der Schwellen zum Chor ist – so die These von Jung – im Mittelalter wichtig und steht dabei einer modernen Auffassung des Kircheninnenraums entgegen: „Whereas modern beholders generally prefer a clean and uncluttered view of an interior all at once, our medieval counterparts seem to have prized partitions for their ability to trigger desire for what lay beyond“.1395 Zu unterscheiden ist allerdings zwischen der Wirkungsweise der Schwelle und ihrer historischen Implementierung. Schwellen lösen in ihren Betrachtern ein Begehren aus, das durch zwei Impulse charakterisiert ist: den Wunsch zu sehen – ob mit dem äußeren oder vor dem inneren Auge – und den Wunsch, sich zu bewegen. Diese Eigenschaft der Schwelle ist nicht an das Mittelalter gebunden. Sie ist auch in den Bemerkungen Menninghaus’ über die „Berliner Kindheit“ Walter Benjamins zugegen: „Überall sind es Türen, Tore und Treppenhäuser, an denen sich die Erfahrung des Kindes festsaugt, an denen sich bereits manifestiert, was ‚hinter ihnen‘ liegt“.1396 Demnach ist im Folgenden nach den phänomenologischen Konstanten des Erlebens von Schwellenräumen zu fragen.

1392 Hahn 1997; Frank 2000; Lamia 2000. 1393 „[I]magery designed to recall a past experience compounded with synaesthetic activities that occurred at the site of the sepulcrum Domini – emotional, visual, aural, olfactory, and tactile – might very well have imprinted the pilgrim with potent mnemonic codes that were retained for a long time“: Lamia 2000, S. 19. 1394 Beispiele für die nach der Rückkehr der Reisenden noch andauernde Heilswirkung des Sehens heiliger Orte aus dem 4. Jahrhundert bei: Frank 2000. 1395 Jung 2006, S. 212. 1396 Menninghaus 1986, S. 35.

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Bei der Untersuchung von Raumwahrnehmung geht es hier nicht um mittelalterliche Raumvorstellungen,1397 sondern um den Umgang mit Raum, im Raum und um die Art und Weise, in der der gebaute Raum und seine Spezifika – etwa die Schwelle – wahrgenommen werden. Raum und Blick sind dabei eng miteinander verbunden: „Der Blick modelliert den Raum, gleichzeitig wird er von der räumlichen Anordnung gelenkt“.1398 Diese Verschachtelung von Wahrnehmung und Raum ist in einem absolut gedachten Raum nicht möglich. Der Raum als ‚Behälter‘ in der mathematischen Tradition, aber auch im philosophischen Denken von Descartes und Kant ist homogen und isotrop. Er ist „in der Tat nichts weiter als ein Behälter, der Personen, Lebewesen und Dinge in bunter Mischung aufnimmt, ohne daß eines von ihnen an seinem Platze oder umgekehrt fehl am Platze wäre“.1399 Nach Bernhard Waldenfels führt die Auffassung vom Raum als bloßem „Behälter“ dazu, dass ein wesentliches Element des Menschen übersehen wird, nämlich dessen Leib: „Dies hat zur Folge, daß der Mensch sich aufspaltet in ein Denkwesen, das den Raum konzipiert und ausmißt, und ein Körperwesen, das ihn okkupiert. Vergessen ist auf diese Weise der Leib, jener stille Genosse, der uns einen Aufenthalt im Raum gewährt. Nur als leibliche Wesen bewohnen wir den Raum“.1400 Eine phänomenologische Auffassung, die dementsprechend den Leib1401 berücksichtigt und in das Zentrum einer Raumtheorie stellt, lässt sich aus philosophischer Perspektive mit Elisabeth Ströker als „gelebter Raum“, mit Gernot Böhme als „Raum leiblicher Anwesenheit“ oder einfach als „anthropologischer Raum“ bezeichnen.1402 Gemeinsam ist diesen Begriffen, dass sie auf einen existenziellen Raum des Menschen verweisen: „Das Entscheidende nämlich ist meine Involviertheit in diesen Raum“.1403 Als Gefühlsraum, Bewegungsraum und Raum der Wahrnehmung ist er unauflösbar mit dem Menschen verbunden. Ströker unterscheidet für den „gelebten Raum“ diese Kategorien der Involviertheit

1397 Dazu aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven die Aufsätze in: Aertsen/Speer 1998. 1398 Gronau et al. 2004, S. 27. 1399 Waldenfels 1999, S. 205. 1400 Waldenfels 1999, S. 206. 1401 Raumtheorien tangieren die (und entwickeln sich zum Teil parallel zu der) „Wiederkehr des Körpers“, die in den 1980er Jahren konstatiert und diskutiert wird: s. grundlegend den gleichnamigen Sammelband Kamper/Wulf 1982. Seither hat es vielfache Positionierungen aus historisch-anthropologischer oder erkenntnistheoretisch-philosophischer Perspektive gegeben. Einen Überblick gibt: Donn Welton in seiner Einleitung, Welton 1998. Ich verwende die Begriffe „Körper“ und „Leib“ im Folgenden im Kontext der Bild- und Schwellenwahrnehmung vor allem dazu, um eine Bilderfahrung zu benennen, die mehr meint als ein Betrachten mit den Augen. Im Einzelnen wäre eine Stellungnahme dazu, ob Erfahrungen (historischer) Betrachter auf ‚Leib‘ oder ‚Körper‘ zu beziehen sind aber Thema einer gesonderten kunstphilosophischen Studie. In den Referaten der jeweiligen Raumtheorien sind die Begriffe natürlich im Kontext der jeweiligen Positionen zu verstehen. Eine Differenz wird in dieser Hinsicht etwa bei Schmarsow deutlich (s. unten), bei dem das Kirchengebäude dann zum Körper wird, wenn es von außen betrachtet wird. Im Gegensatz zum Leib hat der Körper bei Schmarsow also den Status eines Objektes. 1402 Ströker 1977, S. 16–196 (= Erster Teil; Zitat aus dem Titel); Böhme G. 2004 (Titelzitat); Bezeichnung „anthropologischer Raum“ z. B. bei: Merleau-Ponty 1966, S. 334; außerdem bei Gronau et al. 2004, S. 28 und Wagner 2007, S. 19. 1403 Böhme G. 2004, S. 134.

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unter den Begriffen „gestimmter Raum“, „Aktionsraum“ und „Anschauungsraum“. 1404 Der „gestimmte Raum“ ist der atmosphärische, der Raum der Arbeit oder der Freizeit, der Feste oder der Andacht: „Sein Vernehmen ist kein Wahrnehmen, sein Gewahren kein Erkennen, es ist vielmehr ein Ergriffen- und Betroffensein“.1405 Der „Aktionsraum“ gestaltet sich formal als „das Worin möglicher Handlungen“ und ihrer Richtungen, die sich im Schema HierDort fassen lassen.1406 Der „Anschauungsraum“ schließlich bildet „phänomenal gleichsam den äußeren Saum des Aktionsraumes“, er ist „der perspektivische und horizonthaft begrenzte Raum, der bezogen ist auf das anschauende Leibsubjekt als Zentrum“.1407 Diese Dreiteilung übernimmt auch Böhme für sein Konzept des „Raums leiblicher Anwesenheit“ mit leicht abweichenden Termini („Stimmungsraum“, „Handlungsraum“ und „Wahr­neh­ mungs­raum“).1408 Ein derartiger anthropologischer Raumbegriff hat sich auch auf wissenschaftliche Untersuchungen des gebauten Raumes ausgewirkt. So werden beispielsweise in den Bemerkungen Gaston Bachelards zur „dynamischen Gemeinsamkeit von Mensch und Haus“ die Zusammenhänge des gebauten Raums mit dem gelebten Raum deutlich: „Das erlebte Haus ist keine leblose Schachtel. Der bewohnte Raum transzendiert den geometrischen Raum“.1409 In einer Zusammenschau von existenziellem, vom Menschen aus gedachten Raum und gebautem Raum wird letzterer zum „Erlebnisraum [...], der objektive und subjektive Strukturen gleichermaßen enthält“.1410 Nicht nur aus der Perspektive der Phänomenologie, sondern auch in der Kunstgeschichte wird bereits im späten 19. Jahrhundert die Relevanz des Leibes für den gebauten Raum diskutiert. Die Kunstwissenschaftler Heinrich Wölfflin und August Schmarsow vertreten eine vom wahrnehmenden Subjekt her zu erschließende Architekturauffassung. Beeinflusst von Theorien der Einfühlungsästhetik und Wahrnehmungspsychologie gehen sie von einer Fundierung der Architektur im Leib aus. Das ermöglicht es Wölfflin und Schmarsow, sowohl die Produktion als auch die Rezeption von Architektur durch eine Übertragung oder Projektion der Eigenschaften des Leibes auf den gebauten Raum zu erklären. Für Wölfflin spiegeln sich in der Architektur die Physiognomie und die Empfindungen des Körpers. Der Raum ist demnach etwas Körperliches und kann nur über die körperlichen Organe wahrgenommen werden.1411 Schmarsow dagegen geht in seiner 1894 in Leipzig gehaltenen Antrittsvorlesung mit dem Titel „Das Wesen der architektonischen Schöpfung“ von der Grundlage der körpereigenen Richtungen (oben/unten, vorne/hinten, links/rechts) für den gebauten Raum aus und denkt dabei oft vom Akt der Produktion her: „Mit der fühlbaren Aufrichtung – wenn 1404 Ströker 1977, S. 17–135. 1405 Ströker 1977, S. 22 f. 1406 Ströker 1977, S. 55. 1407 Ströker 1977, S. 89 u. 95. 1408 Böhme G. 2004, v. a. S. 134 f. 1409 Bachelard 1960, S. 78; „communauté dynamique de l’homme et de la maison“, „La maison vécue n’est pas une boîte inerte. L’espace habité transcende l’espace géométrique“: ders.: La poétique de l’espace, Paris 1958, S. 58. 1410 Meisenheimer 2004, S. 15. 1411 Vgl. Meisenheimer 2004, S. 9 und Dobbe 2006, S. 114. Zu Schmarsow ausführlich: Zug 2006.

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ich so sagen darf – des Rückgrats unserer Anschauung beginnt das architektonische Schaffen in uns“.1412 Das Oben und Unten wird vorgegeben durch das „Höhenlot vom Scheitel an die Sohlen“.1413 Für die Raumgestaltung essenziell sind zudem Bewegung und Blick des Menschen: „Nächst dem Höhenlot, dessen lebendiger Träger mit seiner leiblichen Orientierung nach oben und unten, vorn und hinten, links und rechts bestimmend weiter wirkt, ist die viel wichtigere Ausdehnung für das eigentliche Raumgebilde vielmehr die Richtung unserer freien Bewegung, also nach vorwärts, und zugleich unsers Blickes, durch Ort und Stellung unserer Augen bestimmt, also die Tiefenausdehnung“.1414 Als Beispiel dafür, wie sich die Tiefenachse in der Architektur niederschlägt, wählt Schmarsow die christliche Basilika mit ihrem langen Mittelschiff. Schmarsow entwickelt seine Theorie der Raumanschauung im Sinne einer „Ästhetik von Innen“.1415 Ihm geht es um die Verbundenheit des Innenraums von Gebäuden mit dem Leib. Tritt das Subjekt aus dem Innenraum, findet ein „fühlbarer Umschwung“ statt. 1416 Das Gebäude erscheint von außen betrachtet als „‚Körper außer ihm‘ im allgemeinen Raum, und damit verschieben sich alle Grundsätze für den Außenbau, im Vergleich zum Innenraum“: „Auch bei der Überschau eines abgeschlossenen Bauwerks von Außen her gewinnen wir das Verständnis einer gesetzmäßigen Bildung nur durch den Einblick in die Raumgestaltung von Innen her. Hier trennt sich schaffendes und genießendes Subjekt, Erfinder und Betrachter“.1417 Ziel der Antrittsvorlesung von Schmarsow war es, „die Architektur in den Kanon der schönen Künste und der freien Kunstwissenschaften einzureihen“1418 – aus diesem Blickwinkel muss man seine Unterscheidung zwischen Architekt und Betrachter sehen. Der Betrachter ist bei ihm der ästhetische Genießer, der das Bauwerk als Architekturkunst betrachtet, nicht etwa ein christlicher Kirchenbesucher. Die Phänomenologie differenziert nicht in dieser Weise zwischen Produzent und Rezipient, führt die Architektur jedoch ebenfalls „am Leitfaden des Leibes“.1419 Bernhard Waldenfels unterscheidet in seinen Überlegungen zur Architektur „unter dem Blickwinkel einer Phänomenologie der Leiblichkeit und der Räumlichkeit“ genauer als Schmarsow Raumrichtungen, Raumgrenzen und die Raumgliederung.1420 Die Wichtigkeit der Raumrichtungen, oben und unten, vorne und hinten, links und rechts, orientiert sich wie bei Schmarsow an den Richtungen des menschlichen Körpers. So ist es nach Waldenfels etwa „der Richtungsgegensatz von rechts und links, der – wie schon beim menschlichen Körper – schwächer ausgebildet ist und eine leichtere Vertauschung zuläßt“.1421 Die Raumgrenzen, so Waldenfels, 1412 Schmarsow 2006, S. 472. 1413 Schmarsow 2006, S. 473. 1414 Schmarsow 2006, S. 473 f. 1415 Zitat nach: Lüdecke 2006, S. 455. 1416 Schmarsow 2006, S. 475. 1417 Schmarsow 2006, S. 475 u. 478. 1418 Lüdecke 2006, S. 454 f. 1419 So lautet die Überschrift eines Kapitels von Bernhard Waldenfels: Waldenfels 1999, S. 200–215. 1420 Waldenfels 1999, S. 200. 1421 Waldenfels 1999, S. 203; zum „Oben und Unten“ auch: Merleau-Ponty 1966, S. 285–297; zum oben und unten im Haus s. Bachelard 1960, S. 50 ff.

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unterscheiden den Raum in ein Innen und ein Außen, und dessen Gliederung konstituiert sich über die Abgrenzung von Zimmern, aber auch durch die Anordnung von Dingen im Raum und durch Licht- und Schatteneffekte.1422 Aus dieser Perspektive befinden sich Schwellen als Raumgrenzen und Elemente der Gliederung von Räumen an Schnittstellen des Leib-Raumes. Sie sind unauflösbar mit dem Leib-Subjekt verbunden, denn „[g]äbe es niemanden, der das Haus betritt, so wäre die Vorderfront eine bloße Fläche, und die Tür wäre ein bloßes Loch“.1423 Weder gäbe es dann innen und außen noch den Übergang zwischen ihnen als qualitative Veränderung. Zum Abschluss der Zusammenschau von Leib und Raum in der Forschung ist eine architekturtheoretische Position zu nennen. Wolfgang Meisenheimer formuliert vier „gestische Urphänomene“, die das Erleben von Architektur kennzeichnen: „Es sind dies  die Geste der Aufrichtung (die Vertikale errichten)  die Geste hier! und dort! (Orte setzen)  das Trennen von innen und außen (Grenzen ziehen)  sowie die Gesten für Enge und Weite (Spannung erzeugen)“.1424

Meisenheimer denkt vom erfahrenden Subjekt aus; es geht um die „Korrespondenz von Leib und Architektur, die spontan beeindruckt“.1425 Die Schwelle ist in den phänomenologischen Raumtheorien von Schmarsow, Waldenfels und Meisenheimer der Ort, an dem sich Momente der Erkenntnis dieser Übereinstim­ mungen von Leib- und Raumerfahrung verdichten. Sie scheint als besonders somatischer Ort. Hier gibt es einen „fühlbaren Umschwung“1426 beim Betreten des Innenraums oder beim Übergang in den Außenraum: „die Spannung kippt“.1427 Dem „vitale[n] Interesse des Leibes an der Hülle, an der Haut, am Schutz seiner Sphäre“ und damit dem Aspekt der Grenzziehung entsprechen etwa die Hüllenbildungen der Architektur mit ihren „Ausstülpungen und Einstülpungen“ in Fenstern und Türen.1428 Aus dieser Perspektive ist – wie bereits die Terminologie von „Haut“, „Ausstülpungen und Einstülpungen“ zeigt, die insbesondere an die Späher in Conques denken lässt – abschließend ein erneuter Blick auf die bereits gemachten Feststellungen zur Bildthematik an Portal, Tür und Schwelle zum Chor vielversprechend. In ihrer Erfahrungsstruktur ist die Schwelle doppelt gerichtet, sie erinnert und sie fordert auf. Auf diese Weise öffnet sie innere (imaginäre oder mentale) Räume oder schürt Erwartungen auf das, was jenseits von ihr liegt. Im Kontext der Wahrnehmung einer Tür entspricht dieser doppelten Gerichtetheit ein konkreter doppelter Richtungsimpuls (vor  – 1422 Waldenfels 1999, S. 204 f.; dazu auch Böhme G. 2004, S. 134: der Raum der leiblichen Anwesenheit ist „je nach Situation etwa von Helligkeit und Dunkelheit enger oder weiter“. 1423 Waldenfels 1999, S. 206. 1424 Meisenheimer 2004, S. 25. 1425 Meisenheimer 2004, S. 24. 1426 Schmarsow 2006, S. 475. 1427 Meisenheimer 2004, S. 46. 1428 Meisenheimer 2004, S. 41 u. 70.

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zu­rück), wie er etwa in der Bußliturgie über das Austreiben und die Rekonziliation aufscheint. Als Übergang von einem Raum in einen anderen unterstützt die Schwelle daher auf der Seite des Subjektes die zielgerichtete Bewegung. Dieser Aspekt ist für die Betrachtung von Bildern an Schwellen besonders wichtig, da Bildbetrachtung und Bewegung als Handlungen unterschiedlich stark in den Vordergrund des Bewusstseins treten. Vorstellbar ist an der Kirchentür natürlich auch ein Besucher, der zielstrebig in das Innere der Kirche ge­langen will und dessen Aufmerksamkeit nicht von den Bildern an der Schwelle gefesselt wird. Die Schwelle bietet widersprüchlichen Impulsen Raum. Sie bedeutet immer auch ein „augenblickliches Hemmnis“,1429 eine „Aufforderung zum Langsamsein“.1430 Den Verzögerungscharakter der Schwelle betont auch Waldenfels: „Im Übergang von draußen nach drinnen überqueren wir eine Schwelle, die in älteren Bauformen vielfach durch Schwellbalken markiert wird. Durch das Zögern des Schrittes wird der Ein- oder Austritt deutlich akzentuiert“.1431 Nicht nur das Überwinden des Schwellbalkens, sondern auch andere Handlungen wie das Öffnen der Tür oder das Vorbeilassen eines Herauskommenden lassen die Bewegung an der Schwelle stocken. Bereits in der Verengung der Tür ist der Verzögerungscharakter angelegt.1432 Die Art und Weise, wie von den Bildkünstlern der Hildesheimer Bernwardstür das Türmotiv im Rahmen der Bilderzählung verwendet wird, um ein NochNicht zu vermitteln, entspricht also der Eigenschaft der realen Tür – Bildtechniken und Phänomenologie der Schwelle können ganz konkret zu dem Ziel ineinandergreifen, dem Betrachter ein Verweilen vor den Bildern und damit an der Schwelle nahezulegen. Rückblickend offenbart sich auch in anderen Hinsichten die gegenseitige Unterstützung der Wirkungsweisen von Schwellenbildern und Schwellenraum: Eines der zentralen Schwellenthemen der christlichen Kunst, das Jüngste Gericht mit seiner Doppelwirkung von Mahnung und Verheißung, lässt sich in der zugleich auffordernden und abweisenden Struktur der gebauten Schwelle verankern und dadurch in seiner Wirkung auf den Betrachter verstärken.1433 Diese Kongruenzen zwischen Bild und Schwelle sollen nun aus der Perspektive des Betrachters untersucht werden, um einige Grundsätze einer integrierten bildwissenschaftlichen Schwellenforschung formulieren zu können.

1429 Zur Darstellung der von Adam gerade berührten Paradiesestür auf der Hildesheimer Bernwardstür: Dibelius 1907, S. 28 (wie oben S. 259). 1430 Meisenheimer 2004, S. 69. 1431 Waldenfels 1999, S. 204. Vgl. Benjamin 1982, Bd. 1, S. 142: „Diese Tore – die Eingänge der Passagen – sind Schwellen. Keine steinerne Stufe markiert sie. Aber das tut die wartende Haltung der wenigen Personen. Sparsam abgemessene Schritte spiegeln, ohne daß sie selbst davon wissen, es ab, daß man vor einem Entschluß steht“. 1432 Zur Empfindung von Enge und Weite an der Tür vgl. Meisenheimer 2004, S. 45 f. 1433 Vielleicht kann man in der bereits zitierten Behauptung Kendalls, mittelalterliche Besucher der Fideskirche in Conques seien sicherlich nicht unter dem Bereich der Hölle durch die rechte Tür des Westportals in Conques eingetreten, die – wenngleich natürlich nachmittelalterliche – Konsequenz einer solchen Verknüpfung der stark nach Achsen strukturierten Ikonographie des Jüngsten Gerichts mit der leibbezogenen Logik der Schwelle und ihrer Benutzung durch den Betrachter sehen. Kendall 1998, S. 93, vgl. oben 6.1.1, S. 218 f.

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7.2 Der ‚bewegte Betrachter‘ Der doppelte Richtungsimpuls der gebauten Schwelle entspricht einer zielgerichteten und gelenkten Bewegung dessen, der sich ihr nähert und sie überschreitet. Zugleich stockt diese Bewegung durch den Verzögerungscharakter des Übergangs an der Schwelle selbst. Was bedeuten diese gegenläufigen Impulse für den Akt der Betrachtung von Bildern an Schwellen? Während kunstgeschichtliche Fragestellungen meist eine Betrachtung aus einer unbewegten Position voraussetzen, soll hier von dem selten erörterten Fall eines bewegten Betrachters ausgegangen werden.1434 Da das Betreten eines gebauten Raumes über eine Schwelle auf Bewegung beruht, ist auch die Wahrnehmung von Bildern im Schwellenraum an Bewegung gekoppelt. Mit anderen Worten: Der Betrachter von Bildern an Schwellen bewegt sich und wird durch die Bilder bewegt. Zu fragen ist also nach dem Wechselverhältnis bzw. dem Ineinandergreifen der Impulse, die einerseits von der Disposition der Bilder ausgehen, andererseits von den Wahrnehmungsumständen des Betrachters herrühren, die an gebauten Schwellen von architektonischen Gegebenheiten und von der Eigenbewegung des Betrachters beeinflusst werden. Zum einen sind demnach Bildstrategien zur Blick- und Körperlenkung des Betrachters zu thematisieren, zum anderen ist der Anteil zu berücksichtigen, den der Betrachter über seine Bewegungen und seine Wahrnehmung selbst beisteuert bzw. der durch die Schwellensituation räumlich gegeben ist. Zur Interaktion des Betrachters mit dem Bild kommt mit der Kategorie des Raumes ein weiterer Aspekt hinzu. Im Betrachtungsprozess greifen alle diese Aspekte ineinander: Sehaufgaben verknüpfen sich mit Bewegungs- und Handlungsaufgaben im Raum. Die gewonnenen Erkenntnisse zu einzelnen mittelalterlichen Beispielen werden daher hier erneut, und zwar im Hinblick auf die Interferenzen und Interdependenzen z­ wischen Bild und Raum ausgewertet. Dabei soll die Bandbreite der visuellen, taktilen und leiblichen Erfahrungen von und an gebauten Schwellen deutlich gemacht werden. Im Schwellenraum findet die äußere und innere ‚Einstellung‘ des Betrachters auf den Raum dahinter statt. Zusätzlich zur äußeren ist im Folgenden immer auch nach der inneren Bewegtheit des Betrachters – der über die Bilder in Gang gebrachten Imaginations- und Gefühlswelt – zu fragen. Mit dem ‚bewegten Betrachter‘ ist also einerseits der sich bewegende Betrachter gemeint, wie er an einem gebauten Übergang notwendigerweise gegeben ist, andererseits der über die Bilder körperlich und in seinem Inneren bewegte Betrachter. So selbstverständlich die Annahme eines körperlich bewegten Betrachters für eine Untersuchung von bebilderten Schwellen scheint, so selten ist sie bisher in der kunsthistorischen Forschung tatsächlich eingesetzt worden. Grundlegend ist aus mediävistischer Sicht der 1987 erschienene Aufsatz von Robert Suckale zu den Bamberger Domskulpturen: In seiner Studie zeigt Suckale, wie die Skulpturen des Fürstenportals1435 „den Betrachter [zwingen], sich zu 1434 Vgl. Gerhard Graulich, der in seiner Studie zur „leiblichen Selbsterfahrung des Rezipienten“ zwischen einer „optisch-meditativen (Anschauungsbezug)“ und einer „haptisch-motorischen (Handlungs­ bezug)“ Rezeptionsweise unterscheidet: „Doch wird zumeist in kunstgeschichtlichen Erörterungen die optisch-meditative Haltung allein pointiert, da die haptisch-motorische als selbstverständlich und wenig aussagekräftig“ gilt: Zitate s. Graulich 1989, S. 28. 1435 Zur Benennung des Fürstenportals und Erkenntnissen, die sich darüber aus Quellen gewinnen lassen, s. Kroos 1976, S. 110–112. Da es hier um das Konzept des ‚bewegten Betrachters‘ geht, wird der

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drehen, ja, vorwärts und rückwärts zu gehen. Sie bannen ihn nicht auf einen Standpunkt, sondern setzen ihn in Bewegung“ (Abb. 169).1436 Der ‚bewegte Betrachter‘ ist hier also zunächst der durch die Skulpturen – genauer durch deren Aufstellungsweise, Ansichtigkeit und Gesten – körperlich in Bewegung versetzte Betrachter. Suckales Aufsatz schließt an kunstgeschichtliche Studien vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts an. Er greift besonders auf die Publikationen Wilhelm Vöges und Wilhelm Pinders zurück. Sein erklärtes Ziel ist es, „Vöges Ansatz wieder fruchtbar werden“ zu lassen.1437 Die Untersuchung der Ansichtigkeit der Skulpturen und der sich daraus ergebenden Betrachterstandpunkte leitet sich bei Suckale aus dem Ziel ab, die Skulpturen des Doms einzuordnen in eine Geschichte der in Bamberg tätigen Bildhauer und der Entwicklung ihrer Techniken. Sein Ziel ist also zunächst einmal ein traditionelles: die Beantwortung von Datierungsfragen.1438 Suckales Studie ist zudem im Lichte seiner Kritik an der Methodik der zeitgenössischen Kunstwissenschaft zu lesen. Gleich zu Beginn seiner Studie stellt Suckale fest: „es wird sich zeigen, daß das Studium der ‚technischen Bedingnisse‘, der ‚Schritt in die Werkstatt des Künstlers‘ näher an das Künstlerische führt als traditionelle Stilanalyse und Ikonographie“.1439 Suckale warnt „vor einem Stilbegriff, der immer das Unbewußte, das ‚Gewachsene‘, den ‚Einfluß‘ betont und letztlich den Künstlern abspricht, daß sie bewußt gestalten“.1440 Die Parallelen zu Vöge sind an dieser Stelle besonders deutlich. Schon Vöge hatte Viollet-le-Duc dafür kritisiert, dass dieser äußere Einflüsse für den Stil der Kathedralskulptur verantwortlich machte, „statt den Grund dafür [...] in den eigentümlichen Bedingnissen mittelalterlicher Produktion [zu suchen]“.1441 Der Stil ist nach Vöge „niemals eine Folgeerscheinung äußerer Einflüsse, sondern das Geschöpf des künstlerischen Geistes“.1442 Ganz explizit geht es auch Suckale um eine Thematisierung der Künstlerintention und einer davon ausgehenden Gestaltungsweise. Auf diesem Wege gelangt er zu überzeugenden Ergebnissen zur Blick- und Bewegungslenkung des Betrachters am Portal. Seine im Folgenden wiedergegebenen Beobachtungen rühren also nicht etwa von einer explizit rezeptionsästhetischen Perspektive auf das Portal her, sondern sind auf das Ziel zurückzuführen, traditionelle Fragen der Kunstgeschichte wie die der Datierung und der Händescheidung zu beantworten und die Künstlerintention zu determinieren.

Forschungsstand zum Fürstenportal außer acht gelassen. Umfassend zur älteren Forschungsliteratur äussert sich in dieser Hinsicht Suckale selbst; Studien zur gesellschaftlichen und politischen Struktur des mittelalterlichen Bamberg berücksichtigt: Rowe 2006. 1436 Suckale 1987, S. 54. „Zwingen“ ist der von Suckale gewählte Begriff. 1437 Suckale 1987, S. 27. 1438 Bamberg ist in dieser Hinsicht ein besonders wichtiges Beispiel, weil sich an Fragen der Datierung der Skulpturen des Doms wesentliche Thesen der Kunstgeschichte zur Entwicklung der Gotik in Frankreich und Deutschland knüpfen. Vgl. z. B. Feldmann 1992 zum Verhältnis Bamberg-Reims, einem zentralen (und traditionellen) Thema der Bamberg-Forschung. 1439 Suckale 1987, S. 27. 1440 Suckale 1987, S. 59. 1441 Vöge 1894, S. xvi. 1442 Vöge 1894, S. 58.

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169 Nordportal (sog. Fürstenportal), Dom, Bamberg, um 1220–um 1227.

Für das Fürstenportal arbeitet Suckale heraus, dass es „frontal, mit Blickrichtung auf das Tympanon betrachtet sein“ will.1443 Das, so Suckale, belegten Details wie die Anbringung der Schlüssel als Attribut der Petrusfigur links der Tür, die nur aus der frontalen Ansicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen (Abb. 169).1444 Der Blick direkt auf das Gewände sei nur eine „Nebenansicht“,1445 wenn auch eine, die über die nach Suckale später entstandenen Gewändefiguren der rechten Seite aufgewertet und schließlich in den äußeren drei Figurenpaaren zur Hauptansicht bestimmt werde, was einen „Riß nicht nur innerhalb des Gewändes, sondern in den Sehgewohnheiten überhaupt“ bedeute (Abb. 170 und Abb. 171).1446 Weil Suckale sein Augenmerk nacheinander auf die Propheten-Apostel-Gruppen richtet, um diese unterschiedlichen älteren oder jüngeren Bildhauergruppen zuzuschreiben, ist sein Blick sensibilisiert für die Unterschiede zwischen den jeweiligen Paaren. So fällt seiner Meinung nach die äußerste Gruppe des rechten Gewändes aus dem Rahmen; ihre „übertriebene Dynamisierung“ – der „Rauschebart, den der Prophet wie Moses zaust“ und das „Auseinanderstreben der Figuren“ – „ergibt [...] einen falschen Ton“ und verletze „den Zusammenhalt des Gewändes“.1447 Diesem „jüngeren Steinmetz“1448 spricht er also das ab, was er den übrigen Bildhauern erstmals in der Geschichte der Bamberg-Forschung zugestehen will: ein bewusstes Gestalten. 1443 Suckale 1987, S. 44. 1444 Ebd. 1445 Suckale 1987, S. 45. 1446 Suckale 1987, S. 46 f., Zitat S. 47. Suckale kritisiert, dass fotografische Aufnahmen oft nur den Blick direkt auf das Gewände zeigten: Suckale 1987, S. 44. 1447 Suckale 1987, S. 48. 1448 Ebd.

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170 Rechtes Gewände, Fürstenportal, Dom, Bamberg, um 1220–um 1227. Blick von Norden.

171 Rechtes Gewände, Fürstenportal, Dom, Bamberg, um 1220–um 1227. Blick direkt auf das Gewände von Osten.

Lenkt man den Blick weniger auf stilistische Unterschiede zwischen den Figuren, sondern fokussiert statt dessen, inwieweit sie sich in die phänomenologische Bewegungslogik des Portals einfügen, dann zeigt sich, dass sich auch diese Gruppe in das Gewändeganze einfügt und die Art der Betrachterlenkung unterstreicht, die Suckale für das Portal herausarbeitet: Das jeweils äußerste Figurenpaar fungiert auf beiden Gewändeseiten als Scharnier, über das Schritt und Blick des Betrachters in Richtung Tympanon gelenkt werden. Die Handlungen des Blickens und Schreitens verbindet der Apostel der rechten Gruppe selbst durch seine gegenläufige Körper- und Kopfwendung miteinander. Er ist damit ebenfalls eingebunden in

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den Lenkungsbogen des Portals, wie ihn Suckale lediglich für die gegenüberliegende, linke Seite erarbeitet: „Für den von der Stadt, also von Osten, Kommenden ist Ecclesia die erste Figur. [...] Der Prophet darunter [...] spricht den Betrachter an und fordert ihn durch seine Körperdrehung und Gebärden auf, um die Figur herumzugehen und sich dem Portalinneren zuzuwenden“.1449 Blickt der von Osten kommende Betrachter nicht auf die Figuren, die ihm am nächsten sind, sondern fixiert die Skulpturen der rechten Gewändeseite, auf die seine Sicht aus diesem Blickwinkel freier ist (Abb. 171), dann wird er vom Blick des äußersten Propheten getroffen und zugleich über die Schrittstellung des Apostels aufgefordert, sich dem Portalinneren zuzuwenden. Die Skulpturen des linken wie des rechten Gewändes beziehen sich also auf den von links kommenden Betrachter und leiten ihn nach innen. Auch die Geste des Bart-Zausens sticht aus der Ansicht frontal auf das Portal nicht als ‚falsch‘ hervor: Betrachtet man sie gemeinsam mit den Armbewegungen der nächsten beiden Propheten, dann lässt sich die Reihe als graduelle Ausführung einer Bewegungsabfolge verstehen – das Senken des Arms –, die ebenfalls den Blick Richtung Mitte lenkt. Aus der Perspektive der Schwelle als Bewegungsraum vereinen Apostel und Prophet der rechten äußeren Gruppe in ihrer auseinanderstrebenden Schrittstellung den doppelten Richtungsimpuls der Schwelle: Auch ein den Portalraum verlassender Betrachter wird in seiner Bewegung parallelisiert. Die Gruppe fungiert als Scharnier der Bewegungsrichtungen an der Schwelle. Der Prophet macht einen Schritt nach außen und präsentiert dabei eine offene Schrittstellung im Gegensatz zum Apostel über ihm. Durch die Geste des Propheten, die auf eine innere, erregte Beschäftigung mit etwas schließen lässt, scheint er den Betrachter zu einem auch über dessen weiteren Weg andauernden Nachdenken aufzufordern. Die beiden Figuren vereinen mehrere Aspekte des Wegeraums, des Richtungs- und Bewegungsraums der Schwelle, wie er durch den Betrachter wahrgenommen wird: als Raum doppelten, nämlich gegenläufigen Bewegungsimpulses und als Raum der Beeinflussung der inneren und äußeren ‚Einstellung‘ des Betrachters. Suckale selbst hebt die doppelte Gerichtetheit des Portals hervor, wenn er das Tympanon als „Endpunkt und Ausgangspunkt eines Weges“ bezeichnet (Abb. 172).1450 Er kontrastiert es mit dem nur wenige Jahre zuvor entstandenen Gnadenportal: Im früheren Tympanon „war die Hierarchie selbst Gegenstand sorgfältiger Inszenierung“ – im Fürstenportal „wird sie ignoriert, mehr noch, sie wird verworfen“.1451 Verdammte und Erwählte sind größer als die knienden Interzessoren Maria und Johannes; der Weltenrichter überragt den Teufel nur um ein Weniges. Suckale folgert: „Aber es kam dem jüngeren Künstler (und seinen Auftraggebern) eben auch auf anderes an: zu erschüttern, zur Umkehr aufzurufen, vor dem drohenden Gericht zu warnen“.1452 Die Doppeldeutigkeit des ‚bewegten Betrachters‘ wird bei Suckale damit zumindest angedeutet: Das Tympanon mit dem Jüngsten Gericht „appelliert zwar an seine Nachdenklichkeit, aber über seinen Wirklichkeitssinn; es ist weniger eine gedankliche Konstruktion, sondern es zielt auf sein Herz über seine Augen“.1453 Erinnert sei 1449 Suckale 1987, S. 55. 1450 Ebd. 1451 Suckale 1987, S. 51. 1452 Suckale 1987, S. 51 f. 1453 Suckale 1987, S. 54.

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172 Jüngstes Gericht, Tympanon des Fürstenportals am Bamberger Dom, um 1220-um 1227.

hier an zwei Punkte, die an anderer Stelle ausführlicher erörtert worden sind: erstens an die besondere Relevanz des Jüngsten Gerichts als Portalthema, dessen Verheißungs- und Mahnungsstrukturen sich mit der entsprechenden Logik der Schwelle verknüpfen lassen; ­ zweitens an die mittelalterlichen Vorstellungen über die Augen als Öffnungen des Herzens, auf die Suckale hier vermutlich anspielt. Während der Betrachter sich auf das Portal zu bewegt und sich durch dieses hindurch bewegt, soll er auch in seinem Inneren affektiv bewegt werden; er soll sich selbst als vor dem Richter stehend imaginieren – nicht umsonst wendet sich der Posaunenengel über dem Gewände direkt an den Betrachter und nicht an die Auferstehenden unter dem Thron des Weltenrichters – und, wenn er sich auf dem Weg der Sünde befindet, soll er innerlich kehrtmachen, um nicht auf der Seite der Verdammten zu enden. Problematisch erscheint die Leseweise Suckales aus einer sich eng an den historischen Überlieferungen orientierenden Perspektive. So gibt es in den zwei bekannten Ordinarien zum Bamberger Dom aus dem 13. Jahrhundert lediglich Hinweise darauf, dass man bei Prozessionen in die Stadt, nach St. Jakob, St. Stephan oder St. Michael aus den Ost- oder Nordportalen heraus ging.1454 Im Bamberger Heiltumsbuch von 1493 ist eine Osterprozession mit dem Heinrichsschrein dargestellt, die von der Nordseite der Kirche her um den Georgenchor herum in das Südostportal, also in die sogenannte Adamspforte einzieht.1455 Aufgrund dieser Quellen können zwei unterschiedliche Konsequenzen gezogen werden, deren Gegenüberstellung die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit noch einmal besonders deutlich hervortreten lässt: Einerseits kann man die historisch belegbare Rezeptionssituation als Widerspruch zu Suckales Interpretation des Fürstenportals sehen, nach der das Portal den Betrachter anzieht – wenn nicht gar als Widerlegung seiner Auffassung.1456 Andererseits lässt sich argu1454 Kroos 1976, S. 110. Die Domordinarien befinden sich in der Staatsbibliothek Bamberg (Ms. lit. 116) u. im Bayerischen Staatsarchiv Bamberg (Bamberger Domkapitel B 86 Nr. 241). 1455 Abb. bei: Kroos 1976, S. 113, Abb. 2 (München, Bayerische Staatsbibliothek, Cod. lat. 428, fol. 253v). 1456 So Johannes Tripps, dem ich den Hinweis auf die von Kroos zusammengetragenen Quellen verdanke (Tagung „Performativität und Medien der Erinnerung“ der AG Performativität des SFB „Erinnerungskulturen“ in Gießen, Justus-Liebig-Universität, 14.–15. November 2008).

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mentieren, dass sich mögliche Wahrnehmungsweisen von Portalen nicht nur aus den durch Quellen belegten Zugangsweisen ergeben, die darüber hinaus die Betrachtung auf einen spezifischen liturgischen Kontext beschränken. Zunächst einmal geht es vielmehr darum, festzustellen, dass im Phänomen des Eingangs immer schon die Möglichkeit der Überschreitung angelegt ist. Diese Aufforderung wird etwa in Bamberg durch die Bilder unterstützt. So lange ein Portal im Mittelalter allgemein zugänglich oder sichtbar war, kann – auch wenn bekannt ist, dass das Portal nicht zu jeder Zeit überschreitbar war – ein solcher Aufforderungscharakter angenommen werden.1457 Auch Linda Seidel formuliert ganz allgemein, „doors don’t actually have to function at all in order to make suggestions to spectators about their roles“.1458 Die methodische Balance zwischen phänomenologisch perspektivierter Grundannahme der Schwellenwirkung und funktions- oder liturgiegeschichtlichem Rahmen, zwischen rezeptionsästhetischen Interessen und rezeptionshistorischen Bedingungen1459 ist für jedes Beispiel gesondert zu finden. Für Bamberg etwa stellt Nina Rowe die hieran anknüpfende Frage nach dem Erwartungshorizont einer bestimmten Gruppe von historischen Betrachtern, denen es tatsächlich möglich war, das Fürstenportal zu betrachten: den Klerikern.1460 Fragt man über Suckales Studie und deren Rezeption in der Mediävistik1461 hinaus nach der Thematisierung eines ,bewegten Betrachters‘ in der Kunstgeschichte, dann zeigt sich, dass dieser Aspekt bisher vor allem in Bezug auf die Kunst des Barock und des Kubismus und im Kontext der postminimalistischen Skulptur und der neuen Medien diskutiert worden ist.1462 Bereits Dagobert Frey hat hinsichtlich der spanischen Barockplastik hervorgehoben, 1457 Bei Eingängen, die in ihrer Sichtbarkeit und Benutzbarkeit auf einen speziellen Personenkreis beschränkt waren, wie etwa die Nord- und Südportale der Kathedrale von Paris, die nur von bestimmten Klerikern (Nord) und nur vom Bischof (Süd) benutzt wurden, ergibt sich allerdings eine andere Situation, in der bildinhärente Betrachterlenkung und Wirkung der Schwellenbilder auf einen speziellen Rezipientenkreis beschränkt sind. 1458 Seidel 1994, S. 291. 1459 Zur Abgrenzung der Rezeptionsästhetik mit ihrem Interesse am „impliziten Betrachter“ von den Disziplinen der Rezeptionsgeschichte und Rezeptionspsychologie, die sich dem „realen Betrachter“ widmen: Kemp 1985 A, S. 20–24. 1460 Sie bezeichnet das Portal als „chief ceremonial entryway“, ohne zu den Quellen Stellung zu beziehen, die das Portal lediglich als Ausgang belegen: Rowe 2006, S. 15. Gelegenheit zur Betrachtung des Portals im Mittelalter gaben darüber hinaus auch die Gerichtssitzungen an der Nordseite: Erler 1954, S. 30–32. 1461 Erwähnung findet Suckales Studie bei Claussen 1994, S. 670–672 zu Bamberg; S. 666 zum „Konzept ‚Figurenportal‘“. Für Studien, die sich auf die methodischen Konsequenzen beziehen, die sich aus Suckales Analyse ergeben, s. Rasche 1996, die die Passionsreliefs am Naumburger Westlettner unter dem Aspekt der Ansichtigkeit untersucht (zu Suckale ebd., S. 375, Anm. 21), und – wie noch ausführlicher zu diskutieren sein wird – Morsch 2004 u. Grandmontagne 2005. 1462 Dobbe 2006, mit den Schwerpunkten barocke und postminimalistische Skulptur. Zum Barock s. außerdem: Burda-Stengel 2001; zum Kubismus: Weibel 1990, S. 171; zu den neuen Medien: Hünnekens 1997; außerdem vgl. Neuner S./Pichler 2005 zu Tintoretto; und vgl. den Sammelband Jeschke/ Bayerdörfer 2000 zur Thematik aus theaterwissenschaftlicher Sicht. Eine umfassende Übersicht über die „Anerkennung des Betrachters“ in der Kunstgeschichtsschreibung des letzten Jahrhunderts auch bei: Grandmontagne 2005, S. 85–91 (= Kapitel III; Zitat aus dem Titel).

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„daß sie auf den Betrachter gerichtet ist, daß sie ihn anspricht“.1463 Die Tagung „Barock/ Bewegung“ in Einsiedeln (29. Juni  – 3. Juli 2008) trug das Thema schon im Titel und enthielt eine Sektion mit der Bezeichnung „Bewegte Objekte und bewegte Betrachter“. Thomas Hensel, der 2002 in einem Aufsatz einen kurzen Überblick über den „sich bewegenden“ Betrachter mit dem Medium Film als Endpunkt präsentiert, beschränkt sich auf Bildmedien und Apparate seit der frühen Neuzeit, obwohl er auch den Teppich von Bayeux als „Bildfries“ knapp erwähnt.1464 Zwei Publikationen gehen in Bezug auf mittelalterliche Kunst näher auf das Konzept des ,bewegten Betrachters‘ ein und stützen sich dabei explizit auf Suckales Überlegungen: Carsten Morsch hat sich 2004 in einem Aufsatz mit der Übertragbarkeit des Konzepts auf mittelalterliche narrative Texte, konkret: auf einen Artusroman des 13. Jahrhunderts beschäftigt;1465 daneben hat Michael Grandmontagne in seiner 2005 publizierten Dissertation Sluters Portal der Kartause von Champmol unter dem Aspekt des „betrachter-relevanten Entwurfs“ analysiert.1466 Beide Autoren vergleichen aus unterschiedlicher Perspektive, mit unterschiedlicher Zielsetzung und unabhängig voneinander die Rezeption von Texten mit der Rezeption von Portalskulptur. Morsch strebt nach einer „Poetik mittelalterlicher Texturen, die – auf kinästhetischer Erfahrung aufbauend – die Kunst der Lektüre mit einer Kunst der Bewegung zusammenschließt. [...] Die Frage nach bewegten Betrachtern gilt in diesem Sinne der Produktion und Repräsentation von kinästhetischen Routinen im Medium höfischer Dichtung, den noch im historischen Abstand faßbaren poetischen Strategien also, die Wahrnehmungserfahrungen nicht nur ausstellen und vorführen, sondern dem Rezipienten zugleich zur Übernahme anbieten“.1467 Den Strategien zur Betrachterlenkung am Portal, die Suckale beschreibt, entsprechen nach Morsch die Strategien zur Lenkung des Lesers, dessen Bewegungen allerdings im Inneren, im Raum seiner Imagination stattfinden. Bei Grandmontagne erscheint die Rezeptionsanalogie des Lesens bereits im Titel – die „Lesbarkeit mittelalterlicher Skulptur“  – und zieht sich durch die gesamte Arbeit. Die Anordnung der Portalskulpturen Sluters und die Bewegung des Besuchers vereinen sich in einer Rezeptionsweise, die er das „in-der-Folge-Betrachten“ nennt. 1468 Dass diese nach Grandmontagne dem Lesevorgang ähnelt, geht aus weiteren Formulierungen hervor: Man könne in der Betrachtung des Portals „noch einmal einige ‚Zeilen‘ zurückspringen und sich so wichtige Passagen ein weiteres Mal ‚durchlesen‘“.1469 Die These der Lesbarkeit von Skulptur stützt Grandmontagne auf drei Überlegungen: Erstens arbeitet er die Bedeutung der Lektüre für die Meditation in Mönchsorden generell heraus und weist nach, dass Laien die gleichen Praktiken geläufig waren. Zweitens zieht er mehrere Quellen heran, um die „Äquivalenz von Schrift- und Bildlektüre“ im Mittelalter zu zeigen, aus der die gemeinsame Ziel1463 Frey 1976, S. 215. 1464 Hensel 2002, Zitat Titel u. zu Bayeux S. 58. 1465 Morsch 2004, S. 47–52 zu Suckale; im Anschluss an Morsch s. auch Wenzel 2007 B. 1466 Grandmontagne 2005, S. 235–274 (= Kapitel VI; Zitat aus dem Titel); die Formulierung „bewegter Betrachter“ schon auf S. 11, zu Suckale: S. 238 f. 1467 Morsch 2004, S. 47 u. 46 (seine Hervorhebung). 1468 Grandmontagne 2005, S. 12. 1469 Grandmontagne 2005, S. 124.

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setzung der unterschiedlichen medialen Lektüre-Arten folge – nämlich der mystische Aufstieg der Seele zu Gott. Drittens nennt er weitere Beispiele mittelalterlicher Skulptur aus der Zeit Sluters, in denen ein „betrachter-relevanter Entwurf“ zu erkennen ist.1470 Insgesamt gelingt es Grandmontagne, zahlreiche Quellen zusammenzutragen sowie neue und aufschlussreiche Aspekte der Skulpturen Sluters herauszuarbeiten. Allerdings werden die spezifischen medialen Unterschiede zwischen Text, Malerei und Skulptur und darüber hinaus der Lektürebegriff des Bildes nicht infrage gestellt. So beruft sich Grandmontagne etwa im Kontext seiner skulpturspezifischen Fragestellung auf das Diktum Gregors des Großen, der sich in seinem Brief an den Bischof Serenus auf Wandmalereien bezieht, ohne die Frage nach der Übertragbarkeit von Gregors Einschätzung der Malereien als „Schriftersatz für die Illiteraten“1471 auf Portalskulpturen zu stellen; die Übertragbarkeit wird lediglich mit den Bemerkungen Bernhards von Clairvaux belegt, der in seiner Apologie an den Abt Wilhelm das Lesen von Codices mit dem Lesen im Marmor vergleicht.1472 Doch gerade die Antwort auf die Frage, inwieweit das Leseparadigma für die Wahrnehmung von Skulpturenportalen hilfreich ist, wäre aufschlussreich. Auch Morsch analysiert nicht, warum sich Skulptur und Literatur in ihren Möglichkeiten zur Rezipientensteuerung angeblich so gut vergleichen ­lassen. Bei ihm heißt es lediglich: „Stellvertretend für extramentale Bilder soll mit ein paar Eindrücken vom sog. Fürstenportal [...] deutlich werden, wie Bildhauer bereits im Mittelalter an einen bewegten Betrachter gedacht haben“.1473 Darüber hinaus wird meiner Ansicht nach sowohl bei Morsch als auch bei Grandmontagne das Wechselverhältnis zwischen der Aktivität des Betrachters und seiner passiven Aufnahme und Umsetzung der von den Bildern ausgehenden Impulse zu wenig diskutiert, so dass die spezifische leibliche Involvierung des Betrachters bei der Portalrezeption durch die Leseanalogie sehr in den Hintergrund rückt. Auch Suckale geht es um den über die ‚Impulse‘ der Skulpturen bewegten Betrachter. Am Portal ist es die Ansichtigkeit der Skulpturen, die den Betrachter immer wieder neu als ihr Gegenüber positioniert. Suckale und Grandmontagne arbeiten für die Skulpturen in Bamberg und Dijon verschiedene Haupt-, Neben- und Schlussansichten der einzelnen Skulpturen heraus. Das sogenannte Aspektproblem, das heißt die Frage nach der Ansichtigkeit von Skulptur, wird seit dem 16. Jahrhundert diskutiert.1474 Im 19. Jahrhundert geht es bei der Frage nach den Ansichten von Skulptur meistens um die wissenschaftliche ‚Entdeckung‘ einer Hauptansicht, die der Bildhauer festgelegt haben soll und aus der folglich die Skulptur betrachtet werden 1470 Grandmontagne 2005, Kapitel IV, V, VI; Zitate s. Überschriften zu V und VI. 1471 Grandmontagne 2005, S. 202. 1472 Grandmontagne 2005, S. 217–224. S. Die Bemerkungen Bernhards beziehen sich auf den Kapitelschmuck eines Kreuzgangs, in dem sich „überall eine so große und so seltsame Vielfalt verschiedener Gestalten [zeigt], daß einem mehr die Lust ankommt, in den Marmorbildern statt in den Codices zu lesen“ („Tam multa denique, tamque mira diversarum formarum apparet ubique varietas, ut magis legere libeat in marmoribus, quam in codicibus“): Bernhard von Clairvaux 1992, S. 196 (lat.) u. 197 (dt.). 1473 Morsch 2004, S. 47 (seine Hervorhebung). 1474 Z. B. von Benvenuto Cellini. Kontext der Diskussion im Cinquecento ist der Paragone von Malerei und Skulptur. Cellini argumentiert, dass die Skulptur im Vergleich zur Malerei den Vorteil habe, dass sie mehrere Ansichten zeigen könne, während die Malerei meist nur eine Ansicht wiedergebe. Zum Aspektproblem im Kontext einer “Medien- und Bildästhetik von Skulptur” s. Dobbe 2006, S. 110 f.

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‚muss‘, und um die ‚Entdeckung‘ einer oder mehrerer Nebenansichten.1475 Ansichtigkeit ist in erster Linie eine künstlerische Gestaltungstechnik. Da er das künstlerische (Selbst-) Bewusstsein der Bamberger Bildhauer aufweisen will, geht auch Suckale von der Festlegung einer Haupt­ ansicht durch die Bildhauer aus.1476 Wenn er aber argumentiert, „[d]ie Blickwendung des Betrachters auf die Gewände an sich führt von dem Sinn ebenso weg wie von der künstlerischen Intention“,1477 so ist dies jedoch eben die Ansicht, die sich dem von der Stadt aus nahenden Betrachter zuerst bietet, und über die er nach Suckale erst auf das Innere gelenkt wird. Die Position des Portals in der architektonischen oder städtebaulichen Umgebung muss daher bei einer Untersuchung der bewegten Annäherung, der sich daraus ergebenden Bilder und deren Wahrnehmung ebenfalls Berücksichtigung finden. Auch Grandmontagne arbeitet in seiner Dissertation den Annäherungsweg des Betrachters an das Portal der Kartause heraus, wie er sich zur Zeit der Skulpturen präsentiert hätte.1478 Dieser Weg rückt allerdings in der Beschreibung des Portals aus der Betrachterperspektive in den Hintergrund, während die verschiedenen Ansichten der Skulpturen im Zentrum stehen. Die Schwierigkeit, Bildästhetik und Baugeschichte des Portals, und damit künstlerisch erwünschte und räumlich bedingte Rezeptionsweise miteinander zu verbinden, löst Grandmontagne geschickt dadurch, dass er zwei Portalbeschreibungen vornimmt, in denen jeweils einer der beiden Aspekte im Vordergrund steht.1479 Eine Konsequenz der weitgehenden Beschränkung der Diskussion des bewegenden und lenkenden Aspekts der Portalskulptur auf die Ansichtigkeit liegt darin, dass Suckale und Grandmontagne die Skulpturen des Fürstenportals und des Portals der Kartause im Hinblick auf eine Bewegung des Betrachters von anderen Arten der Schwellenbebilderung abgrenzen müssen. Nach Suckale hebt sich die Bamberger Skulptur von der einansichtigen französischen Plastik ab: „In Frankreich hat die gotische Statue immer eine Hauptansicht, sie ist nie frei rundansichtig. [...] Bei Kultbildern und anderen Frontalität fordernden Werken, zum Beispiel Trumeaustatuen, wurde von diesem Prinzip nie abgewichen“.1480 Grandmontagne spricht zwar das Relieffries in seiner Fußnote zum „betrachter-relevanten Entwurf“ an, meint aber, dass es vom Betrachter lediglich ein „zeilengerechtes Ablesen“ fordere, ansonsten aber „ein geringes Auflösungsvermögen speziell skulpturaler Gestaltungsmöglichkeiten verlangt. Alleine das Entziffern einer Bilderschrift wird von ihm erwartet. [...] Der sich annähernde bewegte Betrachter, ebenso wie die vom materiellen Bestand abstrahierende Sehleistung, scheint [...] dagegen bei diesen Beispielen kein gesonderter Gegenstand künstlerischer Behandlung gewesen zu sein“.1481 1475 Dobbe 2006, S. 111. Der Eindruck der Notwendigkeit einer bestimmten Betrachtungsabfolge entsteht auch bei Grandmontagne 2005, S. 89: „So wie man einen Text von seinem Anfang her auffassen muss, verlangen mehransichtige Skulpturen vom Betrachter dasselbe“. 1476 „Der Bildhauer nahm jedoch einen rechteckigen Block, auf dessen Längsseite projizierte er die Hauptansicht“: Suckale 1987, S. 44. 1477 Suckale 1987, S. 45. 1478 Grandmontagne 2005, S. 56–63. 1479 Grandmontagne 2005, Kap. II und III, S. 19–162. 1480 Suckale 1987, S. 60. 1481 Grandmontagne 2005, S. 235–237, Anm. 520, Zitat S. 237; besonders im Hinblick auf die von Grandmontagne verwendete Rezeptionsanalogie der Lektüre für die Betrachtung von Portalen überrascht hier etwas die negative Konnotation des Lesens.

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An dieser Stelle grenzt sich die Vorgehensweise der vorliegenden Studie im Rahmen einer integrierten Schwellenforschung erneut von der Vorgehensweise Suckales und Grand­ montagnes ab. Die Betrachterrelevanz wird nicht von Anfang an auf einen bestimmten Zeitraum,1482 eine bestimmte Kunstlandschaft oder eine bestimmte Gattung – noch spezifischer: die Statue – beschränkt. Stattdessen gilt das Primat des Ortes: Der ‚bewegte Betrachter‘ ist weder als Bamberger Einzelfall1483 noch ausschließlich als Ergebnis einer auf die Künstlerintention zurückzuführenden Gestaltungstechnik (Suckale, Grandmontagne) zu werten, sondern generell als Phänomen der gebauten und bebilderten Schwelle. Der Betrachter an der Schwelle ist a priori ein sich körperlich bewegender Betrachter. Durch die Fokussierung des Betrachtungsprozesses über den Ort ist es möglich, nicht nur Gewände- und Trumeauskulpturen oder Statuen, sondern zum Beispiel auch Reliefs unter dem Aspekt der Bewegung zu analysieren. Auch das Relief im Portalbereich, um das der Betrachter nicht in derselben Weise herumgehen kann wie um eine Skulptur, bietet Formen der bewegten Erschließung, etwa das ­Darunter-Hindurchgehen oder das Daran-Vorbeigehen. Schon romanische Portalreliefs, wie etwa die Züge der Seligen und Verdammten in Arles (Abb. 87 und Abb. 88) oder das Jagdfries in Cahors (Abb. 97 und Abb. 98), gehen auf diese Bewegungsformen ein. In späteren Reliefs, wie etwa im Pfeilerrelief mit der Darstellung des Jüngsten Gerichts an der Fassade der Kathedrale von Orvieto, wird die Ausrichtung auf eine bewegte Rezeptionsweise zu einem zentralen Gestaltungsmerkmal: In der Kette der Verdammten richten sich die einzelnen Figuren in unterschiedlichen Winkeln an den am Pfeiler vorbeigehenden Betrachter (Abb. 173 und vgl. Abb. 58). Die fünf zentralen Figuren dieser Gruppe bilden eine Art Studie verzweifelter Seelen, die sich nach rechts, links, oben und unten wenden. Für gebaute Schwellen ist die Bewegung des Betrachters enger in Relation zum Raum  – sowohl der Schwelle, als auch der Kirche dahinter – als zur Skulptur zu sehen. Während die Ansichtigkeit also wichtiges Indiz für die Künstlerintention in Bezug auf die Betrachterrelevanz bleibt, so ist die Wahrnehmung von Bildern an der Schwelle doch nicht ausschließlich durch dieses Kalkül determiniert, sondern das Spektrum der Betrachtungsmöglichkeiten beruht auch auf der räumlichen Disposition der Bilder. Ist der wissenschaftliche Blick erst einmal in dieser Hinsicht sensibilisiert für das Prozessuale und Veränderbare der durch einen bewegten Betrachter bedingten Rezeption, dann ist er auch gegenüber ­anderen Formen der Interaktion zwischen Bild und Schwelle aufgeschlossen, die sich nicht auf einen durch die Bewegung veränderten Anblick der Bilder beschränken, sondern abstraktere Verknüpfungen bilden, etwa zwischen Bildstruktur und Richtungslogik des Schwellenraums. 1482 Zur „Anerkennung des Betrachters“ s. Pinder 1948, S. 57 ff. Er sieht sie gekoppelt an den „Aufstieg der Malerei“ im 14. und 15. Jahrhundert und schreibt ihr im Barock besondere Entwicklung zu, denn zu dieser Zeit wird etwa „an der Brüstung nur das ausgearbeitet, was der Betrachter von unten sieht. Die Rückseite ist armselig, man sieht sie ja nicht“ (ebd., S. 59). 1483 So Claussen, der das Fürstenportal aufgrund der Betrachterausrichtung als „Gegenentwurf“ zum französischen „Konzept ‚Figurenportal‘“ und damit als Einzelfall ansieht: zu Bamberg: Claussen 1994, S. 670–672; zum „Konzept ‚Figurenportal‘“ ebd., S. 666.

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173 Fassadenpfeiler mit dem Jüngsten Gericht, Orvieto, Dom, ca. 1310–1330. Blick von Südwesten.

Um die Vielfalt von Interferenzen zwischen Bild, Raum und ‚bewegtem Betrachter‘ zu erörtern, die sich im Schwellenraum ergeben, sind im Folgenden einige bereits oben erarbeitete Gestaltungsweisen und Strategien von Bildern an Schwellen aufzugreifen, die sich die Schwelle als Schau-, Bewegungs- und Richtungsraum zunutze machen, und die zugleich die erörterten phänomenologischen Dimensionen der Raumerfahrung erkennen lassen.

Schauraum Als erstes ist davon auszugehen, dass der Schwellenraum ein auf den Betrachter ausgerichteter Schauraum ist. Das zeigen zahllose Beispiele von Bauskulptur, bei der die perspektivische Verkleinerung vom Betrachterstandpunkt aus berücksichtigt wurde. Köpfe von Figuren wurden größer angefertigt als ihre Körper, oder sie ragen weiter hervor. Details über der Sockelzone wurden häufig nicht so detailliert gearbeitet, weil der Betrachter diesen Bereich nicht sehen konnte. Beides ist zum Beispiel in Bamberg am Fürstenportal der Fall: Suckale nennt in diesem Zusammenhang die Figur der Synagoge, bei der die Fußzone nur grob bearbeitet ist.1484 Beispiele dieser Art zeugen davon, dass die Position des Betrachters bei der Gestaltung miteingeplant wurde. Sie sprechen dafür, dass der Betrachter und das, was er sieht, in der 1484 Suckale 1987, S. 59. Dies ist also nicht erst ab dem 15. Jahrhundert der Fall, wie Pinder das in seiner kurzen Geschichte einer „Anerkennung des Betrachters“ behauptet: Pinder 1948, S. 57 ff.

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Portal- und Skulpturenforschung zusammen gesehen werden sollten. Dass dies häufig nicht der Fall ist, zeigt eine Studie, von der man eine Berücksichtigung der Betrachterrelevanz angesichts des Titels „Romanesque Sculpture and the Spectator“ erwarten würde: Walter Cahn argumentiert hier, dass es unwichtig sei, ob Skulptur vom Boden aus für den Betrachter sichtbar sei, denn „[w]hat counts for an interpretation [...] is the object as it is formally and iconographically constituted, and not the manner of its display“.1485 Die Schwelle ist nicht nur ein Ort, an dem sich die Aufmerksamkeit der Bildkünstler auf den Betrachter richtet, sondern sie ist – wie bereits häufiger gezeigt – auch ein Ort erhöhter bzw. erhöhender visueller Aufmerksamkeit des Betrachters. Der Blick durch den Lettner beispielsweise macht aus der visuellen Teilnahme an der Hostienelevation ein gesteigertes Seherlebnis.1486 Bei mittelalterlichen Chorabschrankungen tritt zudem der zum zielgerichtet bewegten Betrachter gegenläufige Impuls der Schwelle besonders deutlich hervor, nämlich der etwa in den „elevation squints“ durch eine Öffnung konzentrierte, zeitweise stillgestellte und gezielte Betrachterblick. Unter den Begriffen ‚Durchblick‘, ‚Einblick‘ und ‚Doppelblick‘ sind die unterschiedlichen medial bedingten Möglichkeiten des Betrachterblicks an den Schwellen zum Chor präzisiert worden,1487 ferner ihre subtilen Differenzen im Hinblick auf Bewegtheit und Unbeweglichkeit, auf unterschiedliche Perspektivierungen und die sich daraus ergebenden Verschiebungen dessen, was als Davor und Dahinter der Schwelle zu gelten hat. Bewegter Vordergrund und statischer Hintergrund – bzw. umgekehrt statischer Vordergrund und bewegter Hintergrund – befinden sich an der Schwelle in einem Wechselverhältnis, in dem sich die Wahrnehmung verortet, und das diese seinerseits beeinflusst.1488 Wie sich Raum und Skulptur bei einer Betrachtung aus der Bewegung heraus zu Ansichtssequenzen verdichten können, die aus einem Nebeneinandersehen bzw. wechselseitigen Fokussieren von Vorder- und Hintergrund entstehen, hat Jung am Beispiel des Naumburger Westlettners gezeigt, der aus unterschiedlichen Betrachterpositionen mehrere Kreuzigungsbilder bietet, in die die Stifterfiguren im Chor miteinbezogen sind.1489 Vordergrund und Hintergrund werden im Blick des Betrachters auf eine Bildebene gebracht – ein Raumsehen, das in der Malerei mit der Nutzung der „Doppelbedeutung aller projektiven Form“ seine Entsprechung findet.1490 Bilder an Schwellen fordern also nicht nur visuelle Aufmerksamkeit, sondern fördern häufig auch ein spezielles Sehen, das Vorder- und Hintergrund, Tiefe und Fläche, Außen und Innen miteinander in Bezug setzt. Dabei geraten nicht nur

1485 Cahn 1992, S. 50. 1486 Diese Feststellung bei Duffy 1992, S. 111 vgl. oben 6.2.1; Binski 1999, S. 13; Jung 2006, S. 189. 1487 S. oben 6.2.1. 1488 Vgl. für die phänomenologische Formulierung dieser Beobachtung Merleau-Ponty 1966, S. 323: „der Fluß fließt unter der Brücke hindurch, wenn wir auf den Fluß hinsehen. [...] [D]ie Brücke gleitet über einen erstarrten Fluß hin, wenn wir auf [...] die Brücke hinblicken. Was uns den einen Teil des Feldes als Bewegliches, den anderen als Hintergrund gelten läßt, ist die Art und Weise, in der wir durch den Akt des Blickens unser Verhältnis zu ihnen begründen. [...] Das Verhältnis des Beweglichen zu seinem Hintergrund nimmt den Weg durch unseren Leib hindurch“. 1489 S. oben S. 314f.: Jung 2006, S. 205–212. 1490 Pächt 1977, S. 19, vgl. oben 3.1 u. 4.2; zu Beispielen von Giotto und van Eyck s. auch Bogen 1999.

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diese unterschiedlichen Ebenen in einen produktiven Konflikt, sondern die Schwellenarchitektur beginnt auch medial zu oszillieren. Die Komplexität, mit der diese Relationen durch Bilder an Schwellen thematisiert wurden, wird an mehreren Beispielen deutlich: Die oculi am Gesims des Nordportals von SaintEtienne in Cahors, die Öffnungen in den Säulen des Gewändes im Millstätter Westportal und die Späher über dem Portal in Conques suggerieren dem Betrachter die Möglichkeit eines Einblicks in einen ‚Raum‘ hinter der Oberfläche der steinernen Wand, in dem sich die dargestellten Wesen scheinbar aufhalten. Über die Eröffnung der Tiefendimension mit skulpturalen Mitteln und der Thematisierung des Durchblicks in die Tiefe oder des Blicks aus der Tiefe heraus wird auch der Schwellenraum als Tiefenraum fokussiert und die Aufmerksamkeit des Betrachters auf seine eigene visuelle und körperliche Erschließung dieses Raumes gelenkt. Darüber hinaus wird besonders an Chorabschrankungen der Wechsel von Oberfläche und Tiefe als künstlerisches Mittel zur Assoziation anderer Bildmedien genutzt, wie am Beispiel der Chorschranke von Notre-Dame in Paris deutlich wurde.

Bewegungsraum Im Portalraum lassen sich mehrere Bildstrategien differenzieren, die den Schwellenraum als Bewegungsraum erscheinen lassen. Schon in der Gestaltungsweise des gestuften Trichter­ portals und der Gewändeskulptur tritt dieser Aspekt der Schwelle hervor: Bei jedem Schritt wird der Betrachter von Skulpturen flankiert, die ihm zudem durch die Verjüngung nach innen ‚näher kommen‘. Das Prozessuale und Rhythmische des Gehens spiegelt sich auch in der lateralen Ausdehnung des Portalbereichs, der Lettner und Chorschranken, deren Bilder nicht selten den Aspekt des Schreitens selbst thematisieren – etwa die Lettner von Geln­ hausen und Mainz, das Portal von Saint-Trophime in Arles mit den Zügen der Erwählten und Verdammten und die Amienser Chorschranke mit dem Einzug des Hl. Firminus. Die Bewegung des Betrachters wird über die Skulpturen an unterschiedlichen Stellen seines zielgerichteten Weges kommentiert und gelenkt. Nicht nur im Spätmittelalter gibt es am Portal Figuren, die sich an unterschiedlichen Stationen des Betrachterweges in Haltung und Blick an den Betrachter richten, ihn anblicken oder seine Bewegung parallelisieren. Als Beispiel sind u. a. die Figuren des Bamberger Fürstenportals zu nennen, die den Betrachter an seinen unterschiedlichen Positionen im Portalraum anblicken und zum Teil seine Schrittbewegung parallelisieren. Ähnliches gilt für den Gelnhausener Lettner, bei dem die Gesichter der ­Seligen und Verdammten ebenfalls auf unterschiedliche Betrachtungswinkel ausgerichtet sind. Darüber hinaus wird die Aufmerksamkeit des Betrachters an mehreren Stellen gelenkt. Zu den Strategien der Lenkung gehören Zeigegesten, die sich auch im Bereich von Portalen finden lassen. In Darstellungen des Jüngsten Gerichts weisen Petrus oder ein Engel durch die Himmelspforte auf den Himmel (Bourges Portal, Gelnhausen Lettner). Grandmontagne nennt einige spätmittelalterliche Beispiele, bei denen die Apostel im Gewände auf ihre Schriftrollen zeigen (Augsburg, Südportal um 1356) oder eine männliche Lettnerfigur mit einer Hand auf ihr Auge zeigt und den Betrachter mit der linken Hand auf die Szene der

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Marienkrönung hinweist.1491 Ein frühes Beispiel dürfte der Apostel Paulus auf der linken Seite des Trumeaupfeilers in Moissac sein, dessen Körper und Schrittstellung nach vorne (aus der Kirche heraus) gerichtet sind, dessen Blickrichtung und Geste der linken Hand aber in das Innere der Vorhalle zeigen.1492 Figuren werden durch Zeigegesten auch über größere räumliche Distanzen miteinander verbunden. In diesem Zusammenhang sind etwa die Figuren der zwei Johannes’ zu nennen, die in Norditalien in beiden Zwickeln des Portikusbogens durch die Zeigegeste des Täufers miteinander verbunden werden (Ferrara, Portalvorbau, 1137; Verona, Dom, Portalvorbau). Auch narrative Szenen mit einem engen inneren Zusammenhang ihrer Figuren, wie die Verkündigung an Maria, werden im Kirchenbau häufig durch einen Bogen voneinander getrennt bzw. miteinander verbunden. Damit wird die innerbildliche Schwelle, die als ikonographische Konstante in vielen Darstellungen zwischen ihnen liegt und dem Betrachter ihre Kommunikation vermittelt, räumlich ausgelagert auf eine gebaute Schwelle, die dem Betrachter ebenso dynamisch wie räumlich über seine Blicklenkung erfahrbar ist (Arena-Kapelle, Padua, Triumphbogen, 1303–1307; S. Zeno, Verona, Triumphbogen, Ende 14. Jahrhundert; Franziskanerkirche, Bern, zentraler Lettnerbogen, 1495).1493 Anders als in kleinformatigen Bildern lenken die Zeigegesten im Portalraum nicht nur den Blick des Betrachters und damit seine Imagination, sondern fordern ihn auch auf, sich körperlich in Bewegung zu setzen (etwa am Trumeau) und seinen Bewegungsraum im Verhältnis zum Dargestellten zu sehen. Als Mittelpunkt der Bewegung tritt der Trumeaupfeiler in den französischen Portalen von Moissac und Souillac hervor. Durch die dargestellte Bewegung auf mehreren Seiten des Pfeilers parallelisieren diese die Bewegung der Besucher um den Pfeiler herum.1494 Die aggressive Oralität der dargestellten Wesen spricht auch den Betrachter über seinen Leib an: „The body“, so schreibt Camille, „both represented in the image and felt in the bodied observer, strikes me as a crucial feature of eleventh- and twelfth-century sculpture“.1495 Die Betrachtung von Skulptur läuft über den gemeinsamen Nenner des Leibes: „der Leib als Gegenüber und der Leib als Ermöglichung der Erfahrung“.1496 Besonders die Oralität, das Verschlingen und Verschlungen-Werden, ist ein zentrales Thema romanischer Portalskulptur, das über das Thema des Jüngsten Gerichts – und hier der Hölle – auch später noch wichtig bleibt. Der monströse Schlund und in seiner Tradition der Höllenschlund verweisen auf einen Raum, den man nicht betritt und in den man sich nicht aktiv bewegt, sondern der 1491 Grandmontagne 2005, S. 235, Anm. 520. 1492 Als romanische Beispiele der Zeigegeste wären z. B. noch zu nennen die Ältesten im unteren Register des Tympanons des Südportals von Moissac, 1120–1135, die zu Christus hochblicken und -zeigen; Prophetenfiguren des Portalgewändes von S. Zeno in Verona um 1135, die auf ihre Schriftrollen oder in die Portalmitte zeigen. 1493 Vgl. Grandmontagne 2005, S. 235, Anm. 520: zu weiteren spätmittelalterlichen Beispielen der Verkündigung. 1494 Hier wird noch einmal ganz deutlich, dass Suckale in Bezug auf einen ‚bewegten Betrachter‘ vor allem an die Statue und deren spezifische Ansichtigkeit (Blockbehandlung, Faltenführung) denkt und nicht in erster Linie an die Bebilderung und Sichtbarkeit von verschiedenen Seiten. 1495 Camille 1993, S. 53. 1496 Dittmann 1973, S. 287.

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einen vereinnahmt. Nicht nur die Quellen dieser Bilder von Schlünden sind somatisch, wie Camille in Bezug auf Souillac und Moissac argumentiert,1497 sondern auch ihre Wahrnehmungs- und Erfahrungsweise läuft über den Körper. Da die dargestellten Menschen meist mit dem Kopf zuerst im Schlund verschwinden, die meisten ihrer Sinne sich also bereits auf das Innere des Wesens richten, wird das Bewusstsein des Betrachters auf seinen eigenen Gesichtssinn, aber auch generell auf seine leibliche Wahrnehmung zurückgelenkt. Das Motiv eines mit dem Kopf voran in den Höllenschlund geworfenen Verdammten oder eines bereits halb Verschlungenen ist das gesamte Mittelalter hindurch ein zentrales Motiv der Höllen­ darstellung.1498 Speziell am Portal befindet sich die Darstellung eines sich den Menschen einverleibenden, aggressiven Leib-Raumes neben der Situation des gebauten Kirchenraumes, in den hinein sich der Betrachter selbst aktiv bewegen kann, wie weitere Beispiele zeigen: An einem Nebeneingang des Doms von Verona ist auf der Innenseite eines über dem Türsturz herausragenden Balkens ein Drache dargestellt, der eine Person zur Hälfte bereits verschlungen hat (Abb. 174). Die Richtung, in die sich der Halbverschlungene durch die Schrittstellung seiner Beine bewegt, entspricht der des Eintretenden – Maul und Schwelle werden auch direktional miteinander assoziiert. Noch bedrohlicher richtet sich ein Maul in Oloron an den Betrachter: Die Konstellation der übereinander angeordneten Löwen gleicht den sogenannten Bestienpfeilern – nur mit dem Unterschied, dass der Betrachter in Oloron in die aggressive Vertikalität miteinbezogen ist, da sich das untere Maul direkt über ihm öffnet (Abb. 103). Diese beiden Situationen lassen an das Achsensystem phänomenologischer Raumerfahrung denken, in dem die Tiefendimension „die Richtung unserer freien Bewegung“1499 parallelisiert und die vertikale Dimension diejenige körperlicher Aufrichtung ist.1500 Auch abgesehen davon, wie diese Nähe von Schlund und Kirchentür aus der Perspektive des christlichen Kultes zu interpretieren ist,1501 stellen die Bilder dem Eintretenden eine 1497 Camille 1993, S. 46. Nach Camille lässt sich die Verschlungenheit der Tiere auf den Türpfeilern nicht auf spezifische Textquellen reduzieren, sondern die Darstellung formuliert kulturelle Metaphern. So argumentiert er in Bezug auf Tierdarstellungen: „I am not suggesting that the trumeau ‚illustrates‘ an animal fable, and especially not a Latin text like the Ysengrimus, only that it articulates wider cultural metaphors of animality linked to human appetite and embodiment rather than the theological“: Camille 1993, S. 52 (seine Hervorhebung). 1498 So schon auf der angelsächsischen Elfenbeintafel mit dem Jüngsten Gericht (Abb. 43). Weitere Beispiele aus dem 12.–14. Jahrhundert sind: Conques (Tafel 13a); Jüngstes Gericht, mittleres Westportal der Kathedrale Nôtre-Dame in Paris (nach 1200); Jüngstes Gericht, französisches Elfenbeindiptychon (Abb. 33); Jüngstes Gericht, León, Westportal der Kathedrale (2. Hälfte 13. Jahrhundert); Giotto, Weltgerichtsfresko der Arenakapelle in Padua (1303–1307) und andere Satansfiguren aus den großen Höllenzyklen italienischer Wandmalereien des 14. Jahrhunderts; als Beispiel der Tafelmalerei nördlich der Alpen im 15. Jahrhundert sei hier genannt: Dieric Bouts, rechte Tafel eines Triptychons mit dem Jüngsten Gericht, Louvre, Paris, 1470. Die hier erwähnten Beispiele bilden keinen vollständigen Katalog, sondern sollen lediglich einen Eindruck von der Relevanz des Motivs vermitteln. 1499 Schmarsow 2006, S. 474. 1500 Schmarsow 2006, S. 472; Merleau-Ponty 1966, S. 285–297; Bachelard 1960, S. 50 ff.; Waldenfels 1999, S. 203; Meisenheimer 2004, S. 27–32. 1501 Dazu oben 3.4 u. 6.1.1.

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174 Reliefs am Nebeneingang des Doms, Verona, 12. Jahrhundert.

in das Ungeheuerliche verkehrte Parallele seiner Handlung bereit. Das Bewusstsein seiner eigenen Wahrnehmung und Bewegung wird im Betrachter gestärkt, und die Raumerfahrung im Hinblick auf den Kirchenraum wird so nicht nur semantisch, sondern auch somatisch beeinflusst. Die Beeinflussung der Wahrnehmung des Betrachters über seine eigene körperliche Erschließung des Schwellenraums zeigt sich am deutlichsten bei den Bildertüren. Die nach dem Türring greifenden Hände werden in Hildesheim durch mehrere dargestellte Hände motivisch parallelisiert und auf der Ebene der Erzählung kommentiert.1502 Die Türprogramme in Verona und Gnesen sind außerdem an denjenigen Stellen besonders auf den Betrachter ausgerichtet, die für seine leibliche, visuell-taktile Annäherung an die Tür und deren eventuelle Benutzung am relevantesten sind – um die Türzieher herum und auf Augenhöhe. Auch die vielen Löwenkopf-Türzieher des Mittelalters lenken die Aufmerksamkeit des Betrachters über seine Hand.

Richtungsraum In Hildesheim hat sich das Argumentationsmittel des Noch-Nicht als zentral erwiesen. Die Türen in den Bildern werden noch nicht berührt, geöffnet oder durchschritten, wie auch Adam und Eva sich in der Szene der Zuführung noch nicht berühren. Über diese Strategie 1502 Erinnert sei an die referierten Bedingungen und historischen sowie praktischen Vorbehalte gegenüber einer solchen individuellen Betätigung mittelalterlicher Kirchentüröffner (vgl. oben S. 248 u. 251, Anm. 1011). Wenn Quellen keine Antworten auf Fragen zur konkreten Bedienung der Tür geben, kann aus anthropologisch-phänomenologischer Sicht argumentiert werden, dass man bei Türen aufgrund ihres Alltagswertes immer die Bedienungsweise ‚mitimaginiert‘, auch wenn man sie eventuell nicht selber öffnen konnte. Ungeachtet einer tatsächlich durchgeführten Öffnungs- oder Überquerungshandlung löst der Anblick der Tür entsprechende Impulse aus.

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werden die Erwartungen des Betrachters an das Öffnen (und damit auch Berühren) der realen Tür und an ihr Dahinter gesteigert. Der Verzögerungscharakter der Schwelle in ihrem Einfluß auf die Bewegung des Betrachters einerseits und die Strategien der Bilderzähler andererseits – eine Erzählung braucht Zeit – können ineinander greifen. Hier wird auch deutlich, wie über die Darstellung aktivierte imaginierte Handlungen und tatsächliche Handlungen jenseits der Schwelle an dieser miteinander verknüpft werden können. Wie oben beschrieben wird, kann etwa die Szene der Präsentation im Tempel in Hildesheim, die in der Darstellung vor dem Tempel stattfindet – und die daher vom Betrachter in seiner Vorstellung in den Tempel versetzt werden muss – auch auf die Eucharistiefeier im Inneren der Kirche bezogen werden (Abb. 105). Durch seine Trennung vom narrativen Geschehenskontext wird der Altar separat kontemplierbar, und sein reales Gegenstück in der Kirche kann wiederum an die Heilsgeschichte zurückgebunden werden. Der dargestellte Raum und der in der Bewegung erschlossene Weg in die Kirche verhalten sich hier orthogonal zueinander, werden aber über den Betrachter und seine Bewegung aufeinander bezogen. Der für die mittelalterliche Bilderzählung so wichtige „Beziehungssinn“1503 gilt auch in räumlicher Wendung an der Schwelle, wo diejenigen Räume miteinander in Beziehung gesetzt werden, welche die Schwelle tangiert. Mittelalterliche Betrachter waren es gewohnt, Nachbarliches, nebeneinander Liegendes miteinander zu vergleichen und zu kontrastieren. Als Vorbereitung auf den Kirchenraum charakterisieren die Bilder den Schwellenraum als Richtungsraum, der dem Betrachter Wahrnehmungsstrukturen, Bewegungsimpulse oder Bilder mitgibt, die sich in Bezug auf den oder im dahinter liegenden Kirchenraum aktivieren lassen. Die Vorgabe von Richtungen wird dazu genutzt, den Betrachter auf bestimmte Art und Weise auf die Schwelle zu, durch sie hindurch oder an ihr entlang zu lenken, sich in seinen Bewegungs- und daher Wahrnehmungslauf einzuklinken. Aus anthropologischer Sichtweise ist dabei unwichtig, ob sich die Bildkünstler der Wirkungsweise der Schwelle bewusst waren oder ob die Parallelen erst im Akt der Betrachtung hervortreten. Plausibel erscheint die kombinierte anthropologische Erklärung von Schmarsow, der in seinen Überlegungen zur Architektur als Raumkunst das kreierende und das rezipierende Subjekt in den gleichen raumschaffenden Impulsen fundiert. Der Aufforderungscharakter der Schwelle kann zu einer Verheißung ausgebaut werden, wenn etwa der dahinter liegende Raum über die Bilder mit heilsgeschichtlich und eschatologisch positiv besetzten Orten parallelisiert wird (Hildesheim, Gelnhausen) oder wenn an der Schwelle die Heiligen sichtbar sind, deren Reliquien im Inneren aufbewahrt werden. Durch ihn kann aber auch  – in Bildthemen wie dem Jüngsten Gericht – die Eintrittsaufforderung an die Bedingung der Tugendhaftigkeit geknüpft werden (Conques, Basel, Bamberg, etc.). Sauerländer hat gezeigt, dass mittelalterliche Kirchenbesucher es gewohnt waren, Bilder mit Räumen und ontologisch verschiedene Räume miteinander zu verknüpfen. An den Beispielen mehrerer Portale des 11. und 12. Jahrhunderts weist er nach, dass Bilder an Eingängen häufig die „sakrale Topographie“ des Inneren strukturell widerspiegeln.1504 Die Darstel1503 Kemp 1994, S. 9–20 („Beziehungssinne“), bes. S. 16‒18. Begriff im Singular taucht das erste Mal in einem Nietzsche-Zitat auf (ohne Quellenangabe): ebd. S. 17. 1504 Sauerländer 2000, S. 121.

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lung der Verklärung Christi etwa, die im Pilgerführer aus dem zweiten Drittel des 12. Jahrhunderts als Tympanonbild der Kathedrale von Santiago de Compostela beschrieben wird, hätte die Anordnung der Altäre der Heiligen im Chor wiedergegeben: Im Tympanon kniet der Hl. Jacobus Christus zu Füßen, flankiert von Petrus und Johannes;1505 in der Kirche befand sich in der Scheitelkapelle ein Salvatoraltar; der Hauptaltar war Jacobus geweiht. In den Kapellen nördlich und südlich der Scheitelkapelle standen Altäre der Hll. Petrus und Johannes. Der Betrachter hätte das Bild am Portal – wäre es ausgeführt worden – gewissermaßen als eine Art grobe Karte verwenden können, nach der er sich bei seiner bewegten Erschließung des Kircheninnenraums richten konnte. Der zielstrebige Pilger hätte sich mit Hilfe der Bilder am Portal auch in einer überfüllten Kirche orientieren können. Sauerländer schließt daraus, „dass das Bild des Heiligen im Portal an französischen und spanischen Kirchen im 12. Jahrhundert als Wegweiser zu den Gräbern der Heiligen und zu den Reliquien diente“.1506 Das Konzept des bewegten Betrachters an der Schwelle bekommt aus dieser Perspektive erneut eine andere Bedeutung: Der Betrachter ist jemand, der betrachtet, um sich zu seinem Ziel bewegen zu können, wenn die Bilder bereits hinter ihm liegen. Ganz deutlich wird hier die Ausrichtung des Schwellenraums und seiner Bilder auf den dahinter liegenden Kirchenraum. Eine Kontinuität dieser Praxis sieht Sauerländer bis in das 13. Jahrhundert gegeben, in dem es allerdings zu einer Multiplikation der dargestellten Heiligen im Portal komme: „so tritt nun die ganze in der Mater Ecclesiae verehrte communio Sanctorum an die Schwelle des Kirchengebäudes“.1507 Damit beziehen sich die Bilder des Portals allerdings nicht mehr topographisch auf die Sakralordnung der Kirche, sondern eher auf die Symbolik des Kirchengebäudes als Ecclesia. Die Ergebnisse Sauerländers fügen sich ein in meine Beobachtung, dass topologische Bildstruktur und Schwellenraumlogik bei Portalen mit Weltgerichtsdarstellung ab dem 13. Jahrhundert nicht mehr so eng miteinander verknüpft werden. Eventuelle Gründe für diese Veränderung sind schwer zu finden. Durch die Verteilung des Bildprogramms der Portale ab der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts auf immer mehr Elemente der Portalstruktur – neben dem Tympanon u. a. auf die Archivolten, das Gewände und die Sockelzonen – rücken möglicherweise die Binnenstruktur und die Hierarchie des Portals und damit ein symbolischer Bezug auf den Kirchenraum dahinter mehr in das Bewusstsein der Bildkünstler als die topologische Struktur des Eingangs. Diese Überlegungen führen allerdings fort von der Fragestellung einer breiter angelegten Schwellenforschung, da sie nur auf das Weltgerichtsportal und darüber hinaus regional auf die französische Gotik bezogen ist. Das Anbringen von Heiligenskulpturen am Portal steht zeitlich oft im Zusammenhang mit einer Translation ihrer Reliquien, denn dies sind „Handlungen, welche ersichtlich zusammengehören und der visuellen Aktivierung des Reliquienkultes dienen“.1508 Der 1505 Sauerländer 2000, S. 121 f. Guide du Pèlerin, Kap. IX, 9, De porta occidentali, S. 104: „Ibi vero beatus Jacobus est et Petrus et Johannes quibus Transfiguracionem suam pre omnibus Dominus ­revelavit“. 1506 Sauerländer 2000, S. 127. 1507 Sauerländer 2000, S. 129 (seine Hervorhebungen). 1508 Sauerländer 2000, S. 125.

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Betrachter sieht schon an der Schwelle seinen Interzessor im Bild, der ihm den durch das Betreten des Kirchenraumes erlangten Segen verheißt. Bilder an Schwellen können demnach an den Anlass für bestimmte liturgische Feiern erinnern, wie etwa die Darstellung der Auffindung, die Translation oder das Wunderwirken von Heiligen (vgl. Chorschranke Amiens). Gleichzeitig aber können sie auch an das jeweilige Fest erinnern, das wiederum das Dargestellte aktualisiert. Es gibt viele ‚Bespielungsmöglichkeiten‘ der Schwellenbilder dieser Art: So ist die Firminusfigur des Portals von Amiens mit einem Segensgestus dargestellt; Sauerländer erwähnt in diesem Zusammenhang eine Quelle, die besagt, dass bei allen größeren Festen der Bischof das Volk mit einem Armreliquiar des Firminus segnete.1509 Die Skulptur steigert so das Verlangen nach der leiblichen Erfahrung der Reliquie. Ein ähnlicher Zusammenhang zwischen Heiligendarstellung am Portal und Reliquiar in der Kirche ist für Conques erörtert worden: Die Darstellung der von ihrem Thron herabgestiegenen, auf Knien fürbittenden Hl. Fides im Tympanon zeigt einen aktivierten Heiligenkörper, dessen Reliquien sich im Inneren der Kirche befinden. Zudem nimmt sie darüber hinaus die Gebetshaltung des Betrachters im Inneren der Kirche vorweg. Als Schau-, Bewegungs-, und Richtungsraum leitet der bebilderte Schwellenraum also den Betrachter körperlich über die Schwelle, lenkt seinen Blick auf das Dahinter oder lässt ihn die Schwelle in Gedanken überqueren. Die Bilder kommentieren die Schwelle und bereiten vor auf das, was hinter ihr liegt.1510 Sie fordern vom Betrachter ein besonderes Maß an Reflexion über die eigene Handlung innerhalb dieser Räume. Bereits an der Schwelle kann der Betrachter zu Erkenntnissen über im Inneren stattfindende Handlungsvollzüge oder über die in den Räumen tätigen Heiligen gelangen. In einer derart erweiterten Form kommt dem Konzept des ‚bewegten Betrachters‘ bei einer Analyse mittelalterlicher Schwellenbilder eine zentrale Position zu. Der Begriff umreißt einen rezeptionsästhetischen Ansatz, der Fragen nach dem Ort und dem Medium der Bilder verstärkt berücksichtigt und die Fragestellung mit Hilfe von historischen Quellen von bauhistorischer, liturgischer oder funktions­ geschichtlicher Relevanz zu modifizieren und erweitern vermag, so dass neue Erkenntnisse gewonnen werden können.

1509 „[C]um bracchio beati Firminus martyris“: Sauerländer 2000, S. 131. Zum Segnen mit einem Armreliquiar in anderen Fällen, s. Kroos 1985, S. 38. 1510 Vgl. Bogen 2004, S. 244: „Die Bildprogramme der Kirchentüren kommentieren dagegen eine geschlossene Grenze und bereiten auf deren Öffnung vor“.

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8 Dazwischen: Ergebnisse einer bildgeschichtlichen ­Schwellenforschung

Die Schwelle liegt im ‚Dazwischen’, zwischen Orten oder Räumen, die sie selbst erst mit hervorbringt, deren Wahrnehmung sie erst ermöglicht oder erschwert. Ausgangspunkt der Untersuchung war daher die Frage, welche Vorstellung bzw. Wahrnehmung der Schwelle dem Phänomen der Doppelung zugrunde liegt, das an vielen mittelalterlichen Portalen zu beobachten ist: die Darstellung eines Übergangs an einem Ort des Übergangs. Diese Doppelung legt es nahe, sich dem Phänomen der Schwelle in zwei Schritten zu nähern: Erstens ist daher analysiert worden, wie im Mittelalter Bilder mit Hilfe von Schwellenmotiven und zweitens wie Schwellen mit Hilfe von Bildern strukturiert und wahrgenommen werden. Bei der Analyse der Schwelle als Konzept, Motiv und Ort wird deutlich, dass eine Beschäftigung mit der Schwelle immer eine Auseinandersetzung mit Wahrnehmung und Raum ist. So liefert die Schwellenforschung für das Mittelalter Erkenntnisse zur Betrachtung und Funktion von Schwellenräumen, zu Wahrnehmungsvorstellungen und Raumvorstellungen, aber auch zu rezeptionsästhetischen, frömmigkeitsgeschichtlichen und liturgiehistorischen Zusammenhängen. Abschließend geht es darum, die Hauptergebnisse der Untersuchung zur Schwelle zusammenzuführen. Zudem lässt sich zeigen, dass es über die Trennung in Schwellenmotive und -orte hinaus einige Konstanten der Beschäftigung mit der Schwelle gibt, die sich gleichsam als rote Fäden durch die Studie ziehen. Die vorliegende Studie verankert das Motiv der Schwelle für bildhistorische Untersuchungen theoretisch in der kunsthistorischen und kulturwissenschaftlichen Diskussion und überprüft die entwickelten Fragestellungen analytisch an einem breiten Spektrum von Bildern. Grundlagen der Studie sind daher ein Überblick über das Konzept der Schwelle und dessen Strukturierung. Die bisherige Verwendung und Konzeption des Begriffs der Schwelle in unterschiedlichen Wissenschaften wird zu diesem Ziel mit Blick auf die Kunstgeschichte gesichtet. Die charakteristischen ‚Koordinaten der Schwelle’, die hierbei herausgearbeitet werden  – Ambivalenz/Ambiguität, Verborgenheit, Verheissung/Aufforderung, Verwandlung und Vermittlung – dienen als Fundament für die Analyse von Schwellen als Bildmotive und Bildorte in der mittelalterlichen Kunst. So kann beispielsweise gezeigt werden, dass an einigen romanischen Portalen insbesondere die materielle Tiefendimension des Portals dazu genutzt wird, den Schwellenraum als ambivalenten Raum zu charakterisieren. Der Aspekt der Verborgenheit wiederum hebt hervor, dass es bei einer Schwelle immer auch um Fragen der Wahrnehmung und der Sichtbarkeit geht – was sich sowohl bei Schwellenarchitekturen vor allem im Inneren des Kirchengebäudes als auch bei der bildinternen Funktion einzelner Schwellenmotive zeigt.

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Im Rahmen der Untersuchung der Schwelle als Bildmotiv erweist sich die – von der Forschung bisher nicht versuchte – Zusammenschau der wichtigsten Motive, die in mittelalterlichen Bildern zur Darstellung des Übergangs zwischen Diesseits und Jenseits verwendet werden, als aufschlussreich. Zum einen ergeben sich, nicht zuletzt durch die Analyse der Schwellenfunktion bestimmter innerbildlicher Motive, Neuinterpretationen zahlreicher Bildbeispiele. Zum anderen und darüber hinaus sind folgende übergreifende Ergebnisse hervorzuheben: Bereits vor dem 13. Jahrhundert steht die Darstellung des Fenstermotivs in engem Zusammenhang mit dem visionären Sehen; die Verwendung des Fensters im Kontext der Bilderapokalypsen kann also nicht primär als Übertragung eines ‚voyeuristischen‘, da auf das körperliche Sehen bezogenen Motivs auf den Visionszusammenhang gelten. Das Türmotiv spielt in der mittelalterlichen Bilderzählung eine wichtige Rolle; entgegen der Meinung der bisherigen Forschung gliedert es bereits im 13. Jahrhundert komplexere Erzählsequenzen räumlich und zeitlich. Der Höhleneingang als Motiv ist in der Kunstgeschichte bisher selten erforscht worden. Im Zusammenhang mit dem Jenseits als Übergangsmotiv hat man ihn noch gar nicht näher betrachtet. In einigen spätmittelalterlichen Darstellungen stellt sich die dunkle Öffnung als komplexes Motiv mit besonderer Relevanz für den Betrachter heraus: Als Schwelle führt es den Blick nicht an dargestellte Orte, sondern fungiert als Signal zum Betreten imaginärer Orte. Beispiele aus der Buchmalerei belegen, wie sehr die Bedrohlichkeit des Höllenschlunds in Verbindung mit dem Medium und seiner konkreten Benutzungsweise entwickelt wird. Die genannten Motive zeigen, dass die Schwelle im Mittelalter als überaus facettenreich und bisweilen problematisch gelten darf: etwa, wenn sie im Motiv der Leiter so gedehnt wird, dass sich der Übergang vervielfältigt und eigene Orte kreiert; weiterhin im Motiv des Höllenschlunds, wo sie erst im Kontext der Höllenvorstellungen als (absolute) Schwelle begreifbar wird. Insgesamt wird über die Fokussierung der Schwellenmotive die Relevanz bildtopologischer Strukturen für eine rezeptionsästhetische Perspektive deutlich. Dem Betrachter eröffnet sich über die Betrachtung der Motive der Zutritt zu einer Reihe von Orten – realen, heilsgeschichtlichen oder imaginären. Daneben bieten die Schwellenmotive ein reflexives Moment, indem sie über die ihnen inhärenten und im Bild sichtbar gemachten Gegensätze Offen/ Geschlossen, Hell/Dunkel und Oben/Unten die Wahrnehmung und Erkenntnis des Betrachters beim ‚Blick auf die Schwelle‘ thematisieren. Aspekte von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, Verdunkelung und Erleuchtung, Aufstieg und Fall erweisen sich als Leitthemen mittelalterlicher Wahrnehmungsvorstellungen, an welche die Schwellenmotive anknüpfen. Deren bildimmanente Funktion zeigt, wie zentral Strategien der Verheißung, des Blickentzugs und des Aufschubs für die Bildkulturen des Mittelalters sind. Darüber hinaus machen die Motive deutlich, dass diese Strategien im Bildraum wirksam werden. Über die klappbaren Bildträger Buch, Diptychon und Triptychon können zudem motivische und mediale Umsetzungen der Handlungen des Öffnens und Schließens miteinander kombiniert werden. Bildräumliche und materiell-räumliche Zugänge werden so in der Benutzung (durch Öffnen und Schliessen) des Bildträgers miteinander verknüpft. So wird zum Beispiel das tatkräftige Öffnen des Bildträgers in einigen spätmittelalterlichen Klappmedien im Bild als Zutritt und Beginn des ‚Wegs der Andacht‘ interpretiert, der vom konkret-gegenständlichen Objekt in das eigene Innere führt.

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Eine Perspektive, die den Ort der Bilder maßgeblich berücksichtigt, führt bei Bildern an Übergängen des mittelalterlichen Kirchengebäudes zu neuen Erkenntnissen. Das Bild an der Schwelle kann über narrative, thematische, bildräumliche und strukturelle Mittel mit der Erfahrung des Schwellenraums verbunden werden. So zum Beispiel wird der Betrachter am Weltgerichtsportal der Abteikirche von Conques, an der Hildesheimer Bernwardstür und an der Irrsdorfer Bildertür in die heilsgeschichtliche Erzählung eingebunden. Die Schwellenmotive sind das Scharnier, über das Bild und gebauter Schwellenraum miteinander verwoben werden. Neu ist auch die Erkenntnis, dass mittelalterliche Bildkünstler sich des Griffs an die Tür oder den Türring als einer der wichtigsten Annäherungsweisen des Betrachters an die Tür bewusst waren. Die Bilder an den Türen nehmen auf diesen Modus der Sinneswahrnehmung Bezug nehmen. Für weiterführende Schwellenforschungen wäre etwa zu fragen, wie sich diesbezüglich der Status der Bildertür ab der Frühen Neuzeit ändert. Ist die Integration der körperlichen Annäherung des Türbenutzers in das Bildprogramm oder die Gestaltung der Tür auch bei anderen Bildertüren zu vermerken oder ist dies eine Rezeptionskategorie, die als spezifisch mittelalterlich einzuschätzen ist? Für einige der untersuchten mittelalterlichen Beispiele jedenfalls lässt sich feststellen, dass bestimmte Szenen der Bilder am Übergang, die aus ikonographischer Perspektive problematisch scheinen, ersichtlich auf die Schwellensituation rekurrieren: So zum Beispiel werden Schwellenmotive zentral platziert (Basel), Szenen lassen sich aus ihrer konkreten Position im Bezug zum Betrachter erklären (Hildesheim, Gnesen) oder aus ihrer speziellen Platzierung im medialen Gefüge der Bildertür (Irrsdorf ). Das Sehen erweist sich als zentraler Aspekt für die inneren Schwellen des Kirchengebäudes, nämlich Lettner und Schranken am Übergang zum Chor. Der Lettner erscheint als Medium des gezielten Blicks. Diese Rolle kann im Kontext der Liturgie auch zur Leitidee der künstlerischen Gestaltung werden, wenn etwa – wie in Gelnhausen und Mainz – der Blick auf das Sakrament im Bildprogramm des Lettners durch dargestellte Einblicke in heilsbringende Öffnungen parallelisiert wird. Darüber hinaus ist festzustellen, wie vielfältig die an den Schwellen zum Chor geforderten Blickzugänge sind: Nicht nur der gezielte, sondern auch zum Beispiel der laterale sowie der Vordergrund und Hintergrund kombinierende Blick werden durch Bilder und Schwellenarchitektur unterstützt. Ein weiterer Aspekt der besonders komplexen Schwellenarchitekturen am Übergang zum Chor ist die Beteiligung der Architektur und der Skulptur an der spezifischen Ästhetik anderer Materialien wie Glasmalerei und Stoff – Materialien also, die sich wie der Lettner durch bestimmte Abstufungen von Durchlässigkeit auszeichnen. Eine Untersuchung, die den Ort der Bilder – den Schwellenraum – in den Vordergrund stellt, bedarf einer Raumtheorie. Die Verknüpfung der historischen und der phänomeno­ logischen Perspektive macht deutlich, dass aus bildwissenschaftlicher Sicht Stellung bezogen werden muss zum Raumparadigma kulturwissenschaftlicher Forschung. Die Analyse von Bildern an gebauten Übergängen muss sinnvollerweise den Aspekt des Schwellenortes berücksichtigen. Als grundlegend für eine bildwissenschaftliche Schwellenforschung erweist sich dabei ein rezeptionsästhetischer Ansatz, der von einer Wahrnehmungsvorstellung ausgeht, die vom Körper, von der Bewegung und von der Berührung her gedacht ist. Die Kombination der konkreten Ergebnisse der exemplarischen Analysen mit den erarbeiteten phänomenologischen Aspekten des Schwellenraums ergibt, dass sich die Schwelle als Schau-,

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Bewegungs- und Richtungsraum präsentiert. Besonders ist zu berücksichtigen, dass Bilder an gebauten Schwellen einen bewegten Betrachter voraussetzen, denn an Übergängen finden Bildbetrachtung und Raumwahrnehmung gleichzeitig oder im Wechsel statt. Zieht man die Konsequenz daraus, dass es nicht die Skulptur, sondern der Bildort ist, der einen bewegten Betrachter voraussetzt, so lassen sich auch Reliefs im Hinblick auf den an ihnen vorüberoder unter ihnen durchgehenden Betrachter analysieren, und Bildertüren im Hinblick auf die nach den Türringen greifenden Hände. Die Ergebnisse der Untersuchung über die Korrelation des Schwellenortes mit den hier angebrachten Bildern öffnen den Blick für zahlreiche weitere mögliche Fragestellungen und Untersuchungsgegenstände; die Ansätze und Ergebnisse der Studie ließen sich also in vielfacher Hinsicht weiterführen oder ergänzen. Berücksichtigt werden könnten erstens weitere Schwellen des mittelalterlichen Sakralgebäudes. Tympana und Bildertüren im Kircheninnenraum sind bisher unter dem Aspekt des binnenräumlichen Übergangs nicht erforscht worden. Untersucht werden könnten des Weiteren Fassaden, die ebenfalls aus der Bewegung wahrnehmbar sind. Ergiebig wäre es außerdem, den Triumphbogen unter dem Aspekt der Schwelle zu analysieren, da er zum Beispiel häufig als Bildträger für das Schwellenthema der Verkündigung fungiert und sich hier die Bildtradition der Verkündigungsdarstellung mit Schwellenmotiv und die reale Schwelle überschneiden. Zweitens lässt sich die Fragestellung einer expliziten Schwellenforschung auf andere Untersuchungsobjekte ausweiten: Bilder an Übergangsarchitekturen, die nicht an ein Sakralgebäude gebunden sind, könnten stärker unter dem Aspekt der Schwelle untersucht werden – für das Mittelalter ist hier zum Beispiel an Stadttore und Brücken zu denken, an denen sich ebenso wie am Portal ‚bewegte Betrachter‘ befinden, auf die Bilder wiederum Bezug nehmen können. Gefragt werden könnte auch nach Unterschieden der Bebilderung im Vergleich zu Sakralgebäuden. Nicht alle theoretischen und analytischen Erörterungen lassen sich jedoch eindeutig entweder dem Aspekt der Schwelle als Motiv oder dem der Schwelle als Ort zuordnen. Im Rahmen der gesamten Untersuchung gewährleisten bestimmte Konstanten des Begriffs und Konzepts der Schwelle die Vernetzung der Argumentation. Diese Konstanten der Schwelle und ihrer Erfahrung und Wahrnehmung, sind hier noch einmal hervorzuheben. Zentrale übergreifende Themen sowohl für die Schwelle als Motiv als auch für die Schwelle als Bildort sind das Sehen, die Berührung und die Bewegung. So zeigt sich etwa, dass der durch die Schwelle gelenkte Blick als Steigerung eines Seherlebnisses funktionalisiert wird. Im Mittelalter wird insbesondere das Fenster zum Motiv der Darstellung eines erhöhten Seherlebnisses; die Inszenierung des Durchblicks in den Chor an Schwellenarchitekturen dieses Übergangs zielt darauf ab, die Qualität des gewährten Blicks zu beeinflussen. Reflektiert wird dieser Blick in bildlichen Darstellungen von Lettnern trotz – oder gerade wegen – seiner Ausschnitthaftigkeit als umfassend und nahsichtig. Das Sich-Nähern mit der Hand und die Berührung erweisen sich als Modi der Wahrnehmung, auf die besonders das Bild des Mauls – als Höllenschlund oder Tiermaul an der Tür – abzielen. Schließlich treten Schwellen als Gliederungsmotive innerbildlicher Bewegung auf, ebenso wie sie die Augenbewegung des Betrachters strukturieren und als Schnittstellen der Bewegung im Raum fungieren. Die gegensätzlichen Aspekte eines Aufforderungs- und eines Verzögerungscharakters erweisen sich in enger Verbindung mit dem Aspekt der Bewegung als weitere Konstanten der

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Schwelle in bildmotivischer und realräumlicher Konkretisierung. Türen fordern dazu auf, sie zu öffnen und sie zu durchschreiten. Den gleichen Impuls lösen bildliche Türdarstellungen aus. Der verheißende Charakter des Eingangs in den Himmel in Weltgerichtsbildern wird durch Gesten der Engel unterstrichen. Darüber hinaus fordern Öffnungen im Bild den Betrachter dazu auf, durch sie hindurch zu blicken und so Distanzen zu überwinden, und in der Andacht Wege zu gehen, die mit dem Öffnen der Flügel eines Triptychons beginnen und durch Schwellenmotive gegliedert werden. Die Verzögerung ist im Mittelalter ein grundlegender Aspekt des Weges zu Gott. Verbildlicht ist sie im gradualistischen Motiv der Leiter, die den Aufstieg unterteilt und zeitlich dehnt. Die Leiter ist daher nicht nur Motiv der Darstellung eines Aufstiegs, sondern führt den Betrachter zugleich dazu, den Weg mit den Augen nachzuvollziehen. Das Trainieren des desiderium als Weg zur Erkenntnis, wie es in theologischen Schriften geschildert wird, findet seine argumentative Entsprechung in mittelalterlichen Schwellenbildern. Eine gebaute Schwelle lässt den Bewegungsfluss eines sich Nähernden stocken. Diese Verzögerung ist auch als narratives Mittel auf der Hildesheimer Bronzetür zu sehen, wo der Modus des Noch-Nicht darüber hinaus im Wesentlichen über die dargestellten Türmotive vermittelt wird, die den Blick des Betrachters lenken und dazu auffordern, die Erzählung nachzuvollziehen. Eines der Kernelemente der Schwelle, nämlich ihr zugleich trennender und verbindender Charakter, tritt in der Funktion der Schwelle als Abstandshalter und zugleich als Hilfe zur Abstandsüberbrückung auf. Dadurch kommen mehrmals die Kategorien ‚Innen und Außen‘, ‚Nähe und Ferne‘ sowie ‚Oberfläche und Tiefe‘ ins Spiel. Mit ‚Hindernis‘ und ‚Entfernung‘ sind in spätmittelalterlichen Beispielen Darstellungen des Himmels verknüpft, während die Hölle nahe an der Bildoberfläche liegt und den Blick ‚verschlingt‘. Parallel dazu erweist sich die Beschäftigung mit den Tiefenschichten von Architektur und Skulptur als wichtiger Aspekt der medialen Ästhetik der gebauten Schwelle. Am Portal suggerieren etwa die oculi in Cahors und die Späher über dem Portal in Conques dem Betrachter die Möglichkeit eines Einblicks in einen ‚Raum‘ hinter der Oberfläche der Steinwand und eröffnen so die Frage nach dem, was sich hinter dem Portal befindet. Ähnliche Ergebnisse bietet die Analyse von Bildertüren und Lettnern. Auch im Hinblick auf die Themen der Tiefe und der Oberfläche sind Schwellen reflexiv: An den durchlässigen Schwellenarchitekturen des Chors kann der Betrachterblick abwechselnd die Bilder der Lettner und Chorschranken und das dahinter stattfindende liturgische Geschehen (oder weitere Bildwerke) fokussieren oder beide übereinanderblenden. Als Umschaltpunkt des Blicks tritt das Motiv der Tür ebenso in einigen Verkündigungsdarstellungen hervor. Erzählung und Handlung werden so über die Interaktion von Schwelle und Bild miteinander verknüpft. Auf materiell-medialer Ebene spielen Oberfläche und Tiefe bei den klappbaren Bildträgern eine Rolle, wo das Ineinander auf der Fläche beim Aufeinanderliegen der Buchseiten und Bildtafeln beim Öffnen der Objekte von bildräumlichen und nicht selten auch realräumlichen Strukturen abgelöst wird. Nicht nur die Bewegung des Betrachters, sondern auch die Beweglichkeit des Bildträgers spielt durchgehend eine Rolle. Das Umblättern von Buchseiten, das Öffnen und Schließen von Diptychen und Triptychen und das Berühren von Türziehern bzw. Öffnen von Türen sind Wahrnehmungsvoraussetzungen, die im Mittelalter in den Konzeptionen der jeweiligen

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Bilder berücksichtigt werden (z. B. Scivias, Mérode-Triptychon, Irrsdorfer Bildertür). Innerbildliche Schwellenmotive reflektieren die Themen des Offen/Geschlossen und die Handlungen des Öffnens und Schließens und verbinden in diesen beweglichen Bildmedien auf unterschiedliche Weise die Handlung des Betrachters mit Bilderzählung und Bildfunktion. Insgesamt zeigen die Gemeinsamkeiten zwischen Funktion und Wirkung der Schwelle im Bild und der Schwelle im Raum, zwischen dem Blick auf das Schwellenmotiv und dem Blick auf die (bebilderte) Schwelle die Fruchtbarkeit einer integrierten bildgeschichtlichen Schwellenforschung.

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9 Literaturverzeichnis

9.1 Abkürzungsverzeichnis Acta Sanctorum – quotquot toto orbe coluntur, vel a catholicis scriptoribus celebrantur, ex latinis & graecis, aliarumque gentium antiquis monumentis collecta, digesta, illustrata, 52 Bde., hrsg. von Johannes Bollandus u. a., Antwerpen/Brüssel 1643–1794 (hier zitiert nach der Ausgabe Palmé, Paris 1863–1870) Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hrsg. von KarlÄGB heinz Barck et al., 7 Bde., Stuttgart/Weimar 1999–2004 BL Lex Albert Blaise: Lexicon latinitatis medii aevi/ Dictionnaire latin-français des auteurs du moyen âge (= CCCM Sonderband o.N.]), Turnhoult 1975 CCCM Corpus Christianorum, Continuatio Medievalis, mehr als 140 Bde., Turnhoult 1966 ff. DMLBS Dictionary of Medieval Latin from British Sources, hrsg. von Ronald E. Latham und David R. Howlett, 2 Bde., Oxford 1997 u. 2013 Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique, hrsg. von M. Viller et al., 15 Bde., Paris DS 1932–1995 Du Cange C. Du Fresne Sieur Du Cange: Glossarium mediae et infimae latinitatis, Nachdruck der Ausgabe von 1883–1887, Graz 1954 ER Encyclopedia of Religion, hrsg. von Mircea Eliade, 16 Bde., New York u. a. 1987 ff. Albert Sleumer: Kirchenlateinisches Wörterbuch, Hildesheim u. a. 1990 (Nachdruck der KLW Ausgabe Limburg a.d. Lahn 1926) LexMA Lexikon des Mittelalters, hrsg. von Robert Auty, 10 Bde., München und Zürich 1980– 1999 Lexikon der christlichen Ikonographie, hrsg. von Wolfgang Braunfels, 8 Bde., Freiburg im LCI Breisgau 1968–1976 LThK Lexikon für Theologie und Kirche, hrsg. von Walter Kasper, 3. Aufl., 11 Bde., Freiburg im Breisgau 1993–2001 MLLM Mediae latinitatis lexicon minus, hrsg. von J. F. Niermeyer/C. van de Kieft, 2. Aufl. überarbeitet von J.W.J. Burgers, 2 Bde., Leiden/Boston 2002 Patrologiae cursus completus. Series graeca, hrsg. von Jacques Paul Migne, 161 Bde., Paris PG 1857–1866 Patrologiae cursus completus. Series latina, hrsg. von Jacques Paul Migne, 221 Bde., Paris PL 1844–1880 AASS

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Literaturverzeichnis 391

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9.2 Quellentexte Mehrfach zitierte und wichtige Quellentexte sind mit den folgenden Kurztiteln versehen. Hinweise auf weitere Texte befinden sich mit vollständigen Angaben in der entsprechenden Anmerkung. Alle Zitate aus der Vulgata nach: http://www.ub.uni-freiburg.de/referate/04/bibelinh.htm (zuletzt besucht 13.09.2013) Augustinus 1955 Aurelius Augustinus: Confessiones (Bekenntnisse), eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart, München 1955 Augustinus 1961 Saint Augustin: Commentaire de la première épître de S. Jean [In epistolam Joannis ad Parthos], eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Paul Agaësse, Paris 1961 Bacon 1928 Roger Bacon: The Opus Majus of Roger Bacon, übersetzt von Robert Belle Burke, Bd. 2, Philadelphia 1928 Bernhard von Clairvaux 1992 Bernhard von Clairvaux: Apologia ad Guillelmum Abbatem (1125), in: ders.: Sämtliche Werke: lateinisch/deutsch, hrsg. von Gerhard B. Winkler, Bd. 2, Innsbruck 1992, S. 138–204 Birgitta 1971 Sancta Birgitta: Revelaciones Book V, Liber questionem, hrsg. von Birger Bergh, Uppsala 1971 Chronica Otto von Freising: Chronica sive Historia de duabus civitatibus, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum germanicarum in usum scholarum, Bd. 45, Hannover 1912. Übersetzung: Adolf Schmidt: Chronik oder die Geschichte der zwei Staaten, hrsg. von Walther Lammers, Darmstadt 1961 Durandus 1995 Guillelmus Durantus: Rationale divinorum officiorum I–IV, hrsg. von A. Davril und T.M. Thibodeau (= CCCM 140), Turnhout 1995 Gerald von Wales 1867 Giraldus Cambrensis: Topographia Hibernica, in: Giraldi Cambrensis Opera, hrsg. von J. S. Brewer, James F. Dimock und G. F. Warner, 8 Bde., London 1861–1891, hier Bd. 5 (1867), S. 1–202

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Bildnachweis

Abb. 1–2, 105–106, 110–111, 113, 116, 118–120: Mende 1994, Tafeln 20, 9, 11, 10, 81, 114, 83, 125, 128, 129; Abb. 3: Morgan 1988, Abb. 50; Abb. 4, 36: Ganz 2008, Tafel XXXVI, Abb. 33; Abb. 5: Ausst. Kat. Bonn/Essen 2005, Abb. 1 (S. 104); Abb. 6: Universitätsbibliothek Heidelberg; Abb. 7: Ausst. Kat. Mainz 1998, Abb. 66.2; Abb. 8: Deshman 1995, Abb. 69; Abb. 9, 21: Bellosi 1999, Abb. S. 266; Abb. 10: Panofsky 2006 [1953] Bd. 2, Abb. 268 (S. 142); Abb. 11: Soprintendenza Speciale per il Polo Museale Fiorentino; Abb. 12: Morante/Baldini 1970, Tafel XXV; Abb. 13: Wohl 1980, Tafel 123; Abb. 14, Tafel 4: Grebe 2007, Abb. 36, 65; Abb. 15: Kessler 1977, Abb. 173; Abb. 16, Tafel 12: The Pierpont Morgan Library, New York; Abb. 17: Württembergische Landesbibliothek, Stuttgart; Abb. 18: Ausst. Kat. Köln 1992, Abb. S. 119; Abb. 19: Ausst. Kat. Berlin 2005, Abb. 3 (S. 73); Abb. 20: Ausst. Kat. Frankfurt 2006, Tafel 32 (S. 125); Abb. 22, 33, 43, Tafel 11: Christe 2001, Abb. 49, 194, 74, 66; Abb. 23, 51: Zlatohlávek/Rätsch/Müller-Ebeling 2001, Abb. 119, 221; Abb. 24: Offner/Steinweg 1979, Tafel III.17; Abb. 25, 26: SLUB Dresden, Deutsche Fotothek, Foto Regine Richter; Abb. 27: Frojmovič 1989, Abb. 98; Abb. 28: Roettgen 1996 Bd. 1, Tafel 182; Abb. 29: Ausst. Kat. Florenz 2006, Abb. S. 233; Abb. 30, 37, 38: Heck 1997, Abb. 17, 146, 147; Abb. 31, 48, 49, 50, 54, Tafel 9: Bibliothèque Nationale, Paris; Abb. 32: Bentini/Cammarota/Scaglietti Kelescian 2008, Abb. 13d (S. 71); Abb. 34, Tafel 7: Det Kongelige Bibliotek, Kopenhagen; Abb. 35: Hamburger 1990, Abb. 21; Abb. 39, 40: Corrigan 1996, Abb. 14, 24; Abb. 41: Dalarun 2006, Abb. 266 (S. 230); Abb. 42: Cahn 2006, Abb. 5 (S. 295); Abb. 44, 45, 47: Morgan 1982, Abb. 237, 238, 234; Abb. 46: Guldan 1969, Abb. 12 (S. 238); Abb. 52: © The Metropolitan Museum of Art; Abb. 53: Baschet 1993, Abb. 71; Abb. 55: Ausst. Kat. Regensburg 1987, Tafel 49; Abb. 56, 59, 60: Green 1979 Bd. 1, Tafeln 124, 1, 2; Abb. 57, 58, 77, 78, 81–84, 86, 89–104, 115, 122, 123, 129–137, 148–152, 160–163, 165–170, 172–174, Tafeln 8a/b, 13a/b–16, 18–21: Aufnahmen der Verfasserin; Abb. 61: Roettgen 1997, Bd. 2, Abb. S. 391; Abb. 62: Koninklijke Bibliotheek, Den Haag; Abb. 63: Hamburger 2007, Tafel 10; Abb. 64, 65, 72, 73, 145: Belting/Kruse 1994, Abb. 164, 165, Tafeln 80–81, 51a, 17; Abb. 66: Ausst. Kat. München 1994, Tafel 14–15; Abb. 67: Schmid 1982, Tafel IV; Abb. 68: Ausst. Kat. Washington 2006, Abb. S. 180–181; Abb. 69: Toman 1998, Abb. S. 413; Abb. 70: Thürlemann 1997, Abb. 2 (S. 8); Abb. 71: Ausst. Kat. Bonn/ Essen 2005, Abb. S. 432; Abb. 74–76: van der Velden 2006, Abb. 5, 2, 1; Abb. 79, 85, 87: Toman 2004, Abb. S. 333, S. 361, S. 287; Abb. 80: Basile 2002, Abb. 47 (S. 422); Abb. 88: Rupprecht 1975, Tafel 266; Abb. 107: Reudenbach 2009 A, Abb. S. 64–65; Abb. 108, 109, 117, 127: Salomi 1990 Bd. 2, Tafeln CXLIV, CCCLXXV, CLXXXVII, CCCXLVI; Abb. 112, 114: Mende 1981, Abb. 145– 146, 39–40; Abb. 121, 124: Kapeller 1999, Abb. S. 16, Abb. 36 (S. 68); Abb. 125, 126: Grandmon-

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tagne 2005, Abb. 29, 31; Abb. 128: Mittelalter 2007, Abb. 258; Abb. 138–142, 144: Krohm 1996, Abb. 175, 176, Farbtafel VI.1, Abb. 266, 267, 173; Abb. 143: Jung 2006, Abb. 21–23 (S. 207); Abb. 146, 147: Hand/Spronk 2006, Tafeln 6a/b, 7a/b; Abb. 153: Gerstel 2006, Abb. 21 (S. 153); Abb. 154: Poeschke 1985, Abb. 166; Abb. 155–159: Knipping 2001, Abb. 6, 7, 10, 14, 16; Abb. 164: Demus 1968, Abb. 246; Abb. 171: Suckale 1987, Abb. 26 (S. 48); Tafel 1: British Library, London; Tafel 2: Badische Landesbibliothek Karlsruhe; Tafel 3: Bibliothèque Mazarine, Paris; Tafel 5: Bayerische Staatsbibliothek München; Tafel 6: Staatliche Museen Berlin, Gemäldegalerie; Tafel 10: Bibliothèque Ste-Geneviève, Paris; Tafel 17: Friedrich Neuhofer (foto.neuhofer.net)

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1 Petrus vom Engel aus dem Kerker des Herodes befreit, Hereford Troper, England, Mitte 11. Jahrhundert. London, British Library (Ms. Cotton Cali­ gula A.xiv, fol. 22r), 19,5 x 10 cm.

2 Jüngstes Gericht, Psalter, Reichenau, spätes 11. Jahrhundert. Karlsruhe, Badische Landesbibliothek (Cod. Aug. Perg. 161, fol. 168r), 27,1 x 19,6 cm.

3 Jüngstes Gericht, Somme le Roi, Paris, 1295. Paris, Bibliothèque Mazarine (Ms. 870, fol. 44v), 19,4 x 13,3 cm.

4 Parabel des armen Lazarus und des reichen Mannes, Evangeliar, sog. Codex Aureus von Echter­ nach, um 1045. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum (Hs. 156 142, fol. 78r), ca. 44,5 x 31 cm Blattgröße.

5 Parabel des armen Lazarus und des reichen Mannes, englischer Psalter, Gloucester (?), 1. Viertel 13. Jahrhundert. München, Bayerische Staatsbibliothek (Clm. 835, fol. 70v).

6 Rogier van der Weyden, Geburt Christi, Bladelin-Triptychon, um 1445. Berlin, Staatliche Museen, Gemäldegalerie, 91 x 89 cm (zentrale Tafel) und 91 x 40 cm (jeder Flügel).

7 Jüngstes Gericht, Stundenbuch der Maria de Bohun, 1380-1394. Kopenhagen, Det Kongelige Bibliotek (Ms. Thott. 574.4°, fol. 32v), 17,9 x 12,9 cm.

8a Jüngstes Gericht, Loreto Aprutino (Abruzzen), Santa Maria in Piano, Fresko der West­ wand, ca. 1429.

8b Detail von 8a mit Seelenbrücke.

9 Sturz der Engel und Erschaffung der Tiere und des Menschen, französicher Psalter, Mitte 13. Jahr­ hundert. Paris, Bibliothèque Nationale (Ms. lat. 10434, fol. 9v–10r), Blatt 21,3 x 15,1 cm.

10 Pfingstwunder und Jüngstes Gericht, Psalter der Marguerite de Bourgogne, entstanden in Paris zwischen 1225 und 1249. Paris, Bibliothèque Ste-Geneviève (Ms. 1273, fol. 18v–19r), 21 x 14 cm.

11 Jüngstes Gericht, Civitas Dei Handschrift, Abtei Saint-Bertin, Mitte 12. Jahrhundert. ­Boulogne-sur-Mer, Bibliothèque Municipale (Ms. 53, fol. 73r), 44 x 31,5 cm.

12 Miniatur zum Totenoffizium, Stundenbuch der Katharina von Kleve, ca. 1440. New York, Pierpont Morgan Library (Ms. M.945, fol. 168v), 19,2 x 13 cm. Purchased on the Belle da Costa Greene Fund and with the assistance of the Fellows, 1963.

13a Scheidung der Seelen beim Jüngsten Gericht, Tympanon des Westportals, Abteikirche Ste-Foy, Conques (Rouergue), 2. Viertel 12. Jahrhundert.

13b Aufnahme von a aus der Position eines Betrachters (etwa 1 Meter vor dem linken Türdurchgang).

14 Westportal der ehemal. Kathedrale Ste-Marie, Oloron-Ste-Marie, 1115–1135.

15 Scheitel der Archivolten, Westportal der ehemal. Kathedrale Ste-Marie, Oloron-Ste-Marie, 1115–1135.

16 Bronzetür von S. Zeno, Verona, vor und um 1138. Teil des linken Türflügels.

17 Holztür der Filialkirche St. Maria, Irrsdorf (Salzburger Land), 1. Jahrzehnt 15. Jahr­ hundert. Ansicht bei einer Winkelstellung von etwa 45 Grad.

18 Hl. drei Könige, Südwand der Bischofskapelle, Gurker Dom, Wandmalereien nach 1260.

19 Himmlisches Jerusalem, Gewölbe im Westjoch der Bischofskapelle, Gurker Dom, Wandmalereien nach 1260.

20 Blick in die zwei Chorkapellen, St. Niklaus in Matrei (Osttirol). Wandmalereien 1265–1270.

21 Irdisches Paradies, Gewölbe der unteren Kapelle, St. Niklaus in Matrei (Osttirol), 1265–1270.

CHRISTINE BEIER, EVELYN THERESIA KUBINA (HG.)

WEGE ZUM ILLUMINIERTEN BUCH HERSTELLUNGSBEDINGUNGEN FÜR BUCHMALEREI IN MITTELALTER UND FRÜHER NEUZEIT

Bilder in mittelalterlichen Büchern sind Teil eines komplexen Mediums , das nur auf den ersten Blick vertraut erscheint. Bei genauerer Betrachtung ergeben sich Fragen , die uns die Distanz zu diesen vor mehreren Jahrhunderten entstandenen Werken wahrnehmen lassen. Faktoren wie individuelle Interessen von Auftraggebern , ökonomische Überlegungen oder die Organisation der Zusammenarbeit von Schreibern , Illuminatoren und Buchbindern haben das Aussehen der Bücher in einer Weise bestimmt , die heute nicht mehr ohne weiteres nachvollziehbar ist. In den Beiträgen des vorliegenden Bandes nähern sich die Autoren diesem Thema von kunsthistorischer Seite , wobei es sowohl darum geht , Methoden zur Untersuchung der Herstellungsbedingungen von Handschriften und frühen Drucken vorzustellen , als auch nach Erkenntnissen zu fragen , die sich daraus für das Verständnis der Illustrationen gewinnen lassen. 2014. 304 S. 194 FARB. ABB. GB. 185 X 260 MM | ISBN 978-3-205-79491-2

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

ERHARD BREPOHL

THEOPHILUS PRESBYTER UND DAS MITTELALTERLICHE KUNSTHANDWERK GESAMTAUSGABE DER SCHRIFT „DE DIVERSIS ARTIBUS“ IN EINEM BAND. SONDERAUSGABE

Der Benediktiner-Priestermönch Theophilus Presbyter schrieb sein Grundlagenwerk über das mittelalterliche Kunsthandwerk De diversis artibus zu Anfang des 12. Jahrhunderts, wahrscheinlich in einem Kloster im Bistum Paderborn oder Hildesheim. All seine Erkenntnisse und Erfahrungen auf den Gebieten der Glasherstellung, der Anfertigung und Anwendung von Malfarben sowie der Goldschmiedekunst und Metallgestaltung flossen in diesen Text ein. Erhard Brepohl, einer der besten Kenner der Materie und Verfasser des Standardwerks zur Berufsausbildung heutiger Goldschmiede, hat dieses einzigartige mittelalterliche Lehr- und Praxiswerk übersetzt und umfassend kommentiert. Die vorliegende Sonderausgabe bietet den kompletten Text der zweisprachigen Ausgabe nebst allen Kommentaren und Bildern der zweibändigen Edition, die lange vergriffen war. Damit wird dieses unerlässliche Hilfsund Arbeitsmittel für Restauratoren und Kunsthandwerker, aber auch für Historiker und Kunsthistoriker erneut in einer preisgünstigen Gesamtedition greif bar. 2013. 513 S. 244 S/W- U. 46 FARB. ABB. GB. 235 X 270 MM. ISBN 978-3-412-20995-7

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

SENSUS STUDIEN ZUR MIT TELALTERLICHEN KUNST HERAUSGEGEBEN VON ULRICH REHM, BRUNO REUDENBACH, BARBARA SCHELLEWALD UND SILKE TAMMEN EINE AUSWAHL

BD. 3 | SILVIA SCHLEGEL MITTELALTERLICHE TAUFGEFÄSSE BD. 1 | MARKUS SPÄTH (HG.)

FUNKTION UND AUSSTATTUNG

DIE BILDLICHKEIT KORPORATIVER

2012. 686 S. 160 S/W-ABB. GB.

SIEGEL IM MITTELALTER

ISBN 978-3-412-20782-3

KUNSTGESCHICHTE UND GESCHICHTE IM GESPRÄCH UNTER REDAKTIONELLER MITARBEIT VON SASKIA HENNIG VON LANGE 2009. 264 S. 105 S/W-ABB. AUF 36 TAF. GB. | ISBN 978-3-412-20353-5

BD. 4 | TINA BAWDEN DIE SCHWELLE IM MITTELALTER BILDMOTIV UND BILDORT 2013. 456 S. 174 S/W- U. 24 FARB. ABB. GB. | ISBN 978-3-412-22125-6 BD. 2 | KARIN KRAUSE, BARBARA SCHELLEWALD (HG.) BILD UND TEXT IM MITTELALTER 2011. 420 S. 191 S/W-ABB. 35 FARB. ABB.

UH697

GB. | ISBN 978-3-412-20642-0

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